Margarete Schütte-Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht.: Neue Perspektiven auf Leben und Werk 9783035627220, 9783035619591

Margarete Schütte-Lihotzky (1897-2000) gilt weithin als erste Architektin Österreichs, als Pionierin der sozialen Archit

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German Pages 360 Year 2019

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Margarete Schütte-Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht.: Neue Perspektiven auf Leben und Werk
 9783035627220, 9783035619591

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Margarete Schütte- Lihotzky. Neue Perspektiven auf Leben und Werk
Biografische und geschlechterhistorische Perspektiven
Hundert wache Jahre. Zur Vitalität Margarete Schütte-Lihotzkys
»Planen und Bauen, Euch Frauen geht es an«. Margarete Schütte-Lihotzkys lebenslanges demokratisches Engagement für Frauen
Beruf: »Frau Architekt«. Zur Ausbildung der ersten Architektinnen in Wien
Das dritte Leben. Überlegungen zu Margarete Schütte-Lihotzkys autobiografischen Arbeiten
Stationen eines transnationalen Architektinnenlebens
Von Siedlerhütten und Kernhäusern. Margarete Lihotzkys Beitrag zur Wiener Siedlerbewegung
Durch eine Frau mit den Frauen. Margarete Schütte- Lihotzky und das Neue Frankfurt
Margarete Schütte-Lihotzkys sowjetische Jahre (1930–1937)
Intermezzo in Istanbul. Margarete Schütte-Lihotzkys Projekte im türkischen Exil
Vergessene Architekturdiskurse in Wien nach 1945
Eine Neudeutung des Chinareisetagebuchs Margarete Schütte- Lihotzkys aus dem Jahr 1956: Von den Pekinger Siheyuans zur Wiener Rinnböckstraße
Konsequent modern? Margarete Schütte-Lihotzky als Beraterin der Deutschen Bauakademie in der DDR
Begegnungen
Freundschaft und Entfremdung. Margarete Schütte-Lihotzky und Otto Neurath
Margarete Schütte- Lihotzky und Herbert Eichholzer. Ein Beziehungs- netz und seine Bedeutungen
Wilhelm Schütte – im Schatten Lihotzkys?
Soziale Beziehungen und kommunistische Netzwerke. Annäherungen an Hans Wetzler (1905–1983)
Die politische Margarete Schütte-Lihotzky
Margarete Schütte-Lihotzkys Kampf gegen das NS-Regime
Vom antifaschistischen Grundkonsens zur antikommunistischen Hegemonie. Die Ausgrenzung der KPÖ im beginnenden Kalten Krieg
Über die Ordnung der Kochlöffel. Margarete Schütte- Lihotzky im Kontext frauenpolitischer Anordnungen der KPÖ zu Beginn der Zweiten Republik – eine Probebohrung
Kindergärten und Küchen: Reflexion und Rezeption
Margarete Schütte-Lihotzkys »Haus für Kinder«. Eine pädagogische Betrachtung
Margarete Schütte-Lihotzkys Bauten für Kinder
Die Frankfurter Küche als Museumsobjekt
»Fassadismus«. Die Rezeption der Frankfurter Küche und der Kunstmarkt
Anhang
Margarete Schütte-Lihotzky – Biografie
Auswahlbibliografie
Namensregister
Abkürzungsverzeichnis & Bildnachweise
Autorinnen und Autoren
Danksagungen
Impressum

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Margarete Schütte-Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht.

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Edition Angewandte Buchreihe der Universität für angewandte Kunst Wien Herausgegeben von Gerald Bast, Rektor

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Margarete Schütte-Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk Marcel Bois, Bernadette Reinhold (Hg.)

Birkhäuser Basel

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Inhalt



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70 Von Siedlerhütten und Kernhäusern. Margarete Lihotzkys Beitrag zur Wiener Siedlerbewegung

Vorwort Gerald Bast

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Margarete Schütte-Lihotzky. Neue Perspektiven auf Leben und Werk Marcel Bois und Bernadette Reinhold

Stationen eines transnationalen Architektinnenlebens

Sophie Hochhäusl

86 Durch eine Frau mit den Frauen. Margarete Schütte-Lihotzky und das Neue Frankfurt Claudia Quiring



Biografische und geschlechter­­ historische Perspektiven

16 Hundert wache Jahre. Zur Vitalität Margarete Schütte-Lihotzkys Karin Zogmayer

26 »Planen und Bauen, Euch Frauen geht es an«. Margarete SchütteLihotzkys lebens­langes demo­­kra­ tisches Engage­m ent für Frauen Christine Zwingl

38 Beruf: »Frau Architekt«. Zur Ausbil­dung der ersten Architektinnen in Wien Sabine Plakolm-Forsthuber

52 Das dritte Leben. Überlegungen zu Margarete Schütte-Lihotzkys autobiografischen Arbeiten Bernadette Reinhold

100 Margarete Schütte-Lihotzkys sowjetische Jahre (1930–1937) Thomas Flierl

126 Intermezzo in Istanbul. Margarete Schütte-Lihotzkys Projekte im türkischen Exil Burcu Dogramaci

140 Vergessene Architek­t ur­diskurse in Wien nach 1945 Monika Platzer

152 Eine Neudeutung des Chinareisetagebuchs Margarete SchütteLihotzkys aus dem Jahr 1956: Von den Pekinger Siheyuans zur Wiener Rinnböck­s traße Helen Young Chang

168 Konsequent modern? Margarete Schütte-Lihotzky als Beraterin der Deutschen Bau­­aka­demie in der DDR Carla Aßmann

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Begegnungen 184 Freundschaft und Entfremdung. Margarete Schütte-Lihotzky und Otto Neurath Günther Sandner

196 Margarete Schütte-Lihotzky und Herbert Eichholzer. Ein Beziehungs­ netz und seine Bedeu­t ungen Antje Senarclens de Grancy

208 Wilhelm Schütte – im Schatten Lihotzkys? David Baum

224 Soziale Beziehungen und kommu­ nis­tische Netzwerke. Annäherungen an Hans Wetzler (1905–1983) Marcel Bois



Die politische Margarete Schütte-Lihotzky

238 Margarete Schütte-Lihotzkys Kampf gegen das NS-Regime Elisabeth Boeckl-Klamper

252 Vom anti­f aschis­tischen Grund­ konsens zur anti­k ommu­n istischen Hege­m onie. Die Ausgrenzung der KPÖ im be­g innen­d en Kalten Krieg Manfred Mugrauer



Kindergärten und Küchen: Reflexion und Rezeption

286 Margarete Schütte-Lihotzkys »Haus für Kinder«. Eine pädagogische Betrachtung Sebastian Engelmann

298 Margarete Schütte-Lihotzkys Bauten für Kinder Christoph Freyer

312 Die Frankfurter Küche als Museumsobjekt Änne Söll

326 »Fassadismus«. Die Rezeption der Frankfurter Küche und der Kunstmarkt Marie-Theres Deutsch

Anhang 342 Margarete Schütte-Lihotzky – Biografie 346 Auswahlbibliografie 348 Namensregister 352 Abkürzungsverzeichnis & Bildnachweise 354 Autorinnen und Autoren 359 Danksagungen 360 Impressum

268 Über die Ordnung der Kochlöffel. Margarete Schütte-Lihotzky im Kon­ text frauenpolitischer Anord­n un­g en der KPÖ zu Beginn der Zweiten Republik – eine Probebohrung Karin Schneider

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Vorwort Gerald Bast Rektor der Universität für angewandte Kunst Wien

Margarete Schütte-Lihotzky, herausragende österreichische Architektin, ist eine der bedeutendsten Absolventinnen der Universität für angewandte Kunst Wien. Sie studierte von 1914 bis 1919 als eine der ersten Frauen Architektur an der damaligen k. k. Kunstgewerbeschule in Wien. Ihr Anspruch, (multi-)funktionale, sparsame und emanzipatorische Archi­ tektur zu planen, hat sie zur Wegbereiterin des sozialen Wohnbaus und der modernen Frauenbewegung gemacht, die Publikation ihrer »Erinnerungen aus dem Widerstand« und ihr Engagement in der Nachkriegszeit machten sie zu einer wichtigen Politikaktivistin. Es ehrt die Universität für angewandte Kunst sehr, den Nachlass Margarete Schütte-Lihotzkys in ihrer Obhut zu haben. Die archivarischen Bestände sind seit ihrer Über­ gabe im Jahr 2000 stete Anregung für künstlerische und theo­re­tische Auseinandersetzungen. Gerade daher freut es mich besonders, dass mit der Ausrichtung des interdis­ ziplinären Sym­po­siums »Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk Margarete SchütteLihotzkys« und der Kompilation des nun vorliegenden Ta­ gungsbands in Zu­sammenarbeit mit der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg ein weiterer wesentlicher Beitrag zur wis­sen­schaftlichen und historischen Ein­ordnung der beein­drucken­den Architektin, Aktivistin und Pio­ nierin Schütte-Lihotzky geleistet werden konnte. Ich möchte allen an der Konzeption und Organisation Beteiligten, ins­ beson­dere Bernadette Reinhold und Marcel Bois, meinen großen Dank für ihr Engagement aussprechen.

Vorwort

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Margarete SchütteLihotzky. Neue Perspektiven auf Leben und Werk Marcel Bois und Bernadette Reinhold

Mit sechshundert Personen hatte das Festkomitee im Vorfeld gerechnet. Und tatsächlich kamen am 23. Januar 1997 zahl­ reiche Gratulant/innen aus Politik, Kunst und Architektur in die Säulenhalle des Wiener Museums für angewandte Kunst. Zwölf Festredner/innen sprachen, darunter Bürgermeister Michael Häupl und Bundeskanzler Franz Vranitzky. Ein filmisches Porträt des orf wurde gezeigt, das Orchester spielte Schubert und Strauß. Am Ende des Abends schwang die hochbetagte Jubilarin sogar das Tanzbein und legte mit dem Bürgermeister einen Walzer auf das Parkett. Ein wahr­ lich würdiger Rahmen, um den hundertsten Geburtstag von Margarete Schütte-Lihotzky zu feiern.1 Das Fest verdeutlichte: Die Architektin wurde endlich vom Establishment ihrer Heimatstadt anerkannt und geehrt. Weit weg schienen die Jahrzehnte, wo sie in Wien nicht gut gelitten war. Ab Mitte der 1950er Jahre hatte sie kaum öffent­ liche Bauaufträge erhalten und auch im medialen Diskurs keine Rolle mehr gespielt. Ihr architektonisches Können war zwar über jeden Zweifel erhaben. Sie hatte im Roten Wien ebenso erfolgreich gewirkt wie im Neuen Frankfurt und in der Sowjetunion. Doch die Tatsache, dass sie Kommunistin, antifaschistische Widerstandskämpferin und auch noch eine Frau war, ließ sie im restaurativen Klima der Nachkriegszeit im gesellschaftlichen Abseits verschwinden. Zudem waren die Netzwerke, die in der Zwischenkriegszeit ihren berufli­ 8

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1  Siehe die Dokumente zum 100. Geburtstag im Zentralen Parteiarchiv der KPÖ, Wien, Nachlass Schütte-Lihotzky.

Margarete Schütte-Lihotzky

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2  Marcel Bois: »Bis zum Tod einer falschen Ideolo­ gie gefolgt«. Margarete Schütte-Lihotzky als kom­ munistische Intellektuelle, in: Zeitgeschichte in Hamburg 2017, hg. von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg 2018, S. 66–88, hier S. 75–79.

3  »Ein Hohn für alle Opfer der Nazis«. Fünf NS-Opfer klagen Haider wegen »Straflager«Aussage, in: Wiener Zeitung, 14.7.1995.

4  Wojciech Czaja: Margarete SchütteLihotzky: »Diese verdammte Küche!«, in: Der Standard, 20.1.2017. 5  Hier sei auf das Kunstprojekt »Die Biblio­ thek der Frankfurter Küchen« der Fotografin Laura J. Gerlach verwiesen, die weltweit Standorte von Frankfurter Küchen dokumentiert.

chen Aufstieg mitbefördert hatten, weggebrochen.2 Sie wur­ de zur »persona non grata«, wie sie später einmal sagte. Das änderte sich Mitte der 1970er Jahre, als sie zunächst von jungen Architekt/innen und schließlich auch von der Öffentlichkeit wiederentdeckt wurde. Als wollte man das ge­ tane Unrecht wiedergutmachen, wurde die lange Vergessene nun regelrecht mit Auszeichnungen überschüttet. Sie erhielt unter anderem das Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst und das Große Goldene Ehrenzeichen mit dem Stern für Verdienste um die Republik Österreich. Zudem wurden ihr mehrere Ehrendoktorwürden zuteil. Ausstellun­gen in Wien und Mailand widmeten sich ihrem Lebenswerk. Zunehmend trat die Architektin, die für ihre Wider­ standstätigkeit mehr als vier Jahre in nationalsozialistischen Gefängnissen verbracht hatte, nun als mahnende Zeitzeugin auf. Im Jahr 1985 veröffentlichte sie ihre »Erinnerungen aus dem Widerstand«, die einige Aufmerksamkeit erfuhren. Ein Jahrzehnt später verklagte sie gemeinsam mit vier weiteren Überlebenden des ns-Terrors den fpö-Vorsitzenden Jörg Haider, nachdem sich dieser verharmlosend über die national­ sozialistischen Vernichtungslager geäußert hatte.3 Schütte-Lihotzky nahm den Aufstieg von Haiders Partei sowie von rechtspopulistischen Tendenzen allgemein mit großer Be­sorgnis zur Kenntnis. Die Vereidigung der ersten schwarz-blauen Regierung hat sie nicht mehr miterlebt. Sie war kurz zuvor, am 18. Januar 2000, im Alter von fast 103 Jahren gestorben. Auch nach ihrem Tod blieb Schütte-Lihotzky in ihrer Heimat medial präsent. Doch die Darstellungen konzentrier­ ten sich meist nur auf wenige Aspekte ihres Lebens – und so gilt sie bis heute als »unangefochtener Mythos der Architek­ turgeschichte des 20. Jahrhunderts. Die Nachschlagewerke rühmen sie als ›erste Architektin Österreichs‹, als ›Pionierin der sozialen Architektur‹, als ›Erfinderin der Frankfurter Küche‹, als ›Aktivistin der Frauenbewegungen‹, als ›Heldin des Widerstands gegen die Nazi-Diktatur‹.«4 Ihr reiches ar­ chitektonisches Schaffen wird zumeist auf die Frankfurter Küche reduziert, die in zahlreichen Museen weltweit präsent ist.5 Kurz: Schütte-Lihotzkys öffentliches Bild ist wenig aus­ differenziert und auf ein bestimmtes Image beschränkt.

Marcel Bois und Bernadette Reinhold

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Manche Narrative werden ständig wiederholt, darunter die Geschichte vom Walzer mit dem Bürgermeister. Daneben setzte eine intensive wissenschaftliche Be­ schäftigung mit Leben und Werk Schütte-Lihotzkys ein, die rund um den 20. Todestag zu einem kleinen Publika­ tionsboom führte.6 So besorgte Karin Zogmayer zeitgleich mit vorliegendem Band die Neuauflage der längst vergriffenen Erinnerungsschrift »Warum ich Architektin wurde«. Thomas Flierl publizierte den bislang unbekannten Gefäng­ nisbriefwechsel zwischen Margarete und Wilhelm Schütte aus den Jahren 1941 bis 1945. Der Molden-Verlag kündigte eine erste populärwissenschaftliche Biografie an. Und auch Schütte-Lihotzkys Mann Wilhelm Schütte wurden erste Arbei­ten gewidmet, ein Sammelband der Österreichischen Gesellschaft für Architektur und zuvor David Baums Master­ arbeit über Schüttes architektonisches Werk. Für die nächste Zeit sind weitere Publikationen zu erwarten. Besonders erwähnenswert ist hier das Engagement des Margarete-Schütte-Lihotzky-Clubs in Wien, der mit Ausstellungen, Veranstaltungen und einer Publikation zu Schütte-Lihotzkys Spuren in Wien um das Andenken sei­ ner Namensgeberin bemüht ist. Sophie Hochhäusl be­reitet eine englische Übersetzung von Schütte-Lihotzkys »Erinne­ rungen aus dem Widerstand« vor, um sie einem interna­ tionalen Publikum bekannt zu machen. Die amerikanische Autorin Helen Young Chang nähert sich auf literarische Weise der Biografie Schütte-Lihotzkys. Und Marcel Bois macht in einem historisch-biografisch angelegten For­ schungsprojekt die transnationalen politischen und beruf­ lichen Netzwerke sichtbar, in denen sich die Kommunistin und Architektin bewegte. Grundlage all dieser Forschungen ist der Nachlass Schütte-Lihotzkys, der sich im Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien befindet und dort den am häufigsten nachgefragten Bestand darstellt. Angesichts der neuen Fragestellungen und Perspektiven aus unterschiedlichen Diszi­plinen, die ein differenziertes Bild von Schütte-Lihotzky haben entstehen lassen, kam die Idee auf, diese Tendenzen der Forschung in einer Tagung zu bündeln. Diese fand schließlich am 9. und 10. Oktober 2018 an der Angewandten 10

6  Vgl. die Auswahlbibliografie im Anhang.

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7  Siehe die Tagungs­ berichte: Sebastian Engelmann: Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk Margarete SchütteLihotzkys. Konferenz in Wien, in: Arbeit. Bewegung. Geschichte. Zeitschrift für historische Studien 18 (2019), H. 1, S. 142–145; Anna Stuhlpfarrer: Tagungs­ bericht: Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk Margarete Schütte-Lihotzkys, 9.10.2018 – 10.10.2018, Wien, in: H-Soz-Kult, 13.3.2019, http://www. hsozkult.de/conference report/id/tagungsberichte8162 (abgerufen am 30.8.2019), abgedruckt in: Zeitgeschichte in Hamburg 2018, hg. von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg 2019, S. 109–116.

in Wien statt und setzte einen produktiven Austausch in Gang, der sich auch in der vorliegenden Publikation spiegelt.7 Sie versammelt die Beiträge aller Referent/innen und enthält zudem einen Essay von Karin Zogmayer. Ein breiter interdisziplinärer Ansatz zieht sich durch die in fünf Abschnitte gegliederten Beiträge. Den Anfang des ersten Kapitels Biografische und geschlechterhistorische Per­ spektiven macht Zogmayer, die sich Schütte-Lihotzkys »hun­ dert wachen Jahren«, ihrer Persönlichkeit und ihrem Mythos nähert. Es folgt ein Parcours durch Leben und Werk der Architektin, die ihrem Motto »Planen und Bauen, Euch Frau­ en geht es an« treu geblieben war, von Christine Zwingl, Mit­ glied der Forschungsgruppe Schütte-Lihotzky, die um 1990 den bis heute gültigen Werkkatalog miterstellt hatte. Dem Diktum der »ersten Architektin« spürt Sabine PlakolmForsthuber nach, indem sie die Ausbildungs- und Arbeits­ situation von Architektinnen der ersten Stunde nachzeichnet und Schütte-Lihotzkys Werdegang kontextualisiert. An der Schnittstelle zwischen Rezeption und (auto-)biografi­ scher Konstruktion liegen die Überlegungen von Bernadette Reinhold, die wichtige Narrationen, aber auch Ausblendungen in Schütte-Lihotzkys Lebenserinnerungen untersucht. Einen großen Bogen, sowohl zeitlich als auch geografisch, schlägt das Kapitel Stationen eines transnationalen Ar­ chitektinnenlebens. Sophie Hochhäusl analysiert Lihotzkys Engagement in der frühen Wiener Siedlerbewegung in Zusammenschau mit zeitgenössischer Theorie und Praxis. Wie sehr sich politische und genderspezifische Aspekte durch Schütte-Lihotzkys Werk ziehen, demonstriert Claudia Quirings Beitrag anhand des breiten Spektrums von Pro­jek­ ten der Frankfurter Zeit (1926–1930). Aus vielen Gründen waren die Jahre in der Sowjetunion (1930–1937) bisher kaum beleuchtet. Anhand bislang unbekannter Quellen bietet Thomas Flierl einen kritisch-differenzierten Überblick über die Projekte, vor allem aber über die Arbeitssituation und die (eigene) politische Positionierung der Architektin. Dass ein junger Staat neue Bauaufgaben generiert, wird auch bei ihren türkischen Arbeiten (1938–1940) offensichtlich. So er­ läutert Burcu Dogramaci unter anderem die Entwicklung eines ortsspezifisch modifizierbaren Dorfschul-Typenbaus.

Marcel Bois und Bernadette Reinhold

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Wichtige transnationale Erfahrungen machte die Architektin auch bei Reisen nach China in den Jahren 1934 und 1956. Helen Young Chang zeigt, wie befruchtend die architek­ tonische und urbanistische Tradition des Landes für SchütteLihotzky wurde – und wie ambivalent sich ihre Haltung gegenüber dem politischen System artikulierte. Anhand ver­ gessener Architekturdiskurse im Nachkriegs-Wien unter­ sucht Monika Platzer Schütte-Lihotzkys (Nicht-)Teilhabe am Bau­geschehen im Kontext des Kalten Krieges. Wenig ist über das Engagement der Architektin in sozialistischen Ländern nach 1945 bekannt. Exemplarisch schildert Carla Aßmann, wie überraschend kompromisslos die Fachfrau, trotz ihrer poli­tischen Überzeugung, die Baupolitik der ddr beurteilte. Wichtige, aber kaum beleuchtete Beziehungen stehen im Zentrum des Kapitels Begegnungen. Bei der Auswahl spielte mitunter nicht die Dauer, sondern die Intensität eine Rolle: Eine inspirierende Freundschaft verband SchütteLihotzky etwa mit Otto Neurath, einem der unkonventio­ nellsten Protagonisten des Roten Wien. Günther Sandner zeichnet sie in seinem Beitrag nach – bis zur politisch moti­ vierten Entfremdung der beiden. Der Architekt Herbert Eichholzer wurde, wie Antje Senarclens de Grancy schildert, in der Türkei zum entscheidenden Bindeglied für SchütteLihotzky zum kommunistischen Widerstand in Österreich. Erstaunlicherweise erwähnt Schütte-Lihotzky die zwei für sie wichtigsten Männer in ihren autobiografischen Schriften kaum oder gar nicht. Auch deshalb stand Wilhelm Schütte, dem David Baum seinen Beitrag widmet, lange im Schatten seiner prominenten Ehefrau und Architektenkollegin. Ein völlig Unbekannter war bislang Schütte-Lihotzkys späterer Lebensgefährte Hans Wetzler. Marcel Bois rekonstruiert dessen Lebensweg und beleuchtet die gemeinsamen sozialen Beziehungen und kommunistischen Netzwerke der beiden. Die Kapitelbezeichnung Die politische Margarete SchütteLihotzky gilt genau genommen für die gesamte Publi­­kation. Dennoch ist der explizit politischen Arbeit der Architektin ein eigener Abschnitt gewidmet, den Elisabeth BoecklKlamper mit einer quellenfundierten Kontextuali­ sierung von Widerstandstätigkeit und Haft beginnt. Nach 1945 ließ 12

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sich ein Wandel der österreichischen Gesellschaft vom antifaschistischen Grundkonsens zur antikommunis­tischen Hegemonie beobachten, den Manfred Mugrauer an­schaulich skizziert. Schütte-Lihotzky war davon mehrfach betroffen. Daher verlagerte sie ihre berufliche Tätigkeit und engagierte sich politisch, wie Karin Schneider exemplarisch ausführt, im kpö-nahen Bund Demokratischer Frauen. Ein wissenschaftlicher Sammelband über Margarete Schütte-Lihotzky kann nicht ohne Betrachtung ihrer am meisten rezipierten Arbeitsfelder auskommen. Das Kapitel Kindergärten und Küchen: Reflexion und Rezeption bietet zunächst einen aus der Pädagogik gerichteten Blick Sebastian Engelmanns auf die Planungen für Kinder. Christoph Freyer stellt die Entwicklung von Schütte-Lihotzkys Kindergarten­ bauten vor und verdeutlicht deren Bedeutung. Und, last but not least, steht auch die Frankfurter Küche im Fokus zweier Beiträge, die sich mit deren Rezeption beschäftigen. Änne Söll analysiert unter anderem die genderspezifischen Ein­ schreibungen und Ausblendungen, die sich bei Präsenta­tio­ nen und Inszenierungen der Küche im musealen Kontext ergeben. Marie-Theres Deutsch berichtet vom Eigenleben der berühm­ten Küche, das sich mitunter in einem »Fassadis­ mus« im internationalen Kunsthandel und in der zeitge­ nössischen Kunstproduktion zeigt. Der Anhang bietet neben einer Kurzbiografie und einem Überblick über wichtige Literatur von und zu Marga­ rete Schütte-Lihotzky auch einen Dank an alle, die die vor­ liegende Publikation unterstützt haben. Einige von ihnen seien hier schon einmal genannt. Neben den Autorinnen und Autoren wollen wir vor allem Gerald Bast, Rektor der Uni­ versität für angewandte Kunst Wien, danken, der das Projekt von Anfang an mit großem Interesse und den nötigen Mitteln gefördert hat. Auch der Kooperationspartnerin, der For­ schungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, insbesondere deren stellvertretenden Leiterin Kirsten Heinsohn sei unser Dank ausgesprochen. Das gesamte Unternehmen wäre ohne die unermüdliche Unterstützung des Archivs der Universität für angewandte Kunst Wien völlig undenkbar gewesen. Besonderer Dank gilt der Archivleiterin Silvia Herkt und Nathalie Feitsch, die Marcel Bois und Bernadette Reinhold

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für die Bereitstellung eines Großteils der Reproduktionen verantwortlich war. Mit größter Sorgfalt, Geduld und Flexi­ bilität hat Fanny Esterházy das Lektorat unternommen. Ihr sei ebenso herzlich gedankt wie Roswitha Janowski-Fritsch für das reibungslose Projektmanagement von Seiten der Edition Angewandte. Nicht zuletzt geht ein Dank an die Familie Stransky, die – in ihrer Haltung stets mehr als nur die Rechts­nachfolgerin Margarete Schütte-Lihotzkys – mit großem Wohlwollen dieses Projekt begleitet hat. Im Sammelband verdichtet und vernetzt sich die For­ schung an vielen Stellen, offenbart aber auch, wo noch Desi­ derate liegen. Wenn er nicht nur neue Perspektiven auf Leben und Werk Margarete Schütte-Lihotzkys eröffnet, son­ dern darüber hinaus Impulse setzt, so hat er ein wesentliches Ziel erreicht. Wien und Hamburg, im Sommer 2019

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Biografische und geschlechter­historische Perspektiven

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Hundert wache Jahre. Zur Vitalität Margarete Schütte-Lihotzkys Karin Zogmayer

Wie begeht ein Mensch seinen 100. Geburtstag? Wie lässt sich dieser Tag, diese Zahl gebührend feiern? Auf diese Frage gab Margarete Schütte-Lihotzky eine überzeugende Ant­wort: Sie feierte ein großes Geburtstagsfest im Wiener Museum für angewandte Kunst (mak) und tanzte dabei zu Johann Strauß’ »Künstlerleben« einen Walzer mit dem da­ maligen Wiener Bürgermeister. Absehbar, dass dieser Wiener Walzer am 23. Jänner 1997 rasch als Anekdote die Runde machte und seinen Teil zur späten Stilisierung ihrer Persönlichkeit beitrug. Das Bild der hundertjährigen Walzertänzerin ist heute so untrennbar mit Schütte-Lihotzky verbunden wie jenes der Erfinderin der Frankfurter Küche. Diese auf den ersten Blick vielleicht plakativen Fest­ schreibungen sind bei genauerem Hinsehen mehr als ober­ flächliche Klischees. Vielmehr lassen sie sich als pointierte und treffende Charakterisierungen lesen. Das Küchen-Missverständnis

Bleiben wir vorerst bei der Identifikation Schütte-Lihotzkys mit jener Arbeitsküche, die sie im Rahmen ihrer Tätigkeit für das Frankfurter Hochbauamt mitentwickelte. Schütte-Lihotzky empörte sich bis ins hohe Alter heftig darüber, dass die Frankfurter Küche zu ihrem wichtigsten Werk erklärt wurde, argumentierte jahrzehntelang dagegen. Gleichzeitig widmete sie diesem Projekt zwei Kapitel in 16

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1  Margarete SchütteLihotzky: Warum ich Archi­ tektin wurde, hg. von Karin Zogmayer, Salzburg 2004, S. 145–163.

2  Ebd., S. 150.

3  Ebd., S. 148.

4  Ebd., S. 152 

ihrem nachgelassenen autobiografischen Manuskript mit dem Arbeitstitel »Erinnerungen und Betrachtungen« und räumte ihm damit einen wichtigen Stellenwert innerhalb ihres architektonischen Schaffens ein.1 Sie fand sich mit der Zuschreibung ab, indem sie diesen Um­stand – in einem für sie typischen Vorgang – auf eine ratio­nale, objektive Ebene verschob, um ihn dort als Marke­ ting­botschaft ihres Arbeitgebers und als Naivität der Re­ zeption abzuhaken: »Es kam den damaligen bürger­lichen und kleinbürgerlichen Vorstellungen entgegen, daß die Frau im wesentlichen am häuslichen Herd arbeitet. Deshalb wisse auch eine Frau als Architekt am besten, was für das Kochen wichtig ist.«2 Wie an jede planerische Aufgabenstellung ging Schütte-Lihotzky auch an diese systematisch heran – und baute nicht auf etwaige persönliche Kompetenzen in KüchenAngelegenheiten auf. In diesem Zusammenhang war es ihr stets wichtig, darauf hinzuweisen, dass sie vor der Ent­ wicklung der Frankfurter Küche nie selbst einen Haushalt geführt und keinerlei Erfahrung im Kochen hatte. Ihr Anspruch galt immer dem genauen Erfassen der gegenwärtigen Situation, deren Verbesserung und der Auf­ klärung. Das zeigt sich auch in ihrem sehr präzisen und ge­ wissenhaften Hantieren mit Sprache und Begriffen. So be­ zeichnete sie bereits den Namen Frankfurter Küche als »irre­ führend«, handelte es sich bei diesem Projekt doch nicht allein um die »Gestaltung einer Küche – mit mehr oder weni­ ger praktischer Aufstellung, mehr oder weniger prak­tischen Einrichtungsgegenständen«.3 Das Bahnbrechende daran war für sie die »projektmäßige, technische und finanzielle Ver­ schmelzung von Wohnungsbau und Einrich­tung«, die »so vielen Menschen zwei bis drei Jahrzehnte hindurch Arbeit und Kräfte« sparte.4 Die Frankfurter Küche bedeutete in ihrer Entstehungs­ zeit Mitte der 1920er Jahre zumindest in zweierlei Hinsicht einen großen Fortschritt. Erstens sparte sie aufgrund der aus­ getüftelten Anordnung aller wohlüberlegt eingesetzten Ele­ mente Zeit, die anderweitig genutzt werden konnte. In der Rationalisierung der Hausarbeit sah Schütte-Lihotzky – das Ausmaß der gesparten Zeit vielleicht etwas ideali­­sierend – ganz konkret die Möglichkeit für die haushaltsführende

Karin Zogmayer

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Frau, einen Beruf auszuüben, der sie ökonomisch unab­hän­ giger von ihrem Mann macht, und Zeitgewinn für die eigene Bildung. Einen emanzipatorischen Fortschritt also. Zweitens bestand die Frankfurter Küche aus festverbauten, raum­an­ gepassten Möbeln, die als fixer Bestandteil der Wohnung mit­ gemietet wurden. Diese Innovation ermög­lichte nicht nur einen deutlich kleineren Küchengrundriss und damit eine Kostenersparnis, die in die Ausstattung der Küche investiert werden konnte. Sie sparte den Mietern zudem Zeit und Geld, die sie für die Einrichtung hätten auf­wenden müssen. Die Frankfurter Küche kann demnach durchaus als prototypisches Werk in Schütte-Lihotzkys Œuvre herhalten – allerdings nicht in der zumeist tradierten, verkürzten Form der Gestaltung einer praktischen und für unser heutiges Auge hübschen Küche, sondern historisch eingebettet und in ihrer Gesamtheit gesehen. Hundert Jahre »Künstlerleben«

Der Walzer bei der Feier ihres 100. Geburtstags entsprang nicht einem spontanen Bewegungsdrang der rüstigen Jubila­ rin, er steht als Programmpunkt im Ablaufplan der Veranstal­ tung. Es handelte sich dabei auch nicht um einen gelungenen pr-Einfall. Vielmehr entsprach es Margarete SchütteLihotzky einfach, Feste zu feiern, wie sie fallen. Im selben Jahr eröffnete sie auch den traditionellen Ball der Kommu­ nistischen Partei Österreichs (kpö), den »Linken Tanz«, mit einem kurzen Walzer. Feste feiern, das Leben feiern. Darin liegt vermutlich das Geheimnis ihres langen Lebens, das sie bis zuletzt bei vollem Bewusstsein gestaltete – bis sie am 18. Jänner 2000, wenige Tage vor ihrem 103. Geburtstag, einer Grippe erlag. Dieses mythische Alter erreichte sie trotz oder vielleicht auch aufgrund zahlreicher Widrigkeiten – Krankheiten, rascher Ver­lust der Eltern, unfreiwillige Kinderlosigkeit, Ver­­­rat, vier Jahre Haft während des Krieges, schmerzliche Trennungen, berufliche Enttäuschungen, Suizid ihres Partners … Schwaches Kind, Familienkrankheit Tuberkulose

Dem Teenager Grete Lihotzky hätte wahrscheinlich niemand ein so langes und gesundes Leben prophezeit. Sie selbst 18

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5  Margarete SchütteLihotzky: Erinnerungen aus dem Widerstand 1938–1945, hg. von Chup Friemert, Hamburg 1985, S. 11. 6  Archiv der Universität für angewandte Kunst, Wien, Nachlass Margarete Schütte-Lihotzky (UaK, NL MSL), TXT/587, S. 18. 7 Ebd.

beschreibt sich mehrfach als »sehr zart von Gesundheit«,5 als »von Kind auf von schwächlicher Gesundheit«6 und nennt dies auch als Grund, warum ihr ihre Eltern erst nach einem »Ausruhjahr«7 an der weniger fordernden k. k. Gra­ phischen Lehr- und Versuchsanstalt erlaubten, an die k. k. Kunstge­werbe­schule zu wechseln. Dort schloss sie 1919 als eine der ersten Frauen ihr Architekturstudium ab. Lihotzkys Vater starb 1923 an akuter Tuberkulose, nur ein Jahr später erlag ihre Mutter der »Wiener Krankheit«. Im selben Jahr steckte sich auch Margarete Lihotzky mit der damals wütenden Volksseuche an und musste zur Genesung einige Monate in der Lungenheilstätte Grimmenstein ver­ bringen. Was aber keineswegs bedeutete, dass die junge Architektin, die beruflich bereits gut Fuß gefasst hatte, ihre Arbeit ruhen ließ. Während dieses Aufenthalts beschäftigte sie sich eingehend mit ihrer räumlichen Umgebung und entwickelte das Projekt »Tuberkuloseheilstätte«, das bei der Hygieneausstellung im Wiener Messepalast im Frühling 1925 gezeigt wurde. Auch wenn ihr physische Vitalität genetisch vielleicht nicht in die Wiege gelegt war, Schütte-Lihotzkys erzählte Erinnerungen lassen auf ein sehr gesundes mentales Milieu in ihrem Elternhaus schließen. Kriegszeit, Todesurteil, Gemeinschaftsleben

Im Jänner 1941 sah es ganz danach aus, als hätte ihre letzte Stunde geschlagen. Aufgrund ihrer Aktivitäten im Wider­ stand gegen das Nazi-Regime – die sie aus der Türkei nach langer Zeit wieder in ihre Heimatstadt Wien führten – wurde sie am Tag vor ihrem 44. Geburtstag von einem Spitzel verra­ ten und von der Gestapo verhaftet. Das Todesurteil war ihr sicher. Doch dank eines von ihrem Mann Wilhelm Schütte in Ankara gefälschten Arbeitsvertrags und anderer glück­licher Umstände und Fügungen wurde sie lediglich zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Jahre bis zur Befreiung im Frühling 1945 verbrachte sie unter den physisch wie psychisch verschärften Bedingun­gen einer Haft zu Kriegszeiten. Eine Herausforderung, die sie annahm und meisterte, wie in ihren unglaublich star­ ken, teilweise verblüffenden »Erinnerungen aus dem Wider­ Karin Zogmayer

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Margarete Schütte-Lihotzky 94-jährig in der Hochschule für bildende Künste in Hamburg anlässlich der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft, Juni 1991

stand« nachzulesen ist. Hier erzählt sie eindrucksvoll und nicht ohne Witz vom Gemeinschaftsleben der (politi­schen) Gefan­genen, auch trotz teilweiser Einzelhaft. So ließen sie es sich zum Beispiel nicht nehmen, den 1. Mai 1942 zu feiern – über den Klosettstrang, ihr Kommunika­­ti­onsmedium. Als eine der Festrednerinnen hielt Schütte-Lihotzky eine kurze An­sprache über die Stellung der Frau in der Sowjetunion. 20

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8  Margarete SchütteLihotzky: Erinnerungen aus dem Widerstand. Das kämpferische Leben einer Architektin von 1938–1945, hg. von Irene Nierhaus, Neuauflage, Wien 1998, S. 92.

9  Ebd., S. 108f.

10  Ebd., S. 178.

11  Ebd., S. 103.

Und was dabei natürlich nicht fehlen durfte: »Zum Schluß sangen wir alle die Internationale. Nur im Gefängnis konnte in Österreich am Ersten Mai 1942 noch die Internationale ge­ sungen werden. Eine unvergeßliche Feier.«8 Neben ihrem lebensbejahenden Naturell war der starke soziale Zusammenhalt unter den Genossinnen sicher ein wesentlicher Faktor dafür, dass Schütte-Lihotzky diese Zeit so wenig beschadet durchleben konnte: »Ich hatte zu jener Zeit niemals das Gefühl, aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen zu sein, trotz der verschlossenen Türe, trotz des Eisengitters zwischen Himmel und Zelle. Nur das physi­ sche Leben war eingeengt, das geistige beweglicher denn je und weitgespannt […].«9 Das eigentliche Leben spielte sich im Inneren ab: »So gut wie gar keine Rolle spielten die täglichen äußeren Widerwärtigkeiten, an die man sich in so langer Zeit gewöhnte […] ja selbst das Anbrüllen und das Geschimpfe, Beleidigungen und Demütigungen empfand man einfach nicht als solche, sie prallten ab […].«10 Aus der Distanz gesehen wunderte sich Schütte-Lihotzky später selbst, dass »keine einzige der Frauen, die selbst oder deren nächste Angehörige Todesurteile erwarteten, zusam­men­ge­ brochen ist«, und strich die »außerordentliche Selbst­dis­ ziplin«, die jede einzelne zum Wohle aller aufbrachte, hervor: »Denn der Zusammenbruch einer einzigen Gefan­genen hätte eine Kettenreaktion ausgelöst und den Zusam­ menbruch anderer verursacht.«11 Unter den Prinzipien, die der amerikanische Autor und Longevity-Experte Dan Buettner in seinen zahlreichen Publi­kationen und Vorträgen als Grund für ein gesundes, hundert Jahre währendes Leben nennt, finden sich neben natürlicher Bewegung und Ernährungsgewohnheiten auch: eine erfüllende Lebensaufgabe, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder einem Glauben und eine Lebensumgebung, die einen trägt und unterstützt. Die letztgenannten Faktoren sind selbst in der von außen gesehen dunkelsten Zeit in Schütte-Lihotzkys Vita, der Zeit ihrer Gefangen­schaft wäh­ rend des Krieges, gegeben. Aber natürlich hinterließen diese extremen Jahre auch ihre schwächenden Spuren. Unter anderem in Form eines neuen Tuberkulose-Herdes, der Margarete Schütte-Lihotzky

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zuerst in eine Tbc-Zelle der Krankenabteilung des Zucht­ hauses Aichach und nach der Befreiung im Frühling 1945 – als Zwischenstation, bevor sie sich im Herbst 1945 endlich wieder frei bewegen konnte – für ein knappes halbes Jahr in die Lungenheilstätte im Tiroler Hochzirl zwang. In einem auf­gezeichneten Gespräch mit Chup Friemert nannte sie als Grund für die Trennung von ihrem Mann Wilhelm Schütte im Jahr 1951 ebenfalls – wie bei so vielen Paaren in dieser Zeit – die Kriegsjahre, die die beiden so unüberwindbar ver­ schieden verbracht hatten.12 12  Vgl. Schütte-Lihotzky, Mit einem Zitat Pablo Nerudas schloss Schütte-Lihotzky Erinnerungen (1985), S. 39. ihre Erinnerungen an die Jahre ihres Widerstands gegen das ns-Regime: »Eine Minute Dunkel macht uns nicht blind«13 – 13 Schütte-Lihotzky, so die Zusammenfassung der betagten Autorin ihrer im Erinnerungen (1994), S. 185. Zuchthaus verbrachten Kriegsjahre. Das Kapitel wurde ab­ge­ hakt, eine neue Seite aufgeschlagen. Und angesichts ihres langen Lebens verliert sich auch von außen gesehen die quan­ ti­­tative Bedeutung dieser vier Jahre, die Schütte-Lihotzky auf eine Minute zusammenschrumpfen lässt. Dass sie 1941 ihrer geplanten Ermordung entging und danach noch 60 Jahre in Frieden und Gesundheit lebte, war ihr auch eine Genugtuung gegenüber den Nationalsozialisten. Die große Bedeutung der kpö für Margarete Schütte-​ Lihotzkys Leben, ihr unerschütterliches, auch un­reflek­tier­ tes Bekenntnis dazu hat wohl wesentlich mit den starken Gemeinschaftserfahrungen während ihrer Inhaftierung zu tun. Das Aufgehobensein im Kreis der politischen Gefan­ge­ nen wurde zu einer Art Lebensversicherung, die Solidarität zur besonderen Selbstverständlichkeit. Neben der Welt­­an­ schauung mag diese Erfahrung auch ein Grund dafür sein, warum sie bis zu ihrem Tod treues Parteimitglied blieb. Parteileben, Familienleben

Der Stellenwert der politischen Genossinnen und Genossen hängt vielleicht auch mit dem Vakuum einer eigenen Familie zusammen: Die Partei übernahm diese Funktion, SchütteLihotzky stellte ihr klares und öffent­liches Bekenntnis trotz grober beruflicher Benachteiligung nie in Frage. Margarete Schütte-Lihotzky und Wilhelm Schütte pfleg­ten auch über ihre Trennung hinaus einen freund­schaft­ 22

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14  Zu Hans Wetzler siehe Marcel Bois’ Beitrag in diesem Band.

lichen Umgang und realisierten gemeinsame Projekte. Die Ehe jedoch war zerbrochen. Kinder hatten sie keine. Auch dieser unerfüllte Wunsch trübte weder ihre Lebens­freude, noch belastete er ihre berufliche Beschäftigung mit Kinder­ gärten und -krippen, die zu einer, vielleicht sogar der zentra­ len Aufgabenstellung innerhalb ihres Werks wurden. Mit großem Interesse und Hingabe widmete sie sich der Er­for­ schung der Lebenswelt von Kindern und der Schaffung adäquater, förderlicher räumlicher Umgebungen. Im Zentrum ihres Erwachsenenlebens vor dem Krieg stand ihr Beruf. Ihren Ehemann Wilhelm Schütte lernte sie als Architektenkollegen am Frankfurter Hochbauamt ken­ nen. Die Beziehung war von gemeinsamen Interessen und gemeinsamer Arbeit geprägt. Nach dem Krieg verschob sich Schütte-Lihotzkys Lebenszentrum von der Architektur in Richtung Politik, und so liegt es nahe, dass ihr zweiter Lebenspartner aus diesem Umfeld, aus ihren politischen Netzwerken stammte. Anders als die Ehe mit Wilhelm Schütte erklärte sie die 30 Jahre währende Freundschaft und Beziehung mit Hans Wetzler aber zur absoluten Privatsache. Erst durch Schriftstücke und Fotos in zwei mit »Hans« beschrifteten Boxen in ihrem Nach­ lass stellte ihn Schütte-Lihotzky postum als zweiten wichtigen Mann in ihrem Leben öffentlich vor.14 Als sich Hans Wetzler 1983, bereits von schwerer Krank­ heit gezeichnet, das Leben nahm, verlor die mittler­weile 86-jährige Schütte-Lihotzky ihren engsten Vertrauten. Den Abschiedsbrief des acht Jahre Jüngeren bewahrte sie auf. Und ihr Leben ging weiter. »Berufsverbot«

Während Schütte-Lihotzky in den ersten Nachkriegsjahren zunächst noch einige öffentliche Aufträge erhielt, wurde sie ab dem Ende der 1940er Jahre vom Wiener Stadtbauamt als Architektin boykottiert. Der Verdacht auf einen entsprech­ enden Beschluss bewahrheitete sich, als Roland Rainer sie als Mitarbeiterin engagieren wollte und das Stadtbauamt diesen Wunsch ablehnte. Ob dafür ihr Austritt aus der Sozial­ demokratischen Arbeiterpartei im Jahr 1927, verursacht durch die Ereignisse rund um den Justizpalastbrand, oder, Karin Zogmayer

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wie gemeinhin angenommen wird, ihre Mitgliedschaft bei der kpö ausschlaggebend war – der Grund dafür war ein politischer. Als Peter Huemer sie in der Radiosendung »Im Ge­ spräch« fragte, ob sie je überlegt hätte, aus der kpö auszu­ treten, um wieder Aufträge zu bekommen, war die sonst so energisch sprechende Schütte-Lihotzky hörbar irritiert: »Nein, daran habe ich nie gedacht, der Gedanke ist mir nie gekommen.«15 Die Partei, die eigene Familie zu verleugnen, um beruflich wieder Boden unter den Füßen zu bekommen, war für Schütte-Lihotzky nicht einmal eine denkbare Option. Sie lebte aufrecht, machte das Beste aus der Situation und hielt sich mit verschiedensten Aufträgen aus dem Ausland über Wasser. Dennoch empfand sie den Boykott durch das befreite Österreich natürlich als ungerecht – vor allem angesichts der Tatsache, dass ehemalige Nationalsozialisten sehr wohl große öffentliche Bauaufträge bekamen. Mehr als das traf sie jedoch, dass es ihr verwehrt blieb, etwas für ihr Land und ihre Stadt zu leisten. Dazu meinte sie 1994 in einem Interview: »Ich neige offenbar nicht zu Verbitterung, bin keines­wegs hoffnungslos.«16 Also auch in diesem Zusammenhang keine große Anklage, vielmehr das schlichte Bedauern, sich nicht aktiv mit all ihren in den vergangenen Jahrzehnten e​ rwor­ benen Fähigkeiten am Wiederaufbau ihrer Heimatstadt ein­ bringen zu dürfen. Erst um 1980 änderte sich die Situation, Würdigungen und Ehrungen ihrer Person setzten ein. Aber da war sie be­ reits zu alt, um als Architektin zu arbeiten.

15  Peter Huemer im Gespräch mit Margarete Schütte-Lihotzky, Radio Ö1, Erstausstrahlung Juni 1994.

16 Ebd.

Bewusstes Jahrhundertleben

Margarete Schütte-Lihotzky zählt wohl zu den wenigen Menschen, die das gesamte 20. Jahrhundert bewusst erlebt haben – und das nicht nur in ihrer Heimatstadt Wien. Mehr als 20 Jahre lang lebte sie im Ausland: nach Abschluss ihres Studiums mehrere Monate in Rotterdam, später in Frankfurt am Main, in der Sowjetunion, in Paris, Istanbul und nach dem Krieg zeitweilig auch in Kuba und Ost-Berlin. Zahlreiche ausgedehnte Reisen führten sie unter anderem durch China und Japan und in die wichtigsten Städte Europas. 24

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Ihre Bejahung der Gegenwart galt immer auch dem und den anderen. Davon zeugen ihre Offenheit und ihr unvor­ eingenommenes Interesse für fremde Kulturen, ihr selbst­ verständlicher Umgang damit. Margarete Schütte-Lihotzky hat sich als sozial verantwortlicher Mensch verstanden, der in der Gesellschaft, für die Gesellschaft wirkt. Und die dachte sie immer größer als nur ihre unmittelbare Umgebung: »Die Menschheit – eine Familie«, so lautet ein von ihr notierter möglicher Titel für ihre autobiografischen Erinnerungen.17 Margarete Schütte-Lihotzky hat nicht nur mehr gesehen, sondern wohl auch mehr erlebt als die meisten Menschen ihrer Generation. Dabei wurde sie vom sogenannten Schick­ sal keineswegs verschont, das Leben hat sich ihr in seiner ganzen Vielfalt gezeigt. Sie ist ihm mit großem Interesse, mit Wachheit und Präsenz begegnet, mehr als hundert Jahre lang. Das Musikprogramm von Schütte-Lihotzkys großem Jahrhundertfest bestand natürlich nicht allein aus einem Strauß-Walzer. Schließlich wollte man der Doyenne der österreichischen Architektur auch musikalisch gerecht wer­ den. Nach einer Polonaise von Schubert wurde deshalb auch Weberns Opus 5, Fünf Sätze für Streichquartett, gespielt. Jenes Werk, mit dem sich der Komponist von fester Tonalität und den tradierten Formen befreite, ein Werk, das für ein ganz neues Zeitempfinden steht.

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»Planen und Bauen, Euch Frauen geht es an«. Margarete Schütte-Lihotzkys lebens­langes demo­ kratisches Engage­ ment für Frauen Christine Zwingl

»Wie wichtig ist es doch für unser ganzes Leben – daß gebaut wird und wie gebaut wird – wie wichtig für unsere Arbeit in Haushalt, Fabrik oder Büro – wie wichtig für unsere Gesund­ heit, für die Gesundheit und Erziehung unserer Kinder und Jugend – wie wichtig für unser ganzes Familien- und Lebens­ glück! Und wichtig für uns Frauen ist faktisch alles – an­ge­ fangen mit der Gesamtplanung unseres Landes bis über die Planung der Städte zum Wohnungsbau, zur Wohnungs­ein­ richtung, den Möbeln und sogar bis zur Art und Weise, wie wir unsern Kochlöffel in der Küche aufbewahren können, sind voneinander abhängig.« Die Architektin Grete Schütte-Lihotzky wendet sich mit ihrem Text »Planen und Bauen, Euch Frauen geht es an« an die Frauen. Sie spricht sie direkt an, vermittelt eine archi­ tektonische Botschaft und eine – wie wir heute sagen würden – feministische und höchst politische Position. »Und es ist 26

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1  Grete SchütteLihotzky: Planen und Bauen. Euch Frauen geht es an, in: Stimme der Frau, Nr. 6, 7.2.1953, S. 5 u. 11.

2  Friedrich Achleitner: Bauen, für eine bessere Welt, in: Margarete Schütte-Lihotzky. Soziale Architektur. Zeitzeugin eines Jahrhunderts, Ausst.-Kat. MAK – Öster­ reichisches Museum für angewandte Kunst, Wien, hg. von Peter Noever, Wien 1993, S. 9–11.

wichtig für uns Frauen, zu erkennen, daß jeder Fehler, der beim Planen und Bauen gemacht wird – einerlei, ob bei der Landesplanung oder bei der Kücheneinrichtung […] wichtige Konsequenzen für die Volksgesundheit und unsere ganze Lebensführung hat. Deshalb müssen wir Frauen beim Pla­ nen und Bauen mitsprechen können […]. Wir Frauen brau­ chen unser Mitspracherecht in allen diesen Fragen, in den öffentlichen Körperschaften, im Parlament und in den Ge­ meinden.«1 Margarete Schütte-Lihotzky schreibt dies 1953, sie ist 56 Jahre alt, eine politisch denkende Frau und Ar­chi­ tektin, aktiv in der Frauen- und Friedensbewegung. Seit sechs Jahren lebt sie wieder in Wien, im Nachkriegs-Wien. In ihrem Text werden Fragen des Wohnens und demo­kratischen Bewusstseins angesprochen, das Wohnen allein­ stehender berufstätiger Frauen, alter Menschen, der Bedarf an Kinder­ betreuungseinrichtungen, und sie stellt klar, dass Frauen Steu­erzahlerinnen sind und die Mehrheit der Bevöl­kerung darstellen. Friedrich Achleitner schreibt über ihre Architektur­auf­ fassung, dass diese »in der Verbesserung aller Lebens­­bedin­ gungen durch Bauen« bestand, »ja mehr, in einer Archi­tek­ tur, die alle Kräfte und Prinzipien widerspiegelt, die eine bessere Zukunft herzustellen vermögen. […] Die eigentliche Botschaft ihres Werkes scheint mir in der Un­teilbarkeit der Anstrengungen, in der Untrennbarkeit von Theorie und Praxis, von Gedanken und Handlungen zu liegen.«2 Diese anerkennenden Worte weisen auf SchütteLihotzkys hohe fachliche und moralische Integrität hin. Doch scheint es mir wichtig, darüber hinaus genauer auf die besondere soziale Komponente des Werks der Architek­tin zu achten. Von ihren ersten Arbeiten an nimmt sie Lebens­ zusammenhänge von Frauen wahr, definiert daraus Auf­ gaben und gibt ihnen Bedeutung. Sie stellt diese Aufgaben selbstbewusst, selbstverständlich und völlig gleichwertig neben all die anderen Themen des Bauens. Das war damals nicht selbstverständlich und ist es auch heute nicht. Der Frage, woher diese Motivation kam und wie sie diese Fähigkeiten entwickelte, möchte ich im Folgenden nachgehen und versuchen, sie an einigen Beispielen und we­ sentlichen biografischen Stationen zu beantworten.

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Anfänge in Wien

Grete Lihotzky ist eine der ersten Frauen, die in das Berufs­ feld der Architektur einsteigt. Die ersten Jahre der jungen Architektin in Wien fallen mit dem Anfang der Ersten Re­ publik zusammen, die für Frauen das aktive und passive Wahlrecht bringt sowie das Recht zu studieren. Gleichzeitig bestehen in der Stadt große soziale Probleme durch die weitverbreitete Not in der Bevölkerung. Schon während ihrer Studienzeit von 1915 bis 1919 an der k. k. Kunstgewer­ beschule in Wien wird Grete Lihotzky mit Armut und er­ schreckenden Wohnverhältnissen in Teilen der Stadt kon­ frontiert: Ihr Lehrer Oskar Strnad empfiehlt der Studentin, als sie an einem Wettbewerb für Arbeiter­wohnungen teil­ nehmen will, zuerst in die Arbeiterbezirke zu gehen, um diese Wohn- und Lebenssituationen tatsächlich kennen­ zulernen.3 Dieses Erlebnis berührt sie, sie wird es immer wieder zitieren.4 Der Wohnbau und die soziale Dimension der Bauaufgabe werden ihr Thema. Für Grete Lihotzkys Vater, ein Staatsbeamter im Stadt­ erneuerungsfonds, bedeutet die Ausrufung der Republik 1918 die Pensionierung. Durch ihn lernt sie die Büros im obersten Geschoss der Neuen Hofburg kennen. Das Gebäude steht leer, und die junge Architektin kann einen Raum als Arbeitszimmer übernehmen. So kam es, dass in diesem letz­ ten imperialistischen Bauwerk der Monarchie eine junge Frau an Themen des Wohn- und Siedlungsbaus und der Entlastung der Frauen in der Hauswirtschaft ar­beitete. Ab Anfang 1921 ist Grete Lihotzky für die »Erste ge­ mein­nützige Siedlungsgenossenschaft der Kriegsinva­liden Öster­reichs« an der Planung der Siedlung Friedensstadt beim Lainzer Tiergarten tätig. Gemeinsam mit Adolf Loos arbeitet sie von Februar bis Anfang Mai 1921 im Baubüro in der Her­ messtraße. Loos schreibt im Zeugnis, das er für sie aus­stellt: »Ich kann Frl. Lihotzky, die auch durch ihren Fleiß und Genauigkeit viele ihrer männlichen Kollegen in den Schatten stellt auf das Angelegentlichste jedermann emp­fehlen.«5 Sie erfährt erste Anerkennung als Frau in diesem Berufsfeld. Im Frühjahr 1921 kommt Architekt Ernst May aus Breslau nach Wien, um die neuen Wiener Siedlungen zu be­ sichtigen. Die junge Architektin wird gebeten, den Be­sucher 28

3  Projekt 3 in: Margarete Schütte-Lihotzky. Soziale Architektur, S. 34 und 281; Wettbewerb für »Eine Wohnküche in der äußeren Vorstadt«, sie gewann den Wettbewerb und erhielt den Max-Mauthner-Preis der Handels- und Gewer­ bekammer, Wien I, am 21.7.1917. 4  Vgl. Margarete Schütte-Lihotzky: Erinnerungen aus dem Widerstand 1938–1945, Hamburg 1985, S. 13f.; Margarete SchütteLihotzky: Warum ich Archi­ tektin wurde, hg. von Karin Zogmayer, Salzburg 2004, S. 26.

5  Zeugnis ausgestellt von Architekt Adolf Loos vom 1.5.1921, Archiv der Universität für ange­ wandte Kunst Wien, Nachlass Margarete Schütte-Lihotzky (UaK, NL MSL), Q/10.

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Grete Schütte-Lihotzky: Planen und Bauen. Euch Frauen geht es an, Stimme der Frau, Nr. 6, 7. Februar 1953, S. 5 (Ausschnitt)

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zu führen, und stellt auch ihre eigenständigen Arbei­ten vor, darunter ihre ersten Überlegungen zur Rationali­sierung der Hauswirtschaft. Ernst May ist be­ ein­ druckt und lädt sie ein, darüber für die Zeitschrift »Schlesisches Heim« zu schreiben, die er in Breslau heraus­gibt. Es entsteht der erste Artikel Grete Lihotzkys, der im August 1921 erscheint.6 Darin schreibt sie ausführlich über das Wohnen. Sie analysiert klug und kritisch die Auf­gaben, Bedürfnisse, Rollen und die Hausarbeit. Sie schreibt von planvoller sparsamer Einrichtung und denkt an die Gesund­heit der Wohnenden. Grundrisse seien systematisch zu bearbeiten, sie verweist auf Frederick Winslow Taylor und die Umsetzung seiner Theorien für Fabriken und die Landwirtschaft. Nur für die Hauswirtschaft kennt sie noch keine derartige Anwendung, noch kein Buch. Sie fordert erst­mals genaue Studien der Ar­ beitsabläufe. Prinzipiell ent­hält dieser Artikel alle Grund­ sätze, auf denen sie ihre Arbeiten aufbaut, die zu Erfolgen in Wien, später in Frankfurt führen werden. Ab Februar 1922 ist sie im Baubüro des Österreichischen Verbandes für Siedlungs- und Kleingartenwesen (övsk) angestellt.7 Sie berät die Siedler und hält Vorträge im Rahmen der Siedlerschule, ihr Thema ist die »Einrichtung des Sied­ lerhauses«. Sie plant Siedlerhütten und Siedlerhäuser, das Sys­tem des Kernhauses, eines wachsenden, aus­bau­fähigen Hauses, und vor allem die Spülkücheneinrichtung, die opti­ male Ergänzung für die Wohnküche des Siedler­hauses.8 Für ihre erfolgreiche Arbeit an den Siedlungsausstel­ lungen am Rathausplatz 1922 und 1923 erhält sie jeweils Ehrenmedaillen der Stadt Wien. Sie ist in einem Männerumfeld tätig, in dem ein fort­ schrittliches Klima herrscht. Generalsekretär des Verbandes ist Otto Neurath, der ihr nahesteht, für Loos arbeitet sie öfters. Beim Auftrag zum Winarskyhof kommt sie mit den Architekten Peter Behrens, Josef Frank und mit ihrem ehe­ maligen Lehrer Strnad zusammen. Sie fühlt sich als Sozialistin und tritt in die Sozial­ demokratische Partei ein. In »Die Neue Wirtschaft« ver­ öffentlicht sie den Artikel »Beratungsstelle für Wohnungs­ einrichtung«. Hier fordert sie, dass die Warentreuhand (ihre Initiative innerhalb des övsk) »das allgemeine Wohnniveau, 30

6  Grete Lihotzky: Einiges über die Einrichtung österreichischer Häuser unter besonderer Berücksichtigung der Siedlungsbauten, in: Schlesisches Heim, H. 8, 1921, S. 217–222. 7  Der ÖVSK entstand aus dem Zusammenschluss des Hauptverbandes für Siedlungswesen und des Zentralverbandes der Kleingärtner- und Siedler­ genossenschaften; vgl. Zwingl: Die ersten Jahre in Wien, in: Margarete Schütte-Lihotzky. Soziale Archi­t ektur, S. 17–29, hier S. 24–26; Anstellungs­ schreiben des ÖVSK, 15.2.1922, UaK, NL MSL, Q/16.

8  Vgl. Projekt 28 in: Margarete SchütteLihotzky. Soziale Archi­ tektur, S. 52f. und 280f.

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9  Grete Lihotzky: Beratungsstelle für Wohnungseinrichtung, in: Die Neue Wirtschaft, 31.1.1924, S. 12; vgl. auch das Kapitel »Das Neue Wohnen: der ›Gemeinde-Wien-Typ‹« in: Eve Blau: Rotes Wien: Architektur 1919–1934, Wien 2014, S. 222. 10  Grete Lihotzky: Vergangenheit und Zukunft im Wiener Wohnungsbau, in: Die Neue Wirtschaft, 21.2.1924, S. 11. 11  Gisela Urban: Das Schaffen einer modernen Architektin, Wien 1926; dies.: Die Frau als Archi­ tektin, Wien 1929, UaK, NL MSL, TXT/177.

12  Grete Lihotzky: Rationalisierung im Haushalt, in: Das Neue Frankfurt, Mai 1927, S. 120–123.

vor allem der Arbeiterschaft, heben sollte«.9 In dem Beitrag »Vergangenheit und Zukunft im Wiener Wohnungsbau« wendet sie sich gegen die Spekulationsgeschäfte mit Zins­ häusern, gegen das Dekor und betont das Besondere der Verbundenheit der Siedler mit ihren Wohnungen bzw. Häu­ sern. »Die Menschen hätten wohl mehr von einem Spülstein in der Wohnung, als von einem Engel auf dem Dach.«10 Ihre Arbeiten finden Beachtung, speziell die Journa­lis­ tin und Aktivistin Gisela Urban berichtet wiederholt über Lihotzky.11 Die junge, aufstrebende Architektin erlebt in ihren ersten Jahren Anerkennung und Förderung in einem intellektuellen, politisch engagierten Umfeld und entwickelt eine ausgeprägt soziale Einstellung in ihrem Beruf. Frankfurt am Main

Anfang 1926 lädt Ernst May Grete Lihotzky ein, nach Frank­ furt am Main zu kommen, wo er mittlerweile Stadt­baurat und Leiter des Hochbauamtes geworden ist. Groß­flächige Stadterweiterungen in Flachbausiedlungen mit modernen Methoden, die Normierung und Typisierung bein­ halten, werden dort entwickelt. Grete Lihotzky arbeitet in der Ty­ pisierungsabteilung des Hochbauamtes an den Konzepten für den Wohnbau, an Typengrundrissen unter Be­rück­sich­ tigung der Rationalisierung der Hauswirtschaft. Hier fällt unter Beachtung arbeits- und kraftsparender Gesichts­­­punk­ te und zeitgemäßer technischer Ausstattung die Ent­schei­ dung für die Arbeitsküche. Sie entwickelt diese in Varianten und verschiedenen Größen für sämtliche Wohn­einheiten der Siedlungen. Die Fortschritte der neuen Entwicklungen und der Bautätigkeit werden in der neu gegründeten Zeitschrift »Das Neue Frankfurt« bekannt gemacht. Darüber hinaus erfolgt um­fang­reiche Information in Ausstellungen und zahl­reichen Vorträgen für das Zielpublikum, etwa Frauenvereine. »Jede denkende Frau muss die Rückständigkeit bis­heri­ ger Haushaltsführung empfinden und darin schwerste Hem­ mung eigener Entwicklung und damit auch der Ent­wicklung ihrer Familie erkennen«, schreibt Lihotzky.12 In ihren Texten zeigt sie die Haltung einer fortschrittlichen Frau. Sie ist einem modernen Lebensstil verbunden und kritisiert die

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Rückständigkeit der Frauen genauso wie die in Gewerbe, Industrie und Planung.13 Im Hochbauamt lernt sie den Architektenkollegen Wilhelm Schütte kennen, der in der Abteilung Großbauten tätig ist. Allgemein beschreibt sie die Frankfurter Kol­ legen- und Gesellschaft als eher politisch uninteressiert,14 doch Schütte dürfte von Anfang an ihre politische Haltung geteilt haben. Die beiden heiraten 1927. Sie erhält den Namen Schütte, nennt sich aber Schütte-Lihotzky aufgrund ihrer Bekanntheit und ihrer bereits umfangreichen Publikations­ tätigkeit. Sie ist die einzige Frau am Frankfurter Hochbauamt und wird bald öffentlich wahrgenommen. Die Reak­ tionen auf ihre Tätigkeit sind einerseits anerkennend, aber auch skeptisch und spöttisch abwertend. Der deutschen Sozialdemokratischen Partei tritt sie nicht bei – im Gegenteil: 1927 gibt sie ihren Austritt aus der österreichischen Sozialdemokratischen Partei bekannt.15 Ein akutes Problem ist die Wohnsituation allein­stehen­ der berufstätiger Frauen. Meist sind sie auf Unter­miet­zim­ mer angewiesen oder in Ledigenwohnhäusern unter­gebracht. Das lehnt Schütte-Lihotzky ab und plädiert für durchmischten Wohnbau und leistbare Wohnungen ent­sprechend der Ein­ kommensverhältnisse der Frauen. Sie entwickelt das Konzept »Wohnungen für berufstätige Frauen«, bestehend aus ver­schiedenen Kleinwohnungs­typen im obersten Stock­ werk normaler Geschoss­wohn­häuser. Die unterschiedlich großen Wohneinheiten sollen Frauen Unab­hängigkeit bieten, aber auch die Möglichkeit zu Gemein­schaft, Nachbar­schafts­ hilfe und zentralen Dienst­leistungen. Nach ihrer Heirat mit Wilhelm Schütte wird der Arbeits­ vertrag Margarete Schütte-Lihotzkys am Hochbau­amt nur mehr durch Ausnahmegenehmigungen befristet ver­längert. Laut einem Magistratsbeschluss sind Doppel­beschäftigungen von Ehepartnern im städtischen Dienst nicht gestattet. Mit dem Ablauf des Jahres 1928 scheidet sie als An­ge­­­stellte endgültig aus dem städtischen Dienst. Danach erhält sie jeweils befristete Honorarverträge von der Stadt, obwohl an ihrer Weiterbeschäftigung »als Spe­zialkraft für die weitere Projektierung der Frankfurter Wohnungs­ bauten« seitens des Hochbauamtes großes Inter­esse be­steht.16 32

13  Vgl. Grete SchütteLihotzky: Wie kann durch richtigen Wohnungsbau die Hausfrauenarbeit erleichtert werden, in: Mitteilungen der Österr. Gesellschaft für Technik im Haushalt, 1. Jg., Nr. 9, August 1927. 14 Schütte-Lihotzky, Warum ich Architektin wurde, S. 118.

15  In Frankfurt kam sie in Kontakt mit Carl Grünberg, dem Leiter des Instituts für Sozialforschung, dem sie bald freundschaftlich verbunden war. Auf dessen Einfluss hin verließ sie 1927 die österreichische Sozialdemokratische Partei. Nach den Wiener Ereignissen im Juli 1927 im Zusammenhang mit dem Brand des Justiz­ palastes teilte sie der Partei­f ührung »mit einem etwas pa­t he­t ischen Brief« ihre Entschei­d ung mit. Vgl. Schütte-Lihotzky, Warum ich Architektin wurde, S. 120. 16  Vgl. die Recherche in Magistratsakten von Jutta Zwilling: »Ich würde es genossen haben, ein Haus für einen reichen Mann zu entwerfen« – Margarete Schütte-Lihotzky: Archi­ tektin – Widerstands­ kämpferin – Kommunistin, in: Evelyn Brockhoff/ Ursula Kern (Hg.): Frank­ furter Frauengeschichte(n), Archiv für Frankfurts Ge­ schichte und Kunst, Bd. 77, Frankfurt am Main 2017, S. 190–205, hier S. 200f.

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17  Die 15. Generalver­ sammlung des B.Ö.F.V., in: Die Österreicherin, II. Jg., Nr. 5, 1.5.1929, S. 1f.

18 Schütte-Lihotzky, Warum ich Architektin wurde, S. 202f.

Sie bearbeitet eigene Projekte und wird viel­fach ein­ge­ laden, Vorträge zu halten, auch in Österreich. Bei der 15. Generalversammlung des Bundes Österreichischer Frau­ en­vereine in Wien im April 1929 sprechen unter anderem Schütte-Lihotzky über die »Wohnung der berufs­ tätigen Frau« und Gisela Urban zu »Frau und Wohnung«.17 In diesem Jahr entsteht der Entwurf für den Kinder­ garten Praunheim – eine Bauaufgabe, die zu ihrem Haupt­ thema in den folgenden Jahren in der Sowjetunion und auch in den späteren Jahren in Wien wird. In den beruflich erfolgreichen Jahren in Frankfurt am Main ist Margarete Schütte-Lihotzky Teil einer Gemein­ schaft moderner Architekt/innen, die für ihre Architektur­ vorstellungen eintreten und kämpfen. Dazu gehört auch die Forderung nach der Gleichberechtigung der Frauen und die Konsequenz, durch Arbeitsersparnis das Leben der Frauen zu erleichtern.18 Sowjetunion

Ernst May erhält 1930 eine Berufung in die Sowjetunion zum Bau neuer Wohnstädte in Zusammenhang mit dem Indus­trieaufbauprogramm. Mit ihm geht eine Gruppe von 17 Expert/innen nach Moskau, darunter als einzige Expertin Margarete Schütte-Lihotzky. Sie wird mit der Leitung der Abteilung für Kindergärten und Kinderkrippen betraut, Wilhelm Schütte ist für Schulbauten zuständig. Die Brigade lebt zusammen und arbeitet gemeinsam an der großen Auf­ gabe. Das Leben in einer »anderen Welt« ist beein­druckend. Schütte-Lihotzky beschreibt die wichtige Er­fah­rung, eine andere Kultur kennenzulernen, Achtung zu haben und Vor­ urteile abzubauen. In diesen Jahren ist sie kein Par­ tei­ mitglied. Das Ehepaar unternimmt zahlreiche Reisen in verschie­ dene Teile des großen Landes. 1934 brechen sie nach China und Japan auf. Sie wird zur weltoffenen Kosmopolitin. Sie fotografiert auf den Reisen und schreibt regel­mäßig Briefe an ihre Schwester in Wien. 1937 verlassen Margarete und Wilhelm Schütte die Sow­ jetunion und reisen nach Paris und London auf der Suche nach einem Ort des Exils. Christine Zwingl

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Exil – Istanbul – Widerstand

Im Sommer 1938 zieht das Ehepaar auf Vermittlung Bruno Tauts nach Istanbul, wo sie an der Académie des beaux-arts arbeiten, die dem Erziehungsministerium untersteht. Margarete Schütte-Lihotzky schließt sich in Istanbul einer österreichischen kommunistischen Wider­­stands­grup­ pe gegen den Nationalsozialismus um Archi­ tekt Herbert Eich­holzer an. Im Winter 1940 fährt sie nach Wien, um sich aktiv am Widerstand zu beteiligen. Sie wird in Wien in­haf­ tiert, das Todesurteil wird für sie beantragt. Im Prozess wird sie zu einer 15-jährigen Zuchthausstrafe verurteilt, die sie im Zuchthaus Aichach in Bayern bis zum Kriegsende im Mai 1945 verbringen muss. Sie überlebt mehr als vier Jahre Gefan­ gen­schaft. In dieser Zeit kommt sie mit vielen Frauen zu­ sammen, die ebenfalls ihr Leben einsetzen und die sich mit Kraft, List, Mut, Lebenswillen und Solidarität gegen­seitig bestärken.19 Diese Jahre und Erlebnisse sind bestim­mend und prägend für sie. Das zweite Leben

Ab 1947 leben Margarete und Wilhelm Schütte in Wien. Sie nehmen zur Wiener Stadtverwaltung Kontakt auf. Im Herbst gestaltet Schütte-Lihotzky in der Ausstellung »Wien baut auf« im Wiener Rathaus die Abteilung »Bau- und Stadt­ planung«. Ihr Vorschlag für eine Wohnbau-Ausstellung mit dem Titel »Wie sollen neue Wohnungen aussehen?« wird nicht angenommen. Die Architektin hofft, im befreiten Österreich, im schwer zerstörten Wien mit ihren Spezial­ kenntnissen im sozialen Wohnbau am Wiederaufbau mit­ zuwirken. Für die kommunistische Widerstandskämpferin erweist sich dies allerdings als Illusion. Margarete Schütte-Lihotzky erarbeitet für die kpö das »Neue Wiener Wohnbauprogramm« und schreibt darüber unter dem Titel »Licht, Luft, Sonne« in der Zeitschrift »Stimme der Frau«, deren Herausgeber der Bund Demo­kra­ tischer Frauen Österreichs (bdfö) ist. Bei der Gründung des bdfö 1948 wird Margarete Schütte-Lihotzky in Abwesen­heit zu dessen erster Präsidentin gewählt, die sie bis 1969 bleibt.20 Für die »Stimme der Frau« verfasst die Architektin noch in den 1940er Jahren eine Serie von Artikeln mit 34

19  Über diese Jahre schreibt sie das Buch: Margarete SchütteLihotzky: Erinnerungen aus dem Widerstand. 1938–1945, hg. von Chup Friemert, Hamburg 1985; aktuelle Auflage: Margarete SchütteLihotzky: Erinnerungen aus dem Widerstand. Das kämpferische Leben einer Architektin von 1938–1945, Wien 2014.

20  Die Architektin hält sich zum Zeitpunkt ihrer Wahl in Paris auf, wo sie die österreichische Abteilung einer großen Frauenausstellung des Weltbundes Demokra­ tischer Frauen gestaltet.

»Planen und Bauen, Euch Frauen geht es an«

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21  Grete SchütteLihotzky: Hubers bekom­ men ein Kind, in: Stimme der Frau, H. 51, 17.12.1949.

22  1949 erhält sie die Befugnis als Ziviltech­ nikerin und übt den Beruf der Architektin selbständig bis 1967 aus.

23  Eva B. Ottillinger: Küchenmöbel – Koch­ räume. Von der Feuerstelle zur Designerküche, in: Küchen/Möbel. Design und Geschichte, Ausst.-Kat. Hofmobilien­d epot Wien, hg. von ders., Wien 2015, S. 29–80, hier S. 68. 24  Städtisches Kinder­ tagesheim 1110 Wien, Rinnböckstraße, 1961– 1963. Die Entwurfslehre für Kindergärten und Kinderkrippen verfasste sie erstmals in Bulgarien 1946, später in Über­ arbeitung für die DDR und für Kuba. Siehe dazu die Projekte 148, 189, 196 und das Baukastensystem für Kindertagesheime Projekt 198 in: Margarete Schütte-Lihotzky. Soziale Architektur, Werkverzeich­ nis, S. 283–291.

prak­tischen Wohntipps, zum Beispiel »Hubers bekommen ein Kind«.21 Im November 1949 wird der Österreichische Friedensrat unter Beteiligung von Margarete Schütte-Lihotzky ge­ grün­det. Die Friedensbewegung ist ihr zweiter aktivisti­scher Schwerpunkt. Margarete und Wilhelm Schütte erhalten 1949 einen ersten Auftrag der Stadt Wien für das Wohnhaus Barthgasse in Wien 3.22 Das Paar trennt sich 1951, doch bei späteren Auf­ trägen wie dem Globus-Verlagsgebäude arbeiten sie trotz­ dem zusammen. 1952 gibt es für die Architektin einen Auftrag für das Wohnhaus Schüttelstraße und für einen Kindergarten am Kapaunplatz in Wien 20. Der Wiederaufbau bringt die Wirtschaft in Schwung, und Männer nehmen wieder ihre Positionen und damit ihre Verdienstmöglichkeiten ein. Frauen werden zurück­ge­ drängt. Eva B. Ottillinger schreibt in diesem Zusammenhang über Küchen­gestaltung der Nachkriegszeit: »Während Margarete Schütte-Lihotzky mit der optimal geplanten ›Frankfurter Küche‹ die Frauen von der überflüssigen Last der Hausarbeit befreien wollte, ist die ›Wiener Einbauküche‹ der Nach­kriegszeit ein Ort der Anpassung an zugeschriebene Rollen­bilder. Es überrascht nicht, dass diese Küchen nach 1945 überwiegend von Männern entwickelt worden sind.«23 Das Kriegsende erleben Teile der österreichischen Be­ völkerung nicht nur als Befreiung, sondern als Beginn der Besatzungs­zeit. Ein tief verwurzelter Antikommunismus, das Nahverhältnis der kpö zur Sowjetunion und die kritiklose Haltung der Partei ihr gegenüber waren Gründe für die Iso­lation der kpö. In den 1950er Jahren werden in Österreich die Auswirkungen des Kalten Krieges merkbar. Für Marga­ rete Schütte-Lihotzky als kp-Mitglied bedeutet dies eine Be­ schrän­kung ihrer beruflichen Tätigkeit, einen Ausschluss von öffentlichen Aufträgen für Jahre. Erst Anfang der 1960er Jahre erhält sie wieder einen Auftrag der Stadt Wien für ein Kindertagesheim – ein wesent­ liches Projekt, das in Grundzügen dem von ihr entwickel­ten »Baukastensystem« sowie Elementen ihrer Entwurfs­­lehre für Kindergärten entspricht.24

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Sie ist eine unabhängige, selbstbewusste Frau, die ihren Beruf ausübt, reist, weiterhin politisch aktiv ist und kpöMitglied bleibt.25 Als Präsidentin des bdfö, ab 1969 Ehren­ präsidentin auf Lebenszeit, ist für sie das Einbeziehen von Frauen ein zentrales gesellschaftliches Anliegen, die Soli­ darität unter Frauen sieht sie als wesentliche Stärke. Als Reaktion auf die 1960 neuerlich auftretenden anti­ semitischen Ausschreitungen in Wien gründet sie mit gleich­ gesinnten Frauen ein überparteiliches Frauen­komitee, das Vorführungen von Antikriegs- und antifaschistischen Fil­ men in der Wiener Urania organisiert. Diese Veranstal­tungen mit Reden und Filmvorführungen finden regelmäßig bis 1994 statt. Das Zusammenarbeiten und Zusammen­wir­ken von Frauen aus allen Schichten, über Partei- und Gesin­ nungsgrenzen hinweg, ist ihr besonders wichtig. Im Jahr 1980 wird Margarete Schütte-Lihotzky der Preis für Architektur der Stadt Wien verliehen. Sie hält Vorträge über ihr Leben in der Österreichischen Gesellschaft für Architektur (ögfa) und an der Technischen Universität Wien. In den 1980er Jahren entsteht ein neues gesellschaft­ liches Bewusstsein, mit dem eine Rückschau auf die Ge­ schichte möglich wird. Die Architektin arbeitet nun an ihren Lebenserinne­ rungen.26 1990, im Alter von 93 Jahren, verfasst sie den Text »›Begrünte Wohnberge‹ – Eine städtebauliche Utopie für künftiges Wohnen«, in dem sie ihre Sicht auf das 20. Jahr­ hundert und die Entwicklung der Aufgabe des »Sozialen Bauens« darlegt.27 Als bedeutendste Veränderung nennt sie die allgemeine Berufstätigkeit der Frauen. 1994 wird in Wien ein Wettbewerb für Architektinnen mit dem Titel »FrauenWerk-Stadt« ausgeschrieben, der alltags- und frauengerechte Kriterien im Wohnbau umsetzen soll – Schütte-Lihotzky über­nimmt gern den Ehrenvorsitz der Jury. In diesen Jahren folgen zahlreiche Preise, Ehrungen und Ehrendoktorate. Dank ihres hohen Alters erlebt sie ihre späte Würdigung und Anerkennung. Margarete Schütte-Lihotzky zeigte in ihrem Leben viele Fähigkeiten, vor allem die, bewusst zurückzuschauen und zugleich vorwärts und zukunftsorientiert zu denken, die Probleme des Lebens und Alltags wahrzunehmen, nichts als 36

25  Von zentraler Bedeutung für sie bleiben der Kampf gegen den Faschismus, der Sieg und die Befreiung durch die Rote Armee.

26 Schütte-Lihotzky: Erinnerungen (1985); nach ihrem Tod erschien: Schütte-Lihotzky, Warum ich Architektin wurde. 27  Margarete SchütteLihotzky: »Begrünte Wohnberge«. Eine städte­ bauliche Utopie für künf­ tiges Wohnen, Dezember 1990, Manuskript, UaK, NL MSL, 204/1/TXT.

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28  Margarete SchütteLihotzky Raum, Untere Weißgerberstraße 41, 1030 Wien, www. schuette-lihotzky.at.

unwichtig abzuqualifizieren oder wegzuschieben, sondern, wenn erforderlich, mit fachlicher, wissenschaftlicher Genau­ ig­­keit zu untersuchen. Die Anforderungen ver­schiedener Berufe und Alltagsaufgaben sah sie als gleich­ wertig an. Margarete Schütte-Lihotzky lebte Gleichstellung, ungebro­ chen und selbstbewusst, und zeigte als Frau und Archi­tektin ihre eindeutig soziale und demokratische Haltung. Der im Jahr 2014 eröffnete Margarete Schütte-Lihotzky Raum möchte an diese bedeutende Persönlichkeit erinnern, ihr jene Bedeutung geben, die sie verdient.28 Der Ausstellungsund Informationsraum zeigt Elemente der wesentlichen Stationen ihres Lebens, Werks und politischen Engagements, in Zusammenhang mit der Frauengeschichte des 20. Jahr­ hunderts, und bietet eine Plattform für Gedankenaustausch und Einmischung, denn: Planen und Bauen, uns Frauen geht es an!

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Beruf: »Frau Architekt«. Zur Ausbildung der ersten Architektinnen in Wien Sabine Plakolm-Forsthuber

Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern erfolgte in Österreich die Zulassung der Frauen zum Architektur­stu­di­ um relativ spät. Das verdeutlicht ein Blick nach Deutschland, wo die Technischen Hochschulen schon zwi­schen 1903 und 1908 für Studentinnen geöffnet wurden.1 Erst mit der Aus­ rufung der Republik und der Einführung des Allge­mei­nen Frauenwahlrechtes 1918 war es gesell­schafts- und bildungs­ politisch nicht mehr zu vertreten, Frauen weiterhin von den technischen Studien auszuschließen. 1919 wurde das Frauen­ studium in Wien an der Technischen Hochschule (th) und 1920 an der Akademie der bildenden Künste eingeführt. Frauen, die vor 1919 ein Architektur­studium absolvieren wollten, gingen ins Ausland oder entschieden sich für eine Ausbildung an der Wiener Kunst­gewerbe­schule. Die Kunstgewerbeschule, die erst 1941 den Hochschul­ status erhielt, stand künstlerisch ambitionierten Frauen ab ihrer Gründung 1867 offen. Die Zulassung erfolgte über eine Aufnahmeprüfung, die Matura war nicht erforderlich. Der gleichberechtigte Zugang wurde jedoch bald eingeschränkt und erst um 1900 wieder ermöglicht. Unter den Architektur­ 38

1  Ute Maasberg/Regina Prinz: Die Neuen kommen! Weibliche Avantgarde in der Architektur der zwan­ ziger Jahre, Hamburg 2004; Despina Stratigakos: ›I Myself Want to Build‹: Women, Architectural Edu­ cation and the Integration of Germany’s Technical Colleges, in: Paedagogica Historica 43 (2007), No. 6, S. 727–756. 2  Siegfried Theiss monierte noch 1935, dass die »Berufsbezeichnung ›Architekt‹« eine »äußerst geläufige« sei und »stets falsch gebraucht« werde. Siegfried Theiss: Was wollen die Architekten, in: Festschrift anläßlich des

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75jährigen Bestandes der Ziviltechniker, hg. von der Wiener Ingenieurkammer, Wien 1935, S. 56. 3  Reichsgesetzblatt vom 7.5.1913, http://alex.onb. ac.at/cgi-content/alex? aid=rgb&datum=191300 04&seite=00000288 und Bundesgesetzblatt (BGBl.) vom 2.3.1937, http://alex.onb.ac.at/cgicontent/alex?aid=bgl&d atum=19370004&seite =00000297 (abgerufen am 24.8.2018). 4  ÖStA/AdR, HBbBuT BMfHuW Titel ZivTech S–Z 9343, SchütteLihotzky Margarethe (sic!), GZl. 220.091-I/1-48.

klassen waren jene von Josef Hoffmann, Heinrich Tessenow und Oskar Strnad zwischen 1899 bis 1936 die bedeutendsten. Das Abgangszeugnis wies die erworbenen Qualifikationen aus, der Titel Architekt wurde nicht verliehen. In der Praxis allerdings bezeichneten sich die Absolventen (und auch die Absolventinnen) als »Architekten«, was nicht alle Berufs­ kollegen billigten.2 Den Ziviltechnikern war die klare Ab­ grenzung vom Baugewerbe und von den Absolventen der Kunst­gewerbeschule wichtig. Die seit 1913 erhobene Forde­ rung nach verbindlichen Kriterien hinsichtlich Ausbildung, Befugnisse und Rechte schlug sich schließlich in der 2. Zivil­ technikerverordnung von 1937 nieder.3 Mehr als der durch ein Zeugnis legitimierte Titel oder die Befugnis zählte im Alltag jedoch die Berufspraxis. Mar­ garete Schütte-Lihotzky bezeichnete sich selbstver­ständlich als »Architekt«, obwohl sie die Befugnis erst 1948 erwarb (Abb. 1).4 Ein anderes Beispiel ist Liane Zimbler (1892–1987), die vermutlich keine abgeschlossene Ausbildung vorweisen

Abb. 1: Margarete Schütte-Lihotzky, Ansuchen um Verleihung der Ziviltechniker-Befugnis, 1948

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Abb. 2: Friedl Dicker und Franz Singer, Axonometrische Planansicht der Einraumwohnung Dr. Heller, Wien, Wallnerstraße, 1927/28, Tempera auf Papier

konnte, aber seit 1918 für ein bürgerliches, mehr­heitlich jüdi­ sches Klientel plante und baute. Sie verstand es, ihre Bauten und Wohnungsadaptierungen umfassend zu publizieren und ihre Bekanntheit durch Vorträge und Ver­einstätigkeiten zu steigern. Auch sie signierte ihre Pläne mit »Architekt Liane Zimbler«. Der Nachweis der umfangreichen archi­ 40

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5  Sabine PlakolmForsthuber: Ein Leben, zwei Karrieren. Die Archi­ tektin Liane Zimbler, in: Matthias Boeckl (Hg.): Visionäre & Vertriebene. Österreichische Spuren in der modernen amerikani­ schen Architektur, Berlin 1995, S. 295–309. 6  Katharina Hövelmann: Das moderne Wohnprinzip. Kleinwohnungsgestal­ tungen der Ateliergemein­ schaft unter der Leitung von Friedl Dicker und Franz Singer, Diplomarbeit Universität Wien, 2012; Franz Singer, Friedl Dicker. 2x Bauhaus in Wien, Ausst.-Kat. Hoch­s chule für angewandte Kunst, hg. von Georg Schrom, Wien 1988.

7  Sabine PlakolmForsthuber: »ZV-Frauen bauen mit!« Wege und Irrwege der ersten Architektinnen der ZV (1925–1959), in: Ingrid Holzschuh/Zentral­ vereinigung der Archi­ tekten Österreichs (Hg.): BauKultur in Wien 1938–1959, Basel 2019, S. 56–77.

tektonischen Praxis ermöglichte es ihr 1938 noch, die Zivil­ technikerprüfung abzulegen; kurz darauf emigrierte sie in die usa.5 Ähnlich erfolgreich war Friedl Dicker (1898–1944), die nach einer ersten künstlerischen Ausbildung in Wien Johannes Itten ans Bauhaus in Weimar gefolgt war und nach ihrer Rückkehr nach Wien als Designerin und Atelier­part­ nerin von Franz Singer an die 50 Wohn- und Geschäfts­ein­ richtungen vornahm.6 Kennzeichen ihrer Interieurs wa­ren höchste Raumökonomie, Wandelbarkeit, Individualität und eine reiche Material- und Farbenvielfalt (Abb. 2). Neben dem bürgerlichen, eleganten Stil Zimblers wurde der Wiener Raumkunst der Zwischenkriegszeit durch Dicker eine sach­ lichere, funktionellere Facette beigesteuert. Die dritte, pro­ letarisch-funktionale Richtung repräsentierte, wenn man schon Schubladen auftun will, Schütte-Lihotzky, deren Wer­ ke in anderen Beiträgen dieses Bandes behandelt werden. Ich möchte mich im Folgenden mit den weniger erfor­ schten ersten Absolventinnen der drei Wiener Ausbildungs­ einrichtungen, also der Kunstgewerbeschule, der th und der Akademie der bildenden Künste, befassen. Welche Qualifi­ kationen erwarben sie und welche Betätigungsfelder standen ihnen offen? Wie gelang es ihnen, sich in diesem männer­ dominierten Beruf zu behaupten? Der Untersuchungszeit­ raum umfasst die Jahre 1918 bis 1938. Diese Zeitspanne von zwanzig Jahren beginnt mit der Zulassung zum akademischen Architekturstudium; sie erlaubt, die ersten berufli­ chen Schritte der Absolventinnen zu verfolgen, und endet mit dem Jahr des »Anschlusses« Österreichs an Nazideutsch­land. Unter den ersten Architektinnen befanden sich viele Frauen jüdischer Herkunft, für die dieses Jahr eine existenz­ bedrohende Zäsur bedeutete. 1938 wurde die Architektenschaft in die Reichskammer der bildenden Künste eingeglie­ dert. Die Mitgliedschaft, für deren Erwerb der Ariernachweis verpflichtend war, bildete die Voraussetzung für jede beruf­liche Tätigkeit; die Befugnis wurde nicht abverlangt. Für gar nicht so wenige Frauen fielen also die ersten Berufs­ jahre in die ns-Zeit. Manche wurden für den ns-Parteiapparat zwangsverpflichtet oder wirkten in den Planungsbüros der Kriegs- und Rüstungsindustrie mit, einige notgedrungen, andere als begeisterte Parteimitglieder.7

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Kunstgewerbeschule

Nicht alle Schüler/innen, die eine Fachklasse für Architektur an der Kunstgewerbeschule besuchten, strebten den Ab­ schluss in diesem Berufsfeld an. Das mag überraschen, hängt aber mit dem sehr offenen, fortschrittlichen Lehrkonzept von Hoffmann und Strnad zusammen, die in der Architektur und im Kunstgewerbe, dem sich die meisten widmeten, einen gleichwertigen Gestaltungsansatz sahen. Männer und Frauen, die sich für Architektur qualifizieren wollten, hatten zusätzlich die Fächer für technisches Zeichnen und Bau­kon­ struktionslehre zu absolvieren. Sie beschäftigten sich mehr­ heitlich mit Entwürfen zu Möbeln, Inneneinrichtungen, ein­ fachen Häusern und erstellten Werkzeichnungen. Die erste Absolventin war nicht Schütte-Lihotzky, son­ dern die aus Bielitz stammende Elisabeth Nießen (geb. 1884). Sie besuchte die Schule von 1913 bis 1917, wo sie, dem Gesamt­ urteil Tessenows zufolge, »Entwurfs- und genauer Ausfüh­ rungspläne zu kleinbürgerlichen und reicheren Möbeln […] Inneneinrichtungen und Wohnhäusern« bearbeitete. Sie sei »für architektonisches Arbeiten in einem besonderen Maße begabt«.8 Die für jene Jahre recht typische Beurteilung zeigt zweierlei: erstens, dass das Aufgabengebiet an der Kunstge­ werbeschule einen Schwerpunkt auf dem Gebiet der Innen­ architektur vorsah, und zweitens, dass die technische Ausbil­ dung im Bereich Hochbau, Statik, Städtebau eher unter­ geordnet war. Nießens Qualifikationen waren jedoch für eine Anstellung 1918 im »Status eines männlichen Beamten«9 im Wiener Stadtbauamt ausreichend. Ein typisches Frauenschicksal widerfuhr Friederike Domnosil, deren vielversprechendes Talent durch Eheschlie­ ßung und Familiengründung nur beschränkt zur Entfaltung kam. Domnosil (1904–2000), die 1922 mit dem Berufs­ wunsch Architektur in die Schule eintrat, besuchte bis 1925 Strnads Klasse. Er attestierte ihr eine »sehr feine Begabung«. Sie sei fähig, »poetisch Empfundenes zu formen«, und für alle »abstrakten Formbildungen sehr geeignet«.10 Bekannt geworden sind einige äußerst reizvolle und elegante Entwürfe für Inneneinrichtungen oder ein Strandhaus. Ihre Arbeiten wurden in internationalen Fachjournalen publiziert und mit Preisen bedacht. Nach der Eheschließung 1928 42

8  UaK, Abgangszeugnis für Elisabeth Nießen, Nr. 658, Beurteilung Heinrich Tessenow, 30.6.1917. 9  E.T.: Wiens erste Archi­ tektin, in: Neues Wiener Tagblatt, 31.5.1918, S. 3f. Die Anstellung erfolgte unter Stadtbaudirektor Heinrich Goldemund. Ihr Aufgaben­b ereich umfasste Planun­g en für die Krieger­ heim­s tätten in Aspern und Kriegerwohnungen auf der Schmelz. Über Realisie­ rungen oder den weiteren Lebensweg der 1932 »wegen Geisteskrankheit (Trunksucht)« entmün­ digten Nießen konnte nichts in Erfahrung gebracht werden. Vgl. WStLA, Meldeauskunft 1932, Beschluss des Bezirks­g erichtes VIII vom 16.1.1932, Zl. 3L47/31/8. 10  UaK, Abgangszeugnis für Friederike Domnosil, Nr. 893, 12.5.1925, Beurteilung durch Oskar Strnad.

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11  Annemarie Bönsch: Wiener Bühnen- und Filmausstattung. Otto Niedermoser 1903–1976, Wien 2003, S. 14.

12  Vgl. UaK, Abgangs­ zeugnis für Margarete Fingerlos, Nr. 1116, 30.6.1929, Beurteilung durch Josef Hoffmann. Tagblatt, 19.11.1930, S. 6; Tagblatt, 23.9.1930, S. 11. Der Baumeister, 27. Jg. (1929), H. 12, S. 410–413. 13  Vgl. UaK, Abgangs­ zeugnis für Rosa Weiser, Nr. 1088, 30.6.1928, Beurteilung durch Oskar Strnad. 14  Vgl. Dr. Loenström: Eine Architektur-Ausstel­ lung im Wiener Österrei­ chischen Museum für Kunst und Industrie, in: Deutsche Kunst und Dekoration 54 (1924), S. 332–340. 15  Vgl. ÖSTA/AdR, HBbBuT, BMfHuV, Allg. Reihe PTech, Weiser Rosa, GZl. 68800/1937.

16  Hans AnkwiczKleehoven: Österreich auf der Internationalen Kunst­ gewerbeausstellung Paris 1925, in: Wiener Zeitung, 12.9.1925, S. 1–3.

mit dem Architekten Otto Niedermoser, der als Bühnenbildner und Lehrer an der Kunstgewerbeschule reüssierte, wurde Domnosil zu einer Mitarbeiterin in seinem Atelier und über­nahm außerdem die Leitung der gemeinsamen Möbel­ firma.11 Ähnlich verlief der Werdegang von Margarete Fin­ gerlos (geb. 1906), die als Maturantin 1925 bis 1929 die Hoffmannschule absolvierte und von diesem »als Innen­ architektin sehr gut« beurteilt wurde. Zusammen mit ihrem Mann Gerhard Lohner entwarf sie ab den späten 1920er Jahren Kleinst­wohnungen und Möbel, leitete kunstgewerb­ liche Kurse im Landesausschuss Linz (1930) und war dann offensichtlich nicht mehr freiberuflich tätig.12 Die Mehrzahl der Frauen, die in jenen Jahren die Schule verließen, war also im Bereich der Innenraumgestaltung tätig. Über einen längeren Zeitraum lässt sich der Lebensweg der Salzburgerin Rosa Weiser (1897–1982) verfolgen. Strnad war 1925 der Ansicht, sie beherrsche »das Bauhandwerk vollkommen und ist aus all diesen Gründen […] sehr zu em­ pfehlen«.13 Auf der von Oswald Haerdtl gestalteten Wiener Architektur-Ausstellung 1924 erfuhr ihr Landhaus-Modell eine besondere Würdigung.14 Ihre weiteren beruflichen Sta­ tionen sind gut dokumentiert. Sie arbeitete im Siedlungs­ verband XV. Moeringgasse mit und errichtete Ausstellungs­ bauten für das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum. 1927 war sie in der Firma Haus & Garten bei Frank & Wlach angestellt. Fortan wirkte sie als selbständige Architektin in Wien und Salzburg, nahm an Wettbewerben teil und verant­ wortete Wohnungseinrichtungen, Umbauten oder Sommer­ häuser. Nach dem Krieg entstanden Wohnbauten in Wien und Salzburg.15 Seitens der anderen Schulen beargwöhnte man die Konkurrenz der dort ausgebildeten Architekt/innen sowie ihre ungenügende technische Ausbildung. Handlungs­ be­ darf ergab sich nach dem Erfolg Hoffmanns und seiner Schule auf der Pariser Kunstgewerbeausstellung 1925, als Hoffmann in der heimischen Presse sowie von einem Teil der Berufskollegen scharf angegriffen wurde. Tenor der Kritik war, »daß dem in letzter Zeit allzu sehr in Frauenhände ge­ ratenen österreich­ischen Kunstgewerbe mehr Ernst, Kraft und Männlichkeit nottut«. Gefordert wurde die Rückkehr

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zur »Materialechtheit und Zweckmäßigkeit«.16 Da der schwe­lende Konflikt zu eskalieren drohte, trat die Kunstge­ werbeschule die Flucht nach vorne an und intensivierte die technischen Fächer; ab 1925/26 wurden Kurse für Baume­ chanik und Statik einge­führt. Dem Vorwurf des Femininen begegnete man ab 1928/29 mit dem Angebot von Kursen zur körperlichen Ertüchtigung wie Fechtkursen, die von Frauen stark frequentiert wurden. Genützt haben diese Neuerungen freilich nichts mehr, da es schon 1924 zu einer Abänderung der studienrechtlichen Voraussetzungen für die Erlangung der Befugnis eines Zivil­ architekten gekommen war, die den Abschluss an der th oder der Akademie vorsahen. Gefordert wurde »[…] die er­ folgreiche Zurücklegung einer Meisterschule für Architektur oder des kunsthistorischen Seminars an der Technischen Hochschule oder der Meisterschule an der Akademie der bil­ denden Künste«.17 Somit waren die Absolvent/innen der Kunstgewerbeschule im Berufsleben deutlich be­nachteiligt. Die Folge war, dass einige ein zusätzliches Stu­dium an der th18 oder an der Akademie anschlossen. Letzt­endlich gelang es Clemens Holzmeister in seiner Funktion als Rektor und Professor, 1937 an der Akademie das Allein­vertretungsrecht der künstlerischen Architektenausbildung durchzuset­ zen. Die Architekturausbildung an der Kunstge­werbeschule wur­ de 1936 vorläufig unterbrochen, es wurde nur mehr eine re­ duzierte Ausbildung im Bereich der Innen­architektur an­ geboten.19 Unter den Frauen, die sich mit dem Abschluss an der Kunst­­ gewerbeschule nicht begnügten, sei Hilda DöringKuras (1910–1996) genannt, eine Absolventin der Klasse Strnad 1932 und von diesem als »vorzügliche Begabung« ein­ gestuft. Nach Mitarbeit bei Lois Welzenbacher in Inns­bruck und München bis 1936 holte sie die Matura nach, inskribierte an der th Graz und schloss ihr Architekturstudium 1938 ab. 1941 fand sie eine Anstellung im Hochbauamt in Wels, wo sie zeitlebens als befugte Architektin (1949) arbeitete und zahl­ reiche Bauten, Schulen oder Kindergärten im Heimatstil baute.20 Auch drei jüdische Absolventinnen zog es an die Aka­ demie, nämlich Margarete Zak, geb. Hoffmann (1891–1977), 44

17  Siehe BGBL. Nr. 21 ausgegeben am 13.1.1925, Verordnung vom 27.12.1924: Abän­ derung der Ziviltechniker­ verordnung, http://alex. onb.ac.at/cgi-content alex?aid=bgb&d atum= 1925&page=18 1&siz e=45 (abgerufen am 24.8.2018). 18 Beispielsweise Elisabeth Glück, geb. Porges, verehel. Pongracz (1909–1974), oder Erna Grigkar, geb. Kapinus (1909–2001). 19  Gabriele Koller: Die verlorene Moderne. Von der Kunstgewerbe­ schule zur (Reichs-) Hochschule für ange­ wandte Kunst, Wien, in: Hans Seiger/Michael Lunardi/Peter J. Populorum (Hg.): Im Reich der Kunst. Die Wiener Akademie der bildenden Künste und die faschistische Kunstpolitik, Wien 1990, S. 196. 20  Stadtarchiv Wels, Nachlass Hilda DöringKuras. 21  »Ihre vollendeten Studien werden ihr den Weg als Architekt weisen«. Vgl. UaK, Abgangszeugnis für Judith Zweig, Nr. 1531, 30.6.1936, Beurteilung durch Oswald Haerdtl. 22  Israel State Archive, Judith Zweig, www.archives.gov.il/en/ archives /#/Archive/0b07 17068 0034dc1/File/0b07 17068098ec5f (abgerufen

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am 28.8.2018). Freund­ liche Mitteilung von Sigal Davidi.

23  Juliane Mikoletzky u. a. (Hg.): »Dem Zuge der Zeit entsprechend …«. Zur Geschichte des Frauen­ studiums in Österreich am Beispiel der Technischen Universität Wien, Wien 1997, S. 54. 24  Maasberg/Prinz, Die Neuen kommen! S. 72f. ÖStA/AdR E-uReang AHF K Karlsson Leonie. Pilewski entwarf z. B. wie Rosa Weiser, Adele Gomperz oder Ilse Bernheimer Inneneinrich­ tungen für die Werkbund­ siedlung Wien, 1932. Andere Interessentinnen probierten es erst gar nicht, sondern schrieben sich gleich an einer deutschen Hochschule ein, wie die Wienerin Lilia Skala, geb. Sofer (1896– 1994), die 1916 nach Dresden ging und 1920 diplomierte. Zurück in Wien arbeitete sie als Architektin und entdeckte am Reinhardtseminar ihr Talent für das Schauspiel. 1931–1937 wirkte sie in diversen Spielfilmen mit, ehe sie mit ihrem jüdi­ schen Mann Erik Skala und den Kindern 1939 in die USA emigrierte, wo sie eine Karriere als Bühnenund Filmschauspielerin machte. Vgl. International Archive of Women in Architecture, Virginia Tech, Special Collections (IAWA), Ms 2003-015.

Charlotte Zenter (geb. 1905) und Judith Zweig, verehel. Katinka (1915–2003). Während Zak noch im Juni 1938 ihr Diplom erwarb, ehe sie 1939 über England nach New York (ab 1940) emigrierte, brachen die beiden anderen ihr Studium notgedrungen ab. Obwohl Haerdtl Zweig 1936 eine er­ folg­reiche Karriere voraussagte,21 wurde ihr die Berufsaus­ übung durch die Zeitläufte verunmöglicht. Als Tochter von Dr. Egon Zweig, einem bekannten Zionisten und Cousin von Stefan Zweig, wanderte sie schon 1937 nach Jerusalem aus und war fortan nicht mehr als Architektin tätig.22 Technische Hochschule

Die Vorbehalte gegenüber dem Frauenstudium waren an der Technischen Hochschule massiv. Solange Frauen keine Matu­ ra vorzuweisen hatten, konnten man sich auf die gesetz­li­ chen Grundlagen berufen. Mit zunehmender Qualifikation der Frauen und Etablierung der höheren Mädchen­bil­dung – 1892 erfolgte die Gründung des ersten Mädchen-Gymnasiums des Vereins für höhere Frauenbildung in Wien – geriet die Hochschule immer stärker unter Argumenta­tionsnot. So wurden die ab 1915 gestellten Anträge von Leonie Pilewski, verehel. Karlsson (1897–1992), die eine Reifeprüfung besaß und eine Aufnahme anstrebte, regelmäßig abge­wiesen Inte­ ressant sind die unterschiedlichen Begründungen, unter denen jene von 1915 zitiert sei, unterstellte man der jungen Frau doch, den Krieg für ihr Ansinnen auszunüt­zen: Gerade zu einer Zeit, da die Männer »vor dem Feinde kämpfen«, wäre ihr Antrag besonders »untunlich«, da man mit der Zu­ lassung von Frauen eine »neue Gruppe« von »Mitbewer­ ber(n) im Berufe« schaffen würde.23 Neben den Argu­menten der Konkurrenz oder des Raummangels waren es aber auch prinzipielle Vorurteile, zweifelte man doch an den mathe­ matischen Fähigkeiten oder dem räumlichen Vorstel­lungs­ vermögen von Frauen. Aufgrund ihrer Beharr­lich­keit gelang es Pilewski, zumindest einige Fächer als Gasthörerin zu be­ legen, ehe sie ihr Architekturdiplom an der th Darm­stadt 1922 erwarb. In Wien entwarf sie Wohnungen und berichtete ab 1928 bis zur ihrer Emigration nach Schweden 1938 in Fachzeitschriften über das moderne Bau­geschehen in der Tschechoslowakei bzw. der Sowjetunion.24

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Einen ähnlichen Umweg nahm Ella Briggs-Baum­feld (1880–1977), die von 1901 bis 1906 an der Kunstgewerbe­ schule Malerei studierte.25 Nach 1907 übernahm sie erste ar­ chitektonische Aufgaben in New York.26 Wie Pilewski gelang es ihr, zwischen 1916 und 1918 als Gasthörerin einzelne Fächer an der th zu absolvieren, die Zulassung blieb ihr verwehrt. 1919 maturierte sie an der Staatsgewerbeschule in Salzburg und diplomierte 1920 an der th München. Nach wei­teren New Yorker Praxisjahren plante sie 1925–1927 den städtebau­ lich markant positionierten Pestalozzi-Hof in Wien-Döbling und das angrenzende Ledigenheim. Abgesehen von SchütteLihotzky war sie die einzige Archi­tektin, die einen Auftrag im Wohnbauprogramm des Roten Wien erhielt. Nach Bauten in Berlin 1927/28 emigrierte sie 1936 nach Großbritannien. Ab 1945 wirkte sie an dem von Otto und Marie Neurath initiierten, partizipativen Projekt zur Sanierung des infolge des Kohle­abbaus sehr heruntergekommenen Stadtteils Bilston (heute Stowlawn) von Wolverhampton mit und entwarf dafür einige Häuser. Die Vorbehalte gegenüber Frauen seitens der Pro­­ fessoren­schaft, darunter Siegfried Theiss, Karl Holey, Erwin Ilz oder Alfred Keller, waren unterschiedlich ausge­ prägt. Für Lisl Close (1912–2011), Tochter des sozialdemokrati­ schen Stadtrates Gustav Scheu und der Schriftstellerin Helene Scheu-Riesz, die in der 1913 von Adolf Loos erbauten​ Hiet­zinger Villa lebten, war die frauenfeindliche Haltung mit einer der Gründe, weshalb sie ihr Studium 1932 nach zwei Jahren abbrach und ihren Master 1935 am m.i.t. in Boston machte. Zusammen mit ihrem Mann, dem Architekten Winston Close, führte sie ein erfolgreiches Büro in Minnea­polis und St. Paul in Minnesota. Zu ihrem umfang­ reichen Œuvre zählen öffentliche Gebäude und über hundert private, meist kubische, in die Landschaft eingebettete, mo­ dernis­tische Flachdachbauten mit offenen Grundrissen.27 Ähnlich muss die aus Łódź stammende und in Moskau und Berlin aufgewachsene Karola Bloch, geb. Piotrkowska (1905–1994) den Studienalltag an der th zwischen 1929 und 1931 empfunden haben. »Wir mussten viele antike, gotische und barocke Bauteile zeichnen« und hatten »in der Statik einen alten verknöcherten Professor, der sich nicht daran 46

25  Katrin Stingl: Ella Briggs(-Baumfeld). Wohnbauten in Wien (1925/26) und in Berlin (1929/30), Diplomarbeit Universität Wien, 2008. 26  Die Aufträge kamen vermutlich über Vermitt­ lung ihres Bruders Maurice (Moritz) Baumfeld, dem Leiter des deutschsprachi­ gen Irving Place Theatre in New York, zustande (Gesellschaftsräume des Deutschen Theaters, des New Yorker Presseklubs etc.). E.F.: Aus dem Reiche der Frau, in: FremdenBlatt, 1.5.1914, S. 17.

27  Christine Kanzler: Scheu Close, Elizabeth, geb. Scheu, in: Brigitta Keintzel/Ilse Korotin (Hg): Wissenschafterinnen in Österreich. Leben – Werk – Wirken, Wien u.a. 2002, S. 645f. Über das Œuvre von Lisl Close forscht aktuell Judith Eiblmayr.

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28  Karola Bloch: Aus meinem Leben, Tübingen 1981, S. 61f.; Claudia Lenz: Karola Bloch und das Kinderwochenheim »Zukunft der Nation«, in: Frau Architekt. Seit mehr als 100 Jahren: Frauen im Architekturberuf, Ausst.Kat. Deutsches Architek­ turmuseum DAM Frank-­ furt am Main, hg. von Mary Pepchinski u. a., Berlin 2017, S. 153–157.

gewöhnen konnte, daß auch Frauen Architektur studierten«. Das Gesamturteil der Kommunistin und Frauenaktivistin war eindeutig: »Die Diskriminierung des weiblichen Ge­ schlechts in diesem Fach war sichtbar«.28 1931 wechselte sie nach Berlin, wo sie auf Lehrer wie Bruno Taut und Hans Poelzig stieß; ihr Studium schloss sie 1934 in Zürich ab und ehelichte in Wien den Philosophen Ernst Bloch. Die folgenden zwei Jahre lebte sie in Prag, wo sie mit Friedl Dicker zusammenarbeitete, ehe sie mit ihrer Familie 1937 in die usa emigrierte. Nach ihrer Rückkehr 1949 nach Leipzig plante sie an der Deutschen Bauakademie (Ost-Berlin) Kindergärten und Kinderkrippen. Da sie als Anti-Stalinistin von der sed ausgeschlossen wurde, floh sie mit ihrem Mann 1961 nach Tübingen. Interessanterweise gab es unter den Studentinnen der th eine Gruppe von Zionistinnen, darunter die erste Absol­ ventin Helene Roth (1904–1995), dann Dora Siegel (1912– 2003) und Anna Klapholz (geb. 1909). Sie emigrierten zwi­ schen 1934 und 1936 nach Palästina, wo der Bedarf an euro­ päischen Fachkräften, die bereit und fähig waren, am Aufbau der Gesellschaft und moderner Städte wie Tel Aviv oder Haifa mitzuwirken, groß war. Alle drei fanden in Büros

Abb. 3: Dora Gad, Villa in Caesarea, 1974

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emigrierter deutscher Architekten (Alfred Abraham, Oskar Kaufmann) als Innenraumgestalterinnen eine erste Anstel­ lung.29 Eine beispiellose Karriere durchlief Dora Siegel, die 1930–1934 an der th studierte und 1936 ihren Kollegen Yehezkel Goldberg ehelichte. Unter dem Namen Dora Gad wurde sie in den 1950er und 1960er Jahren zu einer der re­ nommiertesten Architektinnen und Designerinnen Israels. Sie verstand es, ihre solide, auf traditionellen Grundlagen fußende Wiener Ausbildung mit einem ausgeprägten Gespür für Material und Farbe zu verbinden und mit Kunstschaf­ fenden produktiv zusammenzuarbeiten. Ihre luftigen, offe­ n­en Raumstrukturen sind als Antwort auf das lokale Klima zu verstehen. Unter ihren Arbeiten für den Staat Israel und dessen höchste Repräsentanten wie den Premierminister (Jerusalem 1950) findet sich der Bau der Nationalbibliothek (Jerusalem 1956), die Einrichtung der Knesset (1966) oder die des Israel Museum (mit ai Mansfeld, 1965). Am er­staun­ lichsten ist wohl ihr skulpturales Haus in Caesarea (1974) (Abb. 3).30

29  Sigal Davidi: Archi­ tektinnen aus Deutschland und Österreich im Man­ datsgebiet Palästina, in: Frau Architekt, S. 49–57.

30  Ran Shechori: Dora Gad. The Israeli Presence in Interior Design, Tel Aviv 1997.

Abb. 4: Edith Lassmann, Kaprun-Oberstufe, Krafthaus am Fuß der Limberg-Talsperre während des Baus, 1950

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31  IAWA, Nachlass Melita Rodeck, Ms 1992028.

32  Ute GeorgeacopolWinischhofer: »Sichbewähren am Objektiven«, in: Mikoletzky, »Dem Zuge der Zeit entsprechend …«, S. 185–254.

33  Alexandra Kraus: Zum Leben und Werk der Archi­ tektin Edith Lassmann (1920–2007), Diplom­ arbeit TU Wien, 2018. 34  Ingrid Holzschuh (Hg.): Adelheid Gnaiger (1916–1991). Die erste Architektin Vorarlbergs, Zürich 2014. 35  IAWA, Nachlass Helene Koller-Buchwieser, Ms 1995-020.

Unter den th-Absolventinnen, welche in die usa emigrierten, sei noch die ehemalige Zimbler-Mit­ar­beiterin Melita Rodeck (1914–2011) erwähnt. Ab den 1950er Jahren befasste sie sich mit Sanierungskonzepten für histo­rische Stadt­häuser oder ganze Stadtviertel in Washington, wobei sie ein ausgesprochen raumplanerisches und sozio­logisches Interesse an den Tag legte, das sie durch zahlreiche Studien untermauerte. Später baute sie für die us-Army (1968–1973) und für die katholische Kirche. Für die Kon­zeption dieser Bauvorhaben hatte sie 1960 das Regina Insti­tute of Sacred Art gegründet.31 Obwohl zwei Drittel der Erstinskribentinnen ihr Stu­ dium an der th abbrachen, gelang es den meisten der 32 Absolventinnen der Jahre 1919–1938 beruflich Fuß zu fassen, sei es als Mitarbeiterinnen in Büros, in der Verwaltung, in der Denkmalpflege oder an der Hochschule.32 Immerhin promo­ vierten bis 1938 drei Frauen, und nach 1945 erwarben viele die Befugnis. Die technische Ausbildung, die sie an der th genossen, ermöglichte es ihnen, Bauaufgaben zu übernehmen, die bis dato eindeutig männlich konnotiert waren. Brigitte Kundl, verehel. Muthwill (1906–1992) promovierte 1935 mit dem Entwurf zu einem Wiener Stadtflughafen, und Edith Lassmann, geb. Jurecka (1920–2007) profilierte sich in den 1950er Jahren im Kraftwerksbau (Abb. 4).33 Nach  1945 findet man Frauen in allen Bereichen als Pionierinnen vertre­ ten, insbesondere aber im sozialen Wohnbau. Erwähnt seien Adelheid Gnaiger, geb. Spiegel (1916–1991),34 die sich als erste Architektin Vorarlbergs als Planerin von Verwal­tungs­bauten hervortat, und Helene Koller-Buchwieser (1912–2008), die im Sakral- und Wohnungsbau erfolgreich war.35 Akademie der bildenden Künste

Die wenigsten Absolventinnen verzeichnete die Akademie. Von den circa 25 zwischen 1920 und 1945 inskribierten Frauen schlossen nur zehn ihr Studium ab. Viele hatten, wie erwähnt, schon ein abgeschlossenes Studium an der Kunst­gewerbe­ schule vorzuweisen, wie Josefine Kraus, verehel. Eisler (geb. 1914), Isabella Hartl, Irene Hittaller, verehel. Kutzbach (1903– 1987) oder Margarete Zak. Der Abschluss galt, neben der 1.  Staatsprüfung an der th oder einem vergleichbaren aus­

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ländischen Studium, als Aufnahmekriterium. Obwohl Peter Behrens 1921–1936 als Professor an der Akademie wirkte, gin­ gen aus seiner Meisterschule keine Absolventinnen hervor. Dort fanden sich, um es mit den Worten Ernst Plischkes sa­ gen, »keine zwitschernden Vögel« wie in der Strnad-Klasse, »sondern aus dem Weltkrieg heimgekehrte Offiziere, junge, selbstbewußte Männer« ein.36 De facto durchliefen alle weiblichen Studierenden die Meisterschule von Holz­meister, die 1938, nach dessen Emigration in die Türkei, von Alexander Popp weitergeführt wurde. Die erste Absolventin war Martha Bolldorf-Reitstätter (1912–2001). Holzmeister förderte sie während ihres Studiums und beschäftigte sie nach erfolg­ reicher Diplomprüfung 1934 als eine seiner »bes­ten Stüt­ zen«.37 1936–1940 leitete sie für ihn den Innenausbau des Funkhauses. Als Mitglied der nsdap arbeitete sie unter ande­ rem für eine paramilitärische Bautruppe, die Organi­sa­tion Todt, auf der Krim.38 Ebenfalls keine Berührungsängste mit dem ns-Umfeld hatte Isabella Hartl, verehel. Ploberger (1913–2002), die nach ihrem Diplom 1938 ihr Debüt in Berlin als Filmarchitektin in Leni Riefenstahls Opernrevue »Tief­ land« gab (1940–1944).39 Auch nach dem Krieg war sie, zu­ sammen mit ihrem zweiten Mann Werner Schlichting, eine gefragte Filmarchitektin für bekannte deutsche, österreichi­ sche und us-Produktionen. Holzmeisters Meisterschule dürfte ein Sammelbecken von politisch sehr unterschiedlich ausgerichteten Studieren­ den gewesen sein. Darunter findet sich auch die aus Chile stammende Widerstandskämpferin Ines Victoria Maier, ver­ ehel. Gonzalez (1914–2004), die 1939 diplomierte und im September desselben Jahres dem Ruf ihres Lehrers nach Istanbul folgte. Sie schloss sich in der Türkei der kommu­ nistischen Widerstandsgruppe von Architekt/innen wie Herbert Eichholzer und dem Ehepaar Schütte an, die sich in Holzmeisters Umfeld zusammenfand.40 Maier (Deckname »Wera«) wirkte aktiv am Aufbau der Auslandsgruppe der Kommunistischen Partei mit und unternahm mehrere Ku­ rierreisen. Am 22. Jänner 1941 wurde sie verhaftet, von der Gestapo verhört und wie Schütte-Lihotzky in Wien inhaf­ tiert.41 Ihrer Familie gelang es über das chilenische Konsulat, 1942 ihre Freilassung und Abschiebung ins »Altreich« zu 50

36  Ernst A. Plischke: Ein Leben mit Architektur, Wien 1989, S. 55. 37  UaK, Personalakt Martha Reitstätter (verehel. Bolldorf), Nr. 1213. 38  Ute GeorgeacopolWinischhofer: Martha Bolldorf-Reitstätter, in: Keintzel/Korotin, Wissen­ schafterinnen, S. 85–88. 39  »Wegen angeblicher Mißhandlung von mitwir­ kenden Zigeunern, die für den Film zeitweise die Konzentrationslager ver­ lassen durften und für die sich Leni Riefenstahl entgegen ihren Verspre­ chungen nicht eingesetzt haben soll, geriet der Film ins Zwielicht und wurde Gegenstand eines […] Prozesses.« Vgl. Kay Weniger: Das große Per­ sonenlexikon des Films, Bd. 6, Berlin 2001, S. 532. 40 https://www.univie. ac.at/biografiA/projekt/ Widerstandskaempferin nen/Maier_Victoria.htm (abgerufen am 25.8.2018). Siehe hierzu auch den Beitrag von Antje Senarclens de Grancy in diesem Band. 41  Margarete SchütteLihotzky: Erinnerungen aus dem Widerstand, 1938–1945, hg. von Chup Friemert, Hamburg 1985, S. 92–98 und S. 120.

