Beziehung und Bruch in der Poetik Gertrud Kolmars: Verborgene Deutsch-Jüdische Diskurse Im Gedicht [Annotated] 3110297221, 9783110297225

Ausgehend von Gertrud Kolmars (1894‑1943) komplexem Verhältnis zu ihrer deutsch-jüdischen Herkunft befasst sich die Stud

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Beziehung und Bruch in der Poetik Gertrud Kolmars: Verborgene Deutsch-Jüdische Diskurse Im Gedicht [Annotated]
 3110297221, 9783110297225

Table of contents :
Teil I: Die Dichterin
1 Eine deutsch-jüdische Dichterin
1.1 Im Blickfang
1.2 Lektüren und Entfaltungen. Einige Anmerkungen zur Forschung
1.3 Deutsch-jüdisch. Zwischen Differenz und Nicht-Differenz
1.4 Die Andere: Fremdzuschreibungen und Selbstzuschreibungen
2 Blickpunkt Sommer 1937
2.1 Familienbild
2.2 In einem >Bereich des Mythos

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Conditio Judaica 84 Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte

Herausgegeben von Hans Otto Horch in Verbindung mit Alfred Bodenheimer, Mark H. Gelber und Jakob Hessing

Friederike Heimann

Beziehung und Bruch in der Poetik Gertrud Kolmars Verborgene deutsch-jüdische Diskurse im Gedicht

De Gruyter

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Ursula Lachnit-Fixon Stiftung, Berlin

ISBN 978-3-11-029722-5 e-ISBN 978-3-11-029791-1 ISSN 0941-5866 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. %LEOLRJUD¿VFKH,QIRUPDWLRQGHU'HXWVFKHQ1DWLRQDOELEOLRWKHN Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen NationalELEOLRJUD¿HGHWDLOOLHUWHELEOLRJUD¿VFKH'DWHQVLQGLP,QWHUQHWEHUKWWSGQEGQEGH abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ’*HGUXFNWDXIVlXUHIUHLHP3DSLHU Printed in Germany www.degruyter.com

Für Rafael und Naomi

Geht man also, wenn man an Gedichte denkt, geht man mit Gedichten solche Wege? Sind diese Wege nur Um-wege, Umwege von dir zu dir? Aber es sind ja zugleich auch, unter wie vielen anderen Wegen, Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird, es sind Begegnungen, Wege einer Stimme zu einem wahrnehmenden Du. (Paul Celan)

Inhalt

Teil I: Die Dichterin 1 Eine deutsch-jüdische Dichterin ............................................................ 1.1 Im Blickfang .................................................................................. 1.2 Lektüren und Entfaltungen. Einige Anmerkungen zur Forschung ... 1.3 Deutsch-jüdisch. Zwischen Differenz und Nicht-Differenz .......... 1.4 Die Andere: Fremdzuschreibungen und Selbstzuschreibungen .....

3 3 10 31 41

2 Blickpunkt Sommer 1937 ...................................................................... 2.1 Familienbild ................................................................................... 2.2 In einem ›Bereich des Mythos‹: Der Mann K. J. ........................... 2.3 So fern den Andern ... Im Jüdischen Kulturbund ...........................

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Teil II: Das Gedicht 3 Flaschenpost: Ein Gedicht hält auf uns zu ............................................

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4 In der Spur des Anderen: Das Gedicht »Garten im Sommer« ............... 4.1 Die erste Strophe: Tanz und Traum ............................................... 4.1.1 EXKURS: Schriftspuren. Ein uraltes Lied ......................... 4.2 Die zweite Strophe: Mortifikationen ............................................. 4.3 Die dritte Strophe: Welt versunken ............................................... 4.4 Die vierte Strophe: Tauchen zum Grund ....................................... 4.4.1 EXKURS: Schriftspuren. Ein Vatertext ............................. 4.4.2 Von oben ein Göttliches. Fabel oder Mythos? ...................

93 100 116 128 137 152 164 172

5 Epilog: Schwanengesang einer Dichterin .............................................. 189 6 Ausblick: Spur eines Sagens ................................................................. 195 7 Danksagung ........................................................................................... 201 8 Literaturverzeichnis ............................................................................... 203 9 Personenregister .................................................................................... 217

Teil I Die Dichterin

1

Eine deutsch-jüdische Dichterin

1.1

Im Blickfang

Als ich vor einiger Zeit begann, mich mit dem Werk Gertrud Kolmars näher zu befassen, war mir wenig bewusst, auf was ich mich da eigentlich einließ: einige große Gedichtzyklen, drei wenig bekannte Dramen, drei Erzählungen, von denen die letzte verschollen geblieben ist sowie ein Konvolut Briefe an die Schwester im Schweizer Exil.1 Ein vom Umfang her eher schmales, von seiner Tiefgründigkeit und Vielschichtigkeit her hingegen äußerst komplexes und aufgrund dessen eher schwer zugängliches Werk. Ich war zunächst einfach fasziniert von diesen Texten, den ungewöhnlichen Handlungskonstellationen der Prosa, die oftmals sehr ins Lyrische übergehen, der Dichte der Bildwelten vor allem im lyrischen Werk, die immer wieder hohe Anforderungen ans Lesen stellten, manchmal ermüdeten, meist aber fesselten und zuweilen tief ergriffen. Sehr schnell war ich vereinnahmt von der Schönheit und Rätselhaftigkeit dieser Dichtung, die oft so eingängig schien und sich doch sehr schnell wieder einem näheren Verstehen entzog. Und wie das mit Rätseln so geht, entweder lässt man sie achselzuckend auf sich beruhen, oder aber man unternimmt es, ihren tieferen Sinn zu ergründen. Ich entschied mich für Letzteres, wobei ich schließlich in den Bannkreis einer Aufgabe geriet, die mich dann für lange Zeit nicht mehr loslassen sollte. Dabei stand ich ja keineswegs allein damit. Obwohl Gertrud Kolmar als Dichterin immer noch eher marginal wahrgenommen wird, hat sich in den letzten zwanzig Jahren doch eine zunehmend differenzierte Auseinandersetzung mit ihr entwickelt. Es gibt einige Überblicke über Werk und Leben, eine Vielzahl an Aufsätzen oder essayistischen Abhandlungen, sowie auch einige umfangreiche Einzeluntersuchungen, die unterschiedliche Aspekte ihrer Dichtungen detailliert herausgearbeitet haben.2 Auch haben einige Schriftstellerin1

2

Gertrud Kolmar: Das lyrische Werk. Hg. von Regina Nörtemann. Göttingen: Wallstein 2003. – Die Dramen. Hg. von Regina Nörtemann. Göttingen: Wallstein 2005. – Die jüdische Mutter. Erzählung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. – Susanna. Erzählung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995. – Briefe. Hg. von Johanna Woltmann. Göttingen: Wallstein 1997. Über die Fertigstellung einer weiteren Erzählung, die verschollen blieb, gibt darin der Brief vom 13.4.1942 Auskunft. Inzwischen liegen diverse Versuche vor, Leben und Werk Gertrud Kolmars im biografischen Zusammenhang darzustellen. Siehe u. a.: Beatrice Eichmann-Leuten-

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1 Eine deutsch-jüdische Dichterin

nen und Schriftsteller Teile von Kolmars Vita literarisch verarbeitet, und vor nicht allzu langer Zeit schließlich ist dann eine zweite, voluminöse KolmarBiografie erschienen.3 Immer häufiger traf ich auf das markante Porträtfoto der Dichterin, das diese im Alter von vierunddreißig Jahren zeigt und das uns aus fast allen Publikationen von und über Gertrud Kolmar entgegensieht, ja, dem wir begegnen, wo immer wir mit dieser Dichterin zu tun bekommen. Ein Foto, welches das Bild, das wir uns von ihr machen, zweifellos entscheidend mitgeprägt hat. Manchmal ist es nur als kleines Konterfei abgebildet, dann wieder ziert es – stark vergrößert – den gesamten Einband, wie beispielsweise bei der jüngsten Ausgabe des lyrischen Werks.4 Als eine der wenigen überhaupt erhalten gebliebenen Fotografien markiert diese Aufnahme, die nach Kolmars einziger Frankreichreise im Jahre 1928 gemacht worden ist, zugleich den Eintritt in ihre zweite große Schaffensphase als Dichterin.5 Sie habe »das Gesicht eines alttestamentarischen Engels«, soll der Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre das Porträt einmal kommentiert haben.

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4 5

egger: Gertrud Kolmar. Leben und Werk in Texten und Bildern. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. Monika Shafi: Gertrud Kolmar. Eine Einführung in das Werk. München: Iudicium 1995. Johanna Woltmann: Gertrud Kolmar – Leben und Werk. Göttingen: Wallstein 1995. Einen wichtigen Überblick gibt ebenfalls die von Johanna Woltmann editierte Dokumentation im Marbacher Magazin Nr 63. Vgl. Gertrud Kolmar 1894–1943. Marbacher Magazin 63. Bearbeitung: Johanna Woltmann. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 1993. Zudem sei als relevante autobiografische Quelle genannt: Gertrud Kolmar. Briefe (wie Anm. 1). Dabei gilt anzumerken, dass das Bild der einsamen, weltabgewandten Dichterin wesentlich durch diese ersten biografischen Untersuchungen mitgeprägt worden ist. Hier setzt sich in neuerer Zeit nun eine kritische Infragestellung und andere Gewichtung der Daten des Lebens von Gertrud Kolmar durch. Vgl. beispielsweise: Regina Nörtemann: Bild der Dichterin. Nachwort zu Gertrud Kolmar. In: Das lyrische Werk (wie Anm. 1), S. 325–332. Zur ausführlichen Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur vgl. Kapitel 1.2 dieser Arbeit. Vgl. dazu z. B.: Gerlind Reinshagen: Die Frau und die Stadt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007. Dieter Kühn: Gertrud Kolmar. Leben und Werk, Zeit und Tod. Frankfurt am Main: Fischer 2008. Gertrud Kolmar: Das lyrische Werk (wie Anm. 1). Ich werde mich beim Zitieren aus dieser Ausgabe künftig darauf als ›LW‹ beziehen. Vgl. dazu die Ausführungen von Marion Brandt: »Bis in den Anfang der zwanziger Jahre hinein schrieb Gertrud Kolmar ihre frühen Gedichtzyklen, danach mehrere Jahre lang nichts. Zu neuer Produktivität fand sie erst mit ihrer Frankreichreise im Jahr 1927. [...] Mit den Gedichten, die sie nach dieser Reise schrieb [...] begann sie den wichtigsten Teil ihres lyrischen Werkes [...].« Marion Brandt: Hohe Kerze der Richtenden. Gertrud Kolmars Frankreichreise und der Neubeginn ihres literarischen Schaffens im Jahr 1927. In: Lyrische Bildnisse. Beiträge zu Dichtung und Biographie von Gertrud Kolmar. Hg. von Chryssoula Kambas. Bielefeld: Aisthesis 1998, S. 15.

