Bildungswege zu »1968«: Eine Kollektivbiografie des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes [1. Aufl.] 9783839427774

This volume questions popular theses about »1968« and points out new interpretation patterns in the context of the democ

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Bildungswege zu »1968«: Eine Kollektivbiografie des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes [1. Aufl.]
 9783839427774

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
I. Einleitung
1. Thema der Arbeit
2. Forschungsstand und Erkenntnisinteresse
3. Das zu untersuchende Kollektiv: Der SDS
4. Theoretischer Rahmen und Analyseperspektiven
5. Methodisches Vorgehen
II. Kollektivbiografie
1. Geburtsjahrgänge, Familienstand, Geschlecht
2. Regionale Herkunft und Mobilität
3. Soziale Herkunft und familiale Situation
4. Bildungswege bis zur Hochschulreife
5. Bildungswege nach Erwerb der Hochschulreife
Zwischenfazit
III. KONSTRUKTIONEN EINES ‚AKADEMISCHEN SELBST‘
1. Vorüberlegungen zu einer inhaltlichen Analyse der Lebensläufe
2. Identischer Aufbau und variierende Komplexität der Lebensläufe
3. Bildungsthemen
4. Gesellschaftliche und schulische Entwicklungen
5. Facetten eines historisch akkumulierten Bildungsbegriffs
6. ‚Akademisches Selbst‘ als Spiegel pluralisierter Bildungskonzepte
Fazit
Quellen- und Literaturverzeichnis

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Andrea Wienhaus Bildungswege zu »1968«

Histoire | Band 63

2014-07-29 13-29-07 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c0373049580526|(S.

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Meinen Eltern

Und für Holger, wo auch immer er seine fröhliche Wissenschaft jetzt betreibt.

Andrea Wienhaus (Dr. phil.) lehrt Historische Bildungsforschung an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geschichte der Universität sowie Bildungsgeschichte der frühen Bundesrepublik.

2014-07-29 13-29-07 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c0373049580526|(S.

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Andrea Wienhaus

Bildungswege zu »1968« Eine Kollektivbiografie des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes

2014-07-29 13-29-07 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c0373049580526|(S.

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Gedruckt mit Unterstützung der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Print-ISBN 978-3-8376-2777-0 PDF-ISBN 978-3-8394-2777-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt

Danksagung | 9

I. E INLEITUNG 1. Thema der Arbeit | 13 2. Forschungsstand und Erkenntnisinteresse | 23 3. Das zu untersuchende Kollektiv: Der SDS | 45

3.1 Die Entwicklung des SDS als Gesamtverband bis zur Trennung von der SPD | 49 3.2 Der SDS Berlin als organisatorischer Kern der Studentenbewegung | 54 3.3 Quellen | 58 3.4 Lebensläufe als Ego-Dokumente | 63 4. Theoretischer Rahmen und Analyseperspektiven | 67 5. Methodisches Vorgehen | 81

II. KOLLEKTIVBIOGRAFIE 1. Geburtsjahrgänge, Familienstand, Geschlecht | 93

1.1 Geburtsjahrgänge | 94 1.2 Familienstand | 99 1.3 Geschlecht | 102 1.4 Deutschland zwischen 1930 und 1970 als Lebenswelt | 106 2. Regionale Herkunft und Mobilität | 115

2.1 Geburtsort | 120 2.2 Mobilität | 122 2.3 Aufenthaltsort bei Bewerbung | 125 2.4 Flucht und Binnenwanderung als typische Kriegs- und Nachkriegserfahrungen in Deutschland | 127 2.5 Stadt und Land als Sozialisationsraum | 131

3. Soziale Herkunft und familiale Situation | 135

3.1 Beruf des Vaters | 139 3.2 Beruf der Mutter | 146 3.3 Tod von Elternteilen und kriegsbedingte Abwesenheit des Vaters | 150 3.4 ‚Entbürgerlichung‘ der Studierendenschaft und ‚Verbürgerlichung‘ der Gesellschaft | 151 4. Bildungswege bis zur Hochschulreife | 157

4.1 Einschulungs- und Abiturjahrgänge | 159 4.2 Bildungsverläufe | 165 4.3 Abiturzeugnis verleihende Schule | 171 4.4 Politische Zäsuren und Kontinuität und Wandel im Schulsystem | 177 5. Bildungswege nach Erwerb der Hochschulreife | 185

5.1 Studienerfahrungen vor Bewerbung an der Freien Universität | 187 5.2 Zeitraum des Studiums und Verweildauer an der Freien Universität | 190 5.2.1 Ehemalige Studierende der Freien Universität | 194 5.2.2 ‚Zukünftige‘ Studierende der Freien Universität | 195 5.2.3 1967 eingeschriebene Studierende der Freien Universität | 196 5.3 Studienfächer | 197 5.3.1 Studienfachwunsch bei Bewerbung | 198 5.3.2 Studienfach- und Fakultätswechsel | 204 5.3.3 Studienfächer der 1967 Eingeschriebenen | 205 5.4 Das Ende der Studienzeit an der Freien Universität und Studiendauer bis zum Examen | 207 5.5 Universität im Wandel als Ort der Studentenbewegung | 209 Zwischenfazit | 215

III. KONSTRUKTIONEN EINES ‚ AKADEMISCHEN S ELBST ‘ 1. Vorüberlegungen zu einer inhaltlichen Analyse der Lebensläufe | 225 2. Identischer Aufbau und variierende Komplexität der Lebensläufe | 229

3. Bildungsthemen | 233

3.1 Reisen und Ausland | 233 3.2 Politisches Interesse und politisches Engagement | 236 3.3 Sport und Jugendgruppen | 240 3.4 Kultur | 241 3.5 Schulische Arbeitsgemeinschaften, Schülermitverwaltung und Schülerzeitungen | 244 4. Gesellschaftliche und schulische Entwicklungen | 247 5. Facetten eines historisch akkumulierten Bildungsbegriffs | 251 6. ‚Akademisches Selbst‘ als Spiegel von pluralisierten Bildungskonzepten | 259

Fazit | 265 Quellen- und Literaturverzeichnis | 271

Danksagung

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommer 2013 an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde sie leicht gekürzt und überarbeitet. Das Anfertigen einer Dissertation, so erschloss sich mir im Laufe dieser Arbeit, ähnelt weniger einem Marathonlauf, auf dem man in regelmäßiger Abfolge Kilometerschilder passiert und nach einer definierten Strecke ins Ziel kommt. Promovieren ist eher wie „Schiffsbruch mit Tiger“1: Mal Sturm, mal Flaute, mal sengende Sonne, immer umgeben von scheinbar unendlicher Weite, ungewiss, ob hinter dem Horizont das rettende Ufer wartet. Und irgendwo lauert ständig die ‚blutrünstige Bestie‘ – Fehlannahmen, Frustrationen, Zweifel und Perfektionsanspruch. Dass es mich schließlich unversehrt an Land gespült hat, verdanke ich nicht zuletzt einer tragenden Woge von unterstützenden Menschen: Mein Dank gilt zunächst einmal meiner Doktormutter, Frau Prof. Dr. Carola Groppe, die mir die Chance zu diesem Projekt gegeben hat, obwohl meine wissenschaftlichen Wurzeln in anderen Gebieten liegen, und den Prozess mit Rat und Tat unterstützt hat. Ferner meinen (ehemaligen) Kolleginnen an der Professur für Erziehungswissenschaft, insbesondere Historische Bildungsforschung an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, die mir über die Jahre ‚im selben Boot‘ warmherzige Freundinnen geworden sind: Morvarid Dehnavi, Julia Kurig, Johanna Lauff und Isabelle Sieh. Ein herzliches Dankeschön gilt den Mitarbeiter_innen im Archiv der Freien Universität Berlin für freundliche wie sachkundige Betreuung während meiner zahlreichen Besuche dort. Stefan Braunshausen sei gedankt für ‚Kajüte und Kombüse‘ während dieser Berlin-Besuche. Für finanzielle Unterstützung der Drucklegung bedanke ich mich bei der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Helmut-SchmidtUniversität Hamburg.

1

Martel, Yann (2003): Schiffsbruch mit Tiger, Frankfurt a.M.

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Darüber hinaus gilt mein Dank den unzähligen Menschen, die mit großer Geduld, kleinen Gesten, warmen Worten und Speisen den Kahn in der Balance gehalten haben. Dass ich trotz aller Mühen mit klarem Geist und frohem Herzen ins Ziel gekommen bin, verdanke ich Donata Wilutzki. Und schließlich gilt mein Dank für amüsante wie geistreiche Zerstreuung auf der Zieleinfahrt einem wirklich erfahrenen Seemann, Walter Moers‘ Käpt‘n Blaubär2. In diesem Sinne: „Wissen ist Nacht!“ Hamburg, im Juni 2014

2

Moers, Walter (1999): Die 13 ½ Leben des Käpt‘n Blaubär, Frankfurt a.M.

I. Einleitung

1. Thema der Arbeit

„Was war ‚1968‘?“ fragt 40 Jahre nach dem namensgebenden Jahr der Historiker Detlef Siegfried.1 ‚1968‘ – das war, so scheint es, wenn man auf die Auseinandersetzungen schaut, „Mythos, Chiffre und Zäsur“2: Als „Jugendrevolte und globaler Protest“3 sowie als „Kulturrevolution“4 hat ‚1968‘ einen festen Platz im kollektiven Gedächtnis der Westdeutschen.5 ‚1968‘ gilt als ein „Erinnerungsort“ in der deutschen Geschichte, eingereiht zwischen den politischen Zäsuren von 1945 und 1989.6 Die besondere historische Bedeutung scheint auch die Aufmerksamkeit zu bestätigen, die ‚1968‘ regelmäßig zu den Jahrestagen und ‚Jubiläen‘ zuteil wird – in den Medien, im Kultursektor wie in der Wissenschaft.7 Zahlreiche Bilder aus jener Phase in den späten 1960er Jahren sind zu Ikonen geworden: Etwa die Reihen laufender, einander untergehakter Studierender auf zahlreichen Demonstrationen, der erschossene Student Benno Ohnesorg, der Tatort des Attentats auf Rudi Dutschke, das Transparent mit dem zum Slogan gewordenen Aufdruck „Unter den Talaren

1

Vgl. Siegfried (2008d), S. 31.

2

So der Titel von Kraushaar (2000).

3

Frei (2008).

4

Vgl. Siegfried (2008b).

5

Zum Konzept des kollektiven Gedächtnisses vgl. grundlegend Halbwachs (1967); aktuell vgl. Erll (2011). Zu unterschiedlichen Bedeutung von ‚1968‘ in Bundesrepublik und DDR vgl. Wolle (2011). Simon (2000), S. 7ff. hingegen betont Ähnlichkeiten von „Achtundsechzigern“ Ende der 1960er Jahre in der DDR.

6

Vgl. den Beitrag von Bude (2001) im Sammelband „Deutsche Erinnerungsorte“ von Francois Etienne und Hagen Schulze.

7

So wartete das Jahr 2008 mit einer Vielzahl von Büchern, Zeitungsartikeln und Dossiers auf, die Leipziger Buchmesse widmete ‚1968‘ einen Themenschwerpunkt, das Historische Museum in Frankfurt a.M. ‚1968‘ als ‚kurzem Sommer‘ mit ‚langer Wirkung‘ eine Ausstellung.

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Muff von 1000 Jahren“, die Mitglieder der „Kommune 1“, die nackt und rückwärtsgewandt dem Fotografen posieren. Die genannten Bilder deuten es bereits an: ‚1968‘ bezeichnet in erster Linie Protest, getragen von jungen Menschen, insbesondere von Studierenden. Entsprechend organisierte sich der Protest weitgehend an den Universitäten, welche selbst auch zu Zielen zahlreicher Protestaktionen wurden. In internationaler Perspektive erscheint das Jahr 1968 als ein Höhepunkt globaler und mehr oder weniger parallel auftretender Protestbewegungen – insbesondere in den USA, in Japan, Mexiko, in der Tschechoslowakei oder in westeuropäischen Staaten wie Frankreich, Italien oder eben in der Bundesrepublik.8 Einte diese Bewegungen die Kritik an und der Widerstand gegen staatliche und gesellschaftliche Autoritäten, entzündeten sich die Proteste, trotz mancher geteilter Themen wie dem Vietnamkrieg, an nationalen Themen. In einigen Staaten, so auch in der Bundesrepublik, spalteten sich von den Protestbewegungen terroristische Gruppierungen ab. Mit Blick auf Westeuropa und die USA gilt insbesondere auch eine von jungen Menschen etablierte Gegenkultur, in der Selbstverwirklichung und gesellschaftliche und politische Teilhabe den Gegenentwurf zu traditionellen Normen wie Ordnung und Subordination darstellten, als wesentlicher Teil von ‚1968‘.9 Dieser Gegenentwurf zielte gerade in der Bundesrepublik auf alle gesellschaftlichen Bereiche ab – Erziehungsstile, Bildungssystem, Geschlechterverhältnisse, Formen des Zusammenlebens – und fand seinen Ausdruck auch in Musik und Bekleidung.10 Zahlreiche gegenkulturelle Ausdrucksweisen durchdrangen sich mit der Jugendkultur einer sich entwickelnden Konsumgesellschaft und wurden somit früher oder später Teil des jugendkulturellen mainstream und damit Teil der Massenkultur; dies gilt etwa für Beat- und Folkmusik, lange Haare bei Männern oder Wohngemeinschaften. Dazu gehört aber auch als eine extreme Ausformung der in jener Zeit unter Jugendlichen erheblich zunehmende Drogenkonsum.11 In der Fokussierung von Medien und zahlreichen wissenschaftlichen Betrachtungen auf ‚1968‘ als einem begrenzten und kurzen Zeitraum gegen Ende der 1960er Jahre 8

Für einen Überblick über die global auftretenden Protestbewegungen vgl. z.B. Fink/Gassert/Junker (1998); Gilcher-Holtey (2001); Frei (2008).

9

Zum Zusammentreffen von politischem Protest, Gegenkultur und Jugendkultur in der Konsumgesellschaft der 1960er Jahre vgl. grundlegend Siegfried (2008a); mit Fokussierung auf ‚1968‘ den Aufsatzband von Siegfried (2008b).

10 Zur Bedeutung von ‚1968‘ im Erziehungs- und Bildungsbereich vgl. Baader (2008a); Baader/Herrmann (2011); zur Bedeutung von ‚1968‘ für die Geschlechterverhältnisse bzw. für die Frauenbewegung vgl. Schulz (2002). 11 Vgl. Siegfried (2008e).

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erscheint jene Phase von politischem und gesellschaftlichem Protest als Zäsur, die als Ausgangspunkt von bis in die Gegenwart nachzuvollziehenden Liberalisierungstendenzen gedeutet wird. In dieser Perspektive zerfällt die bundesdeutsche Geschichte in zwei von einander getrennte Epochen.12 Deutungen von ‚1968‘ als „Kulturrevolution“ unterstreichen, als wie tiefgreifend die Veränderungen angesehen werden.13 Wurde zeitgenössisch eine ‚Kulturrevolution‘ von Teilen der Protestbewegung in Anlehnung an die chinesische Revolution als notwendige Grundlage einer gesellschaftlichen Transformierung betrachtet,14 beziehen sich aktuelle Deutungen der ‚Kulturrevolution‘ von ‚1968‘ allerdings vielmehr auf einen tiefgreifenden gesellschaftlichen und kulturellen Wandel, der sich unabhängig von einer politischen Revolution seit den 1960er Jahren vollzogen hat.15 Die Beurteilung von ‚1968‘ ist dabei allerdings nie einhellig ausgefallen, waren Legitimität und Ziele der Proteste wie auch der nachfolgenden Entwicklungen stets umstritten.16 Mit zeitlich fortschreitendem Abstand zu den Ereignissen der späten 1960er Jahre dominierten in den Retrospektiven bis in die 1980er und 1990er Jahre zunehmend positive Bewertungen, dagegen erregten zum 40. ‚Jubiläum‘ von Studentenbewegung und ‚1968‘ drastische Negativurteile breite Aufmerksamkeit:17 1988 beurteilte Jürgen Habermas in einem seither regelmäßig zitierten Zeitungsinterview die Folgen von ‚1968‘ als eine „Fundamentalliberalisierung“ der deutschen Gesellschaft;18 noch zur Jahrtausendwende wurde in soziologischer Perspektive der Einfluss, den das Frankfurter Institut für Sozialforschung mit seiner Kritischen Theorie in der Studentenbewegung entfaltet habe, als „intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“ betrachtet.19 Eine solche Einschätzung klingt zur gleichen Zeit auch bei Heinz Bude an, 12 Vgl. Bude (2001), S. 122. Besonders ausdrücklich wird diese Zäsur im Titel des Bandes von Kraushaar (1998a) – dort im internationalen Kontext – betont: „1968. Das Jahr, das alles verändert hat“. Fast identisch der Titel der deutschen Übersetzung von Kurlansky (2007), der ebenfalls eine internationale Perspektive einnimmt: „1968. Das Jahr, das die Welt veränderte“ (Original: „1968. The year that rocked the world“.) 13 Vgl. z.B. Siegfried (2008c); Buchrucker (2002); Gilcher-Holtey (2001); zur Abwehr einer solchen Kulturrevolution vgl. Becker (2004); zur Diskussion einer solchen Deutung vgl. Weber (1998). 14 Vgl. Dutschke (1968), insbesondere S. 63; die kulturrevolutionären Ansprüche der Bewegung retrospektiv ironisierend vgl. Koenen (2002). 15 Vgl. Siegfried (2008c), S. 15. 16 Diese Einschätzung wird bereits bei Spix (2008), S. 9f. formuliert. 17 Zur Wandlung des Blicks auf ‚1968‘ zwischen den 1980er und 1990er Jahren vgl. auch Lucke (2008), S. 36ff. 18 Habermas (1988). 19 Albrecht et al. (2000).

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der, Stilisierungen von ‚1968‘ als einer „zivilen Nachgründung der ‚Demokratie ohne Demokraten‘“ aufgreifend, dort einen Bruch mit der Geschichte vor 1945 und einen „Testfall einer glücklichen Verwestlichung“ verortete.20 Nur wenige Jahre später, 2008 aber meinte der Historiker Götz Aly hingegen einen Totalitätsanspruch ‚der 68er‘ zu erkennen, der demjenigen der ‚Vätergeneration‘ zu Beginn der NSZeit geglichen habe; entsprechend trägt das Buch den polemischen Titel „Unser Kampf“.21 Der ehemalige Internatsdirektor Bernhard Bueb unterstellte in einer zum Bestseller avancierten ‚Streitschrift‘ „Lob der Disziplin“ der gegenwärtigen Jugend Disziplinlosigkeit, für die er die ‚antiautoritäre Erziehung‘ ‚der 68er‘ verantwortlich machte.22 Und der Chefredakteur der „Bild“-Zeitung Kai Diekmann verurteilte ‚1968‘ als einen „Epochenbruch der deutschen Gesellschaft in Richtung Egozentrik, Mittelmaß und Faulheit“.23 ‚1968‘ ist – das zeigt bereits diese knappe einführende Skizze – vielgestaltig, vieldeutig und umstritten.24 Entsprechend ist bereits Ende der 1990er Jahre auch die Frage aufgeworfen worden, was mit ‚1968‘ eigentlich bezeichnet werden soll: „Sollen wir von Revolution oder Revolte, von Neuer Linken oder Außerparlamentarischer Opposition, von Studentenbewegung oder einer umfassenderen gegenkulturellen Strömung sprechen?“25 In dieser Frage spiegelt sich die Bedeutungsaufladung, die ‚1968‘ nach drei Jahrzehnten erfahren hatte. In dieser Zeit setzte eine systematische Forschung zu ‚1968‘ als „Gegenstand der Geschichtswissenschaft“ durch jüngere Wissenschaftler_innen ein, welche den unmittelbar Beteiligten und Betroffenen den Anspruch auf Deutungshoheit in der Folgezeit streitig machte.26 Seither hat diese vorwiegend geschichtswissenschaftliche und soziologische Forschung die „Unschärfeformel“27 ‚1968‘ in eine Reihe fassbarer Bestandteile gegliedert und analysiert und auf diesem Wege Trägergruppen, theoretische Einflüsse, 20 Bude (2001), S. 122. 21 Vgl. Aly (2008). 22 Vgl. Bueb (2006), S. 14 ff. 23 Diekmann (2007), S. 13. 24 Zum Forschungsstand ausführlich vgl. den nachfolgenden Abschnitt 2. Forschungsstand und Erkenntnisinteresse. 25 Rucht (1998), S. 117. 26 Vgl. Gilcher-Holtey (1998a). Vgl. ferner den Band der „Westfälischen Forschungen“ (1998) zum „gesellschaftlichen Ort der ‚68er‘-Bewegung“. Für die polemischen Reaktionen einiger Zeitgenossen von ‚1968‘ und vormaliger Geschichtsschreiber der Studentenbewegung auf die damals aktuellen Forschungsansätze vgl. Lönnendonker/Rabehl/Staadt (2002), S. Vff. 27 Hodenberg/Siegfried (2006), S. 8.

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Themenfelder, Aktionsformen und internationale Parallelen und Unterschiede herausgearbeitet. Ein Aspekt, der dabei allerdings bislang fast keine Berücksichtigung erfahren hat, sind die Akteur_innen von ‚1968‘. Zwar ist die Bedeutung einzelner Gruppierungen untersucht worden, allen voran des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS); konkrete Personen sind hingegen nur in Einzelfällen betrachtet worden, vor allem prominente Akteure wie Rudi Dutschke, der medial am meisten beachteten Person, oder Mitglieder der „Kommune 1“.28 Dabei transportieren die zahlreichen Äußerungen zu den kollektiv als ‚68er Generation‘ oder kurz ‚68er‘ gefassten Akteur_innen von ‚1968‘ eine Reihe von Zuschreibungen: So werden die Akteur_innen als rebellisch und/oder bürgerlich attribuiert, als einer Bildungselite zugehörig sowie als eine in Wohlstand, aber unter der schwindenden Autorität des Vaters aufgewachsene Generation gefasst.29 Aus der Herkunft und den Bedingungen des Aufwachsens, also den Sozialisationsbedingungen, werden gleichzeitig in sozialpsychologischer Manier die Grundlagen eines ‚rebellischen Potenzials‘ und die hintergründigen Ursachen des Protests erklärt und aus diesen wiederum die Deutung des Protestphänomens etwa als Generationskonflikt, nachgeholter Widerstand oder Krise des westlichen Kapitalismus abgeleitet. Ein Blick auf die Grundlagen der genannten Zuschreibungen zeigt jedoch, dass es ihnen an empirischen Nachweisen fehlt und es auch weitestgehend an fundierten theoretischen Überlegungen mangelt. Vor diesem Hintergrund wendet sich die vorliegende Arbeit den Akteur_innen von ‚1968‘ zu und fragt ausgehend von den bestehenden Zuschreibungen erstmals auf der Grundlage umfassenden empirischen Materials danach, wer die Akteur_innen wirklich waren, d.h. welchen sozialen Klassen und Milieus sie entstammten, unter welchen politischen und gesellschaftlichen, aber auch spezifischen familialen und schulischen Umständen sie aufwuchsen, welche Bildungskarrieren sie einschlugen, welche Qualifikationen sie erwarben, welche weiteren biografischen und qualifikatorischen Schritte sie unternahmen bis zum Eintritt in die Universität. Die sich aus dieser Fragestellung ergebende Untersuchung von Biografien ist dabei nicht auf einzelne oder prominente Personen reduziert, sondern analysiert die 28 Zur Person und Biografie Rudi Dutschkes: Chaussy (1983); Miermeister (1986); Dutschke (1996); Karl (2003). Zum maßgeblichen Einfluss Dutschkes auf die Studentenbewegung vgl. z.B. Kraushaar (2000), S. 89-129; Langguth (2001); Frei (2008), S. 98ff. Zur „Kommune 1“ vgl. insbesondere Enzensberger (2004). 29 Zu diesen Zuschreibungen vgl. ausführlich Abschnitt 2. Forschungsstand und Erkenntnisinteresse.

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Lebensverläufe einer größeren Personengruppe, um in einer Kollektivbiografie etwaige sozialstrukturelle Muster oder typische Sozialisationsverläufe erfassen zu können. Trotz des Anspruchs, über die Biografien einzelner Personen hinaus Aussagen zu generieren, kann aus forschungspraktischen Gründen selbstverständlich nur eine begrenzte Personenzahl betrachtet werden, wenn die Kollektivbiografie nicht nur einige wenige statistische Daten erfassen soll; gleichzeitig stellt sich angesichts eines solch schillernden Phänomens wie ‚1968‘ die Notwendigkeit, die Zurechenbarkeit der ausgewählten Personen sicherzustellen. Die Auswahl des zu untersuchenden Kollektivs fiel daher auf die Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) im Umfeld der Freien Universität Berlin. Der SDS gilt bereits zeitgenössisch als organisatorischer Kern und ‚Motor‘ der Studentenbewegung,30 die in zeitlicher, personeller und inhaltlicher Hinsicht den zentralen Bezugspunkt von ‚1968‘ darstellt. So ist die grobe Eingrenzung der Protestphase von ‚1968‘ auf die Jahre 1967 bis 1969 an den Verläufen der Studentenbewegung orientiert: Der 2. Juni 1967, an dem am Rande von gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Studierenden und der Polizei während der Demonstration gegen den Besuch des persischen Schahs in Berlin der Student Benno Ohnesorg erschossen wurde, gilt als Wende- oder Radikalisierungszeitpunkt der Studentenbewegung wie als eigentlicher ‚Beginn‘ von ‚1968‘.31 Das Abebben der studentischen Proteste in der zweiten Jahreshälfte 1969 und die Selbstauflösung des SDS Anfang 1970 markieren das ‚Ende‘ von Studentenbewegung und ‚1968‘.32 Entsprechend werden als Protagonist_innen von ‚1968‘ immer auch zentrale Personen, informelle Gruppierungen und Organisationen innerhalb der Studentenbewegung genannt: Dies gilt neben dem SDS auch für seine prominentesten Mitglieder, Rudi Dutschke und die im Frühjahr 1967 vom Berliner Landesverband des SDS ausgeschlossene 30 Vgl. Ahlberg (1968); Bundesministerium des Innern (1969), insbesondere S. 15ff.; Habermas (1969); Oelinger (1969); Fuhrmann et al. (1989); Albrecht (1994); Schmidtke (1998a), (2003), S. 46ff.; Kraushaar (2000), S. 25ff.; Keller (2000), S. 106ff.; Langguth (2001), S. 19ff.; Lönnendonker/Rabehl/Staadt (2002); Fichter/Lönnendonker (2008); Aly (2008), S. 9, 39ff.; Frei (2008); Wehler (2008e),S. 311ff. Zum SDS ausführlich vgl. Abschnitt 3. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) als zu untersuchendes Kollektiv. 31 Zur Bedeutung des 2. Juni 1967 für ‚1968‘ vgl. z.B. Frei (2008), S. 112; Langguth (2001), S. 18; Kraushaar (1999), S. 49. Zur Bedeutung dieses Datums für die Studentenbewegung ohne Bezug auf ‚1968‘ vgl. z.B. Jarausch (1984), S. 226, der auf diesen Tag den Beginn der „Rebellion der Studenten“ datiert; ferner Bauß (1977), S. 44ff. bei dem der 2. Juni 1967 einen Wendepunkt markiert. 32 Vgl. z.B. Rucht (1998), S. 123; Kraushaar (2000), S. 8; Frei (2008), S. 151; Siegfried (2008c), S. 5.

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„Kommune 1“.33 Auch die Darstellung von Protest und Widerstand gegen staatliche und gesellschaftliche Autoritäten, der sich ‚1968‘ in politischen Demonstrationen und gegenkulturellen Entwürfen manifestierte, erfolgt nicht ohne ausführliche Bezugnahme auf die Aktivitäten der Studentenbewegung.34 Offensichtlich kann ‚1968‘ nicht ohne die Studentenbewegung der späten 1960er Jahre gedacht werden; entsprechend offenbart sich dieser Konnex in allen Arbeiten zu ‚1968‘.35 Mit der Fokussierung auf den SDS im Umfeld der FU Berlin kann somit zwar nur ein sehr kleiner Ausschnitt der Träger_innen einer in großen Teilen „fluiden“36 Bewegung erfasst werden, gleichzeitig aber wird damit ein besonders relevanter Teil betrachtet. Diese Relevanz ergibt sich zum einen aus der bereits erwähnten besonderen Bedeutung, die dem SDS für die Studentenbewegung beigemessen wird; als Ort politischer Diskussion, als hochschulpolitischer Akteur und Organisator zahlreicher Aktionen auch außerhalb der Universitäten gilt der SDS als ‚Stichwortgeber‘ und organisatorische Plattform des Protests. Berlin – und dort insbesondere die Freie Universität – gilt neben Frankfurt a.M. und dem SDS an der dortigen Johann Wolfgang Goethe-Universität als eine der beiden Hochburgen des Protests.37 Inwiefern die Ergebnisse dieser Kollektivbiografie einer zentralen, aber eben doch aufgrund seiner festen Strukturen spezifischen Gruppe auch auf andere Teile der Studentenbewegung oder andere Träger_innen von ‚1968‘ zutreffen, inwiefern sie darüber hinaus auch auf andere Studierende oder nicht-studentische Gleichaltrige zutreffen, werden allerdings weiterführende Untersuchungen zeigen müssen. Ein Vergleich mit anderen Personengruppe ist aufgrund der hier zu leistenden ‚Pionierarbeit‘ nicht möglich.38 Gleichzeitig können aber durch die empirische Erfassung vor 33 Zu den Auseinandersetzungen im SDS Berlin über die Aktivitäten der „Kommune 1“ vgl. Fichter/Lönnendonker (2008), S. 152ff. 34 Zur Studentenbewegung ausführlich vgl. Abschnitt 2. Forschungsstand und Erkenntnisinteresse. 35 Auf diesen Konnex verweisen bereits die Titel einer Reihe von Publikationen zum Themenbereich, vgl. z.B. Klimke/Scharloth (2008): „1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung“; Buchrucker (2002): „Der Aufstand gegen Autorität und Tradition. Die Studentenbewegung von 1968 als Kulturrevolution und ihre Auswirkungen.“ Langguth (2001): „Mythos ‘68: Die Gewaltphilosophie von Rudi Dutschke. Ursachen und Folgen der Studentenbewegung“. 36 Raschke (1991), S. 38. 37 Vgl. z.B. Bauß (1977); Tent (1988); Frei (2008); Fichter/Lönnendonker (2008). 38 Entsprechend verzichten auch andere Kollektivbiografien auf die Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu ähnlichen Kollektiven; vgl. z.B. Berghoff (1991); Welskopp (2000); Wildt (2003).

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dem Hintergrund bislang nur hypothetischer Beschreibungen der Akteur_innen39 erstmals abgesicherte Ergebnisse zu einer zentralen Gruppierung der Studentenbewegung vorgelegt werden. Mit der Betrachtung von Biografien ist zudem eine Öffnung des Blickwinkels auf Zeitphasen verbunden, die der Studentenbewegung und ‚1968‘ vorgelagert sind. Dadurch vermag diese Arbeit in zweierlei Hinsicht Beiträge zur Analyse von ‚1968‘ zu leisten: Sie sucht einerseits nach einem weiteren Teil der Antwort auf die eingangs zitierte Frage, was ‚1968‘ war; ferner kann diese Antwort in längere Entwicklungsstränge eingebettet werden, wie dies vor gut einem Jahrzehnt in der zeithistorischen Forschung begonnen wurde. Die Zeitgeschichte hat sich parallel zum Ende der 1990er Jahre einsetzenden Forschung mit Fokus auf ‚1968‘ als internationalem Protestphänomen mit spezifischen nationalen Kennzeichen den 1960er Jahren in breiterem Blickwinkel angenähert. In dieser Perspektive sind für zahlreiche westliche Industrieländer, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland, ähnliche wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Transformationen verzeichnet worden, die im Wesentlichen in wirtschaftlichem Aufschwung und der (Weiter-) Entwicklung von Konsumgesellschaften bestehen, in deren Sog sich Lebensstile pluralisieren und die jeweiligen Gesellschaften insgesamt von Liberalisierung gekennzeichnet sind.40 Vor dem Hintergrund dieser Forschungsergebnisse hat sich die Bedeutung von ‚1968‘ als politischer, gesellschaftlicher und kultureller Zäsur erheblich relativiert, zumal die genannten Entwicklungen bereits ausgehend vom Ende der 1950er und nicht erst Ende der 1960er Jahre beschrieben werden können.41 Die Ergebnisse zeithistorischer Forschung sind zwar offensichtlich in Teilen der öffentlichen Auseinandersetzung mit ‚1968‘ nicht zur Kenntnis genommen worden, wie obige Beispiele einer effekthaschenden Publizistik deutlich machen. In der Geschichtswissenschaft ist indes die Frage gestellt worden, welchen Stellenwert ‚1968‘ in einer Transformationsphase der ‚langen 60er Jahre‘ einnimmt.42 In den 39 Vgl. Abschnitt 2. Forschungsstand und Erkenntnisinteresse. 40 Zu diesen Entwicklungen in internationaler Perspektive vgl. grundlegend Marwick (1998); ferner Schildt/Siegfried (2007). Mit Fokus auf die 1960er Jahre als ‚Scharnierjahrzehnt‘ in der Bundesrepublik vgl. Frese/Paulus/Karl (2005); Schildt/Siegfried/Lammers (2003). 41 Vgl. in dem Sammelband von Schildt/Siegfried/Lammers (2003) insbesondere den Überblicksartikel zur Bundesrepublik von Schildt (2003). Vgl. ferner den Sammelband von Hodenberg/Siegfried (2006), dessen Beiträge Aspekte von ‚1968‘ vor dem Hintergrund einer längeren Transformationsphase reflektieren. 42 Vgl. Hodenberg/Siegfried (2006), darin insbesondere den einführenden Beitrag von Hodenberg/Siegfried. Vgl. ferner Siegfried (2008c), insbesondere S. 18ff.; in international vergleichender Perspektive vgl. Etzemüller (2005).

1. T HEMA DER A RBEIT

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Antworten darauf wird ‚1968‘ dabei keineswegs als in den längerfristigen Transformationsprozessen aufgehend betrachtet, sondern eher als deren Verdichtung oder als ein ‚Katalysator‘ interpretiert.43 Wie auch immer die Frage nach dem Verhältnis jener kurzfristigen Ereignisse zu längerfristigen Entwicklungen zu beantworten sein wird: Jene und andere längerfristige Entwicklungen, auch deutlich über die 1960er Jahre hinaus, stellen in jedem Fall auch einen Teil der Sozialisationsbedingungen der Mitglieder im SDS dar, die u.a. in dieser Arbeit nachgezeichnet werden sollen.44 Ob diese Sozialisationsbedingungen in einem direkten Zusammenhang stehen mit der Entstehung eines ‚Protestpotenzials‘, wird zwar nicht abschließend zu klären sein, da die politische Sozialisation oftmals auch individuellen und ereignishaften Erfahrungen unterliegt, wie zuletzt eine sozialisationshistorische Untersuchung zur Frauenbewegung der 1970er Jahre erneut aufgezeigt hat.45 Als Teil der Lebenswelt,46 in der die SDSler_innen aufwachsen und mit der sie im Zuge von Sozialisationsprozessen als Persönlichkeitsentwicklung fortwährend in einem Interaktionsverhältnis stehen, müssen diese Sozialisationsbedingungen aber als ein relevanter Faktor einbezogen werden. Die Sozialisationsbedingungen werden durch einen neu erhobenen Quellenbestand47 zudem nicht im Status allgemeiner gesamtgesellschaftlicher Rahmenbedingungen belassen, sondern in ihrer Konkretisation in individuellen und gruppenspezifischen Biografien analysiert. Auf diese Weise kann eine ‚differenzierte Kollektivbiografie‘ einer relevanten Gruppierung der sog. 68er erstellt werden. Ziel der vorliegenden Arbeit ist daher, in einer empirischen Überprüfung vorliegender Thesen zu den Akteur_innen einen Beitrag zur Erforschung des Phänomens ‚1968‘ zu leisten. Dazu löst sich diese Arbeit von einer kurzfristigen Zeitperspektive, um als bildungshistorische Untersuchung längere historische Zeiträume als Sozialisationskontexte in den Blick nehmen zu können.

43 Vgl. Klimke/Scharloth (2008), S. 3; Hodenberg/Siegfried (2006), S. 12. 44 Zum Sozialiationsbegriff ausführlich vgl. Abschnitt 4. Theoretischer Rahmen und Analyseperspektiven. 45 Vgl. Dehnavi (2013). 46 Zum Konzept der Lebenswelt als sozialisationshistorische Kategorie vgl. Groppe (2004), S. 22f. Dazu in dieser Arbeit ausführlich vgl. Teil II, Abschnitt 1.4 Deutschland zwischen 1930 und 1970 als Lebenswelt. 47 Vgl. Abschnitt 3.3 Quellen.

2. Forschungsstand und Erkenntnisinteresse

Die Literatur, die sich mit der Studentenbewegung in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik oder darüber hinausgehend mit ‚1968‘ befasst, ist ausgesprochen umfangreich; rechnet man aufgrund der inhaltlichen Überschneidungen auch all jene hinzu, die sich etwa mit einer Außerparlamentarischen Opposition zwischen 1966 und 1969 oder terroristischen Gruppierungen sowie sozialen Bewegungen in den 1970er Jahren als Ausläufer der Studentenbewegung befasst, ist die Literaturlage kaum noch zu überschauen.1 Dabei ist allerdings nicht zu übersehen, dass es sich in den ersten Jahrzehnten mehrheitlich um Kommentare und Deutungsversuche von Beteiligten handelt; eine systematische wissenschaftliche Bearbeitung ist, wie eingangs bereits angemerkt, erst mit den Versuchen einer Historisierung ab Ende 1990er Jahre zu verzeichnen. Mittlerweile scheint es jedoch kaum eine geistes- oder sozialwissenschaftliche Disziplin zu geben, aus der nicht ein Beitrag zur Protestphase in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre vorliegt. Entsprechend vielfältig sind die eingenommenen Perspektiven.2 Die bereits zeitgenössisch herausgegebenen Dokumentationen3 und kritischen Auseinandersetzungen, veröffentlicht durch Beteiligte,4 fokussierten auf die studen-

1

Zur Literaturlage zur Studentenbewegung und einem sich ab den späten 1970er Jahren erweiternden Fokus auf ‚1968‘ vgl. ausführlich Dehnavi/Wienhaus (2010).

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Neben einer Vielzahl von Bearbeitungen unter soziologischer und historischer Perspektive liegen auch Untersuchungen etwa aus der Politikwissenschaft (vgl .z.B. Juchler (1996); Kimmel (1998)), Literaturwissenschaft (vgl. z.B. Kamya (2005); Hecken (2008)) oder Erziehungswissenschaft (Brezinka (1974); Baader (2008a)).

3

Vgl. z.B. Hager (1967); Nevermann (1967); Benneter (1968); Giessler (1968); Jacobsen/Dollinger (1968); Zoller (1969).

4

Vgl. allein die Vielzahl von Publikationen von Professoren: z.B. Habermas (1969); die Beiträge in Schwan/Sontheimer (1969); Löwenthal (1970); Horkheimer (1988). Für Beiträge

24 | B ILDUNGSW EGE ZU ‚1968‘

tischen Proteste in der Folgezeit des 2. Juni 1967, welche schon bald darauf in weiter gefasster (jugend-) soziologischer Perspektive5 betrachtet und zehn Jahre nach dem symbolträchtigen Datum zum Gegenstand erster retrospektiver Darstellungen6 werden sollten. Bei einem Großteil dieser Rückblicke handelt es sich nach wie vor um ereignisgeschichtliche Darstellungen. In diesen wird der 2. Juni 1967 als das zentrale Datum der Protestphase gedeutet, als „Stunde Null des Protests“ oder als ein Wende- oder Radikalisierungspunkt, von dem an örtlich begrenzte und von kleinen studentischen Gruppen organisierte Proteste im universitären und außeruniversitären Kontext auf die gesamte Bundesrepublik übergriffen.7 So hatten bereits in den frühen 1950er Jahren in mehreren Städten von Studierenden organisierte Protestveranstaltungen gegen die Aufführung von Filmen des Regisseurs Veit Harlan, der in der NS-Zeit Propaganda-Filme gedreht hatte, stattgefunden.8 Ende der 1950er Jahre richteten sich Proteste über die nationalsozialistische Vergangenheit hinaus auch gegen die Wiederbewaffnung und das atomare Wettrüsten.9 Studentische Proteste seit den 1950er Jahren sind – neben Frankfurt a.M. und der dortigen Johann Wolfgang Goethe-Universität10 – für Berlin, vor allem von der Freien Universität ausgehend, gut dokumentiert und dort wird gemeinhin auch der Ursprung der Studentenbewegung gesehen.11 An der FU hatte es seit den 1950er Jahren Auseinandersetzungen zwischen Hochschulleitung und Studentenschaft um die studentische Selbstverwaltung, dem Alleinstellungsmerkmal der FU in der westdeutschen Hochschullandschaft, gegeben – Jahre, bevor studentische Mitbestimmung in der Universität zu einer zentralen Forderung der Studentenbewegung werden sollte.12 Die Auseinandersetzungen zwischen Hochschulleitung und Studentenschaft spitzten sich 1965 in der ‚Affäre Kuby-Krippendorf‘ zu.13 Das durch den Rektor der FU von Studierenden vgl. z.B. Institut für Begabtenförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung (1971). 5

Vgl. z.B. Allerbeck/Rosenmayr (1971); vgl. Allerbeck (1973).

6

Vgl. z.B. Bauß (1977); Mosler (1977).

7

Zitat bei Kraushaar (1999), S. 49. Zur Bedeutung des 2. Juni 1967 als Wendepunkt vgl. z.B. Bauß (1977); Tent (1988), S. 347; Langguth (2001), S. 18; Frei (2008), S. 112. Jarausch (1984), S. 226 datiert in seiner Geschichte deutscher Studenten seit 1800 auf diesen Tag den Beginn der „Rebellion der Studenten“.

8

Vgl. Fichter/Lönnendonker (2008), S. 55.

9

Vgl. Tent (1988), S. 295; Frei (2008), S. 78ff.

10 Vgl. die dreibändige Chronik von Kraushaar (1998b). 11 Vgl. z.B. Bauß (1977), insbesondere S. 44ff.; Tent (1988), S. 310; Bude/Kohli (1989); Rucht (1998); Frei (2008), S. 98ff. 12 Vgl. Tent (1988), S. 295ff.; Fichter/Lönnendonker (2008), S. 55. 13 Vgl. Bauß (1977), S. 47f.; Tent (1988), S. 311ff., S. 321ff.; ferner Rucht (1998), S. 122.

2. F ORSCHUNGSSTAND UND E RKENNTNISINTERESSE

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verhängte Redeverbot für den Journalisten Erich Kuby sowie die kurz darauf folgende Nichtverlängerung des Arbeitsvertrages des Assistenten am politikwissenschaftlichen Otto-Suhr-Institut Ekkehard Krippendorff provozierte den Protest der Studierenden, die durch diese Maßnahmen die Meinungsfreiheit an der Universität eingeschränkt sahen. In beiden Fällen gingen den Maßnahmen kritische Äußerungen über die FU bzw. den Rektor voraus. In dieser Phase, als „nach einzelnen Vorläuferaktionen“ in den frühen 1960er Jahren „das Moment des kollektiven öffentlichen Protests“ hinzutrat, wird entsprechend in einigen Betrachtungen der Beginn der Studentenbewegung verortet, welche am genannten 2. Juni 1967 jenen Punkt erreichte, von dem an die studentischen Proteste die gesamte Bundesrepublik ergriffen.14 Auch für die Stadt Berlin markiert der 2. Juni 1967 mit seinen gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Studierenden und Polizei einen Wendepunkt.15 Spätestens jetzt hatten die studentischen Proteste den universitären Kontext verlassen und wurden von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen. In Folge der öffentlichen Debatten über die Zusammenstöße, die in der Erschießung Benno Ohnesorgs kulminierten, sah sich der Regierende Bürgermeister Albertz letztlich als politisch Verantwortlicher zum Rücktritt gezwungen. Nach dem Sommer 1967 gelten der Vietnam-Kongress in Berlin im Februar 1968 und die Osterunruhen im April 1968 in Folge des Attentats auf den prominentesten Sprecher der Studentenbewegung, Rudi Dutschke, als herausragende Ereignisse in der Geschichte der deutschen Studentenbewegung. Dutschke war von einem Rechtsradikalen auf offener Straße niedergeschossen worden; Studierende, die in dem Attentat die Folge einer „Hetzkampagne“ der Zeitungen des Springer-Verlages sahen, protestierten daraufhin in mehreren Städten vor Verlagsgebäuden und Druckereien. Auch hier kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei.16 So lässt sich für die Berliner Studentenbewegung der Beginn der Protestphase ab spätestens 1965 festhalten. Die Hochphase der Studentenbewegung wird, wie eingangs bereits angeführt, auf die Zeit bis längstens Ende 1969, Anfang 1970 datiert, wenngleich manche Darstellungen das Ende der Protestphase deutlich früher ansetzen und ihr eine Dauer von kaum mehr als einem Jahr bis Mitte 1968 beimessen.17 In diesem Zusammenhang 14 Rucht (1998), S. 122. 15 Vgl. Tent (1988), S. 347ff. 16 Vgl. z.B. Bauß (1977); Frei (2008), insbesondere S. 154f. 17 Zur Datierung der Hochphase auf die Jahre 1967 bis 1969 vgl. z.B. Rucht (1998), S. 123; Frei (2008), S. 112ff., S. 151. Bei Langguth (2001), S. 33 ist die Studentenbewegung sogar „strenggenommen lediglich ein zwölfmonatiger Zeitraum in den Jahren 1967/1968“; auch Fichter/Lönnendonker (2008), S. 19; S. 21 veranschlagen diesen vergleichsweise kurzen Zeitraum für die ‚studentische Revolte‘ oder ‚antiautoritären Aufstand‘.

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ist betont worden, dass sich etwa in Berlin die Proteste zu diesem Zeitpunkt lediglich aus dem öffentlichen Raum zurückgezogen und sich vor allem auf den Campus beschränkt hätten,18 ein Eindruck, der bereits Ende der 1960er Jahre auch mit Blick auf andere Universitäten geäußert wurde19 und der sich so auch in den Dokumentationen und ereignisgeschichtlichen Darstellungen bestätigt.20 Tatsächlich ist für den Verlauf des Jahres 1969 ein deutliches Abklingen von öffentlichen Protesten verzeichnet worden.21 Als ein neuerlicher Wendepunkt ist dabei das Scheitern des Protests gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze im Mai 1968 gesehen worden.22 Dieser Protest war von Anfang an von einem breiten gesellschaftlichen Bündnis aus Gewerkschaften, Künstler_innen und Intellektuellen, Friedensbewegung und schließlich auch Studentenbewegung getragen worden.23 Der nachfolgende Zerfall der Bewegung ist auf Fraktionierung sowie Streitigkeiten zwischen den Studierenden über Ziele und Mittel des Protests zurückgeführt worden,24 die für den tonangebenden Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) zunehmende Gegenwehr von außen,25 aber auch weitere Fraktionierungen des Verbandes selbst bedeuteten. Die Konflikte zwischen den unterschiedlichen Lagern, die miteinander um die Bestimmung der theoretischen Grundlagen und politischen Ziele konkurrierten, beförderte schließlich die Selbstauflösung dieses Studierendenbundes,26 der sich als einer der ersten kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges gegründet hatte und in dessen Spektrum aus traditionell marxistischem Kern, einem ‚antiautoritären Lager‘, Feministinnen und verschiedenen Gruppen leninistischer und maoistischer

18 Vgl. Tent (1988), S. 371. 19 Vgl. Habermas (1969), S. 11. 20 Vgl. z.B. Zoller (1969); Kraushaar (1998b); Fichter/Lönnendonker (2008); Frei (2008); Wienhaus (2011). 21 Vgl. Rucht (1998), insbesondere die grafischen Darstellungen der Häufigkeit von Demonstrationen und der Höhe der Teilnehmerzahlen, S. 125ff. 22 Vgl. z.B. Habermas (1969), S. 10f.; Schmidtke (2003), S. 141f.; Frei (2008), S. 144ff. 23 Vgl. Bauß (1977), S. 112-166; Otto (1977); Richter (1998); Schmidtke (2003), S. 126-142; Frei (2008), S. 88ff., S. 144ff. 24 Vgl. z.B. Frei (2008), S. 146ff. 25 Zu Auseinandersetzungen zwischen dem SDS und opponierenden Studierendengruppen über die Frage nach der Demokratisierung der Universität vgl. Wienhaus (2011). 26 In dieser Arbeit wird in eigenen Kennzeichnungen grundsätzlich eine beide Geschlechter einschließende Begrifflichkeit gewählt. Organisationale Eigennamen werden davon ausgenommen.

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Couleur sich zuletzt auch die Themenvielfalt und Vielstimmigkeit des studentischen Protests insgesamt widerspiegelte.27 Mit der in den späten 1990er Jahren einsetzenden systematischen Forschung ist die vorwiegend ereignisgeschichtliche Erfassung der Studentenbewegung durch ideenund kulturgeschichtliche Analysen – gerade auch in erweitertem Fokus auf ‚1968‘ – ergänzt worden.28 Auf diese Weise sind zahlreiche Aspekte und Facetten der Protestphase untersucht worden: etwa die Bedeutung der unbewältigten NSVergangenheit in Deutschland29 und der Befreiungsbewegungen in zahlreichen Entwicklungsländern für die Studentenbewegung30, der Einfluss der Frankfurter Schule für die Bewegung in der Bundesrepublik,31 die internationale „Diffusion“ von Konzepten einer ‚unorthodoxen‘ Neuen Linken,32 wie überhaupt die Gemeinsamkeiten mit und Unterschiede zu Protesten in anderen Staaten,33 die neuen Aktionsformen des Protests in zivilem Ungehorsam (Sit-Ins, Institutsbesetzungen) und dem Versuch der Etablierung von Gegeninstitutionen, etwa die Errichtung einer ‚Kritischen Universität‘34 sowie künstlerischen Happenings.35 Gleichzeitig hat die Protestbewegung wichtige Impulse für die Soziale Bewegungsforschung geliefert, welche den besonderen Charakter von sozialen Bewegungen zu erfassen versucht, der sich aus dem zeitlich begrenzten Zusammenspiel von organisierten und in einer akuten Protestphase spontan mobilisierbaren Akteur_innen ergibt. In jüngerer Vergangenheit ist vor allem in bildungshistorischer Perspektive der Zusammenhang von Studentenbewegung und Entwicklungen im Erziehungswesen und Bildungssystem sowie die Politisierung von Studierenden untersucht worden. In dieser Hinsicht ist etwa auf die Entstehung von Kinderläden aus der Studentenbewegung heraus 27 Zur zunehmenden Fraktionierung des SDS als Auflösungsgrund vgl. Schmidtke (1998a), S. 205f.; Koenen (2002), S. 182ff.; Fichter/Lönnendonker (2008), S. 149. Zum SDS ausführlich vgl. Abschnitt 3. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) als zu untersuchendes Kollektiv. Zum Verhältnis von Inhalten des SDS und der Studentenbewegung vgl. insbesondere Bauß (1977). 28 Für die einsetzende systematische Historisierung seit den 1990er Jahre vgl. insbesondere den Sammelband von Gilcher-Holtey (1998a) sowie den Sonderband der „Westfälischen Forschungen“ (1998). 29 Vgl. Thamer (1998). 30 Vgl. Juchler (1996). 31 Vgl. Gilcher-Holtey (1998b); Kraushaar (1998b). 32 Vgl. Schmidtke (2003). 33 Vgl. Juchler (1996); Kimmel (1998). 34 Vgl. Groppe (2008), Schmidtke (2003), S. 225-240. 35 Vgl. Schmidtke (1998b); Schwiedrzik (1998).

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verwiesen worden, bei einem gleichzeitig auch über diese Kreise hinaus steigenden Interesse an Alternativen der außerhäuslichen Kleinkindbetreuung und liberalen Erziehungsstilen.36 Die Universität ist als Ziel von Protesten und als Ort veränderter Handlungsformen betrachtet und damit ihre Bedeutung für die Studentenbewegung über diejenige einer reinen Organisationsplattform hinaus betont worden.37 In stärker bildungspolitischer Ausrichtung ist allerdings ein Einfluss der Studierenden auf die Hochschulreformen am Ende der 1960er Jahre widerlegt worden.38 Mit sozialisationshistorischem Blick auf Aktivistinnen der Frauenbewegung der 1970er Jahre sind z.T. frühzeitigere und vor allem individuellere Politisierungsfaktoren als die studentischen Proteste oder die Auseinandersetzungen zwischen Männern und Frauen innerhalb des SDS herausgearbeitet worden.39 Gerade in diesen neueren, bildungshistorischen Arbeiten wird deutlich, dass der politische Protest und die gegenkulturellen Entwürfe wie auch ihre vermeintlichen Folgewirkungen in längerfristige gesellschaftliche Transformationen eingebunden sind. Solche längerfristigen Transformationen in den 1960er Jahren und darüber hinaus sind, wie gesagt, auch als Ergebnisse einer zeithistorischen Forschung präsentiert worden, die sich, zeitlich parallel zu der systematischen Betrachtung von ‚1968‘, seit Ende der 1990er Jahre den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik zugewandt hat. In einem weiteren und nicht von ‚1968‘ oder der Studentenbewegung bestimmten Fokus haben sich dort zahlreiche Entwicklungen, die ursächlich auf ‚1968‘ zurückgeführt worden waren, als bereits frühzeitiger einsetzend abgezeichnet, etwa ein allgemein steigendes Interesse an Politik und eine Politisierung von Jugendlichen, eine Liberalisierung der Sexualmoral, Forderungen nach einer Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, Protest gegen politische Willkür, der Wunsch von Frauen nach mehr Eigenständigkeit, die Pluralisierung von Lebensstilen.40 Wie eingangs bereits dargelegt, ist durch diese Ergebnisse die Bedeutung von ‚1968‘ als gesellschaftspolitische Zäsur erheblich relativiert worden und gleichzeitig ist nach der Bedeutung von ‚1968‘ innerhalb der ‚langen 60er Jahre‘ gefragt worden. Aus zeithistorischer Perspektive werden ‚1968‘ und in dessen Kern die Studentenbewegung als ein Kulminationspunkt von Liberalisierungstendenzen angesehen, die sich

36 Vgl. Baader (2008b). 37 Vgl. Groppe (2008). 38 Vgl. Rohstock (2010). 39 Vgl. Dehnavi (2013); für eine sozialhistorische Perspektive auf die Politisierung von Studierenden in der Studentenbewegung vgl. hingegen Spix (2008). 40 Vgl. u.a. die Beiträge im Sammelband von Schildt/Siegfried/Lammers (2003), darin als Überblick den Beitrag von Schildt (2003); die Beiträge im Sammelband von Frese/Paulus/Teppe (2005); Siegfried (2008a).

2. F ORSCHUNGSSTAND UND E RKENNTNISINTERESSE

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spätestens seit Ende der 1950er Jahre abzuzeichnen beginnen und sich ein Jahrzehnt später verdichten und beschleunigen.41 In der Auseinandersetzung mit Studentenbewegung und ‚1968‘ ist immer auch die Frage nach den Akteur_innen, nach ihrer sozialen Herkunft, ihren Motiven usw. gestellt worden. So fragt Hans-Ulrich Wehler im letzten Band seiner deutschen Gesellschaftsgeschichte im Kontext seiner Ausführungen zu jener Protestphase ganz direkt: „Wer waren diese neuen ‚Protestanten‘?“42 In dieser Frage drückt sich die Wahrnehmung einer ‚Neuartigkeit‘ nicht nur der Proteste, sondern eben auch der Akteur_innen gegenüber früheren Protestler_innen aus. Diese Wahrnehmung durchzieht die Betrachtungen der Akteur_innen insgesamt. Gerade die Soziologie hat zu den Fragen danach, wer die Akteur_innen waren, was sie in ihrer Sozialisation erfahren haben und was sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung beeinflusst hat, eine Reihe von Ansätzen geliefert. In diesen Beiträgen, von denen die ersten bereits zeitgenössisch veröffentlicht werden und deren Überlegungen z.T. bis in die jüngste Vergangenheit tradiert worden sind, wird den Akteur_innen eine besondere Bereitschaft oder Neigung zu Protest und Widerstand, ein außergewöhnliches „Protestpotential“43 unterstellt, zu dessen Erklärung spezifische Sozialisationserfahrungen in Kindheit und Jugend, insbesondere im familialen Sozialisationskontext herangezogen werden.44 Dabei wird dem Vater zentrale Bedeutung beigemessen, vornehmlich in seiner Abwesenheit, sei es in wörtlichem Sinn durch Fronteinsatz, Kriegsgefangenschaft oder Kriegstod, oder in einem übertragenen Sinn, etwa im Anschluss an Alexander Mitscherlichs „vaterlose Gesellschaft“45 durch eine veränderte Vaterrolle. Auf diese Weise werden die Proteste allerdings weniger als Reaktion auf konkrete politische, ökonomische oder soziale Probleme interpretiert, im Gegensatz etwa zur Frauenbewegung in den 1970er Jahren, die selbstverständlich als gesellschaftliche und politische Emanzipationsbewegung interpretiert worden ist.46 Stattdessen werden die studentischen Proteste vielmehr als ein sozialpsychologisches Phänomen gedeutet. Bereits zum Zeitpunkt der Proteste betonte der Sozialphilosoph Jürgen Habermas auch explizit die Notwendigkeit einer sozialpsychologischen anstelle einer ökonomischen Erklärung von Studenten- und Schülerbewegung und noch zwanzig Jahre später ist an anderer Stelle mit Blick auf die „Politisierung der Re41 Vgl. Hodenberg/Siegfried (2006); Siegfried (2008c). 42 Wehler (2008e), S. 315. 43 Habermas (1969), S. 60. 44 Zweifel an einer herausgehobenen Bedeutung der Herkunftsfamilie formuliert hingegen Fogt (1982), S. 143. 45 Vgl. Mitscherlich (1963). 46 Vgl. z.B. Schulz (2002); Dehnavi (2013).

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volte“ betont worden, dass in der „konservativ motivierten Kritik“ der Studentenproteste weniger reale Probleme als vielmehr die „Desorientierung“ einer Mittelschicht zum Ausdruck käme.47 In diesen Äußerungen wird ferner die Annahme über die Herkunft der Protestler_innen aus ökonomisch wohlsituiert gesellschaftlichen Schichten deutlich, die sich so auch in anderen Beiträgen wieder findet, bereits zeitgenössisch bei Max Horkheimer, in jüngerer Vergangenheit auch bei Gerd Langguth und Hans-Ulrich Wehler. An keiner anderen Stelle jedoch fallen die Ausführungen über die familiären Hintergründe der Aktivist_innen der Studentenbewegung und die daraus abgeleiteten psychischen Dispositionen und Ursachen eines „Protestpotentials“ allerdings so detailliert aus wie eben Ende der 1960er Jahre bei Jürgen Habermas. Habermas ist zu diesem Zeitpunkt als Professor der Universität Frankfurt a.M. am Institut für Sozialforschung direkt von den Protesten betroffen, der Protestbewegung steht er trotz direkter Auseinandersetzungen über ihre gesellschaftstheoretischen Grundlagen und ihre Proteststrategien nahe.48 In seiner Analyse der Protestursachen präsentiert Habermas bereits eine Reihe wesentlicher Begründungszusammenhänge, die sich in den folgenden Jahrzehnten in den Zuschreibungen zu den Akteur_innen in Studentenbewegung und ‚1968‘ wiederholen. In seiner Diagnose resultiert aus dem Zusammenspiel von ökonomischem Wohlstand und liberaler Erziehung in den „bürgerlichen Elternhäusern“ der Aktivist_innen „ein prinzipielles Unverständnis für die sinnlose Reproduktion überflüssig gewordener Tugenden und Opfer.“49 Er wendet sich mit seiner These gegen die zu seiner Zeit weitgehend geteilte Erklärung der Proteste in Deutschland – wie auch in anderen Industriegesellschaften – durch die Diffusion weltweiter antikapitalistischer Proteste.50 Solche Erklärungsansätze würden die „heterogenen Motive in den verschiedenen Gesellschaftssystemen“ übersehen.51 Vielmehr sei zu beobachten, dass sich die Akteur_innen durch ihren privilegierten Status dem „Diktat der Berufsarbeit“ und der „Ethik des Leistungswettbewerbs“ als ‚Spielregel‘ der kapitalistischen Gesellschaft entzögen: „Die Protestgruppe der Studenten und Schüler ist privilegiert. Hier kann sich ein Konflikt nicht am Ausmaß der geforderten Disziplinierungen und Lasten, sondern nur an der Art der imponierten Versagungen entzünden. Nicht um einen höheren Anteil an sozialen Entschädigungen der verfügbaren Kategorien: Einkommen und arbeitsfreie Zeit, kämpfen Studenten und Schüler. Ihr Protest richtet sich vielmehr gegen die Kategorie der ‚Entschädigung‘ selbst. Der Protest 47 Vgl. Habermas (1969), S. 192; Fuhrmann et al. (1989), S. 149, Zitat ebd. 48 Vgl. Wiggershaus (1986), S. 684ff. 49 Habermas (1969), S. 193. 50 Vgl. Habermas (1969), S. 33f. 51 Habermas (1969), S. 34.

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dieser Jugendlichen aus bürgerlichen Elternhäusern entzieht sich dem Muster des seit Generationen üblichen Autoritätskonflikts überhaupt. Ihre Sozialisation hat sich eher in den vom unmittelbaren ökonomischen Zwang freigesetzten Subkulturen vollzogen, in denen die Überlieferung der bürgerlichen Moral und deren kleinbürgerlichen Ableitungen ihre Funktion verloren haben. Die eher liberalen Erziehungstechniken können Erfahrungen ermöglichen und Orientierungen begünstigen, die mit der konservierten Lebensform einer Ökonomie der Armut zusammenprallen.“52

Habermas schließt hier also aus der sozialen Herkunft und einer damit verbundenen spezifischen, latent widersprüchlichen Sozialisation und Erziehung auf die Ausbildung bestimmter Werthaltungen, deren gesellschaftsrelevantes Konfliktpotenzial zunächst ebenfalls latent ist, welches sich jedoch zu einem späteren Zeitpunkt in einer Weise manifestieren kann, wie sie in der Studentenbewegung sichtbar wird. Diesen Vorgang fasst Habermas an anderer Stelle selber pointiert zusammen: „Das Protestpotential wird offensichtlich in bürgerlichen Elternhäusern erzeugt, auch wenn es in Bildungssystemen und später in Berufssituationen erst aktualisiert wird, die unabhängiges Konfliktpotential enthalten.“53 Zwei gängige Erklärungsansätze zur Studentenbewegung aufgreifend, konkretisiert Habermas seine Überlegungen zur Entstehung des genannten Protestpotentials und differenziert diese weiter aus. In jenen Thesen werden die Aktivist_innen der Studentenbewegung jeweils einer „befreiten Generation“ oder einer „vaterlosen Generation“ zugerechnet, die sich durch unterschiedliche Erziehung und Vaterbeziehungen bei gleicher sozialer Herkunft auszeichnen.54 Die Vertreter_innen der „befreiten Generation“ beschreibt Habermas auf Grundlage von Daten zur USamerikanischen Studentenbewegung als studentische Elite, die aus sozial privilegierten Familien stammten und überdurchschnittliche akademische Leistungen zeigten.55 In diesen Familien dominierten liberale Erziehungsstile, entsprechend fehle die autoritäre Vaterfigur und die Kinder identifizierten sich mit einer rücksichtsvollen Mutter. Diese Studierenden zeichne eine „Sensibilität für Verletzung“ aus und ihr Protest sei somit eine praktische Fortsetzung der von den Eltern bislang nur verbal vertretenen Werte.56 Die Beschreibung dieser Studierenden allein, so Habermas, sei jedoch nicht erschöpfend zur Erklärung der Studentenbewegung, da sie einen weiteren Teil der Bewegung, der sich im Gegensatz dazu durch „neue Insensibilität“, durch „informationsarme Situationsdeutungen und projektive Handlungsorien52 Habermas (1969), S. 192f. 53 Habermas (1969), S. 34. 54 Vgl. Habermas (1969), S. 34f. Zitate S. 34, S. 35. 55 Vgl. Habermas (1969), S. 34f. 56 Vgl. Habermas (1969), S. 35. Zitat ebd.

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tierungen, starke narzißtische Besetzungen und mangelnde Affektkontrolle“ auszeichne, nicht erfassen könne.57 Diese Insensibilität sei das Resultat einer permissiven Erziehung, die „aber Momente der Vernachlässigung“ enthalte, und einer „gestörten“ Balance in den Elternbeziehungen: „Das Identifikationsmodell des Vaters bleibt unscharf, die Internalisierung von Vorbildern und Normen ist eher schwach, und die Ausbildung von Über-Ich-Strukturen gehemmt. Trotz dem Schein von Liberalität fördert ein solches Erziehungsmuster nicht die Autonomie der IchOrganisation.“58 Gleichzeitig seien diesen Vertreter_innen einer „vaterlosen Generation“,59 den Belastungen des Massenstudiums weniger gewachsen, erbrächten schwächere Leistungen und würden häufiger das Studium abbrechen. Entsprechend rechnet Habermas vor allem auch die „Nicht- und Nicht-mehr-Studenten“ in der Studentenbewegung zu diesem Typus von Akteur_innen, die er für eine zunehmende Radikalisierung der Bewegung verantwortlich macht.60 Beide Erklärungsansätze zusammen seien geeignet, das „Janusgesicht“ der Bewegung durch das Zusammentreffen von emanzipatorischen und regressiven Kräften zu erklären.61 Habermas‘ sozialpsychologische Erklärungen der Studentenbewegung sind allerdings bereits zeitgenössisch kritisiert worden, ohne jedoch seiner Einschätzung der sozialen Herkunft zu widersprechen.62 Die Grundlage für seine Hypothesen, sofern Habermas sie überhaupt ausweist, bilden dabei Informationen über die Herkunft von Aktivist_innen der US-amerikanischen Studentenbewegung.63 Inwiefern diese auf die deutsche Bewegung zu übertragen sind, ist angesichts der unterschiedlichen Hochschulsysteme in den USA und der Bundesrepublik, aber auch vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Entwicklungen in den vorangegangenen Jahrzehnten in den beiden Ländern und insbesondere die unterschiedliche Betroffenheit durch den Zweiten Weltkrieg, überaus fraglich. Durch das Abitur als Zugangsberechtigung zur Universität sowie durch die Freiheit von allgemeinen Studiengebühren – abgesehen von vergleichsweise geringen Beleggebühren – gestaltet sich bereits in jener Zeit das bundesdeutsche Universitätssystem deutlich offener als jenes in den USA, wo die Zulassung zum Studium grundsätzlich den Universitäten vorbehalten ist, an die ggf. z.T. hohe Studiengebühren zu zahlen sind. Entsprechend setzt sich in den 1960er Jahren auch der bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts zu verzeichnende An57 Habermas (1969), S. 36. 58 Habermas (1969), S. 36. 59 Habermas (1969), S. 35. 60 Vgl. Habermas (1969), S. 35f. Zitat ebd. 61 Vgl. Habermas (1969), S. 37. Zitat ebd. 62 Vgl. Abendroth et al. (1968); darin zur Kritik der sozialpsychologischen Erklärung die Beiträge von Cerutti, Brückner und insbesondere Reiche. 63 Vgl. Habermas (1969), S. 34, S. 37.

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stieg von Studierenden aus nicht-akademischen Elternhäusern fort.64 Dennoch scheint am Ende jenes Jahrzehnts die Vorstellung von der Studierendenschaft in Deutschland immer noch geprägt zu sein von einer ‚bürgerlichen‘ Dominanz, wie sie während des 19. Jahrhunderts zutraf. Dem entspricht auch das Bild, das Max Horkheimer – jahrzehntelang Leiter des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt a.M. an dem Habermas seinerzeit tätig ist, Horkheimer selbst ist zu diesem Zeitpunkt emeritiert – von den Aktivist_innen der Studentenbewegung zeichnet. In Horkheimers Wahrnehmung entsprechen die Aktivist_innen der von Habermas benannten „vaterlosen Generation“: Im Nachgang zu der Frage, „was die Studenten im Grunde bewegt“, sieht er die schwindende Autorität des Vaters als das ursächliche Problem der Studentenbewegung. Entsprechend stellt diese für ihn letztlich eine Rebellion gegen den Vater dar und den Ausdruck einer „Krise der Autorität auf allen Lebensgebieten“, in welcher mit der Autorität des Vaters auch die von Regierungsvertretern und „insbesondere diejenige der Professoren“ schwinde. Die radikalsten Vertreter_innen der Bewegung, so Horkheimer, stammten „ebenso wie eine Mehrzahl der Hippies aus ‚gutbürgerlichen‘ Elternhäusern […], für deren Zukunft gesorgt ist.“65 Auch Horkheimers Äußerungen entbehren dabei einer empirischen Basis jenseits des persönlichen Eindrucks; dieser Eindruck, wie auch bereits in Habermas‘ Ausführungen ersichtlich, erweist sich allerdings in hohem Maße als von den Studien des Instituts über „Autorität und Familie“ aus den frühen 1930er Jahren beeinflusst.66 In diesen vornehmlich theoretischen und psychoanalytisch orientierten Arbeiten ist die Auffassung von der patriarchalischen bürgerlichen Familie als Grundlage gesellschaftlicher Werte, Normen und Handlungsorientierungen zentral. Dabei kommt dem Vater eine Mittlerfunktion zwischen Gesellschaft und Familie zu, dessen Autorität wesentlich „durch seine Rolle in der Gesellschaft begründet und die Gesellschaft mit Hilfe der patriarchalischen Erziehung zur Autorität erneuert wurde.“67 In einem solchen Familien- bzw. Vaterbild bedeutet der Autoritätsverlust des Vaters zwangsläufig die gesellschaftliche Destabilisierung einer autoritätsgebundenen Gesellschaft und umgekehrt.

64 Vgl. Jarausch (1984), insbesondere S. 71ff. Zur Frequenzentwicklung und Entwicklungen der Sozialstruktur an den Universitäten in Deutschland vgl. die detaillierten Darstellungen in den entsprechenden Datenhandbüchern zur deutschen Bildungsgeschichte Titze (1987), (1995); Lundgreen (2008). 65 Vgl. Horkheimer (1968/1988), S. 504, Zitate ebd. 66 Zu den Grundlagen und den Arbeiten an diesen Studien vgl. Wiggershaus (1986), S. 171178. 67 Institut für Sozialforschung (1936), S. 75.

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Entsprechend spielt über 30 Jahre später, als sich die Vorstellung von einer zentralen Vaterrolle und einer existierenden ‚autoritären Gesellschaft‘ überlebt hat, der Autoritätsverlust des Vaters beim Politologen Gerd Langguth und beim Historiker Hans-Ulrich Wehler keine Rolle mehr. Gleichwohl stellen beide übereinstimmend mit Habermas und Horkheimer einen Zusammenhang zwischen bürgerlicher Herkunft und Protestpotenzial der Student_innen her. Dabei wird die soziale Herkunft auf bestimmte Berufsgruppen eingegrenzt und die Betonung von liberalem Elternhaus sowie ökonomischer Interessenlosigkeit des Protests wiederholt. Wehlers Antwort auf seine oben zitierte Frage nach den „neuen Protestanten“ lautet: „Die Engagierten stammten überwiegend aus Elternhäusern, in denen sie eine liberale Erziehung genossen hatten, die sie auch für moralische Entscheidungen sensibilisierte; auffällig oft hatten die Aktivisten einen Lehrer oder Pfarrer als Vater. Aufs Ganze gesehen handelte es sich um ein Segment der Oberklassenjugend, das seine ideellen und moralischen Motive betonte, aber keineswegs ökonomische Interessen verfolgte.“68

Ähnlich formuliert Langguth: „Übrigens stammten die Revoltierenden besonders häufig aus solchen Elternhäusern, die eine normative Vorgabe eines ‚Dienstes für die Gemeinschaft‘ repräsentierten (Lehrer, Pfarrer, Adelswelt).“69 Beispiele für eine soziale Herkunft von weniger gehobenem Status, wie etwa die aus der DDR und „kleinbürgerlichen“ Verhältnissen stammenden Rudi Dutschke und Bernd Rabehl, zwei der prominentesten Berliner Studentenführer, werden von Langguth als Ausnahmen in dieses Muster integriert. In Übereinstimmung mit der von Habermas skizzierten „befreiten Generation“ und damit im Gegensatz zu Horkheimer stellt Langguth heraus, dass sich der Protest in der Regel nicht gegen die eigenen Eltern gerichtet habe. Aber anders als Habermas und Horkheimer interpretiert Langguth die studentischen Proteste letztlich als Ausdruck einer „Krise des Bürgertums“: „Das Versagen des deutschen Bürgertums gegenüber dem Nationalsozialismus führte auch zu einer inneren Unsicherheit eines großen Teils weniger der politischen, vielmehr der ökonomi-

68 Wehler (2008e), S. 315. Auch wenn Wehler in diesem Kontext nicht den Terminus „bürgerlich“ oder „Bürgertum“ verwendet, ist jedoch aufgrund seiner weitreichenden Ausführungen zum Bürgertum in Deutschland im Gesamtwerk seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ und insbesondere jener zu einer „Renaissance des Bürgertums“ nach 1945 im letzten Band, dem auch obiges Zitat entnommen ist, unzweifelhaft, dass er hier von einer bürgerlichen Herkunft in diesem Sinne spricht. Vgl. Wehler (2008e), S. 136f. 69 Langguth (2001), S. 99.

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schen und der geisteswissenschaftlich-intellektuellen Elite. Die Protestbewegung interpretierte sich selbst als eine Art nachgeholten Widerstands.“70

Ausgehend von den Thesen über eine ‚bürgerliche‘ Herkunft wird die Studentenbewegung hier also insgesamt als ein Ausdruck von Krisen gedeutet – des Kapitalismus, der bürgerlichen Familie oder insgesamt des Bürgertums. Dabei basieren die Einschätzungen der sozialen Hintergründe der Aktivist_innen und entsprechend der Protestursachen und Deutungen der Studentenbewegung, die die Autoren damit verknüpfen, nicht auf einer empirischen Grundlage; vielmehr scheinen sie von einem historisch überholten Bild der Studierendenschaft beeinflusst. Wie oben bereits angemerkt, ist für die Studierendenschaft seit dem späten 19. Jahrhundert, zumindest mit Blick auf die soziale Rekrutierung, eine fortschreitende soziale ‚Entbürgerlichung‘ zu verzeichnen. Mit dem massiven Anstieg von Studierendenzahlen ab Mitte der 1950er Jahre nehmen auch die Studierenden aus nicht-bürgerlichen Elternhäusern stetig zu.71 Insofern ist also fraglich, ob es sich bei der Studentenbewegung tatsächlich um eine ‚bürgerliche‘ Bewegung handelte, im Sinne der Herkunft ihrer Akteur_innen aus dem ‚Bürgertum‘. Andererseits ist in diesem Zusammenhang zu fragen, was denn Ende der 1960er Jahre überhaupt noch als ‚Bürgertum‘ qualifiziert benannt werden kann. Vor dem Hintergrund, dass die Kennzeichen dieser zunächst sehr schmalen Gesellschaftsschicht seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in immer weitere Teile der Gesellschaft diffundierten, sind in der Bürgertumsforschung die Bestimmungsmerkmale von Wirtschafts- und Bildungsbürgertum bereits für das deutsche Kaiserreich diskutiert worden.72 Gerade mit Blick auf die Anerkennung und praktische Umsetzung von ‚bürgerlichen‘ Lebensmustern73, Normen und Werten in weiten Teilen der Gesellschaft, die immer stärkere Expansion höherer Bildung und die durch soziale Mobilität letztlich immer stärkere Differenzierung einer vormalig kleinen und geschlossenen gesellschaftlichen Formation ‚Bürgertum‘ ist schließlich die Frage aufgeworfen worden, inwiefern für die Zeit nach 1945 überhaupt noch von einem ‚Bürgertum‘ gesprochen werden könne.74 Aufgrund der weitreichenden gesellschaftlichen Diffusion bürgerlicher Werte, 70 Langguth (2001), S. 177. 71 Zur sozialen Zusammensetzung der Studierendenschaft in dieser Zeit vgl. Kath (1969), S. 39-59; Lundgreen (2008), S. 82f.; 72 Für einen Überblick über diese Diskussion vgl. Groppe (2001), S. 24-45. 73 Mit dem Begriff des „Lebensmusters“ erfasst Groppe (2004), S. 24 die von „historischen Individuen und Gruppen vorgenommene Sinndeutung ihres Lebens und die Ziele, die sie für ihr Leben implizit oder explizit formulieren.“ 74 Zur Frage nach ‚Bürgertum‘ und ‚Bürgerlichkeit‘ nach 1945 vgl. Wehler (2001); Conze (2004); Hettling/Ulrich (2005); Rauh (2008).

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Normen und Handlungsorientierungen – Bildung, Leistungsethik und -verhalten, bürgerschaftliches Engagement usw. – ist der Begriff der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ für die Bundesrepublik unterbreitet worden. Die gesellschaftliche Utopie des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts und die sich abzeichnende Hegemonie bürgerlicher Werte und Normen seit dem Kaiserreich und verstärkt dann im 20. Jahrhundert, wurde in der Forschung begrifflich genutzt, um den Wohlstandszuwachs und die damit einhergehende ‚Verbürgerlichung‘ in der Lebensführung weiter Teile der Gesellschaft zu kennzeichnen.75 In dieser Arbeit wird entsprechend zu prüfen sein, inwiefern die Akteur_innen ‚bürgerliche‘ Kennzeichen aufweisen – sei es im Sinne eines traditionellen Bürgertumsbegriffs als sozialhistorische Kategorie, wie er in den referierten Thesen transportiert wird, oder aber auch im Sinne von ‚Bürgerlichkeit‘ als Ausdruck von ‚bürgerlichen‘ Lebensmustern und Wertorientierungen, die in der Untersuchung an entsprechender Stelle genauer aus den Quellen extrapoliert werden. Den Annahmen über eine ‚bürgerliche‘ Herkunft der Akteur_innen und den damit verbundenen Hypothesen über ihre Sozialisationsbedingungen stehen allerdings seit Beginn der Studentenbewegung Hypothesen gegenüber, die, den Blickwinkel über ein bestimmtes Herkunftsmilieu hinaus erweiternd, die Akteur_innen einer in spezifischer Weise geprägten Generation zurechnen. In dieser Perspektive werden generationstypische Erfahrungen verantwortlich gemacht für die Herausbildung einer ‚Protestgeneration‘, welche nach ihren Sozialisationserfahrungen und ihren politischen und gesellschaftlichen Anliegen gegenüber vorhergehenden Generationen abgegrenzt wird. Mit Hilfe solcher Generationenabfolgen – und den konflikthaften Auseinandersetzungen zwischen den jeweiligen Generationen – werden letztlich auch die Entwicklungen und Veränderungen in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, insbesondere die Festigung der Demokratie und ihre Verankerung in der Bevölkerung, erklärt.76 Bereits zeitgenössisch und noch bis in die jüngere Vergangenheit finden sich Deutungen der Proteste als „Aufstand der Jugend“ oder „Jugendrevolte“, die einen Generationenkonflikt zumindest implizieren und in denen sich zudem die Wahrnehmung der Akteur_innen als Heranwachsende ausdrückt.77 Seit den späten 75 Für einen Überblick über die Entwicklung des Begriffs der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ und seiner Anwendung auf die Bundesrepublik vgl. Fischer (2008). 76 Zum Zusammenhang von Generationenabfolge und gesellschaftlichen wie politischen Veränderungen vgl. insbesondere die Beiträge im Sammelband von Reulecke (2003) zu „Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert“. 77 Vgl. z.B. Bundesministerium des Innern (1969); Allerbeck/Rosenmayr (1971); Reulecke (1986); Lindner (1996); Roth/Rucht (2000); Frei (2008).

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1970er Jahren werden die Proteste allerdings nicht mehr als eine ‚Adoleszenzkrise‘ betrachtet.78 Seit jener Zeit haben sich neutralere Generationsbezeichnungen durchgesetzt, etwa mit Bezug auf die zugeschriebene Alterskohorte die einer „40er Generation“ oder mit Bezug auf die Protestphase und ihre zur Chiffre ‚1968‘ codierten Ereignisse die einer „68er Generation“.79 Unverändert bleibt allerdings die Wahrnehmung dieser Generation als im Vergleich zu den vorangehenden Generationen – der „skeptischen Generation“ oder der „Flakhelfer“- bzw. „45er Generation“80 – außergewöhnlich politisch oder rebellisch.81 Gleiches gilt für die Absetzung dieser Generation gegenüber einer unpolitischen Nachfolgegeneration der „Konsumkinder“.82 Und auch wenn diese ‚Protestgeneration‘, wie einleitend skizziert, über mediale Verbreitung als ‚die 68er‘ Eingang in das kollektive Gedächtnis und den alltagssprachlichen Diskurs über die 1960er Jahre gefunden haben, ist keineswegs eindeutig, wer dieser Generation eigentlich zuzuordnen ist.83 Diese Frage wird durch einen Vergleich der Beschreibungen dieser Generation eher dringlicher als klarer: Grundsätzlich werden zur Erklärung der unterschiedlichen Generationsgestalten der ‚45er‘ und ‚68er‘, also der Unterschiede im sozialen Handeln dieser aufeinander folgend konzipierten Generationen,84 distinktiv verschiedene prägende Erlebnisse in Kindheit und Jugend herangezogen. Für die ‚68er Generation‘ fallen diese Zuordnungen allerdings unterschiedlich bis gegensätzlich aus, gerade was die Bedeutung des 78 Als eine Ausnahme in den frühen 1990er Jahren bildet das Zitat von Große bei Schneider (1993), S. 9, der mit den Worten widergegeben wird, „[e]ine dümmere Revolution als die von 1968“ habe es nie gegeben, sie sei „bestenfalls der Höhepunkt der Pubertät“ gewesen. 79 Bereits 1978 verwendet Hartung im „Kursbuch“ 54 den Begriff „68er Generation“ wie selbstverständlich, vgl. Hartung (1978), S. 187. Zum Begriff der „40er Generation“ als der „um 1940 Geborenen“ vgl. Arbeitsgruppe „Wandel der Sozialisationsbedingungen seit dem Zweiten Weltkrieg“ (1983), S. 13. Dazu ausführlich s.u. 80 Zur „skeptischen Generation“ vgl. Schelsky (1957); zur „Flakhelfer-Generation“ vgl. insbesondere Bude (1987). Moses (2000) und im Anschluss an diesen Herbert (2003) und Schörken (2004) stellen diese „Flakhelfer-Generation“ als „45er-Generation“ den „68ern“ direkt gegenüber. 81 So sieht Lucke (2008) die „68er“ als die „vielleicht einzige politische Generation“ in der Bundesrepublik, als deren „Gegenspieler“ (S. 67) er die „Skeptische Generation“, wie Helmut Schelsky (1957) sie skizziert hat, identifiziert. 82 Vgl. Preuss-Lausitz et al. (1983). 83 So betont etwa Baader (2008a), S. 9, dass es ‚die 68er‘ nicht gibt und verweist damit auf die Konstruktion dieser Generation. 84 Zum Generationenbegriff ausführlich vgl. Abschnitt 4. Theoretischer Rahmen und Analyseperspektiven.

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Zweiten Weltkriegs angeht. So gilt einerseits der Zusammenbruch zum Kriegsende als prägende Erfahrung – genau dieses Erlebnis wird allerdings auch in der Literatur zur „Flakhelfer“- bzw. „45er-Generation“ als das generationsstiftende Ereignis dieser Generation angesehen.85 Weitaus häufiger werden jedoch die (späten) 1950er und frühen 1960er Jahre und insbesondere das Aufwachsen dieser „Angehörige[n] der erste[n] echten Nachkriegsgeneration“ im zunehmenden Wohlstand des ‚Wirtschaftswunders‘ als prägend betrachtet.86 Daneben formuliert Jürgen Busche eine Mittelposition, nach der gerade die aufeinanderfolgenden Erfahrungen von Kriegsende und zunehmendem Wohlstand und der Wechsel zwischen diesen Extremen als maßgeblich anzusehen sei.87 Damit werden unter anderem völlig konträre ökonomische Bedingungen des Aufwachsens unterstellt: Während einerseits gerade die Armut am Ende des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren als ein maßgeblicher Faktor angenommen wird, sehen andere Deutungen gerade den bis dato ungekannten Wohlstand in der Folgezeit als grundlegende Voraussetzung an, aus der bislang nicht gekannte Freiheiten für die junge Generation erwachsen seien. So konstatiert Götz Aly: „Die Achtundsechzigergeneration der untergegangenen westlichen Teilrepublik war die erste, die es sich leisten konnte, ihre Jugendzeit – definiert von als Arbeit und Verantwortung entlasteter Lebensabschnitt – beträchtlich auszudehnen.“88 Ein maßgeblicher Einfluss des Zweiten Weltkriegs auf die Sozialisation der ‚Protestgeneration‘ wird insbesondere von einer Gruppe von Soziolog_innen um Ulf Preuss-Lausitz konstatiert, die sich Anfang der 1980er Jahre in der Betrachtung unterschiedlicher Jugendgenerationen in der Bundesrepublik – „Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder“ – erstmals dezidiert mit den Ursachen eines ‚Protestpotenzials‘ der „40er Generation“ auseinandersetzt.89 Dieser Generation der „um 1940 Geborenen“90 werden neben den Halbstarken der 1950er Jahre die Studierenden der Studentenbewegung zugeordnet: „Die 40er Generation ist unstreitig eine rebellische Generation. Das haben die von ihr getragenen Halbstarken-Krawalle ebenso gezeigt 85 Zum Kriegsende als prägender Erfahrung der „40er Generation“ vgl. Preuss-Lausitz et al. (1983); zu dessen Bedeutung für die „Flakhelfer“- bzw. „45er“-Generation vgl. Bude (1987); Moses (2000); Herbert (2003), S. 102; Schörken (2004). 86 Keller (2000), S. 115. Zur Bedeutung des zunehmenden Wohlstands für die ‚68er‘ vgl. ferner Herbert (2003), S. 109; Schörken (2004); Aly (2008), S. 11. 87 Vgl. Busche (2003), S. 31. 88 Aly (2008), S. 11. 89 Vgl. Preuss-Lausitz et al. (1983); darin Arbeitsgruppe „Wandel der Sozialisationsbedingungen seit dem Zweiten Weltkrieg“ (1983), S. 13. 90 Vgl. Arbeitsgruppe „Wandel der Sozialisationsbedingungen seit dem Zweiten Weltkrieg“ (1983), S. 13.

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wie die von ihr wesentlich mitgetragene Studentenrevolte. Was in ihren Aufwachsbedingungen disponierte dazu?“91 Als Antwort darauf dominiert in den Beiträgen die Annahme, dass das rebellische Potential maßgeblich durch den Widerspruch zwischen real erlebter Freiheit und rigiden Erziehungsnormen befördert worden sei. Soziale Desorganisation der Familien in der Kriegs- und Nachkriegszeit und die dadurch mangelnde Kontrolle hätten Kindern und Jugendlichen zunächst ungekannte Freiheiten ermöglicht; dieser Freiheit hätten jedoch, zumal nach Rückkehr des Vaters aus der Kriegsgefangenschaft, autoritäre Familienstrukturen und Erziehungsstile und -ziele gegenüber gestanden.92 Mögliche schicht- oder milieuspezifische Unterschiede werden dabei nicht thematisiert, lediglich bei der Unterscheidung von Halbstarken- und Studentenprotesten.93 Stattdessen werden hier die existenziellen Notlagen weiter Teile der Bevölkerung gegen Ende des Krieges und in der Nachkriegszeit als wesentlicher Faktor für die Entstehung des „Kontroll-Lochs“94 betrachtet, der gleichzeitig zu einer frühen Einbindung in die Existenzsicherung der Familie (etwa durch Nahrungsbeschaffung) und damit für Anerkennung von Kindern und Jugendlichen als der Mutter gleichgestellten Teil der Familie geführt habe.95 Diese Anerkennung sei durch die Rückkehr des Vaters von der Front oder aus der Kriegsgefangenschaft verloren gegangen oder zumindest in Frage gestellt worden, was einen maßgeblichen Konflikt bedeutet habe. Damit werden die von dieser Generation ausgehenden Proteste erneut in erster Linie sozialpsychologisch gedeutet. Diese Sichtweise ist auch bis in die jüngste Vergangenheit typisch. Noch 25 Jahre später sieht der Historiker Norbert Frei in den Studentenprotesten in ähnlicher Weise eine Übertragung früherer innerfamiliärer Konflikte auf die Universität: „Das im Klima des ‚kommunikativen Beschweigens‘ der Vergangenheit in den fünfziger Jahren vielfach gescheiterte Gespräch zwischen Vätern und Söhnen, Müttern und Töchtern bildete den gleichsam negativen Grundstock von Erfahrungen, die sich dann im Studium wiederholten und bestätigten.“96 91 Vgl. Arbeitsgruppe „Wandel der Sozialisationsbedingungen seit dem Zweiten Weltkrieg“ (1983), S. 23. 92 Vgl. Preuss-Lausitz et al. (1983), darin die Beiträge von Schütze/Geulen, Fischer-Kowalski, Kulke, Preuss-Lausitz. Zur Verortung von „Halbstarken“ und „68er Generation“ in einer Generation vgl. auch Zinnecker (2002). 93 Vgl. Fischer-Kowalski (1983), S. 55. 94 Fischer-Kowalski (1983), S. 61. 95 Vgl. Schütze/Geulen (1983), Fischer-Kowalski (1983), Kulke (1983). 96 Frei 2008, S. 80.

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Frei bringt hier, in Übereinstimmung mit anderen gängigen Deutungen der Studentenbewegung, die nationalsozialistische Vergangenheit der Eltern ins Spiel und fasst in diesem Zusammenhang nicht nur die Beziehung zum Vater als problematisch. Auch Heinz Bude schreibt der Vergangenheit der Elterngeneration maßgebliche Bedeutung zu, sieht allerdings – ähnlich wie bereits Langguth im Zusammenhang mit einer Krise des Bürgertums (s.o.) – im „nachgeholten Widerstand“ das zentrale Motiv der Protestbewegung, welcher sich mit dem Versuch, die Elterngeneration zu entschulden, verbindet:97 „Die Generation der später so bezeichneten Achtundsechziger-Generation stellt sich von ihrer Kindheit her betrachtet als eine Geschichte mißlungener Ent-Identifizierungen von ihren Eltern dar. Sie kommen nicht los von dem ihnen so früh eingepflanzten Gefühl des Schuldig-Seins.“98

Welcher Einfluss dem Zweiten Weltkrieg, der nationalsozialistischen Vergangenheit der Eltern oder den ökonomischen Bedingungen des Aufwachsens beigemessen werden kann, ist letztlich abhängig von der Alterskohorte, die der ‚Protestgeneration‘ zugrunde gelegt wird. Entsprechend rangieren die zugerechneten Geburtsjahrgänge insgesamt zwischen den späten 1930er Jahren und 1950. Die bei PreussLausitz et al. zunächst grob mit den „um 1940 Geborenen“ eingegrenzte Generation wird präzisiert auf die Alterskohorte der Jahrgänge 1939 bis 1945.99 Wird die relevante Alterskohorte dort also auf die Kriegsjahrgänge reduziert, umfassen die ‚68er‘ in anderen Konzeptionen in der Regel eine Dekade, etwa bei Heinz Bude, der in dieser Generation die Jahrgänge 1938 bis 1948 versammelt sieht,100 oder bei Albrecht von Lucke, der die ‚68er‘ den Geburtsjahrgängen 1940 bis 1950 zuordnet101. Eine ähnliche Eingrenzung der ‚68er‘ auf „ziemlich genau die 40er Jahrgänge“ nimmt Ulrich Herbert vor, ebenso Norbert Frei.102 Etwas enger gefasst, jedoch auch vergleichsweise jünger, ist die Alterskohorte wiederum bei Jürgen Busche, dessen Ansicht nach sich die ‚68er‘ „recht genau“ auf die Jahrgänge zwischen 1942/43 und 1948/49 festlegen lassen würden.103 Interessanterweise zeichnet nach Ulrich Her-

97

Vgl. Bude (1997), S. 35f.

98

Bude (1997), S. 35.

99

Vgl. Arbeitsgruppe „Wandel der Sozialisationsbedingungen seit dem Zweiten Weltkrieg“ (1983), S. 13. Herbert (2003), S. 109.

100

Vgl. den Untertitel bei Bude (1997): „Die Jahrgänge 1938-1948“.

101

Vgl. Lucke (2008), S. 13.

102

Herbert (2003), S. 109; Frei (2008), S. 79.

103

Vgl. Busche (2003), S. 31.