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42  IAWA, Nachlass Judith Roque-Gourary, Ms 2011-074.

erwirken, von wo sie nach Chile ausgewiesen wurde; dort lebte sie bis 2004 als Architektin. Die vielfältigen Lebensläufe dieser ersten Architektinnen verdeutlichen, dass der Eintritt ins Berufsleben, wie bei vielen Frauen in anderen akademischen und künstlerischen Berufen, aufgrund gesellschaftlicher, politischer oder priva­ ter Umstände nicht einfach war. Zumeist fanden sie als Mit­ arbeiterinnen in Büros eine Beschäftigung; den Weg in die Selbständigkeit wagten wenige, die meisten erst nach 1945. Jüdische Architektinnen machten, sofern ihnen die Flucht ge­lang, im jeweiligen Exilland erstaunliche Karrieren. Be­ merkenswert scheint mir auch, dass es zwischen den Archi­ tektinnen vielfältige Kontakte gab, die nach dem Krieg auch institutionalisiert wurden. Dazu zählt die 1963 erfolgte Grün­ dung der International Union of Women Archi­tects, für die sich auch die ehemalige th-Studentin Judith Roque-Gourary (1915–2010) engagierte.42 Als Jüdin war sie 1938 nach Brüssel geflohen und hatte an der renommierten Schule La Cambre 1941 ihren Abschluss erworben. 1978 baute sie die belgische Architektinnen-Vereinigung auf. Diese und andere Archi­ tektinnen-Netzwerke waren für die 1985 erfolgte Grün­dung des International Archive of Women in Architecture an der Virigina Tech in Blacksburg, Virigina, usa, maß­gebend, eines Archivs, in dem auch noch einige Nachlässe österrei­ chischer Archi­tekt­innen auf ihre Erforschung warten.

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Das dritte Leben. Überlegungen zu Margarete Schütte-Lihotzkys autobiografischen Arbeiten Bernadette Reinhold

Sehr geehrte Frau Architekt, Sie sollten doch einmal alle Ihre Erinnerungen niederschreiben! […] Brief von Friedrich Achleitner (1977)1 In seinem Roman »Abenteuerliche Reise durch mein Wohn­ zimmer« (2019) lenkt der Schriftsteller Karl-Markus Gauß, bekannt durch literarische Erkundungen in entlegenen Regionen Europas, den Blick auf ein ihm vertrautes Gebiet: das eigene Wohn- und Arbeitszimmer. Die Möbel, Bilder, Gegenstände entfalten bei näherer Betrachtung ihre eigenen Geschichten, die, vom Autor ausgehend, weit über diesen hinausreichen und letztlich doch wieder zu ihm, in sein Wohnzimmer zurückführen. Die Idee, die Dingwelt eines Menschen zur Erzählerin zu machen, ist nicht unüblich und bietet (auch als mögliches autobiografisches Vehikel) neue Betrachtungsweisen. Im Genre des Kryptoporträts – man denke an van Goghs »Ein Paar Schuhe« (1886) – können Objekte sowie Raumdarstellungen die mit ihnen verbundenen Personen repräsentieren, zum Bildnis in einem breiten 52

1  Friedrich Achleitner an Margarete SchütteLihotzky, Wien, 26.4.1977, Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien, Nachlass Margarete Schütte-Lihotzky (UaK, NL MSL), Korrespondenz Inland, Unterstreichung im Original.

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2  Vgl. Sidonie Smith/ Julia Watson: Read­i ng Autobiography. A Guide for Interpreting Life Narra­ tives, Minneapolis/London 2 2010.

3  Original in der Schau­ sammlung des MAK, Wien. 4  Anja Krämer: Margarete SchütteLihotzky. Jahrhundertge­ stalt, in: Architektur. Im Strom der Zeit. Von Coop Himmelb(l)au über Margarete SchütteLihotzky bis Pilgram – diese Architekten haben Österreich geformt, Kurier Trendo, 3/2019, S. 62–66.

Interpretationsrahmen werden. Von eigener oder fremder Hand gefertigte Bilder von Künstlerateliers oder Schreib­ plätzen führen an den Entstehungsort und suggerieren, wie in einem Suchbild biografische Spuren an der Klippe zwis­ chen Werk und Leben entdecken zu können. Im Folgenden steht Margarete Schütte-Lihotzkys auto­ biografisches Arbeiten im Zentrum. Es artikulierte sich in vielfältigen Formen des Handelns und hat sich in un­ter­ schiedlichen Medien und Formaten niedergeschlagen, die bis heute Teil eines komplexen, vor allem wissenschaftlichen, aber auch künstlerischen Rezeptionsprozesses sind. Aus­ gangspunkt sind ihre publizierten Texte – »Erinnerungen aus dem Widerstand. Das kämpferische Leben einer Archi­ tektin von 1938–1945«, erstmals 1985 erschienen, und »Wa­ rum ich Architektin wurde«, postum 2004 herausgegeben. Schütte-Lihotzkys Motivation und die schwierige Genese sollen nachgezeichnet und Fragen an diese Life Narratives2 gestellt werden: Was wird erinnert, was ausgeblendet – mit welcher Motivation spricht (oder schweigt) die Autorin? Auch aus geschlechtsspezifischer Perspektive ist relevant, welche Orte und Zeiträume evoziert werden und wie sich das Erinnerte in den Körper eingeschrieben hat. Da sich auch das autobiografische Ich in seine realen Lebensräume ein­ schreibt, möchte ich an den Anfang meiner Überlegungen eine Fotografie des Arbeits- und Schlafzimmers von Marga­ rete Schütte-Lihotzky stellen. Die Aufnahme des Raumes in ihrer ab 1967 geplanten Wohnung in der Wiener Franzensgasse wurde im Juli 2000, ein halbes Jahr nach ih­rem Tod, von der Architekturfotografin Margherita Spiluttini gemacht (Abb. 1). Der schmale, langgestreckte Raum wirkt in der strengen Zentralperspektive breit aufgespannt, der Kontrast zwischen der dicht gefüllten Regalwand und der lichtdurch­ fluteten Fensterseite darin ausbalanciert. Er mün­det im dif­ fusen Dunkel der Schlafnische – eine Referenz an den 1925 entwor­fenen, multifunktionalen »Schlafraum einer Dame«.3 Das Zimmer wirkt aufgeräumt, da und dort sind Dinge ab­ gelegt, ein Leselämpchen aufgedreht. Im Bewusst­sein, dass die Besitzerin des Zimmers zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht mehr lebte, stellt sich eine Empfindung von Stille und Ab­wesenheit ein. Schütte-Lihotzky, die Jahr­hundertgestalt,4

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Abb. 1: Margarete Schütte-Lihotzkys Arbeits- und Schlafzimmer in ihrer Wohnung in der Wiener Franzensgasse im Juli 2000, Foto: Margherita Spiluttini

hat knapp vor ihrem 103. Geburtstag ihre Raumhülle ver­ lassen. Kein Ort der Sentimentalität, vielmehr ein ihrem lebenslangen Berufscredo verpflichteter Raum, funktional und mit hohem Wohnkomfort. In fließenden Übergängen reihen sich drei Nutzungs­ bereiche aneinander, die eine Atmosphäre von Inspiration, Konzentration und Rückzug schaffen. Der Schreibtisch, von links für die Rechtshänderin beleuchtet, war Ort des Kom­ munizierens. Ein Telefon und ein (auf anderen Fotos sicht­ barer) zweiter Stuhl sind stumme Zeugen vieler Gespräche und Interviews, die Schütte-Lihotzky bis wenige Wochen vor ihrem Tod gab. Ihre politische Überzeugung und ihr Beruf als Architektin waren in den späten Jahren zur Verpflichtung zur Weitergabe von Wissen, aber auch von Mahnungen ge­ worden. Ihr autobiografisches Arbeiten zielte auf die nach­ 54

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5  David Baum: Wilhelm Schütte – Soziale Archi­ tektur, MA-Arbeit, Univer­ sität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz 2016, S. 210.

haltige Verschriftlichung ab, doch das unmittelbare Erzählen, Wiederholen, Abstimmen auf das jeweilige Vis-à-vis war, wie ich später ausführe, ein wesentlicher Teil der Entwick­ lung ihrer Life Narratives. Schütte-Lihotzky war eine Vielschreiberin. Lange Zeit war der Schreibtisch ein idealer Schreibplatz gewesen, um­ geben von Büchern, Plänen, Entwürfen und Dokumenten, die teilweise in einem angrenzenden Schrankraum aufbe­ wahrt wurden. Eigene Texte schrieb sie mit der Hand, auch noch, als ihre Sehkraft sukzessive verschwand, bis sie das Schreiben anderen überlassen musste. Das erklärt, warum ihre vielgenutzte Schreibmaschine gegen Lebensende keinen Platz mehr brauchte. Auf und sogar unter dem Schreibtisch liegen im Nachlass erhaltene Mappen, darunter umfangreiche autobiografische Manuskripte. Sie finden sich auch auf den kleinen Tischchen, die sich um einen Fauteuil gruppieren – ein Platz zum Lesen, Radiohören, Sich-Sammeln. Den Raumabschluss bildet ein Sofabett, über dem sich eine usbe­ kische Süsane, ein traditionell als Mitgift gefertigter, reich bestickter Wandbehang, spannt. Es gibt wenige Erinnerungs­ stücke, die nicht pragmatisch in das Wohnen und Arbeiten eingebunden sind. So wird das Textil, eine Reminiszenz an ihre Zeit in der Sowjetunion (1930–1937), zum raumge­ stal­tenden Element. Ebenso die Biedermeiersessel, vermut­­lich aus Familienbesitz, und die wuchtigen Kanadier, die Wilhelm Schütte für ihre gemeinsame Wohnung in Istanbul (1938–1940) entworfen hatte 5 und im Wohn-Esszimmer zum Ein­satz kommen. Das dritte Leben

Der Umzug in die Franzensgasse markiert den Beginn des, wie ich es im Titel thesenhaft nenne, dritten Lebens Margarete Schütte-Lihotzkys. Sie selbst sah in ihrem Wer­de­ gang zwei Abschnitte. Der erste umfasste die Zeit in Wien (bis 1925), Frankfurt (1926–1930), in der Sowjetunion (1930– 1937) und – mit kurzen Aufenthalten in London und Paris – in der Türkei (1938–1940), von wo sie Ende 1940 nach Wien zurückgekehrt war und dort nach 25 Tagen Widerstandsarbeit gegen das ns-Regime im Jänner 1941 verhaftet wurde. Nur knapp der Hinrichtung entgangen, war sie zu 15 Jahren Bernadette Reinhold

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schweren Kerker verurteilt und im Frühjahr 1945 aus dem Zuchthaus Aichach in Bayern befreit worden. Sie war bald nach Wien zurückgekehrt, um am Aufbau des neuen Öster­ reichs mitzuwirken: »Mein Leben nach 1945 – nach der Be­ freiung, nach dem Todesgrauen – empfinde ich als zweites Leben.«6 Nachdem der antifaschistische Grundkonsens bald in eine antikommunistische Hegemonie7 übergegangen war, erhielt Schütte-Lihotzky als überzeugte Kommunistin mit wenigen Ausnahmen keine öffentlichen Aufträge. Sie wurde »in der bewährten Wiener Weise nicht einmal ignoriert«.8 Ihre Expertise blieb in dem Land, für das sie ihr Leben riskiert hatte, ungenutzt. Marcel Bois spricht von einer »politischen und gesellschaftlichen Isolation«, die für viele zurückgekehr­ te kommunistische Intellektuelle zu einem »zweiten Exil«9 wurde. Doch Schütte-Lihotzky setzte sich für neue Aufgaben ein: die Errichtung von Gedenkstätten für Opfer des ns-Terrors, Bauaufträge der kpö, Expertentätigkeit in der ddr und in Kuba, vor allem aber ein intensives politisches Engagement, unter anderem im Bund Demokratischer Frau­ en und in der Friedensbewegung. Eine reiche publizistische Tätigkeit begleitete dieses »zweite Leben«. In die Zeit fällt die Trennung von ihrem Mann Wilhelm Schütte, mit dem sie einige Zeit in einer Bürogemeinschaft und bis zu dessen Tod 1968 freundschaftlich verbunden blieb. Rund um ihren 70.  Geburtstag arbeitete sie an ihren letzten Bauprojekten: ihr nie realisiertes Baukastensystem für Kindergärten, die Planung der eigenen Wohnung und der (Um-)Bau des Ferienhauses der Schwester in Radstadt (Salzburg). Mit dem Entwurf eines Terrassenhauses (1975) beendete sie ihre aktive Architektentätigkeit. Nach einer fast 20-jährigen, beeindruckenden Karriere als »Frau Architekt« war sie nicht allein aus Gründen ihrer politischen Überzeugung für Jahrzehnte aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden.10 Ihre heute unbestrittene Kanonisierung in der Architektur-, Design- und Zeit­ge­ schichte war damals unvorstellbar. Sie war mehr oder weniger vergessen. Doch Mitte der 1970er Jahre änderte sich das: Die Wiener Moderne nach 1900, die Siedlerbewegung, das Rote Wien11 sowie das Neue Frankfurt12 entwickelten sich zu Forschungsgebieten einer jungen Generation, die mit poli­ 56

6  UaK, NL MSL, Inter­ views Radio/TV, Mappe TV-Interview, ORF – Harald Sterk 1.5.1985, Konzept »Abschluss II Alternativ«. 7  Vgl. Manfred Mugrauers Beitrag in dieser Publikation. 8  Friedrich Achleitner: Bauen, für eine bessere Welt, in: Margarete Schütte-Lihotzky. Soziale Architektur. Zeitzeugin eines Jahrhunderts, Ausst.-Kat. MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst, Wien, hg. von Peter Noever, Wien 1993, S. 10; Kursivierung im Original. 9  Marcel Bois: »Bis zum Tod einer falschen Ideolo­ gie gefolgt«. Margarete Schütte-Lihotzky als kommunistische Intellek­ tuelle, in: Zeitgeschichte in Hamburg 2017, hg. von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg 2018, S. 66–88, hier S. 79. 10  Ebd., S. 78f. 11  Zur Rezeptionsge­ schichte des Roten Wiens vgl. Werner Michael Schwarz/Georg Spitaler/ Elke Wikidal: Einleitung, in: dies. (Hg.): Das Rote Wien 1919–1934. Ideen, Debatten, Praxis, Ausst.Kat. Wien Museum, Basel 2019, S. 12–15. 12  Zur Rezeptionsge­ schichte des Neuen Frankfurt vgl. Jörg Schilling: Begriff und Rezeption: Fragen an und

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um das »Neue Frankfurt«, in: Evelyn Brockhoff u. a. (Hg.): Akteure des Neuen Frankfurt. Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst Bd. 75, Frankfurt am Main 2016, S. 13–22; Claudia Quiring u. a.: Vorwort, in: dies. (Hg.): Ernst May. 1886–1970, Ausst.-Kat. Deutsches Architektur­m useum Frankfurt, München 2001, S. 9–13. 13  Vgl. Marie-Theres Deutschs Beitrag in dieser Publikation. 14  Hier ist auf vor allem die Forschungsgruppe Schütte-Lihotzky mit Renate Allmayer-Beck, Susanne BaumgartnerHaindl, Marion Lindner und Christine Zwingl zu verweisen.

15  Gespräch mit Margarete SchütteLihotzky, in: Margarete Schütte-Lihotzky. Soziale Architektur, S. 15.

tischem Impetus der jüngeren Vergangenheit und ihren Pro­ tagonist/innen auf der Spur war. In Zeiten des Wirt­schafts­ wunders war der Glanz der Errungenschaften der Wiener Gemeindebauten längst verblasst, die Frankfurter Küche wurde als ungeliebtes Relikt der Vorkriegszeit em­pfun­den.13 Es waren unter anderem die Folgen der 68er-Bewegung und der Ölpreiskrise 1973, die den fortschritts­verwöhnten Blick auf vergangene Prosperitäts- und Krisen­zeiten lenkten und das Schweigen der Elterngeneration über die nach wie vor virulenten braunen Schatten beenden wollten. Ende der 1980er, vor allem ab den 1990er Jahren war dann das Interesse an Schütte-Lihotzky als Architektin in einer gen­derspezifisch sensibilisierten Wahrnehmung ge­weckt.14 Margarete Schütte-Lihotzkys dritter Lebensabschnitt hatte begonnen. Die schwierige Genese einer unteilbaren, geteilten Autobiografie

Schütte-Lihotzky konnte über wesentliche Entwick­lungen der modernen Architektur- und Städtebaugeschichte und über Begegnungen mit bedeutenden Protagonisten von Adolf Loos bis Ernst May aus erster Hand berichten: Sie war eine Zeitzeugin par excellence, hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis sowie die Gabe, auch komplexe Sachverhalte klar strukturiert und präzise formuliert darzulegen. Und: Sie besaß ein großes Archiv, in dem sie ihre eigene Arbeit und Zeugnisse ihres beruflichen bzw. politischen Umfelds bewahrte. Mit den an sie gerichteten Fragen mehrten sich die Bitten, ihre Erinnerungen niederzuschreiben, was bei der mittlerweile 80-Jährigen auf fruchtbaren Boden fiel. Auch wenn Margarete Schütte-Lihotzky wiederholt festhielt, sie habe »immer sehr ungern geschrieben und wollte nur bau­ en«,15 so hatte sie ab 1921 kontinuierlich architektur­be­zo­gene und nach 1945 explizit politische Artikel verfasst. Nach ihrem oft zitierten Motto »Jeder Millimeter macht Sinn« unterzog sie auch ihre autobiografischen »Manus« vielen Überarbei­ tungen: Im Bemühen um eine unmissver­ ständ­ liche Vermitt­lung ihrer Sichtweise wurden Textstruk­turen, Inhalte bis hin zu einzelnen Sätzen und Wörtern immer wieder präzisiert und optimiert. Auch für Interviews war sie immer gut vor­bereitet und hatte oft einzelne Aussagen

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durch- und vorfor­muliert.16 Ihren Gesprächspartner/innen stets offen und neugierig gegenüber, überließ sie dennoch nichts dem Zufall. Schütte-Lihotzky arbeitete, wenn auch von Augenpro­ blemen oft beeinträchtigt, intensiv an ihrer Autobiografie, die sie nie als solche bezeichnet hätte. Ihr Elternhaus hatte Wert auf die Ausbildung der Töchter gelegt und deren Selbst­ vertrauen gefördert. So war Jahrzehnte später eine selbst­ bewusste, aber nie eitle, ich-fokussierte Selbstdarstel­lung ihre Absicht. Sie sah sich als wichtige Zeitzeugin, die mit ihren Lebenserinnerungen Wissen weitergeben wollte, das andernfalls verloren wäre. Sie wusste, was, warum und für wen sie sich erinnerte. In einer der frühen Verlagskor­res­pon­ denzen hielt sie fest: »Die Sachlage ist so: Ich werde von den verschiedenen Architekten und anderen, sowie von Institu­ tionen seit längerer Zeit gedrängt meine Lebenser­innerungen zu Papier zu bringen, darunter ist auch das Dokumenta­ tionsarchiv des österr. Widerstandes und ähn­liche Institute, die rein historische Interessen an der Zeit 1938–45 haben. Über die Zeit meiner Arbeit im Widerstand und alle Erleb­ nisse, die daraus folgten kann einzig und allein nur ich noch berichten, da alle anderen, mit denen ich zu tun hatte in der ns-Zeit umgekommen sind. Das ist der Grund, warum ich mit dieser Zeit begonnen habe. […] Aus den beruflich-fach­ lichen Erinnerungen diese Jahre mit allen Zu­sammenhängen einfach auszugliedern, habe ich nie gedacht.«17 Ihr Ziel war es ursprünglich, ein Buch zu schreiben, das chronologisch aufgebaut sein sollte. Im Ausstellungsund Werkkatalog des Wiener mak 1993 schrieb Friedrich Achleitner: »Die eigentliche Botschaft ihres Werkes scheint mir in der Unteilbarkeit der Anstrengungen, in der Un­trenn­ barkeit von Theorie und Praxis, von Gedanken und Hand­ lungen zu liegen. Es gab nie einen Berufsmenschen, einen politischen Menschen und einen Privatmenschen Grete Schütte-Lihotzky nebeneinander, die Architektur war auch kein abgekoppeltes System von Fertigkeiten und Ange­boten und ihre politische Arbeit war auch keine österreichi­sche Parallelaktion.«18 Es sollte anders kommen: Zum Dilemma der unteilbaren »Erinnerungen« wurde unter an­derem die deutschsprachige Verlagslandschaft.19 Erste Publikations­ 58

16  Vgl. UaK, NL MSL, Interviews Radio/TV.

17  Schütte-Lihotzky an Ulrich Conrads, Radstadt, 20.8.1979, UaK, NL MSL, Erinnerungen und Betrachtungen/Verlags­ korrespondenz/Bauwelt. TXT/588. 18  Friedrich Achleitner: Bauen, für eine bessere Welt, S. 10. 19  Zur komplexen Entstehungs- und Erscheinungsgeschichte der »Erinnerungen aus dem Widerstand« vgl. auch Wilhelm Schütte/ Margarete SchütteLihotzky: »Mach den Weg um Prinkipo, meine Gedanken werden Dich dabei begleiten!«. Der Gefängnis-Briefwechsel 1941–1941, hg. von Thomas Flierl, Berlin 2019.

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20  Ulrich Conrads an Schütte-Lihotzky, Berlin, 15.8.1979, UaK, NL MSL, Erinnerungen und Betrachtungen/Verlags­ korrespondenz/Bauwelt, TXT/588.

21  Chup Friemert an Schütte-Lihotzky, Hamburg, 19.11.1981, UaK, NL MSL, Buch »Erinnerungen« III, Briefverkehr, Presse, Abbildungslisten, Kor­ respondenz Jup [sic!] Friemert & andere. 22  Schütte-Lihotzky an Rainer Nitsche, Wien, 29.6.1983, UaK, NL MSL, Erinnerungen und Be­ trachtungen/Verlagskor­ respondenz/Transit, TXT/589. 23  Peter Turrini an Schütte-Lihotzky, Wien, 6.6.1981, UaK, NL MSL, Buch »Erinnerungen« III, Briefverkehr, Presse, Abbildungslisten.

pläne gab es 1979 mit Ulrich Conrads für die von ihm initiier­ te, heute legendäre Reihe »Bauwelt Fundamente«. Monogra­ fien etwa zu Le Corbuiser, Frank Lloyd Wright, Bruno Taut sowie Manifeste der modernen und zeitgenös­sischen Archi­ tektur standen am Programm. Conrads stellte allerdings schon im ersten Brief klar, dass die »mehr fachlich orientierte, aller­dings trotzdem weit gefächerte Leserschaft« für »den politischen Teil Ihrer Erinnerungen […] kein Forum« wäre, und schlug eine moderate Integration der Widerstandszeit vor.20 Restlos überzeugt dürfte er jedoch nicht gewesen sein – das Projekt war nach rund drei Jahren gescheitert. Die Autorin war aber parallel mit unterschied­­lichen deutschen und auch österreichischen Verlagen in Kontakt. Von Bedeutung wurde dabei ab 1981 der deutsche Designer und Designtheoretiker Chup Friemert, der damals zur Frankfurter Küche forschte. Er vermittelte »Genossin Grete« an den Hamburger Konkret Literatur Verlag und ermutigte sie nachhaltig, an ihrer »Architektur-Lebens­ geschichte«21 zu arbeiten. Im Frühjahr 1983 hatte sie die ers­ ten zwei Kapitel über ihre »Studienzeit und Praxis innerhalb der Siedlerbewegung in Wien bis 1926« und »die Frankfurter Zeit 1926–1930« fertiggestellt und arbeitete am dritten Kapitel, die Jahre in der Sowjetunion 1930–1937.22 Ihre Geschichte im kommunistischen Widerstand lag offensichtlich schon um 1980 vor und hatte inzwischen ein Eigen- oder Parallelleben als Filmvorlage entwickelt. So hatte der österreichische Schriftsteller Peter Turrini, zu­ gleich Autor der heftig diskutierten tv-Serie »Die Alpen­ saga«, mit großer Bewunderung ihre Widerstands-Erinne­ rungen gelesen und weitere Kontakte zu Verlagen und zum orf geknüpft.23 Ziel war, bis 1985, vierzig Jahre nach Kriegs­ ende, einen tv-Film zu produzieren. Zunächst wurde aber Harald Sterks Dokumentation »Der Architektur kann keiner entrinnen. Die Architektin und Widerstandskämpferin Margarete Schütte-Lihotzky« im österreichischen Fernsehen am 1. Mai 1985 ausgestrahlt. Erst im Folgejahr wurde die ge­ plante orf-Produktion, der Spielfilm »Eine Minute Dunkel macht uns nicht blind« nach dem Drehbuch und unter der Regie von Susanne Zanke, gedreht und zu Schütte-Lihotzkys 90. Geburtstag, im Jänner 1987, im orf gezeigt.

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Schon im Herbst 1981 war klar, dass Chup Friemert nicht Schütte-Lihotzkys »Architektur-Lebensgeschichte«, sondern ihre »Erinnerungen aus dem Widerstand« heraus­ geben würde. Sie erschienen 1985 im Konkret Verlag und zeitgleich als Lizenzausgabe im Ostberliner Verlag Volk und Welt.24 Der vorhandene Text wurde redigiert und mit einem längeren, von Friemert geführten Interview versehen. Ihm und dem Verlag war klar, dass es sich um die Erinnerungen einer – als Architektin und Politaktivistin – weitgehend Un­ bekannten handelte. Aus der Perspektive der westdeutschen Vergangenheitspolitik war das Thema noch vergleichsweise jung. Anders als in der ddr, wo der kommunistische Wider­ stand ein Teil des politisch-staatlichen Selbstverständnisses war, galt er in der brd lange als Vaterlandsverrat und wurde durch die Westorientierung, den Kalten Krieg und den hege­ monialen Antikommunismus nivelliert. Das änderte sich im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre. Die Beteiligung von Frauen im Widerstand war allerdings länger noch kein For­ schungsgegenstand. In Deutschland waren circa 15 Prozent der kp-Mitglieder Frauen, und mit diesem Prozentsatz kann man ungefähr den (in sich aber wieder differenziert zu be­ trachtenden) Anteil der Widerstandskämpferinnen bezif­ fern.25 In der Rezeption war der Widerstand gegen das nsRegime lange männlich respektive heroisch konnotiert, das gängige Rollenbild stellte Frauen als weitgehend unpolitisch dar. Weiblicher Widerstand zeigte vielfach andere Ausprä­ gungen und war oft unsichtbar, wie im Alltag situierte Sabo­ tageakte oder das Verstecken von Verfolgten. Frauen galten klischeebedingt als unverdächtig – ein (nicht lange anhal­ tender) Umstand, den man zu nutzen versuchte, nachdem in einer ersten Phase viele Widerstandskämpfer inhaftiert, in KZs deportiert oder hingerichtet worden waren. Dennoch: Eine breite historische Wahrnehmung von Widerstands­ kämp­ferinnen setzte sehr spät, teils erst in den 1990er Jahren ein.26 1985 befand man sich mit Schütte-Lihotzkys Buch auf kaum betretenem Neuland.27 Friemert zog in seinem Interview weit über die engere Thematik hinaus einen Parcours durch Schütte-Lihotzkys Leben, ihre Arbeit als Architektin und ihr politisches En­ gagement, von der Kindheit bis in die Nachkriegszeit. Er 60

24   Margarete SchütteLihotzky, Erinnerungen aus dem Widerstand. Das kämpferische Leben einer Architektin von 1938– 1945, Hamburg 1985 und Berlin 1985; Wien 1994, 1998 und 2014. Im Folgenden zitiere ich aus der Zweit­a usgabe von 1994.

25   Christl Wickert: Widerstand und Dissens von Frauen – ein Über­ blick, in: dies. (Hg.): Frauen gegen die Diktatur – Widerstand und Ver­ folgung im nationalsozia­ listischen Deutschland, Berlin 1995, S. 18–31, hier S. 18. 26  Vgl. u. a. Wickert, Frauen gegen Diktatur; Inge Hansen-Schaberg/ Beate SchmeichelFalkenberg (Hg.): Frauen erinnern. Widerstand – Verfolgung – Exil 1933– 1945, Berlin 2000. 27  Als diesbezügliche Pionierleistung gilt: Karin Berger (Hg.): Der Himmel ist blau. Kann sein. Frauen im Widerstand, Österreich 1938–1945, Wien 1985.

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28  Chup Friemert an Schütte-Lihotzky, o.O., o.D. (1984), UaK, NL MSL, Buch »Erinnerungen« III, Briefverkehr, Presse, Abbildungslisten, Korrespondenz Jup [sic!] Friemert & andere. 29  Schütte-Lihotzky an den Konkret Literatur Verlag, o.O., 30.7.1984, UaK, NL MSL, Buch »Erinnerungen« III, Briefverkehr, Presse, Abbildungslisten, Korrespondenz Konkret Verlag. 30  Wojciech Czaja: Besuch bei keiner Köchin, in: Ich bin keine Küche. Gegenwartsgeschichten aus dem Nachlass von Margarete SchütteLihotzky, Ausst.-Kat. Uni­ versität für angewandte Kunst Wien, hg. von Patrick Werkner und exhi­ bition and cultural com­ munication manage­m ent (ecm), Wien 2008, S. 21– 24, hier S. 23. 31  Selbst der Vorwurf der »redomestication« in der feministischen Kritik an der Frankfurter Küche un­ terschlägt nicht SchütteLihotzkys emanzipatori­ schen Anspruch, vgl. Susan R. Henderson: Revolution in the Women’s Sphere: Grete Lihotzky and the Frankfurt Kitchen, in: Debra Coleman/ Elizabeth Danze/Carol Henderson (Hg.): Archi­ tecture and Feminism, New York 1996, S. 221– 253.

war an einer Kontextualisierung sowie sprachlich um »eine lebendige Darstellung«28 ihrer Person bemüht. Die Autorin hingegen wollte eine knappe biografische Erläuterung als Appendix an ihren Text und ein Vorwort von Turrini. Kurz vor Drucklegung spitzte sich der Konflikt zu, da Letzteres nicht vorgesehen war. Schütte-Lihotzky aber befand »[…] das Interview sagt genau das nicht aus, wozu dieses Buch geschrieben ist: in der heutigen Zeit der neofaschistischen Gefahr.«29 Damit war eine ihrer Hauptmotivationen für ihre autobiografische Arbeit explizit genannt: Erinnern als ge­ genwärtig politischer Akt. Biografische Etikettierungen – auto/biografische Konstruktionen

Margarete Schütte-Lihotzky gilt heute als moralische Instanz, als stets politisch denkende, die soziale Verantwortung in Rechnung stellende Architektin und als bis zuletzt politisch aktive Frau. Auf eine Doppelformel gebracht ist sie die Erfinderin der Frankfurter Küche und die wahrscheinlich pro­minenteste (österreichische) Widerstandskämpferin. Die zumeist auf Ersteres verkürzte Sichtweise hatte sie schon zu Lebzeiten kritisiert: »Ich habe in meinem Leben sehr viel mehr gemacht als nur das. Wenn ich gewusst hätte, dass immer alle nur davon reden, hätte ich diese verdammte Küche nie gebaut!«30 Doch ihr »Hauptwerk« bietet polylate­ rale Verbindungen als Ikone der Moderne, als Lösung zur Rationalisierung der Hauswirtschaft, als emanzipatorischer Akt31 oder wird als Kunstzitat zum politischen Statement transformiert. So geschehen im Jahr 2009 bei der instituts­ kritischen Installation des englischen Künstlers Liam Gillick im Deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig: Eine Replik der im Neuen Frankfurt 10.000fach eingebauten Küche, zugleich emanzipatorisch-demokratische Manifesta­ tion, breitete sich raumgreifend just in jenem Ausstellungsort aus, welcher 1937 vom faschistischen Deutschland er­ richtet worden war. An die Etikettierungen Schütte-Lihotzkys sind nicht zu­ letzt leicht transportierbare, multimedial einsetzbare Bild­ forme(l)n, icons, geknüpft, die Raum für eine Popularisierung oder auch Auratisierung bieten. Kaum ein Beispiel

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demonstriert das besser, als der Song »My tribute to the Frankfurt Kitchen« (2008) und das zugehörige Musikvideo des österreichischen, in England lebenden Musikers Robert Rotifer.32 Im Trickfilm aus (von Rotifer gemalten) schwarzweißen Pinselzeichnungen erscheint die titelgebende Küche hör- und sichtbar im Refrain (Abb. 2). Dazwischen tauchen unterschiedliche Bauten und Entwürfe und ein bekanntes, mehrfach variiertes Porträtfoto aus den 1920er Jahren auf. Dabei wird nicht nur der Architektin, sondern auch der kommunistischen Widerstandskämpferin Tribut gezollt, durch Barett mit Sowjetstern und dem Cover der »Erinne­ rungen aus dem Widerstand«. Rotifer hatte durch seine Großmutter Irma Schwager (1920–2015), eine bekannte Widerstandkämpferin und neben Schütte-Lihotzky eine der Integrationsfiguren der kommunistischen Frauenbewegung, zweifellos ein Naheverhältnis zu dem Thema. Durch spiele­ rische Überblendungen kommt es zu einer bildhaften Iden­ tifikation zwischen dem Musiker und seinem »Idol«: Grete Lihotzky goes Pop. Identifikationsmöglichkeiten bot Schütte-Lihotzky mehr­­fach und ihre, wenn auch fragmentarisch publizierten autobiografischen Schriften waren wesentlich dafür ver­ant­ wortlich. Das Musikvideo Rotifers, Spiluttinis Aufnahme von Schütte-Lihotzkys Arbeitsraum, der erwähnte Spielfilm von Susanne Zanke oder Liam Gillicks Installation zeigen, dass Biografie sich in unterschiedlichen Medien manifestie­ ren kann. Dennoch ist sie schwer »jenseits des Textbegriffes zu denken«, zumal auch andere Ausdrucksformen letztlich über den »Umweg des Kommentars« erfasst werden.33 Ausgehend von biografietheoretischen Ansätzen, nicht zuletzt durch Sidonie Smith und Julia Watson, liegen einige Fragen an Schütte-Lihotzys Life Narratives nahe.34 Allgemein – und im vorliegenden Fall speziell – werden der Autobiografie ein hoher Authentizitätscharakter und Wahrheitsanspruch zugewiesen. Ohne hier einen Exkurs über das poststruktu­ ralistische Postulat vom »Tod des Autors« (Roland Barthes) und die komplexe Frage nach Identität auszubreiten, sind doch die Faktoren der Subjektivität und schlicht der »Dif­ ferenz zwischen den zwei Zeitebenen, der Abfassungszeit und des beschriebenen Aktes oder Seelenzustands«,35 ein­ 62

32 https://interactive. wohnzimmer.com/videorotifer-the-frankfurtkitchen.html (zuletzt abgerufen am 11.6.2019).

33  Bernhard Fetz: Die vielen Leben der Biogra­ phie. Interdisziplinäre Aspekte einer Theorie der Biographie, in: ders. (Hg.): Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie, Berlin/New York 2009, S. 3–66, hier S. 4f. 34 Smith/Watson, Reading Autobiography. 35  Manfred Mittermayer: Die Autobiographie im Kontext der »Life-Writing«Genres, in: Fetz, Bio­ graphie, S. 69–101, hier S. 89.

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Abb. 2: Filmstill aus dem Musikvideo »The Frankfurt Kitchen« von Robert Rotifer, 2008 (00:54)

36  Christina Alten­ straßer/ Gabriella Hauch/ Hermann Kepplinger (Hg.): gender housing. geschlechtergerechtes bauen, wohnen, leben, Innsbruck/Wien/Bozen 2007. 37  Vgl. Meike Penkwitt: Erinnern und Geschlecht, in: Erinnern und Ge­ schlecht, Frei­b urger FrauenStudien 19 (= Zeit­ schrift für interdiszi­p linäre Frauenforschung, Jg. 12, Nr. 19), Freiburg 2006, S. 1–26; zu relatio­n aler Biografik siehe u. a. Caitríona Ní Dhúill: Bio­ graphie von ›er‹ bis ›sie‹. Möglichkeiten und Gren­ zen relationaler Bio­g ra­ phik, in: Fetz, Biogra­p hie, S. 199–226.

zukalkulieren. Aus der Gehirnforschung weiß man, dass das menschliche Gedächtnis selektiv vorgeht. Schütte-Lihotzky verstand sich, wie schon gesagt, als wichtige Zeitzeugin. An diesem Anspruch ist nicht zu zweifeln, aber es ist doch zu fragen, welche Narrative wirken, was wurde von ihr ganz be­ wusst erzählt und was nicht. Daran knüpft sich auch die Frage, wie sie erzählt, wie Sprache zum Einsatz kommt. Wie stellt sich bei einer so oft als »Pionierin« bezeichneten Frau/ Archi­tektin36 das Erinnern entlang geschlechtsspezifischer Ka­tego­rien dar – zumal autobiografisches Schreiben von Frauen oft relational und auf einen prominenteren Mann be­ zogen aus­ gerichtet ist? 37 Nicht zuletzt bei auto/biografischen Betrach­tungen einer Architektin spielen auch die Räu­ me und Orte des Erinnerns eine Rolle. Dabei können in einem größeren Kontext Gedächtnisorte, wie sie Pierre Nora defi­niert hat, gemeint sein, die einer kollektiven Erinnerung Raum geben. Bedenkt man Gillicks erwähntes Projekt, so eignet sich die Frankfurter Küche als Gedächtnisort. Aber auch die Zelle im Gefangenenhaus in der Wiener Schiff­amts­ gasse (1941) hat das Potenzial zum Gedächtnisort des Wider­ stands gegen das ns-Regime (Abb. 3). Es stellt sich die Frage,

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Abb. 3: Zeichnung aus dem Gefängnisbüchlein von Margarete SchütteLihotzky, undatiert

wo geschilderte Szenen platziert sind: Sind es sichere Orte oder Angsträume, Räume der öffentlichen oder privaten Sphäre, Räume mit eindeutig geschlechtsspezifischen Fest­ schreibungen? Auch der Körper stellt als Quelle und Ort auto­ ­biografischer Äuße­rungen einen wesentlichen Faktor dar.38 Warum ich Architektin wurde (2004, 2019)

Die ursprünglich »Erinnerungen und Betrachtungen« be­ titelte Lebensgeschichte Schütte-Lihotzkys erschien erst postum 2004 (2. Auflage 2019). Es ist Karin Zogmayer zu verdanken, dass sie jenen weitgehend durchformulierten 64

38  Reading for the Body, in: Kap. Autobiographical Subjects, in: Smith/ Watson, Reading Autobio­ graphy, S. 54.

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39  Margarete SchütteLihotzky: Warum ich Architektin wurde, hg. von Karin Zogmayer, Salzburg 2004 (Neuauflage: Wien 2019). Im Folgenden beziehe ich mich auf die Erstausgabe von 2004. 40  Vgl. Marcel Bois’ Beitrag in dieser Publi­ kation; vgl. Exzerpte zu Michail Gorbatschow: Peristroika, die zweite russische Revolution. Eine neue Politik für Europa und die Welt, München 1987 (1989), UaK, NL MSL, Erinne­ rungen SU Manuskripte.

41  Vgl. die Doppelbio­ grafie von Edith Friedl: Nie erlag ich seiner Per­ sönlichkeit … Margarete Schütte-Lihotzky und Adolf Loos. Ein sozial- und kulturgeschichtlicher Vergleich, Wien 2005.

Teil – er reicht von der Kindheit über die Ausbildungs- und Studienzeit, die Arbeit in der Wiener Siedlerbewegung ab 1920, ihre Zeit in Frankfurt ab 1926 bis hin zur Abreise in die Sowjetunion 1930 – herausgab und einem weiten Leserkreis erschlossen hat.39 Über die Zeit in der Sowjetunion bis in die Nachkriegszeit hinein gab es Vorarbeiten: Hans Wetzler, ihr später Vertrauter, hatte sie vor seinem Tod 1983 noch zur Arbeit ermutigt, was sie bis in die frühen 1990er Jahre auch tat.40 Doch die Autobiografie blieb ein Torso. Der publizierte Teil folgt einer klaren, chronologischen Struktur, die dem literarischen Äquivalent des Bildungsromans entspricht, ein­ gebettet in teils ausführliche historische Kontexte. Schütte-Lihotzky spricht mit drei verschiedenen Stim­ men: Im ersten Kapitel vor allem spricht ein selbstbewusstes weibliches Subjekt. Erfahrbar wird die Entwicklung eines Mädchens aus gutbürgerlicher, bildungsaffiner Familie, die sich mit ihrer Berufswahl in einer Männerdomäne behauptet. Dann spricht die Architektin, wenn sie ausführlich die Frankfurter Küche erklärt oder ihr Baukastensystem für Kin­ ­deranstalten. Und zum dritten ist unüberhörbar ein politi­ scher Mensch am Wort. Nur an manchen Stellen ist der Erzählfluss exkursartig unterbrochen, etwa wenn sie wichtige, ausschließlich männ­ liche Zeitgenossen charakterisiert und ihre Begegnungen mit ihnen schildert. Ihre Lehrer Oskar Strnad und Heinrich Tessenow sowie Persönlichkeiten der frühen Wiener Zeit wie Max Ermers, Adolf Loos, Ernst Egli, Josef Frank oder Otto Neurath, später Ernst May (Frankfurt) zählen dazu. Teils mit Faszination oder Dankbarkeit blickt sie auf diese zurück, doch an keiner Stelle erscheinen relationale Erzählstrukturen, die auf ein dominantes männliches Subjekt verweisen.41 Es tauchen auch keine stärkeren weiblichen (Identifi­ kations-)Figuren auf, denn sie selbst wurde zum role model. Schütte-Lihotzky scheint sich beinahe mühelos überkomme­ ner Iden­titätsmuster einer um 1900 geborenen Frau entledigt zu haben und in patriarchal definierte Räume einge­ drungen zu sein: die Kunstgewerbeschule, wo Frauen von Anbeginn an (1867) studieren konnten, aber dem dekorativen Kunst­gewerbe zugeteilt waren – so etwa in der Architekturklasse Josef Hoffmanns. Anfänglicher Widerstand beim

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Berufs­wunsch, Architektin zu werden, war offensichtlich bald überwunden. Andere männlich konnotierte Räume wa­ ren das Kaffeehaus, das sie als externen Lernraum benutzte, oder die verrauchten Gaststuben der Wiener Siedlerbewegung, wo sie als junge Frau Anfang der 1920er Jahre Vorträge hielt. Nirgends ist ein Wort über diskriminierende Vorkomm­ nisse auf Baustellen zu lesen. Schütte-Lihotzky war offen­ sichtlich um eine Selbstverständlichkeit in diesen Belangen bemüht und blendet dabei mitunter reale Diskrimierungen aus. Aus dem Interview mit Friemert (1985) und Quellen weiß man, dass sie – anders als ihr Mann – in der Sowjetunion nie längere Arbeitsverträge und ein deutlich geringeres Gehalt er­hielt. Sie erwähnt nur, dass sie mit der Weltwirt­ schaftskrise 1929 in Frankfurt von einer DoppelverdienerKlausel betrof­fen war und nur Wilhelm seine Anstellung behielt. Erinnerungen aus dem Widerstand (1985, 1994, 2014)

Mit folgenden Worten charakterisierte Peter Turrini 1981 Schütte-Lihotzkys damals noch nicht publiziertes Buch, das heute eine Art Standardwerk und viel zitierte Quelle zum Thema Widerstand darstellt: »Mich hat Ihr Buch ungeheu­ erlich fasziniert und das in zweifacher Hinsicht. Es ist ein historisches Dokument von solcher Genauigkeit und Präzi­ sion, wie es meines Wissens kein zweites gibt und ich bin froh, daß Sie die Kraft gehabt haben, das alles aufzuschreiben. Ich bewundere die Fähigkeit Ihres Erinnerns, denn diese Dinge liegen doch schon 30 Jahre zurück. Das zweite ist das Ausmaß von unsentimentaler Nüchternheit, mit der Sie Ihre Erinnerungen schildern. Es ist fast eine Scheu mit der Sie vermeiden, allzu persönlich zu werden und gerade das macht die Sache umso eindrucksvoller und stärker, weil man nie das Gefühl hat, daß sich hier ein Mensch mit seinen Erleb­ nissen und Leiden in den Vordergrund spielen will. Ich möch­te es noch einmal sagen, für mich ist dieses Buch er­ schütternd und großartig.«42 Die Sprache von Schütte-Lihotzkys Buch ist klar, ohne Pathos oder Bitterkeit. An keiner Stelle ist eine Opferhaltung spürbar, im Gegenteil: »Ich fühlte mich nicht als leidendes, unschuldiges Opfer der Nazis. Ich hatte sie und ihr Regime 66

42  Peter Turrini an Schütte-Lihotzky, Wien, 6.6.1981, UaK, NL MSLK, Buch »Erinnerungen« III, Briefverkehr, Presse, Abbildungslisten.

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43  Schütte-Lihotzky, Er­ innerungen (1994), S. 66. Es irritiert im generell sehr nahe am Ausgangs­t ext orientierten, in Schwarzweiß gedrehten Spielfilm von Susanne Zanke (1986), dass die Figur der Schütte-Lihotzky wie­ derholt in Nahaufnahmen weinend gezeigt wird.

44  Vgl. Flierl, GefängnisBriefwechsel 1941–1945.

45  Primo Levi: Ist das ein Mensch?, deutsche Erstausgabe: Frankfurt am Main 1961.

46 Schütte-Lihotzky, Erinnerungen (1994), S. 7.

bekämpft, und folglich hatten sie mich festnehmen müssen, sobald sie meiner habhaft werden konnten. Die Verhöre waren die Fortsetzung des Kampfes unter anderen Bedin­ gungen. Deshalb empfand ich gegen den einzelnen Gesta­ pomann kaum persönlichen Haß. So konnte ich ohne Emo­ tion, nur der politischen Verpflichtung und der klaren Überlegung folgend, meine Antworten geben.«43 Die Räume, in denen sich das Erlebte vollzog, erscheinen extrem eng und hermetisch. Sie sind ein Kontrast zu ihren transnationalen Erfahrungen und Reisen: Die Gefängniszelle wird zum ver­ meintlich permanent überwachten Mikrokosmos des Grau­ ens. Es gibt kaum einen Distanzraum zum eigenen Körper. Grenzsituationen, wie tagelanges Zittern, nur un­terbrochen durch die stundenlangen Gestapo-Verhöre, oder den Befall mit Hautkrätze durch die katastrophalen hygie­ nischen Bedingungen spart sie nicht aus. Außenbeziehungen spielen kaum eine Rolle. Wie schon in der anderen Publikation findet etwa Wilhelm Schütte kaum eine Erwähnung. Ein auffälliger Umstand, zumal – wie Thomas Flierl mit der Herausgabe des wechselseitigen Brief­ wechsels dokumentiert – gerade ihr in der Türkei verbliebener Mann sie emotional und geistig am Leben hält.44 Anders als Primo Levi, der seinem Freund und Mithäftling Leonardo De Benedetti eine zentrale Rolle am (emotio­nalen) Überleben in Auschwitz zuwies,45 fokussiert Schütte-Lihotzky nicht auf einzelne Personen, sondern das Kollektiv der politischen Häftlinge und ihre Solidarität untereinander. Es geht stets um Haltung und Selbstachtung, gespeist von der Überzeu­ gung, das politisch Richtige zu tun. Als Autorin, drei Jahr­ zehnte später, nimmt sie Über- oder Ausblendungen in Kauf, um rhetorisch forcierte Mittel einzusetzen. Ihr Ziel ist, das Publikum – wie sie immer wieder schreibt – zu fesseln. Ihr Credo dabei ist schon mit dem vorangesetzten Brecht-Zitat offenbart: »Ich erzähle es, weil es alt ist, das heißt, weil es vergessen werden und als nur für vergangene Zeiten gültig betrachtet werde könnte. Gibt es nicht ungeheuer viele, für die es ganz neu ist?«46 Interessant sind auch die anderen Paratexte in ihrer Au­ tobiografie, da sie eng mit der unmittelbaren Motivation in der politischen Gegenwart zusammenhängen. 1994 erschien

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die zweite Auflage von Schütte-Lihotzkys »Erin­ne­rungen« in einem österreichischen Verlag; schon die erste Ausgabe hatte sich vor allem in Österreich verkauft. Schütte-Lihotzky stellte einleitende Worte vor ihren Text und adres­ sierte diesen – wenig überraschend – an drei Zielgruppen: Histori­ ker, die junge, nachfolgende Generation sowie als dritte Gruppe Künstler, Schriftsteller und Filmschaffende. Das Buch wurde in Folge zu einem Kronzeugenbericht des spezifisch österreichischen Widerstands gegen den Na­ tio­nalsozialismus. Zwischen der Erst- und Zweitausgabe war ein breitenwirksamer Paradigmenwechsel in der öster­rei­ chischen Vergangenheitspolitik erfolgt. Die Vorstellung von Österreich als erstes staatliches Opfer des ns-Deutsch­lands war durch die Mittäterschaft vieler Österreicherinnen und Österreicher erodiert. Der Wahlkampf um die Bundes­prä­ sidentschaft des ehemaligen sa-Offiziers Kurt Waldheim 1985/86 befeuerte diesen Wandel, und Schütte-Lihotzky war eine jener Persönlichkeiten, die für das »andere Österreich« standen. Zeitgleich wurde mit dem unter Jörg Haider erfolg­ ten Rechtsruck der fpö (Freiheitliche Partei Österreichs) ab 1986 ein neues politisches Minenfeld virulent. 1994 lief das »Österreich zuerst«-Referendum, allgemein als AntiAusländer-Volksbegehren bekannt. Zuvor, im Jänner 1993, setzte die Zivilgesellschaft mit dem überparteilich organi­ sierten sogenannten Lichtermeer auf dem seit 1938 einschlä­ gig konnotierten Wiener Heldenplatz in der bislang größten Demonstration des Landes ein politisches Zeichen gegen diese Tendenzen. Peter Huemer, Mitinitiator des Republi­ kanischen Clubs (ab 1986) und Mitorganisator des Vereins sos-Mitmensch, der das Lichtermeer organisiert hatte, schrieb das Vorwort zu Schüttes zweiter Ausgabe der »Er­ innerungen«. Dabei war vom anachronistischen Begriff des Helden respektive der Heldin die Rede und von dem wort­ wörtlich infamen Umgang Österreichs mit denjenigen, die sich gegen das Unrecht gestellt hatten. Spät, sehr spät erwies Österreich seiner »großen Tochter« die lange verwehrten Ehrungen.

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Das dritte Leben

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Stationen eines transnationalen Architektinnenlebens

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Von Siedlerhütten und Kernhäusern. Margarete Lihotzkys Beitrag zur Wiener Siedlerbewegung Sophie Hochhäusl

Prolog

Im Jahr 1922 verfasste Margarete Lihotzky einen Artikel für die deutsche Bauzeitschrift »Schlesisches Heim«, in dem die Anliegen der Bewohner und Bewohnerinnen in den Vorder­ grund der Architekturtheorie gerückt wurden (Abb. 1).1 »Gleichgültig ob das Haus groß oder klein ist«, schrieb die damals 25-jährige Lihotzky, »den Kern bilden immer die Haushaltsführung und die Lebensgewohnheiten der Bewoh­ ner.«2 Zu diesem Zeitpunkt hatte sie mehr als ein Jahr mit dem Architekten und Feuilletonisten Adolf Loos (1870–1933) an der Entwicklung von kleinen, aber geräumigen Wohn­ häusern für die Wiener Siedlerbewegung zusammengear­ beitet, die einer strikten Reihenhaustypologie folgten.3 Auch Lihotzkys eigenständige architektonische Arbeit in jenem Jahr war der Bewegung gewidmet, sie beschäftigte sich aber nicht mit den Entwürfen von Reihenhäusern, sondern mit Siedlerhütten und sogenannten Kernhäusern. Hierbei handelte es sich um Minimalhäuser auf kleinstem 70

1  Da ich die frühen Arbeitsjahre Margarete Lihotzkys bespreche, habe ich mich für die durch­ gängige Verwendung ihres ledigen Namens »Lihotzky« entschieden. Sie zeichnete alle Artikel der frühen 1920er Jahre mit Grete Lihotzky oder G. Lihotzky. Ich werde dennoch in Folge ihren offiziellen Vornamen verwenden. Ich danke Mary McLeod für ihren Rat in Bezug auf die namentliche Nennung von Architektinnen.

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Abb. 1: Grete Lihotzky, Schaubild der Sitznische der Siedlerhütte, Wien, 1922, aus: Schlesisches Heim 3 (1922), Heft 2

2  Margarete Lihotzky: Die Siedlerhütte, in: Schlesisches Heim 3 (1922), H. 2, S. 33–35, hier S. 35. 3  Margarete SchütteLihotzky. Soziale Architek­ tur. Zeitzeugin eines Jahr­ hunderts, Ausst.-Kat. MAK – Museum für ange­w andte Kunst, Wien, hg. von Peter Noever, Wien ²1996, S. 21. 4  Für eine detaillierte Analyse von Margarete Schütte-Lihotzkys Kern­ häusern siehe Sophie Hochhäusl: From Vienna to Frankfurt Inside Core-

Raum, die in Etappen nach außen vergrößert werden konn­ ten.4 Aufgrund dieser Berufserfahrung schrieb sie 1922, dass sich das Haus aus dem innersten Kern – also von Haus­halts­ führung und den Lebensgewohnheiten der Bewohner/innen – nach außen entwickeln müsse, »bis es zum letzten, zur Fas­ sade kommt«. »Nicht umgekehrt!«, fügte sie ausdrücklich hinzu.5 Mit diesen Gedanken und ihren Kernhausentwürfen lieferte Lihotzky einen Beitrag zur Wiener Siedlerbewegung sowie zur Lösung des akuten Wohnungs- und Ernährungs­ problems nach dem Ersten Weltkrieg. In ihre planerische Arbeit nahm sie moderne Ideen, die in internationalen Archi­ tektenkreisen verbreitet waren, auf. Sie formulierte jedoch auch früh eine Kritik an normativen Wohn- und Lebens­ modellen und wies damit auf die Diversität und Widersprüch­ lichkeit des modernen Lebens hin. Aufbauend auf den Ar­

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beiten von Eve Blau, Susan Henderson, Nader Vossoughian und Günther Sandner zeige ich im Folgenden anhand von Lihotzkys Kernhäusern eine mögliche Interpretation dieser Kritik der Moderne und wie sie den Siedlungsdiskurs berei­ cherte.6 Ich verorte Lihotzky damit in einer Ideengeschichte und mache sichtbar, wie sie Alternativen zu gängigen Wohn­ typologien schuf. Im Vordergrund standen dabei Gedanken über genossenschaftliche Arbeit und Organisation in Zeiten der Ressourcenknappheit sowie die Stärkung des Sozialen durch Diversität in den Siedlervereinen. »Garten- und Küchenabfälle verwerten«: Die Wiener Siedlerbewegung nach dem Ersten Weltkrieg

Die Wiener Siedlerbewegung war in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg aus der Kleingartenbewegung her­vorge­ gan­gen. Ihre Akteure, darunter viele alleinerziehende Frau­ en, Witwen und Kriegsinvaliden, bekämpften die Nah­rungs­ knappheit durch das Anlegen von Gemüse- und Schre­ber­ gärten.7 Der Mangel an Wohnraum führte zudem zur Grün­ dung von Sied­lungs­genossenschaften am Stadtrand, die den Bau von Kleinstwohnungen forderten. Auf das Bestreben der sozial­ de­ mokratischen Politiker Gustav Scheu (1875–1935) und Max Ermers (1881–1950) hin war 1920 ein Siedlungsamt ge­gründet worden. In diesem waren Loos und bald auch ein Vertreter der Deutschen Gartenstadtbewe­­gung, Hans Kampffmeyer (1876–1932), aktiv.8 Aufgabe dieses Sied­lungs­ amtes war es, die Planung und Implementierung von Reihen­ häusern für tausende Familien abzuwickeln und Siedlungs­ genossenschaften beim Bau von Anlagen zu be­raten. 1921 wurde Lihotzky im ersten provisorischen Bau­büro des Sied­ lungsamtes, im Lainzer Tiergarten, zur Mit­arbeiterin von Loos bestellt. Hier unterstützte sie die frühe Zusammenarbeit mit Siedlungsgenossenschaften, vor allem mit der »Ers­ ten Gemeinnützigen Siedlungsgenos­senschaft der Kriegsin­ vali­den Österreichs« in Lainz, für die sie in den folgenden Mona­ten gemeinsam mit Loos typisierte Sied­lungs­­häuser entwarf.9 Schon im September 1920 hatte die Genossenschaft die ehemaligen kaiserlichen Gründe des Lainzer Tiergartens illegal besetzt, um diese dauerhaft durch Selbstversorger­ 72

House Type 7. A History of Scarcity through the Modern Kitchen, in: Archi­ tectural Histories 1 (2013), H. 1, S. 1–19, online unter: http://dx.doi.org/10.5334/ ah.aq (abgerufen am 20.2.2019). 5  Lihotzky, Siedlerhütte, S. 35. 6  Eve Blau: The Archi­ tecture of Red Vienna, 1919–1934, Cambridge 1999, S. 88–133; Susan Henderson: Housing the Single Woman: The Frankfurt Experiment, in: Journal of the Society of Architectural Historians 68 (2009), H. 3, S. 358–377; Nader Vossoughian: Otto Neurath: Language of the Global Polis, Rotterdam 2008, S. 46–87; Günther Sandner: Otto Neurath. Eine politische Biographie, Wien 2014, S. 156–233. 7  Zum Thema Nahrungs­ knappheit in Wien und Kriegsgemüsegärten im Ersten Weltkrieg siehe Maureen Healy: Vienna and the Fall of the Habsburg Empire: Total War and Everyday Life in World War I, Cambridge/ New York 2004, S. 31–86; dies.: Vom Ende des Durchhaltens, in: Im Epi­ zentrum des Zusammen­ bruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Ausst.-Kat. Wiener Stadt- und Landesarchiv, hg. von Andreas Weigl/Alfred Pfoser, Wien 2013, S. 132–240; Siegfried Mattl: Lob des Gärtners. Der Krieg und die Krise der Urbanität, in: ebd.,

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S. 470–475; Sophie Hochhäusl: Modern by Nature: Labor, Provi­ sioning, and Leisure in Viennese Settlements and Allotment Gardens, 1904– 1954, Diss. Cornell Uni­ versity, New York 2015, S. 96–182. 8  Zu Max Ermers, Hans Kampffmeyer und die frü­ hen Jahre der Wiener Sied­ lerbewegung siehe Blau, Red Vienna, S. 90–94. 9  Zu den Anfängen der österreichischen Siedler­ bewegung siehe Klaus Novy/Wolfgang Förster/ Verein für Moderne Kommunalpolitik: Einfach

siedlungen nutzbar zu machen (Abb. 2).10 Ein »Wirtschafts­ plan für die Siedlung« – wahrscheinlich von Loos und Kampffmeyer verfasst – sah die großzügige Bebauung nach Prinzipien der genossenschaftlichen Landwirtschaft vor: »Anzusiedeln sind min. 2000 Familien mit insgesamt 10.000 Personen«, lautete die Forderung. »Davon sind ca. 500 Fami­ lien der Wirt­schaftssiedlung zuzuzählen […]. Die übrigen, welche bereits in Berufen stehen, werden nur Wohnhäuser samt Garten von 700 m2 erhalten.«11 Abgesehen von einigen Wirtschaftssied­lern, die in geplanten land­wirtschaftlichen Großbetrieben arbeiten sollten, schrieb der Plan hunderte Parzellen für Kleinsiedler vor. Er bestimmte weiterhin, dass die Siedler ihre eigene Nahrungswirtschaft kontrollieren und die Er­träge zum Teil der Bevölkerung Wiens zugute­ kommen soll­ten. Schließlich beschrieb der Plan das Ausmaß von produk­tiven Flächen sowie die Anzahl der Tiere, die jeder Siedler auf einer kleinen Parzelle halten konnte:

Abb. 2: Besetzung des Lainzer Tiergartens in Wien am 19. September 1920

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»Um die Garten- und Küchenabfälle zu verwerten, wer­ den sich in der Siedlung Gruppen bilden, die sich ge­mein­ schaftlich eine Ziege oder ein Schwein halten werden. Natur­ gemäss wird sich aber jeder Siedler 1–2 Kaninchen und 4–5 Hühner halten können. Demgemäss gestal­tet sich die Ver­ teilung des Siedlungslandes folgender­massen: Bau- und Gartenland 2000 × 700 m2 .................. 140 ha Gemeinschaftlichen Zwecken dienende Bauten .. 10 -"Strassen, Wege, etc. ............................................ 10 -"-«12 Mit diesen Vorgaben hielt sich der Wirtschaftsplan strikt an die Ideen von Leberecht Migge (1881–1935), einem deutschen Gartenarchitekten, der 1918 ein Handbuch zum Thema Siedlungsbau und Nahrungsmittelautonomie mit dem Titel »Jedermann Selbstversorger! Eine Lösung der Sied­lungsfrage durch neuen Gartenbau« verfasst hatte.13 Das Handbuch war in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und Österreich weit verbreitet, da es einfache Anleitungen für Städter enthielt, karge Gartenflächen pro­ duktiv zu nutzen. Migge vertrat darin die Position, dass die Gründung von Genossenschaften für den geregelten Sied­ lungsbau mit landwirtschaftlicher Produktion unerlässlich sei. Zudem verband er landwirtschaftliche Produktion mit Reproduktionsfragen, was Loos in gewissem Maße in die Planung der Wohnhäuser aufnahm. Zum Beispiel sah Migge vor, dass die Größe der Familie direkt für die Anzahl der zu haltenden Tiere und in weiterer Folge die Größe der zu be­ bauenden Produktivflächen verantwortlich war. Lihotzky hingegen verstand die Siedlung als eine diverse Gemeinschaft, nicht als eine reproduktive Einheit, in der das Zusammenleben und der Gebrauchswert der Dinge im Mittelpunkt des genossenschaftlichen Daseins stehen sollten. Dieser Fokus zeigte sich schon in Lihotzkys erster Arbeit im Baubüro des Siedlungsamts, bei der sie zusammen mit Loos mit der technischen, formalen und wirtschaftlichen Durch­ arbeitung von Reihenhäusern betraut wurde. Um sogenannte Ersatzmittel zu verwerten, konzipierten Loos und Lihotzky Reihenhäuser – außergewöhnlich für Wien – als Holzkon­ struktionen, wofür ein Teil des Lainzer Waldes gerodet wurde.14 Der Begriff »Ersatzmittel« stammte aus der Kriegs­ wirtschaft und bezeichnete alternative Materialien und Fer­ 74

Bauen. Genossenschaft­ liche Selbsthilfe nach der Jahrhundertwende. Zur Rekonstruktion der Wiener Siedlerbewegung, Wien 1991; Ulrike Zimmerl: Kübeldörfer. Siedlung und Siedlerbewegung im Wien der Zwischenkriegszeit, Wien 2002; Robert Hoffmann: Proletarisches Siedeln. Otto Neuraths Engagement für die Wiener Siedlungsbewe­ gung und den Gilden­ sozialismus 1920 bis 1925, in: Friedrich Stadler (Hg.): Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit. Otto Neurath – Gerd Arntz, Wien 1982, S. 140–148; Wilfried Posch: Die Gar­ tenstadtbewegung in Wien. Persönlichkeiten, Ziele, Erfolge und Miss­ erfolge, in: Bauforum. Fachzeitschrift für Archi­ tektur, Bau, Energie (1998), H. 77/78, S. 9–24. 10  Erste Gemeinnützige Genossenschaft der Kriegsbeschädigten Österreichs, Lainzer Tier­ garten: Gedenkschrift 1920–1930, Wien 1930, S. 10. 11  Wirtschaftsplan für die Siedlung der Kriegs­ beschädigten im Lainzer Tiergarten, 28.10.1920, Adolf Loos Archiv, Alber­ tina Wien, ALA47 (B6). 12 Ebd. 13  Die Publikation war so gefragt, dass sie schon 1919 neu aufgelegt wurde. Leberecht Migge: Jeder­ mann Selbstversor­g er! Eine Lösung der Sied­

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lungsfrage durch neuen Gartenbau, Jena 1918. 14  Vgl. Roman Sandgruber: Ökono­m ie und Politik. Öster­ reichische Wirtschaftsge­ schichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien 1995, S. 323–325; Kriegsbeschädigten Gedenkschrift, S. 10f. 15  Lihotzky war eine der Ersten, die innerhalb der Siedlerbewegung über industrielle Vorfertigungs­ prozesse nachdachte. Bei den Häusern in Lainz aber kamen diese Gedanken noch nicht zum Tragen, da Arbeitsbeschaffung durch manuelle Bauweise ein wichtiger Aspekt der ge­ nossenschaftlichen Arbeit war. Zu Lihotzkys Ideen zur industriellen Vorfertigung vgl. Grete Lihotzky: Wiener Kleingarten- und Siedler­ hüttenaktion, in: Schlesi­ sches Heim 4 (1923), H. 4, S. 83–85. 16  Hans Kampffmeyer: Friedensstadt, Jena 1918, S. 10. 17 Kampffmeyers Einfluss ist allein dadurch ersichtlich, dass die Anlage Siedlung Frie­ densstadt benannt wurde. 18  Otto Neurath: Das umgekehrte Taylor-System. Auch etwas zur Auslese der Tüchtigen, in: ders.: Durch die Kriegswirtschaft zur Naturalwirtschaft, München 1919, S. 205– 208.

tigungsprozesse, mit denen dem Rohstoffmangel begegnet werden sollte. Darüber hinaus beruhten die Häuser auf typi­ sierten und variablen Grundrissen, die planerisch standar­ disiert, aber nicht industriell vorgefertigt wurden.15 Diese Voraussetzungen ermöglichten es den Siedlern, Baumate­ria­ lien kostengünstig zu beschaffen und manuell vor Ort zu verarbeiten. Durch die Typisierung konnten außerdem Bau­ elemente leicht von ungelernten und von körperlich beein­ trächtigten Bewohnern bearbeitet werden. Etliche Siedler waren tatsächlich Kriegsinvaliden, sodass der genossen­ schaftlichen Arbeit eine Debatte vorausgegangen war, wie diese wieder in den Arbeitsprozess einbezogen werden könnten. Kampffmeyer hatte dazu das Buch »Friedensstadt« verfasst, das den Bau von Gartenstädten als lebendige Zeug­ nisse für den Frieden propagierte, anstatt Geld für die Errich­ tung von Kriegerdenkmälern aufzuwenden.16 Diese Ideen waren wegweisend für den Siedlungsbau in Lainz.17 »Neue Berufe und Organisationsformen für Menschen«: Genossenschaftliche Arbeit im Österreichischen Verband für Siedlungs- und Kleingartenwesen

Wesentlich für die Entwicklungen der Siedlerbewegung in den folgenden Jahren sowie für Lihotzkys Arbeit waren die Wirtschaftstheorien des Philosophen und Ökonomen Otto Neurath (1882–1945). Schon 1917 hatte Neurath den Artikel »Das umgekehrte Taylor-System« publiziert, in dem er eine Theorie zum Wesen der Arbeit entwarf, die dafür plädierte, Aufgaben auf die Fähigkeiten der Menschen abzustimmen.18 Nicht Technologie und erhöhte Produktivität sollten im Zentrum stehen, sondern die geistigen und körperlichen Fertigkeiten der Bevölkerung, und deren Möglichkeit, ver­ schiedenen Beschäftigungen nachzugehen. Dabei berück­ sichtigte Neurath Alter und psychologische Faktoren und schlug vor, dass gewisse Arbeiter sich etwa nur an Vier- oder Fünfstundentagen betätigen könnten. Nach einer Analyse der negativen Auswirkungen des gängigen Arbeitssystems schrieb er: »All das wird aber vermieden, wenn wir auch das ›um­ gekehrte Taylorsystem‹ anwenden, welches nicht, wie das bisher übliche Taylorsystem darauf aus ist, mit den Berufen

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als etwas Gegebenem zu rechnen, sondern den Menschen in den Vordergrund rückt und nun die möglichen Berufe und Organisationsformen daraufhin prüft, wie sehr sie den Men­ schen, wie wir sie vorfinden, entsprechen. Vielleicht sind die vorhandenen Berufe und Organisationsformen für die Men­ schen nicht ausreichend geeignet, vielleicht müssten zur Er­ reichung des vollen Menschentums zum Zweck der besten Ausnützung aller Kräfte für die jeweils erstrebten Ziele neue Berufsformen, neue Organisationsformen geschaffen wer­ den.«19 Neuraths Aufgabe in der Siedlerbewegung lag unter anderem darin, solche Organisationsformen als ge­nossen­ schaftliche und gemeinwirtschaftliche Arbeit zu formu­ lieren. Vor dem Hintergrund anhaltender Arbeitslosigkeit schuf er zum Beispiel die Rahmenbedingungen für Ferti­ gungsprozesse im Bauwesen, die weitgehend manuell be­ sorgt werden konnten. In größerem Maßstab weiterentwi­ ckelt, könnten diese zu einer umfassenden Arbeitsbeschaf­ fung dienen. Loos schrieb später zur Fertigung der Sied­ lerhäuser in Holz: »Ich habe ein System ausgedacht, das keine andere Kunstfertigkeit verlangt als die, einen Nagel eintreiben zu können, was jeder Gärtner verstehen muss.«20 Diese Formulierung kann nur als eine extreme Verkürzung der kom­­plexen arbeitstheore­tischen und soziopolitischen Pro­ bleme im Wien der frühen 1920er Jahre verstanden werden. Obwohl Lihotzky mit der Typisierung der Grundrisse und Bauteile betraut war, wurden die ersten Reihenhäuser der Siedlerbewegung in Lainz stark von weiteren Loos’schen Prinzipien geprägt, zumal dieser auch als Chefarchitekt zeichnete. Dabei sollte jede Siedlung primär vom Garten aus­gehen.21 »Der garten ist das primäre, das haus das sekun­ däre«, vertrat Loos in einem Vortrag 1926.22 Der Entwurf des Hauses müsse also an den Garten und dessen planerische Elemente angepasst sein, und einige Räume – Wirtschaftshof und Spülküche – sollten die Verbindung zwischen Haus und Garten herstellen. Zudem postulierte Loos, dass Wohnen und Schlafen in den Siedlerhäusern auf zwei Etagen getrennt werden müssten, sodass der Wohnbereich immer zum Garten hin erschlossen wäre.23 Ferner bestand er darauf, dass 76

19  Ebd., S. 206.

20  Adolf Loos: Regeln für die Siedlung (1920), in: Wiener Zeitung, Beilage, 8.12.1934, S. 1; Nachdruck in: ders.: Die Potemkinsche Stadt. Ver­s chollene Schriften, 1897–1933, hg. von Adolf Opel, Wien 1983, S. 178f.

21  Loos, Regeln, S. 178. 22  Adolf Loos: Die Moderne Siedlung. Ein Vortrag (1926), in: ders.: Trotzdem, 1900–1930, hg. von Adolf Opel, Wien 1982, S. 211–240. 23  Adolf Loos: Wohnen Lernen (1921), in: ebd., S. 165.

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24  Loos, Die Moderne Siedlung.

25  Burkhardt Rukschcio/ Roland L. Schachel: Adolf Loos. Leben und Werk, Salzburg 1982, S. 255.

26 Kriegsbeschädigten Gedenkschrift, 1930, S. 22–16.

27  Ebd., S. 26.

28  Otto Neurath: Entstehung des österrei­ chischen Verbandes für Siedlungs- und Klein­ gartenwesen, in: Öster­ reichs Kleingärtnerund Siedlerorganisation, Wien 1923, S. 16. 29  Zur GESIBA vgl. Renate Banik-Schweitzer: Der staatlich geförderte, der kommunale und der gemeinnützige Wohnungsund Siedlungsbau in Österreich bis 1945, Diss. Universität Wien 1972; Barbara Feller: 75 Jahre Bauen für Wien. Die Geschichte der GESIBA, Wien 1996.

sich das Haus für Veränderungen, etwa Familienzuwachs, eignen sollte.24 In dieser Hinsicht implementierte er die re­ pro­duktive Logik Migges und führte sie in die Gestaltung des Hauses ein. Auf Ebene der gesamten Siedlerbewegung räum­ ­te zusätzlich ein Punktesystem kinderreichen Familien einen Vorzug innerhalb der Anlagen ein. Trotz der gefeierten Eröffnung und Fertigstellung einer Häuserzeile im Jahr 1921 wies die Gemeinde Wien die Reali­ sierung des Großteils der geplanten Siedlung Friedensstadt zurück. Der von Loos vorgeschlagene Bebauungsplan sei zu modern.25 Erschwerend kam hinzu, dass Wien Ende 1920 zu einem eigenen Bundesland erhoben wurde und das Sied­ lungsgebiet in Lainz nun außerhalb der Stadtgrenzen lag. So hatte die Genossenschaft den Anspruch auf Förderungen durch die Gemeinde verloren. Auch die Kredite des Bun­ des-, Wohn- und Siedlungsfonds blieben bald aus.26 Obwohl 1921/22 noch 46 Häuser und sieben Fundamente fertigge­ stellt werden konnten, kam die genossenschaftliche Arbeit fast zum Erliegen. Da ein verbindlicher Bebauungsplan fehl­ te, entschieden die Siedler, ihre Häuser in Eigenregie zu bauen.27 Diese glichen den in Wien schon verbreiteten Klein­ gartenhütten. Auf institutioneller Ebene bewirkte der Rückschlag in Lainz jedoch, dass das Bauen mit Ersatzmaterialien und dem maximalen Einsatz von genossenschaftlicher Arbeit und Selbsthilfe thematisiert und bald im größeren Stil in Wien realisiert werden konnte. Anfang 1921 vereinte Neurath den Zentralverband der Kleingärtner und den Hauptverband der Siedler im Österreichischen Verband für Siedlungs- und Kleingartenwesen (övsk).28 Ende desselben Jahres integrier­ te er diesen wiederum in die Siedlungs-, Wohnungs- und Bau­gilde Österreichs und erreichte damit den Zusammen­ schluss von Wohnbau-Konsumenten und -Produzenten in einem Dachverband. Außerdem wirkte er als Sekretär des övsk an der Gründung der Gemeinwirtschaftlichen Sied­ lungs- und Baustoffanstalt (gesiba) mit, welche die Beschaf­ fung von Materialien, Maschinen und die Abwicklung des Siedlungs­baus besorgte.29 In den Folgejahren wurden überdies in der ganzen Stadt neue Baumethoden mit Ersatzmitteln erprobt. Unmittelbar

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nach dem Krieg hatte zum Beispiel der Architekt Josef Frank (1885–1967) schon 1919 mit Wohnhäusern aus Gussbeton experimentiert.30 In den frühen 1920er Jahren verwendeten manche Siedlungsgenossenschaften, wie die in Altmanns­ dorf-Hetzendorf, in Handarbeit gefertigte Hohlziegel, soge­ nannte Pax-Ziegel.31 In Zusammenarbeit mit Frank verwan­ delte die Genossenschaft Altmannsdorf-Hetzendorf eine bestehende Kleingartenanlage mit dem Einsatz von PaxZiegeln in eine moderne Wohnsiedlung für 270 KleingärtnerFamilien mit einer Reihe sozialer Einrichtungen.32 In dieser Anlage, Siedlung Hoffingergasse genannt, steuerte außerdem jeder Siedler anfangs 1000 und später bis zu 1600 Stunden zum gesamten genossenschaftlichen Arbeitsprozess bei.33 Die Arbeit von Jugendlichen und Frauen wurde dabei der Familie zugerechnet und um 25 Prozent geringer gewertet als jene der männlichen Siedler.34 Mit einer Fülle an gemein­ schaftlichen Einrichtungen wurde die Siedlung Hoffinger­ gasse zu einem herausragenden Beispiel des von der Gemein­ de geförderten genossenschaftlichen Siedlungsbaus. »Vielen ermöglichen, zu einem Häuschen zu kommen«: Die Kernhausaktion der Gemeinde Wien

Die Gründung des övsk und der gesiba ermöglichte es Lihotzky, einen Vorschlag zu einem Problem zu entwickeln, das sie bei der Arbeit im Lainzer Baubüro erkannt, aber nicht gelöst hatte. Sie hatte beobachtet, dass viele neue Siedler keine Zeit hatten, ihre Reihenhäuser in einem Zug und in genossenschaftlicher Selbsthilfe zu bauen. Weiters verstand sie, dass einige Kleingärtner ihre Hütten nur notdürftig er­ richtet hatten, weil die Gemeinde keine Kredite gab. Dabei benötigten gerade die armen Siedler und Kleingärtner die Vorteile der genossenschaftlichen Arbeit und die Unterstüt­ zung der Architekten. Mit Empathie schrieb Lihotzky: »Es gibt in Wien etwa 40.000 Kleingärtner, deren Par­ zellen die Größe von 400 Quadratmeter im Allgemeinen nicht überschreitet. Ein großer Teil dieser Kleingärtner hat sich in primitiver Weise Lauben und Hütten durch Selbsthilfe errichtet. Der einzelne kaufte Ziegel, Pfosten, Bretter, Pappe, wo er sie gerade bekam; mancher deckte seine Hütte mit dem Blech alter Kondensmilch-Dosen oder er kaufte einen alten 78

30  Josef Frank/Hugo Fuchs/Franz Zetting: Wohnhäuser aus Guß­ beton, in: Der Architekt 2 (1919), H. 1/2, S. 33; Josef Frank: Die Wiener Siedlung, in: Der Neubau 6 (1924), H. 3, S. 25–29. 31  Vgl. Bei den Siedlern am Rosenhügel, in: Arbei­ ter-Zeitung, 31.7.1921, S. 6f.; Vgl. auch Klaus Novy: Die Pioniere vom Rosenhügel, in: UmBau (1981), H. 4, S. 43–60, hier S. 51; Blau, Red Vienna, S. 112; Novy/ Förster, Einfach Bauen, S. 62–64. 32  Zu Josef Frank in der österreichischen Siedlerbewegung siehe Christopher Long: Josef Frank. Life and Work, Chicago 2002, S. 52–64; Leon Botstein: The Consequence of Cata­ strophe, in: Nina StritzlerLevine (Hg.): Josef Frank, Architect and Designer. An Alternative Vision of the Modern Home, New Haven 1996, S. 30–44; Maria Welzig: Josef Frank (1885–1967). Das archi­ tektonische Werk, Salzburg u. a. 1998, S. 90-105; Iris Meder (Hg.): Josef Frank 1885–1967. Eine Moderne der Un­ ordnung, Salzburg/Wien 2008, S. 31–51. 33  Hans Kampffmeyer: Siedlung und Kleingarten, Wien 1926, S. 25. 34  Ebd., S. 28f.

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Abb. 3: Margarete Lihotzky, Entwurf einer Siedlerhütte für Type A, Vorder- und Seitenansicht, 1922, Architekturpause laviert

35  Lihotzky, Wiener Siedlerhüttenaktion, S. 83.

36  Wer Hütten bauen will, in: Kleingärtner und Siedler 1 (1923), H. 3, S. 2. 37  Lihotzky, Wiener Siedlerhüttenaktion, S. 85.

Waggon der elektrischen Straßenbahn, um darin wohnen zu können. Wir dürfen über diese Art der Selbsthilfe nicht zu sehr klagen, obwohl dadurch Wiens Umgebung nicht beson­ ders verschönert wurde; wären doch ohne diese Not- und Selbsthilfe viele Kräfte brach gelegen; auch wäre die Bewe­ gung nicht so stark geworden, dass sie schließlich eine zentrale Hüttenerzeugung ermöglicht.«35 Im Jahr 1922 entwarf Lihotzky deshalb die schon er­ wähnten Siedlerhütten, die nur einen minimalen Wohn­ komfort boten, aber in Etappen zu einem vollständigen Haus ausgebaut werden konnten (Abb. 3). Bis 1923 entwickelte sie im Baubüro des övsk 20 Varianten, von einer minimalen 10 m2 großen Siedlerhütte bis zu einem fertig ausgebauten Kernhaus mit 57,2 m2.36 Außerdem bot das Baubüro den Siedlern individuelle Beratung an und erfasste mit Hilfe von Fragebögen Daten zu deren Bedürfnissen.37 »Durch Einstel­ lung der staatlichen Kredite sind die Siedlungsgenossen­ schaften – die sich in Österreich auf Mitarbeit der Siedler gründet – gezwungen, ihr Bauprogramm vollständig umzu­ stellen«, erklärte Lihotzky. »Sie sind mit den geringen Gemeindemitteln, welche sie bekommen, nicht mehr in der Lage, Häuser mit Wohnküche, Spülküche und drei Schlaf­ räumen herzustellen, und greifen daher zu der naheliegenden Idee des sogenannten Kernbaues (der Siedlerhütte),

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welcher einen Teil des späteren Siedlerhauses bildet.«38 Die Siedlerhütten alleine, räumte sie an anderer Stelle ein, wären sicher »Notheime« und sollten »keineswegs als besonderes Wohnideal hingestellt werden«.39 Mit dem Ausbau von Sied­ lerhütten als Kernbau konnten diese aber langfristig in voll­ wertige Häuser verändert werden, ohne dabei stark umge­ baut oder abgerissen werden zu müssen. Das Ziel war er­ reicht, so Lihotzky, »die fertige Type hat sich somit von der Kleingar­ tenhütte zum vollkommenen Siedlerhaus entwi­ ckelt«.40 Gleichzeitig bemühte sich Lihotzky, gute und langlebige Möbel für diese Kleinsthäuser herzustellen. Hierbei teil­ te sie mit Loos die Grundeinstellung, dass die wichtigsten Möbel als raumbildend in die Architektur einbezogen werden sollten.41 Diese spezifischen Überlegungen führten zur Gründung einer eigenständigen Abteilung innerhalb des övsk-Baubüros. Die sogenannte Warentreuhand stellte soli­ de Möbel zu günstigen Preisen für die Siedler und die Arbei­ terschaft her. Eine Beratungsstelle für Einrichtungsgegen­ stände, als deren Chefdesignerin Lihotzky fungierte, bot zusätzliche Dienstleistungen an.42

38  Ebd., S. 83.

39  Lihotzky, Die Siedlerhütte, S. 35.

40  Lihotzky, Wiener Siedlerhüttenaktion, S. 4 41  Vgl. Grete Lihotzky: Einiges über die Ein­ richtung österreichischer Häuser unter besonderer Berücksichtigung der Siedlungsbauten, in: Schlesisches Heim 2 (1921), H. 8, S. 217–222; Loos, Moderne Siedlung, S. 197. 42  Grete Lihotzky: Bera­ tungsstelle für Wohnungs­ einrichtung, in: Die Neue Wirtschaft, 31.1.1924, S.  12.

Abb. 4: Margarete Lihotzky, Kernhaus Type 4, im Maßstab 1:1 eingerichtetes Modellhaus für die 5. Wiener Kleingarten-, Siedlungs- und Wohnbauausstellung auf dem Rathausplatz, September 1923

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43  Max Ermers: Führer durch die Wiener Klein­ garten-, Siedlungs- und Wohnbauausstellung, Rathaus, 2.–9.9.1923, Wien 1923; Otto Neurath: Entstehung des öster­ reichischen Verbandes für Siedlungs- und Klein­ gartenwesen, in: ders.: Österreichs Kleingärtnerund Siedlerorganisation, Wien 1923. 44  Otto Neurath: Kern­ hausaktion der Gemeinde Wien, in: Österreichische Städte Zeitung, 7.7.1923, S. 1–8. 45  Die vorgefertigte Küche des Kernhauses Type 7 war schon im Jahr 1922 ausgestellt und prämiert worden. 1923 wurde die Küche erstmals in einem voll ausgebauten Kernhaus gezeigt. Siehe Textdokumente in Archiv der Universität für ange­ wandte Kunst, Wien, Nach­ lass Margarete SchütteLihotzky (UaK, NL MSL), PRNR 28. 46  Otto Neurath: Die Vorbereitung der Klein­ garten-, Siedlungs- und Wohnbauausstellung, 1923, in: Österreichische Städtezeitung, 9.9.1923, S. 132f. 47  Neues Leben – Zur Kleingarten-, Siedlungsund Wohnbau­a usstellung im Rathaus, in: ArbeiterZeitung, Morgen­b latt, 2.9.1923, S. 2.

Die Ergebnisse dieser Bemühungen wurden ebenso wie jene von hunderten Vereinen und Genossenschaften im Herbst 1923 in einer großen Kleingarten-, Siedlungs- und Wohnbauausstellung im Wiener Rathaus gezeigt.43 Deren Höhepunkt waren sieben Ansichtshäuser in Originalgröße, darunter vier von Lihotzky entworfene »Kernhäuser« (Abb. 4). Diese waren dafür konzipiert, in vier Phasen gebaut zu werden. Lihotzky hatte sie so typisiert, dass Gebäudeelemente zu reduzierten Preisen über die gesiba bezogen wer­ den konnten.44 Außerdem entwarf sie eine erste vollständig vorgefertigte Küche mit »Typenmöbeln«, also robusten Standardmöbeln, die in der Warentreuhand erworben wer­ den konnten.45 Diese ausgestellten Entwürfe und die Angebote der Warentreuhand kommentierte die Presse begeistert. Neurath schrieb im Herbst einige Artikel zur »Kernhaus-Aktion« und würdigte Lihotzkys Arbeit im Besonderen. »Man denke doch nur, dass alle toten Ecken wegfallen, dass aller Raum über den Kästen voll ausgenützt wird! Dort oben können im Sommer die Winterkleider, im Winter die Sommerkleider untergebracht werden, Einsiedegläser, Vorräte aller Art fin­ den einen sicheren und geordneten Aufenthalt«, schrieb er euphorisch über die Einbaumöbel.46 Die »Arbeiter-Zeitung« berichtete über die Vorzüge der wachsenden Siedlerhäuser für die Arbeiterschaft: »Die Kernhausaktion der Gemeinde Wien wird es vielen, die heute vielleicht nicht einmal eine eigene Wohnung besitzen, ermöglichen, zu einem Häuschen zu kommen.«47 Elisabeth Janstein notierte sogar, dass der Sieg rationaler Effizienz selten so überzeugend und gemüt­ lich gewesen sei wie in den Kernhäusern. Über die ausge­ stellten Siedlerhäuser schrieb sie: »Da sind sie also, diese Zauberhäuser mit ihrem Tisch­ lein-deck-dich, die mit ihren lebhaften Farben, dem nied­ rigen Dach und dem Gebälk ein wenig an die Kuchenhütte der Hexe in ›Hänsel und Gretel‹ erinnern. Sie tun aber nur so märchenhaft und unpraktisch, in Wirklichkeit sind sie ganz erwachsene und ernsthafte Wohnstätten, von einer Be­ quem­lichkeit um die sie manches dreistöckige Haus beneiden könnte. Es ist wirklich wahr – in jedem dieser wunderbar eingeteilten, mit den einfachsten Mitteln künst­­lerisch

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ausgestatteten Räume hat man das Gefühl, Hut und Schirm hinlegen und sagen zu wollen: ›Hier bleibe ich!‹ Selten ist der Sieg der Vernunft und der Zweckmäßigkeit überzeugender gestaltet worden als hier, man fühlt: ›So ist es und kann gar nicht anders sein‹, jeder Stuhl, jedes Buch ist an dem Platze, den sie wirklich fordern, aus einem tieferem Gesetze heraus, als es pedantische Ordnung zu schaffen vermag.«48 Als eine der wenigen internationalen Stimmen widmete Francesca Wilson Lihotzkys Kernhäusern einen langen Arti­ kel, in dem sie ebenfalls deren Funktionalität und Bequem­ lichkeit hervorstrich. Die harte Hausarbeit, schrieb sie, wur­ de beim Entwurf von Kochnische und Küche berücksichtigt – Zonen, die »unglaublich bequem« anmuteten.49 Diese positive zeitgenössische Rezeption der Häuser basierte vor allem auf Lihotzkys Idee, dass Hauswirtschaft und Gewohn­ heiten der Bewohner immer im Mittelpunkt der Organisation des Hauses stehen müssten.50 Auch in den Monaten nach der Kleingarten-, Siedlungsund Wohnbauausstellung 1923 erfuhren die Kernhäuser weiterhin Resonanz. Neurath hoffte etwa, dass diese die Wohnungsnot in Zeiten enormer Krise lindern könnten, besonders dort, wo keine Bundes- oder Gemeindeförderungen zur Verfügung standen. »Es besteht die Möglichkeit, durch den Verband und die Gemeinwirtschaftliche Siedlungsund Baustoffanstalt, als Zentralstellen in dieser schweren Krisenzeit den Kleinwohnungsbau planmäßig weiterzufüh­ ren. Eine Reihe von Baugenossenschaften, deren große Bau­ projekte nicht fortgeführt werden können, hat bereits die Errichtung von Kernhäusern begonnen«, hatte er schon im Juli vor der Ausstellung geschrieben.51 Eingebettet in die größere kooperative Arbeit entstanden in der Tat über die nächsten Jahre einige Kernhäuser in den Wiener Siedlungen, obwohl diese durch die beträcht­ lichen finanziellen Mittel, welche die Bewohner aufzubrin­ gen hatten, nicht zum erhofften kommerziellen Erfolg führten.52 Immerhin wurden trotzdem etwa 200 Kernhäuser für un­gefähr 1000 Menschen zu einem neuen Zuhause. In Lainz, wo nach 1921 keine Reihenhäuser mehr gebaut wurden, begannen die Siedler 1922 mit dem Bau von 34 Kernhäusern. 82

48  Elisabeth Janstein: Die Wohnbau- und Siedlungsausstellung der Gemeinde Wien. Tiere, Blumen und Obst im Rathaushof, in: Der Tag, 2.9.1923, S. 4. 49  Francesca Wilson: The Resurrection of Vienna, Houses on the Land Set­ tlement, in: The Manchester Guardian, 26.10.1923, S. 6. 50  Irene Witte an Margarete Lihotzky, 2.1.1923, UaK, NL MSL, PRNR 28/10/TXT.

51  Neurath, Kernhaus­ aktion der Gemeinde Wien, S. 8.

52 Kriegsbeschädigten Gedenkschrift, S. 27.

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»Zuerst der Kern, dann die Fassade«: Organisation, Diversität und modernes Leben

53  Susan Henderson: A Revolution in the Woman’s Sphere. Grete Lihotzky and the Frankfurt Kitchen, in: Debra Coleman/Elizabeth Danze/ Carol Henderson (Hg.): Architecture and Feminism, New York 1996, S. 221– 253. 54  Vgl. Herda Müller: Die Werk­b undausstellung und Wir, in: Arbeiter-Zeitung, 18.7.1932, S. 3.

55  Lihotzky, Einiges über die Einrichtung öster­ reichischer Häuser, S. 217.

In ihrem Artikel »A Revolution in the Woman’s Sphere«, hat Susan Henderson 1996 aufgezeigt, dass die Frankfurter Küche – wider Schütte-Lihotzkys Absichten – in den späten 1920er Jahren zur Redomestizierung der Frauen in der Weimarer Republik beigetragen hat.53 Da bei den Wiener Kernhäusern auch Rationalität und Hauswirtschaft im Mit­ telpunkt standen, müssten diese ähnlich betrachtet werden. In der Tat wurde die Siedlerbewegung in der Wiener Arbei­ terschaft ab Mitte der 1920er Jahre zum Teil für ihren klein­ bürgerlichen Charakter sowie für die rückständige technische Ausstattung, die Frauen noch stärker an das Haus band, stark kritisiert.54 Andererseits könnten Kernhäuser heute, vor allem im spezifischen Kontext der Wiener Sied­ler­ bewegung, auch als Kritik an deren Familienpolitik und den propagierten dominanten Ansätzen moderner Archi­tektur verstanden werden. Lihotzkys Postulat »Zuerst der Kern, dann die Fassade – nicht umgekehrt« weist zum Bei­spiel auf eine fundamentale Kritik der modernen Archi­tektur hin, die sich nunmehr nicht auf das Formale, son­dern auf das Soziale richten sollte. Diese gemeinnützige Ausrich­tung kann als ein direkter Gegensatz zu den von Migge und Loos vertretenen Ideen in der Siedlerbewegung verstanden wer­den, bei denen der Garten, die Produktion und die repro­duk­tive Logik das Planerische bestimmten. Bei Lihotzky hingegen stand nicht nur die Küche, son­ dern die Wohnküche, also das Zusammensein im Haus im Vordergrund, sowie die Stärkung der Gemeinschaft durch die Warentreuhand. Zudem versuchte Lihotzky zum ersten Mal mit ihren Entwürfen, der diversen Bewohnerschaft in den Siedlungen und Kleingartenanlagen gerecht zu werden. Schon in ihrem ersten Artikel überhaupt hatte sie geschrieben: »Das Wohnhaus ist die realisierte Organisation unserer Lebensgewohnheiten.« Sie plädierte für genaue Studien über die Arbeit im Haushalt sowie zu Genuss und Ruhe.55 Anders als später in Frankfurt führte sie in Wien ressourcensparende Haushaltsgegenstände und Möbel aus leicht erhält­ lichen Materialien wie Ziegel oder Holz in der Siedlerbewegung ein, die in einer Kombination aus manu­ellen und indus­triellen

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Abb. 5: Margarete Lihotzky, Kernhaus Type 7, Wohnküche mit Herd und Sitzbank, 1923, Tuschzeichnung

Fertigungsprozessen entstanden (Abb. 5). Mit ihrem Hinweis auf die zentrale Bedeutung der Gewohnheiten von Bewoh­ nern und Bewohnerinnen forderte Lihotzky vor allem, dass Kernhäuser größere Möglichkeiten für unterschiedliche familiäre Kon­­­­stel­la­tionen in einem kooperativen Rahmen bieten müssten. Das schloss alleinstehende Menschen, junge Paare und andere nicht nukleare Familien – zum Beispiel Lebensge­­mein­schaften von Frauen nach dem Krieg – mit ein, die in der Siedlungs­bewegung nur wenig Beachtung fanden. Schließlich bot auch die gemeinwirtschaftliche Waren­ treuhand solides Design und Beratung zu geringen Preisen an und machte die genossenschaftlichen Errungen­schaften einem weiteren Kreis der Bevölkerung zugänglich.56 Für das Verständnis von Lihotzkys Arbeit in der Sied­ lerbewegung zeigen die Kernhäuser daher eine frühe Hin­ 84

56  Vgl. Grete Lihotzky: Neues Wohnen. Der Kampf gegen den Möbel­ schund, in: ArbeiterZeitung, 8.9.1923, S. 9.

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wendung zum Sozialen und einen intensiven Dialog mit anderen Planern und Ökonomen über genossenschaftliche Arbeit und genossenschaftliches Bauen sowie über die Rolle von Frauen, Kindern und Menschen mit Behinderung inner­ halb der Bewegung. Diesen Dialog führte sie vor allem mit Neurath und Frank, mit denen sie in den 1920er Jahren auch die politische Weltsicht verband. Gleich­zeitig aber bewies die Arbeit an den Kernhäusern eine frühe vielschichtige und unabhängige Arbeitspraxis, in der sich Lihotzky klar von der Produktions- und Reproduktionslogik eines Migge und zum Teil auch von Loos abgrenzte. * Ich möchte mich bei Bernadette Reinhold und Marcel Bois für die Organisation des Symposiums »Architektur, Politik, Geschlecht« im Oktober 2018 bedanken. Mein großer Dank gilt auch Silvia Herkt und Natalie Feitsch (Universität für angewandte Kunst Wien, Kunstsammlung und Archiv), die mich in den vielen Jahren der Zu­s am­ menarbeit im Bezug auf den Nachlass Margarete Schütte-Lihotzkys stets mit Geduld und größter Hilfsbereitschaft empfangen haben. Außerdem danke ich Rui Brochado de Morais e Castro und Heinz Hochhäusl für ihr aufmerksames Lektorat.

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Durch eine Frau mit den Frauen. Margarete SchütteLihotzky und das Neue Frankfurt Claudia Quiring

Margarete Schütte-Lihotzkys Tätigkeit für das Frankfurter Hochbauamt wird nahezu ausschließlich mit der Ent­ wicklung der Frankfurter Küche verbunden: Die Frankfurter Küche ist Margarete Schütte-Lihotzky, und Margarete Schütte-Lihotzky ist die Frankfurter Küche. Der Inbegriff der praktisch-funktional ausgerichteten Einbauküche wur­ de vielfach in all ihren Details beschrieben und analysiert,1 daher soll hier darauf verzichtet werden. Stattdessen sollen das Umfeld ihrer Entwicklerin, der Ort und die Möglichkeiten, die ihr geboten wurden, ihr Netzwerk sowie die Reak­ tionen auf ihre Tätigkeit skizziert werden. Dafür greife ich auf die Recherchen für das Personenlexikon »Akteure des Neuen Frankfurt«2 zurück, die 2013 bis 2016 durch zahlreiche Autoren durchgeführt und schließlich in rund 150 Biografien gebündelt wurden. Dabei ging es nicht nur um Personen aus dem engsten Umfeld des Frankfurter Hochbauamtes, denn die Herausgeber interessierte die Erweiterung des Kreises der Akteure über die »üblichen Verdächtigen« hinaus, bei­ spielsweise in die Wirtschaft oder auf konservativere Per­ sonen, teilweise sogar Gegenspieler. Bisher nur lückenhaft bekannte Biografien sollten vervollständigt werden mit dem Ziel, ein umfassenderes Bild vom Geschehen zu erhalten. Zwei wichtige Punkte für sämtliche Biografien waren die 86

1  Vgl. z. B. Joachim Krausse: Die Frankfurter Küche, in: Oikos: von der Feuerstelle zur Mikrowelle; Haushalt und Wohnen im Wandel; Ausst.-Kat. Design-Center, Stuttgart, und Museum für Gestal­ tung, Zürich, Gießen 1992, S. 96–113; Renate Allmayer-Beck, Projekte in Frankfurt 1926– 1930, in: Margarete SchütteLihotzky. Soziale Archi­ tektur. Zeitzeugin eines Jahrhunderts, Ausst.-Kat. MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst, Wien, hg. von Peter Noever, Wien 1993, S. 83–124. 2  Evelyn Brockhoff/ Christina Gräwe/Ulrike May/Claudia Quiring/ Jörg Schilling/Wolfgang Voigt (Hg): Akteure des Neuen Frankfurt. Biogra­ fien aus Architektur, Politik und Kultur (Archiv

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für Frankfurts Geschichte und Kunst 76), Frankfurt am Main 2016.

Fragen, wie es zur Tätigkeit für das Frankfurter Hochbau­amt kam und wie sich diese auf spätere Schaffensphasen der Porträtierten auswirkte. Schütte-Lihotzkys Tätigkeit am Frankfurter Hochbauamt

3  Margarete SchütteLihotzky: Warum ich Archi­ tektin wurde, hg. von Karin Zogmayer, Salzburg 2004, S. 105f.

4  Die Zusammenfassung wurde am 25.1.1930 angefertigt. Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main (ISG), Magis­ tratsakte T 639.

5  Ernst May an den Per­ sonaldezernenten, Brief vom 17.3.1927, ISG, Ma­ gis­t ratsakte T 650, Bd. 10.

Schütte-Lihotzky hat den ersten Aspekt selbst mehrfach beschrieben: Ernst May entdeckte sie in Wien, als sie dort für Adolf Loos einsprang und May durch die Bauprojekte des Siedlungsamtes führte.3 Aus der dann folgenden losen Zusammenarbeit im Zuge von Publikationen in der von May herausgegebenen Zeitschrift »Schlesisches Heim« zu »ihren« Themen, Wohnen auf beengtem Raum und Innen­ einrichtung, speziell Küchen, ergab sich bald ein konkretes Stellenangebot. Es kam just zur rechten Zeit, war Lihotzkys Arbeitssituation in Wien doch um 1925 durch wirtschaftliche Schwierigkeiten ihres bisherigen Arbeitgebers und den Weggang von Fürsprechern inzwischen sehr schwierig, wenn nicht gar prekär geworden. In Frankfurt sollte sie ihre bisherige Arbeit für das Hochbauamt in der Abteilung Typi­ sierung (T), die für die Typisierung, Standardisierung und Normierung von Bauelementen neu eingerichtet worden war, fortsetzen (Abb. 1). Die genaueren Vertragsbedingungen für diese Anfangszeit beim Hochbauamt ab Februar 1926 sind nicht bekannt, lediglich eine handschriftliche Zu­ sammenfassung ihrer Tätigkeiten für das Hochbauamt ver­ merkt den Arbeitsbeginn mit 1. Februar 1926 und einen Dienstvertrag vom 23. (!) Februar 1926, der offensichtlich für ein Jahr abgeschlossen wurde.4 Im März 1927 bemühte sich May dann, sie für drei Jahre als Leiterin einer neu ein­­ gerichteten »Bauberatungsstelle für hauswirtschaftliche Wohnungsangelegenheiten insbesondere Küchen« einzu­ stellen, und hob hierfür hervor, dass sie »in künstlerischer und technischer Hinsicht auf dem von ihr bearbeiteten Spe­ zial­gebiete als erste Spezialistin Deutschlands und der Nach­ bar­länder betrachtet werden kann«.5 Die Arbeitsfelder soll­ ten sich also gegenüber ihren vormaligen Wiener Tätig­ keiten für das Baubüro des Österreichischen Verbandes für Sied­lungs- und Kleingartenwesen, für den sie mit der von ihr ge­ gründeten Warentreuhand ebenso beratend für

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Abb. 1: Margarete Schütte-Lihotzky mit Kollegen vom Hochbauamt Frankfurt, 1928

Wohnungsein­rich­tung tätig gewesen war, kaum verändern. Aufgrund ihres tuberkulosebedingt labilen Gesundheitszu­ standes konnte sie aber statt als außerplanmäßige Angestellte, wie viele andere Kolleg/innen, nur als technische Angestellte einge­stellt werden. Ab 1928 war sie, wiederum auf ein Jahr befristet, auf Werkvertragsbasis beschäftigt, und ihre Aufgaben erstreck­ ten sich auf den Entwurf und die künstlerische Oberleitung bei der Ausführung der Küchen, Schulküchen und Wäsche­ reien des Neuen Frankfurt und die Beratung von Privat­ architekten, die in diesem Bereich für das Hochbauamt tätig 88

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6  ISG, Magistratsakte T 639, Arbeitsvertrag vom 22.12.1928.

7  ISG, Magistratsakte T 650, Bd. 10.

waren. Mindestens zwei Stunden pro Woche war sie zu Sprechstunden verpflichtet.6 Etwas konkretere Projektbe­tei­ ligungen erfahren wir aus einem Arbeitsplan für die Abtei­ lung T vom Juli 1928. Hier wird sie im Bereich »Siedlungsbau und zugehörige Einzelbauten« zusammen mit August Menges und Anton Brenner für die Siedlung Praunheim ge­ listet. Für Rödelheim, wo 500 Kleinstwohnungen entstehen sollten, sowie Wäscherei und Kindergarten in Praunheim, Kleinbauten in Gartenkolonien, für Möbel in Schul- und anderen Lehrküchen, hier das Berufspädagogische Institut, wird in der Spalte »Entwurfsabteilung, Hauptbearbeiter« allein ihr Name genannt.7 Für den erwähnten Kindergarten in Praunheim, der jedoch nicht realisiert wurde, entwickelte sie damals ein innovatives Pavillonsystem, auf das sie bei späteren Entwürfen zurückgreifen sollte. Die Frankfurter Tätigkeit im Wiener Nachlass

Der Nachlass Schütte-Lihotzkys in Wien bietet für ihre Frankfurter Tätigkeit weitere Auskünfte zu Einzelprojekten – und zwar anhand erstaunlich viel Materials in Anbetracht der durchaus bewegten Biografie. Nicht nur aufgrund der Quantität, auch hinsichtlich der Qualität ist der Nachlass Schütte-Lihotzkys überraschend. Bereits während ihrer Tätigkeiten – in diesem Falle in Frankfurt, aber die Erkenntnis bezieht sich auch auf weitere Schaffensphasen – muss sie sehr gezielt Material gesammelt und zur Aufbewahrung zum Beispiel an Verwandte weitergegeben haben. Dies spricht für eine deutliche Reflexion der eigenen Bedeutung, ja fast eine vorausschauende Geschichtsschreibung, auf die sie später, als vor allem ab den 1980er Jahren Anfragen an sie heran­ getragen wurden, zurückgreifen konnte. Dabei muss man davon ausgehen, dass es sich trotzdem um eine Auswahl han­ delt – bewusst oder unbewusst werden wohl weitere Materi­ alien nicht in die Sammlung aufgenommen worden sein. Zu finden ist im Wiener Nachlass zahlreiches mit offiziellen Stempeln versehenes Foto- und Planmaterial zu diversen Aufgabenstellungen wie Formstein- und Metall­ küchen. Zu einer Wohnung für die berufstätige allein­ste­ hende Frau finden sich neben Skizzen auch Tabellen zu Ein­ kommen und Miete, zur Mustereinrichtung Einlieger­woh­ Claudia Quiring

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nung liegen Film Stills vor. Weiteres Material, vor allem Fotodokumentationen, findet sich zum Wochenendhaus, zur zwofa(Zweifamilienhaus)-Kleinstwohnung, zur Gas­ lehrküche von 1928, zur Wohnung für das Existenzminimum. Hinzu kommen diverse Texte sowie Pläne, die zum Beispiel noch mehrere Gartenlaubenentwürfe Schütte-Lihotzkys und ihre Mitwirkung an einer Ausstellung nachweisen (Abb. 2). Schütte-Lihotzky entwickelte zudem Industrie­pro­ dukte wie Küchenequipment und Kombinationsmöbel, die »ohne Hilfe eines Schreiners« aufbaubar sein sollten – Unter­ lagen dazu liegen als Fotodokumentation sowie in Form einer umfassenden »Liste für einen Katalog zum Ver­kauf von Kombinationsmöbeln« inklusive aller Maße und einer kur­ zen Beschreibung vor.8 Der Großteil dieses Materials stammt wohl aus dem direkten Arbeitsprozess oder diente der zeit­ nahen Dokumentation der eigenen Beiträge, reicht aber auf­ fällig über Nachlässe von anderen Frankfurter Mit­ arbeiter/innen hinaus. Die erwähnte, mit dem Stempel des Hoch­ bauamtes, Abteilung T, versehene Liste der Kombi­nations­ möbel zum Beispiel stellt ein sechsseitiges maschinen­ schriftliches Dokument dar, das Schütte-Lihotzky ihrem Vorgesetzten Eugen Kaufmann vorlegte, der es wiederum mit dem Vermerk »Frau Schu-Lih n. Kenntnisn. mit bestem Dank zurück« retournierte. Solche Unterlagen finden sich eigentlich eher im Firmennachlass eines Privatarchitekten und sind auch nicht unbedingt mit ihrem Status als Hono­ rarkraft des Hochbauamtes zu erklären. Diese Materialien sowie die im Nachlass ebenfalls vorhandene Sammlung von Publikationen Schütte-Lihotzkys erleichtern die Auswer­ tung ihrer Arbeiten und Wirkungskreise heute ungemein.

8  UaK, NL MSL, PRNR 87 (Hervorhebung im Original).

Material in Frankfurt zur dortigen Tätigkeit

In Frankfurt selbst stellt sich die Quellenlage – vor allem durch Kriegseinwirkungen – ganz anders dar. Neben der bereits erwähnten städtischen Überlieferung vor allem in Magistrats- und auch einzelnen Objektakten (teils mit Plä­ nen) im Institut für Stadtgeschichte bietet der dort ebenfalls lagernde Bestand Grünflächenamt noch einige Dokumen­ tationen zu Schütte-Lihotzkys Wirken. Es handelt sich vor allem um einen größeren Bestand an Glasnegativen, der 90

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Abb. 2: Modell einer Gartenlaube Typ II, ca. 1927

9  ISG, Bestand Grün­ flächenamt.

10  Zitiert nach Tanja Scheffler: Margarete Schütte-Lihotzky. Küche, Kinder, Kommunismus, in: Frau Architekt. Seit mehr als 100 Jahren: Frauen im Architekturberuf, Ausst.Kat. Deutsches Architekturmuseum DAM Frankfurt am Main, hg. von Mary Pepchinski u. a., Tübingen/Berlin 2017, S. 122–129, hier S. 126.

die amtlichen Projekte dokumentiert.9 Zusammen mit den Unterlagen in Wien ergibt sich damit zu ihren Laubenent­ würfen ein recht umfassendes Bild. Die zumeist ausgeklügelt auf das Minimum reduzierten typisierten Gartenhäuser sind teils noch heute erhalten. Es hat sich allerdings in der praktischen Nutzung, zum Beispiel seit einigen Jahren in einem Schaugarten der ernst-may-gesellschaft e. V., erwie­ sen, dass nicht alle Laubentypen den Anforderungen der Gärtner/innen gerecht werden. Sehr bald kam es zu Anbau­ ten, da die Lagermöglichkeiten für Werkzeug und Gerät – noch durch die eingeplante Fahrradabstellmöglichkeit einge­ schränkt – zu gering bemessen waren.

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Einbeziehung der Frauen

Aber so wie Schütte-Lihotzky nicht als passionierte Gärtnerin in die Geschichte einging, so wenig war sie selbst als Köchin und Hauswirtschaftlerin einschlägig bewandert: »Ich hatte mit Küche und Kochen nichts am Hut. Aber die Männer um mich herum haben mich halt zu dieser Aufgabe gedrängt«, gab sie selbst freimütig zu.10 Über die Kollegen in der Ab­ teilung T hinaus ist hier wohl vor allem an May selbst zu denken. Für ihn war Schütte-Lihotzky – auch und besonders 91

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für die Außenwerbung – die Idealbesetzung, und so konnte er 1930 in seinem Rechenschaftsbericht »Fünf Jahre Woh­ nungsbautätigkeit«11 die Frankfurter Küche damit bewerben, dass sie »durch eine Frau mit den Frauen« entwickelt worden sei. Dies stellte ein Alleinstellungsmerkmal gegen­ über allen anderen Institutionen dar, die sich der Moderne verschrieben hatten, und konnte als bestmögliches Eingehen auf die modernen Bedürfnisse, auf den Neuen Menschen, auf die Neue Frau propagiert werden. »Mit den Frauen« bekennt sich zudem zur Partizipation, wie man heute sagen würde. Wie diese jenseits der umfangreichen Vortragstätigkeit Schütte-Lihotzkys mit eventuell darauf folgenden Diskussionen konkret aussah, bleibt aber weit­ gehend unklar. Im »Stadt-Blatt der Frankfurter Zeitung« heißt es dazu: »Die moderne Bauweise hat, teils beraten und unterstützt durch weibliche Architekten und hausfrauliche Baukommissionen, bemerkenswerte Ansätze zur Beseitigung alter Mißstände in der Anlage und Ausstattung der Küche gemacht.«12 Quellen zu diesen Baukommissionen sind bisher nicht bekannt. Die Tatsache, dass in der Ausstellung des Hochbauamtes »Die neue Wohnung und ihr Innenaus­ bau« in der Sonderschau des Frankfurter Hausfrauenvereins »Der neuzeitliche Haushalt« fünf Küchentypen Schütte-Lihotzkys präsentiert wurden, setzt einen Austausch mit diesem Verein voraus,13 und auch bei einer Präsentation eines Typenentwurfs für »Die Wohnung der berufstätigen Frau« in Essen bei der Generalversammlung des Haus­ frauenvereins 192714 wird es zu einem direkten Austausch gekommen sein. Unabhängige Quellen hierzu liegen jedoch nicht vor, lediglich durch Schütte-Lihotzkys eigene Publi­ kationen wird die Tätigkeit anschaulich untermalt, wenn von Vorträgen in »großen, verrauchten Sälen« und Ähn­ lichem die Rede ist.15 Dennoch konnten vielfältige praktische Schwierigkeiten, vor allem im Gebrauch der Frankfurter Küche, nicht verhindert werden, wie sie selbst in einem Bericht für die Reichsforschungsgesellschaft feststellte.16 Die Frankfurter Küche wurde daher ständig in Reaktion auf Nutzerrückmel­ dungen weiterentwickelt. Ähnlich muss man sich den ur­ sprünglichen Entwicklungsprozess mit den Kollegen der 92

11  Ernst May: Fünf Jahre Wohnungsbautätigkeit in Frankfurt am Main, in: Das Neue Frankfurt, 4 (1930), H. 2/3, S. 21–50, hier S. 38. 12  Die Küche und Kochen im neuzeitlichen Haushalt, in: Stadt-Blatt der Frankfurter Zeitung, 30.8.1930. 13  Unterlagen in Wien dokumentieren primär eine umfangreiche Vortragsund Publikationstätigkeit. Tiefergehende Recherchen zu den Baukommissionen würden sehr zeitintensive Quellenstudien erfordern, die aufgrund der großen Kriegsverluste nicht zwangsläufig erfolgreich enden würden. Im Rahmen des Lexikonprojektes war dies nicht zu leisten. Nicht verschwiegen wer­ den soll, dass in der Aus­ stel­l ung noch mehr von Schütte-Lihotzkys Wirken zu sehen war: neben dem 1:1-Modell des Platten­ hauses auch eine Garten­ laube und ein mit ihrem Mann entworfenes Wochen­e ndhaus. 14  Vgl. Margarete Schütte-Lihotzky. Soziale Architektur, S. 104f. 15  Vgl. Schütte-Lihotzky, Warum ich Architektin wurde, S. 191. 16  Vgl. dazu: Bauliche Anlagen von Küchen in neuen Siedlungswohnun­ gen (Mitteilungen der Reichsforschungs­g esell­ schaft, Bericht Nr. 2), Berlin 1929.

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Abb. 3: Informationsblatt der städtischen Beratungsstelle für »arbeitssparende Küchen« in Frankfurt am Main, 1927

17  Vgl. dazu SchütteLihotzky, Warum ich Architektin wurde, S. 159, sowie Ulrike May: Haarer, Anni und Haarer, Otto, in: Brockhoff, Akteure, S. 112.