1.1 Im Blickfang

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Mit Sicherheit ist es ein Bild, das beeindruckt und Anlass zu vielerlei Vorstellungen gibt.6 Ein Bildnis, das in den Bann zieht. Ein schönes, leidenschaftliches Gesicht, das mit seinem konzentrierten Blick anspricht und fesselt. Die großen, ernsten Augen einer jungen Frau, die noch immer von gesammelter Energie beseelt scheinen, sodass wir fast zu fühlen meinen, dass das im Bild fixierte Angesicht zu atmender Lebendigkeit erwacht und uns in seinen Blicken gegenübertritt. Ein Antlitz, das aufmerken lässt und den Wunsch nach Kenntnisnahme und Begegnung weckt. Doch begegnen ihre Augen nicht wirklich den unsrigen. Sie gehen an ihnen vorüber in eine Ferne, die unzugänglich und allen Versuchen einer Annäherung endgültig verschlossen bleibt. Sollen wilde Spekulationen oder reine Projektionen vermieden werden, gilt es, um die Vergeblichkeit des Wunsches zu wissen, hier noch Öffnung, ja Teil-Habe sowie Mit-Teilung erfahren zu können. Das Bild bleibt Bild. Von hier kann keine Antwort mehr zuteil werden. Und doch wollen wir versuchen in der Spur zu bleiben, was zunächst einmal meint, sich den Daten der Dichterin anzunähern. Da sind als erstes die Daten von Geburt und Tod. Gertrud Kolmar, die mit bürgerlichem Namen Gertrud Käthe Chodziesner hieß, wurde als erstes von vier Kindern des jüdischen Rechtsanwalts Ludwig Chodziesner und seiner Frau Elise, gebürtige Schoenflies, am 10. Dezember 1894 in Berlin geboren. Im März 1943, wahrscheinlich am 5. oder 7. des Monats, wurde sie in Auschwitz ermordet oder starb bereits auf dem Transport dorthin.7 Man kommt an Auschwitz nicht vorbei, wenn man sich Gertrud Kolmar zuwendet. Es ist nicht möglich, Kolmar ohne diesen Zusammenhang zu denken. Auch dann nicht, wenn es um Gedichte geht, die zu einem Zeitpunkt entstanden sind, als die Dichterin noch nichts von den Vernichtungslagern wissen konnte. Auschwitz stand schon am Horizont und kündigte sich ab 1933 bereits auf vielfache Weise an. Für uns heute aber, die wir wissen, wie Kolmars Leben geendet hat, kann ihr Werk nicht wahrgenommen werden ohne diesen – um es mit Celan zu sagen – »Neigungswinkel« ihres Schicksals, eines jüdischen Schicksals im Deutschland des 20. Jahrhunderts.8 6

7 8

Vgl. Eichmann-Leutenegger, Gertrud Kolmar (wie Anm. 2), S. 112. Bedauerlicherweise führt das Foto immer wieder auch zu eher willkürlichen Projektionen. So ist es beispielsweise ziemlich fraglich, warum diesem Porträt gerade das Gedicht »Die Verlassene« auf besondere Weise zuzuordnen sei, wie Beatrice EichmannLeutenegger in dem von ihr herausgegebenen, ansonsten sehr informativen Textund Bildband über Leben und Werk Gertrud Kolmars behauptet. Vgl. Gertrud Kolmar 1894–1943. Marbacher Magazin 63 (wie Anm. 2), S. 141. Paul Celan: Der Meridian. Endfassung. Vorstufen. Materialien. Hg. von Bernhard Böschenstein und Heino Schmull unter Mitarbeit von Michael Schwarzkopf und Christiane Wittkop. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 9. Es mag auch mit an dieser auswegslosen Spannung liegen, von der Kolmars Leben und Werk gezeichnet ist, dass der Zugang zu ihrem Werk so schwierig scheint und von so vielen Verken-

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1 Eine deutsch-jüdische Dichterin

Deutsch-jüdisch. Ein Verbindungsstrich, der mit Auschwitz als tödlichem Endpunkt, zum Trennungsstrich, zu einem Zeichen von Abstoßung und Verwerfung geworden ist. Es ist auch dies, was uns Kolmar hinterlassen hat: die Ambiguität, die sich im Verhältnis deutsch-jüdisch auftut und die Wege hätte eröffnen, über die Brücken hätten führen können, als einen Abgrund zu begreifen, aus dem im Zerschlagen aller Verbindungen das Mörderische freigesetzt wurde. Und doch wäre es ebenso fatal, Gertrud Kolmar allein von diesem Ende her begreifen zu wollen. Deutsch-jüdisch: das ist auch eine lange und widerspruchsvolle Geschichte mit vielfachen Aspekten, Brüchen wie Entwicklungen. Es ist gerade auch dieser Prozess, den es mitzubedenken und nachzuvollziehen gilt, um das Leben und Werk dieser deutsch-jüdischen Dichterin nicht erneut in Ignoranz und Schweigen zu ersticken.9 Gertrud Kolmar, die 1935 aufgrund einer Zwangsverordnung der Nationalsozialisten10 ihren Künstlernamen ablegen musste und wieder zu Gertrud Chodziesner wurde, werden poetische Verwandtschaften mit einigen der größten deutschen Dichterinnen und Dichtern, wie unter anderem Annette von Droste-Hülshoff,11 Hölderlin,12 immer wieder Rilke13 und auch Dichtern der

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nungen und Fehlinterpretationen begleitet wird. So werden Biografie und Werk der Dichterin meiner Ansicht nach immer wieder allzu schnell in einer Weise kurzgeschlossen, die weder der Erhellung des Werks noch der Würdigung der Lebensdaten Gertrud Kolmars angemessen dient. Auch Dieter Kühn geht in seiner aktuellen, eher fiktiven denn dokumentarischen Kolmar-Biografie über diese Sichtweise leider nicht hinaus. Im Gegenteil, für ihn bedeutet die Reflexion des deutsch-jüdischen Kontextes von Kolmars Leben und Werk eine noch »nachträgliche Ghettoisierung«. Dieser Ansatz ist für mich weder nachvollziehbar, noch halte ich ihn für produktiv, sondern ich gehe davon aus, dass diese Art der Ausblendung von einer offenbar das ganze Leben bestimmenden, schicksalhaften Differenz von vorneherein nur zu Verkennungen führen kann. Kühn, Gertrud Kolmar (wie Anm. 3), S. 602. Es handelt sich hier um einen in Folge der »Nürnberger Gesetze« herausgegebenen Erlass vom 30.10.1935, der jüdischen Künstlern das Tragen von »Pseudonymen« verbot, um ein »getarntes« Auftreten außerhalb der jüdischen Kulturbünde zu verhindern. Vgl. dazu: Geschlossene Vorstellung. Der jüdische Kulturbund in Deutschland 1933–1941. Hg. von der Akademie der Künste. Berlin: Edition Hentrich 1992 (Reihe Deutsche Vergangenheit; 60), S. 433. Hierauf hat bereits als erster der Cousin Walter Benjamin in einer Ausgabe der »Literarischen Welt« von 1928 verwiesen, in der er zwei darin publizierte Gedichte Kolmars kommentiert. Ebenfalls wird der mit Kolmar befreundete Jacob Picard dann in einem späteren Aufsatz diese dichterische Verwandtschaft herausstellen. Vgl. Marbacher Magazin 63 (wie Anm. 2), S. 57. Vgl. Jakob Picard: Gertrud Kolmar: The Woman and the Beasts. In: Commentary No. 10, November 1950, S. 461. Des Weiteren erkennen auch Hermann Kasack, erster posthumer Herausgeber von Kolmars Gedichten, und später dann Hans-Peter Bayerdörfer Gemeinsamkeiten zwischen beiden Dichterinnen. Hermann Kasack: Mosaiksteine. Beiträge zur Literatur und Kunst. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1956, S. 164. Hans-Peter Bayerdörfer:

1.1 Im Blickfang

7

deutschen Romantik nachgesagt.14 Diese Liste ließe sich durchaus noch fortsetzen und dokumentiert die tiefe Verwurzelung Kolmars in der deutschen Geistesgeschichte.15