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mann die „um 1940“ Geborenen hingegen aus, dass von ihnen gerade „kein Krawall, kein Protest“ ausgegangen sei.104 Auch wenn es sich damit oberflächlich betrachtet jeweils um marginale Verschiebungen von jeweils ein bis zwei Jahren handelt, ergibt sich insgesamt jedoch ein Abstand von mehr als zwölf Jahren zwischen dem ältesten angenommenen Jahrgang (1938 bei Bude) und dem jüngsten (1950 bei von Lucke). Für die Grenzjahrgänge wären die Bedingungen des Aufwachsens, mithin potenziell einflussreiche Erfahrungen, dann jedoch schon recht unterschiedlich zu fassen, insbesondere im Hinblick auf die Frage nach der Bedeutung von Zweitem Weltkrieg, Nachkriegszeit und ‚Wirtschaftswunder‘ als einschneidende Erlebnisse. An diesen Überlegungen verdeutlicht sich die Problematik, die aus einer Eingrenzung auf bestimmte Alterskohorten ohne verlässliche empirische Basis105 bzw. aufgrund eines für 1968 geschätzten Alters von Studierenden106 hervorgeht. Lediglich Bude leitet in seiner Studie zum „Altern einer Generation“ seine Beschreibung der „68er“ aus der Analyse von Biografien konkreter Personen ab; mit sechs Personen ist die Zahl der ausgewerteten Fälle allerdings sehr klein, außerdem begründet Bude die Zurechnung dieser Personengruppe zu den ‚68ern‘ nicht und setzt somit die Generation, die er untersuchen will, voraus.107 Letztlich muss die ‚68er Generation‘ also insgesamt als eine Setzung betrachtet werden. Von benachbarten Altersjahrgängen geteilte Sozialisationserfahrungen als Grundlage für übereinstimmendes Verhalten verweist allerdings auf Überlegungen im Generationenkonzept von Karl Mannheim.108 Der theoretische Nachweis einer Generationseinheit, etwa im Sinne Mannheims, bleibt jedoch ebenso wie schon der empirische Nachweis der Alterskohorte aus. In der Regel werden lediglich verknappend Verbindungen zwischen den vermuteten Geburtsjahrgängen und entsprechenden möglichen Kindheitserlebnissen hergestellt. Eine Ausnahme bildet in diesem Zusammenhang Jürgen Busche, der das Hervortreten einer selbstbewussten Generationseinheit entlang Mannheimscher Kategorien rekonstruiert und die Zugehörigkeit zur ausgemachten Alterskohorte weiter eingrenzt auf den seinerzeitigen Studierendenstatus als konstitutiven Faktor einer ‚68er Generation‘.109 Indem aber im Konzept einer ‚68er Generation‘ insgesamt Sozialisationserfahrungen mit psychischen 104

Vgl. Hermann (2003).

105

So gehen die Forscher_innen um Preuss-Lausitz von den eigenen Erfahrungen aus.

106

Vgl. z.B. Frei (2008), S. 79.

107

Vgl. Bude (1997).

108

Zum Generationenkonzept vgl. Mannheims grundlegenden Aufsatz „Das Problem der Generationen“ von 1928/1964. Dazu ausführlich vgl. Abschnitt 4. Theoretischer Rahmen und Analyseperspektiven.

109

Vgl. Busche (2003), S. 31f.

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Dispositionen und Verhaltensmustern verknüpft werden, liegen den unterschiedlichen Zuschreibungen zu einer ‚Protestgeneration‘ wie auch schon den Hypothesen über eine ‚bürgerliche‘ Herkunft zumindest implizit auch grundlegende sozialisationstheoretische Annahmen zugrunde. In der Verengung auf Ereignisse in Kindheit und Jugend und die Bedingungen der familialen Sozialisation werden allerdings Einflüsse in anderen Lebensphasen und von anderen Sozialisationskontexten – etwa der Bildungsinstitutionen oder von Gleichaltrigengruppen – ignoriert.110 Ausgehend von den Konzeptionen von ‚Protestgeneration‘ und ‚bürgerlichen Aktivist_innen‘ wendet sich diese Arbeit – Hans-Ulrich Wehlers Frage nach den ‚neuen Protestant_innen‘ aufgreifend – den Akteur_innen zu, um erstmals auf einer empirischen Basis, die über Einzelfälle und Prominente der Bewegung hinausgeht, zu Aussagen über ihre konkreten Sozialisationsbedingungen und z.T. auch über ihre biografisch reflektierten Sozialisationserfahrungen zu gelangen. Zu diesem Anliegen werden die Biografien einer wichtigen Gruppe von Akteur_innen kollektiv erfasst und analysiert.111 Die Analyse von Sozialisationsbedingungen setzt dabei zunächst einmal die Erfassung der Alterskohorte voraus, um den Sozialisationszeitraum und damit zumindest die politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen der Sozialisation der Akteur_innen, mithin ihre Lebenswelt bestimmen zu können.112 Indem in dieser Perspektive potenziell einflussreiche Entwicklungen betrachtet werden, kann somit auch die in den Überlegungen zu den Akteur_innen immer wieder zumindest angedeutete ‚Neuartigkeit‘ dieser ‚Protestgeneration‘ kritisch hinterfragt werden. Überhaupt können in kollektivbiografischer Betrachtung grundlegende Voraussetzungen oder mögliche Kennzeichen einer ‚68er Generation‘ untersucht werden: Inwiefern lassen sich dort etwa Generationslagerung und –zusammenhang, nach Karl Mannheim entscheidende Voraussetzungen für die Konstitution einer Generation, verzeichnen? Diese Arbeit fragt daher nicht nur nach den sozialen Hintergründen und – ausgehend von den referierten Hypothesen über eine ‚bürgerliche‘ Herkunft – nach etwaigen ‚bürgerlichen‘ Einflüssen, sondern auch nach regionaler Herkunft als einer weiteren Voraussetzung für geteilte Sozialisationserfahrungen.

110

Zum Sozialisationsbegriff ausführlich vgl. Abschnitt 4. Theoretischer Rahmen und Analyseperspektiven.

111

Zu den verschiedenen Bedeutungsebenen des Biografiebegriffs in dieser Arbeit vgl. Abschnitt 5. Methodisches Vorgehen.

112

Zum Konzept der Lebenswelt als sozialisationshistorische Analysekategorie vgl. Groppe (2004), S. 22ff.; dazu ausführlich vgl. Teil II, Abschnitt 1. Geburtsjahrgänge, Familienstand, Geschlecht.

2. F ORSCHUNGSSTAND UND E RKENNTNISINTERESSE

| 43

Durch die Betrachtung von Biografien bis ins junge Erwachsenenalter kann der Fokus über die Bedingungen der familialen Sozialisation hinaus geweitet und können gerade auch die Bildungswege erfasst werden. Die institutionalisierte Bildung und hier insbesondere die Schule gelten in der Sozialisationsforschung neben der Familie und der Gleichaltrigengruppe als wichtigste Sozialisationskontexte.113 Die Frage nach der ‚Bildung‘114 der Akteur_innen stellt sich insbesondere auch vor dem Hintergrund von Charakterisierungen der Aktivist_innen als von Studierenden allgemein nochmals abgehobenen Bildungselite und der Studentenbewegung insgesamt als „intellektuelle Bewegung“115; angesichts der Veränderungen im Bildungssystem in jener Zeit, gerade der Umwälzungen an den Universitäten sowie der zentralen Stellung, die dieser Institution in der Studentenbewegung zukommt, erscheint über die formale Ausbildung hinaus auch der Bildungsbegriff der Akteur_innen selbst von Interesse. Ziel der Arbeit ist es, einen empirischen Beitrag zu der Frage zu leisten, was die Akteur_innen von ‚1968‘ biografisch tatsächlich kennzeichnet. Zugleich werden bisherige Annahmen zu den ‚68er_innen‘ anhand einer wichtigen Gruppe innerhalb der Studentenbewegung geprüft und gegebenenfalls falsifiziert und differenziert. Wie eingangs kurz skizziert, beschränkt sich diese Arbeit aus theoretischen Überlegungen und forschungspraktischen Zwängen auf die Biografien von Mitgliedern des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) im Umfeld der Freien Universität Berlin. Dieser Studentenverband und seine unumstrittene Bedeutung für Studentenbewegung und ‚1968‘ werden im Folgenden dargestellt, um im Anschluss daran die Immatrikulationsakten der FU Berlin als Quellenbasis zu diskutieren sowie die Analyseperspektiven und das methodische Vorgehen zu explizieren.

113

Der Begriff des Sozialisationskontextes drückt in der aktuellen Sozialisationsforschung eine im Vergleich zum Begriff der Sozialisationsinstanz neutrale Sichtweise auf die Interaktion von Individuum und Umwelt im Sozialisationsprozess aus. Vgl. Boehnke/Hadjar (2008), S. 93. Zum Sozialisationsbegriff ausführlich vgl. Abschnitt 4. Theoretischer Rahmen und Analyseperspektiven.

114

Zum Bildungsbegriff ausführlich vgl. Abschnitt 4. Theoretischer Rahmen und Analyseperspektiven.

115

Vgl. Bude/Kohli (1989), S. 10.

3. Das zu untersuchende Kollektiv: Der SDS

Die zentrale Bedeutung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) für die Studentenbewegung und darüber hinaus für ‚1968‘ war und ist unumstritten: Als theoretischer Stichwortgeber und organisatorische Plattform gilt der SDS als ‚Motor‘ und maßgebliche Einflussgröße der Bewegung.1 Entsprechend sehen manche Darstellungen den SDS als „bedeutendsten Studentenverband der BRD seit 1945“2, dem es etwa „gelungen ist, an den seit ca. 100 Jahren von rechts beherrschten Universitäten in Deutschland eine Tendenzwende nach links durchzusetzen.“3 Bis zur Studentenbewegung hätten an den deutschen Universitäten dagegen „autoritäres Denken und Verhalten“ dominiert.4 Solchen überaus positiven Einschätzungen stehen jedoch auch äußerst kritische Bewertungen des SDS als Quelle des linksextremen Terrors in den 1970er Jahren gegenüber.5 Konzentrierten sich frühere Darstellungen des SDS auf die Zeit von der Gründung 1946 bis zum Bruch mit der SPD 1959/1961, um die Verwobenheit des SDS mit der Geschichte der Sozialdemokratie in der Bundesrepublik aufzuzeigen,6 fokussieren neuere Darstellungen auf die Zeit nach der Trennung von der Partei, um seine Entwicklung als Teil einer in1

Vgl. Ahlberg (1968); Bundesministerium des Innern (1969), insbesondere S. 15ff.; Habermas (1969); Oelinger (1969); Fuhrmann et al. (1989); Albrecht (1994); Schmidtke (1998a), (2003), insbesondere S. 46ff.; Kraushaar (2000), S. 25ff.; Keller (2000), insbesondere S. 106ff.; Langguth (2001), S. 19ff.; Lönnendonker/Rabehl/Staadt (2002); Fichter/Lönnendonker (2008); Aly (2008), S. 9, 39ff.; Frei (2008), S. ; Wehler (2008e), S. 311ff.

2

So der Untertitel bei Briem (1976).

3

Fichter/Lönnendonker (2008), S. 15.

4

Vgl. Fichter/Lönnendonker (2008), S. 15.

5

Vgl. Langguth (2001).

6

Vgl. insbesondere Briem (1976); Fichter (1988); Albrecht (1994).

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ternationalen Neuen Linken und zum Träger der studentischen Proteste in den 1960er Jahren nachzuzeichnen.7 Die trotz konträrer Bewertungen unbestritten herausgehobene Stellung des SDS in der Protestphase resultiert dabei weniger aus seiner zahlenmäßigen Bedeutung. Angaben zu den Mitgliederzahlen für den Gesamtverband schwanken zwischen maximal 1.2008, 2.0009 und 2.50010 Mitgliedern, wobei Nachweise für diese Zahlen fehlen bzw. Quellen nicht ausreichend transparent werden.11 Einer zeitgenössischen Studie des Soziologen René Ahlberg zufolge stellt der SDS 1966 mit 1.200 Mitgliedern den drittgrößten Studierendenverband in Deutschland, hinter dem Ring Christlich-Demokratischer Studenten mit 2.200 Mitgliedern und dem Sozialdemokratischen Hochschulbund mit 1.500 Mitgliedern.12 Für die Zeit nach den „turbulenten Geschehnissen des Sommersemesters 1967“ bis zum Herbst 1967 verzeichnet Ahlberg einen „sprunghaften“ Anstieg auf 2.500 Mitglieder, wodurch der SDS zum mitgliederstärksten Studierendenverband in jener Zeit avanciert.13 Allerdings würde der SDS selbst in dieser Größenordnung gerade einmal 1% der Studentenschaft von 1967 repräsentieren.14 Als eine Organisation mit festen Strukturen unterscheidet sich der SDS zwar von „fluiden“15 Anteilen der Bewegung,16 den spontan mobilisierten Aktivist_innen 7

Vgl. Lönnendonker/Rabehl/Staadt (2002); Schmidtke (1998a); (2003).

8

Vgl. Fichter/Lönnendonker (2008), S. 15.

9

Vgl. Briem (1976), S. 45. Dieser Maximalwert bezieht sich nur auf den dort betrachteten Zeitraum bis zum Unvereinbarkeitsbeschluss der SPD im November 1961.

10 Vgl. Ahlberg (1968), S. 3. 11 Lediglich Ahlberg (1968), S. 3f. verweist für die Zeit nach dem 2. Juni 1967 auf die Zahlen einzelner SDS-Ortsgruppen in nicht-wissenschaftlichen Zeitschriftenartikeln. Die einem „Spiegel“-Artikel entnommenen Angaben zum SDS in Berlin mit „ungefähr 260 Mitgliedern“ stimmen dabei nur in etwa mit den Mitgliederunterlagen im Archiv „APO und soziale Bewegungen“ des Universitätsarchivs an der Freien Universität überein, da aus den dortigen Beständen eine Mitgliederzahl von 243 für Zeit vor dem 2. Juni 1967 hervorgeht, in den Folgemonaten ein Zulauf von 129 Mitglieder in zwei Wellen zu verzeichnen ist; vgl. Abschnitt 3.3 Quellen. 12 Vgl. Ahlberg (1968), S. 3. 13 Vgl. Ahlberg (1968), S. 4. 14 Eigene Berechnung auf Grundlage der Studierendenzahlen bei Lundgreen (2008), Tab. 2.16. 15 Raschke (1991), S. 38. 16 In einer zentralen Definition von Neidhardt/Rucht wird eine Bewegung begriffen als ein „auf gewisse Dauer gestelltes und durch kollektive Identität abgestütztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen, welche sozialen Wandel mittels öffentlicher Proteste herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen“ wollen. Zit.n.

3. D AS ZU UNTERSUCHENDE K OLLEKTIV : D ER SDS

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oder kurzfristig gebildeten Gruppierungen, weshalb diese Untersuchung keinen Anspruch auf Repräsentativität für die Studentenbewegung oder ‚1968‘ insgesamt erheben kann. Jedoch ermöglichen gerade die festen Organisationsstrukturen und verbindlichen Mitgliedschaften die Identifizierung von konkreten Personen. Da Berlin, und dort vor allem die Freie Universität, als Ausgangspunkt und – neben Frankfurt a.M. – als Hochburg der Studentenbewegung gilt, fokussiert die vorliegende Arbeit auf die SDS-Mitglieder im Umfeld der FU Berlin und damit auf eine Teilgruppe, die auch innerhalb des Verbandes eine zentrale Rolle einnimmt. Diese Bedeutung kommt der genannten Teilgruppe allerdings erst im Laufe der 1960er Jahre zu, als eine Reihe von Mitgliedern dem SDS Berlin beitritt, deren Einflüsse den SDS nach außen hin zunehmend kennzeichnen. Diese Einflüsse liegen insbesondere in einer ‚antiautoritären‘ Ausrichtung, die jedoch keineswegs Konsens innerhalb des Verbandes findet – weder auf Landes- noch auf Bundesebene. Vielmehr kennzeichnen Theoriedebatten nahezu die gesamte Geschichte des SDS, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg als ein SPD-naher Studierendenverband in Hamburg gegründet wurde. Auseinandersetzungen darüber, ob die marxistische Theorie als Grundlage des Verbandes dienen soll oder nicht, führen in den 1950er Jahren zu einer Spaltung innerhalb des Gesamtverbandes des SDS und zu Beginn der 1960er Jahre letztlich zur Trennung von der SPD, die sich mit ihrer Entwicklung zur Volkspartei vom Marxismus verabschiedet hatte.17 Die Trennung von der SPD gilt als eine entscheidende Weichenstellung für die Rolle, die der SDS in der Studentenbewegung einnehmen soll: Im Zuge dieser Trennung wird der SDS zunehmend attraktiv für Studierende, die einer unorthodoxen ‚Neuen Linken‘ nahestehen, die anstelle der Arbeiterschaft nun die junge Intelligenz als revolutionäres Subjekt sieht.18 Der zunehmende Einfluss dieser ‚Neuen Linken‘ führt zu erneuten Auseinandersetzungen mit den marxistischen ‚Traditionalisten‘ im SDS, gerade auch im Berliner Landesverband, der bis in die frühen 1960er Jahre hinein gegenüber anderen Landesverbänden zunächst keine auffällige Rolle spielt, dessen ‚antiautoritäres‘ Lager Mitte der 1960er Jahre aber zunehmenden Einfluss auch auf den Gesamtverband gewinnt.19 Die im Laufe der Studentenbewegung zunehmende Fraktionierung des SDS führt im Februar 1970 letztlich zur Selbstauflösung des Bundesverbandes.20 Gilcher-Holtey (1998a), S. 7f. Rucht (1998), S. 118 betont, dass Bewegungen Organisation hätten, aber keine seien. 17 Vgl. insbesondere Briem (1976). 18 Vgl. Briem (1976), 392ff; Keller (2000), S. 120ff.; Schmidtke (2003), S. 33ff. 19 Vgl. Fichter/Lönnendonker (2008). 20 Zur zunehmenden Fraktionierung des SDS als Auflösungsgrund vgl. Schmidtke (1998a), S. 205f.; Koenen (2002), S. 182ff.; Fichter/Lönnendonker (2008), S. 149.

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Die fortwährenden Fraktionskämpfe verweisen auf die Bedeutung des SDS als Sammelbecken linker Strömungen, das er seit seiner Gründung gewesen ist; sie verweisen ferner darauf, dass bereits die vergleichsweise kleine Gruppe des SDS selbst in politischer Hinsicht nur bedingt einheitlich gefasst werden kann. Inwiefern die Biografien seiner Mitglieder bzw. deren Sozialisation sich als einheitlich erweisen, wird zu untersuchen sein. Denn Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist nicht der SDS als politischer Studierendenverband, sondern seine Mitglieder. Da jedoch Verband und Mitglieder in einer Wechselbeziehung stehen, wird im Folgenden zunächst der Verband skizziert. Dabei setzt die nachfolgende Skizze bereits mit der Gründung 1946 ein, auch wenn die im Rahmen dieser Arbeit zu erstellende Kollektivbiografie die SDS-Gruppe im Umfeld der FU gegen Ende der 1960er Jahre abbildet. Zu diesem Zeitpunkt ist der SDS wesentlich durch seine Vorgeschichte geprägt, durch seine Offenheit für sozialistische Strömungen und damit einhergehende theoretische Auseinandersetzungen, die sich nach der Loslösung von der SPD als parteipolitischer Richtgröße fortsetzen. Bereits frühzeitig befasst sich der SDS mit Themen, die in der Studentenbewegung schließlich zentral werden sollen: die NSVergangenheit, Militarismus und die Rolle der Universität in einer demokratischen Gesellschaft. Entsprechend wird zunächst die Geschichte des Gesamtverbands rekapituliert, um im Anschluss den Fokus auf den Berliner SDS und die Freie Universität zu richten. Aus diesem Umfeld stammen die in dieser Kollektivbiografie erfassten Personen, die 1967 Mitglieder im SDS waren oder wurden. Aus diesem Jahr sind für den Berliner SDS Mitgliederlisten und Beitrittsformulare im Archiv „APO und Soziale Bewegungen“ an der FU Berlin erhalten. An die Skizze der historischen Entwicklung des SDS schließen sich Erläuterungen zum ausgewählten ‚Kollektiv‘ und zur Quellengrundlage an. Diese besteht aus den Immatrikulationsakten der FU Berlin, in denen zentrale Daten der Studierenden enthalten.

3. D AS ZU UNTERSUCHENDE K OLLEKTIV : D ER SDS

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3.1 D IE E NTWICKLUNG DES SDS ALS G ESAMTVERBAND BIS ZUR T RENNUNG VON DER SPD Der SDS war der erste politische Studierendenbund, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland wieder zugelassen wurde. Obwohl die Alliierten den Universitäten wie dem gesamten Bildungssystem eine wichtige Rolle bei der demokratischen Umgestaltung der Gesellschaft zuschrieben, zeigten die Alliierten zunächst Zurückhaltung bei der Zulassung von politischen Studierendengruppen. Im September 1946 hielt der SDS seine offizielle Gründungsversammlung in Hamburg ab, nach Genehmigung durch die britische Militärregierung.21 Noch in Ermangelung eines präzisen Selbstverständnisses war der SDS offen für das gesamte linke politische Spektrum: Im SDS sammelten sich „parteipolitisch nicht gebundene ethische und religiöse Sozialisten, Mitglieder der SPD, Sympathisanten des linken CDUFlügels, CDU- und KPD-Mitglieder.“22 Zwar suchte der SDS bereits bei seiner Gründung die Nähe zur SPD – der Vorsitzende Kurt Schumacher war auf der Gründungsversammlung als Redner vertreten –, eine ‚sozialdemokratische Identität‘ prägte der SDS jedoch erst in den Folgejahren aus, auch durch die Ablehnung und den Ausschluss von Mitgliedern oder Unterstützer_innen von KPD und SED.23 Von Beginn an machte die SPD deutlich, dass über eine politische Verbundenheit hinaus keine organisatorische Anbindung des Studierendenbundes vorgesehen war.24 Dies hing zum einen mit ihrer Auffassung über politische Tätigkeit und Parteikarrieren zusammen, welche mit dem Studierendenstatus nicht zu vereinbaren seien, zum anderen aber mit einer Distanz der Partei, die sich zu diesem Zeitpunkt immer noch als Arbeiterpartei verstand, gegenüber dem akademischen Milieu.25 Entsprechend betrachtete sich der SDS zwar als „ein Glied der Arbeiterbewegung“, einer tatsächlichen Integration in selbige stand jedoch die soziale Herkunft der Studierenden entgegen bzw. die „traditionelle Distanz zwischen Arbeiterklasse und Universität als einer bürgerlichen Institution“, so dass über einzelne Kontakte hinaus sich keine Zusammenarbeit mit Arbeiterorganisationen entwickelte.26 Seine Themen fand der SDS in der Zeit nach der Gründungsphase vor allem in der Wiederbewaffnung, die zunächst nicht prinzipiell, dann aber ab 1955 mit dem Er21 Vgl. Briem (1976); Albrecht (1994); Fichter/Lönnendonker (2008). 22 Briem (1976), S. 61f. 23 Vgl. Briem (1976), S. 63f.; Fichter/Lönnendonker (2008), S. 36f. 24 Vgl. Briem (1976), S. 19f. und insbesondere den dort (S. 19) angeführten Auszug aus der Rede Kurt Schumachers auf der Gründungsversammlung des SDS. 25 Vgl. Briem (1976), S. 21ff. 26 Vgl. Briem (1976), S. 68f., Zitate ebd.

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starken eines linken Flügels im SDS ebenso explizit abgelehnt wurde wie 1959 im Zuge der Anti-Atom-Diskussion eine allgemeine Wehrpflicht; der SDS fand seine Themen des Weiteren schon früh in der Auseinandersetzung mit der NSVergangenheit und organisierte im Zuge dieser Auseinandersetzung Proteste gegen Veit-Harlan-Filme, die als „stillschweigende Rehabilitierung antisemitischer Propagandisten in die bundesrepublikanische Kulturlandschaft“ angesehen wurden. Entsprechend wurde auch der Kampf gegen Korporationen, in denen ein „Wegbereiter des Nationalsozialismus“ gesehen wurde, sowie der Protest gegen die „Ungesühnte Nazi-Justiz“ – so der Titel einer Aktion von 1959 – zu zentralen Themen des SDS.27 Nicht zuletzt war der SDS mit Diskussionen zur Theorie und zur Ausrichtung des Verbands beschäftigt, welche wiederum auch das Verhältnis zur SPD beeinflusste.28 Von Anfang an war auch die Universität als Institution ein zentrales Thema.29 Für einen Studierendenbund zwar nahe liegend, zeichnen sich jedoch bereits früh Positionen ab, denen in der Phase der Studentenbewegung zentrale Bedeutung zukommen sollte. Aufgeworfen durch die Rolle der Universitäten in der NS-Zeit stellte sich von Beginn an die Frage nach dem Verhältnis von Gesellschaft und Universität. Die Eckpunkte der hochschulpolitischen Position des SDS wurden erstmals in der Denkschrift „Die Hochschule in der modernen Gesellschaft“ von 1954 ausführlich abgesteckt.30 Diese stellten neben programmatischen Forderungen nach stärkerer Verknüpfung von Hochschule und Öffentlichkeit bereits Ansprüche auf die Entsendung studentischer Vertreter_innen in alle Hochschulgremien sowie Ansprüche auf ein Studienhonorar, das den Studierenden ein unabhängiges Studium ermöglichen sollte, welches nicht als Ausbildung, sondern als „Arbeit für die Gesellschaft“ begriffen wurde.31 Einen deutlichen Schritt weiter ging gerade in Fragen der Mitbestimmung durch die Studierenden die SDS-Denkschrift „Hochschule in der Demokratie“ von 1961, auch wenn hier immer noch kein Bruch mit der später so heftig angefeindeten Ordinarienuniversität zu verzeichnen ist, sondern vielmehr eine Einsetzung von Gremien innerhalb der Verfassung, welche die professoralen Gremien obsolet machen sollten. Die Aufnahme von „Demokratie“ in den Titel verweist bereits auf die angestrebte ‚Demokratisierung‘ der Universität.32

27 Vgl. Briem (1976); Albrecht (1994); Fichter/Lönnendonker (2008), Zitate S. 55. 28 Vgl. Briem (1976); Albrecht (1994), insbesondere S. 259ff.; Fichter/Lönnendonker (2008), S.47f., S. 73ff. 29 Vgl. Albrecht (1994), S. 108ff. 30 Vgl. Briem (1976), S. 233ff.; Keller (2000), S. 90ff.; Fichter/Lönnendonker (2008), S. 54. 31 Vgl. Keller (2000), S. 90ff., Zitat S. 92. 32 Vgl. Hochschule in der Demokratie (1965).

3. D AS ZU UNTERSUCHENDE K OLLEKTIV : D ER SDS

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Die hochschulpolitische Ausrichtung des SDS bildete jedoch einen eher nachgeordneten Punkt in den Diskussionen mit der SPD, in denen sich ein zunehmendes Auseinanderdriften von Partei und Studierendenverband offenbarte. Die Bestrebungen der SPD, durch Abwendung vom Marxismus Wählerschichten auch jenseits der traditionellen Klientel zu gewinnen und sich so als ‚Volkspartei‘ auszurichten, provozierten in den verschiedenen Lagern im SDS unterschiedliche Reaktionen, die von parteiloyalem Anschluss bis zum offenen Widerstand reichten, welcher wiederum auf das Unverständnis des SPD-Vorstandes traf. Die Auseinandersetzungen zwischen SPD und SDS erreichten 1959 ihren Höhepunkt, als der SDS das auf dem Godesberger Parteitag vorgestellte Parteiprogramm, bekannt geworden als „Godesberger Programm“, ablehnte und die SPD darin den neuerlichen Nachweis einer vermeintlichen prokommunistischen Haltung des SDS sah.33 Dieser Verdacht war 1958 durch die Wahl eines Bundesvorsitzenden entstanden, dessen Haltung zur DDR auch verbandsintern als nicht ausreichend distanziert wahrgenommen wurde. Gleiches galt für die ihn unterstützende sogenannte „konkret“-Gruppe.34 Der Verdacht einer prokommunistischen Haltung schien erhärtet, als der SDS sich weigerte, Unterstützer_innen der seit 1956 verbotenen KPD aus dem Verband auszuschließen. Infolge zunehmender innerverbandlicher Ablehnung des Vorsitzenden resultierte jedoch im Herbst 1959 die Wahl eines Vorstands aus dem Lager einer ‚undogmatischen Mittelfraktion‘.35 Die anhaltenden Differenzen mit dem Studierendenverband bewogen die SPD dennoch im Februar 1960, die bislang exklusive Förderung des SDS auf andere Studierendengruppen, die sich als ‚sozialdemokratisch‘ verstanden, auszuweiten. In Folge dieses Förderversprechens gründete sich aus ausgetretenen SDS-Landesverbänden der Sozialdemokratische Hochschulbund (SHB) als neuer SPD-loyaler Studierendenverband.36 Im Juli 1960 beschloss der Parteivorstand der SPD den Kontaktabbruch zum SDS, der sich jedoch weiterhin als einzig legitimer sozialdemokratischer Studentenbund verstand.37 Entsprechend erklärte die SPD im November 1961 die Mitgliedschaft in SDS und SPD ausdrücklich für unvereinbar und bezog in diesen Unvereinbarkeitsbeschluss auch und insbesondere die Sozialistische Fördergemeinschaft (SFG) ein, einer Gruppe innerhalb der SPD, der gerade Intellektuelle und Linkssozialisten in-

33 Zur Kulmination der Auseinandersetzungen zwischen SPD und SDS in der ‚Trennungsphase‘ ab 1959 vgl. Briem (1976), S. 369-391; Albrecht (1994), S. 460ff.; Fichter/Lönnendonker (2008), 81-115. 34 Vgl. Briem (1976), S. 298ff. 35 Vgl. Keller (2000), S. 95f.; Fichter/Lönnendonker (2008), S. 91ff. 36 Vgl. Briem (1976), S. 375ff.; Keller (2000), S. 96f. 37 Vgl. Briem (1976), S. 388ff.

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nerhalb der SPD angehörten und die den SDS auch weiterhin finanziell unterstützten.38 Die Interpretation der Trennung von SDS und SPD fällt in der Literatur unterschiedlich aus: Deuten Fichter/Lönnendonker diese als „Generalprobe und Voraussetzung für die spätere antiautoritäre Revolte der 68er Generation gegen jede Form des obrigkeitsstaatlichen Denkens“,39 sehen andere Autoren in dieser Trennung zwar auch die Voraussetzung für die Entwicklung des linkssozialistischen SDS zu einem Teil einer internationalen „Neuen Linken“, als welcher er zum „organisatorischen Kern“ und „Träger der Studentenbewegung“ avancieren sollte, allerdings nicht im Sinne einer ‚Generalprobe‘ des Widerstands, da der 1959 gewählte Bundesvorstand bis zuletzt bemüht war, das Verhältnis zur SPD durch Loyalitätsbekundungen zu retten.40 Ansätze eines Selbstverständnisses im Sinne einer neo-marxistischen Neuen Linken, wie sie sich in England, den USA und Frankreich entwickelt hatte, weist Briem bereits für 1960 nach.41 Aber erst die Abspaltung des SPD-loyalen Flügels und die Trennung von der SPD ermöglichten eine innere Konsolidierung, in der sich dieses Denken – bislang getragen von jener ‚undogmatischen Mittelfraktion‘, die 1959 den SDS-Bundesvorstand übernahm – weiter durchsetzen konnte.42 Kennzeichen dieser Neuen Linken waren in Abgrenzung zur ‚alten Linken‘, die sich nach Ansicht der Neuen Linken durch ihre Politik in Ost-Europa diskreditiert hatte, ihr Anti-Stalinismus, sowie in Abgrenzung zu sozialdemokratischen Kräften ein „AntiAntikommunismus“.43 Nach Überzeugung der Neuen Linken war in einer nur scheinbar liberalen Gesellschaft eine neue Gesellschaftsanalyse notwendig geworden, um die Gefahren offenzulegen, die vom ‚militärisch-industriellen Komplex‘ bzw. – in Deutschland in Anlehnung an die frühen Schriften Max Horkheimers – vom ‚autoritären Staat‘ für die Demokratie ausgingen. Ferner unterschied sich diese Neue Linke von traditionellen linken Kräften darin, dass nach ihrer Überzeugung nicht mehr die Arbeiterklasse Trägerin des sozialen Wandels sein würde, sondern ‚die junge Intelligenz‘.44 Dieser Frage nach dem revolutionären Subjekt standen führende Kräfte im SDS, wie auch ihre Unterstützer in der SFG, zunächst zwar kri-

38 Vgl. Briem (1976), 391ff.; Keller (2000), S. 97. 39 Fichter/Lönnendonker (2008), S. 13. 40 Vgl. Briem (1976), S. 358ff.; Keller (2000), S. 96, Zitate S. 88; Albrecht (1994), S. 364ff. 41 Vgl. Briem (1976), S. 392. 42 Vgl. Briem (1976), S. 393; Albrecht (1994), S. 411ff.; Schmidtke (2003), S. 48. 43 Vgl. Schmidtke (2003), S. 33ff., Zitat S. 48. 44 Vgl. Schmidtke (2003), S. 33ff.

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tisch gegenüber.45 Von den in der Folgezeit an Einfluss gewinnenden ‚Antiautoritären‘ sollten sie entsprechend zunehmend die Rolle der ‚Traditionalisten‘ zugewiesen bekommen.46 In der hier grob skizzierten Geschichte des SDS als Gesamtverband bis zu den frühen 1960er Jahren tritt der SDS in Berlin zunächst nicht maßgeblich in Erscheinung. Zwar wurde schon kurz nach der Gründung des Verbandes das Mitteilungsorgan des Berliner SDS zur Verbandszeitschrift ausgeweitet, wobei die Redaktion des „Standpunkts“ in Berlin verblieb und dadurch maßgeblich unter dem Einfluss der Ortsgruppe stand, dem es – so ein innerverbandlicher Vorwurf – als „Fraktionierungsinstrument“ diente;47 ferner entwickelte sich der Berliner SDS bis zum Ende der 1950er Jahre zur mitgliederstärksten SDS-Gruppe.48 Im Wechsel der Führungsansprüche der verschiedenen Gruppen und Fraktionen und dem damit verbundenen Wechsel der Deutungshoheit trat der SDS Berlin jedoch offenbar nicht auffälliger hervor als andere Ortsgruppen. Verschiedene Faktoren führten dann aber dazu, dass im Verlaufe der 1960er Jahre und insbesondere ab Mitte des Jahrzehnts gerade der SDS in Berlin neben der Gruppe in Frankfurt eine führende Rolle in der Studentenbewegung einnahm. Im Zusammenspiel von theoretischer Ausrichtung mit gleichermaßen öffentlichkeitswirksamen inneruniversitären Auseinandersetzungen und außeruniversitären Aktionen erhielt diese Entwicklung ihre besondere Dynamik. Neben personellen Faktoren – diese bestehen vor allem im Beitritt von Mitgliedern der Gruppe „Subversive Aktion“ , einer Künstlergruppe, zu der auch einige Mitglieder der späteren „Kommune 1“ gehörten und die nachhaltigen Einfluss auf den SDS über den Berliner Landesverband hinaus nehmen sollten und in der Folgezeit zu den bis heute prominentesten Namen der Studentenbewegung avancierten – ist der geografischen Lage Berlins und ihrer Situation als ‚Frontstadt‘ im Kalten Krieg wesentliche Bedeutung für diese Dynamik zugesprochen worden. Inwiefern die Entwicklung des SDS in Berlin einflussreich auf oder repräsentativ für andere Landesverbände oder den Bundesverband war, kann nicht beurteilt werden, da entsprechende Untersuchungen fehlen.49 Unstrittig erscheint jedoch, dass es die vom SDS Berlin organi45 Vgl. Schmidtke (2003), S. 51f. 46 Zur Auseinandersetzung von „Traditionalisten“ und „Antiautoritären“ vgl. als Überblick Keller (2000), S. 120ff.; aus der Perspektive der ‚Traditionalisten‘ vgl. Bauß (1977), S. 299-335. 47 Vgl. Briem (1976), S. 65, Zitat S. 47. 48 Vgl. Briem (1976), S. 386. 49 Ausführliche Darstellungen zur Geschichte des SDS nach dem Unvereinbarkeitsbeschluss von 1961 finden sich allein bei Fichter/Lönnendonker (2008), deren Darstellungen im vier-

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sierten Aktionen waren, die ab 1965 zunehmend öffentliche Reaktionen und studentischen Zulauf zum SDS hervorriefen, zunächst in der Stadt Berlin und ab Sommer 1967 auch in ganz Westdeutschland.

3.2 D ER SDS B ERLIN ALS ORGANISATORISCHER K ERN DER S TUDENTENBEWEGUNG In der Zeit nach dem Unvereinbarkeitsbeschluss entwickelte der SDS im Kontext einer internationalen Neuen Linken zunehmend ein Selbstverständnis als „theoretische Avantgarde-Organisation“.50 Der sich auf diese Weise konsolidierende Verband wurde zunehmend für Studierende attraktiv, die sich mit unterschiedlichen sozialistischen Positionen jenseits von Sozialdemokratie oder der verbotenen KPD identifizierten.51 Auch wenn der SDS damit weiterhin ein Sammelbecken unterschiedlicher linker Strömungen blieb, wurde jenes neue Selbstverständnis von einem wachsenden ‚antiautoritären‘ Lager getragen, das sich in seinem Antiautoritarismusbegriff an die Frankfurter Schule und ihre gesellschaftsanalytischen Befunde zu autoritärem Staat und autoritärer Persönlichkeit anlehnte und das sich ab 1966 im SDS durchzusetzen begann.52 Im Zuge eines gescheiterten Unterwanderungsversuchs der kurz zuvor aus einer Künstler_innengruppe hervorgegangenen „Subversiven Aktion“ vom Herbst 1964 traten Anfang 1965 mit Rudi Dutschke und Bernd Rabehl zwei Mitglieder der „Subversiven Aktion“ dem Berliner SDS bei, die als zentrale Protagonisten dieses ‚antiautoritären‘ Lagers maßgeblichen Einfluss auf den SDS Berlin und die Studentenbewegung nehmen sollten: „Durch ihre theoretischen Beiträge und praktische Arbeit übten sie in den folgenden fünf Jahren starken Einfluß auf die Inhalte und Aktionsformen dieses Studentenverbandes aus.“53 Neben Hans-Jürgen Krahl vom SDS in Frankfurt a.M. gilt Rudi Dutschke, der bis heute medial am meisten beachtete Sprecher des SDS, als wichtigster Theoretiker des Studierendenverbandes in jener Zeit.54

ten Kapitel sich fast ausschließlich auf den SDS an der FU Berlin konzentrieren und den Fokus nur punktuell erweitern, etwa wenn Kontakte des Berliner SDS zu anderen Gruppen thematisiert werden. 50 Fichter/Lönnendonker (2008), S. 117. 51 Vgl. Fichter/Lönnendonker (2008), S. 128ff. 52 Vgl. Keller (2000), S. 123f. 53 Fichter/Lönnendonker (2008), S. 127. 54 Zum maßgeblichen Einfluss Dutschkes auf die Studentenbewegung vgl. z.B. Kraushaar (2000), S. 89-129; Langguth (2001); Frei (2008), S 98ff.

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Der Status von Berlin und Frankfurt a.M. als Hochburgen der Studentenbewegung ist vor allem aber mit den zahlreichen vom SDS organisierten und angeführten Aktionen und Demonstrationen an diesen beiden Orten zurückzuführen. Zu diesen zählt in Berlin gerade auch die Demonstration gegen den Besuch des persischen Schahs am 2. Juni 1967, die bundesweite Proteste von Studierenden nach sich zog und entsprechend als Beginn einer bundesweiten Studentenbewegung bzw. deren Hochphase gilt.55 Mit den Demonstrationen gegen den Besuch des kongolesischen Ministerpräsidenten Moise Tschombé im Dezember 1964 und gegen den Vietnamkrieg Anfang Februar 1966 gingen der Demonstration gegen den Schah-Besuch bereits andere Protestaktionen voraus, die in gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei mündeten. Aber auch innerhalb der Universität organisierte der SDS in diesen Jahren politische Veranstaltungen, etwa im Juni 1964 eine Informationsveranstaltung für ein FdJ-Treffen in Ost-Berlin oder im Februar 1965 eine Podiumsdiskussion mit der US-Mission über den Vietnam-Krieg.56 Auch die als ‚Affäre Kuby-Krippendorff‘57 bekannt gewordenen Auseinandersetzungen im Mai 1965 von Studierenden der FU Berlin mit dem Rektorat sind maßgeblich beeinflusst vom SDS: So formierte sich der Protest von Studierenden gegen das Redeverbot für den Journalisten Erich Kuby auf dem FU-Gelände nach dem Widerspruch des AStAVorsitzenden Wolfgang Lefèvre vom SDS. Diesem Protest, der in einem vom SDS ausgerufenen Vorlesungsstreik kulminierte, schlossen sich letztlich rund 3.000 Studierende an.58 Auf diesen als „Affäre Kuby“ bekannt gewordenen und medial weithin beachteten Vorfall folgte fast unmittelbar die „Affäre Krippendorff“: Nachdem der auslaufende Arbeitsvertrag von Ekkehart Krippendorff, Assistent am politikwissenschaftlichen Otto-Suhr-Institut, nach kritischen Äußerungen in einer Zeitungskolumne über den Rektor nicht verlängert werden sollte, reagierten der AStA unter SDS-Beteiligung und Teile der Studierendenschaft erneut mit Protest und erneut rief der SDS zu einem Vorlesungsstreik auf.59 Aufgrund des bis dato nicht gekannten Widerstands gegen die als unzulässige Beschneidung des demokratischen Grundrechts auf Meinungsfreiheit bewerteten Entscheidungen des Rektorats gelten diese beiden Vorfälle als „Startschuß der Studentenbewegung an der FU – und, mit geringer Verzögerung, in der Bundesrepublik“.60 55 Vgl. Abschnitt 2. Forschungsstand und Erkenntnisinteresse. 56 Zu den Aktionen des SDS vgl. Fichter/Lönnendonker (2008), S. 115ff. 57 Vgl. Abschnitt 2. Forschungsstand und Erkenntnisinteresse. 58 Vgl. insbesondere Tent (1988), S. 311ff.; ferner Bauß (1977), S. 47f.; Fichter/Lönnendonker (2008), S. 135f. 59 Vgl. insbesondere Tent (1988), S. 322ff.; ferner Bauß (1977), S. 47f.; Fichter/Lönnendonker (2008), S. 136f. 60 Tent (1988), S. 313.

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In den genannten Aktionen spiegeln sich mit dem Protest gegen autoritäre Regime, gegen den Vietnamkrieg der USA oder in der Betonung von ‚Demokratie‘ und den damit verbundenen Anrechten auf politische Teilhabe zentrale Themen des SDS wider, die in der Folgezeit auch von der Studentenbewegung getragen werden:61 Der internationale Vietnamkongress im Februar 1968 und die – von einem breiten gesellschaftlichen Bündnis über die Studierenden hinaus getragenen – Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze im Mai 1968 gehören neben der Kampagne gegen den Axel-Springer-Verlag zu den prominentesten Aktionen der Protestphase nach dem 2. Juni 1967 und wurden ebenfalls vom Berliner SDS initiiert und getragen. Die ‚Demokratisierung‘ der Universität, wie gezeigt bereits seit Mitte der 1950er ein Anliegen des SDS, gehört zu den zentralen Forderungen der Studierenden in den Diskussionen zur Hochschulreform während der weniger öffentlichkeitswirksamen Phase der Studentenbewegung nach den gescheiterten Notstandsprotesten.62 Dabei ist nicht zu übersehen, dass der Demokratiebegriff des SDS wie der Studentenbewegung insgesamt keineswegs eindeutig war und zwischen den unterschiedlichen linken Positionen oszillierte. So umfassten diese theoretischen und politisch-strategischen Positionen im SDS wie in der Studentenbewegung insgesamt neben der ‚traditionalistischen‘ und der zunehmend dominierenden ‚antiautoritären‘ Strömung auch eine „pragmatisierende, teilweise noch sozialdemokratische Komponente“ sowie in Grundzügen anarchistische Positionen. In der Auseinandersetzung zwischen den beiden Hauptströmungen innerhalb des SDS warfen die marxistischen ‚Traditionalisten‘ den ‚Antiautoritären‘ ein „vages Sozialismusbild“, da sie gesellschaftliche Realität ohne positive Zielentwürfe ablehnen würden.63 Entsprechend changierte innerhalb des SDS auch die Vorstellung davon, wie die Ordinarienuniversität zu ‚demokratisieren‘ sei: ob mit Blick auf „Wissenschaft als Feld der Selbstverwirklichung“ oder im Sinne einer „Hochschule im Dienst der arbeitenden Bevölkerung“ zeigen.64 Als grundsätzliche Forderung an Hochschulreformen fand die ‚Demokratisierung‘ der Universität allerdings auch über das linke Spektrum hinaus Konsens unter den Studierenden und wurde bereits zu Beginn der 1960er

61 Für einen konzisen Überblick über die Dynamiken, die während der zweiten Hälfte der 1960er Jahre eine Übertragung von Themen, die seit längerem zu den zentralen Anliegen des SDS gehörten, in breite Teile der Studentenschaft begünstigten vgl. Keller (2000), S. 111ff. 62 Vgl. Bauß (1977), S. 221-298; Keller (2000), S. 113f.; Schmidtke (2003), S. 219ff.; Wienhaus (2011). 63 Für eine Übersicht dieser Positionen vgl. Bauß (1977), 299-335, Zitate ebd., S. 300f. 64 Bauß (1977), S. 282.

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Jahre auch vom Verband Deutscher Studentenschaften formuliert.65 Allen Demokratisierungsbestrebungen zentral ist dabei die Einschränkung der Alleinverantwortung von Professor_innen durch die Beteiligung von Studierenden und dem akademischen ‚Mittelbau‘ am Universitätsbetrieb; die konkrete Form dieser Beteiligung variiert allerdings je nach politischer Position zwischen drittelparitätischer Besetzung von Organen der universitären Selbstverwaltung bis hin zur Übertragung von Budget- und Berufungskompetenzen auf Studierende sowie die Bestimmung von Seminarinhalten durch diese.66 Die Einbindung von Studierenden und Assistent_innen in die universitäre Selbstverwaltung hat dabei frühzeitig Eingang in die Reformvorschläge der Bildungspolitik gefunden. Bei den Diskussionen konkreter Reformmaßnahmen bzw. den Verhandlungen von Hochschulgesetzen während der 1960er Jahre hat sich der SDS allerdings sehr zurückgehalten bzw. in Hessen nicht beteiligt.67 Ein solches Verhalten ist vor dem Hintergrund seiner frühzeitigen und dezidierten hochschulpolitischen Positionierung erstaunlich, zumal der SDS während der Hochphase der Studentenbewegung mit seiner „Kritischen Universität“ konkrete Gegenentwürfe erprobte, in denen neben gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Problemen gerade auch Fragen der Hochschulreform diskutiert wurden. Dieses Projekt selbstbestimmten universitären Lernens in sozialistischer Perspektive wurde erstmals im Wintersemester 1967/68 an der FU Berlin durchgeführt und diente in den nachfolgenden Semestern ähnlichen Veranstaltungen an anderen Universitäten in Frankfurt a.M., Hamburg, Heidelberg, Kiel, Mainz und Münster als Vorbild.68 Allerdings fallen diese Projekte fallen bereits in die Spätphase des Studierendenverbands, der sich angesichts seiner fortgeschrittenen Fraktionierung im Februar 1970 als Bundesverband auflöst.69 Wie gesehen, handelt es sich beim SDS um einen zentralen Stichwortgeber der Studentenbewegung und Organisator zahlreicher öffentlichkeitswirksamer Aktionen und Proteste. Dies gilt insbesondere für den SDS Berlin, der in jener Zeit auch für 65 Zur Identifikation mit Demokratisierungsbestrebungen an der Universität vgl. Institut für Demoskopie Allensbach (1967a); zu den Auseinandersetzungen zwischen Studierenden über den zugrunde zu legenden Demokratiebegriff am Beispiel der Universität Frankfurt a.M. vgl. Wienhaus (2011). 66 Vgl. Zoller (1969), S. 60f.; Keller (2000), S. 49-57; Rohstock (2010), S. 42-62; Wienhaus (2011). 67 Vgl. Rohstock (2010), insbesondere S. 141. 68 Vgl. Bauß (1977), S. 253-265; Schmidtke (2003), S. 234ff.; Fichter/Lönnendonker (2008), S. 179ff. 69 Zur zunehmenden Fraktionierung des SDS als Auflösungsgrund vgl. Schmidtke (1998a), S. 205f.; Koenen (2001), S. 182ff.; Fichter/Lönnendonker (2008), S. 149.

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den Gesamtverband einflussreich ist, und die dort vertretenen Studierenden von der Freien Universität, die nicht nur zu einer organisatorischen Plattform, sondern auch zu einem Ort und Ziel der studentischen Proteste wird. Die Mitglieder des SDS im Umfeld der FU Berlin bilden die Grundlage der in dieser Arbeit zu erstellenden Kollektivbiografie. Untersucht wird damit nicht nur ein öffentlichkeitswirksames Protestkollektiv, sondern es werden mittels der im Folgenden beschriebenen Quellen insbesondere die Studierenden an der FU, sofern sie Mitglieder des SDS waren, als in der Forschung immer wieder genannte Träger_innengruppe erfasst. Auf diese Weise ist es möglich, die Thesen der Forschung zu den Akteur_innen des studentischen Protests an einer wichtigen Gruppe empirisch valide zu prüfen.

3.3 Q UELLEN Zur Ermittlung von SDSler_innen im Umfeld70 der Freien Universität Berlin, als die in der Forschung immer wieder genannte zentrale studentische Protestgruppe, konnte auf die Akten des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes im Archiv „APO und Soziale Bewegungen“ des Universitätsarchivs an der FU Berlin zurückgegriffen werden. Dort sind Unterlagen zu den Mitgliedern des SDS-Landesverbandes Berlin aus dem Jahre 1967 erhalten.71 Damit lässt sich recht präzise die Mitgliederstruktur für das Jahr 1967 nachzeichnen, das, wie dargelegt, in mindestens gleicher Weise zur Hochphase der Studentenbewegung zu zählen ist wie das namensgebende Jahr 1968.72 Mindestens für dieses Jahr lassen sich Mitglieder aus dem Umfeld der FU gesichert benennen. Der genannte Bestand umfasst zum einen eine Mitgliederliste, die sich auf die erste Jahreshälfte 1967 datieren lässt. Die Liste ist nicht datiert, ihr Stand lässt sich jedoch auf Frühsommer 1967 rekonstruieren, da weder die im Frühjahr 1967 suspendierten Mitglieder der „Kommune 1“73 noch die Mitglieder aus Beitrittsformularen vom 15. Juli 1967 aufgeführt sind, hingegen eine kleine Anzahl von Aufnahme70 ‚Im Umfeld‘ bedeutet hier zur Protestphase oder zeitnah nachweislich eingeschriebene Studierende der FU. 71 Universitätsarchiv Freie Universität Berlin, Archiv „APO und soziale Bewegungen“, Bestand SDS, Ordner „Aufnahmen 1967 SDS-Bln.“ (Ohne eigene Signatur.) Zu anderen Jahren sind in den Beständen zum Berliner SDS keine Mitgliederunterlagen erhalten. 72 Vgl. Abschnitt 2. Forschungsstand und Erkenntnisinteresse. Das Jahr 1967 gilt aufgrund der Erschießung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 als Beginn der Hochphase der studentischen Proteste. 73 Vgl. Fichter/Lönnendonker (2008), S. 152ff.

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anträgen, die bereits aus dem Frühjahr 1967 datieren, in der Liste verzeichnet sind. Zum anderen sind in dem genannten Bestand Aufnahmeanträge aus der zweiten Jahreshälfte erhalten. Diese Aufnahmeanträge, in denen sich ein starker Zulauf neuer Mitglieder dokumentiert, scheinen die These vom Sommer 1967 als Wende- oder Radikalisierungszeitpunkt in der Studentenbewegung zunächst einmal zu bestätigen.74 Inwiefern der Mitgliederzugewinn allerdings tatsächlich auf die Ereignisse am und in Folge des 2. Juni 1967 zurückzuführen ist, steht in Frage, da dieser Zulauf in zwei Wellen erfolgt: eine im Sommer (vor allem am 15. Juli) und eine zweite im Spätherbst (vor allem am 18. November).75 Diese Frage lässt sich anhand der Quellen jedoch nicht beantworten. Ebenso wenig kann beurteilt werden, inwiefern es sich bei den einzelnen Mitgliedern um jeweils aktive Mitglieder, die regelmäßig etwa auch organisatorisch tätig waren, handelt, oder um weniger aktive Mitglieder, die sich etwa nur sporadisch an Aktionen beteiligten. Allerdings verweist die Mitgliedschaft gerade zu diesem Zeitpunkt darauf, dass diese Personen sich mit dem SDS, seinen Inhalten und seinen Aktionen identifizierten. Die genannte Mitgliederliste mit den Bestandsmitgliedern bis zum Sommer 1967 umfasst 243 Personen, von denen mit Hilfe des Universitätsarchivs der Freien Universität Berlin 141 als Studierende der FU zugeordnet werden konnten. Die hier vorliegende Differenz erklärt sich daraus, dass dem SDS in Berlin auch Studierende von anderen Berliner Hochschulen angehörten, von der Technischen Universität, der Pädagogischen Hochschule sowie der Film- und Fernsehakademie sowie auch einige Nicht-Studierende; auf letztere verweisen gerade auch die genannten Beitrittsformulare. Von vier Mitgliedern von dieser Liste erwiesen sich die Unterlagen aufgrund des Unvollständigkeitsgrades als unbrauchbar, so dass aus dieser Liste ein ‚Sample‘ von 137 Personen erstellt werden konnte. Die Beitrittsformulare aus der zweiten Jahreshälfte 1967 sind von 129 Personen ausgefüllt worden, von denen 70 angeben haben, an der FU zu studieren, jedoch konnten nur 43 Personen in den Akten des Universitätsarchivs ausfindig gemacht werden. Inwiefern hier unrichtige Angaben gemacht wurden oder Akten nicht mehr in den Beständen des Archivs vorhanden sind, kann nicht beurteilt werden. Eine Person, die nicht in den Unterlagen aufgeführt war, deren Zugehörigkeit zum SDS – vor, während und nach 1967 – sich aus anderen Quellen ergibt, wurde der Personenliste hinzufügt, so dass damit ein zu untersuchendes ‚Kollektiv‘ von insgesamt 181 Personen, die im Jahr 1967

74 Vgl. Abschnitt 1. Thema der Arbeit; Abschnitt 2. Forschungsstand und Erkenntnisinteresse. 75 Hier steht zu vermuten, dass etwa auf SDS-Veranstaltungen mit hohem Zulauf neue Mitglieder geworben wurden.

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Mitglieder im SDS waren oder wurden und Studierende der FU waren, erstellt werden konnte. Die Gesamtquellenlage aus Mitgliederliste und Aufnahmeanträgen ermöglicht in dieser Zusammenstellung ggf. auch eine vergleichende Betrachtung von Mitgliedern, die bereits vor dem 2. Juni 1967 dem SDS angehörten, und Neumitgliedern, die der Datierung ihrer Anträge nach – 15. Juli und 18. November – in zwei Beitrittswellen hinzugekommen sind, etwa hinsichtlich der Frage, inwiefern hier vor allem jüngere Mitglieder spontan dem SDS beitreten. An Stellen, an denen eine getrennte Betrachtung etwa mit Blick auf die Thesen zu den Aktivist_innen ertragreich scheint, werden die Ergebnisse zu diesen beiden ‚Teilgruppen‘, die mit Hilfe der Mitgliederliste und den Aufnahmeanträgen erstellt werden können, auch vergleichend präsentiert. In diesen Fällen werden die Gruppen entsprechend als Gruppe ‚Vor Sommer 1967‘ oder ‚Nach Sommer 1967‘ bzw. als ‚Altmitglieder‘ und Neumitglieder gekennzeichnet. Als Quellen für die Erstellung der Kollektivbiografie wurden die Immatrikulationsakten der FU herangezogen. Die Immatrikulationsakten umfassen grundsätzlich alle studienrelevanten Akten: Bewerbungsunterlagen, Zulassungsbescheinigungen, Beurlaubungsanträge, Exmatrikulationsanträge, erforderliche Nachweise, Korrespondenz zwischen Studierenden und Universität sowie ggf. auch Abschriften von Strafanträgen und Gerichtsurteilen sowie Benachrichtigungen des DisziplinarUntersuchungsführers an das Studiensekretariat.76 In einzelnen Fällen wurden auch Zeitungsartikel über Studierende archiviert. Für die vorliegende Untersuchung haben genannten Unterlagen anonymisiert vorgelegen und sind die relevanten Daten entsprechen anonym ausgewertet worden. Die strikte anonymisierte Auswertung erfolgte aufgrund der datenschutzrechtlichen Auflagen durch das Universitätsarchiv der Freien Universität Berlin. Aufgrund dessen sind der Auswertung Grenzen gezogen, insbesondere auch mit Blick auf eine qualitative Analyse von biografischen Ereignissen, da keine direkten Zitate als Belege verwendet werden können. Die Belege sind entsprechend paraphrasiert worden. 76 Bis zur Umwandlung in die Gruppenuniversität Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre oblag den (west-)deutschen Universitäten noch ein eigenes Disziplinarrecht, dessen Tradition bis in das Mittelalter reicht, als die Universitäten über eigene Rechtshoheit verfügten. So konnten Studierende der FU bis 1970 – zumindest theoretisch – auch bei nicht studienrelevanten Rechtsverstößen von der Universität suspendiert oder relegiert werden. In den hier vorgefundenen Fällen wird in der Regel vom Disziplinar-Untersuchungsführer aufgrund von staatsanwaltlichen oder gerichtlichen Benachrichtigungen über Strafanträge oder Urteile die Betroffenheit der Universität geprüft, welche jedoch in keinem Fall als gegeben beurteilt wird.

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Bei der Bewerbung an der Freien Universität waren ein Bewerbungsformular „Angaben zur Person“ auszufüllen und diesem eine Kopie des Abiturzeugnisses, ggf. bereits erworbene Studiennachweise, polizeiliches Führungszeugnis sowie der Lebenslauf beizulegen.77 Da hier die wichtigsten sozialen Daten der Studierenden versammelt sind, sind diese Quellen für eine kollektive biografische Erfassung unverzichtbar. Die erforderlichen Angaben im Formular „Angaben zur Person“ umfassen allgemeine Sozialdaten (Name, Vorname, Geburtstag und –ort, Ständiger Wohnsitz, Straße, Anschrift in Berlin, Staatsangehörigkeit, Familienstand, Beruf des Ehegatten, Zahl der Kinder, Name und Beruf des Vaters, Vor-, Geburtsname und Beruf der Mutter, Zahl der Geschwister (minderjährige, davon in Ausbildung), Angaben über den Erwerb der Hochschulreife (Datum, Ort, Name der Schule, Art der Schule) sowie zum beabsichtigen Studium (Fakultät, Hauptfach, Nebenfach) und ggf. zu bisherigen Studien (Universität, Fakultät, Fachrichtung, Dauer). In dem insgesamt vierseitigen Formular ist des Weiteren ein Auszug aus der Universitätsordnung abgedruckt.78 Bei Beurlaubungs- und Exmatrikulationsanträgen waren neben dem betreffenden Semester die entsprechenden Gründe anzugeben, wobei die jeweiligen Formulare keine Vorgaben dafür machen und Leerzeilen für eigenhändige Einträge der Antragsteller_innen aufweisen. Auch Fach- und Fakultätswechsel mussten formal beantragt werden, wobei hierfür jedoch keine eigenen Formulare vorgesehen waren, sondern erneut das Formular „Angaben zur Person“ verwendet wurde, welches mit einem entsprechenden Stempel gekennzeichnet wurde. Diese Unterlagen bieten somit Informationen über wesentliche soziale Daten sowie zum Bildungsgang und sind daher als Datengrundlage für eine Kollektivbiografie unverzichtbar; entsprechend stellen sie die zentrale Basis der quantitativen Analyse in dieser Arbeit dar.79

77 „Als Anlagen sind beizufügen: a) Zeugnisse und Unterlagen zu Punkt 2; Zeugnisse nicht im Original, sondern in beglaubigter Abschrift (Fotokopie) beizufügen. Bei der Immatrikulation dagegen muß das Reifezeugnis im Original vorgelegt werden. b) Lebenslauf; c) Polizeiliches Führungszeugnis (nicht älter als 3 Monate nach der Ausstellung) d) Übungsscheine, Seminarscheine, Leistungsscheine, sofern schon erworben. (Keine Originale)“ Formular „Angaben zur Person“, S. 2. Vgl. UABFU. 78 Die Formulare weisen über die unterschiedlichen Immatrikulationszeiträume bis zur Universitätsreform 1970 keine wesentlichen Veränderungen auf; der Auszug aus der Universitätsordnung ändert sich geringfügig entsprechend der Änderungen in der Universitätsordnung. 79 Zum methodischen Vorgehen vgl. Abschnitt 5.

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Die den Bewerbungsformularen beigefügten Lebensläufe sind alle ausformuliert und – bis auf drei Ausnahmen – handschriftlich verfasst, die meisten sind mit vollständigem Briefkopf, zumindest aber mit Datum und Ort versehen. Im Wesentlichen folgen sie der gleichen Struktur: Aufführen der sozialen Daten, Darstellung des Bildungsgangs, Bezugnahme auf das Studium. Der erste Satz ist in fast allen Texten nahezu gleich und folgt offensichtlich einer Standardformulierung. Hinsichtlich der Länge, der Themenvielfalt und des Detailreichtums sowie in der Sachlichkeit unterscheiden sich die Texte jedoch z.T. erheblich: Während manche lediglich eine Ausformulierung der im Bewerbungsformular bereits getätigten Angaben von weniger als einer Seite Länge darstellen (der kürzeste Lebenslauf umfasst auf knapp eine halbe Seite), sind einige als detaillierte Autobiografien über mehrere Seiten verfasst (der längste Lebenslauf umfasst 12 Seiten), die weit über die Ausformulierung von Sozialdaten und Bildungsverlauf hinaus gehen. Auch auf der Ebene von Satzbau und Textkohäsion fallen schon vor einer dezidierten Analyse deutliche Unterschiede auf, auch wenn alle Lebensläufe ausführlich sind, d.h. in ganzen Sätzen formuliert werden, im Gegensatz etwa zum heute üblichen tabellarischen Lebenslauf. Daraus lässt sich schließen, dass über die grundsätzliche Form und Struktur eines Lebenslaufs zwar Konsens besteht, etwa wie bis heute üblich durch die Vermittlung der grundlegenden Regeln im schulischen Deutschunterricht, darüber hinaus aber Offenheit hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung bestand. Diese ausführlichen Lebensläufe liefern also eine Fülle von Informationen über die Sozialdaten und den Bildungsverlauf hinaus. Die Reichweite dieser Informationen ist allerdings mit Blick auf die Zweckorientierung dieser Lebensläufe – die Bewerbung an der Freien Universität – begrenzt. Dies betrifft weniger die sachliche Richtigkeit dieser Angaben, sondern vielmehr die strategische Auswahl von Informationen und die Darstellung entsprechend der Zielsetzung, die es zu bedenken gilt.80 Diese Unterschiede in Länge und Informationsgehalt der Lebensläufe liefern wichtige Ansatzpunkte auch für eine qualitative Analyse: Da keinerlei weitere Hinweise zum Verfassen des Lebenslaufes in den offiziellen Dokumenten der Universität gemacht wurden, müssen die Unterschiede als Ausdruck dessen gewertet werden, was von den Verfasser_innen für die Bewerbung jeweils als relevant betrachtet wurde. Diese Überlegung wird auch durch die Universitätsordnung der FU gestützt, die als entscheidend für die Zulassung „grundsätzlich die fachliche und charakterliche Eignung der Bewerber“ auswies.81 Die Zulassungsbedingungen wurden in den Personal- und Vorlesungsverzeichnissen unter den Informationen zum Studium an der FU abgedruckt; demnach wurde die Zulassung neben der allgemeinen Hoch80 Dazu ausführlich im nachfolgenden Abschnitt. 81 Vgl. Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Freien Universität Berlin (1948ff.).

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schulreife als grundsätzliche Voraussetzung auch von der zitierten Eignung abhängig gemacht. Bei der Eröffnung der Universität sah die Universitätsordnung noch eine „persönliche Aussprache“ vor, in der sich der Zulassungsausschuss von der Eignung überzeugen sollte.82 Nur wenige Jahre später, vermutlich dem Arbeitsaufwand bei steigenden Bewerber_innenzahlen gezollt, sieht die Universitätsordnung nur noch die Möglichkeit eines Prüfungsgesprächs vor; 83 die ‚fachliche und charakterliche Eignung‘ bleibt allerdings im gesamten hier relevanten Zeitraum als Zulassungsvoraussetzung explizit ausgewiesen. Aus den genannten Quellen werden zur Erstellung der Kollektivbiografie einerseits soziale Daten erfasst und ausgewertet; andererseits greift die Untersuchung auch auf die Äußerungen in den Lebensläufen zurück, um zum einen die quantitative Analyse zu untermauern und zu differenzieren, zum anderen aber auch, um die Deutungen der Verfasser_innen selbst zu erfassen.84 Mit einer solchen qualitativen Auswertung der ausführlichen Lebensläufe sind jedoch einige wichtige quellentheoretische und methodologische Implikationen verbunden, die im Folgenden dargestellt werden.

3.4 L EBENSLÄUFE

ALS

E GO -D OKUMENTE

Die Textsorte ‚Lebenslauf‘ liegt als Quelle für qualitative Forschung in den Sozialwissenschaften ‚jenseits des Mainstreams‘. In Handbüchern zur qualitativen Sozialforschung bzw. qualitativen Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft werden Lebensläufe als potentielle Quellen genannt, ohne sie jedoch weiter zu problematisieren – im Gegensatz zu anderen autobiografischen Texten, zu denen neben prosaisch verfassten Lebensgeschichten auch verschiedene Formen des Interviews gezählt werden, in denen Menschen über ihr Leben Auskunft geben.85 Auch die umfangreiche sozial- bzw. erziehungswissenschaftliche Literatur zum ‚Lebenslauf‘ als Ordnungsprinzip nimmt nur selten Bezug auf die Textsorte Lebenslauf, obwohl ‚Biographien‘ im weitesten Sinne als Wiedergabe von Lebensgeschichten dort eine zentrale Rolle spielen. In empirischer bildungshistorischer Forschung sind Lebensläufe bislang nur in Einzelfällen als Quellen qualitativer Untersuchungen 82 Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Freien Universität Berlin für das Wintersemester 1948/49 (1948), S. 5. 83 Vgl. Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Freien Universität Berlin für das Wintersemester 1952/53. 84 Zum methodischen Vorgehen ausführlich vgl. Abschnitt 5. 85 Vgl. Flick/Kardoff/Steinke (2005); Lamnek (2005); Krüger/Marotzki (2006); Friebertshäuser/Langer/Prengel (2010).

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eingesetzt worden.86 Nichtsdestotrotz stellen Lebensläufe für entsprechende Fragestellungen aussagekräftige Dokumente dar.87 Bereits in den späten 1970er Jahren verweist Martin Kohli im Zusammenhang mit der Ausbreitung biografischer Forschung in Deutschland auf die Alltäglichkeit und die damit einhergehende breite Varianz biografischer Texte sowie auf den besonderen Stellenwert von Lebensläufen als „schriftkonstituierten lebensgeschichtlichen Texten im Rahmen von administrativen Abläufen.“88 Solche biografischen Texte seien – so Kohli – immer an einen textsortengebundenen Code angepasst und dürften daher nicht ‚naiv‘ gelesen werden, sondern die Rezeption biografischer Texte setze die Kenntnis des Codes sowie Kenntnisse über das Zustandekommen des Textes voraus. Unter diesen Voraussetzungen lasse sich dann der biografische Gehalt dieser Texte erschließen und ‚Lebensgeschichten‘ im schulischen oder betrieblichen Kontext müssten dann als „Leistungsgeschichten“ gelesen werden.89 In diesem Sinne sind auch die vorliegenden Lebensläufe als ‚Leistungsgeschichten‘ zu lesen, in denen die Studienbewerber_innen den Nachweis ihrer Eignung als geeignete Kandidat_innen für ein Studium an der Freien Universität erbringen müssen. Dieses Wissen über das Zustandekommen von Texten, über ihre Erzeugung entlang von spezifischen Regeln oder Konventionen sowie ein Bewusstsein ihrer ‚Dialogizität‘90, bilden die wesentlichen Voraussetzungen zur Interpretation nicht nur von biografischen Texten, sondern zur Entschlüsselung von Quellen jeglicher Art. Diese Tatsache begründet etwa in der Geschichtswissenschaft die Notwendigkeit der Quellenkritik zu Beginn jeder historischen Analyse.91 In den Sozialwissenschaften sorgten die daraus resultierenden Probleme gerade während der Etablierung einer „Sozialwissenschaft als Textwissenschaft“ für breite und kontroverse methodologische Diskussionen und noch aktuelle Kritik legt nahe, dass diese Überlegungen

86 Eine Ausnahme stellen die – öffentlich nur schwer zugänglichen Arbeiten – von Glaser zu Lehramtsanwärterinnen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dar, vgl. Glaser (1998), (2000), (2006); Angaben nach Glaser/Schmid (2006). 87 Vgl. auch die entsprechende Einschätzung bei Glaser (2010), S. 365f. 88 Kohli (1978), S. 24. 89 Kohli (1978), S. 25. 90 Zur Dialogizität von Texten wie von Sprache insgesamt vgl. grundlegend Bakhtin (1981). Bei Bakhtin bedeutet diese Dialogizität eine konstante Interaktion von sprachlichen Äußerungen, d.h. sprachliche Äußerungen beziehen sich immer auf vorhergehende und beeinflussen bereits zukünftige. Dieser Gedanke spiegelt sich in Kohlis Feststellung wieder, dass Autobiografien immer eine Interaktion von Autor und Leser konstituierten und Texte „für Zuhörer produzierte Texte sind.“ Kohli (1978), S. 25. 91 Vgl. Glaser (2010).

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zur Texterstellung in der Analyse von autobiografischen Texten nicht immer ausreichend berücksichtigt werden.92 In der Geschichtswissenschaft werden Quellen, „die Auskunft über die Selbstsicht eines Menschen geben“, unter dem Begriff der „Ego-Dokumente“ gefasst.93 Für diese Art von Dokumenten, die tradierten Regeln der Textproduktion unterliegen, ist eine bis in das Spätmittelalter reichende Tradition und ein Ursprung im christlichen Bekenntnis nachgezeichnet worden.94 Lebensläufe sind in diesem Sinne ‚Ego-Dokumente‘ im Rahmen administrativer Abläufe, die erstellt werden, um der Aufforderung des Adressaten oder der Adressatin, ‚Zeugnis über sich abzulegen‘, nachzukommen. Aufgrund der vornehmlichen Verwendung im Kontext von Ausbildung und Beruf, ergibt sich eine charakteristische Eingrenzung der Inhalte auf die vornehmlich relevanten Lebensbereiche des Bildungsgangs und der Berufstätigkeit. Da Lebensläufe zumeist im Rahmen von Auswahlverfahren angefertigt werden, dient das Verfassen von Lebensläufen einer im Sinne der umworbenen Position möglichst positiven Selbstdarstellung, d.h. die Selbstdarstellung unterliegt sowohl einer Auswahl von Aspekten als auch einer ‚Hinschreibung‘ des Lebenslaufs auf das gewünschte Ziel. Im konkreten Fall ist zu berücksichtigen, dass die Lebensläufe von Studienbewerber_innen im Rahmen des Bewerbungsverfahrens einer Universität verfasst werden, welche eine Auswahl aus formal qualifizierten Bewerber_innen treffen muss, da die Nachfrage größer ist als die Zahl der verfügbaren Studienplätze.95 Allein die Aufforderung der Universität im Bewerbungsformular zur Anfertigung eines ausführlichen Lebenslaufs beinhaltet implizit die Aufforderung zur Selbstdarstellung in Hinsicht auf die Institution und die dort einzunehmende Rolle eines Studierenden oder einer Studierenden. In der speziellen Situation von amtlich kontingentierten Studienplätzen und der daraus entstehenden Konkurrenzsituation ergibt sich zudem bereits die Notwendigkeit, sich als besonders geeignet darzustellen. Dass eine besondere Eignung auch von Seiten der Universität verlangt wird, wird dabei, wie oben dargelegt, auch aus den Zulassungsbedingungen ersichtlich. Die Lebensläufe dienen damit der Selbstdarstellung als ‚fachlich und charakterlich geeignete Bewerber_innen‘ und als solche erfordern sie eine Darstellung der jeweils eigenen Bildungsbiografie als Teil des Lebensverlaufs, die die Bewerberinnen als nicht nur formal, sondern auch ‚charakterlich‘ qualifiziert ausweist. Insofern lassen sich die Lebensläufe der Bewerber_innen nicht nur als „Leistungsgeschichten“, 92 Vgl. z.B. Glaser/Schmid (2006), S. 379; Heinritz (2010), S. 406. 93 Schulze (1996), S. 14. 94 Zur Quellengattung der Ego-Dokumente vgl. grundlegend Schulze (1996). 95 Seit ihrer Gründung war die Studienplatznachfrage an der FU Berlin größer als ihr Angebot. Vgl. Tent (1988).

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sondern als die Konstruktion des jeweiligen ‚akademischen Selbst‘96 lesen. Diese Konstruktion in der Darstellung der eigenen Bildungsbiografie erfolgt dann allerdings vor dem Hintergrund des jeweiligen subjektiven Konzepts von Universität als Institution allgemein und der Freien Universität als konkreter Einrichtung. Ermittelt werden in der Interpretation der Lebensläufe somit nicht nur Konstruktionen des ‚akademischen Selbst‘, sondern in doppelter Brechung auch die antizipierten Vorstellungen von Universität und dann das darauf bezogene akademische Selbst, wie die Bewerber_innen es in Erwartungsantizipation ihres Universitätskonzepts entwerfen. Ziel ist es, in dieser Perspektive auch die Bildungs- und Universitätskonzepte jener Personen zu untersuchen, die als Teil der Studentenbewegung Angriffe fundamentale Kritik an der Universität üben. In dieser qualitativen Analyse kann also mit der Deutung von Bildung und Universität durch die Bewerber_innen selbst eine ergänzende Perspektive auf die im quantitativen Teil der Kollektivbiografie zu betrachtenden Sozialisationsbedingungen entwickelt werden. Den quantitativen und qualitativen Analysen gehen allerdings im Folgenden zunächst die Darlegung des Theorierahmens und der Analyseperspektiven sowie des methodischen Vorgehens voran.

96 In der pädagogisch-psychologischen Forschung ist das „akademische Selbstkonzept“ – im Anschluss an das „academic self-concept“ der US-amerikanischen Forschung“ – zentraler Aspekt von Theorien zur Lernmotivation von Schüler_innen und gilt dort als ein Prädiktor für die Lernmotivation, die über Kompetenzeinschätzungen in schulischen Fächern zu erfassen versucht wird; vgl. Marsh/Byrne/Shavelson (1988); im Anschluss an diese Gniewosz (2010). Hier jedoch bezeichnet die Konstruktion eines ‚akademischen Selbst‘ – die ursprüngliche Wortbedeutung von ‚akademisch‘ aufgreifend – die Selbstdarstellung im universitären Kontext.

4. Theoretischer Rahmen und Analyseperspektiven

Indem die vorliegende Arbeit Biografien kollektiv erfasst und in historischer Perspektive die Rahmenbedingungen der Sozialisation und die Bildungswege des gewählten Personenkollektivs analysiert, leistet sie mithin einen Beitrag zur Historischen Bildungsforschung. Als Teildisziplin der Erziehungswissenschaft schöpft jene wie diese aus einem breiten Reservoir geistes- und sozialwissenschaftlicher Theorien und Methoden, insbesondere aus den angrenzenden Disziplinen der Soziologie und der Psychologie, eine herausgehobene Bedeutung kommt durch die historische Perspektive der Bezugsdisziplin der Geschichtswissenschaft zu.1 Ursprünglich eine „Geschichte der Pädagogik“, hat die Historische Bildungsforschung ihren Fokus über die Disziplingeschichte der Erziehungswissenschaft hinaus geweitet und erziehungswissenschaftliche Fragestellungen an die Vergangenheit gerichtet. Dabei verstand sie sich seit den 1970er Jahren – parallel zur Entwicklung in der Geschichtswissenschaft wie auch im Zuge einer stärker sozialwissenschaftlichen Ausrichtung der Erziehungswissenschaft selbst – zunächst insbesondere als ‚historische Sozialforschung‘. Als solche präsentierte sie sich vor allem als strukturanalytische Geschichte der Institutionen sowie der politischen und gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Erziehung, Bildung und Sozialisation.2 Im Zuge einer kulturwissenschaftlichen Kritik des sozialwissenschaftlichen Paradigmas in der Geschichtswissenschaft, in dem gesellschaftlichen Strukturen quasideterministischer Einfluss auf die Individuen, ihre Persönlichkeitsentwicklung und ihre Bewusstseinslagen unterstellt und demgegenüber die Bedeutung der Individuen an der Hervorbringung dieser Strukturen vernachlässigt werde, hat sich parallel zur 1

Vgl. Groppe (2012), S. 179.

2

Zur Entwicklung der Historischen Bildungsforschung und ihrer thematischen und theoretischen Orientierungen im Zusammenhang mit entsprechenden Entwicklungen in benachbarten Disziplinen vgl. Priem (2006); Tenorth (2010); Groppe (2012).

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Geschichtswissenschaft auch die Historische Bildungsforschung zunehmend den Individuen als historische Akteur_innen im sozialen Raum zugewandt.3 Die Perspektive einer kulturwissenschaftlich erweiterten Sozialgeschichte bzw. einer integrierten Sozial- und Kulturgeschichte ermöglicht die Konzeptualisierung eines dialektischen Verhältnisses, in dem Strukturen und Individuen als sich wechselseitig bedingend und hervorbringend gefasst werden.4 ‚Kultur‘ ist dabei nicht mehr normativ als ‚Hochkultur‘ zu verstehen, sondern als „Komplex symbolischer Interaktion“5, als die Gesamtheit subjektiver Sinnkonstruktionen und symbolischer Handlungsweisen auf der Grundlage von Erfahrungen, Werten, Normen und Leitbildern. In diesem Sinne sucht Kulturgeschichte über einen veränderten Zugang zum sozialen Geschehen auch einen Zugang zu den Sinndeutungen und Motiven der handelnden Individuen, um Geschehenes – Geschichte – zu verstehen.6 Eine in dieser Weise interdisziplinär arbeitende und bifokal auf gesellschaftliche Strukturen wie individuelle Handlungen ausgerichtete Historische Bildungsfor3

Zu dieser Kritik, die sich nahezu parallel zur Durchsetzung des sozialhistorischen Paradigmas in den 1970er entwickelt vgl. Daniel (1993); zur „Herausforderung durch die Kulturgeschichte“ Wehler (1998). Allerdings hat Welskopp (1998) darauf hingewiesen, dass, auch wenn der „Strukturalismusvorwurf“ grundsätzlich zu konzedieren sei, die kulturgeschichtliche Kritik ‚Sozialgeschichte‘ zu eng fasse und dadurch übersähe, dass sich mit der Bürgertumsforschung der 1980er Jahre durch methodische Erweiterung unter dem Dach der Sozialgeschichte verschiedene Ansätze versammelt hätten. Zitat S. 178.

4

Bereits Mitte der 1990er Jahre entwickelt sich aus der Sozialgeschichte heraus eine solche Mittelposition zwischen Sozial- und Kulturgeschichte im Sinne einer „Geschichte als ‚Handeln in Strukturen‘“. Vgl. Mergel (1996), S. 57f., Zitat S. 57. Zur Umsetzung des Plädoyers einer integrierten Sozial- und Kulturgeschichte in der Historischen Bildungsforschung vgl. z.B. Groppe (2001); (2004).

5 6

Wehler (1998), S. 10. Die Anfänge einer ‚Kulturgeschichte‘ sind gegenüber dieser aktuellen Ausformung von Kulturgeschichte allerdings sehr viel früher anzusiedeln, bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Dem normativen Kulturbegriff jener Zeit entsprechend wird ihr als einer ‚Geschichte der Kultur‘ die Aufgabe zugewiesen, „den sittlichen und allgemeinen Fortschritt der Menschheit zu beschreiben und dadurch selbst versittlichend und aufklärend zu wirken.“ Seit jener Zeit hat der Begriff der Kulturgeschichte parallel zum Kulturbegriff selbst zahlreiche Diskussionen und Bedeutungsveränderungen erfahren. Unter dem Einfluss insbesondere von Ethnologie und Poststrukturalismus formte sich ein Begriff von Kultur als Symbolsystem, der seit den 1990er Jahren gleichzeitig die Kritik der Sozialgeschichte und die Entwicklung der Kulturgeschichte beeinflusst hat. Vgl. Daniel (1993); Daniel (2001), insbesondere den Überblick zur Geschichte der Kulturgeschichte, S. 195ff.; Zitat ebd., S. 197.

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schung erlaubt einen breiten Zugriff auf die kollektiv erfassten Biografien der SDSler_innen: In der Perspektive einer kulturgeschichtlich erweiterten Sozialgeschichte können einerseits die Sozialisationsbedingungen rekonstruiert und andererseits die Ausdeutung der jeweils eigenen (Bildungs-)Biographie analysiert werden, um auf diese Weise auch mögliche wechselseitige Bedingungen erfassen zu können. Indem die Ausdeutungen in den Lebensläufen zu dem spezifischen Zweck der Bewerbung an der Universität als einer Bildungsinstitution vorgenommen werden, geben sie Aufschluss über die subjektiven Sinndeutungen dieser Situation, über ihre ‚BeDeutungen‘ von ‚Universität‘ und ‚Bildung‘. Inwiefern diese Sinnzuweisungen im Zusammenhang mit den Sozialisationsbedingungen zu sehen sind, ist Teil des Erkenntnisinteresses dieser Arbeit. Wie in Abschnitt 2 dargelegt, unterstellen die referierten Thesen über eine ‚bürgerliche‘ Herkunft und die Zuschreibungen zu einer ‚Protestgeneration‘ ein aus den Erfahrungen in Kindheit und Jugend resultierendes ‚rebellisches Potenzial‘. Damit stellt es das Ergebnis dessen dar, was seit Ende des 19. Jahrhundert im weitesten Sinne als ‚Sozialisation‘ beschrieben wird. Ohne diesen noch recht neuen sozialwissenschaftlichen Begriff zu verwenden, wurden am Ende des 19. Jahrhunderts, insbesondere bei Émile Durkheim, die zunehmend als drängend empfundene Frage behandelt, wie bei einer fortschreitenden Modernisierung mit ihren Individualisierungs- und Säkularisierungstendenzen der Zusammenhalt der Gesellschaft gewährleistet werde.7 Betonten Sozialisationstheorien bis weit in das 20. Jahrhundert vor allem die Bedeutung der Gesellschaft im Sozialisationsprozess, welche durch geeignete Maßnahmen – Erziehung, Bildung – die Eingliederung junger Menschen in die jeweiligen Normen und Werte zu ihrem Erhalt gewährleisten müsse, hat sich seit den späten 1970er Jahren, ausgehend von der Entwicklungspsychologie, eine zweite Perspektive entwickelt, die auf die Persönlichkeitsentwicklung des Individuums in aktiver Auseinandersetzung mit seiner Umwelt fokussiert. In dieser Perspektive erhält Persönlichkeit als „Gesamtheit [der] dauerhaften psychischen Eigenschaften“ – etwa Identität, Werthaltungen, Motive, persönliche Ziele – den Status von „Schrittmacher und Resultat von Sozialisation“,8 d.h. sie ist hervorbringend und hervorgebracht zugleich. Gleichzeitig wurde das normative Verständnis von Sozialisation zugunsten einer beschreibenden und analytischen Verwendung des Konzepts abgeschwächt, auch wenn in manchen Betrachtungen nach wie vor die Vorstellung einer ‚gelingenden Vergesellschaftung‘

7

Vgl. Durkheim (1902/2004).

8

Neyer/Lehnart (2008), S. 82.

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anklingt.9 Seit dieser Zeit hat sich in den verschiedenen Disziplinen der Geistesund Sozialwissenschaften eine kaum mehr zu überblickende Vielzahl von theoretischen Konzepten und Überlegungen sowie empirischen Forschungsansätzen entwickelt.10 Und auch wenn je nach Wissenschaftsdisziplin (vor allem Soziologie, Psychologie, Ethnologie, Erziehungswissenschaft) und abhängig von der je eigenen Problemstellung die Betrachtung der einen oder anderen Seite stärker ausfällt, hat sich als Konsens die Überzeugung eines Interaktionsprozesses zwischen Individuum und Umwelt herausgebildet:11 „Sozialisation ist ein Prozess, durch den in wechselseitiger Interdependenz zwischen biopsychischen Grundstrukturen individueller Akteure und ihrer sozialen und physischen Umwelt relativ dauerhafte Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen auf persönlicher ebenso wie auf kollektiver Ebene entstehen.“12 Bleibt die besondere Nachhaltigkeit von lebenszeitlich früheren Erfahrungen in der Persönlichkeitsentwicklung unbestritten, wird der Sozialisationsprozess aufgrund der fortwährenden Interaktion zwischen Individuum und einer wandelbaren Umwelt dennoch als lebenslang gedacht; trotz der nach wie vor starken Fokussierung der Forschung auf die Jugendphase wird diese nicht mehr als die herausragende Phase der Sozialisation, sondern vielmehr aufgrund der kurzfristig zu beobachtenden Entwicklungen als interessanteste und für die Wissenschaft am einfachsten zu erfassende begriffen.13 In diesem Sinn wird Sozialisation nicht als determinierender Effekt von Kindheits- und Jugenderfahrungen begriffen, sondern als ein innerhalb bestimmter Rahmungen flexibler Entwicklungsprozess der Persönlichkeit.14 Für die vorliegende Untersuchung bedeutet das, dass sie in erster Linie die Rahmenbedingungen von Sozialisation und z.T. die reflektierten Sozialisationserfahrungen, nur bedingt aber einen Sozialisationsprozess im eigentlichen Sinne be9

Beer/Bittlingmayer (2008) verweisen in diesem Zusammenhang auf eine nach wie vor Theorie und Forschung zugrunde liegende subtile Normativität. Vgl. dazu auch die Beschreibung der Aufgaben von Sozialisationsforschung bei Veith (2008), S. 32.

10 Eine Übersicht über Sozialisationstheorien findet sich bei Veith (2008), der ihre Vielzahl ebenso lapidar wie zutreffend kommentiert: „Eine allgemein akzeptierte Theorie der Sozialisation gibt es nicht.“ (S. 32). Baumgart (2004), S. 13 konstatiert, dass die Vielzahl von sozialisationstheoretischen und empirisch analytischen Ansätzen „nicht nur den Laien entmutigen“ könne. Zum aktuellen Forschungsstand der Sozialisationsforschung vgl. Hurrelmann/Grundmann/Walper (2008). 11 Vgl. Gestrich (1999), S. 27f. 12 Hurrelmann/Grundmann/Walper (2008), S. 25. 13 Vgl. Boehnke/Hadjar (2008), S. 94. 14 Vgl. Faltermeier (2008).

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schreiben kann.15 Ein in dieser Weise komplexer Sozialisationsbegriff ist jedoch in empirischer Forschung zwangsläufig nur bedingt operationalisierbar und setzt notwendigerweise eine Reduktion auf ausgewählte Aspekte der Sozialisation voraus. Entsprechend der Beschaffenheit des Quellenmaterials lassen sich aus den biografischen Daten – etwa aus den Geburtsjahrgängen und der sozialen und regionalen Herkunft – wesentliche politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Strukturen ableiten, in denen sich die Sozialisation der SDSler_innen vollzieht. Gerade die Bildungsverläufe geben ferner Auskunft über das Bildungssystem – Schule, Ausbildung, Universität – als einem zentralen Sozialisationskontext.16 Auf diese Weise lässt sich ein Bild von der Umwelt zeichnen, mit der sich die SDSler_innen im Zuge ihrer Sozialisation als Persönlichkeitsentwicklung auseinandergesetzt haben, ohne dabei jedoch Ursachenforschung für ein ‚rebellisches Potenzial‘ zu betreiben, das als ‚Produkt‘ von Sozialisation vorausgesetzt würde. Neben die Beschreibung von Sozialisationsbedingungen tritt mit der Betrachtung der Konstruktion des ‚akademischen Selbst‘ auch die Analyse von Sozialisationseffekten: Wie im vorangehenden Abschnitt zur Qualität von Lebensläufen als EgoDokumente beschrieben, treten die SDSler_innen mit den im Rahmen ihrer Bewerbung an der Freien Universität Berlin verfassten ausführlichen Lebensläufen in Interaktion mit der Institution Universität. Diese lassen sich entsprechend nicht nur als „Leistungsgeschichten“ (Kohli) lesen, sondern auch als Selbstdarstellungen als ‚fachlich und charakterlich geeignete‘ Bewerber_innen. Inwiefern die Konstruktion des ‚akademischen Selbst‘ Ausdruck der jeweiligen Identität als ein „selbstreflexives Bewusstsein“17 oder aber die funktionalistische Rollenübernahme in diesem spezifischen Kontext darstellt, wird dabei nicht zu klären sein. Identitätsbildung als innerpsychischer Vorgang im Sozialisationsprozess entzieht sich der konkreten Beschreibung: „Dargestellt werden können nur die handelnde Selbstverortung der Subjekte in sozialen Feldern sowie die Identifikation mit oder Abgrenzung von den in den Feldern angebotenen Deutungsmustern.“18 Als eine solche Selbstverortung 15 So kritisiert etwa Grundmann als eine Schwäche der Sozialisationsforschung, dass sie in weiten Teilen nicht auf die im Sozialisationsprozess zentrale Interaktion zwischen Individuum und Umwelt fokussiere. Vgl. Grundmann (2006), S. 22ff., insbesondere S. 28; daran anschließend Boehnke/Hadjar (2008), S. 95. 16 Der Begriff des ‚Sozialisationskontextes‘ wird hier verwendet, um eine gegenüber dem in der Sozialisationsforschung gebräuchlichen Begriff der ‚Sozialisationsinstanz‘ neutrale Sicht auf die wechselseitige Beeinflussung von Individuum und Umwelt auszudrücken; vgl. Boehnke/Hadjar (2008), S. 93. 17 Groppe (2004), S. 31. 18 Groppe (2004), S. 34.