Abteilung Typisierung und im Austausch mit den zeitgleich in Frankfurt und darüber hinaus an der Weiterentwicklung der Küchen arbeitenden Firmen, wie zum Beispiel Haarer, vorstellen.17 Ansonsten dienten vielfältige Informationsver­ anstaltungen dazu, die Nutzer/innen anzulernen (Abb. 3). Inwieweit Schütte-Lihotzky bei den zur Veranschau­ lichung und »planmäßigen Hebung der Hausratskultur« in jeder Siedlung eingerichteten Musterwohnungen und den städtisch finanzierten Werbefilmen, in denen begeisterte

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Bewohner/innen als Laienschauspieler die Vorzüge des Neuen Wohnens demonstrierten, involviert war, konnte nicht mehr geklärt werden. Berichte in der Tagespresse ver­ weisen darauf, dass auch hier das Bauen von einer Frau für die Frauen – selbst in technischen Belangen – als Erfolgs­ garantie gesehen wurde: »Die Überwindung der technischen Schwierigkeiten darf man dem findigen Hochbauamt, dem ja auch eine Frau angehört, wohl zutrauen.«18 Frankfurter Kollegen

Erfahren wir zur sonstigen Teamarbeit etwas? In offiziellen Quellen ist dazu kaum etwas zu erwarten. Im Nachlassmate­ rial von Ernst May im Deutschen Kunstarchiv in Nürnberg finden sich zwar Unterlagen zu seiner Frankfurter Tätigkeit, doch beschränkt sich dies für das Tätigkeitsfeld von SchütteLihotzky fast ausschließlich auf Fotodokumentationen. In veröffentlichten Texten geht er nur sehr allgemein auf die Arbeit im Hochbauamt ein. Eugen Kaufmann dagegen, Schütte-Lihotzkys Chef in der Abteilung Typisierung, hat umfangreiche Lebenserinnerungen hinterlassen, die auch Zwischenmenschliches beleuchten.19 In seinen um 1977 ver­ fassten Lebenserinnerungen schwärmt Kaufmann von dem wunderbaren Miteinander im Amt und in der Siedlung Fuchshohl, in der er und viele andere Mitarbeiter des Hoch­ bauamtes wohnten – nicht jedoch Schütte-Lihotzky. Die Tätigkeit in Frankfurt stellte für ihn einen Höhepunkt seines Berufslebens dar. Zur Arbeit der Architektin äußert er sich jedoch nur enttäuschend kurz, zum Beispiel zu ihrem Arbeitsbeginn in Frankfurt 1926: »[…] then there arrived a lady architect from Vienna, Grete Lihotzky, who had studied there under Strnad […].«20 Später geht er auf die Tätigkeiten der Abteilung ein, doch es heißt nur: »The expe­ riments initiated by May for furthering new constructional ideas, such as building with large building blocks, instead of with bricks, were tried out, mainly at Praunheim, […] then still under construction under my supervision and guidance.«21 Im Bericht über seine Tätigkeit in der Sowjet­ union geht er kurz auf das persönliche Verhältnis zur Kollegin und auf ihr politisches Engagement ein: »Frau SchutteLihotzky, our close friend from our joint Frankfurt time and 94

18  Sonderwohnungen für berufstätige Frauen, zitiert nach Schütte-Lihotzky: Die Wohnung der allein­ stehenden berufstätigen Frau, S. 34f., zitiert nach: Margarete SchütteLihotzky. Soziale Archi­ tektur, S. 106.

19  Weiteres, aus der Sowjetunion geschmug­ geltes Arbeitsmaterial fiel später Vandalismus zum Opfer.

20  Memories of Eugen Kent [d. i. Eugen Kaufmann], London, Royal Institute of British Architects (RIBA) Collection, KEE/1, um 1977, S. 169. 21  Ebd., S. 178.

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22  Ebd., S. 215.

23  Schon im Titel seiner postum vom Sohn heraus­ gegebenen Lebensbe­ richte wird die familiäre Tradierung klar: Mit Ach und Krach durchs Leben. Autobiographie eines verkannten Genies. Aus dem Leben des Wiener Architekten Professor Anton Brenner, dem wah­ ren Erfinder der »Frank­ furter Küche«, bearb. und hg. von seinem Sohn Tonio Brenner, 3 Bde., Wien 2005–2007. 24  Zitiert nach Marga­ rete Schütte-Lihotzky. Soziale Architektur, S. 82.

now here in Russia, was one of the most active.«22 Aber kein Wort erfahren wir zur Arbeitsaufteilung in der Abteilung Typisierung, die sich neben dem Plattenbau auch mit der Grundrissentwicklung beschäftigte und eine Unterabteilung »Hausrat« besaß. Kollegen Schütte-Lihotzkys waren hier Ferdinand Kramer und die Wiener Franz Schuster und Anton Brenner. Kramer hatte 1925 einen Wettbewerb der städtischen Hausrat GmbH zur Entwicklung von Typenmöbeln gewonnen und entwarf in der Folge wie Franz Schuster Hausrat und Mobi­ liar, unter anderem für Kindergärten. Des Weiteren beschäf­ tigte er sich mit Typengrundrissen. Kramers und Schusters Möbel sowie Schusters Publikation »Ein Möbelbuch« wur­ den von der städtischen Hausrat GmbH vertrieben. Entwür­ fe von Schütte-Lihotzky scheinen nicht in die Produktpalette der Hausrat Gmbh aufgenommen worden zu sein, obwohl dies eigentlich nahegelegen hätte. In den Austausch und die Verfahrensweise innerhalb der Abteilung T geben Unterlagen zu einem Gerichtsverfahren Einblick, das Anton Brenner 1930 gegen Eugen Kaufmann anstrengte, da unter dessen Namen Pläne veröffentlicht wur­ den, an denen Brenner großen Anteil beanspruchte. Als Pri­ vatarchitekt sah er sich daher benachteiligt, konnte den Pro­ zess aber nicht gewinnen. Auch in Bezug auf die Entwicklung der Frankfurter Küche sah er sich um den Ruhm gebracht, wie spätere Publikationen nahelegen.23 Tatsächlich arbei­ teten Brenner und Schütte-Lihotzky wohl an sehr ähnlichen Fragestellungen. Nicht immer sind zur Klärung solcher Fra­ gen Lebenserinnerungen belastbar. Schütte-Lihotzky selbst äußerte sich zum Beispiel nie zu diesen Querelen, sondern beschrieb die Zusammenarbeit rückblickend folgender­ maßen: »Wieder war ich ein Teil einer Gemeinschaft, der damals verschworenen Gemeinschaft moderner Architekten, geworden […].«24 Für das Personenlexikon galt die Suche auch Äuße­ rungen von Bewohner/innen der damals errichteten Häuser und der darin befindlichen Küchen. Und tatsächlich erin­ nerte sich ein 1927 als Studienrat an eine Frankfurter Schule wechselnder Lehrer an seine Wohnung: »Das schönste im Hause war die Küche, ein Entwurf von Frau Leistikow.

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Leistikows sind später nach Rußland gegangen […]. Sie wohnten auch im Fuchshohl. Alles in der Küche war eingebaut. Unser einziger Eigenbesitz war ein Hocker. Alle Türen Schiebetüren, eine Kochkiste neben dem Gasherd. Der ganze Raum 2 mal 3 Meter groß, ein Kochlabor. Eine Klappe zum Esszimmer, die dort als Serviertisch diente. Hätte ich mir ein Haus zu bauen, ich würde diese Küche bauen.«25 Diese Be­ schreibung stammt von Fritz Malsch, der seine Lebens­ erinnerungen nach 1945 niederschrieb. Er bezog in Frankfurt eine Wohnung in der Ginnheimer Siedlung, in der auch viele Mitarbeiter des Hoch­­­bauamtes wohnten – be­kannter­ maßen aber nicht Schütte-Lihotzky, die ihr Domizil am

25  Fritz Malsch, Lebenserinnerungen, ISG, S5/Bl, S.121.

Abb. 4: Margarete Schütte-Lihotzky vor dem Plattenbauhaus auf der Stuttgarter Werkbundausstellung, 1927

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anderen Ende der Stadt, in Sachsenhausen, in einem von Ernst Balser errich­teten Haus hatte. Auch wenn also offen­ sichtlich durch die Namensähnlichkeit eine Verwechs­lung mit Grete Leistikow, der Fotografin des Neuen Frank­furt, stattgefunden hat, gibt die Quelle doch Auskunft darüber, dass die Frankfurter Küche positiv im Gedächtnis blieb und zum Beispiel die Kochkiste hier noch vorhanden war. Gern würde man wissen, ob sie – im Gegensatz zu vielen anderen Haushalten, die die Kochkiste sehr bald umfunk­tionierten – auch genutzt wurde, aber hier schweigt die Quelle. Vielfältige Tätigkeitsfelder in Frankfurt

Weit weniger Aufmerksamkeit als die Frankfurter Küche finden in Quellen und Publikationen die von SchütteLihotzky für Praunheim entwickelten Plattenbau-Reihen­ haustypen, obwohl sie ein ebenso zentrales Prestigeprojekt des Neuen Frankfurt darstellten und dementsprechend im Jahr darauf auch auf der Werkbund-Ausstellung in Stuttgart präsentiert wurden. Stolz posiert Schütte-Lihotzky auf ei­ nem Foto davor (Abb. 4). 1928 waren dann Wohnungs­ein­ richtungen von ihr unter anderem bei »Heim und Sied­lung« in München zu sehen, ein gemeinsamer Entwurf mit ihrem Mann für eine »Wohnung für das Existenzminimum« wurde 1929 auf der gleichnamigen ciam-Ausstellung gezeigt, und in vielen weiteren Ausstellungen war sie mit Arbeiten vertreten. Trotz dieser Erfolge, die mit internationaler Bekanntheit einhergingen, konnte sie andere, prestigeträchtigere Projekte nicht realisieren. Repräsentative Einfamilienhäuser (zum Beispiel für Prof. Dr. Strasburger in Frankfurt oder das Haus Chabot in Rotterdam) oder größere Projekte wie Strandhotels oder Kliniken blieben auf dem Papier. Ihr Name war in dieser Zeit eng mit den Klein- bis Kleinstwohnungen sowie dem Thema Inneneinrichtung, vor allem Küchen, ver­ bunden. Ihr größter Erfolg, die Frankfurter Küche, war damit gleichzeitig ihr größtes Hindernis. Ende der Tätigkeit in Frankfurt

1930 war Schütte-Lihotzkys Zeit am Hochbauamt abgelaufen. Bereits im Februar war die Verlängerung ihres Vertrages Claudia Quiring

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durch schwebende Verhandlungen über Personalabbau im Hochbauamt zunächst zurückgestellt worden, und auch ein Gesetz gegen Doppelverdiener wirkte sich aufgrund der Ehe mit Wilhelm Schütte ungünstig auf sie aus.26 Dann erfolgte eine Verlängerung für lediglich sechs Monate mit dem aus­ drücklichen Ausschluss einer Verlängerung »in irgendeiner Form«.27 Bis April 1930 herrschte dennoch weiter Unklarheit, erst im Mai erfolgte die Genehmigung des Werkvertrages vom Januar (!) 1930 auf ein halbes Jahr, Ende Juli 1930 wird auf Anfrage hin festgestellt, dass »die Ehefrau von Reg.Baumeister Schütte zwar ebenfalls beruflich tätig ist, nach Aufgabe ihrer Teilbeschäftigung beim Hochbauamt am 30.6.1930 einen dauerhaften Erwerb jedoch nicht hat«.28 In der Presse wurde bald die Zahl der »zur Rationalisierung« der Verwaltung gekündigten Mitarbeiter/innen mit 34 Son­ dervertragsangestellten beziffert, und die Zeiten sollten sich so bald nicht mehr bessern. Anders für Schütte-Lihotzky: Ihr bot sich über Ernst May noch einmal eine neue Beschäfti­ gungsmöglichkeit, und so ging die Fahrt in die Sowjetunion.

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26  ISG, Magistratsakte T 639, Vermerk vom 5.2.1930. 27  ISG, Magistratsakte T 639, Beschluss der Magistrats-PersonalKommission vom 19.2.1930.

28  ISG, Magistratsakte T 650, Hochbauamt an den Magistrats-Personal­ dezernenten, Brief vom 28.7.1930.

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Margarete Schütte-Lihotzkys sowjetische Jahre (1930–1937) Thomas Flierl

Über ihre Zeit in der Sowjetunion hat Margarete SchütteLihotzky leider nur in sehr wenigen Veröffentlichungen Aus­ kunft gegeben. In ihren beiden Büchern »Erinnerungen aus dem Widerstand 1938–1945« (1985) und »Warum ich Archi­ tektin wurde« (posthum 2004) berührt sie die sowjetische Zeit – die Jahre, in denen sie intensiv als Architektin und Designerin tätig war und in denen sie die für ihr weiteres Leben wesentliche politische Orientierung als Kommunistin gewann – nur in einem kurzen Rück- bzw. Ausblick.1 Im Gegensatz zu China, dem sie mit dem doppelten Blick ihrer Reisen von 1934 und 1956 ein eigenes Buchmanuskript wid­ mete,2 hat sie keine Niederschrift ihrer Erinnerungen an die Sowjetunion hinterlassen. Lediglich in zwei publizierten Texten wird das Thema angeschnitten: Aus Anlass des 100. Geburtstages von Ernst May berichtete sie in der »Bauwelt« über ihre Zusammenarbeit mit ihrem früheren Chef in Frankfurt am Main und Moskau.3 Ganz der sowjetischen Periode war das einen Tag nach ihrem 90. Geburtstag ge­ führte Gespräch mit dem Chefredakteur der ddr-DesignZeit­­ schrift »form+zweck«, Günter Höhne, gewidmet.4 In diesem Gespräch, von dessen Langfassung es einen Mitschnitt gibt, erläutert sie einleitend die Gliederung ihrer Materialsammlung. Offensichtlich hatte sie den Plan, den bereits vorliegenden Kapiteln zur Wiener und Frankfurter Zeit auch ein Kapitel zur Sowjetunion anzuschließen.5 100

1  Margarete SchütteLihotzky: Erinnerungen aus dem Widerstand 1938– 1945, hg. von Chup Friemert, Hamburg 1985, parallel auch bei Volk und Welt, Berlin/DDR 1985; dies.: Warum ich Architek­ tin wurde, hg. von Karin Zogmayer, Salzburg 2004. 2  Margarete SchütteLihotzky: Millionenstädte Chinas. Bilder und Reise­ tagebuch einer Architektin (1958), hg. von Karin Zogmayer, Wien 2007. 3  Margarete SchütteLihotzky: Meine Arbeit mit Ernst May in Frankfurt a. M. und Moskau, in: Bau­ welt 28/1986, S. 1051– 1054. Allerdings befinden sich Notizen und Vorar­ beiten über die Zeit in der Sowjetunion, die aber keinen konsistenten Text ergeben, im Archiv der Universität für angewandte Kunst, Wien, Nachlass Margarete SchütteLihotzky (UaK, NL MSL),

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Erinnerungen SU Manu­ skripte. 4  Damals in der Sowjet­ union. Gespräch mit Margarete SchütteLihotzky, Teil 1: Aufbruch und Ankunft, in: form+ zweck 4/1987, S. 11–14, Teil 2: Aufbaujahre, in form: + zweck, 5/1987, S. 8–15. 5  Neben einer Sammlung von Monografien über ein­ zelne Personen (inkl. Taut), hatte sie Ordner zu fol­ genden Punkten ange­l egt: 1. Vorwort, 2. Politik, allgemeine Entwicklung, Industrialisierung/Kultur/ Landwirtschaft, 3. Archi­ tektur: »Wie es zu den Türmchen gekommen ist und dann wieder zurück«, 4. Unsere Aufgaben: Stadtplanung, Wohnungs­ bau, Kinderbauten, Kinder­ möbel, Organisation der Planung, 5. Architekten­ verband, 6. Persönlich­ keiten, 7. Reisen (durch die Sowjetunion, Japan/ China), 8. persönliches Leben (Wohnsituation, Verkehr), 9. Schluss, An­ hang mit Fotos und Abbil­ dungen. Vgl. Tonband­ mitschnitt im Besitz von Günter Höhne (Berlin). 6  Vgl. ihre Widmung im »Architektin«-Buch: »Der Stoff umfaßt zeitlich eine fünfzigjährige Praxis als Architektin. Örtlich ist er weit gespannt. Er reicht von Europa bis Japan, von China bis Kuba.« SchütteLihotzky, Warum ich Archi­ tektin wurde, S. 12. 7  Neben den Briefen in UaK, NL MSL stand mir

Es ist nicht bekannt, ob sich Margarete Schütte-Lihotzky über ihre sowjetische Zeit zuvor mit anderen ausgetauscht hatte. Zur Zeit des Interviews waren jedenfalls die Er­inne­ rungen – wie stets in ihren Äußerungen der späteren Lebens­ jahre – bereits in feste Sprachformen geronnen. Kaum ein Detail, kein Nachsinnen stören die Kohärenz ihres Er­zählens – über eine Ausnahme später. Die Verschriftlichung des Interviews half ihr, zu eigenen Texten zu kommen, viele der Interview-Passagen finden sich im Schlusskapitel ihres »Archi­tektin«-Buches wieder. Leider schlossen sich keine wei­ teren, vertiefenden Interviews an, und so blieb ihr Memoiren-Projekt, das bis in die Nachkriegszeit reichen sollte,6 unvollendet. Das mag altersbedingte, darüber hinaus aber auch strukturelle, im Erinnern selbst liegende Gründe gehabt ha­ ben. Bei allen ihren Äußerungen zur sowjetischen Zeit zeigt sich nämlich eine auffällige Konzentration auf die Er­fahrun­ gen der allerersten Jahre nach der Übersiedlung von Frankfurt am Main nach Moskau im Oktober 1930. Fast könnte man meinen, dass in der Erinnerung von Schütte-Lihotzky der Enthusiasmus des Aufbruchs nach Moskau und der Beginn ihrer Tätigkeit als Spezialistin für Kinderein­richtungen in dem von Ernst May geleiteten Projektbüro der Cekombank bzw. später dem Planungstrust Standart­gorprojekt (Stan­ dardstadtprojektierung, sgp) direkt in den antifaschistischen Widerstand mündet, also die dramatischen gesell­ schaft­lichen Umbrüche in der Sowjetunion zwi­schen 1932/33 und 1937 »überbrückt« werden. Lesen wir die Dokumente zu ihrer Arbeitsbiografie, die Moskauer Briefe an ihre Schwes­­ter Adele Hanakam7 und weitere Dokumente aus Moskauer und Wiener Archiven zusammen, gelangen wir zu einem vielgestaltigeren Bild ihrer sowjetischen Erfahrun­gen. Dabei offenbart sich nicht nur eine Reihe interessanter Details ihres Arbeitens und Lebens in der Sowjetunion, son­ dern es wird auch erkennbar, worüber sie in ihren späten Erinnerungen nicht sprach. Die Sache mit dem Arbeitsvertrag Die zentrale Stütze dieser »Überbrückung« ist ihre mehrfach wiederholte Behauptung, sie hätte kurz vor der Abfahrt in

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der sowjetischen Botschaft in Berlin, wie ihr Ehemann Wilhelm Schütte und andere leitende Mitarbeiter von Ernst May auch, einen Fünfjahresvertrag abgeschlossen. Auf die Frage nach der Dauer ihres Aufenthalts in der Sowjetunion antwortete sie 1987 lakonisch: »Also, diese sieben Jahre – auf fünf Jahre hatten wir uns von Anfang an verpflichtet, und für mich sind es dann halt zwei mehr geworden …«8 An anderer Stelle schrieb sie: »Nun folgte eine aufregende Zeit. Die Ver­ träge mußten abgeschlossen werden. May, wir [Schütte und Schütte-Lihotzky] und die meisten anderen schlossen sie für fünf Jahre ab. Wer sich nicht so lange binden wollte, bekam seinen Vertrag mit kürzerer Laufzeit.«9 Wie jedoch den unterschriebenen, im Archiv der Universität für angewandte Kunst in Wien aufbewahrten Arbeitsverträgen zu entnehmen ist, war der Kontrakt von Margarete Schütte-Lihotzky im Entwurf zunächst auf zwei Jahre ausgestellt und wurde dann handschriftlich, offensicht­ lich während der Endverhandlung und der Unterzeichnung, auf ein Jahr (mit einer Verlängerungsoption um ein weiteres Jahr) reduziert, während Wilhelm Schütte (wie auch May, Hebebrand und andere) tatsächlich einen Fünfjahres­ vertrag erhielt.10 Die Ausdehnung der Laufzeit ihres Arbeitsvertrages hatte für das späte Erinnern Margarete Schütte-Lihotzkys drei Funktionen: 1. das Verbergen der tatsächlichen Hier­ar­ chien unter den deutschen Spezialist/innen, auch der Dif­ ferenz zur Situation ihres Mannes, 2. das Beschweigen der Krise 1932, als die Arbeitsverträge von sowjetischer Seite rechtswidrig gekündigt und kürzere Laufzeiten sowie niedrigere Valutasätze durchgesetzt wurden, und schließlich 3. die Ausblendung der sowjetischen Bedingungen aus ihrer Arbeitsbiografie. Bei seinen Verhandlungen in Moskau hatte Ernst May erreicht, dass er 23 weitere ausländische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anstellen durfte. In Mays Vertrag vom 15. Juli 1930 heißt es: »Die von Dr. May in den Dienst des Büros eingestellte[n] ausländische[n] Fachleute schliessen mit der Bank Son­ derverträge ab. Die Salaire der 6 nächsten Gehilfe[n] des Dr. May aus der Zahl der ausländischen Fachleute dürfen im 102

der Bestand der Familie zur Verfügung, in den mir Michael Stransky freundlicherweise Einblick gegeben hat.

8  Damals in der Sowjetunion, Teil 1, S. 11.

9 Schütte-Lihotzky, Warum ich Architektin wurde, S. 208.

10  Der Arbeitsvertrag von Wilhelm Schütte hat sich bisher nicht auffinden lassen. Bei der Anmeldung Schüttes in Magnitogorsk gab er jedoch seinen Fünfjahresvertrag an, vgl. Evgenija Konyševa/Mark Meerovič: Linkes Ufer, rechtes Ufer. Ernst May und die Planungsge­ schichte von Magnitogorsk, hg. von Thomas Flierl, Berlin 2014, S. 74.

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11  Arbeitsvertrag mit der Cekombank vom 15.7.1930, vgl. Thomas Flierl: Standardstädte. Ernst May in der Sow­ jetunion 1930–1933, Berlin 2012, S. 422. Das Original befindet sich im Nachlass Ernst May im Deutschen Kunstarchiv/ Germanisches National­ museum, Nürnberg.

12  Vgl. Damals in der Sowjetunion, Teil 2, S. 13.

13 Margarete Schütte-Lihotzky an Adele Hanakam, Moskau, o.D. [zwischen 23.1. und 7.2.1931], Bestand Stransky, Graz (BS).

14 Margarete Schütte-Lihotzky an Adele Hanakam, Moskau, 12.4.1932, BS.

Durchschnitt $ 400.– und Rbl. 800.– monatlich nicht über­ schreiten. 2 Fachleute erhalten das Salair von $ 200.– und Rbl. 500.–. Weitere ausländische Fachleute, nicht mehr als 15 an der Zahl, erhalten ein Salair von $ 50.– und Rbl. 400.– durch­ schnittlich im Monat.«11 Die Schüttes hatten also bei ihrer Abfahrt nach Moskau Anfang Oktober 1930 unterschriebene Arbeitsverträge mit folgenden Bedingungen in der Tasche: Wilhelm: Laufzeit 5 Jahre, Monatsgehalt 500 Rubel plus 200 us-Dollar; Marga­ rete: Laufzeit 1 Jahr, Monatsgehalt 350 Rubel plus 50 usDollar. Nach den im Vertrag mit Ernst May fixierten Mitar­ beiter-Kategorien gehörten sie damit zur zweiten bzw. dritten Kategorie. Damit setzte sich für Margarete Schütte-Lihotzky die Frankfurter Situation fort: Sie leitete zwar nun die Projek­ tierung der Kindereinrichtungen der Allunions-Behörde (sgp), nach ihren Aussagen mit bis zu 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern,12 aber mit einem Vertrag, der gegenüber dem ihres Mannes, der für die Schulbauten zuständig war, und denen der anderen leitenden Kollegen deutlich schlech­ tere Bedingungen enthielt. Gegenüber ihrer Schwester Adele kommentierte sie im Januar 1931 pragmatisch: »Überhaupt kann man neben [dem] Büro noch viele interessante Arbeit haben, ich soll jetzt Typenmöbel für ein großes neues Magazin (natürlich Regie­ rung) machen, aber ich will mich nicht überlasten. Sollte mir aber das Büro nach 1 Jahr zu viel sein, so sehe ich, daß man auch so sehr schöne Arbeit bekommt.«13 Tatsächlich wurde ihr Vertrag bei sgp 1931 um ein weite­ res Jahr bis 1932 verlängert. Für die Fertigstellung ihrer Bau­ ten in Magnitogorsk erhielten Schütte und Schütte-Lihotzky gesonderte Verträge, die bis in das Jahr 1933 reichten. »Ab 7.iv.[1932] hab ich einen neuen Vertrag für ein Jahr abge­ schlossen.«14 Weder in ihren Erinnerungen noch in dem (gewiss kon­ trollierten) Briefwechsel fanden die dramatischen Auseinan­ dersetzungen Ende 1931/Anfang 1932 Erwähnung, als die sowjetische Seite im Zuge einer umfassenden Reorganisation des Verwaltungsapparates und angesichts akuter Valutapro­ bleme die Verträge der ausländischen Spezialisten verletzte

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und schließlich kündigte, was natürlich insbesondere jene Spezialisten betraf, die über mehrjährige Verträge verfügten. Ernst May konnte Anfang 1932 die Kündigung seines Vertrages nur durch Intervention beim stellvertretenden Volkskom­missar für Auswärtige Angelegenheiten, Nikolai Krestinski, abwenden und in einen zweijährigen Anschluss­ vertrag mit geringeren Valuta-Leistungen umwandeln.15 Wilhelm Schütte protestierte gegen die rechtswidrige Kündi­ gung seines Vertrages sowohl bei der Zentralen Kontroll­ kom­mission beim Volkskommissar der Arbeiter- und Bau­ ern-Inspektion Jan Rudsutak als auch beim Büro für die aus­ ländischen Spezialisten des Gewerkschaftsverbandes – er­ folglos.16 So wie Ernst May wurden ihm und den anderen ausländischen Mitarbeitern von sgp Anschlussverträge an­ geboten, die verringerte Laufzeiten und abgesenkte ValutaBeiträge enthielten. Auch ihren eigenen Vertrag von 1932 unterschrieb Margarete Schütte-Lihotzky mit dem handschriftlichen Zu­ satz: »Die Unterschrift ist nur gültig, wenn der ergänzende Brief […] zum Vertrag über die Auszahlung in Valuta für die Zeit vom 7.10.1931 – 31.3.1932 vom nktp bestätigt wird.«17 Das heißt, es gab auch bei Schütte-Lihotzky Probleme mit der Auszahlung der Valuta, und sie nutzte den neuen Ver­ tragsabschluss, um die ausstehende Valutazahlung rückwir­ kend durchzusetzen. Walther Schulz – mit ihm und seiner Frau teilten sich die Schüttes die Vierzimmerwohnung im Wohnhaus in der Bolschoi Karetny Pereulok 17 – hatte bei den Auseinander­ setzungen mit der Trust-Leitung die Fassung verloren und blieb gekündigt. Er und seine Familie verließen die Sowjet­ union. Als Schulz in der »Bauwelt« über die Schwierigkeiten im Städtebau der udssr berichtete18 und in Deutschland Vorträge hielt, die von rechten Tageszeitungen aufgegriffen wurden, sandte man aus Moskau einen offenen Brief, in dem »die Mitglieder des Plan[ungs]büros sozialistischer Städte der Schwerindustrie (Standartgorprojekt)«, darunter auch Wilhelm Schütte und Margarete Schütte-Lihotzky, »die Tätigkeit jener Kollegen« verurteilten, »die, unberührt von den Tatsachen des sowjetrussischen Aufbaus, ihre hier er­ worbenen Kenntnisse von seinen unvermeidlichen Wachs­ 104

15  Vgl. Flierl, Standard­ städte, S. 104–110. (Um der Einheitlichkeit der Beiträge in diesem Buch willen verzichtet der Autor auf die vom ihm ansonsten favori­s ierte wissenschaft­ liche Transliteration aus dem Russischen.) 16  Vgl. Thomas Flierl; Wilhelm Schütte als Schulbauexperte in der Sowjetunion (1930– 1937), in: ÖGFA/Ute Waditschatka (Hg.): Wilhelm Schütte, Archi­ tekt. Frankfurt – Moskau – Istanbul – Wien, Wien 2019, S. 24–47 und 165. 17  Der Arbeitsvertrag von Margarete SchütteLihotzky wurde veröffent­ licht in: Evgenija Konyševa: Европейские архитекторы в советском градостроительстве эпохи первых пятилеток (Europäische Architekten im sowjetischen Städtebau der Epoche der ersten Fünfjahrpläne. Dokumente und Materialien), Moskau 2017, S. 121–124. NKTP – Volkskommissariat für Schwerindustrie, die Auf­ sichtsbehörde von Stan­ dartgorprojekt. 18  Walther Schulz: Wie arbeitet die Gruppe May in Moskau, in: Die neue Stadt 3/1932, S. 66f., sowie ders.: Planmäßiger Städte­ bau in der UdSSR in Theorie – und Praxis, in: Bauwelt 26/1932, S. 633–635.

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19  Echo aus Moskau. Brief an die Bauwelt und Walther Schulz: Zuschrift zum Brief aus Moskau, in: Bauwelt 31/1932, S. 764f. Schulz antwortete mode­ rat: »Trotz des russischen Vertragsbruches, der die Ursache – und trotz mei­ nes damals durchgegan­ genen Temperaments, das der Anlaß zur fristlosen Lösung meines Vertrages war [–], habe ich keinen Grund der Sowjetunion für 1½ wertvolle Lebensjahre undankbar zu sein. Deswegen werde ich mich aber nicht scheuen, die Verhältnisse so zu schil­ dern, wie ich sie mit offe­ nen Augen gesehen habe, selbst auf die Gefahr hin, persönliche oder gesell­ schaftliche Eitelkeiten zu verletzen.« (Ebd.). 20  Vgl. Ernst May: Zeug­ nis, Moskau, 15.4.1933, UaK, NL MSL, Zeugnisse SU 1930–37, Q/23. 21  Margarete SchütteLihotzky an Josef Hanakam, Moskau, 9.6.1933, BS. 22  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Moskau, 12.7.1933, BS. 23  Vgl. Auskunft des Zentralen Wissenschaf­ tlichen For­s chungsinstituts für den Gesundheitsschutz der Kinder und Jugend­ lichen des Volkskommis­ sariats für Gesundheit der RSFSR) vom 21.7.1937, UaK, NL MSL, Bestand Wilhelm Schütte (WS). 24  »Ich habe eine nette Privatarbeit, die ich hier

tumsschwierigkeiten – bewußt oder unbewußt – in einer politisch entscheidenden Stunde in den Dienst der Gegner der Sowjetunion stellen«. Der Brief wurde in der »Bauwelt« gemeinsam mit einer Entgegnung von Schulz abgedruckt.19 1932/33 sah die berufliche Situation nun so aus: Wilhelm Schütte: Laufzeit 1 Jahr, Monatsgehalt 750 Rubel plus 100 usDollar; Margarete Schütte-Lihotzky: 1 Jahr, 500 Rubel plus 25 us-Dollar. Das von Ernst May für Schütte-Lihotzky ausge­ stellte Abgangszeugnis datiert vom 15. April 1933.20 Nach dem Auslaufen der Verträge mit dem Trust sgp im April 1933 war die Situation für beide Schüttes sehr an­ gespannt: »Unsere Sache hier steht vorläufig noch ganz unsicher. Ich rechne damit, dass wir sicher wenigstens noch ein halbes Jahr hierbleiben, doch ist es nicht ausgeschlossen, dass wir doch einige Sachen zurücksenden müssen.« Die größte Sorge galt dem Verlust der Wohnung. »Wilhelm arbeitet momentan auch nicht, doch hoffen wir, dass sich die Sache bald regeln wird.«21 Im nächsten Brief dann die er­ lösende Nachricht: »W’s Sache scheint eine günstige Lösung zu finden, so dass wir bestimmt hier bleiben. Alle wesentlichen Dinge, vor allem Wohnung, ist schon geregelt, so dass wir in der Karetnyj bleiben.«22 Nach einem Jahr Tätigkeit am Institut für den Gesund­ heitsschutz der Kinder und Jugendlichen des Volkskommis­ sariats für Gesundheit wurde Wilhelm Schütte von Anfang Juni 1933 bis zur Ausreise aus der Sowjetunion 1937 ununter­ brochen fest als gehobener wissenschaftlicher Mitarbeiter beschäftigt.23 Wie schon in Frankfurt wurde er auch in Mos­ kau seiner Ehefrau vorgezogen. Die Arbeitsbiografie von Margarete Schütte-Lihotzky blieb durch wechselnde Projekt­ aufgaben, darunter auch »Privataufträge«,24 gekennzeichnet. Neben ihren zehn Typenbauten für Kinderkrippen und -gärten für Magnitogorsk und die Städte im Kuzbass aus dem Jahre 1931 erwähnte sie 1932 ihr Projekt in Brjansk sowie ihren »Kinderklub für Magnitogorsk«26 (Abb. 1, 2). Im April 1932 berichtete sie: »Momentan arbeite ich hier für den Sokolniki Park leichte Kinderbauten für den Sommer aus […].«27 Die Kindergärten in Kusnezk in Westsibirien und in Kaschira südlich von Moskau sind erhalten. Im Oktober 1932 schrieb sie, dass sie eine Krippe für Karaganda entworfen

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auf der Datsche gut machen kann.« Margarete Schütte-Lihotzky an Adele Hanakam, Moskau, 12.7.1933, BS. 25  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Moskau, 6.3.1932, BS. 26  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Moskau, 21.1.1932, BS.

Abb. 1: Ernst May und Walter Schwagenscheidt, Generalplan für Magnitogorsk, November 1930

habe.28 Im März 1933 schließlich hielten sich die Schüttes gemeinsam in Magnitogorsk auf. Zu dieser Zeit befanden sich von ihren Kinderanstalten »ein Kindergarten und eine Krippe im Bau«.29 Nach dem Ausscheiden aus dem Trust sgp stellte sich ihre Situation folgendermaßen dar: »Ich arbeite momentan viel, aber sehr gemütlich und angenehm zuhause. Ich mache einen bezahlten Wettbewerb (außer mir sind noch 2 russische Konkurrenten) für ein Kinderhaus (100 Krippenkinder und 140 Kindergarten­ kinder) für die Kinder der Ingenieure der Kriegsakademie, das im Sommer hier in Moskau gebaut werden soll. Es ist eine sehr schöne Aufgabe, wenn auch leider auf einem nicht sehr günstigen Bauplatz mitten in der Stadt. Am 25/11 habe ich Termin, da heißt’s noch sehr viel arbeiten, da die Sache sehr schön aufgemacht werden muss. Wer den Preis bekommt, kriegt dann noch einmal eine Geldprämie, sodass dann ent­ weder ein Pelzmantel oder die Reise nach Wladiwostok und zurück [sie antizipiert hier schon die Japanreise zu Bruno Taut, Anm. tf] dabei herausspringt. Für nachher habe ich Arbeiten für 2 Bücher, eines über Kindergärten, eines über Krippen.«30 106

27  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Moskau, 12.4.1932, BS.

28  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Moskau, 31.10.1932, BS. 29  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Magnitogorsk, 7.3.1933, BS.

30  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, [Moskau], 30.10.1933, BS.

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31  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, [Moskau], 12.1.1934, BS.

Zweieinhalb Monate später berichtete sie: »Vor ein paar Tagen hat die Jury unser Projekt des Kinder­kombinats für die Ingenieur-Akademie in Moskau (100 Krip­penkinder, 140 Kindergartenkinder) als bestes erklärt u. wir hoffen sehr auf den Auftrag für die Ausführung des Baus. [Die Reise nach Wladiwostok, d. h. nach Japan, ist damit finanziert, Anm. tf] Heute waren wir im großen Moskauer Staatl. Warenhaus Mostorg u. haben verhandelt über Einrichtung einer Kin­derAbgabe-Abteilung für ungefähr 100–150 Kinder täglich (jedes Kind 1–3 Stunden, während die Mutter [sic] Einkäufe macht.«31 Noch vor ihrer dreimonatigen Reise nach Japan und China übernahmen die Schüttes 1934 den Auftrag von sgp, Schulprojekte für Makeevka zu entwerfen (Abb. 3). Was aber waren die Arbeitsaufgaben und Lebensum­ stände in der Zeit nach dieser Reise, also in jener Phase, über die sich Schütte-Lihotzky so wenig geäußert hat? Erneute Wohnungssorgen Die Sorge, nach dem Ausscheiden aus dem Trust sgp die Woh­ nung zu verlieren, wiederholte sich 1935, eigentlich

Abb. 2: Margarete Schütte-Lihotzky, Kinderklub im 2. Quartal von Magnitogorsk, Fotografie 1932/33

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sollten die Schüttes am 1. Dezember ausziehen, »da sie dem Be­trieb gehört, bei dem wir nicht mehr arbeiten. Glücklicher­ weise aber konnten wir die Sache beilegen, denn wir wären doch sehr ungern aus dem Haus ausgezogen.«32 Die Schüttes wohnten in der Wohnung Nr. 81, anfangs mit der Familie Schulz und 1932/33 mit Fred Forbat. Später teilten sie mit Hans Schmidt, dessen Frau Lilly SchmidtImboden und deren Tochter Madleen die Vierzimmerwohnung. Nach der Rückkehr der meisten ausländischen Spezia­ listen 1932/33 blieben von der ursprünglichen Mannschaft noch Werner Hebebrand, Hans Leistikow, Hans Schmidt, Mart Stam (bis 1935) und die Schüttes in der Karetny Pereulok übrig.34 Das gemeinsame Wohnen und die Begegnungen waren für diese verbliebene Kerngruppe gewiss eine nicht zu unterschätzende Basis ihres Daseins in der Sowjetunion. Nachdem die meisten Spezialisten 1932/33 die Sowjet­ union verlassen hatten, zogen andere Mieter ein, dazu muss

32  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, [Moskau], 18.12.1935, UaK, NL MSL, Q/118. 33  »Forbats fahren wohl noch in diesem Monat nach Konstantinopel u. Athen, wir hoffen Schmidts in die Wohnung zu bekommen.« Margarete Schütte-Lihotzky an Adele Hanakam, [Moskau], 6.2.1933, BS. Die Woh­ nungsnummer änderte sich auf 89. 34  Vgl. die Biografien in Evelyn Brockhoff (Hg.): Akteure des Neuen Frank­ furt, Frankfurt am Main 2016.

Abb. 3: Margarete Schütte-Lihotzky und Wilhelm Schütte, Entwurf für eine Mittelschule für 590 Schüler/innen in Makeevka/Donbass 1934, Foto auf Karton

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35 Vgl. Жертвы политического террора в СССР (Die Opfer des politischen Terrors in der UdSSR), Memorial, Moskau 2007, online: http://lists.memo.ru (abgerufen am 18.4.2019).

36  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Moskau, 30.10.1933, BS.

37  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Moskau, 21.7.1934, BS.

auch der frühere Leiter des Trustes sgp Jakow Pavlowitsch Schmidt gehört haben, der in der Wohnung Nr. 88 gemeldet war. Am 10. August 1937, wenige Tage nach der gemeinsamen Abreise von Hans Schmidt und Familie sowie den Schüttes aus Moskau, wurde er verhaftet, verurteilt und schließlich im Oktober 1938 erschossen.35 Relative Stabilisierung in den Jahren des herauf­ziehenden Terrors Bereits Ende 1933 charakterisiert Margarete Schütte-Lihotz­ ky die allgemeine Verbesserung der Lebensverhältnisse nach der Rücknahme der überzogenen Ziele des ersten Fünfjahr­ plans: »Man bekommt jetzt hier riesig viel zu kaufen. Du würdest sehr erstaunt sein, wie sich Moskau in den 1 ¼ Jahren seit Deinem Aufenthalt hier verändert hat. Es gibt viele Cafés und Restaurants, viele Auslagen voller Waren, die Du alle kaufen kannst. In unserem Laden gibt es immer weniger, da­ für kann man aber alles in den anderen Läden kaufen, auch Lebensmittel aller Art. Natürlich sind die Waren noch nicht in der Qualität und Auswahl der ausländischen, westeuro­pä­ ischen Länder zu sehen, aber sie sind doch da, und man­ches ist auch gewiss nicht schlechter, als bei uns. Das Stra­ßenbild verändert sich dadurch natürlich wesentlich. Viele Leute sind viel besser gekleidet, als früher, viele haben feine Schuhe und Hüte etc. Natürlich siehst Du daneben noch immer den schmutzigen, russischen Bauern in seinen alten Bastschuhen und mit den Lumpen um die Füße gewickelt. Viele Neubauten sind auch jetzt fertig geworden und viele Aufstockungen. Vieles technisch wirklich schon gut ausge­führt, mit Edelputz verputzt, sieht vieles schon sehr ordent­lich aus.«36 1934 bemerkte sie: »[…] das allgemeine Leben ist im letzten Jahr auch für die Russen hier so viel besser u. leichter geworden. Wir fühlen uns hier wohler denn je und haben vor allem hier auch schon viel Verkehr mit so vielen netten und feinen Menschen.«37 Sie berichtete über Konzerte mit deut­ schen Dirigenten, über ein Konzert mit Schostakowitsch, über amerikanische Filme – sowohl Kitsch-Farbfilme als auch sie begeisternde Mickey-Mouse- und Chaplin-Filme. Stärker als je zuvor waren sie nun integriert: »Hier gibt’s für

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uns jetzt mehr Arbeit denn je, auch die ganzen Verhältnisse für uns sind so viel angenehmer seit nur mehr wenige Deutsche hier sind, viele haben sich eben doch so schrecklich ungeschickt aufgeführt u. das schadete immer naturgemäß allen anderen.«38 Am 1. Oktober 1936 sanken die Lebensmittelpreise, die Lebensmittelmarken wurden abgeschafft und die Läden für die Ausländer (Insnab) geschlossen.39 Über Silvester und Neujahr 1936/37 schrieb Schütte-Lihotzky ihrer Schwester: »Bei uns waren 4 Gäste (Tandlers Nichte, 2 Russen und [Asja] Lacis, eine Regisseurin halb Lettin halb Tatarin). Es war urgemütlich, später Hebebrands u. Leistikows mit ihren Gästen (Schauspieler) herauf, um 6h früh kamen Schmidts von einer Gesellschaft und endlich um ½ 9h früh haben wir alle mit Mühe hinausgebracht. Es war aber wirklich reizend, alle so vergnügt! […] Der 1. [Januar] verging mit Schlafen und gutem Essen mit Schmidts in einem kaukasischen Res­ taurant, abends gingen wir in die Stadt, wo reizende Dekora­ tionen für die Kinder aufgebaut waren, Tannenbaum, Lam­ pions, Tiere, Puppen, Verkaufsbuden, alles sehr künstlerisch im Jahrmarktstil aufgebaut, auf den Plätzen wurde nach Lautsprechern getanzt, richtiger vergnügter Rummel und Volksfest. Gestern am 2. ging das Festen weiter, wir waren bei dieser Regisseurin eingeladen, ihr Mann auch Regisseur, kam gerade von der Wolga, wo er mit einer wolgadeutschen Truppe Stücke einstudiert hat. Wir kamen also auch heute früh erst um 3h früh nach hause und Dein Schwager war äußerst heiter, so hast Du ihn wohl noch nie gesehen. Das kommt bei ihm ja manchmal vor, bei etwas Alkohol u. netten Frauen in der Gesellschaft. Kurzum, das neue Jahr hat bei uns sehr lustig aber unsolid begonnen.«40 Im Februar 1937 berichtete sie: »Ich habe zum Geburts­ tag einen sehr schönen Persianermantel bekommen. Bin fein u. elegant geworden!«41 »Ich erlebe momentan einen richtigen Aufstieg« Parallel zur Konsolidierung und erkennbaren Verbürgerli­ chung der Lebensverhältnisse – von sozialistischem Aufbau oder egalitären Perspektiven ist nicht mehr die Rede, viel­ mehr finden die wieder wachsenden sozialen Unterschiede 110

38 Ebd.

39  Vgl. Margarete Schütte-Lihotzky an Adele Hanakam, Moskau, 27.10.1936, UaK, NL MSL, Q/117.

40  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Moskau, 3.1.1937, UaK, NL MSL,Q/129. 41  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Moskau, 4.2.1937, UaK, NL MSL, Q/132.

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Abb. 4: Margarete Schütte-Lihotzky, Entwurf für einen Kindergarten für 100 Kinder, 1935/36, Foto auf Karton

42  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Nanking, 29.5.1934, BS. 43  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Moskau, 12.4.1936, UaK, NL MSL, Q/122. 44  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Suchanovo, 28.9.1936, UaK, NL MSL, Q/126. 45­  Bescheinigung vom 22.9.1936, UaK, NL MSL, Zeugnisse SU 1930–37, Q/28. 46  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Postkarte, Moskau, 13.9.1935, UaK, NL MSL, Q/116

ihren deutlichen Ausdruck – stieg die berufliche Anerken­ nung von Schütte-Lihotzky gegenüber ihrem Mann. Wurde dieser noch, wie sie ihrer Schwester schrieb, in China »als sozusagen ›größter Schulbauer der Welt‹ gefeiert«,42 erlebte sie nun »einen richtigen Aufstieg«,43 was sich in einer Fülle von An­fragen zur Übernahme von Projekten und sicher auch in einer guten Bezahlung zeigte. »Wilhelm hat jetzt mehr Zeit als ich«44 – sprich: weniger zu tun. Margarete Schütte-Lihotzky arbeitete 1934/35 für die Akademie für Architektur, für das Wohnungskabinett unter Leitung von Hannes Meyer, zum Thema »Wohnzellen und Möbel«. Das Volkskommissariat für Bildung der Russischen Föderativen Sowjetrepublik bestätigte am 15. Juli 1935 drei ihrer Kindergartenentwürfe als Typenprojekte für das Jahr 1936 45 – die Zugeständnisse an den antimodernen Zeitge­ schmack sind unübersehbar (Abb. 4). Und im Herbst 1935 vermeldet sie: »Ich habe viel u. schöne Arbeit ›Kindermö­bel f. Wohnungen‹ im großen Maßstab für Moskauerzeu­­gung.«46 (Abb. 5) Sie hatte zuvor den Moskauer Parteichef Nikita Chruschtschow aufgesucht und für die Sache gewin­ nen kön­nen. 1936: »Ich mache momentan Kindermöbel für Krippen, außerdem Bauleitung meiner Kindergärten. Mein

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Abb. 5: Margarete Schütte-Lihotzky, Entwurf für Tisch und Stühlchen für Kinder bis zu drei Jahren (Hochstuhl) für die Akademie für Architektur, Moskau, um 1935, Gouache/Papier

Projekt wird jetzt 9 mal gebaut, davon leider nur 2 mal in Moskau.«47 Der Direktor der Museums-Ausstellung für den Schutz von Mutterschaft und Säuglingsalter bat SchütteLihotzky, als wissenschaftliche Forschungsarbeit Entwürfe und Arbeits­zeichnungen für die Ausstattung von Säuglings­ gruppen in Kinderkrippen vorzulegen, wobei sie Honorare und Fristen selbst festlegen durfte.48 Hiervon sind schöne farbige Skizzen erhalten, die im Archiv der Angewandten in Wien aufbewahrt werden (Abb. 6). Außerdem spricht sie von einer Ladeneinrichtung und einem Porzellanarchiv, die sie gestaltet, »[…] und dann eine große Arbeit, Typisierung von Möbeln für die Kinderabtei­ lungen von Warenhäusern, und die ganze Gestaltung dieser Kinderabteilungen, vorläufig für ein neues Warenhaus in Novo-Sibirsk u. eines in Stalingrad, nachher kommen noch 8 neue Warenhäuser im Laufe von 1937. Das ist eine Arbeit für das Volkskommissariat für Binnenhandel, dem die Waren­ häuser in der ganzen su unterstehen. Außerdem werden meine Kindermöbel für Wohnungen jetzt hergestellt, da muss ich viel in Fabriken fahren, dann muss ich auch Typen­ möbel für Kindergärten machen.«49 Anfang 1937 berichtete sie: »Von mir sind, soviel ich bis jetzt erfahre konnte, 8 Kin­ 112

47  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Moskau, 2./3.3.1936, UaK, NL MSL, Q/120.

48  Vgl. Auftrag vom 28.2.1937.

49  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Moskau, 30.5.1936, UaK, NL MSL, Q/124.

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50  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Moskau, 3.1.1937, UaK, NL MSL, Q/129. 51  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Moskau, 6.4.1937, UaK, NL MSL, Q/133.

dergärten im Bau, davon 2 in Moskau. Am 29.[12.1936] war ich den ganzen Tag an der Baustelle, man mauert schon im 2. Stock.«50 Alle diese, wenigstens doch zum Teil realisierten Bauten hat die Forschung noch nicht identifiziert. Im Früh­ jahr 1937 schließlich bereitete sie »zusammen mit [Hans] Schmidt u. einigen russischen Architekten eine Ausstellung über das Wohnungsinterieur vor«.51 Anders als ihre männlichen Kollegen, die die Verdrän­ gung aus den stadtplanerischen und bauenden Aufgaben als Verlust erfahren mussten, konnte Schütte-Lihotzky ihre Mehr­fachqualifikation, als Architektin und Möbeldesigne­ rin, nun voll zur Geltung bringen.

Abb. 6: Margarete Schütte-Lihotzky, Entwurf für Möbel einer Kindergrippe, 1937, Gouache, Deckweiß, Bleistift auf Transparentpapier

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Die Sache mit Franz Weitz In dem Gespräch mit Günter Höhne antwortete Margarete Schütte-Lihotzky 1987 auf die Frage, wie sich die Machtüber­ tragung an die Nazis in Deutschland 1933 auf die Spezialisten in der Sowjetunion auswirkte, zunächst sehr allgemein. Die Sowjetbürger hätten ja über deren antinazistische Haltung gewusst, und zur Deutschen Botschaft in Moskau hätte man dann keinen näheren Kontakt mehr gepflegt. Erstaunlicher­ weise erinnerte sie sich aber in diesem Zusammenhang un­ vermittelt an Franz Weitz, einen deutschen Ingenieur, der 1931/32 beim Trust sgp gearbeitet hatte: »Unter den vielen, die nachgekommen sind, war ein Mann, der offenbar Nazi war, das war aber nicht bekannt. Er hat ein Jahr in unserem Trust gearbeitet und zwar in der Stadtplanung. Er war aus Köln, er war mit einer Frau da und hat nicht in unserem Haus gewohnt, aber hat uns da manchmal besucht, und hat sich als Kommunist ausgegeben und hat als solcher an den Sitzungen der Parteizelle im Betrieb teilge­ nommen. Und nach einem Jahr ist er dann gekommen und hat gesagt, er hat sich das doch anders vorgestellt, er ist ent­ täuscht und er geht zurück. Und dann haben wir aus dem Radio, aus dem sowjetischen, erfahren, dass das ein Mann im Dienste der Nazis war. Die waren ja noch nicht am Ruder, aber er war in der ss. Und dann haben wir die Bestätigung darüber gefunden, weil ich war da mal im Urlaub, ein paar Tage in Deutschland zu einer medizinischen Kur, und da habe ich die Frau Kratz, von unserem Kollegen Kratz, getrof­ fen, die auch nach Deutschland zurückgekehrt waren, und die hat mir bestätigt, dass dieser Weitz wirklich bei der ss gewesen war. Sie sei ihm zufällig in Berlin begegnet, da sei er in ss-Uniform gewesen, das hat sie mir erzählt.«52 Franz Weitz war Günter Höhne natürlich kein Begriff, die Passage findet sich auch nicht im gedruckten Interview. Dieser Franz Weitz spielte im ersten Moskauer Prozess von 1936 eine entscheidende Rolle in der Konstruktion der Anklage gegen das sogenannte »trotzkistisch-sinowjewistische terroristische Zentrum«, in dessen Ergebnis Grigori Sinowjew und Lew Kamenew sowie 14 weitere Angeklagte zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden. Im Prozess­ bericht heißt es: 114

52  Vgl. Mitschnitt des Gesprächs mit Margarete Schütte-Lihotzky am 24.1.1987, Archiv Günter Höhne. Auch im Interview mit Chup Friemert war Schütte-Lihotzky auf diesen Mann zu sprechen gekommen, dort allerdings nur in dem Zusammen­ hang, dass unter den ersten 17 ausländischen Spezialisten kein Kom­ munist gewesen sei. »Wir waren sozusagen partei­ lose Spezialisten. Später kamen dann viele noch nach, Techniker und jün­ gere Architekten. Da war ein Kommunist dabei, der schon in Deutschland Kommunist war. Im Betrieb hat es natürlich eine Par­ teizelle gegeben, der hat natürlich als Ausländer an den Besprechungen der Parteizelle des Betriebs genauso teilgenommen wie ein sowjetischer Kom­ munist. Aber wir haben das überhaupt nicht zu spüren bekommen, ob man Parteimitglied war oder nicht.« Schütte-Lihotzky, Erinnerungen (1985), S. 31f.

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53  Prozessbericht über die Strafsache des trotzkistisch-sinowjewisti­ schen terroristischen Zentrums, verhandelt vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichtshofes der UdSSR vom 19.– 24.8.1936, Moskau 1936, S. 16 (dt. Ausgabe). Durch die Transliteration des deutschen Familiennamens »Weitz« ins Russische und zurück war das »t« ver­ lorengegangen.

54  Vgl. Harald Boden­ schatz/Thomas Flierl (Hg.): Von Adenauer zu Stalin. Der Einfluss des traditio­ nellen deutschen Städte­ baus in der Sowjetunion um 1935, Berlin 2016, insbesondere die Einlei­ tung der Herausgeber (»Die Tätigkeit Kurt Meyers in Moskau und die sowjeti­ sche Rezeption des städtebaugeschichtlichen Hauptwerks von Albert Erich Brinckmann«, S. 7–35), die Erklärung von Hannes Meyer (S. 126–130) sowie der Kommentar von Tatiana Efrussi hierzu (S. 131– 138). 55  Vgl. Margarete Schütte-Lihotzky an Adele Hanakam, Berlin, 8.4.1936, BS.

»Die Voruntersuchung hat ebenfalls ergeben, dass die terroristische Gruppe, an deren Spitze der von L. Trotzki aus dem Ausland gesandte Agent Trotzkis Moissej Lurie stand, faktisch von dem aktiven deutschen Faschisten Franz Weiz [sic] organisiert war, einem Vertreter Himmlers, welcher da­ mals Leiter der faschistischen Schutzstaffeln war und gegen­ wärtig Leiter der deutschen Geheimpolizei (Gestapo) ist.«53 Franz Weitz, über den es im Moskauer KominternArchiv eine Akte als Mitglied der kpd gibt, hatte die Sowjet­ union 1932 verlassen. Traf es zu, dass er mittlerweile in Deutschland Nazi geworden war, bot sich die Gelegenheit, ihn als faschistischen Agenten zu kennzeichnen und so das vermeintliche Zusammengehen von Trotzki- und SinowjewAnhängern mit den deutschen Nationalsozialisten »zu be­ weisen«. In den Kreisen der Architekten und Stadtplaner war das direkte Opfer dieser Untersuchungen gegen Franz Weitz der Kölner Architekt und Kommunist Kurt Meyer. Er hatte maßgeblich am Moskauer Generalplan von 1935 mitgearbeitet, hatte Franz Weitz aus Köln gekannt und ihm eine Bürg­ schaft für dessen (erfolglosen) Antrag auf Mitgliedschaft in die kpdsu gegeben. Er wurde 1936 verhaftet und 1937 zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt, die er nicht überlebte.54 Das Interessante an Schütte-Lihotzkys Erinnern ist nun, dass sie davon sprach, im sowjetischen Radio über die poli­ti­ sche Wendung von Weitz erfahren und in der zufälligen Be­ gegnung von Frau Kratz mit Weitz eine Bestätigung dafür ge­funden zu haben. Schaut man aber in Schütte-Lihotzkys Briefe an ihre Schwester, so sieht man, dass sie im April 1936 in Deutschland war. In Berlin hatte sie medizinische Konsul­ tationen bei einem ganz bestimmten Arzt, den ihr Frau Taut empfohlen hatte. Danach fuhr sie nach Frankfurt am Main und besuchte ihre Schwägerin bei Karlsruhe und ihre Schwie­ germutter im Allgäu, sie plante eventuell noch einen Ab­ stecher in die Schweiz, um danach in Berlin ab dem 23. April eine Kur anzufangen, die sie in der Sowjetunion fortsetzen wollte.55 Das Treffen mit Frau Kratz in Deutschland – wo immer es auch stattgefunden hatte –, bei dem sie von ihr über den ss-Mann Weitz erfahren haben will, muss also vor dem Prozess und den öffentlichen Verlautbarungen über diesen stattgefunden haben, denn es ist kaum wahrscheinlich, dass

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das sowjetische Radio über einen bereits 1932 ausgereisten deutschen Ingenieur lange vor dem Gerichtsprozess und außer­­halb der unglaublichen Komplottgeschichte berichtet hatte. Die schlimme Nachricht, dass es sich bei dem früheren Kommunisten und Moskauer Kollegen Franz Weitz mittler­ weile um einen ss-Mann handelte, hat Schütte-Lihotzky gewiss nicht für sich behalten. Und es ist ja auch sehr wahr­ scheinlich, dass sich die Untersuchungsbehörden vor dem Pro­zess unter den früheren Mitarbeitern des Trustes sgp nach dieser vermeintlichen Schlüsselfigur des Komplotts er­ kundigt hatten bzw. solche Informationen dankbar aufgrif­ fen. Auch Hannes Meyer hat über den »Gestapo-Agenten Franz Waitz« am 29. August 1936, allerdings nach dem Prozess, in der Schweiz eine Erklärung abgegeben. Rekonstruiert man das Erinnern von Schütte-Lihotzky, so scheint vielmehr das Radio den Fakt, den sie schon kannte, bestätigt zu haben. Zugleich stellte es den Vorgang in den übergreifenden Kontext der »Großen Verschwörung«56. Möglicherweise verband die Schüttes mit Franz Weitz noch anderes: Schütte habe in Deutschland seit Anfang 1931 ein Grundstück von Weitz gemietet, wahrscheinlich für dessen Familie im Rheinland.57 Zudem hatte Weitz beim Trust sgp zu den lautstarken Kritikern der »Valutaschweine« gehört und sich beim Trustleiter Gasparjan beliebt machen wollen, bei dem er eine Zeitlang gewohnt haben soll.58 Hier soll in keiner Weise irgendeine Mitwirkung von Schütte-Lihotzky an der Abfassung der abenteuerlichen und verbrecherischen Kriminalgeschichte des ersten Moskauer Prozesses behauptet werden. Offensichtlich war sie über die spätere Nazi-Werdung oder gar Nazi-Enttarnung des frü­he­ ren Moskauer Kollegen entsetzt. Noch 50 Jahre später schien aber das Entsetzen über die eigene frühere Nähe zu Weitz jede Reflexion über dessen offensichtlich konstruierte Rolle im ersten Moskauer Prozess und damit über die ver­bre­che­ rische Dimension des Staatsterrors Stalins zu überblenden. Bisher habe ich nur eine Stelle gefunden, an der SchütteLihotzky auf die Frage antwortet, wie sie den Stalinismus im Alltag der Sowjetunion erlebt hat. Im Jahr 1997 berichtete sie Günter Höhne: 116

56  Vgl. die stalinistische Hagiografie: Michael Sayers/Albert E. Kahn: Die Große Verschwörung. Darstellung des antikom­ munistischen Kampfes 1919–1945, Berlin 1953. 57  »Wir sind bekanntlich im Nebenberuf Latifun­ dienbesitzer. Seit Anfang des Jahres beziehen wir von Schütte bescheidenen Pachtzins (ohne Akkumu­ lator).« Franz Weitz (Essen) an Kurt und Gertrud Meyer (Moskau), 26.5.1931, Russisches Staatsarchiv für sozial-politische Geschichte in Moskau (RGASPI), f. 495, op. 205, d. 5088, Franz Weitz, Bl. 24. 58  »Architekt W. Schütte erzählte mir im Zusammen­ hang mit Waitz [sic], dass dieser zusammen mit der [Ellen] Gerhard und [Walter] Kunz zu dem engeren Aktiv der aus­ ländischen Spezialisten im Trust gehörten, wo sich Waitz durch Schimpfen auf die ›Valutaschweine‹ (die meisten Ausländer im Trust bekamen damals noch Valuta) unter seinen Kolle­ gen unbeliebt machte und bei der Trustleitung beliebt machen wollten. Nach Schütte soll Waitz eine zeitlang beim Trust­ leiter, Gasparjan, gewohnt haben.« Bert Niehues, Bericht über eine Begegnung mit Franz Waitz in Moskau vom 11.10.1936, RGASPI, f. 495, op. 205, d. 5088, Franz Weitz, Bl. 30f.

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59  Margarete SchütteLihotzky im Interview mit Günter Höhne 1997, Margarete SchütteLihotzky, Hörfunk-Porträt aus Anlass ihres 100. Ge­ burtstages, Sendung auf Radio Brandenburg am 8.3.1997.

60 Schütte-Lihotzky, Erinnerungen (1985), S. 47.

»Also, auf gut Deutsch gesagt, unter Stalinismus ver­ steht man Verhaftungen. Selbstverständlich haben die Leute, die wie wir dort gearbeitet haben, von Verhaftungen gewusst. Es ist Unsinn, wenn da jemand sagt, er habe nichts gewusst. Die ersten Verhaftungen, von denen wir erfahren haben – es hat ja begonnen 1934, da waren wir schon vier Jahre dort – das waren Ingenieure. Ich glaube, vier waren es damals, die verhaftet wurden. Nun, da hat man sich gesagt, vielleicht haben die was gemacht. Es waren ja Leute, die man nicht gekannt hat, die irgendwo gearbeitet haben. Nun von 34 bis 37, bis wir weg sind, haben die Verhaftungen sehr zugenom­ men. Es waren meines Wissens fast immer nur Verhaftungen unter Kommunisten, Inländer und Ausländer. Aber ich selbst habe überhaupt nichts gespürt oder gemerkt davon oder größere Reserve mir gegenüber gespürt oder dass ich Angst gehabt hätte, dass ich verhaftet würde, davon war keine Rede. Übrigens auch von den Ausländern waren die, die verhaftet worden sind, meistens Parteimitglieder. Und ich war ja kein Parteimitglied.«59 Auch hier ist bei Schütte-Lihotzky eine eigentümliche Abspaltung jeder Erinnerung an die großen politischen Um­ brüche, die Liquidation der Mitstreiter Lenins in der Revolu­ tion von 1917 und dem heraufziehenden Massenterror Stalins zu erkennen – zumal sie an anderer Stelle bemerkte, dass sie und ihre Mann sich bereits zu den Kommunisten hingezogen fühlten, sie aber einen Antrag auf Mitgliedschaft »als übelsten Opportunismus betrachtet hätte«.60 Eine Liebesangelegenheit Am 28. Mai 1937 schrieb Margarete Schütte-Lihotzky einen ausführlichen Brief an ihre Schwester aus dem Kurort Zqaltubo im Kaukasus, wohin sie 14 Tage verschickt wurde: »Ich bin hier in Zchaltubo, […] einem Kurort mit radioaktiven Quellen, die Wunder wirken sollen. Der Ort liegt an den südlichen Abhängen des Kaukasus, in der Nähe der Schwarz­ meerküste. Es ist nun wirklich der letzte Versuch fürs Kin­ derkriegen. Man nimmt hier morgens und abends Bäder, auch bekommt man Spülungen mit dem Wasser, so daß man dauernd beschäftigt ist. Nach dem Bad fühlt man sich herrlich.«

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Nach eingehender Schilderung des Kurorts und der Mitbewohnerinnen in ihrem Zimmer kommt sie darauf zu sprechen, dass sie mittlerweile schon wieder sehr gut aussähe, »was ich bei meiner Abreise nicht getan habe. Ich hatte in letzter Zeit ziemliche Aufregungen in einer Liebesangele­ genheit (die aber mich und einen anderen Mann u. nicht W. betrifft). Man soll eben nichts anfangen auf seine alten Tage! Aber es ist eine so unglaubliche Geschichte, man brauchte wirklich keine Romane zu lesen! Ja, so ist das Leben nicht immer ganz leicht! Am 18. fuhr ich in M.[oskau] ab, 2 liebende Männer in großer Aufregung zurücklassend. Und bis heute habe ich keine Nachricht von dort, ich bin deshalb etwas unruhig.«61 Es haben sich leider keine weiteren Briefe von ihr er­hal­ ten, die eindeutigen Aufschluss geben, wer der andere Mann war. Nur zu gut passt allerdings die folgende Geschichte. In der Personalakte von Wilhelm und Margarete Schütte im Komintern-Archiv findet sich ein Bericht des deutschen Kommunisten, Schauspielers und Regisseurs Gustav von Wangenheim62 (die russische Fassung ist auf den 19. August 1941 datiert, d. h. nach der Verhaftung von Schütte-Lihotzky in Wien). Anders als die Mehrzahl der Mitglieder der Gruppe von Ernst May, die die Sowjetunion bis 1933 verlassen hatten – Wangenheim bezeichnete sie als »Obermeckerer« –, war das Ehepaar Schütte geblieben und hatte weitergearbeitet: »Scheinbar sie, als Spezialistin für den Bau von Kinder­ heimen, mit größerem Erfolg. / Ich lernte beide etwa 34 kennen. Sie gefiel mir ausnehmend gut. Fleissig, begabt, be­ geisterungsfähig – durch und durch sowjetisch. Er war weni­ ger klar. Klug, vielleicht nicht ganz offen, vielleicht wegen der Arbeit etwas verärgert … aber eine Bibliothek mit den typischen Büchern eines qualifizierten, antifaszistischen Intellektuellen und überhaupt: ein etwas zurückhaltender, aber wohl positiv eingestellter Mann. Im Jahre 37 oder 38 wollte er herausfahren, weil er bei Annahme der Sowjetbür­ gerschaft sein in der Schweiz stehendes kleines Restvermögen von ein paar tausend Mark zu verlieren fürchtete. Sie, die Lisotzkaja [sic] wollte nicht. Aus vielen Gründe. Ich erwähne – weil es in diesem Zusammenhang vielleicht wichtig ist und der Vollständigkeit halber – auch die Tatsache, dass die L. in 118

61  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, 28.5.1937, UaK, NL MSL, Q/135. 62  Gustav von Wangenheim (1895– 1975), Schauspieler und Regisseur, studierte Schauspiel bei Max Reinhardt, Bühnen­e ngage­ ments in Wien, Darmstadt und Berlin, Filmstar der UFA, spielte 1922 in Friedrich Wilhelm Murnaus »Nosferatu«, in Filmen von Fritz Lang und Ernst Lubitsch. Seit 1917 links engagiert als Autor, 1918 USPD, 1922 KPD, gründete 1925 die Barbusse-Truppe, ein Arbeiterwandertheater. Zwischen 1928 und 1933 Leiter der »Truppe 1931«, die aus KP-Mitgliedern der Künstlerkolonie in BerlinFriedenau entstand. Er emigrierte 1933 über Paris in die Sowjetunion, dort Arbeit für den Film (»Der Kämpfer«, über Georgi Dimitroff im Reichstags­ brandprozess), das Theater (»Kolonne Links«, mit Arthur Pieck), schrieb für Verlage und den Moskauer Rundfunk, war Mitglied des Schrift­ stellerverbandes. Von den Nazis in Abwesenheit zum Tode verurteilt, nahm er 1940 die sowjetische Staatsbürgerschaft an und arbeitete seit Kriegsaus­ bruch für die Rote Armee. 1941–1943 Evakuierung nach Taschkent, seit 1943 Mitbegründer des Nationalkomitees Freies Deutschland und Ressort­ leiter beim Sender Freies Deutschland, kehrte als

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einer der ersten Emigran­ ten nach Berlin zurück, wo er einige Monate Intendant des Deutschen Theaters war.

63  RGASPI, f. 495, op. 205, d. 5616, Wilhelm Schütte, Bl. 19. Unter­ streichungen im Original.

64  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, 28.5.1937, UaK, NL MSL, Q/135.

65  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, o.D. [nach 12.6.1937], UaK, NL MSL, Q/137.

66  Vgl. Auskunft des Zentralen Wissenschaft­ lichen Forschungsinstituts vom 21.7.1937, UaK, NL MSL, WS.

mich verliebt war. Das hatte sicher politische Gründe, weil ich ihr wohl, im Gegensatz zu ihrem Mann als KünstlerKommunist gefallen hatte. Meine Frau, welche die L. ebenso hoch einschätzt wie ich, war unterrichtet. Es blieb aber bei rein platonischen, sehr losen Beziehungen, weil ich ein prin­ zipieller Gegner (vielleicht auch aus anderen, aber bestimmt aus politischen Gründen) von Liebeleien deutscher verhei­ rateter Kommunisten bin. Vielleicht hat grade diese Haltung mir das besondere Vertrauen der, ich möchte mit Betonung sagen, Genossin L. verschafft – was ich da gehört habe, war alles tiefe Ergebenheit für unsre Sache und für die S.U. Lisotzkaja [sic] liess sich dann doch von ihrem Mann und den zunehmenden Arbeitsschwierigkeiten bestimmen, fort­ zu­fahren. Aus dem Ausland schrieben mir beide. Erst aus Frankreich, dann aus England und schliesslich aus der Türkei, wo sie (vor allem wohl er) beide sehr günstige Staats- und Lehraufträge hatten (den Briefen zufolge).«63 Die Monate vor der Ausreise aus der Sowjetunion im August 1937 waren offensichtlich turbulent – persönlich und politisch. Der Plan zur Ausreise kam überraschend und ging, wenn man Wangenheims Bericht trauen kann, eher von Wilhelm Schütte aus. Margarete Schütte-Lihotzky hatte noch Ende Mai ihrer Schwester geschrieben, dass sie auf ein »Wie­ dersehen im Herbst hier« (in der Sowjetunion) hoffe.64 Im Brief von Mitte Juni ist davon die Rede, dass Schüttes nach Paris zur Weltausstellung fahren wollten. Gleichzeitig be­ richtete Schütte-Lihotzky ihrer Schwester von dem gerade zu Ende gegangenen ersten Kongress der sowjetischen Architek­ ten, »der außerordentlich interessant war u. auch wichtig ist für die Zeit der weiteren Arbeit«.65 Und auch noch im Brief vom 17. Juni 1937 an ihre Schwester, in dem sie über die Daten und die Route ihrer geplanten Reise nach Paris informierte, verwies Schütte-Lihotzky darauf, dass sie in Paris »auch be­ ruflich zu tun haben« werde, »da ich eine Menge Material für hier sammeln soll, für alle Arten Möbel u. Einrichtungs­ sachen«. Sie hätten ein französisches Einreisevisum für einen Monat erhalten, um die Ausstellung in Paris zu besu­ chen. Die Be­scheinigung über das Ausscheiden von Wilhelm Schütte aus seinem Institut datiert vom 21. Juli 1937.66 Erst nun schien also die dauerhafte Ausreise aus der Sowjetunion

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beschlossene Sache. Mit ihrem fabelhaften Organisations­ talent verbrachte Schütte-Lihotzky den Moskauer Haus­ stand (Möbel, Bücher u. a.) mit Hilfe eines niederländischen Architekten, wahr­scheinlich Johan Niegemanns, nach Ams­ ter­dam. Ihrer Schwester gegenüber erwähnt sie erst in der Post­ karte vom 14. August 1937 aus Athen, dass sie in Paris »neue Pässe bekommen« würden und nicht wüssten, wie lange das dauern werde.67 Und aus Paris berichtete sie am 28. August 1937: »Wir fahren nicht mehr zurück (das heißt hoffentlich später einmal), alles Nähere hierüber mündlich. Der Ab­ schied war sehr schwer. Aber für momentan war unser Entschluß wohl der richtige [...].«68 Die Briefe aus Moskau Wie hier an wenigen zitierten Briefen demonstriert, ist das Konvolut von mehr als 140 Briefen, Postkarten und Tele­ grammen von Margarete Schütte-Lihotzky an ihre Schwester, das sich auf die sowjetische Zeit bezieht und das sich jeweils etwa zur Hälfte im Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien und in Familienbesitz befindet, eine unschätzbare, bisher kaum erschlossene und beforschte Quelle. Ge­ nauer als je zuvor lassen sich nun die Arbeitsbiografien von Margarete Schütte-Lihotzky und Wilhelm Schütte, das Ver­ ständnis ihr Alltagsleben, die Ankunft in Moskau, das ge­ meinsame Wohnen der mit May in die Sowjetunion gekom­ menen Spezialisten in der Bolschoi Karetny Pereulok 17, der sich wandelnde Blick auf die Sowjetunion im gesellschaftlichen Auf- und Umbruch rekonstruieren. Es würde den Um­ fang dieses Beitrages sprengen, dies hier näher auszufüh­ren. Pars pro toto sei der überaus interessante Brief vom 12.  November 1930 vollständig wiedergegeben. Dieser Be­ stand sollte unbedingt vollständig transkribiert, erläutert und publiziert werden.

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67  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, aus Athen, 14.8.1937, UaK, NL MSL, Q/131. 68  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Paris, 28.8.1937, UaK, NL MSL, Q/140. Vielleicht war eine Warnung mit ein Grund für die schnelle Ausreise: Es war der letzte Moment, der sogenannten »Deutschen Operation« des NKVD zu entgehen, die auf der Grundlage des am 20.7.1937 im Politbüro auf Initiative von Stalin beschlossenen und am 25.7. erlassenen Geheim­ befehls zur Verhaftung aller Deutschen in der Rüstungsindustrie und im Transportwesen führte. Vgl. Nikita Ochotin/Arseni Roginski: Zur Geschichte der »Deutschen Operation« des NKWD 1937–1938, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2000/2001, S. 89–125. Die Repressionen gingen weit über diese Bereiche hinaus und erfassten auch Sowjet­b ürger/innen deutscher Herkunft sowie deutsch­s prachige politische Emigrant/innen. Bereits 1938 waren ca. 55.000 Personen ver­ urteilt, davon ca. 42.000 erschossen worden. Vgl. Aleksandr Vatlin: »Was für ein Teufelspack«. Die Deut­s che Operation des NKWD in Moskau und im Moskauer Gebiet 1936 bis 1941, Berlin 2012.

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Margarete Schütte-Lihotzky an Adele Hanakam, Brief vom 12. November 1930 aus Moskau, Typoskript, Bestand Stransky

12.xi.1930 Abschrift Liebe dele! Der versprochene ausführliche Brief von mir hat wohl lange [auf sich] warten lassen, aber Du hast wohl von neurats wenigstens inzwischen indirekt von uns gehört. Zur Ent­ schuldigung diene, dass wir wirklich sehr beschäftigt sind. Arbeit im Büro, russisch lernen und auspacken und Umzug. Morgens in’s Büro, um ½ 5 Uhr zu Hause, um ½ 6 Uhr frühestens mit d. Essen eben fertig, um 6 Uhr schon wieder bis 8 Uhr russische Stunde, das allerdings nur jeden 2. Tag. Die übrige freie Zeit geht drauf auf russische Aufgaben, Wohnungseinrichtung, Einkaufen der Lebensmittel, eventu­ ell einmal Kino oder Zusammenkunft mit jemand Bekannten. Im Theater war ich noch nie, ebenso haben wir von Moskau noch sehr wenig gesehen. Wenn wir einmal in der Wohnung sind, wird es wohl mehr Zeit und Ruhe geben. Die Arbeiten sind ganz phantastisch. Vor fast 3 Wochen kam may eines Tages mit einem Riesenplan zu uns. Er und 3 von uns mussten sofort wegfahren nach Magnitogorsk (süd­ lich vom Ural, schon in Asien), wo in zwei Jahren eine voll­ kommen neue Stadt mit 120.000 Einwohner gebaut werden soll. Eine phantastische Aufgabe!! Dort ist Eisenindustrie in grösstem Umfang. Vor 2 Jahren stand dort noch keine Tele­ graphenstange, vollkommene Wüste; heute arbeiten schon alle Fabriken und 20.000 Arbeiter wohnen dort in Baracken. Für diese Stadt (stelle Dir vor, die Einwohnerzahl ist etwa die von Wiesbaden oder Innsbruck) sollen von uns die Wohnun­ gen, Schulen aller Art, Wäschereien, Kinderanstalten, Kran­ kenhäuser, Postämter, Kaufhäuser, Klubs etc. gebaut werden. may, stam, lehmann (Strassenbauer) und Burghardt (Städtebauer) waren 14 Tage verreist, 10 Tage auf der Bahn und 4 [?] Tage in Magnitogorsk. Während dieser Zeit kamen Thomas Flierl

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schon wieder 3 neue Städte an, eine in Novo-Sibirsk, eine 2. ebenfalls in Sibirien und eine 200 km von hier im Moskauer Kohlenbecken. Selbstverständlich können wir das gar nicht alles bewältigen und müssen uns zuerst auf die eine Riesen­ aufgabe konzentrieren. Am 1. Tag, als wir im Büro waren und wir alle so etwas herumstanden und nicht gleich wussten, wie wir anfangen sollen, sagte hebebrand in seiner trock­ en­­en witzigen Art: »Man reiche mir eine Stadt«; es ist aber Wirklichkeit, dass man uns alle paar Tage eine neue Stadt zur Projektierung reicht. Ich selbst habe wunderschöne Arbeit und zwar Zentral­ wäschereien, Badeanstalten, Säuglingsheime und Kindergär­ ten zu projektieren und zwar Typen für Hausgruppen ver­ schiedener Grössen, sogenannte Stadtquartale. Also z. Bei­ spiel für 1.000, 2.000, 5.000 u. 7.000 Einwohner. Überhaupt alles geht in diesem Land in’s Riesengrosse, 1.000 Menschen sind nichts. Alles, aber auch alles, was man hört und sieht, ist für uns in riesigen Dimensionen und man muss sich, will man das begreifen, immer wieder vorsagen, dass man in der Hauptstadt eines Landes mit 200 Nationen und 146 Millionen Einwohnern lebt, in der Hauptstadt und im geistigen Zentrum eines Volkes, das den 6. Teil der Erde bewohnt. Wilhelm arbeitet Schulen (wir hatten einen sehr inte­ ressanten Vortrag über den Aufbau und Unterricht der russi­ schen Schulen) und Klubs, eben auch ein Warenhaus. Denke Dir, erst seit 1930 ist in ganz Russland allgemeine Schulpflicht eingeführt. Überhaupt für unsere westeuropä­ischen Begriffe ist hier noch eine Primitivität, die man sich vorher kaum vor­ stellen konnte. Man hat den Eindruck, dass alles, was hier gemacht wurde und wird, von Grund auf neu gebaut werden muss und ein grosser Teil der Bevölkerung erst wie aus einem Schlaf aus ihrer unglaublichen Primitivität erweckt werden muss. (Das gilt natürlich weniger für Moskau, als für das Land). Dass ein derartiges Erwachen eines Landes nicht in 10 oder 20 Jahren vor sich gehen kann, ist begreiflich. Der Wohnungsbau wird deshalb wohl das allerwichtigste sein, weil dort keine Kontrolle sein kann. In allen anderen Bauten ist doch eine Leitung, die auf richtige Benützung, Reinlichkeit usw. sehen kann. 122

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Wie viele Menschen, die hier in Moskau leben, haben wohl nie in einem Bett geschlafen! Die Bevölkerung hat hier enorm zugenommen und die meisten Zugewanderten sind Bauern und zwar aus allen Gegenden Russlands. Und wie die Bauern hier in primitiveren Gegenden hausen, soll unbe­ schreiblich sein. Besonders in Sibirien ganz gewöhnliche Erdoder Lehmhütten ohne Fenster und Lüftung und ohne Betten etc. Diese allererste Pionierarbeit, die hier in allem geleistet werden muss, die ist schon unglaublich imponierend. Russ­ land aus einem primitiven Agrarstaat, in dem die Menschen vielfach wie das primitive Tier hausten und heute natürlich noch hausen, in einen modernen Industriestaat zu verwan­ deln, in einen Staat, der die unerhörten Bodenschätze des Landes, die bis vor kurzem brach lagen, ausnützt. Wenn das äussere Leben hier auch einfacher, für unsere Vorstellungen auch vor allem schmutziger und unzivilisierter, eben östlicher vor sich geht, so gleicht sich das wieder aus durch die Riesenaufgaben und die wirklich grosse Linie, die hier durch alles geht. Wenn wir auch noch wenig von Bauten, Museen etc. in­ nen gesehen haben, so haben wir doch die ganze Atmosphäre der Stadt auf den Strassen kennengelernt. Es gibt nichts interessanteres, als hier in den Strassen herumzulaufen. Man sieht vor allem ausserordentlich viel mongolische Typen und auch sonst die verschiedensten Rassen vor allem in den ver­ schiedensten Aufmachungen. Man kann hier überhaupt herumlaufen wie man will, zerfetzt oder mondän und mit geschminkten Lippen. Somit alles so durcheinander, dass keiner beachtet wird. Natürlich hat man in den Strassen das Gefühl, dass der Proletarier die Stadt beherrscht. Im ersten Moment meinst Du, alle Menschen sind »Strolche«, wie wir immer sagen. Erst nach einiger Zeit kommt man drauf, dass unter diesem Strolchaussehen sich genau so kultivierte Men­ schen darstellen, wie es solche bei uns gibt. Nur klassenmässig tritt nichts in die Erscheinung, es ist alles sozusagen eine Klasse, in der es eben gebildetere und ungebildetere Menschen gibt. Neuerdings sind wir in den Klub der Arbeiter der Volks­ wirtschaft aufgenommen, nähere Einrichtungen sowie über unseren Verkehr mit Kunden ein andermal. Thomas Flierl

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Bitte versuche es und schicke mir eine Dose Sardinen, mittlerer Grösse. Ich will sehen, ob man das zollfrei schicken kann. Man bekommt keine hier und ich esse sie so gerne. Briefe sind bis jetzt alle, sowohl aus Wien, als auch aus Köln gut angekommen, 5 Tage. Wenn eines Tages bei Euch angerufen wird und es mel­ det sich Moskau, so glaube nicht, dass ein Unglück passiert ist, wir haben erfahren, dass ein 3 Minutengespräch nach Berlin nur 3.50 Rb. kostet, das kann man sich leicht leisten. Gespräch direkt von unserem Schreibtisch im Hotel­ zimmer in’s Vorzimmer zu Euch, ist doch eigenartig!! Ich hörte nur, dass man schlecht verstehen soll. Bis jetzt war es hier noch warm. Heute am 13. Novem­ber der erste Schneefall! Herzlichste Grüsse an alle



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Intermezzo in Istanbul. Margarete Schütte-Lihotzkys Projekte im türkischen Exil Burcu Dogramaci

Wie entfaltet sich ein architektonisches Werk in der Emi­ gration, wenn der Aufenthalt auf wenige Monate oder Jahre begrenzt ist? Welche Kontinuität oder Wandlungsfähigkeit zeigt ein solches Œuvre, und wie reagieren Emigrant/innen auf die spezifischen Herausforderungen in ihren Zielländern? Diese Fragen sollen die Auseinandersetzung mit der Archi­ tektin Margarete Schütte-Lihotzky im türkischen Exil leiten. Schütte-Lihotzky lebte etwas mehr als zwei Jahre in der Türkei. Während ihres Aufenthaltes war die Architektin pro­ duktiv, wirkte im Schulbau und legte Entwürfe für Privat­ häuser vor.1 Sie war eine von wenigen Frauen, die vom tür­ kischen Bildungsministerium eingeladen wurden und einen Arbeitsvertrag erhielten. Damit nimmt Schütte-Lihotzky bereits wegen ihres Geschlechts eine Sonderstellung in der Geschichte der Emigration in die Türkei ein. Überdies zeigt das Beispiel Schütte-Lihotzky aufschlussreich, wie wichtig alte Netzwerke für das (berufliche) Überleben im Exil waren und dass oftmals neue Netzwerke geknüpft wurden. In die Türkei kamen Margarete Schütte-Lihotzky und ihr Mann Wilhelm Schütte über ihre Kontakte zu dem Archi­ tekten Bruno Taut. Das Paar hatte zuvor einige Jahre in der Sowjetunion gelebt. Nach Ende dieser Zeit an der Seite des Architekten Ernst May war beiden eine Rückkehr in das 126

1  Zum Werk SchütteLihotzkys in der Türkei liegen bislang noch immer verhältnismäßig wenig Studien vor. Zu nennen sind Salih Birtan Karain: Margarete SchütteLihotzky ve Türkiye’deki yapıları, in: Mimarlık 1996, H. 270, S. 8–13; Bernd Nicolai: Moderne und Exil. Deutschsprachige Archi­ tekten in der Türkei 1925– 1955, Berlin 1998, S. 154– 156. Der vorliegende Bei­ trag aktualisiert die Er­ kenntnisse der Habilitation der Verfasserin: Burcu Dogramaci: Kulturtransfer und nationale Identität. Deutschsprachige Archi­ tekten, Stadtplaner und Bildhauer in der Türkei nach 1927, Berlin 2008. 2  Vgl. Margarete Schütte-Lihotzky: Ansprache für Istanbul, Ms., Juni 1978, Nachlass Margarete Schütte-

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Lihotzky, Archiv der Uni­ versität für angewandte Kunst, Wien (UaK, NL MSL), TXT/274, S. 3. Dort berichtet Schütte-Lihotzky auch über vorangegan­ gene Türkei-Aufenthalte: 1932 suchte sie gemein­ sam mit Wilhelm Schütte Tauts Vorgänger, Ernst Egli, an der Akademie der Schönen Künste in Istanbul auf. Schütte reiste weiter nach Ankara, wo er den Bildhauer Anton Hanak traf. Gemeinsam fuhren sie über das Land, um Steine für das Sicher­ heitsdenkmal auszusuchen. 1937, nach der Ausreise aus der Sowjetunion, statteten Schütte-Lihotzky und Schütte Bruno Taut einen Besuch an der Akademie in Istanbul ab. 3  Siehe dazu Jan Cremer/Horst Przytulla: Exil Türkei. Deutsch­ sprachige Emigranten in der Türkei 1933–1945, München ²1991; Haymatloz – Exil in der Türkei 1933–1945, Ausst.-Kat. Akade­m ie der Künste, Berlin 2000; Kemal Bozay: Exil Türkei. Ein Forschungs­b eitrag zur deutschspra­chigen Emigration in die Türkei (1933–1945), Münster u. a. 2001. 4  Vertrag zwischen dem Türkiye Cumhuriyeti Kültür Bakanlığı [Türkisches Ministerium für Kultur] und Margarete SchütteLihotzky, 30.6.1938, fak­ similiert in: Ataman Demir: Arşivdeki Belgeler ışığında. Güzel Sanatlar Akademisi`nde yabancı

nationalsozialistische Deutschland wegen ihrer politischen Haltung unmöglich. Während ihres Aufenthaltes in Paris im Jahr 1937 erhielt das Paar einen Brief des in der Türkei exilierten Architekten Bruno Taut und das Angebot für eine Tätigkeit.2 Die 1923 gegründete Türkische Republik »importierte« bereits seit 1927 Architekt/innen, Künstler/innen und Wis­ senschaftler/innen, um den Aufbau in Bildung und Kultur voranzutreiben. Nach 1933 profitierte die Türkei von der Verfolgung und Vertreibung bedeutender Persönlichkeiten des Kultur- und Geisteslebens aus Deutschland.3 So kamen die Stadtplaner Martin Wagner und Gustav Oelsner und auch der Architekt Bruno Taut nach Istanbul, wo sie in wich­ tigen Schlüsselpositionen eingesetzt wurden. Diese Emigran­ ten wiederum versuchten, ehemalige Kolleg/innen in die Türkei zu holen, darunter Margarete Schütte-Lihotzky und Wilhelm Schütte. Als Leiter der Architekturabteilung der Akademie der Schönen Künste und verantwortlich für den Schul- und Universitätsbau in der Türkei war Bruno Taut auf der Suche nach fähigen Mitarbeiter/innen. Schütte-Lihotzky und Schütte hatten bereits in ihrer Zeit in Deutschland, aber auch in der Sowjetunion umfassende Erfahrungen im Schul- und Kindergartenbau gesammelt. Dieses Wissen und die Bauerfahrung waren in der Türkei besonders gefragt. Der Vertrag mit Margarete Schütte-Lihotzky datiert auf den 30. Juni 1938 und verpflichtete sie für drei Jahre als Architektin im Schulbaubüro der Akademie der Schönen Künste in Istanbul.4 Erste Bauaufgaben in der Türkei

Am 24. August 1938 kam das Paar mit dem Schiff aus Brindisi in Istanbul an.5 Am 16. September 1938 bestätigte Taut schriftlich, dass Margarete Schütte-Lihotzky mit demselben Tag ihre Tätigkeit aufgenommen habe.6 Einen Tag nach ihrer Ankunft schrieb diese: »Alles in allem kommt uns diesmal Istanbul viel viel östlicher u. orientalischer vor als die letzten Male, wo wir eben nicht aus dem Westen kamen [sondern aus der Sowjetunion].«7 Die Auseinandersetzung mit einer ihnen fremden Kultur, mit unbekannten Gepflogen­ heiten und Gewohnheiten und die berufliche Weiterarbeit

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nach einer lebensbestimmenden Zäsur waren Herausforde­ rungen, vor die alle türkischen Exilant/innen gestellt waren. Einer der ersten Aufgaben des Paares Schütte/Lihotzky war der Entwurf einer temporären Festarchitektur zur 15. Jahresfeier der Türkischen Republik am 29. Oktober 1938 für den Fähranleger Karaköy auf der anatolischen Seite Istanbuls. Der Entwurf (Abb.  1) mit dem vertikal aufstre­ benden Turm zeigt zum einen Referenzen an die moderne Architektur in der Türkei, etwa Şevki Balmumcus Ausstel­ lungshalle für Ankara oder den Hauptbahnhof von Ankara.8 Vermutlich kannte das Architektenpaar diese Gebäude, da es im September 1938 während einer Besichtigungsreise in Ankara gewesen war. Gleichzeitig weist der Entwurf, wie Fotografien der Festarchitektur bei Tag und bei Nacht zeigen, Anklänge an sowjetische Festarchitektur und Redner­ tribünen auf,9 die dem Paar durch ihren mehrjährigen Auf­

hocalar. Philipp Günther’den (1929)– (1958) Kurt Erdmann’a kadar, Istanbul 2008, S. 327f. Siehe auch Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, 28.6.1938., UaK, NL MSL, Korres­ pondenz von MSL (30er Jahre), Q/151. 5  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, 25.8.1938. UaK, NL MSL, Korres­p ondenz von MSL (30er-Jahre), Q/160. 6  Bruno Taut: Bestäti­ gung über Arbeitsbeginn von Margarete SchütteLihotzky, 16.9.1938, fak­ similiert in: Demir, Arşivdeki Belgeler ışığında, S. 328. 7  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, 25.8.1938, UAK, NL MSL, Korres­ pondenz von MSL (30er Jahre), Q 160. 8  Beide Bauten abgebil­ det in: Sibel Bozdoğan: Modernism and Nation Building. Turkish Architec­ tural Culture in the Early Republic, Singapur 2001, S. 180. 9  Fotografien reprodu­ ziert in Burcu Dogramaci: Fotografieren und For­ schen. Wissenschaftliche Expeditionen mit der Kamera in der Türkei nach 1933, Marburg 2013, S. 63.

Abb. 1: Margarete Schütte-Lihotzky und Wilhelm Schütte, Festturm Brückenkopf Karaköy, Festdekoration zum 15. Jahrestag der Republik, Kopf der Galatabrücke, Istanbul-Karaköy, 29.10.1938, Entwurfszeichnung

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10  Zum Agitprop vgl. Anatoli Strigaljow: Agitprop – die Kunst extremer politischer Situationen, in: Berlin – Moskau 1900–1950, Ausst.-Kat. MartinGropius-Bau, Berlin, München 1995, S. 111– 117. Siehe auch Alexander und Wiktor Alexandro­ witsch Wesnin: Gestal­ tung des Moskauer Kremls und Roten Platzes zum 1. Mai 1918, in: Mit voller Kraft. Russische Avant­ garde 1910–1934, Ausst.Kat. Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg 2001, S. 110.

enthalt in der Sowjetunion sicher vertraut waren.10 Propa­ ganda formulierte sich in Zitaten und Inschriften, Tribü­nen und Kioske wurden als Mittel der medialen Kommu­nikation eingesetzt. Buchstaben und Symbole transportier­ten politi­ sche Botschaften. Die römischen Ziffern XV und die Initialen TC, die für Türkiye Cumhuriyeti (Türkische Republik) stehen, sind auf dem Turm und auf den Spruch­bändern über der Straße zu finden. Halbmond und Stern sind bekannte Symbole für die Türkei. Die roten Flaggen ver­weisen auf festliche Straßengestaltungen der Brüder Wesnin oder Iwan Alexejews anlässlich von Feiertagen zur russischen Revolu­ tion. Eine besondere Beziehung ist vor allem zu den Arbeiten Boris Iofans zu erkennen. Für den Pavillon auf der Pariser Weltausstellung 1937, den Schütte-Lihotzky während ihres Paris-Aufenthaltes gesehen haben dürfte, stellte Iofan das horizontale Element des Ausstel­lungsgebäudes in Kontrast zur turmartigen Eingangsfassade. Auch Margarete SchütteLihotzky und Wilhelm Schütte kombinierten die Vertikali­tät der Straßenüberspannungen mit der Horizontalität des Turms, der schon von Weitem und auch in der Nacht sichtbar war, da die Buchstabenzeichen illuminiert waren. Schulbau im Kemalismus

11  »Im Schuljahr 1938/39 gab es in der Türkei 7.862 Volksschulen gegenüber 4.894 im Jahre 1923/24.« Friedrich Karl Kienitz: Türkei. Anschluß an die moderne Wirtschaft unter Kemal Atatürk (Schriften des Hamburgi­ schen Welt-WirtschaftsArchivs, Bd. 10), Hamburg 1959, S. 62. 12  Köy okulları müfredat programı taslağı [Entwurf des Lehrplans für Dorf­ schulen], hg. vom Türki­ schen Kulturministerium, Ankara 1936.

Die Alphabetisierung und Bildung der ländlichen Bevölke­ rung war eines der großen Reformprogramme der türkischen Regierung. So galt die Errichtung von Dorfschulen als wich­ tiges Anliegen, und es wurden Spezialist/innen für den Auf­ bau von Volks- und Dorfschulen verpflichtet.11 Beabsichtigt war die Anhebung der Schulpflicht von drei auf fünf Jahre, das verbesserte Gesundheitssystem sollte zur Senkung der Kindersterblichkeit beitragen. Die Beschulung von mehr als 34.000 Dörfern stellte hohe ökonomische und organi­ satorische Anforderungen. Prototypische Entwürfe sollten eine möglichst kostengünstige Umsetzung gewährleisten. In einer Broschüre aus dem Jahr 1936 stellte das Unterrichts­ ministerium Grundkonstellationen für Landschulen und Wohnmöglichkeiten für die Dorfschullehrer/innen vor.12 Die Größe wurde, in Abhängigkeit von der Schülerzahl, variie­ rend zwischen einem und drei Klassenräumen festgelegt, und es wurden verschiedene lokale Materialien vorgestellt.

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Architekten im Baubüro des Unterrichtsministeriums be­ schäftigten sich speziell mit der Umsetzung dieser Dorf­ schulprojekte. Mit Margarete Schütte-Lihotzky und Wilhelm Schütte konnte das türkische Bildungsministerium Mitarbeiter ge­ winnen, die langjährige internationale Erfahrung im Schul­ bau vorweisen konnten. Für die beiden Architekten wiede­ rum bot sich im türkischen Exil die Gelegenheit, ihre Reform­ bestrebungen im Schulbau weiterzuführen. Bald nach ihrer Ankunft im August 1938 besichtigten sie Dorfschulen im weiteren Umkreis von Ankara und Istanbul.13 Bei dieser Reise sollten sie einen Eindruck von der lokalen Bauweise und den klimatischen sowie topografischen Bedingungen gewinnen. Zudem führten sie Gespräche mit Pädagog/innen, Ärzten und Schulleitern, um sich in die spezifische Situation und die Bedürfnisse in der Türkei einzuarbeiten. Schütte-Lihotzkys Aufgabe war der Entwurf erweiterungsfähiger Dorfschulen in Lehmbau und aus luftgetrockneten Ziegeln, die von den Dorfbewohnern selbst unter Anweisung von Spezialisten aufgebaut werden könnten.14 Im Auftrag des Unterrichtsministeriums entwickelte Schütte-Lihotzky Konzepte für die Errichtung typisierter Dorfschulen, die sie 1939 in einer Broschüre publizierte. Die Architektin entwarf sieben nach Anzahl der Schüler dif­ ferierende Grundschultypen. Diese Typologien reichten von der kleinen Schule mit 30 Kindern und Unterkunft für den Dorflehrer bis zur maximalen Größe von drei Klassenräumen für 180 Schüler und zwei Lehrerwohnungen (Abb. 2). Dabei war von vornherein eine Erweiterungsoption der Schulen eingeplant, rechnete man doch mit einer stetig wachsenden Schülerzahl. Dieses Modularsystem hatte Schütte-Lihotzky auch in früheren Schaffensperioden verwendet.15 Bereits in der Sow­ jetunion der 1930er Jahre hatte Schütte-Lihotzky Kinder­ einrichtungen für vier verschiedene Klimazonen geplant und dabei klimatische Anforderungen sowie regionale Bau­ materialien berücksichtigt.16 Auch in der Türkei sollten die Schulen optisch in die Region eingegliedert sowie aus finan­ ziellen und arbeitstechnischen Gründen aus regionalen Materialien gebaut sein. Bei den typisierten Dorfschulen 130

13 Schütte-Lihotzky, Ansprache für Istanbul, S. 4. Siehe auch eine Foto­ grafie der Exkursion, reproduziert in: Dogramaci, Kulturtransfer und natio­ nale Identität, S. 107.

14  Schütte-Lihotzky, An­ spra­che für Istanbul, S. 4.

15  So beim Ausbau einer Siedlerhütte in ein Siedler­ haus 1922 und den Typen­ entwürfen für die sowjeti­ schen Kindergärten. Vgl. Margarete SchütteLihotzky. Soziale Archi­ tektur. Zeitzeugin eines Jahrhunderts, Ausst.-Kat. MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst, Wien, hg. von Peter Noever, Wien ²1996, S. 48f. und 138–147. 16  Vgl. Mona MüryLeitner: Rationaler als die männlichen Kollegen. Ein Gespräch mit Margarete Schütte-Lihotzky, in: Anita Zieher: Auf Frauen bauen. Architektur aus weiblicher Sicht, Salzburg 1999, S. 15f.

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Abb. 2: Margarete Schütte-Lihotzky, Typisierte Dorfschulen, Typus mit drei Klassenräumen, 150–180 Schüler, 24.3.1939

17  Margarete SchütteLihotzky: Yeni köy okulları bina tipleri üzerinde bir deneme [Versuch über typisierte Dorfschulen], Ankara 1939, Ms., o.S., UaK, NL MSL, PRNR 136/15/TXT. 18  Ebd., o.S.

berücksichtigte die Architektin die klimatischen, topografi­ schen und wirtschaftlichen Gegebenheiten und plante eine traditionelle, flexible Bauweise in Holz, Lehm, Ziegel oder Bruchstein. In ihrer Denkschrift schreibt die Architektin: »Die Typen der Dorfschulen werden untereinander ganz verschieden sein müssen, je nach dem Landesteil, in dem sie gebaut werden, je nach dem Klima, der Landschaft, dem örtlichen Baumaterial und schliesslich je nach der Grösse des Dorfes oder Landstädtchens.«17 Die Architektin entwarf auch das Mobiliar, das von Tischlern vor Ort hergestellt werden konnte. Im Rahmen der Hilfe zur Selbsthilfe sollten die einfachen Bauten von den Dorfbewohnern unter Anlei­ tung errichtet werden.18 Viele Details weisen die Dorfschulen als Ergebnis schulreformatorischer Überlegungen aus: So plante SchütteLihotzky möglichst helle Räumlichkeiten, Gruppen­arbeits­ plätze, großzügige Sport- und Spielplätze, zudem Pflanzen,

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Abb. 3: Margarete Schütte-Lihotzky, Dorfschulen im Inneren der Türkei, 5.4.1939, Farbreproduktion

Aquarien und Kleintierställe zur Pflege durch die Schüler. In einer Zeichnung (Abb. 3) visualisierte Schütte-Lihotzky das Dorfidyll mit der Schule als Bildungsinstitution, die als soziale und kulturelle Keimzelle zwar eine exponierte Stel­ lung haben, sich aber ästhetisch in die regionale Bauland­ schaft einfügen sollte. Besonderes Augenmerk lenkte sie auf die Farbgebung, der eine Bedeutung als Stimmungsträger zu­ge­sprochen wurde: »Allgemein aber kann gesagt werden, dass die Dorfschulen in hellen freundlichen Farben gestri­ chen werden sollten, auch das Holzwerk soll bunt sein, da­mit die Schulen von aussen einen fröhlichen und heiteren Eindruck machen.«19 Es ist nicht rekonstruierbar, wie viele Dorfschulen nach dem Konzept von Schütte-Lihotzky tatsächlich errichtet wurden – bereits vor ihrer Ankunft und nach ihrem Fortgang aus der Türkei waren auch andere Experten in den Auf- und Ausbau von Dorfschulen involviert. Dennoch lässt sich kon­ statieren, dass die Planungen Schütte-Lihotzkys 132

19  Ebd., o.S.

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20  Siehe Chronographia. Gülsün Karamustafa, hg. von Melanie Roumiguière/ Övul Ö. Durmuşoğlu, Ausst.-Kat. Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, 2016, S. 96f.; zu »Modernity Unveiled/Interweaving His­­t ories« siehe auch die Projekt­b eschreibung in http://saltonline.org/ media/files/628.pdf (abgerufen am 29.11.2018).

fort­ wirkten – und nicht zuletzt auch in der türkischen Gegenwartskunst einen Nachhall fanden: Die Installation »Modernity Unveiled/Interweaving Histories« (Abb. 4) der Künstlerin Gülsün Karamustafa, die 2010 für die Ausstellung »Tanzimat« im Belvedere Augarten Contemporary, Wien, entstand, bezieht sich auf die kemalistischen Bildungsrefor­ men und die Exilbewegungen in die Türkei. Karamustafas raumgreifende Arbeit ist ein Holzgerüst, das aus miteinander verknüpften Kuben besteht. In diesen sind historische Schwarzweißfotografien aus Archiven und Zeitschriften be­ festigt.20 Karamustafa eignet sich also mit Mitteln der Ap­ propriation vorgefundenes Material zu den kemalistischen Bildungsreformen an: die Schriftreform von der arabischen

Abb. 4: Gülsün Karamustafa, Modernity Unveiled/Interweaving Histories, 2010

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zur lateinischen Schrift, die Alphabetisierung der Bevöl­ kerung und der Aufbau von Dorfschulen in der Türkei der 1930er Jahre. Ausgangspunkt für die Arbeit war das Schaffen Margarete Schütte-Lihotzkys. Das Werk zeigt formale Re­ ferenzen an die von Schütte-Lihotzky entwickelten SchulPrototypen, indem Konstruktions- und Erweiterungsmetho­ den übernommen werden, die auf einer Grundform und -größe basierten. Die in den Fotografien von »Modernity Un­ veiled« visualisierten Bauleistungen finden ihren Widerhall in der Holzkonstruktion des Gerüsts. Dazu Karamustafa: »Die Holzstruktur für ›Modernity Unveiled‹ wurde in einem Größenverhältnis von 1:4 nach dem Originalgrundriss [der Schule für 30 Schüler] gebaut. Sie dient als Träger für Foto­ grafien von Schülern aus der Zeit, die eifrig mit dem Bau ihrer eigenen Schule beschäftigt sind.«21 Zwar lässt sich nicht verifizieren, ob auf den Aufnahmen tatsächlich nach Schütte-Lihotzkys Entwurf gebaut wird. Doch überträgt Karamustafas Werk die grundlegenden Ideen der Architektin für ihre Dorfschulen in die Gegenwart: Aufbauarbeit wird hier wortwörtlich genommen und in die Physis der Installation übersetzt. Auch lässt Karamustafa die einfachen Konstruktionsmethoden, die auf den Fotografien nur in der dokumentarischen Deskription zu erfahren sind, körperlich erfahrbar werden, indem sie diese in eine skulp­ turale Form überträgt. Damit wird auch das Grundprinzip von Schütte-Lihotzkys Arbeit evident, die auf der Hilfe zur Selbsthilfe basierte: Lerne es, selbst zu machen. Indem der Bau von der lokalen Bevölkerung und von Absolventen der Dorfinstitute22 ohne fremde Hilfe errichtet werden konnte und auf der Grundlage regionaler Materialien zu verwirk­ lichen war, konnte auch eine Emanzipation von der Autorität des Architekten, der Architektin stattfinden. Dennoch ist in Karamustafas Arbeit auch ein latenter Hinweis auf eine schon zu Schütte-Lihotzkys Zeiten arti­ kulierte türkische Kritik an einer importierten Moderne zu erkennen: Bereits seit Ende der 1920er Jahre waren die in der Türkei von ausländischen Architekten wie Ernst Egli oder Clemens Holzmeister errichteten Architekturen auch Gegenstand von Diskussionen. So wurde der modernistische Baustil mit Flachdächern und ornamentlosen Fassaden als 134

21  Über neuere Arbeiten. Ein Interview von Novem­ ber Paynter mit Gülsün Karamustafa, in: Solo für … Gülsün Karamustafa. ETIQUETTE, Ausst.-Kat. Ifa-Galerie Stuttgart, 2011, S. 51–55, hier S. 47.

22  Die Dorfinstitute (Köy Enstitütleri) resultierten aus den bildungsreforma­ torischen Bestrebungen der Kemalisten und dien­ ten der Ausbildung von Dorfschullehrer/innen. Diese sollten nach der Ausbildung in ihre Dörfer zurückkehren und die Be­ schulung der Bevölkerung und die Eröffnung neuer Schulen vorantreiben. Dazu auch Karamustafa in ebd., S. 47.

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Abb. 5: Modell des Mädchenlyzeums von Ernst Egli und des Erweiterungsbaus von Margarete Schütte-Lihotzky, 1938, Foto

23  Vgl. dazu Bozdoğan, Modernism and Nation Building, S. 234–239.

»kübik«, also kubisch, und damit negativ konnotiert als un­ sensibel und dogmatisch bewertet, da dieser Stil die regio­ nalen Bautraditionen ignoriere und zu fremden Bauten führe.23 Und tatsächlich ließen sich die Module, die SchütteLihotzky für die Dorfschulen entwickelte, auch jenseits der Türkei vorstellen. Karamustafa nimmt in ihrer Arbeit keine Stellung ein für oder gegen ein Projekt Moderne, öffnet aber den kritischen Blick für einen Diskurs, der hinter den histo­ rischen Fotografien, hinter den Bauten und Aufbauleistungen der kemalistischen Führung und ihren Architekt/innen verborgen bleiben könnte. Zwar handelte es sich bei den jeweiligen Dorfschulen um vergleichsweise kleine Projekte, doch bildeten sie elementare Beiträge zu einem ehrgeizigen nationalen Bildungs- und Reformprogramm, das auch die Ausbildung gerade von Mädchen und jungen Frauen umfasste. Ebenfalls in Rückgriff auf schulreformatorische An­ sätze der 1920er Jahre konzipierte Margarete SchütteLihotzky die Erweiterung eines Mädchengymnasiums in Ankara (Abb.  5). Das Lyzeum wurde einst von Ernst Egli entworfen und lag oberhalb des ebenfalls von Egli stam­ menden, promi­nen­ten »Ismet-Paşa-Mädcheninstituts«. Der

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Erweiterungsbau war auf dem Baugelände zwischen Gym­ nasium und Kunstgewerbeschule geplant, wodurch ein grö­ ßerer Komplex zur Ausbildung von Mädchen und jungen Frauen geschaffen werden sollte. Deshalb lässt sich durchaus von einem prestigeträchtigen Projekt im Rahmen der Gleichstel­lungspolitik sprechen. In der Türkei wird SchütteLihotzkys Entwurf dementsprechend bis heute als Ausdruck eines neuen Bauens für eine neue Zielgruppe interpretiert.24 Schütte-Lihotzky plante eine Erweiterung des Bestands­ ­baus um einen zweistöckigen Pavillon, der eine Aula, Biblio­ thek und Musikzimmer enthalten sollte, und einen Trakt mit Klassenzimmern. Die seitlich angegliederten Schul­ räume hatten Flügeltüren zum Park. Schütte-Lihotzky reagierte auf die Topografie des Grundstücks und plante die Erweiterung wesentlich niedriger als den Bestandsbau, damit ein freier Blick vom oberen Gebäude bestehen bliebe. Zudem sollten Pergolen, Balkone und Terrassen einen fließenden Übergang zwischen innen und außen ermöglichen. Auf die klimatischen Bedingungen reagierte Schütte-Lihotzky mit einem Garten, der aufgrund der heißen Sommer nur wenig Rasen­ fläche, dafür aber großzügige Verschattung durch Bäume und Lauben bieten sollte.25 Die Architektin integrierte hier wesentliche Bestandteile der Schulbaureformen der Wei­ marer Republik, die in der Türkei mit einer Emanzipierung und Bildung der weiblichen Bevölkerungsgruppe in den Großstädten synthetisiert wurden. Rekreation, Belichtung und die Berücksichtigung von Freizeitangeboten prägten Schütte-Lihotzkys Konzeption. Obwohl der Entwurf vom Unterrichtsministerium genehmigt wurde und der Baube­ ginn im Juni 1939 erfolgen sollte, wurde die Erweiterung des Mädchenlyzeums nicht realisiert. Vermutlich kam es aus finanziellen Gründen – der Ausbruch des Weltkriegs mochte ursächlich sein – nicht zur Ausführung.26 Und auch der Men­ tor der Architektin, Bruno Taut, war bereits im Dezember 1938 verstorben, sodass die Beschäftigungsverhältnisse in der Architekturabteilung vermutlich neu geordnet wurden.27 Private Wohnhäuser

Margarete Schütte-Lihotzky war seit Mitte 1939 nicht mehr für das Ministerium tätig, sondern arbeitete fortan als frei­ 136

24  Dazu die Archi­ tekturhistorikerin Sibel Bozdoğan: »The project suggests that not only were the young women of the republic different from their mothers, but so were the buildings within which they were educated and socialized into Kemalist ideals.« Bozdoğan, Moder­ nism and Nation Building, S. 85. 25  Vgl. Margarete Schütte-Lihotzky: Projekt zur Erweiterung des Mädchen Lyzeums in Ankara, Ms., 1939. UaK, NL MSL, PRNR 135. 26  In einem Brief an ihre Schwester schreibt Schütte-Lihotzky, dass der Erweiterungsbau in Ankara genehmigt wurde und im Juni 1939 begonnen werden sollte. Margarete Schütte-Lihotzky an Adele Hanakam, o.D. [1939]. UaK, NL MSL, Q/161. Nach ihrer Verhaftung gab die Architektin zu Proto­ koll, dass sie seit Juni 1939 nicht mehr für das Ministerium gearbeitet habe. Margarete SchütteLihotzky im Vernehmungs­ protokoll der Geheimen Staatspolizei, Wien, 24.1.1941, Dokumenta­ tionsarchiv des österrei­ chischen Widerstands, Wien (DÖW). 27  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, 28.12.1938, mit der Nachricht von Tauts Tod, UaK, NL MSL, Korres­ pondenz von MSL (30er Jahre), Q/162.

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28  Siehe Burhan Toprak: Schreiben zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses mit der Akademie, 13.3.1939, faksimiliert in: Demir, Arşivdeki Belgeler ışığında, 2008, S. 328. 29  Vgl. Leyla Baydar: 1923–1950 Cumhuriyet Dönemi Ankara Konutlarında Iç Mekan Kurgusu, in: Ankara 1923–1950. Bir Başkentin Oluşumu, hg. von TMMOB Mimarlar Odası, Ankara 1994, S. 47.

30  Vgl. Ernst Egli: Mimari Muhit, in: Türk Yurdu, H. 30 (224), Bd. 4 (24), 1930, S. 32–36, hier S. 35f.; Bruno Taut: Türk Evi, Sinan, Ankara, in: Her Ay Edebiyat ve Sanat, 1.2.1938, S. 93–98, hier S. 93; Wilhelm Schütte: Bugünkü kültür ve ikametgâh, in: Arkitekt, H. 1–2, 1944, S. 28–31, und H. 3–4, 1944, S. 66– 70, hier S. 67. 31  Abb. Haus Lütfi Tozan und Nusret Evcen Evi in: Dogramaci: Kulturtransfer und nationale Identität, S. 127. Zu Letztem vgl. Margarete SchütteLihotzky: Beschreibung zur Skizze eines Landhauses in Cadde bostanı, 27.5.1940, UaK, NL MSL, PRNR 138/16/TXT. Zudem sind noch Grund­ risse der Architektin für ein Haus für Cambel Halet überliefert, vgl. UaK, NL MSL, 139/A/1-2.

berufliche Architektin.28 Im Januar 1935 fragte die türkische Zeitung »Ulus«, welche Kriterien beim Bau eines modernen Hauses befolgt werden müssten. Als Antwort veröffentlichte die Redaktion über mehrere Tage die Beiträge zum Pariser Wettbewerb »Familienhäuser«, die für die Türkei beispielhaft sein sollten.29 Diese Hinwendung zu westeuropäischen Haus­typen und Grundrissen bedeutete jedoch nicht, dass die alt­türkische Hausarchitektur verschwand. Die Mehrheit der türkischen Bevölkerung war weit vom Ideal eines europä­ isierten Lebensstils entfernt, weder konnte sie sich diesen leisten, noch wollte sie sich von ihren Traditionen vollends lösen. Auch in Bauten für die gehobenen Gesellschaftsschichten wurde bisweilen eine Synthese von moderner Raum­ ordnung und traditionellen Architekturelementen avisiert. Viele deutschsprachige Architekten interessierten sich ohne­ hin für die türkische Bautradition. Ernst Egli, Bruno Taut und Wilhelm Schütte plädierten für eine Auseinanderset­ zung mit dem historischen türkischen Haus, um zu einer Neu­for­mulierung zu gelangen.30 Andere versuchten, Versatz­ stücke oder ästhetische Konzepte des alttürkischen Wohn­ hauses in ihre Entwürfe zu integrieren. Ganz ähnlich bezog Margarete Schütte-Lihotzky in ihren drei Wohnhaus-Entwürfen aus dem Jahr 1940 archi­ tektonische Elemente der lokalen Bautradition ein. Ihr Haus »Lütfi Tozan« in Ankara hat einen traditionellen Erker und ein vorkragendes Dach. Das Haus weist den für die alttür­ kische Villenarchitektur typischen T-Grundriss auf. Auch für das Haus »Nusret Evcen Evi«, das malerisch am Bosporus liegen sollte, schlug die Architektin ein »landes­ übliches Ziegeldach« vor.31 Gleichzeitig jedoch zeigte sich Schütte-Lihotzky in ihrer Grundrissplanung als jene reformorientierte Archi­ tektin, die sie bereits in den 1920er Jahren in Frankfurt ge­ wesen war. So integrierte sie funktionale Einbauten und zeigte besondere Sorgfalt bei der Positionierung der Kinder­ zimmer im ersten Stock. Alle drei Kinderzimmer im Hause »Evcen« sollten Zugang zu einer Terrasse haben, die im Sommer als zusätzlicher Aufenthaltsort dienen konnte und eine Verbindung zum Garten herstellte. Gleichzeitig inte­ grierte sie einen separaten Waschraum nur für die Kinder,

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deren Position im Familiengefüge damit deutlich aufgewertet wurde: »Für die Kinder ist ein Extrawaschraum mit Dusche vorgesehen, der so gelegen ist, dass die drei Kin­ derzimmer zusammen mit ihrer Terrasse und ihrem eigenen Waschraum zusammen eine eigene Abteilung des Hauses bilden, die sogar, wenn erwünscht, durch eine Glaswand vom Treppen­haus abgetrennt wird.«32 Die Architektin be­ rücksichtigte die Bedürfnisse der jüngsten Familienmit­glie­ der ebenso wie jene der Erwachsenen; Gleichstellung war damit eine zen­trale Kategorie ihrer Entwurfspraxis.