12 13

14

15

Die Sinnlichkeit des Widerlichen. Zur Poetik der ›Tierträume‹ von Gertrud Kolmar. In: »Sinnlichkeit in Bild und Klang«. Festschrift für Paul Hoffmann zum 70. Geburtstag. Hg. von Hansgerd Delbrück. Stuttgart: Akademischer Verlag Hans-Dieter Heinz 1987, S. 452f. Vgl. dazu Regina Nörtemann: Das »Ewige« und die Politik. In: Nachwort. In: LW, S. 383. Vgl. Gabriele von Natzmer Cooper: Das süßere Obst der Erkenntnis: Gnosis und Widerstand in Kolmars apokalyptischem »Lied der Schlange«. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies, Volume XXX, Number 2. University of Toronto: May 1993, S. 142. Michael C. Eben: Rainer Maria Rilke and Gertrud Kolmar: Das ›Dinggedicht‹ – Two poems. In: Neophilologus 73, Amsterdam: Wolters-Noordhoff 1989, S. 633–636. Anzumerken wäre, dass Kolmar – wie aus ihren Briefen hervorgeht – Verwandtschaften mit Rilke bereits zu Lebzeiten nachgesagt werden. Kolmars eigene Aussagen über einen Einfluss Rilkes auf ihre Dichtung sind allerdings nicht ganz eindeutig. So schreibt sie am 5.11.1934 an ihren Cousin Walter Benjamin: »Deutsche Dichter, die mich vielleicht beeinflusst haben, sind Rilke und Werfel [...] an Rilke ist es die ›Plastik‹ der späteren Gedichte, die mich so anzieht.« Demgegenüber schreibt sie am 11.9.1940 an ihre Schwester in der Schweiz: »Dagegen steht mir Rilke sehr nah; Beurteiler haben in manchen meiner Gedichte seinen Einfluss erkennen wollen. Sie irren; ich lernte Rilke (mit alleiniger Ausnahme des ›Kornett‹) so spät kennen, dass er meine Entwicklung nicht mehr beeinflussen konnte – [...].« Fest steht, dass Rilke für sie bis zuletzt von großer Bedeutung war. Bis in die letzten Briefe spricht sie immer wieder über dessen Werke – den »Malte Laurids-Brigge«, »Das Stundenbuch«, sowie die »Duineser Elegien« und die »Briefe aus Muzot« – aus deren Lektüre sie geistige Kraft und seelischen Rückhalt bezieht. Kolmar, Briefe (wie Anm. 1), S. 168 und S. 72. Zum Romantikbezug vgl. Grazia Martens-Berger: Erinnerte Kindheit im Gedicht ›Großmutters Stube‹. Zu Gertrud Kolmars Romantik und Symbolismus-Rezeption. In: Kambas (Hg.), Lyrische Bildnisse (wie Anm. 5), S. 33f. Im Kontext, der hier interessiert, liegt der Schwerpunkt vor allem auf Kolmars Verbundenheit mit dem deutschen Kulturerbe. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Kolmars dichterischer Horizont darauf zu beschränken wäre. Immer wieder wird deutlich, dass sie sich im gesamten abendländisch-europäischen Literaturkanon außerordentlich gut auskannte. Ihre eigenen dichterischen Grundlagen sah sie besonders auch durch die moderne französische Lyrik sowie durch russische Erzähltraditionen beeinflusst. In der neueren Forschung zu Kolmars Lyrik wird wiederum besonders eine Beeinflussung der Dichterin durch die französischen Symbolisten wie Baudelaire und Mallarmé hervorgehoben. Kolmar selbst hat sich zu diesen Dichtern allerdings nie explizit geäußert. Dennoch scheinen sich Einflüsse nachweisen lassen. Vgl. dazu Bayerdörfer, Die Sinnlichkeit des Widerlichen (wie Anm. 11), S. 450f. Kathy Zarnegin: Tierische Träume. Lektüren zu Gertrud Kolmars Gedichtband ›Die Frau und die Tiere‹. Tübingen: Max Niemeyer 1998, S. 26f. Insbesondere bezieht sich dann auch Silke Nowak in ihrer jüngst erschienenen Monographie auf diesen Hintergrund. Silke Nowak: Sprechende Bilder. Zur Lyrik und Poetik Gertrud Kolmars. Göttingen: Wallstein 2007.

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1 Eine deutsch-jüdische Dichterin

Zumeist aber wird sie in einem Atemzug mit anderen deutsch-jüdischen Dichterinnen ihrer Zeit wie Else Lasker-Schüler und Nelly Sachs genannt.16 Hier wird eine Zugehörigkeit angesprochen, die sich bei Kolmar bereits in frühen Jahren Ausdruck verschafft und die dann von ihr ab Ende der Zwanzigerjahre – mit dem Einsetzen ihrer zweiten großen Schaffensperiode – verstärkt auf unterschiedliche Weise zur Sprache gebracht wird. Eine Entwicklung, die durch die sich zuspitzenden Zeitumstände noch zusätzlich an Brisanz gewinnen wird. Doch ist Gertrud Kolmar, noch bevor sie sich im nationalsozialistischen Deutschland schließlich auf diffamierende Weise dazu gezwungen sah, bereits durchaus bewusst auch eine jüdische Dichterin deutscher Sprache gewesen. Deutsch-jüdisch. Ein Zusammenhang wird damit angesprochen, der zu Gertrud Kolmars Lebzeiten mehr als je zuvor schicksalsbestimmend gewesen ist. Es gilt daher, sowohl zu begreifen, wie dieses Verhältnis sich in Deutschland dargestellt hat, bevor es mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zur grundsätzlichen Zäsur kam, als auch wie die Dichterin selbst sich innerhalb dieses Kontextes verstanden hat. Bis auf wenige Ausnahmen ist die Reflexion deutsch-jüdischer Differenz im Werk Gertrud Kolmars bisher kaum erkannt, und wenn, dann vor allem unter dem Gesichtspunkt antisemitischer Verfolgung hervorgehoben worden.17 Ich greife somit eine Thematik auf, die bislang vernachlässigt worden ist und deren genauere Kenntnisnahme nach meinem Dafürhalten grundlegend neue Sichtweisen auf Kolmars Werk zu eröffnen vermag. Dabei habe ich mich entschieden, ein einzelnes Gedicht in den Mittelpunkt meiner Betrachtungsweise zu stellen, das Gedicht »Garten im Sommer« aus dem Verszyklus WELTEN, den die Dichterin 1937 verfasst hat. Nur ein Gedicht? Diese Entscheidung mag zunächst Befremden erregen. Doch es ist ja auch gar nicht nur ein Gedicht allein, von dem die Rede sein wird. Im Zuge einer transtextuellen Lektüre, wie ich sie mit »Garten im Sommer« vollzogen habe, stellen sich viele Querverbindungen her, kommen überdies viele andere Dichtungen Kolmars zur Sprache. Auch war es immer wieder erhellend, andere Dichterinnen und Dichter, Denkerinnen und Denker zur Klärung wichtiger Fragestellungen mit in meine Überlegungen einzubeziehen. Ich wende mich zudem einem Gedicht Kolmars zu, das bislang kaum näher gewürdigt worden ist. Das Gedicht, von dem Sarah Kirsch einmal hingerissen behauptet hat: »Und solche Texte wie ›Garten im Sommer‹ [...] liebe ich Wort für Wort. Und krepiere daran«, dieses Gedicht ist bislang, soweit mir bekannt, keiner ausführlichen Kenntnisnahme unterzogen worden.18 Wenn es um 16

17 18

Vgl. dazu Karin Lorenz-Lindemann: Widerstehen im Wort. Studien zu den Dichtungen Gertrud Kolmars. Göttingen: Wallstein 1996, S. 7. Und Chryssoula Kambas: Einleitung. In: Dies., Lyrische Bildnisse (wie Anm. 5), S. 9. Vgl. dazu meine Ausführungen in Kapitel 1.2 dieser Studie. Zitiert nach Eichmann-Leutenegger, Gertrud Kolmar (wie Anm. 2), S. 205.

1.1 Im Blickfang

9

WELTEN geht, dann wendet man sich Gedichten wie »Asien« und »Kunst« zu, des Öfteren werden auch »Die Mergui-Inseln«, »Der Engel im Walde«, »Dienen« oder »Das Opfer« erwähnt. »Garten im Sommer« hingegen scheint bislang nur wenig Aufmerksamkeit gefunden zu haben.19 Ich hingegen möchte es mit Sarah Kirsch halten: »Garten im Sommer« ist nach meiner Auffassung eines der schönsten und eines der ergreifendsten Gedichte Gertrud Kolmars überhaupt. Ein Gedicht, das auch nach wiederholtem Lesen nichts von seiner Faszinationskraft einbüßt, sondern immer wieder zu weiteren Entdeckungen und neuen, überraschenden Lesarten führt.

19

Eine erste relativ kurze Erwähnung erfährt das Gedicht in der Analyse Marion Brandts, die diesen Garten als einen selbstgeschaffenen, umgrenzten »Ort des Friedens« und damit als »bewohnbaren Ort im Unbewohnbaren« begreift. Monika Shafi wiederum betrachtet »Garten im Sommer« vor allem unter dem Gesichtspunkt der Gegenüberstellung mit dem Gedicht »Sehnsucht«. Sie sieht beide Gedichte als spiegelbildlich aufeinander bezogen an, wobei sie mit ihrer Hervorhebung der Allusion auf das Hohelied in beiden Texten auf einen entscheidenden Zusammenhang verwiesen hat. Diesen Gesichtspunkt greift auch Karin Lorenz-Lindemann in ihrer kaum ausführlicheren, doch meines Wissens bislang noch am meisten auf das Gedicht eingehenden Würdigung auf: »Kolmar bezieht sich in ›Welten‹ mehrfach auf Bilder und Symbole des Hohenliedes: Auf den Granatapfel, den Apfel, die Zeder, die Taube, die Türme, das Siegel, die Gärten. Und auch auf Wein und Milch, [...]. War ich ›Dir Milch, dir Wein‹, fragt die Geliebte in ›Garten im Sommer‹ und gebietet dem Geliebten zugleich: ›Schweig.‹ Denn es ist nicht die Welt des Hohenliedes, in der Mann und Frau sich bewegen, sie sind an ›umsponnenen Weiher‹, im offenen Röhricht und sehen auf ihre Fenster hinüber, die ›Efeu umkriechen‹.« Eine weitere, etwas genauere Erwähnung findet »Garten im Sommer« schließlich in einem Vortrag Margherita Cottones, den diese anlässlich des Kolmar-Symposiums im März 1999 in Rom gehalten hat. Cottone spricht zunächst von der Bedeutung des Gartens in Kolmars Werk im Allgemeinen, der sowohl einer des Paradieses als auch ein melancholischer Garten von Vergänglichkeit und Verlust sei, um anschließend genauer auf den Garten im Gedicht einzugehen. Die Anrufung des Geliebten wie im Hohelied Salomos, die Liebe als ein schöner, umschlossener Garten, der Garten des Paradieses sowie der dekadente, von Auflösung gezeichnete Garten als melancholischer Ort des Niedergangs: wir erkennen hier wichtige Stichworte und Hinweise, die wir noch genauer aufgreifen und weiter entwickeln werden. Im Übrigen bleibt festzustellen, dass keine der genannten Autorinnen reflektiert, wie das weibliche Ich und das angesprochene Du des Gedichts genauer zu verstehen seien. Sehr schnell werden Rückschlüsse auf die Identität der Protagonisten des Gedichts gezogen, die meiner Ansicht nach gar nicht so eindeutig zu fassen ist. Marion Brandt: Schweigen ist ein Ort der Antwort. Eine Analyse des Gedichtzyklus Das Wort der Stummen von Gertrud Kolmar. Berlin: Christine Hoffmann 1993, S. 38. Shafi, Gertrud Kolmar. Eine Einführung in das Werk (wie Anm. 2), S. 175. Lorenz-Lindemann, Der Verszyklus ›Welten‹ (wie Anm. 16), S. 78. Margherita Cottone: Su alcune metafore della lirica di Gertrud Kolmar. In: Flavia Arzeni, Maddalena Fumaglia und Mauro Ponzi (Hg.): Gertrud Kolmar. La Straniera. Quaderni di Germanistica 1. Roma: Bulzoni Editore 1999, S. 149.