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sind die Lebensläufe zu begreifen, die in diesem Sinne Aufschluss geben über das jeweilige Rollenverständnis als prospektive Studierende, über die entsprechenden Handlungskompetenzen in diesem spezifischen Kontext ebenso wie ihre Werthaltungen gegenüber der Universität. In den auf diese Weise aktualisierten, sozial vermittelten Konzepten von ‚Universität‘ als Institution zeichnen sich somit Sozialisationseffekte ab, die vor dem Hintergrund der Sozialisationsbedingungen zu reflektieren sein werden. Wie bereits in den Ausführungen zum Quellenmaterial angemerkt, unterscheiden sich die Lebensläufe nach Länge und Qualität und verweisen dadurch auf einen Interpretationsspielraum hinsichtlich der Deutungen von ‚Universität‘ und des jeweiligen Rollenverständnisses als Studierende. Dieser Interpretationsspielraum ergibt sich aus der Anforderung an die Studierenden, über die formale Qualifikation hinaus, nachgewiesen durch das Abitur, auch die persönliche Eignung zum Studium nachzuweisen. Durch die Betonung einer doppelten, nämlich fachlichen wie charakterlichen Befähigung zum Studium entspricht der Interpretationsspielraum dem des Bildungsbegriffs im Deutschen. Wie gezeigt, legt bereits die Aufforderung zur Selbstdarstellung in den Lebensläufen nahe, dass zur Zulassung an der Freien Universität nicht allein der formale Nachweis durch das Abitur ausreichend ist, sondern eben auch – wie dies auch in den Zulassungsbestimmungen der Universitätsordnung deutlich herausgestellt wird – die charakterliche Eignung nachzuweisen ist. Diese doppelte Anforderung an zukünftige Studierende spiegelt damit den Doppelcharakter des auf der Philosophie des Deutschen Idealismus und des Neuhumanismus basierenden, traditionellen deutschen Bildungsbegriffs.19 Dieser Bildungsbegriff bildete zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Grundlage der preußischen Bildungsreform und beeinflusst bis heute die Bildungsdiskussionen in Deutschland.20 Die Beschäftigung mit spezifischen Gegenständen dient demnach nicht vornehmlich der fachlichen Ausbildung, sondern vor allem der selbsttätigen Formung der Persönlichkeit. Hier deutet sich bereits ein hoher ethischer Anspruch, vor allem aber auch der normative Charakter dieses Bildungsbegriffs an. Dabei wird auch die Universität in der Bildungsreform um 1800 zu einem Ort erhoben, der Bildung in dieser Form, nämlich durch Wissenschaft, ermöglichen soll. Das Gymnasium wird zur vorbereitenden Institution umgewandelt.21 Der Doppelcharakter von Bildung als ‚Kultivierung‘ der Persönlichkeit 19 Zur Herausbildung dieses Bildungsbegriffs am Ende des 18. Jahrhunderts vgl. insbesondere Bollenbeck (1994), S. 96-159; Benner/Brüggen (2004), S. 193-197. 20 Vgl. Ehrenspeck (2010). 21 Zur Bedeutung der Bildung für das 19. Jahrhundert vgl. Jeismann (1987a). Zur Bildungsreform als Teil der Preußischen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts vgl. Nipperdey (1983), S. 56ff.; Wehler (2008a), S. 472; Herrlitz et al. (2009), S. 29ff. Zur Reform des

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und formaler Ausbildung zeigt sich jedoch wiederum darin, dass im Zuge der preußischen Bildungsreform um 1800 mit den jeweiligen Schul- und Studienabschlüssen berufliche Berechtigungen im Staatsdienst verbunden wurden; mit langfristiger Wirkung bis in die heutige Bundesrepublik.22 Die Verkoppelung von Bildungsabschlüssen und Zugängen zu Berufen erwies sich in der Folgezeit, d.h. für das gesamte 19. und 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, für weite Teile auch der privatwirtschaftlichen Berufswelt als vorbildlich. Die Eignung zum Studium wiederum sollte durch das Abitur nachgewiesen werden. Die Forderung der FU nach fachlich und charakterlich geeigneten Bewerber_innen kann hier also mit der Forderung nach in ähnlicher Weise ‚vorgebildeten‘ Persönlichkeiten, die eben nicht nur über fachliches Vorwissen verfügen, gleichgesetzt werden. Andererseits hat dieser Bildungsbegriff im Laufe seiner Historie aber auch wichtige Transformationen erfahren: So wurde der bei Neuhumanisten und Idealisten emanzipatorisch gedachte Bildungsbegriff im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vom Bildungsbürgertum als seinem sozialen Träger zunehmend elitär und exklusiv umgedeutet.23 Bereits kurze Zeit nach der Reform der höheren Schulen um 1800 werden die der Persönlichkeitsbildung zugedachten Inhalte einer Kritik unterzogen bzw. werden – genau genommen bis heute – der beruflichen Welt dienlichere Inhalte gefordert.24 Die Bildungsdiskussionen haben nach dem Zweiten Weltkrieg vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit neue Impulse erhalten: Einerseits wurde gerade durch den Rückgriff auf klassische Bildungsinhalte im Gymnasium ein Rückfall in eben diese Vergangenheit zu verhindern gesucht, andererseits wurde von Kritiker_innen dem in seiner Dreigliedrigkeit restaurierten Schulsystem die Fähigkeit der mit ihnen verknüpften Bestrebungen zur ‚Demokratisierung‘ abgesprochen.25 Im Zuge des ‚Sputnik-Schocks‘ Ende der 1950er Jahre und der durch Untersuchungen der OECD genährten Befürchtung vor einem wirtschaftlichen Rückfall Gymnasiums vgl. als Überblick Jeismann (1987b); für eine ausführliche Darstellung der Reformperiode zwischen 1787 und 1817 vgl. Jeismann (1996a). Zur Universitätsreform auf Grundlage einer „neuen Wissenschaftsidee“ vgl. Turner (1987) und insbesondere Rüegg (2004). 22 Vgl. Herrlitz et al. (2009), S. 33ff. 23 Vgl. Groppe (2001), S. 67f. 24 Zur Auseinandersetzung zwischen ‚humanistischer‘ und ‚realistischer‘ Bildung sowie zur Entwicklung des höheren Schulwesens im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis Ausweitung der Berechtigung auf die Realschulen vgl. Kraul (1984), S. 74-99, S. 100-114; Jeismann (1987b), (1996b); Gass-Bolm (2005), S. 40f.; Herrlitz et al. (2009), S. 68-82; zur Entwicklung des Gymnasiums seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert vgl. Jeismann (1996a), (1996b). 25 Vgl. Führ (1998); Gass-Bolm (2005), S. 83ff.

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wurde Bildung im Sinne von beruflicher und insbesondere technischer Qualifizierung zunehmend als ein Wirtschaftsfaktor betrachtet. Vor diesem Hintergrund wurde auch die Rolle der Universitäten neu diskutiert, zumal stetig steigende Studierendenzahlen seit Mitte der 1950er Jahre eine Reform von Studium und Universität immer dringlicher machten.26 Aus den verschiedenen Positionen, die während der 1950er und 1960er Jahre in den Diskussionen zum Bildungssystem, zu seiner Funktion für die Gesellschaft und die damit zu verknüpfenden Bildungsinhalte vertreten werden, wird dabei ersichtlich, dass hier nicht einfach von einem historisch fortgeschrittenen Bildungsverständnis auszugehen ist, sondern dass sich die seit dem 18. Jahrhundert vertretenen unterschiedlichen Ansprüche an berufliche Ausbildung oder Persönlichkeitsbildung, an klassische oder realistische Bildungsinhalte, an emanzipatorische Bestrebungen oder soziale Selektion wie auch habituelle Abgrenzung durch Bildung eher tradiert haben. Insofern verknüpft sich mit dem Bildungsbegriff im Deutschen ein ausgefächertes historisches Gedächtnis und ein semantischer Facettenreichtum: „Im historischen Verlauf hat dieser Begriff zahlreiche semantische Elemente akkumuliert und zu unzähligen semantischen Konnotationen angeregt.“27 Insofern lässt der Bildungsbegriff allerdings auch keine einfache oder eindeutige Positionierung des reflektierenden Subjekts als ‚gebildet‘ zu, wie dies auch die unterschiedlichen Bildungsbiografien in den Lebensläufen der SDSler_innen bestätigen. Vor diesem Hintergrund wird eine Betrachtung der ‚Bildung‘ der SDSler_innen neben der Erfassung der durchlaufenen Institutionen die Selbstdeutungen in den Bildungsbiografien auf die ihnen zugrunde liegenden Bildungskonzepte befragen und im Zuge dessen untersuchen, inwiefern die Konstruktionen des ‚akademischen Selbst‘ die unterschiedlichen semantischen Facetten und ihre historischen und aktuellen Bezüge repräsentieren. Dies gilt auch bei möglicher Herkunft von SDSler_innen aus der DDR. Denn trotz der Implementierung eines zentralistischen Bildungssystems mit einer klaren Ausrichtung auf berufliche Ausbildung und politische Erziehung sowie einer rigiden politischen Kontrolle, welche in der Sowjetischen Besatzungszone Diskussionen über die Funktion von Bildung und Bildungssystem erledigten, wurde dort der Anschluss an die neuhumanistische Tradition zumindest vorgegeben, symbolisiert etwa in der Umbenennung der traditionsreichen Berliner Universität in „Humboldt-Universität“.28 Aber auch unabhängig von einer solchen offiziellen Symbolik haben sich zumindest in der frühen Phase

26 Vgl. Kenkmann (2003); Rohstock (2010), S. 17-30. 27 Vgl. Ehrenspeck (2010), S. 156. 28 Zur Umgestaltung des Bildungssystems nach 1945 in der SBZ/DDR vgl. z.B. Froese (1969), S. 41ff., S. 53ff.; Kleßmann (1991), S. 95ff.; Baske (1998); Herrlitz et al. (2009), S. 197ff.; Weber (2012), S. 25ff.

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der DDR in weiten gesellschaftlichen Bereichen ‚bürgerliche‘ Bildungstraditionen gehalten.29 Wenn bislang davon die Rede war, dass vor dem Hintergrund populärer Zuschreibungen zu den Akteur_innen in der Studentenbewegung bzw. von ‚1968‘ die ausgewählte Personengruppe im Rahmen dieser Kollektivbiografie auch auf ‚bürgerliche‘ Kennzeichen zu prüfen sei, bezieht sich dieses Anliegen gerade auch auf den Aspekt der Bildung. Die Entwicklung des Bildungsbegriffs, wie sie oben skizziert wurde, ist zumindest bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts untrennbar verbunden mit der Entwicklung einer gesellschaftlichen Formation des Bürgertums. Insbesondere das ‚Bildungsbürgertum‘ entwickelte sich im Zuge des Staatenbildungsprozesses und der damit einhergehenden Bürokratisierung, die eine zunehmende Einstellung von akademisch gebildeten Fachleuten in den Staatsdienst erforderte.30 Mit den Bildungsreformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts und der darin vorgenommenen Verknüpfung von Bildungsabschlüssen und Berufsberechtigungen untermauerte dieses Bildungsbürgertum seinen Status als ‚Funktionselite‘ und ‚Geistesaristokratie‘.31 Bildung – als Qualifikation im Bildungssystem und daraus abgeleitet als Bildung der Persönlichkeit insbesondere durch die Befassung mit Kultur und Wissenschaft – wurde somit im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem Statusmerkmal dieser bürgerlichen Teilgruppe, dem sie ihren gesellschaftlichen Aufstieg verdankte; die beruflichen Positionen dieses Bildungsbürgertums beruhten auf höheren Bildungsabschlüssen, insbesondere dem Universitätsexamen. Allerdings verfügte auch das Wirtschaftsbürgertum (vermögende Kaufleute, Bankiers, Unternehmer) am Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend über höhere Bildungsabschlüsse, so dass Carola Groppe für die Zeit des Kaiserreichs das Erreichen der sog. EinjährigenBerechtigung als Zurechnungsmerkmal für die nach äußerlichen Gesichtspunkten mittlerweile recht heterogene Gruppe des Bürgertums vorgeschlagen hat, dessen verbindendes Element sich insbesondere der Integrationsleistung durch das Gymnasium, später auch durch Realgymnasium und Oberrealschule verdanke.32 In den durch die Bildung eröffneten Kommunikationsräumen vermochte sich dann letztlich eine gemeinsame ‚bürgerliche Kultur‘ zu entfalten, eine Form der Lebensführung auf Grundlage normativer Werte, die Selbständigkeit, Rationalität und Leistung, methodische Lebensführung und ein Interesse für die Hochkultur betonten. In dieser ‚Bürgerlichkeit‘, so die historische Bürgertumsforschung der 1980er Jahre,

29 Vgl. Großbölting (2008). 30 Vgl. Wehler (2008b), S. 211ff. 31 Vgl. Wehler (2008b), S. 215ff. 32 Vgl. Groppe (2001), S. 32ff.

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drückte sich das Selbstbewusstsein und die Abgrenzung gegenüber nichtbürgerlichen Ständen bzw. Schichten aus.33 ‚Bürgerlichkeit‘ umfasste ab Ende des 19. Jahrhunderts wiederum ‚Bildung‘, nun aber, wie oben bereits angedeutet, Status erhaltend gewendet als eine Befähigung zur Beschäftigung mit klassischen Bildungsinhalten und Wissenschaft, die das Subjekt nicht allein durch Qualifikation im Bildungssystem erreichen kann.34 Diese neue Unterscheidung von Qualifikation im Bildungssystem und ‚wahrer Bildung‘ ist als Abgrenzungsreaktion auf den gesellschaftlichen Aufstieg von zunehmenden Anteilen ‚nicht-bürgerlicher‘ Schichten durch Qualifikation im höheren Schulsystem und an der Universität gedeutet worden. Dies betraf insbesondere die Kinder der Mittelschichten (Angestellte, Handwerker): Schon um 1900 stammen bereits rund 50 Prozent der Studierenden nicht mehr aus Akademiker- oder wirtschaftsbürgerlichen Familien.35 Diese frühe ‚Bildungsexpansion‘ wurde spätestens seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von einer breiten Übernahme ‚bürgerlicher‘ Werte und Lebensführung auch in ‚nicht-bürgerliche‘ Bevölkerungsschichten, insbesondere die genannten Mittelschichten, begleitet. 36 Insofern ist bereits für jene Zeit ‚Bürgerlichkeit‘ im Sinne der Lebensführung als Distinktionsmerkmal einer noch sehr schmalen gesellschaftlichen Formation des Bürgertums in Frage gestellt worden, mit der Ausweitung höherer Bildung verliert dieses Zurechnungskriterium weiter an Eindeutigkeit. Vor dem Hintergrund fortgesetzter Desintegration des Bürgertums sowie gesellschaftlicher Diffusion von Bürgerlichkeit sind gerade für die Zeit nach 1945 Fragen aufgeworfen worden, inwiefern es einerseits noch plausibel sei, von einem ‚Bürgertum‘ zu sprechen und inwiefern die Bundesrepublik andererseits eine ‚bürgerliche Gesellschaft‘ darstelle.37 Die Antworten auf diese Fragen fallen recht unterschiedlich aus: Während einerseits die Fortschreibung einer analogen sozialen Formation für die Bundesrepublik in Frage gestellt wird38 bzw. als Kontinuität nach 1945 die „Prozesse der sozialstrukturellen Transformation des Bürgertums“39, d.h. dessen fortschreitende Diffusion, gefasst werden, betont demgegenüber Hans-Ulrich Weh33 Zur Bürgerlichkeit als verbindendes Element eines sozial heterogenen Bürgertums im 19. Jahrhundert vgl. die Beiträge in Kocka (1987a) und insbesondere den Beitrag von Kocka (1987b) selbst. 34 Vgl. Groppe (2001), S. 67. 35 Jarausch (1984), S. 77. 36 Vgl. Groppe (2001), S. 26. 37 Vgl. Wehler (2001); Conze (2004); Hettling/Ulrich (2005), darin insbesondere Hettling (2005); Rauh (2008). 38 Vgl. Hettling (2005), S. 13; Rauh (2008), S. 361f. 39 Conze (2004), S. 530.

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ler die Kontinuitätslinien jenes Bürgertums und verortet dort auch, wie gesehen, die soziale Herkunft der Akteur_innen der Studentenbewegung.40 Übereinstimmend wird allerdings nicht nur der Fortbestand eines ‚Kulturmusters Bürgerlichkeit‘ konstatiert, sondern dieser Bürgerlichkeit wird auch ein prägender Einfluss auf die Bundesrepublik zugesprochen. In diesem Bürgerlichkeitsbegriff kommt dem Anspruch auf politische Teilhabe eine zentrale Rolle zu.41 Dabei sind die Kennzeichen einer ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ in der Bundesrepublik allerdings vor recht abstrakt als die Übernahme von ‚bürgerlichen Werten‘ oder als Ausbildung einer ‚Staatsbürgergesellschaft‘ durch Liberalisierung sowie den Ausbau der parlamentarischen Demokratie und des bürgerschaftlichen Engagements als auch durch die Festigung von Marktwirtschaft und Privateigentum beschrieben worden,42 seltener jedoch geknüpft an konkrete soziale Veränderungen wie die Ausdehnung der Mittelschichten und die soziale wie mentale Integration und ‚Verbürgerlichung‘ der Arbeiterschaft oder eine Übernahme eines bürgerlichen Familienleitbildes in den 1950er und 1960er Jahren.43 In diesen Darstellungen deutet sich bereits an, dass aufgrund der Komplexität der Analysekategorien ‚Bürgertum‘ und ‚Bürgerlichkeit‘ bzw. aufgrund ihrer semantischen Unschärfe die Bestimmung ‚bürgerlicher‘ Kennzeichen der SDSGruppe eine breite Perspektive erfordert.44 Zur Überprüfung einer ‚bürgerlichen‘ Herkunft im Sinne der referierten Thesen bietet sich zwar zunächst einmal der Aspekt der akademischen Bildung der Väter oder ihrer wirtschaftsbürgerlichen Tätigkeit an, die dort als Bestimmungsmerkmal eines Bürgertums ersichtlich wird. Angesichts der seit der Bildungsexpansion gegen Ende des 19. Jahrhunderts kontinuierlich steigenden Zahlen von Studierenden aus nicht-akademischen Elternhäusern dürfte eine solche Fokussierung allerdings nicht ausreichend sein. Vielmehr werden eingedenk einer Ausbreitung von bürgerlicher Kultur, von bürgerlichen Werten und Normen in immer weiteren Teilen der Gesellschaft als Faktoren einer ‚bürgerlichen 40 Vgl. Wehler (2001); Wehler (2008e), S. 136f. Zu Wehlers Thesen über die Akteur_innen der Studentenbewegung vgl. Abschnitt 2. Forschungsstand und Erkenntnisinteresse. 41 Vgl. Hettling (2005), S. 14; Wehler (2008e), S. 139. 42 Vgl. Conze (2004); Fischer (2008); Kocka (2008). 43 Vgl. Hettling (2005); Rauh (2008). 44 Hans-Ulrich Wehler bezeichnet die Begriffe des Bürgertums und der bürgerlichen Gesellschaft als „riesige, amorphe Begriffsschwämme“; vgl. Wehler (1987), S. 244. Zur Ausdifferenzierung des Bürgertums vgl. z.B. bei Groppe (2001), S. 35ff. die Klassifizierung allein für das Kaiserreich; als Überblick zur semantischen Ausdifferenzierung entlang der historischen Entwicklung zwischen Spätmittelalter und frühem 20. Jahrhundert vgl. Kocka (1987a); zur „Begriffs- und Dogmengeschichte“ des „Bildungsbürgertums“ seit dem Mittelalter ausführlich vgl. Engelhardt (1986).

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Gesellschaft‘ in der Bundesrepublik auch andere Kennzeichen von ‚Bürgerlichkeit‘ zu untersuchen sein. In dieser Perspektive werden gerade auch die Familienkonstellationen daraufhin zu betrachten sein, inwiefern sie dem Leitbild der ‚bürgerlichen Kleinfamilie‘ entsprechen, und es wird ferner, wie oben angeführt, zu untersuchen sein, inwiefern die Konstruktionen des ‚akademischen Selbst‘ an einem ‚bürgerlichen‘ Bildungsideal und bürgerlichen Werten und Normen orientiert sind. Insofern wird also insgesamt zu untersuchen sein, inwiefern die SDS-Gruppe sozialstrukturelle Kontinuitäten eines historisch überkommenen ‚Bürgertums‘ repräsentiert oder ggf. auch bereits Teil einer ‚Verbürgerlichung‘ der bundesrepublikanischen Gesellschaft darstellt. Solche Verbürgerlichungstendenzen wären dann auch als mögliche Kennzeichen oder Faktoren einer spezifischen generationalen ‚Prägung‘ im Kontext der Entwicklung einer bürgerlichen Gesellschaft in der Bundesrepublik zu prüfen. Wenn ausgehend von den Zuschreibungen zu einer ‚Protestgeneration‘ in dieser Untersuchung auch geprüft werden soll, inwiefern das zu betrachtende Kollektiv Kennzeichen einer Generation trägt, bietet sich immer noch das von Karl Mannheim in den 1920er Jahren entwickelte Generationenmodell an.45 Nicht nur, da sein Aufsatz zum „Problem der Generationen“ bis in die Gegenwart den grundlegenden Referenzpunkt für soziologische Generationenbetrachtungen darstellt46 oder weil seine zentralen Überlegungen auch in ähnlicher Weise in den Entwürfen einer ‚68er Generation’ wiederzufinden sind; Mannheims Erklärung von gesellschaftlichem Wandel durch die Abfolge distinktiver Generationsgestalten findet sich etwa in der Gegenüberstellung von ‚45er-Generation‘ und ‚68er-Generation‘, von ‚um 1940 Geborenen’ und ‚um 1960 Geborenen‘ wieder.47 Vielmehr bieten sich die in seinem Modell entwickelten grundlegenden Kategorien der Generationslagerung und des Generationszusammenhangs, die letztlich zu einer Generationseinheit zusammengeführt werden, immer noch zur differenzierten Analyse an. Generationen sind demnach keineswegs mit Alterskohorten gleichzusetzen, sondern es bedarf bestimmter konstituierender Voraussetzungen, um aus einem vergleichsweise kleinen Teil dieser Alterskohorte eine generationelle Einheit zu stiften, ein systemisches Geflecht, das aufgrund seiner Erfahrungen ähnlich denkt und handelt. Mannheim bezeichnet diese Voraussetzungen „Generationslagerung“ und Generationszusammenhang“, auf deren Grundlage sich „Generationseinheiten“ ausbilden. Eine Generationslagerung bedeutet zunächst einmal lediglich die „potentielle Partizipation an gemeinsam verbindenden Ereignissen und Erlebnisgehalten“: 45 Vgl. Mannheim (1928/1964). 46 Vgl. Zinnecker (2003), insbesondere S. 36f. 47 Vgl. Abschnitt 2. Forschungsstand und Erkenntnisinteresse.

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„Nicht das Faktum der in derselben chronologischen Zeit erfolgten Geburt, des zur selben Zeit Jung-, Erwachsen-, Altseins, konstituiert die gemeinsame Lagerung im sozialen Raume, sondern erst die daraus entstehende Möglichkeit an denselben Ereignissen, Lebensgehalten usw. zu partizipieren und noch mehr, von derselben Art der Bewusstseinsschichtung aus dies zu tun.“48

Ein Generationszusammenhang stellt sich jedoch erst dann ein, wenn gleichaltrige Individuen tatsächlich „an den gemeinsamen Schicksalen“ partizipieren, wenn sie „an jenen sozialen und geistigen Strömungen teilhaben, die eben den betreffenden historischen Augenblick konstituieren, und insofern sie an denjenigen Wechselwirkungen aktiv und passiv beteiligt sind, die eine neue Situation formen.“49 Und erst durch ein „einheitliches Reagieren, ein in verwandtem Sinne geformtes Mitschwingen und Gestalten der gerade insofern verbundenen Individuen“ entsteht eine Generationseinheit, die sich durchaus im Kampf mit anderen Generationseinheiten desselben Generationszusammenhangs befinden kann.50 Entsprechend bietet sich eine Analyse der SDS-Gruppe zunächst einmal unter dem Aspekt der Generationslagerung an: Durch die Erfassung von Alter, Herkunft und Bildungswegen wird der Frage nachzugehen sein, inwiefern die Möglichkeit, ‚am selben Abschnitt des kollektiven Geschehens‘ teilzunehmen, tatsächlich vorliegt. Ggf. wäre dann in einem zweiten Schritt zu betrachten, inwiefern durch die ‚Partizipation am gemeinsamen Schicksal‘ auch ein Generationszusammenhang einer gemeinsam gelagerten Altersgruppe konstituiert wird. Als ein solches können zwar letztlich das Engagement in der Hochschulpolitik und in den studentischen Protesten betrachtet werden, allerdings werden die Lebensläufe unabhängig davon auf Hinweise auf die Ausbildung eines generationalen Selbstbewusstseins zu untersuchen sein, wenn – wie in den Zuschreibungen zur ‚Protestgeneration‘ – die generationale Prägung als ursächlich für die Proteste und nicht die Proteste als prägend für die Generation gefasst werden sollen. Als eine Gruppe, die innerhalb der Studentenbewegung Netzwerke ausbildet, in dem sie sich gleich handelnd von anderen sozialen Gruppen abgrenzt, trägt sie zwar Züge einer Generationseinheit im Sinne Mannheims; letztlich wird jedoch nicht abschließend zu klären sein, inwiefern die SDS-Gruppe möglicherweise als Repräsentantin einer ‚Protestgeneration‘ zu betrachten ist, da einerseits die zu vermutende Homogenität dieser sozialistischen hochschulpolitischen Gruppe nicht automatisch gleichzusetzen sein wird mit einer Einheit ‚68er Generation‘ und andererseits ein Vergleich mit anderen Teilen von Studentenbewegung oder anderen Akteur_innen von ‚1968‘, also mit weiteren po-

48 Mannheim (1928/1964), S. 536. 49 Mannheim (1928/1964), S. 542 u. 543. 50 Mannheim (1928/1964), S. 547.

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tenziellen Angehörigen derselben Generationseinheit, in dieser Arbeit nicht geleistet werden kann. Um die Mitglieder des SDS im Umfeld der FU Berlin bzw. die SDS-Gruppe als Kollektiv in den genannten Perspektiven analysieren zu können, werden ihre Biografien kollektiv erfasst. Das entsprechende Vorgehen wird im nachfolgenden Kapitel erläutert.

5. Methodisches Vorgehen

Die Untersuchung der SDSler_innen, ihrer Sozialisationsbedingungen und Bildungswege erfolgt anhand einer Kollektivbiografie, die mit Hilfe der Immatrikulationsakten der Freien Universität Berlin erstellt wird. Damit ist das Vorgehen jedoch noch keineswegs ausreichend präzise oder erschöpfend beschrieben. Die Erstellung einer Kollektivbiografie kann – je nach Fragestellung, Forschungsgegenstand und Untersuchungsperspektive – auf unterschiedliche Vorgehensweisen zurückgreifen oder diese in einem Methodenpluralismus kombinieren. Die Entwicklung und Ausdifferenzierung der kollektiven Biografik seit dem frühen 20. Jahrhundert und ihre Möglichkeiten und Grenzen entfaltend werden die in dieser Untersuchung gewählten Verfahren und Instrumente daher im Folgenden expliziert. Kollektivbiografien in Geschichts- und Sozialwissenschaften betrachten zusammenfassend die Lebensläufe von Personengruppen. So simpel diese grundlegende Einsicht ist, so unterschiedlich präsentieren sich jedoch die Untersuchungen selbst, und zwar nicht nur im Hinblick auf den Umfang des betrachteten ‚Kollektivs‘ oder den gewählten Zeitrahmen sondern auch hinsichtlich der jeweils gewählten Herangehensweisen.1 Nicht erst in neuerer Zeit finden sich einerseits Arbeiten,

1

Als Beispiele für Arbeiten aus den letzten gut 20 Jahren: Hartmut Berghoff (1991) untersucht ein Analysekorpus von 1.328 englischen Unternehmern im Zeitraum 1870 bis 1914; Thomas Weiser (1998) betrachtet drei Kollektive von tschechischen Arbeiterführern mit 42, 35 und 49 Personen zwischen 1918 und 1938. Sabine Roß (1999) betrachtet insgesamt 708 Delegierte der Reichsrätekongresse 1918/19. Thomas Welskopp (2000) untersucht 2.264 sozialdemokratische Führungspersönlichkeiten zwischen 1848 und 1878, wobei die Kollektivbiografie nur einen Teil der Arbeit darstellt und sich auf wenige Aspekte (Alter, Berufszugehörigkeit) beschränkt. Michael Wildt (2003) untersucht 221 Personen aus dem Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, wobei die Darstellung jedoch bei 32 exemplarisch ausgewählten Personen verbleibt. Carola Groppe (2004) betrachtet zwei aufeinander folgende Generationen einer Unternehmerfamilie im 18. Jahrhundert. Gerhard Kluchert

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die stärker quantifizierende Verfahren zur Anwendung bringen und die Darstellung der Gruppenbiografie auf komprimierende und abstrahierende Mittel der deskriptiven Statistik aufbauen (Häufigkeitsauszählungen, Prozentzahlen etc.), oder die andererseits stärker auf qualitative Verfahren zurückgreifen, um eher beschreibend das Porträt einer Gruppe zu zeichnen.2 Bereits mit Erscheinen der ersten derartigen Untersuchungen in den 1920er und 1930er Jahren des 20. Jahrhunderts zeichnen sich diese beiden Richtungen kollektiver Biografik ab: Nahezu parallel entwickeln sich eine mit kleineren Fallzahlen von Angehörigen der politischen Führungsschichten operierende und eher beschreibend verfahrende „Eliten-Schule“ und eine an die US-amerikanische Soziologie angelehnte „Massen-Schule“.3 Bei der Betrachtung von konkreten Kollektivbiografien neueren Datums wird deutlich, dass sich der gewählte Ansatz sinnvoller Weise nach der Zahl der Personen im betrachteten Kollektiv richtet. So ist die Anwendung statistischer Mittel bei kleinen Gruppen wenig aufschlussreich, bei großen Fallzahlen jedoch notwendig, um überhaupt Strukturen verlässlich herausarbeiten zu können und nicht bloß in „Anekdotismus“4 abzugleiten. Mit der Durchsetzung des sozialhistorischen Paradigmas während der 1970er Jahre gewinnt gerade die Richtung der „Massen-Schule“ in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft an Bedeutung. So bezeichnet Konrad H. Jarausch Mitte der 1970er Jahre die Kollektivbiografie als zentralen Ansatz zur Überwindung der von ihm konstatierten Probleme hinsichtlich des zwar noch zögerlichen, dennoch zunehmenden Einsatzes von Quantifizierungen in der Geschichtswissenschaft nach Vorbild der Sozialwissenschaften.5 Der Einsatz quantifizierender Verfahren verlange die Konzeption von „Geschichte nicht als Geistes-, sondern als Sozialwissen(2006) untersucht 80 Lehrer_innen eines Mannheimer Gymnasiums im Zeitraum 1924/25 bis 1964/65. Rang/Maris (2006) vergleichen 20 jüdische und 37 christliche Lehrerinnen in Frankfurt/M zwischen 1880 und 1935. Ursula Breymayer (2006) erfasst die Karrierewege von „etwa 800“ Volksschullehrern aus Anhalt zwischen 1919 und 1943. 2

Von den beispielhaft aufgeführten Kollektivbiografien bedient sich die Arbeit von Berghoff (1991) quantifizierender Verfahren. Weiser (1998), Roß (1999) und Welskopp wie auch die im Jahrbuch für Historische Bildungsforschung (2006) vorgestellten Arbeiten von Kluchert, Rang/Maris und Breymayer verbinden quantifizierende Ansätze mit der Illustration der Ergebnisse anhand einzelner Personen. Die Kollektivbiografien von Wildt (2003) und Groppe (2004) verzichten hingegen auf quantifizierende Verfahren und greifen stattdessen auf Methoden der qualitativen Biographieforschung (Wildt) bzw. auf eine „dichte Beschreibung“ im Anschluss an Clifford Geertz (Groppe (2004), S. 36) zurück.

3

Vgl. Stone (1976), S. 65ff., Zitate S. 65, S. 66.

4

Silverman (1963), S. 163, zit. n. Grunenberg/Kuckartz (2010), S. 488.

5

Vgl. Jarausch (1976), S. 19.

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schaften, die Strukturen und Muster, Gruppenverhalten und Tendenzen, Regelmäßigkeiten und Wandlungsprozesse, die sich in Verallgemeinerungen, Modellen und vielleicht auch Theorien fassen lassen.“6 Jedoch lasse sich Gesellschaft nicht einfach in messbare Einheiten zerteilen, daher verlange Sozialgeschichte im engeren Sinne zahlreiche und komplexe Methoden, wie die der Kollektivbiografie, in der Merkmale von Individuen auf Gemeinsamkeiten und Regelmäßigkeiten untersucht werden könnten.7 Mit der Kollektivbiografie lassen sich eingrenzbare und konkrete Personengruppen untersuchen, ohne die in der Statistik an ein ‚Sample‘ gestellten Ansprüche auf Repräsentativität zu übernehmen. Die von Jarausch angesprochene Komplexität der kollektiven Biografik führt Lawrence Stone, auf dessen Aufsatz sich Jarausch bezieht, im selben Band aus.8 Diese Komplexität ergäbe sich – so Stones‘ zentrales Desiderat – durch die Verknüpfung der in den beiden genannten Richtungen gewählten Verfahrensweisen, die statistische Absicherung von beschreibenden Ansätzen wie umgekehrt die Anreicherung von Zahlenmaterial durch biografische Fallstudien.9 Gleichzeitig warnt Stone vor einer getrennten Entwicklung der beiden Richtungen der „Prosopographie“.10 Ein Jahrzehnt später bemisst Wilhelm Heinz Schröder den besonderen Stellenwert von kollektiver Biografik für eine mittlerweile etablierte historische Sozialforschung gerade an jener methodischen Synthese und der daraus resultierenden „doppelte[n] Erkenntnisrichtung“.11 In jüngerer Zeit ist erneut die Forderung nach einer Verbindung von ‚typischen Lebensläufen‘ mit ‚exemplarischen Fallstudien‘ geäußert worden und die so konzipierte Kollektivbiografie als Methode der Geschichtsschreibung positiv hervorgehoben worden. So warnt Alexander Gallus vor „statistischen Gespenstern, die mit der historischen Realität wenig zu tun haben“.12 Die Ausarbeitung von Regelmäßigkeiten in den Werdegängen, die Typisierung und Klassifikation drohe ohne Betrachtung von konkreten Fällen Abweichungen oder Widersprüche zu übersehen. Der „Typisierung des Individuellen“ müsse die „Individualisierung des Typischen“ gegenüberstehen.13 In dieser Mahnung scheint implizit die Kritik an einer Sozialge6

Jarausch (1976), S. 15.

7

Vgl. Jarausch (1976), S. 19.

8

Vgl. Stone (1976).

9

Vgl. Stone (1976), S. 91f.

10 Stone verwendet in seinem Aufsatz die Bezeichnung „Prosopographie“ synonym mit „Sammel-Biographie“, eine Praxis die Wilhelm Heinz Schröder kritisiert, da diese Bezeichnung in Deutschland in der Altertumswissenschat belegt sei; stattdessen schlägt Schröder den Bezeichnung „Kollektive Biographie“, vgl. Schröder (1985), S. 7. 11 Vgl. Schröder (1985), S. 9; Zitat ebd. 12 Gallus (2005). 13 Gallus (2005).

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schichte als ‚Strukturgeschichte‘ auf, in der die Individuen unberücksichtigt bleiben. Im Sinne einer kulturwissenschaftlich erweiterten Sozialgeschichte kann diese Mahnung um die Forderung nach dem Einbezug der individuellen Perspektive ergänzt werden.14 Die grundlegende Fragestellung bleibt bei kollektivbiografischen Untersuchungen allerdings trotz unterschiedlicher Vorgehensweisen mehr oder weniger gleich, nämlich danach, wer die Individuen des jeweiligen ‚Kollektivs‘ sind, wie sie zu dem geworden sind, was sie sind, was sie zu einem Teil der betreffenden Gruppe macht.15 In älteren Arbeiten der politischen Elitenforschung ging diesem Erkenntnisinteresse oftmals die Frage nach hintergründigen Handlungsabsichten voraus.16 Dieses Erkenntnisinteresse wird durch die Betrachtung sozialer und biografischer Daten verschiedenster Art – soziale und regionale Herkunft, Ausbildung und Erwerbstätigkeit, wirtschaftliche Situation u.v.m. – verfolgt, durch die Suche nach markanten Punkten in diesen Daten, nach Parallelen zur Erklärung von Gemeinsamkeiten oder nach Unterschieden zur Differenzierung des Kollektivs sowie durch die Suche nach Wechselbeziehungen innerhalb des ‚Kollektivs‘. Diese Ergebnisse werden mit den Handlungen des Kollektivs in Beziehung gesetzt.17 Trotz aller Ähnlichkeit der grundlegenden Fragestellung kann dann wiederum die Auswahl der betrachteten biografischen Aspekte variieren, je nachdem, in welchen Lebensbereichen entscheidende Hinweise für die Merkmale, welche die jeweilige Personengruppe kennzeichnen, vermutet werden.18 Dadurch, dass Kollektivbiografien eben nicht nur die Strukturen oder Vernetzungen in einer Gruppe zu einem gegebenen Zeitpunkt abbilden, sondern immer zentral nach der Herkunft und dem Werdegang der Individuen fragen, kurz: ‚Biografien‘ sind, verfolgen sie immer auch Fragen nach der Sozialisation, auch wenn

14 Zur Perspektive einer kulturwissenschaftlich erweiterten Sozialgeschichte bzw. integrierten Sozial- und Kulturgeschichte vgl. Abschnitt 4. 15 So fragt Carola Groppe sehr pointiert: “How to make entrepreneurs?”, Groppe (2004), S. 18. 16 Vgl. Stone (1976), S. 64; 70f. 17 Vgl. Stone (1976), S. 65. 18 Beispielsweise beschränkt sich der kollektivbiografische Teil in Welskopps (2000) Untersuchung von sozialdemokratischen Aktivmitgliedern neben Alter und regionaler Herkunft auf die Berufe, um sich der Frage anzunähern, wie „Arbeiter“ in der „Arbeiterbewegung“ zu fassen sei. Groppe (2004) fokussiert in ihrer Kollektivbiografie einer Kaufmannsfamilie im 18. Jahrhundert insbesondere auf familiale Lebensform und Erziehung, um der Frage nach der Berufstradierung innerhalb der Familie und der Kontinuität des Familienbetriebs nachzugehen.

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diese nicht immer explizit formuliert oder reflektiert werden.19 Diesen Aspekt stellt Stone bereits Mitte der 1970er Jahre deutlich heraus, wenn er die Leistungsfähigkeit der Methode maßgeblich von der Akzeptanz abhängig macht, „daß Werte und Verhaltensmuster von früheren Erlebnissen und der Erziehung entscheidend geprägt werden.“20 Welche Implikationen eine solche ‚Akzeptanz‘ für das analytische Vorgehen haben könnte, wird dort jedoch nicht weiter ausgeführt und es ist zweifelhaft, ob kollektivbiografische Ansätze, wie Stone es formuliert, „die Wurzeln einer politischen Handlung“, die „eigentlichen Interessen“ aufdecken können.21 Gallus fragt in dieser Hinsicht treffend: „Lassen sich mittels der Auswertung einer gewissen Zahl von biographischen Kerndaten bestimmte Verhaltensweisen wirklich treffend erklären?“22 Hinter der Zusammenschau der Lebensläufe steht jedoch auch – das zeigt sich nicht nur in Stones Worten, sondern eben maßgeblich in den kollektivbiografischen Untersuchungen – die Frage, inwiefern die Biografien Aufschluss über das Denken und Handeln des Kollektivs geben können.23 In einer solchen Fragestellung lassen sich nun Grundüberlegungen zur Persönlichkeitsentwicklung wiedererkennen, wie sie in Theorien zur Sozialisation eingeflossen sind, d.h. Überlegungen und Erkenntnisse zur Entwicklung des Individuums in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. Gleichzeitig lassen sich Überlegungen zum Zusammenhang von Lebenslauf und Sozialisation wiedererkennen, wie sie die sozialwissenschaftliche Biografieforschung in Deutschland bereits in ihren Anfängen formuliert hat.24 Das bedeutet für die kollektive Biografik, dass durch den Nachvollzug und die historische Kontextualisierung der Lebensläufe immer auch zumindest die Rahmenbedingungen von Sozialisation beschrieben werden. Insofern bietet sich die Kollektivbiografie nicht nur zur Bearbeitung von sozialisations- bzw. bildungshistorischen Fragestellungen an, sondern Kollektivbiografie betreibt sie im Ansatz immer schon. Es bedarf ‚lediglich‘ einer sozialisations- und bildungstheoretischen Reflektion, um die Analyse für sozialistions- und bildungshistorische Fragestellungen fruchtbar zu machen. Umso überraschender ist es, dass der kollektivbiografische Ansatz in der Historischen Bildungsforschung und darüber hinaus in der 19 Vgl. z.B. die bereits genannten Arbeiten von Berghoff (1991); Weiser (1998); Roß (1999); Wildt (2003). 20 Stone (1976), S. 84. 21 Stone (1976), S. 64. 22 Gallus (2005). 23 Ein entsprechendes Erkenntnisinteresse wird z.B. bei Roß (1999), S. 29; Kluchert (2006), S. 10; S. 11 auch explizit formuliert. 24 Zum Sozialisationsbegriff vgl. Abschnitt 4. Theoretischer Rahmen und Analyseperspektiven. Zum Verhältnis von Lebenslauf und Sozialisation vgl. grundlegend Kohli (1978).

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Erziehungswissenschaft bislang kaum genutzt worden ist, zumal sich die Biografieforschung in der Erziehungswissenschaft breit etabliert hat.25 Letztere dokumentiert ein ausgeprägtes biografisches Interesse in der Erziehungswissenschaft, welches grundsätzlich auch in der Historischen Bildungsforschung bereits lange zu verzeichnen ist, allerdings richtete sich das Interesse einer „Geschichte der Pädagogik“ ursprünglich auf die Biografien ‚großer‘ Pädagogen bzw. auf Personen, deren Lebensläufe als pädagogisch ‚wertvoll‘ betrachtet wurden.26 Der sozial- bzw. erziehungswissenschaftliche Biografiebegriff ist allerdings gegenüber der kollektiven Biografik, in der er eher alltagssprachliche Anwendung findet, spezifischer gefasst. In der Biografieforschung wird unter ‚Biografie‘, in Abgrenzung vom „Lebensverlauf“ als „Folge faktischer Lebensereignisse,“27 die Ausdeutung dieses Lebensverlaufs durch die Individuen selbst verstanden, als „die Innensicht des Individuums auf den Verlauf des eigenen Lebens“28; erst durch die individuelle Sinnkonstruktion wird der Lebenslauf zur Biografie. In diesem Sinn werden ‚Biografien‘ zu einem elementaren Steuerungsinstrument der ‚Lebensführung‘, das aus den Lebensgeschichten als autobiografische Texte rekonstruiert werden kann.29 Aufgrund der Länge der bevorzugt verwendeten autobiografischen Texte – zumeist narrative Interviews30 – operiert die Biografieforschung in der Regel mit geringen Fallzahlen. Die erziehungswissenschaftliche Biografieforschung ist insbesondere darum bemüht, „Lebensgeschichten unter dem Fokus von Lern- und Bildungsgeschichten, auch im Rahmen gesellschaftlicher und sozialhistorischer Kontexte, zu rekonstruieren.“31 Um die unterschiedlichen Perspektiven auf die Abfolge von Lebensphasen und -ereignissen und deren Ausdeutung und von diesen Ebenen wiederum die Textsor25 Diese Einschätzung hat vor einigen Jahren bereits auch Kluchert (2006), S. 7 formuliert. 26 Den augenfälligsten Nachweis eines ausgeprägten biografischen Interesses der Erziehungswissenschaft stellt das „Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung“ von Krüger/Marotzki (2006) dar. Vgl. darin zur zur ‚Biografieforschung‘ in der Historischen Bildungsforschung bzw. „Historischen Pädagogik“ Glaser/Schmid (2006). 27 Lamnek (2005), S. 668. 28 Gestrich (1999), S. 52. 29 Vgl. Bude (1984); Schulze (2010). 30 Koller/Rieger-Ladich (2005), S. 7f. verweisen auf die seit Ende der 1970er Jahre zunehmende Reduktion der biografischen Forschung auf „mündliche autobiographische Stegreiferzählungen […], wie sie in so genannten narrativen Interviews erhoben werden“ und andere sozialwissenschaftliche Datenquellen gegenüber einer anfänglichen Ausrichtung der erziehungswissenschaftlichen Biografieforschung auf autobiografische und literarische Texte. 31 Krüger/Deppe (2010), S. 61.

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te, in der sie dokumentiert sind, voneinander abzugrenzen, wird entsprechend im weiteren Verlauf der Arbeit von den ‚Lebensläufen‘ als den Texten die Rede sein, die Abfolge von Lebensphasen und - ereignissen als ‚Lebensverläufe‘ und deren Ausdeutung als ‚Biografie‘ bezeichnet werden. Eine Verbindung von kollektiver Biografik mit einer in dieser Weise ausgerichteten Biografieforschung, d.h. durch die Verbindung von aggregierten Lebensdaten mit der Ausdeutung der Biografien durch die Individuen selbst, stellt ferner eine Synthese von Sozial- und Kulturgeschichte dar, die über die oben angeführten Desiderate von Stone und Gallus hinausgeht: Zum einen werden Strukturen sichtbar, in denen die Individuen leben, zum anderen die Deutungen durch die Individuen. Die Realisierung einer solchen Verbindung ist jedoch abhängig vom verfügbaren Quellenmaterial. Wie die Beschreibung des vorliegenden Quellenmaterials in Abschnitt 3 deutlich macht, ist eine solche Verbindung von sozial- und kulturhistorischer Perspektive für die Kollektivbiografie von Mitgliedern des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) möglich. Allerdings mit einer Einschränkung hinsichtlich der Ausdeutung der jeweils eigenen Biografie, welche – da diese durch den spezifischen Zweck der Bewerbung geleitet wird – nur als Ausdeutung der ‚Bildungsbiografie‘ verstanden werden kann. Durch die Verbindung von quantifizierenden und qualitativen Herangehensweisen wird das Kollektiv in jedem Fall vielschichtig erfasst und beschrieben sowie „Anekdotismus“ und „statistische Gespenster“ gleichermaßen vermieden. Im Folgenden werden die aus den Quellen extrahierbaren Daten zunächst durch einfache Verfahren der deskriptiven Statistik zusammengefasst und präsentiert. Aus diesen Daten soll keineswegs eine ‚Durchschnittsbiografie‘ errechnet werden, sondern durch Häufigkeitsauszählungen, Prozentangaben etc. Relationen und Tendenzen sichtbar gemacht werden, auch durch die Untersuchung auf etwaige Zusammenhänge zwischen einzelnen Kategorien, ohne sich jedoch ‚harter‘ statistischer Clusterverfahren zu bedienen. Ihre volle Aussagekraft entfalten die Ergebnisse durch die Einbettung in den jeweiligen historischen Kontext. Die Analysekategorien ergeben sich aus dem Quellenmaterial, welches wesentliche biografische Daten beinhaltet. Dies sind – erfragt durch die Formulare der Universität – Geburtsjahrgang, Geburtsort, soziale Herkunft (Beruf des Vaters), Familienstand und eigene Kinder sowie Schulabschluss und bisherige Studienerfahrungen. Weitere sich aus dem Material ergebende Kategorien sind die regionale Mobilität in Kindheit und Jugend, die in der Regel in Verbindung mit Schulwechseln steht, die Schulverläufe selbst sowie – gelernte und ungelernte – Erwerbstätigkeit, die ebenfalls im Zusammenhang mit den Bildungsgängen steht. Ferner fragt diese Untersuchung nach der Konfession, da diese – wie dargelegt – in den Diskussionen zur Studentenbewegung

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durchaus Bedeutung beigemessen wird,32 sowie nach dem Wehrdienst der Studienbewerber, da einer populären These zufolge sich Studenten seit der Wiedereinführung der Wehrpflicht dieser durch Umzug nach Berlin entziehen wollten. Die ermittelten Daten werden, wo zur Einordnung notwendig und methodisch sinnvoll, qualitativ ergänzt, d.h. es werden ggf. Zusammenhänge mit bestimmten Themen – etwa dem Zweiten Weltkrieg als Ursache für Mobilität und Schulunterbrechungen oder die Begründung von Fächerwechseln im Studienverlauf – aufgegriffen, ohne jedoch die qualitative Auswertung der Lebensläufe vorwegzunehmen. In einem zweiten Schritt werden die Lebensläufe daraufhin analysiert, welche biografischen Aspekte die Bewerber_innen im Zusammenhang mit ihrer Bewerbung an der Universität thematisieren. Wie die Beschreibung der Quellen in Abschnitt 3 deutlich zeigt, variieren die Informationen in den ausführlichen Lebensläufen erheblich. Im Zuge einer Textanalyse, die ihren Fokus über die inhaltliche Ebene hinaus auch auf die Ebene von Satz- und Textstruktur richtet, werden sowohl die in die Lebensläufe eingebrachten Themen herausgearbeitet als auch die Textkomposition selbst untersucht, um auch den im Zusammenhang mit der Länge der Lebensläufe sich verändernden Sprachstil zu erfassen. Die Textanalyse geistes- und kulturwissenschaftlicher Tradition stellt das zentrale Instrumentarium qualitativer Sozialforschung dar. Im Zuge einer Ausdifferenzierung der Forschungsperspektiven und der entsprechenden Methodenentwicklung hat sich eine Vielfalt von Ansätzen zur Analyse und Interpretation unterschiedlichster Textsorten entwickelt.33 Die in dieser Untersuchung angestrebte Textanalyse schließt nicht direkt an eine dieser Methoden an, sondern bedient sich unter Berücksichtigung der Prämissen qualitativer Forschung der grundlegenden inhaltlichen Auswertungstechniken.34 Diese bestehen ähnlich den hermeneutischen Ausle32 Vgl. Abschnitt 2. Forschungsstand und Erkenntnisinteresse. Zur Wechselwirkung zwischen Protestantismus und sozialen Bewegungen in Deutschland in den 1960er Jahren vgl. Hermle/Lepp/Oelke (2007), darin insbesondere den Beitrag von Hager (2007) mit Fokus auf die Studentenbewegung. 33 In einem breiten Verständnis von ‚Text‘ zählen dazu nicht nur geschriebene Texte – in der qualitativen Sozialforschung sind dies insbesondere die Transkripte von Interviews und Gruppendiskussionen –, sondern „alle bedeutungstragenden Objektivationen“, also auch Bilder und Filme (Mayring/Brunner (2010), S. 323). Entsprechend spricht Lamnek (2005), S. 77ff. auch von „Sozialwissenschaft als Textwissenschaft“. Zur Methodenvielfalt in der qualitativen Sozialforschung vgl. die Aufstellungen in den entsprechenden Handbüchern, z.B. Lamnek (2005); zum Einsatz qualitativer Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft Friebertshäuser/Langer/Prengel (2010). 34 So erfordert qualitative Forschung Offenheit gegenüber Forschungsgegenstand wie Forschungsprozess, wobei letzterer als Kommunikationsprozess zu verstehen ist. Entsprechend

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gungstechniken in einem mehrfachen Lesen der jeweiligen Texte, in dessen Zuge der Text zunehmend in Sequenzen unterteilt wird und die Analysekategorien entwickelt bzw. ergänzt und zunehmend präzisiert werden.35 In diesem Sinne schließt diese Analyse wieder an die qualitativer Sozialforschung zugrunde liegende hermeneutische Tradition an.36 Die inhaltliche Analyse wird ergänzt durch eine traditionell sprachwissenschaftliche Analyse der Grammatik. Auf diese Weise kann eine kollektive Bildungsbiografie der SDSler_innen gezeichnet werden, die einerseits Hinweise liefert zur Überprüfung der im Forschungsstand referierten Thesen und populären Zuschreibungen, andererseits zur Erfassung von weiteren oder anderen möglichen Mustern.

erfordert qualitative Forschung eine reflektierte wie flexible Haltung der Forschenden und die Transparentmachung von Interpretationen. Vgl. dazu ausführlicher die bereits genannten Handbücher von Lamnek (2005), insbesondere S. 20ff.; Friebertshäuser/Langer/Prengel (2010), darin der Beitrag von Bennewitz (2010), insbesondere S. 46.ff. 35 Zum inhaltsanalytischen Vorgehen vgl. z.B. Flick (2005), S. 257ff.; Lamnek (2005), S. 199ff.; Mayring/Brunner (2010); Schmidt (2010). 36 Zur Bedeutung der Hermeneutik für die qualitative Sozialforschung vgl. Lamnek (2005), insbesondere S. 59ff. Zum Verständnis der Hermeneutik über die Auslegung biblischer Texte hinaus als „allgemeiner Lehre vom Verstehen und Interpretieren“ vgl. Jung (2001); Zitat ebd., S. 10. Die Zirkularität hermeneutischer Verstehensprozesse („Hermeneutischer Zirkel“, Schleiermacher) findet sich auch in den Beschreibungen qualitativer Forschungsmethoden: „Qualitative Forschung bedarf einer zirkulären Forschungsstrategie.“ Bennewitz (2010), S. 48. Vgl. dort auch die schematische Darstellung nach Witt.

II. Kollektivbiografie

1. Geburtsjahrgänge, Familienstand, Geschlecht

Mit der Analyse von Altersstrukturen und Familienstand folgt die Auswertung in diesem ersten Abschnitt nicht nur üblichen Kriterien von Sozialstatistiken, sondern sie ist bezogen auf die Zuschreibungen zu einer ‚68er Generation‘ oder ‚Protestgeneration‘ und den darin ausgemachten Alterskohorten sowie auf Deutungen der Protestbewegung als ‚Jugendprotest‘.1 Durch die Erfassung der Geburtsjahrgänge wird nicht nur das Alter der SDSler_innen zum Zeitpunkt der Studentenbewegung, sondern es werden vor allem auch die Zeiträume der Sozialisation sichtbar. Auf diese Weise lässt sich die mögliche Bedeutung von einschneidenden politischen Ereignissen wie dem Zweiten Weltkrieg bzw. dem Kriegsende oder von wirtschaftlichen Entwicklungen wie dem ‚Wirtschaftswunder‘ seit den späten 1950er Jahren als Aspekte der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen von Sozialisation betrachten. Aufgrund einer vergleichsweise breiten Altersstreuung in der hier untersuchten Gruppe mit rund 20 Jahren Altersunterschied und weit in die Vorkriegszeit zurückreichenden Geburtsjahrgängen, soviel sei als Ergebnis vorweggeschickt, müssen hier sowohl Zweiter Weltkrieg als auch allgemeiner wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit sowie weitere Ereignisse und Entwicklungen in jener Zeit als potenziell bedeutsame Elemente der Lebenswelt2 gefasst werden. Die getrennte Betrachtung der Gruppe nach ‚Altmitgliedern‘, die bereits vor Sommer 1967 im SDS sind und ‚Neumitgliedern‘, die im Sommer und Herbst 1967 dem SDS beitreten, zeigt zwar eine leichte ‚Verjüngung‘ der Gesamtgruppe in der zweiten Jahreshälfte 1967, insgesamt aber präsentiert sich die Gruppe etwas älter als für die ‚68er Generation‘ bislang angenommen.

1 2

Vgl. Teil I, Abschnitt 2. Forschungsstand und Erkenntnisinteresse. Zum Konzept der Lebenswelt als sozialisationshistorische Analysekategorie vgl. Groppe (2004), S. 22ff.; dazu ausführlich unten Abschnitt 1.4

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Die Altersstruktur gibt zudem erste Aufschlüsse über die ‚Jugendlichkeit‘ der Gruppe, die durch die Betrachtung des Familienstandes der Studierenden ergänzt wird, da die gesellschaftlich bedingte und historisch wandelbare Phase der ‚Jugend‘ als nur unscharf abgrenzbare Zwischenphase zwischen Kindheit und Erwachsenenstatus gesellschaftlich wie sozialwissenschaftlich gerade auch als ein Freigestelltsein von eigener Familie und wirtschaftlicher Verantwortung gefasst wird.3 Die Präsenz von Verheirateten, von Vätern und Müttern in der SDS-Gruppe stellt pauschale Deutungen der Protestbewegung als ‚Jugendprotest‘ ebenso in Frage wie die Altersstruktur, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden. In der Analyse der Geschlechterstruktur wird zudem das Engagement von Frauen im SDS sichtbar. Dieses stellt keineswegs eine Unbekannte in der Historisierung der Studentenbewegung dar, vielmehr sind die Geschlechterdifferenzen innerhalb des SDS der späten 1960er Jahre als eine Wegmarke der Neuen Frauenbewegung gut ausgeleuchtet. Allerdings beschränkt sich die Betrachtung von Frauen im SDS bzw. in der Studentenbewegung weitestgehend auf genau diese Phase und ihre Bedeutung für die Formierung der Frauenbewegung. Das Engagement von Frauen als Teil einer gemischtgeschlechtlichen Gruppe in einer gemischtgeschlechtlichen Bewegung ist dagegen unterbelichtet. Das zahlenmäßige Engagement von Frauen, das hier immerhin ein Viertel ausmacht, illustriert zwar einerseits erneut, warum sich die weiblichen Mitglieder in einer Zeit vergleichsweise strikter gesellschaftlicher Geschlechterrollenzuweisung als Minderheit gegenüber 75% Männern nur schwerlich Gehör für ihre spezifischen Belange verschaffen, geschweige denn sich durchsetzen konnten. Andererseits wirft diese Größenordnung Fragen auf hinsichtlich der Männerzentriertheit der Auseinandersetzungen mit dem SDS wie der Studentenbewegung.

1.1 G EBURTSJAHRGÄNGE Die Geburtsjahrgänge4 der gesamten Gruppe des SDS von 1967 aus dem Umfeld der Freien Universität Berlin erstrecken sich von 1927 bis 1949. Damit ist die Altersspanne zunächst einmal deutlich breiter als die den Konzepten einer ‚68er Generation‘ zugrunde liegenden Annahmen, nach der sich diese Generation aus Al-

3 4

Vgl. Dudek (2010); Ecarius et al. (2011). Für die Gesamtgruppe von 181 Mitgliedern liegen von 176 die Geburtsdaten vor, für die Gruppe „Vor Sommer 1967“ für 133 von 138 und für Gruppe „Nach Sommer 1967“ 43 von 43. Das entspricht einer Datendichte für die Gesamtgruppe von 97,2%, für Gruppe „Vor Sommer 1967“ von 96,4% und für die Gruppe „Nach Sommer 1967“ von 100%.

1. G EBURTSJAHRGÄNGE , F AMILIENSTAND , G ESCHLECHT

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terskohorten von maximal zehn Jahrgängen rekrutiert.5 In dieser Alterskohorte ist jedoch mit 68,2%6 (120 Mitglieder) eine deutliche Häufung von Geburtsjahrgängen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs (1939-1945) zu verzeichnen. Die Vorkriegsjahrgänge und Nachkriegsjahrgänge sind demgegenüber mit 19,9% (35 Mitglieder) bzw. 11,9% (21 Mitglieder) vergleichsweise geringer vertreten. Ein Einbruch der Zahlen lässt sich dabei nicht erst nach Kriegsende, sondern bereits zwischen den Jahrgängen 1944 und 1945 verzeichnen: während 23 Mitglieder (13,1%) 1944 geboren sind, sind nur noch fünf (2,8%) 1945 geboren. Der Jahrgang 1943 ist mit 25 Mitgliedern (14,2%) der am stärksten vertretene Jahrgang in der Gesamtgruppe. Die Gruppe der ‚Altmitglieder‘ ist im Jahr 1967 im Durchschnitt drei Jahre älter als die Gruppe der Neumitglieder. Dieser Umstand erklärt sich aus einem verstärkten Beitritt von Nachkriegsjahrgängen und nur noch von einzelnen Vorkriegsjahrgängen ab Sommer 1967. Demgegenüber sind die Vorkriegsjahrgänge in der bereits vor Sommer 1967 bestehenden Gruppe noch stark vertreten. Bei beiden Gruppen ist jedoch die genannte Häufung von Kriegsjahrgängen zu verzeichnen. In der Gruppe ‚Vor Sommer 1967‘ reichen die Geburtsjahrgänge von 1927 bis 1949.7 70,9% (94 Mitglieder) der Gruppe sind in den Jahren des Zweiten Weltkriegs geboren; ein Viertel (24,8%, 33 Mitglieder) wurde noch vor dem Krieg geboren.8 Gerade einmal sechs Mitglieder – das entspricht 4,5% – sind nach dem Zweiten Weltkrieg geboren.9 Die am stärksten vertretenen Geburtsjahrgänge sind 1943 und 1944 mit jeweils 17 Mitgliedern (jeweils 12,8%); die anderen Kriegsjahrgänge sind mit 13 bis 16 Mitgliedern vertreten.10 Das Durchschnittsalter der Gruppe liegt 1967 bei 26 Jahren. In der Gruppe der Neumitglieder ab Juli 1967 ergibt sich demgegenüber mit 23 Jahren, wie gesagt, ein um drei Jahre niedrigeres Durchschnittsalter durch den verstärkten Beitritt von Nachkriegsjahrgängen (15 Mitglieder, 34,9%). Die Geburtsjahrgänge sind in dieser Gruppe etwas weniger gestreut, erstrecken sich jedoch insgesamt ebenfalls über einen breiteren Zeitraum als eine Dekade, nämlich von 1933 bis 1949.11 Dabei machen die während des Zweiten Weltkriegs Geborenen immer noch rund 60,5% (26 Mitglieder) aus, die am stärksten vertretenen Jahrgänge sind 5

Vgl. Teil II, Abschnitt 2.2 Mobilität

6

Die Prozentangaben sind auf die erste Stelle nach dem Komma gerundet.

7

Die Jahrgänge 1928, 1929 und 1931 sind nicht vertreten.

8

1927: 1 = 0,8%; 1930: 1 = 0,8%; 1932: 2 = 1,5%; 1933: 2 = 1,5%; 1934: 3 = 2,3%; 1935: 1 = 0,8%; 1936: 6 = 6,8%; 1937: 8 = 6,0%; 1938: 6 = 4,5%.

9

1946: 1 = 0,8%; 1947: 2 = 1,5%; 1948: 2 = 1,5%; 1949: 1 = 0,8%.

10 1939: 16 = 12,0%; 1940: 13 = 9,8%; 1941: 15 = 11,3%; 1942: 14 = 12,8%. 11 Die Jahrgänge 1935-1938 sind nicht vertreten.

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wiederum 1943 und 1944 mit acht bzw. sechs Antragsteller_innen (18,6% bzw. 14,0%). Nur noch zwei Neumitglieder sind vor Kriegsbeginn geboren (1933 und 1934, jeweils 2,3%). Im einschlägigen Werk zur Geschichte des SDS von Tilman P. Fichter und Siegward Lönnendonker deutet sich in den Auseinandersetzungen im Berliner Landesverband mit einer „Alte-Keulen-Riege“ von „Altgenossen“, die z.T. bereits vor 1961 im SDS gewesen seien, an, dass die Altersstruktur im SDS recht breit gewesen sein muss.12 Die obigen Darstellungen bestätigen dies. Jedoch deckt sich die Altersstruktur im SDS nur bedingt mit den Altersstrukturen, wie sie für eine Protestgeneration angenommen werden.13 Sowohl in der Gesamtgruppe wie auch in den beiden untersuchten Einzelgruppen sind die Geburtsjahrgänge deutlich breiter gestreut als dies für die Protestgeneration insgesamt angenommen wird. Liegen den Konzepten der Protestgeneration maximal Zehnjahreskohorten zugrunde, erstrecken sich die Geburtsjahrgänge hier über 22 Jahre. Darüber hinaus sind zum einen die Vorkriegsjahrgänge,14 welche nicht der Protestgeneration zugerechnet werden, durchaus in nennenswerter Zahl vertreten. Die Geburtsjahrgänge umfassen auch Kohorten, die in der Regel den der ‚68er Generation‘ gegenüber gestellten ‚45ern‘ zugerechnet werden.15 Der überwiegende Teil der SDS-Gruppe ist dabei in den Jahren des Zweiten Weltkriegs geboren; dieser Teil der Gruppe deckt sich altersmäßig mit der bei Preuss-Lausitz et al. identifizierten „40er Generation“ der Jahrgänge 1939 bis 1945. Hingegen sind die Nachkriegsjahrgänge, die sehr wohl der Protestgeneration zugerechnet werden, vergleichsweise gering vertreten, gleiches gilt bereits für den letzten Kriegsjahrgang. Überhaupt treten die Nachkriegsjahrgänge erst ab dem Sommer 1967 in nennenswerter Zahl bei. Die Gruppe der ‚Nach Sommer 1967‘ deckt sich insofern zwar weitestgehend mit den Annahmen über die Alterskohorten einer ‚68er Generation‘. Da diese Gruppe jedoch nicht real ist, sondern ein Konstrukt zur Untersuchung der Entwicklung der Gruppe ist, in der sie aufgeht, kann die Gruppe der Neumitglieder allein nicht als Indiz für die Altersentwicklung herangezogen werden. Inwiefern sich die Alterstruktur der Gesamtgruppe in den Folgejahren noch verändert haben könnte, kann aufgrund der Quellenlage nicht gesagt werden. Auf12 Vgl. Fichter/Lönnendonker (2008), S. 141; S. 155. 13 Vgl. Teil I, Abschnitt 2. Forschungsstand und Erkenntnisinteresse. 14 Die Unterteilung in Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegsjahrgänge dient hier zunächst einmal nur der quantitativen Erfassung, ohne die politischen Zäsuren mit Einschnitten in der Sozialisation gleichzusetzen, da der Faktor des Alters bei benachbarten Jahrgängen höchstens einen marginalen Einfluss hat. 15 Moses (2000), S. 238 zählt zur „45er“-Generation die Jahrgänge 1918-1930, Schörken (2004) die Jahrgänge 1922-1933 und Hodenberg (2006), S. 245 die Jahrgänge 1921-1932.

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grund stagnierender Mitgliederzahlen nach dem zunächst sprunghaften Anstieg nach dem Sommersemester 1967 ist eine grundsätzliche Änderung in den Jahren 1968 und 1969 jedoch nicht wahrscheinlich.16 Wenn also tatsächlich von einem größeren Anteil von Protestler_innen ausgegangen werden sollte, die in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre bis 1950 geboren wurden, sind diese angesichts der Altersstruktur in der SDS-Gruppe möglicherweise weniger in den organisatorischen Gruppen zu suchen, als vielmehr in den spontan mobilisierten Massen der Studentenbewegung sowie in der Schülerbewegung. Kristina Schulz hat vor diesem Hintergrund für die Frauenbewegung der 1970er Jahre eine Unterscheidung in ältere „Mobilisiererinnen“ und jüngere „Anhängerinnen“ vorgeschlagen,17 was eine plausible Unterscheidung auch für die Studentenbewegung darstellt. Die Altersstruktur der SDS-Gruppe entspricht insgesamt am ehesten der für die „Generation der Kriegskinder“ ermittelte Alterskohorte der Jahrgänge 1930 bis 1945. Die untersuchte SDS-Gruppe ist damit insgesamt älter, als dies für die Protestgeneration vermutet wird. Auch im Vergleich zur gesamten Studierendenschaft in der Bundesrepublik im Jahre 1967 ist die Gruppe älter. So beträgt der Anteil der über 25-Jährigen (also 1942 und früher Geborenen) im SDS rund 58,0%, in der Studierendenschaft jedoch nur rund 32,7%.18 Dieses höhere Alter erklärt sich nur zum Teil aus der Mitgliedschaft auch von ‚Altgenossen‘,19 da der Anteil der 25Jährigen bei den 1967 an der FU eingeschriebenen SDSler_innen immer noch bei 53,1% liegt. Möglicherweise muss hier die relativ lange Studiendauer von durchschnittlich 13 Semestern und ein Beitritt zum SDS erst nach fortgeschrittener Studiendauer als Erklärung herangezogen werden.20 Für den Beitritt zu einer politischen Studierendengruppe spielen neben individuellen Identitätsentwicklungsprozessen auch konkrete motivierende Ereignisse eine Rolle.21 Dass der Beitritt selten zum Studienbeginn erfolgte, legt jedoch vor allem die niedrige Repräsentanz von Nachkriegsjahrgängen im SDS nahe, die noch 16 Zu den Mitgliederzahlen des SDS vgl. ausführlich Teil I, Abschnitt 3. Das zu untersuchende Kollektiv: Der SDS. 17 Schulz (2002), S. 31f. Vgl. dazu auch Abschnitt 1.3 Geschlecht. 18 Vgl. Lundgreen (2008), Tab. 2.32 und 2.33. Die für männliche und weibliche Studierende getrennt ausgewiesenen Daten sind hier zum Zwecke der Vergleichbarkeit zusammengeführt worden. 19 Zu SDS-Mitgliedern, die nicht mehr an der FU eingeschrieben sind, wie auch zu solchen, die sich erst nach 1967 einschreiben vgl. Abschnitt 5. Bildungswege nach Erwerb der Hochschulreife. 20 Zur Studiendauer vgl. Abschnitt 6. Universitätsstudium. 21 Eine solche Hypothese legen die Befunde von Dehnavi (2013) zu den Studentinnen im Frankfurter Weiberrat nahe.

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unter derjenigen in der Gesamtstudierendenschaft liegt. Die Nachkriegsjahrgänge sind zu jenem Zeitpunkt zwischen 18 und 21 Jahren alt und gehören damit zu einer Altersgruppe, die aufgrund der typischen Bildverläufe ohnehin nur einen vergleichsweise geringen Anteil an Studierenden ausmacht, da Abiturient_innen die Hochschulreife nach 13 Schuljahren im Alter von in der Regel 19 Jahren erwarben.22 Beim Erwerb des Abiturs auf dem ‚zweiten Bildungsweg‘, durch Berufsausbildung oder Praktikum vor dem Studieneintritt oder durch die Wehrpflicht für junge Männer konnte das Alter bei Studieneintritt noch höher liegen.23 Bereits zeitgenössisch weisen die Studierendenstatistiken auf ein steigendes Studieneintrittsalter und ein steigendes Durchschnittsalter der (männlichen) Studierenden aufgrund dieser Faktoren – neben der tendenziellen Studienzeitverlängerung – hin.24 Entsprechend ist der Anteil der jüngsten Studierenden an der Studierendenschaft bis heute vergleichsweise gering.25 Allerdings liegt der Anteil der jüngsten Studierenden 1967 in der Studierendenschaft mit knapp 10% pro Jahrgang sogar höher als im SDS. Die 1967 in der Studierendenschaft am stärksten vertretenen Altersgruppen sind ähnlich wie im SDS die der 23-Jährigen (Jahrgang 1944, 14,7%) sowie der 24Jährigen (1943, 13,5%). Angesichts dieser Altersstruktur wird der Sozialisationszeitraum der SDS-Gruppe nur zu beschreiben sein, wenn diese Beschreibung – die lebenslange Fortsetzung von Sozialisation zugrunde legend – die fast vier Jahrzehnte zwischen Beginn der 1930er Jahre und der Studentenbewegung in der zweiten Hälfte der 1960er Jahren erfasst; keineswegs aber kann eine vergleichbare Phase des Aufwachsens mit einheitlichen Sozialisationsbedingungen in Kindheit und Jugend bis hin zum Erwachsenenalter für die Mitglieder der Gruppe beschrieben werden. Dafür ist die Altersspanne in der SDS-Gruppe zu groß. Der in Frage kommende Zeitraum bis zum Beginn der Studentenbewegung stellt allerdings nicht nur eine vergleichsweise lange Zeit dar, sondern vor allem eine Zeit, die gekennzeichnet ist von extremen Veränderungen, von politischen Zäsuren und weitreichenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwick22 Entsprechend wurden bis 1973 in den amtlichen Statistiken die unter 19-jährigen nicht gesondert ausgewiesen; vgl. Lundgreen (2008), Tab. 2.32-2.43. 23 Die Wehrpflicht wurde 1956 wieder eingeführt. 24 Vgl. Kath (1969), S. 28ff. 25 Seit der Einführung des Abiturs nach 12 Schuljahren in fast allen Bundesländern wird diese Gruppe mittlerweile von der Altersgruppe „16 Jahre und jünger“ gebildet, die im Wintersemester 2012/13 weniger als 100 Studierende an allen deutschen Universitäten ausmachten. Die größte Gruppe findet sich nun bei den 22-jährigen. Vgl. Statistisches Bundesamt (2013), S. 289.

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lungen. Die Kindheitsphasen unterliegen jeweils unterschiedlichen Konstellationen. Eine Beschreibung dieses Zeitraums kann keineswegs eine erschöpfende Darstellung in wortreicher Wiederholung der umfangreich vorliegenden historischen Aufarbeitungen jener Jahrzehnte anstreben. Dennoch sollen durch eine Skizzierung der Veränderungen in den Übergängen vom ‚Drittem Reich‘ zur Besatzungszeit und weiter zur „doppelten Staatsgründung“26 von Bundesrepublik und DDR sowie der Ereignisse und Entwicklungen in den Jahrzehnten zwischen der ‚Machtübergabe‘ nach 1945 und ‚1968‘ wesentliche politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Tendenzen herausgearbeitet werden, die die Lebenswelt der SDSler_innen prägen. In dieser Perspektive zeichnet sich besonders deutlich die radikale Wendung zwischen NS-Staat und den „dynamischen Zeiten“ in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in der Bundesrepublik ab, die – in Abhängigkeit vom Alter in unterschiedlichem Maße – den Lebensverläufen und Biografien unterliegt. Diese sich verändernde Lebenswelt soll im Anschluss an die in diesem Abschnitt präsentierten Ergebnisse – die Befunde zu Familienstand und Geschlecht berücksichtigend – nachgezeichnet werden.

1.2 F AMILIENSTAND Kaum eindeutiger als die Frage nach den potenziell ‚prägenden‘ Erlebnissen einer ‚Protestgeneration‘ kann angesichts der Altersstruktur der hier untersuchten SDSGruppe die Antwort auf die Frage, inwiefern die Protestbewegung als ein ‚Aufstand der Jugend‘ bzw. eine ‚Jugendrevolte‘ gedeutet werden kann, ausfallen. Nach rein rechtlichen Gesichtspunkten wäre die Gruppe meistenteils als ‚erwachsen‘ zu bezeichnen. Bis auf die wenigen Mitglieder, die in den Jahren 1947 bis 1949 geboren sind, sind zum betrachteten Zeitpunkt alle volljährig, zahlreiche Mitglieder sind bereits deutlich über das damalige Volljährigkeitsalter von 21 Jahren hinaus. Allerdings erschließt sich die Lebensphase ‚Jugend‘ nicht einfach über das Alter, sondern ‚Jugend‘ als Lebensphase ist gesellschaftlich bedingt und historisch wandelbar. Mit dieser Zwischenstufe zwischen Kindheit und vollem Erwachsenenstatus verbinden sich daher in der Geschichte unterschiedliche Vorstellungen und pädagogische Praktiken, zugleich variiert auch die begriffliche Fassung von ‚Jugend‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften.27 Wird ‚Jugend‘ allerdings nicht nur als Lebensalter gefasst oder auf die entwicklungsphysiologische und -psychologische Phase der Pubertät reduziert, bezeichnet ‚Jugend‘ für die Moderne und aus individualisierungstheoretischer Sicht insbesondere ein durch wachsende Freiheiten in 26 Kleßmann (1991). 27 Vgl. Dudek (2010), S. 359ff.

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der Lebensführung geprägtes Entwicklungsmoratorium, in dem die ‚Jugendlichen‘ durch das Bildungssystem freigesetzt sind von der Verantwortung für den eigenen Lebensunterhalt sowie für die eigene Familie.28 Aus den Bewerbungen wird deutlich, dass auch dieses Kennzeichen von Jugendlichkeit zumindest für einen Teil der Gruppe nicht zutrifft. Mindestens 22 Mitglieder (12,2%, 12 Frauen, 10 Männer) sind 1967 verheiratet. Dieser Wert entspricht im Wesentlichen dem Anteil von 11,1% Verheirateten in der Gesamtstudierendenschaft im Wintersemester 1967/68.29 15 von diesen sind bereits bei der Bewerbung an der FU verheiratet – 11 in der Gruppe der Altmitglieder (acht Männer, drei Frauen) und vier (drei Männer, eine Frau) in der Gruppe der Neumitglieder. Ein Mitglied ist verlobt und gibt die bevorstehende Heirat mit einer Berlinerin als Bewerbungsgrund an der FU an. Acht weitere Frauen aus der Gruppe ‚Vor Sommer 1967‘ heiraten im Laufe des Studiums, wie letztlich entsprechende Namensänderungen anzeigen. Da solche Mitteilungen zu den Namensänderungen infolge von Heirat bei den Männern üblicherweise fehlen, konnte nicht ermittelt werden, wie viele männliche Mitglieder im Verlaufe des Studiums sich verheiratet haben. Ein (männliches) Mitglied in der Gruppe ‚Vor Sommer 1967‘ wird in der Zwischenzeit wieder geschieden. Acht der bei der Bewerbung bereits verheirateten Studierenden haben bereits ein (5 Studierende), zwei (2) oder drei (1) eigene Kinder. Eine weitere Studentin ist bereits Mutter und heiratet den Vater des Kindes erst im Laufe der Studienzeit. Eine Studentin wird in der Studienzeit Mutter, ein Student Vater. Zum Teil wird der Unterhaltserwerb für die Familien als Grund für Studienverzögerungen und Beurlaubungen vom Studium geltend gemacht, in Einzelfällen werden die Studierenden inklusive ihrer Familien von den Eltern finanziert. Das Phänomen verheirateter Studierender wird bereits zeitgenössisch mit Aufmerksamkeit beobachtet und in den Sozialerhebungen des Deutschen Studentenwerks erfasst. 1964 sahen sich die Autoren der Erhebung für das Sommersemester 1963 auf Wunsch „von verschiedenen Seiten“ dazu veranlasst, den Aspekt „Verheiratete Studierende“ in einer eigenen kleinen Publikation gesondert zu problematisieren, sei „doch gerade dieser Personenkreis wirtschaftlichen und seelischen Belastungen ausgesetzt, die überwinden zu helfen zu den schwierigsten Aufgaben in der täglichen Arbeit der Studentenwerke gehört.“30 Die Relevanz der Untersuchung von verheirateten Studierenden ergab sich dabei weniger aus dem Anteil an der Studierendenschaft, der mit 7% zum Umfragezeitpunkt gering erscheint, sondern aus der absoluten Zahl von 16 000 Studierenden, die vor die entsprechenden Probleme der 28 Vgl. Ecarius et al. (2011), insbesondere S. 38ff. 29 Vgl. Kath (1969), S. 32. Zuvor hatte das Deutschen Studentenwerk zuletzt 1963 diese Daten erhoben. 30 Kath/Oehler (1964), S. 3.

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Vereinbarkeit von Studium und Ehe gestellt seien. In diesem Zusammenhang wurde die Frage aufgeworfen, inwiefern der Studienerfolg durch eine durch den Familienunterhalt erzwungene Werktätigkeit gefährdet werden könne und inwiefern durch die Doppelbelastung von Studium und Familienunterhalt die „physischen und seelischen Kräfte überanstrengt werden“ könnten.31 Diese Probleme wurden zusätzlich verstärkt in den – vergleichsweise seltenen –„Studentenehen“ als Ehe zwischen zwei Studierenden vermutet; als besonders schwierig wurde die Vereinbarung von Studium, Ehe und Kindererziehung eingeschätzt. Etwa die Hälfte der verheirateten Studierenden hatte bereits Kinder.32 Die Untersuchung konnte zwar, so der Befund der Autoren, nicht nachweisen, inwiefern Ehe und Familie Studienabbrüche bedingten, jedoch wurde bei den Verheirateten eine Zunahme der „Finanzierung des Studiums durch Werkarbeit in bedrohlichem Umfang“ festgestellt.33 Die Neigung zur Eheschließung wurde als unabhängig vom Elternhaus (akademisch/nichtakademisch) befunden, allerdings zeigte sich im Zusammenhang mit steigendem Lebensalter, höherer Semesterzahl und einer vor dem Studium absolvierten Berufsausbildung eine steigende Neigung zur Eheschließung.34 Diese Ergebnisse bestätigt auch die Folgeuntersuchung von 1967/68, allerdings ist dort als „[e]ines der bemerkenswertesten Ergebnisse der Sozialerhebung“ ein im Vergleich zu 1963 deutlich gestiegener Anteil von verheirateten Studierenden zu verzeichnen.35 Gründe für die Ausweitung der Verheiratetenquote kann die Studie vor dem Hintergrund der ansonsten nahezu unverändert schwierigen Lage von Studierenden – dazu zählt der Autor neben der Sicherstellung des Lebensunterhalts auch das Finden und Bezahlen von geeignetem Wohnraum – nicht benennen, zumal sie sich über alle Altersgruppen erstreckt und damit nicht etwa nur durch die Zunahme älterer Studierender aufgrund steigender Studiendauer erklärt werden kann.36 Die in den Sozialerhebungen benannten Probleme betreffen z.T. auch die – zwischenzeitlich – verheirateten Mitglieder in der untersuchten SDS-Gruppe: So stellen vier von ihnen zwischenzeitlich Anträge auf Beurlaubungen von einzelnen Studiensemestern mit der Begründung von Werktätigkeit zur Finanzierung der Familie, eines zur Behandlung psychischer Probleme. Die Gründe, mit denen sich diese Mitglieder an der FU schließlich exmatrikulieren, sind jedoch unterschiedlich: Neun von ihnen führen das Studium erfolgreich zu Ende, davon drei mit Promotion. Fünf wollen ihr Studium an einer anderen Universität fortsetzen. Ein Mitglied bricht das 31 Kath/Oehler (1964), S. 3. 32 Vgl. Kath/Oehler (1964), S. 5. 33 Vgl. Kath/Oehler (1964), S. 4f., Zitat S. 39. 34 Vgl. Kath/Oehler (1964), insbesondere S. 38f. 35 Vgl. Kath (1969), S. 31ff., S. 119ff., Zitat S. 119. 36 Vgl. Kath (1969), S. 119ff.

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Studium an der FU aus finanziellen Gründen ab. Von einigen liegen allerdings keine Informationen zum Studienende vor: Fünf Mitglieder werden aufgrund nicht erfolgter Rückmeldung letztlich aus der Liste der Studierenden gestrichen, von zwei weiteren ist der Verbleib gänzlich unbekannt. Ob in diesen Fällen das Studium aufgrund von finanziellen oder psychischen Belastungen abgebrochen oder letztlich – ggf. an anderer Stelle – erfolgreich zu Ende geführt worden ist, kann nicht gesagt werden. Diese Zahlen entsprechen allerdings ungefähr den Gründen für das Studienende an der FU in der Gruppe insgesamt, wobei die Zahl der an der FU erworbenen Abschlüsse gegenüber mehr als 50% in der Gesamtgruppe etwas niedriger liegt.37

1.3 G ESCHLECHT Von den 181 hier untersuchten SDS-Mitgliedern sind 136 männlich und 45 weiblich. Das entspricht einem Verhältnis von 75,1% zu 24,7%, womit der Frauenanteil im SDS an der FU etwas unterhalb des Frauenanteils an deutschen Universitäten im Jahr 1967 – rund 28% – liegt.38 Der Frauenanteil unterscheidet sich in den Gruppen nicht nennenswert: in der Gruppe ‚Vor Sommer 1967‘ liegt er bei 24,6% (34 Frauen bei 138 Mitgliedern), in der Gruppe der Neumitglieder bei 25,6% (11 Frauen, 32 Männer). Mit einem Männeranteil von drei Vierteln bestätigt sich in dieser Gruppe zumindest zahlenmäßig die männliche Dominanz im SDS, die von den weiblichen Mitgliedern zunehmend kritisiert wurde und gegen die sie sich 1968 auf der Bundesdelegiertenkonferenz mit einem sinnbildlich gewordenen Tomatenwurf auf den SDS-Vorstand zur Wehr setzten. Zwar mag der niedrige Anteil von weiblichen Mitgliedern vor dem Hintergrund des ohnehin noch vergleichsweise geringen Anteils von Studentinnen an Universitäten insgesamt nicht sonderlich auffällig erscheinen, dennoch hat, wie die Historisierung der Neuen Frauenbewegung der frühen 1970er Jahre deutlich macht, gerade in einem Umfeld, das ausgesprochen sensibilisiert war für Benachteiligung, diese Überlegenheit für Brisanz gesorgt, als sich die Männer der Frauenthemen nicht annehmen wollten.39 So wollten die SDS-Genossen etwa auf 37 Vgl. Abschnitt 5. Bildungswege nach Erwerb der Hochschulreife. 38 Vgl. Lundgreen (2008), S. 262, Tab. 2.12. Da für die Freie Universität Berlin statistische Daten zur Zusammensetzung der Studierendenschaft erst ab den 1970er Jahren vorliegen, wird hier als Vergleich auf die Daten zur Studierendenschaft in Westdeutschland insgesamt zurückgegriffen. 39 Vgl. insbesondere Schulz (2002); zum ‚Geschlechterstreit‘ im SDS vgl. ferner Schulz (1998a) (1998b); Steffen (1998); Fichter/Lönnendonker (2008).

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jener Delegiertenkonferenz im September 1968 im Anschluss an eine Rede von Helke Sander, Studentin der Film- und Fernsehakademie in Berlin und Mitglied des „Aktionsrats zur Befreiung der Frau“ innerhalb des SDS, in der sie Missstände im SDS und patriarchalische Verhaltensweisen ihrer Genossen als „Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse“ anprangerte, anschließende Diskussionen unterbindend oder eigene Stellungnahmen verweigernd weiter nach Tagesordnung verfahren.40 Der Tomatenwurf in Reaktion auf diese Verweigerungshaltung der Genossen gilt als Fanal der Neuen Frauenbewegung.41 Eine Untersuchung der Altersstruktur der Frauen im SDS erweist sich dabei bereits als ein Indiz dafür, dass sich die SDSlerinnen nicht unbedingt in die ‚typischen Frauenkarrieren‘ der 1960er Jahre – Ehefrau, Mutter, höchstens im familiären Betrieb oder in Teilzeit berufstätig – abdrängen lassen würden und entsprechend auch im SDS die Auseinandersetzung mit den Männern nicht scheuten.42 Die Geburtsjahrgänge der Frauen reichen von 1933 bis 1949 und sie sind insgesamt etwas älter als bundesdeutsche Studentinnen im Durchschnitt. Mehrheitlich entspricht die Gruppe der Frauen jener Altersgruppe, welche Kristina Schulz für die „Mobilisiererinnen“ der Frauenbewegung (1935 bis 1945) in Abgrenzung zu den etwas jüngeren „Anhängerinnen“ (1947/48 und jünger) beschrieben hat.43 Eine nach Geschlechtern getrennte Betrachtung der oben dargestellten Altersstruktur offenbart darüber hinaus, wie die Altersstruktur der Frauen im SDS insgesamt in auffälliger Weise von derjenigen der Studentinnen bundesweit abweicht: So entspricht der Anteil der über 25-Jährigen Frauen im SDS mit 57,8% am Gesamt der Frauen und 58,9% der aktuell eingeschriebenen SDSlerinnen dem Anteil dieser Altersgruppe (gemischtgeschlechtlich) im SDS insgesamt.44 Er liegt damit jedoch weitaus höher als der Anteil von Studentinnen in dieser Altersgruppe bundesweit, der 1967 bei 17,1% liegt. In der Tat wird bereits zeitgenössisch konstatiert, dass im Gegensatz zum steigenden Durchschnittsalter der männlichen Studierenden das Durchschnittsalter bei den weiblichen Studierenden aufgrund einer Zunahme bei den jüngsten Jahrgängen

40 Sander (1968/1988), S.39. 41 In Anspielung auf diese symbolische Aktion fragt etwa der Titel einer Veröffentlichung von Heinrich-Böll-Stiftung und Feministischem Institut (1999) zum 30. ‚Jubiläum‘ des Beginns der Frauenbewegung: „Wie weit flog die Tomate?“ 42 Zur Entwicklung von Geschlechterverhältnissen in den 1960er Jahren vgl. Frevert (2003); Paulus (2005); zur Erwerbstätigkeit von Frauen vgl. Oertzen (1999), (2005). 43 Vgl. Schulz (2002), S. 31f. 44 Der Anteil der über 25-jährigen Männer liegt bei rund 50% im SDS gegenüber 39,6% in der Gesamtstudierendenschaft.

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stagniert.45 Die Altersstruktur bei den SDS-Frauen entspricht damit insgesamt derjenigen der Männer bzw. der Gesamtgruppe mit zunächst zunehmenden Anteilen bei den jüngsten Jahrgängen: Die größte Altersgruppe stellen die 25-Jährigen (Jahrgang 1942, 9 Mitglieder, 20% der Frauen insgesamt, 23,06% der aktuell eingeschriebenen Studentinnen). Bei den Studentinnen bundesweit zeigt sich hingegen eine gegenläufige Entwicklung: Hier ist die Gruppe der 19-jährigen und jünger mit 17,50% der Studentinnen am größten, die Anteile der älteren Jahrgänge verringern sich kontinuierlich – eine Entwicklung, die auf hohe Studienabbruchquoten, auch aufgrund von Heirat und Familiengründung, zurückzuführen ist. Kann in den Sozialerhebungen des Deutschen Studentenwerks zum Sommersemester 1963 ein entsprechender Zusammenhang zwischen Eheschließung und Studienabbruch nur vermutet, aber nicht nachgewiesen werden (s.o), weist eine Untersuchung „Zum Problem des vorzeitigen Abgangs von der Universität“ bei „Studierenden Mädchen“ Verlobung und Verheiratung als zahlenmäßig gewichtigsten Grund von Studienabbrüchen aus.46 Jedoch stellt dieser mit knapp einem Viertel nur einen unter diversen anderen von den jeweiligen Studentinnen genannten Gründen – Krankheit, Berufs- und Ausbildungswechsel, Erwerbstätigkeit, finanzielle Schwierigkeiten, nicht bestandene Wiederholungsprüfung – dar.47 Diese sachlichen Begründungen werden in der Studie ferner den in Interviews ermittelten subjektiven Abbruchsmotivationen gegenüber gestellt, um so die eigentlichen Ursachen des Studienabbruchs zu erhellen. Auf Grundlage der Umfrageergebnisse werden somit letztlich die Rolle der Frau im Allgemeinen sowie die Diskriminierung von Studentinnen im Speziellen für die hohen Abbrecherinnenquoten verantwortlich gemacht.48 Die Bildungsbeteiligung von Mädchen und Frauen war zwar bereits Thema in den Bildungsreformdebatten in der ersten Hälfte der 1960er Jahre gewesen, nachdem eine OECDStudie neben international relativ niedrigen Abiturient_innen- und Studierendenquoten eine Benachteiligung von Mädchen auf der Ebene der allgemeinbildenden Schulen und insbesondere in ländlichen Gebieten offenbart hatte.49 Diese bildungspolitischen Diskussionen hatten eine langfristige Wirkung für eine höhere Wertschätzung von Mädchen und jungen Frauen als Teilnehmerinnen am höheren Bildungssystem, die sich allerdings erst in den 1970er Jahren in Zahlen niederschlug. In den 1960er Jahren dominierte weiterhin die Auffassung, „daß sich kostspielige Bildungsinvestitionen für Mädchen eigentlich nicht lohnten, da sie den teuer be-

45 Vgl. Kath (1969), S. 28ff. 46 Vgl. Gerstein (1965); im Anschluss an diese Metz-Göckel/Roloff/Schlüter (1989), S. 19. 47 Vgl. Gerstein (1965), S. 24. 48 Vgl. Gerstein (1965), insbesondere S. 64, S. 107ff. 49 Vgl. Kenkmann (2003).

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zahlten Beruf ohnehin bei der Eheschließung aufgeben würden.“50 Entsprechend konnte Helke Sander in ihrer Rede vor dem SDS-Bundesdelegiertenkongress noch die Überzeugung des „Aktionsrates zur Befreiung der Frau“ zum Ausdruck bringen, dass die Ausbeutung von Frauen aus der „Trennung zwischen Privatleben und gesellschaftlichem Leben“ entstehe und diese daher aufgehoben werden müsse.51 Auch wenn die Zahl der hier untersuchten Frauen im SDS sehr gering ist, deutet die Altersstruktur doch darauf hin, dass diese Frauen sich weder von der ‚mädchenfeindlichen Konstruktion der deutschen Universität‘52 von ihrem Studienwunsch hatten abbringen lassen noch zugunsten von Ehemann und Kindern auf ein Studium, einen eigenen Beruf und auf politische Betätigung verzichten wollten. Diese Vermutung wird ferner dadurch bestärkt, dass einige von ihnen bereits verheiratet sind und Kinder haben (s.o.), einige ihr Studium bereits abgeschlossen haben oder in Einzelfällen sich erst durch die politische Tätigkeit zum Studium entschlossen haben.53 Angesichts eines knappen Viertels von Frauen im SDS drängt sich die Frage nach der Berechtigung der insgesamt männerzentrierten Darstellung von SDS und Studentenbewegung in der Forschung auf; demgegenüber sind die Frauen in SDS und Studentenbewegung vor allem mit Fokus auf die oben angeführten internen Auseinandersetzungen und ihre Bedeutung für die Formierung der Neuen Frauenbewegung betrachtet worden, nicht aber mit Fokus auf ihre Bedeutung für die Studentenbewegung.54 Diese Fokussierung spielt auch in den Betrachtungen von ‚68erinnen‘ eine vornehmliche Rolle gegenüber der Frage nach ihrem Engagement in und Beitrag zu sowohl einer sozialistischen Studierendenvereinigung als auch den studentischen Protesten insgesamt.55 Dabei sind Frauen im SDS bereits seit der Gründung vertreten und, wie die Beispiele Monika Seifert, Sigrid Rüger oder Sigrid Fronius zeigen, auf hochschulpolitischer Ebene einzelner Universitäten wie auch innerhalb des Bundesverbandes durchaus nicht ohne Einfluss.56 Ob diese Beispiele allerdings prominente Einzelfälle darstellen oder Ausdruck einer lange Zeit selbst50 Frevert (2003), S. 650. 51 Sander 1968/1988, S.40. 52 So die Einschätzung von Ralf Dahrendorf in einer Einführung von Hannelore Gersteins Untersuchung; vgl. Gerstein (1965), S. 8. 53 Zu den Studienverläufen vgl. Abschnitt 5. Bildungswege nach Erwerb der Hochschulreife. 54 Diese Einschätzung wird auch von Kätzel (2002), S. 2 und Dehnavi (2013), S. 29 geteilt; ironischerweise bilden bei beiden letztlich auch wieder die Geschlechterkonflikte und die Gründung von geschlechtshomogenen Studentinnengruppen den Fluchtpunkte der Darstellungen. 55 Vgl. z.B. Heinrich-Böll-Stiftung/Feministisches Institut (1999); Kätzel (2002). 56 Vgl. Fichter/Lönnendonker (2008).

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verständlichen, aber wenig beachteten Mitarbeit von Frauen im SDS sind, ist eine Frage, die sich aus der vorliegenden Aufarbeitung von Verbandsgeschichte nur unzureichend beantworten lässt. Vor dem Hintergrund der hier präsentierten Ergebnisse erscheint eine stärkere Forschungsfokussierung von Frauen im SDS als Teil eines gemischtgeschlechtlichen politischen Studierendenverbandes durchaus interessant und wünschenswert.