32 Schütte-Lihotzky, Beschreibung zur Skizze eines Landhauses.

Widerstand und Rückkehr

Während der Zeit in der Türkei setzte sich die bereits in den 1920er Jahren einsetzende Politisierung Margarete SchütteLihotzkys fort. 1939 wurde sie schließlich Mitglied der Kom­ munistischen Partei und schloss sich einem Widerstandskreis um den Architekten Herbert Eichholzer an. 1940 wur­ den die beiden bei einer heimlichen Kurierreise in Österreich verhaftet. Margarete Schütte-Lihotzky wurde zu Zuchthaus verurteilt, Herbert Eichholzer hingerichtet.33 Mit der Wider­ standsarbeit in Österreich und der Verhaftung endete das türkische Intermezzo Margarete Schütte-Lihotzkys, und sie sah ihren Mann Wilhelm Schütte erst im Jahr 1947 wieder. Schütte-Lihotzkys Zeit in der Türkei war produktiv, wobei sie sowohl vertraute Bauaufgaben behandelte als sich auch neue Terrains erschloss, darunter das Privathaus. Margarete Schütte-Lihotzky setzte sich in der Türkei mit den regionalen und klimatischen Gegebenheiten auseinander und arbeiteten an einer Verbesserung der Bedingungen der Volkserziehung. Dieses tiefe Interesse an den Strukturen ihres Gastlandes resultierte aus dem Verständnis ihrer Profes­ sion. Sowohl in Frankfurt am Main als auch in der Sowjetunion arbeitete sie aus einer gesellschaftlichen Verantwor­ tung heraus; ihre Planungen entstanden in Auseinander­ setzung mit den spezifischen Herausforderungen ihrer Auf­ enthaltsorte. Ihre Architektur stand nicht außerhalb eines sozialen Gefüges, sondern sollte dessen integraler Bestandteil sein. Dabei griff sie auf frühere Ansätze zurück und übertrug ihre reformatorischen Ziele auf die Türkei. Auf­ grund ihres begrenzten zeitlichen Aufenthaltes und weil sie 138

33  Vgl. Antje Senarclens de Grancys Beitrag in diesem Band sowie Heimo Halbrainer: »Von der Kunst zur Politik«, in: Herbert Eichholzer 1903–1943. Architektur und Wider­ stand, Ausst.-Kat., Graz 1998, S. 60–81, hier S. 80; Margarete SchütteLihotzky: Erinnerungen aus dem Widerstand 1938–1945, hg. v. Chup Friemert, Berlin 1985, S. 144.

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34 Schütte-Lihotzky, Ansprache für Istanbul, 1978, S. 1.

nicht in einer Führungsposition tätig war, hinterließ die Architektin weniger bleibende Spuren als ihre männlichen Kollegen. Zudem errichtete sie keine Vorzeigeprojekte wie Universitäts- oder Ministerialbauten, sondern lieferte die Kon­zepte für den materiell und repräsentativ bescheidenen Dorfschulbau. In den 1970er Jahren wurde die Architektin für eine Festveranstaltung in Istanbul angefragt, die ihren – inzwi­ schen verstorbenen – Ex-Mann Wilhelm Schütte ehren sollte. Sie zog in ihrer Rede eine knappe Bilanz ihrer Exilzeit: »Es waren sehr bewegte Jahre. In unser beider Vorstellung zuerst noch Teil jener Wanderjahre, die uns in verschiedene Länder führten – später aber die Jahre eines fernen Weltgemetzels, – und die Jahre unser beider Trennung.«34 Damit verwies die Architektin auf die Ambivalenz der Emigration, die eine Entscheidung zur Lebenssicherung war und zugleich ein Dasein mit ungewisser Zukunft blieb.

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Vergessene Architek­tur­diskurse in Wien nach 1945 Monika Platzer

Die Neuorientierung im Nachkriegs-Wien galt einem kom­ munalen Wohlfahrtsstaat, der im Gegensatz zum Roten Wien der 1920er Jahre nicht mehr polarisierte, sondern vor­ rangig den Bedürfnissen der Bevölkerung nach Stabilität und Normalität entsprach. Folglich standen die Reminis­ zenzen an das Projekt einer kollektiven Moderne, die der abstrahierte Wolkenkratzer auf einem Wahlkampfplakat der Kommunistischen Partei Österreichs (kpö) für die Natio­ nalratswahl von 1945 hervorrief,1 im direkten Widerspruch zur im Aufbau befindlichen gesellschaftspolitischen Nach­ kriegsordnung. In Wien grenzte sich die Sozialdemokratie von dem vom Austromarxismus geprägten sozialen Wohnbau des Roten Wien ab zugunsten eines nationalen Munizipal­ sozialismus mit eindeutiger Westbindung. Gleichzeitig ge­ hörte der Antikommunismus in der Zweiten Republik zum parteien- und klassenübergreifenden Konsens.2 Die Selbst­ erfindung Österreichs als »Sonderfall«, als Land, das nicht als besiegt und nicht als befreit galt und sich als Mittler zwischen Ost und West in Position brachte, stand im Vor­ dergrund.3 Das Credo von Margarete Schütte-Lihotzky nach dem enttäuschenden Abschneiden ihrer Partei, der kpö, bei der ersten Landtags- und der Nationalratswahl lautete: »Es ist uns Kommunisten eigen, daß wir mit brennender Leiden­ schaft im Herzen für unsere Weltanschauung kämpfen und uns aber gleichzeitig die nüchterne Betrachtungsweise der Wirklichkeit bewahren.«4 140

Dieser Text basiert auf meiner Dissertation: Monika Platzer: Gegen den Kanon erzählt. Positionen, Akteure und Netzwerke der Wiener Nachkriegsarchitektur im Kalten Krieg, 2 Bde., Dissertation, Universität Wien 2017. 1  Carl Pick: Wahlplakat für die KPÖ für die Nationalratswahlen am 25.11.1945, Wienbiblio­ thek im Rathaus, Plakat­ sammlung, P-460. 2  Siehe hierzu den Beitrag von Manfred Mugrauer in diesem Band. 3  Manfried Rauchen­ steiner: Der Sonderfall. Die Besat­z ungszeit in Österreich, 1945 bis 1955, Graz u. a. 1985; Günter Bischof: Austria in the First Cold War 1945– 55. The Leverage of the Weak, Basingstoke 1999; Gerald Stourzh: Um Einheit und Freiheit: Staats­v ertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung

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Österreichs 1945–1955, Wien u. a. 2005; Michael Gehler: Vom Sonderfall zum Modellfall, in: Jürgen Elvert/Susanne Krauß (Hg): Historische Debatten und Kontro­ versen im 19. und 20. Jahrhun­d ert. Jubiläums­ tagung der RankeGesellschaft in Essen, 2001, Stuttgart 2003, S. 175–205. 4  Margarete SchütteLihotzky: Referat zu den Wahlen, 29.9.1945, Manuskript, UaK, NL MSL, TXT/497–512. 5  Wien baut auf. Zwei Jahre Wiederaufbau der Stadt Wien, Ausstellung im Festsaal des Neuen

Zwischen diesen beiden Polen – Enthusiasmus und Realität – bewegten sich Leben und Werk der Architektin Schütte-Lihotzky in der Nachkriegszeit. Meine Betrachtung setzt 1947 ein und korreliert mit dem Jahr der ersten Leis­ tungsschau der Stadt »Wien baut auf«.5 Im Rathaus prä­sen­ tierte das Stadtbauamt, dem in der Ausstellung die größte Fläche zugewiesen wurde, seine raumplanerischen und städtebaulichen Ideen (Abb. 1). Margarete Schütte-Lihotzky gehörte dem Leitungsteam für die künstlerische Gestaltung an und war mit einer Kollegenschaft (unter anderem Franz Schuster und Hugo Hassinger) und Planungsinhalten kon­ frontiert, in denen sich die Kontinuitäten und personellen Verflechtungen des Nationalsozialismus im NachkriegsWien zeigten. Sowohl Opfer als auch Täter arbeiteten an Kon­ zepten für den Wiederaufbau einer demokratischen Gesellschaft. Die geopolitische Lage Wiens innerhalb Europas bildete den Auftakt zur Leistungsschau mit dem Titel »Weg zur

Abb. 1: Aufbau der Ausstellung »Wien baut auf«, 1947

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Erneuerung«. Dabei wurden eine Entmischung der Funk­ tionen und eine organische Entwicklung der Stadt im Süden von Wien gefordert. Eine Modellstudie der Per-AlbinHansson-Siedlung am Wienerfeld war beispielgebend für die neue Siedlungsplanung: »Nicht Aneinander­ reihung gleichartiger ›Siedlungselemente‹, sondern neue Wohnorga­ nismen« wurden gezeigt. Der restaurative Neubeginn Wiens, der vielfach durch ein Weiterbauen an bereits vorhandenen Planungen gekennzeichnet war – wie ein Vergleich mit dem Stadterweiterungsplan von 1941 zeigt –, blieb auch SchütteLihotzky nicht verborgen. In einer rot unterstrichenen Notiz – »Defizit der Ausstellung ›Wien baut auf‹ 870.000 Schilling (von den Wienern als ›Wien bauscht auf‹ bewitzelt)« – zeigte sich ihre Skepsis und inhaltliche Distanz.6 Kommunistisches Wohnbauprogramm

Schütte-Lihotzkys ganzer Einsatz galt dem neuen Wohn­ bauprogramm, das im April 1947 von der kpö im Wiener Landtag eingebracht wurde.7 In drei Bauperioden sollten vorerst 30.000 beschädigte Wohnungen instandgesetzt und bis zum Jahr 1951 40.000 Wohnungen neu errichtet werden. Die Wohnformen der Neubauten sollten zu je 50 Prozent aus Stockwerksbauten und Siedlerhäusern mit Garten bestehen. Zum großen Teil sollten Zweizimmer-, aber auch Drei- und Einzimmerwohnungen – alle mit Küche, Dusche und Klosett – gebaut werden. In den Erläuterungen zum Wohnbaupro­ gramm finden sich Ausführungen zur Bauorganisation und Baumethode, Berechnungen über den Bedarf an Arbeitskräf­ ten, Kostenberechnungen und auch ein Finanzierungsplan – alles von Schütte-Lihotzky konzipiert. Im Nachlass hat sich kein Planmaterial erhalten, und es ist fraglich, ob überhaupt zeichnerische Äußerungen für das Wohnbauprojekt getätigt wurden. Aus der Sowjetunion brachte Schütte-Lihotzky das Know-how für städtebauliche Großplanungen mit, das sie im Wiederaufbau im großen Maßstab einbringen wollte. Im Gegensatz zum Roten Wien sollte das verhasste Gang­ küchenhaus jetzt einem Massenwohnbau weichen, der nicht in »Handarbeit«, sondern in Vorfabrikation und Normung sämtlicher Bauteile gefertigt werden sollte. Wohnungen für 142

Rathauses, September– Oktober 1947.

6  Margarete SchütteLihotzky, Notiz, UaK, NL MSL, PRNR 152.

7  Margarete SchütteLihotzky: Das neue Wiener Wohnbauprogramm der kommunistischen Partei, 1947, Typoskript, UaK, NL MSL, TXT/328–357.

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8  Margarete SchütteLihotzky: Licht, Luft, Sonne, in: Stimme der Frau, Nr. 21, 3. Jg., 24.5.1947, UaK, NL MSL, TXT/289.

9  Maren Seliger: Großoder Klein-Wien?, in: Studien zur Wiener Ge­ schichte. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 51 (1995), S. 209–241, hier S. 212. 10  Siehe Gemeinderats­ ausschüsse, in: Amtsblatt der Stadt Wien, 6.9.1947, S. 4. 11  Vgl. Wahlplakat der Wiener SPÖ 1949, »SPÖ baut, KPÖ lügt«, Wien­ bibliothek im Rathaus, Plakatsammlung, P-1264. 12  Vgl. Kap. Englands Beitrag am »Aufbau« Wiens, in: Platzer, Gegen den Kanon erzählt, Bd. 1, S. 37–66. 13  Siehe u. a. Eduard F. Sekler: Stevenage. Eine neue Stadt, in: Der Aufbau, Nr. 1/2, 2. Jg., Jan./Feb. 1947, S. 17–20. 14  Peter Pirker: Subver­ sion deutscher Herrschaft. Der britische Kriegsge­ heim­d ienst SOE und Österreich (Zeitgeschichte im Kontext 6), Göttingen 2012.

Alte, alleinstehende Berufstätige, Studierende und kinder­ reiche Familien, alle mit denselben Vorzügen von Licht, Luft und Sonne ausgestattet, sollten nach Schütte-Lihotzkys Plänen zur Verfügung gestellt werden.8 Die alte Stadt mit ihren Mängeln sollte nicht wieder auf­ gebaut werden. Die Berechnungen des Konzeptes basier­ten auf dem Gebiet von Groß-Wien, wo für Schütte-Lihotzkys städtebauliches Programm der Deurbanisierung genügend Platz für die Neuansiedlung von Wohnbauten, Industrien und sozialer Infrastruktur zur Verfügung gestanden wäre. Die Stadtgrenzen wurden aber – auf Wunsch der Alliierten – wieder auf jene vor 1938 zurückgeführt.9 Der kpö-Antrag zum Wohnbauprogramm wurde im Wiener Gemeinderat von der spö abgelehnt. Im selben Jahr, am 22. August 1947, genehmigte der Gemeinderatsausschuss den ersten Bauabschnitt der Per-Albin-Hansson-Siedlung, welche den Auftakt des städtischen Wohnbauprogramms bedeutete.10 Die Wohnungsfrage blieb ein heiß umkämpftes Thema zwischen spö und kpö, wie ein Wahlplakatsujet der Wiener spö von 1949 zeigt: Darin wurde die kpö als schwarzer Hund dämonisiert und der Lüge bezichtigt. Mit dem Slogan »spö baut« und unterstützenden nummerischen und visuellen Nach­weisen wurde eine Kontinuität zum Roten Wien her­ gestellt.11 Das transnationale städtebauliche Modell der Garten­ stadt und das sozialräumliche Ordnungsprinzip der Nach­ barschaft, die auch zum planerischen Repertoire des Dritten Reiches gehört hatten, wurden nach 1945 über das britische Modell der »New Towns« zum »neuen« postideologischen Leitbild des sozialen Städtebaus in Wien.12 Die Briten hatten in der ersten Nachkriegsphase eine bedeutende Rolle in der »Erziehungsarbeit« inne, über kein anderes Land wurde so ausführlich und kontinuierlich in der stadteigenen Zeitschrift »Der Aufbau« berichtet.13 Die in London eingeleitete ideologische Transformation der Wiener Exil-Sozialisten war nach 1945 für die Neupositionierung der Sozialistischen Partei und die Begründung des nationalen Wohlfahrtsstaates der Zweiten Republik mit verantwortlich.14 Die Westbindung Österreichs und der damit einhergehende

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Antikommunismus veränderten das intellektuelle Milieu der Nachkriegs-spö nachhaltig. Wiederbelebung der CIAM Austria

Es ist Margarete Schütte-Lihotzkys internationaler Reputa­ tion zu verdanken, dass die österreichische Landesgruppe der ciam (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne) 1947 wiederbelebt werden konnte.15 Auf Einladung der Schweizer Kollegen beteiligte sie sich als einzige Vertreterin Österreichs an der ersten ciam-Delegiertenversammlung in Zürich.16 An diesem Treffen, das vom 25. bis zum 29. Mai 1947 stattfand, nahmen zudem Vertreter/innen aus Belgien, England, Frankreich, Finnland, den Niederlanden, Italien, Polen, Schweden, der Tschechoslowakei und der Schweiz teil. Im Anschluss an Schütte-Lihotzkys Aufenthalt in Zürich wurde die Gründung der ciam Austria in Angriff genommen. Die Meldung bei der Behörde erfolgte am 22. Dezember 1947.17 Der erste ciam-Kongress zum Thema »Wiederaufbau« nach dem Krieg fand im September 1947 im englischen Bridgwater statt. Wilhelm Schütte und Margarete SchütteLihotzky reisten als österreichische Delegierte hin.18 Nach dem Aufeinanderprallen der Positionen »Sozia­ listischer Realismus« versus »Moderne« beim zweiten Kon­ gress in Bergamo 1949 waren die Beziehungen zwischen Ost und West innerhalb der Nachkriegs-ciam empfindlich gestört.19 Von 1950 bis 1955 nahmen keine Mitglieder aus Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen mehr an Kongressen teil.20 Im Jahr 1952 führte ein Besuch des ciam-Generalsekretärs Sigfried Giedion21 in Wien zu einer weltanschaulichen Konfrontation zwischen dem Leitungsteam der ciam und ciam Austria. Giedion hielt sich auf Einladung des »Öster­ reichischen Colleges« in Wien auf. Bei einer im Februar 1952 stattfindenden gesellschaftlichen Einladung kam es seitens Giedions zu folgender Wortmeldung: ciam-Austria »sei ein ›trojanisches Pferd‹ oder kommunistisch«.22 Margarete Schütte-Lihotzkys unfreiwilliger Rückzug von der österreichischen Landesgruppe hatte bereits ab 1950 aufgrund ihrer Trennung von Wilhelm Schütte stattgefunden. In der Wortmeldung Giedions zeigt sich der ganzheitliche Ansatz des Kalten Krieges, der sich nicht nur in der 144

15  Kap. CIAM Austria 1947–1959, in: Platzer: Gegen den Kanon erzählt, Bd. 1, S. 195–244. 16  Margarete SchütteLihotzky: Bericht Öster­ reich, 26.6.1947, ETH Zürich, gta Archiv, CIAMArchiv, 42-HMS-1-308. 17  CIAM Austria, Österreichische Gruppe der »Internationalen Kongresse für neues Bauen«, Wiener Stadtund Landesarchiv (WStLA), Sig. 1.3.2.119. A32.70/1948. 18  Margarete SchütteLihotzky: Les Congrès Internationaux d’Architec­ ture Moderne (CIAM), in: Der Aufbau, Nr. 4, 3. Jg., April 1948, S. 92–95. 19  Sigfried Giedion: Architects and Politics. An East-West Discussion, CIAM 8, Bergamo 1949, in: ders.: Architecture, You and Me. The Diary of a Development, Cambridge 1958, S. 79–90. 20 Marcela Hanáčková: Team 10 and Czechoslovakia. Secondary Networks, in: Łukasz Stanek/Team 10/ Warschau Muzeum Sztuki Nowoczesnej: Team 10 East. Revisionist Architecture in Real Existing Modernism, Warsaw 2014, S. 74. 21  Sigfried Giedion (1888–1968) gehörte 1928 zu den Gründungs­ mitgliedern der CIAM und beeinflusste bis zur ihrer

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Auflösung 1959 den programmatischen und publizistisch geführten CIAM-Diskurs. 22  Nachlass Erich Boltenstern, Protokoll Mitgliederversammlung am 28.2.1952, 11.3.1952, Architekturzentrum Wien, Sammlung; Wilhelm Schütte an Sigfried Giedion, September 1952, Typoskript, ETH Zürich, gta Archiv, CIAM-Archiv, 42-SG-40/219. 23  Platzer, Gegen den Kanon erzählt, Bd. 1.

24  Ernst Plojhar (1920– 2014) studierte 1938– 1954 mit Unterbrechungen Architektur an der Tech­ nischen Hochschule Wien, 1936 Eintritt in die Kom­ munistische Partei, 1945– 1953 als Redakteur beim sowjetischen Informations­ dienst und für den Bereich »anschauliche« Propa­ ganda tätig. 25  Wolfgang Mueller: Österreichische Zeitung und Russische Stunde. Die Informationspolitik der sowjetischen Besatzungs­ macht in Österreich 1945–1955, Diplomarbeit Universität Wien 1998, S. 14–16. 26  Margarete SchütteLihotzky: Ausstellung, »Warschau heute«, Zedlitzhalle, Wien, Oktober 1952, UaK, NL MSL, Vorträge und Texte, TXT/381, 387–392; »Der polnische Arbeiter baut auf«, PRNR 183.

politisch-ideologischen Auseinandersetzung äußert, son­ dern ebenso auf einer kulturell-sozialen Ebene zum Ausdruck kommt.

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Architekturdiskurse im Kalten Krieg

Anders als Berlin wurde Wien zur Zeit des Kalten Krieges nicht als Schauplatz einer politisierten Architekturdebatte wahrgenommen. Jüngste Forschungen23 belegen aber, dass in Wien, vergleichbar mit anderen Schauplätzen des Kalten Krieges, Architekturausstellungen von Großbritannien, Frankreich, Amerika und der Sowjetunion als Bühne für kulturelle, ideologische, ökonomische und technologische Transferleistungen genutzt wurden. Die gezeigte Architektur und die begleitenden Diskurse wurden zu Instrumenten eines »Erziehungsprogramms« für eine neue Welt- und Gesellschaftsordnung, in der sich der globale Wettstreit des Kalten Krieges widerspiegelte. Gleichzeitig wurden die Alliierten zu wichtigen Auf­ traggebern. Im Zentrum standen politische Inhalte, und die Architektur fungierte als Folie für propagandistische Bot­ schaften. Ähnlich wie ihr Architekturgenosse Ernst Plojhar24 arbeitete Schütte-Lihotzky für den Propagandaapparat der sowjetischen Besatzungsmacht. Dieser unterhielt enge per­ sonelle und organisatorische Verflechtungen mit der Kom­ munistischen Partei Österreichs (kpö) und deren Stell­ vertreter-Organisationen.25 In ihren textlichen Kommentaren und begleitenden Vorträgen der von ihr gestalteten bzw. konzipierten Aus­stel­ lungen »Warschau heute« von 1952 oder »Der polnische Ar­ bei­ter baut auf« von 1953 für die Österreichisch-Polnische Gesellschaft folgte Schütte-Lihotzky der offiziellen Linie der sowjetischen Propaganda.26 Das Hauptaugenmerk lag in der Popularisierung der gesellschaftspolitischen und wirtschaft­ lichen Erfolge der udssr sowie ihrer volksdemokratischen Verbündeten. Die Wiederaufbauplanung zur Rekonstruktion War­ schaus folgte den Leitlinien des Sozialistischen Realismus und stand konträr zu den Ideen für den Wiederaufbau Westeuropas. Das neue Warschau galt als Inbegriff für eine gelungene gesellschaftliche »Demokratisierung« und einen 145

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sowjetischen Architekturexport, der unter anderem in der Vereinszeitschrift »Die Brücke« der Österreichisch-Sowjeti­ schen Gesellschaft mit dem Stilmittel der Bildreportage als Heldenerzählung kommuniziert wurde.27 Gepriesen wurde die Mehrleistung der Arbeiterschaft, welche die Realisierung ermöglicht habe und nicht auf ausbeuterischen Arbeitsbe­ dingungen basiere, sondern durch den Einsatz der »kollek­ tiven Arbeitsmethode« gewährleistet sei. Schütte-Lihotzky war anlässlich eines internationalen Treffens von Architekt/ innen 1952 selbst vor Ort und berichtete wiederholt von den Superlativen des »Aufbauwunders Warschau« (Abb. 2).28 In diesem Zusammenhang interessant ist der gemein­ same Vorschlag des damals bereits getrennten Ehepaares Schütte/Lihotzky und Fritz Webers für die Neugestaltung des Heinrichshofs gegenüber der Wiener Staatsoper von 1955.29 In ihrem Entwurf finden sich räumliche Anklänge in Richtung eines Ensemble-Städtebaus, wie er in Moskau und

27  Hilde Mareiner: Das Wunder von Warschau, in: Die Brücke, H. 2, 1950, S. 11–14.

28  Margarete SchütteLihotzky: Treffpunkt Polen. Neue Wege der Stadt­ planung, UaK, NL MSL, TXT/382. 29  Grete SchütteLihotzky/Fritz Weber: Noch einmal Heinrichshof, in: Tagebuch, Nr. 8, 10. Jg., 9.4.1955, o.S.

Abb. 2: Internationales Treffen von Architekt/innen, Warschau 1952, aus: Stimme der Frau, 1952

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30  Greg Castillo: Das »ausgestellte« Haus und seine politische Rolle im Kalten Krieg in Deutsch­ land, in: Irene Nierhaus/ Andreas Nierhaus (Hg.): Wohnen zeigen. Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur, Bielefeld 2014, S. 57–76.

Warschau praktiziert wurde. Die Oper sollte mit dem Neubau und den beide Gebäude umgebenden Freiraum zu einer visuellen Gruppe zusammengefasst werden (Abb. 3). Die Zurücknahme der Baulinie zugunsten einer Platzgestaltung sollte den freien Blick auf eines der »schönsten Gebäude« und »schönsten Stadtbilder« in Wien ermöglichen. Zusätz­ lich wurde die Freifläche mit Säulengängen gefasst, die die Linie der Flügelbauten bis zum Ring weiterführen sollten. Eine Statue in der Achse zur Oper komplettierte den auf ästhetischen und kompositorischen Parametern aufbauenden Entwurf. Mit dem Gegenvorschlag zum bereits im Bau befindlichen Projekt von Carl Appel und Georg Lippert in der von der kpö finanzierten Kulturzeitschrift »Tagebuch« übten die drei Architekten offene Kritik an der Wiener Stadt­ planung und plädierten für einen nicht gewinnorientierten Städtebau wie in der Sowjetunion, wo die repräsentativen Bauten für die Allgemeinheit gut nutzbar um ein räumliches Zentrum mit großzügigen Platzanlagen und einer Haupt­ verkehrsachse gruppiert wurden. Die Instrumentalisierung von Architektur und Städte­ bau für gesellschaftspolitische Zielsetzungen gehörte zum Repertoire aller Besatzungsmächte. Im West-Berliner Mar­ shall-Haus fand 1952 die Wohnausstellung »Wir bauen ein besseres Leben« statt.30 Die Titelgebung greift bewusst auf die ddr-Parole »Mehr produzieren – besser leben« zurück, durch die das »Volk der Arbeiter« motiviert werden sollte, im Hinblick auf den Technologietransfer mit der udssr ihre Produktivität zu steigern. Die Hauptattraktion der Ausstel­ lung in West-Berlin war ein begehbares Haus, in dem die Besucher/innen wie durch Schaufenster oder via Vogelper­ spektive von einer Galerie aus am Leben einer amerikanischen Familie teilnehmen konnten. Während der Öffnungs­ zeit wurde das Haus von einer Modellfamilie mit zwei Kin­ dern, die von Schauspieler/innen dargestellt wurde, be­spielt. Alle im Haus gezeigten Gegenstände wie Kühlschrank, Geschirrspüler oder Fernsehapparat waren in Funktion. Für Wien war die Übernahme der Schau »Wir bauen ein besseres Leben« ursprünglich in Kombination mit der Eröff­ nung der Fertighaus-Siedlung Veitingergasse angedacht, die aber nicht rechtzeitig fertiggestellt wurde. Deshalb eröffnete

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sie als Wohnbedarf-Sonderschau 1953 anlässlich der Aus­ stellung »Gesünder leben, länger leben durch soziale Sicher­ heit« des Österreichischen Gewerkschaftsbundes im Künst­ ler­haus.31 Parallel dazu präsentierten zwölf MarshallplanBündnispartner ihre Produkte für den Wohnbedarf, unter anderem Möbel, Haushaltsgeräte und Spielzeug. Das Leis­ tungsspektrum der zusammenarbeitenden Länder West­ europas im Hinblick auf einen geeinten Wirtschafts- und Konsumraum sollte klar zum Ausdruck gebracht werden. Unter dem männlichen Pseudonym Karl Wahl verfasste Schütte-Lihotzky eine kritische Stellungnahme mit dem polemischen Titel »Müssen sich die Künstler so verkaufen?«.32 Sie verwies auf die Abnahme des Lebensstandards und die steigende Arbeitslosigkeit, lehnte den »modischen Formalismus« der Gegenstände ab und kritisierte die hohen Preise der aus den verschiedenen Ländern zusammengetra­ genen Produkte. Präzisierend führte sie wie folgt aus: »Ein Büchergestell für 125.000 Lire, das sind 6.200 Schilling. Oder ein Kelchglas, ¼ Liter Wein fassend, aus Murano, für 85 Schilling, oder ein weißer Vorhangstoff für 55 Schilling pro Meter, obwohl sich viele Leute den einheimischen für 25  Schil­ling schon nicht kaufen können. Viele Möbel sind reiner Formalismus, zum Beispiel der Tisch aus Dänemark, für 980  Dänische Kronen = 3.700 Schilling. […] Zwischen allen diesen Dingen Sprüche über die Steigerung der Produktivität. Und weiter: Servierwagen aus den usa, völlig verchromt; dann drei ineinander schiebbare Tischerl mit Tischplatten aus Spiegeln – sogar aus Österreich, nach einem schönen Entwurf von Oswald Haerdtl […] für die ›kleine‹ Summe von 1.700 Schilling. Und gleichzeitig preist der Lautsprecher an: ›Liebe Besucher, alle, alle diese Dinge kannst du haben, wenn wir eine europäische Zollunion haben.‹«33 Schütte-Lihotzkys pointierte Polemik auf die un­ erschwinglichen Gebrauchsgüter für die »breite Allgemein­ heit« entsprach der Realität der meisten Besucher/innen, gleichzeitig ist das Lagerdenken zwischen Ost und West in Schütte-Lihotzkys textlicher Gegenpropaganda Ausdruck eines Wettstreites um das politisch bessere System. Das Werben um benachteiligte Gesellschaftsgruppen war ein wesentlicher Bestandteil des stalinistischen Populis­ 148

31  »Gesünder leben, länger leben durch soziale Sicherheit«, Ausst.-Kat. Künstlerhaus Wien, 30.8.–15.10.1953, Wien 1953.

32  Das im Nachlass erhalten gebliebene Typoskript »Streiflichter zur Ausstellung ›Wir bauen ein besseres Leben‹ im Künstlerhaus« (UaK, NL MSL, TXT/281–327), datiert mit September 1953, erschien unter dem Pseudonym Karl Wahl in der Zeitschrift »Tagebuch«: Karl Wahl [d.i. Margarete Schütte-Lihotzky]/Alfred Fischer: Bilden Sie sich Ihre Meinung über 2 Ausstellungen. Müssen sich die Künstler so verkaufen? Versäumte Gelegenheiten, in: Tage­ buch, Nr. 19, 8. Jg., 26.9.1953, o.S.

33 Ebd.

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Abb. 3: Margarete Schütte-Lihotzky, Wilhelm Schütte und Fritz Weber, Entwurf »Heinrichshof«, 1955

34  Robert Maier: »Die Frauen stellen die Hälfte der Bevölkerung unseres Landes.« Stalins Besin­ nung auf das weibliche Geschlecht, in: Stefan Plaggenborg (Hg.): Stali­ nismus. Neue Forschun­ gen und Konzepte, Berlin 1998, S. 243–265. 35  Am Cover die Archi­ tektinnen Anna Kutyrna und Ludmilla Kirilzewa vom Planungsatelier Nr. 5 des Moskauer Instituts für Wohnbau, in: Die Brücke, H. 4, 1954.

mus, und dazu gehörten seine emanzipatorischen Bemüh­ ungen um die Aufwertung der Frauen.34 Ohne die »Heldinnen des Aufbaus«, die Architektinnen und Ingenieurinnen, wäre das Modernisierungs- und Urbanisierungsprojekt zum Schei­tern verurteilt gewesen. Traditionell männlich domi­ nierte Berufe wurden den Frauen geöffnet. Damit ist es nicht weiter verwunderlich, dass in der Zeitschrift »Die Brücke« wiederholt die Arbeit von Architektinnen ins Blickfeld ge­ rückt wurde.35 Ein Beitrag über Architektinnen, die am Bau der Hochhäuser am Smolensker Platz beteiligt waren, wurde mit dem kurzen Statement eingeleitet: »In der Sowjetunion ist die Arbeit von Frauen in fast allen Berufen längst zur Selbstverständlichkeit geworden. Verantwortliche und lei­ tende Arbeiten werden an den Kandidaten vergeben, der die besten Qualifikationen besitzt, unabhängig davon, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Frauen und Männer arbeiten als gleichberechtigte Mitarbeiter in allen Arbeitskollektiven und erhalten selbstverständlich bei gleicher Leistung gleiche Bezahlung. Auch bei den Großbauten zur Umgestaltung der

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Natur und an den neuen Hochhäusern arbeiten Frauen in großer Zahl als Wissenschaftler, Ingenieure, Techniker, Fach­arbeiter usw. mit.«36 Dass die behauptete Lohngerechtigkeit zwischen Mann und Frau in der Sowjetunion oft nicht der Realität entsprach, hat Thomas Flierl mit Hilfe eines Vergleiches der Arbeits­ver­ träge des Ehepaars Schütte/Lihotzky aufgezeigt.37 Im Wei­te­ ren erfüllen die in der »Stimme der Frau«, der Zeitschrift der kommunistischen Frauenbewegung, veröffentlichten didak­ tischen Artikel von Schütte-Lihotzky im Gegensatz zum pro­pagierten emanzipatorischen Klischee ganz die Erwar­ tungen eines klassischen Rollenbildes der Frau.38 Fazit

Schütte-Lihotzky war nach 1945 eine energische Verfechterin der sowjetischen Verhältnisse und blieb unbeirrt von der Niederschlagung des Ungarnaufstands (1956) und des Prager Frühlings (1968) bis zu ihrem Lebensende politisch aktiv in der kpö eingebunden. In ihrem Œuvre bis Mitte der 1930er Jahre war sie einer rationalistischen Moderne verpflichtet, kurz vor ihrer Rückkehr aus der Sowjetunion 1937 verhielt sich Schütte-Lihotzky dann elastisch und setzte ihre Archi­ tektursprache nach den neuen politischen Gegebenheiten modifizierend ein.39 In einem Vortrag vor Genoss/innen äußerte sie sich 1951 über den stilistischen Umschwung vom Funktionalismus zum sowjetischen Realismus: »Die sow­ jetische Wirklichkeit in ihrer Fülle und Tiefe auszudrücken war der Funktionalismus nicht geeignet.«40 Im Nachkriegs-Wien stieß sie gemeinsam mit gleich­ gesinnten Kolleg/innen auf eingeschränkte Handlungsspiel­ räume, gleichzeitig öffneten die weltanschaulichen Differen­ zen des Kalten Krieges eine Interaktion zwischen lokal und international geführten Diskursen, die bei künftigen archi­ tekturhistorischen Betrachtungen mitberücksichtigt werden sollten.

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36  Jewgenija Taschlyk: Auf dem Smolensker Platz, Moskau, in: Die Brücke, H. 8, 1952, o.S. 37  Thomas Flierl: Wilhelm Schütte als Schul­ bauexperte in der Sow­ jetunion (1930–1937), in: ÖGFA/Ute Waditschatka (Hg.): Wilhelm Schütte Architekt. Frankfurt – Moskau – Istanbul – Wien, Zürich 2019, S. 24–47, hier S. 26. 38  Margarete SchütteLihotzky: Hubers be­ kommen ein Kind; Ohne Badezimmer; Ein Fall aus meiner Praxis; Die Poldi zieht nach Wien. Wo soll sie wohnen?; Aus: Stimme der Frau, 1947–1950, UaK, NL MSL, TXT/195, 290 und 291.

39  Neben dem formalen Schwenk in Richtung sozialistischer Realismus belegen auch einige schriftliche Quellen ihr Mit­w issen über die stalinis­t ischen Säube­ rungen. Vgl. den Beitrag von Thomas Flierl in diesem Band. 40  Margarete SchütteLithotzky: Vortrag für Genossen und Genossin­ nen, 1951, handschriftlich überarbeitetes Typoskript, UaK, NL MSL, TXT/404.

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Eine Neudeutung des Chinareisetagebuchs Margarete SchütteLihotzkys aus dem Jahr 1956: Von den Pekinger Siheyuans zur Wiener Rinnböck­ straße Helen Young Chang

Am 4. September 1956 besuchte Margarete Schütte-Lihotzky zum zweiten Mal China. Die Reise kam unter der Schirm­ herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas zustande, die ihre österreichische Schwesterpartei eingeladen hatte, im Sinne des kulturellen Austausches eine achtköpfige Exper­ tengruppe zu einer Vortragsreise nach China zu entsenden.1 Schon beim Gedanken an die beschwerliche Reise – zumal allein und im Alter von 59 Jahren – habe sie zwei Nächte vor der Abreise kein Auge zugedrückt.2 Doch gleich bei der An­ kunft am mittlerweile für den zivilen Verkehr geöffneten Flughafen Schwechat, wo nicht lange davor noch Zwangs­ 152

1  Im Rahmen einer kul­ turdiplomatischen Strate­ gie empfing die Volksre­ publik China internationale Delegationen mit dem Ziel, von den Vereinten Natio­ nen als das offizielle China anerkannt zu werden. So war im Jahr davor, 1955, auch Simone de Beauvoir als Staatsgast nach Fest­ landchina gereist. Erst 1971 sollte die Volks­ republik China von der

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Republik China (Taiwan) den Sitz Chinas in der UNO übernehmen. 2  Nachlass Margarete Schütte-Lihotzky, Archiv der Universität für ange­ wandte Kunst, Wien (UaK, NL MSL), TXT/420.

3 Ebd.

4  Der Artikel »Altes Chinesisches Wohnhaus und neue Stadtplanung von Peking« wurde nach­ gedruckt in: Margarete Schütte-Lihotzky: Millio­ nenstädte Chinas. Bilder und Reisetagebuch einer Architektin (1958), hg. von Karin Zogmayer, Wien 2007, S. 37–72.

arbeiter Flugzeuge für die Luftwaffe zusammengebaut hatten, schienen alle Bedenken verflogen. Die Reisegruppe speiste Frankfurter Würstchen mit Brot und Senf – und mokierte sich über die primitive, um nicht zu sagen provin­ zielle Architektur des renovierten Flughafens. Das Flugwetter sei herrlich gewesen, schreibt Schütte-Lihotzky, wenn auch recht heiß für sieben Uhr morgens, und alle hätten sich freudig erregt und bei bester Laune präsentiert. Das »Wir«, mit dem Schütte-Lihotzky von der Reisegruppe erzählt, zeugt von Zuversicht und Vertrautheit, hatte sie ihre Begleiter doch eben erst kennengelernt. Und doch wird sie die anderen Reiseteilnehmer im Laufe der folgenden sechs Wochen bespitzeln und Infor­ mationen über sie an die Kommunistische Partei Österreichs (kpö) weitergeben. In offiziellen Berichten an die Partei – die wohl nur irrtümlich in ihrem sonst so sorgfältig zusammen­ gestellten Nachlass erhalten geblieben sind – hielt sie fest, wie sie das Vertrauen der Kollegen gewann und ihre Wort­ meldungen, politischen und sonstigen Überzeugungen ein­ schätzte. Sie stellte Spekulationen über ihre Vergangenheit an, lotete den Wahrheitsgehalt ihrer Anekdoten und schließ­ lich auch ihren potenziellen Wert für die Partei aus.3 Unter den richtigen Umständen, erwog sie, könnte sich jeder von ihnen als nützlich erweisen. Ein offenbar noch nicht überzeugter Kollege sei womöglich mit Engels-Lektüre zu gewinnen. Den Zoologen Professor Marinelli schilderte sie als den oberflächlichsten und feigsten ihrer Reisegenossen. Weil er aber bei den Feiern zum Gründungstag der jun­ gen Republik stundenlang im Regen ausharrte und von der ihnen zugewiesenen, wenige Meter von Mao entfernten Aus­ sichtsplattform die uniformierten Soldaten beim Defilieren bestaunte (Abb. 1, 2), wollte sie ihm einen gewissen Tiefgang nicht absprechen. All das liest sich zweifellos abscheulich, ist aber nur ein Aspekt der Chinareise Margarete Schütte-Lihotzkys. Ein anderer zeigte sich in einem Artikel, den sie 1958 in der Zeit­ schrift »Der Aufbau«4 veröffentlichte: Darin ist sie zwar nicht minder berechnend im Ton, aber von einer anderen Ideologie beseelt. Sie berichtet als Fremde ohne Hinter­ gedanken, als eine vom historischen und zeitgenössischen

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Abb. 1: Mao und Zhou Enlai auf der Ehrentribüne anlässlich der Parade zur Gründungsfeier der Chinesischen Republik in Peking am 1. Oktober 1956

Baubestand Chinas gebannte Humanistin und Architektin, die für die Interessen der Pekinger Bevölkerung eintritt und ein Loblied auf die chinesische Kultur und Architektur anstimmt. Die Essstäbchen würden keinen metallischen Ge­ schmack im Mund hinterlassen, schwärmt sie, auf den run­ den Tischen stehe das Essen für alle Gäste in gleicher Reich­ weite, die Menschen seien von Bienenfleiß angetrieben, und Peking sei ein einzigartiges Juwel Asiens. Im ursprünglichen Vorwort ihres Chinaberichts schreibt Schütte-Lihotzky, dass ihr Essayband dazu angetan sei, den Europäern begreiflich zu machen, vor welchen Herausfor­ derungen Chinas Städte stünden. Aber diese Aussage hat ihre Tücken: Als sie ihren Bericht 1956 verfasste, beschrieb sie ein Peking vergangener Tage, denn die »größte alte Gar­ tenstadt der Welt«, »eine der schönsten der Erde«, wurde 154

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gerade unwiederbringlich zerstört, die von der Au­torin be­ wunderten antiken Stadtmauern, -tore und -türme wurden abgerissen. Dass ihr die systematische Zerstö­rung der alten Stadt durch die Kommunistische Partei zu­tiefst zuwider war, blieb freilich unerwähnt: Schon vor Schütte-Lihotzkys China­reise waren die wenigen Pekinger Architek­ten, die sich für den Erhalt des alten Baubestands starkgemacht hatten, öffentlich kritisiert und gedemütigt worden. Für den Versuch, ihre Stadt zu bewahren, bezahlten sie mit ihrem Ruf – und schließlich mit ihrer Existenz. Die Gefahr, dieselben Gren­ zen zu überschreiten, scheint Schütte-Lihotzky wohl be­ wusst gewesen zu sein. So gerät der Bericht der fremden Beobach­­terin, Architektin und Kommunistin zu einer Grat­ wanderung, ohne dass sie jedoch die rote Linie übertritt. Vor diesem Hintergrund gilt es, ihr Chinatagebuch heute neu zu deuten. Bei ihrer ersten Chinareise, die sie 1934 von Moskau aus gemeinsam mit ihrem Mann Wilhelm Schütte auf Einladung einer Delegation von chinesischen Pädagogen unternommen hatte, war Schütte-Lihotzky noch weniger enthusiastisch ge­ wesen. China war von Bürgerkrieg und ausländischen Inte­ ressen heimgesucht worden. Sie hatte verwahrloste Kühe und Kulis auf den Straßen beobachtet und die Charakter­

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losigkeit der neuen, international geprägten Architektur be­ mängelt. Im Zuge ihrer »Entwurfslehre für Kindergärten und Kinderkrippen« hatte sie den Bau eines Modell-Kinder­ gartens in Nanking vorgeschlagen – und verbittert reagiert, als ihr der Auftrag verwehrt blieb.5 Bei Schütte-Lihotzkys zweiter Chinareise war all das ver­gessen. Das Land hatte sich wieder gefangen, SchütteLihotzky ebenso.6 Die herrschenden Kommunisten betrieben mit Hochdruck ein Modernisierungsprogramm im Sowjetstil. Im Sommer vor dem Besuch Schütte-Lihotzkys war die Hundert-Blumen-Bewegung beschlossen worden. In dieser kur­zen Phase der Öffnung waren die Bürger aufgefordert, ihre politische Meinung zu äußern (und wurden später genau dafür bestraft). Als Schütte-Lihotzky Mitte Oktober von ihrer China­ reise nach Wien zurückkehrte, flüchteten tausende Ungarn vor sow­jetischen Soldaten über die Grenze und suchten in Öster­­reich Asyl. Mit dramatischen Worten appellierte der Wiener Bürgermeister an die Bevölkerung, die Flüchtlinge mit offen­en Armen zu empfangen.7 Während sowjetische Trup­ pen den ungarischen Volksaufstand unterdrückten, verfasste Schütte-Lihotzky als Informantin ihre Berichte und be­reitete für das folgende Jahr eine Vortragsreihe über China vor.8 Margarete Schütte-Lihotzky war angesichts der Um­ stände um Standhaftigkeit bemüht. Im Reisebericht schreibt sie, dass ihren Kollegen die Nerven und das Einfühlungs­ vermögen fehlen würden, um Kunst (und womöglich auch die Kommunisten?) zu verstehen; sie sei froh, endlich als »Fachmann« betrachtet zu werden und nicht bloß als Funk­ tionärin. Sie findet sich mit den Sünden sowjetischer Stadt­ planung in Moskau und später in Peking ab. Im Ton, den Karin Zogmayer als rational-naiv bezeichnet hat,9 bleibt sie stets distanzierte Beobachterin, wenn auch eine, die über­ zeugt ist, auf dem rechten Weg zu sein. Ihr persönliches Tage­buch, die Spitzelberichte und die veröffentlichten ChinaTexte zeugen jedoch von inneren Zweifeln. Sie ist zeit­lich, physisch und materiell zwischen der Architektur und der Partei gespalten. Dieser Zwiespalt wird sich Jahre später in ihren Bauwerken manifestieren. 156

5  Zur ersten Chinareise siehe den Beitrag von David Baum und zu den Jahren in Moskau den Beitrag von Thomas Flierl in diesem Band. 6  Als Schütte-Lihotzky im Jahr 1956 beim Flug nach Peking die Sowjet­ union überflog, schrieb sie: »Wenn ich nun so plötzlich über sowjetischen Boden fliege, ist es mir, wie wenn ich nach 19 Jah­ ren irgendwie in eine Hei­ mat komme. Am 12. August 1937 habe ich die Sowjet­ union in Odessa verlassen und heute, nach mehr als 19 Jahren betrete ich das erstemal wieder sowjeti­ schen Boden. […] Ein Lebensabschnitt, 7 Jahre Leben in der Sowjetunion, hatte sein Ende gefunden, ein Lebensabschnitt, der das ganze weitere Leben von Grund auf beein­ flussen sollte. […] – Und jetzt, nach fast 2 Jahrzehn­ ten sehe ich diese Welt wieder […] in welch andern Lebenssituation, auf welch anderer eigenen Entwick­ lungsstufe betrete ich dieses Land wieder als es jene war, in der ich es verliess.« UaK, NL MSL, TXT/420. 7  5.11.1956: Hilfe für Flüchtlinge – Appell des Bürgermeisters, https://www.wien.gv.at/rk/ historisch/1956/november. html. 8  Durch das Vorgehen der Sowjets verschärfte sich das chinesischsowjetische Zerwürfnis, das im Februar 1956 mit

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Chruschtschows »Ge­ heimrede« über die Verfeh­ lungen des Stalinismus begonnen hatte. Mao hatte sich daraufhin von den sowjetischen Beratern und der Pekinger Intelligenzija abgewendet, deren Hal­ tungen sich in SchütteLihotzkys China-Texten widerspiegeln, und sich stattdessen technischen Vorhaben wie dem »großen Sprung nach vorne« zuge­ wandt, um ein Umdenken herbeizuführen. Vgl. Zhu Dandan: 1956. Mao’s China and the Hungarian Crisis, Ithaca 2013, S. 12. 9 Schütte-Lihotzky, Millionenstädte Chinas, S. 25. 10  UaK, NL MSL, TXT/420.

11  Aus Maos Ansprache bei einer Konferenz in Nanning im Jahr 1958. Siehe Li Rui: My Personal Experience of the Great Leap Forward, Shanghai 1996, zitiert nach Jun Wang: Beijing Record, Singapur 2010, S. 315.

Gespalten zwischen Architektur und Ideologie

1956 macht Schütte-Lihotzky auf dem Flug nach Peking Zwischenlandung in Moskau. Beim Landeanflug fallen ihr die tausenden funkelnden Lichter, die neuen Grünanlagen und acht neue Hochhäuser auf, die sie »gar nicht schlecht« findet. Und doch sei Moskau nicht mehr stimmig.10 Sie sieht die Stadt mit einem lachenden und einem weinenden Auge – lachend, weil die alte Architektur erhalten geblieben ist (die Straßen wurden verbreitert, ganze Häuser abgebaut, nach hinten versetzt und wieder aufgebaut); und weinen musste sie wegen der Architektur, die in den 20 Jahren davor errichtet worden war. Die Architektur sei in ihrer Entwicklung offen­ bar von der Technik überholt worden, schreibt sie, und die Kluft zwischen Alt und Neu habe die organische Struktur Moskaus zerstört. Es genüge nicht, dass die Sowjets bauten; man müsse eine Stadt auch richtig bauen. In diesem Punkt ist SchütteLihotzky mehr Architektin als Kommunistin: Keine Ideologie der Welt werde sie davon abbringen, dass gute Architektur und guter Städtebau zeitlos seien. Und doch wirkt ihre Kritik halbherzig. Sie muss geahnt haben, dass die Kommu­ nisten nach Moskau auch die Feudalstadt Peking in eine sozialistische Stadt umbauen würden, dass sie nicht aus Fehlern der Vergangenheit lernen, sondern den eingeschla­ genen Weg weitermarschieren, der alten Technik und Dok­ trin treu bleiben würden. Statt sich von der sowjetischen Stadtplanung zu distanzieren, wird Schütte-Lihotzky den diplomatischen Spagat wagen, sprich: hervorheben, was sie an Peking bewundert und was der Stadt nach der sozialis­ tischen Restrukturierung abhandenkommen wird. Mauern als »politische Angelegenheit« 11

Während des Fluges nach Peking beobachtet SchütteLihotzky über der Inneren Mongolei ein Netz von Mauern, die jeden Bauernhof, jedes Grundstück zu umgeben scheinen. Beim Anblick der Chinesischen Mauer – die sie natürlich als erste Reiseteilnehmerin sieht – schreit sie auf, und alle Passagiere stürzen auf ihre Fensterseite. Das Flugzeug gerät ins Taumeln, und ihr Kollege Dr. Tratz wird gegen einen Sitz geschleudert. Er bricht sich dabei eine bereits

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zuvor angeknackste Rippe, was ihn aber nicht davon abhält, über das Wunderwerk zu staunen, das sich vor ihren Augen auftut: eine Schutzmauer mit befestigten Türmen im Abstand von 100 bis 200 Metern und vier Mal so lang wie Österreich in west-östlicher Ausdehnung. Bereits hier zeigt sich Schütte-Lihotzkys Begeisterung für Pekings Mauern. Während sie vor ihren Augen nieder­ gerissen werden, erkennt sie in ihnen mehr als bloß Mörtel und Stein. Im Jahr 1956 ist die Bereitschaft, die Mauern zu zerstören, der Lackmustest für Parteitreue. Für SchütteLihotzky wird der Kampf um die Erhaltung des Pekinger Kulturerbes zu einem inneren Kampf: Die Mauern sind steingewordener Ausdruck zweier konkurrierender Welt­ anschauungen, nämlich der architektonischen und der par­ teipolitischen; sie sind Sinnbild für Privatsphäre, innere Freiheit und eine Architektur, in der der Mensch im Mittel­ punkt steht. Schütte-Lihotzkys Tagebuch ist zugleich Huldi­ gung der Mauern von Peking und ihr Nachruf. In China, so schreibt sie, werde einem bewusst, welch enorme Bedeutung Mauern in der chinesischen Architektur haben und welch große Wirkung Umfassungsmauern inne­ wohnt: »Von der großen chinesischen Mauer angefangen […] zu den Umfassungsmauern ganzer Landbezirke, zu Mauern um jede chinesische Stadt, Mauern um jeden Palast oder Tempel, um jedes Kloster – Mauern fast um jedes Dorf, Mau­ ern um jeden einzelnen Bauernhof (ein Wohngehöft ohne Umfassungsmauer ist dort undenkbar) – Mauern um jedes Grundstück in der Stadt, Mauern zur Straßenbegrenzung rechts und links, nur erdgeschossig und ohne Fenstermauern zu Abwehr der bösen Geister in Gärten und Parks – Mauern in grauen Ziegeln, Mauern in roten Ziegeln, Mauern in herr­ lichem Naturstein und Mauern, verputzt und mit dem schönen chinesischen Rot bemalt – Mauern mit grauen, gel­ ben oder blauen keramischen Ziegelabdeckungen – Mauern, Mauern und nochmals Mauern.«12 Schütte-Lihotzky war von den vielen Funktionen der Stadtmauern fasziniert, und ganz besonders von den tradi­ tionellen ummauerten Wohnhöfen, in denen die meisten Pekinger lebten. Deren Mauern definierten nicht nur innen und außen, sondern schieden auch den privaten und 158

12 Schütte-Lihotzky, Millionenstädte Chinas, S. 73. An dieser Stelle ist Schütte-Lihotzkys Text stark an »The Walls and Gates of Peking« von Osvald Sirén (1924) angelehnt.

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13 Schütte-Lihotzky bezeichnet ihn als »Pavillonwohnhaus«. 14 Schütte-Lihotzky, Millionenstädte Chinas, S. 40.

15 Schütte-Lihotzky, Millionenstädte Chinas, S. 50. Auch der Historiker George N. Kates erwähnte in den 1930er Jahren in seinen Erinnerungen an das vorrevolutionäre China die genormte Ausrichtung der Wohnhöfe: Man habe zu jeder Tageszeit durch die Stadt spazieren und an den Schatten der Mauern die Uhrzeit ablesen können. George Kates: The Years That Were Fat, Peking 1933–1940, New York 1951, S. 251.

halbprivaten vom öffentlichen Raum. Schütte-Lihotzkys genaue Beobachtungen dokumentieren, wie die Mauern das Privatleben der Menschen nach außen schützten und es dadurch erhöhten und steigerten. Schütte-Lihotzkys Bewunderung gilt auch dem Innen­ bereich der ummauerten Areale: Der Siheyuan, ein einge­ schossiger Wohnhof,13 war »für viele von uns Architekten immer schon Vorbild für das Wohnen in engster Verbindung mit der Natur, fern vom Lärm der Straße«.14 Siheyuans dien­ ten der armen ebenso wie der reichen Bevölkerung Pekings und selbst dem Kaiser als Behausung. In Grundriss, Ausmaß und Ausrichtung genormt, bildeten sie die kleinste Zelle des Stadtrasters. »Und aus dieser Stadtzelle heraus entwickelt sich, absolut folgerichtig, der ganze Stadtplan von Peking mit seinen rechtwinkelig zueinander stehenden, stark diffe­ renzierten [und von Naturelementen durchsetzten] Verkehrsund Wohnstraßen«, schreibt Schütte-Lihotzky voll Bewun­ derung und erklärt weiter: »Dieses ursprünglich streng vor­ geschriebene System ist in Peking lückenlos durchgeführt […] und äußerst locker in dieses strenge System eingestreut sehen wir künstliche Wasser, Teiche, Hügel und Parks – wun­ derbar, bewusst gestalteter Gegensatz von bewegter Natur und den klaren Formen einer hochkultivierten Stadtbau­ kunst.«15 Schütte-Lihotzky fügte ihrem Reisetagebuch einfache Skizzen von zwei Wohnhöfen bei, der eine von Norden nach Süden ausgerichtet, der andere von Osten nach Westen. Der Hauptpavillon als wichtigster Wohnbereich befindet sich stets am nördlichen Ende des Hofes und öffnet sich nach Süden. Der Innenhof ist von sogenannten Ohrhäusern flan­ kiert, in denen Schlafzimmer, Küche und Bad untergebracht sind (Abb. 3). Wie bei den Mauern spürt man auch hier SchütteLihotzkys Begeisterung, etwa wenn sie den Eingangsbereich der traditionellen Bauten beschreibt: »Von besonderem Reiz ist beim chinesischen Wohnhaus der allmähliche Übergang von den steinernen, von Menschen wimmelnden Straßen, in den eigentlichen Wohnteil, das ›Atrium‹ des Hauses, in den von Pflanzen umrankten Säulen und Wandelgängen umge­ benen ruhigen Wohnhof. Im Vorplatz, hinter dem Haustor,

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Abb. 3: Chinesische Pavillonwohnhöfe (Siheyuan) nach Planskizzen von Margarete Schütte-Lihotzky, 1956

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16 Schütte-Lihotzky, Millionenstädte Chinas, S. 45.

17  Ebd., S. 52.

18  Ebd., S. 62. 19  Die Pläne M. G. Barannikovs, des sowjeti­ schen Konsulenten für die industrielle Entwicklung Pekings, sahen allerdings anderes vor: »Als Chinas neue Hauptstadt sollte [Peking] nicht nur eine Stadt der Kultur, Wissen­ schaft und Kunst sein, sondern auch ein Indus­ triezentrum. Heute macht die Arbeiterklasse nur vier Prozent der Pekinger Be­ völkerung aus; in Moskau sind es 25 Prozent. Peking ist eine Konsumstadt, sind doch die meisten Bewoh­ ner Händler und keine Arbeiter. Es braucht also Arbeit, um die Stadt zu industrialisieren.« Jun Wang, Beijing Record, S. 104.

geht man zuerst auf die so genannte ›Schattenmauer‹ zu, die den Einblick in die Wohnanlage, auch bei geöffnetem Haustor, verhindert. Oleander, Granatbäume und andere Pflanzen in Töpfen stehen vor dieser kleinen Mauer, die das Hauswesen gleich beim Eingang vom Weltgetriebe abschirmt. Vom Vorplatz mit der Schattenmauer geht man links in einen gartenmäßig ausgebildeten Gang. Hier fühlt man sich bereits der Großstadt völlig entrückt. Von da kommt man rechts durch ein Innentor in den Wohnhof, der in wunderbaren Proportionen das Gefühl vollkommener Ruhe und Harmonie gibt.«16 Den Innenbereich vergleicht sie mit mittelalter­ lichen Klöstern und stellt die Frage: »Wieso verzichtet die heutige Gesellschaft beim modernen Städtebau so voll­ kommen auf derartige Stätten der Ruhe, die wir an den alten hohen Kulturen so bewundern? Je kollektivistischer unser Leben wird, umso mehr bräuchten wir doch solche Wohnsys­ teme, solche Konzentrations- und Ausruh­möglichkeiten.«17 Nach ihren Betrachtungen zu den Mauern und Wohn­ höfen nimmt Schütte-Lihotzkys Reisebericht eine abrupte Wendung, wird im Ton direkter und mahnungsvoll; man neigt sogar dazu, die betreffende Passage langsamer zu lesen. Die Autorin stellt ihren Ausführungen eine Art Apologie voran, um ihre kritische Haltung zu rechtfertigen – schließ­ lich sei sie darum ersucht worden: »Da wir immer und über­ all um unsere Meinung und Kritik gefragt wurden, sei es mir auch hier erlaubt, nach allem was ich dort gesehen und gehört habe, meine Anschauung darüber zu entwickeln und mit Photos zu belegen.«18 Adäquaten Wohnraum in Peking zu schaffen sei das oberste Gebot, und doch habe es für die Partei offenbar niedrigste Priorität, obwohl die Einwohner­ zahl seit 1949 von einer auf drei Millionen gestiegen sei. Das Bevölkerungswachstum müsse eingedämmt, die Zuwanderung beschränkt werden, aber dem Wachstum Pekings seien durch die Stadtmauern ohnehin Grenzen ge­ setzt (als stünde es außer Frage, dass sie bestehen bleiben würden). Peking müsse auch künftig seiner Rolle und Auf­ gabe als Kultur- und Verwaltungszentrum gerecht werden. Außerhalb der Stadtmauer sei indes ein Grüngürtel geplant; und außerhalb dessen wiederum Fabriken und neue Indus­ triebetriebe sowie die dazugehörigen Trabantenstädte.19

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Jedes neue Gebäude, schreibt sie weiter, müsse von der Stadtbaudirektion genehmigt werden. »Kein einziges wert­ volles Baudenkmal, egal ob es sich um Tempel oder Profan­ bauten handelt, wurde abgerissen [dies zu lesen bereitet freilich Bauchweh, weil es nicht den historischen Tatsachen entspricht, Anm. hyc]. Wo zum Beispiel ein altes Pai Lou (das sind hölzerne Torbauten) dem Verkehr im Wege ist, wird es sorgfältig abgebaut und genauso in irgendeinem Park wieder aufgestellt. Die Restaurierung alter Bauten wird stän­ dig und mit größter künstlerischer Sorgfalt durchgeführt, wovon sich jeder dort mit eigenen Augen überzeugen kann.«20 Mehrgeschossige Gebäude seien – wie zum Teil bereits geschehen – vorzugsweise entlang der Hauptachsen der Stadt zu errichten, etwa jener, an der sich das Tor des Himm­ lischen Friedens befinde. Allerdings dürfe die Höhe der Stadttore, die sie mit 24 Metern beziffert, nicht überschritten werden, damit die Silhouette der Stadt erhalten bleibe. Aus demselben Grund sollten auch alle anderen Gebäude niedrig sein. Brachliegende Wohnhöfe könnten zu Werkstätten, Druckereien, Schulen, Kindergärten und -tagesstätten um­ funktioniert werden. Nur so werde Peking ein Juwel bleiben. Schütte-Lihotzky schließt mit einem Warnruf: »Auch in der neuen, alle technischen Errungenschaften unseres Zeit­­alters auswertenden Stadt und Architektur muss der Mensch immer das Maß aller Dinge sein und bleiben. Und dieser menschliche Maßstab ist es, der uns gerade am Pekinger Wohnhaus so entzückt.«21 Man dürfe nicht der Gigantomanie erliegen, gibt sie zu bedenken. Ihre mahnenden Worte deuten darauf hin, dass sie sich der fortschreitenden Abriss- und Neubautätigkeit durchaus bewusst war.22 Um ihre Argumente zu untermauern, zitiert sie hohe Beamte, etwa Li Fuchun: »Dem Geiste der Gefahren des plötzlichen materiellen Wachstums stehen die großen, alten Kulturtra­ ditionen Chinas gegenüber, die diese Gefahr rechtzeitig bannen werden. Die Regierung warnt vor Übereilung und Übertreibung.«23 Sie führt auch einen Beitrag in der Zeitung »Shenbao« an, in dem die Stadtplaner davor gewarnt werden, phantastischen Zukunftsprojekten nachzujagen.24 Allen Warnungen zum Trotz wurde ebendiese Giganto­ manie, Hast und Übertreibung an den Tag gelegt. Obwohl 162

20 Schütte-Lihotzky, Millionenstädte Chinas, S. 58f.

21  Ebd., S. 69. 22  Im Juli 1955 soll Mao Zedong den Wunsch geäußert haben, die sozialistische Bautätigkeit möglichst schnell voran­ zutreiben. Siehe Jun Wang, Beijing Record, S. 332. 23 Schütte-Lihotzky zitiert aus dem Staatsplan 1953–1957. Der Vize­ ministerpräsident und Vor­ sitzende der staat­l ichen Plankommission Li Fuchun war ein wendiger, enger politischer Genosse Maos; er sollte schließlich den »großen Sprung nach vorne« dirigieren. SchütteLihotzky, Millionenstädte Chinas, S. 69. 24  Der Verfasser des Beitrags vom Februar 1956 bleibt anonym. Es könnte sich um Zhou Enlai gehandelt haben, der beim Staatsratstreffen am 8. Februar ähnliche Argu­ mente vorbrachte.

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25  Darin hieß es: »Nur jene, die ihr Vaterland lieben, das Volk lieben und die Partei lieben«, hätten gegen den Abriss der Mauer nicht protestiert. »Das ganze Volk will mit seiner Hände Kraft zer­ stören. Der eine zerschlägt einen grauen Ziegel, ein andrer reißt einen Stein­ brocken herunter – wer kann da schon tatenlos zusehen? ›Ein einzelner Narr kann einen Berg bewegen‹, heißt es, und also mögen die Bewohner aller Viertel helfen, die Mauer niederzureißen.«

26  Siehe Michael Meyer: The Last Days of Old Beijing, New York 2008, S. 285. 27  Ebd., S. 286. 28  In einer voran­ gehenden Szene erklärt Schütte-Lihotzky ihr gestalterisches Konzept für den Kindergarten: »Ich finde die chinesische Bauweise herrlich: nach vorne so, nach hinten so. [Sie gestikuliert mit offenen und geschlos­ senen Armen.] Entweder hab ich Familie oder ich hab Gemeinschaft, aber die Straße ist keine Gemeinschaft, nur noch Verkehr.« Das Bauen ist ja nicht das Primäre (1980), Regie: Bea Füsser-Novy, Gerd Haag und Günther Uhlig, Videoband 30, 6/24/80, Einblendung 5, Archiv des Architektur­ zentrums Wien.

die Kommunisten erst seit 1949 an der Macht waren, hatten sie der Stadt in sieben Jahren größeren Schaden zugefügt als fünf Jahrzehnte ausländischer Dauerbesetzung, der lange, verheerende Bürgerkrieg und die Gräuel der japanischen Invasion. Zum Zeitpunkt der Chinareise Schütte-Lihotzkys im Jahr 1956 waren die Stadtmauern fast zur Gänze nie­der­ gerissen. In einem Artikel in »People’s Daily«25 wurden die Pekinger angehalten, die Mauer mit ihren Händen ab­ zureißen. Im selben Jahr hatte Mao bei einer Rede auf dem Tian’anmen-Platz den Menschen zugerufen, es sei sein Wunsch, ein Meer an Rauchsäulen von der alten Gartenstadt aufsteigen zu sehen. Schütte-Lihotzky nennt in ihrem Reisebericht keinen einzigen der um Erhaltung des historischen Bestandes be­ mühten Pekinger Architekten beim Namen. Die meisten von ihnen waren bereits zuvor öffentlich angegriffen worden, darunter der bis heute geachtete Architekt und Historiker Liang Sicheng. Er wurde aus dem Pekinger Stadtkomitee entlassen, gedemütigt und zu öffentlicher Selbstkritik ge­ zwungen.26 Letzten Endes sollte er mit seinem Leben bezah­ len, wie bereits diese ominösen Zeilen in seinem Tagebuch andeuten: »Mit jedem zerstörten Turm der Stadtmauer schneidet ihr mir ein Stück Fleisch aus dem Leib; mit jedem Ziegel, den ihr aus der Stadtmauer reißt, schabt ihr mir einen Zentimeter Haut ab.«27 Bis zum Ende des Jahrzehnts waren Pekings Mauern verschwunden. Schütte-Lihotzkys Hommage an die Mauern und Wohn­ höfe von Peking aus dem Jahr 1956 sollte 1961 physische Ge­ stalt annehmen, und zwar in Form eines Kindergartens in der Wiener Rinnböckstraße. »Der neue, freiere Geist der künftigen Generationen Chinas«

Im Jahr 1980 wird Schütte-Lihotzkys Kindergarten zum Schauplatz des Dokumentarfilms »Das Bauen ist ja nicht das Primäre« von Beatrix Novy und Günther Uhlig: Die beiden stehen mit der Architektin vor dem Kindergarten;28 der Wind ist so stark, dass ihre Stimmen kaum zu hören sind. Schütte-Lihotzky gestikuliert mit den Armen wie eine Wetter­­ fahne. Sie erklärt, dass die Außenmauer des

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Abb. 4: Städtisches Kindertagesheim, Wien 11, Rinnböckstraße 47, Grundriss Erdgeschoss

Kindergartens bewusst eher niedrig gehalten sei (sie reicht ihnen nur knapp über den Scheitel), um nicht »feindlich« zu wirken. Im Juli 2016 fahre ich mit der U-Bahn zum Kindergarten. Zunächst muss ich an ohrenbetäubenden Kompressoren hinter dem Penny-Markt vorbei. Abgesehen von der Ein­ gangsfassade des Kindergartens, die zugleich die fensterlose Rückwand eines der Pavillons bildet, ist von der Straße aus nur das Profil des Satteldachs zu erkennen. Dies ist der einzige Hinweis darauf, dass sich hinter der Mauer ein Ge­ bäude verbirgt. Als ich den Hof betrete, verstummt die Welt um mich herum. Einen Moment lang bin ich wieder die 164

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21-jährige Studentin in Peking, die in den friedvollen Innen­ bereich eines chinesischen Wohnhofs eintritt. Im Garten wuchert das Gras und bildet einen hellgrünen Teppich voller Leben; die Pergola aus dem Dokumentarfilm ist immer noch da, wenn auch eine dicke Weinrebe darübergewachsen ist. Der kreuzförmige Grundriss des Kindergartens setzt sich aus vier Pavillons zusammen und bildet in der Mitte ein rechteckiges Atrium, ähnlich dem Siheyuan-Wohnhof (Abb. 4). Die axiale Ausrichtung des Gebäudes wird durch diagonal versetze Zugänge relativiert. Die strenge Symmetrie gerät in Bewegung – auch dies eine Parallele zum Siheyuan. Verschwunden sind die langen, weiten Gänge ihres Kinder­ gartens am Kapaunplatz aus dem Jahr 1950 wie auch die vollkommene Symmetrie ihrer anderen Kindergartenpavil­ lons – etwa jenes in der Frankfurter Praunheim-Siedlung (1928) – oder ihres unverwirklichten Baukastensystems für Kinderheime. Wenn man den Kindergarten in der Rinn­böck­ straße betritt, ist man nicht gleich »angekommen«; dafür braucht es eine Weile. Durch eine Art »Yingbi«-Schattenmauer, wie sie bei Siheyuans üblich ist, schützt Schütte-Lihotzky den Kinder­

Abb. 5a und b: Beschattung in chinesischen Wohnhäusern: Gang zwischen Schattenmauer und Wohnhof, Fotodokumentation von Margarete Schütte-Lihotzky bei ihrem Besuch in Peking 1956; daneben: Städtisches Kindertagesheim, Wien 11, Rinnböckstraße 47, Eingangsbereich mit Pergola, um 1965

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garten vor den neugierigen Blicken der Passanten. Wie beim nordsüdlich ausgerichteten Siheyuan-Typus gibt es auch hier einen außen angelegten Gang (Abb. 5a und b). Von der Straße aus bietet sich folgender Weg: Durch ein Tor erblickt man zunächst den Garten, schreitet über ein paar flache Stufen hinab und folgt einem Außengang etwa 17  Meter entlang einem der Pavillons, bis man die Tür erreicht. Um das lichterfüllte, zwei­stöckige Atrium zu betreten, muss man um die Ecke gehen. Selbst bei gleichmäßigem Schritttempo durch das Gebäude erschließt sich die Kulisse – der Garten, die Pergola, der Hauptraum etc. – nur allmählich. So choreo­ grafiert Schütte-Lihotzky ein sequentielles Raumer­lebnis – Gordon Cullen hat es als »serielles Sehen«29 bezeich­net –, das vom öffent­ lichen Raum in den ruhigen, kontem­ plativen privaten Raum übergeht. Betritt man den Kindergarten über den nordöstlichen Pavillon, so stellt sich ein ähnliches Erlebnis ein: Die Ein­ gangstür befindet sich wiederum in der Ecke am Ende des Pavillons. Man wendet sich dem Gebäude zu, steigt über ein paar Stufen in die Garderobe hinab, wendet wieder, um die Garderobe zu durchqueren, und muss noch einmal wenden, um – wieder im Bereich der Ecke – den Kindergartenraum zu betreten. Man ändert also drei Mal die Richtung – und erlebt bei jedem Mal einen dramatischen, von Schütte-Lihotzky sorgsam inszenierten Perspektivenwechsel: von der schmalen Garderobe zum luftigen Kindergartenraum, dessen Fens­ ter an drei Seiten den Blick zum Garten freigeben. Das Atrium ähnelt dem Innenhof eines Siheyuan, ist es doch gleichzeitig Innen- und Außenraum, wenngleich ein überdachter. Innenwände haben für gewöhnlich keine Fens­ ter. Durch die Verwendung von Fenstern zwischen dem Atrium und den Pavillons bzw. zwischen Hauptraum und Garderobe spielt die Architektin mit unserer Wahrnehmung, mit Einblicken und Ausblicken, mit Diesseitigem und Jen­ seitigem, Verborgenem und Offenbartem. Seit kurzem hat sich der Kindergarten das pädagogische Konzept der offenen Arbeit auf die Fahnen geschrieben. Demnach wird Kindern nicht ein bestimmter Raum zuge­ wiesen, sondern sie können selbst wählen, wo sie sich auf­ halten. Laut Kinderbetreuerin Silvia kommen die offenen, 166

29  Gordon Cullen: The Concise Townscape, London 1961, S. 9, S. 182.

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30  Siehe SchütteLihotzky, Richtlinien für den Bau von Kindergärten (1934): »Ebenso muss es vermieden werden, euro­ päische oder amerikani­ sche Stilarten einfach zu kopieren und zu impor­ tieren, es muss vielmehr versucht werden, mit den vorhandenen und durch das Klima bedingten Mitteln, Materialien und Konstruktionen gemein­ sam mit den Erfahrungen Europas und Amerikas neue Bauformen zu schaffen, die den neuen, freieren Geist der künf­ tigen Generationen Chinas dokumentieren werden.« UaK, NL MSL, TXT/235.

lichtdurchfluteten Räume des Gebäudes diesem Konzept entgegen, weil sie heimelig und geräumig zugleich sind, seine Größe dadurch »elastisch« wirkt. Am Eingang jedes Raumes befindet sich eine Magnettafel mit den Namen aller Kinder. Sie können zwischen den Symbolen »Ich bin da«, »Ich bin zuhause« und solchen für Lese-, Musik- oder Spiel­ raum wählen, die in den anderen Pavillons untergebracht sind. Wenn ein Kind den Raum verlassen will, zeigt es mit seinem Magneten an, wo es hinmöchte, und zieht los. Dies ist das materielle Vermächtnis der zweiten und letzten Chinareise Margarete Schütte-Lihotzkys. Einer Reise, die durch ihre Rolle und Teilnahme als Informantin der Par­ tei ermöglicht wurde. Wir werden wohl nie erfahren, welche Wirkung ihre Berichte erzielten; dass ihre in Peking gesam­ melten Erfahrungen architektonische Gestalt annahmen, ist aber gewiss. Traditionelle, von den feudalen SiheyuanWohnhöfen inspirierte Elemente finden sich in ihrer Kinder­ gartengestaltung wieder, die von Offenheit, Transparenz, individueller Privatsphäre und Raum für Selbstbestimmung geprägt ist. So sind die Wünsche, die Schütte-Lihotzky 1934 für die chinesische Architektur äußerte, letzten Endes doch wahr geworden.30 Ihr Kindergarten in der Rinnböckstraße verkörpert den »neuen, freieren Geist künftiger Generatio­ nen« und nicht etwa die Wiederholung des Gestrigen. Das Projekt war Schütte-Lihotzkys letzter öffentlicher Auftrag der Stadt Wien; sie war damals 63 Jahre alt. Damit endete ihre Laufbahn als praktizierende Architektin. Der Partei aber sollte sie ihr Leben lang treu bleiben.

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Konsequent modern? Margarete Schütte-Lihotzky als Beraterin der Deutschen Bau­aka­demie in der DDR Carla Aßmann

Unter den vielen internationalen Zielen von Margarete Schütte-Lihotzkys Reisen in der Nachkriegszeit nimmt die ddr einen besonderen Stellenwert ein. Dorthin führten sie nicht nur private Gründe, sondern auch berufliche Kontakte, die mehrmals sogar vielversprechende Aufträge in Aussicht stellten. Diese Reisen und Kontakte fielen in entscheidende Umbruchphasen der Architekturentwicklung in der ddr, zu denen Schütte-Lihotzky sich mit ihren Arbeiten positio­ nierte. Die Untersuchung von Margarete Schütte-Lihotzkys Inter­ ventionen in die ddr-interne Architekturdebatte er­ weitert unser Wissen über die Rolle des internationalen Aus­ tauschs für das ddr-Bauwesen. Denn obwohl inzwi­schen zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten den Austausch von Archi­tekt/innen auch über den Eisernen Vorhang hinweg 168

1  Siehe auch: Andreas Butter: Showcase and window to the world. East German architecture abroad 1949–1990, in:

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Planning Perspectives, Jg. 33 (2018), H. 2. 2  Die Meinung ist weiter­ hin präsent im öffentlichen Diskurs – zum Beispiel: Corina Kolbe: Moskaus kleine Schwestern, in: Der Spiegel, 31.8.2018, online unter: http://www.spiegel. de/einestages/berlindresden-leipzig-stalinarchitektur-in-der-ddr-a1221495.html (abgerufen am 7.2.2019). Oft verbin­ det sich die Geringschät­ zung der DDR-Architektur mit einer generellen Ab­ lehnung der Nachkriegs­ moderne, die in Forderun­ gen nach Abriss gipfelt, wie bei den Architektur­ journalisten Dankwart Guratzsch und Rainer Haubrich, die vor allem in der Zeitung »Die Welt« veröffentlichen, zum Beispiel: Rainer Haubrich: Kein Denkmalschutz für die elenden DDR-Bauten!, in: Die Welt, 13.8.2013, online unter: https://www. welt.de/kultur/kunst-undarchitektur/article11897 5328/Kein-Denkmal schutz-fuer-die-elendenDDR-Bauten.html (abge­ rufen am 7.2.2019), sowie ders.: Berlin. Glanz und Elend eines Stadtbilds, Berlin 2015, insb. S. 94– 96 und 104f. 3  Kurt Liebknecht: Mein bewegtes Leben, Berlin 1986; Werner Durth/Jörn Düwel/Niels Gutschow: Architektur und Städtebau in der DDR, Bd. 1: Ost­ kreuz: Personen, Pläne, Perspektiven, Frankfurt am Main/New York 1998, S.  110f.

belegen,1 hält sich hartnäckig die Vorstellung einer nur an der Sowjetunion orientierten, vom Rest der Welt abge­ schotteten und von der politischen Führung hierarchisch verfügten Architekturent­wicklung.2 Schütte-Lihotzkys Auftraggeber war Kurt Liebknecht, Präsident der Bauakademie der ddr, eine Schlüsselfigur des Baugeschehens. Dadurch eröffnen sich auch neue Einblicke in das Handeln von Funktionären in der Dynamik der Um­ bruchsphasen. Im Hinblick auf Schütte-Lihotzkys Leben und Werk be­ leuchten ihre Kontakte zur ddr-Bauakademie die Bedeutung ihres beruflichen und politischen Netzwerks aus ihrer Zeit in der Sowjetunion, aber auch dessen Beschränkungen. Darü­ ber hinaus zeigen sich weitere Aspekte ihrer Doppelrolle als Parteiaktivistin und Architektin. Insbesondere wird deutlich, dass ihre beruflichen und politischen Überzeugungen nicht immer übereinstimmten, sondern auch in Widerspruch ge­rieten. Im Frühjahr 1950 reiste Margarete Schütte-Lihotzky mit Wilhelm Schütte in die Hauptstadt der jungen ddr. Nach der Haft unter dem ns-Regime und einem mehr als schwierigen Start in der Nachkriegszeit sah es nun so aus, als ob sich end­ lich etwas bewegte: In Wien wurde ein Entwurf für einen Kindergarten von Schütte-Lihotzky realisiert, und zusam­ men mit ihrem Mann entwarf sie einen Gemeindebau für die österreichische Hauptstadt. In Berlin traf sich das Architektenpaar mit Kurt Lieb­ knecht, einem ehemaligen Kollegen aus der Moskauer »Bri­ gade May«. Anders als die meisten ausländischen Archi­ tektinnen und Architekten hatte Liebknecht die russische Staatsbürgerschaft angenommen und war bis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Sowjetunion geblieben.3 Im Jahr 1948 kehrte er nach Ost-Berlin zurück und wurde nach Gründung der ddr im Herbst 1949 zum Direktor des Instituts für Städtebau und Hochbau berufen, das dem Ministerium für Aufbau unterstand. Später sollte dieses Institut in der Deutschen Bauakademie – ab 1973 unter dem Namen Bauakademie der ddr – aufgehen, deren Präsident bis ins Jahr 1961 ebenfalls Kurt Liebknecht war. Das Institut für Städtebau und Hochbau war verantwortlich für die

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Ausarbeitung der Richtlinien und Rahmenbedingungen des ddr-Bauwesens. Gleichzeitig leitete Liebknecht das zentrale Entwurfsinstitut, das die praktische Umsetzung dieser Leit­ linien vorgab und kontrollierte.4 Damit war Liebknecht die einflussreichste Figur in Sachen Architektur der ddr, denn Aufbauminister Lothar Bolz war nicht vom Fach. Es ist anzunehmen, dass das Wiedersehen mit ihrem zu solchem Einfluss gelangten alten Kollegen und Genossen bei Schütte-Lihotzky hohe Erwartungen weckte, in der ddr als Architektin wichtige Aufträge zu erhalten. Es sah sogar danach aus, als könnte sich im sozialistischen deutschen Teil­ staat die Möglichkeit ergeben, ihre Planungen für ein um­ fassendes Kinderanstalten-Bauprogramm, die in Österreich ignoriert wurden, umzusetzen: Während ihres Aufenthalts in Berlin erarbeiteten Margarete und Wilhelm Schütte ge­ meinsam einen Vorschlag für ein Entwurfs- und Baupro­ gramm, das Schulen, Kindereinrichtungen, Wohnungsbau, Elemente für die Landesplanung und allgemeine Entwurfs­ grundlagen umfasste.5 Schütte-Lihotzky legte zusätzlich ihre in Wien nicht beachteten Arbeiten über Kinderanstalten aus den Jahren 1945 und 1947 vor.6 Das Dokument zeugt von dem Selbstbewusstsein der beiden Architekten, auf der Grundlage ihrer Erfahrungen im Neuen Frankfurt und in der Sowjetunion ein derart um­ fangreiches Programm zur Gestaltung von Architektur und Stadtplanung in der ddr durchführen zu können. Zudem enthält es einen deutlichen Hinweis auf die Absicht der Schüttes, dieses Projekt von Wien aus zu betreuen. So heißt es dort: »Die Ausarbeitungen können im allgemeinen auch ohne unmittelbare räumliche Verbindung mit dem Insti­tut durchgeführt werden«.7 Tatsächlich schienen sich die Hoff­ nungen des Architektenpaars zu bewahrheiten: Wilhelm Schütte wurde vom Ministerium für Volksbildung beauf­ tragt, ein Programm und Richtlinien für den Schulbau in der ddr zu erarbeiten sowie zwei Schulen als Musterbauten zu realisieren.8 Margarete Schütte-Lihotzky erhielt den Auftrag, ein Programm und Richtlinien für den Bau aller Arten von Kindereinrichtungen zu erstellen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren in der ddr trotz des hohen Stellenwerts der staatlichen 170

4  Tobias Zervosen: Architekten in der DDR. Realität und Selbstver­ ständnis einer Profession, Bielefeld 2016, S. 69f. 5  Architekt Professor Wilhelm Schütte/Architek­ tin Grete Schütte-Lihotzky, z. Zt. Berlin, Juni 1950: Dokument ohne Titel mit den Punkten: I. Schulbau, II. Bau von Kinderanstal­ ten, III. Wohnungsbau, IV. Elemente für die Stadtund Landesplanung (Zelle etc.), V. Form und Aus­ druck in Architektur und Planung, Bundesarchiv (BArch) Berlin, DH/2/20040. Die beiden Seiten des Dokuments befinden sich an unter­ schiedlichen Stellen in der Akte. 6  Programm zur Schaf­ fung eines Zentral-BauInstituts für Kinder­ anstalten (Abschrift/Stei), o.D.; Architektin M. Schütte-Lihotzky: Vor­ schläge zum Druck einer Entwurfslehre für Kinder­ anstalten, Juni 1947, beide in: BArch Berlin, DH/2/20040. Das Ent­ wurfsprogramm konnte identifiziert und datiert werden durch die Zitate und Angaben in: Margarete Schütte-Lihotzky. Soziale Archi­t ektur. Zeitzeugin eines Jahrhunderts, Ausst.Kat. MAK – Österrei­ chisches Museum für angewandte Kunst, Wien, hg. von Peter Noever, Wien 1993, S. 193f. 7 Schütte/SchütteLihotzky, Dokument ohne Titel, Juni 1950, S. 2.

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8  Vgl. Architekt Profes­ sor W. Schütte an das Ministerium für Volksbil­ dung, HA Unterricht und Erziehung, Abschrift an Herrn Dr. Liebknecht, 27.10.1950, BArch Berlin, DH/2/20040. 9  Andreas Butter: Neues Leben, neues Bauen. Die Moderne in der Architektur der SBZ/DDR 1945– 1951, Berlin 2006, S. 234f. 10  Ministerium für Volks­ bildung, Abteilung Pla­n ung und Statistik an das Institut für Städtebau und Hochbau, Betr. Bau von Kinderheimen, 2.10.1950, BArch Berlin, DH/2/20040. 11  Prof. Wilhelm Schütte, Architekt: Bau von Schulen in der Deutschen Demo­k rati­ schen Republik, August 1950, BArch Berlin, DH/2/20040. 12  Neue Kinderhäuser in der DDR, von Architektin Margarete SchütteLihotzky, Wien, o.D. (vermutlich Spätsommer/ Herbst 1950), ebd. 13  Leider sind die Zeich­ nungen nicht erhalten, aber Schütte-Lihotzky bezieht sich im Textteil auf sie. 14  Margarete SchütteLihotzky an Kurt Liebknecht, 23.10.1950, BArch Berlin, DH/2/20040. 15  Zitiert nach: Karola Bloch: Grundrißschemas von Einrichtungen für das Kleinkind, in: Deutsche

Kinderbetreuung die entsprechenden Einrichtungen meist in umgenutzten Gebäuden entstanden, den wenigen Neu­ bauten fehlte eine besondere Gestaltung.9 Ihre Expertise sollte die Architektin, so die Planungen im Oktober 1950, einer neuen Arbeitsgemeinschaft für den Bau von Kinder­ einrichtungen zur Verfügung stellen.10 Doch es wurde nichts aus der Mitwirkung der beiden Architekten am Aufbau von Bildungs- und Kindereinrichtun­ gen in der ddr. Schütte erhielt nie die versprochene schrift­ liche Bestätigung seines Auftrags, da sich das Ministerium für Volksbildung als nicht zuständig herausstellte und die er­ satzweise anvisierte Beauftragung durch das Ministerium für Aufbau ausblieb. Eine Musterschule wurde stattdessen durch das Landesprojektierungsbüro Sachsen errichtet. Schüttes ausgearbeitetes Programm für den »Bau von Schu­ len in der Deutschen Demokratischen Republik« wanderte zu den Akten.11 Genauso erging es Margarete Schütte-Lihotzkys Arbeit »Neue Kinderhäuser in der ddr«, in der sie die Entwicklung von Typenbauten für Kindereinrichtungen vorschlug.12 Die Arbeit stellte eine erweiterte, auf die ideologischen und or­ ga­nisatorischen Voraussetzungen in der ddr ausgerichtete Version ihrer Zentralbau-Arbeit mit beispielhaften Entwür­ fen und Grundrissen dar.13 Ein ebenfalls fertiggestellter »Entwurf für eine Ent­ wurfslehre für Kinderanstalten« gelangte hingegen nicht einmal in die ddr, weil Schütte-Lihotzky kein Visum bekam und das geplante Arbeitsgruppentreffen ausfiel.14

Als Werk einer überzeugten Kommunistin lag SchütteLihotzkys Programm ganz auf der ideologischen Linie der ddr. Gemäß dem häufig zitierten Ausspruch Lenins, Kinder­ gärten gehörten zu den geeignetsten Ansätzen, »die Frau zu befreien […], ihre Ungleichheit gegenüber dem Manne in ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Produktion, wie im öf­ fentlichen Leben, zu verringern und aus der Welt zu schaf­ fen«,15 begründete auch sie den Bau von Kindereinrichtungen mit dem wünschenswerten und notwendigen Einstieg

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Woher kam der plötzliche Sinneswandel der Auftraggeber?

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der Frauen in die Erwerbstätigkeit.16 Darüber hinaus betonte Schütte-Lihotzky die Bedeutung der neuen Gebäude als Er­ ziehungsanstalten für die zukünftige sozialistische Gene­ra­ tion: »Von klein auf werden die Kinder in den neuen Häusern zu gemeinsamen Leben mit anderen Kindern, zu gegenseitiger Hilfe, zu kollektiver Arbeit und zur Rücksicht auf die anderen erzogen«.17 Auch dies stand völlig im Einklang mit den in der ddr proklamierten »Grundsätzen der Erziehung im deutschen Kindergarten«.18 Dennoch hätte die Vergabe der Planung und des Ent­ wurfs von Kinderanstalten an Schütte-Lihotzky der Architek­ turpolitik der ddr widersprochen. Erklärtes Ziel war näm­ lich eine Vergesellschaftung des Architektenberufs. Dies be­ deutete die Förderung volkseigener Entwurfs- und Projek­ tierungsbüros zulasten von freischaffenden Architekt/innen, denen zunehmend die Arbeitsmöglichkeiten entzogen wur­ den. Gegen dieses Vorgehen des Ministeriums für Aufbau regte sich erbitterter Protest.19 Vor diesem Hintergrund ist zu vermuten, dass das Ministerium um seine Glaubwürdigkeit und Durchsetzungskraft besorgt war, hätte es die selb­ ständige Architektin Schütte-Lihotzky mit dem herausge­ho­ benen Auftrag betraut. Zudem lebte diese nicht nur im nicht­ sozialistischen Ausland, sondern ihr Programm für Kinder­ einrichtungen enthielt auch ein offenes Plädoyer für die Beauftragung freischaffender Architekt/innen in eigenver­ antwortlicher Arbeit: »dem Architekten als Treuhänder [werden] Projektierung, Bau und Einrichtung übertragen«, hieß es dort an prominenter Stelle.20 Im Einklang mit dem Ziel der Vergesellschaftung aller Bauaufgaben wurde daher kurzfristig der Entwurf von Kin­ derkrippen den Landesprojektierungsbüros übertragen.21 Gleichzeitig liefen zudem die Vorbereitungen für die Gründung der Deutschen Bauakademie zum 1. Januar 1951 auf Hochtouren. Dort sollten zukünftig die theoretische Ar­ beit und die Steuerung des Bauschaffens zentral erfolgen, und unter der Leitung der Architektin Karola Bloch begannen eigene Arbeiten zur Entwicklung von Typenentwürfen.22 Allerdings sollte es zwei Jahre dauern, bis auch ein Entwurfsprogramm entstand. Der Stil dieser Musterentwürfe (Abb. 1) deutet auf einen weiteren Grund hin, warum 172

Architektur, 1/1953, S. 20– 27, hier S. 20. 16 Schütte-Lihotzky, Neue Kinderhäuser, S. 1f.

17  Ebd., S. 3.

18  Dort hieß es: »Williges und fröhliches Einordnen in die Kinder­ gartengemeinschaft, in Spiel und Beschäftigung, sorgsame Erfüllung der übertragenen kleinen Aufgaben und Pflichten«. Zitiert nach: Butter, Neues Leben, S. 233.

19  S. Zervosen, Archi­ tekten in der DDR, S. 34– 64.

20 Schütte-Lihotzky, Neue Kinderhäuser, S. 2. 21  Schreiben Prof. Hopp, Institut für Hochbau an das Ministerium für Planung, 7.11.1950, Betrifft: Projektierung für Kinder­k rippen, BArch Berlin, DH/2/20040. 22  Erste Richtlinien veröffentlichte das Minis­ terium für Aufbau am 1.9.1951, doch waren diese viel weniger detail­ reich als Schütte-Lihotzkys Programm. Vgl. Karola Bloch: Referat über die Typenentwicklung von Kinderkrippen, gehalten auf der Tagung des Min. f. Gesundheitswesen am 26.6.1952 in Berlin, BArch Berlin, DH/2/3052.

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Abb. 1: Karola Bloch, Vorentwurf Kindertagesstätte für 45 Kinder und Kinderkrippe für 34 Kinder, Deutsche Bauakademie, Institut für Hoch- und Industriebau, Abteilung Kulturbauten und Erziehung, 18. März 1952

23  Zitiert nach: Andreas Schätzke: Zwischen Bauhaus und Stalinallee. Architekturdiskussion im östlichen Deutschland 1945–1955, Braun­ schweig/Wiesbaden 1991, insb. S. 52.

Schütte-Lihotzkys Programm den architekturpolitischen Kadern nicht mehr tragbar erschienen war. Im Jahr 1950 vollzog die Entwicklung der Architektur in der ddr eine drastische Kehrtwende: Nachdem sich der Wiederaufbau zuvor auch in der sowjetischen Besatzungs­ zone am modernen Stil des Neuen Bauens orientiert hatte, wurde in dem Bestreben, eine ddr-eigene architektonische Formen­sprache zu finden, die Abkehr vom sogenannten For­ malismus verfügt. Bauten im Stil der Moderne wurden als westlich-dekadent diffamiert; Liebknecht schmähte sie als »primitive Kästen«.23 Nach dem Vorbild des sozialistischen Realismus in der Sowjetunion hatte sich die Architektur von nun an in der Formgebung an »nationalen Traditionen«, wie dem Klassi­zismus, zu orientieren, um den »demokratischen Inhalt« der ddr angemessen zu repräsentieren. Wie in der Sowjetunion tendierte dieser Baustil auch in der ddr zum Monumentalen, was sich deutlich am Prestigeprojekt der Berliner Stalinallee zeigt. Diese Ausrichtung wurde mit der Verabschiedung der »16 Grundsätze des Städtebaus« durch den Ministerrat im

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Abb. 2: Margarete Schütte-Lihotzky, Städtischer Kindergarten am Kapaunplatz, Wien 20, 1950–1952, Foto: Lucca Chmel

Juli 1950 offiziell verordnet. Sie auch in der – größtenteils vom Neuen Bauen kommenden – Architektenschaft durchzu­ setzen war jedoch trotz des politischen Drucks kein leichtes Unterfangen. Verantwortlich dafür war Kurt Liebknecht, der durch seine lange Tätigkeit in der Sowjetunion auch als einer von wenigen die Vorkenntnisse dafür mitbrachte – weshalb der Stil den Spottnamen »Kulinatra« erhielt: Kurt Lieb­ knechts nationale Tradition.24 Liebknecht muss die neue Ausrichtung mit SchütteLihotzkys besprochen haben, zumal er bei deren Aufenthalt in Berlin gerade erst von der berühmten »Moskau-Reise« zurückgekehrt war, auf der die Doktrin vorbereitet wurde. Doch Schütte-Lihotzkys Entwurfsprogramm blieb kon­ sequent modern: Sie forderte und entwarf niedrige Pavillons mit großen, tiefliegenden Fensterfronten, die als Typen­bau­ ten unabhängig von regionalen Stiltraditionen überall ent­ stehen sollten. Sie forderte Wand- und Fassadenanstriche in bunten Farben. Und sie mahnte sogar explizit den »Verzicht auf jede Monumentalität« an.25 Schütte-Lihotzkys 1952 fertiggestellter Kindergarten am Kapaunplatz in Wien besaß all diese Eigenschaften und 174

24  Liebknecht, Mein bewegtes Leben, S. 133. 25 Schütte-Lihotzky, Neue Kinderhäuser, S. 4–6. Ebenso hatte Wilhelm Schütte in seinem Schulprogramm formuliert: »Der frische, fröhliche Geist, der in der Schule herrschen soll, braucht keine Stilzutaten, um in der äußeren und inneren Ge­ staltung des Schulge­ bäudes seinen baulichen Ausdruck zu finden. Die sichtbare Verwendung zweckmäßiger moderner Konstruktionen, gut über­ legte technische Komposi­ tion […] das werden die Elemente sein, die das freundliche, einladende, dabei würdige Äußere der neuen Schulen gestalten soll.« Prof. Schütte, Archi­ tekt: Bau von Schulen in

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der Deutschen Demokrati­ schen Republik, im August 1950, S. 9, BArch Berlin, DH/2/20040. 26  Siehe hierzu auch den Beitrag von Christoph Freyer in diesem Band.

27  Vgl. Zervosen, Archi­ tekten in der DDR, S. 96– 102.

28  Vgl. Werner Durth/ Jörn Düwel/Niels Gutschow: Architektur und Städtebau in der DDR, Bd. 2: Aufbau: Städte, Themen, Dokumente, Frankfurt am Main/New York 1998, S. 172–180. 29  Vgl. Sachs, For­ schungsinstitut für die Architektur der Bauten der Gesellschaft und Industrie: Entwurf, Betr.: Schreiben der Kollegin SchütteLihotzky, 11.11.1954; Kurt Liebknecht an Margarete Schütte-Lihotzky, 12.11.1954, beide BArch Berlin DH/2/20064. 30  Wilhelm Schütte an Kurt Liebknecht, Präsident der Deutschen Bauaka­ demie, 19.4.1954, BArch Berlin DH/2/20064. 31  Jedoch zeitigte dieser Briefwechsel nicht die erhofften Ergebnisse, wie Liebknecht mitteilte: Kurt Liebknecht an Margarete Schütte-Lihotzky, 22.1.1951, BArch Berlin DH/2/20064.

stellte ein modernes, funktionales Kontrastprogramm zu den Bauakademie-Entwürfen dar (Abb. 2).26 Der Kontakt zwischen den ehemaligen Kollegen brach ab. Erst im Jahr 1954 wurde er wieder aufgenommen. Zu dieser Zeit stand die Bauakademie vor einigen Problemen. Nach dem Aufstand vom Juni 1953 machten auch die Archi­ tekt/innen in der ddr ihrer Unzufriedenheit Luft und drangen auf Reformen. Das einzige Zugeständnis der Füh­ rung bestand allerdings in einer Dezentralisierung der Ent­ wurfsarbeit, durch die die Landesprojektierungsbüros grö­ ßere Verantwortung erhielten.27 Doch deren Arbeit erregten den Unwillen der leitenden Architekten in der Bauakademie, denn die Projektierungsbüros hielten sich nicht an ihre Vorgaben. Zudem war das Bauen im nationaltraditionellen Stil teuer und entwickelte sich kaum weiter. Das Missver­ hältnis zwischen knappen Mitteln und gewaltigem Baubedarf führte zu immer größeren Schwierigkeiten. Die Ratio­ nalisierung des Bauens durch Typenentwürfe geriet wieder in den Fokus, steckte aber in der Planungsphase fest.28 Als Reaktion auf die Probleme wurde in der Bauakademie eine »kritische Analyse des Architekturschaffens der Gegenwart« erarbeitet, die dann auf einer öffentlichen Konferenz dis­ kutiert werden sollte.29 In dieser Situation traf Liebknecht abermals mit Mar­ garete Schütte-Lihotzky und Wilhelm Schütte, die zu der Zeit gemeinsam am Globus-Verlagshaus arbeiteten, in OstBerlin zusammen. Offenbar hoffte Liebknecht in dieser schwierigen Gesamtlage auf Impulse aus dem Ausland – wo­ bei seine Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt waren durch den immer noch bestehenden propagandistischen Ge­ gensatz zwischen der Architektur der nationalen Tradition und dem »amerikanisch-dekadenten Formalismus« sowie der herablassenden Ablehnung des Bauschaffens in der ddr durch die ausländische Fachpresse. So versuchte er, informell die Kontakte zu alten Kolleg/innen wiederzubeleben – von Schütte erbat er sich Literaturauswertungen, und er begann einen Briefaustausch mit Werner Hebebrand.31 Schütte-Lihotzky erhielt den Auftrag, als externe Gut­ achterin das Entwurfsprogramm für Kindereinrichtungen der Bauakademie sowie fünf existierende Einrichtungen zu

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bewerten. Erneut arbeitete sie auch eine Entwurfslehre für Kinderanstalten aus und regte die Errichtung von Versuchs­ bauten an.32 Begutachtet wurden zwei Kindergärten im Bereich der Berliner Stalinallee sowie ein Kinderheim, das ebenfalls dem Stil der nationalen Tradition entsprach. Dazu kam noch das Kinderkaufhaus in der Stalinallee sowie ein Kindergarten in Leipzig.33 Hart ins Gericht ging Schütte-Lihotzky insbesondere mit den Kindergärten an der Stalinallee, die ihr zufolge »viel eher an alte Kinderbewahranstalten oder Spitäler erinnern als an fortschrittliche Erziehungshäuser für eine fröhliche Gemeinschaft unserer Kinder«.34 Schütte-Lihotzkys erster Kritikpunkt war die Unwirt­ schaftlichkeit der Entwürfe. Deutlich mehr Raum entfalle auf Gänge und Wirtschaftsflächen als bei Kindergärten in der Sowjetunion oder auch in Wien, rechnete sie vor. Dies gehe zulasten von Nutzungsfläche für die Kinder35 – und da­ bei sei die teure Bauweise auch noch ästhetisch, funktional und pädagogisch gescheitert. Alle Grundsätze für fort­ schritt­ lichen Kindergartenbau wie Wohnlichkeit, Verbin­ dung zum Außen­ gelände, Gemeinschaftsförderung und Krank­heits­prävention durch räumlich getrennte Gruppen würden systematisch missachtet: »Es gibt nichts abstoßen­ deres [sic!], als am Eingang gegen eine geschlossene Wand zu rennen, wie dies leider im Kindergarten D-Süd der Fall ist«, klagte die Architektin über den Kindergarten an der Stalinallee (Abb. 3).36 Um nur ein paar weitere Beispiele ihrer Kritik zu nennen: Die Fenster seien so hoch, dass Kinder nicht hinaus­schauen konnten, es gebe keine Ver­bindung zum Garten, keine Möglichkeit der Querlüftung und der Isolie­ rung kran­ker Kinder, keine Differenzierung der Räume und keine an­sprechende Farbgebung, »auf alle diese Möglich­ keiten der Bereicherung in der Architektur und Baukunst ist dort voll­kommen verzichtet. Alles ist nüchtern, sachlich und völlig reizlos, ohne architektonische Ideen oder Phantasie.«37 Den Arbeiten der Bauakademie bescheinigte SchütteLihotzky zwar ein »unvergleichlich höheres Niveau« als den gebauten Einrichtungen, bemängelte aber, dass ein eigener baulicher Charakter für Kindereinrichtungen in der ddr erst 176

32  Margarete SchütteLihotzky an Kurt Liebknecht, 24.10.1954, BArch Berlin DH/2/20064.

33  Margarete SchütteLihotzky an die Deutsche Bauakademie: Kritische Stellungnahme zu den besichtigten Bauten und Plänen von Kinderan­ stalten, 24.9.1954, BArch Berlin DH/2/20064. 34  Ebd., S. 2f.

35  Ebd., S. 4–7.

36  Ebd., S. 4.

37  Ebd., S. 12.

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38  Ebd., S. 2 und 5.

39  Ebd., S. 13.

40  Liebknecht an Schütte-Lihotzky, 12.11.1954.

41  Prof. Hopp an Kurt Liebknecht, 1.11.1954, BArch Berlin, DH/2/20064. 42  Sachs, Entwurf; Liebknecht an SchütteLihotzky, 12.11.1954.

noch entwickelt werden müsse.38 In ihren Schluss­fol­gerungen bot die Architektin aber auch an, sie selbst könnte das drin­ gend erforderliche Baukastensystem für Kinder­einrichtun­ gen bereitstellen, indem sie ihre vorhandenen Typenentwürfe umarbeitete.39 Erstaunlicherweise traf das Gutachten bei den leitenden Funktionären der Bauakademie auf große Zustimmung. Es sollte in die kritische Auswertung des gesamten Architek­ turschaffens einfließen, und Schütte-Lihotzky sollte an der entsprechenden Tagung teilnehmen.40 Der Hintergrund war eine schwelende Auseinander­ setzung mit dem Magistrat und dem Chefarchitekten von Berlin, Hermann Henselmann. Es ging um die Frage, wer die Hoheit über die Entwürfe für öffentliche Bauten besaß. Das Gutachten einer unparteiischen Expertin aus dem Ausland mit der Autorität ihrer Erfahrungen und Kenntnisse aus der Sowjetunion sollte dabei die Position der Bauakademie stärken, da der Berliner Magistrat für die beanstandeten Bauten verantwortlich war.41 Zudem beabsichtigte man tat­ sächlich, Schütte-Lihotzky in die Ausarbeitung von Typen einzubeziehen.42

Abb. 3: Kindergarten Stalinallee D-Süd, Entwurf: Projektierung Groß-Berlin VEB, 1953, Bauherr: Magistrat von Groß-Berlin, Zustand 2019, Foto: Carla Aßmann

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Doch erneut sollte es nicht dazu kommen, dass Mar­ garete Schütte-Lihotzky als Architektin größere Wirksam­ keit entfalten konnte. Diesmal war es die Dynamik von außen hereinbrechender Ereignisse, die ihre Ambitionen zunichte­machte. Am 7. Dezember 1950 verkündete der Par­ teichef der kpdsu, Nikita Chruschtschow, auf der Moskauer Allunions-Baukonferenz eine Neuorientierung in der Bau­ politik. Nach dem Motto »Mehr, besser und billiger bauen«43 bedeutete die neue Ausrichtung auch in der ddr eine Hinwendung zu industrieller, schmuckloser und stilistisch moderner Archi­tektur. Der hektisch eingeleiteten Umstel­ lung fielen auch die bisherigen Planungen der Bauakademie für die Auswer­tungskonferenz und das Typenprogramm zum Opfer.44 Diesmal riss aber vermutlich der Kontakt zur ddrBauakademie nicht ab. In den erhaltenen Briefen finden sich Hinweise darauf, dass Schütte-Lihotzky sich über die Frage der Kindereinrichtungen hinaus fachlich mit den ddrKolleg/innen austauschte,45 und inzwischen ar­beitete auch der Schweizer Architekt Hans Schmidt, ein weiterer Kollege aus der »Brigade May«, an der Bauaka­demie. Anhaltende freundschaftlich-kollegiale, eher infor­ melle Beziehungen ebneten vermutlich auch den Weg für Margarete Schütte-Lihotzkys halbjährigen Forschungsauf­ enthalt an der Bauakademie im Jahr 1966. Ihren eigenen Erinnerun­gen zufolge hatte der neue Präsident der Bauaka­ demie, Gerhard Kosel, den sie ebenfalls aus der Sowjetunion kannte, sie abermals um ein Gutachten als Expertin für Kinderein­rich­tungen gebeten. Sie habe zudem erneut ihr Bau­kasten­system angeboten.46 In den Unterlagen der Bau­ akade­mie ist jedoch von Schütte-Lihotzkys umfangreicher Forschungs­arbeit, für die sie Kindereinrichtungen in der ganzen ddr besichtigte, nichts erhalten geblieben. Obwohl die Architektin wohl weiterhin mit Kritik nicht sparte,47 dürfte es dieses Mal keine ideologischen Dif­f erenzen in Architekturfragen gegeben haben. Die moderne Formen­ sprache war nun auch Ausdruck der ddr-Architektur, und die Typisierung schritt rasch voran. Der Architekturkritiker Bruno Flierl, zu jener Zeit Leiter der Gruppe Theorie am Institut für Städtebau und Architektur an der Bauakademie, 178

43  So das Motto der ersten Baukonferenz der DDR im April 1955, vgl. Thomas Topfstedt: Städte­ bau in der DDR 1955– 1971, Leipzig 1988, S. 11. 44  Kurt Liebknecht an Margarete SchütteLihotzky, 22.1.1955, sowie Kurt Liebknecht an Margarete SchütteLihotzky, 15.3.1955, beide in: BArch Berlin, DH/2/20064. 45  So ließ SchütteLihotzky auch den Vizeprä­ sidenten der Bauaka­ demie, Edmund Collein, regel­m äßig durch Lieb­ knecht herzlich grüßen. Liebknecht, mit dem der Tonfall im Briefwechsel 1954/55 deutlich ver­ trauter wurde, bot zudem als Ersatz für die aus­ gefallene Auswertungs­ konferenz an, SchütteLihotzky solle zu einem anderen Zeitpunkt kom­ men, »um über die einzel­ nen Probleme Deiner Ar­ beit mit uns zu sprechen«. Liebknecht an SchütteLihotzky, 15.3.1955. 46  »Jetzt bin ich Persona grata«. Im Juni 1984 sprach Chup Friemert mit Margarete SchütteLihotzky in Wien, in: Margarete SchütteLihotzky: Erinnerungen aus dem Widerstand 1938– 1945, Hamburg 1985, S. 44f. 47  Über ihre Besichti­ gung von Rostock schrieb die Architektin an Hans Wetzler: »Gute neue Wohnbauten und schlechte

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Kindereinrichtungen. Das Herz tut mir weh, wenn ich sehe, wieviel Volksvermö­ gen vergeudet [?] wurde, um so was Schlechtes zu machen.« Margarete Schütte-Lihotzky an Hans Wetzler, 16.5.1966, Nach­ lass Margarete SchütteLihotzky, Archiv der Uni­ ver­s ität für angewandte Kunst, Wien, Nachlass Margarete SchütteLihotzky (UaK, NL MSL), Ordner Hans. Ich danke Marcel Bois für den Hin­ weis auf dieses Dokument. 48  Bruno Flierl in einem Telefonat mit der Autorin, 5.9.2018. 49  Helmut Trauzettel/ Claudio Schrader: Kleinkindereinrichtungen: Entwicklungstendenzen, in: Deutsche Architektur, 7/1967, S. 433–436. 50  Ebd., S. 434f.

51  Für den Hinweis auf die Artikel danke ich Tanja Scheffler, TU Dresden.

erinnert sich, Schütte-Lihotzky habe sich an der Bauakademie mit Hans Schmidt getroffen, der ebenfalls mit Typen­ projekten befasst war.48 Es bleibt zu vermuten, dass das spurlose Verschwinden von Schütte-Lihotzkys Arbeit auf einen allmählichen Gene­ rationenwechsel im ddr-Baugeschehen zurückzuführen ist. Während Schütte-Lihotzkys alte Kollegen den Austausch mit ihr weiterhin schätzten, hatten die jüngeren Architekt/innen wahrscheinlich weniger Bedarf für die nun schon eine Weile zurückliegenden Erfahrungen und die Expertise der 69-Jährigen. So erschien nicht lange nach dem Forschungsaufenthalt von Schütte-Lihotzky ein Artikel über »Kleinkindereinrich­ tungen: Entwicklungstendenzen« in der wichtigsten Archi­ tekturzeitschrift der ddr, »Deutsche Architektur«.49 Dieser enthält ebenfalls Beispiele für Kindergärten aus der ddr und dem Ausland, stammt aber vom 30 Jahre jüngeren ddr-Spe­ zialisten für Kindergartenbau, Helmut Trauzettel. SchütteLihotzky kommt in dem Artikel sogar vor – jedoch lediglich als Architektin des Kindergartens am Wiener Kapaunplatz von 1951/52, ohne Bezug auf ihre konzeptionelle und theore­ tische Arbeit.50 Trotz der wiederholten Enttäuschung ihrer Hoffnungen, den Bau von Kindereinrichtungen in der ddr mit­zuge­ stalten, waren die Kontakte zur Bauakademie wichtig für Schütte-Lihotzky und ihr Selbstverständnis. Anders als in Österreich, wo sie in der Nachkriegszeit vor allem als poli­ tische Person, als Antifaschistin, die sich für Frauenrechte und Frieden einsetzte, bekannt und tätig war, war sie in der ddr vor allem Architektin und wurde auch so wahrgenom­ men. An der Bauakademie pflegte sie nicht nur die Kontakte von früher, sondern tauschte sich auch mit Fachkolleg/innen aus, die sie dort neu kennenlernte, und hielt sich über die Entwicklungen in der ddr auf dem Laufenden. Einen Beleg für die damals komplementäre Rolle, in der man Schütte-Lihotzky in der ddr wahrnahm, bietet auch eine Reihe von Artikeln, die sie in den 1980er Jahren für die Fachzeitschrift für industrielle Formgestaltung »form+ zweck« verfasste.51 Während sie zeitgleich in Öster­reich als Zeitzeugin des Nationalsozialismus und Widerstandskäm­

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pferin auftrat, veröffentlichte sie in der ddr zwischen 1981 und 1984 vier Artikel über ihre Bei­träge zum Neuen Bauen,52 im Jahr ihres 90. Geburtstags erschien ein zweiteiliges Inter­ view über ihre Arbeit in der Gruppe May.53 Dass ihr Werk aber auch in der ddr erst im Rückblick breit öffentlich wahrgenommen wurde, deutet auf die be­ grenzte Wirksamkeit ihres Netzwerks ehemaliger Kolleg/in­ nen hin. Anders als viele Architekt/innen, die nach dem Krieg keine Aufträge mehr erhielten, hat Schütte-Lihotzky nie er­ wogen, in die ddr umzuziehen. Dabei hegte sie offenbar gegenüber dem ddr-Staat keine grundsätzlichen Bedenken. So versorgte sie zum Beispiel ihren Genossen Liebknecht mit Informationen über einen österreichischen Kollegen, der sich in der ddr beworben hatte.54 Es muss also ihre Entwurfstätigkeit gewesen sein, bei der sich die Architektin nicht den Vorgaben unterwerfen wollte. Eine Anpassung an die Architektur der »nationalen Tradition«, wie es Hans Schmidt im Zuge seiner Übersiedelung in die ddr55 oder Karola Bloch auf dem Gebiet des Kindergartenbaus56 getan hatten, hätte ihren architekto­ni­ schen Konzeptionen zu stark widersprochen. In diesem Fall waren Schütte-Lihotzkys berufliche und politische Über­ zeu­gungen nicht in Einklang zu bringen. Für Liebknecht und die Bauakademie war der Kontakt zu Schütte-Lihotzky dennoch von besonderer Bedeutung, gerade weil sie im westlichen Ausland lebte, aber Kommu­ nistin war und über Erfahrungen aus der Sowjetunion ver­ fügte. Neben dem allgemeinen Interesse an internationalem Austausch hatte ihr Urteil die Autorität der »neutralen Ex­ pertise«, die sich zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit dem Berliner Magistrat einsetzen ließ – Liebknecht dürfte vorher gewusst haben, wie ihre Beurteilung der Stalinallee-Kindergärten ausfallen würde. Ich gehe davon aus, dass Liebknecht Schütte-Lihotzkys Arbeit nicht nur instrumentell verwendete, sondern auch tatsächlich schätzte. Die Ereignisse der Jahre 1950 und 1954/55 zeigen, dass auch eine als ideologischer Hardliner bekannte Figur wie der Präsident der Bauakademie differenziertere Bewertungsmaßstäbe hatte, sich aber trotz seiner Macht­po­ 180

52  Margarete SchütteLihotzky: Arbeitsküche, in: form+zweck, 4/1981, S. 22–26; dies.: Volks­ wohnbau, in: ebd., 2/1982, S. 38–41; dies.: Erinne­r ungen an Gropius, in: ebd., 2/1983, S. 9; dies.: Die Wohnung der allein­s tehenden berufs­ tätigen Frau, in: ebd., 2/1984, S. 33–36. 53  Damals in der Sowjetunion: Aufbruch und Ankunft. Gespräch mit Margarete SchütteLihotzky, Wien, in: form+zweck, 4/1987, S. 11–14; Damals in der Sowjetunion: Aufbaujahre, in: form+zweck, 5/1987, S. 8–15. 54  Schreiben Architektin Schütte-Lihotzky, ohne Adressat, Klagenfurt, 2.11.1954. Aus dem Kontext erschließt sich Kurt Liebknecht als Adressat, der um Infor­ mationen über den fraglichen Architekten gebeten hatte. BArch Berlin, DH/2/20064. 55  Schmidt entwarf die Max-Kreuziger-Schule in Berlin-Friedrichshain, die 1953 als Musterbeispiel der Architektur der natio­ nalen Tradition fertigge­ stellt wurde. 56  So erläuterte Bloch später: »frei und modern entwerfen, mit großen Fenstern und unregel­ mäßigen Grundrissen durfte man nicht«. Zitiert nach: Butter, Neues Leben, S. 235.

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57  Kurt Liebknecht an Margarete SchütteLihotzky, 3.10.1988, UaK, NL MSL, Korrespondenz privat. 58  Die Redaktion: Margarete SchütteLihotzky 90, in: form + zweck, 1/1987, S. 3.

sition den Gegebenheiten anpassen musste. Unter welchem politischen Druck Liebknecht stand, lässt sich anhand eines Briefwechsels mit Schütte-Lihotzky aus den Jahren 1988/89 erahnen. Angeregt durch die Lektüre von Schütte-Lihotzkys »Erinnerungen aus dem Widerstand« sprach er erstmals die Schattenseiten seiner Zeit in der Sowjetunion an, wo er als Opfer der stalinistischen Verfolgung anderthalb Jahre in Haft verbracht hatte.57 Auch in seiner 1986 erschienenen Biografie hatte Liebknecht dies nur stark verschlüsselt angedeutet. Margarete Schütte-Lihotzky gab ihrerseits die Hoff­ nung nie auf, in der ddr ihre Projekte verwirklicht zu sehen: Noch nach ihrem 90. Geburtstag bot sie der Zeitschrift »form+zweck« die Erstveröffentlichung eines neuen Ent­ wurfs­projekts für Kindereinrichtungen an.58

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Begegnungen

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Freundschaft und Entfremdung. Margarete Schütte-Lihotzky und Otto Neurath Günther Sandner

Erinnerung und Begegnung

»Neurath war ein Hüne, groß und stark, mit einem langen roten Bart und kahlem Kopf, auf dem er einen riesigen schwarzen Schlapphut trug. Eine auffallende AndreasHofer-Gestalt, nach der sich die Leute auf der Straße um­ dreh­ten«.1 Mit diesen Worten beschrieb Margarete SchütteLihotzky Otto Neurath wiederholt, zuerst 1982 im von Fried­ r­ ich Stadler herausgegebenen Band »Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit« und schließlich in ihrem später publi­ zierten Buch »Warum ich Architektin wurde«. Was wir über das berufliche und persönliche Verhältnis der beiden wissen, basiert vor allem auf solchen Erinnerungstexten und auf einigen Briefen. Die Erinnerungen Schütte-Lihotzkys an Neurath, die auch mit der erst in den 1970er und 1980er Jahren einsetzenden Wiederentdeckung von dessen Werk im deutschsprachigen Raum zusammenhängen, werden gegen Ende des Beitrags noch einmal thematisiert. Davor werden die Geschichte einer Freundschaft und die Geschichte einer Entfremdung erzählt – zwei Geschichten, die zwar in gewis­ ser Weise einander ablösen, die sich aber dennoch nicht chronologisch genau voneinander abgrenzen lassen. 184

1  Margarete SchütteLihotzky: Mein Freund Otto Neurath, in: Friedrich Stadler (Hg.): Arbeiter­ bildung in der Zwischen­ kriegszeit. Otto Neurath – Gerd Arntz, Wien 1982, S. 40–42, hier S. 40. Margarete SchütteLihotzky: Warum ich Architektin wurde, Salzburg 2004, S. 79.