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1 Eine deutsch-jüdische Dichterin

Es sind viele Wege, auf denen ich versucht habe, mich Kolmars »Garten im Sommer« zu nähern. Ein gutes Gedicht erschöpft sich niemals ganz, führt uns immer wieder zu Anderem und entzieht sich stets aufs Neue allen Festlegungen. Zwar können wir eine Wegstrecke für uns mit dem Gedicht zurücklegen und mögen auch immer wieder neue, andere Wege zu ihm hin finden. Allein wir können es nicht wirklich vereinnahmen. Wie noch jedes Zeugnis menschlicher Lebendigkeit, beansprucht es eine eigene Präsenz und besteht auf Autonomie. Ich begreife dieses Gedicht daher als Ausdruck einer Befindlichkeit, die von der Erfahrung eines deutsch-jüdischen Schicksals in spezifischer Zeit bestimmt ist. Und doch steht es als ein Kunstwerk für sich selbst. Jedes Mal neu und jedes Mal wieder anders. Spur eines Sagens, das vieldeutig bleibt und nicht in Eindeutigkeit zurechtgerückt werden kann. Im Folgenden nun will ich versuchen, diese Wege einer Begegnung mit dem Gedicht nachzuzeichnen, in der es – um es ein weiteres Mal mit den Worten von Paul Celan zu sagen – »wie bei jeder Begegnung um das Hier und Jetzt, um Ort und Stunde geht«.20

1.2

Lektüren und Entfaltungen. Einige Anmerkungen zur Forschung

Es mag kaum ein Zufall gewesen sein, dass mit Ende der Achtziger-, Beginn der Neunzigerjahre, also in etwa zum Zeitpunkt des 100. Geburtstages der Dichterin, eine verstärkte Rezeption ihres Werks einsetzte. Dies fand seinen Ausdruck vor allem auch in der Zunahme biografischer Dokumentationen sowie literaturwissenschaftlicher Auseinandersetzungen. So zeigte das Marbacher Literaturarchiv zu Ehren Gertrud Kolmars bereits im Jahr 1993 eine Ausstellung, die in den Marbacher Heften von Johanna Woltmann anschaulich dokumentiert und kommentiert worden ist.21 Ebenfalls Woltmann legte 1995 eine erste umfassende Biografie Kolmars vor, die zur genaueren Kenntnisnahme von Leben und Werk nach wie vor wesentlich beitragen hilft.22 Doch während dies zweifellos ein großes Verdienst Johanna Woltmanns ist und bleibt, unterläuft ihr hier bereits, was dann leider häufiger eine immer wieder fragwürdige, bis zur Verkennung gehende Haltung innerhalb der Kolmar-Forschung werden sollte. Denn wenn sie eine »besondere Nähe von dichterischem Werk und autobiographischem Bekenntnis bei Gertrud Kolmar« zu erkennen meint und das Ziel einer »solchen Selbstdarstellung« in der »Suche nach dem Sinn einer Existenz« vermutet, »die durch frühe Traumata in 20 21 22

Paul Celan: Mikrolithen sinds, Steinchen. Die Prosa aus dem Nachlass. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 138. Gertrud Kolmar 1894–1943. Marbacher Magazin 63 (wie Anm. 2). Woltmann, Gertrud Kolmar – Leben und Werk (wie Anm. 2).

1.2 Lektüren und Entfaltungen. Einige Anmerkungen zur Forschung

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unerträgliche Selbstzweifel gestürzt wurde« und daher »im Dichten selbst eine wesentliche Sinngebung fand«,23 dann steht sie damit keineswegs allein da, sondern hat teil an einem ganzen Kanon der zumeist frühen KolmarForschung, der von einer solchen unmittelbaren Konstellation zwischen Biografie und Dichtung meint ausgehen zu können. Indessen werde ich hier nicht weiter auf diesen Ansatz eingehen. Das ist bereits wiederholt geschehen und des Öfteren schon einer kritischen Hinterfragung unterzogen worden.24 Gegebenenfalls werde ich dann jeweils im konkreten Zusammenhang dazu Stellung nehmen. Kolmars Verhältnis zum Judentum wiederum wird in den früheren Forschungsarbeiten, die sich in der Regel eher auf thematisch eingegrenzte Detailuntersuchungen oder aber allgemeine Überblicke beschränken, wenn überhaupt, dann zumeist sehr allgemein und wenig konkret behandelt. Auch Johanna Woltmann widmet der historischen Entwicklung des assimilierten Judentums in Deutschland ein Kapitel in ihrer Biografie, geht dann aber kaum darauf ein, wie sich die Differenz deutsch-jüdischer Existenz auf Leben und Werk der Dichterin konkret ausgewirkt hat. Auch geht sie davon aus – und damit befindet sie sich ebenfalls in Übereinstimmung mit vielen anderen Interpretinnen und Interpreten –, dass die Dichterin sich überhaupt erst aufgrund der zunehmenden nationalsozialistischen Verfolgung in den Dreißigerjahren zu einer näheren Auseinandersetzung mit ihrem Judentum gezwungen sah. Das Jüdische gilt Woltmann dabei vor allem als ein thematischer Aspekt, der sich in den davon handelnden Texten oftmals bereits in der Titelgebung niederschlage.25 Marion Brandt, die 1993 eine der ersten ausführlicheren Monographien über einen Gedichtzyklus Kolmars – den Zyklus DAS WORT DER STUMMEN von 1933 – vorlegte, fragt sich darin, was es für die Dichterin bedeutet habe, eine »Jüdin in Deutschland zu sein«.26 Anders als Woltmann jedoch sieht sie Kolmars Auseinandersetzung mit dem Judentum schon von Jugend an gegeben, wobei sie mit ihrer Lesart des zwischen 1912 und 1914 entstandenen Verszyklus NAPOLEON UND MARIE überzeugende Begründungen liefert.27 Grundsätzlich begreift sie Gertrud Kolmars Judentum als einen »Zufluchtsort und ein Potential, das ihr Erklärung und Halt gab«, mithin als eine Zugehörigkeit, zu der sie ihren Weg durch eine Erfahrung der Fremdheit »in der Familie und deren Gesellschaftsschicht und als Frau, die ein besonderes Schicksal trug und tragen wollte«, gefunden habe.28 Auch Brandts Ausführungen bleiben damit eher im Allgemeinen, wenig Konkreten verhaftet. 23 24 25 26 27 28

Ebd., S. 12. Vgl. diesbezüglich beispielsweise Nowak, Sprechende Bilder (wie Anm. 15), S. 24. Woltmann, Gertrud Kolmar – Leben und Werk (wie Anm. 2), S. 155f. Brandt, Schweigen ist ein Ort der Antwort (wie Anm. 19), S. 80. Ebd., S. 82f. Ebd., S. 94.

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1 Eine deutsch-jüdische Dichterin

Regina Nörtemann wiederum subsumiert in ihrem Nachwort zur Neuedition des lyrischen Werks von 2003 das Jüdische bei Kolmar unter das Politische. Ihr geht es darum, zu zeigen, »wie im Werk Gertrud Kolmars die private, die politische und die poetologische Ebene verbunden sind«.29 Zwar ist sie der Auffassung, dass die Hinwendung zu »jüdischen Themen« nicht etwa als »Rückbesinnung und Rückbezug« auf die jüdische Tradition, »die sich aus der Auseinandersetzung mit dem von nationalsozialistischer Seite erzwungenen Scheitern des Assimilationsprojekts ergeben haben«, zu verstehen sei.30 Doch meint sie in den Gedichten mit jüdischer Thematik ein »Widerstandspotential« zu erkennen, »das die Zensurmechanismen zu umgehen weiß«.31 Mithin handele es sich gleichfalls um eine politische Geste, die in geschickter sprachlicher Verarbeitung jüdischer Themenwahl Stellung zur gegenwärtigen Lage der Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland beziehe. Anne Heitschmidt nun geht in ihrem Aufsatz »Saiten, die noch tönen. Gertrud Kolmars Dialog mit der Bibel« davon aus, dass die Spuren der Auseinandersetzung mit dem Judentum in Kolmars Werk zahlreicher sind, »als es auf den ersten Blick scheinen mag«.32 Ihre Studie zielt daher besonders auf Aspekte von Intertextualität, die dieses Jüdische als Bibelzitat oder in Anspielung auf das Alte Testament aufrufen. Der Umgang mit diesen biblischen Stoffen in Kolmars Gedichten suggeriert ihr zufolge zudem »eine Gegenwärtigkeit, als lägen diese Ereignisse nicht mehrere tausend Jahre zurück, sondern als hätten sie sich gerade erst zugetragen«.33 Ob allerdings die zeitliche Distanz in dieser Rückbeziehung auf den biblischen Text ganz aufgehoben ist – wie Heitschmidt schließlich behauptet – halte ich doch für zweifelhaft. Das Verhältnis von Vergangenem und Gegenwärtigem in Kolmars Poetik kann mit Sicherheit nicht auf derart vereinfachende Weise aufgefasst werden, sondern stellt sich als weitaus vielfältiger und in sich gebrochener dar. Kolmar thematisiert auf diese Weise wohl eher Suchund Reflexionsprozesse, die offen bleiben, in etwas nach wie vor Unabgeschlossenes weisen. Doch bleibt es Heitschmidts Verdienst, diese intertextuellen biblischen Bezüge überhaupt herausgestellt und benannt zu haben. Ein entsprechendes intertextuelles Verfahren greifen ebenfalls Bettina von Jagow und Lara Weber in ihren Analysen einiger Gedichte des WELTENZyklus auf.34 So erweist sich ihnen zufolge beispielsweise in dem Gedicht 29 30 31 32 33 34

Nörtemann, Nachwort (wie Anm. 2), S. 387. Ebd., S. 388. Ebd., S. 389. Anne Heitschmidt: Saiten, die noch tönen. Gertrud Kolmars Dialog mit der Bibel. In: Lorenz-Lindemann (Hg.), Widerstehen im Wort (wie Anm. 16), S. 144. Ebd., S. 144. Bettina von Jagow und Lara Weber: Zerbrechliche Welten. Religiöse Symbolik im Gedichtzyklus Welten von Gertrud Kolmar. Eine intertextuelle Lektüre. In: Lothar Bluhm und Heinz Rölleke (Hg.): Wirkendes Wort. Deutsche Sprache und Literatur in Forschung und Lehre, 56. Jg, H. 1, April. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2006.