1.4 D EUTSCHLAND ZWISCHEN 1930 ALS L EBENSWELT

UND

1970

Der folgenden Beschreibung Deutschlands zwischen den frühen 1930er und späten 1960er Jahren als ‚Lebenswelt‘ der SDSler_innen liegt die Konzeption von Carola Groppe zugrunde: Lebenswelt versteht sie als „das Ensemble von Umweltbedingungen, in denen Gruppen und Individuen stehen“ und welche – hier greift sie Hans-Ulrich Wehlers vier Dimensionen der Konstitution von Gesellschaft auf – die Strukturbedingungen Herrschaftssystem/Politik, Ökonomie, Sozialstruktur und Kultur umfassen.57 Die einzelnen Dimensionen werden dabei als in dialektischem Verhältnis zu einander, die Strukturbedingungen als von den Subjekten immer nur ausschnittsweise erfahrbar verstanden. Mit Hilfe dieses zwar recht allgemein gehaltenen, aber auf die wesentlichen, makrosoziologischen Einflussfaktoren begrenzten Konzepts lassen sich die äußersten Rahmenbedingungen der Sozialisation der SDSMitglieder in einer der Altersstruktur angemessenen, vergleichsweise offenen Weise darstellen. D.h. es können die Bedingungen beschrieben werden, unter denen Erfahrungszusammenhänge entstehen, ohne – wie dies der Mannheimsche Generationenbegriff verlangt – einen kollektiven Erfahrungszusammenhang selbst zu konstruieren. Die Darstellung wird sich dabei auf die Herausarbeitung der wesentlichen Kennzeichen und Tendenzen reduzieren müssen, da der relevante Zeitraum von kurzfristigen politischen Brüchen gekennzeichnet ist und zudem für die Zeit nach 1949 die entsprechenden Strukturen in den – zumindest auf den Ebenen von Politik und Wirtschaft – grundverschiedenen beiden deutschen Staaten zu erfassen hat.58 Aufgrund der Altersstruktur – Alterskohorte von 1927 bis 1949, zunehmende Zahl von Geburtsjahrgängen bis 1943/44 – und der dadurch für die Gruppe insgesamt zunehmenden Relevanz von zeitlich fortgeschrittenen Phasen wird die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg detaillierter gezeichnet als die Zeit des Nationalsozialismus.

57 Vgl. Groppe (2004), S. 22f., Zitat S. 22. 58 Zur Relevanz der DDR als Herkunftsregion vgl. Abschnitt 2. Regionale Herkunft und Mobilität.

1. G EBURTSJAHRGÄNGE , F AMILIENSTAND , G ESCHLECHT

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Vom Nationalsozialismus wird, wie gesehen, die Lebenswelt der Kindheit eines nicht unerheblichen Teils der Gruppe geprägt. Die dieser Zeit vorausgehende Krisenphase am Ende der Weimarer Republik und die ‚Machtübernahme‘ durch die NSDAP hat in diesem Zusammenhang – abgesehen von einer Person, die 1933 alt genug ist, diesen Zeitpunkt bewusst zu erleben – nur insofern Relevanz, als sie die Ausgangslage für die Entwicklungen nicht nur in den nachfolgenden 12 Jahren des NS-Staates darstellen, sondern darüber hinaus für den gesamten hier zu betrachtenden Zeitraum. Denn auch wenn dieser, wie oben bereits angemerkt, gekennzeichnet ist von weiteren Zäsuren – auf der politischen Ebene der Zusammenbruch des NSRegimes 1945 und die „doppelte Staatsgründung“59 1949, auf gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene etwa durch die Schließung der innerdeutschen Grenze im August 1961 – bedeuten diese keinen ‚Nullpunkt‘, sondern stellen zunächst einmal nur eine Veränderung von äußeren Bedingungen dar, unter denen sich die Entwicklungen auf den jeweiligen Ebenen – sowohl auf derjenigen, auf welcher der eigentliche ‚Bruch‘ zu verzeichnen ist, als auch aufgrund der genannten Interdependenzen auch auf den jeweils anderen Ebenen – fortsetzen. Diese Fortentwicklung stellt immer, das zeigt sich nicht nur in der Darstellung hier, sondern auch in den nachfolgenden Abschnitten zu den stärker fokussierten Bereichen der Bevölkerungsentwicklung und des Bildungssystems, ein komplexes Gefüge aus Veränderungen, aber auch Kontinuitäten dar. Entsprechend ist die Deutung von historischen Entwicklungen von der jeweils eingenommenen Perspektive und der Öffnung des Blickwinkels abhängig. Die Deutungen der hier betrachteten Zeitabschnitte ist durchaus umstritten (gewesen): So hat die These vom ‚deutschen Sonderweg‘60 den Nationalsozialismus als den zwangslogischen Tiefpunkt der Entwicklung Deutschlands mindestens seit dem frühen 19. Jahrhundert interpretiert, mit entsprechenden Implikationen für die Deutung der Zeit nach 1945, die hinsichtlich der Bundesrepublik vor einem solchen Hintergrund als erste Phase einer nachhaltigen Demokratisierung zu begreifen ist. Aufgrund des Fehlens einer ‚Stunde Null‘, der Fixierung auf ‚Restaurationen‘ aus Weimarer Zeit sowie die vermeintliche Stagnation in der Regierungsphase Konrad Adenauers ist diese Demokratisierung, die über die schlichte Implementierung eines politischen Systems hinaus und das politische System mit einem entsprechenden politischen ‚Geist‘ belebt, auf die späten 1960er Jahre datiert worden. Dieser Prozess wurde bislang, wie in der Einleitung dieser Arbeit dargelegt, vor allem mit den politischen Protesten der Studentenbewegung als zentralem Kern einer Chiffre ‚1968‘ in Verbindung gebracht. Von der zeithistorischen 59 Kleßmann (1991). 60 Zur Auseinandersetzung um einen „deutschen Sonderweg“ vgl. z.B. Nipperdey (1978/1986); Grebing (1986); Winkler (2002a), insbesondere S. 1-3, (2002b), insbesondere S. 640-657.

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Forschung zu den 1960er Jahren in der Bundesrepublik ausgehend, ist diese Bedeutung jener Protestphase relativiert worden, gleichzeitig sind die Entwicklungen im vorausgehenden Jahrzehnt stärker differenziert worden als eine „Modernisierung im Wiederaufbau“61, in der unterschiedliche Prozesse von Wiederanknüpfen, Kontinuität und Neuanfängen in einander greifen. In dieser Weise stellen sie die logischen Ausgangsbedingungen für ein als besonders intensive und schnelle Entwicklungsphase interpretiertes Jahrzehnt der 1960er Jahre dar. Die Geschwindigkeit und die Intensität drückt sich in den zahlreichen Topoi aus, mit denen diese Jahre belegt worden sind, z.T. bereits zeitgenössisch: „Dynamische Zeiten“, „Scharnierjahrzehnt“, „Phase der Gärung“, „Transformationsgesellschaft“, „gesellschaftlicher Aufbruch“, „Wendezeit“.62 Die Entwicklung, die hier so nachdrücklich betont wird, ist aber nichts anderes als die zuvor mit ‚1968‘ in Verbindung gebrachte „Demokratisierung“,63 und mit dieser einhergehende „Liberalisierung“ und „Individualisierung“64. Diese Interpretation der 1960er Jahre findet in der historischen Forschung gegenwärtig Konsens und ist mittlerweile für verschiedene gesellschaftliche Bereiche nachgezeichnet worden.65 Auf der politischen Ebene vollzieht sich in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik ein Wechsel von der Alleinregierung der CDU/CSU zur sozialliberalen Koalition: 1961 verliert die CDU die absolute Mehrheit im Bundestag und geht eine Koalition mit der FDP ein; aus der nachfolgenden Bundestagswahl von 1965 geht die SPD bereitsals stärkste einzelne Partei hervor, verzichtet aber zunächst auf die Regierungsbeteiligung, bis sie nach dem Scheitern einer neuerlichen Koalition aus CDU/CSU und FDP in eine Große Koalition mit der CDU/CSU eintritt. Nach der Bundestagswahl 1969, in der die SPD erneut stärkste Partei wird, koaliert die SPD mit der FDP und stellt mit Willy Brandt erstmals den Bundeskanzler. Diese Abfolge von Regierungsparteien und vier verschiedenen Kanzlern geht einher mit politischen Programmen, die gekennzeichnet sind von „Pragmatismus“ und Planbarkeitsansprüchen, mit denen die Parteien auf die gesellschaftlichen Veränderungen in den 1950er Jahren reagieren.66 Unter der Großen Koalition werden dabei eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die sich bereits in den Jahren zuvor abgezeichnet hatten: „In 61 Schildt/Sywottek (1998). 62 „Dynamische

Zeiten“:

Schildt/Siegfried/Lammers

(2003);

„Scharnierjahrzehnt“:

Schildt/Siegfried/Lammers (2003), S. 13; „Phase der Gärung“: Schönhoven (1999), zit. n. Schildt (2003), S. 23; „Transformationsgesellschaft“: Schildt/Siegfried (2009), S. 245; „gesellschaftlicher Aufbruch“, „Wendezeit“: Frese/Paulus/Teppe (2005). 63 Frese/Paulus/Teppe (2005); 64 Schildt/Siegfried (2009), S. 204, S. 249. 65 Vgl. z.B. Oertzen (1999), (2005); Paulus (2005), Gass-Bolm (2005), (2006). 66 Vgl. Schildt (2003), S. 44ff., Zitat S. 44.

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Angriff genommen wurden die Reform kommunaler Verwaltung, die Raumplanung zur forcierten Industrialisierung vormals agrarischer Regionen, Pläne für zahlreiche Kernkraftwerke mit der Perspektive, den Energiebedarf der Bundesrepublik zu einem erheblichen Anteil durch Atomstrom zu befriedigen, der Bau von Großsiedlungen an der Peripherie der Städte, die Expansion höherer Bildung mit einer starken Vermehrung der Abiturienten und ein rascher Ausbau des Hochschulwesens mit der Gründung zahlreicher neuer Universitäten und Gesamtschulen.“67 Die Große Koalition wird dabei, aufgrund ihrer Größe gegenüber der kleinen Opposition der FDP, von einer ‚Außerparlamentarischen Opposition’, zu der auch die Studentenbewegung zählt, massiv kritisiert, die Verabschiedung der Notstandsgesetze im Mai 1968 liegt allerdings schon außerhalb des für die Betrachtung der Lebenswelt der SDSler_innen durch die Quellen erfassbaren Zeitraums. In den zuvor genannten Reformen zeichnen sich die Veränderungen in der Bundesrepublik seit ihrer Gründung 1949 ab, die diese Reformen notwendig und möglich machen: Diese sind, neben einer Stabilisierung des parlamentarisch-demokratischen Systems insbesondere von einer Stabilisierung der Wirtschaft gekennzeichnet. Der maßgeblich von Marshall-Plan und durch die Verträge zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) beförderte Aufschwung ab Ende des Jahrzehnts ermöglicht einen für die Gesamtgesellschaft ungekannten Wohlstand, der sich in den 1960er Jahren in der Ausbildung einer Konsumund Freizeitgesellschaft niederschlägt.68 Am Beginn dieser Phase steht allerdings die „Modernisierung im Wiederaufbau“69, mit der zwei zentrale, in einander greifende Tendenzen der 1950er Jahre in der Bundesrepublik benannt werden: Im Zuge des Wiederaufbaus wurden nicht nur alte Strukturen wieder errichtet, sondern gleichzeitig modernisiert. Diese Entwicklung bezieht sich dabei nicht nur auf die wirtschaftlich-technische Entwicklung, sondern bildhaft übertragen auch auf die politischen und gesellschaftlichen Strukturen, doch „sinnfälliger als in einer kriegszerstörten und demontierten Fabrik, in der bald nach 1948 in erneuerten Hallen mit Maschinen des neuesten technischen Standards die Produktion wieder aufgenommen wurde, könnte ‚Modernisierung im Wiederaufbau’ kaum anschaulich gemacht werden.“70 Auf politischer Ebene kann darin die Wiedererrichtung einer parlamentarischen Demokratie beobachtet werden, in der die Mängel des Weimarer Verfassungssystems etwa durch das konstruktive Misstrauensvotum, die Abkehr vom reinen Verhältniswahlrecht oder die Reduzierung des Bundespräsidentenamts auf Re-

67 Schildt (2003), S. 47f. 68 Vgl. Hardach (2003), S. 201-206. 69 Schildt/Sywottek (1998). 70 Sywottek (1998), S. 19.

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präsentativfunktion zu beseitigen versucht wurde.71 Als Dimensionen gesellschaftlicher ‚Modernisierung’ sind eine Abschwächung von schichten- und klassengebundenen Lebensstilen, die zunehmende individuelle Motorisierung und ihre Auswirkungen auf Reisemobilität und Siedlungsweise, neue Küchen- und Haushaltstechniken mit ihren Folgen insbesondere für Frauen, sowie die Ausbreitung von Massenmedien in Form von Rundfunkgeräten und Zeitungen und den damit verbundenen Möglichkeiten zur Partizipation an gesellschaftlichen Themen genannt worden.72 Gerade diese Kennzeichen gesellschaftlichen Wandels verweisen auf den allgemein gestiegenen Wohlstand zum Ende der 1950er Jahre, der breiten Bevölkerungsanteilen einen Konsum über die Existenzsicherung hinaus ermöglichte. Am Anfang der 1950er Jahre stehen allerdings immer noch Wohnraummangel nach der Zerstörung durch den Bombenkrieg und hohe Arbeitslosigkeit und immer noch Zuströme von Flüchtlingen aus den ehemaligen Ostprovinzen. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges hatte eine Vertreibung von Deutschen aus Osteuropa sowie den Ostprovinzen, die nach Kriegsende an die Sowjetunion und Polen abgetreten werden, und annektierten Gebieten des Deutschen Reiches begonnen. Diese Flüchtlingsströme mischen sich mit den im Bombenkrieg evakuierten Teilen der Bevölkerung und stellen die Verwaltungen in den Besatzungszonen nach Kriegsende unter den Bedingungen von Nahrungsknappheit und Wohnraummangel unter weiter zunehmende Versorgungsprobleme, die mit dem vollständigen wirtschaftlichen Zusammenbruch einhergehen. Die größte Armut und insbesondere die Hungererfahrungen der ersten Nachkriegsjahre sind nach der Währungsreform 1948 in den westlichen Besatzungszonen allerdings eingedämmt worden.73 Anfang der 1950er wird auch in der DDR nicht mehr gehungert,74 allerdings kommen nun auch von dort zunehmend Flüchtlinge in die Bundesrepublik, vor allem gut ausgebildete junge Menschen, die einer neuerlichen Parteidiktatur, nun unter Herrschaft der SED, der sozialistischen Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft und der schlechten wirtschaftlichen Lage entfliehen. Diese Umgestaltung geht bereits vor der Staatsgründung 1949 einher mit der Enteignung von Industriebetrieben und der Zwangskollektivierung von Landwirtschaft in der Sowjetischen Besatzungszone durch die sowjetische Militäradministration. Die anhaltend schlechte wirtschaftliche Lage in der DDR in den 1950er Jahren ist neben der Demontage und anderen Reparationsleistungen an die Sowjetunion und dem Übergang zur Planwirtschaft gerade auf die Abwanderung von Fachkräften zurückgeführt worden. Im August 1961 sieht sich die Staatsführung der DDR veranlasst, den 71 Mommsen (1998), S. 746. 72 Vgl. Sywottek (1998), S. 17f.; Schildt (1998b), (1998c). 73 Vgl. Kleßmann (1991), S. 223ff. 74 Vgl. Schildt (1998a), S. 274.

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Flüchtlingsstrom durch die Schließung der Grenzen zu stoppen.75 Da keines von den aus der SBZ/DDR stammenden SDS-Mitgliedern nach diesem Zeitpunkt in die Bundesrepublik ausgereist ist, werden die Entwicklungen in der DDR hier nicht weiter verfolgt.76 In der Bundesrepublik setzen sich derweil die seit Ende der 1950er Jahre begonnenen Entwicklungen fort: Die ‚Vollbeschäftigung’ am Arbeitsmarkt erfordert nun etwa auch die Schaffung von Möglichkeiten zur Teilzeitarbeit für verheiratete Frauen und Mütter, nachdem die Berufstätigkeit von Müttern bislang gesellschaftlich abgelehnt und politisch nicht gefördert worden war. Das Berufspendlertum weitet sich durch Siedlungsbau am Stadtrand aus. Der Konsum von Bekleidungsartikeln, technischen Haushaltsgeräten und Massenmedien – nun mit der Ausbreitung von Fernsehgeräten – setzt sich weiter fort. Begleitet wird diese Entwicklung durch die Ausdehnung von zeitlichen Freiräumen: durch Arbeitszeitverkürzungen, durch die Entwicklung von jugendlichen Populärkulturen wie auch ein insgesamt zunehmendes politisches Interesse. Größere finanzielle und zeitliche Freiräume und die sich vervielfältigenden Angebote einer Konsumgesellschaft eröffnen damit auch zunehmend Möglichkeiten zur Ausgestaltung von individuellen Lebensstilen.77 Diese werden zudem auch durch eine sich ausweitende Liberalisierung begünstigt, die sich etwa in einer „sexuellen Informalisierung“, einer allmählichen Aufweichung von starren Geschlechterrollen, der wachsenden Akzeptanz von ziviler ‚Lässigkeit’ und insgesamt von einem Wertewandel „von der Dominanz sogenannter Pflichtund Akzeptanzwerte hin zu Selbstentfaltungswerten“ ausdrückt.78 Indem die Lebenswelt der SDSler_innen zum Ende des hier zu betrachtenden Zeitraums also ganz wesentlich von diesen Kennzeichen – Demokratisierung, Liberalisierung, Individualisierung bzw. Pluralisierung – geprägt ist, hat sich gegenüber der Ausgangssituation zu Beginn der 1930er Jahre eine vollständige Kehrtwende vollzogen: Mit der Machtübernahme der NSDAP waren alle gesellschaftlichen Bereiche den Idealen von Führerabsolutismus, deutscher ‚Volksgemeinschaft‘ und Rassenideologie unterworfen worden, z.T. mit brutalsten Mitteln und Zwangsmaßnahmen. Dazu dienten neben der Ausschaltung von politischen Gegner_innen, einer politischen ‚Gleichschaltung’ der Länder, der Einrichtung staatlicher Organisatio75 Zum politischen und gesellschaftlichen Umbau der SBZ/DDR bis August 1961 vgl. Kleßmann (1991), S. 261-303; Staritz (2000); Wehler (2008e), S. 23ff.; Lausberg (2009); Weber (2012), S. 3-55. Zur Flucht aus der DDR bis zum Beginn der 1960er Jahre vgl. Bethlehem (1982); Ackermann (1995); Hoffmann/Krauss/Schwartz (2000a). 76 Vgl. dazu auch die Abschnitte 2. Regionale Herkunft und Mobilität sowie 5. Bildungswege nach Erwerb der Hochschulreife. 77 Vgl. Schildt (2003). 78 Vgl. Frevert (2003); Schildt (2003), Zitate ebd., S. 33, S.35.

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nen für alle gesellschaftlichen Bereiche, der Errichtung einer staatsgelenkten Marktwirtschaft, der politischen Kontrolle von Bildungssystem, Kulturbetrieb und Publizistik gerade auch eine Rassen- und soziale Exklusionspolitik, durch die jüdische Staatsbürger_innen, aber auch „Geisteskranke, Asoziale, Slawen und Zigeuner“ zunächst gesellschaftlich marginalisiert und schließlich organisiert ermordet wurden.79 Durch staatliche Interventionspolitik und enorme Rüstungsausgaben konnten die konjunkturell günstigen Entwicklungen vor der Machtübernahme beschleunigt und so ein wirtschaftlicher Aufschwung begünstigt werden, der allerdings in den Absturz während des Zweiten Weltkriegs führte. Dem Krieg, in den durch Fronteinsatz, Arbeitseinsatz in der Heimat und Flak-Helfer-Einsatz weiteste Teile der Bevölkerung einbezogen wurden, wurden letztlich alle Ressourcen geopfert.80 An dessen Ende bilanzieren sich menschliche Verluste, Zerstörung und Flüchtlingsströme von gewaltigem, bis dahin unvorstellbarem Ausmaß.81 Der Zweite Weltkrieg stellt als totaler politischer und wirtschaftlicher Zusammenbruch einen ‚Wendepunkt’ in der Entwicklung zwischen dem Beginn des ‚Dritten Reiches‘ und ‚1968‘ dar. Von diesem Zusammenbruch aus entwickeln sich politische Stabilität und Wohlstand, in der Bundesrepublik früher und nachhaltiger als in der DDR, der diese Leistung nur durch den neuerlichen Einsatz von physischer und psychischer Gewalt gelingt. An der Entwicklungsphase zwischen den beiden in jeglicher Hinsicht gegensätzlichen Zeitpunkten - Machtübernahme der Nationalsozialisten und Protestphase der späten 1960er Jahre – partizipieren die SDSler_innen zwar z.T. zeitlich versetzt, als Gruppe aber eben doch vollständig. Der Zusammenbruch des Kriegsendes bleibt überdies noch lange in der Umwelt wahrnehmbar – in Trümmern, Bombenschäden und Blindgängern, in Flüchtlingslagern, Wiederaufbau- und Umsiedlungsmaßnahmen, in der Sichtbarkeit von Invaliden. Insofern ist auch die Lebenswelt der Jüngsten unter den hier untersuchten SDSler_innen zunächst noch vom Zusammenbruch gekennzeichnet, wenngleich sich diese bereits im Wiederaufbau befindet. Diese lebensweltlichen Entwicklungen im betrachteten Zeitraum betreffen die Erfahrungen von Millionen von Menschen in Deutschland, also auch von älteren Generationen. Bei diesen ergeben sie allerdings im Zusammenspiel mit früheren Erfahrungen eine andere „Erlebnisschichtung“82. Mit der Kategorie der Erlebnisschichtung wird bei Karl Mannheim einerseits die verwandte Lagerung einer Generation und andererseits die unterschiedliche Bedeutung von gleichen Erfahrungen in verschiedenen Alterskohorten erfasst. Für die Alterskohor79 Vgl. Wehler (2008d), S. 600-841, Zitat S. 652. 80 Vgl. Wehler (2008d), S. 842-937. 81 Vgl. Kleßmann (1991), S. 44-53; Wehler (2008d), S. 941-946. 82 Mannheim (1928/1964), S. 535f.

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te der SDSler_innen bilden der Zweite Weltkrieg und die Zusammenbruchserfahrung das ‚Fundament’, auf die sich die nachfolgenden Erfahrungen ‚auflagern‘. Im Vergleich dazu fallen bei den älteren Generationen diese Erlebnisse auf das ‚Fundament‘ anderer Erfahrungen. Durch diese unterschiedliche Erlebnisschichtung ergibt sich nach Mannheim eine jeweils versetzte Perspektive auf gleiche Ereignisse, die unterschiedliches Handeln von verschiedenen Generationen erklären könne.83 Entsprechend könnten mögliche Unterschiede, etwa im politischen Handeln, zwischen einer ‚68er Generation‘ und ihnen vorausgehenden Generationen wie den ‚45ern auf die Erfahrung von Zusammenbruch, Wiederaufbau und ‚Wirtschaftswunder‘ in verschiedenen Lebensabschnitten zurückgeführt werden. Inwiefern die spezifische Erlebnisschichtung allerdings tatsächlich für das politische Handeln der SDSler_innen verantwortlich ist, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht entschieden werden. Für die Analyse der politischen Sozialisation müssten sehr viel stärker individuelle Erfahrungen berücksichtigt werden. Hier konnten, wie gesagt, zunächst einmal nur die lebensweltlichen Rahmenbedingungen der Sozialisation in Kindheit und Jugend nachgezeichnet werden. Allerdings wird im weiteren Verlauf der Untersuchung zu betrachten sein, inwiefern diese Entwicklungen die Sozialisation der SDSler_innen betreffen, vermittelt etwa auch in ihren Auswirkungen auf Sozialisationskontexte wie Familienstruktur oder dem Bildungssystem.

83 Vgl. Mannheim (1928/1964), S. 535ff.

2. Regionale Herkunft und Mobilität

Nicht nur mit dem Lebensalter und dem Geschlecht verknüpfen sich, wie im vorangegangenen Abschnitt dargelegt, unterschiedliche Sozialisationsbedingungen; ein weiterer wesentlicher Faktor ist die regionale Herkunft. Die Herkunftsregion, bzw. unabhängig von der jeweiligen Lebensphase: der Lebensraum, entfaltet – auch innerhalb eines Staates – je nach geografischer Lage, (regional-)politischer Situation, Besiedelungsdichte oder kulturellen Eigenheiten unterschiedliche Einflüsse.1 Über regionale und lokale Eigenheiten von Sprache, Religion und Brauchtum ergeben sich auch historisch bedingt spezifische Unterschiede zwischen dem ländlichen und städtischen Raum.2 So ist die Geschichte der Stadt über Jahrhunderte auf das Engste verknüpft mit der Geschichte des Bürgertums, seit dem 19. Jahrhundert zudem mit der Entwicklung der Arbeiterschaft.3 Auch wenn sich diese Unterschiede zwischen den Regionen innerhalb Deutschlands wie zwischen Stadt und Land gerade im 20. Jahrhundert durch ‚Verstädterung’, wachsenden Wohlstand und eine mediale Vernetzung im weitesten Sinne und nicht zuletzt durch den Ausbau des Bildungssystems erheblich reduziert haben und der traditionelle Gegensatz ‚Stadt – Land’ als „unklar, unbestimmt und dabei wertbesetzt“ kritisiert worden ist, sind nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1950er Jahre gerade zwischen städtischen und ländlichen Regionen noch deutliche Unterschiede zu verzeichnen.4 Entsprechend sind die

1

Zur Bedeutung von räumlicher Umwelt und Kultur für die Sozialisation vgl. Grundmann (2008); Reutlinger (2008); Trommsdorff (2008).

2

Zur Geschichte der Stadt im Mittelalter vgl. grundlegend Isenmann (1988); zur Entwicklung der Stadt als ‚mittelalterliche Bildungswelt‘ vgl. Kintzinger (2003); ferner Groppe (2003).

3

Vgl. Tenfelde (1994). Zur Entwicklung von ‚Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum‘ aus dem ‚Stadtbürgertum‘ vgl. z.B. Kocka (1987b); Wehler (2008b), S. 211ff.

4

Hahn (2005), S. 233. Tenfelde (2012), S. 313 verweist darauf, dass die – auch gegenwärtig noch wahrzunehmenden – Unterschiede zwischen Stadt und Land zum ‚Gegensatz‘ wer-

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Sphären von Stadt und Land auch als Lebensraum von Kindern und Jugendlichen untersucht worden: Nachdem bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Fokus vor allem auf die Großstadt gerichtet wurde, gilt die Aufmerksamkeit in den 1950er und 1960er Jahren vor allem der „Lebenslage der westdeutschen Landjugend“.5 Die Unterschiede zwischen Stadt und Land liegen nach dem Krieg nicht nur im Zerstörungsgrad durch den Bombenkrieg oder in der Verteilung von Flüchtlingen, sondern nach wie vor auch in unterschiedlichen Lebensweisen, die sich insbesondere auch aus den unterschiedlichen Arbeitswelten ergeben. Zwar verändern ab den 1950er Jahren stärkere Rationalisierung und Technisierung von landwirtschaftlichen Arbeitsprozessen, der Ausbau von Verkehrswegen und Industrieansiedlung im ländlichen Raum zunehmend den ländlichen Raum und verstärken weiter die Verflechtung von Stadt und Land.6 Auch gleicht sich bis zur zweiten Hälfte der 1960er Jahre die Verbreitung von Konsum- und Haushaltsgeräten sowie Unterhaltungselektronik zunehmend an.7 Jedoch konstatieren oben genannte Studien noch in den späten 1960er Jahren, dass auf dem Land „ganze Bevölkerungsgruppen mehr oder weniger noch einem vorindustriellen Lebensrhythmus unterliegen.“8 Entsprechend setzt etwa auch die im letzten Drittel der 1950er Jahre zu beobachtende Ausdehnung von Freizeit bei gleichzeitiger Entwicklung einer eigenständigen Jugendfreizeitkultur gegenüber der Stadt zeitlich verzögert erst in den 1960er Jahren ein.9 Weitere Indizien sind – neben dem jeweiligen Angebot an Kultureinrichtungen wie Theater, Kinos und Museen – der Ausbau von Verkehrswegen und insbesondere der Ausbau von Bildungseinrichtungen.10 Die in den 1960er Jahren unübersehbar zu Tage getre-

den, „sobald Unterschiede zeitgenössisch kommuniziert und reflektiert, in ein absichtsvolles zeitgenössisches Verstehen projiziert werden und die Summe der je festgestellten Differenzen in den Kern solchen Verstehens gerückt wird.“ 5

Zum „Lebensraum des Großstadtkindes“ vgl. Muchow/Muchow (1935); zur Landjugend die Studien von Planck (1956), (1970).

6

Zur Veränderung der ländlichen Gesellschaft in der Bundesrepublik in den 1950er im Zusammenhang mit landwirtschaftlicher Produktionsweise und Landwirtschaftspolitik vgl. als Überblick Bauerkämper (1998); bereits zeitgenössisch vgl. die Studien von Planck (1956), (1970).

7

Vgl. Planck (1970), S. 36f.

8

Planck (1970), S. 129.

9

Zur Ausdehnung von Freizeit und Veränderung des Freizeitverhaltens in den 1950er Jahren sowie ihren Voraussetzungen vgl. Schildt (1995), insbesondere S. 73ff. Zur Entwicklung eigenständiger Jugendfreizeitkulturen vgl. ferner Schildt (1998b).

10 Zur Entwicklung von Kultureinrichtungen nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. z.B. Schildt/Siegfried (2009); zur Bedeutung von Verkehrsentwicklung und Verkehrspolitik der

2. R EGIONALE H ERKUNFT UND M OBILITÄT

| 117

tene maßgebliche Bedeutung des Lebensraums für die Bildungschancen ist seither einzuschränken versucht worden – durch den Ausbau von Schulen in ländlichen Gebieten, verbunden mit Bildungswerbung bei der ländlichen, insbesondere katholischen Bevölkerung und vor allem mit Blick auf die Bildungsbeteiligung von Mädchen, als auch durch die Angleichung von systematischen Unterschieden zwischen einzelnen Bundesländern.11 Auch die zahlreichen Hochschulneugründungen seit jener Zeit dienten – neben dem rein quantitativen Ausbau des Hochschulsystems zur Kompensation der stetig steigenden Studierendenzahlen –dem Abbau von regionalen Unterschieden im Angebot von tertiärer Bildung. Die Unterschiede in der Universitätslandschaft als Resultat ihrer Jahrhunderte langen Entwicklung traten im Gegensatz zu den allgemeinbildenden Schulen jedoch nicht nur in Form eines Stadt-Land-Gefälles zu Tage, sondern betrafen mit dem Ruhrgebiet auch das größte Ballungsgebiet und den wichtigsten Industriestandort der Bundesrepublik, in dem es bis zur Gründung der Universität in Bochum im Jahr 1962 keine Universitäten gab.12 In der SBZ/DDR stellt sich die Entwicklung von regionalen Unterschieden und dem ‚Stadt-Land-Gegensatz’ durch das grundverschiedene politische System anders dar: Die sozialistische Umgestaltung von Staat und Gesellschaft bedurfte wesentlich eines Abbaus von politischen, sozialen und eben auch regionalen Unterschieden, die neben zahlreichen politischen Maßnahmen zum Abbau von sozialen und wirtschaftlichen Vorrangstellungen einzelner sozialer Gruppen zugunsten von ‚Arbeitern und Bauern’ und dem Zurückdrängen nicht-staatlicher Organisationen zugunsten einheitlicher staatlicher Institutionen bereits frühzeitig um die Nivellierung des ‚Stadt-Land-Gegensatzes’ bemüht war.13 Bereits 1946 wurde die Gleichwertigkeit von städtischen und ländlichen Bildungseinrichtungen zu einem Anliegen der – im Gegensatz zur Bundesrepublik zentralistisch gesteuerten – Bildungspolitik; die Gleichartigkeit wurde in einem gestuften Einheitsschulsystem verankert, dabei aber die ‚schematische Übertragung’ städtischer Verhältnisse auf die ländliche Regionen abgelehnt und den Landschulen die Möglichkeit eingeräumt, auf die jeweiligen re1950er Jahre in Großstädten und in ländlichen Gebieten vgl. Südbeck (1998); zu den Problemen des ländlichen Schulwesens bis in die 1960er Jahre vgl. Kenkmann (2003). 11 Vgl. Kenkmann (2003). Von den Bildungsdiskussionen der 1960er Jahre ausgehend hat sich – die soziologische Forschung zur Sozialstruktur um die Dimension des geografischen Raumes erweiternd – eine systematische Erforschung von sozial-regionaler Ungleichheit entwickelt. Die Forschung fokussiert insbesondere auf Bildung als einem wesentlichen Steuerungselement des Zugangs zu sozialen Positionen; vgl. Ditton (2008). 12 Vgl. Oehler (1998), S. 433f. 13 Zur ‚sozialistischen Umgestaltung‘ der SBZ nach 1945 vgl. Staritz (2000), S. 14ff.; Wehler (2008e), S. 23ff.; Lausberg (2009), S. 46ff; Weber (2012).

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gionalen Bedingungen zu reagieren.14 Letztlich diente auch die Kollektivierung der Landwirtschaft zwischen 1952 und 1960 nicht nur der Neuordnung der landwirtschaftlichen Besitz- und Produktionsverhältnisse, sondern wurde auch als eine Voraussetzung „zur angestrebten Überwindung der Rückständigkeit des Landes und zur Aufhebung des Stadt-Land-Gegensatzes“ initiiert.15 Ausgeprägte Urbanisierungserscheinungen – etwa als Ausbau der Infrastruktur oder Siedlungsbau – traten jedoch aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Ausgangssituation und der damit einhergehenden verspäteten Modernisierung der Produktionsprozesse im Vergleich zur Bundesrepublik erst zeitlich verzögert nach den 1960er Jahren auf oder blieben aufgrund der Abwanderung aus der Landwirtschaft, die größere Ausmaße annahm als politisch erwünscht, ganz aus.16 In Anbetracht der Altersstrukturen der SDS-Gruppe und des daraus abgeleiteten relevanten Sozialisationszeitraums ist die Erfassung der regionalen Herkunft allerdings nicht nur vor dem Hintergrund von regionalen Unterschieden in Sprache, Religion und Brauchtum, von Unterschieden in urbanen und ländlichen Lebensweisen, von regional verschiedenen Bildungschancen interessant und relevant. In der Zeit des Zweiten Weltkriegs und bis in die 1950er Jahre hinein sind die größten Bevölkerungsverschiebungen in der Geschichte Europas zu verzeichnen; allein auf dem Gebiet des Deutschen Reiches kommt es bis Ende der 1940er Jahre zu einer riesigen, von Flucht und Vertreibung getriebenen Wanderungsbewegung von rund 15 Millionen Menschen, die aus den Provinzen und annektierten Gebieten im Osten nach Westen fliehen.17 Nach Gründung der beiden deutschen Staaten setzt sich die Wanderungsbewegung als Flucht aus der DDR in die Bundesrepublik noch bis zur Schließung der innerdeutschen Grenze durch den Bau der Berliner Mauer im August 1961 weiter fort.18 Die Mitglieder der betrachteten SDS-Gruppe stammen ursprünglich, so zeigt eine entsprechende Erfassung der Geburtsorte, aus allen Regionen des existierenden oder vormaligen Deutschen Reiches und seiner besetzten Gebiete. Daraus ergeben sich nicht nur regional variierende kulturelle Einflüsse; eine über den Geburtsort hinausgehende Analyse der regionalen Mobilität offenbart ferner einen engen Zu14 Vgl. Baske (1998), insbesondere S. 165. 15 Vgl. Humm (1999), S. 14ff., Zitat S. 15. 16 Vgl. Humm (1999), insbesondere S. 307ff. 17 Vgl. Hoffmann/Krauss/Schwartz (2000b), S. 9f. 18 Zur Flucht aus den ehemaligen Ostgebieten, aus der DDR und Wanderungsbewegungen innerhalb der Bundesrepublik bis zum Beginn der 1960er Jahre vgl. Bethlehem (1982); Ackermann (1995); Hoffmann/Krauss/Schwartz (2000a). Speziell zu Flüchtlingskindern vgl. Ackermann (2000).

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sammenhang zwischen Geburtsregion und Mobilität, der bedingt ist durch eine direkte Betroffenheit vom Zweiten Weltkrieg. Eine solche Analyse der Mobilität erlaubt eine präzisere Betrachtung des Sozialisationsraums, da der Geburtsort nicht unbedingt identisch ist mit dem Ort des Aufwachsens, zumal, wenn sich der Sozialisationsraum durch Ortswechsel unter Umständen auch mehrfach geändert hat. Am höchsten ist die regionale Mobilität in Kindheit und Jugend bei Herkunft aus den ehemaligen deutschen Ostprovinzen, mit der sich in besonderem Maße – das bestätigen auch die Darstellungen in den Lebensläufen – Erfahrungen von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung verknüpfen; am niedrigsten ist die Mobilität bei Geburt auf dem Gebiet der späteren Bundesrepublik, wobei auch hier Kriegserfahrungen wie Evakuierung und Ausbombung eine Rolle spielen. Die Herkunft aus Berlin geht in der Kindheit oftmals einher mit einer Zirkelmobilität – bedingt durch Evakuierung ins Umland und Flucht nach dessen Besetzung durch die Sowjetarmee. Einige auf dem Land geborene SDSler_innen sind dort in der Evakuierung der Eltern geboren, mit denen sie nach Kriegsende in deren großstädtische Wohnorte zurückziehen. Entsprechend der Fluchtbewegungen während des Zweiten Weltkrieges und insbesondere in der Zeit danach ergibt sich insgesamt eine Verschiebung in Richtung des Nord-Westens der Bundesrepublik, darüber hinaus ist eine Bewegung in Richtung (Groß-)Städte zu verzeichnen. Die regionale Mobilität ist jedoch keineswegs nur kriegsbedingt, sondern insbesondere nach Kriegsende auch berufsbedingt, gleichwohl die Zerstörung im Krieg weiterhin einen Faktor darstellt. Die berufliche Veränderung des Vaters – durch Versetzung, Geschäftsneugründung, neue Anstellung, Berufung – wird bei Herkunft aus dem Gebiet der späteren Bundesrepublik als Grund von Ortswechseln am häufigsten genannt. Nicht-kriegsbedingte Gründe sind ferner die Betreuung durch Verwandte, bedingt durch den Tod oder die Erkrankung von Elternteilen, die Scheidung von Eltern verbunden mit dem Umzug des sorgeberechtigten Elternteils sowie als schulische Gründe Internatsbesuche oder Auslandsschuljahre. Die Mobilität in Kindheit und Jugend hat in Form von Schulunterbrechungen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und Schulwechseln insbesondere Auswirkungen auf die Bildungsverläufe, wie die nachfolgende Untersuchung in Abschnitt 4 zeigt. In dieser Hinsicht sind etwa ‚verspätete’ Schulentlassungen sowie Probleme beim Wechsel zwischen den verschiedenen Besatzungszonen, Bundesländern bzw. zwischen DDR und Bundesrepublik zu verzeichnen. Diese Wechselprobleme aufgrund der Unterschiede im föderal gegliederten Bildungssystem sind bereits zeitgenössisch als Problem wahrgenommen worden.19 19 Die mit Schulwechseln zwischen Besatzungszonen bzw. Bundesländern verbundenen Schwierigkeiten wurden alsbald in der öffentlichen Wahrnehmung als „Schulchaos“ aufge-

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Nach dem Ende der Schulzeit setzt sich, z.T. bedingt durch den Studienbeginn an anderen Universitäten, die Mobilität in Richtung (Groß-)Städte fort, so dass der Aufenthaltsort zum Zeitpunkt der Bewerbung an der FU nur noch in Einzelfällen im ländlichen Bereich liegt. Da viele der Bewerber_innen aus Berlin stammen oder in der Zwischenzeit dorthin gezogen sind, ist die Freie Universität zunächst einmal als eine lokal wichtige Bildungsinstitution zu betrachten; gleichzeitig – das zeigen die zahlreichen Bewerber_innen aus dem restlichen Bundesgebiet – geht von der FU eine hohe überregionale Attraktivität aus, die in vielen Fällen auch mit dem Reiz der Stadt Berlin verknüpft ist, wie zahlreiche Begründungen der Bewerbungen an der FU nahe legen.20 Die Untersuchung von regionaler Herkunft und Mobilität fördert somit neben der in Abhängigkeit von der Herkunftsregion unterschiedlich hohen Mobilität zwei zentrale Ergebnisse zu Tage: Zum einen die direkte Betroffenheit eines knappen Drittels durch den Zweiten Weltkrieg in Kindheit und Jugend – 57 Personen schildern Ortswechsel im Zusammenhang von Flucht, Evakuierung, Kinderlandverschickung, Ausbombung, Ausweisung und Verfolgung21 – sowie im Zusammenspiel von Herkunft und Umzügen in (Groß-)Städte eine letztlich mehrheitliche Sozialisation in urbanen Lebensräumen: Am Ende der Schulzeit wohnen rund 80% der SDSler_innen in Groß- und Mittelstädten. Nachfolgend werden die Ergebnisse dieser Analyse detailliert aufgeführt und in ihrem historischen Kontext diskutiert.

2.1 G EBURTSORT Die hier untersuchten SDSler_innen stammen aus allen Regionen des ehemaligen Deutschen Reiches, einzelne sind auch in vom NS-Regime annektierten Gebieten, in den Besatzungszonen der Nachkriegszeit oder im Ausland geboren. Wie die Ergebnisse zu den Geburtsjahrgängen (1927-1949) bereits nahe legen, ist keines der Mitglieder in den Staaten der Bundesrepublik oder DDR geboren – das einzige fasst, das die Kultusministerkonferenz Anfang der 1950er Jahre zur Vorbereitung eines Abkommens zwischen den Ländern zur Vereinheitlichung des Schulwesens veranlasste. Vgl. Froese (1969), S. 68ff.; Furck (1998a), S. 248. Das Zitat findet sich bei beiden: Froese (1969), S. 70; Furck (1998a), S. 248. 20 Zur qualitativen Analyse der Gründe für eine Bewerbung an der FU s. Teil III. 21 Dieser Anteil liegt insgesamt noch etwas höher durch die Betroffenheit der Familie durch Tod, Versehrtheit und Kriegsgefangenschaft des Vaters; vgl. Abschnitt 3. Soziale Herkunft und familiale Situation.

2. R EGIONALE H ERKUNFT UND M OBILITÄT

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1949 geborene Mitglied stammt aus der SBZ, ein halbes Jahr vor Gründung der DDR. Diese regionale Verteilung hat letztlich Auswirkungen auf die regionale Mobilität (s.u.). 33 SDS-Mitglieder (18,2%) werden bis 1945 in Gebieten geboren, die nach Kriegsende nicht mehr zu Deutschland gehören. 22 von ihnen stammen aus den ehemaligen Ostprovinzen des Deutschen Reiches (Ober- und Niederschlesien 15, Pommern 3, Ostpreußen 4); vier werden in annektierten Gebieten Polens (1), Frankreichs (1), der Tschechoslowakei (2), zwei in Danzig geboren. Fünf sind während der Evakuierung der Eltern in Österreich geboren, das seit 1938 an das Deutsche Reich „angeschlossen“ war. Weitere 23 SDSler_innen (12,7%) stammen aus den mitteldeutschen Gebieten der späteren Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), drei weitere sind dort zum Zeitpunkt der sowjetischen Besatzung geboren. Fast alle Mitglieder, die aus diesen Gebieten stammen, berichten von typischen Kriegserfahrungen wie Flucht und Vertreibung im und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, von Ausweisung nach dem Krieg, von Enteignungen der Eltern sowie von Flucht aus der DDR. 36 der SDSler_innen (20,1%) sind in Berlin geboren, 75 (41,4%) auf dem Gebiet der späteren Bundesrepublik. Jeweils ein Mitglied ist mit deutscher Staatsangehörigkeit in Rumänien, in Italien und in der Schweiz geboren, ein Mitglied ist spanischer Nationalität. Damit weist die regionale Verteilung der Geburtsorte keine signifikanten Auffälligkeiten auf, lediglich die Herkunft aus dem Gebiet der späteren SBZ/DDR ist gegenüber den anderen Regionen etwas geringer. Eine getrennte Betrachtung der Gruppen bis Sommer 1967 und der Neumitglieder aus der Zeit danach lässt einige Unterschiede bei der Herkunft zu Tage treten, die im Zusammenhang stehen mit den unterschiedlichen Altersstrukturen der beiden Vergleichsgruppen. So finden sich 52 der insgesamt 181 SDS-Mitglieder, die aus Territorien des Deutschen Reiches stammen, die nach 1945 nicht mehr zu Deutschland gehören oder unter sowjetische Besatzung fallen, in der etwas älteren Gruppe ‚Vor Sommer 1967’, während in der Gruppe der Neumitglieder gerade noch drei in den Ostprovinzen geboren sind und nur noch ein Mitglied in dem Gebiet der späteren SBZ geboren ist. Allerdings sind alle drei in der SBZ geborenen in dieser Gruppe zu finden. Demgegenüber liegt in der Gruppe ‚Vor Sommer 1967’ der Anteil der in der späteren BRD Geborenen bei 38,1% (51 Mitglieder), während dieser Anteil bei den Neumitgliedern mehr als die Hälfte ausmacht, nämlich 58,5%. In der Gruppe ‚Vor Sommer 1967’ werden insgesamt 96 verschiedene Geburtsorte genannt. 47 davon liegen in den ehemaligen Ostprovinzen, den annektierten Gebieten und auf dem Gebiet der späteren SBZ/DDR, zwei im nicht-deutschen Ausland und 44 in der späteren Bundesrepublik. Berlin ist mit 28 Nennungen der mit Abstand häufigste Geburtsort; 13 Mitglieder kommen aus dem späteren WestSektor der Stadt, drei aus dem späteren Ost-Sektor, für den Rest liegen keine ent-

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sprechenden Informationen vor. Der zweithäufigste Geburtsort ist Frankfurt a.M. mit vier Nennungen. Auch in der Gruppe der Neumitglieder ist Berlin der wichtigste Herkunftsort mit acht Nennungen, gefolgt von Hannover und Ludwigsburg mit jeweils zwei Nennungen. Insgesamt sind hier 31 verschiedene Geburtsorte zu verzeichnen. Betrachtet man die regionale Verteilung der Geburtsorte in der späteren Bundesrepublik, zeigen sich leichte Unterschiede bei den beiden Vergleichsgruppen. In der Gruppe „Vor Sommer 1967“ ist die regionale Verteilung zwischen Norden (Eutin) und Süden (Konstanz) und zwischen Osten (Helmstedt) und Westen (Aachen) gleichmäßig und entspricht in etwa regionaler Bevölkerungsdichte. So stammt mit 13 Personen die größte regionale Gruppe aus dem späteren Bundesland NordrheinWestfalen, lediglich eine aus dem Saarland. 44 verschiedene Orte werden genannt. Bei den Neumitgliedern ist eine leichte Konzentration bei der Herkunft aus dem Gebiet des späteren Niedersachsen bzw. der britischen Besatzungszone zu verzeichnen (10 Mitglieder = 21,3% bzw. 41,7% der in der späteren Bundesrepublik Geborenen). Die restlichen stammen aus dem späteren Hessen (5) und Westfalen (3, ebenfalls Britische Besatzungszone), nur noch einzelne Mitglieder aus Süd- und Norddeutschland. Diese Daten geben jedoch nur ein erstes Bild über die regionale Herkunft ab, da – wie eingangs bereits erwähnt und im nachfolgenden Teil näher ausgeführt – in vielen Fällen die Kindheit nicht oder nur teilweise am Geburtsort oder in der nächsten Umgebung verbracht wurde. In einigen Fällen ist der Geburtsort ein Ausgangspunkt für z.T. hohe Mobilität in Kindheit und Jugend.

2.2 M OBILITÄT Die Mobilität der SDS-Mitglieder in Kindheit und Jugend – in diesem Abschnitt wird die Mobilität bis zum Ende der Schulzeit betrachtet – ist unterschiedlich hoch. Knapp 18% (32) sind in ihrem Geburtsort aufgewachsen, für weitere fast 14% (25) fällt der Umzug vom Geburtsort zu dem Ort, an dem sie aufwachsen, in die Zeit vor dem dritten Lebensjahr, so dass fast ein Drittel der Gruppe keinen Ortswechsel erlebte oder zumindest keine eigenen Erinnerungen daran haben wird.22 Die anderen gut zwei Drittel (124 = 68,5%) erleben in Kindheit und Jugend gleichmäßig mindestens ein bis vier Ortswechsel, in zwei Fällen werden fünf bzw. sechs Ortswechsel geschildert; in Einzelfällen wird Zahl der Ortswechsel und die damit einhergehenden Schulwechsel als „häufig“ oder „des öfteren“ oder mit Verweis auf „verschiedene Versetzungen“ oder „ständigen Stellungswechsel“ des Vaters zusam22 Zur Entwicklung des Gedächtnisses vgl. Markowitsch (2009).

2. R EGIONALE H ERKUNFT UND M OBILITÄT

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mengefasst. In den meisten hier erfassten Fällen gehen mit den Umzügen Schulwechsel, während des Krieges auch Unterbrechungen des Schulbesuchs einher und in vielen Fällen werden die Ortswechsel auch im direkten Zusammenhang mit der Beschreibung der Schulkarrieren erwähnt; in einigen Fällen werden diese Ortswechsel jedoch als eigenständiger Teil der Biografie geschildert.23 In einzelnen Fällen wird auch nach einem Umzug weiter dieselbe Schule besucht, mit der Konsequenz längerer Anfahrten mit der Bahn oder mit dem Fahrrad. Hier wiederholt sich der Zusammenhang zwischen Alter und Geburtsort: So ist bei den vergleichsweise älteren Jahrgängen mit Herkunft aus den ehemaligen Ostprovinzen die Mobilität am höchsten, bei jüngeren Jahrgängen aus dem Gebiet der späteren Bundesrepublik ist die Mobilität vergleichsweise gering. Hier zeichnet sich ab, dass die Mobilität zwar keineswegs ausschließlich, aber eben doch wesentlich vom Zweiten Weltkrieg beeinflusst wurde. Die SDSler_innen, die aus ehemaligen Ostprovinzen stammen, schildern ihre Migrationsgeschichte sämtlich im Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung, diejenigen aus den ehemaligen besetzten Gebieten z.T. auch im Zusammenhang mit der Ausweisung nach Kriegsende. Dieser Zusammenhang wird selbst dann erwähnt, wenn die Verfasser_innen eigentlich zu jung waren, um diese Erfahrung bewusst gemacht zu haben; offensichtlich wird sie als Teil der eigenen Biografie begriffen. Die Wanderungsbewegung vollzieht sich, im Wesentlichen der Flüchtlingsbewegung am Ende des Zweiten Weltkriegs (s.u.) entsprechend, in der Regel über mehrere Stationen, oftmals über Norddeutschland, und endet zunächst in einer vorübergehenden Ansiedelung in kleinstädtischen und ländlichen Gebieten, der in der Regel mindestens ein weiterer Umzug, z.T. in großstädtische Gebiete folgt, zumeist im Zusammenhang mit Familienzusammenführung, mit der Aufnahme einer Berufstätigkeit des Vaters oder dem Bezug einer eigenen oder größeren Familienunterkunft. In fünf Fällen endet die Flucht aus dem Osten zunächst in der SBZ, in drei dieser Fälle flüchtet die Familie nach Gründung der beiden deutschen Staaten nach Westen, die übrigen beiden Mitglieder flüchten erst zum Zeitpunkt des Studiums nach West-Berlin. Auch die Wanderungsbewegungen der SDSler_innen, die aus dem Gebiet der (späteren) SBZ/DDR stammen, stehen größtenteils im Zusammenhang mit der Flucht bzw. Ausreise aus der SBZ/DDR in die Bundesrepublik – neben Ausbombung, Evakuierung und Kinderlandverschickung als kriegsbedingter Migration und, seltener, Umzügen aufgrund beruflicher Veränderungen des Vaters nach Ende des Krieges. In Einzelfällen geht der Flucht die Enteignung der Familie voraus. In einem Fall reist die Familie dem in die UdSSR verschleppten Vater nach, um nach der Rückkehr in DDR nach West-Berlin zu flüchten. Manche SDSler_innen halten 23 Vgl. dazu Teil III, Konstruktionen eines ‚akademischen Selbst‘

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sich bei Schließung der innerdeutschen Grenzen im August 1961 bei Verwandten in der Bundesrepublik auf und kehren nicht in die DDR zurück. Am Ende ihrer Schulzeit leben nur noch zehn derjenigen, die auf dem Gebiet der (späteren) SBZ/DDR geboren werden, in der DDR. Diese verlassen die DDR spätestens während des Studiums. Die Migration derjenigen, die in Berlin geboren sind, steht meistenteils im Zusammenhang mit Evakuierung, Kinderlandverschickung und Ausbombung; mehr als die Hälfte (20) derjenigen, die dort geboren sind, berichten von entsprechenden Erfahrungen, in einzelnen Fällen in Kombination mit Flucht aus der Evakuierung. Die Verweildauer an einzelnen Orten fällt hier entsprechend z.T. recht kurz aus – zuweilen dauert sie kaum ein Jahr. Nur etwa die Hälfte zieht nach dem Krieg wieder zurück nach Berlin, die andere Hälfte zieht in die Bundesrepublik. Die meisten aus dem (späteren) Ostsektor der Stadt Stammenden ziehen - ähnlich den aus der SBZ/DDR Stammenden – bis zum Ende der Schulzeit in den Westsektor oder in die Bundesrepublik. Kriegsbedingte Migration durch Evakuierung, Ausbombung und Kinderlandverschickung sind keineswegs ein auf Berlin beschränktes, sondern sind ebenfalls bei den entsprechenden Geburtsjahrgängen im Zusammenhang mit der Herkunft aus mittel- und westdeutschen Städten insgesamt anzutreffen; allerdings bleibt das Phänomen der Zirkelmigration in der SDS-Gruppe auf die Herkunft aus Berlin beschränkt, bedingt etwa durch Flucht oder Rückreise aus der Evakuierung aus dem Umland, das zunehmend unter sowjetische Kontrolle geriet. Im Gegensatz zu der hohen, kriegsbedingten Mobilität der SDSler_innen aus den ehemaligen Ostprovinzen stammt der größte Anteil derjenigen, die keinen Ortswechsel in der Schulzeit erlebt haben, aus dem Gebiet der späteren Bundesrepublik (35). Unter diesen betonen einzelne auf dem Lande Geborenen das ruhige Verleben der Kriegsjahre. Auch einige in der (späteren) SBZ Geborene erleben in Kindheit und Jugend keine Ortswechsel und flüchten erst während des Studiums nach West-Berlin (6). Die Richtung der Mobilität verläuft aufgrund der Flucht aus dem Osten insgesamt westwärts und entsprechend der Migrationsmuster am Ende des Zweiten Weltkriegs tendenziell nach Norddeutschland, wobei den Wanderungsbewegungen innerhalb der Bundesrepublik keine Richtung zuzuschreiben ist. Ferner verläuft die Mobilität insgesamt in Richtung (Groß-)Stadt. Wanderungsbewegungen von Städten in den ländlichen Bereich sind fast ausschließlich kriegsbedingt und in der Regel nur vorübergehend zu verzeichnen. Entsprechend wohnt der größte Teil der SDSler_innen am Ende der Schulzeit in Städten, davon etwas mehr als die Hälfte

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(55,8%) in Großstädten von über 100.000 Einwohner_innen24: 38 und damit ein Fünftel (21,0%) wohnen in Berlin; sieben wohnen in Bremen, sechs in Hamburg, je vier in Hannover und Lübeck, jeweils drei in München, Stuttgart und Frankfurt/Main, je zwei in Düsseldorf, Aachen, Bielefeld, Kiel, Heidelberg, Halle/Saale, Münster, Braunschweig und Wiesbaden, jeweils eine_r in Leipzig, Dresden, Essen, Bochum, Krefeld, Duisburg, Ludwigshafen, Oberhausen, Saarbrücken, Nürnberg, Kassel, Darmstadt und Bremerhaven. Damit wohnen 38,1% in Städten von rund 500.000 und mehr Einwohner_innen.25 Demgegenüber steht ein Anteil von knapp einem Fünftel (19,3%), die in Kleinstädten von weniger als 20.000 Einwohner_innen und auf dem Lande aufwachsen. Vier SDSler_innen leben im Ausland: Spanien (Madrid), Schweiz (Genf, Biel) und Brasilien (Ort unbekannt) 26. Die hier im Zusammenhang von Alter und Herkunft herausgearbeiteten Migrationsmuster stellen keineswegs Auffälligkeiten dar, sondern sind absolut typisch für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit bis in die 1950er Jahre, im Zusammenhang mit der Flucht aus der SBZ/DDR sogar noch bis Anfang der 1960er Jahre. Entsprechend werden Flucht und Migration als typische Kriegsund Nachkriegserfahrungen diesen Abschnitt abschließend eingehender betrachtet, um die vorgestellten Ergebnisse in ihren historischen Kontext zu stellen. Ebenso wird der „Lebensraum des Großstadtkindes“27 einer eingehenden Betrachtung unterzogen. Zuvor aber schließt die Präsentation der jeweiligen Aufenthaltsorte zum Zeitpunkt der Bewerbung an der FU die Analyse von regionaler Herkunft und Mobilität ab.

2.3 AUFENTHALTSORT

BEI

B EWERBUNG

Nachdem bereits am Ende der Schulzeit der überwiegende Teil der SDSler_innen in Städten wohnt, verstetigt sich dieser Trend bis zur Bewerbung an der FU. Durch 24 Zu den Bevölkerungszahlen der Städte vgl. Statistisches Bundesamt (1952); Staatliche Zentralverwaltung für Statistik (1956). Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gilt die statistische Festlegung von ‚Großstädten‘ auf 100.000 Einwohner_innen; vgl. Tenfelde (2012), S. 316. 25 Stuttgart, Bremen, Hannover und Duisburg überschreiten die Grenze von 500.000 Einwohner_innen erst im Verlaufe der 1950er Jahre; bis in die 1970er Jahre sinkt die Zahl der Einwohner_innen in Duisburg wieder unter 500.000. Dresden, das bei Kriegsbeginn deutlich über 600.000 Einwohner_innen aufwies, liegt nach dem Krieg knapp unter 500.000 und überschreitet diesen Wert wiederum im Verlauf der 1960er Jahre; vgl. Statistisches Bundesamt (1953ff.); Staatliche Zentralverwaltung für Statistik (1956ff.). 26 Von insgesamt neun Personen ist der genaue Wohnort am Ende der Schulzeit unbekannt. 27 Muchow/Muchow (1935).

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den Umzug auch von SDSler_innen aus Kleinstädten und dörflichen Gemeinden nach Schulabschluss, etwa zum Studien- oder Ausbildungsbeginn, aber auch durch Ausreise bzw. Flucht in die Bundesrepublik der bis dahin der DDR Verbliebenen, nimmt der Anteil derjenigen, die sich zum Zeitpunkt der Bewerbung in (Groß)Städten aufhalten, weiter zu, während der Anteil von Bewerber_innen, deren Aufenthaltsort in Kleinstädten liegt – zumeist ist dies noch der elterliche Wohnsitz nach Ende der Schulzeit –, sich auf Einzelfälle reduziert. Nur noch ein einziges Mitglied wohnt auf dem Dorf. In einem Fall stellt der kleinstädtische Aufenthaltsort den Bundeswehrstandort dar, an dem die Wehrpflicht erfüllt wird. Der häufigste Aufenthaltsort zum Bewerbungszeitpunkt ist Berlin: Für 82 Bewerber_innen (= 45,3%) ist die Stadt der Ort, an dem sie die als Abiturient_innen, als Studierende der Technischen Universität oder der Pädagogischen sowie Kirchlichen Hochschule, als Studierende an der Freien Universität im Rahmen des Studierendenaustauschs mit der Bundesrepublik sowie als DDR-Flüchtlinge – diese z.T. als Studierende der Humboldt-Universität im Ostsektor der Stadt geflüchtet – ansässig sind. Manche Bewerber_innen halten sich jedoch zum Zeitpunkt der Bewerbung nur vorübergehend bei Verwandten oder Freund_innen auf. Der zweithäufigste Aufenthaltsort ist nun München (8), wohin einige Bewerber_innen nach dem Abitur zum Studium gezogen sind, ähnliches gilt auch für andere Universitätsstädte wie Hamburg (7), Freiburg (6), Frankfurt (5), Bonn (4), Göttingen (3), Stuttgart (3) sowie Kiel (2), Köln (2), Mainz (2), Münster (2) und Saarbrücken (2).28 Z.T. sind in den genannten Städten aber auch noch SDSler_innen als Abiturient_innen ansässig (s.o.), wie überhaupt sich zahlreiche Bewerber_innen noch am elterlichen Wohnort aufhalten. Somit lässt sich bilanzieren, dass der ‚Verstädterungsprozess‘, der im Zusammenhang mit der Mobilität im Kindes- und Jugendalter zu verzeichnen war, weiter anhält und sich die SDS-Mitglieder zum Zeitpunkt ihrer Bewerbung nun zu fast 90% in urbanen Gegenden und zu gut drei Vierteln (76,8%) in Großstädten mit 100.000 und mehr Einwohner_innen aufhalten, 64,1% in Großstädten mit mehr als 500.000 Einwohner. Zum Studium an der Freien Universität erfolgt also kaum ein Wechsel direkt aus ländlichen oder kleinstädtischen Gebieten – nur noch 6,6% wohnen in Kleinstädten und dörflichen Gemeinden – nach West-Berlin, der damals auch geteilt immer noch größten deutschen Stadt. Gleichzeitig ist auch die ‚Verwestlichung’ durch Flucht aus dem Osten abgeschlossen.

28 Zu Studienerfahrungen an anderen Universitäten vor der Studienzeit an der Freien Universität vgl. Abschnitt 5. Bildungswege nach Erwerb der Hochschulreife.

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2.4 F LUCHT UND B INNENWANDERUNG ALS TYPISCHE K RIEGS - UND N ACHKRIEGSERFAHRUNGEN IN D EUTSCHLAND Wie vorangehend aufgezeigt, schildern zahlreiche SDSler_innen eine Migrationsgeschichte im Zusammenhang von Flucht und Vertreibung, von Evakuierung, Ausbombung und Ausweisung. Dies trifft auf sämtliche Mitglieder aus ehemaligen Ostprovinzen zu; ihre Flüchtlingsbiografien müssen angesichts von rund 12 Millionen Deutschen aus den ehemaligen Ostprovinzen und Osteuropa, die zwischen 1944/45 und 1950 das verkleinerte und geteilte Nachkriegsdeutschland erreichten, als typisch betrachtet werden.29 Aber auch SDSler_innen aus der (späteren) SBZ/DDR flüchten früher oder später nach Westen – auch darin spiegeln sich typische deutsche Nachkriegsbiografien. Zwischen der „doppelten Staatsgründung“ 1949 (Kleßmann) und dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 flüchteten 2,5 bis 3,1 Millionen Menschen aus der DDR in die Bundesrepublik;30 bereits 1950 waren 1,5 Millionen Menschen aus der SBZ in der Bundesrepublik gezählt worden.31 Von diesen Wanderungsbewegungen aufgrund von Vertreibung und Flucht, bei denen eine Rückkehr an den Heimatort aufgrund der territorialen Veränderungen ausgeschlossen war, müssen Wanderungsbewegungen in Folge von Evakuierung und Kinderlandverschickung unterschieden werden, die eine Rückkehr grundsätzlich vorsahen. Ab 1944/45 flüchteten 15 Millionen Menschen aus den östlichen Provinzen des Deutschen Reiches, aus den besetzten Gebieten und aus osteuropäischen Gebieten mit deutscher Siedlungstradition vor den Auswirkungen „eines furiosen Gegenschlags gegen die nationalsozialistische Bevölkerungs- und Rassenpolitik im Osten“ und den „Racheorgien der Roten Armee“, mindestens 1,71 Millionen starben bei Vertreibungsaktionen oder auf der Flucht, rund 12,45 Millionen erreichten Mittel- und Westdeutschland.32 1950 machten Flüchtlinge und Vertriebene etwa 16% der Bevölkerung in der Bundesrepublik aus, in der DDR machten die „Umsiedler“ – so zunächst die offizielle Sprachregelung von Sowjetischer Militäradministration

29 Vgl. die entsprechenden Zahlen bei Hoffmann/Krauss/Schwartz (2000b), S. 9; Wehler (2008d), S. 944. 30 Vgl. die unterschiedlichen Zahlen bei Sywottek (2003), S. 55 im Anschluss an Ackermann (1995) und Wehler (2008e), S. 45. 31 Vgl. Schildt/Siegfried (2009), S. 22. 32 Vgl. Wehler (2008d), S. 941, S. 944, Zitate ebd., S. 941; Kleßmann (1991), S. 39f.

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und SED – sogar fast ein Viertel der Bevölkerung aus (23,9%).33 Der Bevölkerungsanteil schwankte regional allerdings erheblich: Am höchsten war er im Norden, in Mecklenburg-Vorpommern in der SBZ und Schleswig-Holstein in der Britischen Besatzungszone, gefolgt von Niedersachen (ebenfalls Britische Besatzungszone) und Bayern (Amerikanische Besatzungszone).34 Die Zuwanderung in dieser Größenordnung, die bereits 1947 mehr als 10 Millionen Menschen umfasste, stellte die deutschen Besatzungszonen und nach 1949 die beiden deutschen Staaten vor erhebliche Herausforderungen bei der Integration, zumal vor dem Hintergrund der Zerstörung von Wohnraum – in der Bundesrepublik war ein Viertel der Wohnungen zerstört –, der Lebensmittelknappheit insbesondere in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1948 und der zunächst jahrelangen schlechten Arbeitsmarktsituation, von der besonders die Vertriebenen betroffen waren.35 Aufgrund der Zerstörung in den Städten zogen die Flüchtlingsströme zunächst in die vom Krieg weniger betroffenen Kleinstädte und ländlichen Regionen. Der Zustrom der Flüchtlinge und Vertriebenen sorgte dort allerdings auch für erhebliche soziale Spannungen, zumal die Kleinstädte und ländlichen Regionen bereits während des Krieges die evakuierte Bevölkerung aus den Großstädten hatten aufnehmen müssen und nach Kriegsende Ziel von Nahrungsmittelsuchenden wurden.36 Inwiefern die betroffenen SDSler_innen auch Ablehnung oder Ausgrenzung von Flüchtlingen erfahren haben, wie sie in Aufarbeitungen der Flüchtlingsgeschichte immer wieder anklingen, lässt sich anhand des Materials im Einzelnen nicht nachweisen, solche Erfahrungen sind allerdings angesichts der Nachkriegssituation keineswegs auszuschließen. In jedem Fall sind die betroffenen SDS-Mitglieder zu den „Flüchtlingskindern“ zu zählen, deren Belastung durch den Krieg bereits zeitgenössisch als besonders hoch eingeschätzt wurde und für die daher „auch von offizieller Seite aus bei der Aufnahme-

33 Eigene Berechnungen auf Grundlage der Zahlen bei Ackermann (2000), S. 145, Wehler (2008d), S. 944 und Schildt/Siegfried (2009), S. 22 für die Bundesrepublik, bei denen jeweils 7,9 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene auf 47,7 Millionen (Wehler), 49,8 Millionen (Ackermann) bzw. 50,2 Millionen Einwohner (Schildt/Siegfried)) entfallen, für die DDR auf Grundlage der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik (1956), S. 1 für die DDR. Zur Sprachpolitik in der SBZ/DDR im Zusammenhang mit den Flüchtlingen vgl. Schwartz (2000). 34 Vgl. Schildt/Siegfried (2009), S. 22; ferner Wehler (2008d), S. 945. 35 Zahlen bei Wehler (2008d), S. 944f. Zur Nahrungsmittelknappheit in der Nachkriegszeit vgl. ausführlich Wildt (1986), (1994). Zur Benachteiligung von Vertriebenen am Arbeitsmarkt vgl. Hoffmann (2000). 36 Vgl. Kleßmann (1991), S. 39ff. Zur Ausgrenzungserfahrung von Vertriebenen und Flüchtlingen ausführlich vgl. Lehmann (1991); Jeggle (2000); Krauss (2000).

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gesellschaft um Verständnis und Sympathie geworben“ wurde.37 Die Befürchtung, diese Kinder und Jugendlichen seien durch die Erlebnisse auf der Flucht – „Hunger, Durst und Kälte; der tägliche Anblick sterbender oder toter Menschen; die Ermordung des eigenen Vaters, die Vergewaltigung der Mutter; das jahrelange Leben in den westdeutschen Flüchtlingslagern, der Verlust der bisherigen lebensweltlichen Orientierung, die elementare Verunsicherung der Eltern-Kind-Beziehung“ – nachhaltig in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gestört und könnten zu Außerseitertum, Berufsunfähigkeit und Kriminalität neigen, gab Anlass zu zahlreichen Untersuchungen.38 Diese wiesen zwar ein hohes Maß von Traumatisierungen bei zahlreichen dieser Kinder nach, welche jedoch – so ein Teil der zeitgenössischen Interpretationen – weniger auf die Erlebnisse auf der Flucht als auf die unzureichende Integration in der Aufnahmegesellschaft zurückzuführen seien. Einige Forscher_innen schlossen bleibende Schädigungen vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Ansichten über die Entwicklungspsychologie des Kindes wie auch generell über die Physiologie des Gehirns ohnehin weitestgehend aus. Mangels Langzeitstudien fehlen allerdings Nachweise über langfristige psychische Auswirkungen auch bei Kindern, die zunächst keine Auffälligkeiten zeigten. Als Erklärung für das Ausbleiben von Auffälligkeiten bei einem großen Teil der Kinder – Pädagog_innen berichteten eher davon, dass sich die Flüchtlingskinder insgesamt nicht sonderlich von den heimischen Kindern unterscheiden würden – wurden unterschiedlich der Schutz durch die Mutter und die kindliche Fähigkeit zu vergessen, die Wirkung der NSPädagogik wie auch in sozialdarwinistischer Manier eine besondere Leistungsfähigkeit der Flüchtlingskinder unterstellt. In rein körperlicher Hinsicht wurden Mangelernährung und damit einhergehende Erkrankungen, Wachstumsmängel und herabgesetzte Leistungsfähigkeit attestiert, ferner litten die Kinder unter mangelnden hygienischen Bedingungen; diese Mangelerscheinungen glichen sich nach der Währungsreform 1948 zunehmend aus.39 Nach den Flüchtlingskindern aus den Ostprovinzen galt das besondere Augenmerk der zeitgenössischen Psychologie zunehmend den Flüchtlingskindern aus der SBZ und der DDR. Auch bei diesen wurden Traumatisierungen vermutet, ihre beobachtete Unauffälligkeit gerade auch in der Schule allerdings auf ein im sozialistischen System entwickeltes hohes Maß an Integrationsfähigkeit zurückgeführt.40 Die Abwanderung aus SBZ stellte eine Reaktion auf die brutale Transformation der SBZ nach dem Vorbild der stalinistischen UdSSR dar, im Zuge deren eine „to-

37 Vgl. Ackermann (2000), S. 145f, Zitat S. 146. 38 Vgl. Ackermann (2000), S. 146ff., Zitat S. 146. 39 Für eine Übersicht der Studien vgl. Ackermann (2000). 40 Vgl. Ackermann (2000), S. 150.

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talitäre Parteidiktatur“ und eine zentral geleitete Planwirtschaft etabliert wurde.41 Der Mauerbau und die damit verbundene Schließung des wichtigsten Ausreisewegs wiederum war eine direkte Reaktion der DDR-Regierung auf diese Massenflucht, die – da gerade junge Fachkräfte das Land verließen – die DDR in eine zunehmend bedrohliche wirtschaftliche Situation gebracht hatten; nach Versiegen des Abwanderungsstrom stellte sich entsprechend auch eine wirtschaftliche Konsolidierung der DDR ein.42 Der Zustrom von „Ostflüchtlingen“, „Neubürgern“, „Siedlern“, „Emigranten“ aus der DDR in die Bundesrepublik war bis zur Schließung der innerdeutschen Grenze mit mindestens 10.000 bis 20.000 Menschen monatlich relativ konstant geblieben, mit einem Höhepunkt im Jahre 1953 infolge der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Streikenden und sowjetischem Militär am und in Folge des Aufstandes vom 17. Juni.43 In der Vielzahl der zeitgenössisch kursierenden Bezeichnungen für diese Flüchtlinge drückt sich das mit diesem Flüchtlingsphänomen verbundene politische und soziale Problem jener Zeit aus. Ab 1949 sah sich die Politik zunehmend gezwungen, die Unterscheidung in „echte“, d.h. politische und „unechte“, d.h. wirtschaftliche Flüchtlinge aufzulösen und die steigende finanzielle Unterstützung auch derjenigen zu legitimieren, die nicht aus einer Lage der unmittelbaren Bedrohung von Leben oder persönlicher Freiheit geflohen waren. Gleichzeitig sahen sich die DDR-Flüchtlinge einer immer stärker ablehnenden Haltung der Bevölkerung bis hin zu massiven öffentlichen Beleidigungen ausgesetzt.44 Bereits etwas früher als der Strom von Flüchtlingen und Vertriebenen nach Westen hatte eine massive Binnenwanderung infolge von Evakuierung und Kinderlandverschickung – damit auf offizielle Veranlassung – sowie infolge von Ausbombung eingesetzt, von der, wie gesehen, insbesondere auch Berliner und westdeutschen SDSler_innen betroffen waren. Die Evakuierung von städtischen Bevölkerungsteilen, „die nicht unmittelbar für den Produktionsprozeß gebraucht wurden“, wurde bereits 1943 eingeleitet.45 Diese Umquartierungen in ländliche und kleinstädtische Regionen stellten – wie auch die Kinderlandverschickung – Schutzmaßnahmen der Bevölkerung der von Fliegerangriffen vornehmlich bedrohten Großstädte dar. Diese Maßnahmen wurden zunehmend ausgeweitet – insgesamt 41 Zum politischen und gesellschaftlichen Umbau der SBZ/DDR bis August 1961 vgl. Staritz (2000); Wehler (2008e), S. 23ff.; Zitat ebd. S. 23; Lausberg (2009); Weber (2012), S. 3-55. 42 Vgl. Sywottek (2003). 43 Vgl. dazu die nach Monaten aufgelisteten Flüchtlingszahlen zwischen 1949 und 1961 in „Die Flucht aus der Sowjetzone und die Sperrmaßnahmen des kommunistischen Regimes vom 13. August 1961 in Berlin“, hg. v. Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, zit. n. Ackermann (1995), S. 291. 44 Vgl. Ackermann (1995), insbesondere S. 65ff. 45 Kleßmann (1991), S. 39.

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wurden bis Ende 1944 fast 9 Millionen Menschen evakuiert – und die Evakuiertenströme vermischten sich gegen Ende des Krieges mit den Flüchtlingsströmen aus dem Osten. Die Rückführung der Evakuierten stellte aufgrund der Zerstörung in den Großstädten bis weit in die 1950er Jahre ein Problem dar.46 Zur Lösung der genannten sozialen Spannungen aufgrund des beengten Nebeneinanders von Vertriebenen, SBZ/DDR-Flüchtlingen, Evakuierten und ansässiger Bevölkerung in einer Situation allgegenwärtigen Mangels hat maßgeblich die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik beigetragen, deren Aufschwung neben der Sicherung existenzieller Bedürfnisse die Ausweitung von Wohnungsbauprogrammen und die Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt ermöglichte. Inwiefern die betroffenen SDSler_innen jeweils Opfer von Gewalt geworden sind, inwiefern sie durch Kriegserlebnisse traumatisiert worden sind oder unter existenziellen Nöten gelitten haben, inwiefern sie soziale Spannungen und Ablehnung erfahren haben, kann letztlich aufgrund der Quellen nicht beurteilt werden, auch es wenn vor dem Hintergrund der Nachkriegsgeschichte alles andere als unwahrscheinlich ist, dass sie derlei Erfahrungen gemacht haben. Die Lebensläufe beschreiben allerdings Ereignisse, welche die Biografien von Millionen von Menschen beeinflusst haben. Insofern sind die Lebensverläufe der SDSler_innen als typisch für ihre Alterskohorte zu betrachten und zwar nicht nur die Lebensverläufe der Vertriebenen, Flüchtlinge und Evakuierten, sondern ebenso diejenigen der ‚Sesshaften‘. Diese typischen Kriegs- und Nachkriegserfahrungen können hier als Erfahrungszusammenhang im Sinne einer Voraussetzung zur Herausbildung einer selbstbewussten Generation im Sinne Karl Mannheims gedeutet werden. Auf die Herausbildung eines solchen Selbstbewusstseins verweisen zudem die Erwähnungen von Flucht und Vertreibung, die in ein vorbewusstes Lebensalter fallen. Allerdings geht der Erfahrungszusammenhang eben weit über die Gruppe der SDSler_innen hinaus und stellt die SDSler_innen in einen Zusammenhang mit der „Generation der Kriegskinder“, für die der Zweite Weltkrieg als prägend in Kindheit und Jugend wie auch für die weiteren Lebensverläufe beschrieben worden ist.47

2.5 S TADT

UND

L AND ALS S OZIALISATIONSRAUM

Eine andere, von den SDSler_innen weithin geteilte Erfahrung ist die von ‚Urbanität‘: Ein Teil von ihnen wird bereits in Städten geboren, im Verlauf von Kindheit und Jugend siedelt sich ein Großteil von ihnen bzw. ihrer Familien in Städten und Großstädten an, so dass, wie gesehen, rund 80% der SDSler_innen am Ende ihrer 46 Vgl. Kleßmann (1991), S. 40. 47 Vgl. Seegers/Reulecke (2009).

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Schulzeit in städtischen Gegenden und über die Hälfte in Großstädten wohnen. Etwaige ‚Stadt-Land-Gegensätze‘ in der frühen Kindheit können als unterschiedliche Sozialisationsbedingungen vernachlässigt werden, wie Untersuchungen zur ‚Lebenswelt von Großstadtkindern‘ aus den 1930er und 1950er Jahren nahe legen: 1935 untersuchte die Hamburger Pädagogin und Psychologin Martha Muchow erstmals empirisch-systematisch die Großstadt als Lebensraum von Kindern; ihre Fragestellung richtete sich in einer an aktuelle Sozialisationstheorien erinnernden Weise darauf, „wie das Kind seine Umgebung ‚Großstadt‘ zu seiner Umwelt umschafft, und wie sich alsdann die vom Kinde ‚gelebte Welt‘ Großstadt darstellt.“48 Die Notwendigkeit zu dieser Studie wurde aus der bis dato mangelnden Analyse und Beschreibung der Lebenswirklichkeit in den zeitgenössischen Gegenüberstellungen von Land- und Stadtkindern in pädagogischen Schriften abgeleitet. Als Ergebnis der Studie erwies sich, dass ‚das Kind’ im Grunde „auf seinem ‚Dorfe‘“ lebte, die kindliche Erfahrung der Großstadt als auf die nähere Umgebung beschränkt erwies, in der es zudem Straßen und Plätze aus seinen kindlichen Aktivitäten heraus deutete und sich dieser Erfahrungsraum erst mit zunehmendem Alter ausweitete. Auf diese Weise unterscheidet sich die kindliche Erfahrung des Großstadtraumes wesentlich von derjenigen der Erwachsenen.49 Die sich erst mit zunehmendem Lebensalter ausdehnende Bewegung in der städtischen Wohnumgebung und damit sich ausdehnende räumliche Erfahrung bestätigte nach dem Zweiten Weltkrieg die Untersuchung von Elisabeth Pfeil.50 Dennoch deutet sich auch in Muchows Studie in der Nennung einer Reihe von Einrichtungen – Hort, Tagesheim, Sportplatz, Turnhalle, Badeanstalt, Bücherhalle – und die Erfahrung einer „City“ als „Bezirk der Ausstellungen und Sehenswürdigkeiten“, von Hauptverkehrsstraßen als „Einkaufs-, Verkehrs-, Schau- und ‚Bummel‘-Möglichkeit“ eine ‚Urbanität‘ an, die das Leben in der Stadt, zumal in der Großstadt in besonderer Weise kennzeichnet und darin distinktiv von ländlicher Lebensweise unterscheidet.51 Urbanität als Lebensweise basiert zunächst einmal auf den topografischen und demografischen Gegebenheiten der Stadt, einem von Zentralität und Segregation, von Bebauung, Straßenzügen und Plätzen geprägten Raum, in dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Geburtenrate mit steigender Überlebenswahrscheinlichkeit zu sinken beginnt, im Gegensatz zum Land, wo die Geburtenrate erst ab den 1960er Jahren rückläufig ist. Werden die rechtlichen Unterschiede zwischen Stadt und Land bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts weitgehend eingeebnet, bleiben die politischen Unterschiede als unterschiedliche Partizipati48 Muchow/Muchow (1935), S. 7. 49 Muchow/Muchow (1935), S. 92ff., Zitat S. 92. 50 Vgl. Pfeil (1955). 51 Vgl. Muchow/Muchow (1935), S. 11, Zitate S. 28, S. 95.

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onschancen aufgrund der früheren Gestaltungsautonomie der Stadt und der dortigen Etablierung von Vereinen und anderen Organisationen als überfamiliale Gesellungsform bis zur „Herausbildung der Staatsbürgergesellschaft“ erhalten.52 Die Wirtschaftsweisen in der Stadt entfalten sich als „ein Prozess zunehmender Arbeitsteilung im Rahmen der gewerblichen Wirtschaft und der kommunalen Selbstorganisation“, vor dem auch die Entstehung von privaten und öffentlichen Dienstleistungssektoren sowie ‚nicht-produktiver‘ Erwerbsformen von Kunst und Kultur zu verstehen sind: „Man kann sagen, dass vor allem diese ökonomisch und organisatorisch begründeten Prozesse jene unerhörte Vielfalt der Lebensweisen entstehen ließen, welche die große Stadt vom Land seit Beginn des 19. Jahrhunderts unterschied. Demgegenüber blieb die ländliche Lebensweise bis in die Nachkriegszeit, bei anhaltender Verwurzelung in den ländlichen Eigentums- und agrarischen Produktionsformen, von hoher Stabilität und Kontinuität gekennzeichnet.“53 Grundsätzliche Unterschiede zwischen Stadt und Land und damit einhergehend zwischen städtischer und ländlicher Lebensweise bleiben also bis Mitte des 20. Jahrhunderts erhalten, bis, wie bereits angemerkt, ab Mitte der 1950er Jahre in der Bundesrepublik – in der DDR etwas später – allmählich Veränderungen in der ländlichen Infrastruktur und in den agrarischen Arbeitsprozessen zu verzeichnen sind, die sich in der Folgezeit auch in der Alltagskultur der Landbevölkerung niederschlagen. Unmittelbar nach dem Krieg wird der traditionelle ‚Stadt-LandGegensatz‘ jedoch zunächst noch in mancherlei Hinsicht durch die gravierenden Unterschiede in der Betroffenheit durch den Krieg überdeckt: Der Zerstörung in zahlreichen Großstädten durch den Bombenkrieg steht eine weitestgehende substanzielle Unversehrtheit der kleinstädtischen und ländlichen Gebiete gegenüber, die jedoch auch genau aus diesen Gründen zunächst das Ziel von Evakuierungen, dann von Flüchtlingsströmen aus dem Osten sind (s.o.).54 Ferner verfügt der ländliche Raum noch über Nahrungsmittel, während gerade in den städtischen Bereichen die Nahrungsmittelknappheit bis 1948 zu Hungersnöten führt.55 Im Zuge des Wiederaufbaus und des wirtschaftlichen Aufschwungs, dem damit verbundenen Ausbau der ländlichen Infrastruktur, der Technisierung und Rationalisierung der agrarischen Produktionsweisen sowie einer stärkeren Verflechtung von Stadt und Land verändern sich Arbeits- und Wohnwelt auf dem Lande. Immer weniger Menschen sind in der Landwirtschaft tätig und stattdessen immer mehr in der sich auch im ländlichen Raum bzw. in Randgebieten von Städten ansiedelnden In52 Vgl. Tenfelde (2012), S. 316f., Zitat S. 317. 53 Vgl. Tenfelde (2012), S. 317f., Zitat S. 318. 54 Vgl. Kleßmann (1991), S. 39ff.; Wehler (2008d), S. 945. 55 Vgl. Schildt/Siegfried (2009), S. 23. Zur Nahrungsmittelknappheit in der Nachkriegszeit ausführlich vgl. Wildt (1986), (1994).

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dustrie. Zwar wird die Alltagskultur auf dem Land bis in die 1960er Jahre noch von einer „Feierabendgesellschaft“ geprägt, die sich allerdings ähnlich wie in urbanen Gegenden auch dort im Zuge größerer zeitlicher Freisetzung aus Arbeit immer mehr zu einer „Freizeitgesellschaft“ entwickelt, die ihre freie Zeit insbesondere dem häuslichen Konsum von Massenmedien – Radio und Zeitung, ab den 1960er Jahren auch zunehmend das Fernsehen – widmet und somit auch an medialen Ereignissen partizipiert.56 Ähnliche wie in den Städten entwickelt sich beispielsweise auch ein Berufspendlertum durch die Automobilisierung bei gleichzeitig zunehmender Distanz zwischen Wohn- und Arbeitsort. Insofern sind für die ländlichen Regionen der Bundesrepublik ab Mitte der 1950er Jahre ‚Urbanisierungsprozesse‘ zu verzeichnen, die gleichsam auch Veränderungen in städtischer Lebensweise schon mitvollziehen. Ländliche Regionen haben als Sozialisationsraum für die hier untersuchte Gruppe höchstens randständige Bedeutung, auch die Unterschiede zwischen Stadt und Land als ‚Gegensatz‘ können hier vernachlässigt werden: Ländliche Regionen sind der Lebensraum nur für eine vergleichsweise kleine und mit fortschreitendem Alter weiter abnehmende Zahl von SDSler_innen; Stadt-Land-Differenzen, die für die Sozialisation in der frühen Kindheit keine Relevanz aufweisen, verringern sich zudem in Folge von Wiederaufbau und ‚Wirtschaftswunder‘. Bedeutsam ist hingegen die Stadt als Lebensraum, in dem sich bereits frühzeitig Lebensweisen pluralisieren und der ebenso frühzeitig Möglichkeiten zur Gesellung und Partizipation bietet – entsprechend gilt der städtische Verein als ‚Keim der Bürgergesellschaft‘57. Letztlich können die Bewerbungen an der FU insgesamt – und nicht nur der ‚Großstadtkinder‘ im SDS – als Ausdruck der Wertschätzung des großstädtischen Lebensraums aufgefasst werden, wie dies z.T. auch in den Begründungen der Studienortwahl herausgestellt wird. Insofern ist die Gruppe insgesamt als eine ‚urbane‘ Gruppe zu bezeichnen.

56 Zur Ausdehnung von Freizeit und Veränderung des Freizeitverhaltens in den 1950er Jahren sowie ihren Voraussetzungen vgl. Schildt (1995), insbesondere S. 73ff. Zur Entwicklung eigenständiger Jugendfreizeitkulturen vgl. ferner Schildt (1998). Zur Veränderung der ländlichen Gesellschaft in der Bundesrepublik in den 1950er im Zusammenhang mit landwirtschaftlicher Produktionsweise und Landwirtschaftspolitik vgl. als Überblick Bauerkämper (1998); bereits zeitgenössisch vgl. die Studien von Planck (1956), (1970). 57 Vgl. Tenfelde (2012), S. 318.

3. Soziale Herkunft und familiale Situation

Die soziale Herkunft stellt einen Indikator für die sozio-ökonomischen Bedingungen der Sozialisation dar und bezieht sich je nach zugrunde liegendem Modell zur Sozialstruktur auf die Zugehörigkeit der Herkunftsfamilie zu bestimmten Klassen, Schichten, Lagen oder Milieus. Die schematische Gliederung der Gesellschaft in solche sozialen Gruppen dient der Erfassung und Beschreibung von sozialer Ungleichheit sowie der Analyse und Darstellung der Zusammenhänge und Wechselwirkungen der einzelnen gesellschaftlichen Teilbereiche.1 Die Zuordnung zu Klassen, Schichten, Lagen oder Milieus ist dabei abhängig von jeweils unterschiedlichen Variablen, von zentraler Bedeutung ist jedoch der historisch älteste Faktor der Ökonomie als der Stellung im Produktionsprozess im weitesten Sinne bzw. das finanzielle Vermögen.2 Zu diesen sind im Zuge zunehmender gesellschaftlicher Komplexität die Aspekte der Bildung und zuletzt der Lebensstile hinzugetreten. Mit der jeweiligen sozialen Herkunft verknüpfen sich spezifische Sozialisationsbedingungen, die sich – so legen entsprechende Studien nahe – begünstigend oder nachteilig auf gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten auswirken können und damit der Reproduktion der Sozialstruktur dienen. Dies gilt neben finanziellen Ressourcen insbesondere auch für die Bildung der Eltern.3 Mit der Orientierung am Beruf des Vaters, der bei der Bewerbung an der Freien Universität im Antragsformular abgefragt wurde, folgt diese Analyse zwar einem Indikator des seit den 1980er Jahren oftmals als zu starr kritisierten Schichtenmo-

1 2

Vgl. Hradil (1987); Geißler (2011). Für einen Überblick über die verschiedenen Sozialstrukturmodelle, ihre historische Entwicklung und jeweiligen Perspektiven auf soziale Ungleichheit vgl. Geißler (2011), S. 93120.

3

Vgl. Geißler (2011), S. 280ff.

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dells zur Beschreibung von Sozialstrukturen;4 über die Berufe der Eltern – so ein Teil der Kritik und eines der Argumente für stärker differenzierende Sozialstrukturmodelle – könnten keine „Statusinkonsistenzen“5 erfasst werden, also etwa Diskrepanzen zwischen erlerntem und ausgeübtem Beruf bzw. Ausbildung und Tätigkeit. Eine vollständige Erfassung von Bildungsherkunft und ökonomischen Verhältnissen oder gar eine Zuordnung zu spezifischen Lagen und Milieus kann hier aufgrund des Datenmaterials tatsächlich nicht geleistet werden; erst nach der Verwaltungsreform Ende der 1960er Jahre wurden Immatrikulationsformulare eingeführt, in denen systematisch nach der Bildung und der ausgeübten Berufstätigkeit beider Elternteile gefragt wurde. Entsprechend verfolgt die Erfassung der Väterberufe hier nicht das Ziel einer Schichtung, die einen direkten Vergleich mit den Daten zur sozialen Herkunft von Studierenden in jener Zeit erlauben würde, sondern vornehmlich deskriptive Absichten.6 In einer solchen deskriptiven Erfassung zeigt sich, dass die im Forschungsstand referierten Thesen über die Berufszugehörigkeit der Väter (Lehrer, Pfarrer) sowie über eine homogene ‚bürgerliche‘ Herkunft im Sinne einer akademischen Ausbildung des Vaters auf die untersuchte SDS-Gruppe nicht zutreffen. Die Analyse der Väterberufe weist vielmehr eine Heterogenität von einzelnen Berufen, von Berufsgruppen als auch von Berufspositionen aus. Am häufigsten wird mit gut 17% der Beruf des „Kaufmanns“ genannt. Ferner zeichnet sich zwar eine starke Repräsentanz eines ‚Bildungsbürgertums‘, keineswegs aber eine Dominanz des selbigen ab, vielmehr deuten die Berufsnennungen auf ausgeprägte Repräsentanz von Mittelschichten auch jenseits eines ‚Bürgertums‘, also des ‚alten‘ und ‚neuen Mittelstands‘ ab, wie sie für die Studierendenschaft in Deutschland seit Beginn der Bildungsexpansion im ausgehenden 19. Jahrhundert kennzeichnend ist.7 Vor diesem Hintergrund wird die Frage zu diskutieren sein, inwiefern sich in der Sozialstruktur der SDS-Gruppe eine ‚Entbürgerlichung‘ der Studierendenschaft widerspiegelt oder aber eine ‚Verbürgerlichung‘ wie sie von der Bürgertumsforschung für die Zeit nach 1945 konstatiert worden ist.

4

Zur Kritik an den historisch älteren Klassen- und Schichtenmodellen vgl. grundlegend Hradil (1987); zur Entwicklung von neuen Sozialstrukturmodellen aus der Kritik an älteren, zur Erfassung von gesellschaftlicher Realität nicht länger geeigneten Modellen vgl. Geißler (2011), S. 93-120.

5 6

Hradil (1987), S. 10. Der Anspruch einer deskriptiven Erfassung von sozialer Herkunft anstelle eines statistisch ‚harten‘ Schichtungsmodells hat sich etwa bei Welskopp in einer Kollektivbiografie zur frühen SPD als zielführend erwiesen; vgl. Welskopp (2000), S. 98.

7

Vgl. Jarausch (1984); Lundgreen (2008), S. 82f.