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2  Siehe dazu auch den Beitrag von Sophie Hochhäusl in diesem Band.

3  Günther Sandner: Otto Neurath. Eine poli­ tische Biographie, Wien 2014, S. 168–189. 4  Margarete SchütteLihotzky: Erinnerungen aus dem Widerstand 1938–1945, hg. von Chup Friemert, Hamburg 1985, S. 17. 5  Ebd., S. 18. 6  Elisabeth Holzinger: Widerstand in Zeiten des Terrors, in: Margarete Schütte-Lihotzky: Erinne­ rungen aus dem Wider­ stand. Das kämpferische Leben einer Architektin 1938–1945, Wien 2014, S.   7–20, hier S. 14.

Otto Neurath wurde im Jahr 1882 geboren, war also rund 15 Jahre älter als Schütte-Lihotzky. Die beiden lernten sich in den frühen 1920er Jahren kennen (Abb. 1). Neurath war am 25. Juli 1919 aufgrund seiner Funktion als Präsident des Zentralwirt­ schaftsamtes während der beiden Münchner Räterepubliken wegen »Beihilfe zum Hochverrat« zu einein­ halb Jahren Festungshaft verurteilt worden. Nach massiven politischen und diplomatischen Interventionen und monate­ langen Ver­hand­lungen zwischen der österrei­chischen und der baye­ri­schen Regierung kam er im Februar 1920 zurück nach Wien. Dort arbeitete er zunächst in der Betriebsräte­ schulung und für ein kurzlebiges »Forschungs­institut für Gemeinwirt­schaft«, ehe die Siedlerbewegung Mittelpunkt seiner Tätig­keit wurde.2 Die mehrjährige Arbeit für die Siedlerbewegung war sein erster Versuch, in seiner Geburtsstadt Wien an jene ge­ mein­ wirtschaftlichen Projekte anzuschließen, die er als Öko­nom und Sozialisierungstheoretiker entwickelt hatte. Er übernahm im Januar 1921 die Leitung des neugegründeten Hauptverbandes für Siedlungs- und Kleingartenwesen und wurde im Oktober desselben Jahres Generalsekretär des Öster­reichischen Verbandes für Siedlungs- und Kleingarten­ wesen, dessen Gründung er selbst vorbereitet hatte.3 Grete Lihotzky kam Mitte des Jahres 1920 zurück nach Wien, und zwar aus den Niederlanden, wo sie als Begleit­ person von ärmlichen, Hunger leidenden Wiener Kindern mehrere Monate gelebt und gearbeitet hatte. In einem Inter­ view aus dem Jahr 1984 gibt sie den Zeitraum dieser Rück­kehr mit »ungefähr im Juni« an.4 Sie wollte als Architektin reüs­ sieren und nahm an einem Wettbewerb für eine Klein­garten­ kolonie am Schafberg teil. Sie lernte den Leiter des Sied­ lungsamtes Max Ermers und durch diesen im Herbst 1920 Adolf Loos kennen. Loos motivierte sie schließlich zur Mit­ arbeit in der Siedlungsbewegung.5 Sie arbeitete von 1922 bis 1925 im Baubüro des Österreichischen Verbandes für Sied­ lungs- und Kleingartenwesen als Architektin.6 Eine Freundschaft

Im Österreichischen Verband für Siedlungs- und Kleingar­ tenwesen lernten sich Otto Neurath und Margarete Lihotzky

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kennen. »Meine Arbeit brachte mich Jahre hindurch täglich mit Neurath zusammen. Außerdem war ich auch persönlich mit ihm befreundet«, so resümierte sie erheblich später diese Zeit.7 Lihotzky war auch verantwortlich für die Gründung der Warentreuhand innerhalb des Siedlerverbandes, die es den Siedlern ermöglichen sollte, passende und günstige Möbel zu erwerben.8 Mit Hilfe von Otto Neurath erhielt sie ihren ersten Gemeindeauftrag und wirkte am 1924 errichte­ ten Winarskyhof im 20. Wiener Gemeindebezirk mit.9 Die freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen den beiden war jedoch von relativ kurzer Dauer. Lihotzky er­ krankte 1924 an Tuberkulose, und als sie wieder aus dem Krankenstand zurückkam, war Neurath nicht mehr im Sied­ lerverband aktiv. Zudem hatte die sozialdemokratische Re­ gierung ihre Wohnbaupolitik verändert. Während das Sied­ lungswesen zusehends in den Hintergrund geriet, for­cierte die Stadtpolitik nun innerstädtische Geschosswohn­bauten beziehungsweise Gemeindebauten. In einer Interviewpassa­

7  Margarete SchütteLihotzky: Zeitzeugin, in: Friedrich Stadler (Hg.): Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil öster­ reichischer Wissen­s chaft 1930–1940. Teilband 2, Münster 2004, S. 629– 633, hier S. 630. 8 Schütte-Lihotzky, Erinnerungen (1985), S. 18f. 9 Schütte-Lihotzky, Warum ich Architektin wurde, S. 63–65, S. 101– 104.

Abb. 1: Otto Neurath, 1920er Jahre, Fotografie

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10  Margarete SchütteLihotzky (Interview), in: Karo Wolm: Otto Neurath 1882–1945. Der unbe­ kümmerte Denker, ORFProduktion, Wien 1990.

11  Isotype steht für International System of Typographic Picture Education.

12 Schütte-Lihotzky, Zeitzeugin, S. 630.

13 Schütte-Lihotzky, Warum ich Architektin wurde, S. 80.

ge in der 1990 fertiggestellten orf-Dokumentation über Otto Neurath (»Der unbekümmerte Denker«) sprach Schüt­teLihotzky von drei bis vier Jahren, die sie und Neurath gemeinsam in der Siedlerbewegung aktiv gewesen seien.10 Grete Lihotzky war zumindest am Rande auch in die Gründung des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums in­ vol­viert. In diesem Sozialmuseum entwickelten Otto Neu­ rath und sein Team die »Wiener Methode der Bildstatistik«, deren Piktogramme oder Signaturen wir auch heute noch, haupt­sächlich unter dem späteren Namen »Isotype«,11 ken­ nen. In ihrem Beitrag für das zeitgeschichtliche Buch­projekt »Vertriebene Vernunft« schilderte sie das folgen­dermaßen: Otto Neurath habe ein kurzes Exposé für ein Mu­seumspro­ jekt geschrieben, dann habe er dieses eingepackt und sei mit dem Taxi zu den führenden Leuten der Stadtverwaltung sowie zu Parlaments- und Gemeinderatsabgeordneten ge­ fahren. »Mit nichts anderem in der Tasche als zwei von Seitz, Renner, Deutsch und anderen unterschriebenen Blatt Papier kam er triumphierend lachend zum Taxi zurück. Das war der aller­erste Anfang des Wiener Museums für Siedlungs- und Städtebau (aus dem sich dann ab 1925 das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum entwickelte), das später weltberühmt werden sollte«, schreibt Schütte-Lihotzky. Wieso sie das so genau wissen konnte? »Ich fuhr mit ihm«, heißt es in ihrem Text.12 Das muss im Jahr 1923 gewesen sein. Wie lässt sich die Freundschaft der beiden beschreiben? Lesen wir zunächst, wie Margarete Schütte-Lihotzky Otto Neurath im Rückblick charakterisiert: »Neben seiner so aktiven, von Vernunft beherrschten, vielseitigen Tätigkeit schrieb er damals auch Märchen und malte auf Holz kleine phan­ tasievolle, ineinander verschlungene Tiere in einer minu­tiösen Art. In diesem Riesen (Neurath unterzeichnete Briefe und Karten statt mit seinem Namen immer mit Ele­ fanten, mit heiteren und traurigen, lachenden und weinen­ den, laufenden, springenden, sitzenden) wohnte eine subtil reagierende, phantasievolle Empfindsamkeit. Einige dieser Märchen und Malereien befinden sich noch heute in meinem Besitz«.13 Der Nachlass von Margarete Schütte-Lihotzky enthält tatsächlich einige dieser »Märchen und Malereien« von Otto

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Neurath. Zumindest teilweise sind diese durchwegs litera­ rischen Texte auch veröffentlicht worden.14 Otto Neurath trat jedoch nicht als namentlicher Verfasser dieser Geschichten in Erscheinung. Er erfand nicht nur literarische chinesische Figuren, sondern auch die passenden chinesischen Autoren dazu, wie etwa einen La-Se-Fe und einen Sa-Le-Fe. Obwohl die chinesischen Originale also gar nicht existierten, um deren Übersetzung es sich bei diesen Texten angeblich han­ del­te, tauchte der Name La-Se-Fe in einer deutschsprachigen Literaturgeschichte Chinas auf. Das Ei landete also, wie Sebas­­ tian Meissl schrieb, »im Nest des Literaturhistori­ kers«.15 Klarerweise war auch der Übersetzer der chinesi­ schen Ge­schichten, ein Peter Zirngibel aus Dresden, keine reale Per­son, sondern ein weiteres Autorenpseudonym Otto Neuraths. Einer dieser literarischen Texte, das Typoskript »Der gestaltende Gott«, versehen mit dem Hinweis »Herbstge­ danken 1923«, trägt die Widmung: »Meiner lieben gestalten­ den Freundin«. Es handelt sich um eine gleichnishafte Ge­ schichte über den gestaltenden Genius, um die Utopie einer neuen Zeit, um Hindernisse und Widerstände auf dem Weg dorthin, aber auch um Zuversicht und Ermunterung. Eine weitere Geschichte im Nachlass ist einer Li-Ha gewid­met, und zwar von »dem Masslosen«, eine weitere wieder Li-Ha, »dem tanzenden Sonnenstrählchen«. Li-Ha stand ohne Zwei­­fel für Grete Lihotzky,16 und wer der Maßlose war, ist auch nicht schwer zu erraten. All dies lässt jedenfalls auf eine sehr vertraute, vielleicht auch intime Beziehung zwi­schen den beiden schließen. Neurath schrieb solche literarischen Texte relativ regel­ mäßig von den frühen 1920er Jahren bis etwa 1930. Es sind Parabeln und Lehrgespräche, die in gewisser Weise eine heitere Gegenwelt, eine Welt der Liebe und des Glücks – ein Schlüsselbegriff seiner Ethik und seiner utopischen Schriften – entwerfen, auch als Gegenentwurf zu Oswald Spenglers »Untergang des Abendlandes«, dem er sich ausführlich in seinem »Anti-Spengler« gewidmet hatte.17 Eine gewisse Spannung zwischen der Befähigung zur Ausbildung einer individuellen Lebensform und der kollek­ tiven Durchsetzung von Glücksansprüchen ist ein immer 188

14  Dies trifft zu für: SaLe-Fe: Das Fremde, in: Die Wage 4 (1923) 5, S. 156–159, und La-SeFe: Das Gespräch von der Weihe des Berufes, in: Die Wage 4 (1923) 15, S. 463–467. Während diese und auch noch ein anderer Text Neuraths unter einem Pseudonym erschienen, publizierte er in den Jahren 1927–1930 im »Österreichischen Arbeiter-Kalender« litera­ rische Texte unter seinem richtigen Namen. 15  Sebastian Meissl: Vom Literaturhistoriker zum Literaten. Wege und Umwege Otto Neuraths, in: Stadler, Arbeiter­ bildung, S. 112–118, hier S. 118, Anm. 29.

16 Schütte-Lihotzky unterzeichnete auch einen Brief an Otto Neurath vom 14.11.1938 mit Li-Ha (Nachlass Otto und Marie Neurath, Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB), Hand­s chriftensammlung, Sig. 1224/17).

17  Otto Neurath: AntiSpengler, München 1921.

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18  Meissl, Vom Literatur­ historiker zum Literaten, S. 117.

präsentes Thema dieser Texte,18 die sich vielleicht nicht sprach­lich, jedoch inhaltlich mit dem wissenschaftlichen und politischen Werk Neuraths verbinden lassen. Neben diesen Texten gibt es in Schütte-Lihotzkys Nach­ lass zumindest eine »Malerei« Neuraths, eine phantasievolle Weihnachtskarte aus dem Jahr 1922 (Abb. 2). Die kleine

Abb. 2: Weihnachtskarte von Otto Neurath an Margarete Lihotzky, 1922, Lackfarben auf Karton

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Sammlung von Dokumenten klärt auch eine der bislang offenen Fragen in Neuraths Biografie, nämlich jene, warum Otto Neurath in so vielen Briefen von alten Freundinnen und Freunden aus der Wiener Zeit nicht Otto, sondern Peter ge­ nannt wurde. Seine Jugendfreundin Dora Lucka etwa ver­ wen­­­dete noch im englischen Exil Anreden wie »Lieber Peter«, »Lieber Peterfreund«, »Lieber Oberpeter« oder – für Otto und Marie Neurath gemeinsam – »Liebe Peterleute«.19 Die Unterschrift am Kartengruß an Grete Lihotzky lautet: »Herz­ liche Grüße, Peter Pan«. Otto Neurath als Peter Pan, das unternehmungslustige Kind, das niemals erwachsen wird. Im Jahr 1926 ging Grete Lihotzky nach Frankfurt am Main. Es ist nicht viel über den Kontakt zwischen den beiden in den folgenden Jahren bekannt, aber zumindest ihre Arbei­ ten treffen ein paar Jahre später, 1932, in der Wiener Werk­ bundsiedlung beziehungsweise der Werkbundausstellung wieder aufeinander. Neben vielen anderen namhaften Archi­ tekten entwarf auch Schütte-Lihotzky für das Siedlungs­ projekt zwei würfelförmige Hauseinheiten. Als die Werk­ bundsiedlung gebaut wurde, lebte sie aber in Moskau und konnte die Bauausführung vor Ort nicht überwachen.20 Otto Neurath wiederum war auf vielfältige Art und Weise an dem Projekt beteiligt. Er war in Planung und Konzeption invol­ viert, machte selbst Führungen durch die Ausstellung und schrieb zwei Artikel in der »Arbeiter-Zeitung« dazu.21 Be­ geg­­­net sind sie sich die beiden bei der Wiener Werkbund­ ausstellung aber wohl nicht. Entfremdung

Margarete Schütte-Lihotzky, wie sie nach ihrer Heirat im Jahr 1927 hieß, verbrachte nach ihrem Aufenthalt in Frank­ furt die Zeit von 1930 bis 1937 in Moskau. Nach Aufenthalten in London und Paris wurde sie schließlich an die Académie des beaux-arts in Istanbul berufen.22 Noch bevor sie nach Istanbul ging, besuchte sie von Paris aus Otto Neurath und seine damalige Mitarbeiterin und spätere Frau Marie Reide­ meister in Den Haag, wo die beiden seit ihrer Flucht aus Österreich im Jahr 1934 lebten. Die ebenfalls in Den Haag lebende damalige Frau Otto Neuraths, Olga Neurath (geb. Hahn), war am 20. Juli 1937 gestorben. Dieses Zusammen­ 190

19  Die äußerst umfang­ reiche Korrespondenz zwischen Otto Neurath und Dora Lucka befindet sich im Nachlass von Otto und Marie Neurath in der Handschriftensammlung der ÖNB. Vgl. dazu auch Sandner, Otto Neurath, S. 287f.

20  Iris Meder: Margarete Schütte-Lihotzky, Wien– Moskau, in: Andreas Nierhaus/Eva-Maria Orosz (Hg.): Werkbundsiedlung Wien 1932. Ein Manifest des Neuen Wohnens, Wien 2012, S. 220. 21  Otto Neurath: Glück­ liches Wohnen. Die Bedeutung der Werkbund­ siedlung für die Zukunft, in: Arbeiter-Zeitung, 19.6.1932, S. 10; ders.: Ein Schlußwort zur Werk­ bundsiedlung, in: ArbeiterZeitung, 6.8.1932, S. 6. 22  Siehe hierzu auch den Beitrag von Burcu Dogramaci in diesem Band.

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23 Schütte-Lihotzky, Warum ich Architektin wurde, S. 82f.

24  Ebd., S. 120.

25  Ebd.; Marcel Bois: Margarete SchütteLihotzky und das Frank­ furter Institut für Sozial­ forschung, in: maybrief 049, Juni 2018, S. 16f.

treffen führte zu einem Zerwürfnis. In ihren Erinnerungen beschreibt Schütte-Lihotzky ihren damaligen Besuch: »1937 besuchte ich ihn [Otto Neurath, GS] in Den Haag. Fünf Tage wohnte ich in seinem Haus, doch waren es quä­ lende Tage. Wir verstanden uns politisch nicht mehr. Es gab endlose, fruchtlose Debatten. Marie Reidemeister wollte ver­mitteln, ich selbst wollte politische Themen gar nicht mehr berühren. Schließlich gab es ja noch vieles andere, das uns verband. Er aber kam immer wieder auf politische Fragen zurück und quälte sich und mich, ohne daß die so sehr gewünschte Annäherung zustande kam. Hier zeigte sich, wie beharrlich er sein konnte – Vor- und Nachteil zu­ gleich in seinem Leben! Mit verzweifeltem Gesicht, das ich nie vergessen werde, stand er am Bahnsteig in Den Haag, als mein Zug abfuhr. Damals sah ich ihn zum letzten Mal.«23 Worin bestanden die politischen Differenzen? Erstaun­ licher­weise spricht Schütte-Lihotzky dies gar nicht an. Im Roten Wien waren beide, Otto Neurath und Grete Lihotzky, Mitglieder der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei gewe­ sen. Otto Neurath war bereits 1918 Sozialdemokrat gewor­ den, Grete Lihotzky einige Jahre später. Im Unterschied zu Neurath trat sie aber 1927 bereits wieder aus. Sie schrieb da­ zu: »Nach den Ereignissen des 15. Juli 1927 in Österreich trat ich, nach zweieinhalbjähriger Mitgliedschaft, mit einem etwas pathetischen Brief aus der Österreichischen Sozial­ demokratischen Partei aus«.24 Indirekt hatte Otto Neurath sogar mit diesem Austritt zu tun, zumindest, wenn wir der Darstellung von Schütte-Lihotzky folgen. Neurath brachte sie nämlich, als sie nach Frankfurt ging, mit dem ihm bekann­ ten sozialistischen Ökonomen Carl Grünberg zusam­men. Grünberg, Direktor des Frankfurter Instituts für Sozial­ forschung, beeinflusste die österreichische Architektin. Schütte-Lihotzky schreibt: »Carl Grünberg war es, der mir die Augen über die österreichische Sozialdemokratie öffnete und mir bewies, daß sie das Land nicht zum Sozialismus führen würde«.25 Trotz ihrer positiven Haltung zur Sowjet­ union trat sie aber weder in Frankfurt noch in Moskau der kommu­ nis­ tischen Partei bei, sondern erst 1939 während ihres Aufenthalts in der Türkei. Auch Otto Neurath hatte bereits Erfahrungen in der

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Sow­jetunion gesammelt. Er kooperierte mit einem bild­sta­ tis­ti­schen Institut in Moskau, dem Izostat (1931–1934). Ein kleines Team sollte sowjetische Mitarbeiter/innen in der »Wiener Methode der Bildstatistik« ausbilden. Wegen dieser Zusammenarbeit wurde ihm vor allem später sowjetische Propa­­ganda vorgeworfen.26 Auf dieser Kooperation einzu­ gehen, ist hier nicht möglich.27 Sie endete jedenfalls in ma­ terieller Hinsicht negativ, weil eine abschließende Raten­zah­ lung von 6.000 Dollar von den sowjetischen Stellen nicht mehr ausbezahlt wurde und Neurath, als er nach den Feb­ ruar­­ereignissen 1934 ins niederländische Exil gegangen war, mehrere Jahre lang massive Geldprobleme in Den Haag hatte.28 Otto Neurath setzte zwar gewisse Hoffnungen auf die Sowjetunion und wollte sich die Gelegenheit zu einer wei­te­ ren Verbreitung seiner bildstatistischen Methode nicht ent­ gehen lassen. Aber er blieb zeit seines Lebens Sozial­demokrat, und auch für die Kooperation mit Moskau hatte er im Vorfeld das Einverständnis der sdap eingeholt.29 In Briefen aus der Zeit bezeichnete er sich – sei es ironisch, sei es zynisch – als »Sozialfaschist«, also mit der diffamierenden Bezeichnung der Kommunisten für die Sozialdemokraten.30 Obwohl er keinen Text hinterlassen hat, den man als syste­matische Aus­ einandersetzung mit der Sowjetunion bezeich­nen könnte, zeigen viele handschriftliche Anmerkungen in seinen thema­ tisch einschlägigen Büchern, dass er eine ausge­ sprochen distanzierte Haltung eingenommen hatte. Marie Neurath schrieb später an Schütte-Lihotzky, dass ihn die »immer mehr zu Tage tretende Unmenschlichkeit« erschüt­tert habe.31 Wie aus einem späteren Brief von Schütte-Lihotzky hervor­­­geht, hatten sie und Neurath sich in den frühen 1930er Jahren in Moskau getroffen. Diese Gespräche seien, schrieb Marie Neurath, die zum Zeitpunkt des Treffens noch Reidemeister hieß,32 später an Schütte-Lihotzky, von einer »freund­lichen Skepsis« gegenüber der Sowjetunion geprägt gewesen.33 Die damaligen politischen Auseinandersetzungen klangen jedenfalls noch nach, als die beiden 1981 anlässlich der Herausgabe des Sammelbandes »Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit« miteinander korrespondierten. Marie 192

26  Clive Chizlett: Damned Lies. And Statis­ tics. Otto Neurath and Soviet Propaganda in the 1930s, in: Visible Lan­ guage 1992 (26), S. 298– 321; Robin Kinross: Blind Eyes, Innuendo and the Politics of Design. A Reply to Clive Chizlett, in: Visible Language 1994 (28), S. 67–79. 27  Julia Köstenberger: Otto Neuraths »Wiener Methode« im Dienste der sowjetischen Propaganda, in: Verena Moritz u. a. (Hg.): Gegenwelten. Aspekte der österreichisch-sowjeti­ schen Beziehungen 1918– 1938, Wien 2013, S. 275– 282. Emma Minns: Picturing Soviet Progress: Izostat, 1931–4, in: Christopher Burke/Eric Kindel/Sue Walker (Hg.): Isotype. Design and Con­ texts 1925–1971, London 2013, S. 257–280. 28  Sandner, Otto Neurath, S. 231 und S. 236. 29  Ebd., S. 233. 30  Brief Otto Neurath an Martha Tausk, Oster­ montag 1932 oder 1933 (International Institute of Social History, Amsterdam, Martha Tausk Papers), siehe Sandner, Otto Neurath, S. 232. 31  Marie Neurath an Margarete SchütteLihotzky, 22.11.1981, UaK, NL MSL. 32  Otto Neurath und Marie Reidemeister heira­ teten 1941 in England.

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33  Marie Neurath an Margarete SchütteLihotzky, 22.12.1981, UaK, NL MSL.

34  Margarete SchütteLihotzky: Mein Freund Otto Neurath, UaK, NL MSL, Typoskript, S. 5. Interessanterweise ent­ halten auch die Kor­ rekturen Marie Neuraths Fehler, die sich dann in der Endfassung des Beitrags von Schütte-Lihotzky finden – so zum Beispiel die Behauptung, Otto Neurath wäre unter der Regierung Kurt Eisners Präsident des Zentralwirt­ schaftsamtes gewesen. Tatsächlich wurde er dies erst nach der Ermordung von Eisner (siehe Sandner, Otto Neurath, S. 122–132). 35  Marie Neurath an Margarete SchütteLihotzky, 15.11.1981, UaK, NL MSL. 36 Ebd. 37  Margarete SchütteLihotzky an Marie Neurath, (November) 1981, UaK, NL MSL. 38  Margarete SchütteLihotzky an Otto Neurath, 14.11.1938, Nachlass Otto und Marie Neurath, ÖNB, Handschriften­s ammlung, Sig. 1224/17. 39  Vgl. dazu Hans Schafranek: Widerstand und Verrat. Gestapospitzel im antifaschistischen Unter­g rund, Wien 2017, S. 81f.

Neurath war zwar nicht Herausgeberin des Buches, sie las den Text Schütte-Lihotzkys »Mein Freund Otto Neurath«, aus dem das Anfangszitat dieses Beitrags stammt, aber Kor­ rektur. Schütte-Lihotzky behauptete in einer ersten Text­ variante, Otto Neurath sei zum Zeitpunkt ihres Streits in Den Haag bereits »in die äußerste Rechte der Sozialdemokratie geraten«.34 Marie Neurath widersprach entschieden: »Bei Neurath ist keine Rechtsbewegung eingetreten«.35 Sie be­ zeich­nete Schütte-Lihotzky als »gläubige Kommunistin« be­ ziehungsweise, wörtlich: »Für uns war das Unglück, dass Sie ein gläubiger Kommunist geworden waren.«36 SchütteLihotzky war empört: »Ich war damals nicht Kommunistin und fühlte mich nicht so und kann deshalb auch nicht sagen [,] daß ich es war. Und schon gar nicht gläubig.«37 Neurath, so Schütte-Lihotzky, habe in Den Haag das Gespräch immer wieder auf die Sowjetunion gebracht und sie in argumenta­ tive Bedrängnis gebracht. Sie wollte längst nicht mehr über Politik sprechen, doch er habe nicht aufgehört. Was waren die Folgen dieses Zerwürfnisses? Offen­ sicht­lich eine politisch und wohl auch persönliche Ent­frem­ dung, keineswegs aber ein vollständiger Bruch. Ein Brief vom 14. November 1938 aus Istanbul, der einzige von SchütteLihotzky im Neurath-Nachlass der Österreichischen Natio­ nal­bibliothek, zeigt, dass der Kontakt spätestens nach einem Jahr wieder aufgenommen wurde. Schütte-Lihotzky lud darin Otto Neurath und Marie Reidemeister ein, sie in Istanbul zu besuchen, und stellte ein Gästezimmer in ihrer schönen Wohnung in Aussicht.38 Zu diesem Besuch kam es jedoch nicht. Im Dezember 1940 reiste Margarete Schütte-Lihotzky im Auftrag der Partei zurück nach Wien, um im kommunis­ tischen Widerstand tätig zu werden. Schon nach wenigen Wochen wurde sie von einem Spitzel an die Gestapo ver­ra­ ten39 und zu einer 15-jährigen Haft im Zuchthaus verurteilt. In ihren Erinnerungen schreibt sie, sie habe nach dem Krieg er­fahren, dass Otto Neurath sofort eine Geldsammlung für sie organisiert habe, als er von ihrer Verurteilung im national­ sozialistischen Wien gehört hatte. Mit dem gesammelten Geld wollte er ihr das Leben in der ersten Zeit nach der Ent­lassung erleichtern. Sie schreibt: »Diese rührende Hal­

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tung beweist, daß ich in ihm einen guten, treuen und für­ sorglichen Freund verloren habe, der meine Jugend­jahre verschönt und auf meine Entwicklung einen nicht unbe­ deutenden Einfluß ausgeübt hat«.40 Nach dem Ende von Krieg und National­sozialismus versuchte Margarete SchütteLihotzky ihr beruf­liches Leben in Wien neu zu organisieren. Doch die Kom­munis­­­tin erhielt im sozial­demokratischen Nachkriegs­ wien kaum noch öffentliche Aufträge. Immer wieder wird in der Lite­ra­tur darauf ver­wiesen, dass sie ihre Kompetenz und ihre Erfahrungen kaum einbringen konnte. Über Otto Neu­rath schrieb sie: »Im Herbst 1945 wollte er nach Öster­reich zurückkehren, doch ereilte ihn, einige Tage vor der geplan­ten Abreise, ein plötzlicher Tod«.41 Doch in Wahr­heit hatte Otto Neurath seine Zukunftspläne be­reits auf seine neue Heimat England konzentriert, wohin er im Mai 1940 aus Den Haag vor den einrückenden Truppen des national­sozialisti­schen Deutsch­lands geflohen war. Sein plötz­ licher und auch etwas über­ raschender Tod am 22. Dezember 1945 in Oxford durchkreuzte diese Pläne.42

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40 Schütte-Lihotzky, Warum ich Architektin wurde, S. 82; SchütteLihotzky, Mein Freund Otto Neurath, S. 42.

41 Schütte-Lihotzky, Zeitzeugin, S. 631; beinahe wortgleich: Schütte-Lihotzky, Warum ich Architektin wurde, S. 83.

42  Austrian Science Fund (FWF), P 31500G32.

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Margarete SchütteLihotzky und Herbert Eichholzer. Ein Beziehungs­netz und seine Bedeu­­tungen Antje Senarclens de Grancy

Ende September 1945, wenige Monate nach Kriegsende, er­ schien in einem Gedenkband zur Feier »Unsterbliche Opfer, gefallen im Kampf der Kommunistischen Partei für Öster­ reichs Freiheit« ein zweiseitiger Text von Margarete SchütteLihotzky.1 Unter dem Titel »Ein Architekt des Volkes« zeichnete sie darin Leben und Werk des Grazer Ar­chi­­­tekten Herbert Eichholzer nach, der 1943 in Wien wegen »Vorbe­ reitung zum Hochverrat« hingerichtet worden war.2 Sie schrieb von seiner Spezialisierung auf dem Gebiet des Wohn­ baus und nannte einige seiner Bauten, ebenso wichtig war ihr aber, von seiner »reinen, eindeutigen Ge­sin­nung« und seiner »zuversichtliche[n] und mutige[n] Hal­tung im Ge­ fängnis und vor Gericht« zu berichten. Die Fakten über Herbert Eichholzers Rolle und Tätigkeit im kommunistischen Widerstand, über seine Verhaftung und Verurteilung sind heute durch zeithistorische Forschun­ gen der letzten Jahrzehnte weitgehend bekannt.3 Im März 1938 hatte Eichholzer aufgrund seiner politischen Vorge­ schichte Österreich unmittelbar nach dem »Anschluss« ver­ lassen müssen.4 Über Triest und Zürich gelangte er nach 196

1  [Margarete SchütteLihotzky]: Ein Architekt des Volkes, in: Kommunis­ tische Partei Österreichs (Hg.): Unsterbliche Opfer. Gefallen im Kampf der Kommunistischen Partei für Österreichs Freiheit, Wien [1945], S. 69f. Die Gedenkfeier fand am 29.9.1945 im großen Konzerthaussaal in Wien statt. Vgl. Unsterbliche Opfer. Ein Gedenkbuch für die Helden der Kom­ munistischen Partei, in: Öster­r eichische Volks­ stimme, 30.9.1945. 2  Dietrich Ecker: Architekt Herbert Eich­ holzer 1903–1943, techn. Diss., Graz 1984; Antje Senarclens de Grancy/ Heimo Halbrainer: Totes Leben gibt es nicht.

Margarete Schütte-Lihotzky und Herbert Eichholzer

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Herbert Eichholzer 1903– 1943. Architektur – Kunst – Politik, Wien/New York 2004. 3  Vgl. vor allem die For­ schungen von Heimo Halbrainer: Ein Leben für soziale Architektur und Freiheit, in: Senarclens de Grancy/Halbrainer, Totes Leben, S. 22–74, hier S. 60–74; ders.: »Postan­ schrift Villa Leskoschek in Graz« – Das Haus als Treffpunkt des poli­ tischen und kulturellen Widerstands, in: Heimo Halbrainer/Eva Klein/Antje Senarclens de Grancy: Hilmteichstraße 24. Haus Albrecher-Leskoschek von Herbert Eichholzer, Graz 2016, S. 97–135; sowie: Herbert Eichholzer. Archi­ tektur und Wider­s tand, Ausst.-Kat., hg. von Heimo Halbrainer, Graz 1998. 4  Eichholzer war bereits als Student Mit­g lied der Vereinigung Sozialistischer Hochschü­l er und trat 1932 dem Republikani­s chen Schutzbund bei. Er nahm 1934 an den Februar­ kämpfen teil und wurde gemeinsam mit seiner damaligen Mitarbei­t erin und Lebensgefährtin Anna Lülja Simidoff (später verh. Praun) inhaftiert. Nach der Haftentlas­s ung trat er möglicher­w eise der illegalen Kom­m unistischen Partei bei bzw. sympathi­ sierte zumindest mit dieser. Vgl. Halbrainer: Ein Leben, S. 23–74.

Abb. 1: Herbert Eichholzer, Mitte 1930er Jahre, Fotografie

Paris, wo er als politischer Flüchtling in der »Zentralver­eini­ gung österreichischer Emigranten« aktiv war und einige Monate lang erfolglos versuchte, Arbeit als Architekt zu fin­ den. Ab dem Sommer 1938 befand sich in Paris die Aus­lands­ leitung der Kommunistischen Partei Österreichs, und von hier aus wurden Widerstandsaktivitäten gegen das nati­onal­ sozialistische Regime koordiniert. Nach längerem Briefwech­ sel mit Clemens Holzmeister, der gerade an der Planung des türkischen Regierungsviertels in Ankara arbei­tete, er­hielt Eichholzer von diesem schließlich eine Einladung zur Mit­ arbeit in dessen Atelier in Istanbul. Unmittelbar nach seiner Ankunft in der Türkei nahm er Kontakt mit Margarete Schütte-Lihotzky auf, die auf Vermitt­ lung und Einladung von Bruno Taut bereits seit einigen

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Monaten gemeinsam mit ihrem Mann Wilhelm Schütte in Istanbul tätig war.5 Fast ein halbes Jahrhundert später schrieb sie: »Im November 1938 [erschien] bei uns in der Akademie [der Schönen Künste in Istanbul] ein charmanter junger Mann, ein österreichischer Architekt. Er kenne mich dem Namen nach, komme aus Paris und arbeite bei Professor Clemens Holzmeister in Tarabya, einem Villenvorort am Bos­porus. Das war meine erste Begegnung mit Herbert Eich­ holzer, der die Auslandsgruppe der kpö in der Türkei auf­ baute, die für den Widerstand in Österreich und seine Ver­ bin­­dung mit der Auslandsleitung von Bedeutung werden sollte.«6 Eichholzer brach im März 1940 auf, um nach Österreich, in die damalige »Ostmark«, zurückzukehren und dort kom­ mu­nis­tische Widerstandszellen aufzubauen und zu koor­di­ nieren. Margarete Schütte-Lihotzky folgte im Dezember dessel­ben Jahres als Kurierin nach.7 Für Schütte-Lihotzky scheint das Erinnern an den im Alter von 39 Jahren ermordeten und über Jahrzehnte nahezu unbekannten Architekten bis an ihr Lebensende von beson­ derer Bedeutung gewesen zu sein. Im Folgenden möchte ich versuchen, entlang von drei Achsen – gemeinsame Interessen, Zeitzeugnisse und Selbstverständnis – dem Beziehungsnetz zwischen beiden Persönlichkeiten auf die Spur zu kommen und Hinweise dafür zu finden, welche Rolle Herbert Eich­ holzer im Leben Margarete Schütte-Lihotzkys gespielt haben könnte.8 Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten

1982 erzählte Schütte-Lihotzky in einem Interview, sie habe in Istanbul zum ersten Mal in ihrem Leben Zeit gehabt, sich grundlegend »politisch theoretisch ein bißchen zu schulen«.9 Sie habe Verschiedenes gelesen, »Marx und Engels zum Bei­ spiel, ich hatte früher kaum Zeit, so daß ich eigentlich erst von da an mich als Kommunistin betrachtet habe«. Auch die Diskussionen und Gespräche in der Gruppe um Eichholzer10 trugen während der kaum 16 gemeinsam mit Eichholzer in der Stadt verbrachten Monate zur Festigung ihrer eigenen Überzeugungen bei: 198

5  Vgl. Burcu Dogramaci: Architekt, Lehrer, Autor. Wilhelm Schütte in der Türkei (1938–1946), in: ÖGFA/Ute Waditschatka (Hg.): Wilhelm Schütte Architekt. Frankfurt – Moskau – Istanbul – Wien, Zürich 2019, S. 48–62. 6  Margarete SchütteLihotzky: Erinnerungen aus dem Widerstand. Das kämpferische Leben einer Architektin von 1938– 1945, Wien 1985, S. 50f. 7  Die darauffolgenden Ereignisse in beider Leben sind bekannt: Verrat, Verhaftung, Verurteilung, Haft bzw. Hinrichtung im Fall von Eichholzer. Vgl. Schütte-Lihotzky, Erinne­ rungen (1985), sowie den Beitrag von Elisabeth Boeckl-Klamper in diesem Band. 8  In Bezug auf die Quel­ lenlage ist die Beziehung zwischen Schütte-Lihotzky und Eichholzer eine sehr asymmetrische. Überliefert sind nur über Jahrzehnte in Texten, Fernseh- und Radiointerviews festgehal­ tene Erinnerungen von Schütte-Lihotzky an Eich­ holzer. Eichholzer hin­ gegen hat keine Tage­b ü­ cher und nur wenige Briefe hinterlassen, in denen kein Hinweis auf SchütteLihotzky zu finden ist. 9  Transkript der Ton­ bandaufzeichnung eines Interviews mit Margarete Schütte-Lihotzky, 1982, Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW), Wien, Nr. 19584, Bl. 6.

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10  Zur Widerstands­ gruppe um Eichholzer in Istanbul gehörten neben Schütte-Lihotzky auch Wilhelm Schütte, Herbert Feuerlöscher sowie Ines Victoria Maier. 11 Schütte-Lihotzky, Erinnerungen (1985), S. 51. 12  Eichholzer konnte seine Tätigkeit als selb­ ständiger Architekt in Graz nach und neben Praktika (Paris) und Tätigkeiten im Ausland (Griechenland, Türkei, Sowjetunion) vor 1938 kaum zehn Jahre lang ausüben. Mit Aus­n ahme eines Arbeiter­w ohnhauses im steirischen Judenburg erhielt er keine öffentlichen Bauaufträge. 13  Vgl. Schütte-Lihotzky, Erinnerungen (1985), S. 50; Halbrainer, Ein Leben, S. 57. 14  So arbeitete Lihotzky nach ihrem Studium in den Niederlanden, später in Frankfurt und Moskau und reiste 1934 nach China und Japan, außerdem hielt sie sich etwa ein Jahr lang in Frankreich auf. Eichholzer reiste 1927 nach Abessinien, arbeitete als Bauleiter für Stahl­ häuser in Griechenland und der Türkei und war 1929 in Paris und 1932 in Moskau tätig. 15  Margarete SchütteLihotzky: Warum ich Archi­ tektin wurde, hg. von Karin Zogmayer, Salzburg 2004, S. 65 und S. 188.

»Für jeden von uns war dies eine Zeit befriedigender, sinnvoller Arbeit: theoretische Auseinandersetzung mit dem Marxismus in direkter Verbindung mit dem Widerstand in Österreich, mit der Möglichkeit der praktischen Unterstüt­ zung.«11 Obwohl Eichholzer sechs Jahre jünger als SchütteLihotzky und im Vergleich zu ihr beruflich weniger erfahren war,12 hatte sich schnell eine Vertrauensbasis zwischen beiden ent­wickelt. Begründet war dies wohl in der Entscheidung für eine Beteiligung am kommunistischen Widerstand13 und in der bedingungslosen Bereitschaft, dafür auch ein persön­ liches Risiko einzugehen, ging jedoch über ein parteipoli­ tisches Engagement hinaus. Sowohl Schütte-Lihotzky als auch Eichholzer verfügten schon in jungen Jahren über eine hohe Mobilität, wenn es um Arbeitstätigkeiten oder Praktika im Ausland ging, und hatten Erfahrungen auf weiten Reisen in Asien bzw. Afrika gesammelt.14 Wenn sie einander zuvor auch nie persönlich begegnet waren – weder in Wien noch während ihrer Tätigkeiten in Moskau oder Paris –, so hatten sie doch eine Reihe gemeinsamer Bekannter und Kollegen im Feld der Architektur (etwa Le Corbusier,15 der besonders für Eichholzer von Bedeutung war, oder Ernst May) sowie ein verbindendes Referenzsystem im Hinblick auf aktuelle Themen und Lösungsvorschläge des Neuen Bauens und des zeitgenössischen Wohnbaus. Beide hatten früh für sich selbst erkannt, dass es nicht genügte, »Architekt mit Leib und Seele«16 zu sein und die eigenen Auffassungen durch Projekte, aber auch Vorträge oder Ausstellungen möglichst zu verbreiten, sondern »daß das Primäre für den Architekten der Kampf für jene gesell­ schaftliche Struktur sein muß, ohne die seine architekto­ nischen Vorstellungen nicht verwirklicht werden können«.17 Eichholzers politisches Engagement in der Sozialdemokratie hatte bereits 1934 nach dem Februaraufstand zu mehreren Wochen Haft geführt. Zu den wichtigsten Gemeinsamkeiten gehörten sicher die Erfahrungen, die beide in der Sowjetunion gemacht hatten. Eichholzers mehrmonatiger Aufenthalt in Moskau (von September bis Dezember 1932) fiel in den Zeitraum jener Jahre, während der Margarete Schütte-Lihotzky dort

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arbeitete. Eichholzer war im Umfeld der Brigade May tätig, beide arbeiteten am Standartgorprojekt mit.18 Zur Gruppe May gehörten neben den Architekten aus Frankfurt auch noch rund 150 Ausländer, die – wie Eichholzer – wegen Ar­ beits­losigkeit und Auftragsmangel in der Sowjetunion Arbeit suchten.19 In einem Brief an seinen Grazer Bürokollegen Rudolf Novotny schrieb Eichholzer im Oktober 1932: »Ich bin nach 4 Wochen gutbezahltem Nichtstun end­ lich zu einem großen Projektierungstrust (es ist der grösste hier) gekommen. Hier arbeitet auch die Gruppe Mai [May], dann Stam, Hans Schmied [Schmidt] (Basel) und derlei Grössen mehr, Bruno Taut ist im Nachbartrust.«20 Er selbst bekam die Aufgabe, einen Standardwohntyp mit nach Norden und Süden gerichteten Hauptfassaden zu

16  [Schütte-Lihotzky], Ein Architekt des Volkes, S. 69. 17 Ebd. 18 Gedächtnisprotokoll eines Gesprächs zwischen Dietrich Ecker und Margarete SchütteLihotzky, Mai/Juni 1985, Archiv der TU Graz, Nachlass Dietrich Ecker, Bestand Herbert Eichholzer, Karton 3, Ordner 5. Vgl. Thomas Flierl (Hg.): Standard­ städte. Ernst May in der Sowjetunion 1930– 1933. Texte und Dokumente, Berlin 2012. 19  Vgl. dazu den Aufsatz von Thomas Flierl in diesem Band sowie Thomas Flierl: »Vielleicht die größte Aufgabe, die je einem Architekten gestellt wurde«. Ernst May in der Sowjetunion (1930–1933), in: Claudia Quiring u. a. (Hg.): Ernst May (1886– 1970). Neue Städte auf drei Kontinenten, München u. a. 2011, S. 156–195, hier S.  157. 20  Brief von Herbert Eichholzer an Rudolf Novotny, 14.10.1932, Archiv der TU Graz, Nach­ lass Dietrich Ecker, Be­ stand Herbert Eichholzer, Karton 3, Ordner 5. 21  Herbert Eichholzer: Architektur in Sowjet­ russland – ein Weg zurück!, in: Tagespost, 25.12.1932.

Abb. 2: Modell eines Gemeinschaftswohnhauses für Moskau, 1932/33, Fotografie

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22  Interview von Edith Friedl mit Margarete Schütte-Lihotzky am

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1.11.1999 in Wien, zitiert nach: Edith Friedl: Nie erlag ich seiner Persön­ lichkeit. Margarete Schütte-Lihotzky und Adolf Loos. Ein sozial- und kultur­g eschichtlicher Vergleich, Wien 2005, S. 207. 23  Vgl. Antje Senarclens de Grancy: Herbert Eichholzer und Clemens Holzmeister. Eine (un-) mögliche Beziehung zwischen Architektur und Politik, in: Christoph Hölz (Hg.): Gibt es eine Holzmeister-Schule? Clemens Holzmeister (1886–1983) und seine Schüler, Innsbruck 2015, S. 217–244. 24 Gedächtnisprotokoll eines Gesprächs zwischen Ecker und SchütteLihotzky. 25  Vgl. Christine Kanzler: Maier Ines Victoria, Deck­ name: Wera, in: Ilse Korotin (Hg.): biografiA. Lexikon österreichischer Frauen, Wien 2016, Bd. 2, S. 2076f.; SchütteLihotzky, Erinne­r ungen (1985), S. 119f. 26  Im Todesurteil von Herbert Eichholzer heißt es zu dessen Tätigkeit bei Holzmeister: »Schon der Mitarbeiterkreis Holz­ meisters war durchweg gegen die nationalso­ zialistische Staatsführung eingestellt, was sich vor allem daraus ergibt, daß die leitenden Angestellten Waldapfel und Reichl Volljuden waren. Zu der Architektin Ines Victoria

entwickeln, während ihn aber mehr der Entwurf für ein Boardinghaus mit 24 Wohnzellen pro Etage interessierte (Abb. 2). Enttäuscht von den Arbeitsbedingungen in der Sowjetunion und dem Elend, das er dort beobachtete, kehrte er schon im Dezember 1932 nach Graz zurück.21 Eine be­ sondere Rolle im Beziehungsgefüge zwischen Margarete Schütte-Lihotzky und Herbert Eichholzer spielte der öster­ reichische Architekt Clemens Holzmeister, zumal die Archi­ tektin in den Medien und in Fachpublikationen bis heute immer wieder fälschlicherweise als Holzmeister-Mitarbei­ terin bezeichnet wird, was sie selbst in einem Interview kor­ rigierte: »Ich habe nie mit Holzmeister gearbeitet, ich war nur zur selben Zeit wie er in Istanbul.«22 Sowohl Eichholzer als auch Schütte-Lihotzky scheinen bereits in jüngeren Jahren durch Holzmeisters 1922 fertig­ gestellte Wiener Feuerhalle am Zentralfriedhof beeindruckt gewesen zu sein. Eichholzer war seit Anfang der 1930er Jahre mit dem 17 Jahre älteren Architekten gut befreundet23 und hatte ihn oft in Wien und in dessen Haus am Hahnenkamm in Tirol besucht. Die Nähe zu Holzmeister mag erstaunen angesichts der Tatsache, dass der ältere Architekt als promi­ nenter und mächtiger Repräsentant des autoritären öster­ reichischen »Ständestaates« am anderen Ende des politi­ schen Spektrums stand. Später – wohl auch aufgrund der drama­ti­schen politischen Ereignisse – verbreiterte sich in architek­ tonischen Belangen der Graben zwischen ihnen. Schütte-Lihotzky erinnerte sich, dass Eichholzer in Istanbul wegen der Architektur »unglücklich bei Holzmeister« ge­ wesen sei: »Sie haben nie über Architektur geredet.«24 Bis zu welchem Grad bzw. wie detailreich Holzmeister selbst über die Wider­ standsaktivitäten Bescheid wusste – immerhin waren zwei seiner Mitarbeiter/innen in Istanbul, neben Eichholzer auch seine ehemalige Schülerin an der Wiener Akademie Ines Victoria Maier,25 beteiligt – kann heute nicht mehr rekons­truiert werden.26 Trotz unterschiedlicher politischer und weltanschau­ licher Einstellungen und Engagements hatte SchütteLihotzky in den Nachkriegsjahrzehnten keine Vorbehalte gegenüber Holzmeister, obwohl sie sich selbst zu dieser Zeit als »persona non grata« bezeichnete, da sie Kommunistin

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Maier, die später vom Aus­ landsapparat der KPÖ als Kurierin in die Ostmark entsandt wurde, trat er in engeren Kontakt.« Urteil des Volksgerichtshofs gegen Herbert Eichholzer, 9.9.1942, 7 J 257/41, Bundesarchiv Berlin, R 3017/26246, Bl. 4.

Abb. 3: Margarete Schütte-Lihotzky: Clemens Holzmeister. Baumeister und Künstler, zum 75. Geburtstag, in: Stimme der Frau, 1961

geblieben war. 1961 gratulierte sie in »Stimme der Frau«, der Zeitschrift der kommunistischen Frauenbewegung Öster­ reichs, Holzmeister mit fast überschwänglichen Worten zu dessen 75. Geburtstag27 (Abb. 3). Er habe die »unglückliche Nazizeit« in der Türkei verbracht, als Lehrer Hunderte von Architekten herangebildet und sei »zutiefst mit der österrei­ chischen Kunst, vor allem dem Barock, verbunden«. 1999 sagte sie schließlich in einem Interview: »Ich bejahe die Architektur von Holzmeister nicht 100%ig. Ich war aber mit ihm sehr gut.«28 202

27  Grete SchütteLihotzky: Clemens Holzmeister: Baumeister und Künstler, in: Stimme der Frau, 1961, S. 21.

28  Zitiert nach: Friedl, Nie erlag ich, S. 207.

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Zeitzeugnisse

29  Brief von Anna Lülja Praun an Dietrich Ecker, 17.7.1970, Archiv der TU Graz, Bestand Herbert Eichholzer, Karton 3, Ordner 5. 30  Ecker, Architekt Herbert Eichholzer. 31  In seiner Dissertation erwähnt Ecker SchütteLihotzky nur in einer Auf­ zählung einiger Mitarbeiter von Ernst May in Moskau. Ihre Beteiligung an der Widerstandsgruppe in Istanbul war ihm offen­ sichtlich noch nicht be­ kannt. Ecker, Architekt Herbert Eichholzer, S. 76. 32 Gedächtnisprotokoll eines Gesprächs zwischen Ecker und SchütteLihotzky.

In den 1960er Jahren suchte eine jüngere Generation von Architekt/innen und Architekturhistoriker/innen die trau­ ma­tische Zeit des Nationalsozialismus und den darauf fol­ genden dumpfen Nachkriegsfunktionalismus durch einen Blick in die Zeit davor zu überwinden, wobei die Wieder­ entdeckung des Vergangenen auch der eigenen Positionie­ rung gegenüber einem hegemonialen Geschichts- und Kul­ tur­­verständnis diente. Parallel dazu erwachte international das Interesse für die Architektur der Zwischenkriegszeit, und es kam zu einer Historisierung der – nun als »klassisch« bezeichneten – Moderne. 1968 begann in Graz Dietrich Ecker, Mitglied des Architekturbüros Team A, zur »modernen Ar­ chi­­­tektur« in der Steiermark zu recherchieren und stieß dabei auf den damals nahezu vergessenen Herbert Eich­ holzer. Er suchte die noch lebenden Zeitzeug/innen auf, führte In­ter­views und leistete die mühsame Pionierarbeit der Samm­­lung von Archivalien. Im Sommer 1970 wandte er sich auch schriftlich an Clemens Holzmeister, der seit 1949 wieder an der Wiener Akademie der bildenden Künste unterrichtete. Dieser schickte Eckers Brief jedoch kommen­ tarlos an Anna Lülja Praun (geb. Simidoff), Eichholzers ehemalige Büro­mitarbeiterin und Lebensgefährtin, weiter29 und antwortete offensichtlich nicht. Erst 1985, wenige Monate nach Abschluss seiner Dis­­ sertation über Eichholzer,30 kontaktierte Ecker Margarete Schütte-Lihotzky. Es ist anzunehmen, dass erst das Erschei­ nen ihres Buches »Erinnerungen aus dem Widerstand« im selben Jahr und das publizistische Interesse daran ihn auf diese wichtige Zeitzeugin aufmerksam machten.31 Im Inter­ view mit der Architektin sagte diese zum Schweigen des zwei Jahre zuvor verstorbenen Clemens Holzmeister, der Eich­ holzer – bewusst oder unbewusst – eine materielle Basis für die kommunistische Widerstandstätigkeit geboten hatte: »Das gibt es nicht, daß sich Holzmeister nicht erinnert«, sie habe mit ihm sogar selbst über Eichholzer gesprochen.32 Von der Zeitzeugin Schütte-Lihotzky erfahren wir eine Reihe von Momenten, die als Puzzlesteine erst ein Verständ­ nis von Eichholzers Denken ermöglichen. Sie informierte vor allem über dessen theoretische Position und korrigierte

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damit die Einschätzung mancher Zeitgenossen aus der Grazer Zeit bis 1938, die den Architekten immer wieder als »Salonsozialisten« oder »Edelkommunisten« bezeichneten. Möglicherweise in der Hoffnung, den Architekten im kommu­nismusfeindlichen Nachkriegs-Österreich rehabili­­ tie­ren zu können, hatte etwa 1956 Gustav Scheiger, der ehe­ malige Sekretär der von Eichholzer entscheidend mitgepräg­ ten Grazer Sezession, diesen als Kommunist beschrie­ben, »[w] enigstens im Sinne Picassos, Joliot-Curies, Bertolt Brechts und vieler anderer bedeutender Köpfe, die eine nicht ganz objektive Öffentlichkeit mit dem Schlagwort ›Salon­ bolschewismus‹ abzutun glaubt.«33 Margarete Schütte-Lihotzky hingegen sprach von Eich­ holzer als »überzeugte[m] Marxisten«.34 Die gesell­schaft­ liche und politische Radikalisierung in Österreich vor dem »Anschluss« und die besonderen Umstände im Exil scheinen Eichholzer zu einer geschärften Position und einer präziseren theoretischen Auseinandersetzung gebracht zu haben. Von Schütte-Lihotzky erfahren wir auch, dass Eich­holzer in den Monaten des Exils in Paris daran arbeitete, die Entwicklung der Architektur, die nun unter dem Zeichen des National­ sozialismus zu einem ideologischen Instrument eines TerrorRegimes geworden war, aus der Perspektive des Marxismus theoretisch zu durchdringen. Er habe »in einer größeren theoretischen Arbeit, betitelt: ›Faschistische Ar­chi­tektur‹ eine Untersuchung der Tendenzen der Baukunst im Dritten Reich durch[geführt], auf Grund der wissen­ schaft­ lichen Methode des dialektischen Materialismus«.35 Möglicher­ weise war dieses nicht erhaltene Manuskript eine Gegenposi­ tionierung zu einem Textentwurf des Architekten Franz Schacherl über den »Baustil der Diktaturen« für die noch im Frühjahr 1938 geplante zweite Ausgabe der antifa­schistischen Zeitschrift »Plan«, an der auch Eichholzer maßgeblich be­ teiligt war.36 Erinnerung und Selbstverständnis

Schütte-Lihotzkys eingangs erwähnter Text »Ein Architekt des Volkes« von 1945 ist nicht als persönliche Erinnerung einer Weggefährtin37 formuliert, sondern als Versuch, Eich­ holzers Persönlichkeit aus einer distanzierten Position her­ 204

33  Gustav Scheiger: Ist der Architekt Herbert Eichholzer vergessen?, in: Österreichisches Tagebuch, 3.11.1956. 34 Gedächtnisprotokoll eines Gesprächs zwischen Ecker und SchütteLihotzky. 35 [Schütte-Lihotzky], Ein Architekt des Volkes, S. 70. 36  Vgl. Brief von Otto Basil an Herbert Eich­ holzer, 20.1.1938, S. 3, in: Archiv der TU Graz, Nachlass Dietrich Ecker, Bestand Herbert Eich­ holzer, Karton 3, Ordner 5. Zum »Plan« vgl. Günter Eisenhut: Das erste Heft der legendären Kultur­ zeitschrift »Plan«, in: Senarclens de Grancy/ Halbrainer: Totes Leben, S. 82–91. 37  Die letzten Kontakte zwischen beiden bestan­ den in Nachrichten und Grüßen, die sie einander in den letzten Monaten des Jahres 1942 von Gefäng­ nis zu Gefängnis übermit­ telten. Vgl. SchütteLihotzky, Erinnerungen (1985), S. 120–122.

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38  Vgl. Schriftenver­ zeichnis, in: Margarete Schütte-Lihotzky. Soziale Architektur. Zeitzeugin eines Jahrhunderts, Ausst.-Kat. MAK – Öster­ reichisches Museum für angewandte Kunst, Wien, hg. von Peter Noever, Wien ²1996, S. 293–297.

39  Jan Tabor: »Sie waren so elegant«. Margarete Schütte-Lihotzky (1897–2000), in: Falter, 26.1.2000.

aus gerecht zu werden und ihn vor allem als bis zur letzten Konsequenz gesellschaftlich verantwortungsbewussten Ar­ chi­­tekten sichtbar zu machen. Der Aufsatz nimmt eine deut­ liche Ausnahmestellung im schriftlichen Werk der Architek­ tin ein, nachdem sie in den 1920er Jahren vor allem Texte über ihre eigenen Projekte und allgemeine Fragen des ratio­nalen Bauens publiziert hatte. Es ist der erste ihrer Aufsätze über Zeitgenoss/innen und Architektenkollegen.38 Darauf folgte – erst mit mehreren Jahrzehnten Abstand – in den 1970er und 1980er Jahren eine Reihe von Erinnerungstexten in Zeit­ schrif­t en und Ausstellungskatalogen über ehemalige Weg­ge­ fährten wie Adolf Loos, Otto Neurath, Oskar Strnad, Walter Gropius, Josef Frank und Ernst May. Diese Persönlich­keiten unterschieden sich jedoch von Eichholzer dadurch, dass sie sich schon vor dem Krieg in etablierten Positionen befanden und alle bereits mehr oder weniger international in ihrer Bedeutung anerkannt bzw. von der Architekturfor­schung wiederentdeckt worden waren. Schütte-Lihotzky forderte über Jahrzehnte immer wie­ der die Erinnerung an den von der Öffentlichkeit ver­ges­ senen und verdrängten Herbert Eichholzer ein und suchte das Ungleichgewicht in der Aufmerksamkeit zu korrigieren. So berichtet Jan Tabor von einem ersten Treffen mit ihr im Jahr 1978, das Harald Sterk, der damalige Kunstkritiker der »Arbeiter-Zeitung«, initiiert hatte. Sie habe die Fragen zu Loos, Frank, May, Le Corbusier oder Taut nicht beantworten wollen: »Sie wollte über Herbert Eichholzer sprechen, den talentierten Architekten aus Graz, der ebenfalls aus der Türkei nach Österreich zurückgekehrt und 1943 hingerichtet worden war. Für ihn wollte sie Anerkennung erreichen.«39 Oft wiederholte Schütte-Lihotzky, dass sie als Einzige ihres engeren Widerstandskreises für ein freies Österreich überlebt hatte. 1985 veröffentlichte sie deshalb ihr Buch »Erinnerungen aus dem Widerstand«, das – auch im Zusam­ menhang mit einer neuen Erinnerungskultur in Österreich in Folge der »Waldheim-Affäre« 1986 – international Auf­ merk­­samkeit erreichte. Das Erinnern an Eichholzer im Speziellen hatte für sie wohl auch eine Funktion in der Bearbeitung ihrer eigenen Lebensgeschichte, hatte er doch als Architekt dieselbe

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Profession wie sie selbst und als solcher dieselbe gesell­ schaftliche Rolle. Es klingt, als meinte sie sich selbst, wenn sie 1945 schreibt: »Er gehörte zu jener leider noch kleinen Gruppe von Architekten, die das Elend der Massen voll und ganz emp­ finden und durch ihre berufliche Arbeit dazu beitragen wol­ len, dieses Elend wenn nicht zu beseitigen, so doch we­nig­s­ tens zu lindern. Es sind dies jene Architekten, welche die Be­friedigung ihrer eigenen künstlerischen Ambitionen weit zurückstellen gegen den Wunsch, der Allgemeinheit zu die­ nen, jene denen es viel, viel wichtiger erscheint, ihren kleinen Einzelanteil zu leisten, das Wohnniveau der Massen zu heben, als für reiche Leute Villen zu bauen. Schon sehr früh erkannte er, daß die Verwirklichung seiner beruflichen Ideale von der Struktur der Gesellschaft abhängt. Zwangs­läufig kam er von den Fragen des Wohnungsbaues zu denen des gesamten Städtebaues, zu jenen Fragen, in denen sich der ernste, verantwortungsbewußte Architekt mit den Proble­men der Eigentumsverhältnisse, der ganzen Wirtschaft und Gesell­ schaft auseinandersetzen muß.«40 Möglicherweise übernahm Eichholzer also in SchütteLihotzkys Erinnerungen so etwas wie die Rolle eines Alter Egos – oder zumindest einer jüngeren, männlichen Identi­ fikationsfigur. Auch für sie stellte sich die Frage, wie weit das En­ ga­­ gement für Architektur gehen und welche Konse­ quenzen zu tragen man bereit sein müsse. Im Hinblick auf das Entsetzen über die Sinnlosigkeit des Sterbens ihrer Weg­ gefährt/innen gab ihr aber die Erinnerung an Eichholzer auch Gelegenheit, ihre eigene Widerstandsarbeit zu deuten. Mitte der 1990er Jahre sagte sie in einem Gespräch mit Gabu Heindl und Martin Engelmeier: »Herbert Eichholzer ist hin­ gerichtet worden. Viele sind aus Überzeugung gestorben. Immer noch besser, als wahllos als Soldat im Feld erschossen zu werden.«41 Und zu ihrer Entscheidung für die Betätigung im Widerstand erklärte sie 1982 schließlich: »Wer A sagt muß auch B sagen, da kann ich nicht auf einmal sagen, jetzt fahr ich doch nicht und das ist mir auch gar nicht in den Sinn gekommen. Und dann geht man in diese Gefahr wahrscheinlich ähnlich wie ein Soldat, man denkt viel­leicht, den einen trifft die Kugel, den andern trifft sie viel­ 206

40 [Schütte-Lihotzky], Ein Architekt des Volkes, S. 69.

41  Gabu Heindl/Martin Engelmeier: Architektur und Widerstand. Auszüge aus Gesprächen mit der Architektin Margarete Schütte-Lihotzky über ihre Widerstandsarbeit im 2. Weltkrieg, in: pblattform BOKU-live Nr. 4/95 Mai 1995, online unter: http:// www.gabu-wang.at/ widerstand.html (abgerufen am 12.4.2018). 42  Transkript der Ton­ bandaufzeichnung eines Interviews mit SchütteLihotzky, 1982, DÖW Wien, Nr. 19584, Bl. 9.

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leicht nicht. Ich meine, mehr ist da nicht dabei. Wenn man etwas wirklich tun will und es für notwendig hält, dann macht mans eben […].«42

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Wilhelm Schütte – im Schatten Lihotzkys? David Baum

Wilhelm Schütte1 war bereits zwölf Jahre tot und Margarete Schütte-Lihotzky 83 Jahre alt, als sie 1980 den Preis der Stadt Wien für Architektur verliehen bekam und damit erstmals außerhalb engerer Fachkreise wahrgenommen wurde. In den 1970er Jahren nahm das Interesse an der Geschichte des Neuen Frankfurt zu, und Schütte-Lihotzky war eine der we­ ni­gen noch ansprechbaren unmittelbar Beteiligten aus dem Umfeld von Ernst May. Konfrontiert mit vielen Anfragen und Interviews, sah sie sich quasi gezwungen, sich mit »ihrem« Archiv zu beschäftigen. 1978, anlässlich des zehnten Todestags von Wilhelm Schütte, hielt sie in Istanbul eine Rede vor seinen ehemaligen Studenten.2 1985 erschienen ihre »Erinnerungen aus dem Widerstand«, und im Alter von rund 90 Jahren begann sie an dem postum 2004 erschiene­ nen Buch »Warum ich Architektin wurde« zu schreiben.3 Sie starb im Jahr 2000 im Alter von fast 103 Jahren und überlebte damit ihren Ehemann, von dem sie sich in den 1950er Jahren getrennt hatte, um mehr als 30 Jahre. Es ist verständlich, dass sie aus ihrer subjektiven Perspektive berichtete, hoch­betagt nicht mehr alle Fakten genau wieder­ geben konnte oder be­wusst oder unbewusst aussparte. Aus heutiger Sicht ist jeden­­­falls mehr in Zusammenarbeit des Ehepaares – auch nach der Trennung – entstanden als bisher bekannt. Der Nach­­lass Schütte-Lihotzkys enthält Material, das Wilhelm Schüttes Handschrift trägt. Bei vielen Werken müsste die Autor­­schaft, auch wenn sie einzeln gekennzeich­ net ist, bei­den zugeschrieben werden. Sie firmierten als »die Schüttes«. Dennoch ist dieser Beitrag dem bislang von der 208

1  Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine modifizierte Version folgender Aufsätze: David Baum: Wilhelm Schütte und die Ära des Reform­ schulbaus im Neuen Frankfurt (1925–1930), sowie ders.: Wilhelm Schütte als Ver­m ittler und Architekt im NachkriegsWien (1947–1968), in: ÖGFA/Ute Waditschatka (Hg.): Wilhelm Schütte Architekt. Frankfurt – Moskau – Istanbul – Wien, Zürich 2019, S. 8–23 und 64–91. 2  Margarete SchütteLihotzky: Ansprache für Istanbul, Juni 1978, Typo-/ Manuskript, Nachlass Margarete SchütteLihotzky, Archiv der Uni­ versität für angewandte Kunst, Wien (UaK, NL MSL), TXT/274. 3  Margarete SchütteLihotzky: Erinnerungen aus dem Widerstand, hg. von Chup Friemert, Hamburg 1985; dies.: Warum ich Architektin wurde, hg. von Karin Zogmayer, Salzburg 2004.

Wilhelm Schütte – im Schatten Lihotzkys?

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4  Paul Wilhelm Ferdinand Schütte, Auszug aus dem Taufregister der evangeli­s chen Gemeinde Heißen, 4.4.1902. Sonderbestand »Wilhelm Schütte« im Nach­l ass Margarete SchütteLihotzkys (UaK, NL MSL, WS). 5  Vgl. D. Rosenkranz, bearb. von W. Heynen: Die Mülheimer Pfarrer von 1610 bis 1960, in: Evan­ gelische Kirchen­g emeinde Mülheim am Rhein (Hg.): 350 Jahre (1610– 1960) Evangeli­s che Kirchenge­m einde Mülheim am Rhein, Essen 1960, S. 45–51, hier S. 47. 6 Diplomvorprüfungs­ akte. Universitätsarchiv TU Darmstadt, 102 Nr. 9035. 7  Wohnadresse: Im Geissensee 11, ebd. 8  Vgl. Zeugnisse, UaK, NL MSL, WS. 9  Zeugnis Städtisches Hochbauamt Frankfurt am Main, 10.10.1930, UaK, NL MSL, WS. 10  Wilhelm Schütte: Vom Neuen Bauen in Frankfurt am Main. I. Haus May in Ginnheim bei Frankfurt am Main, in: Der Baumeister, 3/1927, S. 61–65. 11  Zeugnis Städtisches Hochbauamt Frankfurt am Main. 12  Vgl. Kurt Schäfer: Schulen und Schulpolitik in Frankfurt am Main,

Re­zeption einer der ersten Architektinnen überschatteten Schaffens­partner gewidmet. Herkunft und Studium

Wilhelm Schütte wurde am 14. August 1900 in Heißen bei Mülheim an der Ruhr geboren4 und wuchs in Köln auf, wo sein Vater, ein Pfarrer, 1902 eine Gemeinde übernahm.5 Nach Ablegung der Notreifeprüfung im Kriegsjahr 1917 be­ gann er erste praktische Erfahrungen auf Baustellen und in Bau­büros zu sammeln. Parallel schrieb er sich 1918 an der Tech­­ni­schen Hochschule Aachen im Fach Bauingenieurwe­ sen ein, musste aber von Juni bis November noch Militär­ dienst leis­ten.6 1918/19 wechselte Schütte an die Technische Hochschule Darmstadt, wo sein Weg oft den Fuß der Mathil­ denhöhe mit ihren Bauten von Joseph Maria Olbrich, Peter Behrens und anderen streifte.7 Nach dem Vordiplom im Oktober 1920 prak­­tizierte Wilhelm Schütte als Architekt und Bauführer bei Karl Doll in Essen. Ab 1921 studierte er Archi­ tektur an der Technischen Hochschule München und arbei­ tete 1922 bei Martin Elsaesser in Köln. Im Wintersemester 1922/23 schloss Schütte sein Studium bei Theodor Fischer in München ab, der ihn anschließend bis September 1923 in seinem Büro beschäftigte. Schütte setzte seine Arbeit an der »Post­bau­schule« fort, wo er als Baureferendar ein Postwohnund Übernach­tungsgebäudes in Berchtesgaden plante und reali­sierte.8

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Leiter der Schulbauabteilung des Neuen Frankfurt

Nach Abschluss seiner Regierungsbaumeisterprüfung zählte Wilhelm Schütte ab 1. November 1925 zu den ersten Mitar­­ beiter/innen, die am Neuen Frankfurt mitwirkten.9 Bald begann er darüber in einer Serie von Artikeln für die Zeit­ schrift »Der Baumeister« zu berichten.10 Als erste Aufgabe für das Hochbauamt hatte Wilhelm Schütte die »Entwurfs­ bearbei­tung und Bauleitung der Konrad-Haenisch-Schule mit Kinder­anstalten«11 übertragen bekommen. Es handelte sich hierbei um den ersten Schulneubau des Neuen Frankfurt und wurde bereits nach Erkenntnissen der Reformpäda­ 12 gogik entworfen. Schütte war in Folge an allen Schulneu­ bauten Frankfurts der Zwischenkriegszeit beteiligt.13 209

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Schon ab 1927 setzte er sich theoretisch mit Pavillon­ schulen auseinander.14 Im Juli 1928 wurden die Frankfurter Richtlinien für die Projektierung von Schulneubauten vor­ gelegt. Die vorangegangenen Diskussionen zwischen Päda­ gog/innen und Architekt/innen hatten in der neuen und von Schütte geleiteten Abteilung für Schulbau stattgefunden.15 Der wohl einflussreichste der beratenden Pädagogen war Fritz Karsen, der die Dammwegschule in Berlin-Neukölln mit Bruno Taut plante.16 Schütte und Karsen verfassten je­ weils im Doppel Artikel in »Der Baumeister« und in der »Internationalen Zeitschrift für Erziehungswissenschaft«.17 1928 wurde der Taut-Karsensche Plan für die Gesamtschule am Dammweg veröffentlicht und eine Probeklasse errich­ tet.18 Diese war vermutlich Vorbild zur Entwicklung eines Proto­ typs für Ernst Mays im gleichen Jahr vorgestellten Entwurf einer Reformschule am Bornheimer Hang in Frankfurt. Aus Schüttes Experimentalbau entstand im Früh­ jahr 1930 der »Pavillon der Freiklassen« bei der Frankenstei­ nerschule – unweit der Wohnung, die das frisch verheiratete Ehepaar Schütte-Lihotzky im Frühjahr 1927 bezogen hatte.19 Kurz zuvor waren sie mit einem Kleingartenhüttentyp und einem vergrößerungsfähigen Wochenendhaus »Li-Schü« auf der Ausstellung »Die neue Wohnung und ihr Innenaus­ bau« ver­treten gewesen. »Wenn alles, was wir gemeinsam hervor­bringen so gut wird wie das Wochenendhaus, so kön­ nen wir zufrieden sein«, schrieb Schütte-Lihotzky20 (Abb. 1). Für die städtischen Frankfurter Schulen entwickelte Wilhelm Schütte genormte Typen von Schulmöbeln, teils das gleiche Modell in mindestens vier Größen, sowie Mobiliar für Spezialklassen, Werkunterrichts-, Handarbeits- und Laborräume etc.21 Auf dem ciam-Kongress 1929 in Frankfurt führte er durch die von ihm unter Elsaessers Leitung geplante Römer­ stadt­schule.22 In der wie der Kongress betitelten Ausstel­lung »Die Wohnung für das Existenzminimum« zeigte das Ehe­ paar Schütte den Grundriss einer »Wohnung des Fabrik­ar­ beiters«. Der Eröffnungstag fiel zusammen mit dem Börsen­ sturz in New York (dem »Schwarzen Donnerstag«) und gewann so mit seiner bauökonomischen Thematik frappant an Aktualität. 210

1900–1945, Frankfurt am Main 1994, S. 237. 13  Zu den einzelnen Schulen siehe Baum, Schütte und die Ära des Reformschulbaus, S. 12. 14  Zeugnis Städtisches Hochbauamt Frankfurt am Main. 15  Vgl. Jutta Frieß: Der Frankfurter Reformschul­ versuch 1921–1937. Verdrängt und vergessen, Frankfurt am Main 2007, S. 214–238. 16  Vgl. Ute Maasberg/ Regina Prinz: Verzeichnis der Werke, in: Winfried Nerdinger u. a. (Hg.): Bruno Taut 1880–1938. Architekt zwischen Tradi­ tion und Avantgarde, Stuttgart/München 2001, S. 310–395, hier S. 374f. Karsen, zugleich Lehrbe­ auftragter für praktische Pädagogik an der GoetheUniversität, war oft in Frankfurt, das ein Zentrum der Reformschulbewegung in der Weimarer Republik war. Sofern es seine rege Bautätigkeit während dieser Zeit in Berlin zuließ, kam auch Taut an den Main. Vgl. SchütteLihotzky, Warum ich Archi­ tektin wurde, S. 192. 17  Wilhelm Schütte: Grundsätzliches über neue Volksschulen; Fritz Karsen: Schulbau und Pädagogik, in: Der Baumeister, 12/1930, S. 461–499, Tafeln 64–71; Wilhelm Schütte: Der moderne Volksschulbau; Fritz Karsen: Die Dammweg­

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schule Neukölln, in: Internationale Zeitschrift für Erziehungswissen­ schaft 1/1931–32, S. 87–91 (und 8 Seiten Ab­b ildungen). 18  Vgl. Gerd Radde: Fritz Karsen. Ein Berliner Schul­ reformer der Weimarer Zeit, Frankfurt am Main 1999, S. 330. Die denkmalge­ schützte Probeklasse wur­ de nach Instandsetzung 2001 wiedereröffnet. Vgl. Dorothée Sack (Hg.): Der Versuchspavillon der Schule am Dammweg von Bruno Taut in BerlinNeukölln, Aufbaustudium Denkmalpflege der TU Berlin, H. 1, Berlin 2000; Ulrich Brinkmann: Ver­ suchs­p avillon der Damm­ wegschule rekonstruiert, in: Bauwelt, H. 13, 2001, S. 4f. 19  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Frankfurt am Main, o.D. [31.3.1927], Bestand Stransky, Graz (BS). Die standesamtliche Trauung war am 12.4.1927 in Frankfurt am Main. 20  Ebd. Neben ihrer Tätigkeit für das Hoch­ bauamt beteiligten sich Wilhelm und Margarete gemeinsam an Wettbe­ werben wie dem »Tuber­ kulose Krankenhaus Marburg an der Lahn«, dem »Elbstrandhotel in Salesel, Nordböhmen« und der »Pädagogischen Akademie Kassel« bzw. widmeten sich Privatauf­ trägen wie dem »Haus Strasburger«, Frankfurt am Main, oder dem »Haus

Abb. 1: Margarete Schütte-Lihotzky und Wilhelm Schütte in der Nähe von Frankfurt am Main, 1928, rückseitig beschriftet: »O wie schade! Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten!«

Weitere Entwürfe, wie die von Elsaesser und Schütte für den Stadtteil Bonames geplante Pavillonschule, fielen dem Rotstift zum Opfer.23 Als erstes Freiklassenensemble wurde die Volksschule Praunheim (Eugen Kaufmann, Wilhelm Pullmann) mit drei Pavillons à 4 Klassen im August 1930 eröffnet.24 Einen Monat später folgte die Einweihung der zweiten Freiflächenschule am Bornheimer Hang (Ernst May, Albert Löcher).25 Mays und Löchers Anordnung der Pavillons gleicht Elsaessers und Schüttes Projekt für Bonames. Es ist offensichtlich, dass in die Schule am Bornheimer Hang, die als krönender Abschluss der Ära des Neuen Frankfurt gilt, Schüttes theoretische und praktische Vorleistungen wesent­ lich eingeflossen sind. Er gehörte zum engeren Kreis der »an dem Bau beteiligten städtischen Architekten«, die zur Eröff­ nung eingeladen waren.26 Wenig später, am 8. Oktober 1930, versammelte sich Ernst May mit rund zwanzig Kolleg/innen, vorwiegend aus dem Hochbauamt, am Schlesischen Bahnhof in Berlin, um nach Moskau abzu­reisen.27 In der von May auserwählten Gruppe befand sich neben Margarete Schütte-Lihotzky auch Wilhelm Schütte, der als

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Als Spezialist mit der Gruppe May in der Sowjetunion

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Spezialist für Schulen »bereits vor seiner Ankunft in der udssr bekannt [war]«.28 Gemeinsam mit Werner Hebebrand gewann Schütte den Wettbewerb für eine »Polytechnische Station« zur Entwicklung und Erprobung der sogenannten »polytechnischen Erziehung«: eine »Riesenschule […] ähn­ lich wie die Karsen’sche aber viel größer«.29 Das Schulzentrum für 4.000 Schüler und Studenten präsentierte Schütte – nach einer intensiven Planungsphase von Typenprojekten – in einem Artikel zusammen mit einer »Dreikomplexschule« für 960 Schüler und einer »Einkomplekt-Schule« für 320 Schüler.30 Das erste realisierte Projekt Schüttes in der Sowjetunion dürfte die Schule in Magnitogorsk (1931/32) gewesen sein. Sie bildet das Rückgrat des »1. Quartals«, also des ersten Stadt­­­viertels der neuen Industriestadt, für die die Gruppe May einen Generalbebauungsplan ausgearbeitet hatte. Ein drei­­­geschossiger Quertrakt steht in Verlängerung der zen­ tralen Achse der städtebaulichen Einheit und wird von einem zweigeschossigen Klassentrakt zu beiden Seiten über gut 150 Meter flankiert. Schütte entwarf seine Schultypen zunächst beim Moskauer Planungstrust Standartgorprojekt in Mos­ kau.31 Der Typ für 960 Schüler wurde in Stalinsk/Kusnezk erfolgreich umgesetzt, wie Hebebrand nach einem Besuch in Sibirien Ende 1933 berichtete.32 Ob der mangels Baustoffen einfachst gehaltene Typ für 320 Schüler, der 1932 für die gesamte Sowjetunion ausgewählt worden war,33 je realisiert wurde, ist bisher nicht bekannt. Im Herbst 1932 arbeitete Schütte an einer Ausstellung über Schulbau.34 Eine Präsentation seiner Magnitogorsker Schule war für eine Ausstellung über sowjetische Archi­­ tektur an­­lässlich des 4. ciam-Kongresses 1933 in Moskau vorgesehen.35 Inzwischen wechselten Schütte und SchütteLihotzky zu ozdip, dem Zentralinstitut für den Gesund­ heitsschutz von Kindern und Jugendlichen. Dort entstanden zahl­reiche weitere Entwürfe für Bildungsbauten.36 Zu Bruno Taut nach Japan – als Konsultant für Schulbau nach China

Im Herbst 1933 planten die Schüttes eine Reise nach Japan,37 um von dort einen Abstecher nach China zu unternehmen. 212

Chabot« in Amsterdam. Vgl. Margarete SchütteLihotzky. Soziale Architek­ tur. Zeitzeugin eines Jahr­ hunderts, Ausst.-Kat. MAK Wien, hg. von Peter Noever, Wien 1993, S. 286. 21  Vgl. David Baum: Wilhelm Schütte – Soziale Architektur, MA-Arbeit, Universität für künst­ lerische und industrielle Gestaltung, Linz 2016, S. 54–59. 22  Vgl. Claudia Quiring/ Thomas Flierl/David Baum: Schütte, Wilhelm, in: Evelyn Brockhoff (Hg.): Akteure des Neuen Frankfurt, Frankfurt am Main 2016, S. 175f. 23  Vgl. Martin Elsaesser: Bauten und Entwürfe aus den Jahren 1924–1932, Teil II: Schulen, Kirchen und Schwimmbäder, Berlin 1932, S. 188. Auch die von Schütte in mehreren Varianten vorgelegte Gewerbe- und Haushal­ tungsschule, die geplante Vervollständigung des Schulkomplexes Römer­ stadtschule um einen Kindergarten sowie das von ihm entwickelte Typen­ projekt einer Turnhalle für Frankfurter Vororte konn­ ten nicht mehr realisiert werden. 24  Vgl. Die neue Hinden­ burgschule, in: Frankfurter Zeitung, 21.8.1930. 25  Albert Löcher war Leiter der Modellbauabtei­ lung, die – wie Schüttes Schulbauabteilung – Elsaessers Abteilung E

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(Einzelbauten bzw. Großbauten) zugeordnet war. Die Visualisierung durch anschauliche Modelle war für die Durch­ setzung von Projekten – angesichts der wirtschaft­ lichen Not – besonders wichtig. 26  Mag. Akte SchulA 4571, Institut für Stadt­ geschichte, Frankfurt. 27  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Gießen, 6.10.1930, BS. 28  Zeugnis, gez. Schurpe, Molkow, Iwanowski (Übers. aus dem Russischen), Öster­ reichische Gesellschaft für Architektur, Wien (ÖGFA), Archiv Schütte; Original (Moskau, 4.6.1933) und Übers. ins Französische: UaK, NL MSL, WS. 29  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Moskau, o.D. [Ende Jan. 1931], BS. 30  Wilhelm Schütte: Schulen des vollen Tages und des runden Jahres – Zum Schulbau in Russland, in: Wasmuths Monatshefte für Baukunst und Städte­b au 6/1932, S. 282–284. 31  Vgl. Thomas Flierl: Wilhelm Schütte als Schulbauexperte in der Sowjetunion, in: ÖGFA/ Waditschatka, Schütte, S. 24–47. 32  Margarete SchütteLihotzky an Adele und

Chinesische Fachleute konsultierten Wilhelm Schütte als Ex­ perten für Schulbau,38 und Bruno und Erika Taut hielten sich seit Mai des Jahres in Japan auf.39 Taut hatte zuvor ein Jahr in Moskau gelebt und gear­ beitet, kannte Schütte aber wohl seit der Arbeit mit Fritz Karsen. Anfang Mai 1934 notiert er: »Mit Schüttes ist alles sehr nett. Er gewinnt sehr und wir stehen auf nettem Fuß, […] er nimmt alles still in sich auf und hinter seiner äußeren Tro­cken­­­­heit scheint ein guter Kern zu sein (34 Jahre, ›junge Ge­ne­­ration‹ – F. K. behält Recht)«.40 Während ihres Besuchs entstand Tauts wegweisendes Album zur Katsura Villa, die er gemeinsam mit den Schüttes ein zweites Mal – nun fast fünf Stunden – besichtigte.41 In China wollten sie »eigentlich nur 1 Woche […] bleiben und wieder hierher [nach Japan] zurück, wo Tauts für uns schon ein weiteres schönes Reiseprogramm vorbereitet hatten, aber heute kam wieder ein Telegramm aus Nanking, dass längerer Aufenthalt sehr erwünscht sei […]. Lieber hätten wir ja den Urlaub dazu benützt, uns in der so anders kulti­ vierten Atmosphäre Japans mit seiner wun­dervollen Land­ schaft auszuruhen, aber beruflich ist die Sache mit China natürlich sehr ehrend für Wilhelm und wir sind sehr begie­ rig, ob da noch weitere Arbeit dabei heraus­kommt.«42 Wie Margarete ihrer Schwester weiter berichtet, wurde Wilhelm bei einem Bankett in Shanghai »sozusagen als ›größter Schulbauer der Welt‹ gefeiert«.43 Doch Ende Juni, als sie auf ihrer Rückreise kurz bei den Tauts in Kyoto halt­machten, berichteten sie enttäuscht, das alte China sei »nur noch Museum (selbst Peking trotz seiner großen Dimensi­onen), Shanghai und Nanking scheußlich und die modernen Chi­ nesen weich generiert, ohne Initiative«. Sie müssten bau­en, aber der Staat habe kein Geld und die Privatleute würden nichts riskieren.44

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Letzte Jahre in Moskau und Exil-Suche von Paris aus

Zurück in Moskau entstanden neben der Planung eines Klubs der Metallurgen in Novokusnezk weitere Schulentwürfe, da­ runter in Gemeinschaftsarbeit mit seiner Frau zwei Schu­len für die ukrainische Stadt Makeevka (über deren Um­setzung bisher nichts bekannt ist), ein Projekt für Kybishev und eine 213

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Realisierung in Moskau mit einem Relief des deut­schen Bild­ hauers Will Lammert, der 1934 aus Frank­reich in die Sow­ jetunion geflüchtet war.45 Sie gleicht in der Ausfüh­rung einer Grundschule André Lurçats in Moskau, die fast zeitgleich 1935 entstand.46 Lurçat, seit 1934 in Moskau, publi­zier­te wie Schütte in der sowjetischen Fachpresse fast aus­nahmslos über den Schulbau. Es ist davon auszugehen, dass er dies­ bezügliche Fragestellungen mit den Schüttes er­ör­­ter­te.47 Nach den negativen Erfahrungen ihres Freundes Hebe­ brand bei der Ausstellung seines neuen Passes von der deut­ schen Botschaft in Moskau, beschlossen die Schüttes, deren Pässe im August 1937 abliefen, das Land zu verlassen. Wäh­ rend ihrer Schiffsreise von Odessa nach Triest lud Bruno Taut sie ein, ihm an die Kunstakademie Istanbul zu folgen. »Wir aber wollten wieder in westlichere Gefilde und fuhren weiter nach Paris, um uns neue Pässe zu besorgen und dann weiter nach England.«48 Sie erreichten die französische Haupt­­­stadt zur Zeit der Weltausstellung. Beim Perret-Schüler Pierre Forestier arbeitete Wilhelm Schütte an einem Wettbewerb für eine Mädchenschule in Bagneux bei Paris.49 Margarete Schütte-Lihotzky übernahm den Entwurf des zu­ ge­­­ hörigen Kindergartens. Tibor Weiner, der mit der Gruppe von Hannes Meyer in Moskau gewesen war, beteiligte sich eben­ falls. Darüber hinaus projektierte Schütte – vermutlich mit Forestier – Umbauten von einem »Gutshof und Forts zu einem Preventorium«,50 doch die Auftragslage blieb mager. Nach Tauts wiederholter Einladung richteten die Schüttes Mitte März 1938 schließlich ihre Bewerbungen an das tür­ kische Kulturministerium:51 »Trotz dieses Angebots [und der daraufhin abgeschickten Bewerbung] fuhren wir weiter nach London, um uns dort nach Arbeit umzusehen.«52 Aber noch mehr als in Paris wurde es in London zunehmend aussichtslos, Arbeit zu finden. Im Tatbikat Bürosu unter Taut

Mit günstig verhandelten Arbeitsverträgen in der Tasche er­ reichten Wilhelm und Margarete Schütte am 24. August 1938 Istanbul. Unmittelbar nach ihrer Ankunft begannen beide mit der Arbeit im von Taut geleiteten Baubüro des Unter­ richtsministeriums an der dortigen Akademie der Schönen 214

Josef Hanakam, Moskau, 19.12.1933, BS. 33  Vgl. Schütte, Schulen des vollen Tages, S. 284. 34  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Moskau, 31.10.1932, BS. 35  Vgl. Flierl, Schütte als Schulbauexperte, S. 33. 36  Ebd., S. 33–41. 37  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Moskau, 30.10.1933, BS. 38  Vgl. Interview Chup Friemert mit Margarete Schütte-Lihotzky, in: Schütte-Lihotzky, Erinne­ rungen (1985), S. 34. 39  Vgl. Manfred Speidel (Hg.): Bruno Taut in Japan. Das Tagebuch, 1. Bd.: 1933, Berlin 2013, S. 10. 40  Vgl. Manfred Speidel (Hg.): Bruno Taut in Japan. Das Tagebuch, 2. Bd.: 1934, Berlin 2015, S. 134. Mit F. K. meint Taut offen­ bar Fritz Karsen. 41  Ebd., S. 135f. 42  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Nara, 15.5.1934, BS. 43  Margarete SchütteLihotzky an Adele Hanakam, Nanking, 29.5.1934, BS. 44  Vgl. Speidel, Taut in Japan, Bd. 2, S. 166. 45  Vgl. Baum, Schütte – Soziale Architektur, S. 160–171 und 178–181.

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46  Vgl. Jean-Louis Cohen: André Lurçat, 1894–1970. Autocritique d’un moderne, Liège 1995, S. 196–198. 47  Ebd., S. 205. 48  Vgl. Typoskript, UaK, NL MSL, TXT/418, S. 20. »Wir entschieden uns vorerst für England […] Westeuropa war unser Ziel«. Vgl. auch SchütteLihotzky, Erinnerungen (1985), S. 48. 49  Die Abgabefrist endete am 16.4.1938. Vgl. L’Architecture d’aujourd’hui, No. 2, Février 1938, S. 80. 50 

Bewerbungs­s chrei­ ben »An das Kulturministe­ rium Ankara«, 18.3.1938, ÖGFA, Archiv Schütte. 51  Vgl. Schütte-Lihotzky, Ansprache für Istanbul 52  Vgl. Schütte-Lihotzky, Erinnerungen (1985),  S.  4 8. 53  Vgl. Burcu Dogramaci: Architekt, Lehrer, Autor. Wilhelm Schütte in der Türkei (1938–1946), in: ÖGFA/Waditschatka, Schütte, S. 48–63, hier S. 49f. 54 Schütte-Lihotzky, Ansprache für Istanbul. 55  Vgl. Maasberg/Prinz, Verzeichnis, S. 392, sowie Dogramaci, Schütte in der Türkei, S. 51. 56  Vgl. Margarete Schütte-Lihotzky. Soziale Architektur, S. 173. Siehe hierzu auch den Beitrag von Burcu Dogramaci in diesem Band.

Künste.53 Diese bestand zunächst aus der »Vor­bereitung sys­ tematischer Lösungen für den Schulbau des Türkischen Kultur-Ministeriums« und aus Exkursionen »in Istanbul und in Ankara und Umgebung«.54 Möglicherweise in Überarbeitung eines Vorprojekts von Taut55 gestalteten Schüttes einen temporären Bau zur Deko­ration des Karaköy-Brückenkopfes der Galatabrücke in Istanbul anlässlich des 15. Jahrestages der Gründung der Tür­ kischen Republik.56 Nach Atatürks Tod im November ent­ warf Schütte für die Trauerfeier eine »Dekoration des taximPlatzes zum 20.xi.38«, über deren Ausführung nichts be­ kannt ist.57 Für das Begräbnis in Ankara fertigte Bruno Taut, schwer krank im Bett liegend, am 15. November seine letzte Skizze an, den Entwurf des Katafalks.58 An der Hamam-Önü-Mittelschule in Ankara-Cebeci, von Taut und seinem Mitarbeiter Franz Hillinger seit Mai 1938 in Arbeit, wirkten beide Schüttes ab Oktober 1938 mit.59 Zeitgleich begann Schütte mit Planungen für eine Höhere Lehrerschule in Istanbul.60 Es folgten Ausarbeitungen von Schulbauprogrammen und 1939 das Projekt einer Mittel­ schule für Ankara-Yenişehir61 als Weiterentwicklung seines Frankfurter Freiklassentyps, anknüpfend an seine Projekte für Makeevka und Bagneux. Seine auf Ende April 1940 da­ tierten »Änderungen am Theaterprojekt für Ankara«62 beziehen sich womöglich auf das Nachfolgeprojekt eines Opern­hauses von Taut. 63 Als Privatauftrag entwarfen Margarete und Wilhelm Schütte im August 1940 eine Villa in Ankara für den Arzt Lütfi Tozan.64 Anfang Juli 1939 fuhr das Ar­chitektenpaar zum Internationalen Kongress für Woh­ nungs­ wesen und Städtebau nach Stockholm, wo sie auch Josef Frank besuchten.65 Erstaunlicherweise wählten sie die Route über Berlin, wie ein Wiener Meldezettel be­ legt.66 Andert­halb Jahre später, als sich Margarete SchütteLihotzky wieder in Wien aufhielt, wurde sie im Café Viktoria (Ecke Schottenring/Währinger Straße) von der Gestapo verhaf­tet.67 Der Schwerpunkt von Wilhelm Schüttes Tätigkeiten an der Akademie in Istanbul verlagerte sich allmählich vom Bau­

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Lehrtätigkeit an der Akademie

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büro in den Unterrichtsbetrieb. Im Dezember 1939 erfolgte eine Anstellung als Lehrer.68 Neben seinen Vorlesungen un­ terrich­tete er Perspektive und traf Vorbereitungen für eine Bau­stoff­sammlung. Diese stand wohl im Zusammenhang mit Studien für den Wiederaufbau einer Ende 1939 von einem schweren Erdbeben erschütterten Region in Anatolien.69 Da­ bei sollten neben vorgefertigten, der Stabilität dienenden Elementen vor­­zugs­weise ortsgegebene Materialien zur An­ wendung kommen. Seine Vorlesungen hielt er in der von Louis Süe seit 1939 geleiteten Dekorationsabteilung.70 Neben dem Designer Süe berief Rektor Burhan Toprak 1941 einen weiteren Franzosen, Henri Prost, als Professor für Städte­ bau,71 für die Nachfolge Tauts hatte man 1939 André Lurçat erwogen.72 Schütte lehrte ab März 1941 als Dozent für Ent­ wurf und erhielt 1942 die Berufung zum Professor für Archi­ tekturentwurf.73 Er verfasste zahlreiche Aufsätze für die Fachzeitschrift »Arkitekt«.74 Ein Ende 1943 in »Der Bau­ meister« erschienener Vorschlag, basierend auf der ressour­ censchonenden Studie für die Erdbebengebiete, war wohl nicht zur Unterstützung des ns-Reichs gedacht, sondern an Entscheidungsträger adressiert, um die Expertise seiner dort inhaftierten Partnerin in der Rationalisierung des Woh­ nungsbaus in Erinnerung zu rufen.75 Internierung 1944–1946

Mit Ende der Neutralität der Türkischen Republik im Zweiten Weltkrieg im August 1944 wurden deutsche Staatsbürger aus­gewiesen. Von Verfolgung bedrohten Emigranten ge­ währ­­te man Schutz, jedoch mit Aufenthaltspflicht in einer zugewiesenen Stadt in Anatolien, im Falle Wilhelm Schüttes war es die Stadt Yozgat,76 wo er fast zwei Jahre bleiben sollte. Er initiierte eine öffentliche Bibliothek, die insbesondere den Internierten zur Verfügung stand, und plante für das örtliche Gymnasium einen Erweiterungsbau.77 Während die meisten Internierten Ende 1945 wieder in ihre türkischen Wohnorte zurückkehren konnten,78 wartete Schütte bis Juni 1946 auf seine Freilassung.79 Seine Frau, inzwischen aus der Haft be­ freit, war ihm von Wien aus entgegengefahren und hielt sich seit Februar in Sofia auf. Im Oktober des Jahres, nach fast sechs Jahren Trennung, trafen sich die beiden dort wieder 216

57  Wilhelm Schütte: Bericht über die Tätigkeit von Architekt W. Schütte im »Tatbikatbürosu« von Güzel Sanatlar Akademisi Istanbul von September 1938 bis September 1939, ÖGFA, Archiv Schütte. Vgl. auch Dogramaci, Schütte in der Türkei, S. 52. 58  Vgl. Maasberg/Prinz, Verzeichnis, S. 395. 59  Ebd., S. 393. 60  Vgl. Schütte, Bericht über die Tätigkeit. 61 Ebd. 62  Juni 1940. Bericht über die Arbeiten von Architekt Schütte, ÖGFA, Archiv Schütte. 63  Vgl. Bernd Nicolai: Moderne und Exil. Deutsch­ sprachige Architekten in der Türkei 1925–1955, Berlin 1998, S. 146f., sowie Maasberg/Prinz, Verzeichnis, S. 391. 64  Vgl. Baum, Schütte – Soziale Architektur, S. 204f. 65  Vgl. Schütte-Lihotzky, Warum ich Architektin wurde, S. 77. Es handelte sich um den 17. Inter­ nationalen Kongress für Wohnungswesen und Städtebau, 8.–15.7.1939. 66  »Ist ausgezogen am: 5.7.1939 nach (Ort, Bezirk, Gasse Nr.): Berlin – Stock­ holm«, Meldezettel für Unterparteien, 3.7.1939– 6.7.1939, Wiener Stadtund Landesarchiv. 67  Vgl. Schütte-Lihotzky,

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Erinnerungen (1985), S. 73. 68  Vgl. Dogramaci, Schütte in der Türkei, S. 56. 69  Vgl. Juni 1940. Bericht über die Arbeiten von Architekt Schütte, ÖGFA, Archiv Schütte. 70  Vgl. Joanna Banham (Hg.): Encyclopedia of Interior Design, London 2015, S. 1253–1255. 71  Ataman Demir: Arşivdeki belgeler ışığında Güzel Sanatlar Akademisi’nde yabancı hocalar: Philipp Ginther’den (1929)– (1958) Kurt Erdmann’a kadar, Istanbul 2008, S. 14.

(Abb. 2).80 Über Belgrad und Budapest reisten sie Richtung Wien, wo sie zum Jahreswechsel 1946/47 eintrafen.81 Erste Arbeiten in Wien und »Arbeitsgruppe CIAM«

Als eine erste Arbeit dürfte Schütte neben seiner Frau an der Ausstellung »Wien baut auf« im Rathaus (September bis Dezember 1947) beteiligt gewesen sein.82 Am 7. Juli 1947 er­ hielt er die österreichische Staatsbürgerschaft.83 Kurze Zeit später nahmen die Schüttes am ersten Nachkriegs-Kongress der ciam in Bridgwater teil, zu dessen Vorbereitung Sigfried Giedion Schütte-Lihotzky nach Zürich eingeladen hatte, »da jede Verbindung mit Österreich seit langem unterbrochen

72  Vgl. Cohen, André Lurçat, S. 214. 73  Vertrag vom 13.3.1941, UaK, NL MSL, WS; Vertrag vom 20.2.1942, Faksimile in: Demir, Arşivdeki belgeler, S. 311f. 74  Vgl. Baum, Schütte – Soziale Architektur, S. 349f. 75  Wilhelm Schütte: Von der Notunterkunft zur vollwertigen Wohnung, in: Der Baumeister, Okt.–Dez. 1943, S. B124–B126. 76  Wilhelm Schütte, z. Zt. Yozgat, 26.7.45 (Datum handschriftlich ergänzt), Typoskript, ÖGFA, Archiv Schütte. 77  Schreiben des Bürgermeisters Sadri Aka an Wilhelm Schütte, Yozgat, 1944, UaK, NL MSL, WS. Vgl. auch

Abb. 2: Margarete Schütte-Lihotzky und Wilhelm Schütte in Sofia, November 1946

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ist«.84 In Zusammenarbeit mit Fritz Cremer, der von 1946 bis 1950 Professor der Bildhauer-Klasse an der Akademie für an­ gewandte Kunst in Wien war, gestaltete Schütte im Auftrag der Stadt Wien ein Mahnmal für die Opfer des Faschis­mus (1947–1948), das im November 1948 enthüllt wurde. Die Stadt Wien und die Hauseigentümer lobten 1948 einen Wettbewerb zur Gestaltung des Stephansplatzes aus. Da keine großzügige städtebauliche Realisierung abseh­bar war, taten sich Oswald Haerdtl, Wilhelm Schütte und Karl Schwanzer zusammen zu einem Team, das somit aus den füh­renden Köpfen der neuen ciam-Gruppe bestand. Deren Grün­dung war am 11. Mai 1948 erfolgt – Le Corbusier, André Lurçat und Marcel Lods hielten sich damals in Wien auf.85 In einer ersten Version des Stephansplatzprojektes ging die »Arbeitsgruppe ciam« über die Ausschreibung des Wett­ bewerbs hinaus: Eine durchgehende Fassade mit­tels Über­­­­ bauung der einmündenden Seitengassen bildet die West­­seite des Platzes; gegenüber dem Domportal befindet sich ein überhöhter Zugang zu einem großen Innenhof nach Vor­bild der Mailänder Galleria. Für ciam 7 in Bergamo Ende Juli 1949 wurde das Projekt unter Federfüh­rung Schüttes weiter­ entwickelt und dort präsentiert.86 Es sollte der letzte ciamKongress sein, an dem auch Margarete Schütte-Lihotzky teilnahm.87 Vermittlungstätigkeit als 1. Delegierter der CIAM Austria

In der Frühzeit der österreichischen ciam-Gruppe bemühte sich Wilhelm Schütte darum, Ausstellungen, darunter die »Schweiz­er­ische Architekturausstellung«88 und »Neues Woh­nen. Deutsche Architektur seit 1945«,89 nach Österreich zu holen. Angeregt durch Josef Frank wandte er sich 1948 an die Svenska Slöjdföreningen in Stockholm, ob sie Material für eine Ausstellung in Wien zusammenstellen könnten.90 Im Februar 1949 wurde die von ihm vermittelte Ausstellung »Französische Baukunst« an der Technischen Hochschule in Graz »mit einer angeschlossenen Schau französischer Pla­ kate« eröffnet, die auf seinen Vorschlag zurückging.91 Zugleich setzte sich Schütte auch für die Entsen­dung jüngerer Kollegen ins Ausland ein, etwa für Othmar Egger, 218

Dogramaci, Schütte in der Türkei, S. 61. 78  Vgl. Burcu Dogramaci: Kulturtransfer und natio­ nale Identität. Deutsch­ sprachige Architekten, Stadtplaner und Bildhauer in der Türkei nach 1927, Berlin 2008, S. 36. 79  Vgl. Dogramaci, Schütte in der Türkei, S. 61. 80  Vgl. Schütte-Lihotzky, Erinnerungen (1985), S. 37f. 81  Stempel Einreise Bruckneudorf 31.12.1946, bulgarischer Ausweis, ausgestellt am 19.11.1946, UaK, NL MSL, WS. 82  »An den Magistrat der Stadt Wien« (Ansuchen um Einbürgerung, Konzept), Typoskript, UaK, NL MSL, WS. Belegt ist seine Mit­ arbeit in der Ausstellung »Wien 1848«, ebenfalls im Wiener Rathaus. Margarete Schütte-Lihotzky und Wilhelm Schütte an Viktor Matejka, Wien, 24.12.1947, UaK, NL MSL. 83  »Urkunde über die Verleihung der Staatsbür­ gerschaft«, Typoskript, UaK, NL MSL, WS. 84  Sigfried Giedion an Margarete SchütteLihotzky, Zürich, 29.4.1947, ÖGFA, Archiv, M28. 85  Roland Rainer als Gründungsmitglied (Schütte-Lihotzky, Warum ich Architektin wurde, S. 189) ist nicht korrekt. Siehe Mitgliedsliste, April

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1952, Typoskript, ÖGFA, Archiv, M28. 86  Vgl. Oswald Haerdtl: Die Architektur von Heute und die Tendenzen der ange­ wandten Kunst, Vor­t rag, Wien, 16.5.1950, in: Adolph Stiller: Oswald Haerdtl. Architekt und Designer. 1899–1959, Salzburg 2000, S. 174– 183, hier S. 179. 87 Schütte-Lihotzky, Warum ich Architektin wurde, S. 189. 88  Vgl. Wilhelm Schütte an Giedion, Wien, 6.6.1948, ÖGFA, Archiv, M28. 89  Vgl. Alfons Leitl an Wilhelm Schütte, Rheydt, 18.6.1949, ebd. 90  Wilhelm Schütte an Svenska Slöjdförenigingen, Wien, 11.6.1948, ebd. 91  Wilhelm Schütte an Friedrich Zotter, Wien, 16.12.1948, ebd. 92  Othmar Egger an Wilhelm Schütte, Graz, 27.9.1949; vgl. auch Wilhelm Schütte an Giedion, Wien, 8.1.1950, ebd. 93  Georg Plankensteiner: Univ.-Prof. Arch. Dipl.-Ing. Karl Raimund Lorenz (1909–1996). Leben und Wirken einer Architektenund Lehrerpersönlichkeit, Dissertation, TU Graz, 2001, S. 238. 94  Wilhelm Schütte an Fred Forbat, Wien, 20.3.1952, Typoskript/

der an der ciam Summer School 1949 in London teil­nahm.92 Im Juni 1952 wurde Schütte vom Grazer Professor Karl Raimund Lorenz zum ciam-Treffen in Sigtuna beglei­tet,93 das von seinem Moskauer Wohnungskollegen Fred Forbat mit­­organisiert wurde, der nach Schweden emigriert war und den er dort »nach so langer Zeit« wieder sah.94 Bei ciam 9 in Aix-en-Provence 1953 sollte dagegen »der ArchitektenNachwuchs stark vertreten sein«:95 Aus Wien waren Karl Bayer, Monika Euler, Fred Freyler, Gustav Peichl, Hugo Potyka, Herbert Prehsler, Sepp Stein und Erich Sulka an­ge­ meldet, betreut von Eduard Sekler.96 Die »Jugendgruppe Graz« bestand aus dem später namhaften Team Fritz Eller, Erich Moser, Robert Walter in Begleitung von Wilhelm Aduatz, Rambald von Steinbüchel-Rheinwall97 sowie Karl R. Lorenz.98 Für das ciam-Arbeitstreffen in La Sarraz im Sep­ tember 1955 waren drei Teams angemeldet, die ihre Projekte vorbereiteten: die »blaue Gruppe«99 (Gruppe TH Wien) und die Gruppe »abc«, vertreten durch Herbert Prader bzw. Fred Freyler, und die »arbeitsgruppe 4«.100 Mit der Anfrage, »ob es möglich wäre, ev. noch ein oder zwei von den sehr eifrigen jüngeren Architekten nach La Sarraz mitzu­­bringen«, wandte sich Schütte an den Vorsitzenden der Schweizer ciam-Gruppe Alfred Roth: Gemeint war die Teilnahme al­ler Mitglieder der arbeitsgruppe 4, also Holzbauer, Kurrent und Spalt.101

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Gemeindebauten

Gemeinsam mit Margarete Schütte-Lihotzky errichtete Wilhelm Schütte einen Gemeindebau in der Barthgasse in Wien-Landstraße (1949/50). Die geplante Farbgebung – rost­ rote Fassade, graue Sockelzone und dunkelblaue Fenster­ rahmen – ist in einer Farbstudie erhalten, wurde aber nie ausgeführt.102 Diese für Wiener Bauten ungewohnte Farbig­ keit verweist auf das von Ernst May favorisierte Pompejanisch-Rot, wie es etwa in der Frankfurter Römer­stadt-Sied­ lung zum Einsatz gekommen war, ebenso wie das Blau für die Fensterrahmen.103 Die Wohnhausanlage in der EbnerRofenstein-Gasse (1953/54) wurde in locker verbau­tem Ge­ biet auf ehemaligem Wiesengrund in Lainz nahe der Wiener Werkbundsiedlung errichtet. Sie besteht aus sieben schlich­ 219

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ten Gebäuden mit je zwei Geschossen, die auf einem lang­ gestreckten Grundstück angeordnet sind. Der dritte Auf­­­­­t rag für einen Wohnbau der Stadt Wien und zugleich der letzte Bau, den Wilhelm Schütte ausführen konnte, ist eine Wohn­ hausanlage in vorstädtischer Lage (Neuwald­egger Straße, Wien 17, 1965–1967), bestehend aus zwei dreigeschos­ sigen Zeilen. Die verglasten Stiegenhäuser strukturieren die Straßenfront bzw. die Eingangsseite des Hoftrakts, die Ein­ gangs­bereiche sind zusätzlich durch abstrakte Mosaike her­ vor­gehoben.104 Temporäre Bauten und Gedenkstätten

Margarete Schütte-Lihotzky und Wilhelm Schütte waren an den Planungen der »Volksstimme«-Feste von 1948 bis 1953 beteiligt.105 Die von der gleichnamigen Tageszeitung der kpö veranstalteten Feste finden seit 1946 alljährlich im Wiener Prater statt: zunächst im Praterstadion, wegen des großen Be­sucher­andrangs ab 1947 im Freien auf der Jesuitenwiese und ab 1949 zusätzlich auf der Arenawiese.106 Die Schüttes entwarfen beispielsweise 1948 einen Pavillon auf der Jesuiten­ wiese für die Ausstellung »30 Jahre kommunistische Presse und Literatur«, in der unter anderem Material aus dem Wi­ der­standskampf gezeigt wurde. Eine vergleichbare Auf­gabe war 1951 die Gestaltung der Festtribüne für das »Pfingst­ jugend­treffen« der Kommunistischen freien Jugend (kjö) vor dem Parlament.107 Der Veranstalter rechnete mit 50.000 Be­suchern aus allen Bundesländern. Als Auftakt traten Künst­­ler­­­gruppen entlang der Ringstraße auf – vom Stalin­platz (Schwarzen­bergplatz), wo bis heute das Denkmal der Roten Armee steht, bis hin zum Parlament. Hier war eine Tri­büne auf­gebaut, die Wilhelm Schütte als riesigen Triumph­bogen gestaltet hatte und die den Schriftzug »Frieden und Frei­heit« trug. Nachdem Schütte bereits 1947/48 beim Mahnmal für die Op­fer des Faschismus am Wiener Zentralfriedhof mit dem Bildhauer Fritz Cremer zusammengearbeitet hatte, planten die beiden gemeinsam mit André Bruyère 1949/50 das franzö­ sische Denkmal in Mauthausen. Schütte entwarf Gedenk­ steine für Melk, Hartheim, Ebensee und Gusen, die Gedenk­ stät­­te Gusen und das Gesamtkonzept zum Denkmalhain 220

Durchschlag, ÖGFA, Archiv, M28. 95 Rundschreiben Wilhelm Schütte an Fellerer, Wörle, Wachberger, Thurner, Legler, Auböck, Schlesinger, ca. Mai/Juni 1953, ebd. 96  Eduard Sekler an Wilhelm Schütte, Wien, 22.5.1953, ebd. 97  Friedrich Zotter an Wilhelm Schütte, Graz, 24.2.1953, ebd. 98  Karl Raimund Lorenz an Wilhelm Schütte, Graz, 11.7.1953, ebd. 99  Vgl. Maja Lorbek: CIAM Austria. Eine chro­ nologische Spuren­s uche, in: Moderat Modern. Erich Boltenstern und die Bau­ kultur nach 1945, hg. von Judith Eiblmayr/Iris Meder, Ausst.-Kat. Wien Museum, Salzburg/München 2005, S. 137–143, hier S. 143. 100  Vgl. Ute Waditschatka: Im Vorder­ grund das Bauen, Teil 1: Zur Werkgeschichte der arbeitsgruppe 4, in: Archi­ tekturzentrum Wien (Hg.): Arbeitsgruppe 4: Wilhelm Holzbauer, Friedrich Kurrent, Johannes Spalt 1950–1970, Salzburg 2010, S. 20–77, hier S. 51. 101  Wilhelm Schütte an Alfred Roth, Wien, 3.8.1955, ÖGFA, Archiv, M28. 102  Vgl. Margarete Schütte-Lihotzky. Soziale Architektur, S. 209.

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103  Vgl. Christoph Mohr: Das Neue Frankfurt und die Farbe, in: Bauwelt, H. 28, 1986, S. 1059–1061. 104  Je drei Mosaike von Fritz Riedl und Robert Pick (1966–1967), vgl. Wiener Wohnen, Hofbeschreibung, Wohnhausanlage Neu­ waldegger Straße 3: https://www.wienerwoh nen.at/hof/1277/1277.html (abgerufen am 27.4.2019). 105  Vgl. Baum, Schütte – Soziale Architektur, S. 250–253. 106  Vgl. Ilse Grusch: Das Volksstimmefest. Geschichte eines Wiener Volks­f estes, Wien 2000, S. 27ff. 107 Pfingstjugendtreffen 12.–14.5.1951. Die Fest­ gestaltung am Eislauf­ verein wurde von SchütteLihotzky entworfen (ein »Fest der Hundertfünfzig­ tausend« bleibt ohne An­ gabe), siehe: Margarete Schütte-Lihotzky. Soziale Architektur, S. 290, Nr. 176. 108  Das Programm des Jugendtreffens der 50.000 für Frieden und Freiheit, 1951, Archiv der KPÖ. 109  Vgl. Baum, Schütte – Soziale Architektur, S. 244– 249, 258–261, 310–313, 328–331, sowie Andreas Vass: Zwischen Dekor und Gedenken. Versuch zur politischen Rhetorik der Architektur von Wilhelm Schütte, in: ÖGFA/ Waditschatka, Schütte, S. 110–129.

Maut­­hausen. Er übernahm die Bauleitung des polnischen und vermutlich des sowjetischen, italienischen sowie spani­ schen Denkmals und gestaltete den Weiheraum der ehema­ ligen Hinrichtungsstätte im Wiener Landesgericht.109 Verlagsbauten und Buchhandlungen

Ab 1949 planten die Schüttes gemeinsam für den Grazer Volksverlag die Adaptierung eines ehemaligen Fabrikge­län­ des.110 Die Um- und Ausbauten des »Volkshauses Graz«, Sitz der steirischen und Grazer kpö sowie weiterer Organisa­ tionen, zudem regionales Zentrum des politischen und kul­ tu­rellen Lebens der Partei, wurden 1955 realisiert.111 In Wien errichtete Wilhelm Schütte im Team mit Margarete SchütteLihotzky, Fritz Weber und Karl Eder 1954 bis 1956 im Auftrag der kpö das Druck- und Verlagshaus »Globus« auf dem Höchstädtplatz in Brigittenau. Es besteht aus dem acht­ge­ schossigen Bürotrakt, dem Druckereigebäude mit dem mar­ kanten Sheddach, dem viergeschossigen Personaltrakt mit dem später nach Margarete Schütte-Lihotzky benannten Saal und dem Zeitungsrotationstrakt.112 Der Globus-Verlag betrieb fünf Buchhandlungen in Wien, in denen man politisch linksorientierte bzw. sozialis­ tische Literatur erwerben konnte, die im »normalen« Ver­ trieb »aufgrund des Boykotts nicht verkauft werden konn­ ten«.113 Die »Zentralbuchhandlung« wurde von Wilhelm Schütte 1957 und 1961 umgebaut.114 Die Geschäftsfassade des von Schütte 1963 geplanten und ausgeführten Umbaus der »Ar­ beiterbuchhandlung« in der Laxenburger Straße in Wien-Favoriten wies starke Ähnlichkeiten mit den 1952 von Margarete Schütte-Lihotzky vorgesehenen, aber nur zum Teil umgesetzten Planungen auf.115 Eine weitere von Wilhelm Schütte geplante Buchhandlung für den Verlag der kpö war die »Volksbuchhandlung« in der Grazer Innenstadt (1964).116

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Freiluftschule Floridsdorf und »Schulen bauen«

Das Prinzip der beidseitigen Belichtung von Klassenräumen, das Schütte bereits früh entwickelt hatte, und die Verbin­ dung zum Freiraum wurden 1959 bis 1961 mit der Freiluft­ schule in Wien-Floridsdorf tatsächlich umgesetzt.117 Wegen seiner poli­­­ti­­schen Gesinnung war er trotz seiner be­kan­n­221

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110  Vgl. Baum, Schütte – Soziale Architektur, S. 266–269. 111  Vgl. Friedrich Achleitner: Österreichi­ sche Architektur im 20. Jahrhundert, Bd. II: Kärnten/Steiermark/ Burgenland, Salzburg/ Wien 1983, S. 347.