1.2 Lektüren und Entfaltungen. Einige Anmerkungen zur Forschung

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»Das Opfer« die intertextuelle »Doppelbödigkeit« als ein Gestaltungsprinzip, bei dem »Reminiszenzen an das Alte und Neue Testament« von einer sich auf der textuellen Oberfläche darstellenden »heidnischen Wirklichkeit« – wie sie es nennen – überlagert werden.35 Hans-Peter Bayerdörfer schließlich setzt sich in seinem 2009 veröffentlichten Aufsatz »Ein Schatten auf dem Unbestechlichen« anhand des von Kolmar im Spätherbst 1934 verfassten Dramas »Cecile Renault« ein weiteres Mal mit dem Robespierre-Bild der Dichterin sowie der darin sich mitteilenden Auffassung des Messianischen auseinander.36 Dabei stellt auch er in seiner Analyse die allerorts im Drama anzufindenden intertextuellen Bezüge insbesondere zu Texten sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments heraus.37 Im Unterschied zum lyrischen Robespierre-Zyklus, in dem »verschiedene Facetten messianischer Zuschreibung keine Brüche erzeugen«, entsteht – so Bayerdörfer – demgegenüber im Drama ein »Riß im Profil der Robespierre-Rolle«, wird dessen Haltung der Unbestechlichkeit infrage gestellt, wenn er nun, um seine unanfechtbare Haltung zu dokumentieren, Unschuldige als Opfer eines Justizurteils hinrichten lässt, zu denen in diesem Fall – als freie Erfindung der Autorin – dann auch der Jude Jom Tob gehört.38 Es sei daher die Figur Jom Tobs, von der aus »ein Schatten auf den Unbestechlichen« falle.39 Denn die »massive Stimme jüdischer Geschichtserfahrung«, die in ihm Gestalt gewinne, finde in Robespierre lediglich mit der Forderung uneingeschränkter Gerechtigkeit ein Echo, nicht so jedoch in Hinblick auf dessen konkretes politisches Handeln.40 Dabei sieht Bayerdörfer als einen wesentlichen Grund für diese Hinterfragung der Gestalt Robespierres – deren Idealisierung durch die Dichterin in früheren Werken immer wieder auf Befremden gestoßen ist – Kolmars zeitbedingte Erfahrungen im nationalsozialistischen Deutschland an. Immer dringlicher werde für sie nun die Beschäftigung mit der eigenen jüdischen Identität und deren Voraussetzungen, sodass für sie die »geschichtsphilosophische Frage nach dem Wirken einer wie auch immer gearteten Instanz der Gerech35 36

37 38

39 40

Ebd., S. 57. Hans-Peter Bayerdörfer: Ein Schatten auf dem ›Unbestechlichen‹: Die Judengestalt in Gertrud Kolmars Drama Cecile Renault. In: Mark H. Gelber, Jakob Hessing, Robert Jütte u. a. (Hg.): Integration und Ausgrenzung. Studien zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Festschrift für Hans Otto Horch zum 65. Geburtstag. Tübingen: Max Niemeyer 2009. Ebd., S. 290. Ebd., S. 292f. Bayerdörfer erkennt hier eine deutliche Differenz im Robespierre-Bild der Autorin im Vergleich sowohl zum Gedichtzyklus »Robespierre«, der einige Monate vor dem Drama entstanden ist als auch zu Kolmars etwa ein Jahr zuvor im Herbst 1933 verfassten Essay »Das Bildnis Robespierre«. Bezüglich der Datierungen vgl. Regina Nörtemann (wie Anm. 2), S. 399. Ebd., S. 295. Ebd., S. 294.

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tigkeit« offensichtlich »ohne Berücksichtigung dezidiert jüdischer Geschichtserfahrungen« nicht mehr formulierbar sei.41 Soweit einige Werkanalysen, die den Aspekt des Jüdischen vor allem inhaltlich thematisieren. Um nun über diese Fokussierung auf eine vorwiegend thematische Fragestellung hinauszugelangen und das »weitaus breitere Problem poetischer Figuration historischer Zeit« auch in Hinblick auf dieses Jüdische in Kolmars Werk genauer in den Blick nehmen und eine »neue Dimension« in dessen Erforschung eröffnen zu können, wäre allerdings zudem eine genauere Lektüre der Sprache, ihrer poetischen Metaphorik und rhetorischen Tropen notwendig.42 Eine solche grundlegende, differenzierte Auseinandersetzung, die auch poetologische Aspekte herausstellt und für das hermeneutische Vorgehen produktiv werden lässt, hat erstmalig Birgit R. Erdle mit ihrer philosophisch wie psychoanalytisch fundierten Monographie »Antlitz – Mord – Gesetz. Figuren des Anderen bei Gertrud Kolmar und Emmanuel Lévinas« (1994) vorgelegt.43 Wie bereits aus dem Titel hervorgeht, steht im Zentrum von Erdles Untersuchung vor allem die Konstellation von Antlitz und Gewalt, wobei als ein Drittes die Kategorie des Gesetzes hinzukommt, das den Bezug zur symbolischen Ordnung hält und damit zugleich den Bereich des Sprachlichen evoziert. Um nun der Frage nachzugehen, wie das Thema der Destruktivität im Feld der Textualität auftaucht, mithin, »wie es sich in eine figurative Rede übersetzt«, unternimmt Erdle es, die »theoretischen und textuellen Orte«, die dem Antlitz und dem Mord bei Lévinas und bei Kolmar zukommen, zueinander in Beziehung zu setzen.44 Dabei verkennt sie indes nicht, dass das Bedeuten des sich jeder Phänomenalität entziehenden Antlitzes im Sinne von Lévinas und das immer schon als Bild eingeführte Gesicht in Kolmars Texten nicht als identisch anzusehen sind. Doch schlage sich das »Regelhafte der Gewalt« in den Texten Kolmars immer auch am »Ort des Antlitzes« nieder.45 Von diesem 41

42

43 44 45

Ebd. Kolmars Idealisierung der Figur Robespierres’ hat in der Rezeption immer wieder für Irritation gesorgt und zu unterschiedlichen Deutungsversuchen Anlass gegeben. Erst Bayerdörfer hebt nun die sich verändernde Perspektive der Dichterin auf diese Figur hervor. Diese Forderung, die Amir Eshel für die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen deutsch-jüdischen Literatur erhebt, lässt sich entsprechend auf die deutschjüdische Epoche vor der Shoah übertragen. Vgl. Amir Eshel: Die Grammatik des Verlusts. Verlorene Kinder, verlorene Zeit in Barbara Honigmanns ›Soharas Reise‹ und in Hans-Ulrich Treichels ›Der Verlorene‹. In: Sander L. Gilman und Harmut Steinecke (Hg.): Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre: Die Generation nach der Shoah. Beiheft zur Zeitschrift für Deutsche Philologie. Berlin: Erich Schmidt 2002, S. 62f. Birgit R. Erdle: Antlitz – Mord – Gesetz. Figuren des Anderen bei Gertrud Kolmar und Emmanuel Lévinas. Wien: Passagen 1994. Ebd., S. 20. Ebd., S. 75. Um dieses regelhaft Destruktive genauer fassen zu können, untersucht Erdle insbesondere jene Logiken der Identifikation, in denen es um die Frage nach

1.2 Lektüren und Entfaltungen. Einige Anmerkungen zur Forschung

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Topos des Antlitzes ausgehend analysiert sie folglich anhand einzelner Gedichte diese Struktur der Gewalt, die sich ihr zufolge als stete Bedrohung durch Verwerfung und Mord in den Texten Kolmars auffinden lässt und in diesen schließlich ein Moment der »Konversion« markiere, deren »Schreibposition« in der »Duplikation zweier rhetorischer Gesten« lokalisiert sei: »der Apostrophe und der Apotrope«.46 Indem die Apostrophe als narrative Figur einen Anspruch und eine Anrede an ein Abwesendes zum Ausdruck bringt, enthält sie beides: Anrede und Auslassung.47 Durch diese Rede an ein Abwesendes oder auch Verlorenes erlaube sie überdies einen Moment der Aktualisierung, der Licht wirft auf den Ort der Sprechenden, die – wie Erdle hier in Anlehnung an Roland Barthes ausführt – »Stimme, Leben und menschliche Gestalt in das Angeredete hineinwirft und so dessen Schweigen in stumme Ansprechbarkeit verwandelt und dadurch zugleich das eigene Sprechen am Leben erhält«.48 Mithin – so Erdle – erscheint die Apostrophe als eine rhetorische Figur, welche »die Konfiguration von Belebung, Sprache und Erlösung angesichts von Tod und Katastrophe« aufzeichne.49 Demgegenüber geht es ihr zufolge bei der Apotrope um eine poetische Wendung, die sich nicht an ein Abwesendes richtet, sondern etwas Gegenwärtiges abzuwenden suche.50 Ausgehend von Atropos, jener unerbittlichen Schicksalsgöttin, der Unabwendbaren und Undarstellbaren, die auf doppelte Weise Tödliches mit sich führe, denn weder könne sich ihr entzogen werden, noch erlaube sie irgendeine Möglichkeit von Repräsentation, sei sie doch das »nicht Symbolisierbare« schlechthin, stellt Erdle sozusagen als Gegenzauber in Kolmars Texten Apotropos als die poetische »Wendung der Konversion par excellence« heraus. Mit dieser apotropäischen Geste sieht sie schließlich eine Möglichkeit gegeben, »die das Undarstellbare, das Tödliche, vor dem jede Wendung und jede Darstellung versagt, abwendet, das heißt durch eine Bildfindung überwindet oder umgeht«.51 Doch entfalte sich mit dem Vorgang einer Bildfindung zugleich eine tiefe Ambiguität in der Darstellung, die im Kern jede Bildfindung betreffe, denn – so Erdle – jedes Bild ist der Effekt eines apotropäischen Wunsches und birgt daher in sich sowohl eine »schöpferische« als auch eine »mörderische« Potentialität, die möglicherweise untrennbar miteinander verwoben sind.52 Die Ge-

46 47 48 49 50 51 52

Formen der Aneignung des Anderen auch in der Weise einer Tilgung geht, die immer schon »Züge einen potentiell mörderischen kulturellen Narzissmus« trage. Vgl. dazu auch ebd., S. 74. Ebd., S. 20. Ebd., S. 325. Ebd., S. 322. Ebd., S. 256. Ebd., S. 325. Ebd., S. 179. Ebd.