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Mit der Fokussierung auf den Beruf des Vaters folgt die Analyse ferner der Orientierung am Ehemann und Vater als dem ‚Haushaltsvorstand‘, wie sie auch in zeitgenössischen Sozialerhebungen vorzufinden ist. Diese Auffassung entsprach in der Tat in weiten Teilen der gesellschaftlichen Realität der Familien in den späten 1950er und frühen 1960er Jahre in der Bundesrepublik, dem „Golden Age of Marriage“.8 Vor dem Hintergrund dieses Familienleitbildes war – nach der Überwindung einer existenziellen Notwendigkeit – die Berufstätigkeit von verheirateten Müttern gesellschaftlich nicht erwünscht und wurde politisch nicht unterstützt.9 Entsprechend hing es zunächst einmal vom Einkommen des Vaters ab, ob sich eine Familie den Besuch der höheren Schule und das Studium für ihr(e) Kind(er) leisten konnte und Einkommen und Beruf des Vaters bestimmten den Sozialstatus der Familie.10 Allerdings würde eine ausschließliche Betrachtung der Väterberufe ignorieren, dass trotz aller Dominanz dieses Familienleitbildes weiterhin auch andere Familienformen existierten und dass Mütter für Zuverdienst oder alleinigen Einkommenserwerb verantwortlich sein konnten. Angesichts der Altersstruktur der SDS-Gruppe und vor dem Hintergrund der großen Zahl von Kriegswitwen und –waisen nach dem Zweiten Weltkrieg drängt sich eine Betrachtung auch der Berufe oder Tätigkeiten der Mütter der SDS-Mitglieder auf. Ferner berücksichtigt eine solche Betrachtung, dass trotz der Ablehnung in der öffentlichen Meinung bereits seit den späten 1950er Jahren eine Ausdehnung von Müttererwerbstätigkeit zu verzeichnen ist, die nicht mehr allein mit einer wirtschaftlichen Notwendigkeit zu erklären ist.11 Der zunehmende Wunsch von verheirateten Müttern nach zumindest teilweiser Berufstätigkeit lässt sich allerdings aufgrund mangelnder Kinderbetreuungsangebote und fehlender Möglichkeiten zur Teilzeitarbeit bis in die 1960er Jahre nur selten verwirklichen. Schließlich wird die Analyseperspektive erst durch die Betrachtung der Berufstätigkeit von Müttern auch der Situation in der DDR gerecht, in der die Müt-

8 9

Peuckert (2012), S. 11. Für die zeitgenössischen Diskussionen zur Müttererwerbstätigkeit vgl. die Beiträge zum 63. Deutschen Fürsorgetag 1963 in München, Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (1964), darin insbesondere den Eröffnungsvortrag von Zulliger (1964). Zur Kritik an der negativen und wissenschaftlich wenig fundierten Haltung von Politik und Gesellschaft gegenüber Müttererwerbstätigkeit vgl. im selben Band Pfeil (1964).

10 Vgl. dazu auch Kath (1969), S. 39f. 11 Zur Entwicklung von Familie und Geschlechterverhältnissen in den 1950er und 1960er Jahren vgl. Niehuss (1998); Frevert (2003); Paulus (2005). Zur Entwicklung der Teilzeitarbeit und ihre Bedeutung von die Frauenerwerbstätigkeit und insbesondere Erwerbstätigkeit von Müttern vgl. Oertzen (1999); (2005).

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tererwerbstätigkeit durch den Ausbau einer staatlichen Kleinkindbetreuung und öffentliche Werbung systematisch politisch gefördert wurde.12 Entsprechend werden im Folgenden auch die Tätigkeiten der Mütter erfasst. Auf diese Weisen lässt sich über die eher abstrakte Beschreibung der sozioökonomischen Bedingungen hinaus auch eine Annäherung an die konkrete familiale Situation vornehmen, da die Berufstätigkeit der Mutter Aufschluss gibt über Familienkonstellationen und eine etwaige Orientierung an genannten Leitbild der bürgerlichen Kleinfamilie. Informationen über die Tätigkeit der Mütter liegen in größerer Dichte jedoch erst ab Mitte der 1960er Jahre vor. Ab 1963 wurde an der Freien Universität ein Bewerbungsformular eingeführt, das auch den Beruf der Mutter erfragte, allerdings kursierten weiterhin unterschiedliche Formulare, so dass eine größere Datendichte erst für Immatrikulationen ab Mitte der 1960er vorliegen. Aus den Angaben bestätigt sich im Wesentlichen die gesellschaftlich dominierende Familienstruktur mit einem berufstätigen Vater und der Mutter als „Hausfrau“, allerdings sind manche Mütter nach dem Zweiten Weltkrieg zumindest eine Zeitlang berufstätig, etwa nach dem Kriegstod des Vaters, nur in Ausnahmefällen wird die Berufstätigkeit von verheirateten Frauen ersichtlich. In den Angaben bestätigt sich insgesamt das zeitgenössische Leitbild der bürgerlichen Kleinfamilie. Die Berufstätigkeit von Kriegswitwen verweist zudem erneut auch auf den Einfluss des Zweiten Weltkriegs. Tatsächlich ist eine Reihe von Vätern bei den Berufsnennungen als verstorben oder vermisst markiert. Daher dient die Erfassung dieser Todesfälle einer weiteren Annäherung an die familiale Situation. Die in den Lebensläufen erwähnten Todesursachen von Vätern verweisen in den vielen, aber keineswegs allen betreffenden Fällen auf einen Kriegszusammenhang – als gefallen und in Kriegsgefangenschaft oder nach Heimkehr an Kriegsfolgen verstorben. Der Kriegseinsatz des Vaters wird darüber hinaus nur noch im Zusammenhang mit der Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft, z.T. mehrere Jahre nach Kriegsende, erwähnt. Insgesamt lassen sich in diesen Betrachtungen der familialen Situationen jedoch keine Anhaltspunkte einer grundsätzlichen Vaterlosigkeit – zumindest im wörtlichen Sinne – noch Anhaltspunkte einer mehrheitlichen Selbstüberlassenheit in Kindheit und Jugend ausmachen, wie diese z.T. als Faktoren für das ‚Protestpotenzial‘ der Akteur_innen in der Studentenbewegung überlegt worden sind.13 Eine häufig untersuchte Variable sozialer Herkunft – etwa in historischen Arbeiten als Indikator für Milieuzugehörigkeit – die im Zuge dieser Untersuchung leider nicht erfasst werden kann, ist die religiöse Konfessionszugehörigkeit. Eine Betrach12 Vgl. Niehuss (1998). 13 Vgl. Teil I, Abschnitt 2. Forschungsstand und Erkenntnisinteresse.

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tung der jeweiligen christlichen Konfessionen wäre durchaus von Interesse gewesen, da der Studentenbewegung ein großer protestantischer Einfluss unterstellt worden ist, die sich eben auch in den Behauptungen, die Akteur_innen hätten auffällig oft einen Pfarrer als Vater gehabt, widerspiegelt.14 Allerdings wurde bei der Bewerbung an der Freien Universität die Konfession nicht standardmäßig abgefragt, entsprechend liegen zu diesem Punkt ggf. nur die Angaben aus den Selbstdarstellungen aus den Lebensläufen vor. Danach sind von den 28 Mitgliedern, zu denen entsprechende Angaben vorliegen, 20 evangelisch, acht katholisch. Eine getrennte Betrachtung der beiden Vergleichsgruppen zeigt in der Gruppe „Vor Sommer 1967“ ein Verhältnis von 17 evangelischen Mitgliedern gegenüber fünf katholischen, in der Gruppe der Neumitglieder jeweils drei Mitglieder evangelischer und katholischer Konfession. Aufgrund dieser geringen Datendichte kann jedoch trotz des Überhangs von evangelischen Studierenden die These von der protestantischen Dominanz in dieser Arbeit weder stichhaltig erhärtet noch verworfen werden.

3.1 B ERUF DES V ATERS Zu fast allen Studierenden liegen die Angaben zum Beruf des Vaters vor, da dieser standardmäßig über das Formular „Angaben zur Person“ erfasst wurde, wobei sich als Problem für die Analyse ergab, dass der Beruf offen abgefragt wurde und die Antworten z.T. nur die Berufsgruppe oder die Hochschulbildung erkennen lassen. So fehlen systematisch Informationen über Selbständigkeit oder Anstellung bei Vertretern der ‚freien Berufe‘, von Berufen aus dem künstlerischen Bereich und auch bei Handwerksmeistern sowie Informationen über die Einkommenshöhe von Selbständigen, so dass eine genaue Klassifikation z.T. schwierig bis unmöglich ist. Eine vollständige Erfassung von Bildungsherkunft und ökonomischen Verhältnissen oder gar eine Zuordnung zu spezifischen Lagen und Milieus kann daher nicht geleistet werden, da nur in den seltensten Fällen die Berufsangaben im Formular durch die Angaben zur Ausbildung oder beruflichem Werdegang des Vaters im Lebenslauf präzisiert oder differenziert werden. Lediglich die Erfassung von Beamten ist vergleichsweise präzise möglich. Daher ist das Ziel dieser Analyse, wie eingangs 14 Vgl. z.B. Bude (2001), S. 127; Baader (2007), S. 78; zu den bereits im Abschnitt 2. Forschungsstand und Erkenntnisinteresse angeführten Thesen zur Berufszugehörigkeit der Väter vgl. Langguth (2001), S. 99; Wehler (2008e), S. 315. Zum Zusammenhang von Protestantismus und sozialen Bewegungen in den 1960er und 1970er Jahren vgl. grundlegend Hermle/Lepp/Oelke (2007). Gleichzeitig ist aber auch die Rolle katholischer Studierender in der Studentenbewegung betrachtet worden, vgl. Großbölting (1998).

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bereits dargelegt, nicht die Erstellung einer Schichtung, sondern eine deskriptive Erfassung von Berufsgruppen, Bildungsabschlüssen und Anstellungsverhältnissen, um zu generellen Aussagen zu gelangen, die eine Prüfung der im Forschungsstand referierten Hypothesen über die soziale Herkunft der Akteur_innen in der Studentenbewegung ermöglichen. Insofern lassen sich auch nur begrenzt Aussagen über wirtschaftliche Rahmenbedingungen des Aufwachsens oder die ‚Vererbung‘ von Bildung treffen. Insgesamt liegen 167 Angaben zum Beruf des Vaters vor, die fehlenden Angaben erklären sich zu gleichen Teilen aus (Halb-)Waisenstatus und unvollständigem Quellenmaterial; in einem Fall wird der Vater schlicht als „unbekannt“ angegeben. Eine einfache Auszählung von übereinstimmenden Nennungen und eine Zusammenfassung von ähnlichen Berufstätigkeiten zeigt dabei zunächst einmal eine Häufung von kaufmännischen Berufen: Der von den SDSler_innen insgesamt mit Abstand am häufigsten genannte Beruf ist „Kaufmann“ mit 22 Nennungen (12,2%), zusammen mit allen weiter spezifizierten Kaufleuten („Diplom-Kaufmann“, „Optischer Kaufmann“, „Textilkaufmann“, „Textilfabrikant“, „Holzhändler“, „Buchhändler“, „Kraftfahrzeughändler“, „besitzt eine Briefmarkenhandlung“) umfasst der Bereich der Kaufleute 31 Nennungen (17,1%). „Kaufmännische Angestellte“ sowie „Bankkaufmann“ und „Industriekaufmann“ hinzugerechnet umfasst der Bereich der kaufmännischen Berufe mit 21,5% gut ein Fünftel der Berufe der Väter. Die Berufsbezeichnung des Kaufmanns ist dabei keineswegs eindeutig, nur insoweit, als der Vater ein Handelsgewerbe betreibt, wie es Alltagsverständnis, Etymologie und juristische Definition15 gleichermaßen nahe legen. Mit dieser Berufsbezeichnung gehen jedoch weder Informationen über den Bildungsabschluss des Vaters noch über die Größe des jeweiligen Gewerbes und damit des Einkommens des Vaters einher. Lediglich der „Diplom-Kaufmann“ bezeichnet den Abschluss eines betriebswirtschaftlichen Studiums, ohne damit jedoch Hinweise auf Selbständigkeit oder Anstellung zu geben. Letztlich bleibt bei der Berufsnennung „Kaufmann“ unklar, ob es sich jeweils um einen kleinen Einzelhändler handelt – diese Vermutung drängt sich am ehesten im Fall des Briefmarkenhändlers auf – oder um einen großen Unternehmer, ob es sich um ein prosperierendes Geschäft handelt oder nicht. Insofern bleibt auch offen, inwiefern sich hinter diesen Kaufleuten ggf. eine ‚wirtschaftsbürgerliche‘ Fraktion aus „großen Eigentümerunternehmern“16 und „Bossen“17 verbirgt. Zu einer solchen wirtschaftsbürgerlichen Fraktion gehört ggf. 15 Vgl. Handelsgesetzbuch, §1: „Kaufmann im Sinne dieses Gesetzbuchs ist, wer ein Handelsgewerbe betreibt.“ 16 Wehler (2008c), S. 722. 17 Hettling (2005), S. 13.

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dann noch ein Vater, der als „Versicherungsdirektor“ einen leitenden Posten in einem Unternehmen bekleidet.18 Als eindeutiger erweisen sich dagegen die Indizien auf Anteile eines ‚neuen Mittelstandes‘ in Form der kaufmännischen Angestellten, zu denen auch Bank- und Industriekaufmann zu zählen sind.19 Mit Blick auf die anderen Berufsgruppen ist jedoch durchaus eine große Gruppe von traditionell ‚bildungsbürgerlichen‘ Berufen im Sinne der referierten Thesen über eine ‚bürgerliche Herkunft‘ zu verzeichnen, also akademische Berufe: Ärzte, Juristen, Studienräte, Pfarrer, Professoren und andere Wissenschaftler, Richter und höhere Verwaltungsbeamte sowie Diplom-Ingenieure und Journalisten.20 Allerdings steht dieser eine mindestens ebenso große Anzahl von ‚nichtbürgerlichen‘ Berufen gegenüber: Handwerker als Berufe des ‚alten Mittelstandes‘, weitere Angestellte, Angehörige von künstlerischen und militärischen Berufen sowie vereinzelt auch Arbeiter. Unabhängig von der Frage nach der ‚Bürgerlichkeit‘, die zunächst einmal zurückgestellt sein soll, deutet sich damit bereits an, dass die These, nach denen die Väter der Aktivist_innen auffällig oft Pfarrer oder Lehrer gewesen seien, hier keine Bestätigung findet. Dies zeigt um so deutlicher die Betrachtung der Häufigkeit der Nennungen dieser beiden Berufsgruppen: Die Lehrerberufe stellen die mit 14 Nennungen insgesamt zweithäufigste Berufsnennung dar (7,7%) und setzen sich aus neun Lehrern für das höhere Lehramt, („Oberstudiendirektor“, „Oberstudienrat“, „Studienrat“, „Studienassessor“), Volksschullehrern (2), einem „Handelslehrer“ und nicht näher spezifizierten „Lehrern“ (3) zusammen. „Pfarrer“ wird siebenmal genannt, zusammen mit anderen Theologen und Kirchenbeamten („Universitätsprofessor für Theologie“, „Oberkirchenrat“, „Konsistorialinspektor“) machen die zur Kirche gehörenden Berufe 5,5% der Nennungen aus. Der Anteil von Lehrern und Theologen liegt zusammengenommen mit 12,9% zwar minimal über dem der Kaufleute, allerdings sind die Volksschullehrer nach dem Kriterium der akademischen Bildung nicht als ‚bildungsbürgerlich‘ zu bezeichnen, unter Umständen gilt dies 18 Vgl. Wehler (2008c), S. 722. 19 Die soziale Kategorien des ‚neuen Mittelstandes‘ ist zwar bezogen auf die Zeit des deutschen Kaiserreichs, in der diese Erwerbsklasse insbesondere der Angestellten, aber auch der kleineren Beamten, zu nennenswerter Größe anwächst; als „neue zwischenbürgerliche Schicht“ (Nipperdey (1990), S. 374) oder zusammen mit dem ‚alten Mittelstand‘ der Handwerker und Einzelhändler als „Kleinbürgertum“ (Wehler (2008c), S. 751) werden diese gegenüber dem Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum abgegrenzt, so dass sich die Begriffe des ‚alten‘ und ‚neuen‘ Mittelstandes in diesem Kontext zur Abgrenzung gegenüber traditionellen bürgerlichen Berufen anbieten. Zum ‚neuen Mittelstand‘ vgl. Nipperdey (1990), S. 374-381. 20 Zum akademischen Bürgertum im Kaiserreich vgl. Kocka (1988), S. 11f.; Groppe (2001), S. 38.

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auch für nicht näher spezifizierte „Lehrer“. Aufgrund ihrer akademischen Ausbildung zählen hingegen Pfarrer und die höheren Lehrämter traditionell zu den ‚bildungsbürgerlichen‘ Berufen. Drei der Lehrer und zwei der Pfarrer sind promoviert. Alle hier genannten Berufe gehören zur Berufsgruppe der Beamten.21 Andere Berufsgruppen, die ähnlich häufig wie Pfarrer genannt werden, sind Juristen, Mediziner und Ingenieure. Den Juristen lassen sich zehn Nennungen (5,0%) zuordnen: „Bundesrichter“, „Richter“, „Senatspräsident“, „Amtsgerichtsrat“ (2), „Rechtsanwalt“ (3), „Volljurist“, „Gerichtsassessor a.D.“; aufgrund der traditionell hohen Anteile von Juristen in der höheren Laufbahn der Regierungs- und Verwaltungsbeamten (s.u.) könnte dieser Anteil auch noch höher ausfallen. Vier der genannten Juristen sind promoviert. Ärzte werden insgesamt acht Mal (4,4%) genannt: „Tierarzt“, „Chefarzt“, „Zahnarzt“ (2), „Facharzt (Orthopädie)“, „Arzt“ (3). Alle Ärzte sind promoviert, zwei sind darüber hinaus als Lehrstuhlinhaber bzw. Dozent auch an Universitäten tätig. Sowohl Ärzte als auch Juristen gehören aufgrund ihrer universitären Ausbildung zu den ‚bürgerlichen‘ Berufen. Rechtsanwälte und Ärzte gelten zwar traditionell als ‚freie Berufe‘, ob sie hier allerdings tatsächlich selbständig oder in Anstellung tätig sind, ist mit Ausnahme des Chefarztes nicht bekannt. Ebenfalls acht Mal werden Ingenieure genannt: „Ingenieur (Dr. Ing.)“, „Dipl.Ingenieur“, „Dipl.-Bauingenieur“ „Kraftfahrzeugingenieur“, „Maschinenbauingenieur“, „Ingenieur“ (3). Die Promotion bzw. der Diplom-Abschluss verweist hier auf den Abschluss einer Technischen Hochschule, welche um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert durch das Promotionsrecht den Universitäten gleichgestellt wurden.22 Ob die anderen Ingenieure Absolventen von nicht-akademischen Fachschulen oder ggf. auch einer Technischen Hochschule sind, ist allerdings ebenso unklar wie die Form der Beschäftigung und ob sie selbständig oder angestellt tätig sind. Dies gilt nicht für den promovierten Ingenieur, der als „Wissenschaftler“ bezeichnet wird. Die Gruppe der Wissenschaftler bzw. im Hochschuldienst Tätigen umfasst einschließlich der bereits genannten Professoren für Theologie und Tiermedizin, des genannten Medizindozenten sowie zwei weiteren Professoren damit mindestens sechs Väter. Inwiefern hier noch ein promovierter Physiker und ein promovierter Chemiker hinzuzurechnen sind, ist unklar. An diesen Ausführungen zu den Berufsnennungen zeichnet sich durchaus eine nennenswerte ‚bildungsbürgerliche‘ Repräsentanz ab. Aus den Angaben lässt sich schließen, dass insgesamt mindestens 46 Väter über den Abschluss einer Universität verfügen, 25 von ihnen sind promoviert; mindestens fünf weitere haben eine 21 Zur beamtenrechtlichen Sonderstellung der Kirchenbeamten vgl. Pfennig (1960), S. 46ff. 22 Vgl. Albrecht (1989).

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Technische Hochschule absolviert, einer von ihnen ist promoviert. Die akademische Bildung zugrunde gelegt umfasst der Anteil der Mitglieder mit ‚bildungsbürgerlichem Elternhaus‘ mindestens ein gutes Viertel (28,2%); dieser kann aufgrund einer Reihe uneindeutiger Nennungen auch noch höher sein. Diese betrifft, wie gesagt, insbesondere die Beamten der höheren Beamtenlaufbahn, die ein Universitätsstudium oder aber eine vergleichbare Ausbildung etwa durch Berufserfahrung voraussetzte und nach wie vor voraussetzt. Aufgrund der Vielzahl von Laufbahnverordnungen in Bund, Ländern und Kommunen sowie in den jeweiligen Behörden sind diese Vorbildungsanforderungen im Einzelnen hier nicht nachvollziehbar. In jedem Fall zeichnet sich hier eine große Gruppe von Beamten ab: Zu diesen sind außer den bereits genannten Lehrern, Pfarrern, Kirchenbeamten und Professoren auch die Nennungen „Staatssekretär“, „Oberregierungsrat“ (2), „Regierungsrat“, „Legationsrat“, „Oberinspektor der Bahn“, „Stadtoberinspektor“, „Verwaltungsbeamter“ und ein „Beamter der Bahn“ zu zählen. Die „Räte“ verdeutlichen hier erneut den hohen Anteil von Beamten der höheren Laufbahn. Den Beamten gleichgestellt sind darüber hinaus die Richter sowie die Soldaten, die sieben Nennungen (3,9%) umfassen: „Oberst“, „Oberst a.D.“, „Oberstleutnant“, „Major“, „Offizier“, Berufssoldat“ (2).23 Insgesamt umfassen die Beamten damit 42 Berufsnennungen, das entspricht einem Anteil von 23,2%. Im Vergleich dazu lag der Anteil von Beamten unter den Vätern der Studierenden bis Ende der 1960er Jahre bundesweit bei mehr als 30%.24 Am Beispiel der Soldaten verdeutlicht sich die Zusammensetzung der Beamtenschaft aus ‚bürgerlichen‘ und ‚nicht-bürgerlichen‘ Berufen. Der Anteil der traditionell nicht-bürgerlichen Berufe umfasst insgesamt mindestens 74 Nennungen (40,9%). Zu diesen gehören neben den bereits genannten Volksschullehrern und kaufmännischen Angestellten auch sechs Landwirte (darunter 2 „Dipl.-Landwirte“), elf Handwerker, darunter fünf Meister („Bäckermeister“, „Schlossermeister“, „Maurermeister“, „Optikermeister“, „Glasermeister“, „Zimmermann“, „Maurer“, „Tischler“, „Rundfunkmechaniker“, „Maschinenschlosser“, „Gärtner“), eine relativ große Gruppe von zehn Angehörigen (5,5%) von künstlerischen Berufen („Musiker“, „Musikschriftsteller“, „Grafiker“ (2), „Kunstmaler“, „Kunsthandwerker“, „Schauspieler“ (2), „Spielleiter“, „Kameramann“) sowie weitere Angestellte („Leitender Angestellter“, „Verwaltungsangestellter“, „Technischer Angestellter“ (2), „Postangestellter“). Zu letzteren dürfte eine Reihe von weiteren Berufsnennungen zu zählen sein, die auf eine Anstellung, z.T. in leitender Position schließen lassen: „Chefstatistiker“, „Abteilungsleiter beim Bayrischen Rundfunk“, „Buchhalter 23 Zur Veränderung der beamtenrechtlichen Stellung der Richter nach 1945 vgl. Pfennig (1960), S. 36. 24 Der Anteil von Kindern aus der Beamtenschaft sinkt zwischen 1950 und 1968 allerdings von 40% auf 30%, vgl. Lundgreen (2008), S. 83.

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(Holzfirma)“, „Einkäufer (Stadtwerke)“, „Technischer Zeichner“, „Vermessungsfahrsteiger“, „Helfer in Steuersachen“, „Statistiker“, „Lohnbuchhalter“, „Schriftleiter“, „beim Arbeitsamt tätig“, „Lagerverwalter“. Von drei Vätern wird angegeben, dass sie „Arbeiter“ seien. Ein Vater ist Kapitän zur See a.D., von einem weiteren ist nur der Bildungsabschluss („Lehre“) bekannt. Unter Umständen sind zur Gruppe der Angestellten auch die oben genannten Ingenieure hinzuzurechnen, insbesondere diejenigen, deren Ausbildungsinstitution nicht bekannt ist; gleiches gilt für eine Reihe weiterer Berufsnennungen, aus denen sich die Anstellungsart nicht ergibt, darunter gerade auch einige akademisch Gebildete. Eine Überschneidung von akademisch Gebildeten und Angestellten deutet sich in mindestens zwei Fällen an: So sind sowohl der „Chefstatistiker“ als auch der „Abteilungsleiter beim Bayrischen Rundfunk“ promoviert. Auch wenn hier nur begrenzt Quantifizierungen möglich sind, zeichnen sich jedoch einige zentrale Kennzeichen der sozialen Herkunft ab: Eine größere Zahl von Vätern ist akademisch gebildet, allerdings lässt sich die Gruppe als Ganzes im Sinne der genannten Bürgertumsbegriffe nicht als ‚bürgerlich‘ oder gar in engerem Sinne als ‚bildungsbürgerlich‘ bezeichnen: Auch wenn sich bei Vorhandensein genauerer Daten noch Verschiebungen ergeben dürften, widerlegen die Anteile von rund 28% ‚bürgerlichen‘ gegenüber rund 41% ‚nicht-bürgerlichen‘ Berufen die genannten Thesen über die soziale Herkunft. In der Gruppe zeichnen sich vielmehr bedeutsame Anteile von Angehörigen des ‚alten‘ und ‚neuen Mittelstands‘ ab. In dieser Zusammensetzung offenbaren sich grundsätzliche Übereinstimmungen mit der Sozialstruktur der Studierendenschaft in der Bundesrepublik insgesamt: Diese ist gekennzeichnet von einem Verhältnis von ungefähr „einem Drittel Oberschicht“ gegenüber ungefähr „zwei Dritteln Mittelschichten“ und einem geringen, aber leicht steigenden Anteil von Arbeiterkindern, der Ende der 1960er Jahre bei rund 7% liegt.25 Die Arbeiterschaft, in den 1960er Jahren noch größte Gruppe der abhängig Beschäftigten26 und größte Bevölkerungsschicht27, ist damit allerdings deutlich unterrepräsentiert und im Vergleich dazu können sowohl Studierendenschaft als auch die hier untersuchte SDS-Gruppe durchaus als ‚elitär‘ beschrieben werden, die SDS-Gruppe erweist sich hier allerdings in sozialer Hinsicht keineswegs als eine ‚Elite der Elite‘.28 Aus dieser vergleichsweise gehobenen sozialen Rekrutierung können jedoch 25 Vgl. Lundgreen (2008), S. 83. 26 Vgl. Berger (1991), S. 677/678. 27 Vgl. Dahrendorf (1965), S. 105. 28 Vgl. dazu die bereits in Teil I, Abschnitt 2. Forschungsstand und Erkenntnisinteresse aufgeführten Einschätzungen der Studentenbewegung bzw. der Akteur_innen bei Habermas (1969), S. 35; Langguth (2001), S. 177.

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nicht automatisch überdurchschnittliche ökonomische Bedingungen der Familien der SDS-Mitglieder abgeleitet werden; dies gilt gerade angesichts der allgemeinen Notlage gegen Kriegsende und vor allem in der Nachkriegszeit.29 Die Sozialstruktur kann nicht notwendigerweise als ein Indikator für ein ‚Aufwachsen in Wohlstand‘30 betrachtet werden. Im Gegenteil legen die Ergebnisse der vorangegangenen Kapitel zur Altersstruktur und zum Kriegseinfluss auf das Mobilitätsverhalten nahe, dass ein großer Teil der Herkunftsfamilien schwierige ökonomische Bedingungen bis hin zu existenzieller Not erlebt haben dürfte. Jedoch ist gerade für Familien aus höheren sozialen Schichten ein dauerhaftes Absinken des sozialen Status in Folge des Krieges deutlich seltener nachgewiesen worden, sondern im Gegenteil in der Zeit des Wiederaufbaus in der Bundesrepublik eine ‚Rekonstruktion‘ der Sozialstruktur der Vorkriegszeit verzeichnet worden.31 Eine genaue und über Hypothesen hinausreichende Beurteilung der ökonomischen Hintergründe der SDSler_innen bedürfte jedoch weitergehender und deutlich differenzierterer Quellen. Bei der ‚Entbürgerlichung‘ der Studierendenschaft in Deutschland, wie sie sich auch in der Gruppe andeutet, handelt es sich zu dieser Zeit allerdings keineswegs mehr um ein neuartiges Phänomen, bedingt etwa durch das politisch wie öffentlich zunehmend diskutierte Wachstum der Studierendenzahlen seit Mitte der 1950er Jahre.32 Vielmehr ist eine soziale Öffnung der bis dahin von Söhnen des Bürgertums dominierten Studierendenschaft bereits mit Einsetzen der Bildungsexpansion gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu verzeichnen.33 Diese setzt sich – wenn auch unter anderen wirtschaftlichen Vorzeichen – in der Weimarer Republik fort, während die NS-Zeit zunächst von einer „Reelitisierung“ der Studierendenschaft gekennzeichnet ist.34 Unter den Bedingungen des Zweiten Weltkriegs vollzieht sich dann erneut eine soziale Öffnung, die insbesondere Frauen den Zugang zur Universität in bislang ungekanntem Ausmaß ermöglicht.35 Ab den 1950er Jahren ist die soziale 29 Vgl. Abschnitt 1.4 Deutschland als Lebenswelt zwischen 1930 und 1970; Abschnitt 2. 4 Flucht und Binnenwanderung als typische Kriegs- und Nachkriegserfahrungen. 30 Vgl. die entsprechenden Thesen im Abschnitt 2. Forschungsstand und Erkenntnisinteresse von Habermas (1969), S. 192f.; Keller (2000), S. 115; Herbert (2003), S. 109; Schörken (2004); Aly (2008), S. 11. 31 Vgl. Schildt/Siegfried (2009), S. 28f., 38f. 32 Vgl. z.B. Wissenschaftsrat (1962); Rohstock (2010). Zu den Auswirkungen der steigenden Studierendenzahlen auf die Studiensituation s. auch Abschnitt 5. Bildungswege nach Erwerb der Hochschulreife. 33 Vgl. Jarausch (1984), S. 71ff. 34 Vgl. Jarausch (1984), S. 129ff., S.176ff., Zitat S. 182. 35 Vgl. Jarausch (1984), S. 216ff.

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Zusammensetzung der Studierendenschaft insgesamt von kontinuierlich absinkenden Anteilen der Selbständigen und Freien Berufe, insbesondere der hohen Einkommensklassen, sowie der Beamtenschaft, zugunsten eines kontinuierlichen Anstiegs der Angestellten, mit Abstand auch der Arbeiterschaft. Ende der 1960er Jahre fallen die Anteile von Selbständigen/Freien Berufen und Beamten – 1968 liegen diese bei je 30% - erstmals hinter den Anteil der Angestellten (31%) zurück.36 Aus den Sozialerhebungen des Deutschen Studentenwerks wird dabei ersichtlich, dass der Zuwachs vor allem auf Angestellte ohne Hochschulabschluss zurückzuführen ist.37 Dort wird auch ersichtlich, dass im Wintersemester 1967/68 der Anteil von Vätern mit Hochschulausbildung 33,5% gegenüber 65,1% von Vätern ohne Hochschulabschluss liegt.38 Vor dem Hintergrund der Überlegungen der Bürgertumsforschung während der letzten rund zehn Jahre zu ‚bürgerlichen Kontinuitäten‘ nach 1945 und der darin konstatierten Entwicklung der Bundesrepublik seit der Nachkriegszeit zu einer ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ stellt sich allerdings die Frage, inwiefern diese ‚Entbürgerlichung‘ der Studierendenschaft, unabhängig vom formalen Kriterium der sozialen Herkunft bzw. der akademischen Bildung des Vaters, mit Blick auf die Bildungsaspirationen von – bis heute – wachsenden Gesellschaftsanteilen als Indiz der unlängst konstatierten ‚Verbürgerlichung‘ der bundesdeutschen Gesellschaft zu deuten ist bzw. aufgrund der offensichtlichen Übernahme eines zentralen Elements von ‚bürgerlicher‘ Lebensführung, nämlich Bildung, die Gruppe selbst auch als ‚bürgerlich‘ betrachtet werden kann. Da diese Frage gerade auch mit Blick auf die Familienkonstellationen gestellt werden kann, wird diese Frage zunächst zurückgestellt und zum Abschluss dieses Abschnitts diskutiert werden.

3.2 B ERUF DER M UTTER Zu den Berufen der Mütter liegen, wie eingangs erläutert, durch die erst später einsetzende systematische Erfassung deutlich weniger Daten vor als zu den Väterberufen, nämlich nur für etwa die Hälfte (88) der Mütter. Entsprechend der Erfassungssystematik ist die Datendichte bei der Gruppe ‚Vor Sommer 1967‘ sehr gering – hier liegen nur für 56 Mütter (40,6% der Teilgruppe) die entsprechenden Informationen vor, hingegen liegen für die Gruppe der Neumitglieder ab Sommer 1967 für 32 Mütter und damit zu gut drei Vierteln diese Angaben vor (74,4% der Teilgruppe). 36 Vgl. Lundgreen (2008), S. 83. 37 Vgl. Kath (1969), S. 41. 38 Vgl. Kath (1969), S. 47.

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Die häufigste Angabe ist in beiden Gruppen „Hausfrau“: Diese Tätigkeit 51 mal genannt, in einem weiteren Fall wird angegeben, dass die Mutter keinen Beruf ausübt, so dass der Anteil der Hausfrauen insgesamt 58,0% der Nennungen ausmacht. In der Gruppe ‚Vor Sommer 1967‘ wird „Hausfrau“ 29 mal genannt, auch das entspricht gut der Hälfte der Nennungen in dieser Gruppe; in der Gruppe der Neumitglieder nach Sommer 1967 wird diese Tätigkeit 22 mal genannt sowie einmal „kein Beruf“ – das entspricht gut zwei Dritteln der Nennungen (69,7%) und gut der Hälfte der Mütter (53,5%) in dieser Teilgruppe. Im Gegensatz dazu werden für 37 Mütter konkrete Berufsangaben gemacht, in der Gruppe ‚Vor Sommer 1967‘ für 27 der Mütter – das entspricht knapp der Hälfte der Nennungen –, in der Gruppe der Neumitglieder für neun Mütter – das entspricht einem knappen Drittel der Nennungen und einem knappen Viertel der Mütter in der Gruppe. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass die Neigung, eine Berufstätigkeit auszuüben, in der etwas älteren Gruppe ‚Vor Sommer 1967‘ etwas höher lag: Gegen einen solchen Schluss spricht die geringe Datendichte gerade in dieser Teilgruppe. Allerdings deutet sich dort ein eine wirtschaftliche Notwendigkeit der Mütter zu Berufstätigkeit ab: So sind elf berufstätige Mütter verwitwet – zumeist Kriegswitwen – oder geschieden und nicht wiederverheiratet bzw. in einem Fall ledig und somit allein erziehend; eine von diesen Müttern lebt in der DDR. Eine weitere Kriegswitwe arbeitet auch nach der Wiederverheiratung weiter. Allerdings sind nicht alle Witwen berufstätig. Von elf weiteren Müttern ist nicht ersichtlich, ob sie den angegebenen Beruf und ggf. wie lange sie ihren Beruf ausgeübt haben. Zwei haben aber zumindest auch noch eine Zeit lang nach der Heirat und der Geburt des Kindes/der Kinder weitergearbeitet. Bei den Hausfrauen ist übrigens nur in einem Fall ersichtlich, dass die Mutter in der Kindheit des SDS-Mitglieds noch berufstätig war. Lediglich eine einzige Mutter ist verheiratet und berufstätig, ohne verwitwet oder zwischenzeitlich geschieden zu sein. In der Gruppe der Neumitglieder nach Sommer 1967 sind drei Frauen verheiratet und berufstätig, wobei in einem Fall der Vater durch Krankheit arbeitsunfähig ist. Bei drei Müttern ist nicht ersichtlich, ob sie angegebene Tätigkeit noch ausüben. Zwei der Mütter sind nach Scheidung allein erziehend. In einem Fall nimmt die Mutter nach der Pleite des Unternehmens des Mannes eine Tätigkeit auf. Bei den Müttern liegen damit allerdings noch weniger Informationen zu erlernter und ausgeübter Tätigkeit vor bzw. generell zu den Bildungsabschlüssen. In der Gruppe ‚Vor Sommer 1967‘ wird von sechs Frauen ersichtlich, dass sie ein Universitäts- oder Hochschulstudium absolviert haben, davon haben fünf mit Promotion abgeschlossen. Der Studiengang oder ein ggf. ausgeübter Beruf ist bei diesen Promovierten allerdings nicht bekannt und nur durch einen Doktor-Titel angezeigt, in einem Fall wird die Tätigkeit „Hausfrau“ genannt. Zwei Mütter haben als Ärztin-

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nen, eine als Studienrätin ein Universitätsstudium absolviert. Des weiteren werden eine Sonderschullehrerin und vier nicht näher spezifizierte Lehrerinnen genannt. Mindestens zehn Mütter sind den Angestellten zuzuordnen, davon mindestens eine in leitender Position: „Angestellte im Öffentlichen Dienst“, „Verwaltungsangestellte“, „Angestellte“, „kaufmännische Angestellte“, „Verwaltungsangestellte“ sowie „Geschäftsführerin“, „Buchhalterin“, „Stenotypistin“, „Kontoristin“ sowie „Krankenschwester“. Eine ist mit einem Modesalon selbständig, eine ist „Putzfrau“, eine weitere ist „Schauspielerin“. Von drei Frauen – „Buchhändlerin“, „Blumenbindemeisterin“, „Grafikerin“ – ist die Art der Beschäftigung (angestellt/selbständig) nicht ersichtlich. In der anderen Gruppe ist mit einer „Dolmetscherin“ lediglich eine Tätigkeit aufgeführt, die auf ein mögliches Universitäts- oder Hochschulstudium verweist, allerdings ist diese Berufsbezeichnung keineswegs eindeutig. Die Tätigkeiten der Mütter sind meistenteils dem Bereich der Angestellten zuzuordnen, in Einzelfällen handelt es sich aber auch um ungelernte Tätigkeiten oder wird die Art der Beschäftigung nicht ersichtlich: aber auch ungelernte Tätigkeiten: „Verwaltungsangestellte“, „kaufmännische Angestellte“, „Zahntechnikerin“, „Modezeichnerin“, „Sekretärin“, „Schauspielerin“, „Hauswartsangestellte“, „Arbeiterin“. Trotz dieser lückenhaften Datenlage ist die Betrachtung der Tätigkeiten und Ausbildungen der Mütter aufschlussreich: Zunächst einmal verweist gerade die Lückenhaftigkeit auf die Geschlechterverhältnisse und Geschlechterrollen – zumindest auf die Leitbilder – in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik – und darüber hinaus. In der Fokussierung von Sozialerhebungen auf den Beruf des Vaters drückt sich die Anerkennung des Vaters als regelmäßiger Haupt- oder idealerweise als Alleinverdiener einer Familie und damit als ‚Haushaltsvorstand‘ aus. So schließt die Erhebung des Deutschen Studentenwerks erst ab den 1980er Jahren durch eine geschlechtsneutrale Formulierung die Möglichkeit ein, dass nicht der Vater der Hauptverdiener ist, und erst seit Ende der 1990er Jahre wird die Möglichkeit eingeschlossen, dass die Mutter über den höheren Bildungsabschluss verfügt.39 Das Datenhandbuch der deutschen Bildungsgeschichte fokussiert in seiner Reklassifizierung der Sozialerhebungen des Deutschen Studentenwerks trotzdem nur auf den Beruf des Vaters, um die Sozialstrukturentwicklung in der Studierendenschaft zwischen 1950 und 2003 darzustellen.40 Letztlich folgt die Konzeption solcher Sozialerhebungen z.T. bis heute dem Leitbild der „bürgerlichen Kleinfamilie“ als der „emotionalen Gemeinschaft eines Ehepaares und ihrer Kinder“, in welcher der Frau die Rolle als Mutter und ‚Hausfrau‘, dem Mann die Rolle des Ernährers zugewiesen 39 Vgl. Lundgreen (2008), S. 146, S. 148. 40 Vgl. Lundgreen (2008), S. 83

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ist.41 Diese Familienform42 entwickelt sich im 18. und 19. Jahrhundert mit der für das Bürgertum typischen Trennung von Beruf und Familie bzw. Wohnung und Arbeitsstätte und erlangt mit dem Aufstieg des Bürgertums gesellschaftliche Leitfunktion, wenngleich etwa für Arbeiterfamilien eine solche Rollenverteilung aufgrund der wirtschaftlichen Bedingungen nicht realisierbar ist.43 Dennoch lässt sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine „zunehmende und alle Schichten umgreifende normative Orientierung am bürgerlichen Familienideal feststellen.“44 Aufgrund der anhaltenden wirtschaftlichen Krisen bleibt die genannte Diskrepanz zwischen Leitbild und Realität in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend bestehen. Erst im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs ab Ende der 1950er Jahre etabliert sich dieses Familienmodell als ‚Normalfall‘: „Nie zuvor war eine Form von Ehe und Familie so dominant wie in der Nachkriegszeit bis etwa Mitte der 60er Jahre.“45 Diese Dominanz lässt sich an steigender Heiratsneigung und zunehmenden Geburtenzahlen sowie abnehmenden Scheidungszahlen ablesen;46 an diesen Kennzeichen lässt sich allerdings auch ablesen, dass die Orientierung an diesem Leitbild zu Beginn der 1960er Jahre ihren Zenit erreicht hat und bereits ab Mitte der 1960er Jahre eine Veränderung von Familie und eine Pluralisierung von Familienformen einsetzt.47 An der Freien Universität wird somit vergleichsweise früh, wenn auch noch längst nicht umfassend, nach dem Beruf der Mutter gefragt – möglicherweise aus der Einsicht heraus, dass die ausschließliche Fokussierung auf den Beruf des Vaters Aspekte familialer Realität ignorieren könnte. Dass diese Realität durchaus vielfältiger war, als es das Leitbild der bürgerlichen Kleinfamilie vermuten lässt, deutet sich in der Betrachtung der Berufe der Mütter von SDSler_innen zumindest an, mehr noch in der Betrachtung der ‚Vollständigkeit‘ der Familien, in der auch die nachfolgende Erfassung von Waisenstatus der SDSler_innen bzw. den Kriegseinsatz des Vaters zu berücksichtigen ist. Insgesamt aber wachsen die SDSler_innen meistenteils in Familien auf, die dem Ideal der ‚bürgerlichen‘ Familie entsprachen – und sei es nach ‚Wiederherstellung‘ dieses Ideals. Inwiefern diese Orientierung am 41 Vgl. Peuckert (2012), S. 11f.; Fuhs (2007), S. 20, Zitat ebd. 42 Peuckert (2012) bezeichnet diese Familienform sowohl als „moderne Kleinfamilie“ ( S. 1, S. 12) als auch „bürgerliche moderne Familie“ (S. 8, S.12). Zur Bezeichnung der ElternKind-Einheit hat der Begriff der „Kernfamilie“ in neuerer Zeit weitgehende Verbreitung in der Familiensoziologie gefunden, vgl. z.B. Nave-Herz (2009), S. 15; Paulus (2005), S. 107. 43 Vgl. Peuckert (2012), S. 12ff.; Fuhs (2007), S. 20. 44 Peuckert (2012), S. 15. 45 Peuckert (2012), S. 1. 46 Vgl. Peuckert (2012), S. 15f., 17f. 47 Vgl. Niehuss (2001); Peuckert (2012), S. 17ff., S. 23ff.

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‚bürgerlichen‘ Familienleitbild als ein Kennzeichen der ‚Bürgerlichkeit‘ der SDSGruppe bzw. von übergreifenden ‚Verbürgerlichungstendenzen‘ in der Bundesrepublik zu deuten sind, wird abschließend im Zusammenhang mit der Frage nach zunehmenden Bildungsaspirationen diskutiert.

3.3 T OD VON E LTERNTEILEN UND KRIEGSBEDINGTE ABWESENHEIT

DES

V ATERS

Von insgesamt 39 SDSler_innen (21,5%) ist der Vater verstorben, ein weiterer ist vermisst, von zwei weiteren ist die Mutter verstorben, vier weitere wachsen als Vollwaisen auf. Während lediglich in einem Fall der Tod der Mutter im Kriegszusammenhang erwähnt wird – bei den anderen werden Krankheiten als Todesursache genannt, eine ist verschollen –, steht der Tod des Vaters größtenteils, allerdings nicht ausschließlich im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg. 24 Väter sind im Krieg gefallen, drei sind im Kriegsgefangenenlager verstorben, einer erliegt Jahre nach Kriegsende einem „Kriegsleiden“. Bei einem weiteren Vater, der kurz vor Kriegsende verstirbt, ist nicht deutlich, ob der Tod im Kriegszusammenhang steht. Bei neun weiteren ist die Todesursache ebenfalls nicht bekannt, z.T. liegt der Todeszeitpunkt allerdings lange nach Kriegsende. Vier Väter sind verunglückt oder Krankheiten erlegen. Hier erweist sich erneut ein bedeutender Einfluss des Zweiten Weltkriegs auf die Lebensverläufe eines Teils der SDSler_innen, welcher angesichts der Alterskohorte und der im vorangegangenen Kapitel aufgezeigten Kriegseinflüsse und nicht zuletzt angesichts mehr als 5 Millionen gefallener deutscher Soldaten48 alles andere als überraschend ist: Gut ein Achtel ist vom Kriegstod des Vaters betroffen. Insgesamt ist ein Viertel (25,4%) vom Verlust eines oder beider Elternteile betroffen. Dennoch lässt sich gemessen an diesen Zahlen hinsichtlich der SDS-Gruppe nicht von einer generellen, kriegsbedingten ‚Vaterlosigkeit‘ sprechen, wie diese als eine Ursache für das ‚Protestpotenzial‘ der Akteur_innen vermutet worden ist. Hinsichtlich einer zumindest temporären Vaterlosigkeit gilt es allerdings auch die Kriegseinsätze und mehr noch die verlängerte Abwesenheit durch Kriegsgefangenschaft zu beachten. So wurden bis Kriegsende mehr als 18 Millionen Männer zum Kriegseinsatz eingezogen,49 mehr als 11 Millionen gerieten bei Kriegsende zumeist kurzzeitig in Kriegsgefangenschaft.50 Allerdings wird der Kriegseinsatz des Vaters nur im Todesfall oder im Zusammenhang mit der Heimkehr Kriegsgefangenschaft er48 Vgl. Wehler (2008d), S. 942. 49 Vgl. Wehler (2008d), S. 942. 50 Vgl. Sywottek (2000), S. 317.

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wähnt. Weitere 13 Studierende erwähnen die Heimkehr ihres Vaters aus Kriegsgefangenschaft, in den meisten Fällen bereits relativ kurz nach Kriegsende (1945, 1946), wie dies bei den meisten Kriegsgefangenen der Fall war, z.T. aber auch erst Jahre danach (1947, 1949), im längsten Fall datiert diese im Jahr 1953.51 In einem Fall gerät auch die Mutter in Kriegsgefangenschaft.52 Einige Studierende sind bei der Rückkehr wenige Jahre alt, andere sind zu dieser Zeit aber auch bereits eingeschult. Diese zum Teil lange Zeit der Abwesenheit des Vaters oder ‚Unvollständigkeit‘ der Kernfamilie lässt allerdings nicht auf eine Selbstüberlassenheit dieser SDSler_innen in der Kindheit schließen, da die Mütter in dieser Zeit zu anderen Teilen der Familie, zumeist zu den Großeltern ziehen oder die Kinder dorthin schicken. Ähnliches gilt auch für die vom Kriegstod des Vaters Betroffenen: Zwar erwähnen nur vier die Wiederverheiratung der Mutter, die anderen ziehen mit ihren Müttern aber ebenfalls zumeist zu den Großeltern. Ebenso wachsen die Vollwaisen bei den Großeltern oder Adoptiveltern, in einem Fall jedoch auch im Heim auf. Darüber, inwiefern ‚Vaterlosigkeit‘ weniger wörtlich gedeutet, sondern sinngemäß als eine Nicht-Anerkennung des Vaters für die SDSler_innen eine Rolle gespielt haben könnte, können auf Grundlage des Materials keine stichhaltigen Aussagen getroffen werden, auch wenn in manchen Lebensläufen mehr oder weniger offen Konflikte innerhalb der Familie angesprochen werden. Diese betreffen allerdings neben dem Vater zuweilen auch die Stiefmutter. In mindestens ebenso vielen Darstellungen deuten sich jedoch auch gute Beziehungen zum leiblichen Vater wie auch zu Stiefelternteilen an. In jedem Fall zeichnen sich für die betroffenen SDSler_innen wechselhafte Familienverhältnisse in der Kriegs- und Nachkriegszeit ab – unabhängig vom sozialen Status und von der ‚Vollständigkeit‘ der Familie gemäß eines bürgerlichen Familienleitbildes.

3.4 ‚E NTBÜRGERLICHUNG ‘ DER S TUDIERENDENSCHAFT UND ‚V ERBÜRGERLICHUNG ‘ DER G ESELLSCHAFT Akademische Bildung als Zurechnungskriterium eines ‚Bildungsbürgertums‘ zugrunde gelegt, stammen die Studierenden in der hier untersuchten SDS-Gruppe, wie 51 Drei Viertel der Kriegsgefangenen waren bis Anfang 1947 wieder zurück in Deutschland, danach wurden in Polen und der Sowjetunion 400.000 Soldaten gefangen gehalten, zumeist aber bis 1950 freigelassen; einige Zehntausend wurde jedoch weit darüber hinaus gefangen gehalten. Vgl. Sywottek (2000), S. 317. 52 Bei Kriegsende gerieten auch 25.000 bis 30.000 deutsche Frauen in Kriegsgefangenschaft; vgl. Sywottek (2000), S. 317.

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die obige Analyse gezeigt hat, keineswegs mehrheitlich aus ‚bürgerlichen‘ Elternhäusern. Im Gegenteil lassen sich auf Grundlage der Daten sogar größere Anteile aus nicht-akademischen Elternhäusern nachweisen als aus akademischen. Auf Grundlage präziserer bzw. differenzierterer Daten mögen sich genauere Verhältniszahlen herausarbeiten lassen, allerdings wird aus den vorliegenden Ergebnissen bereits deutlich, dass größere Verschiebungen zugunsten einer ‚bürgerlichen‘ Dominanz selbst bei präziseren Daten nicht zu erwarten sind. In der Gruppe stehen also ‚bürgerliche‘ Anteile solchen aus ‚altem‘ und ‚neuem Mittelstand‘ gegenüber und spiegeln insofern eine Entwicklung in der deutschen Studierendenschaft, die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts herausgebildet hat. Ein akademisch gebildetes Elternhaus als Kennzeichen für ‚Bürgerlichkeit’ der SDS-Gruppe vernachlässigend, stellt sich vor dem Hintergrund der Befunde der Bürgertumsforschung zu ‚Bürgertum‘, ‚Bürgerlichkeit‘ und ‚bürgerlicher Gesellschaft‘ nach 1945 allerdings die Frage, inwiefern diese sozialstrukturellen Entwicklungen weniger – zumindest nicht nur – als Kennzeichen einer ‚Entbürgerlichung‘ der Studierendenschaft nach traditionellen Kategorien zu bewerten sind, sondern eben auch jene ‚Verbürgerlichung‘ der Gesellschaft erkennen lassen, die für die 1950er und 1960er Jahre der Bundesrepublik konstatiert worden ist. Als zentrale Kennzeichen der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ sind etwa die Ausbildung von parlamentarischer Demokratie, die Akzeptanz von freier Marktwirtschaft und Privateigentum und die Etablierung des Wohlfahrtsstaates beschrieben worden.53 In der Ausbreitung von ‚Bürgerlichkeit‘ als ‚bürgerlicher Kultur‘ wird dabei die Grundlage dieser gesellschaftlichen Entwicklung in den 1950er Jahren gesehen, die begünstigt wurde durch den Exklusivitäts- und Identitätsverlust und, durch den Formwandel, wenn nicht durch die strukturelle Auflösung des Bürgertums. Und obwohl als Wertemuster dieser ‚Bürgerlichkeit‘ „Fleiß, Arbeitsdisziplin, Betonung von Bildung, Distinktion, Diskretion, Sparsamkeit, Orientierung auf die Familie und die Heimat“54 beschrieben worden sind, ist die Bedeutung von Bildung – seit dem 19. Jahrhundert identitätsstiftendes Merkmal des Bürgertums – dabei in der Forschung nicht zentral berücksichtigt worden, und wenn doch, dann ist ihr vor allem im Widerspruch zur konstatierten Öffnung des Bildungssystems eine nach wie vor sozial exklusive Funktion zugeschrieben worden und ist für die frühe Bundesrepublik lediglich das ‚Bildungsgefälle‘ zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft betont worden.55 Beide Argumente, so zutreffend sie sein mögen, stehen damit jedoch keineswegs im Widerspruch dazu, in ‚Bildung‘ einen potenziellen Faktor der bis53 Vgl. Tenfelde (1994); Conze (2004); Hettling (2005); Fischer (2008); Kocka (2008), S. 8f. 54 Conze (2004), S. 535. 55 Vgl. Wehler (2001), S. 628, S. 631. Im Anschluss an diesen Rauh (2008).

3. S OZIALE H ERKUNFT UND FAMILIALE S ITUATION

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lang eher abstrakt als ‚Diffusion‘56 beschriebenen Ausbreitung von ‚Bürgerlichkeit‘ zu suchen. Gerade, wenn einerseits für die frühe Bundesrepublik Bildungsgefälle zwischen unterschiedlichen sozialen Schichten konstatiert werden und für die Gegenwart die Gymnasien als „die wahren Gesamtschulen“57 bezeichnet werden, zeichnet sich auch in diesen Aussagen ein ‚Verbürgerlichungstrend‘ ab, der mit dem Verweis auf eine gehobene soziale Herkunft an diesen Schulen dieses Argument eher noch verstärkt: Die Gründe für diese Entwicklung – steigende Schüler_innenzahlen bei gleichbleibender sozialer Rekrutierung – sind weniger in den Geburtenzahlen gehobener gesellschaftlicher Schichten zu suchen,58 sondern in einem insgesamt gestiegenen Bildungsniveau. Das bereits seit Beginn der Bundesrepublik in der Gesellschaft gestiegene Bildungsniveau – ausgewiesen durch die Expansion von höheren Bildungsabschlüssen – ist letztlich auf eine Entwicklung zurückzuführen, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts einsetzt hat und die in den 1950er und 1960er Jahren zu bis dato ungekannten Größenordnungen – so klein sich die Zahlen in heutiger Perspektive auch ausnehmen mögen – von Abiturient_innen- und Studierendenzahlen führt, welche die Universitäten vor massive Probleme stellen. Die Bildungsreformen der Nachkriegszeit stellen gleichzeitig eine Reaktion auf den gestiegenen Bedarf an höherer Bildung, aber auch eine Reaktion auf die steigende Nachfrage nach höherer Bildung dar.59 Diese erhöhte Nachfrage wird allerdings nicht nur von den Schichten erzeugt, die bereits über höhere Bildung verfügen, sondern eben auch von nicht akademisch gebildeten Gesellschaftsanteilen. Insofern zeigt sich in der zunehmenden Bildungsaspiration, die keinesfalls auf die Universitäten und Gymnasien beschränkt ist, eine immer weiter reichende Übernahme eines ‚bürgerlichen‘ Leitbildes, das Bildung und individuelle Leistung in den Mittelpunkt von sozialen Aufstiegswünschen stellt und begleitend Bildung als Selbstkultivierung durch die Befassung mit Kultur und Wissenschaft einen wichtigen Stellenwert in der Lebensführung zumisst. Dieses Bildungsstreben als Teil einer zunehmenden Wertschätzung von ‚bürgerlichen Werten‘ ab den 1950er Jahren im Zuge des zunehmenden Wohlstands mag somit einerseits in der „Konzentration um das eigene wirtschaftliche Vorankommen“ begründet sein,60 auch wenn es in dieser Verknüpfung an die zeitgenössisch vorgetragene Kritik an den

56 Vgl. z.B. Tenfelde (1994), S. 34f., als Erklärungsmuster findet sich dieses Bild allerdings übergreifend. 57 Wehler (2001), S. 628. 58 Die Geburtenrate ist seit Mitte der 1960er Jahre in beiden deutschen Staaten rückläufig; vgl. Peuckert (2012), S. 17ff., S. 164ff. 59 Vgl. Rohstock (2010), S. 17-32. 60 Vgl. Conze (2004), S. 534.

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‚Brotstudenten‘ erinnert.61 Nichtsdestotrotz muss gerade in der Bildungsexpansion ein maßgeblicher Faktor jener ‚Verbürgerlichungstendenzen‘ gesehen werden. Im Zusammenhang mit dieser Frage sind dabei nicht nur quantitative Gesichtspunkte von Bedeutung. Carola Groppe hat bereits für das Kaiserreich auf die integrierende Funktion von Bildung für das Bürgertum durch die Eröffnung von geteilten Kommunikationsräumen hingewiesen.62 In ähnlicher Weise hatte bereits der Soziologe Pierre Bourdieu diese Integrationsfunktion von Bildung beschrieben: Begriffen als ein „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsprogramm“63 kommt Bildung die Funktion eines Codes zu, der Kommunikation ermöglicht, auch in der Auseinandersetzung über Probleme, da auch die Uneinigkeit „Einigkeit über die Uneinigkeitsbereiche“64 und eine gemeinsame Problembehandlung voraussetzt. Die zum „Konsens im Dissens“ notwendigen Denkkategorien werden gerade im höheren Bildungssystem als ein geteiltes Set an Sprache und Verhaltensweisen vermittelt, das eine geteilte Sinnzuweisung und Organisation der Denkstrukturen erzeugt. Eine mögliche Desintegration durch die Ausdifferenzierung und Spezialisierung im höheren Bildungssystem wird dabei durch einen gemeinsamen Kern in allen Ausbildungsgängen begrenzt. Bourdieu beschreibt dieses Verhältnis der „Unterrichtssysteme und Denksysteme“ zwar vor allem mit Blick auf eine aus den Elitehochschulen Frankreichs hervorgegangene begrenzte gesellschaftliche Elite, allerdings – und dieses Verständnis wird auch bei Bourdieu deutlich, etwa wenn er zu Beginn den Vergleich zu Religionen in „primitiven Gesellschaften“ zieht65 – lassen sich die grundlegenden Prinzipien auf alle ausreichend homogenen Bildungssysteme übertragen und auf alle an ihnen Partizipierenden. So betrachtet ist die Bildungsexpansion in den 1950er und 1960er Jahren nicht nur als Ausdruck einer sich gesellschaftlich ausweitenden Bildungsaspiration zu verstehen, sondern auch als ein Multiplikator eines ‚bürgerlichen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsprogramms‘. Bourdieu hat ferner im Zusammenhang mit der Sicherung der gesellschaftlichen Integration durch Allgemeinbildung auch auf die Bedeutung der Familie hingewiesen.66 In ähnlicher Weise hat Cornelia Rauh im Zusammenhang mit den ‚bürgerlichen‘ Kontinuitäten – sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR – die Bedeutung der Familie für die Tradierung von ‚bürgerlichen‘ Werten betont.67 In bei61 Vgl. Rohstock (2010), S. 33-37. 62 Vgl. Groppe (2001), S. 32ff. 63 Bourdieu (2001), S. 85. 64 Bourdieu (2001), S. 87. 65 Vgl. Bourdieu (2001), S. 84ff., Zitat S. 86. 66 Vgl. Bourdieu (2001), S. 96, S. 100. 67 Vgl. Rauh (2008), insbesondere S. 362.

3. S OZIALE H ERKUNFT UND FAMILIALE S ITUATION

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den Fällen liegt der Fokus zwar auf den gesellschaftlichen Eliten und auf der Weitergabe eines distinktiven Habitus – damit wird allerdings nur ein spezifischer gesellschaftlicher Bereich, nicht aber ein sozial distinktives Verhalten beschrieben, wenn die Familie grundsätzlich als wesentlicher Sozialisationskontext gefasst wird. Insofern ist die Orientierung am ‚bürgerlichen‘ Leitbild der höheren Bildung auch bei den SDSler_innen unter Umständen in der familialen Sozialisation zu suchen, wenn – wie Ergebnisse zum Beruf der Mutter in Übereinstimmung mit weiterreichenden gesellschaftlichen Tendenzen andeuten – bereits das familiäre Leitbild – zumindest nach äußerlichen Kennzeichen – am ‚bürgerlichen‘ Ideal orientiert ist. In dieser Weise ist die hier untersuchte Gruppe als eine Trägerin von ‚Verbürgerlichungstendenzen‘ nach 1945 zu betrachten.

4. Bildungswege bis zur Hochschulreife

Die grundsätzliche Voraussetzung zur Zulassung zum Studium an der Freien Universität Berlin ist seit ihrer Gründung – entsprechend der deutschen Bildungstradition seit 1834, als Preußen das Abitur zur obligatorischen Zulassungsvoraussetzung an Universitäten erhob1 – der Nachweis der Allgemeinen Hochschulreife. Somit belegt der Status der Mitglieder der hier untersuchten SDS-Gruppe als Studierende an der Freien Universität Berlin, dass sie im Besitz des Abschlusszeugnisses einer höheren Schule sind – eine Annahme, die durch die Immatrikulationsunterlagen bestätigt wird.2 Der Erwerb der Allgemeinen Hochschulreife stellt somit ein von allen untersuchten SDSler_innen geteiltes Ereignis im Lebensverlauf dar.3 So banal diese Feststellung zunächst einmal klingen mag, durch dieses Ereignis unterscheiden sich die SDSler_innen allerdings trotz steigender Abiturient_innenzahlen immer noch vom größten Teil der ‚Gleichaltrigen‘ und der Bevölkerung insgesamt, gleichzeitig teilen sie miteinander und mit begrenzten Bevölkerungsanteilen die Erfahrung von höherer Schulbildung und die erfolgreiche Prüfung bestimmter Wissensbestände, die als Ausweis der allgemeinen Hochschulreife zum Universitätsstudium berechtigt. Allerdings ist der Weg zum Abitur, auch wenn die Struktur des Bildungssys-

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Erste Ansätze zur Einführung eines Abiturreglements hatte es in Preußen bereits 1788 sowie 1812 gegeben, aber erst 1834 wurde das Abitur zur unumgänglichen Eingangspforte in den Berufskreis der ‚Akademiker‘ und des höheren Staatsdienstes oder der damit im indirekten Zusammenhang stehenden, wissenschaftlicher Vorbildung bedürfenden Berufskarrieren.“ Vgl. Jeismann (1996a), S. 107ff.; Jeismann (1996b), S. 209ff., Zitat ebd., S. 211.

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Lediglich in zwei Fällen sind Studierende mit sog. Kleiner Matrikel eingeschrieben und genießen somit einen Hörerstatus, der kurz vor Ablegen der Abiturprüfung bewilligt werden konnte und der die Vorlage des Abiturzeugnisses innerhalb der ersten Semester voraussetzte.

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Lediglich in einem Fall der mit Kleiner Matrikel eingeschriebenen Studierenden wird nicht ersichtlich, ob die Abiturprüfung letztlich erfolgreich bestanden wurde.

158 | B ILDUNGSW EGE ZU ‚1968‘

tems vergleichsweise einheitliche Schulkarrieren impliziert, auf recht unterschiedliche Weise zurückgelegt worden und für rund die Hälfte ist der Weg dorthin, aus unterschiedlichen Gründen, keineswegs gradlinig verlaufen. Dies legt bereits ein Blick auf die Zeitspanne, die jeweils zwischen der Einschulung und dem Erwerb der Hochschulreife vergangen ist, nahe: Diese variiert zwischen rund 11 und 24 Jahren, bei fast der Hälfte liegt sie bei 14 und mehr Jahren. Die Einschulungen erfolgen dabei in den Jahren zwischen 1933 und 1955, die Abiturjahrgänge liegen zwischen 1946 und 1968, in einem Fall, in dem die Immatrikulation bereits mit Kleiner Matrikel erfolgt ist, sogar erst 1972. Die Einschulungszeiträume und die Länge der Zeiträume bis zum Erwerb der Hochschulreife verweisen darauf, dass die Bildungsverläufe zur Hochschulreife innerhalb der Gruppe bereits aus (bildungs-)politischen Gründen nur begrenzt als gleichförmig beschrieben werden können: In einen großen Teil der Schulverläufe fallen die Einschnitte von Zweitem Weltkrieg und dem Ende der NS-Zeit sowie der Gründung von Bundesrepublik und DDR. Diese politischen Zäsuren und die damit einhergehenden bildungspolitischen Umbrüche bedingen jedoch nicht zwangsläufig verlängerte Zeiten bis zur Hochschulreife. Eine Reihe von SDSler_innen durchläuft die Schule trotzt der politischen Zäsuren nach äußeren Merkmalen problemlos; für einen anderen Teil sind allerdings durch die politischen Ereignisse unterbrochene, gewundene, in Einzelfällen auch gebrochene Schulkarrieren zu verzeichnen: kriegsbedingte Unterbrechungen, Schulwechsel und verspätete Einschulungen, strukturelle Veränderungen im Bildungssystem und schließlich Schulprobleme, die aus dem Wechsel zwischen den Bildungssystemen in den unterschiedlichen Besatzungszonen bzw. Bundesländern oder zwischen den beiden deutschen Staaten ergeben. Unterbrechungen von Schulkarrieren sind jedoch auch auf sich jedoch auch auf individuelle oder familiäre Gründe zurückzuführen, etwa längere Erkrankungen oder die finanzielle Situation der Familie. Besonders lange Zeiten bis zum Erlangen der Hochschulreife resultieren aus dem Abgang von der Schule und zwischenzeitlicher Berufsausbildung oder auch ungelernter Erwerbstätigkeit. Zusammengenommen reflektieren die Bildungswege somit einerseits die zeitgenössischen politischen Ereignisse und die Entwicklungen in den jeweiligen Bildungssystemen in jenen Jahrzehnten; andererseits zeichnen sich darin individuelle Bildungsverläufe ab. Darin aber reflektieren sie gleichzeitig die unterschiedlichen Möglichkeiten, die sich, nach der Wiederanknüpfung an die Weimarer Republik, innerhalb des Bildungssystems der Bundesrepublik entwickelten, zum Abitur zu gelangen: Zwar stellt das Gymnasium die häufigste Abitur verleihende Schulform für die SDS-Gruppe dar, die unterschiedlichen Gymnasialtypen verweisen dabei auf Reformen der höheren Schulen, deren Wurzeln im Kaiserreich liegen und die in der Bundesrepublik wieder aktuell werden und eine Fortsetzung finden. Eine Reihe von SDSler_innen erwirbt das Abitur an einem Abendgymnasium, andere an Ingenieur-

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und Wirtschaftsoberschulen, deren Abschlussprüfung durch eine Erweiterungsprüfung zur uneingeschränkten Hochschulreife führt. Nur noch wenige SDSler_innen legen das Abitur an einer Oberschule in der DDR ab – in der Bundesrepublik schließlich ergänzt durch eine Anerkennungsprüfung. In diesen Ergebnissen zu den Bildungswegen spiegeln sich also neben den politischen Zäsuren, der (Re-) Implementierung von unterschiedlichen Bildungssystemen in Ost- und Westdeutschland und den individuellen Verläufen darin, auch die Bildungsreformen in der jungen Bundesrepublik, die unter den Gesichtspunkten traditioneller Bildungsansprüche, von Demokratisierung und gesellschaftlicher Teilhabe als auch der volkswirtschaftlichen Relevanz diskutiert wurden. Damit verweisen sie, wie auch die Ergebnisse insgesamt zumindest mittelbar auch auf die längerfristigen Tendenzen – Kontinuitäten und Veränderungen – im Bildungssystem über die hier erfassten Jahrzehnte hinaus bis weit in das 19. Jahrhundert.

4.1 E INSCHULUNGS - UND ABITURJAHRGÄNGE Anhand der Einschulungs- und Abiturjahrgänge lassen sich zunächst einmal grob die Phasen des Schulbesuchs erfassen; „grob“ deshalb, da die Zeiträume zwischen Einschulung und Ablegen der Abiturprüfung, wie eingangs erwähnt, nicht in allen Fällen einem durchgehenden Schulbesuch gewidmet sind. Während die Abiturjahrgänge nahezu vollständig erfasst werden konnten, da im Bewerbungsformular das Jahr anzugeben war, in dem die Hochschulreife erworben wurde, liegen Angaben zu den Jahren der Einschulung nur für knapp drei Viertel (72,9%) aus den Lebensläufen vor. Dennoch lassen sich aus diesen Zahlen zentrale Tendenzen ablesen. Die Einschulungen der SDSler_innen erfolgten entsprechend der Altersstruktur der Gruppe zwischen 1933 und 1955, die Abiturjahrgänge erstrecken sich von 1946 bis 1972. Die Jahre des Schulbesuchs fallen damit insgesamt in eine Phase von politischen Brüchen, mit der vor allem Veränderungen der Staatsformen und der jeweiligen staatlichen Territorien einhergehen, aber auch Veränderungen im Bildungssystem. Die Schulsysteme in den verschiedenen deutschen Staatengebilden unterscheiden sich zunächst einmal auf vor allem auf struktureller Ebene und stellen in unterschiedlichem Ausmaß und auf unterschiedlichen Ebenen eine Abkehr, aber auch eine Fortsetzung der bildungspolitischen Ausgangssituation am Ende der NS-Zeit dar. So wird in der SBZ ein Einheitsschulsystem implementiert, während in der Bundesrepublik das dreigliedrige Schulsystem fortgesetzt wird.4 4

Zu den bildungspolitischen Debatten und den Entwicklungen im Schulsystem nach 1945 im Überblick vgl. für die SBZ und DDR Baske (1998); Herrlitz et al. (2009), S. 197ff.; für die westlichen Besatzungszonen und die Bundesrepublik Furck (1998a); Herrlitz et al.

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Mit den unterschiedlichen politischen Systemen verbinden sich aber nicht nur jeweils unterschiedliche Strukturen innerhalb des Bildungssystems, sondern vor allem die Zielsetzung des Bildungssystems unterliegt einem radikalen Wandel, der sich letztlich auch in den Lehrinhalten niederschlägt. In der SBZ und den westlichen Besatzungszonen sollte das Bildungswesen nach Maßgabe der jeweiligen Besatzungsmächte zur Tilgung von Nazismus und Militarismus und der Entwicklung von ‚demokratischen‘, aber insbesondere sozialistischen Grundsätzen und Überzeugungen dienen;5 demgegenüber hatte das NS-Regime, dem in der bildungshistorischen Forschung ein grundlegendes bildungspolitisches Konzept abgesprochen wird, vor allem über die Jugendorganisationen der NSDAP Einfluss auf Kinder und Jugendliche genommen.6 Gerade in Person von führenden Jugendlichen aus ihren Organisationen erzielte die ‚Staatsjugend‘ jedoch quasi auf indirektem Wege einen gesteigerten Einfluss auf die Schulen.7 In den Auseinandersetzungen zwischen der Reichsjugendführung, die den Erziehungsauftrag von Kindern und Jugendlichen primär für sich und ihre Organisationen beanspruchte, und dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, das sich gegen immer größere Einschnitte in Unterrichtsstunden und Fächerkanon zugunsten der Jugendorganisationen und der Wehrerziehung wehrte, spiegeln sich typische Konkurrenzkämpfe zwischen unterschiedlichen staatlichen Institutionen bzw. staatlichen Institutionen und Parteiinstitutionen.8 In dieser Konkurrenzsituation spiegelt sich allerdings auch die veränderte Bedeutung der Schule als Erziehungsinstitution bzw. als Sozialisationskontext. In der Schule im Nationalsozialismus erfolgt die ideologische Einflussnahme in erster Linie auf der Ebene der Unterrichtsinhalte, insbesondere der Durchsetzung von „Vererbungs- und Rassenkunde“ als Leitlinie aller Fächer und die Betonung germanischer Frühgeschichte, dieser wird in der historischen Betrachtung aufgrund eines Mangels entsprechender Unterrichtsmedien jedoch nur eine begrenzte Reichweite beigemessen.9 Tiefergreifende Auswirkungen auf den alltäglichen Schulbetrieb und insbesondere auf die Schulkultur hatten dagegen die Gesetze „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ und „gegen die Überfüllung der Schulen und Universitäten“, durch die politisch anders denkende und jüdische Lehrer_innen (2009), S. 157ff. Für eine ausführliche Darstellung der Entwicklungen im Bildungssystem s.u. Abschnitt 4.4 Politische Zäsuren und Kontinuität und Wandel im Schulsystem. 5

Vgl. die entsprechenden Direktiven bzw. Befehle der US-amerikanischen und sowjetischen Militäradministrationen, abgedruckt in Froese (1969), S. 75ff., S. 84ff.

6

Vgl. Zymek (1989), S. 190ff.

7

Vgl. Kater (1979).

8

Vgl. Schneider (2000), S. 375-389.

9

Vgl. Zymek (1989), S. 191.

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sowie jüdische Schüler_innen eingeschüchtert, diskriminiert und aus den Schulen entfernt wurden. Auf struktureller Ebene wird das Schulsystem gegenüber der Weimarer Republik vereinheitlicht: Die verschiedenen Typen von höheren Schulen werden zur Oberschule zusammengeführt, die Ansätze zur Koedukation aus der Weimarer Zeit aufhebend nach Jungen und Mädchen getrennt; das humanistische Gymnasium behält eine Sonderstellung, welches dadurch, so ein bildungshistorisches Fazit, zur Eliteschule des städtischen Bürgertums wird. Die vierjährige Grundschule wird als konkurrenzlose Pflichtschule für alle Kinder durchgesetzt. Die Dreigliedrigkeit des Schulsystems durch die Vereinheitlichung der verschiedenen mittleren Schulen in einem systematisierten Mittelschulwesen wird vervollständigt.10 Auch wenn die Eingriffe der nationalsozialistischen Schulpolitik plausibel als ad-hoc-Maßnahmen und Resultat von Neben- und Gegeneinander von staatlichen Behörden und Parteiinstitutionen und weniger als Folgen eines übergeordneten Konzepts gedeutet worden sind,11 dürfen sie in ihren z.T. brutalen Einwirkungen auf Kinder – und Erwachsene – nicht verharmlost werden; gerade in dem Ausschluss jüdischer Schüler_innen und Lehrer_innen sowie in den Eingriffen in die „Sozialisationsordnung“ offenbart sich die Logik von Gewalt und Gewaltandrohung, die der nationalsozialistischen Pädagogik zugrunde lag.12 In dieses NS-Schulwesen wird mit 26 Mitgliedern nur ein vergleichsweise kleiner Teil (14,4%) der hier untersuchten SDS-Gruppe SDSler_innen eingeschult, für die meisten stellt es zudem auch nur für kurze Zeit einen Sozialisationskontext dar, da der Schulbetrieb mit zunehmender Kriegsdauer eingeschränkt wird und schließlich zum Erliegen kommt.13 Allerdings stellt es die Ausgangssituation bei Wiedereröffnung der Schulen nach Kriegsende bzw. den Bezugspunkt der unterschiedlichen bildungspolitischen Maßnahmen der Militäradministrationen in den Besatzungszonen und nachfolgend der Bundesrepublik und der DDR dar. Den größten Einschnitt in die Schulkarrieren dürfte dabei der Wechsel zwischen NS-Regime und SBZ/DDR bedeutet haben. Zwar sind auch in den bildungspolitischen Reformen der Sowjetischen Militäradministration durchaus Fortsetzungen aus der NS-Zeit zu verzeichnen, etwa die Zentralisierung der Bildungsadministration, der Monopolanspruch des Staates auf schulische Bildung und die damit einhergehende Aufrechterhaltung des Privatschulverbots, die endgültige Verdrängung des Einflusses der Kirchen auf die Schulen sowie die politische Indienstnahme des Bil10 Vgl. Zymek (1989), S. 195ff.; ferner Wehler (2008d), S. 819. 11 Vgl. Zymek (1989), S. 191ff; Herrlitz et al. (2009), S. 152f. 12 Vgl. Tenorth (2003), S. 7ff., Zitat S. 11. 13 Vgl. Zymek (1989), S. 199ff.; Schildt/Siegfried (2009), S. 39.

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dungssystems inklusive eines hohen Einflusses von staatlichen Jugendorganisationen auf Schulbetrieb und außerschulische Aktivitäten.14 Die politische Indienstnahme erfolgt aber nun gemäß der ideologischen ‚Kehrtwende‘ vom Nationalsozialismus zum Sozialismus stalinistischer Prägung und diese drückt sich konkret zunächst einmal in einem weitreichenden personellen Wechsel aus. Die ‚Entnazifizierungsmaßnahmen‘ in der SBZ treffen allerdings nicht nur ehemalige Nationalsozialist_innen, sondern auch Kritiker_innen des sozialistischen Umbaus aus allen politischen Lagern und auch aus den eigenen Reihen.15 Für die Schule bedeutet dies – neben den räumlichen und materiellen Problemen einer Wiedereröffnung – einen akuten Mangel an Lehrkräften, dem allerdings durch die kurzfristige Ausbildung sog. „Neulehrer“ entgegen gewirkt wird, eine Lösung, die auch die politische Loyalität der Lehrer_innen sicherstellen soll, mit der jedoch auch eine Deprofessionalisierung des Lehrerberufs einhergeht.16 In der Lehrerbildung zeigt sich auch in der Folgezeit ein Bruch mit der deutschen Bildungstradition, den in gewisser Weise bereits die Nationalsozialisten eingeleitet hatten.17 Während der Lehrberuf für das Volksschulwesen seit dem 19. Jahrhundert eine zunehmende Aufwertung und Professionalisierung erfahren hatte, bis hin zu Bestrebungen in der Weimarer Zeit, die Lehrerbildung der akademischen Ausbildung von Lehrer_innen an höheren Schulen anzugleichen, wird in der DDR die systematische Herabsetzung von Ausbildungsvoraussetzungen und -zeiten für Lehrer_innen fortgesetzt. Lediglich die Ausbildung der Lehrer_innen für die Oberstufe sieht eine Ausbildung an Pädagogischen Hochschulen und Universitäten vor.18 Die Reform des Schulsystems stellt mit der Ablösung des in der NS-Zeit vollendeten dreigliedrigen Schulsystems durch ein gestuftes Einheitsschulsystem indes einen weiteren Bruch mit der deutschen Bildungstradition dar. Die Einführung einer einheitlichen achtjährigen Grundschule und einer ggf. fortführenden vierjährigen Oberschule stellt eine zentrale Maßnahme zur „Demokratisierung“ der Schule und zum „Aufbau eines neuen friedlichen demokratischen Deutschlands“ dar.19 Diese Einheitsschule wird zu Beginn der 1950er Jahre durch

14 Zur Umgestaltung des Schulsystems in der SBZ vgl. Froese (1969), S. 41ff.; Baske (1998), S. 160ff.; Herrlitz et al. (2009), S. 197-234. 15 Vgl. Weber (2012), S. 11. 16 Vgl. Baske (1998), S. 167. 17 Zur Volksschullehrerausbildung in der Weimarer Republik und in der NS-Zeit vgl. MüllerRolli (1989). 18 Vgl. Baske (1998), S. 173. 19 Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule vom 31. Mai 1946, zit.n. Froese (1969), S. 91. Der Aufbau des Schulsystems ist in §3 geregelt.

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einen zehnklassigen Zug ergänzt, der Ende der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre zur allgemeinen Pflichtschule ausgebaut wird.20 Auch in den westlichen Besatzungszonen spielen Demokratisierungsbestrebungen und Entnazifizierungsmaßnahmen eine zentrale Rolle bei der Wiedereröffnung des Schulwesens – allerdings erschöpfen sich die Gemeinsamkeiten zur SBZ schon fast in diesen Begrifflichkeiten. Die Entnazifizierungsmaßnahmen wurden hier insgesamt weniger tiefgreifend durchgeführt, allerdings wurden sie hier wie auch im Osten am konsequentesten im Schulwesen durchgeführt.21 Zumindest zunächst: „Trotz der aufwändigen Entnazifizierungsverfahren fand nach wenigen Jahren nahezu jeder Lehrer – wie belastet auch immer – wieder eine Anstellung in seinem Beruf.“22 Auch im Westen standen die bildungspolitischen Eingriffe im Einklang mit der politischen Umgestaltung, die allerdings im Gegensatz zu der in der SBZ angestrebten Parteidiktatur nach dem Vorbild der Sowjetunion auf die Errichtung einer parlamentarischen Demokratie abzielte. Die unter den Begriffen der re-education und re-orientation gesammelten Umerziehungsbestrebungen der US-amerikanischen und britischen Besatzungsmacht richteten sich gerade auf die Jugend als der Zukunft Deutschlands.23 Entsprechend zielten die in der „Direktive für die Kommandierenden Generale der US-Armee in Deutschland“ vom Juli 1945 für das Erziehungswesen formulierten politischen Richtlinien darauf, „den Nazismus und den deutschen Militarismus in jeder Beziehung innerhalb des deutschen Erziehungswesens auszurotten und mittels eines positiven Umerziehungsprogramms nazistische und militaristische Doktrinen vollständig zu eliminieren sowie die Entwicklung demokratischen Gedankenguts zu fördern.“24 Für die Umsetzung der bildungspolitischen Ziele wurde nicht nur die Neuausrichtung der Inhalte, sondern auch von Schulkultur und Schulsystem vorgesehen.25 Letztere sah zwischenzeitlich die Aufhebung der vertikalen Gliederung in einem gestuften Gesamtschulsystem nach USamerikanischen Vorbild vor; diese Pläne wurden jedoch 1949 kurz vor Gründung der Bundesrepublik fallen gelassen und stattdessen endgültig an das dreigliedrige Schulsystem angeknüpft.26 In dem Vorwurf der „Restauration“ des Bildungswesens manifestiert sich letztlich die Kritik an diesem Vorgehen von Seiten von Schulreformer_innen, die auf eine ‚Demokratisierung‘ des Bildungssystems durch die Auf20 Vgl. Baske (1998), S. 172/73. 21 Vgl. Schildt/Siegfried (2009), S. 53. 22 Vgl. Gass-Bolm (2005), S. 83. 23 Vgl. Füssl (1994). 24 Froese (1969), S. 76. 25 Vgl. Froese (1969), S. 28; Kleßmann (1991), S. 92ff. 26 Vgl. Froese (1969), S. 29; Furck (1998a); Herrlitz et al. (2009), S. 171-196.

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hebung der Dreigliedrigkeit auch in Westdeutschland gehofft hatten.27 Entsprechende Positionen hatten sich bereits nach dem Ersten Weltkrieg nicht durchsetzen können. Dem früh geäußerten – entsprechende Zitate datieren auf 1950 – und seither wiederholter Vorwurf der ‚Restauration‘ ist allerdings mit dem Verweis auf parallel geführte Modernisierungen auch innerhalb der fortgesetzten Dreigliedrigkeit begegnet worden. Als Beispiele werden der flächendeckende Ausbau der Realschule sowie – als pragmatisches Zugeständnis an die konfessionelle Durchmischung infolge der Flüchtlingsbewegung – die Abschaffung der konfessionellen Grund- und Hauptschulen bis 1960 genannt.28 Ferner werden in den 1950er und 1960er Jahren die Möglichkeiten, auf anderem Wege als auf dem Gymnasium zum Abitur zu gelangen ausgebaut: Zum einen wird der sog. Zweite Bildungsweg für Berufstätige ausgebaut, verbunden mit der bildungspolitischen Zielsetzung, „die soziale Selektion des Gymnasiums zu korrigieren und Jugendlichen, die bei dem damals noch nicht voll ausgebauten Netz der Realschulen und Gymnasien keine Möglichkeit hatten, einen mittleren Schulabschluss oder die Hochschulreife zu erwerben, den Hochschulzugang zu ebnen.“29 Dazu werden in den 1950er Jahren zusätzlich zu der bereits seit den 1920er Jahren existierenden Form des Abendgymnasiums auch Kollegs entwickelt. Daneben existierte weiterhin die ebenfalls bereits in den 1920er Jahren eingerichtete Möglichkeit einer Sonderprüfung, die auf ihrem Fachgebiet besonders befähigten Berufstätigen den Zugang zum Hochschulstudium öffnete.30 Dieses Schulsystem der frühen Bundesrepublik, das von Traditionsüberhängen auf struktureller Ebene und einer Fortsetzung von Reformbestrebungen geprägt ist, stellt einen wesentlichen Sozialisationskontext für die überwiegende Mehrheit der Mitglieder im SDS dar. Die Mitglieder der hier untersuchten SDS-Gruppe – dies deutet sich aus den Eckdaten von Einschulung und Erwerb der Hochschule an – durchlaufen also in Abhängigkeit von Alter und Herkunft in unterschiedlichem Maße die variierenden Schulsysteme in NS-Regime, Besatzungszonen sowie in der Bundesrepublik und der DDR: 26 Mitglieder werden zwischen 1933 und 1944 und damit bereits zur NSZeit eingeschult, 59 Mitglieder werden 1945 bis 1949 zwischen Kriegsende und „doppelter Staatsgründung“ (Kleßmann) eingeschult, elf davon in der SBZ, zwischen 1950 und 1955 werden 47 Mitglieder eingeschult, davon sieben in der DDR. Fünf Mitglieder werden übrigens nicht in Deutschland eingeschult, darunter drei

27 Vgl. Führ (1998), S. 10. 28 Vgl. Führ (1998), S. 11. 29 Vgl. Führ (1996), S. 178f. 30 Vgl. Führ (1996), S. 199.

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Deutsche, die im Verlauf der Grundschulzeit in die Bundesrepublik ziehen, und zwei im Ausland aufgewachsene Mitglieder.31 Die meisten derjenigen, die noch zur NS-Zeit eingeschult werden, gehören zur etwas älteren Teilgruppe ‚Vor Sommer 1967‘, nur noch zwei Neumitglieder nach Sommer 1967 sind bereits in der NS-Zeit eingeschult worden. In den Jahren 1946/47 sowie 1949/50 liegen die jeweils höchsten Einschulungszahlen, mit einigem Abstand zu den anderen Jahrgängen; während sich die hohen Einschulungszahlen in den 1949/50 (18 bzw. 20) aus den stärksten Geburtsjahrgängen der Gruppe (1943, 1944) erklären,32 deutet sich aus den ebenfalls vergleichsweise hohen Zahlen in den Jahren 1946/47 (13 bzw. 14) eine Reihe von kriegsbedingt verspäteten Einschulungen an: So war der Schulbetrieb gegen Ende des Krieges weitestgehend zum Erliegen gekommen, nachdem er seit Kriegsbeginn bereits immer weiter eingeschränkt worden war, durch zunehmende außerschulische Verpflichtungen der Schüler_innen, durch Lehrermangel und Unterrichtsausfall sowie den Einzug von immer mehr Schülern der oberen Klassen zum Kriegsdienst seit 1942 und schließlich durch die Bombenangriffe auf deutsche Großstädte ab 1943.33 Noch offene Schulen wurden bei Kriegsende von den Alliierten geschlossen und erst ab Sommer und Herbst 1945 wiedereröffnet.34 Das Abitur erwerben die Mitglieder bis auf eine Ausnahme (1946 in der SBZ) unter den Bedingungen der Bundesrepublik und der DDR zwischen 1951 und 1972. Angesichts der Einschulungsjahrgänge erwerben die meisten SDSler_innen das Abitur erwartungsgemäß zwischen Ende der 1950er und Mitte der 1960er Jahre, die höchste Zahl an Abiturient_innen datiert im Jahr 1963, also genau 13 Jahre nach dem Zeitpunkt der meisten Einschulungen und damit nach der regulären Anzahl von Schuljahren bis zum Erwerb der Hochschulreife in der Bundesrepublik.

4.2 B ILDUNGSVERLÄUFE Eine Gegenüberstellung von Einschulungs- und Abiturjahrgängen der jeweiligen SDS-Mitglieder zeigt jedoch, dass die Dauer zwischen Einschulung und Erwerb der 31 Vgl. dazu auch die regionale Herkunft in Abschnitt 2. Der Einfluss ausländischer Bildungseinrichtungen findet aufgrund der geringen Fallzahlen hier keine weitere Beachtung. Das gilt ebenso für die beiden Mitglieder, die im Verlauf ihrer Schulzeit in das Ausland ziehen. 32 Zur Altersstruktur der untersuchten SDS-Gruppe vgl. Abschnitt 1. Geburtsjahrgänge, Familienstand, Geschlecht. 33 Vgl. Zymek (1989), S. 201ff. 34 Furck (1998a), S. 245; Schildt/Siegfried (2009), S. 39.

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Hochschulreife sehr unterschiedlich ausfällt: Diese liegt zwischen elf und 24 Jahren. Knapp die Hälfte (60) derjenigen, von denen neben dem Jahr des Hochschulerwerbs auch das Jahr der Einschulung bekannt ist, hat 13 Jahre nach der Einschulung das Abitur abgelegt,35 ungefähr die gleiche Anzahl allerdings erst 14 oder mehr Jahre nach Einschulung, ein kleiner Anteil (13) hat das Abitur nach zwölf, in einem Fall sogar bereits nach elf Jahren abgelegt. Diese Zeitspannen sind jedoch nicht unbedingt identisch mit der Anzahl von Schuljahren: Zwar sind auch vergleichsweise lange durchgehende Schulkarrieren von bis zu 15 Jahren zu verzeichnen; mit zunehmender Zeitspanne zwischen Einschulung und Abitur ist diese jedoch in der Regel längeren Unterbrechungen der Schulzeit geschuldet: durch Kriegseinflüsse und Flucht oder durch Berufsausbildung und Erwerbstätigkeit. In Kombination führen diese Einflüsse dazu, dass in einem Fall die Hochschulreife erst im 30. Lebensjahr erworben wird, und zwar – in diesem wie in einigen weiteren Fällen – auf dem ‚Zweiten Bildungsweg‘, der nach 1945 ausgebaut wurde. In Fällen, in denen das Abitur nach 13 bzw. zwölf Jahren erworben wurde, deutet dieses Schulzeit nicht unbedingt auf die in West- bzw. Ostdeutschland übliche Anzahl von Schuljahren bis zum Abitur: So legen einige Abiturient_innen in der Bundesrepublik nach verkürzter Grundschulzeit sowie infolge von Kurzschuljahren nach insgesamt nur zwölf Zeitjahren das Abitur ab; bei einem Teil der Abiturient_innen aus der DDR dauert die Schulzeit länger als die üblichen 12 Jahre, die Gründe dafür werden nicht ersichtlich.36 Die Betrachtung dieser Zeiträume verweist, wie eingangs angemerkt darauf, dass die Bildungsverläufe bis zum Erwerb der Hochschulreife, einem von allen Mitgliedern der hier untersuchten Gruppe geteilten Ereignis im Lebensverlauf, nur begrenzt als gleichmäßig oder gar stringent beschrieben werden können. Da sich vor dem Hintergrund der Kriegseinflüsse und der genannten Wechsel der politischen Systeme und den damit verbundenen Einflüssen auf das Bildungssystem in jenen Jahren überhaupt erst nach der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 schulische Normalverläufe als Maßstab entwerfen lassen, ist dieser Befund zunächst einmal nicht überraschend. Allerdings, so zeigt sich, sind die Bildungswege keineswegs nur von den allgemeinen (bildungs-)politischen Entwicklungen jener Zeit gekennzeichnet, sondern ebenso von individuellen Faktoren. In einer differenzierten Betrachtung dieser Bildungswege bis zum Erwerb der Hochschulreife zeigt 35 Diese Zeitspanne konnte für 131 Studierende rekonstruiert werden konnte (Datendichte 72,4%). Von diesen 131 Studierenden haben 60 (45,8%) ihr Abitur nach 13 Jahren erhalten, 13 (= 9,9%) bereits nach 12 Jahren (zusammen 55,7%). 36 Nicht eingerechnet in diese Zeit ist das Ablegen der Anerkennungsprüfung, die Absolvent_innen der DDR-Oberschule in der Bundesrepublik als Voraussetzung für den Hochschulzugang ablegen mussten.

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sich daher nicht nur ihre Verwobenheit mit politischen Einschnitten und bildungspolitischen Entwicklungen, sondern es entfalten sich innerhalb dieser Strukturen auch individuelle biografische Entwicklungen und Erfahrungen. Die nachfolgende Darstellung der unterschiedlichen Ereignisse und Faktoren, die diese Bildungswege kennzeichnen, macht nur sehr begrenzt Gebrauch von Quantifizierungen. Das Anliegen in diesem Abschnitt besteht vornehmlich in der Beschreibung der Vielfalt von Einflüssen auf die Bildungsverläufe. Zunächst einmal ist eine Vielzahl von Schulwechseln zu registrieren, wobei in diesem Zusammenhang die direkten Wechsel von der Grund- oder Volksschule auf eine höhere Schulform oder Oberstufe aufgrund ihrer ‚systemkonformen Stringenz‘ nur insofern von Interesse sind, als sie einen ‚schulischen Normalfall‘ repräsentieren. Größere Aufmerksamkeit wird hier daher jenen Schulwechseln gewidmet, die etwa bedingt durch Ortswechsel im Zusammenhang mit einem Einschnitt im Lebensverlauf stehen oder – dies gilt nur für die Bundesrepublik – als spätere Übergänge zu einem höheren Schultyp ‚quer‘ zum dreigliedrigen System erfolgen. Dabei zeigt sich, dass einige Schulwechsel, im Zusammenhang mit Ortswechseln auch bei mehrfachen Wechseln in rascher Abfolge, nach äußeren Kennzeichen völlig problemlos verlaufen, während sich andere in Schulproblemen niederschlagen. Insgesamt stehen Anzahl und Anlässe der Schulwechsel vor allem in enger Verbindung mit Ortswechseln, wie sie im Abschnitt zur regionalen Herkunft und Mobilität beschrieben worden sind.37 Mehr als die Hälfte der SDS-Mitglieder hat aufgrund von Ortswechseln mindestens einmal, häufig aber mehrfach die Schule wechseln müssen. So zwangen nach der für eine Gruppe von zehn SDSler_innen typischen Aussage eines Mitglieds Umzüge und familiäre Unsicherheiten des öfteren zu Schulwechseln (vgl. Lebenslauf 30246). Ein anderes SDS-Mitglied hielt im Lebenslauf fest, es sei 1950 eingeschult worden und habe nach drei Volksschuljahren die Aufnahmeprüfung am Gymnasium bestanden. Nach dem durch berufliche Veränderung des Vaters erzwungenen Umzug besuchte die Person zunächst eine Realschule, nach der Mittleren Reife wechselte sie aufs Gymnasium und legte dort 1962 das Abitur ab (vgl. Lebenslauf 52741). Ein weiteres Mitglied schrieb, auf der OTZ sei es Klassenbeste gewesen. Aufgrund der guten Leistungen habe das Mitglied beschlossen, auf den wissenschaftlichen Zweig der Oberschule zu wechseln. Mit Hilfe der damals neuen Aufbauklassen habe es diesen Wechsel gut bewältigt (vgl. Lebenslauf 62570). Die Erwähnung von „Aufbauklassen“ verweist hier auf schulpolitische Maßnahmen zur Erleichterung des Übergangs zu höheren Schulen, die in der Bundesrepublik und West-Berlin bereits vor Beginn der Schulreformdiskussionen der 1960er 37 Vgl. Abschnitt 2. Regionale Herkunft und Mobilität.