Abb. 3: Margarete Schütte-Lihotzky bei der Wilhelm-Schütte-Gedächtnisausstellung der Österreichischen Gesellschaft für Architektur in Wien, November 1968

112  Zur Geschichte und Errichtung des »Globus« siehe: Christina Köstner: Wie das Salz in der Suppe. Zur Geschichte eines kommunistischen Verlages. Der Globus Verlag, Wien 2001, sowie: Fritz Weber: Mosaiksteine meines Weltbildes, Wien 1991. Vgl. auch Gabriele Kaiser: »Wir legen den Grundstein für das Haus der Wahrheit«. Der Neubau der Globus Zeitungs-, Druck- und Ver­

ten Exper­ tise jahrelang von Realisierungen ferngehalten wor­den, doch nun konnte er seine Ideen endlich ausführen. lagsanstalt (1954–1956), in: ÖGFA/Waditschatka, Die Schule entspricht den Konzepten, die er seit den 1920er Schütte, S. 138–151. Jahren zusammen mit Pädagogen erarbeitet hatte und die bei 113  »Die Buchhand­ wegweisenden Schulbauten zur Anwendung kamen. Der lungen«, in: Köstner, Salz Entwurf ist eine konsequente Fortsetzung des Prinzips der in der Suppe, S. 74–81. Freiluftklassen für Pavillonschulen in Frankfurt am Main 114  Vgl. Friedrich und ähnelt den Plänen für Schulen in Makeevka (1934), Achleitner: Österreichi­ sche Architektur im Bagneux (1938) und Ankara-Yenişehir (1939). 20. Jahrhundert, Bd. III/1: Die Zusammenstellung der von der Zentralvereini­ - Wien 1.–12. Bezirk, gung der Architekten Österreichs organisierten Ausstel­lung Salzburg/Wien 1983, S. 70. »Schu­­len bauen« im Österreichischen Bauzentrum im Palais 115  Vgl. Baum, Schütte – Liechtenstein (Oktober 1966) stammte von einem Team,118 Soziale Architektur, doch galt Wilhelm Schütte als Spiritus Rector des Unterneh­ S. 324–327. mens. Einen Teil der Ausstellung bildeten Typenpläne für 116  Die erwähnten Buch­ Volks- und Hauptschulen nach den unesco-Richtlinien.119 handlungen existieren – mit Ausnahme der heute Ebenfalls im Auftrag der österreichischen unesco-Kommis­ veränderten, ehemaligen sion entwickelte Schütte gemeinsam mit Lukas Lang, Peter Zentralbuchhandlung – Czernin, Georg Bachmayr-Heyda und Karl Fostel (Firma nicht mehr. Sonett) eine Serie von Schulmöbeln: Tische und Stühle aus 117  Vgl. Wilhelm Schütte: Flachstahlrohr und pag-Holz-Formteilen. Friedrich Kurrent Das Schulzimmer und 222

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seine natürliche Belich­ tung, in: Bauen+Wohnen, Bd. 6, H. 4/1952, S. 184– 187, vgl. auch Wilhelm Schütte: Sonderschule Wien 1961, in: Schul- und Sportstättenbau, H. 1, 1966, S. 29–31. 118  Peter Czernin, Lukas Lang, Wilhelm Schütte, Franz Schuster, Anton Schweighofer, Herbert Thurner, Robert Weinlich. 119  Vgl. Lukas Lang: Schulen bauen, in: Der Aufbau, H. 11/12, 1966, S. 387, vgl. auch Maja Lorbek: Schulen bauen als rationelle Programmatik und internationale Expertise, in: ÖGFA/ Waditschatka, Schütte, S. 152–163. 120  Vgl. Interview mit Friedrich Kurrent, Wien, 12.5.2018. 121 Schütte-Lihotzky, Ansprache für Istanbul. 122  Vgl. Interview mit Lukas Lang, Altmünster am Traunsee, 17.5.2018; vgl. Bericht der Österrei­ chischen Sektion der UIA über den IX. Kongress der UIA Prag 1967, UaK, NL MSL, WS. 123  Helmut Trauzettel (1927–2003), Schulbau­ experte der DDR, 1964– 1989 Mitglied der UIAGruppe für Schul- und Kulturbauten, ab 1966 Professor für Wohn- und Gesellschaftsbauten an der TU Dresden, vgl. Luise Helas: Die Nachkriegs­ moderne in Dresden, in: Bernhard Sterra u. a.: Dresden und seine Archi­

erinnert sich, dass Schütte sich im Zusammenhang mit der Schulbau-Ausstellung verausgabt habe.120 Zwei Tage vor der Eröffnung erlitt er einen Herzinfarkt – »an Arbeiten war nicht mehr [zu] denken«.121 In der kurzen Zeit, die ihm das Leben noch vergönnte, nahmen Wilhelm Schütte und Lukas Lang als Vertreter der Schulbaukommission der österrei­ chischen Sektion am ix. Kongress der Union Internationale des Architectes (uia) in Prag 1967 teil.122 Zusammen mit seinem Freund Fritz Weber fuhren Schütte und Lang im Oktober 1967 auf Einladung Helmut Trauzettels123 nach Dresden, um auch dort das Ausstellungsmaterial zu präsen­ tieren und zu diskutieren.124 Nach Verschlechterung seines Gesundheitszustandes und damit verbundenem Kranken­ haus­ aufenthalt erlag Wilhelm Schütte am 17. April 1968 einem zweiten Herzinfarkt. Im November desselben Jahres veranstaltete die Österreichische Gesellschaft für Architektur eine Gedächtnisausstellung zu Leben und Werk Wilhelm Schüttes (Abb. 3). Neben Teilen seines Nachlasses hatte er dem Verein Aktien übertragen, um jährlich ein bis drei jun­ gen Architekt/innen die Erweiterung ihres Horizonts zu er­ möglichen: »Die Studienreisen müssen in die Länder im Osten gehen! Frieden!«125

tekten. Strömungen und Tendenzen 1900–1970, Husum 2011, S. 137–158, hier: S. 147. 124  Vgl. Fritz Weber: Wilhelm Schütte, in: Wilhelm Schütte. 1900– 1968, Gedächtnisaus­ stellung der Österreichi­ schen Gesellschaft für Architektur in der Zeit vom 9.–27.11.1968. Siehe auch: Fritz Weber: Wilhelm Schütte – ein Nachruf, in: ÖGFA/ Waditschatka, Schütte, S. 92–95, hier: S. 94. 125  Legate im Todesfalle, ÖGFA, Archiv Schütte.

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Soziale Beziehungen und kommu­nis­tische Netzwerke. Annäherungen an Hans Wetzler (1905–1983) Marcel Bois

Margarete Schütte-Lihotzky war außer sich. Im April 1982 verfasste sie einen wütenden Brief an Ilse Schöbl. Die Schrift­ stellerin und Übersetzerin führte im Auftrag des Archivs der Stadt Wien regelmäßig Interviews mit Akteurinnen und Ak­ teuren der Zeitgeschichte durch, über die sie anschließend kurze biografische Texte verfasste. Ende des Jahres 1981 hatte sie aus diesem Grund auch mit Schütte-Lihotzky gespro­ chen.1 Doch diese reagierte auffällig entsetzt, als sie einen ersten Ent­wurf des Textes von Schöbl zu Gesicht bekam. Sie habe ihren Augen nicht getraut »und mußte die Zeilen mehrmals lesen, um zu glauben was da geschrieben steht«. In aller Deutlichkeit bat Schütte-Lihotzky die Schrift­ stellerin, »diesen Schrieb, sollten Sie ihn bereits aus der Hand gegeben haben, sofort mit allen Kopien und diesem Teil eines Tonbandes aus dem Verkehr zu ziehen und mit mir zusammen diese äußerst peinliche Angelegenheit so still­ schweigend als irgend möglich [zu behandeln] (wegen Desavouierung ihrer Person)«. Schließlich drohte sie noch: 224

1  Ilse Schöbl: Beitrag zu den »Biographischen Sammlungen« des Archivs der Stadt Wien, Margarete Schütte-Lihotzky, Novem­ ber 1981, Dokumenta­ tionsstelle für neuere österreichische Literatur (DÖL), Wien, N 1.65/2.1.3.

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2  Margarete SchütteLihotzky an Ilse Schöbl, Wien, 10.4.1982, DÖL, Wien, N 1.65/2.1.3.

»Ich bitte Sie mich raschest anzurufen, wann und wo wir 2 Stunden miteinander in den nächsten Tagen sprechen und diese leidige Angelegen­heit bereinigen können. Ich werde bis dahin sicher mit nie­manden darüber sprechen. Wenn das nicht rasch möglich ist, werde ich selbst im Rathaus etwas unternehmen müßen, was ich sehr ungern täte.«2 Der Grund für Schütte-Lihotzkys Unmut war die Nen­ nung einer »seit 30 Jahren bestehenden sehr innigen Freund­ schaft« mit einem »Ostberliner Dramaturgen und Überset­ zer«. Weder er noch sie seien gefragt worden, ob ihnen eine Erwähnung in dem Text für das Rathausarchiv recht wäre. Schließlich habe so etwas in einer Kurzbiografie, die rein sach­liche und berufliche Fakten enthalte, nichts zu suchen.

Abb. 1: Hans Wetzler, 1976, Fotografie, rückseitige Beschriftung: Ein Graubart, / Leider, / Der niemals war ein / Blaubart, Leider. / made in Radstadt, anno MDCCCCLXXVI / Hans Wetzler

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Bei besagtem Übersetzer handelte es sich um Hans Wetzler (Abb. 1). Dieser war in den Jahrzehnten nach der Trennung von Wilhelm Schütte der engste männliche Ver­ traute Margarete Schütte-Lihotzkys. Hiervon zeugt ein um­ fang­reicher Briefwechsel, der von der Forschung bislang weit­gehend ignoriert – unsortiert in zwei Kisten – im Archiv der Wiener Universität für angewandte Kunst liegt.3 Er setzt 1962 ein und endet mit Wetzlers Tod im Jahr 1983. Aus ihm geht eine enge Vertrautheit der beiden Korrespondenz­part­ ner hervor. Zudem können wir ihm entnehmen, dass sie sich in großer Regelmäßigkeit gegenseitig besuchten: Meist kam sie im Winter für mehrere Wochen nach Berlin, er hielt sich dagegen oft die Sommermonate über in ihrem Ferienhaus in Radstadt auf (Abb. 2). Zusammen zogen die beiden aber nicht, sondern führten über Jahrzehnte eine Fernbezieh­ung – ein Umstand, ohne den es den umfangreichen und wich­ tigen Quellenbestand wahrscheinlich nicht gäbe.

3  Nachlass Margarete Schütte-Lihotzky, Archiv der Universität für ange­w andte Kunst, Wien (UaK, NL MSL), Hans I + II. 4  Zu Schütte siehe den Beitrag von David Baum in diesem Band sowie ÖGFA/Ute Waditschatka (Hg.): Wilhelm Schütte Architekt. Frankfurt – Moskau – Istanbul – Wien, Zürich 2019. 5  Edith Friedl: Nie erlag ich seiner Persönlichkeit … Margarete Lihotzky und Adolf Loos. Ein sozial- und kulturgeschichtlicher Vergleich, Wien 2005, S. 153. Hier ist der Nach­ name wie der Name der hessischen Stadt Wetzlar geschrieben und als Geburtsjahr 1904 ange­ geben. Sogar in einem Bericht zu der Tagung, die dieser Publikation vorange­g angen ist, ist fälsch­l icherweise von »Hans Wetzlar« die Rede: Sebastian Engelmann: Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Per­ spektiven auf Leben und Werk Margarete SchütteLihotzkys. Konferenz in Wien, in: Arbeit. Bewe­ gung. Geschichte. Zeit­ schrift für historische Studien 18 (2019), H. 1, S. 142–145, hier S. 144.

Abb. 2: Hans Wetzler, Margarete Schütte-Lihotzky und Urike Jenni mit Tochter, Radstadt 1979, Foto: Willi Weinert

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6  Willi Weinert: Hans Wetzler, der Freund Grete Schütte-Lihotzkys, in: Neue Volksstimme, Nr. 1, März 2000, S. 31f. 7  So der Titel meines Vortrags bei der diesem

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Band zugrunde liegenden Tagung. 8  »Jetzt bin ich Persona grata«. Gespräch zwi­ schen Chup Friemert und Margarete SchütteLihotzky, Juni 1984, in: Margarete SchütteLihotzky: Erinnerungen aus dem Widerstand, hg. von Chup Friemert, Hamburg 1985, S. 7–45, hier S. 44. 9  Elisabeth Holzinger: Widerstand in Zeiten des Terrors, in: Margarete Schütte-Lihotzky: Erinne­ rungen aus dem Wider­ stand. Das kämpferische Leben einer Architektin von 1938–1945, Wien 2014, S. 7–20, hier S. 19. Schütte-Lihotzkys poli­ tisches Engagement wird in der Literatur zwar nicht verschwiegen (siehe etwa Marion Lindner-Gross: Wien nach 1945. Archi­ tektur, Politik und Engage­ ment für die Frauen, in: Margarete SchütteLihotzky. Soziale Architek­ tur. Zeitzeugin eines Jahr­ hunderts. Ausst.-Kat. MAK – Österrei­chisches Museum für angewandte Kunst, Wien, hg. von Peter Noever, Wien 1996, S. 193–203, v. a. S. 199f., oder Friedl, Persönlichkeit). Doch anders als ihr archi­ tektonisches Werk ist es noch keiner umfangreichen systematischen Analyse und Interpretation unter­ zogen worden. Einen ersten Versuch habe ich an anderer Stelle unter­ nommen: Marcel Bois: »Bis zum Tod einer fal­ schen Ideologie gefolgt«.

Auffällig ist, dass es Schütte-Lihotzky gelungen ist, ihren Lebenspartner Wetzler – anders als ihren Ex-Mann Wilhelm Schütte, mit dem sie ja auch zusammenarbei­tete – von der Öffentlichkeit fernzuhalten.4 Sie selbst erwähn­te Wetzler weder in eigenen Texten noch in Interviews. Und auch in der Sekundärliteratur spielt er keine Rolle. Wenn er hier überhaupt einmal erwähnt wird, dann ist sein Name falsch geschrieben, und auch die Lebensdaten stimmen nicht.5 Einzig in einem Beitrag in der kommunistischen »Neuen Volksstimme« wurde nach Schütte-Lihotzkys Tod auf die Beziehung zu Wetzler hingewiesen.6 Doch gerade für den Wissenschaftsbetrieb ist es durchaus berechtigt, ihn als den »unbekannten Mann an Schütte-Lihotzkys Seite« zu bezeichnen.7 Sicherlich mag diese Nichtbeachtung von Hans Wetzler damit zu tun haben, dass dieser erst in Schütte-Lihotzkys zweiter Lebenshälfte eine Rolle spielte, die ohnehin weni­ger gut erforscht ist. Ein weiterer Grund könnte sein, dass die beiden nicht durch eine gemeinsame Profession mitei­nan­der verbunden waren, weshalb er für die Architekturgeschichte uninteressant ist. Vielmehr verband sie eine ähnliche Gesin­ nung. Beide gehörten der Kommunistischen Partei Öster­ reichs (kpö) an. Schütte-Lihotzky selbst betonte zwar stets, dass ihre politische und ihre berufliche Tätigkeit eng mit­ einander verzahnt seien: »Ich kann das gar nicht von einan­der trennen.«8 Doch in der wissenschaftlichen Betrach­ tung fand dieser Zusammenhang bislang nur wenig Beach­ tung. Noch vor wenigen Jahren konstatierte Elisabeth Holzinger, dass »zwar die Architektin Margarete SchütteLihotzky mittler­weile bekannt ist, zu wenig aber der politi­ sche Mensch«.9 Entsprechendes gilt – abgesehen von der Wider­stands­zeit – auch für ihre politischen Wegbegleite­ rinnen und Wegbegleiter. Die historische Kommunismusforschung geht mitt­ lerweile davon aus, »dass soziale Beziehungen eine erhebliche Rolle […] für die lebenslange Zugehörigkeit [zur kommunistischen Partei] spielten«.10 Dementsprechend ge­ hört zur Erforschung der Kommunistin Schütte-Lihotzky auch eine Analyse ihrer politischen Netzwerke sowie ihrer persönlichen Bekanntschaften und Freundschaften. Vor

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allem Hans Wetzler kommt hier eine nicht zu unterschät­ zende Rolle zu. Es stellt sich etwa die Frage, ob und wie sich die beiden gegenseitig in ihren politischen Ansichten beein­ flussten und bestärkten. Inwiefern lässt ihre Beziehung Rückschlüsse auf Schütte-Lihotzkys Verhältnis zur kommu­ nistischen Partei oder zur Sowjetunion zu? Wie prägte die Partnerschaft mit Wetzler Schütte-Lihotzkys Persönlichkeit, ihre Denk- und Verhaltensweisen? Spielte es eine Rolle, dass sich die beiden erst recht spät kennenlernten? Voraussetzung zur Beantwortung dieser Fragen ist eine Annäherung an den Lebensweg von Hans Wetzler, über den wir bislang nur sehr wenig wissen. Daher soll hier – auf Grund­lage verschiedener Archivquellen – eine biografische Skizze des gebürtigen Wieners entstehen. Sie wird die wich­ tig­sten Stationen in Wetzlers Leben darstellen und vor allem seinen politischen Werdegang nachzeichnen. Ferner sollen politische Netzwerke und soziale Beziehungen aufgezeigt werden, über die er und Schütte-Lihotzky gemeinsam ver­ fügten. Zuletzt wird ein kurzer Blick darauf geworfen, wie die politischen Ansichten der beiden korrelierten. Auf diese Weise soll die Grundlage zur Beantwortung der oben aufge­ worfenen Fragen gelegt und damit ein wichtiger Baustein zur weiteren Erforschung der politischen Biografie SchütteLihotzkys geliefert werden.11 Biografische Skizze

Über die ersten Lebensjahre von Hans Wetzler lässt sich nur wenig in Erfahrung bringen. Er wurde am 18. April 1905 als Sohn einer jüdischen Familie in Wien geboren und ver­ brachte Kindheit und Jugend in der Donaumetropole.12 Zum Zeitpunkt seiner Geburt lebte die Familie in der Rosen­ bursenstraße 8 im ersten Bezirk.13 Seine Eltern stammten aus Böhmen. Die Mutter Olga, geborene Bloch, wurde am 7. November 1883 in Pilsen geboren, sein Vater Richard am 23. Juni 1866 im benachbarten Taus (heute: Domažlice). Die beiden heirateten im Jahr 1904 und bekamen in der Folge drei Kinder. Wetzlers jüngerer Bruder Herbert Oskar wurde 1908 geboren und verstarb bereits im Alter von 23 Jahren. Die Schwester hieß Käte, kam am 23. September 1906 zur Welt und heiratete den Wiener Fabrikanten Fritz Heller. Mit 228

Margarete SchütteLihotzky als kommunis­ tische Intellektuelle, in: Zeitgeschichte in Hamburg 2017, hg. von der For­ schungsstelle für Zeitge­ schichte, Hamburg 2018, S. 66–88. Auch dieser Band soll einen Beitrag dazu leisten, die politische Schütte-Lihotzky wieder­ zuentdecken. 10  Doris Danzer: Zwi­ schen Vertrauen und Verrat. Deutschsprachige kommunistische Intellek­ tuelle und ihre sozialen Beziehungen (1918–1960), Göttingen 2012, S. 19. 11  Die aufgeworfenen Fragen versuche ich in einer biografischen Studie zu beantworten, die derzeit unter dem Arbeitstitel »Küche, Karriere und Kommunismus. Das Jahr­ hundertleben der Archi­ tektin Margarete SchütteLihotzky (1897–2000)« entsteht. 12  Eintrag »Hans Wetzler«, in: GeburtsBuch für die israelitische Kultusgemeinde in Wien, S. 108, Archiv IKG Wien, Bestand Matriken, A/VIE/ IKG/I/BUCH/MA/ GEBURTSBUCH/58/Rz 858/1905; Hans Wetzler: Lebenslauf, UaK, NL MSL, Hans I. 13  Lehmanns Allgemei­ ner Wohnungs-Anzeiger nebst Handels- und Gewerbe-Adreßbuch für die k. k. Reichs-Hauptund Residenzstadt Wien nebst Floridsdorf und Jedlersdorf, 47. Jg., Wien 1905, Bd. 2, S. 1478.

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14  Alle Angaben zur Familie basieren auf einer schriftlichen Mitteilung von Jörg Klettenheimer, Wien, an den Verfasser, vom 22.1.2019. Ich danke ihm und auch Tony Hausner für die wertvollen Hinweise. Zur Schwester siehe zudem: Hans Wetzler an »Liebe Freundin«, Berlin, 31.10.1976, UaK, NL MSL, Hans I. 15  Weinert, Wetzler, S. 31; Wetzler, Lebenslauf. 16  Siehe hierzu bei­ spielsweise: Hans Wetzler an »liebe Genossen«, Berlin, 5.6.1971, UaK, NL MSL, Hans I. 17  Barbara Vormeier: Frankreich, in: ClausDieter Krohn u. a. (Hg.): Handbuch der deutsch­ sprachigen Emigration 1933–1945, 2. Aufl., Darmstadt 2008, Sp. 213– 250, hier Sp. 222. 18  W.: Hans Wetzler gestorben, Manuskript, [Mai 1983], Zentrales Parteiarchiv der KPÖ, Wien (ZPA KPÖ). 19  Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Österreichs, Kader-Abtei­ lung, an die Stadt­l eitung Wien, 20. März 1951, ZPA KPÖ. Zu Marek siehe: Maximilian Graf: Franz Marek – Stalinist, Kritiker, Reformer, Ausgeschlos­ sener, in: Knud Andresen/ Mario Keßler/Axel Schildt (Hg.): Dissidente Kommu­ nisten. Das sowjetische Modell und seine Kritiker, Berlin 2018, S. 107–134.

ihm hatte sie zwei Kinder. Nach Hellers Tod wanderte sie 1946 nach Tasmanien aus, wo sie am 29. Juni 1963 in der Hauptstadt Hobart starb.14 Als junger Erwachsener, im Jahr 1923, zog Wetzler nach Triest. Dort arbeitete er in einer Filiale der Speditionsfir­ma, die sein Vater und sein Onkel gemeinsam betrieben. 1926 übernahm er die Leitung der Dependance in Passau, bis er 1929 nach Paris ging, wo er laut eigener Aussage Teilhaber eines Lkw-Unternehmens wurde.15 In den 1930er Jahren be­ gann hier seine Politisierung. Zu dieser Zeit regierte in Frankreich die Volksfrontregierung, eine Koalition aus So­ zialisten und Radikalen unter Premier Léon Blum, die von den Kommunisten unterstützt wurde. Zweifellos prägte Wetzler diese Erfahrung. So vertrat er später Ansichten, die der kom­ munistischen Volksfrontpolitik der 1930er Jahre ähnelten.16 Ebenfalls beeinflusste ihn die Tatsache, dass Paris damals ein Ort des Exils war. Neben Prag entwickelte sich die Metropole vor 1939 zum »Zentrum der deutschsprachi­ gen politischen Emigration«, zahlreiche Gegner des nsRegimes fanden hier Zuflucht.17 Hans Wetzler kam in Kontakt zu politischen Exilanten und entsprechend auch zur poli­ti­ schen Linken.18 Beispielsweise begegnete hier er Franz Marek, dem späteren Resistance-Kämpfer und wichtigen kommunis­ ti­schen Intellektuellen der österreichischen Nachkriegszeit.19 Zudem freundete er sich mit dem Maler und Kommunisten Hans Escher an. Laut Willi Weinert, einem späteren Freund, lernte er zu dieser Zeit auch schon Margarete SchütteLihotzky kennen.20 Nachdem die Architektin zusammen mit ihrem Mann die Sowjetunion verlassen hatte, hielt sie sich 1937/38 knapp ein Jahr lang in der französischen Hauptstadt auf, wo sie ebenfalls in Kontakt zu linken Kreisen stand.21 Zu Kriegsbeginn meldete sich Wetzler als Freiwilliger bei der französischen Armee, wodurch er im Jahr 1940 nach Algerien kam (Abb. 3).22 Dort wurde er demobilisiert und arbeitete fortan als Fotograf und Journalist für eine Satire­ zeitschrift.23 Ab 1942 beteiligte er sich an Aktivitäten der Kommunistischen Partei Algeriens, der er im folgenden Jahr beitrat. Nach der Befreiung von Paris im Sommer 1944 kehrte er in die französische Hauptstadt zurück. Hier wechselte er in die Kommunistische Partei Frankreichs und arbeitete

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20  Weinert, Wetzler, S. 31. 21  Gespräch SchütteLihotzky/Friemert, S. 37. 22  Hans Wetzler: Die Fliegen von Sidi-belAbbes, in: Volksstimme, [nach 1962], ZPA KPÖ. 23  In seinem Lebenslauf nennt Wetzler sie »Le Canard Sauvage«. Weinert, Wetzler, S. 31, bezeichnet das Blatt als »Canard Sauvache«. Laut Escher (ak. Maler) über Hans Wetzler, Manuskript, ZPA KPÖ, hieß die Zeitschrift hingegen »Chanard dé Enchainé«. Möglicher­

Abb. 3: Hans Wetzler in der französischen Armee, Sidi-Bel-Abbes, Algerien, August 1940, Fotografie

weiter für die erwähnte Satirezeitschrift, deren Redaktion ebenfalls nach Paris verlegt worden war. Im September 1947 machte er schließlich seine kommunistische Berufung zum Beruf: Er trat in das Bureau soviétique d’informations ein und wurde Redakteur der Zeitschrift »Etudes soviétiques«, wo er unter dem Pseudonym »Smirnov« für die Theorie­ leitartikel verantwortlich zeichnete.24 In dieser Zeit war er mit einer seit 1928 in Paris lebenden Österreicherin verhei­ ratet. Doch die Ehe scheiterte bald.25 Im beginnenden Kalten Krieg wurde Wetzler aus Frank­ reich ausgewiesen, Ende 1950 musste er das Land verlassen. Es folgte ein sechsjähriges Intermezzo in seiner Heimatstadt Wien. Dort lebte der Kommunist Wetzler aber keineswegs in der sowjetischen Besatzungszone, sondern in der Kahlen­ berger Straße 70 im us-amerikanisch besetzten 19. Bezirk.26 Er wechselte erneut die kommunistische Partei und wurde 230

weise meint Escher die seit 1915 erscheinende Wochenzeitung »Le Canard enchaîné«. Doch diese erschien während der Kriegsjahre nicht. In Algier gab es hingegen in den 1940er Jahren tatsächlich eine Zeitschrift mit dem Namen »Canard sauvage«, die Claude Glayman als einen »Canard Enchaîné local« bezeich­ nete. Herausgegeben wurde sie von dem Kommunisten Bernhard Lecache. Tim: L’autocari­c ature. Conversations avec Claude Glayman, Paris 1974. Vgl. auch den Autoren­e intrag: Roland Bacri auf »Les Hommes sans Epaules«, online unter: http://www.les hommes sansepaules. com/auteur-Roland_ BACRI- 193-1-1-0-1. html (abge­r ufen am 20.3.2019). 24  Wetzler, Lebenslauf.

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25  Weinert, Wetzler, S. 32. 26  Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Österreichs, KaderAbteilung, an die Stadt­ leitung Wien, 20.3.1951, ZPA KPÖ. 27  Wetzler, Lebenslauf. 28  Siehe zu dessen Frühgeschichte: Sigrid Koch-Baumgarten/Peter Rütter (Hg.): Zwischen Integration und Autonomie. Der Konflikt zwischen dem Internationalen Berufssekretariaten und dem Weltgewerkschafts­ bund um den Neuaufbau einer internationalen Gewerkschaftsbewegung 1945 bis 1949. Eine Quellenedition, Frankfurt am Main 1991. 29  Wetzler, Lebenslauf. 30  Hans Wetzler an Grete Schütte-Lihotzky, 31.8.1962, UaK, NL MSL, Hans I. 31  Hans Wetzler an Grete Schütte-Lihotzky, 28.11.1962, UaK, NL MSL, Hans I. 32  Hans Wetzler an Grete Schütte-Lihotzky, 23.5.1963, UaK, NL MSL, Hans I. 33  Karteikarte Hans Wetzler, Bundesbeauftrag­ ter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), Berlin, MfS HA II/ Abt. 9 VHS.

nun Mitglied der kpö. Vorübergehend war er Redakteur der in Wien vom Sowjetischen Informationsbüro herausge­ gebenen »Österreichischen Zeitung«. Doch bereits im Lauf des Jahres 1951 erhielt er eine Anstellung beim Weltgewerk­ schaftsbund (wbg) und wurde französischer Redakteur von dessen Zentralorgan »Le Mouvement syndical mondial«.27 Beim Weltgewerkschaftsbund handelte es sich um einen 1945 gegründeten internationalen Dachverband. Zu­nächst war der wbg überparteilich, doch ab 1949 gehörten ihm nur noch Gewerkschaften an, die entweder aus realsozialis­ tischen Staaten stammten oder den kommunistischen Par­ teien des Westens nahestanden.28 Im Jahr 1956 musste der Weltgewerkschaftsbund seinen Sitz von Wien nach Prag ver­ legen. Wetzler folgte seinem Arbeitgeber in die Tschecho­ slowakei, wo er 1958 Chefredakteur von dessen Zeitung wur­ de.29 Während der Prager Jahre verstarb, am 30. August 1962, Wetzlers Mutter. Mit einer Mitteilung über diesen Todes­fall setzt der im Archiv erhaltene Teil des Briefwechsels mit Schütte-Lihotzky ein.30 Kurze Zeit später berichtet Wetzler ihr, dass er in die ddr ziehen würde.31 Am 29. Juni 1963 endete schließlich seine Tätigkeit in Prag. Die neue Ar­beit in Ost­ berlin nahm er am 20. August desselben Jahres auf.32 In der Hauptstadt der ddr lebte Wetzler zentral am Strausberger Platz 11.33 Hier betätigte er sich zunächst als Cheflektor für die französische Sprache bei der Liga für Völkerfreundschaft.34 Später, als Rentner, war er dann frei­ beruflich tätig – oder wie er 1971 dem österreichischen Kommunisten Horak schrieb: »Ich selbst führe hier mein gewohn­tes ›freischaffendes‹, wie man hier sagt, Leben, das heisst ein Leben in relativer Unabhängigkeit und Disponi­ bili­tät.«35 In dieser Zeit übersetzte er beispielsweise den zweiten und dritten Band der Memoiren des französischen Kommu­nisten Jacques Duclos.36 Zudem soll er zu dieser Zeit – wie es später in einem Nachruf hieß – »sein marxistisches Wissen und seine exzellenten Kenntnisse der französischen Sprache« im Rahmen eines Projekts der französischen kp zur Über­ setzung des Marx-Engels-Briefwechsels eingebracht haben.37 Im Auf­t rag des Instituts für Marxismus-Leninismus unterstützte er darüber hinaus den französischen Kommunis­ ten Florimond Bonte, als dieser ein Buch über deutsche

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Antifaschisten in der französischen Resistance schrieb.38 Zugleich war Wetzler aber auch selbst als Autor tätig, zumeist für kommunistische Periodika.39 Für die kpö verfasste er beispielsweise »Der üb­liche Weg zum Reichtum«, eine kurze Broschüre über die Funktionsweise ökonomischer Ausbeu­ tung. Sie sollte »einen gemeinverständlichen Einblick in die wissenschaftliche Welt­anschauung des Marxismus eröffnen, vor allem für jene, die erstmals einen ›Einstieg‹ suchen«.40 In seinen letzten Lebensjahren war Hans Wetzler ge­ sundheitlich schwer angeschlagen. Immer wieder klagte er in seinen Briefen über schweres Asthma und depressive Phasen. Schließlich gab er »den Dingen eine radikale irrever­ sible Wendung«, wie er an Freunde schrieb. Sein Entschluss sei »ein wohlüberlegter, klar begründeter, kein in depres­ siver Laune gefasster«.41 Margarete Schütte-Lihotzky teilte er mit: »Es geht mir objektiv so miserabel, der Verfall ist in den letz­ten Wochen ein so rapider geworden, daß ich es tun muß, solange ich es überhaupt noch tun kann.«42 An einem Sams­tag, dem 7. Mai 1983, beging Hans Wetzler unter dem Ein­druck seiner schweren Krankheit Suizid. Kommunistische Netzwerke

Margarete Schütte-Lihotzky war acht Jahre älter als Hans Wetzler. Doch vergleicht man die Lebenswege der beiden, so fallen einige Parallelen auf: Beide wurden in Wien geboren und wuchsen dort in bürgerlichen Familien auf. Zudem machten beide umfangreiche transnationale Erfahrungen, reisten viel und verließen mit Mitte/Ende zwanzig für län­ gere Zeit ihre Heimatstadt – Wetzler im Alter von 24 Jahren, als er nach Paris ging, während Schütte-Lihotzky mit 28 Jahren nach Frankfurt am Main zog. Sowohl er als auch sie lebten Mitte der 1930er Jahre in Paris und hatten Kontakt zu Exilgruppen. Beide erlebten die Machtergreifung der Natio­ nalsozialisten und die Angliederung Österreichs vom Aus­ land aus. Und beide entschlossen sich, gegen die Nazis zu kämpfen: Schütte-Lihotzky ging in den antifaschistischen Widerstand, Wetzler meldete sich freiwillig zur französi­ schen Armee. Darüber hinaus ist es bemerkenswert, dass die Politi­ sierung der beiden an Orten stattfand, an denen zu jener Zeit 232

34  Wetzler, Lebenslauf. 35  Hans Wetzler an Genosse Horak, Berlin, 30.1.1971, UaK, NL MSL, Hans I. 36  Jacques Duclos: Memoiren II. 1940–1945, übersetzt von Hans Wetzler, Berlin (DDR) 1973; ders.: Memoiren III. 1945–1969, aus dem Französischen übersetzt von Hans Wetzler, Berlin (DDR) 1975. Den ersten Band von 1972 hatte Otto Distler übersetzt. 37  W., Hans Wetzler gestorben. 38  Siehe hierzu die Schreiben Franz Dahlem an Hans Wetzler, 4.3. und 28.5.1968, sowie Hans Wetzler an Franz Dahlem, 31.5.1968, Bundesarchiv Berlin, NY 4072/192, Bl. 202–205. Siehe auch die Danksagung in Florimond Bonte: Les Antifascistes allemands dans la résistance française, Paris 1969, S. 16: »Je tiens à remercier ici la direction et les collabo­ rateurs de l’Institut du marxisme-léninisme, notamment Jean Wetzler, pour l’aide importante qu’ils ont apportée à mes recherches et, partant à la rédaction de ce livre.« 39  Sein letzter bekann­t er Text ist: Hans Wetzler: »Thesen über Feuerbach« und wir, in: Weg und Ziel. Monatsschrift für Theorie und Praxis des MarxismusLeninismus 1/1980, S. 29–31

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40  Hans Wetzler: Der übliche Weg zum Reich­ tum, Wien [1978], S. 1. 41  Hans Wetzler an Ingeborg und Mitja Rapoport, 6.5.1983, UaK, NL MSL, Hans I, »Letzter Wille«. 42  Hans Wetzler an Margarete SchütteLihotzky, 6.5.1983, UaK, NL MSL, Hans I, »Letzter Wille« (Hervorhebung im Original). 43  Zum späten Partei­ eintritt Schütte-Lihotzkys siehe: Bois, Ideologie, S. 69f. 44  Ebd., S. 86. 45  Zu Leben und Werk von Walter Hollitscher siehe: Alfred Klahr Gesell­ schaft (Hg.): Zwischen Wiener Kreis und Marx. Walter Hollitscher (1911– 1986), Wien 2003. 46  In einem Brief berich­ tete Wetzler über einen Besuch Hollitschers in Berlin und die Entstehung des hier gezeigten Fotos: »Am nächsten Tag waren wir zusammen im Zoo, wo sich Violetta mit einem Löwenbaby im Schoss und von Walter und mir flankiert hat photographieren lassen.« Hans Wetzler an Margarete SchütteLihotzky, Freitag, den 21. [Mai 1971], UaK, NL MSL, Hans I. 47  Ingeborg Rapoport: Meine ersten drei Leben. Erinnerungen, Berlin 2 2002; Hans Mikosch/

umfangreiche soziale Reformprojekte durchgeführt wurden: Margarete Schütte-Lihotzky war beeinflusst vom Roten Wien der 1920er Jahre und trat in dieser Zeit in die sozial­ demo­kratische Partei ein. Hans Wetzler wiederum erlebte in den 1930er Jahren das Paris der Volksfrontregierung aus nächster Nähe und wurde bald darauf Kommunist. Auffällig ist zudem, dass beide vergleichsweise spät in eine kommu­ nistische Partei eintraten: er mit 38, sie mit 42 Jahren.43 Nicht zuletzt lernten sie kommunistische Parteien verschiedener Länder kennen: Wetzler war Mitglied der algerischen, fran­ zösischen und österreichischen kp, zudem hatte er während seiner Jahre in der ddr Verbindungen zur sed. SchütteLihotzky hatte Kontakt zur kpdsu, zur türkischen kp und war selbst jahrzehntelang Mitglied der Kommunistischen Par­tei Österreichs. Politik spielte also zweifellos eine wichtige Rolle in der Beziehung der beiden, über ihre Mitgliedschaft in der kpö bewegten sie sich in ähnlichen politischen Netzwerken. Vor allem aber pflegten sie enge freundschaftliche Beziehungen zu anderen kommunistischen Intellektuellen. Diese politi­ schen Freundschaften und Netzwerke waren für SchütteLihotzky in den Jahrzehnten nach dem Krieg, als sie vielfach als Kommunistin ausgegrenzt wurde, sehr wichtig – und sind sicherlich ein zentraler Grund für ihre enge Bindung an die kommunistische Bewegung.44 Zum Freundeskreis von Wetzler und Schütte-Lihotzky gehörten beispielsweise der Wiener Philosoph Walter Hollitscher und seine Frau Violetta. Walter Hollitscher, in den 1960er und 1970er Jahren Mit­glied im Zentralkomitee der kpö, hatte zwischen 1965 und 1984 eine Gastprofessur an der Universität Leipzig inne.45 Dem­ entsprechend hielten sich die Hollitschers regelmäßig in der ddr auf, wo sie sich oft mit Hans Wetzler und Margarete Schütte-Lihotzky trafen (Abb. 4).46 Weitere enge Freunde waren die Rapoports: der Biochemiker Samuel Mitja und die Kindermedizinerin Ingeborg, die nach dem Krieg in Wien gelebt hatten – und nun in Ostberlin Professuren in ihren je­ weiligen Fächern innehatten.47 Mit ihnen trafen sich SchütteLihotzky und Wetzler ebenfalls regelmäßig, sowohl in Berlin als auch in dem Ferienhaus in Radstadt. Sie waren diejenigen, die Wetzler nach dessen Tod auffanden.48

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Politik spielte selbstverständlich auch in der Korrespon­ denz von Wetzler und Schütte-Lihotzky eine Rolle. Leider ist der überlieferte Briefwechsel keineswegs ausgewogen. Der allergrößte Teil der Schreiben stammt von Wetzler, der sich darin sehr regelmäßig über die Gewerkschaftspolitik der kpö ausließ. Schütte-Lihotzkys Reaktionen lassen sich an­ gesichts des Ungleichgewichts nicht immer rekonstruieren. Doch es scheint so, als ob die beiden sich in wesentlichen Fragen nahestanden. In der Parteikrise der späten 1960er Jahre war Schütte-Lihotzky beispielsweise auf dem ortho­ doxen Flügel der kpö zu finden und rechtfertigte die Nieder­ schlagung des »Prager Frühlings« durch sowjetische Trup­ pen.49 Eine ähnliche Haltung lässt sich auch in den Briefen von Hans Wetzler nachweisen. Den Parteireformer Ernst Fischer bezeichnete er als »Sumpfblüte«.50 Nach dessen und Franz Mareks Parteiausschluss freute er sich, dass die kpö eine »jetzt von den Revisionisten gereinigte Partei« sei.51 Schütte-Lihotzkys öffentliche »Wiederentdeckung« in den frühen 1980er Jahren nahm Wetzler begeistert zur Kennt­­nis. Er begrüßte, dass sie nun die Rolle einer Zeitzeugin ein­ nahm. So unterstützte er noch in seinem Abschiedsbrief Schütte-Lihotzkys Vorhaben, ihre Lebenserinnerungen zu schreiben – und gab ihr zugleich eine politische Mission mit auf dem Weg: »Du mußt Dich mit aller Kraft für Deine Ar­ beit erhalten, das heißt die Arbeit für die Nachkommenden. Deine Vergangenheit, Deine Parteierfahrung, Deine Lebens­ weisheit sollst Du bis aufs Letzte einsetzen. Niemand kann noch aus persönlichem Erleben über das Moskau der Drei­ ßigerjahre aussagen und so berichtigend einwirken.«52 Fazit und Ausblick

Margarete Schütte-Lihotzky und Hans Wetzler waren kom­ mu­nistische Kosmopoliten. Sie lebten in verschiedenen Län­ dern, unternahmen viele Reisen und gehörten transnationa­ len beruflichen und politischen Netzwerken an. Ihre Aus­ lands­­erfahrungen machten sie jedoch weitgehend unab­hän­ gig voneinander – zum einen, weil sie sich erst in späteren Lebensjahren kennengelernt hatten. Zum anderen reisten sie aber auch noch in den Jahren ihrer Beziehung oftmals ge­ trennt voneinander. Und nicht nur das: Sie lebten sogar in 234

Gerhard Oberkofler: Über die zwei­m alige Emigration von Samuel Mitja Rapoport aus Wien (1937 und 1952). Einige Archiv­ notizen, in: Sitzungsbe­ richte der LeibnitzSozietät der Wissenschaf­ ten zu Berlin 101 (2009), S. 159–183. Rapoport und Hollitscher waren wiederum auch miteinan­ der befreundet. Siehe Samuel Mitja Rapoport: Persönliches über Walter Hollitscher, in: Alfred Klahr Gesellschaft, Wiener Kreis, S. 143–145. 48  Mitja und Inge Rapoport an Margarete Schütte-Lihotzky, 28.5.1983, UaK, NL MSL, Hans I, »Letzter Wille«. 49  Bois, Ideologie, S. 83. 50  Hans Wetzler an Walter [Hollitscher], Berlin, 15.2.1970, UaK, NL MSL, Hans I. 51  Hans Wetzler an »liebe Genossen«, Berlin, 5.6.1971, UaK, NL MSL, Hans I. 52  Hans Wetzler an Margarete SchütteLihotzky, 6.5.1983, UaK, NL MSL, Hans I, »Letzter Wille«.

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Abb. 4: Hans Wetzler, Violetta und Walter Hollitscher im Berliner Tiergarten, 1971, Fotografie

53  Walter Hollitscher: Kurzfassung des (bisherigen) Lebenslaufs, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-MarxUniversität Leipzig 30 (1981), H. 2, S. 111–116, hier S. 113 und 115. 54  Zum Treffen mit Duncker siehe: SchütteLihotzky, Erinnerungen (1985), S. 48, zum Verhältnis zu Neurath den Beitrag von Günther Sandner in diesem Band. 55  Danzer, Vertrauen, S. 141–153. Siehe hierzu auch die exemplarischen Beobachtungen anhand des Ehepaares Emmy und Werner Scholem in: Ralf Hoffrogge: Werner Scholem. Eine politische Biographie (1895–1940), Konstanz/München 2014, S. 341–356.

unterschiedlichen Staaten. Was sie aber stets verband, war die Zugehörigkeit zur selben Partei und zu gemeinsamen Freundes- und Bekanntenkreisen. Wie umfangreich diese Kreise waren, werden weitere Forschungen zeigen müssen. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Walter Hollitscher lernte im Jahr 1934 Otto Neurath kennen, unmittelbar nach dem Krieg auch Hermann Duncker.53 Mit dem Ersten war Schütte-Lihotzky bereits seit den 1920er Jahren gut be­ freundet, den Zweiten hatte sie in den 1930er Jahren in Paris getroffen.54 Hier stellt sich unweigerlich die Frage, ob weitere Querverbindungen zwischen diesen Bekanntschaften be­ stan­­­den. Ungewöhnlich an der Beziehung von Wetzler und Schütte-Lihotzky ist die Tatsache, dass er in der Öffentlich­ keit in ihrem Schatten stand, wenn nicht sogar darin ver­ schwand. In der Regel war bei kommunistischen Intellek­ tuel­lenpaaren das Gegenteil der Fall. Obwohl die Bewegung Geschlechtergleichheit anstrebte, vertraten ihre Mitglieder im Privaten oftmals ein eher traditionelles Rollenverständ­ nis: Der Mann stand im Vordergrund.55 Eine der wenigen Aus­nahmen aus dem deutschsprachigen Raum stellte die Schriftstellerin Anna Seghers dar, die deutlich bekannter war als ihr Ehemann, der kpd/sed-Funktionär und Wirt­

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schaftswissenschaftler László Radványi (Pseudonym: Johann Lorenz Schmidt).56 Zu nennen ist hier vielleicht noch die ehemalige kpd-Vorsitzende Ruth Fischer, die ihren Lebensgefährten Arkadi Maslow ebenfalls an Prominenz übertraf.57 Doch ein so starkes Ungleichgewicht wie bei Schütte-Lihotzky und Wetzler ist selten anzutreffen. Die Forschung zu kommunistischen Intellektuellen­ paaren hat zudem aufgezeigt, dass die Frauen oftmals nach dem Ableben ihrer Partner dessen Andenken wahrten. Sie verstanden sich als Nachlassverwalterinnen und wachten über das politische und publizistische Erbe.58 Auch das tat Margarete Schütte-Lihotzky nicht. Sie bewahrte zwar die Briefe, die Wetzler ihr geschrieben hatte, auf, unternahm aber sonst keinerlei Schritte, dessen Werke oder sonstige Briefwechsel zu sichern. Legte er selbst keinen Wert darauf? Oder gab es andere Gründe? Dies muss noch ebenso erforscht werden wie einige der eingangs formulierten Fragen zum politischen Verhältnis der beiden. Fürs Erste muss hier die Feststellung genügen: Hans Wetzler war mehr als nur Margarete Schütte-Lihotzkys »sehr inniger Freund«. Er war ihr Genosse, ihr politischer Austauschpartner, möglicher­ weise auch ihr politisches Gewissen. Wissenschaftler/innen, die zur Biografie der Architektin forschen, kommen jeden­ falls nicht mehr an ihm vorbei.

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56  Danzer, Vertrauen, S. 151.

57  Mario Keßler: Ruth Fischer. Ein Leben mit und gegen Kommunisten (1895–1961), Köln/ Weimar/Wien 2013.

58  Danzer, Vertrauen, S. 150.

Soziale Beziehungen und kommunistische Netzwerke

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Die politische Margarete Schütte-Lihotzky

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Margarete Schütte-Lihotzkys Kampf gegen das NS-Regime Elisabeth Boeckl-Klamper

Am 22. Jänner 1941, einen Tag vor ihrer geplanten Rückreise nach Istanbul, wurde Margarete Schütte-Lihotzky gemein­ sam mit dem führenden kpö-Funktionär Erwin Puschmann, den sie zu diesem Zeitpunkt allerdings nur unter dessen Decknamen »Gerber« kannte, von Beamten der GestapoLeitstelle Wien im Café »Viktoria am Schottentor« (1. Bezirk, Schottengasse 10) verhaftet. Bereits nach den ersten Verhören im Gestapohaupt­ quartier am Morzinplatz kam ihr der furchtbare Verdacht, dass ihre und Puschmanns Verhaftung maßgeblich auf die »Spitzeltätigkeit« eines Mannes zurückzuführen war, dem alle Angehörigen der kommunistischen Widerstandsgruppe blind vertraut hatten. Die Gestapobeamten wussten nicht nur, dass sie als Kurierin der Auslandsleitung der kpö aus Istanbul nach Wien gekommen war, sie wussten auch, dass sie jahrelang in Moskau gelebt hatte und Kommunistin war. Der vorliegende Beitrag stellt den Versuch dar, die per­ sönliche Entwicklung Margarete Schütte-Lihotzkys von der Tochter »aus gutem Hause« zur überzeugten, kampf- und opferbereiten Kommunistin im Kontext des österreichischen Widerstands gegen das nationalsozialistische Regime darzu­ stellen. »Der Gesinnung nach fühlte ich mich schon damals zu den Kommunisten hingezogen« 1

Margarete Schütte-Lihotzky stammte aus einer gutbürger­ 238

1  Margarete SchütteLihotzky: Von Istanbul nach Wien, unveröffent­ lichtes Manuskript, Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, Wien (DÖW), Bibliothek Nr. 10159, S. 3.

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2  Margarete SchütteLihotzky: Erinnerungen aus dem Widerstand 1938–1945, hg. von Chup Friemert, Hamburg 1985, S. 24.

3  Margarete SchütteLihotzky: Warum ich Architektin wurde, hg. von Karin Zogmayer, Salzburg 2004, S. 118f.

4  Siehe hierzu den Beitrag von Thomas Flierl in diesem Band.

5  Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers (1942), Berlin 2014, S. 382.

lichen, altösterreichischen Familie – der Vater war Staats­ beamter, der Großvater Bürgermeister von Czernowitz. Ihr Weg zur überzeugten Kommunistin und antinazistischen Widerstandskämpferin zeichnete sich bereits während ihres Studiums ab. Angeregt durch ihren Lehrer Oskar Strnad und unter dem Eindruck der herrschenden elenden Wohnver­ hältnisse der Arbeiterschaft setzte sie sich mit sozialen Fragen auseinander. Sie erkannte jedoch rasch, dass sozialer Wohnbau und bessere Wohnverhältnisse alleine die Lage der Werktätigen nicht nachhaltig verändern könnten, sondern dass dies nur durch die Umwälzung der gesellschaftlichpolitischen Verhältnisse möglich wäre. 1923 wurde sie Mit­ glied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, da sie damals glaubte, dass »das, was da gemacht wird, zum Sozialismus führt«.2 1925 nahm sie das Angebot Ernst Mays an, im Rahmen des von ihm initiierten Projektes »Neues Frankfurt« mitzu­ arbeiten. In ihren Erinnerungen zeigte sie sich noch viele Jahre später über die unpolitische Haltung ihrer Frankfurter Kollegen, die beispielsweise nicht an den Feiern zum 1. Mai teilnahmen, erstaunt.3 Nachdem das Projekt in Frankfurt Ende der 1920er Jahre infolge der Weltwirtschaftskrise zum Erliegen gekommen war, schlossen sich Margarete SchütteLihotzky und ihr Mann Wilhelm Schütte – sie hatten 1927 geheiratet – 1930 dem Architektenstab um Ernst May an, um in der Sowjetunion am Entwurf bzw. Bau von Schulen und Kindereinrichtungen mitzuarbeiten.4 Schütte-Lihotzky, da­ mals weder Mitglied der kpö noch der kpdsu, war sowohl von den ihr gestellten Aufgaben als auch vom Leben in der Sowjetunion tief beeindruckt. Tatsächlich übte das Land, in dem seit der Oktoberrevolution eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft stattgefunden hatte, eine große Anziehungs­ kraft auch auf europäische Intellektuelle aus, schien doch hier eine gesellschaftliche Alternative zu der von wirtschaft­ lichen und politischen Krisen geschüttelten westlichen Welt im Entstehen begriffen zu sein. Selbst Stefan Zweig, den 1928 eine Lesereise in die Sowjetunion führte, war von der »im­ pulsiven Herzlichkeit« der Menschen und deren Bereitschaft, Entbehrungen und Einschränkungen »um einer höheren Mission willen« hinzunehmen, beeindruckt.5

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Margarete Schütte-Lihotzky nahm in der Sowjetunion regen Anteil an den zahlreichen politischen Diskussionen, die allerdings schon aufgrund der Sprachbarrieren in erster Linie innerhalb der Zirkel der ausländischen Spezialisten und Facharbeiter stattfanden. Es war eine fast logische Kon­ sequenz, dass sie sich »der Gesinnung nach […] schon damals zu den Kommunisten hingezogen«6 fühlte und auch Kontakte zu Mitgliedern der kpö unterhielt. So hatte sie unter anderem Hermann Köhler, seit 1934 Mitglied des Zentralkomitees (zk) der kpö und einer der österreichischen Delegierten am 7. Weltkongress der Kommunistischen Internationale (Kom­ intern) 1935, kennengelernt, der sie 1941 rückblickend in einem Bericht an Georgi Dimitroff 7 als »tüchtige[n] und talentierte[n] Mensch[en], sehr begeistert und positiv ge­ genüber der Sowjetunion gestimmt«, beschrieb.8 Schütte-Lihotzky blieb ihrer Gesinnung auch treu, als ab 1933 sukzessive fast alle Mitarbeiter Mays aufgrund zu­ nehmen­ der Differenzen mit den sowjetischen Behörden nach Westeuropa zurückkehrten und die ersten großen Schauprozesse in Moskau im August 1936 9 bzw. Jänner 1937 statt­­fanden. Sie und ihr Mann verließen die Sowjetunion erst im August 1937, wenige Tage nachdem am 25. Juli 1937 der geheime nkwd-Befehl Nr. 00439 in Kraft getreten war. Dieser ordnete »die Ergreifung von Repressivmaßnahmen gegenüber deutschen Staatsangehörigen, die der Spionage gegen die udssr verdächtig sind«, an. Stalin hatte aller­dings auf den Entwurf des Befehls handschriftlich »Alle Deutschen in unseren Rüstungsbetrieben, halbmilitärischen und chemischen Werken und auf Baustellen in allen Gebieten sind zu verhaften« notiert, ein Nachtrag, der mehr Gewicht hatte als der effektive Wortlaut der Order.10 Nach einer Aus­ weitung der »Deutschen Operation« waren daher sowohl Sowjetbürger/innen deutscher Abstammung als auch deut­ sche und österreichische Spezialistinnen und Facharbeiter sowie deutsche und österreichische Emigranten und Emi­ grantinnen, einschließlich Mitglieder der kpö und kpd, be­ troffen. Im Gegensatz zu Margarete Schütte-Lihotzky schien Wilhelm Schütte die Gefahr einer Verhaftung geahnt zu haben. Darauf lässt unter anderem der bereits erwähnte 240

6  Schütte-Lihotzky, Von Istanbul nach Wien, S. 3.

7  Georgi Dimitroff war von 1935 bis 1943 Gene­ ralsekretär der Komintern, die ihren Sitz in Moskau hatte. 8  Bericht von Hermann Köhler an Georgi Dimitroff, 19.8.1941, Russisches Staatsarchiv für soziale und politische Geschichte, Moskau (RGASPI), f. 495, op. 73, d. 116. Kopien im DÖW: 35 200/005. 9  Bereits im ersten Schauprozess wurden politische »Abweichler« mit »Gestapo-Agenten« gleichgesetzt, was eine Welle von Argwohn gegen­ü ber Deutschen bzw. auch Österreichern zur Folge hatte. Vgl. dazu: Barry McLoughlin/Josef Vogl: »… Ein Paragraf wird sich finden«. Gedenkbuch der österreichischen Stalin-Opfer (bis 1945), hg. vom Dokumentations­ archiv des österreichi­ schen Widerstands, Wien 2013, S. 26. 10  Ebd., S. 43.

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11  Bericht von Hermann Köhler an Georgi Dimitroff, 19.8.1941.

Bericht Hermann Köhlers an Dimitroff schließen, in dem Köhler auch feststellte: »1937 wollte er [gemeint ist Wilhelm] wegfahren. […] Sie [gemeint ist Margarete] wollte nicht wegfahren, aber im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten, die die Ausländer hier hatten, war sie einverstanden, mit ihm wegzufahren.«11 Schütte-Lihotzky nennt in ihren Erinnerungen als Grund für ihre Ausreise aus der Sowjetunion den Umstand, dass beider Pässe bald abgelaufen wären und die deutsche Botschaft in Moskau diese nur für eine Einreise nach Deutsch­ land verlängert hätte. Eine Einreise in ein anderes Land wäre dadurch unmöglich geworden. Eine Rückkehr nach Deutschland kam für das Ehepaar Schütte nicht in Frage, da sich zu diesem Zeitpunkt schon beide dazu entschlossen hatten, das ns-Regime mit allen Mitteln zu bekämpfen. Da sie überzeugt waren, dass der antinazistische Widerstands­ kampf besser und effektiver vom Ausland aus zu führen sei, beabsichtigten sie, sich in Frankreich oder England emi­ grierten Widerstandskämpfern anzuschließen. Nach ihrer Ankunft in England wurde Margarete Schütte-Lihotzky und Wilhelm Schütte allerdings rasch klar, dass es für sie kaum Arbeitsmöglichkeiten gab. Sie nahmen daher das Angebot Bruno Tauts, an der Akademie der schö­ nen Künste in Istanbul zu arbeiten, an. Über Paris, wo sie erste persönliche Kontakte zu emigrierten Mitgliedern der kpd bzw. der kpö – der »Anschluss« Österreichs war inzwi­ schen erfolgt – knüpften, reisten sie in die Türkei. Im August 1938 trafen sie in Istanbul ein, das in den kommenden Jahren zu einer wichtigen Drehscheibe des antinazistischen Wider­ standes wurde. Der Widerstand der österreichischen Kommunisten

12  Die KPÖ war am 26.5.1933 im Zuge einer Verhaftungswelle nach verbotenen Demonstra­ tionen zum 1. Mai per Notverordnung von der autoritären Regierung unter Engelbert Dollfuß verboten worden.

Trotz der bereits unmittelbar nach dem gewaltsamen »An­ schluss« Österreichs an Hitlerdeutschland einsetzenden um­fangreichen Verhaftungen gelang es der kpö, die schon seit 1933 im politischen Untergrund12 agierte, zur aktivsten Kraft im Widerstand gegen das ns-Regime zu werden. Basierend auf der Volksfrontstrategie der Kommunistischen Internationalen seit 1934 legte die kpö ihrem Widerstands­ kampf eine betont österreichisch-patriotische Orientierung

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zugrunde. Streuzettel, Flugblätter und Zeitschriften, die unter großen Gefahren hergestellt und verbreitet wurden, stellten die wichtigsten Waffen im Kampf gegen das nsRegime dar.13 Die politische Ausrichtung und Organisation des kom­ munistischen Widerstandskampfes in Österreich erfolgte – in enger Anlehnung an die politischen Richtlinien der Kom­ intern – durch die Auslandsleitung der kpö. Diese befand sich von 1938 bis zum Kriegsausbruch in Paris, danach in Moskau. Um den Kontakt zwischen der Parteileitung in Moskau und den Widerstandsaktivisten im Inland aufrecht­ zuerhalten, wurden in der Slowakei, Türkei, Schweiz sowie in Ungarn, Kroatien und in Schweden »Auslandsstützpunkte« eingerichtet, die von »Auslandsemissären« der kpö geleitet wurden. Über diese »Stützpunkte« sandte die Aus­ landsleitung der kpö Kuriere und Instrukteure nach Öster­ reich. Deren Aufgabe war es, sowohl die von der Par­teileitung ausgearbeiteten politischen Direktiven bzw. Schulungsund Propagandamaterialien den Aktivisten in Österreich zu übermitteln als auch deren Berichte betreffend die politische Lage und die Widerstandsaktivitäten in Österreich an die kp-Leitung in Moskau zu leiten.14 Ein wichtiger Auslandsstützpunkt der kpö entstand in Istanbul, der von dem Architekten Herbert Eichholzer15 und dem aus der Steiermark stammenden Unternehmer Herbert Feuerlöscher16 geleitet wurde. Neben den Vorbereitungen von Sabotageaktionen für den Fall eines deutschen Einmar­ sches versuchten die Aktivisten dieser Gruppe vor allem, die nationalsozialistische Propaganda durch illegale Flugblattund Flüsterpropaganda zu bekämpfen.17 Herbert Eichholzer forderte Margarete Schütte-Lihotzky – nachdem er sich bei den österreichischen Kommunisten in Paris über ihre poli­ tische Zuverlässigkeit erkundigt hatte18 – bald nach ihrer Ankunft in Istanbul zur Mitarbeit in der kpö-Gruppe auf. In dieser standen Diskussionen über Marxismus und die Sow­ jetunion ebenso an der Tagesordnung wie praktische Unter­ weisungen in Hinblick auf die klandestine Arbeit in Öster­ reich. Letztere befolgte Schütte-Lihotzky später in Wien sehr genau, zum Beispiel, »daß ein illegal Arbeitender immer nur mit zwei Leuten Kontakt haben dürfe, daß man 242

13  Vgl. dazu: Wolfgang Neugebauer: Der öster­ reichische Widerstand 1938–1945, überarbeitete und erweiterte Neuauflage, Wien 2015, S. 91–96. 14  Vgl. dazu u. a.: Hans Schafranek: Wiener Gestapo-Spitzel im Umfeld sowjetischer Funkund Fallschirmagenten und als Mitbegründer der 4. illegalen Inlandsleitung der KPÖ (1942), in: Zeitgeschichte 40 (2013), H. 6, S. 323–337. 15  Herbert Eichholzer arbeitete seit November 1938 im Istanbuler Büro Clemens Holzmeisters. Siehe hierzu den Beitrag von Antje Senarclens de Grancy in diesem Band. 16  Herbert Feuerlöscher, der 1938 aus Österreich floh, entstammte einer Unternehmerfamilie mit jüdischen Wurzeln, die in Prenning eine »Holzstoffund Papierfabrik« betrieb. Herbert Eichholzer ver­ brachte auf Einladung der Familie Feuerlöscher ab 1933 viele Wochenenden in Prenning. 17  Vgl. dazu: Peter Pirker: Subversion deut­ scher Herrschaft. Der britische Kriegsgeheim­ dienst SOE und Öster­ reich, Göttingen 2012, S. 139–144. 18  Bericht von Hermann Köhler an Georgi Dimitroff, 19.8.1941, RGASPI, f. 495, op. 73, d. 116. Kopien im DÖW: 35 200/005.

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19  Schütte-Lihotzky, Von Istanbul nach Wien, S. 19.

20  Ebd., S. 7.

21  Nachdem die Wehr­ macht am 6.4.1941 mit insgesamt 680.000 Soldaten Griechenland und Jugoslawien ange­ griffen hatte, konnte Kornweitz seine Tätigkeit in Kroatien noch ein halbes Jahr aufrechter­ halten. Im Herbst 1941 kehrte er aus Kroatien nach Wien zurück, um die mehrmals zerschlagene illegale KP-Leitung zu reorganisieren. Kornweitz wurde am 25.4.1942 von der Gestapo verhaftet. Da er Jude war, wurde er nicht vor Gericht gestellt, sondern als »Schutzhäft­ ling« in das KZ Mauthausen überstellt, wo er im Jahr 1944 ermordet wurde.

so viel als möglich die Verdunkelung ausnützen solle, daß man nie von seiner Wohnung zu einem ›Treff‹ gehen dürfe ohne vorherige Umwege durch einsame Parks oder Gassen, um sicher zu sein, daß niemand hinter einem her sei«.19 Bereits im Frühjahr 1939 schlug Schütte-Lihotzky Herbert Eichholzer vor, sie nach Österreich zu schicken, da eine »persönliche Verbindung zwischen Widerstand im Inneren und Leitung im Ausland […] ständig gebraucht [wurde]. Ich wäre, so meinte ich, als Nichtemigrantin und Nichtjüdin für solche Tätigkeit besonders geeignet.«20 Schütte-Lihotzky musste sich jedoch gedulden, denn Mitte März 1940 kehrte zuerst Herbert Eichholzer nach Österreich zurück, nachdem er gegenüber den deutschen Behörden versichert hatte, sich künftig loyal gegenüber dem Staat zu verhalten. Tatsächlich hatte er von der Auslandsleitung der kpö unter anderem den Auftrag erhalten, die kpö in der Steiermark nach der Verhaftung führender Funktionäre zu reorganisieren und einen illegalen Grenzverkehr nach Zagreb einzurichten. Über diesen sollte eine neue Ver­ bindung zwischen den einzelnen kp-Gruppen in Österreich und der Auslandsleitung der kpö in Moskau hergestellt werden. Schließlich erhielt Margarete Schütte-Lihotzky Ende 1940 von Herbert Feuerlöscher den Auftrag, als Kurierin der kpö – sie war 1939 Mitglied der Partei geworden – nach Österreich zu fahren. Über ihre genaue Tätigkeit sollte sie erst in Zagreb instruiert werden, und zwar von »Bobby«, der dort den Auslandsstützpunkt der kpö leitete. »Bobby« war der Deckname von Julius Kornweitz (Abb. 1), einem der wichtigsten Auslandskader der kpö, der den Kontakt zwi­ schen den »Auslandsemissären« in Schweden, Schweiz, Slowakei, Türkei und Ungarn koordinierte.21 Am 24. Dezember 1940 verließ Margarete SchütteLihotzky per Bahn Istanbul. Offiziell besuchte sie ihre Schwester in Wien, die allerdings über ihre klandestinen Aktivitäten nicht Bescheid wusste. Einige Tage später traf sie in Zagreb Kornweitz, den sie damals nur unter seinem Deck­ namen kannte. Von ihm erfuhr sie nun, dass neben der Über­ mittlung einiger Nachrichten, die eher organisatorischer Natur waren, ihre Aufgabe darin bestand, den führenden

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Abb. 1: Julius Kornweitz (Deckname »Bobby«), erkennungsdienstliches Foto der Gestapo-Leitstelle Wien, 1941

kp-Funktionär Erwin Puschmann von der Notwendigkeit zu überzeugen, Wien so rasch wie möglich zu verlassen, um nicht sich und andere unnötig zu gefährden.22 Puschmann (Abb. 2) war im Juli 1940 aus Bratislava, wo er einen Aus­ landsstützpunkt aufgebaut hatte, nach Wien gekommen, um ideologische Auseinandersetzungen und Differenzen inner­ halb der verschiedenen kp-Gruppen zu bereinigen. Diese waren nicht zuletzt aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes ent­ standen, der von Kommunisten den ›Spagat‹ verlangte, den Pakt zu befürworten und gleichzeitig den Sturz des nsRegimes zu propagieren. Puschmann kontaktierte während seines Aufenthaltes in Wien häufig den Auslandsstützpunkt der kpö in Prag, der seinerseits in ständigem Kontakt mit der Auslandsleitung in Moskau stand. Dabei fungierte sein eng­ ster Mitarbeiter »Ossi«, ein langjähriges Mitglied der kpö, als Kurier.23 Die Treffen zwischen Kornweitz und Schütte-Lihotzky fanden in der Wohnung von Franz Öhler statt, dem vor­ma­ ligen Besitzer des Kaufhauses »Kastner & Öhler«, der auf­ grund seiner jüdischen Herkunft 1938 nach Kroatien geflohen war. Öhler war kein Kommunist, stellte aber seine Wohnung für illegale Treffen zur Verfügung.24 Schließlich übergab Kornweitz Schütte-Lihotzky die verschlüsselte Adresse ihres ersten »Anlaufs«, also der ersten Kontaktperson in Wien. Zum Entschlüsseln der Adresse war 244

22  Schütte-Lihotzky, Von Istanbul nach Wien, S. 20.

23  Vgl. dazu: Urteil des Volksgerichtshofes gegen Erwin Puschmann, Margarete SchütteLihotzky u. a., Bundes­ archiv (BArch) Berlin, R 3017/ZB II 692. Die Autorin dankt Manfred Mugrauer für die Über­ lassung der Kopien des Urteils. 24  Franz Öhler wurde nach dem Einmarsch der Deutschen verhaftet und starb am 4.5.1945 im KZ Buchenwald.

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25  Vgl. dazu: Urteil des Volksgerichtshofes gegen Erwin Puschmann, Margarete SchütteLihotzky u. a., BArch Berlin, R 3017/ZB II 692.

das Buch »Gari Gari« von Hugo Bernatzik nötig. Da es in Zagreb nicht erhältlich war, schrieb Schütte-Lihotzky den Code auf Zigarettenpapier, das sie während der Fahrt nach Wien im Ohr versteckte. Nachdem sie in Wien mit Hilfe des Buches die Adresse des ersten »Anlaufs« entschlüsselt und kontaktiert hatte, vermittelte eine weitere Kontaktperson namens »Sonja« am 2. Jänner 1941 das erste Treffen mit Puschmann. Insgesamt trafen sich Margarete Schütte-Lihotzky und Erwin Pusch­ mann zwischen dem 2. und 22. Jänner 1941 fünf Mal,25 wobei bei drei Zusammenkünften Puschmanns engster Mitarbeiter »Ossi« und bei einer auch »Sonja« anwesend waren. Zweimal traf sich Schütte-Lihotzky nur mit »Ossi«, der ihr – ebenso wie »Sonja« – nicht sehr sympathisch war. Als sie Puschmann fragte, warum »Ossi« häufig ins Ausland reisen könne, ohne den Verdacht der Gestapo zu erregen, erklärte Puschmann, »Ossi« sei im Buchhandel tätig. Das sei eine perfekte Tarnung und würde ihn dazu prädestinieren, auch seinen –

Abb. 2: Erwin Puschmann (Deckname »Gerber«), o.O., o.D. [vor 1941]

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Puschmanns – geplanten illegalen Grenzübertritt in die Slowakei zu organisieren. Die Treffen fanden meist im Café »Viktoria am Schottentor« bzw. einmal auch in der Wohnung des Ehepaares Konopicky26 statt. Da sich Schütte-Lihotzky bereit erklärt hatte, Informationen betreffend den Aufbau der kpö, die Herausgabe von Flugschriften sowie die Stim­ mung innerhalb der österreichischen Bevölkerung an die Auslandsleitung der kpö in Moskau weiterzuleiten, brachte

26  Therese und Anton Konopicky wurden eben­ falls im Jänner 1941 wegen Unterstützung der KPÖ – sie hatten Erwin Puschmann beherbergt und ihm ihre Wohnung für Besprechungen mit anderen KP-Funktionären zur Verfügung gestellt –

Abb. 3: Margarete Schütte-Lihotzky, erkennungsdienstliches Foto der Gestapo-Leitstelle Wien, 1941

sie Puschmann in die Wohnung von Anton und Therese Konopicky, wo sie stundenlang saß und versuchte, sich sämtliche von Puschmann vorgelegten Schriften einzuprä­ gen, um diese später in Zagreb oder Istanbul aus dem Ge­ dächtnis wiedergeben zu können. Ebenso beabsichtigte sie, ein Buch, in dessen Einbanddeckel Schriften versteckt waren, aus Wien zu schmuggeln, um sie in Zagreb Julius Kornweitz zu übergeben. Verhaftung, Verhöre, Verurteilung

Margarete Schütte-Lihotzkys Abreise aus Wien war für den 23. Jänner 1941 geplant, Puschmann sollte ein paar Tage später über die Slowakei nach Moskau fahren, sein Grenz­ übertritt sollte von »Ossi« vorbereitet werden. Am 21. Jänner übergab »Ossi« Schütte-Lihotzky bei einem Treffen in An­ wesenheit von Puschmann das Buch »Gari Gari«,27 in dessen Einbanddeckel Schulungsbriefe sowie verschiedene Berichte, beispielsweise ein Gedächtnisprotokoll über eine Aussprache 246

festgenommen. Therese Konopicky wurde am 29.10.1942 wegen »Vor­ bereitung zum Hochverrat« angeklagt. Sie starb am 10.4.1943 im Landes­ gericht Wien an Lungen­ tuberkulose. Anton Konopicky wurde am 2.6.1943 wegen »Vorberei­ tung zum Hochverrat« zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Er wurde ver­ mutlich im Zuge des Mas­ sakers im Zuchthaus Stein am 6.4.1945 getötet und 1947 für tot erklärt. 27  Das Buch stammte pikanterweise von Hugo Adolf Bernatzik, einem österreichischen Ethno­ logen und Begründer der Angewandten Völkerkunde.

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Bernatzik war ab 1944 auch als passiver politi­ scher Spitzel der NSAbwehrstelle tätig. Von April 1944 an wurde er als »Zubringer, Völkerkundler« im Bereich III C 1 gelistet, der die Aufgabe hatte, Feindspionage in den Ministerien und staatlichen Ämtern abzuwehren.

28  Bericht von M. Schütte, 22.9.1945, DÖW, Nr. 6188.

29 Ebd.

30  Schütte-Lihotzky, Von Istanbul nach Wien, S. 54f.

kommunistischer Funktionäre in Wien, versteckt waren. Am 22. Jänner wurden Margarete Schütte-Lihotzky und Erwin Puschmann verhaftet (Abb. 3). Gemeinsam wurden sie in einem Auto zur Gestapo am nahen Morzinplatz ge­bracht, wo sie getrennt voneinander von Beamten des Refe­rates II A 1 verhört wurden, das für die Verfolgung von Kommunisten zuständig war. Dabei sagte ein Beamter Schütte-Lihotzky auf den Kopf zu, dass sie als Kurierin für die Auslandsleitung der kpö gearbeitet hätte. Innerhalb der ersten halben Stunde wurde ihr ein Organisationsschema der kpö gezeigt, auf dem die Namen und sogar die Decknamen von ungefähr 300 Angehörigen der illegalen kpö verzeichnet waren. SchütteLihotzky wurde nicht nur rasch klar, dass »der Gestapo damals schon unsere ganze Organisation be­kannt war«, son­ dern auch, »dass durch reine Beobachtung die Gestapo nie zu diesen Ergebnissen kommen konnte«.28 Bereits während der ersten Nacht im Polizeigefangenenhaus auf der Rossauer Lände (9. Bezirk), wo die Häftlinge der Gestapo inhaftiert wurden, keimte in ihr der Verdacht, von einem Spitzel ver­ raten worden zu sein: »Und es durchzuckte mich der Gedanke: ›Ossi‹! Aber voll Entsetzen wies ich diesen Gedanken wieder von mir, wie man eben was ganz Furchtbares zuerst wieder von sich weisen will, denn mir war klar, was für grauenhafte Folgen es für unsere Partei haben musste, wenn meine Vermutung sich bestätigen sollte. Ich machte mir in dieser ersten Nacht auch Vorwürfe, einen Genossen leichtfertig eines ungeheuren Verbrechens zu verdächtigen.«29 Schütte-Lihotzkys Verdacht erhärtete sich, als ein Ge­ stapobeamter sie während eines Verhöres nach den Bezie­ hungen ihres Mannes zum englischen Geheimdienst fragte. Sie hatte Puschmann bei einem Treffen, bei dem auch »Ossi« anwesend war, erzählt, dass ihr Mann in Istanbul zum deut­ schen Generalkonsulat bestellt und ihm vorgeworfen worden war, mit dem englischen Geheimdienst in Kontakt zu stehen. Wilhelm Schütte hatte diesen Vorwurf damals weit von sich gewiesen, und auch Margarete Schütte-Lihotzky bestritt selbst noch in ihren Erinnerungen, dass ihr Mann Bezie­ hungen zum britischen Geheimdienst hatte.30 Tatsächlich gehörten aber sowohl Wilhelm Schütte als auch Herbert

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Feuerlöscher zu jenen mehr als hundert deutschsprachigen Emigranten, die sich Ende 1940 den Briten, und zwar der Special Operations Executive (soe, deutsch: Sondereinsatz­ truppe), für antideutsche Arbeit zur Verfügung stellten.31 Da Schütte-Lihotzky überzeugt war, dass Puschmann über jeden Verdacht erhaben war, stand für sie bald fest, dass »Ossi« ein Gestapospitzel ist und die Gestapo daher von jedem ihrer Schritte unterrichtet war. Tatsächlich waren sowohl »Ossi«, der mit richtigem Namen Kurt Koppel hieß, als auch »Sonja«, deren richtiger Name Grete Kahane war, von Lambert Leutgeb, der von 1940 bis 1944 das »Nachrich­ tenreferat« der Gestapo-Leitstelle Wien leitete, als Spitzel rekrutiert worden. Der Einsatz von Spitzeln war eine der wichtigsten Waffen der Gestapo, um Widerstandsgruppen »aufzurollen«.32 Dabei darf allerdings nicht übersehen wer­ den, dass etwa »zwei Drittel jener Konfidenten der GestapoLeitstelle Wien, über die biografische Unterlagen vorhanden sind, zumindest in der Anfangsphase unfreiwillig für ihre Auftraggeber tätig waren«.33 Die genauen Umstände, warum Kahane (geb. 10.6.1917), die bereits vor 1938 dem Kommu­ nistischen Jugendverband (kjv) angehört hatte,34 und Koppel (geb. 18.4.1915), der ebenfalls schon vor 1938 Mitglied der kpö gewesen war,35 zu Spitzeln wurden, sind unbekannt. Fest steht, dass Kahane, die »Mischling 1. Grades« war, 1938 von der Gestapo verhaftet worden war. Koppel, der nach den »Nürnberger Gesetzen« als Jude galt, war vermutlich bereits 1938 mit »Hilfe« der Gestapo aus Paris nach Wien zurück­ gekehrt. Da Koppel ein enger Vertrauter Puschmanns war, wusste er über alle Verbindungen und Vorgänge innerhalb der kommunistischen Gruppierungen Bescheid, sodass die Verhaftung von Schütte-Lihotzky und Puschmann der An­ fang einer riesigen Verhaftungswelle war, der in der Folge unter anderem auch Herbert Eichholzer zum Opfer fiel. Von den 1.507 Personen, die im Laufe des Jahres 1941 allein im Bereich der Gestapo-Leitstelle Wien wegen kommunistischer Betätigung inhaftiert wurden, wurden etwa 700 bis 800 direkt oder indirekt aufgrund der Tätigkeit der beiden Spitzel Koppel und Kahane verhaftet.36 Da Schütte-Lihotzky im Polizeigefangenenhaus keiner­ lei Kontakt zu anderen politischen Gefangenen hatte, konnte 248

31  Vgl. dazu: Pirker, Subversion deutscher Herrschaft, S. 139–144. Die Special Operations Executive war eine britische nachrichten­ dienstliche Spezialeinheit während des Zweiten Weltkriegs, die Mitte Juli 1940 von Premierminister Winston Churchill zur subversiven Kriegsführung gegründet worden war. 32  Elisabeth BoecklKlamper/Thomas Mang/ Wolfgang Neugebauer: Gestapo-Leitstelle Wien 1938–1945, Wien 2018, S. 187. 33  Hans Schafranek: Drei Gestapo-Spitzel und ein eifriger Kriminal­ beamter. Die Infiltration und Zerschlagung des KJV-Baumgarten (1940) und der Bezirksleitung Wien-Leopoldstadt (1940/41) durch V-Leute der Gestapo, in: DÖWJahrbuch 2009, hg. vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien 2009, S. 250–277, hier S. 274. 34  Verfahren vor dem Landesgericht Wien als Volksgericht gegen Kurt Koppel, Wiener Stadt- und Landesarchiv, Vg 5 Vr 966/49, Kopien im DÖW (19827). 35 Ebd. 36  Hans Schafranek: Wiener Gestapo-Spitzel, S. 324.

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37  DÖW, Nr. 6188.

sie ihren Verdacht vorerst niemandem mitteilen. Ihre Aus­ sagen vor der Gestapo passte sie dahingehend an, dass sie hauptsächlich von »Ossi« sprach, den sie als »guten Ge­ nossen« darstellte. Erst als sie in das Bezirksgefängnis in der Schiffamtsgasse überstellt worden war, konnte sie Kon­ takt mit kommunistischen Mitgefangenen aufnehmen. Per »Stummerlsprache« (mit den Fingern) »sprach« sie zu ihren Genossinnen, die jeweils auf der anderen Seite des Gefäng­ nishofes Zellenfenster hatten, oder die Verständigung fand abends durch die ausgepumpten wc-Rohre statt. Viele ihrer Genossinnen wie Puschmanns Frau Hella oder Therese Konopicky konnten zuerst nicht glauben, dass »Ossi« und »Sonja« – die beiden waren auch liiert – Gestapo­ spitzel waren. Ende 1941, noch in Untersuchungshaft, erfuhr Margarete Schütte-Lihotzky von Poldi Kovarik, einer inhaf­ tierten jungen Angehörigen des Kommunistischen Jugend­ verbandes, dass sie mit ihrem Verdacht recht hatte. Kovarik, die ebenfalls durch die Spitzeltätigkeit Kahanes und Koppels verhaftet worden war, erzählte nun, dass im Polizeigefan­ genenhaus auf der Rossauer Lände auf der Unterseite der Wasserkrüge der Satz »Ossi ist ein Verräter« eingeritzt war. Durch diese Nachricht konnten Inhaftierte ihre Aussagen vor der Gestapo so ausrichten, dass sie »Ossi« belasteten.37 Schütte-Lihotzky sah Puschmann erst im September 1942 wieder, als sie beide vor dem Volksgerichtshof standen. Während sie im Zuge der Verhöre von den Gestapobeamten nicht gefoltert worden war, war Puschmann von den Folte­ rungen schwer gezeichnet. Am 22. September 1942 wurde sie »wegen Vorbereitung zum Hochverrat« zu einer Zucht­ hausstrafe von 15 Jahren, er hingegen zum Tode verurteilt. Margarete Schütte-Lihotzky verbüßte die Zuchthausstrafe bis zu ihrer Befreiung am 29. April 1945 im Zuchthaus Aichach, Erwin Puschmann wurde am 7. Jänner 1943 im Landesgericht Wien geköpft. Epilog

Bereits im September 1945 verfasste Schütte-Lihotzky einen Bericht über ihre Widerstandstätigkeit und die furchtbaren Taten der Gestapospitzel Grete Kahane und Kurt Koppel, deren richtige Namen sie erst nach der Zerschlagung des nsElisabeth Boeckl-Klamper

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Regimes erfahren hatte. Ihr Bericht war ein wichtiger Mosaikstein sowohl bei der Strafverfolgung der an ihrer Verhaftung beteiligten Gestapobeamten als auch bei jener der beiden »Konfidenten«. Während Grete Kahane ver­ mutlich 1950 in jugoslawischer Haft verstarb, konnte Koppel untertauchen und wurde daher niemals zur Rechenschaft gezogen.38 Der für das »Konfidentenwesen« zuständige Gestapobeamte Lambert Leutgeb wurde von einem jugosla­ wischen Militärgericht im November 1948 zu zehn Jahren schwerem Kerker verurteilt, aber bereits nach vier Jahren nach Österreich abgeschoben. Als er 1958 als Zeuge in einem Verfahren gegen einen anderen Gestapobeamten einvernom­ men wurde, gab er als Beruf »Küchenchef im Festungs­res­ taurant ›Hohensalzburg‹« an.39 Rückblickend stellt sich die Frage, ob sich die Wider­ standskämpfer/innen bewusst waren, wie gefährlich ihre Aktivitäten waren, zumal die von den kommunistischen Exilösterreichern vielfach behaupteten kampfbereiten anti­ nazistischen Österreicher weitgehend eine Chimäre blieben. Schütte-Lihotzky reagierte zeit ihres Lebens auf die Frage, warum sie ein so großes Risiko auf sich genommen hat, mit Empörung. Für sie war dieser Schritt die logische Kon­ sequenz auf jene Frage, die sich für sie bereits in Moskau gestellt hatte: »Was haben wir zu tun, damit wir nach dem Sturz mit gutem Gewissen wieder in der Heimat leben können? Was haben wir zu tun, um zum Sturz Hitlers beizutragen?«40

38  Grete Kahane wurde bald nach Kriegsende verhaftet und auf Betrei­ ben der sowjetischen Besatzungsmacht am 26.2.1947 nach Jugosla­ wien ausgeliefert, da sie auch jugoslawische Partisanen verraten hatte. Sie verstarb laut Toten­ schein, der mit 8.4.1950 datiert ist und gemäß des Totenmatrikelbuches vom Nationalausschusses des III. Rayons Beograd ausgestellt worden war, auf dem aber der genaue Todeszeitpunkt fehlt, wäh­ rend der Haft an Nieren­ entzündung. Vgl. dazu: Hans Schafranek: Wider­ stand und Verrat. Gesta­ pospitzel im antifaschis­ tischen Untergrund 1938– 1945, Wien 2017, sowie Verfahren vor dem Landes­ gericht Wien als Volks­g e­ richt gegen Grete Kahane, Wiener Stadt- und Landesarchiv, Vg 9b Vr 373/55, Kopien im DÖW (51790). 39 Boeckl-Klamper/ Mang/Neugebauer, Gestapo-Leitstelle, S. 451. 40  Schütte-Lihotzky, Von Istanbul nach Wien, S. 7f.

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Vom anti­faschis­ tischen Grund­­­ konsens zur anti­ kommunisti­schen Hege­monie. Die Aus­gren­zung der KPÖ im be­ginnen­ den Kalten Krieg Manfred Mugrauer

In der wissenschaftlichen Literatur und im öffentlichen Dis­ kurs über Margarete Schütte-Lihotzky ist es ein unbestrittener Befund, dass öffentliche Bauaufträge in der Nachkriegszeit aus einem Grund überschaubar blieben: aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Österreichs bzw. aufgrund ihrer langjährigen Funktion als Präsidentin des kpö-nahen Bundes Demokratischer Frauen (bdfö) (Abb. 1).1 Schütte-Lihotzky sprach selbst davon, dass sie in­ folge der antikommunistisch motivierten Ausgrenzung nach 1945 – auch über den Staatsvertrag hinaus – de facto mit »Berufsverbot« belegt worden sei, was sie konkret mit der Politik der Wiener spö in Verbindung brachte.2 Wie ihr später von einem Senatsrat vertraulich mitgeteilt worden sei, ging der Boykott durch das Stadtbauamt direkt auf einen Beschluss des spö-Vorstands zurück.3 252

1  Exemplarisch: Otto Kapfinger: »Ich muß ja lachen«, in: Die Presse, Spectrum, 18.1.1997, S. IV; Irene Nierhaus: Techniken des Sozialen. Der Lebensweg der Archi­ tektin Margarete SchütteLihotzky, in: Der Standard, Album spezial, 24.1.1997, S. 2; Elisabeth Holzinger: Widerstand in Zeiten des Terrors, in: Margarete Schütte-Lihotzky: Erinne­ rungen aus dem Wider­ stand. Das kämpfe­r ische Leben einer Architektin von 1938–1945, Wien 2014, S. 7–20, hier S. 17.

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2  Margarete SchütteLihotzky: Erinnerungen aus dem Widerstand 1938–1945, hg. von Chup Friemert, Hamburg 1985, S. 40; Aus einer besseren Welt zu scheiden …, in: Mensch & Büro, Nr. 2/2000, S. 16–21, hier S. 21. 3  Beispiel: Berufsverbot in Österreich. Wie eine Expertin für Sozialbauten von der Gemeinde Wien kaltgestellt wurde, in: Volksstimme, 19.12.1976, S. 11.

Der vorliegende Text skizziert die Entwicklung der kpö von einer verantwortungsbewussten »Staatspartei« zu einer Außenseiterin im österreichischen Parteiensystem. Der Antikommunismus wird dabei als Integrationsideologie der Wiederaufbauphase interpretiert. In ideologiege­schicht­ licher Hinsicht knüpfte der antikommunistische Konsens an antislawische Ressentiments an, die angesichts der engen Verbundenheit der kommunistischen Partei mit der sowje­ tischen Besatzungsmacht auf die kpö übertragen wurden. Abschließend wird die Frage aufgeworfen, welche Spiel­ räume die kpö hatte, die antikommunistische Nachkriegs­ konstellation zu durchbrechen. Feindbild KPÖ

Die Ausgrenzung und Marginalisierung der kpö war ein dominierender Grundzug der österreichischen Nachkriegs­ entwicklung. Die Partei wurde innerhalb weniger Jahre von einer der Gründerparteien der Zweiten Republik zu einem regelrechten Feindbild der Mehrheit der österreichischen Bevölkerung. Haupterklärungsfaktor für diese Entwicklung ist die internationale Situation bzw. die spezifische Art und Weise, wie die geopolitischen Faktoren auf die innenpoliti­ sche Entwicklung einwirkten. Der Übergang der alliierten Mächte von der Anti-Hitler-Koalition zur Politik des Kalten Krieges zementierte auch im vierfach besetzten Österreich Verschie­bun­gen in der politischen Landschaft. Es war eine innen­politische Auswirkung der Systemkonfrontation, dass die kpö in die Isolation gedrängt wurde. Die Weichen wurden Richtung Westorientierung, kapitalistischer Restauration und Antikommunismus gestellt. In keinen anderen west­ europäischen Ländern wurde der außenpolitisch motivierte, gegen das sozialistische Lager gerichtete Antikommunismus im Inneren so stark gegen die kommunistischen Parteien gewendet wie im Westen Deutschlands und in Österreich. Österreich wurde zu einem westlichen Brückenkopf und zu einem Vorkämpfer in der Eindämmung des Kommunismus (Abb. 2). Dabei setzte die Ausgrenzung der kpö nicht erst im Zuge des Kalten Krieges ein, sondern die Partei geriet von Beginn an in die Defensive. Die kpö war zwar ab April 1945 Manfred Mugrauer

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Abb. 1: Erster Österreichischer Frauenkongress am 24./25. Februar 1951 im Dreherpark in Wien, stehend in der Mitte Margarete Schütte-Lihotzky, die zur Präsidentin des Bundes Demokratischer Frauen gewählt wurde, links von ihr Hella Altmann-Postranecky

als gleichberechtigte Partnerin von övp und spö an der Pro­ visorischen Regierung Renner beteiligt, bereits die innen­ politische Entwicklung des Jahres 1945 zeigt jedoch die Zu­ rückdrängung ihres politischen Einflusses. Ab Sommer 1945 zeichnete sich immer deutlicher eine »stille« Koalition von övp und spö ab, um den in ihren Augen überproportionalen Einfluss der kpö zu beschneiden. Die Mehrheit der spöFührung war zu keiner »Einheitsfront« oder Aktionseinheit mit der kpö bereit, was der volksdemokratischen Ziel­ setzung der kpö die Grundlage entzog.4 Die Zurückdrängung der kpö lässt sich auf mehreren Ebenen nachvollziehen: zunächst auf gesamtstaatlicher Ebene, wo 1947/48 in ganz Westeuropa im Zuge des Marshall­ plans die kommunistischen Parteien aus den Regierungen gedrängt wurden. So schied im November 1947 auch die kpö aufgrund ihrer Kritik an der Währungsreform aus der von 254

4  Manfred Mugrauer: Die Politik der KPÖ in der Provisorischen Regierung Renner, Innsbruck u. a. 2006.

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5  Manfred Mugrauer: Die KPÖ im Staatsapparat, in: Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, 23. Jg. (2016), Nr. 4, S. 1–18. 6  Peter Autengruber/ Manfred Mugrauer: Okto­ berstreik. Die Realität hinter den Legenden über die Streikbewegung im Herbst 1950. Sanktionen gegen Streikende und ihre Rücknahme, Wien 2016.

Leopold Figl gebildeten Konzentrationsregierung aus. An­ griffe auf die Positionen der kpö gab es auf lokaler Ebene in den provisorischen Gemeindeausschüssen und im öffentli­ chen Dienst, vor allem im Beamtenapparat der Ministerien und der Wiener Polizeidirektion, wo die kpö aufgrund der spezifischen Situation des Jahres 1945 über maßgeblichen Einfluss verfügte,5 darüber hinaus in den Betrieben und Gewerkschaften, wo die meisten kommunistischen Gewerk­ schaftssekretäre entlassen und nach dem Oktoberstreik des Jahres 1950 auch aus dem Gewerkschaftsbund ausgeschlos­ sen wurden.6 Weitere Schauplätze der antikommunistischen Kampagne waren unter anderem der kz-Verband, die Sport­ verbände und die Israelitische Kultusgemeinde. Der kz-Ver­ band war bis 1948 überparteilich organisiert, wurde dann

Abb. 2: »Damit dies nicht Dein Schicksal sei – wähl Österrei­ chische Volkspartei«, Plakat der ÖVP zu den Nationalratswahlen im Jahr 1949

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aber von Innenminister Oskar Helmer aufgelöst, weil aus seiner Sicht der dortige kommunistische Einfluss zu groß war. In den Sportverbänden war zunächst etwa ein Drittel der amtierenden Präsidenten kommunistisch, von denen bis Anfang der 1950er Jahre fast alle abgelöst wurden. Die Israeli­ tische Kultusgemeinde in Wien stand bis 1948 unter kom­ munistischer Führung. Die kpö-nahe Liste errang zwar in diesem Jahr erneut die Mehrheit, die anderen Listen schlos­ sen sich jedoch zusammen, um einen kommunistischen Prä­ si­denten zu verhindern.7 Ähnliche Beispiele lassen sich in den Bereichen Wissen­ schaft und Kultur anführen: Die Schauspieler/innen des 1948 von der kpö initiierten »Neuen Theaters in der Scala« er­hielten – auch nach Abschluss des Staatsvertrags – kein En­ gagement an anderen Theatern oder im Rundfunk. Es exis­ tierten sogar »schwarze Listen« mit den Namen von Künstler/ innen, die unter Kommunismusverdacht standen.8 Kommu­ nis­tische Wissenschafter wie der Musikwissenschaf­t er Georg Knepler, der Philosoph Walter Hollitscher, der Biochemiker Samuel »Mitja« Rapoport oder der Historiker Leo Stern fanden im antikommunistischen Klima der Nach­kriegszeit keine entsprechenden Wirkungsmöglichkeiten im öster­rei­ chi­schen Wissenschaftsleben vor. Alle vier gingen zwischen 1949 und 1951 in die ddr, wo sie eine Hochschul­karriere star­ teten und in führenden Positionen tätig waren. Dies gilt auch für den österreichischen Kommunisten und Komponisten Hanns Eisler, der sich in Wien erfolglos um eine Professur bewarb. In diesem Kontext ist auch das Auf­tragsverbot für Margarete Schütte-Lihotzky seitens öffent­licher Stellen zu sehen. Negativ auf die intellektuelle Atmosphäre und politische Kultur des Landes wirkte sich die Tatsache aus, dass der gegen die kpö gerichtete Antikommunismus nicht an deren Parteigrenzen haltmachte, sondern ebenso – tatsächliche und vermeintliche – Sympathisant/innen der Partei erfasste. So wurden etwa auch die Aktivist/innen der Friedensbewe­ gung, die Linkssozialist/innen oder mit der kpö verbundene Kulturschaffende ghettoisiert. Der hegemoniale Antikommu­ nismus entwickelte sich zu einem Disziplinierungsmittel, das jede antikapitalistische Haltung unter Generalverdacht 256

7  Manfred Mugrauer: Die Jüdische Gemeinde als Politikfeld der KPÖ (1945–1955), in: Gabriele Kohlbauer-Fritz/Sabine Bergler (Hg.): Genosse. Jude. Wir wollten nur das Paradies auf Erden, Wien 2017, S. 210–223, hier S. 217. 8  Oliver Rathkolb: Die Entwicklung der USBesatzungskulturpolitik zum Instrument des Kalten Krieges, in: Friedrich Stadler (Hg.): Kontinuität und Bruch. 1938 – 1945 – 1955. Beiträge zur öster­ reichischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, Wien/München 1988, S. 35–50, hier S. 40f.

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stellte und als kommunistisch abtat. Intellektuelle, die sich an Aktionen des Österreichischen Friedensrates beteiligten oder im Rahmen des bdfö zur Zusammenarbeit mit der kpö bereit waren, wurden im antikommunistischen Klima der Nach­ kriegszeit als fünfte Kolonne, Kryptokommunisten oder »Fellow Travellers« diskreditiert. Aufbaumythos

9  Kurt Tweraser: USMilitärregierung für Ober­ österreich, Bd. 1: Sicher­ heitspolitische Aspekte der amerikanischen Be­ satzung in OberösterreichSüd 1945–1950 (Beiträge zur Zeitgeschichte Ober­ österreichs, Bd. 14), Linz 1995, S. 411.

Während die kommunistischen Parteien im politischen Meinungsspektrum der meisten westeuropäischen Staaten eine wichtige Rolle spielten, wurde der Antikommunismus in Westdeutschland und Österreich nicht nur zur vor­herr­ schenden Haltung der politischen Eliten, sondern zum prä­ gen­­den Element der gesamten öffentlichen Meinung und zu einer Art »Staatsideologie«. Er war damit nicht nur ein Mittel zur Auseinandersetzung mit der kpö als einer poli­ tischen Konkurrentin, sondern ein zentrales Element der politischen Kultur in Österreich nach 1945. Der antifaschis­ tische Grundkonsens des Jahres 1945 machte bald einem antikommunistischen Konsens Platz. Der vielzitierte »Geist der Lagerstraße« wurde von einem antikommunistischen Abwehrkampf abgelöst. Auf der einen Seite wurden Kommu­ nist/innen aus der aktiven Gestaltung der Zweiten Republik hinausgedrängt, auf der anderen Seite wurde die Auseinan­ dersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit abgebremst. Ehemalige nsdap-Mitglieder wurden wieder in die österreichische Gesellschaft integriert. »Von 1947 an hieß das Motto der österreichischen Innenpolitik: Integration rechts, Ausgrenzung links«, bringt der österreichischamerikanische Historiker Kurt Tweraser diesen Zusammen­ hang auf den Punkt.9 Spätestens ab 1948/49 verdrängte die Hegemonie des Antikommunismus die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, und die Entnazifizierung kam faktisch zum Stillstand. Diesen Gesichtspunkt aufgreifend, schreibt Peter Huemer im Vorwort einer Neuausgabe von Schütte-Lihotzys Widerstands-Erinnerungen: »Blutrichter des Nationalsozialismus, Leute mit den dreckigsten Händen, konnten nach 1945 ihre Karriere in Österreich fortsetzen. Niemand hat sie hinausgeschmissen, aber die Widerstandskämpferin gegen Hitler, die dem Tode

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Entronnene, die wurde boykottiert, obwohl sie obendrein in ihrem Fach eine Koryphäe war«.10 In Österreich erhielt der Antikommunismus seine spe­ zifische Ausprägung als Wiederaufbauideologie. Er wurde zum Minimalkonsens von övp und spö, zur Integrations­ ideologie der Wiederaufbauperiode, die in die Sozialpartner­ schaft einmündete. Der Hauptzweck dieses instrumentellen Antikommunismus bestand darin, die kapitalistische Restau­ ration abzusichern. Von der Führung der spö und des ögb wurde der Antikommunismus »als zweckrationale politische Waffe zur Durchsetzung der Koalitions- und Sozialpartner­ schaftspolitik eingesetzt«, analysiert der Wirtschaftshisto­ riker Fritz Weber.11 Er wurde »zur Massenideologie der Zweiten Republik […], die geschickt zur Diskreditierung jeder auf gesellschaftsverändernde Maßnahmen ausgerichteten Hal­ tung ausgenutzt wurde«.12 Wichtigstes Element dieser innen­ politischen Funktionalisierung war die Putschlegende, wel­ che von der kpö beeinflusste Protestbewegungen und Ar­ beitskämpfe in die Nähe von Umsturz und Aufruhr rückte. Kritik an der einseitigen Westorientierung, am Marshallplan oder am System der Lohn-Preis-Abkommen wurde so von vornherein als kommunistisch stigmatisiert, was eine sach­ liche Auseinandersetzung verunmöglichte. Seinen Höhe­ punkt erreichte dieses Argumentationsmuster während des Oktoberstreiks im Jahr 1950, als die kpö und die streikenden Arbeiter/innen der antikommunistischen Propaganda von Regierung, Gewerkschaft, Parteien und Medien gegenüber­ standen. Oliver Rathkolb hat auf die wesentliche Bedeutung des Antikommunismus im kollektiven Gedächtnis der Zweiten Republik hingewiesen und ihn als »eine verdrängte Kompo­ nente der österreichischen Identität« gekennzeichnet. Dieser besitze »sowohl auf der Ebene der Eliten als auch im gesell­ schaftlichen Diskurs nach 1945 eine wesentlich wichtigere ver­bindende Funktion als etwa der Mythos der Lagerstra­ ße«.13 Neben dem Opfermythos ist zwar auch der Aufbau­ mythos ins Wanken geraten, massenmedial und in Politiker/ innen­reden wird aber auch heute noch die Nachkriegsge­ schichte als sozialpartnerschaftliches Erfolgsprojekt und er­ folgreiche Abwehr der kommunistischen Bedrohung inter­ 258

10  Vorwort von Peter Huemer, in: Margarete Schütte-Lihotzky: Erinne­ rungen aus dem Wider­ stand. Das kämpferische Leben einer Architektin von 1938–1945, Wien 1994, S. 9–14, hier S. 13.

11  Fritz Weber: Der kalte Krieg in der SPÖ. Koali­ tionswächter, Pragmatiker und Revolutionäre Sozia­ listen 1945–1950 (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik, Bd. 25), Wien 1986, S. 130. 12  Ebd., S. 2 (Hervor­ hebung im Original).

13  Oliver Rathkolb: Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2015, Wien 2015, S. 33 und 35.

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pretiert. Obwohl von der kpö als Fünfprozentpartei keine reale Bedrohung ausging, insze­nierten sich övp und spö als Retter Österreichs vor der drohenden Verwandlung des Landes in eine kommunistische Diktatur. Im Nationalrats­ wahlkampf des Jahres 1949 affichierte die övp insgesamt 26 gegen die kpö gerichtete Plakate, die mit Angstparolen vor dem Schreckgespenst der Volksdemokratie warnten. Auf einem Plakat mit dem Slogan »Erkenne die Gefahr!« war etwa ein Krake zu sehen, der ausgehend von der Sowjet­union seine Tentakel über ganz Europa streckt (Abb. 3). Mit dem Slogan »Du wirst zum Knecht der Kolchose!« wurden Kauf­ leute und Gewerbe­treibende, deren Werkstätten und Ge­ schäf­ten angeblich die Verstaatlichung drohe, angehalten, die övp zu wählen. Der Antikommunismus schweißte zwar die Koalition von övp und spö zusammen, und beide Parteien über­ trumpften sich geradezu in ihrer Abgrenzung von der kpö, dennoch beschuldigten sie sich im Wahlkampf gegenseitig, mit den Kommunisten zu packeln und als Wegbereiter für die Volksdemokratie zu fungieren. Obwohl die kpö nie über den Status einer Kleinpartei hinauskam, eine volksdemo­kra­ tische Entwicklung spätestens seit den Novemberwahlen des Jahres 1945 keine innenpolitische Option mehr darstellte

Abb. 3: »Erkenne die Gefahr! Wähle Österreichische Volkspartei«, Plakat der ÖVP zu den Nationalratswahlen im Jahr 1949

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und der Antikommunismus ein verbindendes Element zwi­ schen dem sozialdemokratischen und dem bürgerlichen Lager in Österreich bildete, blieb es bis in die 1960er Jahre hinein ein wiederkehrendes propagandistisches Motiv von övp und spö, den jeweils anderen Regierungspartner als Steigbügelhalter und Helfershelfer der kpö zu bezeichnen. Ideologiegeschichte des Antikommunismus

In ideologiegeschichtlicher Hinsicht konnten der Anti­ kommunismus und Antisowjetismus an tief in die öster­rei­­ chische Geschichte zurückreichende nationalistische und rassistische Vorurteile gegen »slawische Untermenschen« anknüpfen. Eine »abstrakte Urangst vor den ›barbarischen‹ Völkern aus dem Osten, die mit ihren Invasionen immer wie­ der den Westen bedrohten«,14 bildete die allgemeine Grund­ lage für die bis ins 20. Jahrhundert konstruierte »Gefahr aus dem Osten«. Das österreichische Selbstverständnis als Boll­ werk gegen den Osten reicht bis auf die Zeit der Türkenkriege zurück und wurde in den Jahren des Ersten Weltkrieges verstärkt. »Anti-Communism provided a new label for the old national conflicts from the time of the Monarchy«, halten Ingrid Fraberger und Dieter Stiefel dazu fest.15 In der Zwischenkriegszeit gelangte ein parteiübergreifender Anti­ bolschewismus zur Ausprägung, der vor allem von der Bourgeoisie und der ländlichen Bevölkerung, aber auch von der Sozialdemokratie getragen wurde. Während das bürger­ lich-konservative Lager seine Revolutionsfurcht und seinen traditionellen Antisozialismus zum Antikommunismus stei­ gerte, war der sozialdemokratische Austromarxismus um Abgrenzung vom sowjetischen Entwicklungsweg bemüht. Die gegen den »jüdischen Bolschewismus« gerichtete faschistische Ideologie konnte an die Russophobie genauso anschließen wie an die in der Ersten Republik entwickelte Furcht vor einer Ausbreitung des Bolschewismus. Am wir­ kungsmächtigsten erwies sich der gegen die Russen gerichtete nationalsozialistische Rassenwahn, der – im Gegensatz zu seinen antisemitischen Bestandteilen – auch nach 1945 mit dem Antikommunismus verbunden blieb. Es spuke in den Köpfen der österreichischen Bevölkerung »noch manches von der Goebbels-Propaganda gegen die Sowjet­ 260

14  Günter Bischof: Österreich – ein »geheimer Verbündeter« des Wes­t ens? Wirtschaftsund sicherheitspolitische Fragen der Integration aus der Sicht der USA, in: Michael Gehler/Rolf Steininger (Hg.): Öster­ reich und die europäische Integration 1945–1993. Aspekte einer wechsel­ vollen Entwicklung, Wien 1993 (Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck. Arbeitskreis Europäische Integration. Historische Forschungen. Veröffent­ lichungen, Bd. 1), S. 425– 450, hier S. 427. 15  Ingrid Fraberger/ Dieter Stiefel: »Enemy Images«: The Meaning of »Anti-Communism« and its Importance for the Political and Economic Reconstruction in Austria after 1945, in: Günter Bischof/Anton Pelinka/ Dieter Stiefel (Hg.): The Marshall Plan in Austria (Contemporary Austrian Studies, Vol. 8), New Brunswick/London 2000, S. 56–97, hier S. 63.

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16 Stenographisches Protokoll. 1. Sitzung der II. Session der IV. Wahl­ periode des Landtages von Niederösterreich, 12.11.1946, S. 25.

17  Oliver Rathkolb: Besatzungspolitik und Besatzungserleben in Ostösterreich vom April bis August 1945, in: Manfried Rauchensteiner/ Wolfgang Etschmann (Hg.): Österreich 1945. Ein Ende und viele An­ fänge (Forschungen zur Militärgeschichte, Bd. 4), Graz u. a. 1997, S. 185– 206, hier S. 198f. und 202. 18  Ela Hornung/Margit Sturm: Stadtleben. Alltag in Wien 1945 bis 1955, in: Reinhard Sieder/Heinz Steinert/Emmerich Tálos (Hg.): Österreich 1945– 1995. Gesellschaft, Politik, Kultur (Österreichische Texte zur Gesellschafts­ kritik, Bd. 60), Wien 1995, S. 54–67, hier S. 54.

union« herum, kritisierte etwa der niederösterreichische kpö-Landesrat Laurenz Genner Ende 1946 im Hinblick auf die »infame Russenhetze«, die nicht allein auf die Folgen der Besatzung zurückzuführen sei.16 Hinzu kam schließlich die antikommunistische Kalter-Krieg-Propaganda des Westens. In Summe speisten sich der österreichische Antikommunis­ mus und Antisowjetismus der unmittelbaren Nachkriegszeit aus der antislawischen und antibolschewistischen Tradition, aus der faschistischen Hasspropaganda und auch aus den Polari­sierungen des Kalten Krieges. Die von der ns-Propaganda genährten antirussischen Stereotype waren auch deshalb wirkungsvoll, weil sie durch Übergriffe von Angehörigen der Roten Armee in der Wahr­ nehmung der Bevölkerung eine »Bestätigung« fanden und diese »zum ›Generalverhalten‹ der Roten Armee umstili­ siert« wurden.17 »Das Bild vom bolschewistischen, sla­wi­ schen Untermenschen, der kulturlos, raubend, mordend, plün­dernd und vergewaltigend hereinbricht, hat in einem stark emotional gefärbten Antikommunismus seinen Fort­ bestand gefunden, eine Konditionierung, die durch die welt­ politische Polarisierung im Kalten Krieg unterstützt wurde«, wie Ela Hornung und Margit Sturm die Ängste der öster­reichischen Bevölkerung vor den »Russen« umreißen.18 Ge­genüber den Übergriffen und der wirtschaftlichen »Aus­ plün­derung« des Landes traten die positiven Leistungen der sowjetischen Be­satzungspraxis – etwa der rasche Aufbau demokratischer Strukturen und einer zivilen Verwaltung, die Kredithilfe, die spontanen Lebensmittelhilfen – im Be­ wusstsein der Bevölke­rung in den Hintergrund oder ver­ schwanden ganz. Bis heute dominiert im Massenbewusstsein ein von den Plünderungen und Vergewaltigungen ge­ prägtes Negativbild der sowjeti­schen Besatzer. Zu einem nicht geringen Teil knüpfte der Antisowjetismus auch nach 1945 an den in Österreich verwurzelten Anti­ slawismus an. Es sei »die in der Gegenwart sehr undankbare, aber für die Zukunftslage abendländischer Gesittung und Kultur ganz entscheidende und wahrhaft ruhmvolle Aufgabe der Sozialisten, den Damm zu bilden, der die despotischen fremdnationalen Aspirationen des Kommunismus« abwehre, argumentierte etwa der Journalist der »Arbeiter-Zeitung«

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Jacques Hannak.19 Zitate wie diese belegen, dass die von der övp und der katholischen Kirche getragene kon­servative Abendlandideologie auch von der spö gegen die kpö instru­ mentalisiert wurde. övp und spö trafen sich in ihrem Ressentiment gegenüber dem »asiatischen« Charakter des Bolschewismus. Am deutlichsten kam das Stereotyp von der Kulturlosigkeit des Ostens und der Abwehr des asia­tischen Barbarentums in der sozialdemokratischen Wort­schöpfung von den »Usiaten« zum Ausdruck, die – auf die sowjetisch verwalteten Betriebe in Österreich (usia) an­spielend – bis in die 1960er Jahre hinein zum alltäglichen Vokabular der »Arbeiter-Zeitung« gehörte.20 No-win-Situation

Die antisowjetische und antikommunistische Propaganda war für die kpö eine schwer beeinflussbare Hypothek ihrer politischen Praxis, der sie wenig entgegenzusetzen hatte. Der Antikommunismus beeinflusste alle ihre Politikfelder und entwickelte sich zu einer geradezu unüberwindbaren Hürde. Er ist der entscheidende Grund dafür, dass die kpö nur eine Außenseiterrolle im politischen System der Zweiten Republik einnahm. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die sozialökonomische Politik der kpö in den Jahren 1947 bis 1950, einer Periode heftiger sozialer Auseinandersetzungen, in deren Verlauf die kpö mit Streiks und Demonstrationen ihr oppositionelles Profil schärfen konnte. Es genügte dabei aber in den meisten Fällen bereits der bloße Vorwurf, dass es sich bei einem Teilstreik oder einer Lohnforderung um eine kommunistische Aktion handelte, um die Kampfbereit­ schaft der sozialdemokratischen und parteilosen Arbeiter/ innen zu hemmen. »Weil die Kommunisten ›dagegen‹ waren, war ganz Österreich ›dafür‹«, schrieb Jacques Hannak über das im Mai 1949 beschlossene 3. Lohn-Preis-Abkommen21 und brachte damit – unfreiwillig – die »No-win«-Situation der kpö auf den Punkt. Der Generalsekretär der kpö Friedl Fürnberg berichtete Ende 1949 parteiintern von einer Kon­ ferenz der Gewerkschaft der Privatangestellten, wo eine kpö-Genossin den Antrag auf eine zehnprozentige Lohn­ erhöhung einbrachte, was stürmischen Beifall hervorgerufen habe. Hierauf erklärte der ögb-Sekretär, dass die Antrag­ 262

19  Jacques Hannak: Vier Jahre Zweite Republik. Ein Rechenschaftsbericht der Sozialistischen Partei, Wien 1949, S. 12f.

20  Exemplarisch: Der Aufmarsch der Usiaten, in: Arbeiter-Zeitung, 5.10.1950, S. 2; Die Be­ triebsratswahlen, in: Arbeiter-Zeitung, 3.11.1951, S. 3; Keine Zusammenarbeit mit Usiaten, in: ArbeiterZeitung,  13.  4 .1962,  S.  2.

21  Hannak: Vier Jahre Zweite Republik, S. 107.

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22  ZPA der KPÖ, Proto­ koll des 4. ZK-Plenums der KPÖ am 11./12.11.1949, Beilage 23: Friedl Fürnberg, S. 1f.

23  Protokoll des dritten Parteitages der SPÖ, Wien, 23.–26.10.1947, hg. vom Parteivorstand der Sozialistischen Partei Österreichs, Wien 1947, S. 199.

24  Anton Pelinka: Aus­ einandersetzung mit dem Kommunismus, in: Erika Weinzierl/Kurt Skalnik (Hg.): Österreich. Die Zweite Republik, Bd. 1, Graz u. a. 1972, S. 169– 201, hier S. 183.

stellerin eine Kommunistin sei, worauf der Antrag mit über­ wältigender Mehrheit abgelehnt wurde.22 Beispiele wie diese belegen, dass es der kpö schwer möglich war, die antikommunistische Isolation aus eigener Kraft zu durchbrechen. Die Handlungsspielräume der Partei wurden durch den Antikommunismus derart eingeschränkt, dass alternative Entwicklungswege weitgehend ausgeschlos­ sen waren. Dies gilt auch für das Zentralproblem der kpö in der Nachkriegszeit: ihr Naheverhältnis zur Sowjetunion. Im Zuge des Kalten Krieges wurde die Partei nicht mehr als Partnerin beim demokratischen Wiederaufbau angesehen, sondern als verlängerter Arm der Sowjetunion. Angesichts der sowjetfreundlichen Politik der kpö gelang es deren poli­ tischen Gegnern, sie trotz ihrer Österreich-patriotischen Haltung als anti-österreichische Partei, als »Russenpartei« abzustempeln. »Wer so wie die Kommunisten in dieser Zeit die Interessen fremder Mächte vertritt, der hat das Recht verwirkt, eine österreichische Partei genannt zu werden«, sprach etwa Karl Waldbrunner beim Parteitag der spö im November 1947.23 Es entstand damit die paradoxe Situation, dass jene politische Kraft, die im Widerstand gegen den Hitlerfaschismus die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Österreichs in den Mittelpunkt gestellt und dafür den höch­ sten Blutzoll entrichtet hatte, als Erfüllungsgehilfin einer fremden Macht diffamiert wurde. Die beiden Großparteien – spö und övp – sowie die Westmächte waren bestrebt, bestehende antikommunistische und antisowjetische Ressentiments auszunutzen und gegen die kpö zu wenden. Antisowjetismus und Antikommu­ nismus, »Russen« und Kommunismus waren im österrei­ chischen Massenbewusstsein identisch, was die bruchlose Übertragung antisowjetischer Vorurteile auf die kpö zur Folge hatte. Die kpö wurde »zu einer als fremd empfundenen Enklave, zu einer ›out-group‹, zu einem als feindlich be­ trachteten Stück Ausland«.24 Erleichtert wurde dies durch die bedingungslose Identifikation der kpö mit der Sowjet­ union. Sie stand sowohl den negativen Erscheinungen der sowjetischen Besatzungspraxis in Österreich – Übergriffen von Angehörigen der Roten Armee auf die Zivilbevölkerung, Demontagen und Beschlagnahmungen – als auch Fehlent­

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wicklungen und Verbrechen in den sozialistischen Ländern weitgehend kritiklos gegenüber. Probleme der Volksdemo­ kratien wurden verharmlost, ignoriert oder legitimiert, bis hin zur Verteidigung staatlichen Terrors. Die Ausgrenzung der Kommunist/innen aus der aktiven Gestaltung der Zwei­ ten Republik ging so mit einer Selbstausgrenzung einher. Die Spielräume der kpö, aus dieser Konstellation aus­ zubrechen, waren eingeschränkt. Unzweifelhaft hätte eine öffentliche Distanzierung von den sowjetischen Übergriffen in Österreich und eine Verurteilung der in den sozialis­ tischen Ländern verübten Verbrechen die Glaubwürdigkeit der kpö – nicht zuletzt bei sozialdemokratischen Arbeiter/ innen – erhöht. Die Möglichkeiten der Partei innerhalb der österreichischen Arbeiter/innenbewegung hätten sich durch eine unabhängigere Strategie gegenüber der sowjetischen Politik gewiss erweitert. Jenen, die infolge der sozialen Be­ lastungen unzufrieden waren mit der Politik der Regierung Figl/Schärf, wäre ein Übergang zur kpö erleichtert worden. Durch die völlige Identifikation der Partei mit der Sowjetunion wurden jedoch viele davon abgehalten, ihr Vertrauen der kpö zu schenken. Zu hinterfragen ist jedoch die These des Politologen Anton Pelinka, wonach »eine Loslösung von der Sowjetunion« und »ein vorweggenommener, konsequenter Euro­ kom­munismus« die kpö »vor dem Schicksal einer totalen Ghettoisierung« hätte bewahren können.25 Eine »Loslösung« von der Sowjetunion konnte für die kpö grundsätzlich keine Option darstellen, zumal keine europäische kommunistische Partei in diesen Jahren einen solchen Schritt vollzog. Der eigenständige Weg, den der Bund der Kommunisten Jugosla­ wiens nach heftiger Kritik seitens des Kommunistischen Informationsbüros im Jahr 1948 einschlug, führte ein Jahr später zu dessen Ausschluss aus der kommunistischen Welt­ bewegung. Die Schärfe der Kritik, die bei der Gründungs­ konferenz des Kommunistischen Informationsbüros in Szklarska Poręba im September 1947 vom sowjetischen Ver­ treter Andrej Schdanow an den kommunistischen Parteien Frankreichs und Italiens geübt wurde, weil sie in seinen Augen zu stark ihre Unabhängigkeit von Moskau hervor­ gestrichen hatten,26 zeigt, wie eng die Zügel gespannt waren. 264

25  Anton Pelinka: Zur Gründung der Zweiten Republik. Neue Ergeb­ nisse trotz personeller und struktureller Kontinuität, in: Liesbeth WaechterBöhm (Hg.): Wien 1945 – davor/danach, Wien 1985, S. 21f., hier S. 22.

26  Grant M. Adibekov: Das Kominform und Stalins Neuordnung Euro­ pas (Zeitgeschichte – Kommunismus – Stalinis­ mus. Materialien und Forschungen, Bd. 1), Frankfurt am Main u. a. 2002, S. 92 und 94.

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27  Hans Hautmann: Die KPÖ in den 1960er bis 1990er Jahren, in: Manfred Mugrauer (Hg.): 90 Jahre KPÖ. Studien zur Ge­ schichte der Kommunisti­ schen Partei Österreichs (Quellen & Studien, Bd. 12), Wien 2009, S. 53–59, hier S. 55. 28  Georg Fülberth: KPD und DKP 1945–1990. Zwei kommunistische Parteien in der vierten Periode kapitalistischer Entwicklung, Heilbronn 1990, S. 41.