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fahr eines jeden Bildes stecke in ebendieser Verführung durch das Imaginäre. Nicht nur verdecke das Bild eine Wunde, sondern es vergesse zugleich auch »dieses Verdecken selbst«, sodass es stets dazu neige, sich selbst als eine in sich abgeschlossene Totalität zu begreifen.53 Es gelte mithin, den Abgrund des Undarstellbaren immer wieder offen zu halten. Ein Verfahren, das auch Kolmar selbst dann besonders in ihrem Gedichtzyklus PREUSSISCHES WAPPENBUCH zur Anwendung bringen wird.54 Während folglich die Apostrophe in ihrer Anrede oder Anrufung eines Abwesenden den Zusammenhang zwischen Sprache und Begehren aufrechterhalte, führe die apotropäische Geste, die zugleich als eine Geste der Konversion einen Wende- und Fluchtpunkt markiere, in einer Art Korrespondenz zwischen Tanz- und Schreibpraxis – Erdle bezieht sich dabei auf Kolmars Gedicht »Tänzerin 2« – im stets sich erneuernden Akt einer Bildfindung zu immer wieder neu entlehnten »Masken« in einem »Tanz der Qual«, der unablässig seiner schöpferischen Dynamik zu folgen habe, zu keinem abgeschlossenen Stillstand kommen könne.55 Der Zusammenhang von Sprache und Begehren werde dabei in den Gedichten weder in der Figur der Apostrophe noch in jener der Apotrope als eine kontinuierliche, bruchlose Beziehung beschrieben, sondern von vorneherein als eine Asymmetrie aufgefasst, deren Kern nicht allein Abwesenheit und Verlust zu sein scheine, sondern »Mord, etwas Tödliches, das unentrinnbar ist.«56 Hier äußert sich zugleich auch ein gewisses Pathos von Erdles Studie, deren ausdrückliches Ziel darin besteht, eine »Topik der Gewalt« aufzeichnen zu wollen.57 Darüber hinaus verhelfen ihr ihre in Anlehnung an Sigmund Freud, Jacques Lacan, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sowie Jean-Francois Lyotard und Julia Kristeva vornehmlich von psychoanalytischer Theoriebildung ausgehenden Reflexionen zu einer eingehenden Analyse der Ursprünge und Passionen antisemitischen Denkens. Ihre Studie liefert hier viele wertvolle Hinweise, die sich ebenfalls für die Lektüre von Texten Kolmars als aufschlussreich erweisen. Auch wird an Erdles Textanalysen, in deren Fokus die Figuration des Gesichts steht, ebenfalls auf überzeugende Weise nachvollziehbar, dass mit dem Ausfall des Gesetzes, das immer auch ein Moment des Sprachlichen aufrechterhält, »das den Bezug zum Anderen herstellt und in 53 54

55 56 57

Ebd., S. 233. Auf diesen Zusammenhang verweist auch Annegret Schumann, wenn sie erklärt, dass der Text der Gedichte im Zyklus PREUSSISCHES WAPPENBUCH einen »scheinbar stabilen Bildtext« in einen »sprachlichen Text« überführe, »dessen vielschichtige Metaphorik jede lineare Lesart durchkreuzt.« Vgl. Annegret Schumann: ›Bilderrätsel‹ statt Heimatlyrik. Bild und Identität in Gertrud Kolmars Gedichtsammlung Das Preussische Wappenbuch. München: Iudicium 2002, S. 33. Das Gedicht »Tänzerin 2« findet sich in LW, Gedichte 1927–1937, S. 162. Vgl. dazu Erdle, Antlitz – Mord – Gesetz (wie Anm. 43), S. 178 und S. 326. Ebd., S. 40. Ebd., S. 327.

1.2 Lektüren und Entfaltungen. Einige Anmerkungen zur Forschung

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dessen Untergang sich die Vernichtung des Anderen ankündigt«, zugleich die Etablierung eines anderen Gesetzes einhergeht: »des Gesetzes der Opferung«.58 In dieser Weise stellt sie schließlich als eine der Ersten überhaupt eine differenzierte Stellungnahme zu Kolmars Werk vor, die auch die Schreibpraxis der Dichterin in ihrer Anwendung dichterischer Mittel analysiert und zugleich deren poetologischen Standpunkt als eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit der eigenen Situation als Frau und als deutsche Jüdin würdigt. Von der Prämisse ausgehend, dass Kolmars Judentum als »untrennbar von Leiblichkeit und Verwundbarkeit«59 anzusehen sei, werden die Problematiken der Assimilation unter Rückbeziehung auf Kolmars Texte auf verschiedene Weise thematisiert. Dabei situiert Erdle die jüdische Existenz schließlich in dem »Dreieck von Verlust, Unverlierbarem und antisemitischer Bezeichnung (die in physische Verfolgung umschlägt)«.60 Allerdings hätte ich hier den Einwand vorzubringen, dass Kolmars poetische Aussagen von Erdle zuweilen zu einseitig unter dem Gesichtspunkt von Gewalterfahrung und antisemitischer Verfolgung wahrgenommen werden. Es bieten sich da meiner Meinung nach noch andere Perspektiven, die Erdle zwar ebenfalls unter Rückbezug auf Aussagen Lyotards mit jenem »Spiegelungsmoment« der Diskursgenres der »mythischen Erzählung und des jüdischen Idioms« kurz erwähnt, denen sie dann aber nicht weiter nachgeht.61 Das Versagen der »kommunikativen Sphäre«, dem Kolmar sich ausgesetzt sah, als »ein Versagen, in dem die Dimensionen des Rechtlichen und des Intersubjektiven einander überlagern«, führt daher meiner Ansicht nach dann auch weniger zu einer Gefahr erneuter Identifikation mit einem Ursprünglichen, wie Erdle es in einigen Texten Kolmars gegeben sieht.62 Vielmehr führt es besonders auch zu einer zunehmend differenzierter werdenden Auseinandersetzung mit einer symbolischen Ordnung, die das Andere des Weiblichen und des Jüdischen auszuschließen strebt. Dabei versucht die Dichterin sich diesem Ausfall nicht allein in Figuren der Abwendung oder der Konversion entgegenzusetzen. Sondern sie unternimmt es darüber hinaus, sich im Gestus einer anderen sprachlichen Hinwendung diesem Anderen, das so nicht sagbar ist, anzunähern. Es geht eben immer auch um jenes »Unverlierbare«, das Erdle erwähnt, und das sich der eigenen leibhaftigen Erfahrung unabwendbar eingeschrieben hat. Ein Unverlierbares, das keineswegs eindeutig zu fassen ist und das doch eine Heteronomie aufzeigt, die sich nicht auf die Erfahrung von Verfolgung und Ausgrenzung beschränkt, sondern bei der es darüber hinaus um die vielschich58 59 60 61 62

Ebd. Ebd., S. 145. Ebd., S. 146. Ebd., S. 207f. Ebd., S. 221.

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tige Spannung einer eigenen Ortsbestimmung innerhalb deutsch-jüdischer Differenz geht. So halte ich Kolmars Suche nach einem nicht von Fremdzuschreibungen versperrten Zugang zum eigenen Judentum für eines der zentralen Anliegen ihrer Poetik, das sich dann vor allem in ihren Dichtungen ab 1927, wenn auch auf oftmals verborgene Weise, Ausdruck zu schaffen sucht. Darauf werde ich im Folgenden noch näher zu sprechen kommen. Nicht zuletzt werden Erdles Reflexionen dabei immer wieder wertvolle Anhaltspunkte liefern. Überdies hat auch Alfred Bodenheimer diese immer wieder Veränderungen unterliegende Haltung der Dichterin zwischen von außen auferlegten Fremdzuschreibungen und den in Abgrenzung dazu wie in Auseinandersetzung damit sich herstellenden eigenen Selbstzuschreibungen in dem Kolmar-Kapitel seiner Studie über die Authentizität der jüdischen Moderne genauer akzentuiert. Dabei geht er davon aus, dass Kolmar ihr Judentum bereits vor 1933 als »eine Fremdheit in der deutschen Gesellschaft« erfahren habe, doch markiere für sie wie auch für viele andere der »Beginn des Dritten Reichs« endgültig jenen »Bruch, der den Topos schattenhafter jüdischer Existenz durch das Bewusstsein wachsender faktischer Ausgrenzung« verschärfe.63 Mithin teile sich auch in ihren Gedichten jene spannungsreiche Konstellation zwischen – wie Bodenheimer es nennt – »Projektion und Reflexion« im Kontext der eigenen jüdischen Situation mit, deren bewusste Wahrnehmung er als eine entscheidende Voraussetzung jüdischer Authentizität definiert. Ausgehend vom Topos der Schrift im Vergleich zweier Gedichte stellt er schließlich fest, dass sich ebendieses Spannungsverhältnis mit zunehmender Verfolgungserfahrung bei Kolmar deutlich gewandelt hat. Handele es sich im Gedicht »Ewiger Jude« von 1933 noch um eine unentwirrbare Krakelschrift, die der Jude auf seiner Stirn vermute, so sei diese vier Jahre später in dem Gedicht »Mose im Kästchen« zu einer »verborgenen, aber befreienden Schrift auf der Rolle bzw. in der Lade mutiert«. Entsprechend habe sich auch Gertrud Kolmars jüdischer Standpunkt zu einem klarer umrissenen »Profil des Selbstbewusstseins« entwickelt.64 Kathy Zarnegin wiederum wendet sich vor allem poetologischen Fragestellungen im Werk der Dichterin zu. Ausgehend von der – wie sie es nennt – »undurchdringlichen Dichte wuchernder Bildlichkeit« in Kolmars »lyrischen Manifesten« setzt auch sie sich in ihrer Studie »Tierische Träume. Lektüren zu Gertrud Kolmars Gedichtband Die Frau und die Tiere« (1997) ein weiteres Mal mit dem Bildbegriff auseinander.65 63

64 65

Alfred Bodenheimer: Krakelschrift, Sinaisand. Heteronomie und Repräsentation in Gertrud Kolmars ›später‹ und Nelly Sachs’ ›früher‹ Dichtung. In: Ders.: Wandernde Schatten. Ahasver, Moses und die Authentizität der jüdischen Moderne. Göttingen: Wallstein 2002, S. 169. Ebd., S. 179. Zarnegin, Tierische Träume (wie Anm. 15), S. 1.