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Jahre ergriffen wurden. Dazu zählen neben der Einrichtung von Aufbau- und Übergangsklassen, Aufbauzügen und Aufbaugymnasien auch die Lockerung der Aufnahmeverfahren zu den höheren Schulen, die stoffliche Reduktion und die Schulgeldfreiheit.38 Besonders häufig stehen diese durch Migration bedingten Schulwechsel im Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkriegs. Ein SDS-Mitglied schrieb im Lebenslauf, es habe zunächst von 1941 bis 1945 eine Grundschule besucht, aber den Wohnort durch Flucht 1945 verlassen müssen. Am neuen Wohnort konnte die Grundschule erst nach Kriegsende fortgesetzt werden (vgl. Lebenslauf 34291). Flucht und Vertreibung, so deutet sich hier an, bedeuten entsprechend oft eine Unterbrechung des Schulbesuchs. So heißt es in einem Lebenslauf, dass die Evakuierung und die anschließende Flucht den Grundschulbesuch (begonnen 1943) für einige Zeit unterbrachen und dieser erst 1946 wieder aufgenommen werden konnte. 1948 erfolgte dann der Übertritt in die Oberrealschule (vgl. Lebenslauf 33956). In einem weiteren Lebenslauf heißt es, dass der Schulbesuch aufgrund von Evakuierungsmaßnamen ab 1943 ganz abgebrochen werden musste. Für fast zwei Jahre lebte das SDS-Mitglied ohne regelmäßigen Schulbesuch (vgl. Lebenslauf 30246). Auch der Schulbesuch in der Kinderlandverschickung wird erwähnt. Dabei heißt es in einem Lebenslauf, dass wegen häufigen Ortswechsels und einer mehrjährigen Kinderlandverschickung kein geregelter Schulbesuch erfolgte (vgl. Lebenslauf 57351). Die Kinderlandverschickung stellte aufgrund der Distanz zu Familie und Heimatort einen massiven Eingriff des nationalsozialistischen Regimes in die Sozialisationsprozesse von Millionen von Kindern während des Zweiten Weltkrieges dar, ein geregelter Schulbesuch wurde durch die Konkurrenz zwischen Lehrern und Führern der Hitler-Jugend erschwert, wenn nicht weitgehend durch Lagerleben ersetzt.39 Kriegsbedingte Unterbrechungen betreffen allerdings keineswegs nur Flüchtlinge, sondern alle vor 1945 Eingeschulten, da der Schulbetrieb gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zum Erliegen kam.40 Aufgrund dieser Aussetzung des Schulbetriebs sind einzelne Mitglieder auch verspätet eingeschult worden. Auch nach Kriegsende haben die Kriegsauswirkungen Einfluss auf die Schulkarrieren in dieser Zeit, durch die weiterhin andauernde Flucht, insbesondere auch aus der SBZ und durch Umsiedlung und Familienzusammenführung, allerdings auch Schulwechsel durch Ortswechsel, die, wie oben gesehen, im Zusam38 Vgl. Herrlitz et al. (2009), S. 164f. 39 Vgl. Zymek (1989), S. 203. 40 Vgl. Zymek (1989), S. 199f.; Schildt/Siegfried (2009), S. 39.

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menhang mit dem beruflichen Veränderungen des Vaters stehen. Dabei werden beim Wechsel zwischen Besatzungszonen oder nach 1949 zwischen der DDR und Bundesrepublik bzw. zwischen Bundesländern in Einzelfällen Probleme mit dem Übergang in die unterschiedlichen Systeme geschildert. Die mit Schulwechseln zwischen Besatzungszonen bzw. Bundesländern verbundenen häufigen Schwierigkeiten wurden bereits zeitgenössisch wahrgenommen und alsbald als ein „Schulchaos“ aufgefasst, das die Kultusministerkonferenz bereits Anfang der 1950er Jahre zur Vorbereitung eines Abkommens zwischen den Ländern zur Vereinheitlichung des Schulwesens veranlasste.41 Aber nicht nur der Wechsel zwischen den unterschiedlichen Besatzungszonen oder Bundesländern, sondern auch der Wechsel von der Dorfschule auf eine städtische Schule wird in einem Lebenslauf als problematisch geschildert. Hier wird von großen Schwierigkeiten berichtet, die mit dem Wechsel von einer Schule in der Provinz auf eine Schule in der Großstadt verbunden sind. Es bedurfte Nachhilfestunden der Geschwister, um die Versetzung in die Oberstufe des Gymnasiums zu bewältigen, die dann aber aufgrund zu schwacher Leistungen doch wiederholt werden musste (vgl. Lebenslauf 56851). Nichtversetzung wird darüber hinaus auch als Folge von längerer Krankheit wie auch als Folge von ‚Widerwillen‘ oder ‚Erfolglosigkeit‘ geschildert. Ein SDSMitglied kennzeichnet sich im Lebenslauf als nachlässigen und aufsässigen Schüler, so dass die neunte Klasse wiederholt werden musste. Erst in der Oberstufe sei ein Interesse an schulischen, insbesondere philologischen Fächern entstanden und der Schulerfolg habe sich eingestellt (vgl. Lebenslauf 28650). In einem anderen Lebenslauf ist die Rede davon, dass die Unterprima ohne Erfolg wiederholt werden musste und das Gymnasium deswegen verlassen werden musste (vgl. Lebenslauf 60067). Schulische Probleme ergeben sich in der DDR demgegenüber aus ganz anderen Gründen: So erwähnen einzelne SDSler_innen die Verweigerung des Zugangs zur Oberschule oder die Ausweisung aus der DDR aufgrund mangelnder politischer Konformität. So musste ein SDS-Mitglied aufgrund politischer Tätigkeit an der Schule 1958 aus der DDR ausreisen und erhielt den Status eines politischen Flüchtlings in Westberlin (vgl. Lebenslauf 46858). Eine andere Person spricht davon, dass sie ein Jahr vor dem Abitur an der Oberschule die SBZ wegen politischer Gründe verlassen musste (vgl. Lebenslauf 34291). Ein weiteres Mitglied erwähnt eine Parteimitgliedschaft außerhalb der SED, wofür es kurz vor den Abiturprüfungen von der Schule verwiesen wurde (vgl. Lebenslauf 31090).

41 Vgl. Froese (1969), S. 68ff.; Furck (1998a), S. 248. Das Zitat findet sich bei beiden: Froese (1969), S. 70; Furck (1998a), S. 248.

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Wie sich oben bereits andeutet, führt in einigen Fällen die Schullaufbahn nicht sofort zum Abitur, sondern einige SDSler_innen – dies trifft auf insgesamt 15 Mitglieder zu – verlassen das Gymnasium vorzeitig, andere verlassen die Realschule mit der Mittleren Reife, wieder andere die Volksschule mit dem Volksschulabschluss, um eine Lehre zu beginnen, an die sich in der Regel auch eine z.T. mehrjährige Berufstätigkeit anschließt, aufzunehmen oder auch, um an eine Fachschule überzugehen. So trat ein SDS-Mitglied 1955 in ein Progymnasium ein, das bis zum Schluss, d.h. mit erfolgreicher Mittlerer Reife, durchlaufen wurde. Danach absolvierte dieses Mitglied eine Buchhandelslehre (vgl. Lebenslauf 60518). Eine weitere Person macht 1949 nach acht Jahren Volksschule eine Maschinenschlosserlehre (vgl. Lebenslauf 39075). Eine andere berichtet von schlechten Schulleistungen, so dass das Gymnasium während der zwölften Klasse verlassen werden musste. Danach besuchte sie die höhere Wirtschaftsschule, ursprünglich mit dem von den Eltern vorgegeben Ziel, Kaufmann zu werden (vgl. Lebenslauf 60067). Ein weiteres Mitglied absolviert erfolgreich eine Realschule. Die Eltern ziehen den Wechsel aufs Gymnasium in Erwägung. Aber aufgrund seiner Einschätzung der wirtschaftlichen und politischen Lage schien dem Vater erst einmal das Absolvieren einer Handwerksausbildung angezeigt (vgl. Lebenslauf 41430). In diesen Beispielen zeigt sich der auch von anderen gelegentlich erwähnte Einfluss der Eltern auf die Bildungsentscheidungen. Die meisten dieser SDSler_innen erwerben die Hochschulreife auf dem ‚Zweiten Bildungsweg‘ an öffentlichen oder privaten Abendschulen oder durch die erweiterte Abschlussprüfung einer Fachschule, in zwei Fällen wird das Abitur erst nach der Immatrikulation an der FU angestrebt. Ein Mitglied spricht von der Unzufriedenheit mit der beruflichen Tätigkeit, so dass die Abendschule mit Abitur ein späteres Studium ermöglichen sollte (vgl. Lebenslauf 60067). Zwei der männlichen Mitglieder unter ihnen haben in der Zwischenzeit auch die 1956 wieder eingeführte Wehrpflicht erfüllt. Eine kleinere Gruppe von 13 SDSler_innen hat auch z.T. längere Zeit an einer ausländischen Schule absolviert: Dabei handelt es sich um zum einen um Auslandsjahre, zumeist in den in den USA , aber auch in England und Frankreich, zum anderen aber auch kürzere Aufenthalte von mehreren Monaten; daneben haben einige vergleichsweise kürzere Aufenthalte von mehreren Wochen zum Besuch von Sprachkursen und kulturellen Bildungsveranstaltungen absolviert. Ein SDS-Mitglied schreibt, dass der „American Field Service“ ihm ein Stipendium an einer High School in den USA verschafft hatte. Hier lebte es ein Jahr lang in einer amerikanischen Familie (vgl. Lebenslauf 48132). Ein weiteres SDS-Mitglied schreibt, die Eltern hätten es aufgrund der Nachkriegsentwicklung in der Bundesrepublik in eine englische public school gegeben (vgl. Lebenslauf 52577). In einem anderen Le-

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benslauf wird von vielfachen Reisen in Ausland, insbesondere nach Frankreich sowie von einem mehrmonatigen Besuch eines französischen Lycée berichtet (vgl. Lebenslauf 52577). Die Nennung von Organisationen wie dem American Field Service, ferner dem International Christian Youth Exchange und Youth for Understanding im Zusammenhang mit Auslandsjahren in den USA verweisen dabei auf den nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmenden organisierten Kulturaustausch durch Bildungsaufenthalte.42 Die hier nur exemplarisch aufgeführten Einflüsse auf die Bildungsverläufe illustrieren deren Verwobenheit mit äußeren politischen Einflüssen auf das Bildungssystem wie auch Entwicklungen innerhalb des Bildungssystems sowie verschiedene individuelle Faktoren. Sie alle deuten daraufhin, dass sich auch innerhalb von relativ stabilen Bildungssystemen, die vergleichsweise homogene Bedingungen erzeugen durch zeitgebundene politische Entwicklungen wie auch individuelle Lebensverläufe durchaus unterschiedliche Bildungswege ergeben können. Wie eingangs bereits angemerkt, führen aber alle diese Bildungsverläufe letztlich erfolgreich zum Abitur.

4.3 ABITURZEUGNIS

VERLEIHENDE

S CHULE

Mit einer Ausnahme43 legen die SDSler_innen das Abitur nach der Gründung der beiden deutschen Staaten ab: 164 erwerben in der Bundesrepublik die Allgemeine Hochschulreife;44 entsprechend der regionalen Herkunft und der häufigen Flucht und Ausreise legen nur noch elf das Abitur in der DDR ab. Vier SDSler_innen erwerben den Abschluss einer ausländischen Schule.45 In den Schulformen, an denen die SDSler_innen ihr Abitur in Deutschland ablegen, spiegeln sich die unterschiedlichen Bildungssystementwicklungen in den jeweiligen Besatzungszonen seit 1945 und bzw. in den beiden deutschen Staaten seit 1949. In der Bundesrepublik wird dabei eine Vielzahl unterschiedlicher Schulen genannt: Am häufigsten, nämlich 84 mal ist dies ein „Gymnasium“, welches 20 mal als „humanistisch“ oder „altsprachig“, 18 mal als „neusprachig“ und sechs mal als „mathematisch-naturwissenschaftlich“ spezifiziert. Ferner werden reine Mädchen42 Vgl. Führ (1996), S. 257ff. 43 Lediglich ein Mitglied hat das Abitur in der Nachkriegszeit in der SBZ abgelegt. 44 Von einem SDS-Mitglied ist nicht ersichtlich, ob es die für die Umschreibung auf Große Matrikel zu erbringende Abiturprüfung letztlich bestanden hat. 45 Zur nicht-deutschen Herkunft und Abwanderung in das Ausland bis zum Ende der Schulzeit s. Abschnitt 2. Regionale Herkunft und Mobilität.

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gymnasien (8) und Jungengymnasien (2) genannt. Insgesamt sechs Mal stellt ein Realgymnasium die Abgangsschule dar, davon zwei als Mädchen- und eines als Jungenrealgymnasium. Drei Mal wird eine Oberrealschule genannt. Zehn SDSler_innen erwerben die allgemeine Hochschulreife an einem Internat. 27 SDSler_innen legen das Abitur an einer Oberschule Wissenschaftlichen Zweigs in Berlin ab, von diesen werden drei mal die „Aufbauklassen“ der „Adolph-von-MenzelSchule“ erwähnt. Zehn Mitglieder erwerben die Hochschulreife an einem Abendgymnasium, acht davon an der „Peter-A.-Silbermann-Schule“, die 1927 als das erste öffentliche Abendgymnasium in Deutschland eingerichtet wurde.46 Zwei weitere absolvieren eine Wirtschaftsoberschule, deren Abschlussprüfung durch eine Zusatzprüfung ergänzt und zur allgemeinen Hochschulreife ausgeweitet wird, ebenso wie in einem Fall an die Abschlussprüfung einer Ingenieurschule. In der DDR wird die Hochschulreife an der Oberschule, in einem Fall auch an einer sog. Arbeiter- und Bauernfakultät erworben. In der SBZ wurde das dreigliedrige Schulsystem zugunsten eines Einheitsschulsystems abgeschafft. Zu Beginn der DDR-Zeit baut auf eine achtjährige Grundschule als allgemeine Pflichtschule die zunächst vierjährige Oberschule, die die Klassen 9 und 12 umfasst auf; diese wird in den 1960er Jahren zur erweiterten allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule umgewandelt, die auf eine zehnjährige Pflichtschule aufbaut.47 Die Arbeiterund Bauernfakultäten werden 1946 als Vorstudienanstalten der Universitäten eingerichtet, um das Monopol des Abiturs zum Hochschulzugang zu beseitigen und auf diesem ‚Zweiten Bildungsweg‘ breiteren gesellschaftlichen Schichten den Zugang zum Studium zu ermöglichen.48 Daneben kann der Zugang zur Hochschulreife auch an Fachschulen, die eine Berufsausbildung voraussetzten oder an Abendschulen erworben werden,49 diese Möglichkeiten werden von den entsprechenden SDSler_innen allerdings nicht erwähnt. Die Vielfalt von berechtigten Schultypen in der Bundesrepublik stellt zunächst einmal das Ergebnis des Wiederanknüpfens an die Weimarer Zeit dar. Zu den ‚Restaurationen‘ gehört dabei auch die Rückkehr zum Bildungsföderalismus, durch den sich die genannten Auseinanderentwicklungen in den Besatzungszonen und Bundesländern ergeben.50 Gleichzeitig wird eine Abkehr von der in der NS-Zeit durchgeführten Vereinheitlichung höherer Bildung vollzogen; entsprechend finden sich 46 Vgl. Silbermann (1928). 47 Vgl. Baske (1998), S. 159. 48 Vgl. Führ (1998), S. 14. 49 Vgl. Baske (1998), S. 163f. 50 Zur Wiedereröffnung der Schulen 1945 und der ‚Restauration‘ des Schulsystems vgl. im Überblick Furck (1998a), (1998b); Herrlitz et al. (2009), S. 157-170.

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neben dem altsprachlichen auch neusprachliche und naturwissenschaftlichmathematische Gymnasialtypen sowie bis 1955, als allen höheren Schule die Bezeichnung „Gymnasium“ zuerkannt wird, deren traditionelle Formen des Realgymnasiums und der Oberrealschule.51 Andere Rückanbindungen stellen die Wiederzulassung von Privatschulen und reformpädagogischen Schulen dar, ferner die Aufhebung der strikten Trennung von Jungen- und Mädchenbildung auf den höheren Schulen. Auch die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur, die zunächst auf 12, gegen Ende des Krieges sogar auf 11 Jahre verkürzt worden war, wird einheitlich auf 13 Jahre angehoben. Mit Ausnahme von West-Berlin, wo die Oberschule wissenschaftlichen Zweigs zwölf Jahre dauert. Die Oberschule wissenschaftlichen Zweigs, ebenso wie die Oberschule praktischen und technischen Zweigs, stellte das Resultat der bildungspolitischen Entwicklungen in Berlin dar, die zunächst ein Einheitsschulsystem vorgesehen und durch die Eingliederung in den Bund eine Angleichung an das dreigliedrige Schulsystem der Bundesrepublik notwendig gemacht hatten.52 In Verbindung mit der sechsjährigen Grundschule reflektiert das Schulsystem Berlins letztlich noch am meisten von den ursprünglichen bildungspolitischen Reformvorhaben auch der westlichen Alliierten. Die Bestrebungen zu einem Einheitsschulsystem wurden jedoch in den westlichen Besatzungszonen schließlich zugunsten einer zügigen Wiedereröffnung des Bildungswesens und in der Folgezeit mit Blick auf den sich verschärfenden Ost-West-Konflikt angestrebte zügige Integration eines westlichen deutschen Staates in den Westen aufgegeben.53 Daneben sind Wiederanknüpfungen im Bereich des ‚Zweiten Bildungswegs‘ zu verzeichnen, der in den 1950er Jahren weiter ausgebaut wird.54 In diesem letzten Punkt zeichnen sich jedoch Reformen auf der Ebene der höheren Schulbildung ausgehend von den 1950er Jahren ab, die sich in den 1960er Jahren verstärken, nämlich die Öffnung vielfältiger Wege zum Erreichen der Hochschulreife. Dazu gehört der Ausbau des höheren Schulwesens durch die Ausweitung auf Schultypen, die zunächst nur zur fachgebundenen, ab den 1960er, den Gymnasien gleichgestellt, zur allgemeinen Hochschulreife führen.55 Dies gilt etwa für die Wirtschaftsoberschulen – später Wirtschaftsgymnasien – die bereits von einzelnen SDSler_innen besucht werden. In dieser Weise spiegeln die Abiturzeugnis verleihenden Schulen neben der ‚Restauration‘ des dreigliedrigen Schulsystems und dem Wiederanschluss an die Weimarer Republik eine weitere Pluralisierung im höheren Schulwesen wider, die zu verste51 Zur Wiedereröffnung der Gymnasien vgl. Kraul (1984), S. 185-206; Gass-Bolm (2005), S. 81ff., S. 90. 52 Vgl. Schmoldt (1990); Herrlitz et al. (2009), S. 160. 53 Vgl. Führ (1998), S. 10-12; Herrlitz et al. (2009), S. 157-163. 54 Vgl. Führ (1996), S. 178f. 55 Vgl. Gass-Bolm (2005), S. 211-214.

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hen ist vor dem Hintergrund des sich in den 1950er Jahren allmählich verändernden Stellenwert des Gymnasiums bzw. der sich wandelnden gesellschaftlichen Ansprüchen an diesen Schultyp. Diese veränderten Ansprüche an das Gymnasium stellen allerdings kein Novum dar, sondern stehen – wenn auch nun unter veränderten Vorzeichen – in der Fortsetzung von Reformdiskussionen zum Gymnasium, die etwa bereits im 19. Jahrhundert die Entwicklung weiterer höherer Schultypen begünstigt hatte. Etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde durch Forderungen nach ‚realistischer‘ höherer Bildung der Monopolanspruch des Gymnasiums auf Verleihung der allgemeinen Hochschulreife in Frage gestellt. Dieser Monopolanspruch hatte sich, wie an unterschiedlichen Stellen bereits erwähnt, aus der Konzeption des deutschen Bildungssystems in den preußischen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts ergeben und wurde letztlich durch die Aufwertung von Realgymnasien und Oberrealschulen 1900 aufgehoben.56 Bestrebungen zur Vereinheitlichung des höheren Schulwesens konnten sich allerdings in der Weimarer Republik aufgrund der fortdauernden Auseinandersetzungen über die Funktion der höheren Schulen und den damit zu verbindenden Inhalten nicht durchsetzen.57 Diese Auseinandersetzungen, die letztlich um die Fragen nach der Nützlichkeit oder Zweckmäßigkeit bzw. ‚Zwecklosigkeit‘ von ‚Bildung‘ sowie um die ideologische Ausrichtung des Bildungssystems kreisen, lassen sich im Grunde genommen für die gesamte Existenzdauer eines modernen Bildungssystems in Deutschland verzeichnen und stehen bereits an seinem Ausgangspunkt zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Diese Fragen treten am Ende des Zweiten Weltkrieges im Zusammenhang mit der Wiedereröffnung der Schulen erneut zu Tage, als es darum geht, wie gerade das Schulsystem die angestrebte „Erziehung zu Staatsbürgertum, Völkerverständigung und Demokratie“ gewährleisten könne.58 Das altsprachliche Gymnasium gerät als vermeintliche ‚Standesschule‘ und aufgrund mangelnden Praxisbezugs und Weltfremdheit in die Kritik von Alliierten und Schulreformern. Zunächst setzen sich zwar konservative Bestrebungen durch, die sich neben dem Festhalten an der Drei56 Zur Auseinandersetzung zwischen ‚humanistischer‘ und ‚realistischer‘ Bildung sowie zur Entwicklung des höheren Schulwesens im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis Ausweitung der Berechtigung auf die Realschulen vgl. Kraul (1984), S. 74-99, S. 100-114; Jeismann (1987b), (1996b); Gass-Bolm (2005), S. 40f.; Herrlitz et al. (2009), S. 68-82; zur Entwicklung des Gymnasiums seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert vgl. Jeismann (1996a), (1996b). 57 Vgl. Kraul (1984), S. 127-156; Zymek (1989), S. 171-176; Gass-Bolm (2005), S. 55-70. 58 Gass-Bolm (2005), S. 83.

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gliedrigkeit des Schulwesens auch im Wiederanknüpfen des Gymnasiums an neuhumanistischer Tradition niederschlägt. Durch die Rückkehr zu den Leitbildern von antikem Menschenbild, Religion und deutscher Kultur soll das Gymnasium zu Modernitätskritik erziehen sollte.59 Jedoch wird weder mit dieser programmatischen Ausrichtung auf einen ‚christlichen Humanismus‘ und noch durch die einheitliche Benennung höherer Schulen in ‚Gymnasium‘ eine Vereinheitlichung erzielt. Im Gegenteil wird eine ‚Zersplitterung‘ beklagt, die sich auf Fächerkanon wie Organisation der Schulen gleichermaßen bezieht.60 Neben konservativ auf diesen ‚christlichen Humanismus‘ ausgerichteten Positionen sind allerdings bereits frühzeitig auch solche zu verzeichnen, die im Gegensatz zu einer grundsätzlich technikkritischen Haltung von Gymnasiallehrschaft und Bildungstheoretikern eine stärkere Berücksichtigung von Naturwissenschaften und Technik fordern. Einer defensivkulturkritischen Haltung, die in der zunehmenden Technisierung des Alltags und dem damit verbundenen lebensweltlichen Wandel eine Bedrohung für die Menschen sah, wurde von den Befürwortern von technischen und naturwissenschaftlichen Inhalten jene Bedrohung als ein Argument für ihre Beherrschung durch Integration in eine moderne humanistische Bildung entgegen gehalten.61 Diese Forderungen erhalten vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik wie der weltpolitischen Lage zunehmende politische und öffentliche Resonanz: Der viel zitierte ‚Sputnik-Schock‘ im Jahre 1957 gibt ebenso wie die wenige Jahre später vor dem Hintergrund von Vergleichsstudien der Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD) beschworene „Bildungskatastrophe“62 Anlass zu der Befürchtung, technisch und wirtschaftlich im globalen Vergleich und insbesondere gegenüber dem ‚Ostblock‘ ins Hintertreffen zu geraten.63 Zum Angriffspunkt wird hier die bereits 1954 vom Deutschen Ausschuss – einem 1953 zur Reform des Bildungssystems eingerichteten Beratungsgremium64 – kritisierte Rückständigkeit des deutschen Schulsystems, das nun „durch eine klare und durchgreifende Neuordnung den Bildungsbedürfnissen der modernen Gesellschaft angepasst“ werden soll.65 Gleichzeitig verstärken sich Positionen, die eine stärkere Modernisierung der Schulen nicht nur aus vornehmlich volkswirtschaftlichen 59 Vgl. Gass-Bolm (2005), S. 83ff. 60 Vgl. Gass-Bolm (2005), S. 92ff. 61 Vgl. Gass-Bolm (2005), S. 90f. 62 Picht (1965). 63 Vgl. Kenkmann (2003); Gass-Bolm (2005), S. 175f., Rohstock (2010), S. 17ff. 64 Vgl. Kleemann (1977). 65 Empfehlungen und Gutachten des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen 1953-1965. Gesamtausgabe, hrsg. Von Hans Bohnenkamp, Walter Dirks und Doris Knab, Stuttgart (1966), S. 61.

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Gründen, sondern im Zuge dessen auch eine stärkere ‚Demokratisierung‘ von Schule und Bildung im Sinne einer Erziehung zur Demokratie durch größere Freiheiten für und stärkeren Einbezug vom Schüler_innen, vor allem aber im Sinne von ‚Bildung als Bürgerrecht‘ zur gesellschaftlichen und politischen Teilhabe und damit auch ein soziale Öffnung des Gymnasiums fordern.66 Bereits Ende der 1950er Jahre werden etwa die Zugangswege zum Gymnasium reformiert – die nachweislich ungeeigneten Aufnahmeprüfungen werden zugunsten mehrstufiger Verfahren, in die auch Grundschule und Eltern eingebunden werden, ersetzt67 – und Anfang der 1960er Jahre die Bedeutung der Schülermitverwaltung (SMV) für eine demokratische Erziehung betont – ohne jedoch das dem Verhältnis von Schule und SMV zugrunde liegende harmonische Partnerschaftsverständnis aufzugeben und die SMV in eine echte Interessenvertretung der Schüler_innen umzuwandeln.68 Die Funktion der Interessenvertretung von Schüler_innen wird erst Ende der 1960er Jahre aus einem demokratisch-emanzipatorischen Schulauftrag abgeleitet und institutionell verankert.69 In diese Phase erster Reformen im höheren Schulwesen fällt auch die bereits erwähnte Pluralisierung von Gymnasialarten durch die Gleichstellung bis dato nicht-berechtigter Schulen. Die durch den Abbau von Zugangsbarrieren und den Ausbau des höheren Schulwesens erzielte Bildungsexpansion – ausgewiesen durch die in den 1960er Jahren steigenden Zahlen von Gymnasiast_innen und Abiturient_innen70 – bedeutet schließlich einen „Verlust von Exklusivität und Sozialprestige“71, der einhergeht mit einer „Entbürgerlichung gymnasialer Jugendkultur“72: „Als Stätte der Massenbildung konnte das Gymnasium einen weniger gehobenen Rang beanspruchen als das frühere exklusive Gymnasium. In den fünfziger Jahren war der elitäre Habitus noch andeutungsweise zu erkennen, den höhere Schüler am Anfang des Jahrhunderts offensiv dargeboten hatten; Mitte der sechziger Jahre hatte er sich weitgehend verflüchtigt.“73 Parallel zu den bildungspolitischen Debatten und organisationalen Reformansätzen vollziehen sich seit den 1950er Jahren auch Veränderungen der Schulkultur im Gymnasium durch zunehmende Liberalisierung: Dazu zählen neben der Betonung der SMV als ein Instrument der demokratischen Erziehung vor allem das Aussetzen und schließlich die Abschaffung der Prügelstrafe, die Abschaffung der 66 Vgl. Dahrendorf (1965); Furck (1965). 67 Vgl. Gass-Bolm (2005), S. 231ff. 68 Vgl. Reuter (1998), S. 261; Gass-Bolm (2006), S. 117. 69 Vgl. Reuter (1998). 70 Vgl. Lundgreen (1981). 71 Gass-Bolm (2005), S. 245. 72 Gass-Bolm (2005), S. 247. 73 Gass-Bolm (2005), S. 250.

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Grußpflicht für Schüler_innen gegenüber Lehrer_innen und die Abschaffung der Genehmigungspflicht für Schülerzeitungen, die insgesamt einen Abbau der Hierarchien zwischen Lehrer_innen und Schüler_innen signalisieren.74 Dieses Gymnasium in der Bundesrepublik, das in langer historischer Tradition von Kontinuität und Reformdiskussionen und -bestrebungen steht und nach Kriegsende zunächst im Anschluss an die Weimarer Republik wiedereröffnet wird, das allerdings fast unmittelbar unter zunehmenden Reformdruck gerät und sich unter diesem Druck zunehmend zu wandeln beginnt, das in der Zeit von der Wiedereröffnung bis zum Ende der 1960er Jahre von einer allmählichen Modernisierung des Fächerkanons, einer Liberalisierung der Schulkultur und einer Demokratisierung in Hinsicht auf Zugang sowie Beteilung der Schüler_innen stellt für einen Großteil der SDSler_innen, wenngleich in unterschiedlichem zeitlichem Umfang und z.T. zeitlich versetzt, einen wesentlichen Sozialisationskontext dar. In den hier skizzierten Entwicklungen des Gymnasiums in der Bundesrepublik zeichnen sich dabei hinter den politischen Brüchen auch längerfristige Kontinuitäten ab. Insofern ist der zu Beginn der 1950er Jahre formulierte und über Jahrzehnte tradierte Restaurationsvorwurf kritisch zu betrachten oder vielmehr auszudifferenzieren, da der Wiederanschluss an die Struktur auch mit einer Neuaufnahme von Reformdebatten einhergeht, die sich letztlich unter den veränderten Bedingungen der Bundesrepublik zumindest in Teilen frühzeitig durchzusetzen beginnen. Insofern stellt gerade das Gymnasium einen Sozialisationskontext dar, der in besonderer Weise von kurzfristigen Einflüssen und langfristigen Tendenzen gekennzeichnet ist. Welche Bedeutung diese Überlagerung von kurzfristigen und langfristigen Entwicklungen im höheren Schulsystem für die SDSler_innen gerade auch in generationaler Hinsicht hat, wird in diesem Abschnitt abschließend vor dem Hintergrund von Eigendynamik und Beharrungstendenzen, die dem Bildungssystem in Deutschland – und damit in begrenzter Hinsicht sogar dem DDR-Bildungssystem – gerade aufgrund seiner Systematik attestiert worden sind, diskutiert.

4.4 P OLITISCHE Z ÄSUREN UND K ONTINUITÄT W ANDEL IM S CHULSYSTEM

UND

„Die Periodisierung der Geschichte ist im Felde der Bildungspolitik besonders schwierig. Hier begegnen sich Geistesgeschichte und politische Geschichte, deren Abläufe in unterschiedlichen Rhythmen erfolgen.“75 Diese Einschätzung von Hell74 Vgl. Gass-Bolm (2005), S. 215-224. 75 Becker (1990), S. 63.

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mut Becker bezieht sich zwar auf die Frage nach den bildungspolitischen „Zäsuren nach 1945“76, kann allerdings darüber hinaus auf den gesamten hier relevanten Zeitraum und darüber hinaus bezogen werden, neben der Bundesrepublik – mit Abstrichen – auch auf die DDR. Wie gesehen ist die Schulzeit eines großen Teils der Mitglieder der hier untersuchten SDS-Gruppe von Brüchen auf der Ebene des politischen Systems gekennzeichnet: So durchlaufen die SDSler_innen in unterschiedlichem Maße das Schulsystem zwischen Nationalsozialismus, den verschiedenen Besatzungszonen der Nachkriegszeit sowie nach 1949 der DDR und insbesondere der Bundesrepublik. Die mit den Wechseln von politischen Systemen einhergehenden Umbrüche im Bildungssystem müssen jedoch differenziert betrachtet werden nach bildungspolitischen Entscheidungen und programmatischen Äußerungen einerseits und tatsächlichen Änderungen andererseits, vor allem auch unterhalb der politischen und strukturellen Ebene. Die jeweiligen Entwicklungen dürfen dabei nicht voraussetzungslos betrachtet werden, vielmehr verdeutlicht der Blick auf die Bildungspolitik und Bildungssystementwicklung gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert, dass jene Entwicklungen nach 1945 in unterschiedlicher Weise Anknüpfung und Abkehr von vorausgehenden Prozessen und Entwicklungen darstellen. Auf diese Weise werden hinter den kurzfristigen Wechseln staatlicher Verfasstheit auch langfristige Entwicklungen und Kontinuitäten im Bildungsbereich sichtbar.77 In dieser Perspektive wird deutlich, dass etwa die Schulreformen der Nationalsozialisten auf struktureller Ebene eher Anerkennungen und Fortsetzungen von längerfristigen Entwicklungstrends als tiefgreifende Veränderungen darstellen.78 Dies gilt zum einen für die oben bereits angeführte Vereinheitlichung der verschiedenen Typen von höheren Schulen in der 12-jährigen, zum Abitur führenden Oberschule sowie für die Sonderstellung des humanistischen Gymnasiums, welches dadurch – so eine bildungshistorische Deutung – zur Eliteschule des städtischen Bürgertums wurde; dies gilt zum anderen und insbesondere für die Durchsetzung der vierjährigen Grundschule als konkurrenzlose Pflichtschule für alle Kinder, die Durchsetzung des dreigliedrigen Schulsystems durch die Vereinheitlichung der verschiedenen mittleren Schulen in einem systematisierten Mittelschulwesen.79 Wie gesagt, stellt das vom Nationalsozialisten umstrukturierte – und rassenideologisch durchsetzte – Bildungssystem die Ausgangssituation bei Wiedereröffnung der Schulen nach Kriegsende und den Anknüpfungspunkt für die bildungspoliti76 Vgl. Broszat (1990). 77 Vgl. einen entsprechenden Hinweis mit Blick auf die NS-Zeit bei Zymek (1989), S. 155. 78 Vgl. Zymek (1989), S. 190ff.; Schneider (2000), S. 445f.; Gass-Bolm (2005), S. 79; Wehler (2008d), S. 818. 79 Vgl. Zymek (1989), S. 195ff.; ferner Wehler (2008b), S. 819.

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schen Reformmaßnahmen der Militäradministrationen in den Besatzungszonen und nachfolgend der Bundesrepublik und der DDR dar. Aber auch die damit verbundenen Einschnitte in das Bildungssystem wie in die jeweiligen Schulkarrieren sind differenziert zu betrachten. Den tiefsten Einschnitt, so wurde bereits oben konstatiert, dürfte dabei der Wechsel zwischen NS-Regime und SBZ/DDR bedeutet haben. Allerdings sind auch in den bildungspolitischen Reformen der Sowjetischen Militäradministration durchaus auch Fortsetzungen aus der NS-Zeit zu verzeichnen, etwa die Zentralisierung der Bildungsadministration, den Monopolanspruch des Staates auf schulische Bildung und die damit einhergehende Aufrechterhaltung des Privatschulverbots, die endgültige Verdrängung des Einflusses der Kirchen auf die Schulen. In ideologischer ‚Kehrtwende‘ erfolgt nun die politische Indienstnahme des Bildungssystems im Sinne des Stalinismus, inklusive eines hohen Einflusses von staatlichen Jugendorganisationen auf Schulbetrieb und außerschulische Aktivitäten.80 Brüche mit der deutschen Bildungstradition zeigen sich in der Ablösung des dreigliedrigen Schulsystems durch ein gestuftes Einheitsschulsystem und in der systematischen Herabsetzung von Ausbildungsvoraussetzungen und -zeiten für Lehrer_innen.81 Allerdings präsentiert sich die schulische Realität letztlich doch weniger einheitlich als es das zur ‚Demokratisierung‘ der Bildung intendierte Einheitsschulsystem offiziell vorgibt: Dies zeigt sich nicht nur in der Ergänzung der einheitlichen achtjährigen Grundschule zu Beginn der 1950er Jahre durch einen zehnklassigen Zug, der Ende der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre zur allgemeinen Pflichtschule ausgebaut wird,82 sondern letztlich auch in den unterschiedlichen Möglichkeiten zur Hochschulreife zu gelangen, von denen bereits das „Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule“ von 1946 vier vorsah.83 Bis Mitte der 1960er Jahre erhöht sich der Komplexitätsgrad des Bildungssystems oberhalb der 8. Klasse der allgemeinbildenden Schule und vervielfältigen sich die Möglichkeiten, zum Universitätsstudium zu gelangen, weiter; danach wird das Bildungssystem mit dem „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem“ noch weiter ausdifferenziert.84 Ferner unterschieden sich die Schulen in den ländlichen Regionen von denen in den städtischen Regionen durch eine organisatorische Struktur, die etwa durch Dezentralität von Schulverbänden anstelle von Zentralschulen den regionalen

80 Zur Umgestaltung des Schulsystems in der SBZ vgl. Froese (1969), S. 41ff.; Baske (1998), S. 160ff.; Herrlitz et al. (2009), S. 197-234. 81 Zur Volksschullehrerausbildung in der Weimarer Republik und in der NS-Zeit vgl. MüllerRolli (1989); zur Lehrer_innenausbildung in der DDR vgl. Baske (1998), S. 173. 82 Vgl. Baske (1998), S. 172/73. 83 Vgl. die schematische Abbildung bei Baske (1998), S. 164. 84 Vgl. die schematischen Abbildungen bei Baske (1998), S. 177, S. 186.

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Bedingungen angepasst werden konnte.85 Was jedoch bereits im NS-Regime erhalten geblieben war und auch in der DDR beibehalten wird, sind nicht nur der staatliche Anspruch auf Bildung und Erziehung, sondern eine grundlegende Systematik im Bildungssystem, in der die einzelnen Elemente aufeinander bezogen sind. Diese Feststellung mag zunächst banal erscheinen, aber erst durch die Verstaatlichung des Bildungssystems kann der Staat seine Bildungs- oder Erziehungsansprüche an das Bildungssystem formulieren, erst durch eine Systematisierung diese Ansprüche langfristig auch durchsetzen. Eine einmal erfolgte „Systembildung“86 im Bildungsund Erziehungsbereich erschwert allerdings nachfolgend kurzfristige Eingriffe, wie Untersuchungen von Detlef K. Müller und Bernd Zymek in den Analysen von langen Datenreihen zum deutschen Bildungssystem im 19. und 20. Jahrhundert herausgearbeitet haben: „Es ist das Ergebnis dieser empirischen Analysen zur Geschichte des deutschen Bildungssystems, dass ein einmal bis zu einem gewissen Grad institutionalisierter, zum größten Teil verrechtlichter Systemzusammenhang, dessen Elemente sich gegenseitig stützen und absichern (z.B. Schulformen, Fächer, Lehrämter, Wissenschaften, Verbände), die Handlungsspielräume jeder Art von Politik einengt. Jede politische Aktion – sowohl der amtlichen Politik, der Verwaltungen wie auch der Verbände und privater Initiativen – hatte im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts nur noch in Anlehnung an, als Variation von bzw. als Transformation der Maßstab setzenden Institutionen und der sie tragenden Prinzipien Realisierungschancen.“87 Das Bildungssystem erhält auf diese Weise gleichermaßen Eigendynamik und Beharrungsvermögen. In dieser Sicht erklären sich die Kontinuitäten innerhalb des Bildungsbereichs, die sich trotz der tiefen politischen Einschnitte von 1933 und 1945/49 und der mit ihnen einhergehenden Eingriffsversuche in das Bildungssystem ergeben. Diese Kontinuitäten sind zugebenermaßen für die DDR schwieriger aufzudecken, allerdings bleiben auch dort die Bezogenheit von Schule und Universität, die Teilung in höhere Allgemeinbildung und Berufsbildung in den höheren Klassen, die Verkopplung von Bildungssystem und Arbeitsmarkt erhalten, welche die DDR-Führung letztlich immer wieder zu Reformen von Reformen zwingen, um ein Absinken des Bildungsniveaus durch eine überstarke Betonung des ideologischen Anspruchs an die ‚Demokratisierung‘ des Bildungssystems und die ‚sozialistischen‘ Erziehung zu verhindern. Die tiefsten Einschnitte in das Bildungssystem in der DDR wie im NS-Staat ergeben sich durch personellen Austausch, durch den Ausschluss bzw. die Bevorzugung bestimmter Bevölkerungsgruppen. Aber entweder zwingen die damit verbundenen Veränderungen schon bald

85 Vgl. Baske (1998), S. 165. 86 Müller/Zymek (1987), S. 35ff. 87 Zymek (2006), S. 37f.

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zu Gegenmaßnahmen88 oder es werden ideologische Ansprüche nur unzureichend durchgesetzt,89 um eben diese Entwicklungen zu verhindern; kurzfristige Effekte von sozialer Öffnung ‚verpuffen‘ schon bald.90 DDR wie NS-Staat und ihre jeweiligen Bildungssysteme sind jedoch als Sozialisationskontexte gegenüber dem bundesrepublikanischen Bildungssystem von nachrangiger Bedeutung für die hier untersuchte SDS-Gruppe. Hier zeigen sich besagte Kontinuitäten am stärksten, wie sich in der Fortsetzung des dreigliedrigen Schulsystems zeigt und wie sie sich insbesondere in den obigen Darstellungen zum Gymnasium andeuten. In dem Vorwurf der „Restauration“ des Bildungssystems manifestiert sich letztlich die Kritik an diesen Kontinuitäten, der ‚Wiederanschluss‘ an die Weimarer Zeit ist allerdings auch als Pragmatismus zur schnellen Wiedereröffnung eines bestehenden Systems argumentiert worden. Der Kritik von Seiten der Schulreformer_innen, die auf eine ‚Demokratisierung‘ des Bildungssystems durch die Aufhebung der Dreigliederigkeit auch in Westdeutschland gehofft hatten,91 wird damit letztlich die Beharrlichkeit des Systems entgegen gehalten, aufgrund derer es auch die NS-Zeit in seinen Fundamenten überdauert hat. Insgesamt stellt diese ‚Restauration‘ jedoch erstens auch eine Fortsetzung von Reformen aus der NS-Zeit dar, die selbst wiederum eine Fortsetzung von Reformenbestrebungen aus der Weimarer Zeit darstellen und mit dem strukturellen ‚Wiederanschluss‘ an die Weimarer Republik wird jedoch auch an die Diskussionen zu Schulreformen und zur Demokratisierung des Bildungssystems jener Zeit wieder ange88 So sorgen während der NS-Zeit etwa der Ausschluss von jüdischen Professor_innen und Studierenden sowie politischer Gegner_innen durch die Gesetze „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ und „gegen die Überfüllung der Schulen und Universitäten“ sowie die Bevorzugung von Wissenschaftlern nach politischen und weniger nach wissenschaftlichen Kriterien während der NS-Zeit zunehmend für ein offen kritisiertes Absinken von wissenschaftlichen Standards, die zu einer Öffnung der rigiden Zulassungspolitik führen. Durch die zunehmende außeruniversitäre Beanspruchung von Studierenden wird ein allgemeiner Leistungsabfall beklagt; ähnliches gilt für Abiturient_innen. Vgl. Titze (1989); Jarausch (1984), S. 176-211. 89 In der SBZ/DDR konnten etwa die meisten Hochschullehrer in medizinischen, technischen und naturwissenschaftlichen Fächern trotz ihrer Zugehörigkeit zum ‚Bildungsbürgertum‘ ihre Stelle nach 1945 beibehalten, da die staatliche Führung von ihrem Spezialwissen abhängig war. Vgl. Großbölting (2008), S. 21f.; Rauh (2008), S. 355ff. 90 Nachdem sich durch die systematische Förderung von ‚Arbeiter- und Bauernkindern‘ ihre Anteile in den Institutionen der höheren Bildung zunächst deutlich erhöht hatte, vollzog sich bereits in den 1960er Jahren eine soziale Schließung von höheren Bildungseinrichtungen. Vgl. Rauh (2008), S. 358ff. 91 Vgl. Führ (1998), S. 10.

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knüpft. Dieses Mal allerdings vor dem Hintergrund der bildungspolitischen Ansprüche der Alliierten, die zwar schon bald ihre ehrgeizigen Demokratisierungspläne (insb. die Aufhebung der Dreigliedrigkeit) für das westdeutsche Bildungssystem vor dem Hintergrund außenpolitischer Prioritäten aufgeben – die Bundesrepublik soll im heraufziehenden Szenario des Kalten Krieges möglichst schnell als eigenständiger Staat in das westliche Verteidigungsbündnis integriert werden –, die bloße Anwesenheit der Besatzungsmächte machte allerdings auch Rückschritte unmöglich, wie etwa das Veto der britischen Besatzungsmacht gegen die Einführung von Latein als erster Sprache an den Gymnasien in Nordrhein-Westfalen deutlicht macht.92 Inwiefern die Durchsetzung der in den 1960er Jahren immer lauter werdenden Forderungen nach Demokratisierung des Bildungssystems und nach Modernisierung, Liberalisierung und Öffnung des Gymnasiums auch auf eine langfristige Wirkung der Bestrebungen der Alliierten zu einer re-education bzw. re-orientation zurückgeführt werden können, zumindest indirekt als Stabilisierung von entsprechenden Bestrebungen aus der deutschen Gesellschaft heraus, ist in der Forschung eine offene Frage. Bislang sind diese Bestrebungen aufgrund des Nachweises von kurzfristigen Erfolgen von zahlreichen Beobachtern als gescheitert beurteilt worden. Angesichts der sozialisationstheoretischen und didaktischen Naivität dieser Bestrebungen ist das kurzfristige Scheitern nicht verwunderlich und bietet selbst genug Anlass für Untersuchungen; aufgrund dieses Ausbleibens kurzfristiger Erfolge den Diskursen allerdings keinerlei Einfluss zuzugestehen, erscheint mir vor dem Hintergrund der Entwicklungen in der Bundesrepublik voreilig. Wie die Durchsetzung von Ansätzen zur Demokratisierung des Bildungssystems und zur Modernisierung, Liberalisierung und sozialer Öffnung des Gymnasiums zeigen, können sich trotz aller Beharrungsmomente des Bildungssystems manche Reformtendenzen selbst bei Abwehrreaktionen langfristig – wie gesehen reichen manche Reformforderungen bis weit in das 19. Jahrhundert – durchsetzen. Hellmut Becker hat diese langfristige Durchsetzung von Reformideen, die sich auch gegen Abwehrreaktionen durchzusetzen vermögen und bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts zu verzeichnen seien, als „Sickereffekte“ beschrieben.93 In dieser Perspektive werden Reformen ‚von oben‘ konzipiert und ‚sickern‘ entsprechend auf die unteren Ebenen durch. In dieser Form beschreiben sie abstrakt die Anpassungsprozesse, die Bernd Zymek etwas konkreter als die zur Umsetzung von Reformgesetzen notwendigen Modifikationen der allgemeingültigen Konzepte in der Realität auf der Ebene der einzelnen Schule beschrieben hat, die so lange andauern, „bis die alten Strukturen und Mentalitäten an die neuen Zielvorgaben angepasst sind.“94 Zy92 Fuchs (2004), S. 82f. 93 Vgl. Becker (1990), S. 63. 94 Vgl. Zymek (2006), S. 41f., Zitat S. 41.

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mek verweist damit über die Strukturen hinaus auf die Individuen, die das Bildungssystem konkret ausgestalten. In dieser Perspektive wäre zu fragen, inwiefern die Beschreibung von Bildungsreformen als ‚top down‘-Prozesse, die für das frühe 19. Jahrhundert mit Sicherheit zutreffend sind, mit fortschreitender Entwicklung des Bildungssystems durch ‚bottom up‘-Prozesse ergänzt werden müssen und dadurch ‚spiralförmige‘ Bewegungen annehmen. Die Schulverläufe der SDSler_innen in dieser Phase der deutschen Geschichte – ironischerweise liegt das früheste Einschulungsdatum 1933, der späteste Abiturjahrgang 1968 – können mit Blick auf die vergleichsweise rasche Abfolge von politischen Zäsuren und den damit einhergehenden Einschnitten im Schulalltag, Systemwechseln und kurzfristigen Reformmaßnahmen durchaus als generational prägende Erfahrung gedeutet werden. Ähnliches gilt für die Erfahrung eines Schulsystems in der Bundesrepublik, das zunehmend mit Demokratisierungs- und Teilhabeansprüchen verknüpft wird, eines Gymnasiums, das sich zunehmend modernisiert und liberalisiert. Allerdings verlaufen diese Schulkarrieren nicht parallel, sondern z.T. zeitlich versetzt, so dass die genannten Zäsuren und Reformen die jeweiligen Schulkarrieren in unterschiedlichem Ausmaß, z.T. auch gar nicht betreffen. Zwar durchlaufen die meisten, aber eben nicht alle untersuchten SDS-Mitglieder zumindest zeitweise das Schulsystem in der Bundesrepublik, so dass hier auch unterschiedliche Erfahrungen zugrunde gelegt werden müssen. Zudem werden in den Bildungsverläufen die systemabhängigen Einflüsse auch von systemunabhängigen, individuellen Erfahrungen überlagert. Aufgrund der geschilderten Eigendynamik und des Beharrungsvermögens des Bildungssystems und der damit verbundenen langfristigen Kontinuitäten und Fortschritten können gerade die Erfahrungen im höheren Bildungsbereich jedoch auch als generationenübergreifend gefasst werden.

5. Bildungswege nach Erwerb der Hochschulreife

Der Bildungsweg nach Erreichen der Hochschulreife – unabhängig von den jeweiligen Bildungsverläufen zuvor – führt die Mitglieder der untersuchten SDS-Gruppe in der Regel direkt in die Universität. Insofern umfassen die nachfolgenden Darstellungen ausschließlich das Universitätsstudium. In wenigen Einzelfällen werden Praktika zur Vorbereitung insbesondere auf technische oder medizinische Studiengänge (8 Fälle) oder in der DDR ein Pflichtarbeitsjahr zur Zulassung zum Studium (2 Fälle) absolviert. Erwerbstätigkeiten wird nur kurzzeitig nachgegangen, um etwa die Zeit bis zum Studium zu überbrücken oder Geld für das Studium zu verdienen (3 Fälle); eine besondere Form dieser Erwerbstätigkeit zur Studienfinanzierung stellen Werksemester in Verbindung mit der Studienförderung durch das evangelische Studienwerk Villigst in Schwerte dar (3 Fälle). Die Erfüllung der Wehrpflicht bei der Bundeswehr im Anschluss an das Abitur wird von sieben Bewerbern erwähnt und von jeweils einem weiteren die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer in der Bundesrepublik und die Verweigerung des Militärdienstes in der DDR. Letzterer schaltet dem daraufhin versagten Studium eine Berufsausbildung vor, verknüpft mit der letztlich vergeblichen Hoffnung, danach doch noch einen Studienplatz in der DDR zugewiesen zu bekommen. Eine Bewerberin hat vor der Bewerbung eine Ausbildung als Krankenschwester absolviert. In einem Fall wird – den Wünschen des Vaters entsprechend – vor Studienbeginn ein einjähriger kaufmännischer Kursus für Abiturient_innen absolviert, in einem weiteren ein ebenfalls einjähriger Kursus für Fremdsprachenkorrespondent_innen. Ansonsten werden vor dem Studium keine Berufsausbildungen aufgenommen; der Erwerb der Hochschulreife wird offensichtlich mit dem Ziel der Aufnahme eines Hochschulstudiums angestrebt. Diese Entscheidung wird zu Beginn der 1960er Jahre bereits von deutlich mehr als der Hälfte der Abiturient_innen geteilt; die sich darin zeigende zunehmende Bildungsaspiration stellt neben dem Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge in die Universitäten einen wesentlichen Faktor für die stetig steigenden Studierendenzahlen in

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jener Zeit dar, welche ein wesentliches Argument in den damaligen Hochschulreformdiskussionen bilden (s.u).1 Der Weg ins Studium führt allerdings nicht unbedingt direkt in die Freie Universität: Fast die Hälfte der SDSler_innen (86 = 47,5%) beginnt ein Studium zunächst an einer anderen Universität oder Hochschule, bevor sie zur FU wechseln, für 12 von ihnen führt der Weg in die FU auch über mehr als eine Station. In einigen Fällen wurde vor Studienbeginn an der FU bereits ein Studium abgeschlossen. Entsprechend ist die Verweildauer an der FU unterschiedlich lang und reicht von einzelnen Semestern bis hin zu 28 Semestern, der Durchschnitt liegt bei 13 Semestern. Bereits in den Diskussionen im Vorfeld der Hochschulreformen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre werden Studienzeiten von mehr als zehn Semestern in manchen Fächergruppen als besorgniserregend betrachtet.2 Diese Semesterzahl gibt jedoch nicht in allen Fällen die Zahl der Studiensemester an der FU selbst wieder: In zahlreichen Fällen wird von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, das Studium an der FU für zwei Semester zu unterbrechen, um an einer westdeutschen oder ausländischen Universität zu studieren und sich anschließend an der FU zu re-immatrikulieren.3 In diesem Zusammenhang spielt das Studienaustauschprogramm zwischen westdeutschen und Berliner Hochschulen eine zentrale Rolle. In einigen Fällen muss das Studium auch aus gesundheitlichen oder finanziellen Gründen unterbrochen werden – so zumindest die Angaben in entsprechenden Beurlaubungsanträgen – und in einigen Fällen werden Urlaubsemester beantragt, um Aktivitäten in der Studierendenvertretung nachgehen zu können. Unabhängig von der eigentlichen Studienzeit verweist die Verweildauer an der FU auf eine insgesamt lange Zugehörigkeit zu einer Institution, die sich in den ersten beiden Jahrzehnten ihres Bestehens kontinuierlich entwickelt und verändert.4 Der Zeitraum, in dem Mitglieder der untersuchten SDS-Gruppe an der Freien Universität eingeschrieben sind, reicht insgesamt von Mitte der 1950er Jahre bis Ende der 1970er Jahre: Die früheste Immatrikulation wird im Frühjahr 1955 für das Sommersemester 1955 vorgenommen, das letzte Semester, in dem ein Mitglied der Gruppe immatrikuliert ist, ist das Wintersemester 1977/78. In dieser Zeit ist nicht nur die FU Berlin, sondern die gesamte Hochschullandschaft in der Bundesrepublik massiven Veränderungen unterworfen. Bereits in 1

Vgl. Rohstock (2010), S. 28.

2

Vgl. Rohstock (2010), S. 29f.

3

Aus den (Re-)Immatrikulationsunterlagen geht hervor, dass das Recht zur ReImmatrikulation ohne erneute Bewerbung nach Verlassen der FU zwei Semester lang bestehen blieb.

4

Zur Entwicklung der Freien Universität Berlin in den 20 Jahren seit ihrer Gründung 1948 vgl. insbesondere Tent (1988).

5. B ILDUNGSW EGE NACH E RW ERB DER H OCHSCHULREIFE

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dem hier relevanten Zeitraum bis 1967 – das Jahr, für das die SDS-Gruppe abgebildet werden konnte und in dem die Hochphase der Studentenbewegung anbricht – unterliegt die Institution Universität in der Bundesrepublik und Berlin und konkret auch die Freie Universität einigem Wandel: Die Universität der späten 1960er Jahre präsentiert sich allein schon aufgrund eines massiven Wachstums von Studierendenzahlen, dem keine entsprechende Personalerhöhung gegenübersteht, anders als noch Mitte der 1950er Jahre; der strukturelle Umbruch durch im Zuge der Hochschulreformen, die Umwandlung der Ordinarienuniversität in die Gruppenuniversität, steht zu jenem Zeitpunkt jedoch noch bevor. Die Studienzeit an der FU wird meistenteils (knapp über 50%) durch ein Examen beendet, in einigen Fällen (knapp 20%) jedoch auch durch Wechsel an eine andere Universität, in manchen wird der Grund für das Studienende an der FU nicht ersichtlich. Die durchschnittliche Studiendauer bis zum Examen – sofern sie aus den vorliegenden Quellen berechnet werden konnte – beträgt 15 Semester, wobei die jeweiligen Semesterzahlen von neun bis 24 Semester reichen. Die durchschnittliche Studiendauer liegt damit z.T. deutlich über der Förderungshöchstdauer der allgemeinen Studienförderung, allerdings liegt sie durchaus im Trend einer Studienzeitverlängerung, auf die bereits Mitte der 1950er Jahre die Europäische Rektorenkonferenz als internationales Phänomen hingewiesen hatte und die seit Mitte der 1960er durch entsprechende Erhebungen für die Bundesrepublik bestätigt wird.5 Die von den SDSler_innen am häufigsten studierten Fächer sind Soziologie und Politikwissenschaft. Die der Soziologie zeitgenössisch wie gegenwärtig zugeschriebene besondere Bedeutung für die Studentenbewegung lässt sich hier für das Studienfach jedoch zumindest in quantitativer Perspektive nicht nachweisen, da sie aufgrund einer Vielzahl unterschiedlicher Fächer keine dominierende Position einnimmt; im Gegenteil ist der Anteil der kultur- und sprachwissenschaftlichen Fächer zusammen genommen nicht nur größer, sondern bedeutet gemessen an den Studierendenzahlen der FU sogar eine leichte Überrepräsentanz.

5.1 S TUDIENERFAHRUNGEN VOR B EWERBUNG AN DER F REIEN U NIVERSITÄT Fast die Hälfte der SDSler_innen (88 = 48,6%) hat vor dem Studium an der Freien Universität bereits Studienerfahrungen an mindestens einer anderen Universität oder Hochschule erworben. Für 11 von ihnen führt der Weg in die FU über zwei, für 5

Vgl. Rohstock (2010), S. 29f.; bereits zeitgenössisch Kath/Oehler/Reichwein (1966); Kath (1969).

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ein Mitglied auch über drei Stationen. Der Besuch von unterschiedlichen Universitäten entspricht dabei der akademischen Tradition in Deutschland; die Wechselquote liegt hier zwar etwas oberhalb des bundesdeutschen Durchschnitts (39%), allerdings ist dabei zu beachten, dass die Studierenden hier an eine Universität wechseln, deren Studierende als vergleichsweise ‚sesshaft‘ beschrieben werden.6 Sieben Bewerber_innen haben bereits ein Studium abgeschlossen, aber nur zwei haben auch in dem jeweiligen Beruf (Ärztin, Lehrerin) gearbeitet. Vier dieser Absolvent_innen anderer Universitäten bzw. Hochschulen werden auch ihr Zweitstudium an der FU erfolgreich beenden, drei werden zur Fortsetzung des Studiums an eine andere Universität wechseln. Zwei Wechsler_innen führen einen früheren Studienstudiengang an der FU neben einem parallel geführten Zweitstudium weiter, aber nur in einem werden schließlich beide erfolgreich zu Ende geführt.7 Die von den Bewerber_innen besuchten Universitäten und Hochschulen repräsentieren den größten Teil der westdeutschen Universitätslandschaft bis zur Welle von Neugründungen ab den 1960er Jahren8 sowie Teile der Hochschullandschaft Berlins, sie umfassen aber auch einige ostdeutsche Universitäten und in einzelnen Fällen auch ausländische Universitäten. Von den westdeutschen Universitäten wurde die Universität Hamburg besucht (9), gefolgt von Göttingen und Frankfurt/Main (je 8), Tübingen (7), Bonn und Köln (je 6), München, Freiburg, Kiel und Münster (je 5). Des weiteren wurden die Universitäten Marburg, Saarbrücken und Heidelberg sowie in Einzelfällen Gießen, Mainz und Würzburg. Die Universität Gießen war im Gegensatz zu den anderen genannten Universitäten erst 1957 wieder in den Rang einer Universität erhoben worden, nachdem sie nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in eine Hochschule für Bodenkultur und Veterinärmedizin umgewandelt worden war.9 Diese Wiederaufwertung war einer der ersten Schritte zum Abbau regionaler Ungleichverteilungen in der Universitätslandschaft.10 Die Universität Mainz stellte 1946 die erste Neugründung nach dem Krieg dar, die Universität in Saarbrücken, 1948 gegründet, stellte wie die FU eine Gründung der Nachkriegszeit dar. Als Gründe für den Wechsel werden vornehmlich die Vorteile des Studienstandortes Berlin und der Freien Universität genannt, zuweilen auch als Möglichkeit zur akademischen Weiterentwicklung, in einzelnen Fällen werden aber auch Unzufriedenheit mit den Bedingungen am alten Studienstandort genannt, etwa die längere 6

Vgl. Kath/Oehler/Reichwein (1966), S. 40.

7

Zum Studienerfolg bzw. zu den Gründen für das Ausscheiden aus der FU vgl. Abschnitt 5.4 Das Ende der Studienzeit an der Freien Universität.

8

Vgl. Lundgreen (2008), S. 70.

9

Vgl. Felschow/Lind/Busse (2008).

10 Vgl. Oehler (1998), S. 434.

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Nichtbesetzung eines Lehrstuhls in Kiel und Überfüllung in Köln. Klagen solcher Art sind überaus typisch für diese Zeit: Gerade die großen Universitäten in der Bundesrepublik – Frankfurt/Main, Hamburg, Heidelberg, Köln und München – gelten als überfüllt, aber auch an kleineren Universitäten wie Marburg, Würzburg, Göttingen und Braunschweig müssen Vorlesungen und Seminare in Kinosäle und Kirchen verlegt werden. In Tübingen müssen Anfang der 1960er Jahre in der Bibliothek Platzkarten ausgegeben werden.11 Wie gesehen, stammt ein großer Teil der wechselwilligen Bewerber_innen mit Ausnahme der Universität Braunschweig aus den genannten Universitäten und die bekannten Überfüllungsprobleme werden von einigen auch zum Anlass für einen Universitätswechsel genommen. Allerdings lässt sich hier nicht nachweisen, wie oft diese Probleme letztlich den ausschlaggebenden Grund für einen Studienortwechsel geboten haben, zumal von Studierenden der genannten Universitäten auch andere Begründungen vorgebracht werden, etwa von Kölner Studierenden der Theaterwissenschaft die vielfältigere Theaterlandschaft in Berlin. Einige Studierende, die sich im Rahmen des Austauschprogramms zwischen den westdeutschen und West-Berliner Hochschulen bereits an der FU aufhalten und dort ein oder zwei Semester studiert haben, bemühen sich nun um die dauerhafte Verlegung ihres Studienortes. Drei SDSler_innen bewerben sich von den Technischen Hochschulen in Stuttgart (2) und Darmstadt. Ein SDS-Mitglied hat zuvor die Pädagogische Hochschule in München-Parching besucht. In Berlin besuchen sechs SDSler_innen zunächst die Technische Universität, vier die Kirchliche Hochschule und zwei die Pädagogische Hochschule, bevor sie ein Studium an der FU aufnehmen. In einzelnen Fällen wird die Immatrikulation dort mit der Sicherstellung des Aufenthalts in Berlin nach einer Ablehnung durch die FU begründet, in drei Fällen wurde aber an PH und TU das Studium bereits abgeschlossen. Zwei Bewerber_innen wurden als Angehörige der Deutschen Hochschule für Politik in die FU integriert, an der sie sich nun auch für weitere Studienfächer immatrikulieren. Sieben Bewerber_innen haben noch in der DDR ein Studium begonnen: vier in Berlin an der Humboldt-Universität, je ein_e Bewerber_in an den Universitäten Halle/Wittenberg und Greifswald sowie an der Pädagogischen Hochschule Potsdam. An letzter hat die Bewerberin das Studium abgeschlossen, die anderen Bewerber_innen aus der DDR hingegen begründen die Ausreise nach West-Berlin mit der Unzufriedenheit mit den durch die politische Ideologie eingeschränkten inhaltlichen Entfaltungsmöglichkeiten, in einem Fall wird auch politische Verfolgung angegeben. Im Ausland waren die Universitäten Wien/Österreich (2) und Lausanne/Schweiz sowie eine nicht weiter spezifizierte Universität in Me-

11 Vgl. Rohstock (2010), S. 25f.

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xiko Studienstationen von Bewerber_innen, die vor ihrem Studium an der FU bereits mehr als eine Universität besucht haben.

5.2 Z EITRAUM DES S TUDIUMS UND V ERWEILDAUER AN DER F REIEN U NIVERSITÄT Wie einleitend bereits angemerkt reicht der Zeitraum, in dem Mitglieder der untersuchten SDS-Gruppe an der Freien Universität Berlin eingeschrieben sind, von Mitte der 1950er Jahre bis Ende der 1970er Jahre: Die früheste Immatrikulation datiert aus dem Frühjahr 1955 für das Sommersemester 1955, zuletzt ist im Wintersemester 1977/78 ein Mitglied der Gruppe immatrikuliert. In dieser Zeit unterliegt die gesamte westdeutsche Hochschullandschaft erheblichen Veränderungen durch massives Wachstum von Studierendenzahlen und Hochschulreformen; die Freie Universität ist darüber hinaus von ganz eigenen Entwicklungen gekennzeichnet. War die erste Zeit nach der Gründung 1948 von Bemühungen bestimmt, die nötigen Mittel für den Universitätsbetrieb zu beschaffen und anerkanntes Lehrpersonal zu beschäftigen, um aus einem ‚Wunschtraum‘ eine anerkannte Institution zu schaffen, zeichneten sich ab Mitte der 1950er zunehmend Probleme zwischen Studierenden und Lehrkörper ab, in denen sich bereits die Auseinandersetzungen ankündigten, die in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ihren Höhepunkt finden sollten.12 So wurde bereits Ende der 1950er Jahre über die Frage gestritten, inwiefern die Studentenvertretung das Recht habe, zu allgemeinen politischen Fragen Stellung zu nehmen. Diese Auseinandersetzungen spitzten sich zu Fragen nach der Rolle der Studentenvertretung innerhalb der universitären Selbstverwaltung und dem Recht auf freie Meinungsäußerung zu und betrafen damit Aspekte, die vor dem Hintergrund der Gründungsgeschichte besonders sensibel betrachtet wurden.13 Schließlich basierte diese Gründung auf dem Widerstand von Studierenden gegen die politische Indienstnahme der alten Berliner Universität durch die Sowjetische Besatzungsmacht und den damit einhergehenden ideologischen Zwängen.14 Dennoch werden die 1950er Jahre trotz der zunehmenden Spannungen zwischen Studierenden und Lehrenden an der Freien Universität als eine Phase der Ruhe und der institutionellen Konsolidierung beschrieben, die vor allem gekennzeichnet ist von Erweiterung

12 Vgl. Tent (1988), S. 203f., Zitat S. 203. 13 Vgl. Tent (1988), S. 295. 14 Zu den Auseinandersetzung zwischen Berliner Studierenden und Sowjetischer Militäradministration bzw. der durch diese eingesetzte Universitätsleitung vgl. Tent (1988), S. 59ff.; ferner Lönnendonker (1988), S. 178ff.

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der Universität und Etablierung als Wissenschaftseinrichtung.15 Dieser Konsolidierungsphase werden die 1960er Jahre als Krisenzeit gegenübergestellt: Diese Krise findet ihren Ausdruck vor allem in der Eskalation der Auseinandersetzungen zwischen Universitätsleitung und Studierendenvertretung Mitte des Jahrzehnts (Kuby/Krippendorf-Affären) sowie in den sich rasch auf weitere Themen ausweitenden und politisch intensivierenden studentischen Protesten in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, die nun zunehmend die ganze Stadt betrafen und schließlich auf die gesamte Bundesrepublik ausstrahlten. Daneben hatten aber auch die Schließung der innerdeutschen Grenze und der Bau der Mauer Auswirkungen auf die FU, die ohnehin immer schon durch ihren Standort und die politischen Konflikte um Berlin von ganz spezifischen Problemen betroffen war.16 Insgesamt kann die gesamte zweite Hälfte der 1960er Jahre als intensive Phase der Studentenbewegung in Berlin und insbesondere an der FU begriffen werden, mit einer Hochphase in den Jahren 1967-1969. Ab Mitte der 1950er Jahren schreiben sich insgesamt 25 Mitglieder der SDSGruppe an der FU ein, von denen acht auch im Sommersemester 1967 immer noch eingeschrieben sind; zwei sind bereits seit dem Sommersemester 1955 eingeschrieben und haben die oben skizzierten Entwicklungen vollständig begleitet.17 Die Immatrikulationsdaten der Gruppe liegen allerdings größtenteils (152) in den 1960er Jahren, wobei sich gut die Hälfte davon (79) bis zum Wintersemester 1963/64 einschreibt, weitere 68 bis 1967, die übrigen vier erst in den nachfolgenden Semestern. Zwei Mitglieder immatrikulieren sich erst im Wintersemester 1970/71.18 Damit erlebt der größte Teil der SDSler_innen in ihrer Krisenphase in den 1960er Jahren. Aber nicht nur die Immatrikulationszeiten sind entsprechend der Altersstruktur und der jeweiligen Bildungswege breit gestreut, auch die Verweildauer und der jeweilige Studienzeitraum variieren erheblich – und damit auch das direkte Miterleben von Konsolidierungs- und Krisenzeiten – so dass nicht zwischen allen Mitgliedern Schnittmengen in der Studienzeiten zu verzeichnen sind. Die jeweilige Verweildauer – die hier den Zeitraum zwischen Immatrikulation und Exmatrikulation an der FU unabhängig von Studien- und Fachsemestern und von Unterbrechungen durch Beurlaubungen und einzelne Studiensemester an anderen Universitäten beschreibt – dauert im längsten Fall 28 Semester vom Wintersemester 1955/56 bis einschließlich Sommersemester 1969, die kürzeste liegt bei jeweils einem Semester im Sommersemester 1961 und im Wintersemester 1964/65. Die durchschnittliche Verweildauer liegt bei rund 13 Semestern (12,8).

15 Vgl. Lönnendonker (1988), S. 347ff.; Tent (1988), S. 203ff. 16 Vgl. Tent (1988), S. 296ff. 17 Zur Mitgliedschaft von ehemaligen FU-Studierenden s.u.

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Die höchsten Exmatrikulationszahlen liegen zwischen 1969 und 1971, also in der Zeit, in der die Studentenproteste im Stadtgebiet abebben und mit dem Hochschulgesetz von 1969 eine Reihe von Reformen an der Universität in Kraft treten,19 in der sich aber auch der SDS als Bundesverband auflöst.20 In diesen Ausführungen wird bereits deutlich, dass einige Mitglieder der untersuchten SDS-Gruppe zum betrachteten Zeitpunkt im Jahr 1967 bereits nicht mehr an der FU eingeschrieben sind. Dies trifft auf insgesamt 36 Mitglieder zu, die bereits vor Sommer 1967 dem SDS angehören; ihre Exmatrikulation liegt allerdings meistenteils weniger als ein Jahr zurück. Der Blick auf die Verweildauer der SDSler_innen an der FU zeigt ferner, dass ein anderer Teil der Gruppe – insgesamt 12 Personen – in der ersten Jahreshälfte 1967 noch nicht eingeschrieben ist; ein Teil von ihnen schreibt sich allerdings zum Wintersemester 1967/68 ein. Darin bestätigt sich einerseits, dass der SDS kein ausschließlich studentischer Verband war und dass die Nähe zur Gruppe auch noch über die Studienzeit hinaus gehalten wurde;21 andererseits zeigt sich, dass für einige Mitglieder der Weg an die FU direkt einherging mit dem Weg zum Berliner SDS. Für zwei Mitglieder, die ihre Motivation zum Studium bzw. zum Nachholen des Abiturs auf die politische Tätigkeit im SDS zurückführen. Wie aus den Mitgliedsanträgen vom Sommer und Herbst 1967 hervorgeht, gehörten dem Berliner SDS gehörten neben diesen ehemaligen und ‚zukünftigen‘ FU-Studierenden auch einige nicht-akademische Mitglieder – Schüler_innen und Berufstätige aus nicht-akademischen Berufen an: Unter diesen finden z.B. auch solche von einem Gärtner, einem Berufskraftfahrer, einem Schüler und einem Abendgymnasiast. Der Umstand, dass der SDS entgegen seinem Namen auch nicht-studentische Mitglieder hat, ist angesichts der Geschichte des Verbandes im Kontext der Entwicklung von Arbeiterbewegung und linken politischen Organisationen in der Bundesrepublik nicht überraschend und deutet sich zudem auch in den Darstellungen des Verbandes und insbesondere der Auseinandersetzungen zwischen den jeweiligen Fraktionen gerade im Berliner SDS an:22 So bildete der SDS nach der Abkehr der SPD vom Marxismus und bis zur Aufhebung des Verbots der KPD ein Sammelbecken von traditionell marxistischen wie nicht-orthodoxen linken Strömungen, denen er durch die Diskussion von gesamtgesellschaftlichen und allgemeinpoliti19 Vgl. Tent (1988), S. 371ff. 20 Vgl. Fichter/Lönnendonker (2008), S. 202ff. Zur Auflösung des Bundesverbands des SDS vgl. Abschnitt 3. Der SDS als zu untersuchendes Kollektiv. 21 Vgl. Fichter/Lönnendonker (2008), S. 141, S. 155. Vgl. dazu auch Teil I, Abschnitt 3. Das zu untersuchende Kollektiv: Der SDS. 22 Zur Verbandsgeschichte des SDS und insbesondere zum SDS Berlin vgl. Teil I, Abschnitt 3. Das zu untersuchende Kollektiv: Der SDS.

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schen Fragestellungen ein politisches Tätigkeitsfeld über studentische und hochschulpolitische Belange hinaus bot.23 Ferner zeigt sich in der Mitgliedschaft von ehemaligen und ‚zukünftigen‘ Studierenden, dass zumindest im Hinblick auf den SDS der „Zirkelschluss“ zu vermeiden ist, dass ein Studentenverband nur aus aktuell Studierenden besteht; die Warnung vor einem solchen Zirkelschluss hat Thomas Welskopp in ähnlicher Weise für die ‚Arbeiterbewegung‘ formuliert.24 Entsprechend wurde bereits zeitgenössisch auch über den SDS hinaus das Engagement von „am Rande der Hochschule angesiedelten Nicht- und Nichtmehr-Studenten“ in der Studentenbewegung beobachtet.25 Der Anteil der „nichtakademischen Jugend“ unter den Teilnehmer_innen an studentischen Protesten wird bei Hans-Ulrich Wehler mit 5% beziffert.26 Die Bindung von ehemaligen Studierenden und die Werbung von Mitgliedern aus nicht-studentischen Kreisen dürfte für den SDS nach der Trennung von der SPD – Verbindungen zu anderen Organisationen der Arbeiterbewegungen hatten nie wirklich bestanden – schließlich auch aus rein finanziellen Gründen notwendig gewesen sein, auch wenn der Verband finanzielle Zuwendung von der Sozialistischen Fördergemeinschaft, einer linkssozialistischen Gruppierung (ehemaliger) SPD-Mitglieder, erhielt. Die Fortsetzung der Mitgliedschaft von ehemaligen Studierenden ist allerdings alles andere als unproblematisch, wie die Darstellung zu den Auseinandersetzungen zwischen aktuell Studierenden und einer „Alte-Keulen-Riege“ im Berliner SDS deutlich machen.27 In diesen Auseinandersetzungen zeigt sich, dass diese älteren Mitglieder nicht mehr unmittelbar in die 23 Die Trennung zwischen SPD und SDS scheint dabei auch nach 1961 keineswegs so absolut, wie es der „Unvereinbarkeitsbeschluss“ nahe legt: So standen nach wie vor einige SDSMitglieder der SPD nahe und waren in Einzelfällen sogar Parteimitglieder. Vgl. dazu auch Teil III. 24 „Wenn der banale Zirkelschluss zuträfe, dass eine ‚Arbeiterbewegung‘ aus Arbeitern besteht, könnte man auf die begriffliche Anstrengung leicht verzichten, ebenso wie dann sämtliche Klassifikationsentscheidungen für eine sozialstatistische Auswertung vorbestimmt wären. So besteht in der Forschung die Tendenz, den Grad der Durchsetzung von Lohnarbeit zur Grundlage statistischer Einteilungen zu machen – in der Annahme, die Angehörigen der Branchen, in denen die abhängige Beschäftigung in zentralisierten Betrieben am weitesten und in reinster Form vorgedrungen war, hätten auch das gleichsam ‚natürliche‘ Stammpersonal der Sozialdemokratie gestellt. [...] Es greift offensichtlich zu kurz, die Selbstbezeichnung ‚Arbeiter‘ und das Selbstverständnis der Organisationen als ‚Arbeiterbewegung‘ schlicht als direkten Ausdruck sozialer Lagen und Interessen zu interpretieren.“ Welskopp (2000), S. 60. 25 Habermas (1969), S. 35f. 26 Wehler (2008e), S. 315. 27 Vgl. Fichter/Lönnendonker (2008), S. 141; S. 155f.; Zitat S. 141.

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konkreten Aktivitäten eingebunden waren, aber dennoch maßgeblichen Einfluss auf die Ausrichtung der Gruppe zu nehmen versuchten. Die Frage, inwiefern sich in der Mitgliedschaft von ehemaligen Studierenden im SDS die Förderstrukturen der damals noch dominierenden unpolitischen Corps und Burschenschaften mit ihren ‚Alten Herren‘ spiegeln, kann hier jedoch nicht beantwortet werden. Im Folgenden werden – von 1967 aus betrachtet – die ehemaligen und zukünftigen Studierenden der FU zunächst einer näheren Betrachtung unterzogen werden. 5.2.1 Ehemalige Studierende der Freien Universität Im Sommersemester 1967, also dem Zeitraum, in dem die intensivste Phase der Studentenbewegung beginnt, sind 36 Mitglieder der SDS-Gruppe nicht mehr an der Freien Universität immatrikuliert. Alle von ihnen gehören bereits vor Sommer 1967 zum SDS. Bei mehr als der Hälfte dieser ‚Ehemaligen‘ liegt die Zugehörigkeit zur FU allerdings noch nicht lange zurück: Zehn waren noch im WS 1966/67 immatrikuliert – von diesen wollen vier zu einer anderen Universität wechseln, fünf stehen nach eigenen Angaben in der Vorbereitung auf die Promotion oder das Examen, einer hat sein Studium abgeschlossen. Acht ‚Ehemalige‘ waren noch bis einschließlich Sommersemester 1966 immatrikuliert, vier weitere noch im WS 1965/66. Hier ist zu vermuten, dass die Mitgliedschaft im Berliner SDS auch noch einige Zeit über das Studienende an der FU hinaus fortgesetzt wurde. Bei einem kleinen Teil liegt die Exmatrikulation jedoch bereits deutlich länger zurück: Ein Mitglied war laut Unterlagen zuletzt im Sommersemester 1959 immatrikuliert, ein weiteres zuletzt im Wintersemester 1959/60, drei weitere waren zuletzt im Sommersemester 1961 immatrikuliert. Zwei Studierende waren bis einschließlich WS 1961/62 immatrikuliert, einer bis WS 1963/64, zwei bis Sommersemester 1964, einer bis WS 1964/65 und drei bis einschließlich Sommersemester 1965. Inwiefern es sich bei diesen ‚Ehemaligen‘ um Teile der erwähnten Gruppe von älteren Mitgliedern im SDS handelt, kann hier nicht beurteilt werden. In jedem Fall wird diese Gruppe von ehemaligen Studierenden der FU vor allem von Angehörigen der älteren Geburtsjahrgänge innerhalb der Gruppe gebildet,28 umfassen diese jedoch keineswegs vollständig oder ausschließlich: mit 27 dieser ‚Ehemaligen‘ ist hier die Hälfte der vor 1940 Geborenen (insgesamt 54) vertreten. Mit den Jahrgängen 1941 (1), 1943 (2) und 1944 (4) befinden sich hier aber auch vergleichsweise jüngere ‚Ehemalige‘, allerdings sind letztere keine Absolvent_innen der FU: unter diesen ist 1940 der jüngste Jahrgang (1940=2).

28 Zu den Geburtenjahrgängen vgl. Abschnitt 1. Geburtsjahrgänge, Familienstand, Geschlecht.

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Mindestens 16 dieser SDS-Mitglieder sind Absolvent_innen der FU.29 Acht ‚Ehemalige‘ begründen ihre Exmatrikulation mit dem Wechsel an eine andere Hochschule, drei davon innerhalb Berlins (Pädagogische Hochschule, Technische Universität). Fünf befinden sich bei der Exmatrikulation nach eigenen Angaben in der Vorbereitung auf die Promotion, zwei weitere in der Examensvorbereitung. Bei vier ehemaligen Studierenden, die wegen fehlender Rückmeldung gestrichen werden, ist letztlich nicht bekannt, ob das Studium erfolgreich abgeschlossen wurde bzw. ist ein möglicher weiterer Bildungsweg nicht bekannt. Letzteres gilt ebenfalls für einen Studierenden, der sein Studium unterbricht. Die Verweildauer an der FU liegt mit rund 10 Semestern im Durchschnitt etwas unterhalb der Gesamtgruppe, wobei die jeweilige Verweildauer sich erheblich unterscheidet und zwischen einem und 24 Semestern liegt. Wie erwähnt, ist das Zusammentreffen von älteren und jüngeren Mitgliedern nicht immer konfliktfrei gewesen. Im Gegenteil berichtet der einschlägige Band zur Geschichte des SDS von Tilman P. Fichter und Siegward Lönnendonker von Auseinandersetzungen zwischen dem antiautoritären Lager und einer als „Alte-KeulenRiege“ geschmähten „lose[n] Gruppierung von Altgenossen, die dem Verband zumeist schon vor 1961 angehört hatten.“30 Diese versuchten seit Ende 1966, maßgeblichen Einfluss auf den zunehmend von den ‚Antiautoritären‘ dominierten Studierendenverband zurückzugewinnen. Was in den Darstellungen als ‚Generationenkonflikt‘ gezeichnet wird, deutet allerdings eher auf inhaltliche Konflikte: So streben die älteren Mitglieder in Folge einer nicht abgesprochenen Plakataktion im Sommersemester 1965 die Suspendierung von unter anderen Rudi Dutschke und Bernd Rabehl – die, 1940 und 1938 geboren, innerhalb der Altersstruktur im SDS selbst eher zwischen den Älteren und den Jüngeren liegen – an. Dieser Ausschluss wird allerdings von „Mehrheit der jüngeren SDSler“ abgelehnt. Im Frühjahr 1967 stimmen die ‚Altgenossen‘ jedoch demonstrativ gegen den Ausschluss von Mitgliedern der ‚Kommune 1‘, der jedoch mehrheitlich vom antiautoritären Lager getragen wird.31 Insgesamt zeigt sich mit Blick auf ehemalige Studierende, dass der Studentenstatus offenbar längerfristig wahrgenommen wurde als Anrecht auf Aktionen im und mit dem SDS und als Leitungsanspruch im SDS. 5.2.2 ‚Zukünftige‘ Studierende der Freien Universität Im Sommersemester 1967 sind 12 Mitglieder der SDS-Gruppe noch nicht an der Freien Universität eingeschrieben. Bei diesen erfolgt die Einschreibung in fünf Fäl29 Zu den Gründen für die Beendigung der Studienzeit an der FU ausführlich s.u. 30 Fichter/Lönnendonker (2008), S. 141. 31 Vgl. Fichter/Lönnendonker (2008), S. 140ff, S. 152ff., Zitat S. 141.

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len zum nachfolgenden Wintersemester 1967/68, zwei schreiben sich zum Sommersemester 1968 ein, jeweils ein Mitglied zum Wintersemester 1968/69, zum Sommersemester 1969 und zum Wintersemester 1969/70. Zwei schreiben sich zum Wintersemester 1970/71 ein, also zu einem Zeitpunkt, zu dem der SDS als Bundesverband nicht mehr existiert. Bei denjenigen, die sich zum Wintersemester 1967/68 einschreiben, handelt es sich um zwei Abiturient_innen und drei Wechsler_innen von anderen Universitäten. Inwiefern der Wechsel zur FU durch die Ereignisse des Sommers motiviert ist, ist nicht bekannt. Alle fünf stoßen im Herbst 1967 zum SDS, also direkt mit Aufnahme ihres Studiums an der FU und sind in den Nachkriegsjahren geboren (1947 (3), 1948 und 1949). Die übrigen sieben – also diejenigen, die sich erst in den Folgejahren einschreiben – sind bereits vor Sommer 1967 Mitglieder im SDS. Unter diesen befindet sich ein Schüler (1948 geboren), der erst im Frühjahr 1968 das Abitur ablegt und sich danach an der FU einschreibt. Vier sind Berufstätige, die über den ‚zweiten Bildungsweg‘ die Hochschulreife erwerben. Sie sind in den Jahren 1938, 1940, 1941 und 1944 geboren. Zwei von diesen geben ihr politisches Engagement u.a. im SDS als Motivation zur Weiterbildung an. Zwei Mitglieder haben bereits ein Studium abgeschlossen, eines mit Promotion, und nehmen ein Zweitstudium an der FU auf. Hier liegen also zwei weitere Fälle von Unterstützer_innen vor, die nicht mehr studieren, die wiederum den älteren Jahrgängen angehören (1936 und 1938). Die Verweildauer an der FU liegt bei den ‚zukünftigen‘ Studierenden mit durchschnittlich 7 Semestern deutlich unter dem Durchschnitt der Gesamtgruppe, da hier die Streuung zwischen drei und 19 Semestern nicht ganz so breit ist. 5.2.3 1967 eingeschriebene Studierende der Freien Universität Die SDSler_innen, die im Sommersemester 1967 an der FU eingeschrieben sind, befinden sich zu diesem Zeitpunkt durchschnittlich im achten Semester an der FU, manche befinden sich allerdings im ersten Semester dort, andere bereits im 24. Semester: Die frühesten Immatrikulationszeitpunkte datieren zum Sommersemester 1955 (2), die spätesten zum Sommersemester 1967. Einzelne sind damit 1967 noch neu an der FU, andere bereits seit 12 Jahren dort, in der Regel ist den SDSler_innen die FU aber nach einer bereits mehrjährigen Studienzeit vertraut. In gleicher Weise variiert analog zur Gesamtgruppe die Verweildauer an der FU erheblich – zwischen drei und 28 Semestern –, liegt aber mit 14 Semestern ein Semester höher als in der Gesamtgruppe, da gerade bei den 1967 Eingeschriebenen lange Verweilzeiten von über 20 Semestern anzutreffen sind (insgesamt 17 Mitglieder).

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5.3 S TUDIENFÄCHER In der Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung ist eine herausgehobene Bedeutung der Soziologie als wissenschaftlicher Disziplin und die Zugehörigkeit oder Nähe der Akteur_innen und insbesondere ihres organisatorischen Kerns zu ihr, als Studienfach und/oder Bezugsrahmen der Theoriebildung und politischen Programmatik, betont worden. Eine besonders einflussreiche Rolle ist in diesem Zusammenhang dem Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt a.M., der „Frankfurter Schule“ beigemessen worden, nicht nur für die Universität Frankfurt und den Frankfurter SDS, sondern darüber hinaus für die Studentenbewegung insgesamt.32 Aber auch die Soziologie an der Freien Universität Berlin ist als eine ‚Keimzelle‘ des Protests betrachtet worden: „[…] die Soziologie in Berlin war einer der intellektuellen Kerne, aus denen diese Bewegung hervorgegangen ist.“33 Die Soziologie an der FU wird dabei als „ein prägendes Milieu“ gefasst, das anders als eben die ‚Frankfurter Schule‘ nicht über ein systematisches Forschungsprogramm verfügt habe, sondern in dem „an einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit gebundene Sozialisationserfahrung […] den Zusammenhang unter den Angehörigen“ begründet hätte.34 Seinen Einfluss habe das ‚soziologische Milieu‘ jedoch nicht nur innerhalb des Faches entfaltet, sondern auch zahlreiche weitere Fächer – „von der Germanistik bis zur Pädagogik, von der Jurisprudenz bis zur Medizin“35 – hätten orientierend ihr Augenmerk auf die Soziologie als Wissenschaft der Gesellschaftsanalyse gerichtet. In der Tat ist für eine Reihe von Disziplinen, insbesondere aus den Geisteswissenschaften, zumindest in Teilen eine ‚Versozialwissenschaftlichung‘ während der 1960er und 1970er Jahre beschrieben worden – allerdings nicht nur für die FU Berlin.36 Insofern ist eine Analyse der Studienfächer von besonderem Interesse, um Aufschluss über die Zugehörigkeit der SDSler_innen zu bestimmten Fächern oder Fächergruppen zu erhalten. Dazu werden im folgenden zunächst die Studienfächer erfasst, die bei der Bewerbung an der FU als Studienwunsch angegeben worden sind, um zu sehen, mit welchen Studienwünschen die SDSler_innen an die FU kamen und ob sich bereits zu Studienbeginn eine Neigung zur Soziologie oder ggf. zu anderen Fächern verzeichnen lassen. Anschließend werden die Fächerwechsel erfasst, um zu prüfen, inwiefern sich Studienwünsche im Verlauf des Studiums – etwa 32 Vgl. insbesondere das dreibändige Werk „Frankfurter Schule und Studentenbewegung“ von Kraushaar (1998b); Albrecht et al. (2000). 33 Bude/Kohli (1989), S. 9. 34 Bude/Kohli (1989), S. 10/11. 35 Bude/Kohli (1989), S. 9. 36 Vgl. z.B. für die deutsche Literaturwissenschaft Rosenberg (2003).

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durch den Einfluss der Soziologie oder ggf. auch anderen Fächern – verändert haben. Eine Betrachtung der Studienfachwechsel ist allerdings nicht nur unter dem Gesichtspunkt einer möglichen für die Studentenbewegung bedeutsamen Fächerverschiebung interessant, sondern auch in Hinsicht darauf, dass Mitte der 1960er Jahre in der Forschung eine Häufung von Studienfachwechseln beobachtete wurde, die zu einer Verlängerung der durchschnittlichen Studien- und Ausbildungsdauer führen und neben steigenden Abbruchsquoten sowie Zunahme psychischer Erkrankungen als ein weiterer Ausdruck einer „eklatanter werdenden Krise des akademischen Studiums“ gewertet wurde.37 Aufgrund der referierten Vermutungen über einen direkten Zusammenhang zwischen Studentenbewegung und soziologischem Milieu an der FU sind gerade die 1967 eingeschriebenen SDSler_innen von besonderem Interesse – ihre jeweils aktuelle Studienfachzugehörigkeit wird daher abschließend gesondert betrachtet. Ein Blick auf die bundesweite Fächerverteilung sowie die Fächerverteilung an der FU – sofern entsprechende Zahlen vorliegen – soll letztlich jeweils Aufschluss darüber geben, inwiefern die Fächerverteilungen im SDS eine Besonderheit oder einen akademischen ‚Normalfall‘ darstellt. 5.3.1 Studienfachwunsch bei Bewerbung In den Bewerbungsunterlagen der SDS-Gruppe lassen sich insgesamt 330 Nennungen von Studienfachwünschen verzeichnen, in denen 38 verschiedene Studienfächer genannt werden. Die Bewerber_innen nennen jeweils ein bis drei, in Einzelfällen vier Studienfächer, abhängig von der Art des Studiengangs und der Wahl von eventuellen Nebenfächern. Das am häufigsten genannte Fach bei der Bewerbung ist die Soziologie. Insgesamt wird dieses Fach 52 mal als Haupt- oder Nebenfachwunsch genannt (15,8% der Nennungen), d.h. mehr als ein Viertel der hier untersuchten 181 SDSler_innen (28,7%) formuliert von vornherein ein explizites Interesse an diesem Fach, ein Teil hat bereits an einer anderen Universität einige Semester Soziologie studiert. An dieser Stelle deutet sich durchaus eine herausgehobene Bedeutung der Soziologie an, zumindest als Einzelfach und in quantitativer Hinsicht. Angesichts der Gesamtzahl der genannten Fächer und im Verhältnis zu den Anteilen anderer Fächern innerhalb der SDS-Gruppe relativiert sich die Bedeutung der Soziologie jedoch ein Stück weit: So machen Fächer aus sprach- und kulturwissenschaftlichen Fächern zusammen über die Hälfte der angestrebten Studienfächer aus (56,7%). Demgegenüber fällt der Anteil der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (inkl. Soziologie) insgesamt mit knapp einem Drittel (32,1%) deutlich geringer aus. Bei beiden Fächergruppen deutet sich hier eine leichte Überrepräsentanz gegenüber ihren Anteilen an 37 Kath/Oehler/Reichwein (1966), S. XV.