Ein Bruch zwischen kpö und Sowjetunion hätte die innen­ politische Position der Partei kaum erleichtert. Vielmehr ist davon auszugehen, dass eine solche Distanzierung »den Boden unter den Füßen des Wirkens einer Kommunistischen Partei vollends entzogen hätte«.27 Nicht zu vernachlässigen ist in dieser Hinsicht auch die massive finanzielle Unterstüt­ zung, die der kpö seitens der Sowjetunion im Besatzungs­ jahrzehnt gewährt wurde. Für die kpö gilt damit ebenso, was Georg Fülberth für die kpd der Nachkriegszeit festgestellt hat: Die Partei »hatte keine Möglichkeit, sich von der sow­ jetischen Politik zu distanzieren, ohne zugleich sich selbst aufzugeben […]. Differenziertere Positionen hätten in der Polarisierung des Kalten Krieges kaum eine größere Chance gehabt als die unbedingte Treue der kpd zur Sowjetunion.«28 Anzuzweifeln ist ferner, dass eine stärkere Autonomie der kpö die antikommunistische Hysterie des Kalten Krieges maßgeblich abgeschwächt hätte. Auch eine Moskau-kritische kpö wäre Ende des Jahres 1947 in die Isolation gedrängt und marginalisiert worden, war doch die antikommunistische Propaganda weniger der tatsächlichen Verfasstheit und in­ haltlichen Ausrichtung der Partei, sondern vielmehr poli­ tisch-ideologischen Erfordernissen geschuldet. Ohne die wechselseitigen Aufschaukelungen nach der Gründung des Kominform und den Verbalradikalismus der kpö gegenüber der spö-Spitze bagatellisieren zu wollen, ist davon auszu­ gehen, dass die spö auch mit einer »eurokommunistisch« orientierten kpö keine »Einheitsfront« gebildet hätte, um das innenpolitische Ruder herumzuwerfen. Zudem darf als gesichert gelten, dass der Oktoberstreik des Jahres 1950 auch dann als kommunistischer Putschversuch qualifiziert wor­ den wäre, wenn die kpö bereits in den Vorjahren auf Distanz zur Sowjetunion gegangen wäre. Der im Dezember 1952 in Wien stattfindende »Völkerkongress für den Frieden« wäre auch dann von einem Schweigeboykott umgeben und die Friedensbewegung als kommunistische »Tarnorganisation« abgewertet worden, wenn die kpö nicht als bedingungslose Erfüllungsgehilfin der Sowjetunion gegolten hätte. Und Margarete Schütte-Lihotzky hätte wohl auch dann von der Stadt Wien nicht mehr öffentliche Bauaufträge erhalten, wenn die kpö sowjetkritischer agiert hätte.

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Der Antikommunismus unterlag in den folgenden Jahr­ zehnten einem Funktionswandel. Vor allem infolge der 68erBewegung wurde die Konstellation der 1950er und 1960er Jahre abgeschwächt. Dadurch wurde es in den 1980er und 1990er Jahren möglich, dass Schütte-Lihotzky von Architek­ turhistoriker/innen wiederentdeckt und mit Ehrungen und Auszeichnungen geradezu überhäuft wurde. Nicht zu ver­ gessen ist dabei jedoch, dass es ihrer langen Lebensdauer zu verdanken war, dass Schütte-Lihotzky die ihr zustehende öffentliche Anerkennung noch erleben durfte. Dass die anti­ kommunistische Kalter-Krieg-Rhetorik bis heute nicht völlig überwunden ist, davon zeugt nicht zuletzt jene Kampagne, die im Jahr 2000 von der cdu in Frankfurt am Main gestartet wurde, als dort die Benennung einer Verkehrsfläche nach Margarete Schütte-Lihotzky zur Diskussion stand. Die damals mobilisierten antikommunistischen Ressentiments (»bekennende Stalinistin«, »Anhängerin einer menschen­ verachtenden Ideologie«) unterschieden sich kaum von jenen, mit denen Schütte-Lihotzy schon in den 1940er und 1950er Jahren konfrontiert war.29 Es gelang der cdu aber letztlich nicht, die Benennung einer Grünanlage in der Frankfurter Siedlung Praunheim zu verhindern, was gegen­ über der antikommunistischen Hegemonie der 1950er Jahre doch einen wichtigen Unterschied darstellt.

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29  Vgl. Marcel Bois: »Bis zum Tod einer fal­ schen Ideologie gefolgt«. Margarete SchütteLihotzky als kommunis­ tische Intellektuelle, in: Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (Hg.): Zeitgeschichte in Hamburg 2017, Hamburg 2018, S. 66–88, hier S. 66f.

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Über die Ordnung der Kochlöffel. Margarete SchütteLihotzky im Kontext frauenpolitischer Anordnungen der KPÖ zu Beginn der Zweiten Republik – eine Probebohrung Karin Schneider

Margarete Schütte-Lihotzky war nicht nur während ihrer Zeit im Widerstand gegen den Nationalsozialismus Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs (kpö), sondern blieb dies bis zu ihrem Tod – insgesamt mehr als 60 Jahre lang, ungeachtet aller gesellschaftlichen und parteiinternen Umbrüche.1 Von 1948 bis 1968 war sie Präsidentin des von der kpö unterstützten Bundes Demokratischer Frauen Öster­ reichs (bdfö). Dieses politisch eindeutig positionierte En­ gagement brachte ihr – bedingt durch den herrschenden Antikommunismus2 – Ausgrenzung und berufliche Nachteile. Sie konnte zwar als Architektin arbeiten, erhielt allerdings von der Stadt Wien, einem wichtigen Auftraggeber dieser Zeit, so gut wie keine Aufträge, was sie selbst als Berufsverbot 268

1  Marcel Bois: »Bis zum Tod einer falschen Ideo­ logie gefolgt«. Margarete Schütte-Lihotzky als kommunis­t ische Intellek­ tuelle, in: Zeitgeschichte in Hamburg 2017, hg. von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg 2018, S. 66–88, hier S. 67. 2  Oliver Rathkolb: Die Entwicklung der USBesatzungspolitik zum Instrument des Kalten Krieges, in: Friedrich Stadler (Hg.): Kontinuität

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und Bruch. 1938 – 1945 – 1955. Beiträge zur öster­ reichischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, Münster 2004, S. 35–50, hier S. 41–43; vgl. auch Manfred Mugrauers Bei­ trag in dieser Publikation. 3  Susanne Sohn: Eine außergewöhnliche Frau. Zum 90. Geburtstag von Margarete SchütteLihotzky, in: Frauenreferat der KPÖ, Maria LautischerGrubauer/Susanne Sohn (Hg.): Frauen der KPÖ – Gespräche und Portraits, Wien 1989, S. 53–55, hier S. 53; kritisch-analytisch dazu: Bois, Kommunis­ tische Intellektuelle, S. 75–79 sowie S. 85f. 4  Bois, Kommunistische Intellektuelle, S. 78f. 5  Ebd., S. 79. 6  Ebd., S. 80. 7  Ebd., S. 68

8  Vera Schwarz: Meine roten Großmütter. Politische Aktivität aus der KPÖ ausgetretener/ ausgeschlossener Frauen, Frankfurt am Main 2010, S. 60. Vera Schwarz ver­ sucht mit ihrer Diplom­ arbeit zur Schließung dieser Forschungslücke in doppelter Hinsicht beizu­ tragen, indem sie auf jene Frauen fokussiert, die in der Parteikrise um 1968 aus der KPÖ ausge­s chlos­ sen wurden oder ausge­ treten sind. Damit ist Margarete SchütteLihotzky nicht Teil ihres Samples.

wahrnahm.3 Hinzu kam die generelle Abwertung von anti­fa­ schistischen Widerstandskämpfern und Widerstands­kämp­­ ferinnen, die in der österreichischen Nachkriegsgesell­schaft zumindest ab den späteren 1940er Jahren als »Vater­lands­ verräter« galten.4 Margarete Schütte-Lihotzky war damit nicht nur aus der beruflichen, sondern auch aus der breiteren gesell­ schaftlichen und kulturellen Öffentlichkeit für Jahrzehnte ausgegrenzt – zwischen 1953 und 1985 nahm sie an keiner Ausstellung teil, erst in den 1970er Jahren war sie medial wie­ der präsent.5 In dieser Situation rückte sie in der Nachkriegszeit näher an die kpö und verstärkte dort ihr politisches Engagement. Als Vorsitzende des bdfö und als Aktivistin der Friedensbewegung und des antifaschistischen Engagements hielt sie Reden auf Demonstrationen und war Delegierte bei internationalen Konferenzen und Treffen.6 Diese »politische« Margarete Schütte-Lihotzky und ihr parteibezogenes Wirken darzustellen stößt auf Schwierig­ keiten, die selbst Ausdruck unterschiedlicher Marginalisie­ rungslogiken sind, in welchen sich dieses Wirken entfaltete und die sich auch in den Leerstellen bisheriger Forschungen widerspiegeln. So fokussieren weder Architekturgeschichts­ schreibung noch biografisch orientierte Forschung zu Margarete Schütte-Lihotzky auf ihr Engagement in kpö und bdfö. Marcel Bois weist darauf hin, dass Schütte-Lihotzkys politische Aktivitäten zwar in wissenschaftlichen Studien oder biografischen Abrissen erwähnt, doch im Gegensatz zu ihrem architektonischen Werk noch nicht systematisch analysiert und interpretiert worden sind, und legt mit seinem Beitrag erstmalig einen Versuch vor, »das politische Engagement Schütte-Lihotzkys zu analysieren und historisch einzuordnen«.7 Bois’ Befund einer Forschungsleerstelle gilt auch bezüglich Geschichtsschreibungen der bzw. über die kpö, die sich, von einzelnen Artikeln abgesehen, nicht mit dem spezifischen Wirken von Schütte-Lihotzky wie generell wenig mit dem Wirken von Frauen in der Partei oder deren frauenpolitischen Aktivitäten beschäftigen.8 Eine generelle Schwierigkeit, die konkreten individu­ ellen Ausrichtungen der politischen Aktivitäten von SchütteLihotzky auf der inhaltlichen Ebene zu erfassen, ergibt sich

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auch daraus, dass Parteifunktionär/innen nicht so sehr als Einzelpersönlichkeiten, sondern eher innerhalb und im Namen von Parteistrukturen und Ideologien wirken, die sie zwar mitprägen, denen sie sich aber auch bewusst eingliedern. Es wäre daher notwendig, ein tiefergehendes Verständ­ nis dieses organisationspolitischen und ideologischen Wir­ kungs­feldes der Kommunistin Margarete Schütte-Lihotzky zu erarbeiten und kritisch zu analysieren. In Bezug auf ihre Tätigkeiten als Vorsitzende des bdfö bedeutet dies, Frauen­ bilder und Genderkonstruktionen des Bundes zu durch­ dringen. Dies könnte zum Beispiel dadurch geschehen, dass die vorliegenden Quellen – Zeitschriften, Programme – auf diese Konstruktionen hin untersucht werden, sowohl was die Texte als auch was die Illustrationen betrifft. Eine solche Bild- und Textanalyse wäre mit den politischen Entwicklungen bezüglich Geschlechterordnungen dieser Zeit in Bezie­ hung zu setzen, um herauszuarbeiten, was Kommunistinnen der Nachkriegszeit an politischen Vorstellungen anzubieten hatten. Da hier der Rahmen für so ein umfassendes Vorhaben nicht gegeben ist, werde ich an einem einzigen Quellen­ beispiel, nämlich einer diskursanalytisch informierten Lek­ türe der 1952 vom bdfö herausgegebenen Broschüre »Von Frau zu Frau«, diese Forschungsperspektive zur Diskussion stellen. Soweit anhand der Sekundärliteratur möglich, werde ich dieses Quellenbeispiel zunächst in eine Skizze kommunis­ tischer frauenpolitischer Strukturen der Nachkriegszeit und deren ideologischer Ausrichtungen einbetten. Kommunistische Frauenpolitik der Nachkriegszeit

Auf der ersten kpö-Frauenkonferenz im April 1946 wurde Margarete Schütte-Lihotzky in das zentrale Frauenkomitee der Partei gewählt.9 Zwei Monate später wurde im Wiener Musikverein der Bund Demokratischer Frauen Österreichs, ein partei- und konfessionsübergreifender Zusammenschluss antifaschistischer Frauen, gegründet.10 Dieser ver­ sam­melte verschiedene, auch prominente Frauenpersönlich­ keiten, meist aus der Mittel- und Oberschicht.11 Einige, wie die erste Leiterin der Österreichischen Frauenvereine der Nach­kriegszeit, Henriette Hainisch, wirkten in einem bür­ gerlichen Umfeld,12 andere wie die Widerstandskämpfe­ 270

9  Zentrales Frauen­ komitee der KPÖ (Hg.): Frauen sprechen! Die erste österreichische Frauenkonferenz der Kommunistischen Partei Österreichs im April 1946, Wien 1946. 10  Heidi Niederkofler: Mehrheit verpflichtet: Frauenorganisationen der politischen Parteien in Österreich in der Nach­ kriegszeit, Wien 2009, S. 47f. 11  Niederkofler, Mehr­h eit, S. 48f.; Manfred Mugrauer: Hella AltmannPostranecky (1903–1995). Funktionärin der Arbeiter­ Innenbewegung und erste Frau in einer österreichi­ schen Regierung, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Wider­ standes (Hg.): Forschun­ gen zu Vertrei­b ung und Holocaust. Jahr­b uch 2018, Wien 2018, S. 267–306, hier S. 293. 12  Niederkofler, Mehrheit, S. 48.

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13  Irma Schwager: Kom­ munistische Frauenpolitik in der Nachkriegszeit. Referat am Symposium der Alfred Klahr Gesellschaft »Befreiung und Wieder­ aufbau – Die KPÖ als Regierungspartei« am 16.4.2005 in Wien, http:// www.klahrgesellschaft.at/ Mitteilungen/Schwager_2_ 05.html (abgerufen am 20.1.2019). 14  Francisco de Haan: Hoffnungen auf eine bessere Welt: Die frühen Jahre der Internationalen Demokratischen Frauen­ föderation (IDFF/WIDF) (1945–1950), in: Feminis­ tische Studien 2, Stuttgart 2009, S. 241–257, hier S. 241. 15 Ebd. 16 Ebd. 17  Schwager, Kommunis­ tische Frauenpolitik, o. S.; Niederkofler, Mehrheit, S. 49.

18  Mugrauer, AltmannPostranecky, S. 293.

19 Niederkofler, Mehrheit, S. 60.

20  Ebd., S. 59.

rinnen Anna Grün und Grete Schütte-Lihotzky standen der kpö nahe.13 1948 trat der bdfö der 1945 in Paris gegründeten Inter­ nationalen Demokratischen Frauenföderation (idff) bei, einem breiten Bündnis unterschiedlicher Frauenorganisa­ tionen aus »dem linken Spektrum […], die sich gegen ge­ schlechterspezifische, klassenspezifische, koloniale und ethnische oder ›rassische‹ Ungleichheiten wendeten«.14 Die idff war ursprünglich ebenfalls überparteilich konzipiert gewesen und hatte sich zunächst im Sinne von »friedlicher Systemkoexistenz und antifaschistischem Grundkonsens« zu positionieren versucht.15 Der Kalte Krieg trieb jedoch auch die idff in eine polare Weltsicht. An ihrem zweiten Kongress 1948 in Budapest waren die allermeisten Nicht-Kommunis­ tinnen bereits ausgestiegen, und die Politik des Verbandes orientierte sich »ausgesprochen pro-sowjetisch«. Gleichzei­ tig wurde die idff selbst zur Zielscheibe antikommunistischer Politik. Sie wurde aus ihrem Hauptquartier in Paris verdrängt und dieses nach Ost-Berlin verlegt.16 Nach dem Beitritt in diesen 1948 bereits eindeutig positionierten Dachverband »haben die bürgerlichen Frauen […] den [bdfö] verlassen, weil sie diese Organisation als zu kommunistisch beeinflusst sahen«.17 Zur selben Zeit erfolgte die Annäherung zwischen kpö und bdfö. Da der Bund in der Zeit nach seiner Gründung keinerlei Aktivitäten entfaltet habe, spricht Mugrauer von seiner Reaktivierung »mit verändertem Politik- und Organisationsverständnis« durch die kpö.18 1949, beim 14. Parteitag der kpö, wurden die bis dahin bestehenden parteiinternen Strukturen der Frauen­ politik aufgelöst und die etablierten kpö-Frauengruppen in den bdfö eingegliedert – was einige Genossinnen durchaus kritisch sahen.19 Durch die Unterstützung seitens der kpö konnte sich das Tätigkeitsfeld des Bundes massiv und über Wien hin­aus ausweiten. 1949 fand der erste Bundeskongress statt, an dem Ida Flöckinger, Margarete Schütte-Lihotzky und Lina Loos zu Präsidentinnen gewählt wurden.20 Auch wenn so­ wohl die Zeitschrift des bdfö, »Stimme der Frau«, als auch seine An­gestellten von der kpö finanziert wurden, fungierte der Bund als eigenständiger Verein mit überparteilichem

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An­spruch. Dass sich dieser nur partiell verwirklichen ließ, lag auch an den Ressentiments von Sozialdemokratinnen, mit den Kommunistinnen im bdfö zusammenzuarbeiten. Selbst wenn es um Bündnisse, etwa zur Abhaltung gemein­ samer Frauentage, ging, war die Parole der spö-Frauen »Konkurrenz, nicht Kooperation«.21 Eine zentrale Aufgabe von Margarete Schütte-Lihotzky als Präsidentin des bdfö war es, zu Demonstrationen am Internationalen Frauentag aufzurufen und dort als Rednerin aufzutreten.22 Diese Kundgebungen standen bis 1955 jeweils unter einem generellen Motto. »Frieden und Freiheit. Wiederaufbau Demokratie« lautete es 1946. Im Folgejahr traten die kpö-Frauen »Für ein unabhängiges, demokra­ti­ sches, fortschrittliches Österreich!« ein. Ein Fokus des bdfö gene­ rell und damit auch der Frauentagsforderungen der späten 1940er, frühen 1950er Jahre war das friedens­politische En­gagement, das sich oft mit einer Anrufung der »Frauen als Mütter« verband.23 So stand der Frauentag 1948 im Zeichen des Kampfes »gegen den Krieg« und »für das Kind«.24 Frauen als für das ›Familienglück‹ Zuständige

Im Jahr 1956 führte der bdfö eine Umfrage über die Wünsche und Forderungen der österreichischen Frauen durch. Diese »brennenden Lebensprobleme« fasste er im Folgejahr in einem »Sofortprogramm« zusammen. Frauen wollen Frie­ den, hieß es dort, und dafür sei der Schutz der österreichi­ schen Neutralität wichtig; die Regierung möge sich für die Ver­ständigung der Großmächte und gegen den Kalten Krieg einsetzen. Die Frauen wollen eine gesunde und glückliche Familie, denn diese sei die Grundlage des Staates. Sie wollen ausreichend Schutz für Mutter und Kind. Die Gesellschaft müsse der Frau, weil sie das Leben gebe, auch besonderen Schutz geben. Weitere Forderungen, die in dieser Broschüre wie auch in der gesamten Nachkriegszeit immer wieder er­ hoben wurden, sind: gleicher Lohn für gleiche Leistung, Mutterschutz, modernes Ehe- und Familienrecht. Eine we­ sentliche Forderung, die an die kommunistische Frauenpolitik der Ersten Republik anknüpft, ist die nach einer Reform des Paragraphen 144, der Abtreibung unter Strafe stellte.25 Anders jedoch als in der Ersten Republik fordern die 272

21  Maria Mesner: Mit dem Strom und gegen den Wind: Frauentag in den Nachkriegsjahren, in: Heidi Niederkofler u. a. (Hg.): Frauentag! Erfin­ dung und Karriere einer Tradition, Wien 2011, S. 140–171, hier S. 154. 22 Ebd.

23  Mugrauer, AltmannPostranecky, S. 296; Mesner, Strom und Wind, S. 158. 24  Mesner, Strom und Wind, S. 158.

25  Bund Demokratischer Frauen Österreichs (Hg.): Was wir fordern. Sofort­ programm des Bundes Demokratischer Frauen Österreichs, Wien 1957.

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26  Mugrauer, AltmannPostranecky, S. 299.

27  Ebd., S. 298. 28  Karin Schneider: Verborgene Feminismen. Denk- und Utopieange­ bote der österreichischen Arbeiterinnenbewegung der Ersten Republik unter Fokus auf die KPDÖ, phil. Dipl.-Arbeit, Universität Wien 2004.

Kommunist/innen der Nachkriegszeit nicht die Abschaffung des besagten Paragraphen, sondern seine Änderung in Rich­ tung sozialer Indikation.26 Generell kann gesagt werden, dass es ein in den Quellen gut zu belegender Topos der kpö/bdfö-Frauenpolitik der Nachkriegsjahrzehnte ist, Frauen speziell als Mütter anzuru­ fen und insbesondere deren friedenspolitisches Engagement aus dieser Rolle abzuleiten, »womit eine substanzielle Nähe zwischen Frauen bzw. Müttern und Frieden behauptet wurde«(Abb. 1).27 So fortschrittlich die arbeitsrechtlichen (gleicher Lohn für alle) und familienpolitischen (Gleich­ stellung von Vater und Mutter in der Familie) Forderungen der Kommu­nist/innen dieser Zeit waren, so konnten sie dennoch nicht an radikalere gesellschaftspolitische Konzepte der frühen 1920er Jahre, wie beispielsweise die Vergesell­ schaftung des Haushalts, anschließen.28 Damals beschrie­ben die meisten Beiträge, die zum Thema ›Haushalt‹ in der kpö-

29 Ebd.

Abb. 1: Margarete Schütte-Lihotzky (Mitte) am »Kongress der österreichischen Frau« in Wien, 26. bis 28. März 1954, links neben ihr Maria Subik, ganz rechts Irma Schwager.

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Frauenzeit­schrift »Die Arbeiterin« erschienen, die private Sphäre als ausschließlich reaktionär konnotierte Negativ­ folie zur po­ tentiell revolutionären industriellen Arbeits­ welt.29 Da­ gegen sind Haushalt und Wohnraum für die »Stimme der Frau« der 1950er Jahre wichtige Aktionsfelder, um Frauen direkt über eine unmittelbare, durch sie selbst herbeizuführende Verbesserung ihrer privaten Lebensbe­ dürfnisse anzu­sprechen. In der »Stimme der Frau« sind immer wieder Beiträge der »Arch. G. Schütte-Lihotzky« zu finden, die versuchen, den Leserinnen architektonisches Wissen zur Wohnraumund Küchengestaltung so zu vermitteln, dass sie in der Lage sind, auch in beengten Wohnverhältnissen so etwas wie Privatheit zu schaffen, Hausarbeit zu vereinfachen und ›Kleinfamilie‹ zu leben.30 Aus sozialgeschichtlicher Perspek­ tive ist das veränderte Verständnis von Hausarbeit und Woh­ nen in der frauenpolitischen Propaganda der kpö als kom­ plex und nicht schlicht als rückschrittlich zu beschreiben. Im Zuge des einsetzenden Wirtschaftsaufschwungs wurde das – bereits in den 1920er Jahren von Sozialdemokrat/innen für die Arbeiter/innenklasse vorgeschlagene – Modell der bür­gerlichen Kleinfamilie erstmals ein erreichbarer Lebens­ ent­wurf für die große Mehrheit der Bevölkerung. Sozial­ historisch gesehen kann dies als Innovation begriffen werden, die gleichzeitig auf diskursiver Ebene auf reaktio­ nären Frauen­bildern ruht, wie sie auch im Faschismus und Natio­ nal­­sozialismus propagiert wurde.31 Weder in der Ersten Republik noch in der Nachkriegszeit thematisierten Kommunistinnen das Geschlechter­ verhält­nis als politisch zu verstehenden gesellschaftlichen Widerspruch. Dies änderte sich erst in den späten 1970er Jahre in Folge der Auseinandersetzung mit, durch und in der neuen Frauenbewegung.32 Paradoxerweise jedoch sind An­ schlussstellen für ein solches Politikverständnis in Beiträgen von Margarete Schütte-Lihotzky – trotz deren tenden­ ziell konservativem Frauenbild – eher zu finden als in den radi­kalen Verwerfungen des Privaten der kpö-Autorinnen der frühen 1920er Jahre. So schreibt Schütte-Lihotzky in ihrem Beitrag »Planen und Bauen, Euch Frauen geht es an« aus dem Jahr 1953: 274

29 Ebd.

30  Vgl. zum Beispiel: Grete Schütte-Lihotzky: »Die Hubers bekommen ein Kind«, in: Stimme der Frau, 1950 (?), Nachlass Margarete SchütteLihotzky, Archiv der Uni­ versität für angewandte Kunst, Wien (UaK, NL MSL), TXT/295; die klei­ nen Anführungszeichen bei ›Kleinfamilie‹ beziehen sich auf die Konstruktion eines bestimmten Lebens­ modells entlang eines Vater-Mutter-Kind(er)Schemas. Zumindest in den Beiträgen von Margarete SchütteLihotzky ist die erfolg­ reiche Lebenssituation von ›Kleinfamilie‹ an der Separierung der Gene­ rationen und Gender in unterschiedliche Wohn­ bereiche festzumachen. 31  Mesner, Strom und Wind, S. 164. 32  Mugrauer, AltmannPostranecky, S. 297.

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33  Grete SchütteLihotzky: Planen und Bauen. Euch Frauen geht es an, in: Stimme der Frau, Nr. 6, 7.2.1953, UaK, NL MSL. Siehe hierzu auch den Beitrag von Christine Zwingl in diesem Band.

»Wie wichtig ist es doch für unser ganzes Leben – daß gebaut wird und wie gebaut wird – wie wichtig für unsere Arbeit in Haushalt, Fabrik, Büro […] wie wichtig für unser ganzes Familien- und Lebensglück! Und wichtig für uns Frauen ist faktisch alles – angefangen mit der Gesamtplanung unseres Landes bis über die Planung der Städte zum Woh­ nungsbau, zur Wohnungseinrichtung, den Möbeln und sogar bis zur Art und Weise, wie wir unsern Kochlöffel in der Küche aufbewahren können, sind voneinander abhängig.«33 Frauen sind implizit und im weiteren Text explizit für Küche, Kochlöffel und Familienglück zuständig und werden über diese Zuständigkeiten als wichtige Trägerinnen des Staatsaufbaues adressiert. Angelegt ist in diesem Text neben einer konservativen Gleichsetzung von Frauen mit Müttern und Hausfrauen auch die Perspektive, das Private als Poli­ tisches zu sehen und die Ordnung von Kochlöffeln als politisches Aktionsfeld anzuerkennen.

Abb. 2: Von Frau zu Frau, hg. von Rosl Grossmann-Breuer und dem Bund Demokratischer Frauen Österreichs, Wien 1952, S. 4 und 5

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Von Frau zu Frau: Der Versuch einer ›Probebohrung‹

Im Jahr 1952 gab der bdfö eine Broschüre mit dem Titel »Von Frau zu Frau« heraus.34 Unter der Überschrift »Für den Schutz von Mutter und Kind« sehen wir hier auf Seite 4 ein Foto von einem kleinen Kind (wahrscheinlich ein Mädchen), das verloren wirkend in einer düsteren, engen Gasse steht. Im Hin­ tergrund befinden sich eine weitere erwachsen wirkende, männlich konnotierte Figur und ein älteres Kind, von der Frisur her vermutlich ein Mädchen. Über die Straße sind Wäschestücke gespannt, alles wirkt ärmlich und trist (Abb. 2). Im linken unteren Eck derselben Seite ist ein Foto eines Jugendlichen mit den Attributen eines Jungen – Schirmkappe, gestreiftes Shirt, überkreuzte Hosenträger, Hände in die Hüften gestemmt – zu sehen, der vor einem Regal mit Comicheften steht. Die Bildunterschrift des ersten Bildes lautet: »Im Hof eines Wiener Miethauses. In engen, feuchten Wohnungen, in schmalen düsteren Höfen und auf gefahr­ vollen Straßen verbringen zehntausende österreichische Kinder ihre Freizeit.« Zum zweiten Bild ist zu lesen: »Hinaus mit der Schundliteratur und den Gangsterfilmen aus Öster­ reich«. Der Text selbst beschäftigt sich mit dem Elend von Müttern und Kindern, großer Kindersterblichkeit, mangeln­ den Pflegeeinrichtungen, Krankenversorgung für Mütter und Kinder, zu wenigen Einrichtungen für Kinder von arbei­ tenden Müttern und überfüllten Schulkassen. Am Ende des Artikels werden die Forderungen zusammengefasst: »Ausrei­ chender Schutz für Mutter und Kind. Einbeziehung der Hausgehilfin ins Mutterschutzgesetz. Mehr Kinder­krippen, Horte, Schulen, Lernhorte, Mutterberatungsstellen auch auf dem Lande«. Darunter steht ebenfalls in fetter Schrift, sodass es noch zu den Forderungen gehören könnte, aber abgesetzt und damit vermutlich eher als Überschrift des nächsten Artikels: »Kampf gegen Schmutz und Schund«. Dieser berichtet darüber, dass »in Österreich durchschnittlich acht Jugend­ liche täglich wegen krimineller Vergehen« verurteilt würden. Schuld daran seien »neben den schlechten sozialen Verhält­ nissen« die »Flut von Verbrecherfilmen und Schundliteratur«. Es wird jetzt klar, wie sich der Jugendliche vor der 276

34  Bund Demokratischer Frauen Österreichs/ Rosl Grossmann-Breuer (Hg.): Von Frau zu Frau, Wien 1952. Alle im Fol­ gen­d en gebrachten Zitate aus einer Primärquelle bezie­h en sich auf diese Broschüre. Die Seitenan­ gaben sind im Text ange­ führt.

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Abb. 3: Von Frau zu Frau, hg. von Rosl Grossmann-Breuer und dem Bund Demokratischer Frauen Österreichs, Wien 1952, S. 8 und 9

35  Edith Blaschitz: Der »Kampf gegen Schmutz und Schund«. Film, Gesell­ schaft und die Konstruk­ tion nationaler Identität in Österreich (1946–1970), Wien 2014, S. 102.

Comicwand einfügt und wovor er geschützt werden soll. Auf semantischer Ebene verbindet sich der Schmutz der Wohn­ umgebung im ersten Bild mit dem Schmutz und Schund in Filmen und Literatur und dem notwendigen Schutz vor bei­ dem. Im Text heißt es weiter, dass »die meisten dieser Filme und Hefte amerikanischen Ursprungs« seien und dass »der Bund Demokratischer Frauen […] die Mütter im Kampf um die Rettung ihrer Kinder« vereinige. Tatsächlich funktionierte die Zusammenarbeit zwischen Kommunist/innen und anderen Gruppen wie der Katholischen Jugend in der – Anfang der 1950er Jahre sehr massiven, aggressiven und erfolgreichen – Kampagne gegen »Schmutz und Schund« erstaunlich gut.35 Auf der den ersten beiden Fotos gegenüberliegenden Seite 5 ist ein weiteres Kinderfoto zu sehen, das Porträt eines ausgesprochen fröhlichen, wohlgenährten Babys. Daneben findet sich ein an Mütter gerichtetes Gedicht, das die süßen Kinderaugen und -händchen beschreibt sowie das Glück der

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Mutter, das Kind zu versorgen und zu beschützen. Am Ende des Gedichtes heißt es: »Wenn durch Korea geht der Tod, ist, Mutter, auch dein Kind bedroht.« Mit diesem Satz werden die Mütter abermals aufgerufen, die Sorge um die eigenen Kinder mit der Sorge um die Welt zu verbinden, im Konkreten mit den Kriegsgefahren, die, so wie die Gefahr der gewalt­ auslösenden Gangsterfilme, aus den usa kommen. Diese Projektion aller Weltbedrohung auf die usa und deren Populärkultur findet auf Seite 8 ihren noch drasti­ scheren Ausdruck und verknüpft sich direkt mit der Konstruktion von Frauenbildern: Rechts oben ist eine im Cartoon-Stil gezeichnete Frau zu sehen, die Darstellung ihres Körpers endet knapp oberhalb der Oberschenkel. Sie trägt enganliegende Unterwäsche, die sie fast nackt erschei­ nen lässt und ihre großen Brüste betont. Ihre Arme sind ausgesprochen muskulös, in jeder Hand hält sie eine Pistole, mit der sie in zwei unterschiedliche Richtungen aus dem Bild hinaus zielt, sie selbst schaut rechts aus dem Bild, den poten­ tiellen Schussrichtungen entgegengesetzt (Abb. 3). Darunter ist das Wort »Spannung« auszumachen – der Artikel legt nahe, dass es sich um ein Film-, vielleicht auch Ver­an­staltungsplakat handelt. Daneben steht als Erklärung in Großbuchstaben: »Die entwürdigte Frau«. Im Textblock dazu heißt es: »Es gibt Länder, in denen alles käuflich ist – auch die Ehre und Würde der Frau. Seht sie euch an, die Filme, die aus den usa zu uns herüberkommen. Wie zeigen sie die Frau? Als bloßes Lustobjekt des Mannes, als ›Vamp‹, der es versteht, sich um Höchstpreise zu verkaufen, als Wesen, dessen einziger Wert im ›Sex-Appeal‹ liegt, in seiner Fähigkeit, die Männer anzuziehen.« Unter der ersten Text­ spalte befindet sich eine Abbildung mit Zeitungsschlagzeilen wie »Schulmädchen als Geheimprostituierte«, »Der moralische Sumpf im Ami-Hauptquartier gefährdet die Jugend«, »Amerikaner verführen Minderjährige«. Und dann in fetter Schrift: »Boogi-Woogi, Hollywood und Prosti­ tution von halben Kindern – bewahrt unser Land vor diesem Gift«. Solch ein Text wirkt höchst irritierend, nicht nur, weil eine derartige Gleichsetzung der Populärkultur mit Prosti­ tution und Verbrechen heute wohl kaum mit einer linken 278

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36  Kaspar Maase: BRAVO Amerika. Erkun­ dungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Frankfurt am Main 1991; Rathkolb, US-Besatzungspolitik, S. 46f.

37 Grundlegendes theoretisches Instrumen­ tarium zur Kritik des Antiamerikanismus der Linken siehe: Moishe Postone: Geschichte und Ohnmacht. Massen­ mobilisierung und aktuelle Formen des Antikapi­ talismus, in: ders.: Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen, Freiburg 2005, S. 195– 212; zu dem national­ sozialistischen Topos des »kulturlosen« Amerikaners und den tieferen Wurzeln des Antiamerikanismus in Österreich vgl. Rathkolb, US-Besatzungspolitik, S. 38f.

Position in Verbindung gebracht werden würde. Interessant ist auch, dass heutige Phantasmen des »Fremden« und Be­ drohlichen exakt demselben Konstruktionsschema folgen: Immer sind es die Frauen, deren körperliche Unversehrtheit auf dem Spiel steht und die vor den sexuellen Übergriffen der »Fremden« bewahrt werden müssen. Diese »Fremden« mani­pulieren auch die eigenen Frauen und gefährden »un­ sere eigene Kultur« mit den jeweils falschen Vorstellungen von Weiblichkeit. Assoziationen zum heutigen antimusli­ mischen Rassismus liegen auf der Hand, die Differenzen ebenso: Ist in diesem Beispiel aus den frühen 1950er Jahren die öffentlich-sichtbare Entblößung des weiblichen Körpers der Referenzpunkt für Frauenunterdrückung und Ausbeu­ tung, so ist es im Falle des heutigen antimuslimischen Dis­ kurses seine Verhüllung. Kommunistische Ressentiments 1952 richten sich gegen starke populärkulturelle Einflüsse einer Besatzungsmacht,36 während rechte Politik heute auf eine kleine, prekäre Gruppe von geflüchteten Menschen und heimische Muslime/Muslima abzielt. Verlor auch die »Schmutz und Schund«-Debatte in den späten 1960er Jahren an Bedeutung und stand linken Femi­ nistinnen und Kommunist/innen im Kontext der neuen Frauenbewegung ein anderes, pointierteres Reflexionsreper­ toire zur Kritik »der Frau als Lustobjekt des Mannes« zur Verfügung, als auf ihre »Ehre und Würde« zu verweisen, so blieb ein unreflektierter Antiamerikanismus37 und ein Res­ sentiment gegen bestimmte, mit Amerika in Verbindung gebrachte Formen der Populär- oder Jugendkultur eine Vari­ ante linken Alltagsdenkens. Ein solcher Antiamerikanis­mus, wie er in dem oben analysierten Text im Speziellen und in der »Schmutz und Schund«-Debatte im Allgemeinen deutlich zum Ausdruck kommt, impliziert die Idee, dass eine »schäd­ liche« Populärkultur von den usa als imaginiertes Außen in »unseren« als einheitlich und »sauber« konstruierten indi­ viduellen und gesellschaftlichen Körper als »Gift« eingeflößt würde. Solche Konstruktionen führen dabei in subtiler Form auch antisemitische Bedeutungskonstruktionen mit: »Gift« und die Idee vom »unsichtbaren Eindringen« und »Verschmutzen« waren bekannte antisemitische Metaphern, wie sie vor und im Nationalsozialismus Verbreitung fanden.

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Solche Metaphern verschwanden in der Nachkriegszeit nicht einfach, sondern wurden zu Bestandteilen politischen Voka­ bulars.38 Das Bild »Die entwürdigte Frau« spiegelt sich auf der gegenüberliegenden Seite 9 der Broschüre mit einer anderen Frauendarstellung: Ein Foto von fünf Frauen, die alle über Arbeitsmaterialien gebeugt sind, ist mit »Die befreite Frau« übertitelt. Ihre Haare sind kurz geschnitten oder nach hinten gebunden, alle tragen fast bis oben geschlossene Krägen. Darüber eine weitere Aufnahme eines sehr modern an­ muten­den Hochhauses. Die Bildbeschriftung: »Für dieses 27stöckige Hochhaus auf dem Smolenskplatz in Moskau haben die fünf Architektinnen die Pläne gezeichnet und an der Ausgestaltung führend mitgearbeitet«. Die Leserinnen des Artikels erfahren, dass die Forderungen nach Gleichbe­ rechtigung und die Linderung des Kinderelends, wie sie in den ersten Teilen dieser Broschüre geschildert wurden, in der Sowjetunion erfüllt seien. In loser Assoziation zu den »Architektinnen« als Pro­ totypus der »befreiten Frau« taucht Margarete SchütteLihotzky auf der letzten Seite des Heftchens auf. Unter der Überschrift »Frauen, die an der Spitze des Bundes Demokra­ tischer Frauen stehen« wird sie wie folgt zitiert: »[…] Wir müssen alles Trennende beiseite schieben, um gemeinsam für unsere Familien, für unsere Kinder einzu­tre­ ten. Denn was nützt es, wenn die einzelne eine gute Haus­ frau, eine gute Erzieherin und Arbeiterin ist? Über ihren Kopf hinweg geschehen Dinge, die ihren Fleiß verhöhnen, ihre Bemühungen zunichte machen. Ich denke da vor allem an die ungeheure Gefahr eines neuen Krieges. Frieden will jede Frau. Heute schon setzen unzählige Frauen aller Länder und Erdteile all ihre Mittel ein, um den Frieden zu retten […].« Die widersprüchliche Situation, in der kommunistische Frauenpolitik der Nachkriegszeit agierte, ist hier nachvoll­ ziehbar: Einerseits versuchten Kommunistinnen vor allem durch die Unterstützung des überparteilich konzipierten bdfö im Gegensatz zu Sozialdemokratinnen, das Trennende beiseitezuschieben, und andererseits waren sie in die Dichotomien des Kalten Krieges eingespannt und standen 280

38  Alexander Bein ver­ weist dabei auf den »Vergleich der Börse mit einem Giftbaum«, der zum »geflügelten Worte der Antisemiten wurde«, sowie auf das seit dem 19. Jahrhundert übliche Bild des »Volkskörpers«, das eine zunehmend biolo­ gisch-reale Bedeutung erhielt, wenn davon gesprochen wurde, dass die »Gifte des Bolsche­ wismus, Kapitalismus und Intellektualismus in ihn einzudringen und zu vernichten suchten.« Alexander Bein: »Der jüdi­ sche Parasit«. Bemer­ kungen zur Semantik der Judenfrage, in: Viertel­ jahrshefte für Zeitge­ schichte (1965), H. 2, S. 121–149, hier: S. 124. Sind es bei den Kommu­ nist/innen der 1950er Jahre auch andere »Gifte«, so wurden die Metaphern­ bildungen von »gesundem Volkskörper« und »ein­ dringendem Gift« über­ nommen.

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damit zumindest aus der Sicht potentieller Bündnispart­ nerinnen oft selbst für das Trennende. Die Konstruktion von Frauenbildern ist dabei eine der Folien, über welche der Dualismus des Kalten Krieges ausbuchstabiert wird: keusche, gruppenbezogene, arbeitende, denkende »befreite Frau« der Sowjetunion versus sexualisierter, individualisierter, fik­ tiver »Vamp«/»entwürdigte Frau« als Sinnbild für die usa. Unabhängig davon, ob das obige Zitat wirklich von Margarete Schütte-Lihotzky stammt und ob sie den genauen Kontext dieser Broschüre kannte, ihr parteipolitisches Wir­ ken ist in der Nachkriegszeit genau in diese Widerspruchs­ szenarien eingebunden, diese prägten sie und wurden von ihr zumindest tendenziell mitgeprägt. Hier wäre der nächste notwendige Schritt, solche widersprüchlichen, manchmal auch verstörenden Frauenbilder und ihre gesellschaftlichen Bedeutungen auch in Hinblick auf die folgenden Jahrzehnte kommunistischer Frauenpolitik zu untersuchen und mit anderen zeitgeschichtlichen Quellen in Beziehung zu setzen. Eine solche Forschung wäre notwendig, um ein umfassen­ deres Verständnis des Wirkungsfeldes von Schütte-Lihotzky als wichtiger Figur kommunistischer Frauenpolitik Öster­ reichs generieren zu können. Conclusio

Der Versuch, Margarete Schütte-Lihotzkys politisches Wir­ ken als aktives Mitglied der kpö und zentrale Funktionärin des der kpö nahestehenden Bundes Demokratischer Frauen Österreichs zu beschreiben, weist einige Schwierigkeiten und Widersprüche auf. Die Fragestellung selbst verweist auf Forschungslücken sowohl in der biografisch und architektur­ geschichtlich orientierten Geschichtsschreibung zu SchütteLihotzky als auch in der Geschichtsschreibung zur kommu­ nistischen Bewegung Österreichs. In dieser allgemeinen Ge­ schichtsschreibung zur kpö werden frauen- und genderpoli­ tische Fragestellungen und das Wirken von Funktionärin­nen kaum beleuchtet. Jüngste, exakt durchgearbeitete Bei­träge, diese Forschungslücken in beide Richtungen hin zu schließen, wurden im Jahr 2018 von Marcel Bois vorgelegt, der Margarete Schütte-Lihotzky als »kommunistische Intellek­ tuelle« analytisch-kritisch beschreibt und zeitgeschichtlich Karin Schneider

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verortet,39 sowie von Manfred Mugrauer, der in seinem Bei­ trag zu Hella Altmann-Postranecky frauenpolitische Para­ digmen der kpö und des bdfö der Nachkriegszeit präzise und kritisch nachzeichnet.40 Aus feministischer Forschungs­ perspektive finden sich in der Arbeit von Heidi Niederkofler von 2009 Hinweise zur Frühgeschichte des bdfö und seinem Verhältnis zur kpö.41 Eine Geschichte des bdfö für die ge­ samte Vorsitzperiode von Schütte-Lihotzky wurde bis dato jedoch noch nicht geschrieben. Eine weitere Herausforderung ergibt sich auch daraus, dass sich Wirkungsweisen einer kommunistischen Funktio­ närin dadurch konstituieren, wie sie sich zu den Partei­ strukturen und deren Ideologien in Beziehung setzt. Um also Schütte-Lihotzkys (frauen-)politisches Engagement nach 1945 auch kritisch und analytisch (und nicht nur deskriptiv) darlegen zu können, ist es notwendig, die jeweiligen struk­ turellen Vorgaben, aber auch die Ideen- und Bildproduktionen der kpö genauer zu durchleuchten – das bedeutet für den Kontext bdfö vor allem, der Frage nachzugehen, welches Frauenbild und welche Vorstellungen von Genderordnungen Kommunist/innen in Umlauf brachten und wie diese Vor­ stellungen sich im Kontext ihrer Zeit verorten. Eine für das Verständnis des politischen Wirkungsfeldes von Margarete Schütte-Lihotzky notwendige kritische Analyse der Quellen kommunistischer Frauenpolitik bedeutet nicht, Denkange­ bote damaliger Kommunistinnen an heutigen Maßstäben zu messen, vielmehr jedoch deren Auswirkungen auf spätere Horizonte links-feministischen Agierens ernst zu nehmen. Gerade die Art, wie auch von Schütte-Lihotzky selbst in einigen ihrer pragmatischen Texte in der »Stimme der Frau« an ›die Frauen‹ appelliert wird, die Bilder und Parolen, mit welchen Frauen in den Propagandamaterialien des bdfö während ihrer Funktionsperiode angerufen werden, können als diskursiver und bildpolitischer Schauplatz der Aus­hand­ lung von nationalen Identitätskonstruktionen gelesen wer­ den – das gilt insbesondere für die Nachkriegszeit, in der sich die Dualismen des Kalten Krieges in Zusammenspiel mit nationaler Selbstkonstruktion und Wiederaufbauideologie herausbilden. In dieser Zeit werden auch die Aufgaben von Frauen und ihre Zuständigkeiten sowie die Verteilung der 282

39  Vgl. Anm. 1.

40  Vgl. Anm. 11.

41  Vgl. Anm. 10.

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Sphären von öffentlich und privat, von Familie und Arbeit re-konfiguriert und neu verhandelt. Die Kommunistinnen mit ihren Denkfiguren der Ver­ knüpfung von Frau-Sein mit Mutter-Sein und FriedlichSein, aber auch mit ihren Appellen an die Frauen, sich als Mütter gegen den populärkulturellen, aus Amerika »eindrin­ genden Schmutz und Schund« zu wehren, haben insofern einen Beitrag in diesen Aushandlungsprozessen geleistet, als sie Paradigmen linker und gegenhegemonialer Denkangebote setzten. Generell zeigt sich dabei, dass im Rahmen des allgemeinen konservativen Klimas bei gleichzeitigem öko­ nomischem Aufschwung auch Kommunistinnen bezüglich ihrer Vorstellungen von Genderordnungen konservativere, traditionellere Rollenbilder in Umlauf bringen und nicht zu ihren radikaleren Positionen der Kritik am bürgerlichen Familien- und Wohnmodell der (frühen) 1920er Jahre finden. In Texten, die Schütte-Lihotzky in der »Stimme der Frau« veröffentlichte, sind Frauen für die Sphäre des Privaten zu­ ständig, der Bereich Wohnen, Haushalt, Kinder wird dabei per se als politisch wichtiges Feld beschrieben und nicht abgewertet. Damit gibt es paradoxerweise eher An­schluss­ stellen zu der Losung »Das Private ist politisch« der neuen Frauenbewegung, als dies in den frauenpolitischen Schriften der kpö der 1920er Jahre mit ihren Verwerfungen der Sphäre des Privaten der Fall ist. Frauenbilder und Appelle an Frauen dienen in der Nach­ kriegszeit auch als Folie für die Abgrenzungslogiken des Kalten Krieges in Form eines pauschalen, auch mit Elementen des antisemitischen Vokabulars durchzogenen Antiameri­ka­ nismus. Auf realpolitischer Ebene jedoch ver­suchten Kom­ munistinnen, und hier vor allem auch Schütte-Lihotzky, durch überparteiliche Bündnisse herrschenden Polaritäten zu entkommen. Zumindest in der Zeit bis zum Beginn der Neuen Frauenbewegung in den 1970er Jahren können damit einige Widersprüche des Feldes beschrieben werden, in dem Margarete Schütte-Lihotzky politisch wirk­te und das sie als Funktionärin mitgestaltete.

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Kindergärten und Küchen: Reflexion und Rezeption

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Margarete Schütte-Lihotzkys »Haus für Kinder«. Eine pädagogische Betrachtung Sebastian Engelmann

Margarete Schütte-Lihotzky ist – außer für die berühmte Frankfurter Küche – wohl am meisten für ihre »Bauten für Kinder« bekannt.1 Oft erwähnt wird ihr Pavillonsystem für Kindergärten, das an zahlreichen Orten realisiert wurde.2 Allerdings gibt es keine Ansätze, die Arbeiten SchütteLihotzkys auf ihre impliziten pädagogischen Mechanismen hin zu befragen, geschweige denn sie in den größeren ideenund motivgeschichtlichen Zusammenhang der Pädagogik einzuordnen. In diesem Beitrag unternehme ich den Versuch, diese Forschungslücke mit Blick auf die Einrichtungen für Kin­der zu schließen – freilich nur, um abschließend erneut auf das Desiderat hinzuweisen und Anknüpfungspunkte für sowohl bildungshistorische als auch erziehungstheoretische Anschlussprojekte aufzuzeigen. Die These, die in diesem Text plausibilisiert werden soll, ist, dass solche Anknüpfungspunkte im Werk SchütteLihotzkys in großer Menge vorliegen. Um dies auszuweisen, werde ich zunächst Schütte-Lihotzkys Bild vom Kind sowie ihr Verständnis von Pädagogik beispielhaft anhand des von ihr geplanten Kindergartens am Kapaunplatz in Wien (1950– 1952) befragen.3 Hierbei bediene ich mich direkt und indirekt der reichhaltigen Theorie der Pädagogik, der Ideen Jean-Jacques Rousseaus, Friedrich Wilhelm Fröbels, der Phi­ 286

1  Eine eingehende Auseinandersetzung mit Planungsskizzen und der Konstruktion der Kinder­ bauten liefert Christoph Freyer in diesem Band. 2  Dazu und zum Ideen­ transfer aus dem asiati­ schen Raum siehe den Beitrag von Helen Young Chang in diesem Band sowie Elija Horn: Indien als Er­z ieher. Orientalismus in der deutschen Reform­ pädagogik und Jugend­ bewegung 1918–1933, Bad Heilbrunn 2018; zur Internationalität reform­ pädagogischen Denkens siehe Steffi Koslowski: Die New Era der New Education Fellowship. Ihr Beitrag zur Internatio­ nalität der Reformpäda­ gogik im 20. Jahrhundert, Bad Heilbrunn 2013. 3  Meine Überlegungen basieren auf einem Projekt von Studierenden der

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TU Wien von 2017, deren Videos online verfügbar sind: https://kindergarten amkapaunplatz.wordpress. com/die-architektin/ (abgerufen am 3.2.2019). 4  Allgemeine Pädagogik, in: Stefan Jordan/Marnie Schlüter (Hg.): Lexikon der Pädagogik. Hundert Grund­b egriffe, Ditzingen 2015, S. 23–25. 5  Sebastian Engelmann: A. H. Niemeyers Blick auf die Pädagogik des 18. Jahrhunderts – Hetero­ genität, Normativität, Differenz, in: Ralf Koerrenz (Hg.): Reformpädagogik als Projekt der Moderne. August Hermann Niemeyer und das pädagogische 18. Jahrhundert, Paderborn 2018, S. 49–72, hier: S. 49. 6  Vgl. Daniel Burghardt: Homo spatialis. Eine päda­ gogische Anthropologie des Raums, Weinheim 2014; Martin Viehhauser: Reformierung des Men­ schen durch Stadtraum­ gestaltung. Eine Studie zur moralerzieherischen Strategie in Städtebau und Architektur um 1900, Weilerswist 2017. 7  Freilich war Raum bereits zuvor in der Päda­ gogik ein Thema. Aus anthropologischer Per­ spektive findet er beispielsweise bei Otto Friedrich Bollnow Beachtung und wird in dessen Studie »Mensch und Raum« (Stuttgart 1963) auch aufgrund seiner Atmosphäre unter­ sucht.

lantrop/innen, einer Vielzahl an Reformpädagog/innen und nicht zuletzt der kritischen Erziehungswissenschaft. Ich folge in loser Anlehnung dem Verständnis Allgemeiner Päda­ gogik, das Markus Rieger-Ladich formuliert: Allgemeine Pädagogik beschäftigt sich mit der Reflexion von grundlagen­ theoretischen Fragestellungen, erschließt Wissen anderer Disziplinen und vermittelt dieses auch innerhalb der eigenen Disziplin.4 Auf diese Art lese ich Schütte-Lihotzkys Archi­ tektur als Entwurf für die und mit der Pädagogik. Meine An­ nahme hierbei ist, dass sich – geleitet durch das Verständnis von Pädagogik »als intentionale[r] Steuerung von Lernpro­ zessen durch die Menschheitsgeschichte hinweg«5 – päda­ gogische Prozesse in Architektur und jedweder Form von gestalteten Strukturen ausmachen lassen. Räumliche Arran­ ge­ments werden seit einiger Zeit – mal theoretisch ambitio­ nierter, mal ausdrucksstark am Material – in der Disziplin verhandelt.6 In jedem Fall kann festgehalten werden, dass der Raum spätestens mit dem sozial- und kulturwissenschaft­ lich proklamierten spatial turn – sicherlich aber auch schon frü­her – auch in der Erziehungswissenschaft zum Gegen­ stand der Betrachtung wurde.7 Der Ort, an dem Pädagog/ innen wirken, wird so selbst als Bedingung und wichtiger Ein­fluss­faktor des pädagogischen Handelns erschlossen, gar selbst als pädagogisch wirkend rekonstruiert. Dabei verdienen im Falle von Schütte-Lihotzky insbe­ sondere die Bauten für Kinder, die auch als Kindergärten bezeichnet werden, pädagogische Beachtung. Sie fungieren als organisationaler und materieller Niederschlag eines groß angelegten reformpädagogischen Projekts. Reformpä­dago­ gik meint hier nicht (nur) die kanonisch festgelegten »gro­ ßen« Lehren von beispielsweise Maria Montessori oder auch Rudolf Steiner.8 Stattdessen begreife ich im Anschluss an Ralf Koerrenz’ Reformpädagogik als eine Form pädago­gi­ schen Handelns, »die sich kritisch auf ein ›Schon-Jetzt‹ bezieht und versucht, eine Differenz zu einem ›Noch-Nicht‹ durch Einwirkung auf Edukanden und Edukandinnen zu errei­chen. Dies geschieht über Reformen, die sich maßgeblich in der Veränderung von pädagogischen Strukturen und Praktiken niederschlagen.«9 Als Beispiel für die kritische Analyse eines gegebenen

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Zustands, des ›Schon-Jetzt‹, und einer Veränderung mit dem klaren utopischen Ziel eines ›Noch-Nicht‹ gelten bereits die pädagogischen Thesen von Jean-Jacques Rousseau, die als »Reformpädagogik vor der [historischen, S.E.] Reform­päda­ gogik«10 bezeichnet wurden. Besonders eindrücklich kommt diese reformpädagogische Haltung in den vielfältigen Über­ legungen zur Erziehung von Kleinkindern beim deutschen Nestor der frühkindlichen Erziehung Friedrich Wilhelm Fröbel zum Ausdruck. All diese potenziellen Verbindungs­ linien werde ich in diesem Text hervortreten lassen. Zunächst werfe ich einen genaueren Blick auf die Idee des Kindes bei Fröbel und die daraus gezogenen Konsequenzen für die Er­ ziehung. In einem nächsten Schritt wende ich mich der päda­ gogischen Bedeutung des Raums als zugleich ausschlie­ßen­ dem und ermöglichendem Aspekt von Erziehung zu. In ei­ nem letzten Schritt widme ich mich dem räumlichen Ar­ rangement selbst und weise abschließend auf weitere offene Fragen hin. Kinder als kleine Pflanzen – zwischen wildem Garten und geordnetem Treibhaus

An der Wand des von Margarete Schütte-Lihotzky ent­wor­ fenen Kindergartens am Kapaunplatz in Wien prangt im Eingangssaal eine Aussage Friedrich Wilhelm Fröbels (1782– 1852). Sinngemäß stellt Fröbel fest, dass es keine schönere Tätigkeit gebe als die Kindererziehung.11 Kinder werden von Fröbel als das Wertvollste betrachtet. Nehmen wir diese Aussage nicht einfach unhinterfragt hin, führt sie uns zu der Frage, wie genau Kinder imaginiert werden – denn die Vor­ stellung davon, wer Pädagog/innen im Prozess des Er­ziehens, Lehrens und Bildens entgegentritt, bestimmt die Praxis maßgeblich mit. Bei Fröbel ist diese Frage nach der hand­ lungsleitenden Vorstellung vom Kind leicht zu beant­worten. Grundlage und Aufgabe der Erziehung formuliert er so: »Das Anregen, die Behandlung des Menschen als eines sich bewusst werdenden, denkenden, vernehmenden We­sens zur reinen unverletzten Darstellung des inneren Geset­zes, des Göttlichen mit Bewusstsein und Selbstbestim­mung, und die Vorführung von Weg und Mittel dazu ist Erziehung des Menschen.«12 288

8  Sebastian Engelmann: Alles wie gehabt? Zur Konstruktion von Klassi­ kern und Geschichte(n) der Pädagogik, in: Markus Rieger-Ladich/ Anne Rohstock/Karin Amos (Hg.): Erinnern, Umschreiben, Vergessen. Die Stiftung des diszi­ plinären Gedächtnisses als soziale Praxis, Weilerswist 2019, S. 65– 93. 9  Sebastian Engelmann/ Mathias Dehne: Päda­ gogisierung der Zeit als Antwort auf die Sünd­ haftigkeit der Welt – Land­ erziehungsheime nach Hermann Lietz, in: Alexander Maier u. a. (Hg.): Lernen zwischen Zeit und Ewigkeit. Pädagogische Praxis und Transzendenz, Bad Heilbrunn 2018, S. 130–148, hier S. 133. 10  Eva Matthes/Sylvia Schütze: Reformpädago­ gik vor der Reform­p ädago­ gik, in: Heiner Barz (Hg.): Handbuch Bil­d ungsreform und Reform­p ädagogik, Wiesbaden 2017, S. 31–41. 11  Der genaue Wortlaut lautet: »Es ist nicht möglich, dass uns von irgendwoher höhere Freude kommt, als von der Führung unserer Kinder. Von dem Leben mit unseren Kindern. Davon, dass wir unseren Kindern leben« und stammt, nur leicht verändert, aus: Friedrich Fröbel: Die Menschen­ erziehung, Keilhau 1826, S. 107. 12  Ebd., S. 3.

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13  Vgl. Ralf Koerrenz: Reformpädagogik. Eine Einführung, Paderborn 2014, S. 42.

14 Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung, Paderborn 1993, S. 9. 15  Die Vorstellung der »Natürlichkeit« wurde im Zuge der feministischen, poststrukturalistischen und posthumanistischen Theoriearbeit begründet dekonstruiert.

16  Rousseau, Emil, S. 9.

Der Mensch – auch der kleine Mensch – ist für Fröbel ein Wesen, dass sich seiner selbst bewusst wird. Dieses Wesen denkt und erfährt, angetrieben durch ein inneres Gesetz. Es hat die Möglichkeit, zu Selbstbestimmung und Bewusstsein zu gelangen, wenn es dabei unterstützt wird. All diese Fak­ toren tragen nicht unerheblich dazu bei, wie pädagogische Praktiken in den Kindergärten Fröbels begründet wurden. Das Bild vom Kind prägt den Umgang mit dem Kind. Fröbel expliziert seine Annahmen über das menschliche Wesen. In anderen Pädagogiken werden diese Annahmen oft nur impli­ zit tradiert; trotzdem sind sie vorhanden.13 Geht man den Bezügen nach, aus denen sich die Arbeiten Friedrich Fröbels speisen, findet sich eine weitere für mein Anliegen relevante anthropologische Fundierung in Jean-Jacques Rousseaus Erziehungsroman »Emil oder Über die Erziehung« aus dem Jahr 1762. Der Text des bekannten Autors gesellschaftstheoretischer Schriften beginnt mit einem Satz, der für die gesamte weitere Geschichte der Päda­ gogik von Bedeutung wurde: »Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Hän­ den des Menschen.«14 Kinder sind in diesem Sinn bei ihrer Geburt »gut«, von Natur aus sind sie »unverdorbene« We­ sen.15 Lediglich die gesellschaftlichen Einflüsse lassen Nega­ tives entstehen und treiben die menschliche Entwicklung in die falsche Richtung. Rousseau kritisiert in seinem »Emil« die höfischen Normen im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Er spricht sich in seiner Erziehungsutopie für eine negative, bewahrende Erziehung aus, die gesellschaftliche Einflüsse von den Zöglingen abhält, ihnen aber ansonsten ein hohes Maß an Freiheit lässt. Freilich handelt es sich dabei um eine eingehegte Freiheit, die nur ausgewählte Aspekte ermöglicht, andere wiederum ausschließt, worauf ich später noch zu­ rückkommen werde. Interessant an den Überlegungen Rousseaus ist die Metaphorik seines Textes. Er lässt »Emil« mit der Geschichte von einem Baum beginnen, der sich durch äußere Einflüsse verkrümmt. Die Natur »gliche einem Baum, der mitten im Wege steht und verkommt, weil ihn die vorübergehenden von allen Seiten stoßen und nach allen Richtungen biegen«.16 Analog zum verkrümmten Baum ist die Natur eines Kindes

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zu denken. Ohne schädliche Einflüsse – wie die von Rousseau kritisierten höfischen Werte und Normen – würde sich das Kind der angenommenen Natur entsprechend entwi­ckeln, gleich einer Pflanze, die man unberührt, aber zugleich ge­ schützt wachsen lässt. Die Gleichsetzung von Kindern und Pflanzen ist nicht ungewöhnlich für die Pädagogik des 18. Jahrhunderts. Zum einen wird dies in zahlreichen Gemälden sichtbar, die, mit Klaus Mollenhauer gesprochen, Repräsentationen von gesell­ schaftlichen Verhältnissen darstellen.17 So kann beispielsweise das bekannte Gemälde »Die Hülsenbeckschen Kinder« von Philipp Otto Runge als die Repräsentation eines pädago­ gisch auszudeutenden Entwicklungsprozesses verstanden werden (Abb. 1). Die Kinder in Runges Gemälde befinden sich auf der Höhe der Betrachter/innen; dies kann so interpretiert wer­ den, dass die Kinder als gleichwertig imaginiert werden.

17  Klaus Mollenhauer: Vergessene Zusammen­ hänge. Über Kultur und Erziehung, Weinheim 1983.

Abb. 1: Philipp Otto Runge: Die Hülsenbeckschen Kinder, 1805/06, Öl/Leinwand

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18  Vgl. Markus RiegerLadich/Julia Janzcyk: »Vom Kinde aus«. Kleine Fallstudie zum pädagogi­ schen Denkstil, in: Hans-Ulrich Grunder (Hg.): Mythen – Irrtümer – Unwahrheiten. Essays über das »Valsche« in der Pädagogik, Bad Heilbrunn 2017, S. 121–125.

19  Kristin Heinze: Das »Treibhaus« als Metapher für eine widernatürliche Erziehung im Kontext der sich im 18. Jahrhundert herausbildenden Pädago­ gik als Wissenschaft, in: Michael Eggers/Matthias Rothe (Hg.): Wissen­ schaftsgeschichte als Begriffsgeschichte. Termi­ nologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften, Bielefeld 2009, S. 107– 131, hier S. 107.

Die bewusste Wahl der Perspektive kann als Ausdruck einer generellen Wendung hin zur Akzeptanz der Kinder als Norm des pädagogischen Handelns verstanden werden.18 Ebenfalls interessant ist, dass das kleinste der Hülsenbeckschen Kinder recht immobil auf einem Handwagen sitzt. Das kleine Kind klammert sich an eine Sonnenblume, wird jedoch von den älteren Kindern in Richtung eines Hauses gezogen – ein Ent­ wicklungsprozess weg von der Natur, hin zur Kultur. Es ist nicht verwunderlich, dass diese Kopplung von Pflanzen und Kindern durch Runge auf genau diese Art vorgenommen wird. Kristin Heinze weist darauf hin, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Treibhauskultur Aufwind be­ kam. Als Metapher wird das Treibhaus »in negativer Kon­no­ tation mit der Vorstellung einer unnatürlichen, die Reife­ prozesse forcierenden Wärme des Treibhauses sowie einer Minderbewertung getriebener Gewächse verbunden und soll das Gefährdungspotential einer vorgreifenden Erziehung verdeutlichen«.19 Diese negative Konnotation ist kongruent mit den Vor­ stellungen Rousseaus, der seinen Erzieher darauf ansetzte, die Kräfte des Zöglings in Maßen zu entwickeln, stets an der angenommenen Natur orientiert. Die Treibhausmetapher steht dieser natürlichen Entwicklung diametral gegenüber. Statt einer durch Umweltfaktoren unterstützten Entwicklung der Pflanzen wird mit dem Treibhaus ein künstlicher Raum geschaffen, der die Pflanzen geradezu zum Wachsen nötigt. In der dichotomen Darstellung der kontrollierenden Er­ ziehung im metaphorischen Treibhaus und der auf die Auto­ nomie der einzelnen Individuen abzielenden Erziehung in und durch die Natur tritt eine weitere Differenz zutage, die für die Analyse der Kinderbauten von Relevanz ist: die Dif­ ferenz zwischen Kontroll- und Autonomiepädagogik. Kontroll- und Autonomiepädagogik – räumliche Verschränkungen

Der Philosoph Anton Hügli unterscheidet zwischen der Kon­ troll- und der Autonomiepädagogik. Erstere habe das Ziel der »Kontrolle in dem Sinne des Worts, wie es Kybernetik und Automatentheorie präzisiert haben: A kontrolliert B Sebastian Engelmann

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dann und nur dann, wenn A in B in Bezug auf die Zustände, die B überhaupt anzunehmen vermag, jeden Zustand hervor­ rufen kann, den A hervorzurufen erwünscht.«20 Die Kon­ trollpädagogik unternimmt den Versuch, alle Einflussfaktoren des Systems zu kontrollieren und nutzbar zu machen, um Erziehungsintentionen umzusetzen. Laut Hügli ist dieses Unterfangen zum Scheitern verurteilt; zu komplex ist die Welt, und zu viele verschiedene Faktoren beeinflussen das menschliche Lernen. Der Gegensatz zur Kontrollpädagogik ist für Hügli die Autonomiepädagogik. Aber auch diese auf die Autonomie der Zöglinge abzielende Spielart pädagogi­ schen Denkens und Handelns sieht sich mit dem Problem konfrontiert, einen Anstoß zur Autonomie leisten zu müssen. Das verbindende Element der von Hügli ausgemachten pädagogischen Modelle ist die Erzeugung von Lehr-LernArrangements. Solche pädagogische Settings sind stets inten­ tional strukturiert. Sie ermöglichen Dinge, zugleich schlie­ ßen sie aber auch Dinge aus, um Lehren und Lernen auf die intendierte Art zu gewährleisten. Seien es nun die Philan­ thropine – eigenständige pädagogische Provinzen mit festen Regeln und klaren Erziehungsintentionen – oder großange­ legte literarische Projekte wie Utopia von Thomas Morus oder auch der Staat des Platon: all diese räumlichen Arrange­ ments schließen ausgewählte Elemente aus und integrieren andere Elemente. Klaus Mollenhauer spricht in diesem Fall von Präsentation und Repräsentation. Die Welt wird in je­ dem Fall präsentiert, erwachsene Menschen leben unreflek­ tiert ihr Leben und präsentieren so jungen Menschen ver­ schiedene Dispositionen, welche zur Aneignung bereitstehen. Für Mollenhauer ist die Präsentation von Verhältnissen ein unhintergehbarer Akt der Einflussnahme: »Sofern wir mit Kindern leben, müssen wir – es geht gar nicht anders – mit ihnen unser Leben führen; wir können uns als gesell­ schaftliche Existenzen nicht auslöschen, können uns nicht tot oder neutral stellen.«21 Diese Präsentation kann aber un­ terbrochen und durch die Repräsentation ergänzt werden. Die Repräsentation setzt voraus, dass Erwachsene zwischen verschiedenen Aneignungsgegenständen intentional aus­ wählen und so die Gesamtheit der Möglichkeiten im LehrLern-Arrangement reduzieren. Sie schränken die Gesamtheit 292

20  Anton Hügli: Philosophie und Päda­ gogik, Darmstadt 1999, S. 92.

21 Mollenhauer, Vergessene Zusammen­ hänge, S. 20.

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22  Hügli, Philosophie und Pädagogik, S. 54.

der Möglichkeiten ein, eröffnen dadurch aber die Möglichkeit, sich gezielt einzelne Dispositionen anzueignen. Der Kindergarten ist im Anschluss an Rousseau und Fröbel als ein Raum zu verstehen, der ausgewählte und als für die Kinder förderlich verstandene Einflüsse zulässt und verstärkt. Das schlägt sich in der Gestaltung nieder. In Schütte-Lihotzkys Kindergarten am Kapaunplatz wird das an vielen Details deutlich. Sei es der unverstellte Blick in den Garten durch die bodentiefen Fenster oder die Möglichkeit des freien Spiels im Außenbereich: Diese Elemente sind nicht zufällig so angeordnet. Sie repräsentieren von den Architekt/ innen und Gestalter/innen intentional konstruierte Lernan­ lässe. Dasselbe gilt für die Raumaufteilung im Kindergarten am Kapaunplatz. Trotz Trennung der einzelnen Gruppen be­ steht die Möglichkeit, gemeinsam in einem großen Saal zusammenzukommen, Gemeinschaft zu erleben und Feste zu feiern. Im Fall des Kindergartens am Kapaunplatz soll den Kindern sowohl das Kennenlernen der Natur als auch der Um­gang mit anderen Kindern als Normalität aufgezeigt werden. Die auf die Körpergröße der Kinder angepassten Möbel unterstützen sie dabei, die an ihrer Norm orientierte Umgebung sinnvoll zu nutzen (Abb. 2 und 3). Dies erscheint zunächst sehr frei und ungezwungen. Ein genauerer Blick auf das Arrangement lässt aber auch eine andere Deutung zu. Die bodentiefen Fenster erzeugen eine hohe Sichtbarkeit, stets sind die Kinder dem Blick der Päda­ gog/innen ausgesetzt. Das Kind darf »tun was es will, immer vorausgesetzt, dass es nur das will, von dem der Lehrer wünscht, dass das Kind es tut. Und wie erreicht man als Er­ zieher dieses Ziel? Indem man das Kind der Umwelt überlässt, aber stets dafür sorgt, dass die Umwelt das Kind dorthin führt, wo man es gerne haben möchte. Indirekte Einwirkung über die kontrollierte Umgebung soll, mit anderen Worten, eben das bewirken, was der Macher von der direkten Methode vergeblich zu erreichen versucht.«22 Das Beispiel der Fenster offenbart die Verschränkung von Kontroll- und Autonomiepädagogik. Zum einen ermög­ lichen sie den Blick nach außen, in den offenen Bereich außerhalb des Innenraums. Zum anderen werden die Fenster genutzt, um die Kinder jederzeit im Blick zu haben und ihr

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Abb. 2: Einblick in den Kindergarten am Kapaunplatz, Wien, um 1952, Planung: Margarete Schütte-Lihotzky

Spiel zu beobachten: Spielen sie auch richtig? Tun sie etwas, was nicht gewünscht ist? Muss eingegriffen werden? Die Fen­ster erzeugen Sichtbarkeit und wirken prinzipiell ein­ schränkend. Nehmen wir diese Perspektive ein, ist die scheinbar ungeleitete und freie Tätigkeit der Kinder im Kin­ dergarten demnach bereits durch die Konstruktion der Um­ gebung bestimmt. Sicherlich, Entfremdungen und Aneig­ nungen der Spielgelegenheiten sind denkbar. Auch stille Ecken und möglicherweise »unsichtbare« Positionen im Gefüge Kindergarten sind denkbar. Allerdings folgt auch das freieste pädagogische Setting einer Norm. Gerade im Fall von Margarete Schütte-Lihotzky ist aufgrund ihres eigenen politischen Hintergrunds anzunehmen, dass ihre Architek­ tur eine besondere Form von Rationalität und zugleich eine spezifische Form von Individualität in Gemeinschaft beför­ dern möchte. Nicht zufällig ist der Kindergarten mit dem oben erwähnten Saal für gemeinschaftliches Spiel ausge­ 294

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stattet, und nicht zufällig bekommen die Gruppen des Kin­ dergartens einen eigenen Abschnitt zugewiesen, der in Grö­ ße und Ausstattung dem der anderen Gruppen entspricht. Gemeinschaft und Gleichheit in Gemeinschaft, so möchte ich zusammenfassen, soll durch das räumliche Arrangement befördert werden. Margarete Schütte-Lihotzky und die Pädagogik – eine offene Frage

Der imaginierte Rundgang durch die Räumlichkeiten des Kindergartens am Kapaunplatz mit dem Ziel, die architek­ tonisch-erzieherischen Mechanismen offenzulegen, hat ge­ zeigt, dass räumliche Arrangements stets als pädagogische Projekte verstanden werden können. Davon sind auch die Bau­ten für Kinder von Schütte-Lihotzky nicht ausgenom­ men. Die intentional gestaltete Umgebung transportiert Vorstel­lungen davon, was gezeigt werden, wie mit der Um­ gebung um­gegangen und letztlich auch welche Menschen in

Abb. 3: Einblick in den Kindergarten am Kapaunplatz, Wien, um 1952, Planung: Margarete Schütte-Lihotzky

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dieser Umgebung heranwachsen sollen. Der erziehungs­ theoretisch informierte Blick auf das ausgewählte Objekt Schütte-Lihotzkys ist jedoch unbedingt um weitere, vor­ nehmlich bildungshistorische Überlegungen zu ergänzen: Stand Mar­garete Schütte-Lihotzky in Verbindung zu den zahlrei­ chen Denker/innen und Praktiker/innen im Asso­ ziations­netzwerk der Reformpädagogik, und wenn ja, wie war ihre Hal­ tung zu ihnen? Als evident erscheint, dass Schütte-Lihotzky abseits von ihrer Einbindung in Netzwerke von Architekt/innen und Gestalter/innen auch mit Pädagog/ innen in Kon­takt stand. Ihre gestalterischen Überlegungen wurden durch pädagogische Lektüren ergänzt und fundiert.23 Diese weiter zu verfolgende These wird dadurch gestützt, dass Schütte-Lihotzky sich beispielsweise explizit auf Maria Montessori bezieht. Fraglich ist nun aber, welche Aspekte des Werkes aufgenommen wurden. Eine genauere Auseinander­setzung mit den verstreuten Äußerungen kann Aufschluss darüber geben, welche päda­ gogischen Ideen in Schütte-Lihotzkys Bauten einge­flossen sind. Auch die Zeit in der Sowjetunion – die weiterhin eine große Leerstelle in der For­schung zu Schütte-Lihotzky dar­ stellt24 – legt nahe, dass die Architektin mit den einfluss­ reichen Ideen von Lev Vigotsky oder Pavel P. Blonskij in Kontakt gekommen ist. Letztlich verstand Schütte-Lihotzky ihre Bauplanungen für Kinder in den spä­ten 1920er Jahren für Deutschland, für die Sowjet­­union zwischen 1930 und 1937, die kamalistische Türkei (1938–1940) und zuletzt das Nach­ kriegs-Österreich zwei­ fellos stets als einen Beitrag zur Reform der Gesellschaft. Schütte-Lihotzkys Werk fungiert, wie hier ausgewiesen wurde, auch für die Pädagogik als »Steinbruch«. Eine weitergehende Be­ trachtung ihrer Ar­ beiten wäre nicht nur für die Architektur­geschichte eine Bereicherung, sondern dient auch der Diffe­renzierung und Komplexitätsanrei­cherung einer Geschichte pädagogischen Denkens.

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23  Für Hinweise zu dieser Fundierung danke ich Christoph Freyer.

24  Siehe hierzu den Beitrag von Thomas Flierl in diesem Band.

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Margarete Schütte-Lihotzkys Bauten für Kinder Christoph Freyer

»Die Kindergärten […] stellen das Bindeglied zwischen häus­ lichem Leben und Arbeitsleben in der Schule dar, sie führen das Kind allmählich aus dem familiären Rahmen hinaus zur Allgemeinheit, in die Gemeinschaft und geben ihm eine Be­ reicherung seines Lebens, eine Bereicherung, zu der auch wir Architekten unseren Teil beitragen wollen.«1 Dieser Beitrag zu Margarete Schütte-Lihotzkys Bauten für Kinder widmet sich ausschließlich deren Kindergärten. Nach einem kurzen Überblick zur geschichtlichen Entwick­ lung dieser Einrichtung, der dessen Genese bis zu SchütteLihotzkys Planungen aufzeigen soll, werden – wie die Archi­ tektin sie nannte – »Häuser für Kinder« aus verschiedenen Schaffensperioden vorgestellt. Den Schwerpunkt lege ich dabei auf den von ihr entwickelten Typus mit zentraler Halle, der sich wie ein roter Faden durch das Werk SchütteLihotzkys zog. Anhand ausgewählter Beispiele wird auf die Bedeutung dieser speziellen Bauform in ihrem Werk hin­ gewiesen. Ein kurzer Überblick über die Entwicklung der soge­ nannten Kleinkindererziehungsanstalten zeigt, dass es sich bei den ersten Kindergärten eigentlich um Kleinkinderschulen gehandelt hat. Ein frühes Beispiel ist die 1816 eröffnete Schule Robert Owens in New Lanark in Schottland. Dieses Vorbild wurde nur wenige Jahre später von Samuel Wilderspin (1823), der nicht nur eine Erziehungsmethode, sondern auch einen »Schultypus« entwickelte, in England modifiziert und von dort aus weltweit verbreitet.2 Als der in Wien ansässige Philanthrop Josef Ritter von Wertheimer das 298

1  Margarete SchütteLihotzky: Neue Kinder­ häuser in der DDR, o. D. (ca. 1954), Typoskript, S. 7, Archiv der Universität für angewandte Kunst, Wien, Nachlass Margarete Schütte-Lihotzky (UaK, NL MSL), PRNR 189/2/TXT. 2  Ich wähle hier den Zeitpunkt der Erstauflage seines grundlegenden Werkes, das er in meh­ reren verbesserten Auf­ lagen verlegte: Samuel Wilderspin: On the impor­ tance of educating the infant children of the poor: showing how three hundred children, from eighteen months to seven years of age, may be managed by one master and mistress: containing also an account of the Spitalfields Infant School, London 1823. 3  Samuel Wilderspin: Ueber die frühzeitige Erziehung der Kinder und die englischen KleinKinder-Schulen: oder Bemerkungen über die Wichtigkeit, die kleinen Kinder der Armen im

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Alter von anderthalb bis sieben Jahren zu erziehen; nebst einer Darstellung der Spitalfielder KleinKinder-Schule und des daselbst eingeführten Erziehungssystems. Aus dem Englischen, nach der dritten, sehr vermehrten und verbesserten Auflage frei übertragen, und mit Anmerkungen und Zusätzen versehen, von Joseph Wertheimer, Wien 1826. 4  Manfred Berger: Frauen in der Geschichte des Kindergartens: Theresia Gräfin Brunsvik von Korompa, in: https:// www.kindergartenpaeda gogik.de/132.html (abgerufen am 24.9.2018). 5  Prof. Dr. Rump in Gran: Besuch der KleinkinderMusterschule und der weiblichen Arbeitsschule zu Ofen, in: Oesterreichi­ sches Bürgerblatt für Verstand, Herz und gute Laune, 30.8.1830. 6  Amelie Köhler: Die ersten Kinderbewahr­ anstalten in Oesterreich, in: Reichspost, 7.11.1926, S. 18. 7  Siehe auch Sebastian Engelmanns Beitrag in diesem Band. 8  Bei der »Schottischen Schaukel« hängen an einem vertikalen Pfosten Seile herab, die sich um den Pfosten frei bewegen lassen. 9  Albert Pecha: Der Musterkindergarten, in:

Wilderspinsche System in England kennenlernte, war er derart von dessen Ideen der Kleinkindererziehung begeistert, dass er Wilderspins berühmtes Buch zu den sogenannten »Infant Schools« ins Deutsche übersetzte, neu ordnete und 1826 publizierte.3 Von Josef Wertheimer und Samuel Wilderspin inspiriert, gründete Theresia Brunsvik Korompa 1828,4 also nur zwei Jahre später, in Budapest die erste »Klein­ kinderbewahranstalt« Ungarns, den sogenannten »Engels­ garten«, der unter anderem in einem Bericht aus dem Jahr 1830 als »Kleinkinder-Musterschule« überliefert ist.5 Im sel­ ben Jahr gründete Josef Wertheimer gemeinsam mit dem Pfarrer Johann Lindner unter dem Namen »Einrichtung für noch nicht schulpflichtige Kinder« Wiens ersten Kinder­ garten. Mit weiteren Gründungen im selben Jahr, unter anderem auch auf Initiative von Kaiserin Maria Karolina Augusta, galt Wien als eine der frühen Hochburgen des Kin­ dergartenwesens.6 Erst zehn Jahre später, 1840, entstand Friedrich Fröbels »Kindergarten« im thüringischen Bad Blankenburg, der aber noch keine spezifische Architektur aufwies.7 Die Architektur der frühen Kindergärten

Die frühen Kindergärten waren baulich eher an Schulen orientiert, wie einer Darstellung für eine Kleinkinderschule nach Samuel Wilderspin zu entnehmen ist. Die Kinder saßen entlang der Wände und auf einer Galerie und wurden vom Lehrer und von sogenannten Monitoren (älteren Kindern) unterrichtet. Baulich empfahl Wilderspin lichtdurchflutete blendfreie Räume mit Fenstern, die so hoch angelegt sein sollten, dass die Kinder einerseits nicht durch Zugluft be­ einträchtigt, andererseits nicht von den Geschehnissen im Außenraum abgelenkt werden. Aus gesundheitlichen Grün­ den empfahl er eine getrennte Garderobe für nasse Kleidung, als unabdingbar sah er zudem einen Hof mit Spielplatz und schottischen Schaukeln (sogenannten »swing poles«) an.8 1898, zum 50. Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josephs, entwarf der Wiener Architekt Albert Pecha im Auf­trag des Vereins für Kindergärten und Kinderbewahranstalten in Wien einen Musterkindergarten, der auch auf der Wiener Jubiläums-Gewerbeausstellung präsentiert wurde.9

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Zur Erschließung dienten neben einer Vorhalle ein zentraler Korridor, der auf der einen Seite von der Garderobe und zwei Gruppenräumen und auf der anderen Seite vom Spielsaal und Nebenräumen begleitet wurde. Die WCs waren zentral angeordnet, im großen Hof befanden sich zu beiden Seiten gedeckte Veranden, das Obergeschoss nahm die Wohnung der Erzieherinnen ein. Stellvertretend für typische Planungen, die nur wenige Jahre später entstanden, ist ein Bau von Adolf Stöckl, Archi­ tekt des Wiener Stadtbauamtes, aus dem Jahr 1910 zu nennen. Der mehrstöckige Kindergarten in der Bunsengasse im 21.  Bezirk weist in beiden Etagen mehrere Beschäftigungs­ räume und einen Spielsaal sowie eine Veranda auf. Vom Stiegenhaus gelangt man in die zentralen Garderoben, über die der Spielsaal und die Beschäftigungsräume erschlossen werden. Der Gesamteindruck des Aufbaus und des Äußeren gleicht nicht nur einem Schulbau dieser Zeit, es wird sogar betont, dass »beim Bau der städtischen Kindergartengebäude […] die Grundsätze und die Bauweise der städtischen Schulbauten volle Anwendung« finden.10 Quantensprung in den 1920er Jahren

Den Kindergärten Margarete Schütte-Lihotzkys ist eine ihrer immer wiederkehrenden Aussagen voranzustellen: »Die Mi­ sere der berufstätigen Frau, die ihre Kinder im Vorschulalter während der Arbeitszeit nicht unter pädagogisch geschulter Aufsicht bringen kann, ist bekannt. Die Lösung dieses Pro­ blems kann nicht der Abbau berufstätiger Frauen, sondern nur der Aufbau zahlreicher Kindereinrichtungen sein.«11 Die Architektin beschäftigte sich bereits relativ früh mit dem Kindergartenbau. Während ihrer Tätigkeit in der Typi­ sierungsabteilung in Frankfurt, wohin sie 1926 von Ernst May berufen wurde, entwarf sie 1928 gemeinsam mit Eugen Kaufmann einen eingruppigen Montessori-Kinder­ garten für die Siedlung Ginnheim. Ein Jahr später, 1929, er­ stellte sie ein Programm für Kindergärten12 und plante einen völlig neuen Kindergartentypus in Pavillonbauweise für die Siedlung Praunheim (Abb. 1). Dieser Kindergarten für 100 Kinder, der wie jener für die Siedlung Ginnheim nie ver­ wirklicht wurde, bildete die Basis zu späteren Planungen, auf 300

Der Architekt IV, Wien 1898, S. 24, Tafel 48.

10  Max Fiebiger: Schulen und Kindergärten der Stadt Wien, in: Zeitschrift des Österreichischen Ingenieur- und Architek­ tenvereins, Sonderabdruck Heft 31/32, Wien 1915, S. 11.

11  Margarete SchütteLihotzky: Warum ich Architektin wurde, hg. von Karin Zogmayer, Salzburg, 2004, S. 170.

12  Margarete SchütteLihotzky: Programm für einen Kindergarten, UaK, NL MSL, PRNR 80/13/ TXT.

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Abb. 1: Margarete Schütte-Lihotzky, Kindergarten Frankfurt-Praunheim, 1929, Modellfoto und Grundriss

13  Margarete SchütteLihotzky: Beschreibung zum Projekt eines Kindergartens für die Siedlung Praunheim, Frankfurt am Main 1929, Typoskript, S. 1, UaK, NL MSL, PRNR 80/11/TXT.

die die Architektin immer wieder zurückgreifen sollte. In ihrem Nachlass, der sich im Archiv der Universität für ange­ wandte Kunst Wien befindet, ist eine Dokumentation dieses zukunftsweisenden Entwurfs, den man durchaus als einen Quantensprung in der Entwicklungsgeschichte der Kinder­ gärten bezeichnen kann, erhalten. Demnach sah Margarete Schütte-Lihotzky Pavillons für drei Gruppen und einen Gymnastikraum vor. »Jede Gruppe erhält einen eigenen Hausteil mit eigenem Garten.«13 Der

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Vorteil der Pavillonbauweise ist die möglichst nahe Verbin­ dung von Außen- und Innenraum und der starke Bezug zum eigenen Gruppenraum. Diese Bauweise wurde zu dieser Zeit vor allem von Reformpädagogen und Hygienikern propagiert. Von der Idee beseelt, die Wege kurz zu halten und wenig Raum zu verschwenden, entstand mit diesem Entwurf der erste Kindergarten mit zentraler Halle. Die Pavillons sind da­ bei kreuzförmig um einen zentralen Raum angeordnet, »von dem aus alle Räume, die nicht für die einzelnen Gruppen bestimmt sind […] direkt zugänglich sind«.14 Durch diese Anordnung vermeidet die Architektin kostspielige lange Korridore und kann das so eingesparte Geld in einen nutz­ bringenden Raum – die zentrale Halle – investieren. Zu den weiteren Neuerungen bei Schütte-Lihotzkys Kindergarten gehörten auch gruppenweise getrennte Spiel­ plätze, große Fenster mit niedrigen Parapeten, damit die Kinder ins Freie sehen können, sowie Pflanzenbeete vor den Fenstern. Diese Elemente sind nicht alle Margarete SchütteLihotzkys »Erfindung«, sondern lagen zu dieser Zeit »in der Luft«. Während sie in Frankfurt arbeitete, entstanden in Wien das von ihr geschätzte »Haus der Kinder« von Franz Schuster15 am Rudolfsplatz (1929) und ein Montessori-Kin­ dergarten von Franz Singer und Friedl Dicker im Goethehof (1929/30). Beide Anlagen weisen Elemente auf, die auch in Schütte-Lihotzkys Entwürfen zu finden sind. Die großen Fenster liegen niedrig über dem Boden, in Praunheim wie in Wien waren lediglich 60 cm Parapethöhe konzipiert. Die Fensterbretter sind tief genug, damit sie auch zum Abstellen von Pflanzen beziehungsweise zu anderen Verwendungen nutzbar sind. Die Gruppenräume sind mit Nischen versehen, die erweiterten Nutzungsvarianten – etwa als Rückzugsort für Kinder oder als Wirtschaftsteil (Abwasch) – dienen. Diese modernen Konzepte entstanden nicht nur bei SchütteLihotzky, sondern auch bei den anderen Architekten in enger Zusammenarbeit mit Pädagogen und Ärzten. In Wien war die Montessori-Pädagogin Lili Roubiczek federführend, die bei Franz Schusters »Haus der Kinder« das Raumprogramm stark mitgestaltete und über diesen Kin­ dergarten geschrieben hatte: »Wir bemühen uns, ein Haus der Kinder zu schaffen, d. h. ein Haus, in dem alle Möbel und 302

14 Ebd.

15  Franz Schuster arbeitete gleichzeitig mit Margarete SchütteLihotzky im Team von Ernst May in Frankfurt.

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16  Franz Schuster/Lili E. Roubiczek: Haus der Kinder (Entwurf), Vorwort, Typoskript, S. 13f., siehe www.eichelberger.at/ dokumente//97-roubiczeklili-e-haus-der-kindervorwort (abgerufen am 27.9.2018).

Gebrauchsgegenstände den kindlichen Maßen angepasst sind […].« Die Fenster wurden in gleicher Weise wie bei Schütte-Lihotzkys Entwurf bedacht: »In einem Haus für Kinder ist es daher eine Selbstverständlichkeit, die Fenster­ brüstungen so niedrig zu machen, daß die Kinder auch beim Fenster hinaussehen können. Die Fenster des Saales sind daher so ausgebildet, daß das Fensterbrett 60 cm über dem Fußboden liegt (Kindertischhöhe)«.16 Hand in Hand mit dem verstärkten Wohnbau der späten 1920er Jahre entstanden auch in anderen Metropolen mo­ derne Kindergärten, beispielsweise der 1932 von Hans Hof­ mann und Adolf Kellermüller in Zürich-Wiedikon fertig­ gestellte (Abb. 2). Er zählt als erster Pavillontypus in der Schweiz und ging aus einem Wettbewerb von 1928 hervor. Wie in Frankfurt und Wien verfügt auch hier jeder Pavillon über eigene Sanitärräume und über einen eigenen Ausgang in den Garten. Mit der großflächig verglasten Fläche öff­nen sich die Gruppenräume in Zürich noch stärker als jene von Schuster und Schütte-Lihotzky gegen den Garten. Der nur von jeweils einer Gruppe nutzbare Gartenteil bleibt aber ein Allein­stellungsmerkmal von Schütte-Lihotzkys Planungen.

Abb. 2: Hans Hofmann und Adolf Kellermüller, Einblick in den Kindergarten ZürichWiedikon, 1932

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Abb. 3: Margarete Schütte-Lihotzky, Kindergartentypus Sowjetunion – Grundriss mit zentraler Halle (rot) und Gruppenräumen (blau), 1933, Überarbeitung: Christoph Freyer

Ein weiteres Element, das diese drei Bauten zu den zukunftsweisenden Beispielen zählen lässt, ist nun die de­ zentrale Anordnung von Garderoben, Waschräumen und Klosetts. Jeder Gruppenraum verfügte neben einem eigenen Gartenbereich auch über eigene Infrastruktur. Die 1930er Jahre – Sowjetunion

Margarete Schütte-Lihotzky gehörte zu jenen in Frankfurt beschäftigten Architekten, die 1930 mit Ernst May in die Sowjet­union gingen, um beim Aufbau von neuen Städten mit­ zuwirken. Auch dort plante sie neben Wohnbauten, Schulen und Möbeln als Leiterin der Abteilung Kinder­an­ stalten inner­halb der Gruppe May wieder Kindergärten und ent­wickelte das von ihr in Frankfurt erdachte Modell rasch wei­ter. Sie wählte allerdings statt der Pavillons eine kom­ paktere Bauweise, was sie mit den klimatischen Verhältnissen in der Sowjetunion begründete: Der Pavillon­typus würde im russi­schen Winter zu stark auskühlen. Trotzdem versuchte 304

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17  Vgl. Margarete Schütte-Lihotzky. Soziale Architektur. Zeitzeugin eines Jahrhunderts, Ausst.-Kat. MAK – Öster­ reichisches Museum für angewandte Kunst, hg. von Peter Noever, Wien 1993, S. 151f.

sie den in Frankfurt entworfenen Grund­ gedanken einer zentra­len Halle auch hier wieder umzusetzen und zudem möglichst kurze Gänge auszufor­men (Abb. 3). Dieses Raum­ konzept zielte wie beim Frank­furter Entwurf darauf ab, durch ein Minimum an Raum­einsatz die Errichtungskosten möglichst niedrig zu halten. Diese 1933 entstandenen Typenentwürfe für standar­di­ sierte Kindergärten können als Vorstufe zum Konzept des Baukastensystems angesehen werden, das die Architektin noch Jahrzehnte beschäftigen sollte.17 Hierfür entwarf sie standardisierte, vorfabrizierte Module, die in unterschied­ lichen Varianten kombiniert werden konnten. Die 1950er Jahre – Wien

Erst in den Jahren 1950 bis 1952 konnte Margarete SchütteLihotzky einen ersten Kindergarten in ihrer Heimatstadt ver­wirklichen: Es handelte sich um den 150. Kindergarten der Stadt Wien, benannt nach dem Pädagogen Friedrich Fröbel. Diese Erziehungseinrichtung am Kapaunplatz wurde in der vor allem in Wien bereits üblichen Pavillonbauweise errichtet – allerdings ohne Zentralhalle, die Margarete Schütte-Lihotzky in den 1920er Jahren erstmals entworfen und immer wieder propagiert hatte (Abb. 4). Auffallend ist, dass auch bei anderen Architekten in diesem Jahrzehnt keine Bestrebungen zu zentralen Hallen feststellbar sind. Ein­ zige Ausnahme ist Schütte-Lihotzkys 1953 durch Umbau einer Villa entstandenes Kinderhaus für die Glanz­stoffwerke St. Pölten. An Margarete Schütte-Lihotzkys Pla­nung für Wien lassen sich in vielen Details Typenpläne ausmachen, die sie bereits 1946 in Bulgarien entworfen hatte und die dem Korridortypus entsprachen, also ohne zentrale Halle aus­kamen. Der Kindergarten am Kapaunplatz, im dichtbesiedelten 20. Bezirk situiert, steht mittlerweile unter Denkmalschutz. Er zeigt sehr deutlich den reichen Erfahrungsschatz der Architektin im Kindergartenbau. Es lassen sich daran fast alle ihre Grundprinzipien ablesen, die zu ihrem Stan­ dardrepertoire geworden sind: Fenster mit niedrigen Para­ peten, gut sichtbare Verbindung mit dem Außenraum, Grup­ penräume, die durch große Glastüren zur jeweils eigenen

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Abb. 4: Margarete Schütte-Lihotzky, Kindergarten am Kapaunplatz, Wien 20 (1950–1952)

überdeckten Terrasse hin geöffnet werden, raumübergreifen­ de Sichtachsen, die eine gute Überschaubarkeit der Gruppe bieten, sowie selbstredend eine gute Querlüftung. In den Gruppenräumen erlauben Nischen Rückzugsorte für Kinder, stellen aber auch zum Beispiel in Form der Wirtschafts­ nische, wo Kinder selbst tätig werden können, ein erzieheri­ sches und praktisches Element dar. Die häufig kolportierte Be­hauptung, dass dies erstmals beim Kindergarten am Kapaunplatz verwirklicht wurde, ist keineswegs richtig.18 Wie bereits aufgezeigt, plante Margarete Schütte-Lihotzky schon in der Siedlung Praunheim dezidiert solche Nischen ein (vgl. Abb. 1). Dazu schrieb sie 1929 in ihrem Manuskript »Das Kinderhaus in der Flachbausiedlung«: »Jede Gruppe erhält als Nische in Anschluss an das Gruppenzimmer einen kleinen Ruheraum in den sich einzelne Kinder jeweilig zurück­ziehen können, ausserdem eine Waschnische in der 306

18  Vgl. Manfred Berger: Zur Geschichte des Kindergartens in Öster­ reich. Brief an Friedrich Fröbel zum 175. Geburts­ tag des Kindergartens, auf der Website des nifbe – Niedersächsisches Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung, https:// www.nifbe.de/component/ themensamm lung?view= item &id=561: brief-anfriedrich-froebel-zum-175 -geburtstag-deskindergartens&catid=37: paedago gik (abgerufen am 19.9.2018); ders.: Recherchen zum Kinder­ garten in Öster­r eich: Gestern – Heute –

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Morgen, 2005, in: Martin R. Textor/Antje Bostelmann, Das KitaHandbuch, https://www. kindergartenpaedagogik. de/1240.html (abgerufen am 10.9.2018). 19  Margarete SchütteLihotzky: Das Kinderhaus in der Flachbausiedlung, Artikel 2. Manuskript, Typoskript, Frankfurt 1929, S. 4, UaK, NL MSL, PRNR 80/14/TXT. 20  Das Farbkonzept wurde im Zuge einer Renovierung noch zu Lebzeiten der Architektin zerstört. 21  Margarete SchütteLihotzky: Kindergartenbau im Ausland, in: Aрхитектура за рубежом (Architektur im Ausland), 5, Moskau 1935, S. 7–20. 22  Vgl. Grete SchütteLihotzky: Der Plan und der Bau, in: Der 150. Kinder­ garten der Stadt Wien »Friedrich Wilhelm Fröbel« XX., Kapaunplatz, Buch­ reihe Der Aufbau, H. 15, Wien 1952, S. 14. 23  Margarete SchütteLihotzky: Kritische Stellungnahme zu den besichtigten Bauten und Plänen von Kinderan­ stalten, Berlin, 24.9.1954, Typoskipt, UaK, NL MSL, PRNR 189/4/TXT. 24  Margarete SchütteLihotzky zitiert das »Hand­ buch für Architektur«, Moskau 1949, mehrmals in ihrer »Kritischen Stel­ lungnahme«.

Tisch, Spülbecken und Ablaufbrett zum Geschirrspülen für die Kinder eingebaut sind […].«19 Ein ausgeklügeltes Farbkonzept sollte den Kindern am Kapaunplatz einerseits bei der Orientierung helfen, ande­ rerseits auch zum Wohlfühlen beitragen.20 Die individuelle Farbgestaltung der einzelnen Gruppen war bis in die Details konsequent durchgezogen. Die Architektin beschrieb die von ihr geschätzten Farbkonzepte bereits 1935, als sie für die russische Zeitschrift »Aрхитектура за рубежом« (Archi­ tektur im Ausland) einen Artikel über vorbildliche auslän­di­ sche Kindergärten verfasste.21 Darin erwähnte sie das Farb­ leitsystem in dem von Franz Singer und Friedl Dicker errich­ teten Kindergarten im Wiener Goethehof sowie den bereits genannten Kindergartenbau in Zürich, wo jeder Gruppe die Farben der Fenster und Türen zugeordnet waren. SchütteLihotzky ging am Kapaunplatz einen Schritt weiter, indem sie nun nicht nur die Farben, sondern auch die Auf­gaben der Kinder mit ihrem Gruppensymbol assoziierte. So kümmerte sich beispielsweise die grüne Gruppe, deren Sym­bol ein Fisch war, um die Aquarien.22 DDR – Typisierung und Rationalisierung

1954 erhielt Margarete Schütte-Lihotzky ein Forschungs­ projekt an der Bauakademie Berlin, in dessen Rahmen sie Typisierungs- und Rationalisierungsvorschläge zum Kinder­ gartenbau in der ddr ausarbeitete. In ihrer Studie wies sie auf verschwendeten Raum und daraus resultierende hohe Kosten hin.23 Als positiven Vergleich zog sie vor allem die Wiener Kindergärten – die in den 1950er Jahren international als vorbildhaft gesehen wurden – und ein sowjetisches Bau­ handbuch heran.24 Dazu bemerkte sie: »Die hier gezeigten Grundrißtypen sind in mehreren Exemplaren im Ausland gebaut worden. Es sind dabei langjährige Erfahrungen, ins­ besondere aus der Sowjetunion verwertet worden. Sie zeigen, welch schöne, reizvoll [sic!] und dankbare Aufgabe dieses Gebiet des Bauwesens dem Architekten stellt. Für ihn besteht das Problem der Projektierung von Kinderanstalten in der ddr heute nicht in der Aufgabe ein schönes Indivi­ dualprojekt zu entwerfen oder hier oder dort einen hübschen Kindergarten zu bauen. Es besteht vielmehr darin, die

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Grundlagen für den Bau typischer Lösungen zu schaffen, um möglichst rasch, mit möglichst wenig Türen oder anderen Mangelmaterialien und mit möglichst wenig qualifizierten Arbeitskräften, möglichst viele und gute Kinderanstalten schaffen zu können.«25 Die 1960er Jahre – Kindergarten Rinnböckstraße

Einen weiteren Schritt in der Entwicklung machte die Archi­ tektin in den Jahren 1961/62, als sie für die Gemeinde Wien den Kindergarten Rinnböckstraße im elften Bezirk entwarf. Bei diesem 5-gruppigen Kindergarten schließt sie direkt an den Entwurf für Frankfurt-Praunheim aus dem Jahr 1929 an (Abb. 5). Auch in Wien sind die Pavillons der Gruppen für 30 Kinder samt zugehöriger Garderoben kreuzförmig um eine zentrale Halle angeordnet. Die für die Kleinsten bestimmte fünfte Gruppe, die es in Frankfurt nicht gab, befindet sich im ersten Stock des Ge­ bäudes und weist eine vorgelagerte Terrasse auf. Somit hat

25  Margarete SchütteLihotzky: Neue Kinder­ häuser in der DDR, o. D. (ca. 1954), Typoskript, S. 6f, UaK, NL MSL, PRNR 189/2/TXT.

Abb. 5: Margarete Schütte-Lihotzky, Kindergarten Rinnböckstraße, Wien 11, 1962, Grundriss mit zentraler Halle (rot) und Gruppenräumen (blau), Überarbeitung: Christoph Freyer

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26  Siehe Helen Young Changs Beitrag in dieser Publi­k ation.

jede Gruppe ihren eigenen Ausgang ins Freie. Der Kindergar­ ten wird gegen die Straße durch eine Mauer abgeschlossen und bildet somit ein ruhiges, in sich geschlossenes Raum­ system. Dies findet eine Parallele in der traditionellen chine­ sischen Architektur, die sich vor allem durch ihre zentrale Hofbildung und die Trennung von Privat- und öffentlichem Raum auszeichnet.26 Die einzelnen, bereits modular aufge­ bauten Teile des Baukörpers wurden einige Jahre später beim »Baukastenmodell« noch von Bedeutung. Das Baukastenmodell

27  Bereits 1963 schlägt sie in ihrer für Kuba ent­ wickelten Entwurfslehre für Kinderanstalten und dem zugehörigen Exposé ein sogenanntes Baukas­ tensystem vor, welches das Wiener Baukasten­ modell vorwegnimmt. Margarete SchütteLihotzky: Entwurfslehre für Kinderanstalten, o. D. (1963?), Typoskript, S. 4, UaK NL MSL, PRNR 196/3/TXT und Margarete Schütte-Lihotzky: Exposée, 27.10.1963, Typoskript, UaK NL MSL, PRNR 196/1/TXT. 28  Das Modell befindet sich in UaK, NL MSL, 198/69/Q.

1965 stellte Margarete Schütte-Lihotzky der Gemeinde Wien ein »Baukastenmodell« vor, bei dem aus vorfabrizierten Tei­ len in Holz- oder Betonbauweise verschieden große Kinder­ gärten zusammengestellt werden konnten.27 Hierzu wurden nur drei unterschiedliche Module benötigt: 1. ein Baukörper als Gruppenpavillon, 2. ein Baukörper für die Betriebs- und Wirtschaftsräume, 3. ein Baukörper als Verbindungsraum (zentrale Halle), der gleichzeitig als Spielsaal verwendet werden konnte. Unter Zuhilfenahme eines statistischen Beiblatts zeigte sie auf, dass dieses System wesentlich rationeller als die bereits existierenden Kindergärten in Wien war. Aufgrund der zen­tralen Halle musste weniger Raum pro Kind verbaut werden, außerdem konnte man die Baukosten durch die vorfabrizierten Elemente wesentlich reduzieren. Anhand des vorliegenden Modellfotos ist zu sehen, wie durch die additive Aneinanderfügung gegenüberliegender Gruppenmodule Kindergärten mit verschiedener Gruppen­ anzahl gebaut werden können (Abb. 6).28 Margarete SchütteLihotzky hat bei den Modellen die Innenräume je nach Grup­ penfunktion gegliedert, und auch die Nebenräume konnten zur besseren Anschauung als eigene Bauelemente unter­ schiedlich zusammengesetzt werden. In der Durchge­ stal­ tung und der kreuzförmigen Anordnung griff sie aber­mals auf die ursprüngliche Idee aus Frankfurt zurück. Laut ihrem ersten Beschreibungsblatt ließen sich damit Kinder­gärten in einer Größe von ein bis acht Gruppen er­richten und eine gleich­mäßige Besonnung erzielen. Wie bereits beim Frank­ furter Modell verfügten alle im Erdgeschoss gelegenen

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Abb. 6: Margarete Schütte-Lihotzky, Baukastensystem, 1965, Konfiguration für sechs Gruppen anhand des von der Architektin entworfenen Modells

Gruppen­räume über einen eigenen Ausgang in den ihnen zugeordneten Gartenbereich. Ein Jahr nach der Präsentation des Modells in Wien wurde Schütte-Lihotzky ans Institut für Wohn- und Gesell­ schaftsbauten der Berliner Bauakademie berufen, wo sie ihr Baukastensystem für die Anforderungen der ddr umplante. Sie veränderte dazu die Maße und die Binnengliederung. Doch wieder wurde ihr System nicht übernommen, obwohl großes Interesse an Rationalisierung und Typisierung herrsch­te.29 Weitere, nur marginale Änderungen erfuhren ihre Planungen noch 1968 und 1974. Sie erweiterte die Vari­ anten von zwölf auf 20 Kombinationsmöglichkeiten. Das System, das auf der fast 40-jährigen Erfahrung SchütteLihotzkys im Kindergartenbau beruhte, kann als Krönung ihres Werks im rationellen Kindergartenbau gesehen werden, kam aber nie zur Umsetzung. Geht man noch einmal einen Schritt zurück, dann zeigt sich, dass der Kindergarten in der Wiener Rinnböckstraße zwar noch nicht als Fertigteilbau verwirklicht wurde, aber in der Raumstruktur bereits weitgehend dem System des Baukastenmodells entsprach. In der weiteren Entwicklung entwarf die Gemeinde Wien in den 1970er Jahren mehrere 310

29  Siehe den Beitrag von Carla Aßmann in diesem Band.

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eigene Fertigteilsysteme, um typisierte Kindergärten zu er­ richten. Fazit

Margarete Schütte-Lihotzky beschäftigte sich bereits in frü­ hen Jahren beim Kindergartenbau mit dem Typus einer zentralen Halle, die sowohl der ökonomischen Erschließung als auch als Gemeinschaftsraum diente und damit zwei wichtige Funktionen verband. Quer durch die verschieden­ sten Phasen ihres Schaffens ist dieser Bautyp, den sie wie die rationelle Fertigteilbauweise häufig in den unterschiedlichs­ ten Ausformungen propagierte, im Werk der Architektin nach­ weisbar. Margarete Schütte-Lihotzky galt zeit ihres Lebens als anerkannte Expertin im Kindergartenbau: Neben den Bauten entwarf sie auch Kindermobiliar, zudem hielt sie zahlreiche Fachvorträge im In- und Ausland und schlug 1947 auch die Schaffung eines (nie realisierten) Zentral-BauInstitutes für Kinderanstalten in Österreich vor, das allen Architekt/innen als Hilfe bei der Planung von Kindergärten dienen sollte. Sowohl die auf Papier gebliebenen als auch die realisierten Projekte – ob in Deutschland, der Sowjetunion, Österreich, Kuba oder der ddr – zeugen von ihrem dauer­ haften Streben nach der bestmöglichen Lösung und den zahlreichen Versuchen, ihr Wissen auch zu teilen.

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Die Frankfurter Küche als Museumsobjekt Änne Söll

Margarete Schütte-Lihotzkys Frankfurter Küche, die in Pro­ jekten des sozialen Wohnungsbaus von 1926 bis 1930 inte­ griert wurde, ist eines der bekanntesten Beispiele modernen, zweckorientierten, hygienischen, standardisierten und effizienten Designs und der Innenarchitektur. Sie muss, wie viele andere Küchenentwürfe der 1920er Jahre, als »soziotechnisches Reformprojekt«1 bezeichnet werden. Eng ver­ bun­den mit der Vorstellung einer »modernen« Hausfrau, trug die Frankfurter Küche dazu bei, die häusliche Aufgabe des Kochens als eine durchorganisierte Aktivität zu begreifen. Sie war, wie durch die bisherige Forschung heraus­ gearbeitet wurde, Teil größerer Bemühungen, die Ideen der Rationalisierung von Arbeitsabläufen im Sinne des Tayloris­ mus auf die häusliche Sphäre zu übertragen.2 Die Frankfurter Küche wird als Prototyp aller modernen Einbauküchen be­ zeichnet. Sie ist das Vorbild für die meisten Küchen des 21. Jahrhunderts und damit auch weiterhin prägend für un­ser Bild von Hausarbeit, wie sie verrichtet wird und wer sie er­ledigt. Die Frankfurter Küche ist in diversen deutschen und us-amerikanischen Museumssammlungen wie dem Museum of Modern Art in New York (moma)3, dem Minneapolis Institute of Art (mia), dem Museum Angewandte Kunst und dem Historischen Museum in Frankfurt, dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, dem Museum der Arbeit und dem Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg, dem Werkbundarchiv – Museum der Dinge (Werkbundarchiv) in Berlin sowie dem Museum für angewandte Kunst in Wien 312

1  Marion von Osten: Gespenstische Stille. Die arbeitslose Küche, in: Klaus Spechtenhauser (Hg.): Die Küche. Lebens­ welt, Nutzung, Perspek­ tiven, Basel 2006, S. 130– 147, hier S. 137. 2  Susan R. Henderson: A Revolution in the Woman’s Sphere: Grete Lihotzky and the Frankfurt Kitchen, in: Debra Coleman (Hg.): Architecture and Feminism, New York 1992, S. 221– 253, hier S. 245f.; Lore Kramer: Rationalisierung des Haushaltes und Frauenfrage – Die Frank­ furter Küche und zeit­ genössische Kritik, in: Ernst May und das Neue Frankfurt 1925–1930, Ausst.-Kat. Deutsches Architektur Museum Frankfurt am Main, hg. von Heinrich Klotz, Berlin 1986, S. 77–84, hier S. 78f.; zur Be­z iehung von Architekten der Moderne zur »Neuen Frau« siehe: Mark Peach: »Der Archi­ tekt Denkt, Die Hausfrau Lenkt«: German Modern Architecture and the Modern Woman, in:

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German Studies Review 18 (1995), H. 3, S. 441– 463; Peter Noever (Hg.): Die Frankfurter Küche von Margarete SchütteLihotzky, Die Frankfurter Küche aus der Sammlung des MAK – Österreichi­ sches Museum für ange­ wandte Kunst Wien, Wien 1992; Gert Kuhn: Wohn­ kultur und kommunale Wohnungspolitik in Frank­ furt am Main 1880–1930. Auf dem Wege zu einer pluralen Gesellschaft der Individuen, Bonn 1998, S. 142–176. 3  Die Frankfurter Küche war im MoMA in folgender Ausstellung zu sehen: Counter Space: Design and the Modern Kitchen, Ausst.-Kat. Museum of Modern Art New York, hg. von Juliet Kinchin u. a., New York 2011, S. 19f. 4  Hier können aus Platzgründen leider nicht alle musealen Präsen­ tationen der Frankfurter Küche erschöpfend behandelt werden. 5  Von Osten, Gespens­ tische Stille, S. 134.

(mak) als Ausstellungsobjekt angekommen.4 In den unter­ schiedlichen musealen Inszenierungen wird die Küche als Prototyp entweder für moderne Inneneinrichtung oder für industrielles Design präsentiert. Fragen nach der Verrichtung und gerechten Verteilung von (unbezahlter) Hausarbeit, die eng mit der Entstehung der Frankfurter Küche verknüpft sind, werden in den meisten Museumspräsentationen nur am Rande angesprochen oder ganz ignoriert. Wenn Haus­ arbeit thematisiert wird, dann betonen die musealen Präsen­ tationen die Rationalisierung und vermeintliche Erleichte­ rung von Hausarbeit, die jedoch trotzdem »bis heute zu 90 Prozent bei den Frauen geblieben [ist] und weltweit an Men­schen – vor allem Frauen – mit migrantischem Hinter­ grund outgesourct« wird.5 Durch ihre Musealisierung und ihre Integration in die Geschichte des modernen Designs, so meine These, wird die Frankfurter Küche als ein Museums­ objekt von Geschlechterthematiken entkoppelt, sie wird »de-gendered«. Wenn ich den Begriff »de-gendering« hier verwende, meine ich nicht die positiven Effekte oder utopi­ schen Ideen, die sich mit der Vision einer »gender-neutralen« Umgebung oder einer »gender-freien« Welt verbinden, in der sich die negativen Auswirkungen von heteronormativen Geschlechterregimen aufgelöst haben. Vielmehr begreife ich »de-gendering« hier wörtlich und zeige, wie zum Beispiel Fragen nach der Geschlechterordnung und geschlechtsspezi­ fischer Arbeitsteilung, die eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der Frankfurter Küche und auch in späteren Diskussionen um sie gespielt haben, von der großen, forma­ listischen Erzählung des »modernen Designs« verdrängt wurden, was zur Folge hat, dass die Frankfurter Küche – aus­ genommen ihre Präsentation im mak in Wien – als Aus­ stellungsstück losgelöst von Fragen nach Geschlecht (und Fragen nach der Verrichtung von Hausarbeit) im Museum historisiert werden kann. Auf welche Weise ist nun die Frankfurter Küche mit Ge­ schlechterfragen verknüpft? Zunächst muss angeführt wer­ den, dass sie von einer der ersten Frauen entworfen wurde, die an der Kunstgewerbeschule in Wien als Architektin aus­ gebildet wurden. Schon während ihrer Zeit in Wien befasste sich Schütte-Lihotzky mit den Ideen von Standardisierung

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und Rationalisierung, auch im Bereich der Innenarchitektur des sozialen Wohnungsbaus beziehungsweise genossen­ schaftlicher Wohnbauprojekte. Im Jahr 1926 zog sie nach Frankfurt am Main, arbeitete in der Abteilung für Standar­ disierung und Typisierung am Hochbauamt unter Ernst May und war dadurch am sozialen Wohnungsbauprojekt »Das Neue Frankfurt« beteiligt.6 Typisierung und Standardisierung waren dort die wichtigsten Mittel, um Bau- und Aus­ stattungskosten zu senken. Durch serienmäßig hergestellte Bauteile und innenarchitektonische Ausstattungselemente wie Schränke, Garderoben und besonders Küchen sollte Platz und Geld gespart werden. Mit den Ideen des Werkbunds und des Bauhauses verbunden, zielte die Suche nach der »ultimativen Form« und dem zweckmäßigsten Design bei den Frankfurter Bauprojekten auch auf die Reduktion von Klassenunterschieden.7 Beim Planungsprozess wurde der Entwurf der Küche als das zentrale Gestaltungsproblem angesehen, das alle anderen architektonischen Entscheidun­ gen beeinflusste.8 Die Küche, als eindeutig weiblicher Wir­ kungsort, rückte ins Zentrum der Planungsarbeit.9 Standardisierung und Rationalisierung im Bereich der Küche bedeuteten jedoch nicht, dass Männer sich an der Hausarbeit beteiligten. Kochen, Spülen, Saubermachen und Sich-um-die-Kinder-Kümmern waren in den 1920er Jahren ohne Frage Frauensache. Frauen sollten durch die Rationali­ sierungen sowohl Mühe als auch Zeit sparen, unter anderem um einer (allenfalls halbtägigen) Erwerbsarbeit nachgehen zu können. Die Frankfurter Küche stellt das Musterbeispiel für jene Strategie dar, Hausarbeit auf einer gestalterischen und architektonischen, jedoch keineswegs auf einer soziolo­ gischen Ebene zu »modernisieren«. Damit wurde durch die »architektonischen Sozialtechniken der Moderne die Grund­ lage der geschlechtlichen Arbeitsteilung eines ›Ernährerhaus­ halts‹ nicht angegriffen, sondern in gewisser Weise räumlich institutionalisiert«.10 Die Küche der modernen Hausfrau

Die kleine Frankfurter Küche war, wie unter anderem Lore Kramer und Ingeborg Beer herausgearbeitet haben, keine Wohnküche mehr, in der die Familie kochen, essen und sich 314

6  Vgl. Claudia Quirings Beitrag in diesem Band. 7  Renate Flagmeier: Gebrauchsanweisung für eine Frankfurter Küche im Museum (der Dinge), in: Die Frankfurter Küche. Eine museale Gebrauchs­ anweisung, Museumsbro­ schüre, Werkbundarchiv – Museum der Dinge Berlin, Berlin 2013, S. 9–19, hier S. 11. 8  Vgl. z.B.: Henderson, A Revolution in the Woman’s Sphere, S. 232. 9  Zum Themenschwer­ punkt Geschlechterproble­ matik bei der Planung der Frankfurter Küche siehe: Henderson, A Revolution in the Woman’s Sphere, S. 221–253; für eine allgemeinere Darstellung der Geschlechterfrage bei der Planung des so­z ia­ len Wohnungsbaus in Deutsch­l and siehe: Ingeborg Beer: Architektur für den Alltag. Vom sozia­ len und frauenorientierten Anspruch der Siedlungs­ architektur in den zwanzi­ ger Jahren, Berlin 1994. Beer vergleicht hier die verschiedenen Küchenent­ würfe in sozialen Wohn­ bau­p rojekten in Berlin, Frankfurt und München, siehe: S. 120–134. 10  Von Osten, Gespens­ tische Stille, S. 138.