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Ihr zufolge handelt es sich in Kolmars gesamtem dichterischen Werk »um eine zum Teil schwer entzifferbare Bilderlandschaft« und damit zugleich um eine »bewusst elaborierte Sprache«, die als »eigentliche Grundlage ihrer Dichtung auszumachen« ist.66 Diese Bildproduktion, deren »schillernder Effekt« die metaphorische Aussage sei, wird von Zarnegin dabei als eine allegorische Struktur aufgefasst. Von der Wörtlichkeit des Textes ausgehend gelte es zu erfahren, »wie dieser zugleich etwas anderes aus sich heraus sagen lässt«.67 Demzufolge zeichnen Kolmars Lyrik ihrer Ansicht nach Metaphorisierungen aus, die in ihrer »Spannbreite des Verbergens und Verhüllens« durchaus einer Traumproduktion im Sinne Freuds vergleichbar sind und entsprechend im Sinne einer Traumschrift aufgefasst werden können.68 Außerdem lasse Kolmars Sprachkonzept in dieser gegenläufigen Bewegung des Offenbarens und zugleich Verhüllens eine Widersprüchlichkeit erkennen, die zum einen durch das Begehren nach Kommunikation, zum anderen aber durch eine nach innen gerichtete, selbstreferentielle Haltung bestimmt sei. Zarnegin nun stellt sich die Frage, wie diese »Aporie eines Gesprächs« denn zu verstehen sei, welches sich nicht zu Gehör bringen könne oder wolle.69 Von der Voraussetzung dieser Sprachlosigkeit ausgehend begreift Zarnegin Kolmars allegorisierende Sprache schließlich als »eine Kluft in der Gedichtrede«, die auch eine »zwischen dem sprechenden Subjekt und den Bildern seiner Wahrnehmung, eine zwischen Wort und Bild« sei.70 Es sei schließlich genau dieses Problem einer Sprachlosigkeit, aus dem heraus bei Kolmar das Hervorbringen des Bildes entstehe, behauptet sie weiterhin und bestätigt damit gleichzeitig noch einmal auf andere Weise Erdles oben dargelegte Ausführungen. Gerade diese Autoreferentialität in der Bildrede aber komme einem narzisstischen Akt gleich, der sich in den verschiedenen Selbstmetaphorisierungen des Ich in den Gedichten Ausdruck verschaffe, in den Verwandlungen und Verhüllungen dieses Ich zur Darstellung gebracht werde. »Über die mediale Funktion des Körpers« setze sich die »Ich-Person« in den Gedichten so einem Objekt gleich und erfahre damit immer wieder auch einen Akt der Selbstentfremdung: »Was es da sieht, ist nicht sich selbst, sondern etwas anderes.«71 Zarnegins Arbeit ist von dem Interesse geleitet, diesem Ich auf »den Pfaden seiner Verwandlungen zu folgen«, seine »Bildnisse« aufzuspüren, was zugleich bedeutet, »die Verhüllungen der weiblichen Protagonistin, ihre rätselhaften Phantasien zu enthüllen«.72 Der dabei sich stets aufs Neue vermittelnde Selbstverlust, diese »unmögliche Perspektive« erzeuge schließlich ein grundsätzliches Gefühl der Trauer in 66 67 68 69 70 71 72

Ebd., S. 20. Ebd., S. 5. Ebd., S. 19 und S. 59. Ebd., S. 10. Ebd., S. 18. Ebd., S. 70. Ebd., S. 17.

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der Lyrik Kolmars. Eine Trauer, die sich auch daraus ergebe, dass dem Text und – besonders dann im Zyklus WEIBLICHES BILDNIS – auch dem Subjekt, in der Absicht sich zu verbildlichen, gerade die ersehnte imaginäre Erfüllung der Metapher misslinge. Der Name könne nicht gefunden werden, der nötig wäre, um sich zu erschließen, um sich mitteilen zu können: Woher die Worte nehmen? Und wie? Auf verschiedene Weisen führen die Gedichte dieses Moment des Nicht-mehr-Erinnerns, des Nichtverstehens, des Sich-Entgehens vor, indem die Sprechende nicht mehr weiß, was sie spricht, und sei es sogar, weil ihre Rede ein unverständliches, rätselhaftes oder wahnhaftes Ausmaß annimmt.73

Indem Zarnegin in dieser Weise den Bruch mit der »referentiellen Sprache« in Kolmars Lyrik verdeutlicht und zugleich die Unzulänglichkeit wie Unzugänglichkeit einer Bilderrede beschreibt, die autoreferentiell eingekapselt nicht aus ihrer narzisstischen Selbstbezüglichkeit herauszufinden vermag und damit in ein nicht mitteilbares Schweigen gebannt bleiben muss, verweist sie auf einen entscheidenden Gesichtspunkt, auf den auch ich in meinen Ausführungen noch genauer eingehen werde. Dabei werde ich den Zusammenhang von Schweigen, Sprachverlust und allegorischer Rede allerdings etwas anders auffassen wollen, als Zarnegin dies in ihrer Studie vorstellt. So lässt sie nach meiner Ansicht von vornherein die Analyse des lyrischen Ich in den Gedichten zu sehr außer Acht. Nirgends lassen sich nähere Hinweise darauf finden, wie sie dieses Ich in seiner poetologischen Funktion eigentlich begreifen will. Die Behauptung, dass es sich in den Gedichten stets um Selbstmetaphorisierungen handele, hilft da kaum weiter, kann dies doch eigentlich immer behauptet werden und wird die Figuration des lyrischen Ich im Text damit keineswegs genauer geklärt. Ich möchte stattdessen dafürhalten, dass hier zwar schon – durchaus im Sinne einer apotropäischen Geste – innere imaginäre Welten aufgerufen werden, die immer wieder auch in Analogie zu einem Traumgeschehen gelesen werden können. Doch wenn wir im Sinne Freuds diese Traumbilder als eine Schrift auffassen wollen, dann ist davon auszugehen, dass dieser Schrift auf eine noch verborgene Weise ebenfalls Mitteilungscharakter zukommt, dass sie sich latent schließlich doch referentiell auf etwas bezieht, was noch zu ergründen wäre. In gewisser Weise deutet Zarnegin ja ebenfalls bereits eine derartige Überschreitung der bildhaften Oberflächenstruktur in den Gedichten an, wenn sie schließlich sowohl die mediale Funktion der Tiere wie auch besonders des Kindes in Kolmars Lyrik als »sprachlose Stimme im Text«, als Verkörperungen eines Unsagbaren, auffasst und folgert, dass das weibliche Subjekt der Gedichte in »den Schacht ihrer Seele« greift, »um ihr Traumkind auf die Welt zu bringen«.74 An dessen Stelle aber bringe es dann einen Traum hervor, »wel-

73 74

Ebd., S. 72. Ebd., S. 157.

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cher als Antwort auf die Abwesenheit des Kindes eigentlich nur mit Trauer schwanger geht«.75 So gesehen kann diese Abwesenheit des Kindes als ein Ausdruck der Abwesenheit einer anderen Möglichkeit von Sprache verstanden werden, in der eben das, was sich nur mehr als Schweigen und Trauer vermittelt, mitteilbar werden könnte. Mithin geht es auch bei Zarnegin ein weiteres Mal um die Absenz einer symbolischen Ordnung, in der das Eigene und das Andere sagbar wären. Wenn wir mit Jean-Luc Nancy den Bildbegriff nun nicht allein als das Oberflächenphänomen einer Erscheinung auffassen wollen, sondern davon ausgehen, dass das Bild auf zwei simultane Weisen getrennt ist, es »von einem Grund abgehoben und aus einem Grund herausgeschnitten« ist, dann gewinnen wir zudem noch eine weitere Perspektive auf dieses Schweigen der Bilder.76 Mit der Frage nach dem Grund, von dem das Bild seinen Ausgang nimmt, aus dem es gewonnen wird, von dem es sich schließlich als Bild absetzt, rückt auch die konkrete Situation der Dichterin ins Blickfeld. Von welchem Grund werden Kolmars Gedichte umrahmt? Von welchem Zeit- und Lebensgrund heben sie sich ab, aus welchem sind sie herausgeschnitten? Dieses mitbedenkend gehe ich davon aus, dass es sich bei Kolmars Gedichten eben keineswegs nur um reine Selbstentwürfe oder etwa Selbstmetaphorisierungen handelt, sondern um höchst komplexe dichterische Bearbeitungen der eigenen Befindlichkeit vor dem ganz eigenen Grund von Sein und Zeit. Auch von hieraus kann auf das Schweigen in den Gedichten noch ein anderer erhellender Schein fallen. Darauf werde ich noch zu sprechen kommen. Überdies handelt es sich in Kolmars Lyrik stets auch um poetische Reflexionen, die gerade die Verluste auch im Sinne eines Nichtankommen-Könnens immer wieder thematisieren und gestalten. Dabei geht es oftmals auch um eine Spannung, die – wie Zarnegin zurecht schreibt – »die Kontinuität, die Einheit des Selbst in den Gedichten Kolmars buchstäblich zum Bersten, zum Zerspringen bringt«.77 Dies nun ist ein Gesichtspunkt, den Silke Nowak in ihrer 2007 erschienenen Monographie mit dem Titel »Sprechende Bilder. Zur Lyrik und Poetik Gertrud Kolmars« ebenfalls aufgreift und in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung stellt. Auch bei ihr steht also ein weiteres Mal die Auseinandersetzung mit dem Bildbegriff im Zentrum.78 Anders jedoch als Erdle und Zarnegin, welche die poetische Gestaltung in Bildern als Ausdruck eines Nichtsagbaren, eines nicht anders in Sprache zu Fassenden, begreifen, vertritt Nowak einen vollkommen anderen Ansatz. Sie geht stattdessen von der Annahme aus, dass Kolmar durch 75 76 77 78

Ebd., S. 225. Jean-Luc Nancy: Das Bild – das Distinkte (2001). In: Ders.: Am Grund der Bilder. Aus dem Französischen von Emanuel Alloa. Zürich: Diaphanes 2006, S. 18. Vgl. Zarnegin, Tierische Träume (wie Anm. 15), S. 69. Nowak, Sprechende Bilder (wie Anm. 15), S. 7.