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westdeutschen Universitäten in den 1960er Jahren an: die Anteile lagen in den sprach- und kulturwissenschaftlichen Fächern bei rund 20%, in den Wirtschaftsund Sozialwissenschaften schwankten sie zwischen 13,9% und 17,5%.38 Allerdings ist bei diesem Vergleich zu berücksichtigen, dass in die bundesweiten Verhältniszahlen auch auf die Ingenieurwissenschaften sowie Agrar-, Forst- und Ernährungswissenschaften (1967 zusammen 14,5%) zugrunde liegen, die an der FU nicht studiert werden konnten. Das nach der Soziologie am zweithäufigsten gewünschte Studienfach ist die Politikwissenschaft (37 Nennungen, 11,2% der Nennungen, 20,4% der Mitglieder), allerdings liegt die Germanistik fast gleich auf mit 36 Nennungen (10,9% der Nennungen, 19,9% der Mitglieder). Weitere häufig gewünschte Studienfächer sind Geschichte (31 Nennungen, 9,4% der Nennungen, 17,1% der Mitglieder) und Philosophie (29 Nennungen, 8,8% der Nennungen, 16,0% der Mitglieder). Ebenfalls noch im zweistelligen Bereich genannt werden Theaterwissenschaft und Romanistik (jeweils 16 Nennungen, 4,8% der Nennungen, 8,8% der Mitglieder), Psychologie (15 Nennungen, 4,5% der Nennungen, 8,3% der Mitglieder), Publizistik (13 Nennungen, 3,9% der Nennungen, 7,2% der Mitglieder), Volkswirtschaft (12 Nennungen, 3,6% der Nennungen, 6,6% der Mitglieder) und Rechtswissenschaft (11 Nennungen, 3,3% der Nennungen, 6,1% der Mitglieder). Weitere Fächer sind Kunstgeschichte (9), Anglistik (7), Humanmedizin (6), Betriebswirtschaftslehre (3), Geografie (3), Mathematik (3), Religionswissenschaft (3), Sozialpsychologie (3), Biologie (2), Chemie (2), Pädagogik (2), Sport (2), Theologie (2) und Veterinärmedizin (2). 13 Studienfächer werden nur jeweils einmal genannt: Amerikanistik, Altphilologie, Bibliothekswesen, Botanik, Indogermanistik, Judaistik, Kunstwissenschaft, Literatur, Slawistik, Sinologie, Physik, Wirtschaftswissenschaften und Zoologie (zusammen 3,9% der Nennungen). Gegenüber den stark vertretenen Fächern der Sprach- und Kulturwissenschaften sowie Wirtschafts- und Sozialwissenschaften – zusammen machen diese 88,8% der gewünschten Studienfächer aus – sind somit andere Fächergruppen nur marginal vertreten: Mathematik und Naturwissenschaften (zusammen 13 Nennungen) machen lediglich 3,9% der gewünschten Studienfächer aus, Human- und Veterinärmedizin 2,4%. Diese Fächer werden damit im SDS tendenziell seltener studiert als im bundesweiten Vergleich: In den 1960er Jahren schwanken Studierendenquoten bei den naturwissenschaftlichen Fächern zwischen 14,9 und 19,2% und liegen in der Fächergruppe der Medizin zwischen 16,0% und 18%. Auch die Rechtswissenschaft – in den 1960er Jahren zwischen 8,7% und 10,5% Studierendenanteile bundesweit – ist im SDS unterrepräsentiert. Lediglich der verschwindend geringe Anteil der „Leibes-„ bzw. „Körpererziehung“ von 0,6% (zwei Nennungen) entspricht in etwa 38 Vgl. Lundgreen (2008), Tab. 3.81.

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den Studierendenanteilen des Faches Sport (in den 1960er Jahren zwischen 0,5% und 0,8%). Angesichts der großen Mehrheit an Fächernennungen aus den Bereichen der Sprach- und Kulturwissenschaften sowie Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ist durchaus zu berücksichtigen, dass die Wahl dieser Fächer je nach Fakultät und gewünschtem Abschluss die Einschreibung für mindestens ein weiteres Fach erforderte, was entsprechend die Zahl der Fächernennungen aus diesem Bereich erhöht gegenüber z.B. der Medizin und der Rechtswissenschaft als Einzelstudiengängen. Jedoch liegt auch der Anteil der Studierenden, die kein Fach aus dem Bereich der Sprach- und Kulturwissenschaften oder Wirtschafts- und Sozialwissenschaften bei Studienbewerbung angeben, insgesamt bei gerade einmal 13,8% (25 Mitglieder), d.h. nicht nur die genannten Studienfächer fallen zu fast 90% in den Bereich der Sprach- und Kulturwissenschaften bzw. Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (s.o.), sondern fast ebenso viele Mitglieder (86,2%) lassen sich bei der Immatrikulation diesen Fächergruppen zuordnen. In einer separaten Betrachtung dieser beiden wichtigsten Fächergruppen im SDS, der Sprach- und Kulturwissenschaften und der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, treten weitere auffällige Tendenzen hervor: So zeigt sich erneut die zahlenmäßige Bedeutung der Soziologie bei Betrachtung ihrer Stellung innerhalb der Fächergruppe der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Zwar nimmt der Anteil von Studierenden der Soziologie in den 1960er Jahren bundesweit kontinuierlich von 4,6% auf 10,2% innerhalb dieser Fächergruppe zu,39 in der hier betrachteten Gruppe liegt der Anteil derjenigen, die mit Soziologie als Studienwunsch an die FU kommen, insgesamt jedoch deutlich höher bei 49,1%. Ähnliches lässt sich bei der Politikwissenschaft verzeichnen, deren Anteile bundesweit in den 1960er Jahren von 0,5% auf 5,8% der Studierenden steigen.40 Demgegenüber beträgt der Anteil des Faches im SDS 34,9% der Studienwünsche aus dem Bereich Wirtschaftsund Sozialwissenschaften. Auf der anderen Seite verdeutlicht der Blick auf die Fächergruppe der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften auch die geringe Nachfrage des bundesweit häufigsten Studienfaches, der Betriebswirtschaftslehre. Deren Anteile verringern sich zwar in den 1960er Jahren bundesweit – zwischen 1960 und 1969 fallen sie trotz Zunahme bei den absoluten Studierendenzahlen von 60,7% auf 45,7% –, es bleibt jedoch das mit Abstand wichtigste Fach in dieser Fächergruppe.41 Demgegenüber kommt der Betriebswirtschaftslehre im SDS nur marginale Bedeutung zu: Gerade einmal drei Studierende geben BWL als Studienwunsch an, 1967 ist nur noch eine Person in BWL eingeschrieben. Ebenfalls vergleichweise wenig 39 Vgl. Lundgreen (2008), Tab. 3.135. 40 Vgl. ebd. 41 Zur Entwicklung der absoluten Zahlen vgl. Lundgreen (2008), Tab. 3.17.

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nachgefragt ist die Volkswirtschaftslehre, dem mit in den 1960er Jahren durchschnittlich rund 30% zweitwichtigsten Fach der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften: im SDS macht die VWL 11,3% der Studienwünsche in dieser Fächergruppe aus.42 Auch in der Fächergruppe der Sprach- und Kulturwissenschaften zeigen sich einige Unterschiede zu den Anteilen einzelner Fächer bundesweit: So liegen in den 1960er Jahren die Studierendenzahlen in der Germanistik bei durchschnittlich rund 30% der Studierenden in sprach- und kulturwissenschaftlichen Fächern, im SDS macht dieses Fach jedoch nur 19,3% der Studienwünsche aus dem sprach- und kulturwissenschaftlichen Bereich aus. Auch die bundesweit relativ wichtigen Fächer Anglistik, Romanistik und Psychologie werden vergleichsweise weniger nachgefragt.43 Im Gegensatz dazu sind die Fächer Geschichte und Philosophie etwas stärker vertreten: Geschichte ist mit 16,6% im SDS gegenüber durchschnittlich rund 10% im Bundesdurchschnitt etwas stärker, die Philosophie mit rund 15,5% im SDS gemessen an durchschnittlich rund 3% während der 1960er Jahre deutlich stärker nachgefragt. Die zahlreichen unterschiedlichen Studienfachwünsche repräsentieren dabei einerseits die Fächervielfalt an der FU, die zunächst einmal bestrebt war, sich in der Bildungslandschaft in West-Berlin als Volluniversität zu etablieren, andererseits repräsentieren sie auch die Entwicklung der Fächerstruktur und der Fakultäten: So konnten bei Eröffnung der FU vor allem die vergleichsweise weniger material- und raumintensiven Fächer der Sprach- und Kulturwissenschaften voll angeboten werden.44 Die medizinische Fakultät konnte bei Beginn des Lehrbetriebs nur den klinischen Teil des humanmedizinischen Studiums abdecken und erst nach Gründung einer naturwissenschaftlichen Fakultät zu Beginn der 1950er Jahre auch Studienanfänger aufnehmen. Die zunächst sehr kleine juristische Fakultät, in der Anfangsphase noch mit den Wirtschaftswissenschaften in einer Fakultät zusammengefasst, galt bis in die 1960er Jahre als „Sorgenkind“ der FU.45 In der Konsolidierungsphase der 1950er Jahre wurden Forschungsmöglichkeiten und Fächerangebot durch die Erweiterung – etwa durch Gründung des Osteuropa-Instituts oder die Einrichtung einer Veterinärmedizinischen Abteilung – immer weiter ausgebaut.46 Die wichtigste Erweiterung stellt hier schließlich die Integration der Deutschen Hochschule für Politik 1958 dar, durch welche die FU, die zuvor schon in begrenztem Umfang poli42 Vgl. Lundgreen (2008), Tab. 3.135. 43 Für die Zahlen zu den einzelnen sprach- und kulturwissenschaftlichen Fächer vgl. Lundgreen (2008), Tab. 3.123. 44 Vgl. Tent (1988), S. 204ff. 45 Vgl. Tent (1988), S. 173f., S. 207f. 46 Vgl. Tent (1988), S. 257ff., S. 267f.

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tikwissenschaftliche Lehrveranstaltungen angeboten hatte, eine Führungsrolle in den Politik- und Sozialwissenschaften übernahm.47 Daneben gewann die FU bis Ende der 1950er Jahre insbesondere in der Germanistik und der Physik an Renommee. Für das Studium von technischen Studiengängen, die ohnehin nicht zum traditionellen Fächerangeboten von Universitäten gehörten, sondern sich an den technischen (Hoch-)Schulen entwickelt hatten, stand in Berlin das Angebot der Technischen Universität bereit.48 Bedauerlicherweise liegen für die FU erst ab 1969, nachdem sich in der Bundesrepublik die Einsicht zur politischen Notwendigkeit von Bildungsplanung durchgesetzt hatte, Daten zu den einzelnen, durch die im Zuge der Hochschulreform eingerichteten Fachbereichen vor. Eine Universitätsstatistik wurde erst ab 1972 geführt, die Entwicklung in den einzelnen Fächern lässt sich somit nicht nachvollziehen.49 Allerdings deuten die Studierendenzahlen in den Fachbereichen von 1969 daraufhin, dass sich die einzelnen Fächer sowie die Fächeranteile in einer Weise entwickeln, dass sie Ende der 1960er Jahre meistenteils im Verhältnis zu den bundesweiten Anteilen stehen, wobei die Sprach- und Kulturwissenschaften allerdings anteilig geringer vertreten sind: So ist der Fachbereich „Wirtschaftswissenschaft“ 1969 mit 1.910 Studierenden der größte einzelne Fachbereich, gefolgt von „Rechtswissenschaft“ (1.721), „Grundlagenmedizin“ (1.363), „Philosophie und Sozialwissenschaft“ (1.346) sowie „Germanistik“ (1.346).50 Auf der Grundlage besagter Zahlen machen die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (Fachbereiche „Wirtschaftswissenschaft“, „Philosophie und Sozialwissenschaft“ sowie „Politische Wissenschaft“) mit 28,43% den größten Anteil an den FU-Studierenden aus, gefolgt von den medizinischen Fächern (21,85%), den Naturwissenschaften (17,70%), Sprach- und Kulturwissenschaften („Germanistik“, „Geschichtswissenschaften“ „Erziehungswissenschaften“, „Neuere Fremdsprachliche Philologien“, „Altertumswissenschaften“, 13,70%) und Rechtswissenschaft (11,82%). Auch vorbehaltlich der fehlenden Zahlen aus den Zentralinstituten und den Zentraleinrichtungen sowie der Verschiebung der „Philosophie“ zeigt sich hier eine, zumindest im Vergleich zu den Wirtschaftsund Sozialwissenschaften und im Gegensatz zu den bundesweiten Fächeranteilen, nachrangige Bedeutung der Sprach- und Kulturwissenschaften. Auch wenn ein 47 Vgl. Tent (1988), S. 256. 48 Zur Herausbildung der Technischen Hochschulen im Zusammenhang mit der Entwicklung technischer Studiengänge im 19. Jahrhundert vgl. Jarausch (1991), S. 320f.; zur Geschichte der Technischen Universität vgl. Rürup (1979). 49 Vgl. Hüfner/Hummel/Rau (1985). Zur Rückständigkeit der bundesdeutschen Bildungsplanung im internationalen Vergleich in den 1960er Jahren vgl. Rohstock (2010), S. 19ff. 50 Vgl. Hüfner/Hummel/Rau (1985), S. 33. In der Tabelle 2/2 sind die 14.557 Studierenden der Fachbereiche exklusive der Zentralinstitute und Zentraleinrichtungen erfasst.

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Vergleich nur annäherungsweise möglich ist, bestätigt sich damit jedoch einerseits, dass im SDS Studierende aus den Bereichen Medizin, Naturwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und Rechtswissenschaft deutlich unterrepräsentiert, andererseits Soziologie, Politikwissenschaft und die Sprach- und Kulturwissenschaften gemessen an der Fächerstruktur überrepräsentiert sind. Letztere können mit Blick auf die Studierendenzahlen allerdings keineswegs als ‚Nischenfächer‘ der FU betrachtet werden, sondern sind im Einzelnen gut vertreten, wie die obigen Zahlen zu den Fachbereichen „Germanistik“ und „Philosophie und Sozialwissenschaften“ sowie zur Politikwissenschaft (885 = 6,10% der Studierenden) nahe legen. Hinsichtlich der beiden am häufigsten genannten Studienwünsche – Soziologie und Politikwissenschaft – zeichnen sich bei der getrennten Betrachtung der Teilgruppen ‚Vor Sommer 1967‘ und ‚Nach Sommer 1967‘ einige Unterschiede ab, auch im Verhältnis zu anderen Fächern. Hier zeigt sich, dass die Soziologie zwar vor Sommer 1967 das bedeutendste Fach ist und es auch danach aufgrund dieser Stärke bleibt. Jedoch ist nach Sommer 1967 ein verstärkter Zustrom in die Politikwissenschaft zu verzeichnen: Die Soziologie ist dort zwar immer noch der zweithäufigste Studienwunsch (11 Nennungen, 14,1% der Nennungen, 25,6% der Mitglieder in dieser Gruppe), allerdings ist sie weniger stark nachgefragt als die Politikwissenschaft (15 Nennungen, 19,2% der Nennungen, 34,9% der Mitglieder) und kaum noch stärker als die Germanistik (9 Nennungen, 11,5% der Nennungen, 25,6% der Mitglieder). Entsprechend liegen die beiden Fächer in einem direkten Vergleich der im Jahr 1967 eingeschriebenen Studierenden fast gleichauf. Auch wenn diese beiden Fächer durchaus eine gewisse Nähe zu einander und inhaltliche Schnittmengen aufweisen, ist diese Verschiebung dennoch bemerkenswert, da im Kontext der Studentenbewegung bislang lediglich die Bedeutung der Soziologie herausgehoben worden ist.51 Dabei kann die Verbindung von Interesse an Politikwissenschaft und (hochschul-)politischem Engagement eigentlich nicht überraschen. Überhaupt erscheint innerhalb einer hochschulpolitischen Gruppe ein akademisches Interesse für Politik und Gesellschaft nahe liegend, ebenso ein großer Anteil von Studierenden der Sprach- und Kulturwissenschaften angesichts seiner Größenordnung an der FU wie bundesweit. Auch erscheint angesichts der sozialistischen Ausrichtung der Gruppe die marginale Bedeutung der Betriebswirtschaftslehre plausibel. Erklärungsbedürftig erscheint hier eher die geringe Beteiligung von Studierenden aus den Fächern der Medizin, Rechtswissenschaft und Naturwissenschaften. Inwiefern sich aber in der Fächerzusammensetzung im SDS eine hochschulpolitische Besonderheit oder aber ein ‚Normalfall‘ abzeichnet, müsste ein Vergleich mit anderen hochschulpolitischen Gruppierungen erweisen.

51 Vgl. Bude/Kohli (1989); Kraushaar (1998b); Gilcher-Holtey (1998b).

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In jedem Fall gehören die SDSler_innen größtenteils Fächergruppen an, in denen sich mit den steigenden Studierendenzahlen seit Mitte der 1950er Jahre zunehmende Studienabbruchsquoten verzeichnen lassen; diese liegen Mitte der 1960er Jahre in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zwischen einem Drittel und der Hälfte der Studierenden, in den Sprach- und Kulturwissenschaften sogar bei zwei Dritteln.52 Mit Blick auf das Ende der Studienzeit der SDSler_innen an der FU (s.u.) deuten sich innerhalb der hier untersuchten Gruppe Übereinstimmungen mit diesen Entwicklungen an. Die steigenden Abbruchsquoten werden, wie bereits angemerkt, als ein Indiz für die sich im Zuge des Wachstums von Studierendenzahlen verschlechternden Studienbedingungen gewertet.53 5.3.2 Studienfach- und Fakultätswechsel Neben den Studienabbruchsquoten werden in den 1960er Jahren sich häufende Fächerwechsel während der Studienzeit als Ausdruck einer einer „immer eklatanter werdenden Krise des akademischen Studiums“ interpretiert.54 Durch den Wechsel des Studienfachs nach jahrelangem Erststudium ohne Abschluss verlängerten sich zunehmend die Ausbildungszeiten bis zum Eintritt in den Beruf. Die Gründe für den Fachwechsel sind allerdings in der hier zitierten Untersuchung nicht erhoben worden.55 Auch in der hier untersuchten SDS-Gruppe sind zahlreiche Studienfachwechsel zu verzeichnen, wie entsprechende Anträge auf Fach- oder Fakultätswechsel deutlich machen. Diese Wechsel stellen sich z.T. nur als eine Verschiebung des Studienschwerpunktes durch den Austausch eines von mehreren Fächern dar, z.T. auch nur durch den Tausch von Haupt- und Nebenfach, in manchen Fällen wird das inhaltliche Spektrum durch Hinzuwahl von Fächern erweitert. in zahlreichen Fällen kommt es aber auch zu einer völligen Neuausrichtung des Studiums. Insgesamt 49 SDSler_innen (27,1%) richten während ihrer Studienzeit an der FU ihr Studium neu aus. Am häufigsten werden die Studienfächer innerhalb der Fakultät gewechselt (17 mal), wobei in der Regel die Fächerkombination vollständig neu gewählt wird und nur selten ein ursprüngliches Fach beibehalten wird (zweimal). Fast ebenso häufig ist die vollständige Neuausrichtung des Studiums durch Fachund Fakultätswechsel (15 mal). Sieben mal wird aufgrund der Änderung des ange52 Vgl. Kath/Oehler/Reichwein (1966), S. 22. 53 Vgl. Kath/Oehler/Reichwein (1966), S. XVff. Zu konkreten Auswirkungen auf die Studienbedingungen vgl. Rohstock (2010), S. 25f. 54 Kath/Oehler/Reichwein (1966), S. XV. 55 Vgl. Kath/Oehler/Reichwein (1966), S. 32.

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strebten Abschlusses die Fakultät unter Beibehaltung des Faches gewechselt, sechs mal wird das Hauptfach unter Beibehaltung der Fächerkombination gewechselt. In drei Fällen werden Fächer zum ursprünglichen Studienfach bzw. zur ursprünglichen Fächerkombination hinzugewählt. Im Fall von drei Studierenden kommt es zu Mehrfachwechseln während des Studiums. Die Fachwechsel vollziehen sich bei allen Fächergruppen, die Häufigkeit bei den jeweiligen Fächern entspricht ungefähr der Häufigkeitsverteilung der Fächer. So sind die meisten Wechsel insgesamt beim Studienfach Soziologie zu verzeichnen: Acht Studierende wechseln zur Soziologie, zweimal weitere Male wird Soziologie vom Nebenfach zum Hauptfach aufgewertet, drei Studierende wählen Soziologie als Studienfach ab. Das Studienfach, zu dem am meisten übergewechselt wird, ist jedoch die Politikwissenschaft (9). Die meisten Abwahlen liegen mit sieben in der Germanistik, die nur einmal als neues Studienfach gewählt wird. Geschichte wird dreimal ab- und einmal neu gewählt, in der Philosophie ist das Verhältnis ausgeglichen (dreimal abgewählt, dreimal neu gewählt). Psychologie wird dreimal neu gewählt. Die Gründe, die für die Neuausrichtung des Studiums angegeben werden, sind dabei sehr heterogen und deuten sowohl auf Unzufriedenheit mit der Studiensituation in einzelnen Fächern oder auch mangelnde Berufsaussichten, als auch auf Interessensverlagerung und Präzisierung von Berufswünschen. Die Überfüllung von Seminaren und Vorlesungen wird für die Soziologie und die Germanistik kritisiert, die Berufsaussichten für Diplom-Politolog_innen bemängelt. Die Überfüllungssituation in der FU klingt auch bei einzelnen Studierenden an, die sich hatte zunächst für ein weniger nachgefragtes Fach in der gleichen Fakultät beworben hatten, um eine Zulassung an der FU zu erhalten und nun in ihr eigentliches Wunschfach umschreiben lassen wollen, etwa von Veterinärmedizin in Humanmedizin. Einige begründen ihren Wunsch zum Fach- oder Fakultätswechsel mit der Unkenntnis über die genauen Anforderungen für den gewünschten Beruf oder Studienabschluss. 5.3.3 Studienfächer der 1967 Eingeschriebenen Bei den Mitgliedern des SDS, die 1967 an der Freien Universität eingeschrieben sind, ergeben sich unter Berücksichtigung der oben aufgeführten Fächerwechsel, sofern sie für diesen Teil der Gruppe und den Zeitpunkt relevant sind, Fächerverteilungen bzw. Fächergruppenanteile, die im Wesentlichen der Verteilung bei den Studienfachwünschen in der Gruppe insgesamt entsprechen: Das am häufigsten belegte Fach ist Soziologie (45 von 133 Studierenden, 33,8%), gefolgt von Politikwissenschaft (37 Studierende, 27,8%). Zehn SDSler_innen studieren dabei Soziologie und Politikwissenschaft in Kombination. Es

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folgen des Weiteren Germanistik (26 Studierende, 17,3%), Philosophie (23 Studierende, 17,3%) Geschichte (18 Studierende, 13,5%). Psychologie wird 14 mal belegt (10,5%), Volkswirtschaftslehre 13 mal (9,8%) und Publizistik 10 mal (7,5%). Von jeweils nur einem oder einer Studierenden gewählte Fächer sind Geografie, Betriebswirtschaftslehre, Wirtschaftswissenschaften, Bibliothekswissenschaft, Judaistik, Theologie und Kunstwissenschaft. Mit Blick auf die 1967 eingeschriebenen SDSler_innen wiederholen sich also insgesamt die Ergebnisse wie sie bereits der für die Gesamtgruppe zu verzeichnen waren: Es bestätigt sich eine quantitativ herausgehobene Bedeutung der Soziologie, allerdings wird diese durch eine fast ebenso große Häufigkeit der Politikwissenschaft relativiert, ferner durch den hohen Anteil von sprach- und kulturwissenschaftlichen Fächern insgesamt sowie einem Anteil von fast 70% der SDSler_innen, die eben nicht Soziologie studieren. Auffällig ist wiederum die völlige Randstellung des bundesweit häufigsten Studienfaches Betriebswirtschaftslehre, aber diese erscheint angesichts der sozialistischen Ausrichtung der Gruppe ebenso nahe liegend wie das hohe Interesse innerhalb einer politischen Hochschulgruppe an gesellschafts- und politikwissenschaftlichen Studiengängen. Inwiefern diese Fächerverteilung tatsächlich bedeutsam ist, kann, wie gesagt, nur ein Vergleich mit anderen hochschulpolitischen Gruppierungen, insbesondere an der FU, klären. Interessant wäre in diesem Zusammenhang auch ein Vergleich mit der Fächerzugehörigkeit von SDS-Mitgliedern an anderen Universitäten und innerhalb Berlins mit Mitgliedern von der Technischen Universität. An dieser wurden zwar vor allem technische Studiengänge angeboten, im Zuge einer Neuausrichtung des Bildungsauftrags ab 1946, der nach der NS-Zeit stärker der Verknüpfung von Technik und gesellschaftlicher Verantwortung gerecht werden sollte, aber auch zunehmend Geistes- und Sozialwissenschaften integriert.56 Inwiefern die rein quantitative Fächerverteilung innerhalb des SDS im Umfeld der FU auch bereits einen Hinweis auf inhaltliche Einflüsse darstellt – zwischen Studienrichtungen und SDSler_innen sowie zwischen SDSler_innen unterschiedlicher Studienrichtungen – und in welche Richtung diese jeweils wirkten, müssten hingegen weitergehende qualitative, etwa diskursanalytische Studien erforschen. Inwiefern im SDS also ein „soziologisches Milieu“ vorherrschend war bzw. sich in Wechselwirkung mit der Soziologie an der FU entwickelte, bleibt angesichts der Fächerverteilung sowie der genannten fehlenden Vergleichsmöglichkeiten zunächst offen.

56 Vgl. Rürup (1979).

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5.4 D AS E NDE DER S TUDIENZEIT AN DER F REIEN U NIVERSITÄT UND S TUDIENDAUER BIS ZUM E XAMEN Die Studienzeit an der FU, so zeigen die Exmatrikulationsanträge der SDSler_innen, wird aus unterschiedlichen Gründen beendet: Rund die Hälfte der Mitglieder (93=51,4%) exmatrikuliert sich nach erfolgreich beendetem Studium. Ein knappes Fünftel (35= 19,3%) verlässt die FU, um an einer anderen Universität bzw. Hochschule das Studium fortzusetzen oder einen anderen Studiengang aufzunehmen. Am häufigsten (6 mal) wird in diesem Zusammenhang die Pädagogische Hochschule Berlin genannt. Zeitgenössische Untersuchungen zu Studiendauer und Studienerfolg beobachten bei Lehramtsstudierenden einen zunehmenden Wechsel zu benachbarten Pädagogischen Hochschulen.57 In drei weiteren Fällen bleibt mit der Technischen Universität ebenfalls Berlin weiterhin der Studienort, in 20 Fällen geht mit dem Universitätswechsel allerdings auch ein Ortswechsel (Frankfurt, Göttingen, Bochum, Köln, Konstanz, Hamburg, Saarbrücken, München, Bremen, Marburg, Freiburg, Tübingen), z.T. auch ins Ausland (Frankreich, England, USA, Argentinien) einher, in zwei Fällen bleibt das Wechselziel unbekannt. 13 Studierende (7,2%) exmatrikulieren sich zur Unterbrechung des Studiums; hier werden am häufigsten (8 mal) finanzielle Gründe genannt, einmal auch Krankheit, in vier weiteren Fällen werden „sonstige Gründe“ angekreuzt. Sieben Mitglieder exmatrikulieren sich ohne Angabe von Gründen, drei nehmen eine Tätigkeit auf, die im Zusammenhang mit ihrem Studium steht, zwei geben den Abbruch ihres Studiums an. In insgesamt 19 Fällen (= 10,5%) erfolgt keine Exmatrikulation nach Antrag durch die Studierenden, sondern eine Streichung aus der Liste der Studierenden aufgrund nicht erfolgter Rückmeldung. In einem Fall ist das Mitglied verstorben. Über neun Studierende (5,0%) liegen keine Informationen – Exmatrikulationsantrag oder Streichungsvermerk – zum Verbleib vor. Größere Unterschiede zwischen beiden Teilgruppen ergeben sich im Bereich des Hochschul- bzw. Studienortswechsels, der Unterbrechung des Studiums sowie der Streichung aufgrund nicht erfolgter Rückmeldung: Der Anteil der Wechsler_innen ist mit 30,2% bei den Neumitglieder fast doppelt so hoch wie in der Gruppe von vor dem Sommer 1967 mit 15,9%, auch wenn dies in absoluten Zahlen einem Verhältnis von 13:22 entspricht. Andererseits sind die Exmatrikulationen, die mit der Unterbrechung des Studiums begründet werden, bis auf einen Fall alle in der Gruppe ‚Vor Sommer 1967‘ zu finden, ebenso wie die Streichungsvermerke. In beiden Teilgruppen ist die Zahl der Studienabschlüsse allerdings etwa gleich hoch mit 50,7% in Gruppe ‚Vor Sommer 1967‘ und 53,5% bei den Neumitgliedern. In beiden Gruppen liegen die Abschlussquoten jedoch deutlich unter der zeitgenössi57 Vgl. Kath/Oehler/Reichwein (1966), S. 184.

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schen Abschlussquote, die Mitte der 1960er Jahre bei 68,4% liegt; eine solche Abschlussquote wird auch bis Ende des Jahrzehnts prognostiziert.58 Ein Umstand, der sich auch aus den hohen Anteilen innerhalb des SDS von sprach- und kulturwissenschaftlichen wie wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fächern, in denen die Abschlussquoten besonders niedrig sind, erklären lässt. Wie hoch aber der Anteil von SDSler_innen ist, die letztlich ihr Studium erfolgreich zu Ende geführt oder aber endgültig abgebrochen haben, ist auf Grundlage dieser Informationen nicht zu beziffern. Zwar liegt die Studienerfolgsquote insgesamt sogar etwas über der Abschlussquote von gut 50%, da unter den gestrichenen Studierenden, den Studienabbrecher_innen als auch unter denjenigen, zu denen keine weiteren Informationen vorliegen, fünf Kandidat_innen sind, die vor dem Eintritt in die Freie Universität Berlin bereits ein Erststudium erfolgreich absolviert hatten. Fünf weitere Studierende, deren Verweildauer an der FU aus anderen Gründen als einem Studienabschluss endet, hatten zwischenzeitlich ein Examen ablegt, hatten sich aber anschließend für ein Zweitstudium an der FU umgeschrieben. Wie erfolgreich ein geplanter Studienortswechsel letztlich verlaufen ist oder ob ein abgebrochenes Studium doch noch fortgesetzt worden ist, lässt sich auf Grundlage der Quellen nicht beurteilen. Die Zahl der Studienabbrüche wird in den 1960er Jahren jedoch insgesamt, wie bereits erwähnt, mit Besorgnis betrachtet, ebenso die zunehmende Studiendauer.59 Die Studiendauer lässt sich hier nur für einen vergleichsweise kleinen Teil der SDSler_innen rekonstruieren, da nur ein der knappes Viertel (42 = 23,2%) das Studium an der FU begonnen und erfolgreich absolviert hat; bei den Studienortwechsler_innen lässt sich die Semesterzahl nicht durchgehend erfassen. Die durchschnittliche Studiendauer beträgt 15 Semester, im kürzesten Fall neun (2 mal), im längsten 24 Semester, am häufigsten ist allerdings eine Semesterzahl von 18 (6 mal), jeweils fünf Studierende absolvieren ihr Studium in 12, 14, 16 und 17 Semestern. Bereinigt um Fachwechsel und Urlaubssemester ergeben sich allerdings niedrigere Zahlen an Fachsemestern mit durchschnittlich 12,3 Semestern, mindestens neun, längstens 19 Semestern. Im Mittel liegen sie damit im Bereich der durchschnittlichen Fachstudiendauer in den 1960er Jahren, die je nach Fach knapp 10 und gut 13 Semestern dauert.60 Beide, die durchschnittlichen Fachsemesterzahlen in Westdeutschland und im SDS, liegen jedoch etwas oberhalb der Höchstdauer der Studienförderung nach 58 Vgl. Kath/Oehler/Reichwein (1966), S. 169f. 59 Vgl. Kath/Oehler/Reichwein (1966). 60 Vgl. Kath/Oehler/Reichwein (1966), S. 170f. Die durchschnittliche Studiendauer liegt in der Rechtswissenschaft bei 9,8 Semestern, in der Physik bei 13,4 Semestern. Die durchschnittliche Studiendauer der Fächer Landwirtschaft und Pharmazie liegt wie auch die Mindeststudiendauer in diesen Fächern deutlich darunter, diese Fächer wurden hier jedoch nicht berücksichtigt, da sie als Studienfach in der untersuchten Gruppe nicht vertreten sind.

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Honnefer Modell: Diese liegt je nach Fach bei neun bis 13 Semestern und kalkuliert über die Mindeststudiendauer hinaus auch einen Fachwechsel ein. Sechs SDSler_innen schließen das Studium mit Promotion ab – mit z.T. erheblich höheren Fachsemesterzahlen von 18 und 19 Semestern; für den Abschluss mit Promotion wurde bereits in der ersten Hälfte der 1960er Jahren Festsetzung von Förderungszeiten von bis zu 18 Semestern in den Geisteswissenschaften diskutiert.61 Die Studienzeit der SDSler_innen – darauf deuten weniger die durchschnittlichen Fachsemesterzahlen bis zum Examen als vielmehr schon die durchschnittlichen Verweilzeiten (s.o.) an der FU und insbesondere die z.T. langen individuellen Studienzeiten – liegt damit im Trend einer allgemeinen Studienzeitverlängerung, auf die bereits Mitte der 1950er Jahre die Europäische Rektorenkonferenz als internationales Phänomen hingewiesen hatte; dies bestätigen in den 1960er Jahren entsprechende Erhebungen in den 1960er Jahren.62 Diese Studienzeitverlängerung ist allerdings nicht in allen Fächern gleich und bemisst sich weniger in einer steigenden Fachsemesterzahl bis zum Examen, sondern vielmehr in einer insgesamt steigende Studiendauer durch häufige Fächerwechsel sowie durch zunehmende Unterbrechungen zur Werktätigkeit und durch Krankheit; in den Naturwissenschaften und der Medizin entstehen zudem Wartezeiten auf Laborzeiten und Praxisveranstaltungen, in den Lehramtsfächern auf das Referendariat. Daher wird weniger eine Verlängerung des eigentlichen Fachstudiums als vielmehr eine Verlängerung der Ausbildungszeiten bis zum Eintritt in das Berufsleben beobachtet.63

5.5 U NIVERSITÄT IM W ANDEL ALS O RT S TUDENTENBEWEGUNG

DER

Die Bildungswege der SDSler_innen nach Erwerb der Hochschulreife sind durch insgesamt recht lange Studienzeiten bei mäßigem nachweisbarem Studienerfolg gekennzeichnet. Damit stimmen sie aber im Wesentlichen mit den zeitgenössischen Befunden zu Studiendauer und Studienerfolg überein.64 Die Situation an den deutschen Universitäten wird vor dem Hintergrund von stetig steigenden Studierendenzahlen als zunehmend problematisch beurteilt, die langen Studienzeiten und hohen Abbruchsquoten als ein Indiz für schlechte Studienbedingungen angesichts von

61 Vgl. die entsprechenden Anmerkungen bei Kath/Oehler/Reichwein (1966), S. 169. 62 Vgl. Rohstock (2010), S. 29f.; bereits zeitgenössisch vgl. Kath/Oehler/Reichwein (1966); Kath (1969). 63 Vgl. Kath/Oehler/Reichwein (1966), S. 165ff. 64 Vgl. Kath/Oehler/Reichwein (1966).

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Überfüllung und fehlenden Orientierungshilfen gewertet.65 Auch wenn die Gründe einiger SDSler_innen für die Neuausrichtung ihres Studiums nahelegen, dass die z.T. langen Ausbildungszeiten nicht ausschließlich aus Überfüllungs- und Orientierungsproblemen resultieren, sondern auch aus der Verlagerung inhaltlicher Interessen oder der Präzisierung von Berufswünschen im Verlaufe des Studiums, zeichnen sich doch in den Studienverläufen und den Äußerungen der Studierenden einige der zeitgenössisch diskutierten und kritisierten Entwicklungen an den Universitäten ab. In der Zeit, in der die Mitglieder der untersuchten SDS-Gruppe insgesamt an der Freien Universität eingeschrieben sind – vom Sommersemester 1955 bis zum Wintersemester 1977/78 – unterliegt die FU wie die gesamte Hochschullandschaft in der Bundesrepublik massiven Veränderungen. Zwischen 1955 und 1967, also zwischen dem frühesten in dieser Gruppe verzeichneten Studieneintritt und dem Jahr, für das die Gruppe abgebildet werden kann, mehr als verdoppeln sich die Studierendenzahlen bundesweit von 97.958 auf 229.715 Studierende;66 an der FU steigen die Studierendenzahlen von 8.329 bis 1964 auf 15.196 und sinken bis 1967 zunächst auf 13.497 ab.67 Damit steigen die Studierendenzahlen an der FU zunächst weniger stark als im bundesweiten Vergleich, sie liegen allerdings bereits zu Beginn des betrachteten Zeitraums deutlich über den vom Wissenschaftsrat 1962 in seiner Skizze einer idealen Universität empfohlenen Höchstgrenze von 3.000 Studierenden.68 Bis 1977 steigen die Studierendenzahlen der FU auf 34.211, auch die bundesweiten Zahlen verdoppeln sich bis 1977 erneut auf 481.130.69 Dieses Wachstum wird – zunächst von den Universitäten ausgehend – von Diskussionen zu einer Hochschulreform begleitet; die Forderungen nach einer Reform der Universität brechen sich nach dem ‚Sputnik-Schock‘ von 1957 politisch wie öffentlich zunehmend Bahn und zielen nun neben der „Bewältigung des Massenproblems“ auch auf den Erhalt der wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit der Universitäten.70 Aufgrund des ‚brain drains‘, der zunehmenden Abwanderung von Nachwuchswissenschaftlern insbesondere in die USA, wird zunehmend um die Konkurrenzfähigkeit der westdeutschen Forschungslandschaft gefürchtet.71 Die Reformdiskussionen werden zu65 Vgl.Wissenschaftsrat (1962), S. 9ff., S. 73ff.; Kath/Oehler/Reichwein (1966), S. XVff.; Rohstock (2010), S. 25ff. 66 Vgl. Lundgreen (2008), Tab. 2.16. 67 Vgl. Lundgreen (2008), Tab. 2.3. 68 Wissenschaftsrat (1962), S. 35. 69 Vgl. Lundgreen (2008), Tab. 2.3, 2.16. 70 Zur Entfaltung des „Krisenszenarios“ in den Hochschulreformdiskussionen vom letzten Drittel der 1950er Jahre bis zu die zweite Hälfte der 1960er Jahre vgl. Rohstock (2010), S. 17ff. Zitat Wissenschaftsrat (1962), S. 11. 71 Vgl. Rohstock (2010), S. 23ff.

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nehmend von Krisendiskursen durchzogen, die ihren Höhepunkt spätestens mit dem Ausrufen der deutschen „Bildungskatastrophe“ durch Georg Picht erreichen: Picht hatte auf Grundlage von Studien der OECD unter anderem die Studierendenzahlen trotz des Wachstums als im internationalen Vergleich zu niedrig bewertet und einen Rückfall der bundesdeutschen Volkswirtschaft prognostiziert.72 Gleichzeitig stoßen die bundesdeutschen Universitäten aufgrund des Frequenzwachstums zunehmend an die Grenzen an ihrer Kapazitäten, nicht weil die Zahl der Lehrenden nicht in angemessener Weise erhöht wurde, sondern auch weil die räumlichen Möglichkeiten erschöpft sind.73 Die Reformforderungen münden schließlich in eine Reihe von Hochschulgesetzen zwischen Ende der 1960er und Mitte der 1970er Jahre, in denen Reformen der Verwaltungsstruktur, der Studienorganisation sowie die Kompetenzen der Länder und des Bundes fixiert werden;74 bereits ab den frühen 1960er Jahren führt eine Reihe von Universitätsneugründungen zu Kapazitätsausbau, regionalem Ausgleich sowie dem Experiment mit neuen Universitätsformen.75 Um diese Reformen wurde allerdings zwischen Politik und Universitäten einerseits und Lehrenden und Studierenden andererseits z.T. hart gerungen: So übereinstimmend die Lage an den Universitäten als reformbedürftig eingestuft worden war, so wenig herrschte Einigkeit über die zu ergreifenden Maßnahmen. Die Politik bemühte sich um größere finanzielle Kontrolle der Universitäten, während diese auf ihre traditionelle Autonomie pochten; die Anerkennung von Assistent_innen und Student_innen in den Hochschulverfassungen als Gruppen der Universität und ihre Vertretung in den Selbstverwaltungsgremien traf auf die Ablehnung durch die Ordinarien – die ordentlichen Professoren, die sich in ihren Entscheidungskompetenzen beschnitten und darüber hinaus die Freiheit von Forschung und Lehre bedroht sahen.76 Diese Auseinandersetzungen prägen auch die Reformplanungen in Berlin, wo die FU seit ihrer Gründung ein relativ hohes Maß an politischer Unabhängigkeit genoss, während den Studierenden bereits frühzeitig mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten an der Universität eingeräumt worden waren. Diese als „Berliner Modell“ bekannt gewordene Verfassung sehen weite Teile der Universität im Hochschulgesetz von 1969 bedroht 72 Vgl. Picht (1965). 73 Vgl. Rohstock (2010), S. 25ff. 74 Zu den Hochschulreformen im Überblick vgl. Friedeburg (1989), S. 417ff.; Oehler (1998). Zur Umwandlung der Ordinarienuniversität in die Gruppenuniversität mit Fokus auf die studentische Selbstverwaltung vgl. Keller (2000). Zu den Hochschulreformen insbesondere in Bayern und Hessen vgl. Rohstock (2010), S. 277ff. 75 Vgl. Oehler (1998), S. 433ff. 76 Vgl. Friedeburg (1989), S. 417ff.; Oehler (1998); Keller (2000), S. 166ff.; ausführlich für das Beispiel des Landes Hessen vgl. Rohstock (2010), S. 120ff.

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– allerdings aus unterschiedlichen Gründen.77 Das Gesetz sieht die Auflösung der Fakultäten in kleinere Fachbereiche, die Ersetzung des Rektorats an der Spitze der Universität durch ein Präsidentschaftsamt, die Einsetzung eines Kanzlers an der Spitze der Verwaltung zur Kontrolle der Finanzen sowie die Anerkennung von Assistent_innen und Studierenden in den Hochschulgremien bei gleichzeitiger Abschaffung von Allgemeinem Studierendenausschuss und Studentischem Konvent vor.78 Damit reagiert die Gesetzgebung zumindest ihrer Ansicht nach einerseits auf die veränderten Anforderungen zur Verwaltung einer auf unübersichtliche Größe gewachsenen Institution und andererseits auf die veränderten Anforderungen an die Universität als Teil eines Bildungssystems in einer demokratischen Gesellschaft. Durch die Abschaffung der traditionellen Studentenvertretungen sollen zugleich Organisations- wie Finanzierungsmöglichkeiten von ‚radikalen Studenten‘ beschnitten werden.79 Mit dieser Maßnahme reagiert die Gesetzgebung direkt auf die Proteste von Studierenden, die in den Jahren zuvor sowohl die Freie Universität als auch die Stadt Berlin geprägt hatten. Diese waren maßgeblich vom SDS organisiert und angeführt worden, der innerhalb der FU Teile des AStA wie des Konvents gestellt hatte. Neben den z.T. bundesweit Aufsehen erregenden und dramatisch verlaufenden Demonstrationen gegen den kongolesischen Ministerpräsidenten Tschombé 1964, gegen den persischen Schah im Juni 1967, gegen den Vietnamkrieg der USA im Dezember 1966 und im Februar 1968, gegen den Springer-Verlag im April 1968 in Folge des Attentats auf Rudi Dutschke hatte sich der SDS auch als Anführer von medial weniger beachteten Protestaktionen an der FU selbst hervorgetan:80 etwa die später zuweilen als ‚Beginn‘ der Studentenbewegung markierten „Affären“ Kuby und Krippendorf, in denen erneut die Konfliktpunkte Meinungsfreiheit und politisches Mandat der Studentenvertretung zu Tage traten, die bereits Ende der 1950er Jahre für Auseinandersetzungen zwischen Studierendenschaft und FU gesorgt hatten, aber auch in Form von öffentlicher Seminarkritik Teach-Ins, Sit-Ins, Streiks und Rektorats- und Institutsbesetzungen.81 Die Freie Universität war insofern also nicht nur Organisationsplattform, sondern auch Ziel des studentischen Protests. Dieser richtete sich gegen als ‚undemokratisch‘ empfundene Haltungen und Entscheidungen der Universität und stand zumindest in einem Fall in direktem Zusammenhang mit der sich zuspitzenden Studiensituation: Im Frühjahr 1966 setzten 77 Vgl. Tent (1988), S. 372ff., zum „Berliner Modell“ ferner S. 183ff. 78 Vgl. Tent (1988), S. 378ff. 79 Vgl. Tent (1988), S. 383. 80 Vgl. Fichter/Lönnendonker (2008), S. 115, S. 159, S. 185, S.188; Frei (2008), S. 101f., S. 112ff., 129f. 81 Vgl. Tent (1988), S. 311ff., S. 321ff., S. 367ff.; Fichter/Lönnendonker (2008), S. 150ff, S. 157.

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medizinische wie juristische Fakultät ohne Beteiligung von Studierendenvertretungen Richtlinien in Kraft, nach denen durch Zulassungsbeschränkungen und die Einführung von Regelstudienzeiten die Überfüllung eingedämmt werden sollte. Diese Maßnahmen trafen auf den Widerstand der Studierenden, organisiert in einer Allianz des SDS auch mit konservativen Studierendengruppen, die Zwangsexmatrikulationen befürchteten und anstelle der Studienzeitbegrenzung eine Verbesserung von Studienplänen und Studienbedingungen forderten. Der Protest gegen die ‚Zwangsexmatrikulation‘ weitete sich in der Folgezeit aus zu einer Forderung nach einer grundlegenden Demokratisierung der Universität auf allen Ebenen: in den Gremien, in den Themen und Formen der Lehre und Forschung und in Berufungsfragen.82 Darüber, inwiefern die erfahrenen Studienbedingungen insgesamt einflussreich waren auf die Protesthaltung der SDSler_innen, kann nur spekuliert werden. Allerdings erweist sich in dem genannten Beispiel eine Dynamik, die sich aus der konkreten Studiensituation, Reformmaßnahmen in Reaktion darauf diese sowie Widerstand gegen diese Maßnahmen speist – und zwar bereits in einer frühen Phase der Studentenbewegung und noch vor der Verabschiedung von Hochschulgesetzen, deren Planung sich aus der veränderten Situation der Universitäten ergeben hatte. Diese Dynamik setzt sich im Protest gegen die in den Hochschulgesetzen verankerten Reformen fort und weitete sich zu gesamtgesellschaftlichen und -politischen Protesten aus.83

82 Vgl. Tent (1988), S. 335ff. 83 Vgl. Tent (1988), S. 383ff.

Zwischenfazit

Das auffälligste Ergebnis der vorangegangenen Analysen der Lebensverläufe von Mitgliedern im Sozialistischen Deutschen Studentenbundes im Umfeld der Freien Universität Berlin ist zunächst einmal das Ausbleiben von Auffälligkeiten: Weder mit Blick auf die Altersstruktur und auf die regionale und soziale Herkunft, noch hinsichtlich der Bildungsverläufe lassen sich eindeutige Muster oder Abweichungen von den Daten zur Gesamtstudierendenschaft erkennen. Neben dem Erwerb der Hochschulreife und dem Studium an der Freien Universität als übereinstimmende Ereignisse des Lebensverlaufs, sind das Aufwachsen in Städten sowie in Familien, die einem ‚bürgerlichen‘ Leitbild entsprechen, die Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Mittelschichten und die Partizipation an höherer Bildung als geteilte Bedingungen der Sozialisation zu betrachten. In diesen Punkten unterscheidet sich die Gruppe keineswegs signifikant von anderen Studierenden in dieser Zeit, im Gegenteil stimmt die soziale Zusammensetzung grundsätzlich mit der Sozialstruktur in der Studierendenschaft insgesamt überein und stimmen die Studienkarrieren weitestgehend mit den zeitgenössischen Befunden zu Studiendauer und Studienerfolg überein. Lediglich bei den Studienfächern ist eine Abweichung festzustellen, mit großen Anteilen von Studierenden der Soziologie, Politologie sowie der Sprach- und Kulturwissenschaften bei gleichzeitig nur sehr wenigen Studierenden aus den Fächern Medizin und Jura sowie den Naturwissenschaften. Das Studienfach mit den damals wie heute größten Studierendenanteilen in der Bundesrepublik, die Betriebswirtschaftslehre, ist so gut wie nicht vertreten. Übereinstimmungen zeigen sich allerdings nicht nur in Hinsicht auf die Studierenden jener Zeit, sondern sind darüber hinaus in Hinsicht auf die gesamte Alterskohorte festzustellen, wie die Untersuchungen zur regionalen Herkunft und der Mobilität in Kindheit und Jugend gezeigt haben. Hier zeichnen sich vier typische Muster ab, die in einem Zusammenhang mit der Altersstruktur und den Kriegserfahrungen der Gruppe stehen: Etwas ältere Flüchtlinge aus dem Osten des ehemaligen Deutschen Reiches, Flüchtlinge aus der SBZ und der DDR, gebürtige Berli-

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ner_innen und etwas jüngere, vergleichsweise sesshafte SDSler_innen aus dem Gebiet der (späteren) Bundesrepublik. In dieser Hinsicht trägt die SDS-Gruppe wesentliche Kennzeichen einer „Generation der Kriegskinder“,1 mit der sie naturgemäß auch nach Alterszugehörigkeit weitestgehend übereinstimmt: Die „Generation der Kriegskinder“, die „Angehörigen der Jahrgänge 1930 bis 1945, die den Zweiten Weltkrieg als Kleinkinder erlebt hatten und in den 50er- und 60er-Jahren in der Bundesrepublik und in der DDR unter unterschiedlichen politischen Vorzeichen aufwuchsen“, ist seit Beginn des neuen Jahrtausends medial in Erscheinung getreten.2 Mit der Fokussierung auf die Kinder der aussterbenden „Erlebnisgeneration“, jener Zeitzeugen also, die den Zweiten Weltkrieg als Erwachsene erlebt bzw. an ihm beteiligt waren, verbindet sich in der breiten Thematisierung der Kriegserlebnisse ihrer Kinder, ihrer Vaterlosigkeit und der Traumata weiter Teile dieser Generation auch eine neue Gedächtniskultur.3 Diese ist allerdings auch als eine neue Selbstinszenierung der ‚68er Generation‘ in der Rolle der Weltkriegsopfer kritisiert worden.4 Während diesem Vorwurf zwar entgegen gehalten wurde, dass er die unterschiedlichen Bedingungen für die ‚Kriegskindergeneration‘ in der Bundesrepublik und der DDR ignoriere,5 deuten sich in der vorangegangenen Analyse tatsächlich weitreichende Übereinstimmungen von ‚68er Generation‘ und ‚Kriegskindergeneration‘ an, zumindest, wenn man die hier untersuchte vergleichsweise kleine Gruppe des SDS als Stellvertreterin einer ‚68er Generation‘ begreift. In dieser Hinsicht wird sogar der genannte Ost-West-Gegensatz ein Stück weit integriert: Die SDS-Gruppe stimmt nach Altersstruktur und Lebensverläufen eher mit der ‚Kriegskindergeneration‘ als mit den für die ‚68er‘ beschriebenen Kennzeichen überein. Diese größere Übereinstimmung ergibt sich allerdings nicht nur aus der weiter gefassten Alterskohorte der ‚Kriegskindergeneration‘ und dem Zweiten Weltkrieg als gemeinsame Erinnerung, sondern auch daraus, dass über den Zweiten Weltkrieg als generationsstiftende Erfahrung hinaus längere Zeiträume mit ihren unterschiedlichen Einflüssen für die Kontur verantwortlich gemacht werden. Während die SDS-Gruppe zu den recht eng gefassten, unterschiedlichen Entwürfen einer ‚Protestgeneration‘ höchstens punktuelle Übereinstimmung zeigt, ergeben sich mit der ‚Generation der Kriegskinder‘ größere Parallelen, da auch den politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen in der Folgezeit, mithin

1

Seegers/Reulecke (2009).

2

Vgl. Seegers (2009), Zitat S. 21.

3

Vgl. Seegers (2009), S. 13ff., Zitat S. 14.

4

Vgl. Seegers (2009), S. 15.

5

Vgl. Seeger (2009), S. 15f.

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der „Lebenswelt“,6 eine Bedeutung zugesprochen wird.7 Im Gegensatz dazu sind für die ‚Protestgeneration‘ der ‚68er‘ kleinere Alterskohorten und jüngere Geburtsjahrgänge zwischen 1938 und 1950 angenommen worden. Tatsächlich aber sind ältere Jahrgänge in der SDS-Gruppe in nennenswertem Umfang vertreten, die Nachkriegsjahrgänge hingegen kaum. Für die ‚68er‘ sind meistenteils Kriegserfahrung oder Aufwachsen in Wohlstand als prägende Faktoren angenommen worden. Der bereits als eine Ausnahme genannte Entwurf einer ‚Protestgeneration‘ von Jürgen Busche, der als einen wesentlichen Faktor die aufeinanderfolgende Erfahrung von Krieg und Wirtschaftswachstum unterstellt, steht insofern dem Konzept der ‚Generation der Kriegskinder‘ nahe.8 Was Busche als eine These zur ‚68er Generation‘ entwickelt, erweist sich für die untersuchte Gruppe als zutreffend. Allerdings betrachtet Busche auch den Studierendenstatus als grundlegend für die ‚68er Generation‘. Und in genau diesem Punkt ist die SDS-Gruppe auch von der ‚Kriegskindergeneration‘ zu unterscheiden, da es sich beim SDS eben vornehmlich um eine studentische Gruppierung handelt, deren Sozialisation spezifischer zu fassen ist als dies der Entwurf der ‚Kriegskindergeneration‘ zulässt, der Bildungsniveau und Sozialstatus vernachlässigt. Um zu prüfen, inwiefern sich tatsächlich ‚Protestgeneration‘ und ‚Kriegskindergeneration‘ in den genannten Punkten überlagern, müssten jedoch auch weitere Teile der Studentenbewegung, auch andere Gruppen des SDS, eingehender untersucht werden. Als These lässt sich aber formulieren, dass die ‚68er Generation‘ als akademisch gebildeter Teil der ‚Kriegskindergeneration‘ anzusehen ist, der seine politischen Anliegen lautstark und nachdrücklich, zumindest aber öffentlich wahrnehmbar formulierte. Daran anschließen würde sich die Forschungsfrage, inwiefern dieser Teil auch als Sprecher weiterer Kreise seiner Generation anzusehen ist. Zwar wurden radikale Positionen in SDS und Studentenbewegung von anderen Studierenden sowie nichtstudentischen Gleichaltrigen mehrheitlich abgelehnt, grundlegende Forderungen nach ‚Demokratisierung‘ und Liberalisierung aber über linke studentische Kreise hinaus geteilt.9 Dies zeigen zeitgenössische Befragungen von Studierenden und mehr noch die Ergebnisse der zeithistorischen Forschung zur Politisierung von Jugendlichen. Diese Politisierung trug vielfältige Züge und wurde u.a. durch einen von Erwachsenen ausgeübten „Politisierungsdruck“ an die jungen 6

Groppe (2004), S. 22; dazu ausführlich Teil II, Abschnitt 1. Geburtsjahrgänge, Familienstand, Geschlecht.

7 8

Vgl. dazu die Beiträge in Seegers/Reulecke (2009). Vgl. Busche (2003), S. 31. Vgl. dazu auch Teil I, Abschnitt 2. Forschungsstand und Erkenntnisinteresse.

9

Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach (1967a); Schildt (2003); Wienhaus (2011).

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Menschen herangetragen; vor allem aber entwickelte sie sich in den jugendkulturellen Strömungen der Zeit.10 Dabei standen ausgerechnet letztere zunächst im Zentrum der Diskussionen um eine vermeintlich unpolitische Jugend. In den Jugendkulturen, die sich in Anknüpfung an verschiedene Musikrichtungen entwickelten – in den 1950er Jahren Jazz und Rock‘n‘Roll, in den 1960er Jahren Beat – wurde weithin der Ausdruck mangelnder Sinnstiftung gesehen, eine Manipulationsgefahr in der sich entwickelnden Konsumkultur, der die ‚Jugendlichen‘ – gemeint waren hier auch Studierende – kritisch zu begegnen lernen müssten. In der Retrospektive ist allerdings gerade der politische Gehalt der Jugendkulturen betont worden, der sich nicht in der emanzipatorischen Kraft und im Widerstand gegen die Einschränkung von Autonomie erschöpfte, sondern sich z.T. auch durch „explizit politische Aussagen, deren Themen zu einem gewichtigen Teil spezifisch deutsche waren“, hervortat.11 Die Politisierung von Jugendlichen offenbarte sich jedoch nicht nur in den Jugendkulturen, die als Massenkulturen zunehmend normative Kraft entfalteten,12 sondern auch in einem allgemein zunehmenden politischen Interesse, in einem gerade unter Jugendlichen zu verzeichnenden Vertrauen in die Möglichkeiten zur eigenen politischen Einflussnahme und einer immer größeren Hinwendung zur SPD, die schließlich gerade aufgrund der Unterstützung durch junge Menschen nach der Bundestagswahl 1969 eine sozialliberale Regierungskoalition anführen konnte.13 Bedauerlicherweise ist bislang der Einfluss von politischen Diskursen und ihre Betonung von ‚Demokratie‘, wie sie gerade auch im Zusammenhang mit Bildung und mit Bezug auf das Bildungssystem sowie innerhalb des Bildungssystems zu beobachten sind, weder auf diese ‚Popkulturen‘ noch auf die Politisierung von jungen Menschen generell untersucht worden. Überhaupt sind die Demokratisierungsdiskurse der 1950er Jahre bislang unzureichend, für die 1960er Jahre erst in Ansätzen erfasst,14 dabei vor allem wieder mit Fokus auf die Auseinandersetzungen zwischen ‚45ern‘ und ‚68ern‘.15 Dabei wird Ende der 1960er Jahre ‚Demokratisierung‘ als das wichtigste Schlagwort der jüngeren Vergangenheit betrachtet und die Losung des SPD-Wahlkampfes 1969 „Mehr Demokratie wagen“ stellt das deutlichste programmatische Zugeständnis an die Forderungen nach mehr Teilhabe auf allen gesellschaftlichen Ebenen dar.16 Diese Forderungen sind jedoch Ende der 1960er Jah10 Vgl. Siegfried (2003), Zitat S. 592. 11 Vgl. Siegfried (2003), Zitat S. 600. 12 Vgl. Siegfried (2003), S. 600ff. 13 Vgl. Schildt/Siegfried (2009), S. 278f., S. 285f., S. 287ff. 14 Vgl. hingegen zur Debatte um Wirtschaftsdemokratie Schneider (1998). 15 Vgl. z.B. Scheibe (2002); mit Fokus auf die Auseinandersetzungen zwischen ‚45ern‘ und ‚68ern‘ in den späten 1960er Jahren Hodenberg (2005). 16 Vgl. Schildt/Siegfried (2009), S. 278f.

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re kein neues, etwa von der Studentenbewegung ausgehendes Phänomen mehr, sondern sie lassen sich genau genommen bis in die Gründungsphase der Bundesrepublik zurückverfolgen. So lassen sich bereits die Diskussionen Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre über die ‚Restauration‘ des Bildungssystems und des neuhumanistischen Curriculums in den Gymnasien letztlich auf die Frage zurückführen, wie ‚Demokratie‘ in Deutschland verankert werden soll und wie weit diese reichen soll. Letztlich stehen hinter den verschiedenen Positionen auch unterschiedliche Konzeptionen von Demokratie. Während zunächst vor allem ein formaler Demokratiebegriff institutionell bestimmend wird, der kaum mehr als die Implementierung eines parlamentarischen Systems und die Vermittlung von Kenntnissen über den Staatsaufbau vorsieht und ansonsten auf Anerkennung von Hierarchien und Integration statt auf die Auseinandersetzung unterschiedlicher Interessen setzt, wird diese Entwicklung von Beginn an auch kritisch kommentiert. So werden bereits am Ende der ‚Adenauer-Ära‘ Demokratiedefizite beklagt und mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten in öffentlichen Bereichen gefordert17 und entsprechend bestimmte der Soziologe Ralf Dahrendorf 1961 die ‚deutsche Frage‘ als die „Frage nach den Hemmnissen der liberalen Demokratie in Deutschland“: „Die liberale Demokratie ist ein politisches Prinzip, wenn nicht ein politisches System. Politische Strukturen aber schweben nicht in der Luft.“18 In diesem Hinweis klingen ferner auch die Umgestaltungsprinzipien der westlichen Alliierten vom Ende des Zweiten Weltkriegs wieder an; diese sahen eben nicht nur einen Umbau des politischen Systems, sondern zur Festigung dieser Strukturen auch die Vermittlung demokratischen Gedankenguts sowie die Einübung demokratischer Verhaltensweisen, insbesondere in der Schule, vor.19 Die Anstrengungen der westlichen Alliierten sind allerdings mit Verweis auf die ‚Restauration‘ des Schulsystems, auf Widersprüche zwischen dem demokratischen Anspruch und den „militäradministrativ-autoritären Umerziehungsbemühungen“ und ihre mangelnde gesellschaftskritische und handlungsorientierte Ausrichtung zumindest kritisch, wenn nicht gar als gescheitert beurteilt worden.20 Ähnliche Urteile sind auch, und zwar schon zeitnah, mit Blick auf andere Maßnahmen von re-education bzw. re-

17 Vgl. Schildt/Siegfried (2009), S. 204/205. 18 Zit.n. Scheibe (2002), S. 248. 19 Zu den Demokratisierungsbestrebungen der Alliierten und insbesondere der USamerikanischen Militäradministration in den Direktiven und im Potsdamer Abkommen vgl. Froese (1969) S. 28, S. 75ff.; Furck (1998a), S. 245, S. 254; ferner Kleßmann (1991), S. 92ff. 20 Vgl. z.B. Reuter (1998), S. 260, Zitat ebd.

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orientation gefällt worden.21 Entsprechende Maßnahmen im sozialpädagogischen Bereich sind allerdings wohlwollender beurteilt worden und auch in internationalen Austauschprogrammen werden als indirekte Maßnahmen im Bildungssystem nachhaltige Wirkungen vermutet.22 Was das vermeintliche Scheitern von Umerziehungsbemühungen in der Schule anbelangt, ist jedoch anzubringen, dass durch die Vorgaben und Kontrollen der Alliierten „eine Fortführung der Schule unter nationalsozialistischen Vorzeichen [...] unmöglich“ wurde.23 Im Gegenteil ist die Förderung der Demokratie als Aufgabe der Schule in die Landesverfassungen oder Schulgesetze der westdeutschen Bundesländer eingegangen. Dieser Aufgabe widmet mich sich ferner die ab 1952 eingerichtete Bundeszentrale für Politische Bildung. Die als „Bundeszentrale für Heimatdienst“ gegründete Einrichtung beschränkte sich zwar in den ersten Jahren ganz im Verständnis der damals vorherrschenden Demokratieauffassung darauf, „Kenntnisse über den Aufbau des Staates und die Funktionsweise der parlamentarischen Demokratie“ zu vermitteln.24 Ein ähnlich formales Verständnis von politischer, respektive demokratischer Erziehung verfolgte zunächst auch die Sozialpädagogik, die jedoch im Laufe der 1950er Jahren ihre Aufgaben zunehmend auch auf soziales und politisches Lernen ausrichtete.25 Bereits vor Gründung der „Bundeszentrale für Heimatdienst“ war allerdings schon um die Frage gerungen worden, inwiefern auch Demokratie als Lebensform Leitbild für die politische Bildung dieser neuen Einrichtung sein sollte;26 die Debatten setzten sich nach ihrer Gründung fort und fanden einen ersten Niederschlag in der Umbenennung in „Bundeszentrale für politische Bildung“ im Jahre 1963.27 Zwar kann erst am Ende der 1960er Jahre von einer konzeptionellen Neuausrichtung die Rede sein, allerdings verweist auch dieses Beispiel auf eine frühzeitige institutionelle Verankerung von politischer Bildung und ‚Demokratie‘ als Bildungsziel, auf frühzeitig einsetzende und fortwährend geführte Diskussionen über den zugrunde zu legenden Demokratiebegriff und auf die am Ende der 1950er lauter werdende Forderung nach weiter reichender ‚Demokratisierung‘.

21 Vgl. z.B. die Darstellungen bei Sywottek (2000), S. 139-146 zu den Ergebnissen von politischen Umerziehungsmaßnahmen bei deutschen Kriegsgefangenen; ferner Schildt/ Siegfried (2009), S. 45f. 22 Vgl. Füssl (1994); Füssl (2001). 23 Gass-Bolm (2005), S. 83. 24 Vgl. Hentges (2013), S. 433ff., Zitat S. 437. 25 Vgl. Hornstein (1998), S. 501ff. 26 Vgl. Hentges (2013), S. 436f. 27 Vgl. Hentges (2013), S. 433ff., insbesondere S. 446ff.

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Bislang ist die Politisierung von jungen Menschen vor allem für die 1960er Jahre betrachtet worden, während die 1950er Jahre vor allem als Ausgangspunkt dieser Entwicklungen einbezogen worden sind. Zur Beantwortung der Frage nach der politischen Sozialisation der ‚Kriegskindergeneration‘, der Akteur_innen der Studentenbewegung oder des SDS werden die genannten Debatten und Diskurse zur ‚Demokratie‘ stärker zu berücksichtigen sein, zumal wenn es auch darum geht zu erklären, wie sich gegenüber der Dominanz eines vergleichsweise formalen und autoritären Demokratiebegriffs in der frühen Phase der Bundesrepublik am Ende der 1960er Jahre ein grundlegender Demokratieanspruch an alle öffentlichen Bereiche durchgesetzt hat. In ähnlicher Weise wird zu fragen sein, inwiefern Thesen über eine vermeintliche ‚bürgerliche‘ Herkunft Untersuchungen zu anderen Teilen der Studentenbewegung standhalten. Mit Blick auf die hier untersuchte SDS-Gruppe müssen diese Thesen als weitgehend widerlegt betrachtet werden. Vor dem Hintergrund der Sozialstruktur der Studierendenschaft sind darüber hinaus signifikant andere Ergebnisse nicht wahrscheinlich. Da hier wie dort nur ein begrenzter Teil eine ‚bürgerliche‘ Herkunft vorzuweisen hat, verlieren damit auch die aus dieser Herkunft abgeleiteten sozialpsychologischen Ursachen und Deutungen der Studentenbewegung als ‚Krise des Bürgertums‘ an Grundlage. Dies gilt ebenso für die Zuschreibungen zu einer ‚Protestgeneration‘ als ‚Nachkriegsgeneration‘ oder ‚Wohlstandsgeneration‘. Die Lebensverläufe der SDSler_innen entziehen sich solchen Generationsentwürfen, die die Ursachen der Bewegung vornehmlich mit den Sozialisationsbedingungen im zunehmenden Wohlstand der Bundesrepublik in Verbindung bringen, da die Erfahrung des Zusammenbruchs im Zweiten Weltkrieg, die Armut der Nachkriegszeit, die Unterdrückung in der DDR genauso zur lebensweltlichen Realität der SDSler_innen gehört wie das ‚Wirtschaftswunder‘ und die Bildungsexpansion in der Bundesrepublik. Welche Erfahrungen im Lebensverlauf letztlich dazu geführt haben, dass die Mitglieder der hier untersuchten SDS-Gruppe politisch zumindest soweit aktiv geworden sind, dass sie sich einer sozialistischen Hochschulgruppe angeschlossen haben, kann auf der Grundlage quantitativer Daten und ihrer Analyse nicht gesagt werden. Für die Analyse der politischen Sozialisation müssten sehr viel stärker individuelle Erfahrungen berücksichtigt werden, wie die Untersuchung von Morvarid Dehnavi zur Politisierung von Akteurinnen der Frauenbewegung zu Beginn der 1970er Jahre deutlich gemacht hat.28 Dies bestätigen auch erneut die bislang zusammengetragenen Ergebnisse der vorausgegangenen Analysen von Altersstruktur, regionaler und sozialer Herkunft sowie Bildungsverläufen, welche weder innerhalb 28 Vgl. Dehnavi (2013).

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der Gruppe signifikante Muster erkennen lassen, noch signifikante Unterschiede zu anderen studentischen wie nichtstudentischen Angehörigen derselben Alterskohorte erkennen lassen. Als Befunde aus den vorausgegangenen Analysen lassen sich daher zunächst festhalten: • Die hier untersuchte SDS-Gruppe entspricht in ihrer Altersstruktur und ihren Sozialisationserfahrungen eher dem Entwurf einer ‚Generation der Kriegskinder‘ als den Entwürfen einer ‚68er Generation‘. • Sie kann nach Altersstruktur und Familienstand keineswegs umfassend als ‚jugendlich‘ beschrieben werden. • Der Studentenbund ist auch ein ‚Studentinnenbund‘ gewesen. • Die Gruppe ist insgesamt urban sozialisiert. • Die Gruppe ist weniger im Sinne der Herkunft aus einem akademisch gebildeten Bürgertum als ‚bürgerlich‘ zu bezeichnen, sondern eher in Hinsicht auf die familiale Konstellation und die Bildungsaspiration. • Die SDS-Gruppe ist als Hochschulgruppe ein politischer Treffpunkt eines akademischen und universitätsnahen Milieus über aktuell Studierende hinaus gewesen. • Als Studierende entsprechen die SDSler_innen in puncto Studiendauer und Studienerfolg weitestgehend den Studierenden im betreffenden Zeitraum. An die vorangegangenen Analysen der Lebensverläufe und die hier vorläufig bilanzierenden Überlegungen schließt sich wie einleitend dargelegt die Betrachtung der Konstruktionen des jeweiligen ‚akademischen Selbst‘ in den Bildungsbiografien an. Eine solche ermöglicht über die bislang erfolgte Analyse der Sozialisationsbedingungen hinaus die Analyse von Verarbeitung und Deutung von Sozialisationserfahrungen in den Bildungsbiografien vor dem Hintergrund der antizipierten Erwartungen der Studienanwärter_innen. Als solche sind sie mit Blick auf die Qualität der Quellen, die Zweckgebundenheit der Lebensläufe an die Bewerbung an der Freien Universität, zu lesen und entsprechend nimmt diese Analyse die geschilderten Ereignisse, Erfahrungen und Aktivitäten als Ausdruck von ‚Bildung‘ in den Fokus. Ziel der Untersuchung der Konstruktionen eines ‚akademischen Selbst‘ ist die Herausarbeitung der zugrunde liegenden Bildungskonzepte bzw. damit verknüpft die jeweiligen Konzepte von Universität.

III. Konstruktionen eines ‚akademischen Selbst‘

1. Vorüberlegungen zu einer inhaltlichen Analyse der Lebensläufe

Die vorangegangen, vornehmlich quantifizierenden Analysen werden nachfolgend durch eine qualitative Analyse der in den Lebensläufen aufgeführten Themen und biografischen Ereignisse ergänzt. Auf diese Weise werden die bislang erarbeiteten Ergebnisse zu Altersstruktur, sozialer und regionaler Herkunft sowie zu den Bildungsverläufen um die Dimension des jeweiligen Begriffs von Bildung und Universität zu erweitert. Liest man die Lebensläufe mit Blick auf ihren Zweck, also als Bewerbung an der Freien Universität Berlin, müssen die geschilderten Ereignisse, Erfahrungen und Aktivitäten als Elemente einer Bildungsbiografie begriffen werden, die aus diesem speziellen Kontext ihre Kohärenz erhält. Der Anlass zur Konstruktion eines ‚akademischen Selbst‘ erfolgt nicht erst durch die Betonung von über die formale Qualifikation hinausgehende ‚fachliche und charakterliche Eignung‘ der Bewerber_innen in den Zulassungskriterien, sondern bereits durch das Einfordern einer Selbstdarstellung, die den Werdegang über die Leistungsnachweise im Abiturzeugnis hinaus dokumentiert.1 In diesen Selbstdarstellungen konstruieren sich die SDSler_innen entlang ihrer Imagination oder auch ihrer bereits vorhandenen Erfahrungen in der Universität bzw. auf Grundlage eines Bildungskonzepts, das sie aus dem Universitätsbild und aus ihren Sozialisationserfahrungen im Bildungskontext ableiten. Insofern sind die in den Lebensläufen erwähnten Ereignisse, Erfahrungen und Aktivitäten vor diesem Hintergrund zu reflektieren. Dies gilt insbesondere für solche Erfahrungen und Aktivitäten, die nicht im Zusammenhang mit der Herkunft,

1

Die Zulassungsbedingungen wurden in den Personal- und Vorlesungsverzeichnissen unter den Informationen zum Studium an der FU abgedruckt und machten neben der allgemeinen Hochschulreife als Voraussetzung davon abhängig, ob die Bewerber_innen „fachlich und charakterlich“ geeignet seien; s. dazu ausführlich Teil I, Abschnitt 3.3 Quellen.

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sondern im Zusammenhang mit dem Bildungsverlauf genannt werden. Diese Thematisierungen sind somit letztlich als direkte oder indirekte Beschreibungen der Persönlichkeitsentwicklung zu begreifen, im Sinne jenes historischen Doppelcharakters von Bildung, der dem Bildungsbegriff im Deutschen zukommt und der eben auch von der Universität in ihren Zulassungskriterien betont wird. Die geschilderten Ereignisse und Erfahrungen sind dabei zunächst einmal als genau solche, als persönliche Erfahrungen, zu begreifen. In dieser Eigenschaft sind sie hier allerdings von zweitrangiger Bedeutung, auch wenn sie durchaus im Zusammenhang mit den im Hauptteil dieser Untersuchung herausgearbeiteten Sozialisationsbedingungen betrachtet werden müssen. Die Schilderung von Ereignissen, Erlebnissen und Aktivitäten sind jedoch durch den besonderen Anlass nicht nur in ihrer primären Eigenschaft als Referenz derselben zu lesen, sondern eben auch und hier vor allem als Indizes von ‚Bildung‘, mit deren Hilfe die Verfasser_innen eine ansonsten nicht greifbare Persönlichkeitsentwicklung anschaulich machen. In diesen Indizes scheinen dann unterschiedliche semantische Facetten des Bildungsbegriffs im Deutschen auf, die dieser Begriff im Laufe der Geschichte seiner institutionellen Verankerung im Bildungssystem und verknüpft mit Bildungsdiskussionen und Bildungsreformen akkumuliert hat. Insofern lassen sich über die qualitative Analyse die den Konstruktionen des ‚akademischen Selbst‘ zugrunde liegenden Bildungskonzepte bzw., über diese vermittelt, die zugrunde liegenden Universitätskonzepte rekonstruieren. Erste Hinweise auf die unterschiedlichen semantischen Facetten des Bildungsbegriffs geben dabei bereits die unterschiedlichen Längen und die unterschiedliche Komplexität dieser Lebensläufe, deren Betrachtung der eigentlichen inhaltlichen Analyse vorangestellt wird. In jener erweist sich, dass mit einem grundsätzlich gleichen Aufbau der Lebensläufe mit zunehmender Länge nicht nur eine zunehmende inhaltliche, sondern auch sprachliche Komplexität einhergeht. Die Lektüre der Lebensläufe zeigt, dass bestimmte Erfahrungen, Interessen und Aktivitäten in zahlreichen Lebensläufen unabhängig von einander thematisiert werden und zu bestimmten Themenbereichen gebündelt werden können. Dies sind außer den bereits an anderen Stellen in dieser Arbeit aufgegriffenen Thematisierung des eigenen Familienstands, von Kriegserfahrungen, des Bildungsverlaufs, von Gründen des Universitäts- sowie des Fachwechsels in erster Linie extracurriculare Aktivitäten in der Schule als auch außerschulische Interessen und Aktivitäten. In dieser Perspektive entfaltet sich eine Vielzahl von übergreifenden Themen: die Teilnahme an schulischen Arbeitsgemeinschaften, die Arbeit in Schülerzeitungen und in der Schülermitverwaltung, Auslandserfahrungen auch außerhalb des schulischen Kontextes und generell Reisen, ein Interesse an politischen Themen und an Kultur, die Freude am Lesen, sportliche Aktivitäten, die Kirche als Ort der Freizeitgestaltung, der Besuch von und das ehrenamtliche Engagement in Jugendgruppen unterschiedlichster Art sowie politisches Engagement. Insofern erfolgt die Katego-

1. V ORÜBERLEGUNGEN ZU EINER INHALTLICHEN A NALYSE DER L EBENSLÄUFE

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rienbildung für diese inhaltliche Analyse allein auf Grundlage der Texte. Diese Themen sind dabei in den Lebensläufen in unterschiedlicher Häufung und in unterschiedlicher Kombination vorzufinden. Ziel dieser qualitativen Analyse und der damit verbundenen Rekonstruktion von Bildungs- und Universitätskonzepten ist zum einen die Untersuchung von Verbindungen zwischen lebensweltlichen Entwicklungen, gerade auch im Bildungskontext, wie sie als Sozialisationsbedingungen im Hauptteil der Arbeit herausgearbeitet wurden, und den Bildungs- und Universitätskonzepten der Bewerber_innen. Anhand dieser Konzepte lassen sich dann erneut mögliche Kennzeichen der Gruppe von Generation und ‚Bürgerlichkeit‘ in den Blick nehmen, nun aber nicht nur nach äußeren Kennzeichen, sondern auch nach übergreifenden Mustern in den Konstruktionen eines ‚akademischen Selbst‘. Wie gesehen, können die SDSler_innen nur zum Teil aufgrund ihrer Herkunft aus einem akademisch gebildeten Bürgertum als ‚bürgerlich‘ bezeichnet werden. Auch ist neben der Familienkonstellation gerade die Bildungsaspiration, die sich in dem Besuch von höherer Bildung in Gymnasium und Universität abzeichnet, als Merkmal von ‚Bürgerlichkeit‘ interpretiert worden. Ziel ist somit, die akademischen Selbstkonzepte der späteren SDSler_innen zu Beginn ihres Studiums festzuhalten. Was im Verlauf des Studiums an Erfahrungen und Orientierungsveränderungen sich ereignete, lässt sich dagegen nicht ermitteln. Was aber eine Universität war oder sein sollte und wie von ihr akzeptierte Studierende, das lässt sich aus den Lebensläufen herauslesen. Beschreibbar wird auf diese Weise – nicht mehr und nicht weniger – eine Vorstellung (oder viele Vorstellungen) von der Universität und der auf sie bezogenen Bildung als institutioneller und persönlicher Zusammenhang einer später deutlich hervortretenden studentischen Protestgruppe. Im Folgenden werden nun nach der genannten Betrachtung von Länge und Komplexität der Lebensläufe zunächst die Bildungsthemen beschrieben und mit Textbeispielen illustriert. Anschließend werden zunächst die Bezüge dieser Themen zu zeitgenössischen lebensweltlichen Entwicklungen hergestellt. Daran anschließend werden diese Themen in weitergehende Zusammenhänge zur Entwicklung des Bildungsbegriffs und des Bildungssystems gestellt, um die Verbindung der unterschiedlichen Themen zu den verschiedenen semantischen Facetten des Bildungsbegriffs aufzeigen zu können, welche z.T. als historisch älter und z.T. als sich aktuell herausbildend begriffen werden müssen. Eine Interpretation unter den genannten Gesichtspunkten schließt diese Analyse ab.

2. Identischer Aufbau und variierende Komplexität der Lebensläufe

Wie in den Quellenbeschreibungen angesprochen und eingangs erneut aufgegriffen, variiert die Länge entsprechend der Ausführlichkeit dieser fast ausschließlich handschriftlich verfassten Lebensläufe erheblich: In den Extremen stehen sich knapp halbseitige Texte und mehrseitige Autobiografien gegenüber. Knapp ein Drittel1 der Lebensläufe stellt nahezu reine Ausbildungsbiografien dar, in denen kaum Informationen über die Sozialdaten und die schulische, berufliche und universitäre Ausbildung hinaus gegeben werden; dies sind etwa die Angabe der gewünschten Studienfächer oder eine knappe Begründung der Studienortwahl. Rund die Hälfte dieser Ausbildungsbiografien verzichtet allerdings sogar auf diese Angaben und wiederholt lediglich Informationen aus dem Bewerbungsformular. Diese werden zwar in ganzen Sätzen formuliert, allerdings fast ausschließlich in Hauptsätzen. Im kürzesten Fall werden vier Hauptsätze und eine Hauptsatz-Nebensatzkonstruktion an einander gereiht, auf grammatische Mittel zur Textkohäsion2 – z.B. Pronomina, Ad1

Genaue Quantifizierungen lassen sich hier aufgrund fließender Übergänge zwischen den Längen, dem Grad der Ausführlichkeit bzw. der Akkumulation von Themen einzelner Lebensläufe nur vornehmen, wenn willkürlich Grenzen festgelegt werden; daher werden hier – Toleranzbereiche zulassend – gerundete Angaben gemacht.

2

Kohäsion steht in der Textlinguistik als Aspekt der Textsyntax „für unterschiedliche manifeste Eigenschaften eines Textes, die Ausdruck und Indiz seiner Textualität sind und dem Rezipienten formale Hinweise zur Verknüpfung der Textteile geben.“ Als solche ist die „grammatikalisch-lexikalische K[ohäsion] eines Textes Indiz seiner semantisch-kognitiven Kohärenz und insofern für einen Text zwar normal, aber für die Kohärenzbildung weder notwendig noch hinreichend.“ Bußmann (2002), S. 352. Kohäsion wird hier entsprechend verstanden als der sprachliche Ausdruck der inhaltlichen Textverflechtung. Zum Verständnis und Verhältnis von Kohäsion und Kohärenz in der Textlinguistik ausführlich vgl. Lim (2004).

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verbien und Hauptsatzkonjunktionen – wird vollständig verzichtet, durch das Fehlen von Adjektiven und Attributen erhält der Text keinerlei persönliche Färbungen und verbleibt vollständig auf einer sachlichen Ebene. Demgegenüber steht im längsten Fall eine Selbstdarstellung von zwölf Seiten Umfang in durchschnittlicher Schriftgröße.3 Hier ergibt sich eine persönliche Färbung nicht nur durch die häufige Verwendung entsprechender grammatischer Mittel, sondern auch durch die ausführliche Schilderung von zahlreichen Erlebnissen zwischen Kindheit und Erwachsenenalter und ihrer Bedeutung für den Verfasser. Die Darstellung einer Vielzahl von Themen – Kriegserfahrungen, familiale Ereignisse und Aktivitäten, Kontakte mit anderen Kindern in und außerhalb der Schule, die Entwicklung eigener politischer Anschauungen durch historische Lektüre und die Erfahrung des Wiederaufbaus im geteilten Deutschland, Bildungsverläufe einschließlich damit verbundener Krisen sowie der aktuelle Studienwunsch und seine Begründung – erfolgt dabei in einem komplex komponierten Text unter Rückgriff auf unterschiedliche Satzgefüge, die sich z.T. über mehrere Zeilen erstrecken. In diesen beiden Extremen stehen sich also nicht nur die unterschiedlichen Ausprägungen von Textlängen diametral gegenüber, sondern auch extreme Varianten von Sachlichkeit und Persönlichkeit sowie von sprachlicher Ästhetik. Damit lässt sich bereits auf textlicher Ebene die Variationsbreite des Bildungsbegriffs erkennen, der den Selbstdarstellungen zugrunde liegt: Auf der einen Seite eine denkbar knappe Referenz des Erwerbs der Allgemeinen Hochschulreife, auf der anderen eine vielschichtige Illustration der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, deren inhaltliche Seite mit der Komplexität der sprachlichen Ebene korreliert. Eine solche Korrelation zwischen Sprache, Denken und Persönlichkeitsentwicklung liegt allerdings im Kern des neuhumanistischen Bildungsbegriffs, der deswegen gerade auf Sprache als Bildungsinhalte verwies, sei es in Form von Griechisch und Latein oder von deutscher Dichtung.4 Im „ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus“ von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, aber auch bei anderen Dichtern und Denkern wie etwa Friedrich Schiller und Friedrich Hölderlin, wurde aufgrund des unterstellten Zusammenhangs zwischen der Ästhetik von Sprache und Gedanken die Dichtung als wichtigster Bildungsinhalt betrachtet.5 So betont Hegel im „Systemprogramm“: „Der Philosoph muß ebensoviel ästhetische Kraft besitzen als der Dichter. [...] Man kann in nichts geistreich sein, selbst über Geschichte kann man nicht geistreich raisonieren – ohne ästhetischen Sinn.“6 Auch Humboldt hat auf die Bedeutung der „Poesie“ für die Bildung des 3

Das Schriftbild deutet bei zahlreichen Verfasser_innen darauf hin, dass dem Briefpapier, auf dem die Lebensläufe verfasst wurden, ein liniertes Papier untergelegt wurde.

4

Vgl. Groppe (2001), S. 53ff.; Benner/Brüggen (2004).

5

Vgl. Groppe (2001), S. 53ff.

6

Hegel (1971), S. 235.

2. I DENTISCHER A UFBAU UND VARIIERENDE K OMPLEXITÄT DER L EBENSLÄUFE

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Menschen verwiesen, die im Einklang mit seinen grundlegenden sprachphilosophischen Annahmen über einen untrennbaren Zusammenhang von Denken und Sprechen zu sehen sind.7 Im Fall der klassischen Sprachen ging es nicht in erster Linie um das Erlernen einer fremdsprachlichen Kompetenz, sondern diese diente lediglich als ein Vehikel zur Auseinandersetzung mit den in der Sprache kondensierten geistigen Gehalten.8 Insofern können die beiden Extremvarianten der Konstruktionen eines ‚akademischen Selbst‘ als Ausdruck eines sachlichen gegenüber einem geradezu emphatischen Bildungsbegriff gedeutet werden. Wie gesagt, nicht im direkten Anschluss an oder in der Abkehr von Hegel oder Humboldt, sondern durch das Aufgreifen von unterschiedlichen im Bildungsbegriff nach wie inkludierten semantischen Elementen. Zwischen diesen beiden Extremvarianten sind nahezu übergangslos alle Abstufungen an Länge, Sachlichkeit bzw. Persönlichkeit und Ästhetik vorzufinden. Allerdings folgen alle Lebensläufe in der Grundstruktur dem gleichen Aufbau, der im Wesentlichen den Angaben im Bewerbungsformular entspricht: Die Lebensläufe werden alle mit den Angaben zur Herkunft – Geburtsdatum, Geburtsort, Namen der Eltern, Beruf des Vaters, z.T. Angaben zu Geschwistern – eröffnet, abgesehen von einer Ausnahme, in der diesen Angaben allgemeine Überlegungen zur Darstellung des Bildungsgangs vorangestellt werden. Der zweiten Informationskomplex umfasst den institutionellen Bildungsverlauf, in der Regel schließen die Lebensläufe mit studienrelevanten Angaben – Studienfachwunsch, Begründung der Wahl des Studienortes, Hinweise zur Studienfinanzierung – ab. In dieses Grundgerüst werden dann weiterführende Informationen logisch eingebunden, sei es als knappe Zusätze oder als mehr oder weniger detaillierte Ausführungen, so auch die oben bereits kurz angeführten Bildungsthemen.

7

Zur „zwiefachen Beziehung“ der Poesie zur „Bildung des Menschen“ – nämlich in Form und Inhalt vgl. Humboldt (1960b), S. 563; zum Zusammenhang von Sprechen und Denken vgl. grundlegend Humboldt (1981).

8

Vgl. Ruhloff (2004), S. 449ff.; Gass-Bolm (2005), S. 24.

3. Bildungsthemen

In der Lektüre der Bildungsbiografien zeigt sich, dass eine Reihe von Ereignissen, Erlebnissen, Interessen und Aktivitäten in verschiedenen Lebensläufen unabhängig voneinander aufgegriffen wurde. Diese lassen sich thematisch zusammenfassen: Es sind die Teilnahme an schulischen Arbeitsgemeinschaften, die Arbeit in Schülerzeitungen und in der Schülermitverwaltung, Auslandserfahrungen auch außerhalb des schulischen Kontextes und generell Reisen, ein Interesse an politischen Themen und an Kultur, die Freude am Lesen, sportliche Aktivitäten, die Kirche als Ort der Freizeitgestaltung, der Besuch von und ehrenamtliches Engagement in Jugendgruppen unterschiedlichster Art sowie politisches Engagement thematisiert. Die nachfolgende Beschreibung der jeweiligen Themen macht nur in geringen Umfang von Quantifizierungen Gebrauch, um die Bedeutung eines einzelnen Themas innerhalb der Gruppe zu verdeutlichen. Da sich das eigentliche Ergebnis dieser Betrachtung jedoch aus der Vielfalt der einzelnen Themenbereiche und aus den unterschiedlichen Kombinationen sowie den Bezügen zu zeitgenössischen Entwicklungen und zur Tradition des Bildungsbegriffs ergibt, stehen hier inhaltliche Betrachtungen, die durch Beispiele aus einzelnen Lebensläufen exemplarisch illustriert werden, im Vordergrund. Die Thematisierungen erweisen sich in den jeweiligen Lebensläufen wiederum als unterschiedlich detailliert: Knappen Erwähnungen eines bestimmten Aspekts oder einfache Reihung verschiedener Themen stehen unterschiedlich detaillierte Ausführungen des Themas gegenüber.

3.1 R EISEN UND AUSLAND Die Thematisierung von Auslandsaufenthalten wurde bereits im Zusammenhang mit den Schulverläufen aufgegriffen, dort allerdings begrenzt mit Blick auf den unmittelbaren schulischen Kontext. Über diesen Zusammenhang hinaus stellen Auslandsaufenthalte eines der am häufigsten wiederkehrenden Themen dar, das von

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rund einem Fünftel der Bewerber_innen aufgegriffen wird. In Einzelfällen werden Auslandsaufenthalte auch als Wunsch für die Studienzeit als auch für eine anschließende Tätigkeit geäußert, in der Regel allerdings als zurückliegende Erfahrungen thematisiert. Diese Erfahrungen werden in unterschiedlicher Ausführlichkeit dargestellt, zuweilen wird die Tatsache des Auslandsaufenthaltes nur knapp erwähnt, zuweilen werden Auslandserfahrungen verbunden mit der Bedeutung geschildert, die diese für die jeweilige Person hatte. Thematisiert werden zum einen die bereits im schulischen Kontext dargestellten Auslandsaufenthalte: Der Besuch von ausländischen Schulen, zumeist in den USA für die Dauer eines Schuljahres, aber auch in England und Frankreich für die Zeit von mehreren Monaten bis hin zu zwei Jahren, daneben einige vergleichsweise kürzere Aufenthalte von mehreren Wochen zum Besuch von Sprachkursen und kulturellen Bildungsveranstaltungen.1 Unabhängig davon werden von weiteren SDSler_innen Auslandserfahrungen in den unterschiedlichsten Kontexten erwähnt: Dies sind zum einen weitere Sprachkurse, die sich an die Schulzeit anschließen oder bereits während des Studiums besucht werden, auch andere Maßnahmen zur Verbesserung der Fremdsprachenkompetenz werden genannt. Insgesamt führen diese Sprachkurse am häufigsten nach Frankreich und England, aber auch nach Spanien. Diese stehen dabei nur zum Teil im Zusammenhang mit dem Studienwunsch oder dem Studium. So berichtet ein späteres SDS-Mitglied, das sich für die Studienfächer Politik und Russisch bewirbt, von der Teilnahme an einem fünfmonatigen Kurs in London über englische Sprache, Literatur und britische Institutionen nach Erwerb der Hochschulreife. (Lebenslauf 74918) In einer anderen Bewerbung wird hingegen von der Arbeit als Deutschassistenz in Frankreich zur sprachlichen Vorbereitung auf das Staatsexamen berichtet. (Lebenslauf 43412) Im Zusammenhang mit Studienfächern sind dabei nicht nur Auslandsaufenthalte zur Verbesserung der Sprachkompetenz zu verzeichnen: Eine Person beispielsweise erzählt von Reisen nach Italien und Frankreich im Rahmen seines Architekturstudiums. (Lebenslauf 32786) Umgekehrt werden solche Reisen auch als Auslöser von Studienfachwünschen geschildert: Eine Person berichtet etwa von Reisen noch zu Schulzeiten in italienische Städte, auf denen ihr Vater ihr die Reste antiker Kultur anschaulich machen wollte; auf diesen Reisen sei ihr Interesse an alten Sprachen geweckt worden. (Lebenslauf 61238) Die meisten Auslandserfahrungen werden als private Reisen sowie im Zusammenhang mit dem Engagement in nationalen und internationalen Jugendverbänden – auch als Gruppenleiter_innen – unternommen. Die Reisen im Rahmen von Jugendverbänden führen insgesamt wiederum vor allem nach Europa – Frankreich, Italien, Finnland – aber auch in Einzelfällen in das außereuropäische Ausland. 1

Vgl. Teil II, Abschnitt 4.2 Bildungsverläufe.