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11  Für einen Einblick in zeitgenössischen Reaktio­ nen zur Frankfurter Küche, siehe: Kramer, Rationali­ sierung des Haushaltes und Frauenfrage, S. 77– 84; Beer, Architektur für den Alltag, S. 123–125. 12 Schütte-Lihotzky erstellte ergonomische Studien zum Kochen und Abwaschen, indem sie die Arbeitsprozesse in der Küche beobachtete, den effizientesten Arbeitsab­ lauf berechnete und ihre Planung dementsprechend anpasste. 13  Grete SchütteLihotzky: Der neuzeitliche Haushalt. Die Ausstellung bei der Frankfurter Früh­ jahrsmesse, in: Der Bau­ meister (Juli 1927), H. 7, Beilage; vgl. auch dies.: Rationalisierung im Haus­ halt, in: Das Neue Frankfurt, April/Juni 1927, H. 5, S. 120–123. 14  Penny Sparke: The Modern Interior, London 2008, S. 130. 15  Zur Geschichte der »Einküchenhäuser« siehe: Beer, Architektur für den Alltag, S. 103f., S. 153– 155.

aufhalten konnte, sondern wurde als Raum für eine einzelne arbeitende Hausfrau entworfen. Für Arbeiterfamilien war die Wohnküche vor der allgemeinen Zugänglichkeit von flie­ ßendem Wasser und Elektrizität sowie vor der Einrichtung von Zentralheizungen der einzige beheizbare Raum, da der Kochherd gleichzeitig als Ofen diente. Die technischen Ent­ wicklungen machte sich Schütte-Lihotzky bei der Entwick­ lung der Frankfurter Küche zunutze, um einen Ort zu schaffen, der allein dem Kochen galt, was folglich den Wohnvom Essbereich trennte – eine Idee, die auf Widerspruch in der Öffentlichkeit und vor allem bei Hausfrauenvereinen stieß.11 Schütte-Lihotzky bezeichnete die Küche selbst als Labor, was darauf hinweist, dass Kochen und andere Haus­ arbeiten nun als ernstzunehmende Tätigkeiten angesehen werden sollten. Haushalten wurde zu einer Arbeit, die man messen und optimieren konnte.12 Das Kochen wurde konse­ quenterweise vom Bereich des »weiblichen« Heims getrennt. Entsprechend modellierte Schütte-Lihotzky ihre Innenarchi­ tektur nach dem Vorbild kleiner, in Zügen eingesetzter Gas­ tronomieküchen, in denen viele Mahlzeiten in einem engen, zweckmäßig eingerichteten Raum produziert wurden.13 Die Vorstellung einer effizienten, organisierten Küche orientierte sich an einem modernistischen Raumverständnis, das, wie Penny Sparke treffend formuliert hat, nicht mehr »einge­ richtet« werden musste, sondern möglichst effizient und minimalistisch »ausgestattet« werden sollte: »For the Moder­ nist the interior was simply the space within buildings, […] which, in order for daily life to take place, had to be ›equipped‹ albeit as minimally as possible.«14 Auch die Küche als vormals privater Bereich der Hausarbeit wurde damit zu einem öffentlichen Ort. Wie oben bereits angesprochen, hat die Etablierung des Kochens als professionalisierte, von moder­ ner Innenarchitektur unterstützte Aktivität keine Arbeitstei­ lung zur Folge. Anstatt die Hausarbeit entweder in kollektive Arbeit zu verwandeln und damit eine Vergemeinschaftung zu erzielen, wie es in den »Einküchenhäusern« das Ziel war,15 oder Hausarbeit gar umzuverteilen, zementierte die Frank­ furter Küche die traditionelle Rolle der modernen Hausfrau. Adelheid von Saldern beschreibt die Entwicklungen in der Verrichtung der Hausarbeit als »progressive modernization

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without direct emancipation, especially for women«.16 Zu­ dem ist, so hat Marion von Osten herausgearbeitet, Hausarbeit durch die Versuche der Rationalisierung nicht ver­ schwunden, denn statt Zeit zu sparen, werden »gleichzeitig immer neue Arbeitsschritte geschaffen«.17 Kommen wir auf die Ästhetik und Museumsgeschichte der Frankfurter Küche zurück. Susan Henderson hat ihre »metallisch glänzenden Oberflächen« und ihre »leicht er­ kennbare Funktionalität, die Spezifizierung ihrer ineinan­ dergreifenden Teile, ihre modulare Gesamtbeschaffenheit und die Großzügigkeit ihrer technischen Ausstattung« ein­ drucksvoll beschrieben.18 Nach Henderson »versinnbildlichte die Frankfurter Küche die Transformation des täglichen Lebens im modernen Zeitalter. […] Sorgfältig koordiniert und genau eingepasst war die Frankfurter Küche die Ver­ wirklichung der Küche als Maschine.«19 Mehr noch als nur eine Maschine, die von einer trainierten Hausfrau bedient wurde, war sie ästhetisch gesehen als Gesamtkunstwerk konzipiert, als ein Raum, der als perfekte Einheit gedacht war und sowohl ästhetisch ansprechend als auch wohnlich wirken sollte, natürlich ohne mit Dekoration oder »sentimen­ talem Schnickschnack« überladen zu sein. Sie war darauf ausgelegt, durch Rationalisierung Ordnung in arbeitsinten­ sive Prozesse zu bringen. Frauen, die in dieser Küche arbei­ teten, so Renate Flagmeier, – und das ist entscheidend – muss­­ten sich dieser neuen Ordnung unterwerfen, anpassen und sich bemühen, Teil einer Vision vom »neuen Leben« zu sein.20 Die Frankfurter Küche kommt ins Museum

Da die meisten Frankfurter Küchen im musealen Kontext res­ tauriert und damit in ihren »ursprünglichen«, das heißt un­ gebrauchten Zustand zurückversetzt gezeigt werden, wird die Idee der Neuheit und damit das Versprechen eines »neuen Lebens« durch Design vermittelt (Abb. 1 und 2). Sowohl das MoMA in New York als auch das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg haben ihre Frankfurter Küchen in einen Zustand gebracht, der wie ein utopischer Urzustand aussehen soll.21 Die Küchen sind gereinigt, frisch lackiert und sehen folglich wie neu aus, sie sind sozusagen bereit dafür, dass 316

16  Adelheid von Saldern: The Workers’ Movement and Cultural Patterns on Urban Housing Estates and in Rural Settlements in Germany and Austria during the 1920s, in: Social History 15 (1990), H. 3, S. 333–354, hier S. 346. 17  Von Osten, Gespens­ tische Stille, S. 138. Haushaltstechnologien, so von Osten, fördern eine Privatisierung von Hausarbeit und wirken ihrer Umverteilung ent­ gegen. Hausarbeit hat sich durch Technologien nicht maßgeblich verringert, sie bedarf zwar weniger körperlicher Anstrengung, es sind aber neue Tätig­ keiten dazu­g ekommen. Technologie verstärkt die traditionelle Arbeitstei­lung zwischen Paaren und »bindet Frauen noch fes­t er an ihre tra­d i­t ionelle Rolle«. Haus­a rbeit wird durch ihre Technolo­g isierung als »ab­s chaffbar« und damit auch als minderwertig begriffen. Im Gegensatz zur Lohnar­b eit wird Haus­ arbeit bis heute »nicht als attraktives gesellschaft­ liches Inte­g rationsfeld für beide Geschlechter an­ gesehen, noch werden die Tätig­k eiten zu Hause […] als für unsere Gesellschaft eigentlich produktive Tätigkeiten betrachtet, obwohl sie im wahrsten Sinne lebenserhaltend sind. Die verzweifelte Abschaffung der Haus­ arbeit ist als Geschichte ihrer Geringschätzung zu lesen […].« Ebd., S. 139 und 144.

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Abb. 1 und 2: Margarete Schütte-Lihotzky, Frankfurter Küche, Museum of Modern Art, New York (Gift of Joan R. Brewster in memory of her Husband George W. W. Brewster), und Margarete Schütte-Lihotzky, Frankfurter Küche, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg

18  Henderson, A Revolu­ tion in the Woman’s Sphere, S. 235. 19 Ebd. 20  Flagmeier, Ge­ brauchs­­a nweisung, S.  15. 21  Für eine detaillierte Beschreibung der Restau­ rierung der Frankfurter Küche durch das Germani­ sche Nationalmuseum siehe: Martin Meyer/Ursula Peters: Die Frankfurter Küche aus der Römerstadt Siedlung, in: Anzeiger des Germanischen National­ museums, 2006, S. 189– 214. 22  Sparke, The Modern Interior, S. 152. 23  Flagmeier, Ge­ brauchsanweisung, S. 16. 24  Ebd., S. 17.

man für den Moment des Museumsbesuchs hier einziehen kann. Während beim MoMA-Exemplar der Eindruck eines schon bewohnten Raumes durch mit Krügen, Tellern und Tas­sen vollgestellte Schränke vermittelt wird, bleiben die meisten Küchen leer. Hier steht das modernistische Ideal eines »fast leeren, nicht überladenen, dematerialisierten Rau­mes«22 im Vordergrund, wie es zum Beispiel im mia in Minneapolis und im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg zu sehen ist. Eine der wenigen Frankfurter Küchen, die nicht in ihren unbenutzten, ursprünglichen Zustand ver­ setzt wurden und daher unrenoviert gezeigt werden, ist im Werkbundarchiv in Berlin zu sehen (Abb. 3). Laut Kuratorin Renate Flagmeier war es eine bewusste Entscheidung, die Küche nicht zu restaurieren, weil »die Zeichen und Spuren des Gebrauchs sichtbar bleiben sollten«.23 Der unrestaurierte Zustand des Werkbundarchiv-Exemplars wirkt auch dem ent­gegen, was Flagmeier richtig als die »Reduktion [der Frankfurter Küche, Ä.S.] auf eine Design-Ikone«24 nennt. Die Präsentation der Frankfurter Küche in einem gebrauchten Zustand macht den Besucher/innen die Funktion der Küche bewusst und zeigt zudem, dass das Material den Test der Zeit nur teilweise bestanden hat. Die angeschlagenen Ecken und die abblätternde Farbe verweisen auf die Leben,

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die sich in diesem Raum abgespielt haben, und nicht auf das Leben der Designerin, die ihn gestaltet hat. Es geht hier weder um die große Erzählung vom modernistischen Design als stetige Optimierung und Rationalisierung von Formen, noch wird darauf abgezielt, uns von der intrinsischen »Schön­heit« des Designs zu überzeugen. Konsequenterweise ist das, was hier betont wird – der Gebrauchswert der Küche

Abb. 3: Margarete Schütte-Lihotzky, Frankfurter Küche, Sammlung Werkbundarchiv – Museum der Dinge Berlin

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25  Vgl. Eine Architektur der Raum-Zeit. Joachim Krausse im Gespräch mit Renate Flagmeier, in: Die Frankfurter Küche. Eine museale Gebrauchsan­ weisung, S. 35–60, hier S. 52. Zu den Themen von Ausstellungen mit dem Ziel, Frauen Hauswirtschaft zu vermitteln und das neue Küchendesign zu fördern, siehe: Beer, Architektur für den Alltag, S. 129–141. 26  Zur sogenannten »Dienstmädchenfrage« siehe zusammenfassend: Von Osten, Gespenstische Stille, S. 134–136. 27  Ebd., S. 139.

– nicht ihr Design-Wert. Der Status der Frankfurter Küche als Design-Ikone wird folglich zur Diskussion gestellt. Welche Beziehung hat die Frankfurter Küche zum Kon­ zept des Ausstellens und zu sich selbst als Ausstellungsstück? Von Anfang an war sie als Schaustück konzipiert und, wie Joachim Krausse feststellt, als ein Raum gedacht, der sowohl dem praktischen Gebrauch dienen sollte als auch in zeitge­ nössischen Ausstellungen, die den Hausfrauen das neue Küchen-Design und neue Technologien anpriesen, zur Schau gestellt werden konnte.25 Als ein Raum, der gut beleuchtet, organisiert und sauber war, sollte die Frankfurter Küche nicht im hin­teren Teil des Hauses versteckt werden, wie es bei den meisten Küchen vorher der Fall gewesen war. Statt­ dessen war sie als »Schaufenster« konzipiert, in dem die mo­ derne, (klein-)bürgerliche Hausfrau inmitten ihres moder­ nisierten Terrains ausgestellt wurde, die seit dem Rück­gang bei der Beschäf­ti­ gung von Hausangestellten wesentliche Teile der Hausarbeit selbst zu verrichten hatte.26 Mit der Ent­ wicklung der Frank­furter Küche war die bürger­liche Küche kein unsichtbarer, von Hausangestellten bevöl­kerter Wirt­ schaftsraum mehr, sondern sie wurde zu einem zentralen Ort eines sichtbaren »Lifestyles«, an dem die Tätig­keiten der Hausfrau offen aus­gestellt wurden.27 Konse­quenterweise, so könnte man argu­ mentieren, eignet sich die Frankfurter Küche auch deshalb so gut für die Ausstellung im Museum, da sie sich bestens in die Erzählung der Ent­wicklung eines designten, also gestal­teten »Lifestyles« ein­fügt, in dem das Kochen eine integrale und prominente Rolle einnimmt. Noch einmal zurück zur Frankfurter Küche im Museum: Welche Art von Geschichten werden nun von diesen Muse­ umsküchen erzählt und was haben sie mit Fragen nach Ge­ schlecht, Geschlechtergerechtigkeit, Umverteilung und Pro­ fessionalisierung von Hausarbeit zu tun? Die Frankfurter Küche wird deshalb so häufig in Museumssammlungen auf­ genommen, weil sie durch ihr »cleanes Design« als exzel­ lentes Beispiel für Modernität steht, und nicht unbedingt, weil sie von einer Frau entworfen wurde oder weil sie die Rationalisierung der Hausarbeit symbolisiert. In vielen Samm­­ lungen ist die Frankfurter Küche als ein Parade­ bei­ spiel für den radikalen Wandel in Architektur und

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Abb. 4: Informationstafel zu Margarete Schütte-Lihotzky, Frankfurter Küche, Rekonstruktion, Wien 1989, MAK Design Labor

Innenarchi­tektur Anfang des 20. Jahrhunderts zu sehen, der das Leben ihrer Bewohner/innen grundlegend verändert hat. Das wiede­rum passt in den Kanon der Design-Geschichte des 20.  Jahrhunderts, so wie er in den meisten Museen als »natür­liche Entwicklung« hin zu einem modernistischen Design erzählt wird. Modernes Design, so die inhärente Ideologie, steht für Effizienz und Fortschritt, verspricht ein besseres Leben und – das ist meistens der unausgesprochene Subtext – stammt in der Regel von Männern mit klaren 320

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28  Im Historischen Museum in Frankfurt wird zu diesem Ziel beispiels­ weise ein kleines Blatt neben dem Eingang zur Küche bereitgestellt, in dem Besucher/innen aufge­f or­d ert werden, die Schritte beim Schälen und Kochen von Kartoffeln nachzuvoll­z iehen. Das Blatt richtet sich haupt­ sächlich an Kinder, es steht jedoch auch Erwach­ senen zur Ver­f ügung. Auf einem wei­t eren laminierten Informa­t ionsblatt wird erwähnt, dass die Frank­ furter Küche zu einer Entlastung der Frauen von der Hausarbeit führen sollte, um »damit lang­ fristig die ökonomi­s che Unabhängigkeit vom Mann zu ermöglichen«. Nicht erwähnt wird, dass dieses Ziel mit Hilfe der Küche nicht erreicht wurde.

Zukunfts­visionen. Das Projekt des Modernismus ist in den meisten Museen noch ein eindeutig männlich konnotiertes Konzept. Abgesehen von dem Aspekt, dass ihre Urheberin eine Frau ist, erfüllt die Frankfurter Küche all diese Kriterien, integriert sich somit in die »große Erzählung des Moder­ nismus« und qualifiziert sich dafür, in vielen Museen für angewandte Kunst und Designgeschichte als zentrales Schaustück präsen­tiert zu wer­den. Somit ist es auch nicht verwunderlich, dass es in den meisten Museumspräsenta­ tionen keine direkten Hinweise auf Geschlechterthemen gibt. Nur selten werden aktiv Fra­gen nach der Benutzung der Küche oder nach der Aufteilung von Hausarbeit aufgeworfen. Eine Ausnahme ist ein kurzer Werbefilm aus den späten 1920er Jahren, der im Museum für Kunst und Gewerbe (mkg) in Hamburg, im Werkbundarchiv in Berlin und im mak in Wien in direkter Nachbarschaft zur ausgestellten Frankfurter Küche gezeigt wird. Er illustriert den Gebrauch der Küche und propagiert dadurch die Zweck­ mäßigkeit des neuen Designs, indem er die effizientere Ar­beitsweise, die mit der Frankfurter Küche möglich ist, ver­deutlicht – Protagonistin ist natürlich die Hausfrau. Kaum eine der installierten Informationstafeln (eine Ausnahme bildet wiederum jene im Hamburger mkg) greift das Ge­ schlechterthema auf. Die meisten Museen kon­ zentrieren sich auf den Aspekt der Rationalisierung28 und verzichten darauf, die Küche durch didaktische Hinweise mit der Pro­blematik der gerechten Verteilung von Hausarbeit zu ver­knüpfen. Dies geschieht lediglich in der Präsentation im Wiener mak. Bis auf diese Darstellung und jene im Berliner Werkbundarchiv haben wir es also mit der Insze­ nierung einer progressiven DesignIkone zu tun. Es wird kaum the­matisiert, dass auch in der Frankfurter Küche die Hausarbeit weiterhin in den Händen der Frauen verbleibt und die Küche, entgegen den Zielen ihrer Designerin, hin­sichtlich der Geschlechterrollen eher eine restaurative als progressive Erfindung war.

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Die Frankfurter Küche als tückisches Exponat

Kommen wir zu den zwei Präsentationen, die nicht dem oben beschriebenen Standard entsprechen. Das Werkbund­ archiv in Berlin versucht, den Kontext zu erwei­tern, indem 321

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neben dem oben erwähnten Werbefilm auch Auszüge aus Interviews mit der Architektin und Teile eines Dokumentar­ films von Joachim Krausse über die Frankfurter Küche von 1985 gezeigt werden. Diese Filme werden direkt in die Küche projiziert, wodurch sie als ein Gebrauchsgegenstand, als ein aktiv genutzter Ort betont wird, der durchaus starken Verän­ derungen unterlag. Die Installation im Werk­bundarchiv ist, ähnlich wie jene im Frankfurter Historischen Museum, be­ tretbar. Beim Betreten des Raumes hören die Besucher/innen zudem über eine Lautsprecherstimme arti­ kulierte Infor­­ mationen, die einige der mit der Entwicklung der Frankfurter KücheverbundenenSchlüsselbegriffewie»Rationalisierung«, »Zeitersparnis« und »Ergonomie« erläu­tern. So wird sicher­ gestellt, dass auch eilige Museumsbesucher/innen, die weder die Begleittexte lesen noch den Film sehen, wenigstens eine skizzenhafte Vorstellung davon be­kommen, worauf die Ent­ wicklung der Frankfurter Küche abzielte. Anders als in Frank­ furt können die Besucher/innen im Berliner Werk­ bundarchiv die Einrichtung nutzen und sich etwa auf den Drehstuhl setzen, die Schubladen aufziehen und ins Spül­ becken gucken. So bekommen sie einen (wenn auch nur ober­flächlichen) Eindruck davon, wie die Küche benutzt beziehungsweise wie in ihr gelebt und gear­beitet wurde – ein Erlebnis, das in fast allen anderen Museen den Besucher/ innen verwehrt bleibt. Damit ist die Frank­furter Küche im Werkbundarchiv die zugänglichste von allen hier erwähnten Ausstellungsstücken, aber auch bei ihr wird innerhalb der Museumspräsentation nicht direkt auf die Ge­schlechterthe­ matik hingewiesen. In welchem Geflecht von Modernisierung und gleichzeitiger Konsolidierung von Geschlechter­ strukturen die Frankfurter Küche entstanden ist und welche Rolle sie darin einnahm, wird nicht sichtbar. Die Ausnahme in dieser Hinsicht ist die Präsentation der Frankfurter Küche im Wiener mak (Abb.4). Eingebettet in eine kulturhistorische Ausstellung zum Thema Kochen und Küchen wird sie mit der Überschrift: »Und jetzt: der feminis­tische Blick! Oder: Hausarbeit = Frauenarbeit« prä­ sentiert. Die geballte Faust links auf der Tafel und der rotge­ streifte Hintergrund signalisieren, dass es die Besucher/ innen mit einem speziellen Blickwinkel, einer Herausfor­ 322

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29  Auf einer Informa­ tionstafel wird auch erwähnt, dass der Vorwurf, die Frankfurter Küche hätte »noch mehr Frauen an den Herd gekettet«, Schütte-Lihotzky schwer getroffen hätte.

30  Pat Kirkham/Judy Attfield: Introduction, in: Pat Kirkham (Hg.): The Gendered Object, Manchester 1996, S. 1–11, hier S. 1.

derung und Provokation zu tun haben. Kurze Aufsätze und Interviews zum Thema können direkt unter der Tafel ein­ gesehen werden, es läuft der oben erwähnte Werbefilm von 1926, ein Hocker lädt zum Verweilen ein. So werden Besucher/ innen eingeladen, am Beispiel der Frankfurter Küche über die gerechte Verteilung von Hausarbeit nachzudenken.29 Die Prä­sentation im mak ist der alleinige Versuch, im Zusam­ men­hang mit der Frankfurter Küche das »heiße Eisen« der Haus­arbeit zu thematisieren, an dem nicht nur deren ge­ schlecht­liche Codierung hängt, sondern ebenso das Out­ sourcen von Hausarbeit an Migrantinnen. Als »feministischer Blick« prä­sentiert und mit geballter Faust ausgestattet, läuft die Präsen­tation jedoch Gefahr, dass Hausarbeit als Problem einer als radikal verschrienen Frauengruppierung wahrge­ nommen wird und nicht als gesamtgesellschaftliche Heraus­ forderung mit weitreichenden Folgen für den Alltag aller. Abgesehen vom mak in Wien ist zusammenfassend festzuhalten, dass Museumspräsentationen der Frankfurter Küche trotz ihres direkten lebensweltlichen Bezugs Fragen nach der Verteilung von Hausarbeit vermeiden und die fort­ gesetzte Zuschreibung dieser Arbeit an Frauen nicht thema­ tisiert wird. Dieses »de-gendering«, wie ich es zu Beginn genannt habe, ist Folge der Subsumierung der Frankfurter Küche unter der Designgeschichte der Moderne, für die Fragen nach Geschlecht besonders im Museumskontext in der Regel weiterhin keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen. Wie die Beispiele der Ausstellung der Frankfurter Küche in Berlin und Wien gezeigt haben, gibt es hingegen tat­ sächlich Ausstellungsstrategien, die die Geschichte der mo­ dernen »Design-Ikone« in Frage stellen, ein komplexeres Bild der Designgeschichte präsentieren und unter anderem die Verteilung von Hausarbeit adressieren. Dies gibt Anlass zur Hoffnung, dass in Zukunft im Museum präsentierte Designgeschichte auch eine Form von Geschlechtergeschichte sein kann und die nun schon seit Jahren geleistete wis­sen­ schaftliche Arbeit auf dem Gebiet von Gender, Architektur und Design reflektiert wird. Schließlich ist die Beziehung zwischen Dinghaftigkeit und Geschlechterfragen eine »der fundamentalsten Komponenten des kulturellen Bezugssys­ tems, das unsere soziale Identität zusammenhält«.30

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Die Frankfurter Küche sollte deshalb zu einem offenen, widersprüchlichen und tückischen Exponat werden, wie Anke te Heesen und Petra Lutz es für den Status von Objekten im Museum formulieren.31 Um Geschlechterdiskurse im Museum zu verankern – das hat sich durch meine Analy­se der musealen Präsentation der Frankfurter Küchen gezeigt –, müssen ideologisch geprägte Gesten des musealen »Zeigens«32 hinterfragt und neue Wege der Kommunikation gefunden werden, denn Museen liefern »ganz spezifische Möglichkeits- oder Unmöglichkeitsräume, in denen Identi­ täten, Werte und Normen performativ erprobt, ausgehandelt und sichtbar gemacht werden«.33 Gerade das Exponat der Frankfurter Küche mit ihrer komplexen Geschichte der umstrittenen Modernisierung, Verteilung und Rationalisie­ rung von unbezahlter Hausarbeit eignet sich hervorragend dafür, einer dieser »Unmöglichkeitsräume« zu werden.

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31  Anke te Heesen/ Petra Lutz: Einleitung, in: dies. (Hg.): Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort, Köln u. a. 2005, S. 11–24. 32  Daniela Döring/ Jennifer John: Einleitung. Museale Re-Visionen: Ansätze eines reflexiven Museums, in: Frauen Kunst Wissenschaft 58 (April 2015), S. 5–27, hier S. 11. 33  Ebd., S. 11.

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»Fassadismus«. Die Rezeption der Frankfurter Küche und der Kunstmarkt Marie-Theres Deutsch

Die Niederlage im Ersten Weltkrieg, die revolutionäre Ab­ schaffung der Monarchie, die politischen und finanziellen Verwerfungen im Gefolge der von den Alliierten auferlegten harten Friedensbedingungen, schließlich die lawinenartige Entwertung der Währung und der Vermögen führten zu schweren sozialen und ökonomischen Krisen im Deutschland und Österreich der frühen 1920er Jahre. Die gesellschaft­ lichen Stimmungen schwankten zwischen revolutionären, reformerischen und reaktionär-konservativen Tendenzen. Ab Ende des Jahres 1923 stabilisierte sich die Situation etwas, die verschiedenen politischen Gruppierungen richteten sich darauf ein, ihre Konflikte im Rahmen der republikanischen Staatsform auszutragen. In den folgenden sechs Jahren lang­ sam wieder wachsender Prosperität entwickelte sich sowohl in der Weimarer Republik wie auch im Roten Wien ein Klima für soziale und politische Experimente. Die dem Sozialismus nahestehenden Architekten und Designer des Bauhauses bekamen diverse Gelegenheiten, ihre radikalen Konzepte zu verwirklichen. Ernst May und sein Team konnten in Frank­furt am Main planen und realisieren. Gegen die massive Woh­nungsnot, vor allem bei den Unterschichten und den durch Krieg und Inflation verarmten Kleinbürgern, sollte Ab­hilfe durch großflächige Siedlungsareale geschaffen werden. 326

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Dabei ging May nicht zimperlich vor. Nördlich von Frank­furt am Main liegt die ausgedehnte römische Fund­ stätte, das Castrum. Bereits 1827 hatte der Verein für Ge­ schichte und Alterthumskunde antike Funde in Frank­furtHeddern­heim – der römischen Stadt Nida – belegt. Genau an diesem Ort errichteten Ernst May und sein Team zwischen 1927 und 1929 die Siedlung Römerstadt. Auf archäologische Spuren nahmen die Planungen keine Rück­sicht (Abb. 1). Während des Baus der 1.220 Wohneinheiten war lediglich eine Baugru­benarchäologie möglich, die offizi­elle Grabungs­ kommission wurde bereits 1925 aufgelöst. Raubgräbertum, private Aneignung und Familien-Gra­ bungstourismus waren die unerwünschte Folge. Eine sarkas­ tisch-zynische Stimmung herrschte in Fachkreisen genauso wie in der Bevölkerung, was aber das Planungsteam um Ernst May nicht stören durfte. Dank Mays praktischem Durch­ setzungsvermögen entwickelte sich »Das Neue Frankfurt« (dnf) durch gestalterische Innovation, rationelles Design und die Anwendung des Modularprinzips im Bau zu einem weltweit vorbildlichen Markennamen. May und sein Team konzentrierten sich parallel zur Bautätigkeit strategisch auf publizistische Öffentlichkeitsarbeit. Über Musterschauen,

Abb. 1: Postkarte »Gruß aus Heddernheim«, die den Grabungstourismus persifliert

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Messen und Tagungen wurde der Name dnf als Idee und Realität in Umlauf gebracht. Hierbei halfen auch die gleich­ namige Zeitschrift sowie Broschüren, Möbel- und Innen­ einrichtungskataloge, öffentliche Lesungen und nicht zuletzt ein Filmklub. Aus propagandistischen Gründen wies das May-Team den Frauen eine bedeutende Funktion zu. Diese waren 1919 mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts formell politisch emanzipiert worden. Aber man schätzte zudem ihre Rolle als Konsumentinnen von Haushaltsgütern, der Massenmedien und des Kinos. Man versuchte, sie zu Bünd­ nispartnerinnen bei der Umgestaltung der Wohntradition zu gewinnen. Das Neue Frankfurt steht bis heute als Symbol für revolutionäres Denken im Bereich des öffentlich subventio­ nierten Wohnungsbaus. Neben dem Bauhaus und der Weißenhofsiedlung in Stuttgart ist dnf bis heute der inter­ nationale Leitbegriff hierfür. Es sollte nicht unterschätzt werden, in welchem Maße auch das Nachkriegspathos und das sozialistisch inspirierte Ethos des ›Neuen Menschen‹ in diesen Vorstellungen eines Umbaus des öffentlichen Raums und der Privatsphäre mitschwangen. Im Zentrum dieses Konzepts stand eine Neudefinition der Geschlechterrollen: In Bezug auf den häuslichen und familiären Bereich sollte der ›neuen Frau‹ ein neuer adäquater Gestaltungsraum gege­ ben werden. Allerdings zeigte sich die ›neue Frau‹ nur be­ grenzt in den neuen Wohnungsbauplänen. Ihr wurde die Auf­gabe zugemessen, das Haus und die Küche zu ›moder­ nisieren‹. Neben der traditionellen Rolle als Hüterin der Familie sollte sie effizienter organisieren und zweckgerichteter arbeiten können. Die Frage wurde akut, wie man die Frau für die teils utopischen und revolutionären, teils tech­ nisch-praktischen marktkonformen Ambitionen des Neuen Wohnens gewinnen könne. Diagramme zeigen die Schrittfolge, mit denen die junge Architektin Margarete Schütte-Lihotzky die streng normierte Küche entwickelte (Abb. 2). 1,87 × 3,44 m = 6,43 m² muss­ ten ausreichen, um die Familie in kürzester Zeit zu versorgen. Die Schiebetür zum Esszimmer war die wesentliche Ver­bindung zur Familie. In der Küche konnten keine zwei 328

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Abb. 2: Margarete Schütte-Lihotzky, Frankfurter Küche – Wegstudien, Schrittersparnis, 1927, Druck auf Folie

1  Bruno Taut, Die Neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin, Leipzig 2 1924, S. 31.

Personen haushalten, sie war klar als das Reich der Frau determiniert. Bruno Taut gab 1924 sein Buch »Die Neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin« heraus. Darin führte er eine Liste von Dos and Don’ts auf: Er schrieb, wenn die neue Frau krea­ tiv sein wolle – eine Schöpferin also –, solle sie jeden Klein­ kram und Nippes loswerden. Und grundsätzlicher: Sie solle ihren ›Gefühlsballast‹ abwerfen, der ihr anerzogen wurde. »Wenn aus einer Wohnung nach strengster und rücksichts­ losester Auswahl alles, aber auch alles, was nicht direkt zum Leben notwendig ist, herausfliegt, so wird nicht bloß ihre Arbeit erleichtert, sondern es stellt sich von selbst eine neue Schönheit ein« – so sein Appell in einem Vortrag vor Vertre­ terinnen der Hausfrauen. Taut wandte sich an Frauen, weil er sie als Verbündete benötigte – damit sie sich das Neue Heim aktiv herbeiwünschten.1 Darüber, dass die künftigen Be­woh­ ner/innen vielleicht schon Möbel erworben hatten oder emotional an liebgewordenem »Kleinkram« hängen könn­ ten, wur­de mit einem Diktat mittels Stillogik Tabula rasa

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gemacht. Der sich in den 1920er Jahren formierende Totali­ tarismus sowjetischer oder faschistischer Provenienz fand hier ästhe­tische Wegbereiter.2 Der neue Haushalt

Erna Meyers Buch »Der neue Haushalt« war das Standardwerk für die vernunftgeleitete Reform der Hausarbeit. Es erschien erstmalig 1926 und kam bis 1929 bereits auf 38 (!)

2  Vgl. Walter Gropius: Die soziologischen Grundlagen der Minimal­ wohnung, in: Martin Steinmann (Hg.): CIAM. Internationale Kongresse für Neues Bauen. Dokumente 1928–1939, Basel/Stuttgart 1979, S. 56–59.

Abb. 3: Dr. Erna Meyer: Der neue Haushalt, Stuttgart 1926

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Auflagen. Das Titelbild des Bandes zeigt die Mutter beim Bügeln in »ihrem« Raum, der Küche (Abb. 3). Die offenen Schranktüren demonstrieren die tadellose Ordnung bei der Aufbewahrung der Geräte. Das kleine Töchterchen schaut hinein, bleibt aber an der Tür stehen – als habe es hier nichts zu suchen. Die Mutter ist halb zum Kind gewendet, hält dabei vernünftigerweise das Bügeleisen aufrecht, damit es den Stoff nicht versengt. Der Gesichtsausdruck sagt: Komm lieber nicht herein, mein Kind. Ich habe hier zu tun, du musst dich anderweitig beschäftigen. Die Illustration veranschau­ licht auf einen Blick, wie die funktionalistische Arbeitsküche die Aussperrung des Sozialen bewirkt. Die von Margarete Schütte-Lihotzky entworfene und im Neuen Frankfurt rund zehntausendfach realisierte Küche wurde zum Inbegriff der neuen, modernen Haushaltsführung und ging bekanntlich in die Architektur- und Design­ geschichte ein. Doch in der Praxis sah es anders aus. Die Siedlungen mit ihren Küchen gerieten schnell in die Kritik: Bedingt durch den Festeinbau der Küche auf einem Beton­ sockel und mit Stahlverankerungen in den Wänden war sie weder anpassungsfähig noch erweiterbar. Sie war also Teil des Gebäudes und damit immobil – sie musste miterworben oder gemietet werden. Man konnte nicht darin essen, die Familie wurde von der Küche ausgeschlossen, die Hausfrau von der Familie getrennt. Das soziale Leben fand woanders statt. Die Stimmung in den ersten, neubezogenen Siedlungen beleuchtet etwa folgender Brief: »Es dürfte Ihnen, verehrter Herr Oberbürgermeister, auch nicht unbekannt geblieben sein, dass die Häuser durch verschiedene Versuche einer neuen Bauweise, außerordentlich viele Mängel aufweisen. Diese alle aufzuführen, wäre eine Abhandlung für sich, hierüber führen wir getrennt Ver­ handlungen mit dem Bauamt. Unerwähnt lassen möchten wir jedoch nicht, dass nach Ansicht namhafter Baufachleute neben den Konstruktionsfehlern schlechtes Baumaterial ver­wendet worden ist und Arbeiten abgenommen worden sind, die von der damaligen Bauleitung als unbrauchbar zu­ rückgewiesen werden mussten. So kam, was kommen musste. Die Siedler glaubten, in einem neuen Heim ein zufriedenes, Marie-Theres Deutsch

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bescheidenes Leben führen zu können, aber es ist bis jetzt wohl keiner in der Siedlung seines Lebens froh geworden. Beim Bezug der Häuser haben Reparaturen angefangen und bis jetzt kein Ende genommen. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie auch niemals aufhören, täglich gehen neue Meldungen über Bauschäden ein. Die bereits für die Siedlung Praunheim aufgewendeten Mittel für Reparaturen sprechen eine deutlichere Sprache, als Worte sie zu schildern vermögen. Hieran ändert auch die Ansicht des Bauamtes nichts, dass die Schäden, für die die Stadt aufzukommen habe, inzwischen im allgemeinen behoben sein müssten. Die Tatsachen bewei­ sen das Gegenteil […].«3 Ein halbes Jahrhundert später blickte Margarete Schütte-Lihotzky wenig enthusiastisch zurück: »Soviel ich mich erinnere, hat May den Namen der Frankfurter Küche erdacht und propagandistisch verwendet. Ebenso wie er immer wieder in Wort und Bild betont hat, dass die Frankfurter Küche von einer Frau für Frauen geschaf­ fen wurde. Es kam den damaligen bürgerlichen und klein­ bürgerlichen Vorstellungen entgegen, dass die Frau im We­ sentlichen am häuslichen Herd arbeitet. Deshalb wisse auch eine Frau als Architekt am besten, was für das Kochen wichtig ist. Das machte sich eben damals propagandistisch gut. Aber, um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich habe bis zur Schaf­ fung der Frankfurter Küche nie einen Haushalt ge­führt, nie ge­kocht und keinerlei Erfahrung im Kochen ge­habt. Rück­ blickend auf mein Leben muss ich feststellen, dass ich mich in beruflichen Dingen für einen systematischen Menschen halte und dass ich naturgemäß jede mir ge­stellte Projekt­ aufgabe immer in systematischer Weise begon­nen habe.«4 Rezeption

Den Bewohner/innen der Mietobjekte war es seitens der Ge­ nossenschaften bis 1995 streng verboten, ihre Küchen selbst zu reparieren oder gar zu verändern. Gleichwohl wur­den die Küchen im Laufe der Jahre dekoriert und die für die Planer so wichtigen Schiebetüren verschlossen. Küchenseitig stell­ ten die Bewohner/innen Kühlschrank oder Spülma­schine vor der verschlossenen Schiebetür auf, im Esszimmer entstand die sogenannte Gute Stube mit Couchgarnitur und Fern332

3  Auszug aus einem Brief des Siedler-Vereins Frankfurt am Main, Praunheim e.V. vom 24.7.1933, zit. nach: Wem gehört die Welt. Kunst und Gesellschaft in der Weimarer Republik, Ausst.-Kat. Neue Gesell­ schaft für bildende Kunst, Berlin 1977, S. 150.

4  Margarete SchütteLihotzky: Warum ich Architektin wurde, hg. von Karin Zogmayer, Salzburg 2004, S. 149f.

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seher. Bleibt zu erwähnen, dass die vorgefertigten Möbel des Frank­ furter Registers als Vorläufer der Ikea-Kultur ange­ sehen wer­den können. Je nach Geldbeutel und über die Jahre waren sie veränder- und erweiterbar. Unterteile, Aufsatzteile, Zwi­schenschränke – jedes Einzelteil passte als Modul auf- und aneinander. Ab Mitte der 1990er Jahre wurden die Küchen nicht mehr von den Genossenschaften gepflegt, die Mieter durften selbst reparieren oder die Küche ausbauen und ersetzen. Viele Küchen landeten auf der Straße. Zu dieser Zeit waren Sammler in den Straßen des Neuen Frankfurts unterwegs, mit der Folge, dass die Küchen allmählich in den Auktions­ häusern auftauchten. Es wurden erstaunlich hohe Preise erzielt, die weit über dem angesetzten Schätzpreis lagen. Die Küche rückte in den Fokus der Sammler und Museen. In diesem Zusammenhang sind fünf verschiedene NutzerSammler-Gruppen der Frankfurter Küche zu beobachten: 1. »Ureinwohner/innen« mit originalen Küchen Es gibt noch einige wenige »Ureinwohner/innen« bzw. deren unmittelbare Nachkommen, in deren Wohnungen sich die original eingebauten Küchen befinden, oftmals von ihnen selbst »behübscht«. 2. Kenner und Liebhaber Bei einer weiteren Gruppe handelt es sich um Kenner des Neuen Frankfurts, darunter viele Architekt/innen und Künstler/innen, die in den letzten Jahrzehnten die Häuser aus den 1920er Jahren erwarben und einen Rückbau der Ge­ bäude und Interieurs vornahmen. In den einzelnen Sied­ lungen bildeten sich entsprechende Freundeskreise – etwa im Damaschkeanger in Praunheim, wo vier Architekten­ freunde mit fünf Häusern auf nicht einmal hundert Meter Straßenlänge leben. Deren Ziel ist es oft, zwei nebeneinanderliegende Häu­ ser zu erwerben, um sie für eine vierköpfige Familie zusam­ menzulegen (Abb. 4). Die Bestandsküchen werden durch großzügige Durchreichen oder Durchgänge zum Ess­platz geöffnet. 3. Vintage-Vermarkter und Auktionshäuser Seit 1995, als die Küchen nicht mehr von den Genossen­ schaften repariert und überwacht, sondern zum Aus­ bau Marie-Theres Deutsch

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Abb. 4: Küche im Damaschkeanger, Praunheim – Frankfurt am Main, 2018, Foto: Laura Gerlach

frei­gegeben wurden, konnte man einerseits die Küchen auf der Straße im Sperrmüll finden, andererseits wur­den sie von der Stuttgarter Gesellschaft für Kunst und Denk­malpflege gesucht und gesammelt. Als ab 2004 die in den großen Auktionshäusern erzielten Preise explodierten, machten sich Frankfurter VintageSammler an das Suchen, Ausbauen und Auflesen auf den Straßen. Krönung war der Verkauf an das New Yorker MoMA, das Museum of Modern Art, im Jahr 2010, durch den die Küche endgültig zur Design-Ikone wurde. 4. Veranstalter von Kochevents Sammler und Künstler bauen die Frankfurter Küche in Großräumen auf und entheben sie so ihrer eigentlichen funktionalen Idee (Abb. 5). Sie bieten Kochen und Essen an unter dem Slogan: »[…] das Arbeiten im Atelier funktioniert ungefähr wie in einer Familie […]« – soziales Leben durch gemeinsames Erleben. 334

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Möbelteile mit abgeblätterter Originalfarbe – ›as found‹ – ergeben aneinandergesetzt ein scheinbar homogenes Gan­ zes und erheben zynischerweise den Anspruch auf Authen­ tizität. 5. Die Küche als Designobjekt Einmal ausgebaut, werden die Küchenschränke ihrer Funktion enthoben, als Designelement entfremdet und fin­ den sich in Wohnzimmern oder Esszimmern wieder. Bedingt durch ihre modulare Bauweise unter strengsten proportio­ nalen Vorgaben, ihre handwerklich-robusten Verbindungen

Abb. 5: Frank Landau – Office & Warehouse, Frankfurt am Main, 2018

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Abb. 6: Wohnraum im Haus von Tobias Rehberger, Frankfurt am Main, 2018

und das abgelagerte Material sind Additionen und Kom­bi­ nationen zwischen Ober- oder Unterschränken problemlos möglich. Ihrer sozialen Funktion vollständig enthoben, er­ geben sie ein individualisiertes Objekt, mit oder ohne homo­ genisierenden Farbanstrich werden sie zu Sammlerobjekten (Abb. 6). Sind nur noch Schranktüren zu finden, werden die ›kostbaren‹ Teilstücke zu Küchenobjekten zusammen­ gesetzt, die dreidimensionale Design-Ikone verflacht wort­ wörtlich zum »Fassadismus«. Die Frankfurter Küche wurde vor allem wegen ihrer Immobilität kritisiert, die jede Ergänzung mit eigenen Möbeln verhinderte. Den Versuch der Planer, den modernen Menschen und seine Familienstrukturen zu verändern, kann man als gescheitert betrachten. Ist es nicht eine iro­ nische Wendung, dass neunzig Jahre später die immobilen Küchen demontiert und als Einzelteile wie ›Spielklötze‹ Sammlern und Vermarktern dienen? Zeigt sich hier die späte Rache an den sozialistisch gefärbten Einheitskonzepten der ursprüng­lichen Planenden? 336

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Abb. 7: Tobias Rehberger, Performance of two lonely objects that have a lot in common, 2014–2017, Art Basel

Die Frankfurter Küche – Reflexionen in zeitgenössi­ schen Kunstprojekten

5  Vgl. Christiane Oelrich: XXL-Kunst auf der Art Basel, in: Frankfurter Neue Presse, 13.6.2017, https:// www.fnp.de/kultur/xxlkunst-basel-10456320. html (zuletzt abgerufen: 2.4.2019).

Tobias Rehberger ist weltweit mit Ausstellungen sowie auf Kunstmessen vertreten, so etwa 2017 auf der Art Basel. Wie­ derholt werden bei dem Frankfurter Künstler lokale Er­ innerungsstücke zu einem Teil seiner künstlerischen Arbeit (Abb. 7). Eines dieser Stücke ist die legendäre Frankfurter Küche, die in der Installation »Performance of two lonely ob­ jects that have a lot in common« (2014–2017) als funktions­ fähige (!) Küche im Maßstab 1:1 aus glasiertem, aber offen­ porigem Porzellan gefertigt wurde. Sie sollte nach den Vor­ stellungen des Künstlers für weniger als 200.000 Euro nicht von einem Museum, sondern idealerweise einem Privatsamm­ler erworben und in eine bestehende Küche integriert wer­ den. Dabei würde die poröse Oberfläche durch die alltäg­­liche Benutzung, also durch eine – wie sie im Titel anklingt – Performance, Flecken, Kratzer und Gebrauchsspuren er­ halten.5 Rehberger hinterfragte mit seiner Arbeit die Rezep­ tion der Frankfurter Küche im musealen Kontext, wo im Re­ gelfall eine Berührung, geschweige denn eine Benutzung von ausgestellten Objekten ausgeschlossen ist. Doch zugleich schuf er einen Hybrid, ein Zwitterwesen aus einem stark strapazierten Nutzmöbel und einem Kunstwerk aus hoch­ sensiblem, verletzlichem Material.

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Abb. 8: Liam Gillick, How are you going to behave? A kitchen cat speaks, Deutscher Pavillon auf der 53. Biennale von Venedig, 2009

2009 lud der Kurator Nicolaus Schafhausen den briti­ schen Künstler Liam Gillick ein, den Deutschen Pavillon in Venedig zu bespielen. Gillick – wie so viele seiner Vorgänger – machte den von den Nazis umgebauten Pavillon zum Haupt­ thema. Was setzte er dagegen? Die Frankfurter Küche – als wichtigen Markierungspunkt von angewandtem Moder­nis­ mus der industriellen Moderne (Abb. 8). Er benutzte jedoch Fichtenholz, übersät mit Astlöchern, und verwies damit auf skandinavische Selbstbaumöbel. In diesem Kontrast wurde die Küche zu einem ideolo­ gisch hoch aufgeladenen Themenfeld. Steht die auf IkeaDesign getrimmte Frankfurter Küche Gillicks als gültige 338

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Antwort auf die Konzepte einer Architekturmoderne, die sich an den massenindustriellen Elementen des Taylorismus und Fordismus begeisterte, aber mit deren kapitalistischer Rationalität einen wahrhaft sozialen oder gar sozialistischen Wohnbau schaffen wollte? Für Gillick ist die Frankfurter Küche ein »emanzipatorisches Modell häuslicher Tätigkeit« – dabei ignoriert er die misogynen Aspekte eines Konzepts, das die Frau an den Herd verbannt und die Wohnstätte der Familie nach standardisierten Kriterien ausrichtet. Was wurde aus dieser von der Idee der Massenbeglückung enthusiasmierten Moderne? Bei Gillick ist die Frank­ furter Küche ein reizvolles, erlesenes Designobjekt, das mä­ andernd und die tempelartige Gebäudehierarchie des Deut­ schen Pavillons aufhebend als pure Antithese zu den Vor­ stellungen der Bauhausavantgarde wirkt – wie übrigens auch die emanzipierte Frau der Gegenwart das Gegenteil der in der Frankfurter Küche verkörperten Frauenrolle des Neuen Frankfurt darstellt.

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Anhang

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Margarete Schütte-Lihotzky – Biografie

1897  Margarete Lihotzky wird am 23. Jänner 1897 in Wien in eine bürgerliche, kunstund musikinteressierte Familie geboren. Der Vater ist Staatsbeamter, seine Familie stammt ursprünglich aus Czernowitz. Die Mutter hat norddeutsche Wurzeln und ist mit dem bekannten Kunsthistoriker Wilhelm Bode verwandt. 1897–1915  Gemeinsam mit ihrer um vier Jahre älteren Schwester Adele wächst Margarete Lihotzky im fünften Wiener Gemeindebezirk auf. Nach der Volksund Bürgerschule nimmt sie privat Mal­ unterricht und besucht 1913–1915 die k. k. Graphische Lehr- und Versuchs­a nstalt. 1915–1919  Studium an der Wiener k. k. Kunstgewerbeschule (heute Universität für angewandte Kunst). Bald entschließt sie sich für ein Architekturstudium in der Fachklasse von Oskar Strnad. Daneben ist Heinrich Tessenow (Baukonstruktion) ein wichtiger Lehrer. 1917 gewinnt sie den Max-Mauthner-Preis für »Eine Wohn­ küche in der äußeren Vorstadt« – Strnad hat sie für die Recherche in die Arbeiter­ viertel geschickt. Der Grundstein für ihren Anspruch, mit hoher sozialer Verant­ wortung an jedwede Planung heranzu­ gehen, ist gelegt. 1918 Büropraxis bei Strnad, Entwürfe für Siedlungsbauten und Theaterprojekte. 1919–1920   Nach dem »vorzüglichen« Abgangszeugnis hospitiert sie 1919 in der Fachklasse Strnads. Verleihung des Lobmeyr-Preises 1919 für den Entwurf eines »Kulturpalastes«. Büropraxis bei Architekt Robert Oerley, danach Eröffnung eines eigenen Büros als selbständige Architektin in der Hofburg. Ende 1919 begleitet sie Wiener Kinder auf Erholungs­ urlaub nach Rotterdam, wo sie Kunst­ unterricht gibt und im Architektenbüro Melchior und D. A. Vermeer Jr. arbeitet. Nach der Rückkehr im Sommer 1920 eigene Entwürfe für Siedlungsbauten. 1921–1922  Ab 1921 Tätigkeit für die Erste gemeinnützige Siedlungsgenossenschaft der Kriegsinvaliden Österreichs; gemein­

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sam mit Adolf Loos ist Lihotzky im Bau­ büro der Siedlung Friedensstadt am Lainzer Tiergarten tätig. Bekanntschaft mit Ernst May, als sich dieser zu Recher­ chezwecken in Wien aufhält. May vermittelt die Publikation von Lihotzkys erstem Artikel »Einiges über die Einrich­ tung österreichischer Häuser unter besonderer Berücksichtigung der Sied­ lungsbauten« im »Schlesischen Heim« (1921). Von da an publiziert sie regelmäßig und hält Vorträge, zunächst über die Optimierung des Wohnens auf kleinem Raum. Mitarbeit im Büro Ernst Egli. Ab 1922 für den Österreichischen Verband für Siedlungs- und Kleingar­ tenwesen tätig, wo sie unter anderem Otto Neurath kennenlernt. Beschäftigung mit Rationalisierung der Haus­w irt­ schaft; Lihotzky zeigt auf der 4. Wiener Kleingartenausstellung im Wiener Rathaus ein 1:1-Modell einer Kochnischenund Spülkücheneinrichtung und wird mit der bronzenen Medaille der Stadt Wien ausgezeichnet. 1923–1925  Auf der 5. Wiener Siedlungsund Kleingartenausstellung zeigt sie mehrere Kernhaustypen als 1:1-Modelle, die Type 7 mit multifunktionalen, »einge­ bauten Möbeln«, wofür sie die silberne Medaille der Stadt Wien erhält. 1924 plant sie als eine von acht Architekt/innen 70 Wohnungen im Winarskyhof. Sie erkrankt an Tuberkulose, an der ihre Eltern 1923 und 1924 gestorben sind. In der Lungen­ heilanstalt Grimmenstein entwirft sie eine »Tuberkuloseheilstätte«, der Entwurf wird im Frühjahr 1925 bei der Wiener Hygieneausstellung gezeigt. Nach der Entlassung aus der Heilstätte entwickelt sie »Das vorgebaute raumangepasste Möbel«. Beeindruckt von den Errungen­ schaften des Roten Wien tritt Margarete Lihotzky 1923 oder 1924 der Sozial­ demokratischen Arbeiterpartei Deutsch­ österreichs bei. 1926–1928  Berufung durch Ernst May an das Hochbauamt Frankfurt, an die

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Typisierungsabteilung, wo sie sich mit Wohnungsbau und der Rationalisierung von Hauswirtschaft beschäftigt. Ab Früh­ jahr 1926 bis 1930 hält Lihotzky dazu wiederholt Vorträge, begleitet von intensi­ ver Publikationstätigkeit. Entwurf von Wohnbauten, darunter Reihenhaustypen für Praunheim. Im Herbst 1926 werden erste typisierte Küchen in den Siedlungen Bruchfeldstraße, Praunheim und Ginnheim eingebaut – es werden in Summe rund 10.000 solcher Küchen realisiert. Die Aus­ stellung »Die neue Wohnung und ihr Innenbau« (März/April 1928) trägt maß­ geblich zur Bekanntheit ihres Küchen­ konzepts bei. Im Frühjahr 1927 heiratet sie den Archi­ tekten Wilhelm Schütte (1900–1968), der im Hochbauamt in der Abteilung Schul­ bau arbeitet, das Paar übersiedelt in eine Atelierwohnung. Schütte-Lihotzky über­ nimmt die Bauleitung für den vom Hoch­ bauamt präsentierten Plattenbau auf der Werkbundausstellung in Stuttgart, wo auch ihr Küchentypus zu sehen ist. Sie wird vorrangig mit Frauen betreffenden Bau­ aufgaben betraut, unter anderem stellt sie eine »Wohnung für eine berufstätige Frau« aus (Essen 1927; München 1928) und hält entsprechende Vorträge. Ab 1928 plant sie Schul- und Lehrküchen und (nicht realisierte) Kindergärten für die Siedlungen Ginnheim und Praunheim. Während ihrer Frankfurter Zeit pflegt Schütte-Lihotzky enge Kontakte ins dortige Institut für Sozialforschung. 1927 tritt sie nach dem Wiener Justizpalastbrand »mit einem pathetischen Brief an die Partei­­leitung« aus der sozialdemokrati­ schen Partei aus. 1929–1930  Ernst May organisiert den 2. CIAM-Kongress in Frankfurt zum Thema »Die Wohnung am Existenzminimum«. Schütte-Lihotzky ist gemeinsam mit ihrem Mann an der Ausstellung und mit einem Projekt beteiligt. Durch die Wirtschaftskrise und eine neue Doppelverdienerregelung verliert sie ihre Anstellung und nimmt in

Folge mit Wilhelm Schütte an etlichen Wettbewerben teil. 1930–1933  Auf Einladung von Josef Frank plant sie zwei Einfamilienhäuser in der Wiener Werkbundsiedlung in der Kubatur von 6 × 6 × 6 Metern (1930–1932). Im Oktober 1930 gehen SchütteLihotzky und ihr Mann mit einer Gruppe deutschsprachiger Architekt/innen rund um Ernst May nach Moskau, um beim Aufbau neuer Städte in der Sowjetunion ihre Expertise einzubringen. Die Architektin leitet die Gruppe für Kinderanstalten, plant individuelle, aber auch Typenprojekte für Kinderkrippen, Kindergärten und Klubs und hält fachspezifische Kurse ab. 1933 ist sie auf der Weltausstellung in Chicago vertreten. In Moskau arbeitet sie ab 1933 für das wissenschaftliche Zentralinstitut zum Schutz der Kinder und Heranwachsenden. 1934–1936  Die Schüttes reisen nach Japan, wo sie ihren Freund Bruno Taut besuchen. Eine Vortragsreise führt Margarete SchütteLihotzky durch China, sie erstellt für das chinesische Unterrichtsministerium Richt­ linien für Kindergartenbauten. Zurück in Moskau arbeitet sie für die Architektur­ akademie und entwirft Kindermöbel in Zusammenarbeit mit Ärzten und Pädagogen. Gemeinsam mit Wilhelm Schütte erstellt sie 1935 Pläne für Schulen in Makeevka. 1936/37 arbeitet sie an Typenprojekten für Kindereinrichtungen und Typenmöbeln für verschiedene Volkskommissariate. 1937  Im August 1937 verlässt das Ehepaar Schütte die Sowjetunion: Die Pässe sind abgelaufen – Schütte-Lihotzky ist durch ihre Heirat deutsche Staatsbürgerin –, zudem hat sich das politische Klima massiv verschärft. Über Odessa, Istanbul, Athen und Triest reisen sie nach Frankreich. In Paris, wo sie kurzfristig Arbeit finden, blei­ ben sie ein Jahr. Viele Emigrant/innen leben in der Stadt, es gibt erste Kontakte zu Widerstandskämpfern. Hier begegnet sie erstmals ihrem späteren Lebensge­f ähr­ ten Hans Wetzler (1905–1983).

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1938–1940  Die Schüttes reisen im April 1938 nach London, können dort aber beruflich nicht Fuß fassen. Daher folgen sie einer Einladung Bruno Tauts nach Istanbul, um an der dortigen Académie des beaux-arts für das Unterrichtsministerium zu arbeiten. Schütte-Lihotzky entwirft unter anderem Dorfschulen, die unzählige Male in Selbst­ bauweise errichtet werden. Sie lernt den Architekten Herbert Eich­h olzer kennen, der eine österrei­chische Widerstandsgruppe in der Türkei aufbaut, und wird Mitglied der KPÖ (1939). 1940–1945  Im Dezember 1940 fährt SchütteLihotzky nach Wien, wo sie Kontakte zwischen dem österreichischen Wider­s tand und dem Ausland herstellen soll. Durch Verrat wird sie kurz vor der Rückreise ver­ haftet und entgeht nur knapp der Hin­ richtung. Der Berliner Volksgerichtshof verurteilt sie zu 15 Jahren Haft, die sie im Frauenzuchthaus im bayerischen Aichach verbringen soll. 1945  Im April wird das Zuchthaus Aichach von US-amerikanischen Truppen befreit. Schütte-Lihotzky will am Aufbau der jungen österreichischen Republik mit­ helfen, benötigt aber Monate, bis sie wieder in Wien ist. Ihre Tbc-Erkrankung wird akut, es folgt ein Aufenthalt in der Lungenheilstätte in Hochzirl in Tirol. Zurück in Wien arbeitet sie an der Schaffung eines Bauinstituts für Kinderanstalten. 1946–1948  Da ihr Mann die Türkei nicht sofort verlassen kann, reist ihm SchütteLihotzky entgegen. In Sofia wartet sie auf ihn, baut dort 1946 eine Abteilung für Kindereinrichtungen am Stadtamt auf und plant mehrere Kindergärten und -krippen. Am Neujahrstag 1947 erreicht das Ehepaar Schütte Wien. Schütte-Lihotzky gestaltet die Ausstel­ lungsarchitektur von »Wien baut auf« (1947) und »Wien 1848« (1948). Sie nimmt an den CIAM-Kongressen in Zürich und Bridgwater teil, wo die Gründung einer österreichischen CIAM-Delegation beschlossen wird. Schütte-Lihotzky wird

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Präsidentin des Bundes Demokratischer Frauen und ist als Delegierte in der Internationalen Demokratischen Frauen­ födera­t ion engagiert. 1948–1967  Gemeinsam mit ihrem Mann, von dem sie sich 1951 trennt, und teils mit Fritz Weber gestaltet sie Denkmäler für Widerstandskämpfer (1948–1953). Eben­ falls als Gemeinschaftsprojekt mit Schütte entstehen Bauten für die KPÖ und der KPÖ nahestehende Auftraggeber, darunter der Kärntner Volksverlag (1948–1950), die Druckerei und das Verwaltungsge­ bäude des Globus Verlags (1953–1956) und etliche Festdekorationen (1950–1959). Schütte-Lihotzky nimmt am CIAMKongress in Bergamo (1949) teil, referiert am Wiener Kongress 1951 über »Bauten für Kinder« und stellt mit der österrei­ chischen CIAM-Gruppe in Wien 1953 aus. Sie unternimmt viele Reisen, darunter 1956 eine Studienreise nach China; ihr Buch­m anuskript »Millionenstädte Chinas« wird erst 2007 postum veröffentlicht. Im aufkommenden Kalten Krieg erhält die Kommunistin Schütte-Lihotzky kaum noch öffentliche Aufträge von der Stadt Wien; Ausnahmen sind ein Wohnbau in der Barthgasse (gemeinsam mit Wilhelm Schütte, 1949/50) und einer in der Schüttelstraße (1952–1956). Auch als internationale Expertin für Kinder­ bauten wird sie von der Stadt Wien nur zweimal eingeladen: 1950–1952 entsteht der Kindergarten am Kapaunplatz, 1961– 1963 wird das Kindertagesheim in der Rinnböckstraße nach dem von ihr ent­ wickelten Pavillonsystem realisiert. Ihr 1964–1968 entwickeltes »Baukasten­ system für Kindertagesheime« wird trotz mehrmaligen Vorschlags nicht umgesetzt. Anderswo weiß man ihre Expertise zu schätzen: 1961 und 1963 ist sie in Kuba, wo sie eine Entwurfslehre für Kinderanstalten für das Erziehungs­ ministerium erarbeitet. 1966 arbeitet sie an der Bauakademie in Ostberlin und erstellt eine Forschungsarbeit über die

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Kinderanstalten in der DDR. Sie hält sich nun regelmäßig in Ostberlin auf, wo ihr Lebensgefährte Hans Wetzler seit 1963 wohnt. 1967–1975  Seit 1967 plant sie ihre neue Wohnung in der Franzensgasse (bis 1969). Nach einem Aufenthalt in der Lungenheil­ stätte Schwarzach kann sie einziehen. 1975 arbeitet sie an einem Terrassenhaus­ projekt. Zeitgleich beginnt sie auf mehr­ faches Drängen ihre Erinnerungen nieder­ zuschreiben. 1975–1999  Ab Mitte der 1970er Jahre wird Schütte-Lihotzky »wiederentdeckt«. Sie erhält zahlreiche Ehrungen und Auszeich­ nungen, darunter den Preis für Architektur der Stadt Wien (1980), universitäre Ehrenmitgliedschaften (Hochschule für angewandte Kunst Wien, 1987; Hoch­ schule der Bildenden Künste in Hamburg, 1991), Ehrendoktorate (TU Graz, 1989; TU München, 1992; TU Wien, 1994), den Preis der IKEA Foundation Amsterdam (1989). Die Republik Österreich ehrt sie mit dem Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst (1992) und dem Großen Goldenen Ehrenzeichen mit dem Stern für Verdienste um die Republik Österreich (1997). In Radstadt, wo Schütte-Lihotzky jahrzehntelang den Sommer verbracht hat, wird ein Platz nach ihr benannt (1997). 1985 erscheint ihr Buch »Erinnerungen aus dem Widerstand.« (Neuauflagen 1995 und 2014). Schütte-Lihotzky tritt nun vermehrt als »mahnende Zeitzeugin« auf. Den Aufstieg der FPÖ beobachtet sie mit Sorge. 1995 verklagt sie gemeinsam mit vier anderen Verfolgten der NS-Zeit den FPÖ-Vorsitzenden Jörg Haider, weil er sich verharmlosend über die nationalsozialis­ tischen Konzentrationslager geäußert hat. Schütte-Lihotzkys architektonische Arbeit findet Eingang in zahlreiche Ausstellungen, darunter »Architektinnen in Österreich 1900–1987« (Wien; USA). Einen Höhepunkt bildet die große Gesamt­ ausstellung »Margarete Schütte-Lihotzky. Soziale Architektur – Zeitzeugin eines

Jahrhunderts« im Wiener MAK 1993 (modi­ fiziert in Mailand, 1996). Sie wird häufig zu Vorträgen auch außerhalb Österreichs eingeladen. Teile ihrer Lebens­e rinnerungen erscheinen erst postum unter dem Titel »Warum ich Architektin wurde« (2004, Neuauflage: 2019). 2000  Am 18. Jänner, wenige Tage vor ihrem 103. Geburtstag, stirbt Margarete SchütteLihotzky in Wien.

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Auswahlbibliografie

Diese Bibliografie gibt einen kleinen Über­ blick über eigene Buchpublikationen von Margarete Schütte-Lihotzky, über Dokumen­ tationen zu ihrem Leben und Werk sowie über kurzbiografische Texte und Werke der Sekundärliteratur, die sich im engeren Sinne biografisch mit der Architektin befassen. Margarete Schütte-Lihotzky: Erinnerungen aus dem Widerstand, hg. von Chup Friemert, Hamburg 1985.

Thomas Flierl/Claudia Quiring: SchütteLihotzky, Margarete (auch Grete), in: Akteure des Neuen Frankfurt. Biografien aus Architektur, Politik und Kultur, hg. von Evelyn Brockhoff u. a., Frankfurt am Main 2016, S. 177–179. Edith Friedl: Nie erlag ich seiner Persön­lich­ keit … Margarete Lihotzky und Adolf Loos. Ein sozial- und kulturgeschichtlicher Vergleich, Wien 2005.

Margarete Schütte-Lihotzky: Erinnerungen aus dem Widerstand. Das kämpferische Leben einer Architektin von 1938–1945, hg. von Irene Nierhaus, Wien 1994 (Neuauflagen: Wien 1998 und 2014).

Susan R. Henderson: Revolution in the Women’s Sphere: Grete Lihotzky and the Frankfurt Kitchen, in: Debra Coleman/ Elizabeth Danze/Carol Henderson (Hg.): Architecture and Feminism, New York 1996, S. 221–253.

Margarete Schütte-Lihotzky: Warum ich Architektin wurde, hg. von Karin Zogmayer, Salzburg 2004 (Neuauflage: Wien 2019).

Ich bin keine Küche. Gegenwartsgeschichten aus dem Nachlass von Margarete SchütteLihotzky, hg. von Patrick Werkner, Wien 2008.

Margarete Schütte-Lihotzky: Millionenstädte Chinas. Bilder- und Reisetagebuch einer Architektin (1958). Mit einem Nachwort von Albert Speer, hg. von Karin Zogmayer, Wien/ New York 2007.

Magdalene Köster: »Ich bin eine alte Sys­ tematikerin«. Margarete Schütte-Lihotzky, Architektin, in: dies./Susanne Härtel (Hg.): »Sei mutig und hab Spaß dabei«. Acht Künstlerinnen und ihre Lebensgeschichte, Weinheim/Basel 1998, S. 155–188.

Marcel Bois: »Bis zum Tod einer falschen Ideologie gefolgt«. Margarete SchütteLihotzky als kommunistische Intellektuelle, in: Zeitgeschichte in Hamburg 2017, hg. von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg 2018, S. 66–88.

Uta Maasberg/Regina Prinz: Margarete Schütte-Lihotzky – »Ich bin ein schrecklich systematischer Mensch«, in: dies.: Die Neuen kommen! Weibliche Avantgarde in der Architektur der zwanziger Jahre, Hamburg 2004, S. 61–67.

Marcel Bois: Margarete Schütte-Lihotzky und das Frankfurter Institut für Sozialforschung, in: maybrief 049, Juni 2018, S. 16f.

Margarete Schütte-Lihotzky. Soziale Architek­ tur. Zeitzeugin eines Jahrhunderts, Aus­ stellungskatalog, MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst, Wien, hg. von Peter Noever, Wien 1993 (2. Auflage: Wien/ Köln/Weimar 1996).

Eine von vielen. Kassiber von Elfriede Hartmann und Tagebuchauszüge von Margarete Schütte-Lihotzky, gelesen von Johanna Mertinez und Katharina Stemberger, Konzept: Johanna Mertinez, CD, Wien [ca. 2012].

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Eva B. Ottillinger: Die Architektin Margarete Schütte-Lihotzky, in: maybrief 044, Septem­ ber 2016, S. 11–13.

Auswahlbibliografie

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Sonia Ricon Baldessarini: Margarete SchütteLihotzky. Bauen und Leben mit sozialer Verantwortung, in: dies.: Wie Frauen bauen. Architektinnen von Julia Morgan bis Zaha Hadid, Berlin 2001, S. 64–80. Tanja Scheffler: Margarete Schütte-Lihotzky. Küche, Kinder, Kommunismus, in: Frau Architekt. Seit mehr als 100 Jahren: Frauen im Architektenberuf, hg. von Mary Pepchinski u. a., Tübingen 2017, S. 122–129. Wilhelm Schütte/Margarete Schütte-Lihotzky: »Mach den Weg um Prinkipo, meine Gedanken werden Dich dabei begleiten!«. Der Ge­f ängnis-Briefwechsel 1941–1941, hg. von Thomas Flierl, Berlin 2019. Wilhelm Schütte. Architekt. Frankfurt, Moskau, Istanbul, Wien, hg. von ÖGFA – Österreichische Gesellschaft für Architektur/ Ute Waditschatka, Zürich 2019. Anita Zieher: Auf Frauen bauen. Architektur aus weiblicher Sicht. Mit einem Beitrag von Ulla Schreiber und einem Gespräch mit Margarete Schütte-Lihotzky, Salzburg 1999. Jutta Zwilling: »Ich würde es genossen haben, ein Haus für einen reichen Mann zu entwerfen«. Margarete Schütte-Lihotzky: Architektin – Widerstandskämpferin – Kommunistin, in: Evelyn Brockhoff/Ursula Kern (Hg.): Frankfurter Frauengeschichte(n), Frankfurt am Main 2017, S. 190–205. Christine Zwingl: Grete Lihotzky, Architektin in Wien, 1921–1926, in: Doris Ingrisch/Ilse Korotin/Charlotte Zwiauer (Hg.): Die Revo­ lutionierung des Alltags. Zur intellektuellen Kultur von Frauen im Wien der Zwischen­ kriegszeit, Frankfurt am Main 2004, S. 243–251.

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Namensregister

A Abraham, Alfred  48 Achleitner, Friedrich  27, 52, 58 Aduatz, Wilhelm  219 Alexejew, Iwan  129

Conrads, Ulrich  59 Cremer, Fritz  218, 220 Cullen, Gordon  166 Czernin, Peter  220

Altmann-Postranecky, Hella  254, 282 Appel, Carl  147 Atatürk, Mustafa Kemal  215

D De Benedetti, Leonardo  67 Deutsch, Julius  187 Dicker, Friedl  40f., 47, 302, 307 Dimitroff, Georgi  118, 240f. Doll, Karl  209 Domnosil, Friederike  42f. Döring-Kuras, Hilda  44 Duclos, Jacques  231 Duncker, Hermann  235

B Bachmayr-Heyda, Georg  222 Balmumcu, Şevki  128 Balser, Ernst  97 Barannikov, M. G.  161 Barthes, Roland  62 Baum, David  10 Baumfeld, Maurice  46 Bayer, Karl  219 Beer, Ingeborg  314 Behrens, Peter  30, 50, 209 Bernatzik, Hugo  245 Bernheimer, Ilse  45 Blau, Eve  72 Bloch, Ernst  47 Bloch, Karola  46f., 172f., 180 Blonskij, Pavel B.  296 Blum, Léon  229 Bode, Wilhelm  342 Bois, Marcel  10, 56, 269, 281 Bolldorf-Reitstätter, Martha  50 Bollnow, Otto Friedrich  287 Bolz, Lothar  170 Bonte, Florimond  231 Brecht, Bertolt  204 Brenner, Anton  89, 95 Briggs-Baumfeld, Ella  46 Brunsvik Korompa, Theresia  299 Bruyère, André  220 Buettner, Dan  21 Burkhardt, Hans  121 C Chaplin, Charles  109 Chmel, Lucca  174 Chruschtschow, Nikita  111, 178 Churchill, Winston  248 Close, Lisl  46 Close, Winston  46

348

E Ecker, Dietrich  203 Eder, Karl  221 Egger, Othmar  218 Egli, Ernst  65, 127, 134f., 137, 342 Eichholzer, Herbert  12, 34, 50, 138, 196–207, 242f., 248, 344 Eisler, Hanns  254 Eller, Fritz  219 Elsaesser, Martin  209–211 Engelmeier, Martin  206 Engels, Friedrich  153, 198, 231 Ermers, Max  65, 72, 185 Escher, Hans  229 Euler, Monika  219 F Feuerlöscher, Herbert  199, 242f., 247f. Figl, Leopold  255, 264 Fingerlos, Margarete  43 Fischer, Ernst  234 Fischer, Ruth  236 Fischer, Theodor  209 Flagmeier, Renate  316f. Flierl, Bruno  178 Flierl, Thomas  10, 67, 150 Flöckinger, Ida  271 Forbat, Fred  108, 219 Forestier, Pierre  214 Fostel, Kai  222 Fraberger, Ingrid  260

Frank, Josef  30, 43, 66, 78, 85, 205, 215, 218, 343 Freyler, Fred  219 Friemert, Chup  22, 59f., 66, 114 Fröbel, Friedrich Wilhelm  286, 288f., 293, 299, 305 Fülberth, Georg  265 Fürnberg, Friedl  262 G Gad, Dora  47f. Gasparjan 116 Gauß, Karl-Markus  52 Genner, Laurenz  261 Gerhard, Ellen  116 Gerlach, Laura J.  9, 334 Giedion, Sigfried  144, 217 Gillick, Liam  61–63, 338f. Glück, Elisabeth  44 Gnaiger, Adelheid  49 Goebbels, Joseph  260 Goldberg, Yehezkel  48 Goldemund, Heinrich  42 Gomperz, Adele  45 Grigkar, Erna  44 Gropius, Walter  205 Grün, Anna  271 Grünberg, Carl  32, 191 Guratzsch, Dankwart  169 H Haerdtl, Oswald  43, 45, 148, 218 Haider, Jörg  8, 68, 345 Hainisch, Henriette  270 Hanakam, Adele  33, 56, 101, 103, 109, 111, 115, 117, 119–121, 213, 243, 342 Hannak, Jacques  262 Hartl, Isabella  49, 50 Hassinger, Hugo  141 Haubrich, Rainer  169 Häupl, Michael  8, 16 Hebebrand, Werner  102, 108, 110, 122, 175, 212, 214 Heindl, Gabu  206 Heinze, Kristin  291 Heller, Fritz  228f. Heller, Käte  228

Namensregister

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23.09.19 09:42

Helmer, Oskar  256 Henderson, Susan  72, 83, 316 Henselmann, Hermann  177 Hillinger Franz  215 Himmler, Heinrich  115

Koller-Buchwieser, Helene  49 Konopicky, Anton  246 Konopicky, Therese  246, 249 Koppel, Kurt  245–250 Kornweitz, Julius  243f., 246

Loos, Lina  271 Lorenz, Karl R.  219 Lorenz, Karl Raimund  219 Lubitsch, Ernst  118 Lucka, Dora  190

Hitler, Adolf  244, 250, 253, 257, 263 Hittaller, Irene  49 Hochhäusl, Sophie  10 Hoffmann, Hans  303 Hoffmann, Josef  39, 42f., 65 Höhne, Günter  100, 113, 116 Holey, Karl  46 Hollitscher, Violetta  233 Hollitscher, Walter  233–235, 256 Holzbauer, Wilhelm  219 Holzinger, Elisabeth  227 Holzmeister, Clemens  44, 50, 134, 197f., 201–203 Horak 231 Hornung, Ela  261 Huemer, Peter  24, 68, 257 Hügli, Anton  291f.

Kosel, Gerhard  178 Kovarik, Poldi  249 Kramer, Ferdinand  95 Kramer, Lore  314 Kratz (Ehefrau von Walter Kratz)  114f. Kratz, Walter  114 Krauss, Josefine  49 Krausse, Joachim  319, 321 Krestinski, Nikolai  104 Kundl, Brigitte  49 Kunz, Walter  116 Kurrent, Friedrich  219, 222 Kutyrna, Anna  149

Luire, Moissej  115 Lurçat, André  214, 216, 218 Lutz, Petra  324

I Ilz, Erwin  46 Iofan, Boris  129 Itten, Johannes  41 J Janstein, Elisabeth  81 Joliot-Curie, Frédéric  204 Jonas, Franz  156 K Kahane, Grete  245, 248–250 Kamenew, Lew 114 Kampffmeyer, Hans  72f., 75 Karamustafa, Gülsün  133–135 Karsen, Fritz  210, 212f. Kaufmann, Eugen  90, 94f., 211, 300 Kaufmann, Oskar  48 Keller, Alfred  46 Kellermüller, Adolf  303 Kirilzewa, Ludmilla  149 Klapholz, Anna  47 Knepler, Georg  256 Koerrenz, Ralf  287 Köhler, Hermann  241

Namensregister

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L Lacis, Asja  110 Lammert, Will  214 Landau, Frank  335 Lang, Fritz  118 Lang, Lukas  222f. Lassmann, Edith  48f. Le Corbusier  59, 199, 205, 218 Lehmann, Karl  121 Leistikow, Grete  97, 110 Leistikow, Hans  108, 110 Lenin, Wladimir Iljitsch  117, 171 Leutgeb, Lambert  248, 250 Levi, Primo  67 Li Fuchun  162 Liang Sicheng  163 Liebknecht, Kurt  169f., 173–175, 180f. Lihotzky, Erwin  19, 28, 239, 342 Lihotzky, Gustav  239 Lihotzky, Julie  19, 342 Lindner, Johann  299 Lippert, Georg  147 Löcher, Albert  211 Lods, Marcel Lohner, Gerhard  43 Loos, Adolf  28, 46, 57, 65, 70, 72–74, 76f., 80, 83, 85, 87, 185, 205, 342

M Maier, Ines Victoria  50, 199, 201f. Malsch, Fritz  96 Mao Zedong  153f., 162f. Marek, Franz  229, 234 Maria Karolina Augusta, Kaiserin  299 Marinelli, Wilhelm  153 Marx, Karl  198, 231 Maslow, Arkadi  236 May, Ernst  28, 30f., 33, 57, 65, 87, 91, 94, 98, 100–106, 118, 120f., 126, 169, 178, 180, 199f., 203, 205, 208, 210–212, 219, 239f., 300, 302, 304, 314, 326–328, 332, 342f. Menges, August  89 Meyer, Erna  330 Meyer, Hannes  111, 116, 214 Meyer, Kurt  115 Migge, Leberecht  74, 83, 85 Mollenhauer, Klaus  292 Montessori, Maria  287, 296, 300 Morus, Thomas  292 Moser, Erich  219 Mugrauer, Manfred  271, 282 Murnau, Friedrich Wilhelm  118 N Neruda, Pablo  22 Neurath, Marie (= Reidemeister, Marie)  46, 190–193 Neurath, Olga  190 Neurath, Otto  12, 46, 65, 75–77, 81f., 85, 121, 184–194, 205, 235, 342 Niederkofler, Heidi  282 Niedermoser, Otto  43 Niegemann, Johan  120 Nießen, Elisabeth  42

349

23.09.19 09:42

Nora, Pierre  63 Novotny, Rudolf  200 Novy, Beatrix  163 O Oelsner, Gustav  127 Oerley, Robert  342 Öhler, Franz  244 Olbrich, Joseph Maria  209 Osten, Marion von  316 Ottillinger, Eva  35 Owens, Robert  298 P Pecha, Albert  299 Peichl, Gustav  219 Pelinka, Anton  264 Perret, Auguste  214 Picasso, Pablo  204 Pieck, Arthur  118 Pilewski, Leonie  45f. Plischke, Ernst  50 Plojhar, Ernst  145 Poelzig, Hans  47 Popp, Alexander  50 Potyka, Hugo  219 Prader, Herbert  219 Praun, Anna Lülja  197, 203 Prehsler, Herbert  219 Prost, Henri  216 Pullmann, Wilhelm  211 Puschmann, Erwin  238, 244, 246–249 Puschmann, Hella  249 R Radványi, László  236 Rainer, Roland  23 Rapoport, Ingeborg  233 Rapoport, Samuel Mitja  233f., 256 Rathkolb, Oliver  258 Rehberger, Tobias  336f. Reichl, Fritz  201 Reidemeister, Marie siehe Neurath, Marie Reinhardt, Max  118 Renner, Karl  187, 254 Riefenstahl, Leni  51

350

Rieger-Ladich, Markus  287 Rodeck, Melita  49 Roque-Gourary, Judith  52 Roth, Alfred  219 Roth, Helene  47

Siegel, Dora siehe Gad, Dora Singer, Franz  40f., 302, 307 Sinowjew, Grigori  114f. Skala, Erik  45 Skala, Lilia  45

Rotifer, Robert  62f. Roubiczek, Lili  302 Rousseau, Jean-Jacques  286, 288–291, 293 Rudsutak, Jan  104 Runge, Philipp Otto  290f.

Smith, Sidonie  62 Spalt, Johannes  219 Sparke, Penny  315 Spiluttini, Margherita  53f., 62 Stalin, Josef  116f., 240, 244 Stam, Mart  108, 121, 200 Stein, Sepp  219 Steinbüchel-Rheinwall, Rambald von 219 Steiner, Rudolf  287 Sterk, Harald  59, 205 Stern, Leo  256 Stiefel, Dieter  260 Stransky, Michael  102 Strasburger, Dr.  97 Strauß, Johann  16, 25 Strnad, Oskar  28, 30, 39, 42, 44, 50, 65, 205, 239, 342 Sturm, Margit  261 Subik, Maria  273 Süe, Louis  216 Sulka, Erich  219

S Saldern, Adelheid von  315 Sandner, Günther  72 Schafhausen, Nicolaus  338 Schärf, Adolf  264 Schdanow, Andrej  264 Scheiger, Gustav  204 Scheu-Riesz, Helene  46 Scheu, Gustav  46, 72 Schlichting, Werner  51 Schmidt-Imboden, Lilly  108–110 Schmidt, Hans  108–110, 113, 178–180, 200 Schmidt, Jakow Pavlowitsch  109 Schmidt, Madleen  108f. Schöbl, Ilse  224 Scholem, Emmy  235 Scholem, Werner  235 Schostakowitsch, Dmitri  109 Schubert, Franz  25 Schulz, Walther  104, 108 Schütte, Elisabeth  115 Schuster, Franz  95, 141, 302 Schütte, Johann  209 Schütte, Wilhelm  10, 12, 23, 32–35, 51, 54, 56, 67f., 97f., 102–111, 116–120, 122, 126–130, 137– 139, 144, 146, 149f., 155, 169f., 175, 198, 208–223, 226f., 229, 239f., 247, 343f. Schwagenscheidt, Walter  106 Schwager, Irma  62, 273 Schwanzer, Karl  218 Seghers, Anna  235 Seitz, Karl  187 Sekler, Eduard  219

T Tabor, Jan  205 Tandler, Julius  110 Taut, Bruno  34, 47, 59, 106, 126f., 136f., 197, 200, 205, 210, 212–216, 241, 329, 343f. Taut, Erika siehe Wittich, Erica Taylor, Frederick Winslow  30 te Heesen, Anke  323 Tessenow, Heinrich  39, 42, 65, 342 Theiss, Siegfried  38, 46 Toprak, Burhan  216 Tozan, Lütfi  137, 215 Tratz, Eduard  157 Trauzettel, Helmut  179, 223 Trotzki, Leo  115 Turrini, Peter  59f., 67 Tweraser, Kurt  257

Namensregister

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23.09.19 09:42

U Uhlig, Günther  163 Urban, Gisela  31, 33 V van Gogh, Vincent  52 Vermeer, Melchior  342 Vermeer, D. A. Jr.  342 Vigotsky, Lev  296 Vossoughian, Nader  72 Vranitzky, Franz  8

Zhou Enlai  154, 162 Zimbler, Liane  39f. Zogmayer, Karin  10, 64, 156 Zweig, Egon  45 Zweig, Judith  45 Zweig, Stefan  45, 239

W Wagner, Martin  127 Waldapfel, Arthur  201 Waldbrunner, Karl  263 Waldheim, Kurt  68, 205 Walter, Robert  219 Wangenheim, Gustav von  118f. Watson, Julia  62 Weber, Fritz  146, 149, 221, 223, 344 Webern, Anton von  25 Weiner, Tibor  214 Weinert, Willi  229 Weiser, Rosa  43, 45 Weitz, Franz  114–116 Welzenbacher, Lois  44 Wertheimer, Josef Ritter von  298f. Wesnin, Alexander  129 Wesnin, Wiktor  129 Wetzler, Hans  12, 23, 65, 224–236, 343, 345 Wetzler, Herbert Oskar  228 Wetzler, Olga  228, 231 Wetzler, Richard  228 Wilderspin, Samuel 298f. Wilson, Francesca  82 Wittich, Erica  115, 213 Wlach, Oskar  43 Wright, Frank Lloyd  59 Y Young Chang, Helen  10 Z Zak, Margarete  44f., 49 Zanke, Susanne  59, 62 Zenter, Charlotte  45

Namensregister

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23.09.19 09:42

Abkürzungsverzeichnis

Bildnachweise

Az W  Architekturzentrum Wien BS  Bestand Stransky, Graz BArch  B undesarchiv DÖL  Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur

Zogmayer UaK, NL MSL, F/528

DÖW  Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands, Wien ISG  Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main NL MSL  Nachlass Margarete Schütte-Lihotzky NL MSL, WS  Nachlass Wilhelm Schütte ÖGFA  Österreichische Gesellschaft für Architektur, Wien ÖNB  Österreichische Nationalbibliothek, Wien ÖStA/AdR Österreichisches Staatsarchiv/Archiv der Republik, Wien RGASPI  Russisches Staatsarchiv für sozial-politische Geschichte in Moskau UaK  Archiv der Universität für angewandte Kunst, Wien WStLA  Wiener Stadt- und Landesarchiv, Wien ZPA KPÖ  Zentrales Parteiarchiv der KPÖ, Wien

Zwingl UaK, NL MSL, 197/TXT Plakolm-Forsthuber Abb. 1: ÖStA/AdR, HBbBuT BMfHuW Titel ZivTech S-Z 9343, Schütte-Lihotzky Margarethe, GZl. 220.091-I/1-48 Abb. 2: UaK, 9394/1 Abb. 3: Ran Shechori: Dora Gad. The Israeli Presence in Interior Design, Tel Aviv 1997, S. 166 Abb. 4: Privatbesitz Reinhold Abb. 1 und 3: Margherita Spiluttini Fotoarchiv, Architekturzentrum Wien Abb. 2: Robert Rotifer/Lelo Brossmann. Aus dem Video »Rotifer – ›The Frankfurt ‹« (Wohnzimmer Records 2008) Hochhäusl Abb. 1: UaK, NL MSL, TXT/2 Abb. 2: Horst Zecha (Heimatrunde Hubertus), Geschichteverein der Siedlung Friedensstadt Abb. 3: UaK, NL MSL, PRNR 24/1, Foto: Robert Newald Abb. 4: Foto: Verband der Kleingärtner Österreichs Abb. 5: UaK, NL MSL, PRNR 34/11, Foto: Robert Newald Quiring Abb. 1: UaK, NL MSL, F/93 Abb. 2: ISG/Hermann Collischon Abb. 3: UaK, NL MSL, 50/5A/TXT Abb. 4: UaK, NL MSL, F/91

352

Flierl Abb. 1: Ščusev-Museum Moskau Abb. 2: Aus: Evgenija Konyševa/Mark Meerovič: Linkes Ufer, rechtes Ufer. Ernst May und die Planungs­ geschichte von Magnitogorsk (1930–1933), hg. von Thomas Flierl, Berlin 2014, S. 70. Abb. 3: UaK, NL MSL, PRNR 116/7/ FW Abb. 4: UaK, NL MSL, PRNR 118/7/ FW Abb. 5: UaK, NL MSL, PRNR 119/1 Abb. 6: UaK, NL MSL, PRNR 121/23 Dogramaci Abb. 1: UaK, NL MSL, PRNR 134/2, Reprofoto: Robert Newald Abb. 2: UaK, NL MSL, PRNR 136/2 Abb. 3: UaK, NL MSL, PRNR 136/15 Abb. 4: Courtesy of the artist and Burosarigedik Abb. 5: UaK, NL MSL, PRNR 135/19 FW Platzer Abb. 1: UaK, NL MSL, PRNR 152/6/ FW, Foto: Pressestelle der Stadt Wien, Bilderdienst Abb. 2: UaK, NL MSL, TXT 382 Abb. 3: UaK, NL MSL, PRNR 190, Quelle: WStLA Young Chang Abb: 1: UaK, NL MSL, F/CH/268 Abb. 2: UaK, NL MSL, F/CH/327 Abb. 3: UaK, NL MSL, TXT/287/A (Margarete Schütte-Lihotzky, Peking, Separatum – Manuskript »Casa Bella«) Abb. 4: UaK, NL MSL, PRNR 195/5, Foto: Robert Newald Abb. 5a: UaK, NL MSL, F/CH/36 Abb. 5b: UaK, NL MSL, PRNR 195/63A/FW

Abkürzungsverzeichnis & Bildnachweise

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Aßmann Abb. 1: BArch Berlin, DH/2/3055: Kindertagesstätten, Kinderwochenheime Abb. 2: ÖNB Wien / Chmel 6979 Abb. 3: Foto: Carla Aßmann Sandner Abb. 1: Josef Böhmer/Verein für Geschichte der ArbeiterInnen­ bewegung Wien Abb. 2: UaK NL MSL, TXT/280/9 Senarclens de Grancy Abb. 1, 2: Archiv TU Graz Abb. 3: Stimme der Frau, 1961 Baum Abb. 1: UaK, NL MSL, F/97 Abb. 2: UaK, NL MSL, F/164 Abb. 3: ÖGFA, Foto: Karin Mack Bois Abb. 1: UaK, NL MSL, Hans I, Mappe »Letzter Wille«, Q/164/1/3/F Abb. 2: UaK, NS MSL, Persönliche Fotos 1897–1989, Fotos 1940– 1979, F/247 Abb. 3: UaK, NL MSL, Hans I, Mappe »Letzter Wille«, Q/164/1/1/F Abb. 4: UaK, NL MSL, Hans I, Mappe »Letzter Wille«, Q/164/1/2/F Boeckl-Klamper Abb. 1, 2: DÖW, Foto 1065 und 49 Abb. 3: Bildarchiv der KPÖ Mugrauer Abb. 1: UaK, NL MSL, F/169 Abb. 2,3: Privatbesitz

Engelmann Abb. 1: Kunsthalle Hamburg Abb. 2: UaK, NL MSL, 172/87/FW Abb. 3: Aus: Der 150. Kindergarten der Stadt Wien »Friedrich Wilhelm Fröbel«, XX, Kapaunplatz«, hg. vom Stadtbauamt der Stadt Wien, Wien 1952, S. 61 Freyer Abb. 1: UaK, NL MSL, 80/10/TXT Abb. 2: Aus: Aрхитектура за рубежом (Architektur im Aus­ land), 5, Moskau 1935, S. 15 Abb. 3 und 5: Aus: Margarete Schütte-Lihotzky. Soziale Archi­ tektur. Zeit­zeugin eines Jahrhun­d erts, Ausst.-Kat. MAK – Österrei­chisches Museum für ange­­wan­d te Kunst, hg. von Peter Noever, Wien 1993, S. 152 und 225 Abb. 4: Aus: Der 150. Kindergarten der Stadt Wien »Friedrich Wilhelm Fröbel« XX., Kapaunplatz, hg. vom Stadtbauamt der Stadt Wien, Wien 1952, S. 17 Abb. 6: UaK, NL MSL, 198/69/O, Foto: Christoph Freyer

Deutsch Abb. 1: Privatbesitz Abb. 2: UaK, NL MSL 50/43 Abb. 3: Privatbesitz Abb. 4 und 6: Foto: Laura Gerlach Abb. 5: Foto: Marie-Theres Deutsch Abb. 7: Tobias Rehberger, Courtesy des Künstlers und Galerie Urs Meile, Peking-Luzern Abb. 8: Sammlung Guggenheim Bilbao, Schenkung des Künstlers mit großzügiger Unterstützung von Casey Kaplan Gallery, New York, und Esther Schipper, Berlin

Sämtliche Rechte für Werke von Margarete Schütte-Lihotzky liegen bei den Rechtsnachfolgern. Wir haben uns bemüht, alle etwaigen Bildrechte ausfindig zu machen und anzuführen. Bei Mängeln oder Fehlern ersuchen wir um Mitteilung an die Herausge­ber/in.

Söll Abb. 1: © 2018 Digital Image, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence Abb. 2: Germanisches National­ museum, Nürnberg, Foto: M. Runge Abb. 3: Sammlung Werkbundarchiv – Museum der Dinge Berlin Abb. 4: © MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst/Kristina Wissik

Schneider Abb. 1: Bildarchiv der KPÖ Abb. 2, 3: Archiv KPÖ

Bildnachweise

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Autorinnen und Autoren

Carla Aßmann, MA, Jg. 1982. Studium der Kulturwissenschaft an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder und der Historischen Urbanistik an der TU Berlin. Laufendes Promotionsprojekt über Groß­ wohnsiedlungen der 1960er Jahre, begonnen im Rahmen der Leibniz-Graduate-School »Enttäuschung im 20. Jahrhundert«, getragen von der Ludwig-Maximilians-Universität München und dem Institut für Zeitgeschichte München–Berlin. Bis März 2019 wissen­ schaftliche Mitarbeiterin im Leitprojekt »Kon­ fliktfeld autogerechte Stadt« der Historischen Forschungsstelle am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung in Erkner. Forschungsschwerpunkte: Stadt- und Urbani­ sierungsgeschichte sowie Nachkriegs­ moderne in Ost und West. Gerald Bast, Dr. jur., Jg. 1955. Seit 2000 Präsident der Universität für angewandte Kunst in Wien. Nach Studien der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften und Promotion Tätigkeit im Bundesministerium für Wissen­ schaft und Forschung und in der Ludwig Boltzmann Forschungsgesellschaft. Als Rektor der Angewandten initiierte er neue, disziplinenübergreifende Programme in Lehre und Forschung sowie das »Angewandte Innovation Lab«, das die Interkommunikation zwischen Kunst, Wissenschaft und Tech­ nologie, Wirtschaft und Politik betont. In diesen Bereichen ist Bast auch als Autor und Vortragender bei internationalen Konferenzen tätig. David Baum, MArch, Jg. 1974. Architekturstudium an der TU Wien, der Universität für angewandte Kunst Wien und der Universität für künstlerische und indus­ trielle Gestaltung Linz. Langjährige Mitarbeit im Architekturzentrum Wien in den Bereichen Bibliothek, Archiv/Sammlung, AchleitnerVerein. Mitglied des »forum experimentelle architektur«. Derzeit PhD-Projekt zu Wilhelm Schütte an der Universität Gent. Veröffentlichungen u. a.: Wilhelm Schütte und die Ära des Reformschulbaus im Neuen

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Frankfurt (1925–1930); Wilhelm Schütte als Vermittler und Architekt im Nachkriegs-Wien (1947–1968), in: Wilhelm Schütte Architekt. Frankfurt – Moskau – Istanbul – Wien, hg. von der Österreichischen Gesellschaft für Architektur/Ute Waditschatka, Zürich 2019. Elisabeth Boeckl-Klamper, Dr. phil. Studium der Geschichte und Deutschen Philologie an der Universität Wien, seit 1991 wissen­ schaftliche Mitarbeiterin des Dokumentations­ archivs des österreichischen Widerstandes (DÖW), daneben wissenschaftliche Mit­ arbeiterin bzw. Kuratorin zahlreicher Ausstel­ lungen, etwa für das Jüdische Museum der Stadt Wien. Autorin zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen, zuletzt zusammen mit Thomas Mang und Wolfgang Neugebauer: Die Gestapo-Leitstelle Wien 1938–1945, Wien 2018. Marcel Bois, Dr. phil., Jg. 1978. Studium der Geschichte, Soziologie und Kunstgeschichte an den Universitäten Konstanz und Hamburg, Promotion an der TU Berlin. Assoziierter Wissenschaftler an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und Lehrbeauf­ tragter an der Ruhr-Universität Bochum. Postdoc-Projekt zur Biografie Margarete Schütte-Lihotzkys, gefördert von der GerdaHenkel-Stiftung. Veröffentlichungen zum Kommunismus der Zwischenkriegszeit, u. a.: Kommunis­t en gegen Hitler und Stalin. Die Linke Oppo­s i­t ion der KPD in der Weimarer Republik. Eine Gesamtdarstellung, Essen 2014 (2. Aufl. 2016); »Bis zum Tod einer falschen Ideologie gefolgt«. Margarete Schütte-Lihotzky als kommunistische Intellektuelle, in: Zeit­ geschichte in Hamburg 2017, hg. von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg 2018. Helen Young Chang, MA, Jg. 1977. Studium der Kulturanthropologie und vergleichenden Literaturwissenschaft an der Columbia Univer­ sity und der Duke University. Schriftstellerin

Autorinnen und Autoren

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und Kunstkritikerin u. a. für »frieze« und »frieze d/e«, »ARTnews«, »flash art« und das »Wall Street Journal«. Auszeichnungen und Stipendien u. a.: Milena Jesenka Fellow­ ship des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen, Arthur F. Burns Fellowship, Margarete Schütte-Lihotzky Stipendium, 2017 österreichischer Art Critics Award.

Wilhelm Schütte in der Türkei (1938–1946), in: Wilhelm Schütte Architekt. Frankfurt – Moskau – Istanbul – Wien, hg. von der Öster­ reichischen Gesellschaft für Architektur/Ute Waditschatka, Zürich 2019; A Home of One’s Own. Emigrierte Architekten und ihre Häuser 1920–1960, Stuttgart 2019 (hg. mit Andreas Schätzke).

Marie-Theres Deutsch, Dipl.-Ing., Architektin. Studium der Architektur an der Fachhoch­ schule Trier und Wiesbaden, Postgraduation Architektur, Akademie für bildende Künste, Städelschule in Frankfurt; Gründung des Architekturbüros, parallel Gastprofessuren an der Universität Detmold, Kassel und Siegen. Im Jahr 2013 stand einer ihrer Entwürfe auf der Shortlist des BDA-Architekturpreises »Nike für Fügung«. Ausstellungen u. a.: Bauen heute, Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt am Main (DAM); Design Heute, DAM/Tokyo Laforet Museum Harajuk; Museumsarchitektur in Frankfurt 1980–1990, DAM/Kunstund Ausstellungs­h alle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn; Maßstabssprung, DAM; Das Neue Frankfurt 2018: Wohnen für Alle, DAM; »Frau Architekt«, DAM (Filmbeitrag); Große Häuser, Kleine Häuser, DAM.

Sebastian Engelmann, Dr. phil., Jg. 1990. Studium der Sozialwissenschaften, Anglistik, Pädagogik und Angewandten Ethik an den Universitäten Oldenburg und Jena, Promotion an der Universität Jena. Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Allgemeine Päda­ gogik an der Universität Tübingen. PostdocProjekt zum Verhältnis von humanistischer und posthumanistischer Bildungstheorie. Veröffentlichungen u. a.: Pädagogik der Sozialen Freiheit. Eine Einführung in das Denken Minna Spechts, Paderborn 2018; Sozialismus und Pädagogik. Verhältnisbestim­ mungen und Entwürfe, Bielefeld 2018 (ge­ meinsam mit Robert Pfützner); Alles wie gehabt? Zur Konstruktion von Klassikern und Geschichte(n) der Pädagogik, in: Markus Rieger-Ladich/Anne Rohstock/Karin Amos (Hg.): Erinnern, Umschreiben, Vergessen. Die Stiftung des disziplinären Gedächtnisses als soziale Praxis, Weilerswist 2019.

Burcu Dogramaci, Prof., Dr. phil., Jg. 1971. Studium der Kunstgeschichte und Ger­ manistik an der Universität Hamburg. 2000 Promotion, 2007 Habilitation in Hamburg. Habilitationsschrift zum Wirken deutsch­ sprachiger Architekten, Stadtplaner, Bild­ hauer und Kunsthistoriker in der Türkei nach 1927, darunter Margarete Schütte-Lihotzky und Wilhelm Schütte. Seit 2009 Professorin für Kunstgeschichte an der LudwigMaximilians-Universität München. Veröffentlichungen u. a.: Kulturtransfer und nationale Identität. Deutschsprachige Archi­t ekten, Stadtplaner und Bildhauer in der Türkei nach 1927, Berlin 2008; Fotografieren und Forschen. Wissenschaftliche Expedi­ tionen mit der Kamera im türkischen Exil nach 1933, Marburg 2013; Architekt, Lehrer, Autor:

Autorinnen und Autoren

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Thomas Flierl, Dr. phil., Jg. 1957. Studium der Philosophie und Ästhetik an der Humboldt-Universität zu Berlin, 1985 Promotion ebenda. Nach Tätigkeiten im Kulturbereich und in der Politik seit 2006 freier Bauhistoriker und Publizist; seit 2011 wissenschaftlicher Beirat in der Ernst-MayGesellschaft Frankfurt am Main; Lehrauf­träge an der Bauhaus-Universität Weimar und der FU Berlin, Gastaufenthalte an der Uni­ versität Konstanz. Veröffentlichungen u. a.: Standardstädte. Ernst May in der Sowjetunion 1930–1933. Texte und Dokumente, Berlin 2012; Hg. der Reihe »Gegenstand und Raum«, darin u. a. die Bände: Mark Meerovic/Evgenija Konyševa: Linkes Ufer, rechtes Ufer. Ernst May und

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die Planungsgeschichte von Magnitogorsk (1930–1933), 2013; Von Adenauer zu Stalin. Die Tätigkeit des Kölner Stadtplaners Kurt Meyer in Moskau und der Einfluss des traditionellen deutschen Städtebaus in der Sowjetunion um 1935 (mit Harald Bodenschatz), 2016. Zuletzt: Hannes Meyer und das Bauhaus. Im Streit der Deutungen, Leipzig 2018 (hg. mit Philipp Oswalt). Christoph Freyer, Mag., Jg. 1968. Studium der Kunstgeschichte an der Universität Wien. Arbeitet als freier Kunsthistoriker in Wien. Dissertationsprojekt zur architektonischen Entwicklung der Wiener Kindergärten, Inven­ tarisierung der Nachlässe von Raimund Abraham und Günther Domenig. Kuratierung der Ausstellung »Architekt Raimund Abraham. Back Home«, Schloss Bruck Lienz, Mit­ arbeiter bei »Arch 4579. Entwicklung einer Bewertungsmethodik der Architektur von 1945 bis 1979«, »Schutzzonenmodell Basis­ inventarisierung«, »Hofprojekt«, Inventari­ sierung der Wiener Gemeindebauten sowie dem »Architektenlexikon Wien 1770–1945«. Veröffentlichungen u. a.: Kindgerichtete Architektur im Roten Wien, in: Werner Michael Schwarz/Georg Spitaler/Elke Wikidal (Hg.): Das Rote Wien. 1919 bis 1934. Ideen. Debatten. Praxis, Publikation zur Jubi­ läumsausstellung im Wien Museum MUSA, Basel 2019; »Die Gartenstadt für Kinder« – Zur Idee eines Kinderheimes am Stadtrand von Wien. in: Eselsohren, Vol. III, Wuppertal (in Druck); Die Kinderfreibäder Wiens – über den Verlust eines vielfach unbeachteten Baujuwels. in: Kunstgeschichte aktuell, Mitteilungen des Verbandes Österreichischer Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker 26 (2009), H. 2. Sophie Hochhäusl, Mag. arch., PhD. Assistenzprofessorin für Geschichte und Theorie der Architektur an der University of Pennsylvania, Studium der Architektur an der Akademie der bildenden Künste Wien und der Geschichte und Theorie der Archi­ tektur und des Städtebaus an der Cornell

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University. Forschungen zu einer Monografie mit dem Titel »Memories of the Resistance: Women, War and the For­g otten Work of Margarete Schütte-Lihotzky, 1938–1989«, gefördert durch Radcliffe Institute for Advanced Study, Harvard University, Mellon Colloquium in History, Urbanism, and Design, University of Pennsylvania, und MargareteSchütte-Lihotzky-Projektstipen­d ium des Österreichischen Bundeskanzleramts. Veröffentlichungen u. a.: From Vienna to Frankfurt Inside Core-House Type 7: A His­ tory of Scarcity through the Modern Kitchen, in: Architectural Histories, 2013; Traveling Exhibitions in the Field: Settlements, WarEconomy, and the Collaborative Practice of Seeing, in: Ádám Tuboly/Jordi Cat (Hg.): Neurath Reconsidered, New Sources and Perspectives, Cham 2019. Manfred Mugrauer, Mag., Dr. Studium der Politikwissenschaft und Geschichte an der Universität Wien und der Humboldt-Univer­ sität zu Berlin. Mitarbeiter des Dokumen­ tationsarchivs des österreichischen Wider­ standes und wissenschaftlicher Sekretär der Alfred-Klahr-Gesellschaft. Veröffentlichungen zur Politikgeschichte und Kulturpolitik der Kommunistischen Partei Österreichs, u. a. Die Politik der KPÖ in der Provisorischen Regierung Renner, Innsbruck u. a. 2006; Hg. von: 90 Jahre KPÖ. Studien zur Geschichte der Kommunistischen Partei Österreichs, Wien 2009. Sabine Plakolm-Forsthuber, a.o. Univ.-Prof. Dr. phil., Jg. 1959. Studium der Fächer Kunstgeschichte und Italienisch an der Uni­ versität Wien und der Università per Stranieri, Perugia, 1986 Promotion an der Universität Wien, 2000 Habilitation an der TU Wien. Dozentin am Institut für Kunst­ geschichte, Bauforschung und Denkmalpflege an der TU Wien sowie an der Univer­ sität Wien. Forschungsschwerpunkte und Ver­ öffentlichungen im Bereich der österreichi­ schen Kunst und Architektur des 19. bis

Autorinnen und Autoren

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21. Jahrhunderts, insbesondere zur Aus­ stellungs­a rchitektur, zu österreichischen Künstlerinnen und Architektinnen des 20. Jahrhunderts, zur Architektur italienischer Frauenklöster im 15. und 16. Jahrhundert, zum zeitgenössischen Schulbau in Österreich, zur Architektur in Steinhof und zur Kunst im Nationalsozialismus. Monika Platzer, Mag. phil., Dr. phil. Studium der Kunstgeschichte an der Universität Wien. Seit 1998 im Architekturzentrum Wien tätig, Leiterin der Sammlung und Kuratorin, Forschungsschwerpunkt: österreichische Archi­t ektur- und Kulturgeschichte des 20. Jahr­h underts. Kuratorische Tätigkeit bzw. Leitung von diversen Forschungs- und Ausstellungsprojekten, u. a.: »Wien. Die Perle des Reiches. Planen für Hitler«, »a_schau. Österreichische Architektur im 20. und 21. Jahrhundert«, »Lessons from Bernard Rudofsky«, »Mythos Großstadt, Architektur und Stadtbaukunst in Zentraleuropa 1890–1937«, »Kinetismus. Wien entdeckt die Avantgarde«. Lehrtätigkeit an der Uni­ versität Wien und an der TU Wien, Editor von »icamprint«, der Mitgliedszeitschrift der International Confederation of Architec­t ural Museums; 2014 Visiting Scholar am Center for European Studies, Harvard University, USA; aktuell Forschungsschwerpunkt zum Thema Architektur und Kalter Krieg. Claudia Quiring, Dr. phil., Jg. 1971. Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Volkskunde an der Universität Münster. Lehr­ aufträge an der Universität Bielefeld und Vertretungsprofessur für Architekturtheorie an der Hochschule Ostwestfalen-Lippe. Kura­ torin u. a. von Ausstellungen zu Fritz Höger, Ernst May und Walter Müller-Wulckows Blauen Büchern. Projektleiterin »Akteure des Neuen Frankfurt«. Mitglied des wissenschaft­ lichen Beirats der Ernst-May-Gesellschaft. Seit 2016 Kustodin für Baugeschichte und Stadtentwicklung am Stadtmuseum Dresden mit Ausstellung 2019 zur »Dresdner Moderne 1919–1933«.

Autorinnen und Autoren

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Veröffentlichungen u. a.: Ernst May (1886–1970), München u. a. 2011 (hg. mit Wolfgang Voigt u. a.); Европейские архитекторы в СССР: жизнькаждыйдень [Europäische Architekten in der UdSSR. Das Alltagsleben] (mit Evgenia Konysheva), in: Сборник материалов международной научной конференции памяти С.О. Хан-Магомедова. Моckwa: НИИТИАГ РААСН [Akademisches Forschungs­institut für die Theorie und Geschichte von Archi­t ektur und Stadtplanung (NIITAG RASN): Materialien zur Konferenz in Er­innerung an S.O. Khan-Magomedov vom 18.–20.1.2012 in Moskau]; Akteure des Neuen Frankfurt. Biografien aus Architektur, Politik und Kultur, Frankfurt am Main 2016 (hg. mit Evelyn Brockhoff u. a.). Bernadette Reinhold, Mag. phil., Dr. phil., Jg. 1970. Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Philosophie in Wien, 1991–2008 freie wissenschaftliche Mitar­ beiterin im Bundesdenkmalamt Wien (Denkmalforschung, Archiv), 1997–2008 in der Kommission für Provenienzforschung (NS-Kunstrestitution); 2000–2005 im Vorstand der Österreichischen Gesellschaft für Architektur; 2005–2008 Mitarbeiterin im FWF-Forschungsprojekt zur Wiener Hof­ burg (Österreichische Akademie der Wissen­ schaften); seit 2011 Mitorganisatorin des »Arbeitskreises Österreichische Architektur 19. und 20. Jahrhundert«; seit 2008 Leiterin des Oskar Kokoschka Zentrums und Senior Scientist an Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien. Forschungsprojekte, Publikationen, Vorträge und Lehrtätigkeit zu Architektur und Städtebau vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, der Kunst der Moderne und der Kulturpolitik in Österreich ab 1900, wiederholt begleitet von Ausstellungen. Günther Sandner, Mag. phil., Dr. phil., Jg. 1967, ist Senior Research Fellow am Institut Wiener Kreis und Lehrbeauftragter an den Instituten für Politikwissenschaft

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und für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien. Er leitet das FWFForschungsprojekt »Isotype – Entstehung, Entwicklung und Erbe«. Veröffentlichungen u. a.: The Scientific World-Conception in the Making: Towards the Ideological Roots of Logical Empiricism, in: Friedrich Stadler (Hg.): Ernst Mach – Life, Work, Influence (im Druck); Der Austro­ marxismus und die Wiener Moderne, in: Andreas Fisahn/Thilo Scholle/Ridvan Ciftci (Hg.): Marxismus als Sozialwissenschaft. Rechts- und Staatsverständnisse im Austro­ marxismus, Baden-Baden 2018; Rosa und Anna Schapire. Sozialwissenschaft, Kunst­ geschichte und Feminismus, Berlin 2017 (hg. mit Burcu Dogramaci); Otto Neurath. Eine politische Biographie, Wien 2014. Karin Schneider, Mag., Jg. 1969. Studium der Geschichte in Wien, tätig als Kunst­ vermittlerin in unterschiedlichen Kontexten und als Forscherin im Bereich partizipativer Aktionsforschung im Museums-, Bildungsund Geschichtsvermittlungsbereich. Veröffentlichungen u. a.: »Bist Du sein guter Kamerad und stehst an seiner Seite?« Zur KPÖ-Frauenpolitik der Ersten Republik, Wien 1993; Historische Bezüge von frauen- und genderpolitischen Positionen im Austromarxismus, in: Walter Baier/Lisbeth Trallori/Derek Weber (Hg.): Otto Bauer und der Austromarxismus. »Integraler Sozialis­ mus« und die heutige Linke, Berlin 2008. Antje Senarclens de Grancy, Dr. phil., Jg. 1964. Architekturhistorikerin, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Anthropologie in Graz, Wien und Paris. Assistenzprofessorin am Institut für Architek­ turtheorie, Kunst- und Kulturwissenschaften, TU Graz. Publikationen zum Spannungsfeld von Archi­t ektur und Politik/Gesellschaft im 20. Jahr­h un­d ert , Reformbewegungen der Moderne (Werkbund, Heimatschutz) und Kanonisie­r ungsprozessen der Architek­t urge­ schichte, u. a.: Reflections on Camps –

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Space, Agency, Materiality, Göttingen 2019 (hg. mit Heidrun Zettelbauer); Was bleibt von der »Grazer Schule«? Architektur-Utopien seit den 1960ern revisited, Berlin 2012 (hg. mit Anselm Wagner); Architektur. Vergessen: Jüdische Architekten in Graz, Wien u. a. 2010 (hg. mit Heidrun Zettelbauer); Keine Würfelwelt. Architekturpositionen einer »bodenständigen« Moderne, Graz 1918– 1938, Graz 2007. Änne Söll, Prof., Dr., Jg. 1969. Studium der Kunstgeschichte und Anglistik an der Middlesex University, der Goethe-Universität Frankfurt und der Rutgers University of New Jersey. Wissenschaftliche Mitarbei­ terin an den Universitäten Dortmund und Potsdam, Professorin für Moderne mit einem Schwer­p unkt in der Kultur- und Ge­ schlech­t er­g eschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Veröffentlichungen u. a.: Der Neue Mann? Männerporträts von Otto Dix, Christian Schad und Anton Räderscheidt, Paderborn 2016; Wilde Muster: Yinka Shonibare und der period room, in: Gerald Schröder/Christina Threuter (Hg.): Wilde Dinge, Bielefeld 2017; Vom Stilraum zum period-room: Wie Amerika in den Besitz europäischer Kulturgeschichte kam und sich selbst seinen eigenen Stil gab, in: Julian Blunk (Hg.): Stil als (geistiges) Eigentum, München 2018. Karin Zogmayer, Dr. phil., Jg. 1977. Studium der Deutschen Philologie und Philosophie an der Universität Wien und der HumboldtUniversität zu Berlin. Dissertation, Vorträge und Publikationen zum Werk von Elias Canetti. Sichtung und Katalogisierung von editions­ relevanten Texten im Nachlass Margarete Schütte-Lihotzky, Archiv der Universität für angewandte Kunst, Wien. Anregung und inhaltliche Begleitung von Veranstaltungen und Ausstellungen zu Margarete SchütteLihotzky. Herausgeberin von: Margarete SchütteLihotzky: Warum ich Architektin wurde, Salzburg 2004 (Neuaufl. 2019); Margarete

Autorinnen und Autoren

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Danksagungen

Schütte-Lihotzky: Millionenstädte Chinas. Bilder- und Reisetagebuch einer Architektin (1958), Wien/New York 2007. Christine Zwingl, Dipl.-Ing., Architektur­ studium an der TU Wien, Diplom 1985. Seit 1986 Mitglied der »Forschungs­g ruppe Schütte-Lihotzky«, Aufarbeitung des Archivs der Architektin. Daraus entstand die Forschungsarbeit »Das Werk der Archi­t ektin Margarete Schütte-Lihotzky«, gefördert vom Fonds zur Förderung der wissenschaft­ lichen Forschung (FWF), Projektleitung. Erarbeitung des wissenschaftlichen Konzeptes und Gestaltung der Ausstellung zum Gesamtwerk Schütte-Lihotzkys im MAK – Museum für angewandte Kunst, Wien 1993. Selbständige Architektin seit 1994, Unter­ richtstätigkeit an der HTL Mödling, Abteilung Bautechnik – Hochbau (2000–2014), Lek­ torin am Institut für Architekturtheorie der TU Wien, Margarete-Schütte-LihotzkyProjekt­­s tipendium des Österreichischen Bundes­k anzler­a mts. Seit 2014 Leitung des Margarete Schütte-Lihotzky Raums, 1030 Wien, Untere Weißgerberstraße 41. Veröffentlichungen u. a.: Margarete Schütte-Lihotzky. Soziale Architektur. Zeit­ zeugin eines Jahrhunderts, Ausst.-Kat. MAK, Wien 1993 (Mitautorin, 2. Aufl. 1996).

Dank an alle Autorinnen und Autoren sowie an: Gleb J. Albert, Judith Burger, Claude und Nelio Dierig, Paulus Dreibholz, Fanny Esterházy, Nathalie Feitsch, Angela Gavran, die Gerda-Henkel-Stiftung, Katja Hasenöhrl, Kirsten Heinsohn, Silvia Herkt, Roswitha Janowski-Fritsch, Anne Kurr, Luzie Lahtinen-Stransky, Klara Löffler, Andreas Nierhaus, Maike Raap, Anja Seipenbusch, Dorothea und Michael Stransky, Anna Stuhlpfarrer, Verein Stubenring 3, Willi Weinert, Gerd Zillner, Philomena und Zeno Zillner

Autorinnen und Autoren & Danksagungen

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Impressum

Herausgeber Marcel Bois, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg; Bernadette Reinhold, Oskar Kokoschka Zentrum sowie Kunst­ sammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien

Lektorat Fanny Esterházy

Library of Congress Control Number: 2019941088

Gestaltung Atelier Dreibholz, Paulus M. Dreibholz und Katja Hasenöhrl

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Ver­ wertung, vorbehalten. Eine Verviel­ fältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungs­ pflichtig. Zuwiderhandlungen unter­ liegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

Übersetzung des Beitrags von Helen Young Chang aus dem Englischen Miha Tavčar

Umschlagabbildung Margarete Schütte-Lihotzky, 1935, Foto: Franz Pfemfert, Universität für angewandte Kunst Wien, Kunst­ sammlung und Archiv, F/136

Projektmanagement »Edition Angewandte« für die Universität für angewandte Kunst Wien Roswitha Janowski-Fritsch Content & Production Editor Books für den Verlag Angela Gavran, Wien Druck Holzhausen Druck GmbH, Wolkersdorf/Österreich © 2019 Birkhäuser Verlag GmbH, Basel
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