3. B ILDUNGSTHEMEN

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Ein Mitglied erzählt, dass es auf Reisen, die es zum Teil mit seiner Mutter als Leiterin einer Jugendgruppe unternommen habe, Teile Deutschlands sowie Frankreichs und Italiens kennengelernt habe. (Lebenslauf 78543) Mehrere Bewerber_innen erwähnen Freizeitfahrten mit der evangelischen Jugend oder mit der Sportjugend in das In- und Ausland. Ein Mitglied berichtet von der Teilnahme an Aufbau- und Sozialdiensten im Rahmen der Internationalen Jugendgemeinschaftsdienste e.V., die es unter anderem nach Finnland, Frankreich und Ghana geführt hätten. (Lebenslauf 91874) Von solchen Auslandsreisen im Rahmen von sozialem Engagement berichten noch weitere Bewerber_innen: Eine Person erzählt von der mehrfachen Teilnahme an Arbeitslagern des Internationalen Zivildienstes nach Frankreich, im Rahmen dessen er Menschen und Sprache des Landes besser kennengelernt habe. (Lebenslauf 64821) In einer anderen Bewerbung wird davon berichtet, dass die Teilnahme an einem Arbeitslager der Aktion Sühnezeichen ebenfalls nach Frankreich geführt habe. (Lebenslauf 48481) Ein weiteres Mitglied berichtet neben Reisen nach Griechenland und in die Türkei auch von der Arbeit für ein Vierteljahr in einem israelischen Kibbuz. (Lebenslauf 32431) Private Reisen in eigener Organisation führen erneut vor allem nach Frankreich und Italien, aber auch nach Österreich, Griechenland, in die Türkei und in die Schweiz, nach England, Skandinavien, Ungarn, in „das westliche Ausland“, in Einzelfällen aber auch in das außereuropäische Ausland: So berichtet eine Person von Rad- und Trampfahrten durch Europa, Südafrika und zum Teil nach Asien. (Lebenslauf 71624) Eine andere schildert eine längere Tour durch die Schweiz und Frankreich, die sie sich auch durch Gelegenheitsarbeiten finanziert und nach deren Rückkehr sie Schwierigkeiten bei der Einfindung in das alte Milieu gehabt habe. (Lebenslauf 55121) Allerdings werden Reisen nicht nur als Auslandsreisen thematisiert, sondern gleichermaßen werden, wie obige Beispielen bereits zeigen, auch Inlandsreisen erwähnt. Auch in diesem Zusammenhang handelt es sich sowohl um organisierte Reisen von Jugendverbänden als auch private Reisen, zuweilen auch als Wanderungen und Radtouren, in Einzelfällen auch als Klassenfahrten. So berichtet ein späteres SDSMitglied von einer Ferienreise in den Spessart und einer Klassenreise in das Fichtelgebirge. (Lebenslauf 38281) Dabei wird oft die Begeisterung für das Reisen insgesamt herausgehoben. In einer Bewerbung wird betont, dass der Person das Reisen zum liebsten Steckenpferd geworden sei. (Lebenslauf 47442) Eine Reihe dieser Reisen in das Inland wie auch in das Ausland werden auch als eine Art ‚Erweckungserlebnis‘ geschildert, in denen sich die Notwendigkeit von Völkerverständigung erschlossen habe, ein Bewusstsein für die NS-Vergangenheit entwickelt oder – auf Reisen in die Nähe der innerdeutschen Grenze – die Spaltung Deutschlands realisiert worden sei.

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Eine Person etwa schildert die Erschütterung ihrer Weltanschauung und Vorbereitung ihrer Lebensziele im Zusammenhang mit einer Radtour in Bayern, die sie in Folge von Spannungen zwischen ihren Begleitern allein habe fortsetzen müssen. Das intensive Erlebnis der Natur habe sie zu einer Wiederholung dieser Reise als Fußwanderung ermutigt, in der sie durch wochenlange Einsamkeit zur Selbstbesinnung gezwungen worden sei. (Lebenslauf 53657) In andere Person berichtet, dass sie im Rahmen seines Schuljahres in den USA gezwungen gewesen sei, sich mit der deutschen Vergangenheit und insbesondere mit der Frage der Ostgebiete auseinandersetzen zu setzen. (Lebenslauf 45151) Eine weitere Person erzählt ebenfalls von Wanderungen, durch die sie große Teile Deutschlands sowie des angrenzenden Auslands kennengelernt habe und auf diese Weise mit den Problemen und Eigenarten anderer Völker, den politischen Verhältnissen in Europa sowie der Situation Deutschland in der Welt konfrontiert worden sei. (Lebenslauf 23415) In einer wird diese Konfrontation anhand eines radikaleren Ereignisses geschildert: Auf einer Wanderung nahe der Zonengrenze sei die Person als mutmaßlicher Spion von der Volkspolizei über Grenze geholt, verhört und letztlich freigelassen worden. Dieses Ereignis habe sie zum Nachdenken angeregt. (Lebenslauf 74241) Diese Schilderungen verweisen damit bereits auf ein politisches Interesse, welches ein weiteres häufig wiederkehrendes Thema in den Lebensläufen ist.

3.2 P OLITISCHES I NTERESSE UND POLITISCHES E NGAGEMENT Politisches Interesse und politisches Engagement stellen das häufigste übergreifende Thema in den Lebensverläufen dar, das in gut einem Fünftel der Lebensläufe aufgegriffen wird. Auch hier stehen einige knappste Erwähnungen – zuweilen eingereiht in Aufzählungen von unterschiedlichen Interessensgebieten – der Darstellung von Engagement in unterschiedlichen Kontexten und detaillierten Schilderungen von politischer Bewusstwerdung gegenüber, wodurch dieses Thema eine gegenüber anderen Themen vergleichsweise große Präsenz im Gesamtkorpus bekommt. In einer Bewerbung wird etwa politisches Interesse in einer Reihe mit Geschichte, Literatur, künstlerischen und kulturellen Gebieten, insbesondere der Musik als persönliches Interesse aufgezählt. In einer anderen Bewerbung wird dieses Interesse unter Nennung zahlreicher Aktivitäten während der Schulzeit entfaltet: Dabei werden neben der Gründung und Leitung eines politischen Arbeitskreises, der Mitgliedschaft in unterschiedlichen politischen Jugendorganisationen, der Abgeordnetentätigkeit in einem Jugendparlament und der Zugehörigkeit zu dessen Präsidium, auch den Beitritt zur SPD Anfang der 1960er aufgeführt.

3. B ILDUNGSTHEMEN

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Entsprechend wird politisches Interesse in unterschiedlichen inhaltlichen Zusammenhängen thematisiert, wie bereits gezeigt im Zusammenhang mit Reisen und mit Angaben zu anderen persönlichen Interessen, gelegentlich wird dieses Interesse aber auch als Begründung für die Studienfachwahl – nicht nur Politikwissenschaft, sondern auch Soziologie und Geschichte – sowie als Begründung für Berlin als Wahl des Studienortes herausgestellt: So begründet ein späteres SDS-Mitglied seine Studienwahl des Faches Politologie mit seinem Interesse für tagespolitische Fragen und seiner Freude an politischen Diskussionen. Es erhofft sich von dem ersehnten Studienfach, durch die Analyse von politischen Systemen und Ideen die Lösung von politischen Fragen zu finden. (Lebenslauf 42451) In einer Bewerbung für das Fach Soziologie wird betont, dass aufgrund des politischen Interesses der Studienort Berlin wichtig sei. (Lebenslauf 34675) Eine Person gibt an, dass ihr besonderes Interesse der Politik gelte, weshalb sie neben einer Ausbildung in Jura auch Kenntnisse auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet erwerben sowie einige Semester am Osteuropa-Institut studieren wolle. (Lebenslauf 56123) Eine andere betont, als politisch Interessierter von der Situation Berlins und den Berliner Studierenden angezogen zu sein und dass sich von der Übersiedlung nach Berlin eine Hebung des politischen Bewusstseins zu erhoffen. (Lebenslauf 68168) Ähnlich erhofft sich eine weitere Person ein feineres politisches Empfinden durch das Studium in Berlin. (Lebenslauf 78125) Von einem Aufenthalt in Berlin versprechen sich die jeweiligen Bewerber_innen insgesamt ein besseres Verständnis für die spezielle Situation der Stadt und für die Spaltung Deutschlands, ferner für die weltpolitische Lage. Diese Thematisierungen mögen durchaus als fachliche oder als strategisch gewählte Begründungen für den Studienort Berlin zu betrachten sein, sie verweisen dennoch auf einen engen Zusammenhang, der – auch fachunabhängig – zwischen Studium und politischer Lage hergestellt wird. Weitaus häufiger allerdings wird ein politisches Interesse im Zusammenhang mit dem Besuch von politischen Jugendgruppen, Arbeitsgemeinschaften, Diskussionsrunden und Lehrgängen zur politischen Bildung – angeboten von evangelischer Kirche, Kommunen, Gewerkschaften oder Jugendverbänden – während der Schulzeit angesprochen; z.T. wird dabei ein politisches Interesse nicht explizit artikuliert, sondern lediglich der Besuch erwähnt: So erwähnt eine Person lediglich, dass sie fünf Jahre lang in der Leitung einer Jugendgruppe gewesen sei und Mitglied einer politisch orientierten Jugendorganisation. (Lebenslauf 87861) Eine andere entfaltet in ähnlich ausführlicher Weise wie im einführenden Beispiel ihre politischen Aktivitäten. In der christlichen Pfadfinderschaft, die sie Anfang 1961 beigetreten sei, habe sie nach einiger Zeit den Ältestenkreis geleitet, zu dessen Hauptaufgabe neben der Bibelarbeit auch die Diskussion von aktuellen politischen und gesellschaftlichen Fragen gehört habe. Durch die enge Zusammenarbeit mit der Gewerkschaftsjugend habe sie auch deren Veranstal-

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tungen oft besucht, ferner die Veranstaltungen eines örtlichen Jugendforums, auf denen Referenten Stellung zu aktuellen politischen Geschehnissen genommen hätten. In der Schule arbeitete sie zusammen mit anderen politischen Interessierten in einem Arbeitskreis, in dem wöchentlich Themen wie Abrüstung und Rassenpolitik diskutiert würden. (Lebenslauf 45432) Ähnlich wie in diesem Beispiel wird auch eine Reihe von Themengebieten genannt, z.T. auch geschildert als erstmaliger Kontakt mit neuen Themengebieten: In einer Bewerbung wird von der Teilnahme an mehreren Lehrgängen des Landesjugendamtes berichtet, durch dass die Person in Berührung mit Themen gekommen sei, mit denen sie sich bis dahin nur flüchtig beschäftigt habe. Die Kurse hätten das Anliegen gehabt, Jugendlichen politische und staatsbürgerliche Fragen näher zu bringen. Die Beschäftigung mit Fragen der Politik, Volksbildung und die Einführung in die Themenkreise Kommunismus, Faschismus und Antisemitismus habe sie erkennen lassen, wie eng ihr eigenes Leben mit der Gemeinschaft verbunden sei. Die Gleichgültigkeit vieler ihrer Bekannten gegenüber sozialen Problemen, zeige ihr, dass diese die Zusammenhänge nicht erkannt hätten. Um die Gefahren, aufgrund solcher Unkenntnis Ideologien und Ressentiments zum Opfer zu fallen, vermeiden zu helfen, habe sich als Berufswunsch eine Tätigkeit in der politischen Bildung der Jugend entwickelt. (Lebenslauf 47581) Eine Reihe von Bewerber_innen führt darüber hinaus ein Engagement als Gründer_in oder Leiter_in von politischen Arbeitsgemeinschaften, auch an Schulen, und als Abgeordnete in städtischen Jugendvertretungen und –parlamenten auf; auch der Beitritt zur SPD und Funktionärstätigkeit innerhalb der Partei noch zu Schulzeiten wird, wie obiges Beispiel bereits angedeutet hat, erwähnt. Von SDSler_innen, die aus der DDR stammen, werden politisches Interesse und politische Tätigkeiten nicht nur im Zusammenhang mit den in den Schulverläufen geäußerten Aktivitäten und den damit verbunden politischen und schulischen Schwierigkeiten ersichtlich,2 sondern werden explizit gerade auch im Zusammenhang mit dem sozialistischen Umbau der SBZ/DDR dargestellt. Ein Mitglied berichtet von der Enteignung seiner Eltern, die es angeregt habe, über die gesellschaftlichen Umwälzungen in der DDR nachzudenken. Während diese Person aus der zeitlichen Distanz und nach der Übersiedlung der Familie diese Maßnahme sachlich zu prüfen suche, sei sie durch diesen Vorfall in der Oberschulzeit in emotionale Konflikte mit der politischen Umwelt gestürzt worden. Das Interesse an geisteswissenschaftlichen Problemstellungen habe sie die Teilnahme an Diskussionen zu Politik, Kunst und Geschichte suchen lassen, die sie in der von ihr als unbefangen und unbelassen empfundenen Atmosphäre der als bürgerlich gestempelten kirchlichen 2

Vgl. Teil II., Abschnitt 4.2 Bildungsverläufe.

3. B ILDUNGSTHEMEN

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Jugend gefunden habe. (Lebenslauf 34323) In diesem Beispiel wird der Beginn politischen Denkens also aus der persönlichen Konfrontation abgeleitet. Auch der 17. Juni 1953 spielt in dieser Hinsicht eine Rolle. Ein Mitglied erzählt etwa, dass es sich an diesem Tag mit Begeisterung an der Verbrennung von kommunistischen Büchern, Plakaten und Fahnen beteiligt habe. (Lebenslauf 43772) In anderen Darstellungen wird dieser Beginn von politischem Interesse, wie gesagt, aus Auslandserfahrungen und dem Erfahren der innerdeutschen Grenze abgeleitet, aber auch aus der Fluchterfahrung am Ende des Zweiten Weltkriegs, dem Aufwachsen in der Nähe zur innerdeutschen Grenze, Familienbesuchen in der DDR und der Wahrnehmung von Widersprüchen zwischen „Propaganda und Wirklichkeit“. Eine Person berichtet, dass sie während ihrer Lehrzeit in einen Jugendfreizeitheim zufällig auf einen politisch-ökonomisch Arbeitskreis gestoßen sei. Diese für sie neue Sichtweise habe ihr deutlich gemacht, dass sie ihre damalige Tätigkeit nicht dauerhaft befriedigen könne und sie sich daher nach den Möglichkeiten erkundigt habe, das Abitur nachzuholen. (Lebenslauf 33565) Auch Erfahrungen in der Schule werden als politische Initialzündung angeführt: In einer Bewerbung wird die Dankbarkeit gegenüber ausgeschlossenen Lehrern in der gymnasialen Oberstufe genannt und von einer groß angelegten Aufklärungsarbeit über die braune Vergangenheit der Stadt berichtet, die sich festigend auf die demokratischen Denkgewohnheiten ausgewirkt habe. (Lebenslauf 41478) Eine andere Person erzählt, dass der Geschichts- und Gemeinschaftskundeunterricht in der Schule sowie eine Reise nach Berlin sie angehalten habe, sich mit der geschichtlichen Entwicklung und der Praxis des Kommunismus zu beschäftigen. Sie berichtet ferner davon, dass Zeitung und Fernsehen ihr für ihre politische und kulturelle Bildung wichtige Einflüsse vermittelt hätten. (Lebenslauf 53351) Fast ebenso häufig wird – zumeist von Bewerber_innen, die bereits ein Studium aufgenommen oder eine Ausbildung abgeschlossen haben und z.T. in Fortführung des bereits zur Schulzeit eingesetzten politischen Interesses: das Engagement in der SPD, in Gewerkschaften, in der Kampagne für Demokratie und Abrüstung, in studentischen politischen Arbeitskreisen und politischen Hochschulgruppen, zumeist im SDS an einer anderen Universität, aber auch im Sozialdemokratischen Hochschulbund sowie Engagement in studentischer Selbstverwaltung und Studentenparlament genannt. Interessanterweise nennen zwei Studierende auch noch nach 1961, also nach dem Unvereinbarkeitsbeschluss, die parallele Mitgliedschaft in SPD und SDS.

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3.3 S PORT

UND

J UGENDGRUPPEN

Die Thematisierung von unterschiedlichsten Jugendgruppen ist bereits großenteils im Zusammenhang mit Auslandsaufenthalten und Reisen sowie politischem Interesse und Engagement erfasst worden. Allerdings wird auch unabhängig von diesen Kontexten der Besuch von Jugendgruppen erwähnt, zwar deutlich seltener, dies trifft auf knapp 10% der Lebensläufe zu, dafür aber fast immer im Zusammenhang mit Gruppenleitungsfunktionen. Eine Person stellt etwa heraus, dass sie des Öfteren als in der Gruppenleitung in der Jugendarbeit tätig gewesen sei und auch eine Jugendgruppe im Sportverein geleitet habe und es daher ihr Wunsch und Ziel sei, sich auch im späteren Beruf in dieser Richtung zu betätigen und ihr dies im Lehrerberuf am besten möglich erscheine. (Lebenslauf 55750) In diesem Beispiel wird also aus dem Engagement in Jugendgruppen und Sportverein der Berufswunsch abgeleitet. Dies trifft auch auf andere Bewerber_innen zu, etwa wenn in einer Bewerbung erwähnt wird, dass aus der Lehrtätigkeit der Mutter an einer Sonderschule sowie der Zugehörigkeit zum Bund Deutscher Pfadfinder als Gruppenleitung, der Gedanke entstanden sei, sich dem Studium der Psychologie zu widmen. (Lebenslauf 55323) In zahlreichen Fällen werden hier wiederum Jugendgruppen der evangelischen Kirche sowie Pfadfindergruppen, z.T. katholischer Konfession genannt. Nur in Ausnahmen wird dieses Engagement dabei mit der Kirche als religiöser Institution in Verbindung gebracht: So schildert ein SDS-Mitglied, dass es im Konfirmandenunterricht durch die starke Persönlichkeit des Pfarrers eine innere Bindung zum evangelischen Glauben gefunden habe und der evangelischen Gemeinde beigetreten sei, in der es als Gruppenleitung mehrere Jahre eine eigene Gruppe betreut habe. (Lebenlauf 41430) In einzelnen Fällen wird auch ein über die Jugendarbeit hinausgehendes Engagement in der evangelischen Synode aufgeführt. Wie im ersten Beispiel zu sehen, werden im Zusammenhang mit dem Engagement in Jugendgruppen auch Aktivitäten im Sportverein genannt. Insgesamt werden sportliche Aktivitäten gegenüber etwa dem Engagement in Jugendgruppen oder anderen hier erfassten Interessen und Aktivitäten deutlich seltener genannt, obwohl Sport in den 1950er Jahren zur wichtigsten Freizeitaktivität von Jugendlichen avanciert. Die betriebenen Sportarten werden nur zum Teil genannt: Leichtathletik, Rudern, Handball, Fußball, Tischtennis, Schwimmen und „Rasenkraftsport“. Interessanterweise wird die sportliche Betätigung jedoch fast immer in Aufzählungen neben anderen Interessen – neben Politik auch „Kultur“ – und Freizeitaktivitäten, insbesondere Lesen, das Spielen eines oder mehrerer Instrumente sowie Theaterbesuche. Dies deutet auf eine Betonung von Vielseitigkeit. Die Teilnahme an Theatergruppen wird ebenfalls nur selten erwähnt.

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3.4 K ULTUR Das Spielen eines Instrumentes sowie Theaterbesuche als weitere Freizeitaktivitäten verweisen auf einen anderen häufig thematisierten Interessensschwerpunkt, der hier, die Formulierung einiger Bewerber_innen aufgreifend, zusammenfassend als „Kultur“ bezeichnet wird. Darunter fallen die mehr oder weniger ausführlichen Thematisierungen von künstlerischen, musischen und literarischen, seltener auch cineastischen Interessen und Aktivitäten sowie geisteswissenschaftliche Interessen an Sprache, Philosophie und Geschichte. Dieses Thema ist in gut einem Viertel aller Lebensläufe präsent, wobei aufgrund der Häufung von unterschiedlichen Interessen in einzelnen Lebensläufen und der dort oftmals recht ausführlichen Darstellungen, trotz erneut auch kürzester Erwähnungen, dieses Thema besonders präsent ist. Ein SDS-Mitglied etwa erzählt, dass es seit seiner Kindheit leidenschaftlich lese und in den letzten zwei Jahren besonders an den Schriften Sigmund Freuds gefallen habe, sich außerdem mit den Büchern des Soziologen Adorno und den staatsphilosophischen Werken von Marx, Ortega y Gasset und Sartre beschäftige. Es besuche mehrmals im Monat das Theater, spiele Klavier und habe Freude am Malen. (Lebenslauf 3922) An diesem Beispiel zeigt sich auch bereits die Emphase, mit der diese Interessen und Aktivitäten oft thematisiert werden: So beschreibt ein anderes Mitglied, dass sein Interesse an der Germanistik sich nicht aus der Absicht speise, Studienrat oder Wissenschaftler der Germanistik zu werden, sondern aus der Liebe zur Literatur. Exakte Vorstellung über seinen zukünftigen Beruf habe es allerdings nicht. (Lebenslauf 58739) Auch eine andere Person leitet aus ihrer Vorliebe zur Literatur, insbesondere der Literaturen Polens und Russlands ihren Studienwunsch ab. Aus diesem Interesse sei ihr Interesse an slawischen Sprachen erwachsen und sie habe sich entschlossen, nach dem Abitur das Studium der Slawistik zu beginnen. (Lebenslauf 589530) In einer weiteren Bewerbung wird betont, dass es noch kein festes Berufsziel gebe, dass der Beruf aber vereinbar sein müsse mit der Liebe zur Literatur, ganz besonders zum Theater, das die lebendige, papierferne Dichtungsgattung zu sein scheine. Um diese Liebe veredeln zu können, um über den Zustand der seiner Befürchtung nach leicht verschwommenen jugendlichen Schwärmerei und um zu echtem, klarem Wissen gelangen zu können, habe sich die Person zum Studium der Theaterwissenschaft entschlossen. (Lebenslauf 28650) Ein Mitglied, das aus der DDR stammt, schildert, dass außer der Musik die Literatur eine starke Anziehungskraft auf es ausgeübt habe. Es sei einem Studentenzirkel beigetreten, der alte und moderne Dramatiker gelesen habe, soweit das Material gereicht habe. (Lebenslauf 46858) Ein anderes Mitglied schildert, dass es auch mit eigenen Schreibarbeiten befasst sei, die sich mit der Berliner Situation befassten und dennoch nur Bilder geben sollten, die in sich wirkten. Es wolle so gegenständ-

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lich schreiben, wie einige seiner Freunde malten, aber auch nicht über das Schreiben die eigentliche Ausbildung vernachlässigen. (Lebenslauf 45447) Auch im Zusammenhang mit kulturellen Themen finden sich wiederum Schilderungen von auslösenden Momenten für diese Interessen, etwa die erstmalige Lektüre eines speziellen Autors oder der Besuch einer bestimmten Theateraufführung, eine Reise in bestimmtes Land oder einflussreiche Bekanntschaften. So berichtet eine Person, dass sie die erste Theateraufführung, die sie sehen konnte, „Die Weber“ von Hauptmann, so begeistert habe, dass sie danach regelmäßig an Vorstellungen eines Jugendtheaters teilgenommen habe. (Lebenslauf 67254) Zum Teil wird, wie oben bereits gesehen, aus dem Interesse für das Theater und an Theaterbesuchen die Begründung für das Studienfach der Theaterwissenschaft abgeleitet, zum Teil wird auch in der Begründung der Wahl Berlins als Studienort auf dessen zahlreiche Spielstätten verwiesen wird. Ein Mitglied betont, dass Berlin eine bedeutende Theaterstadt sei und es hoffe, dort für seinen Beruf profitieren zu können, weshalb es die Freie Universität als Studienort wähle. (Lebenslauf 71774) In anderen Lebensläufen werden diese Vorlieben allerdings unabhängig von der Wahl von Studienfach und -ort als Freizeitaktivität geschildert. Ähnliches ist im Hinblick auf das Interesse an Kunst und Kunstgeschichte sowie Musik zu verzeichnen. Diese Thematisierung dieser Vorlieben zerfällt dabei in die lapidare Erwähnung eines entsprechenden Interesses und seltener die Schilderung eigener Aktivitäten: Eine Person führt dazu aus, dass frühzeitig ihr besonderes Interesse für Sport und Musik erwacht sei, ihre bevorzugten Instrumente Klavier und Trompete seien und anlässlich der Abschlussfeier werde sie zusammen mit dem Schulorchester ein Klavierkonzert spielen. (Lebenslauf 71774) Auch in anderen Bewerbung wird die Kombination sportlicher und musikalischer Aktivitäten erwähnt: Bis zu ihrem 17. Lebensjahr sei die Person begeisterte Sportler_in gewesen, habe Hallensport, Fußball und Handball betrieben und sei ferner Mitglied im Tischtennisverein gewesen. Außerdem interessiere sie sich für Musik und spiele heute noch Klavier und Flöte. (Lebenslauf 47536) Eine andere Person berichtet, dass sie sich neben dem Theater besonders für Jazzmusik interessiere. Sie habe musiktheoretische Bücher über dieses Thema und die Biografien berühmter Interpreten gelesen. In der bildenden Kunst gelte ihr Interesse besonders der Malerei dieses Jahrhundert. Unvergesslich bleibe ihr ein Besuch der „documenta“ in Kassel. (Lebenslauf 67254) Als weitere musikalische Aktivitäten werden das Singen im Chor und das Spiel der Konzertgitarre genannt, am häufigsten allerdings die Instrumente Klavier und Flöte. In einzelnen Fällen leitet sich aus dem musikalischen und kunstgeschichtlichen Interesse die Studienfachwahl ab: Ein Mitglied gibt an, dass es, da es sich sehr stark für Kunstwissenschaft, englische Sprache und Literatur sowie Philosophie interessiere, beschlossen habe, sich für dieses Studium zu bewerben. Sein Hauptinteresse gelte

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dabei der Kunstwissenschaft. Es stelle immer wieder fest, wie oft Kunst falsch verstanden werde und wie wenig sich mit Kunst auseinandergesetzt würde. Es hoffe, dazu beitragen zu können, ein inniges Verhältnis bei vielen Menschen wecken zu können und glaube, dadurch, dass es selber male, dazu auch in der Lage zu sein. (Lebenslauf 37813) Noch vor dem Theater ist allerdings die Literatur das in diesem Bereich am häufigsten genannte Interessengebiet. Zuweilen wieder nur lapidar als Interesse aufgezählt, führen andere diese Thematisierung anhand bevorzugter Lektüre weiter aus, auch indem sie, wie gesagt, den Beginn dieses Interesses schildern: Eine Person betont, dass sie moderne deutsche und ausländische Dichtung und Dramatik bevorzuge, aber auch sehr gerne Klassiker lese. (Lebenslauf 68009) Eine andere schildert, dass sie am Aufbaugymnasium die Sprache als eine Möglichkeit der öffentlichen Stellungnahme zur Welt, als eine Weise der Welterfahrung entdeckt habe und so begonnen habe, sich für Literatur zu interessieren. Sie habe Thomas Mann, Kafka und Musil gelesen. (Lebenslauf 76038) Eine andere zählt als Autoren Kafka auf, den sie kreuz und quer gelesen habe, Proust, den sie geliebt habe, Musil, Joyce. Beckett sei für sie gravierend gewesen, die Psychoanalyse habe sie durch ihre kritischen und entzaubernden Impulse beeindruckt. (Lebenslauf 56148) Im Zusammenhang mit einer Vorliebe für Lesen und Bücher werden neben den in diesen Beispielen genannten Literaturgattungen, ‚Klassikern‘ und Autoren des weiteren Goethe, Schiller, Kleist und Heine genannt, ebenso „höfische Literatur“, „Dichtung und Dramatik“ und „Gegenwartsliteratur“, aber auch Freud und die Psychoanalyse werden erneut erwähnt. In ähnlicher Weise wird außerdem die Lektüre philosophischer Werke betont, namentlich genannt allerdings nur, wie in obigem Beispiel, Ortega y Gasset. Adorno wird, wie im einleitenden Beispiel, als Soziologe gelesen, gleiches gilt für Horkheimer. Ein Interesse an philosophischen Fragen wird auch im Zusammenhang mit Politik geäußert. Ähnliches gilt für das Interesse an Geschichte und die Lektüre von Geschichtsbüchern. Ferner wird das Interesse an Fremdsprachen geäußert, zumeist an der französischen Sprache, in Einzelfällen auch an Latein; zuweilen wird dieses philologische Interesse mit dem Besuch entsprechender Länder verknüpft.

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3.5 S CHULISCHE ARBEITSGEMEINSCHAFTEN , S CHÜLERMITVERWALTUNG UND S CHÜLERZEITUNGEN Einige der oben genannten kulturellen Interessen werden, wie auch schon in einzelnen Fällen das politische Interesse, im Zusammenhang mit schulischen Arbeitsgemeinschaften genannt. Die Thematisierung von Arbeitsgemeinschaften geht allerdings über diese hinaus: Zusammen mit den anderen Aktivitäten in der Schule – dem Engagement in der Schülermitverwaltung (SMV) und in der Schülerzeitung – werden schulische Arbeitsgemeinschaften, zu denen hier auch das bereits im Zusammenhang mit dem Interesse für Musik genannte Schulorchester gezählt wird, mit rund 12% zwar in vergleichsweise wenigen Lebensläufen thematisiert, dafür werden diese Aktivitäten oftmals in Kombination genannt. Eine Person erwähnt, dass sie sich in der Oberstufe in Schülermitverwaltung, Schülerzeitung und Schülerkabarett betätigt habe. (Lebenslauf 36953) Eine andere schildert, dass sie sich im Verlauf der letzten Jahre auf dem Gymnasium aktiv in der Schülermitverantwortung und in der Theatergruppe sowie einige Jahre Mitarbeiter_in und Chefredakteur_in der Schülerzeitung gewesen sei. (Lebenslauf 44432) Eine weitere Person erzählt, dass sie in der Redaktion der Schülerzeitung sei und in den letzten Jahren an verschiedenen freiwilligen Kursen in der Schule zu Griechischer Komödie, Archäologie, altsprachlicher Lyrik und Physik teilgenommen habe. (51177) Auch hier wird, allerdings nur in Einzelfällen, aus diesen Aktivitäten das Studieninteresse abgeleitet: So berichtet ein späteres SDS-Mitglied, dass seine Teilnahme an einer philosophischen Arbeitsgemeinschaft, in der anthropologische Fragestellung behandelt wurden, es in der Notwendigkeit bestärkt hätten, Psychologie zu studieren. (Lebenslauf 37468) Ein anderes verlässt die Schule mit dem Wunsch, Journalist_in zu werden, nachdem es zwei Jahre bei der Schülerzeitung gearbeitet habe. (Lebenslauf 51464) Auch das Erwachen von politischem Interesse wird in einzelnen Fällen daran geknüpft, etwa im Fall eines Mitglieds, das als Grund dafür angibt, dass es die Leitung der Schülerzeitung seines Gymnasiums übernommen habe, die mehrmals mit überregionalen Preisen ausgezeichnet worden sei. (Lebenslauf 45711) In einem anderen Fall motiviert ein solches Interesse zur Teilnahme an schulischen Arbeitsgemeinschaften, hier im Fall einer Person, die aufgrund ihres politischen und philosophischen Interesses in Oberstufe zwei Jahre an einer philosophischen Arbeitsgemeinschaft teilgenommen habe. (Lebenslauf 56783) In einem anderen Fall verbindet eine Person die Tätigkeit in der SMV mit der Gründung einer politischen Schüler-Arbeitsgemeinschaft, in der in Referaten und Diskussionen die jüngste Vergangenheit und das Zeitgeschehen, die in dem Geschichtsunterricht nur lückenhaft behandelt worden seien, besser kennen gelernt und verstanden werden sollten. (Lebenslauf 51319)

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Insgesamt werden schulische Arbeitsgemeinschaften zu so unterschiedlichen Bereichen wie Politik, Französisch, Latein, Griechisch, Gegenwartskunde, Philosophie, Literatur, Musik, Theater, Mathematik sowie Physik erwähnt. Naturwissenschaftliche Interessen werden allerdings auch über die schulischen Arbeitsgemeinschaften hinaus insgesamt nur in Einzelfällen genannt.

4. Gesellschaftliche und schulische Entwicklungen

In den beschriebenen Themen, welche die SDSler_innen in ihre Lebensläufe einbringen, spiegeln sich zunächst einmal zahlreiche zeitgenössische Themen und Entwicklungen. So erfreuen sich Reisen im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs zunehmender Beliebtheit. Bleiben Reisemöglichkeiten in den 1950er Jahren aufgrund der niedrigen Einkommen noch relativ begrenzt, entwickelt sich in den 1960er Jahren der Massentourismus. Gerade Auslandsreisen nehmen in den 1960er Jahren beträchtlich zu.1 Dabei verreisen Jugendliche deutlich mehr und aufgrund besserer Sprachkenntnisse häufiger ins Ausland als der Durchschnitt der Bevölkerung. Die von Gymnasiast_innen bevorzugten Reiseziele sind Frankreich und Großbritannien. Nach Großbritannien bestehen bereits in den 1950er Jahren gut ausgebaute Begegnungsmöglichkeiten, in den frühen 1960er Jahren entwickelt sich London bei Jugendlichen zum beliebtesten städtischen Reiseziel außerhalb der Bundesrepublik.2 Auslandsreisen von Jugendlichen werden vor allem vor dem Hintergrund von Kulturaustausch und Völkerverständigung allgemein befürwortet und politisch gefördert. So entwickelt sich bereits in den 1950er Jahren ein reger Austausch von Schüler_innen und Lehrer_innen, Student_innen und Wissenschaftler_innen, koordiniert durch den Pädagogischen Austauschdienst der Kultusministerkonferenz bzw. durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst.3 Auch wenn in den einzelnen Bundesländern zunehmend die ‚Weltsprache‘ Englisch als erste Fremdsprache durchgesetzt wird, werden dennoch auch und gerade die Bildungsbeziehungen

1

Vgl. Schildt (1995), (2003), S. 30.

2

Vgl. Siegfried (2008e), S. 64ff.

3

Vgl. Führ (1996), S. 257.

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zu Frankreich ausgebaut und gefördert, insbesondere durch die Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks.4 Wie bereits im Zusammenhang mit den Demokratisierungsdiskursen in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik angeführt, wird spätestens Ende der 1950er Jahre Kritik an einer vermeintlich unpolitischen und durch die neue Konsumkultur verführbaren Jugend laut – als augenfälligster Ausdruck einer mangelnden Sinnstiftung bei Jugendlichen gelten in den Medien die ‚Halbstarken‘ –, aus der sich Forderungen nach einer Erziehung zu Kritikfähigkeit ableiten. Diese Kritikfähigkeit soll auch durch entsprechende außerschulische Bildungsangebote erhöht werden.5 Unter dem zunehmenden öffentlichen „Politisierungsdruck“ grenzen sich Jugendliche allerdings auch zunehmend von ‚unpolitischen‘ Gleichaltrigen ab, gerade auch durch soziales und politisches Engagement. Bereits Mitte der 1960er halten ‚Jugendliche‘ – befragt werden auch über 20-jährige – die Auseinandersetzung mit Politik mehrheitlich für eine selbstverständliche Anforderung.6 Im Zusammenhang mit politischen und sozialen Bildungsangeboten spielt gerade die Evangelische Kirche seit der Nachkriegszeit eine besondere Bedeutung; diese zeigt sich nicht nur in den Tagungen der evangelischen Akademien, sondern vor allem auch in der Jugendarbeit der Gemeinden.7 Diese ist ebenso wie die Jugendarbeit anderer freier wie öffentlicher Träger von den Bedingungen der zunehmenden wirtschaftlichen Stabilisierung gekennzeichnet von einer zunehmenden Betonung von sozialem und demokratischem Lernen, auch wenn sich diese Aufgaben in den 1950er Jahren noch vornehmlich auf die Vermittlung von Kenntnissen zum Aufbau des Staates und den Funktionsweisen der parlamentarischen Demokratie beschränken.8 Allerdings verweist die Gründung der Aktion Sühnezeichen, Friedensdienste e.V. im Jahr 1958 auch auf Strömungen innerhalb der evangelischen Kirche, die in Anerkennung des eigenen Versagens in der NS-Zeit eine friedenspolitische Arbeit weit über diese Bildungsangebote hinaus anstreben und durch Ferienlager und praktische Wiederaufbauarbeiten in den Ländern ehemaliger Kriegsgegner Jugendlichen den Dialog mit der dortigen Bevölkerung ermöglichen wollen.9 Solche friedenspolitischen Ziele durch internationalen Jugendaustausch und freiwillige praktische Tätigkeiten verfolgen ebenfalls die Internationalen Jugendgemeinschaftsdienste e.V., die in den frühen 1950er Jahren aktiv werden, und der seit der Zeit nach dem Ersten 4

Vgl. Führ (1996), S. 258f.

5

Vgl. Siegfried (2003).

6

Vgl. Siegfried (2003), S. 597.

7

Vgl. Dienst (1998).

8

Vgl. Hornstein (1998), S. 500ff.

9

Vgl. Legerer (2011).

4. G ESELLSCHAFTLICHE UND SCHULISCHE E NTW ICKLUNGEN

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Weltkrieg der Internationale Zivildienst als europaweit vertretene Service Civil International, die ebenfalls in den Lebensläufen genannt werden. Die Schülermitverwaltung (SMV) in den westdeutschen Schulen wurde durch die bildungspolitischen Ziele der Alliierten erstmals „in einen unmittelbaren Zusammenhang von Schulreform und Demokratisierung der Gesellschaft gerückt.“10 Diese Mitbestimmung durch die Schüler_innen war jedoch ähnlich wie bereits in der Zeit der Weimarer Republik unpolitisch auf die Integration der Schüler_innen in den Schulbetrieb ausgerichtet und wies diesen die Wahrnehmung von Hilfsdiensten und Organisationsaufgaben sowie Mitwirkung in der Pflege des Schullebens zu. Die Funktion der Interessenvertretung von Schüler_innen wurde erst Ende der 1960er Jahre aus einem demokratisch-emanzipatorischen Schulauftrag abgeleitet und institutionell verankert.11 Kritik an der Ausrichtung der Schülermitverwaltung auf ihren Beitrag zu einem „ständige[n] Werben um freiwillige Anerkennung der Autorität“ und dem dahinter stehenden Partnerschafts- und Harmoniekonzepts sind allerdings bereits Ende der 1950er Jahre zu verzeichnen.12 So legen Umfragen die mehrheitliche Ablehnung des alten SMV-Konzepts durch die Schüler_innen offen, welche stattdessen zunehmend eine Reform der Schülermitverwaltung zu einer selbständigen Interessenvertretung der Schüler_innen fordern.13 Entsprechend legt 1963 die Kultusministerkonferenz eine stärkere Förderung der SMV nahe, ohne allerdings ihr Konzept konkret zu verändern. Erst infolge der Kritik durch die Pädagogik zu Beginn der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erfolgt eine Umgestaltung der Schülermitbestimmung.14 Der Historiker Torsten Gass-Bolm deutet die konfliktfreie Übernahme der Konzepte der Kritiker_innen als einen Hinweis darauf, dass die Abkehr vom ursprünglichen Harmoniekonzept im Zuge eines übergreifenden gesellschaftlichen Wandels bereits weitreichend vollzogen worden war.15 Diskussionen um die Rechte von Schüler_innen werden allerdings nicht nur auf dem Feld der Schülermitbestimmung geführt, sondern auch im Zusammenhang mit Schülerzeitungen und der Frage, inwieweit diese der Pressefreiheit unterstellt sind.16 Ende der 1950er Jahre, also parallel zur aufkeimenden Kritik an der SMV, wird die Frage nach dem Verhältnis von Meinungsfreiheit der Schüler_innen und Kontrollbefugnis der Schule aufgeworfen und von Schuljuristen unterschiedlich beantwor10 Reuter (1998), S. 260. 11 Vgl. Reuter (1998). 12 Dietz (1956), zit.n. Gass-Bolm (2006), S. 116. 13 Vgl. Gass-Bolm (2006), S. 117. 14 Vgl. Reuter (1998), S. 261; Gass-Bolm (2006), S. 117. 15 Vgl. Gass-Bolm (2006), S. 118f. 16 Vgl. dazu bereits zeitgenössisch Brenner (1966).

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tet; bis Mitte der 1960er Jahre setzt sich zunehmend eine liberale Position durch, wonach Schülerzeitungen weder der Genehmigungspflicht noch der Kontrolle oder Zensur durch die Schulleitung unterliegen sollten; die Verantwortung für die Schülerzeitung wurde den Redakteur_innen zugeschrieben, die Schulleitung sollte ggf. nur noch indirekt durch Vertriebsverbot auf dem Schulgelände Einfluss nehmen können.17 Sport entwickelt sich in den 1950er Jahren zu einer der beliebtesten Freizeitaktivitäten von Jugendlichen. Diese Entwicklung schlägt sich auch in deutlich steigenden Mitgliederzahlen von Sportvereinen und –verbänden nieder und bedeutet damit gleichzeitig eine generelle Veränderung des Jugendvereinswesens, das als „FreizeitService“ in Anspruch genommen wird und nicht mehr als weltanschauliche Gemeinschaft betrachtet wird.18 Diese Entwicklung setzt sich auch in den nachfolgenden Jahrzehnten weiter fort. Die wichtigste Freizeitaktivität von Jugendlichen stellt jedoch in den 1950er Jahren wie bei den Erwachsenen das Lesen dar, wobei für die Lektüre insgesamt eher „Romanschmöker“, Tageszeitungen und Zeitschriften als ‚gehobene‘ Literatur bevorzugt werden und auch das erst in dieser Zeit entstehende Segment von Jugendzeitschriften deutlich zunimmt.19

17 Vgl. Gass-Bolm (2005), S. 221ff. 18 Vgl. Schildt (1998b), S. 342, Zitat ebd. 19 Vgl. Schildt (1998b), S. 341, Zitat ebd.

5. Facetten eines historisch akkumulierten Bildungsbegriffs

Die von den SDSler_innen thematisierten Aspekte spiegeln, wie gesehen, typische zeitgenössische Entwicklungen in Gesellschaft und Bildungseinrichtungen der frühen Bundesrepublik. Gleichzeitig klingen in den jeweiligen Thematisierungen aber auch zahlreiche Facetten jenes Bildungsbegriffs an, wie er sich ausgehend vom Idealismus und Neuhumanismus im 18. Jahrhundert entwickelt hat. Dabei sind Spuren aus dem gesamten zurückliegenden Zeitraum zu verzeichnen: Spuren jenes frühen philosophischen Konzepts sowie dessen sich im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhundert wandelnde Deutungen durch ein ‚Bildungsbürgertum‘ als sozialem Träger von ‚Bildung‘ als auch – nicht erst – zeitgenössisch, also in den 1950er und 1960er formulierten Ansprüchen an Bildung. Als Facetten eines im Kern neuhumanistischen und davon ausgehend ‚bürgerlichen‘ Bildungsbegriffs sind insbesondere die unter dem Oberbegriff ‚Kultur‘ gefassten Thematisierungen von Theater, Literatur, Philosophie, Sprache, Musik, Kunst und Geschichte zu fassen. ‚Kultur‘ nimmt in diesem Bildungsverständnis eine zentrale Rolle als ‚Medium von Bildung‘ ein:1 In seinen grundlegenden Schriften am Ende des 18. Jahrhunderts – etwa dem von Georg Wilhelm Friedrich Hegel verfassten „ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus“ und den Schriften Wilhelm von Humboldts – wird „[n]icht mehr die funktionale Ausbildung des Menschen im Sinne des aufklärerischen Nützlichkeitsdenkens, sondern die harmonische Ausbildung aller im Menschen liegenden Fähigkeiten […] gefordert, der Vernunft ebenso wie der Sinnlichkeit.“2 Entsprechend kommt der Wissenschaft, insbesondere der Geschichte und der Philosophie als dem Gedächtnis der Menschheit und ihrer ‚vernünftigen‘ Durchdringung, die Rolle eines Mediums rationaler Bildung, der Dichtung aber die

1

Vgl. Bollenbeck (1994), S. 96ff.

2

Groppe (2001), S. 53.

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Rolle eines ‚sinnlichen‘ Korrektivs rationaler Wissenschaft zu.3 Dieses Bildungsverständnis liegt als utopische Zielperspektive der Bildungsreform in Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zugrunde, in der zudem der Zugang zum Staatsdienst mit Abschlüssen von höheren Schulen und dem Universitätsstudium verknüpft wird; entsprechend manifestiert sich dieser Bildungsanspruch institutionell und wirkt dieser Bildungsbegriff im Zuge des gesellschaftlichen Aufstiegs des ‚Bildungsbürgertums‘ identitätsstiftend.4 Als diese ‚gebildete‘ Identität durch die weitreichende Akzeptanz ‚bürgerlicher‘ Lebensmuster, Normen und Werte und die beginnende Bildungsexpansion im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an Wertigkeit zu verlieren droht, vollzieht sich eine Umkehr des bürgerlichen Bildungsverständnisses: Bildung ist nun nicht mehr das ‚Ergebnis‘ von Beschäftigung mit Wissenschaft und Kunst, sondern diese setzt nun „eine Prädestination zu Bildung“ voraus.5 Zwar lag auch der Bildungsreform zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Auffassung zugrunde, dass Bildung nicht allein in den höheren Schulen und Universitäten erworben werden könne, der Staat aber in diesen Bildungsinstitutionen einen Raum für das Bildungsstreben des Individuums schaffen solle; zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich das ‚bürgerliche‘ Verständnis von Bildung aber dahingehend gewandelt, dass sie eben nicht durch institutionalisierte Bildungsverläufe erworben und formale Abschlüsse ausgewiesen werden kann. Bildung wird somit Ausdruck eines ‚bürgerlichen‘ „Habitus“ (Bourdieu), der letztlich als Abgrenzung des ‚Bildungsbürgertums‘ von Bildungsaufsteigern funktioniert.6 Durch die Thematisierung von Theater, Literatur, Musik, Kunst, Sprache, Philosophie und Geschichte und gerade auch durch die Betonung solcher Interessen und Aktivitäten außerhalb der Schule greifen die jeweiligen SDSler_innen auf Elemente eines ‚bürgerlichen‘ Bildungsverständnisses zurück, die nach wie vor im Bildungsbegriff inkludiert sind. Danach ist ‚Kultur‘ als Beschäftigung mit entsprechenden Inhalten Medium oder Kennzeichen von Bildung, in jedem Fall aber etwas, das nicht nur in der Schule erworben wird. Wenn allerdings die Lektüre von „Gegenwartsliteratur“ oder Autoren wie Franz Kafka und Samuel Beckett erwähnt wird, spiegeln sich darin auch zeitgenössische Entwicklungen in diesem Bildungsverständnis: In der Nachkriegszeit und den ersten Jahren der Bundesrepublik wurde im Gymnasium zur „Immunisierung des Einzelnen vor den Gefahren der Gegenwart“ der Wiederanschluss an die traditionellen Bildungsinhalte Antike, Christentum und 3

Vgl. Groppe (2001), S. 53ff.

4

Vgl. Groppe (2001), S. 54f.

5

Groppe (2001), S. 67.

6

Vgl. Groppe (2001), S. 67f.

5. F ACETTEN EINES HISTORISCH AKKUMULIERTEN B ILDUNGSBEGRIFFS

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deutsche Kultur gerade mit dem Argument der Selbstvervollkommnung vollzogen. Die Notwendigkeit, NS-unbelastete Inhalte einzuführen, erleichterte zudem den Rückgriff etwa auf die deutsche Klassik als Unterrichtsinhalt.7 Entsprechend dominierten in den 1950er Jahren Texte aus dem 18. und 19. Jahrhundert den Deutschunterricht, wie sie auch von den SDSler_innen genannt werden: „Klassiker“, Goethe, Schiller. Daneben beinhaltete der Lektüreplan auch schon Literatur des 20. Jahrhunderts, wie etwa Thomas Mann oder Franz Kafka, allerdings auch eine Reihe konservativ-kulturkritischer Autoren.8 Gegen Ende der 1950er Jahre wurden erstmals auch Gegenwartsautoren gelesen, dennoch weitete sich die seit Mitte der 1950er Jahre geäußerte Kritik des Deutschunterrichts als unpolitisch und weltfremd in den 1960er Jahren aus und wurde immer mehr auch von Schüler_innen getragen.9 Parallel dazu erfuhr der Literaturkanon des Deutschunterrichts etwa durch den Eingang linker Autoren wie Bertolt Brecht eine allmähliche Wandlung und am Ende der 1960er Jahre stand schließlich die Abkehr vom tradierten Leitbild des Deutschunterrichts, dem nun eine gesellschaftspolitische Funktion zugewiesen wurde. Nicht nur durch die Aufnahme moderner Texte in den Lektürekanon, sondern vor allem durch eine veränderte Bearbeitung der Texte im Unterricht – statt werkimmanenter, nun kritische Analyse und Einbezug des historischen Kontextes auch von klassischer Dichtung – sollte der Deutschunterricht zu Kritikfähigkeit anleiten und zur Emanzipation beitragen.10 Als Aspekte eines Bildungsverständnisses in ‚bürgerlicher‘ Tradition sind in ähnlicher Weise die Thematisierung von Auslandsaufenthalten und Reisen zu deuten. Auch wenn die Tradition der Bildungsreise weitaus älter ist als der in Idealismus und Neuhumanismus entwickelte Bildungsbegriff – verwiesen sei hier auf die mittelalterliche peregrinatio academica, die Wanderung von Studierenden und Gelehrten zu entfernten Bildungsstätten oder die Gesellenwanderung als Teil der Berufsausbildung im Handwerk sowie die grand tour von jungen Adeligen seit der Renaissance –, wird gerade die Bildungsreise innerhalb eines ‚bürgerlichen‘ Bildungsverständnisses durch die direkte Erfahrung der Welt zu einem wesentlichen, von den Institutionen der Schule und der Universität unabhängigen Medium individuellen Bildungsbestrebens.11 Diese Auffassung kommt gerade auch bei Humboldt in seiner Theorie über die Bildung des Menschen zum Ausdruck, wenn er betont, dass der Mensch, der „die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen“, also ‚bilden‘ will, 7

Vgl. Gass-Bolm (2005), S. 83ff., Zitat S. 85.

8

Vgl. Gass-Bolm (2005), S. 100f.

9

Vgl. Gass-Bolm (2005), S. 203ff.

10 Vgl. Gass-Bolm (2005), S. 207ff., S. 297ff. 11 Vgl. Cleve (2005), S. 535; Hammerstein (2005), S. 388f.

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als „Gegenstand“ und „Stoff“ seiner Gedanken „die Welt ausser sich“ bedarf und da „sein Denken und Handeln nicht anders, als vermöge eines Dritten, [...] möglich ist, dessen eigentliches unterscheidendes Merkmal es ist, Nicht-Mensch, d.i. Welt zu seyn, sucht er, soviel Welt als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.“12 Die ‚stoffliche‘ Auseinandersetzung mit der Welt wird an dieser Stelle zwar nicht direkt auf das Reisen bezogen und muss auch als über dieses hinausgehend verstanden werden; jedoch verdeutlicht bereits Humboldts Biografie den Stellenwert, den er dem Reisen beimaß.13 Seine Reisetätigkeit stellt dabei einen zeitgemäßen Teil der Ausbildung von jungen Adeligen und die Lebensweise von Staatsdienern dar. Bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts werden auch Bildungsreisen von wohlhabenden Bürgerlichen, insbesondere in die Niederlande und England, aber auch nach Frankreich und Italien üblich. Während sich also in zahlreichen Lebensläufen deutliche Spuren eines ‚bürgerlichen‘ Bildungsverständnisses aufzeigen lassen, wie es sich in Deutschland seit dem späten 18. Jahrhundert bis in die frühe Bundesrepublik unter einigen Wandlungen entwickelt hat, sind demgegenüber andere Lebensläufe, wie bereits dargelegt, frei von diesen Spuren. Als Bildungsprozess wird dort lediglich das Durchlaufen von Bildungsinstitutionen geschildert, die Darstellung reduziert sich dabei z.T. auf das bloße Aufzählen der durchlaufenen Bildungsinstitutionen. Diese Lebensläufe stellen sozusagen die Negation eines Bildungsbegriffs dar, der geknüpft ist an außerschulisches und musisches Bildungsstreben. Diese Negation ist dabei keine historische Neuheit, sondern stellt im Kontext der Auseinandersetzungen um die Funktion des Bildungssystems und den damit verbundenen Inhalten gewissermaßen den Gegenpol zu jenem neuhumanistischen oder ‚bürgerlichen‘ Bildungsverständnis dar, der, wie zu sehen sein wird, kaum weniger ‚bürgerlich‘ ist. So steht bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts die Zurückweisung emanzipatorischer Ansprüche des neuhumanistischen Bildungsverständnisses durch konservative und reaktionäre politische Kräfte in Preußen, die eine umfassende Reform des Bildungswesens in ein dreistufiges System nicht zulassen, so dass die Umgestaltung nach neuhumanistischem Bildungsverständnis lediglich die Ebene der höheren Schulen, genauer des Gymnasiums betrifft.14 Auf den Volksschulen bleibt der Unterricht auf die grundlegenden Kulturtechniken des Lesens, Schreibens und Rechnens und auf christliche Inhalte beschränkt; die Autonomie der Universitäten

12 Humboldt (1960a), S. 235. 13 Vgl. Gall (2011). 14 Vgl. dazu die Darstellungen zur „Süvern-Beckedorff-Kontroverse“ in Herrlitz et al. (2009), S. 45ff.

5. F ACETTEN EINES HISTORISCH AKKUMULIERTEN B ILDUNGSBEGRIFFS

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wird nach den Karlsbader Beschlüssen 1819 weitestgehend aufgehoben.15 Auf universitärer Ebene wird das Bildungsideal aus Neuhumanismus und Idealismus im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts auch durch die Entwicklung der Wissenschaften herausgefordert, im letzten Drittel zudem durch eine Kontroverse über die Unterrichtsinhalte und die Zielsetzung der höheren Schulen: Vor dem Hintergrund der zunehmenden Industrialisierung und dem damit einhergehenden steigenden Anspruch an technische und mathematische Kenntnisse sowie der zunehmenden internationalen Verflechtung des Handels und dem steigenden Bedarf an modernen Fremdsprachenkenntnissen wird die Ausrichtung des Gymnasiums auf die humanistische Bildung und die damit verbundene Konzentration auf geisteswissenschaftliche Inhalte kritisiert bzw. sein Monopolanspruch auf Verleihung des Abiturs in Frage gestellt. Diese ‚Humanismus-Realismus-Kontroverse‘ stellt dabei eine ‚bürgerliche‘ Kontroverse dar, da der Bedarf an ‚realistischer‘ Bildung gerade von Seiten eines ‚Wirtschaftsbürgertums‘ betont wird, welches eine entsprechende Vorbildung für seinen Nachwuchs fordert.16 Eine solche wird zwar an den Mitte des 19. Jahrhunderts institutionell verankerten Realschulen 1. und 2. Ordnung – später Realgymnasium und Oberrealschule – angeboten, diese berechtigen allerdings nicht zum Abitur und damit zum Universitätsstudium.17 Erst 1890 erhalten die Realanstalten auch die Berechtigung zum Abitur, die zunächst vorgenommene Einschränkung auf Zulassung zu bestimmten Studienfächern wird 1900 weitestgehend aufgehoben,18 im Folgejahrzehnt überholt die Schülerzahl der Realanstalten diejenige der altsprachlichen Gymnasien.19 Ein wachsender Bedarf an technischen und mathematischen Kenntnissen wird dabei aber auch durch die Entwicklung von Technischen Hochschulen erzeugt, die am Ende des 19. Jahrhunderts z.T. in Universitätsrang erhoben werden.20 Damit vollzieht sich auch außerhalb der Universität eine Ausdifferenzierung und Spezialisierung von Wissenschaft, welche insbesondere die philosophischen Fakultäten der Universitäten kennzeichnet, aus denen heraus sich auch naturwissenschaftliche Fakultäten gründen.21 Das auf geisteswissenschaftliche In15 Zu den Karlsbader Beschlüssen als Reaktion auf die auch von den Universitäten ausgehenden Revolutionsbestrebungen vgl. Nipperdey (1983), S. 281ff., S. 478. 16 Vgl. Jeismann (1987b), S. 161ff.; Herrlitz et al. (2009), S. 63ff. 17 Vgl. Kraul (1984), S. 82f.; Jeismann (1987b), S. 161ff. Zur Entwicklung des höheren Knabenschulwesen und gerade von Lehrplan und Fächerkanon im Kontext von Bildungspolitischen Diskussionen des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts vgl. insbesondere Albisetti/Lundgreen (1991). 18 Vgl. Kraul (1984), S. 112ff. 19 Gass-Bolm (2005), S. 41. 20 Vgl. Lundgreen (1987), S. 294-300, S. 301ff.; Nipperdey (1983), S. 482ff. 21 Vgl. Nipperdey (1983), S. 484ff., insbesondere S. 495ff.

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halte fokussierte Bildungsideal hatte hingegen als höchste Aufgabe der Wissenschaft eine Zusammenführung von Wissen im Gegensatz zu ‚zersplittertem‘ Spezialwissen konzipiert;22 in seinen Überlegungen zur „inneren Organisation“ der Universität hatte Wilhelm von Humboldt für den Erhalt der Wissenschaft ein „dreifaches Streben des Geistes“ angemahnt, in dem die verstandesmäßig abgeleiteten Naturerklärungen einem Ideal zuzubilden und mit diesem schließlich zu einer Idee zu verknüpfen seien.23 In dieser Phase der Herausforderung gegen Ende des 19. Jahrhunderts vollzieht sich die „Rekonstitution“ der Bildung, mit den bereits angesprochenen weitreichenden Folgen einer Umkehrung des Zusammenhangs von ‚gebildeter‘ Persönlichkeit und Beschäftigung mit Wissenschaft und Kunst.24 In der Weimarer Republik und der NS-Zeit gerät – aus gegensätzlichen Gründen – das ‚bürgerliche‘ Bildungsideal weiter unter Druck.25 Während in der Weimarer Republik Reformer – letztlich wenig erfolgreich – eine ‚innere und äußere Demokratisierung‘ des Gymnasiums wie des gesamten Schulsystems fordern, zeichnen sich gleichzeitig etwa in der Deutschkunde-Bewegung völkisch-nationalistische Bestrebungen ab, die einen ‚Germanismus‘ anstelle des Neuhumanismus fordern und sich als erfolgreicher erweisen als die demokratischen Reformer, wie sich beispielsweise in Veränderungen im Lektürekanon bzw. in der Auslegung klassischer Werke zeigt.26 Die nationalsozialistischen Erziehungsgrundsätze schließlich bedeuten eine vollständige Abkehr von jedweder Form von Bildung, in deren Zentrum letztlich das Individuum steht, wenngleich auf Systemebene das humanistische Gymnasium als Sonderform der höheren Schulen erhalten bleibt.27 Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgt die Wiedereröffnung des Gymnasiums, wie gesehen, unter Rückgriff auf das neuhumanistische Bildungsideal und damit verbunden auf die Inhalte von Antike, Christentum und deutscher Klassik, allerdings wird diese inhaltliche Ausrichtung bereits in den 1950er Jahren erneut in Frage gestellt.28 Forderungen nach der Integration von technischen und naturwissenschaftlichen Inhalten auch im humanistischen Gymnasium werden dabei noch grundsätzlich auf Basis eines neuhumanistischen Bildungsbegriff argumentiert.29 22 Vgl. Groppe (2001), S. 55, S. 60ff. 23 Vgl. Humboldt (1960d), S. 16. 24 Vgl. Groppe (2001), S. 61ff., Zitat S. 61. 25 Zu den Entwicklungen auf der Ebene der höheren Schulen in Weimarer Republik und NSZeit vgl. Teil II, Abschnitt 4. Bildungswege bis zur Hochschulreife. 26 Vgl. Gass-Bolm (2005), S. 55ff., S. 66ff. 27 Vgl. Schneider (2000); Gass-Bolm (2005), S. 75ff.; Herrlitz et al. (2009), S. 139ff., S. 147ff. 28 Vgl. Teil II, Abschnitt 4. Bildungswege bis zur Hochschulreife. 29 Vgl. Gass-Bolm (2005), S. 50f.

5. F ACETTEN EINES HISTORISCH AKKUMULIERTEN B ILDUNGSBEGRIFFS

| 257

In den 1960er Jahren ist dann allerdings eine klare Abkehr der höheren Schulen vom humanistischen Bildungsideal zu verzeichnen: Diese lässt sich nicht nur exemplarisch an den oben erwähnten Veränderungen der Zielsetzung und Inhalte des Deutschunterrichts nachvollziehen, sondern besteht auch in einem Rückgang des Latein- und insbesondere des Griechischunterrichts sowie dem Aufstieg neuer Gymnasialformen wie dem Wirtschaftsgymnasium.30 In den Lebensläufen der SDSler_innen entfaltet sich damit zwischen der Betonung eines ‚bürgerlichen‘ Bildungsideals und seiner Nicht-Erwähnung der semantische Gehalt des Bildungsbegriffs im deutschen Sprachraum, der sich aus seinen philosophischen Konzeptionen zu Beginn des 19. Jahrhunderts und seinen historischen wie zeitgenössischen Entwicklungen im Wechselspiel mit seinen institutionellen Implementierungen ergibt. Als Bedeutungsfacetten, in denen sich zeitgenössische Entwicklungen widerspiegeln, sind vor allem die Thematisierung von politischem Interesse und von politischem Engagement zu fassen. Wie bereits angemerkt, steigt Ende der 1960er Jahre vor dem Hintergrund der Entwicklungen in der BRD der „Politisierungsdruck“ auf Jugendliche.31 Fragen nach der Bedeutung von Demokratie und politischer Bildung halten in den 1950er Jahren in verstärktem Maße Einzug in die pädagogischen Debatten, wobei die Notwendigkeit einer Erziehung zu Demokratie auch von konservativen Vertretern betont wird, wenn auch dort im Rahmen eines formalen und elitären Demokratiebegriffs.32

30 Vgl. Gass-Bolm (2005), S. 211ff. Der Griechischunterricht und der Bezug auf die griechische Antike war allerdings schon im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts zugunsten von Latein und dessen Verknüpfung mit der christlichen Religion relativiert worden, beide Altsprachen gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der Ablösung des antiken Leitbildes durch die Betonung der deutschen Kultur nach Stundenumfang zugunsten des Deutschunterrichts reduziert worden; vgl. Gass-Bolm (2005), S. 27ff. 31 S. Zwischenfazit. 32 Zur Liberalisierung von konservativen Positionen nach dem Zweiten Weltkrieg am Beispiel der Pädagogik vgl. ausführlich Kurig (erscheint).

6. ‚Akademisches Selbst‘ als Spiegel pluralisierter Bildungskonzepte

Die Konstruktionen des ‚akademischen Selbst‘ in den Bildungsbiografien der SDSler_innen knüpfen in unterschiedlicher Weise – das zeigt die unterschiedliche Häufung und Kombination von entsprechenden Themen in den Selbstdarstellungen – an die im Zusammenhang von bildungspolitischen Diskussionen und institutionellen Entwicklungen herausgearbeiteten unterschiedlichen Bedeutungsfacetten des Bildungsbegriffs an. Auf der einen Seite stehen Selbstdarstellungen, die in hohem Maße Gebrauch machen von Themen, die mit der Entwicklung eines neuhumanistischen Bildungsbegriffs, seiner institutionellen Verankerung oder einer ‚bürgerlichen‘ Ausdeutung verknüpft sind, und die insofern im Anschluss an die bildungsbürgerliche Tradition des 19. Jahrhunderts als Konstruktionen eines ‚bürgerlichen‘ ‚akademischen Selbst‘ gefasst werden können; dies gilt in besonderem Maße für die Selbstdarstellungen in den außerordentlich langen und elaborierten Lebensläufen, die die gesamte Persönlichkeitsentwicklung umfassen. Auf der anderen Seite stehen Selbstdarstellungen, die derlei Elemente nicht aufgreifen und sich auf die Darstellung des formalen Ausbildungsweges reduzieren, und die sich insofern als Ausdruck einer ‚sachlich-pragmatischen‘ Bildungsauffassung interpretieren lassen. Zwischen diesen beiden Polen des Bildungsbegriffs entfalten sich, wie gesehen, in der Bundesrepublik die zeitgenössischen Bildungsdiskussionen. Entsprechend zeichnet sich dazwischen eine Vielzahl von Variationen dieser beiden idealtypischen Muster ab, ferner sind die Elemente eines sich aktuell herausbildenden demokratischen und explizit politischen Bildungskonzepts verteilt über die unterschiedlichen Formen der Selbstdarstellungen vorzufinden. Insofern ergibt sich zwar ein vielfältiges Muster von Bildungskonzepten, in dem sich jedoch zwei klar voneinander unterscheidbare ‚Bildungstypen‘, im Sinne klar abgrenzbarer größerer Gruppen aufzeigen lassen. In der Gruppe können, wie gesagt, ungefähr ein Drittel dem genannten ‚sachlich-pragmatischen‘ Deutungsmuster zugeordnet werden, davon die Hälfte in besonders starker Ausprägung, während sich rund ein Viertel ei-

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nem ‚bürgerlichen‘ Deutungsmuster zuordnen lassen. Dazwischen stehen mit rund 40% verschiedenste Variationen der beiden Typen. Allerdings lassen sich keine Verbindungen zwischen den beiden Bildungstypen und ihren Sozialdaten und Bildungsverläufen, die im Hauptteil dieser Arbeit erhoben wurden, aufzeigen. Nach eingehender Untersuchung der zehn längsten und themenreichsten Lebensläufe und der zehn kürzesten und informationsärmsten Lebensläufe ließen sich keinerlei Muster im Zusammenhang mit Alter oder Geschlecht, mit regionaler oder sozialer Herkunft, mit dem Bildungsverlauf – also etwa auch vorhergehenden Studienerfahrungen – oder mit dem gewählten Studienfach nachweisen. Dem Leitbild einer ‚bürgerlichen‘ Bildung kommt also innerhalb der SDSGruppe durchaus eine bedeutende Orientierungsfunktion zu; allerdings genießt dieses Leitbild weder eine Monopolstellung, noch stellen sich größere Anteile in der Gruppe eindeutig in dieses Leitbild ein. Stattdessen werden vielmehr einzelne Elemente dieses Leitbildes übernommen, z.T. mit Elementen eines eher demokratischen und politischen Bildungsbegriffs verknüpft. Ein großer Teil der Gruppe kann nur anhand seiner formalen Bildungsaspiration an diesem Leitbild orientiert interpretiert werden, sofern man denn das Anstreben höherer Bildung grundlegend als Kennzeichen von ‚Bürgerlichkeit‘ fassen will. Die Tatsache, dass sich hinsichtlich des Bildungsverständnisses innerhalb der Gruppe zwei verschiedene Muster und viele Zwischenformen abzeichnen, deutet daraufhin, dass Mitte der 1950er, spätestens aber in den 1960er Jahren, verschiedene Auffassungen von ‚Bildung‘ gleichberechtigt nebeneinander stehen. Wie gesehen, vollzieht sich gerade auf der Ebene der höheren Schulen auch eine Pluralisierung der Gymnasien, der pädagogische, politische und öffentliche Diskussionen über Bildungsinhalte und Funktion des Gymnasiums vorausgehen und die diese Pluralisierung weiterhin begleiten. Die Hypothese, dass die verschiedenen Bildungskonzepte zu jener Zeit gleichberechtigt nebeneinander stehen, wird vor allem durch die Tatsache gestützt, dass alle untersuchten SDSler_innen zum Studium an der Freien Universität Berlin zugelassen worden sind und die Orientierung an einem neuhumanistischen Bildungsideal also nicht ausschlaggebend gewesen sein kann. Insofern ist die ‚charakterliche‘ Eignung der Studierenden ggf. in anderen Qualitäten als einer ‚bürgerlichen‘ Bildung zu suchen. In die Tradition eines solchen ‚bürgerlichen‘ Bildungsverständnisses stellt sich die FU zwar, indem sie als Nachweis zur Befähigung zum Studium mehr als das Zeugnis der Allgemeinen Hochschulreife verlangt, dieses Ideal scheint allerdings ab Mitte der 1950er Jahre auch als Leitbild der Universität nicht mehr hegemonial zu sein. Insofern wiederholen sich hier z.T. die Kennzeichen, nach denen die untersuchte SDS-Gruppe als ‚bürgerlich‘ beschrieben werden kann, nämlich nach der Über-

6. ‚A KADEMISCHES S ELBST ‘ ALS S PIEGEL PLURALISIERTER B ILDUNGSKONZEPTE

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nahme von ‚bürgerlichen‘ Werten und Deutungsmustern.1 Dies trifft allerdings nur auf einen Teil der Gruppe zu, bei anderen lässt sich diese Übernahme nicht nachzeichnen, im Gegenteil bleibt der Anschluss an einen traditionellen ‚bürgerlichen‘ Bildungsbegriff z.T. auch bei Kindern aus akademischen Elternhäusern aus. Damit wiederholen sich hier aber insgesamt auch die von der Bürgertumsforschung für die Entstehung einer ‚bürgerlichen‘ Gesellschaft in der Bundesrepublik beschriebenen Tendenzen der ‚Diffusion‘ von ‚Bürgerlichkeit‘ auch in nicht-bürgerliche Schichten bei gleichzeitiger ‚Entbürgerlichung‘ des Bürgertums.2 Die Auffassung von ‚Bildung‘ erscheint hier parallel zu den zeitgenössischen Entwicklungen im Bildungsbereich zugleich tendenziell von einer Versachlichung gekennzeichnet zu sein. In diese Versachlichung mischt sich allerdings gleichzeitig die Verknüpfung mit Politik und Demokratie. Insofern lagern sich hier generationstypische Erfahrungen im jeweiligen Bildungskonzept ab, allerdings sind durch die Anknüpfung an historisch ältere Deutungsmuster wiederum Verbindungen zu vorhergehenden Generationen zu verzeichnen. In ähnlicher Weise sind in Anlehnung an die Bildungskonzepte daher auch die Universitätskonzepte unterschiedlich zu deuten: Die Universität wird hier also einerseits sehr traditionell als eine ‚bürgerliche‘ Institution gefasst, die mehr ist als eine bloße Ausbildungsstätte, andererseits wird die Universität zunehmend sachlich als Ort der Qualifikation gefasst. Daneben werden aber auch mit dieser Institution Ansprüche an politische Bildung und Demokratie verbunden. Auch wenn letzten Endes hier keine Aussagen dazu gemacht werden können, inwiefern konkrete Enttäuschungen von Universitätsbildern eine Rolle gespielt haben für das Engagement im SDS als politischer Hochschulgruppe und in der Studentenbewegung, erscheint es jedoch vor dem Hintergrund der Bildungs- und Universitätskonzepte zumindest nicht allzu überraschend, dass diese Institution zu einem maßgeblichen Ziel der studentischen Proteste geworden ist.3 Dies gilt nicht nur hinsichtlich der Angriffe auf die Verfasstheit der Ordinarienuniversität, die trotz der besonderen Rechte, die das ‚Berliner Modell‘ den Studierenden an der Freien Universität den Studierenden einräumte, in wesentlichen Zügen auch dort vorzufinden ist. So räumte die Universitätssatzung als Konzession an die besonderen Umstände der Gründung der FU Berlin den Studierenden zwar neben dem Recht auf studentische Selbstverwaltung auch die Vertretung in den meisten Gremien der universitä1

Vgl. Teil II, Abschnitt 3.4 ‚Entbürgerlichung‘ von Studierendenschaft und ‚Verbürgerlichung‘ der Gesellschaft.

2 3

Vgl. Teil I, Abschnitt 4. Theoretischer Rahmen und Analyseperspektiven. Vgl. Teil I, Abschnitt 1. Thema der Arbeit; Teil II, Abschnitt 5.5 Universität im Wandel als Ort der Studentenbewegung

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ren Selbstverwaltung mit vollem Stimmrecht ein; ansonsten blieben diese Gremien in ihrer Stimmengewichtung Ordinarien dominiert, so dass sich diese Repräsentation kaum mehr als symbolisch ausnimmt.4 Entsprechend richtete sich auch hier in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre Protest gegen die institutionellen Strukturen der Universität und wurde ‚universitäre Mitbestimmung‘ zu einem Schlagwort auch an der FU.5 Insgesamt aber konstruierten die Studienanwärter_innen die Universität nicht durchweg als Ort einer emphatischen ‚Bildung durch Wissenschaft‘. Gleichermaßen verstanden sie sie pragmatisch als Ort der Ausbildung für einen akademischen Beruf. Ihre Selbstbeschreibungen oszillierten entsprechend zwischen emphatischer Bildungsbiografik und sachlich-pragmatischer Ausbildungsbeschreibung. Die Universität besaß zugleich für alle eine klare biografische Rolle. Sie war das Scharnier höherer Bildung, im emphatischen wie im pragmatischen Sinn, und damit in ihrer Funktion unersetzbar. Die zunehmende Problematik beider Funktionen höherer Bildung – Persönlichkeitsentwicklung und Qualifikation – durch eine bis dahin ungekannte Überfüllungssituation könnte, so meine abschließende These, zur Protestbereitschaft der späteren SDSler_innen beigetragen haben. Gerade aus den massiv steigenden Studierendenzahlen, den sich damit verschlechternden Studienbedingungen, den sich verlängernden Studienzeiten und zunehmenden Studienabbrüchen wurde auch der Handlungsbedarf zu Hochschulreformen der späten 1960er Jahre abgeleitet. Diese Studiensituation traf ebenfalls auf die FU zu. 6 Meine Überlegung wird erweitert durch das Ergebnis, dass die Universität auch als Ort vertiefter politischer Bildung und Selbstentwicklung indirekt zum Thema gemacht wird; dies wird sichtbar aus der vielfachen Nennung persönlichen politischen Engagements innerhalb und außerhalb der Schule. Die Studienanwärter_innen beziehen sich in den Konstruktionen ihres ‚akademischen Selbst‘ auch auf diese Erwartung, die sie als Teil der Erwartung der Universität an ihre zukünftigen Studierenden begreifen. Die Universität als Ort demokratischer Teilhabe und politisch mündiger Studierender tritt – angesichts des Schreibkontextes sicherlich eher harmonisch und nicht konflikthaft konzipiert – in den Lebensläufen als Erwartungshaltung hervor. Es kann in dieser Untersuchung nicht geklärt werden, ob diese Antizipation der Universität als Ort auch politischer Teilhabe bzw. politisch mündiger Studierender für die Studentenproteste von zentraler Bedeutung war – immerhin aber thematisieren etwa ein Drittel der Bewerber_innen explizit politisches Interesse und politische Sachverhalte. Politik ist also ein Thema – und es wird in den Zusammenhang mit der Bewerbung an der Universität gestellt. 4

Vgl. Tent (1988), S. 183.

5

Vgl. Tent (1988), S. 341-344.

6

Vgl. Teil II, Abschnitt 5. Bildungswege nach Erwerb der Hochschulreife.

6. ‚A KADEMISCHES S ELBST ‘ ALS S PIEGEL PLURALISIERTER B ILDUNGSKONZEPTE

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Insofern reflektieren die Lebensläufe verschiedene Erwartungshaltungen an die Universität: Die Erwartungen der Studierenden, einen ‚funktionsfähigen‘ Ort der Persönlichkeitsentwicklung oder der beruflichen Qualifikation vorzufinden sowie bei einem Teil der Bewerber_innen die Erwartung, dass die Universität politisches Engagement honoriere. Diese Erwartungshaltungen konnten in der Entwicklung der Universität mit ihren steigenden Studierendenzahlen und in ihrer strukturellen Verfasstheit nur eine geringe Entsprechung finden.

Fazit

Die Sozialisationsbedingungen exemplarisch für eine als zentral geltende Gruppe von Akteur_innen in der Studentenbewegung und ‚1968‘ zu untersuchen, hatte sich die vorliegende Arbeit zum Ziel gesetzt. Als solche konnten zunächst die lebensweltlichen Entwicklungen in Deutschland in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur in der Zeit zwischen den frühen 1930er und den späten 1960er Jahren herausgearbeitet werden. Des Weiteren konnte die Sozialisation in Städten, vornehmlich in Großstädten, nachgewiesen werden sowie in akademischen, mehr noch aber nicht-akademischen Mittelschichtsfamilien, die insgesamt dem Leitbild der ‚bürgerlichen‘ Kleinfamilie folgen. Mit Blick auf die Bildungswege konnten unterschiedliche Bildungsverläufe auf dem Weg zum Erwerb der Hochschulreife nachgezeichnet werden; die Hochschulreife wurde allerdings fast ausschließlich auf einer höheren Schule des sich allmählich wandelnden Schulsystems in der Bundesrepublik erworben wurde. Die Bildungswege nach dem Abitur führten früher oder später an die Freie Universität Berlin, an der die typische zeitgenössische, von Überfüllung gekennzeichnete Studiensituation vorzufinden war. Unter der Perspektive von ‚Bürgertum‘ und ‚Bürgerlichkeit‘ konnten typische Tendenzen in Studierendenschaft und Gesellschaft von sozialer ‚Entbürgerlichung‘ und kultureller ‚Verbürgerlichung‘ auch für die untersuchte Gruppe nachgewiesen werden. Unter dem Aspekt der Bildung sind in der SDS-Gruppe die sich aus der politischen Umbruchsituation ergebenden generationstypischen Erfahrungen zu verzeichnen; allerdings stehen diesen kurzfristigen Einschnitten langfristige Kontinuitäten im Bildungssystem gegenüber, die generationsübergreifende Bedeutung haben. In ähnlicher Weise kann die Erfahrung der lebensweltlichen Entwicklungen, also der Entwicklungen in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, gegenüber älteren Generationen keineswegs grundsätzlich anders gefasst werden, sondern zunächst einmal nur als zeitlich versetzt, d.h. dieselben Erfahrungen werden in verschiedenen Lebensabschnitten gemacht. Über generational unterschiedliche Verarbeitung und Deutungen von Erlebnissen ist damit noch nichts gesagt. Gleiches gilt

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für Verarbeitung und Deutung von gleichen oder ähnlichen Erfahrungen innerhalb einer Alterskohorte. Wie gesehen, entsprechen die Sozialisationsbedingungen der SDSler_innen grundsätzlich denjenigen der ‚Generation der Kriegskinder‘, unterscheiden sich die SDSler_innen nach Herkunft und formaler Bildung nicht von anderen Studierenden in jener Zeit. Insofern stellen lebensweltliche Sozialisationsbedingungen keine hinreichende Erklärung für politisches Engagement oder gar ein ‚rebellisches Potenzial‘ dar, auch nicht die gleichzeitige Zugehörigkeit zu einer Bildungselite. In dieser Perspektive verschwimmen aber auch die generationsstiftenden Erfahrungen einer ‚68er Generation‘, welche eben weniger in ihren Sozialisationsbedingungen in Kindheit und Jugend zu suchen sind, die sie mit zahlreichen studentischen und nicht-studentischen Altersgenoss_innen teilt, sowie, wenn auch in jeweils anderen Lebensabschnitten, mit der älteren Generation. Was somit als generationsstiftendes Ereignis einer ‚68er Generation‘ bleibt, ist vornehmlich die Teilnahme an den studentischen Protesten in den späten 1960er Jahren. Im Zusammenhang mit bürgerlichen Kontinuitäten nach 1945 hat sich Wolfgang Kraushaar mit der Frage befasst, inwiefern „1968 als erneuerte bürgerliche Utopie“1 verstanden werden könne. In der Auseinandersetzung mit diesem „paradox anmutende[n] Thema“ betont er zunächst „das destruktiv antibürgerliche Potential erheblicher Teile der damaligen Bewegung“.2 Zwar verweist Kraushaar unter Bezug auf die Analysen zum Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) auf die unterschiedlichen Strömungen innerhalb der aus Studierenden, Schüler_innen und Jungarbeiter_innen zusammengesetzten ‚68er Bewegung‘ in der zwischen „Gradualisten“ und „Maximalisten“ und unter letzteren zwischen „Traditionalisten“ und „Antiautoritären“ zu unterscheiden sei: Die Unterschiede zwischen diesen Strömungen seien am deutlichsten an der Haltung zur parlamentarischen Demokratie und in der Frage nach dem Selbstverständnis der Bewegung, als außer- oder antiparlamentarisch, hervorgetreten. Die reformorientierten ‚Gradualisten‘ hätten sich dabei auch durch Beitritt zur SPD und FDP grundsätzlich affirmativ gegenüber einer parlamentarischen Demokratie gezeigt, deren Defizite es lediglich zu beheben gelte, um ihre Ansprüche einlösen zu können, während die ‚Maximalisten‘ jede Beteiligung am parlamentarischen System abgelehnt hätten.3 Nachfolgend konzentrieren sich seine Darstellungen der ‚68er Bewegung‘ jedoch vor allem auf die „Angriffe der Maximalisten auf die bürgerliche Gesellschaft“, die gerade in der Zeit nach dem 1968

1

Kraushaar (2005).

2

Kraushaar (2005), S. 375.

3

Vgl. Kraushaar (2005), S. 379f.

F AZIT

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gescheiterten gemeinsamen Protest gegen die Notstandsgesetzgebung zu Tage getreten seien.4 So sehr die Darstellungen Kraushaars das expressiv vorgetragene Misstrauen dieser Teile der Studentenbewegung gegenüber der Nachkriegsdemokratie veranschaulichen, können gleichwohl diese Teile nicht als repräsentativ für die Bewegung angesehen werden. Das wird aus Kraushaars Differenzierung der Bewegung ebenso deutlich wie bereits in anderen Analysen der Studentenbewegung und des SDS.5 Im Gegenteil wird hier, mit der Fokussierung auf die Bestrebungen zur Überwindung von Klassengesellschaft und Staat als Voraussetzung von Demokratie, die im Grundsatz geteilte Fragestellung übersehen, nämlich danach, wie Demokratie auszugestalten sei. Der Dissens geht, wie gesehen, weit über SDS und Studentenbewegung oder ‚68er Bewegung‘ hinaus: Die Frage nach der ‚Demokratie‘ ist ein zentrales Thema öffentlicher und politischer Diskurse in jener Zeit. Dort stellt sich nicht mehr die Frage nach dem ‚ob‘, sondern nach dem ‚wie‘. Dem konservativen und elitären Demokratiebegriff aus der Zeit der Gründung der Bundesrepublik wird dabei immer deutlicher ein Demokratiebegriff entgegengehalten, der sich auf alle Teile der Gesellschaft bezieht – mehrheitlich innerhalb eines parlamentarischen Systems.6 Den ‚Maximalisten‘ in der Studentenbewegung – die ‚Traditionalisten‘ und die ‚Antiautoritären‘ – erscheint diese Form der partizipatorischen Demokratie jedoch nicht weitgehend genug und daher illusorisch; Demokratie sei nur im Sozialismus realisierbar – über die Gründung einer kommunistischen Partei oder als Rätedemokratie.7 Die Auseinandersetzungen über die zugrunde zu legende Demokratieauffassung bestimmt dabei bereits auch sehr zeitig die Diskussionen über die ‚Demokratisierung‘ des Schulsystems. Diese setzen bereits mit seinem Wiederaufbau ein. Ein Einheitsschulsystem, wie es zunächst von Besatzungsmächten der Alliierten zur ‚Demokratisierung‘ der deutschen Gesellschaft vorgesehen worden ist, wird allerdings nur in der SBZ/DDR durchgesetzt, dort allerdings unter den Vorauszeichen eines Sozialismus stalinistischer Prägung. In der Bundesrepublik hingegen wird das dreigliedrige Schulsystem fortgesetzt; in diesem vollziehen sich allerdings parallel zu den ‚Modernisierungstendenzen‘ in anderen Bereichen der Bundesrepublik, in der Politik, der Wirtschaft, der Gesellschaft, sukzessive Anpassungen an das nach 1945 allein schon durch die Präsenz der westlichen Alliierten nicht mehr in Frage zu stellende demokratische Prinzip. Diese Anpassungen beziehen sich auf Zielsetzung, Organisation und Inhalte von schulischer Bildung, gerade auf der Ebene der 4

Kraushaar (2005), S. 382.

5

Vgl. Teil I, Abschnitt 3. Das zu untersuchende Kollektiv: Der SDS.

6

Vgl. Zwischenfazit

7

Vgl. Kraushaar (2005).

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höheren Schulen.8 In den 1960er Jahren setzen sich diese Anpassungen weiterhin parallel zu den Liberalisierungs-, Pluralisierungs- und Demokratisierungstendenzen in der Lebenswelt, in die das Schulsystem eingestellt ist, fort, bis sich am Ende des Jahrzehnts auch dort mit der Schülerbewegung Protest gegen undemokratische Restbestände formiert. Dass die Reformforderungen der ‚Gradualisten‘ unter den protestierenden Schüler_innen auf relativ große Akzeptanz stießen, ist auf die bereits fortgeschrittenen Liberalisierungstendenzen im Bildungsbereich zurückgeführt worden. Stellt man nun die Frage danach, wie Demokratie Ende der 1960er zu einem weithin geteilten, wenn auch durchaus kontrovers diskutierten Thema werden konnte, also mit Pierre Bourdieu gesprochen zum ‚Konsens im Dissens‘9, wird man nicht umhinkommen, für die Antwort auch das Schulsystem in den Blick zu nehmen, wie es Bourdieus Ausführungen zu den grundlegenden ‚Wort- und Denkfiguren‘ ohnehin nahe gelegt hätten. Denn das sich im Zusammenspiel mit Gesamtgesellschaft und politischer Kultur allmählich wandelnde Schulsystem stellt einen zentralen Sozialisationskontext der hier untersuchten Gruppe dar, wenn auch für die einzelnen Mitglieder z.T. zeitlich leicht versetzt. In der vorangegangenen Untersuchung lässt sich anhand einer begrenzten Gruppe konkret nachvollziehen, wie auch und gerade das Bildungssystem einen Nährboden bietet für Forderungen nach Demokratisierung, die schließlich an das Bildungssystems, vornehmlich an die Universität, re-adressiert werden. Diese Grundlagen dürfen selbstverständlich nicht nur im Bildungs-, respektive im Schulsystem gesucht werden, sondern sind letztlich potenziell in allen Sozialisationskontexten zu suchen und tatsächlich durchziehen die genannten Liberalisierungs- und Demokratisierungstendenzen die Gesellschaft sehr weitreichend. Die variierenden Ausdeutungen von Demokratie innerhalb des SDS wie auch in der Gesellschaft insgesamt können einerseits auf den variierenden Einfluss verschiedener Sozialisationskontexte zurückgeführt werden. In diesem Zusammenhang sind auch innerhalb des Schulsystems Unterschiede auf der Ebene der konkreten Ausgestaltung einzelner Schulen zu berücksichtigen. Andererseits bleibt zu berücksichtigen, dass gleiche Sozialisationserfahrungen durchaus unterschiedlich verarbeitet werden können. Auf beides, die Verschiedenartigkeit der Einflüsse wie der Verarbeitung, verweisen letztlich auch die unterschiedlichen Bildungs- und Universitätskonzepte, die den Konstruktionen eines ‚akademische Selbst‘ zugrunde liegen.10

8 9

Vgl. Teil II, Abschnitt 4.3 Abiturzeugnis verleihende Schule Vgl. Bourdieu (2001). Dazu ausführlich vgl. Teil II, Abschnitt 3.4 ‚Entbürgerlichung‘ der Studierendenschaft und ‚Verbürgerlichung‘ der Gesellschaft.

10 Vgl. Teil III, Konstruktionen eines ‚akademischen Selbst‘.

F AZIT

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Dennoch verweist das Streitthema der Umsetzung und Ausgestaltung von Demokratie auf ein Mindestmaß an common sense und damit an geteilter Sozialisation; diese kann in keinem anderen Kontext als so umfassend gesehen werden wie im Schulsystem und insbesondere in der höheren Schule, die alle SDSler_innen durchlaufen. Ein Mindestmaß an geteilter Sozialisation stellt entsprechend auch eine Voraussetzung dafür dar bzw. bietet eine Erklärung dafür, dass das Problem der Demokratie und ihrer Ausgestaltung auch intergenerational anerkannt wird. Entsprechend eines Sozialisationsbegriffs, der Sozialisation als lebenslang begreift, sind hier die NS-Zeit und der Zweite Weltkrieg sowie die Erfahrung von Wohlstand in der Bundesrepublik auch für vorangehende Generationen als einflussreiche Sozialisationserfahrungen zu fassen. Ferner ist zu berücksichtigen, dass auch die älteren Generationen bereits jenes Bildungssystem durchlaufen haben, das – bis heute – eher langsamen Entwicklungen bei langfristigen Kontinuitäten als kurzfristigen Wechseln unterliegt und in dessen Kern seit Beginn des 19. Jahrhunderts zumindest ideell die Emanzipation des Individuums verankert ist. Vor diesem Hintergrund sind unterschiedliche Demokratievorstellungen nicht primär als generationelle Gegensätze zu sehen. Dies unterstreichen zudem die unterschiedlichen Auffassungen innerhalb des SDS wie in der Studentenbewegung. In dem Maße, in dem die Ergebnisse zu der hier untersuchten Gruppe auch auf andere Teile des SDS und der Studentenbewegung zutreffen, wird also im Schulsystem ein wesentlicher Faktor für die studentische Protestbewegung zu sehen sein. Vor diesem Hintergrund war die Universität keine aktiv protestfördernde oder initiierende Institution, sondern sozusagen die ‚letzte Bastion‘. Die erhöhten Möglichkeiten zur politischen Organisation, die die Universität den Studierenden strukturell bot, konnten vor dem Hintergrund vorgängiger Sozialisationserfahrungen genutzt werden und wurden öffentlichkeitswirksam ins Spiel gebracht.

Quellen- und Literaturverzeichnis

U NGEDRUCKTE Q UELLEN Universitätsarchiv Freie Universität Berlin (UAFUB) Archiv „APO und soziale Bewegungen“ an der Freien Universität Berlin: Ordner „Aufnahmen 1967 SDS-Bln.“ (Mitgliederliste des SDS und Mitgliedanträge zum SDS aus dem Jahr 1967). Zentrale Universitätsverwaltung: Immatrikulationsakten (181 Akten aus den Jahren 1955 bis 1970). Enthalten: Formular „Angaben zur Person“, Zulassungsbescheid, ausführlicher Lebenslauf, Anträge zum Fach- und Fakultätswechsel, Exmatrikulationsantrag. (Lebenslaufkennung durch die Verfasserin)

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Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.) Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 (3., überarbeitete und erweiterte Auflage) November 2014, 398 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2366-6

Alexa Geisthövel, Bodo Mrozek (Hg.) Popgeschichte Band 1: Konzepte und Methoden November 2014, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2528-8

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Histoire Sophie Gerber Küche, Kühlschrank, Kilowatt Zur Geschichte des privaten Energiekonsums in Deutschland, 1945-1990 Dezember 2014, ca. 340 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2867-8

Sebastian Klinge 1989 und wir Geschichtspolitik und Erinnerungskultur nach dem Mauerfall Dezember 2014, ca. 430 Seiten, kart., z.T. farb. Abb., ca. 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2741-1

Detlev Mares, Dieter Schott (Hg.) Das Jahr 1913 Aufbrüche und Krisenwahrnehmungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs September 2014, 288 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2787-9

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Histoire Katharina Gerund, Heike Paul (Hg.) Die amerikanische Reeducation-Politik nach 1945 Interdisziplinäre Perspektiven auf »America’s Germany« Oktober 2014, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2632-2

Markus Hedrich Medizinische Gewalt Elektrotherapie, elektrischer Stuhl und psychiatrische »Elektroschocktherapie« in den USA, 1890-1950 September 2014, 346 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2802-9

Ulrike Kändler Entdeckung des Urbanen Die Sozialforschungsstelle Dortmund und die soziologische Stadtforschung in Deutschland, 1930 bis 1960 Februar 2015, ca. 420 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2676-6

Sibylle Klemm Eine Amerikanerin in Ostberlin Edith Anderson und der andere deutschamerikanische Kulturaustausch Dezember 2014, ca. 440 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2677-3

Felix Krämer Moral Leaders Medien, Gender und Glaube in den USA der 1970er und 1980er Jahre November 2014, ca. 430 Seiten, kart., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2645-2

Nora Kreuzenbeck Hoffnung auf Freiheit Über die Migration von African Americans nach Haiti, 1850-1865 Februar 2014, 322 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2435-9

Wolfgang Kruse (Hg.) Andere Modernen Beiträge zu einer Historisierung des Moderne-Begriffs Januar 2015, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2626-1

Livia Loosen Deutsche Frauen in den Südsee-Kolonien des Kaiserreichs Alltag und Beziehungen zur indigenen Bevölkerung, 1884-1919 Oktober 2014, ca. 650 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 48,99 €, ISBN 978-3-8376-2836-4

Bodo Mrozek, Alexa Geisthövel, Jürgen Danyel (Hg.) Popgeschichte Band 2: Zeithistorische Fallstudien 1958-1988 November 2014, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2529-5

Claudia Müller, Patrick Ostermann, Karl-Siegbert Rehberg (Hg.) Die Shoah in Geschichte und Erinnerung Perspektiven medialer Vermittlung in Italien und Deutschland Dezember 2014, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2794-7

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