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die Verfahrensweisen ihres poetischen Vorgehens bereits vorhandene, stereotype Bilder überhaupt erst wieder zum Sprechen bringe, indem sie diese aus ihrer bildhaften Erstarrung erlöse und in eine neue Lebendigkeit überführe. Folglich besteht das zentrale Erkenntnisinteresse ihrer Arbeit darin, ebendiese Verfahrensweisen zu untersuchen, mit denen Kolmar ihr zufolge »die zu Stereotypen erstarrten Bilder von Natur und Kunst« so zum Sprechen bringt, »dass sie in sich brechen«.79 Dieses »Brechen der Bilder« – wie Nowak es fortan nennt – meint sie dabei besonders in zwei Arten von Kolmars poetischem Vorgehen erkannt zu haben, das sie einerseits in Anlehnung an die französischen Symbolisten als »symbolistisch«, andererseits unter Bezugnahme auf Ausführungen insbesondere Walter Benjamins als »allegorisch« beschreibt. Die »symbolistische Verfahrensweise« nun, mit der Kolmar zentrale Theoreme Mallarmés und Baudelaires aufgreife, bringe die »im Bild erstarrte Bewegung« dadurch aufs Neue in Gang, dass dieses in einen »poetischen Raum« geöffnet werde. In diesem »Prozess der Verlebendigung« werde das Bild wiederum als »die Erscheinung einer Form der Synthese gedacht, mit welcher sich im Moment der lebendige Sinnzusammenhang des Ganzen offenbart.«80 Dieser belebenden Dynamik einer stets aufs Neue in Gang zu setzenden synthèse mobile drohe jedoch immer auch die Gefahr der Erstarrung im Toten, Verdinglichten oder – wie Nowak es dann nennt – im »Fadenscheinigen«. Dabei greift sie eine Metapher auf, die sie einem Vers von Kolmars Gedicht »Tanz der Rose« entnommen hat, um sie fortan paradigmatisch als Bezeichnung für »die trügerische Realisation der utopischen Vision belebter Natur« oder den falschen »Schein der Selbstübereinstimmung« oder auch eine »erstarrte Form von Identität« anzuwenden.81 Doch ist diese leitmotivische Anwendung der Metapher eines einzelnen Gedichtes für den gesamten Text der Abhandlung keineswegs unproblematisch. Wenn es in Kolmars Gedicht heißt: Sieh, du willst kein Alter/ Mit verschließnem Siechtum, Fadenschein [Hervorhebung F. H.], dann lässt sich hier sicherlich eine kunstvolle Verwobenheit von blühender-verblühender Rose, von Alter, Verwelken und Verschleiß erkennen, die alle tänzerische wie poetische Bewegung, alle blonden Düfte und ein glitzernd morgenrotes Schäumen schließlich zu einem brüchigen, abgelebten Stillstand zu bringen droht.82 79 80 81 82

Ebd., S. 8. Ebd., S. 8 und S. 9. Ebd., S. 10, S. 144, S. 193. Das Gedicht »Tanz der Rose« in LW, Gedichte 1927–1937, S. 324f., lautet: So geschwätzig schweigend, Bist du Rauschrock einer Tänzerin; Mit den Flatterfalbeln reigend, Schwebt sie über grünen Teppich hin, Blond sind ihre Düfte,

1.2 Lektüren und Entfaltungen. Einige Anmerkungen zur Forschung

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Und so mag der Metapher für das Gedicht »Tanz der Rose« schließlich auch eine entscheidende Rolle zukommen, ja, mag sie darüber hinaus vielleicht auch noch für den gesamten Gedichtzyklus BILD DER ROSE. EIN BEET SONETTE Gültigkeit beanspruchen. Nowak gelingen hier durchaus überzeugende Lesarten, insbesondere, was die tänzerische Dynamik eines Sch...webens und Webens (vgl. Nowak S. 64) in der poetischen Komposition der Gedichte anbelangt. Auch wirkt der Bezug zu den französischen Symbolisten in diesem Kontext nachvollziehbar, wobei damit zugleich ein Zusammenhang angesprochen wird, der in der Kolmar-Forschung zunehmend diskutiert wird und auf den schon Erdle und Zarnegin hingewiesen haben.83 Wenn Nowak diesbezüglich nun aber von einer gezielten, geradezu programmatischen Auseinandersetzung Kolmars mit der Poetik dieser Dichter ausgeht, dann basiert das meiner Meinung nach allerdings kaum mehr auf einer nachvollziehbaren intertextuel-

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Du bist sanfte Schale, die sie hält, Das Geheimnis ihrer Hüfte Ist das zärtlichste der Welt. Rosa Atlas rieselt, Und ein goldner Schleier schweift und irrt, Leises Lachen nieselt, Wenn das Silberküglein tropft und klirrt, Morgenrotes Schäumen Glitzert im Vergehn, Frühlingsnächte träumen, die so jung wie ihre Augen wehn. Ihrer Ringellocke, Ihrem Wiegefuß und weißem Knie Summst du, seidne Glocke, Selbst die süße Walzermelodie: Wie Geläut der Bienen Als ein braun und bronzner Sammet singt, Und die Scherbe Himmel über ihnen Blau an deine Wandung klingt! Sieh, du willst kein Alter Mit verschlissnem Siechtum, Fadenschein; Taumeln Küsse, taumeln Falter Schlaff zu deinen Buchten ein, Schmilzt du wie die Flocke, Die ihr Leben reulos streift und lässt, Eine aschenblonde Locke Flicht der Kirschpirol ins Nest. Vgl. Erdle, Antlitz – Mord – Gesetz (wie Anm. 43), S. 245. Ebenso Zarnegin, Tierische Träume (wie Anm. 15), S. 26f. Vgl. hierzu zudem die Ausführungen von Hans Peter Bayerdörfer, der sich als einer der ersten zu diesem Kontext geäußert hat. Bayerdörfer, Die Sinnlichkeit des Widerlichen (wie Anm. 11).

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len Analyse oder auf der Recherche verfügbarer Quellen.84 Und auch wenn Nowak des Weiteren der Auffassung ist, dass Kolmar das »Bild der Rose« nicht nur »bricht«, indem sie es in symbolistischer Manier zum »Sprechen, Tanzen, Singen, Träumen« erwecke, sondern sie damit zugleich auch »das am Ende der 20er Jahre in Berlin längst fadenscheinig gewordene Bild der Utopie moderner Poesie« breche, um es vor seiner »Verkehrung ins Gegenteil zu retten«, finden Generalisierungen statt, die den Rahmen von Kolmars Gedichten in einer Weise überschreiten, der ich so nicht folgen möchte.85 Problematisch wird Nowaks Studie zudem, wenn sie in Gegenüberstellung zur symbolistischen Verfahrensweise in BILD DER ROSE das allegorische Vorgehen Kolmars insbesondere in dem Zyklus WEIBLICHES BILDNIS untersucht, der ihr zufolge »den stärksten Gegenpol« dazu darstellt. Anders als die symbolistische Verfahrensweise mit ihrer »Erfahrung der Teilhabe an der Bewegung eines Ganzen«, könne die allegorische allerdings nun nicht mehr jenen »Fadenschein von Natur« positiv als einen »Traum von Freiheit« zum Ausdruck bringen. Die »Totalität der allegorischen Darstellungsweise« bedeute demgegenüber vielmehr die »Leidensgeschichte der Menschen, die in ihr erstarrt sind oder aus ihr hinausgestoßen wurden«.86 Dieser in vermeintlicher Anlehnung an Benjamin vorgestellte Allegoriebegriff führt dann auch zu entsprechenden Fehlinterpretationen. Schließlich sagt es nur mehr kaum noch etwas über Kolmars Gedichtzyklus aus, wenn Nowak die »Bilder des Weiblichen und des Jüdischen« in WEIBLICHES BILDNIS vor allem als stereotype Fremdbilder begreift, die angeblich »sowohl zur Konstruktion eines männlichen Selbstbildes« dienen würden als auch zur »Konstruktion von nationaler Identität, zur Selbstbehauptung ›des deutschen Volkes‹, indem ›den Deutschen‹ und ›den Juden‹ zwei antagonistische Wesen zugeschrieben wurden«.87 Darüber hinaus halte ich die Auffassung, dass das Symbol als fadenscheiniger Einheitsschein einer Übereinstimmung mit sich selbst dem Mythos zugehöre und bereits immer schon Versteinerung sei, die allein in einer synthèse mobile aufzuheben oder durch die Allegorie zu brechen sei, für eine Vereinfachung, die in dieser Form nicht aufrechterhalten werden kann.88 Zwar zitiert Nowak zur Untermauerung ihrer Thesen immer wieder Mallarmé, Baudelaire 84

85 86 87 88

So geht es meiner Ansicht nach zu weit, wenn Silke Nowak seitenlang Mallarmés und Beaudelaires poetisches Programm zitiert und dieses dann meint direkt auf Kolmars Poetik übertragen zu können. Vgl. Nowak, Sprechende Bilder (wie Anm. 15), S. 108–120. Ebd., S. 9. Ebd., S. 280f. Ebd., S. 10. Vgl. zu der Auseinandersetzung mit Symbol und Allegorie u. a. Paul de Man: Die Rhetorik der Zeitlichkeit. In: Ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Übersetzt von Jürgen Blasius. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 83–130.

1.2 Lektüren und Entfaltungen. Einige Anmerkungen zur Forschung

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und vor allem auch Walter Benjamin. Doch trifft hier zu, was Rosmarie Zeller zu Recht an einer oftmals reduzierten Benjamin-Rezeption als unhistorisch kritisiert hat.89 Schließlich kann auch Benjamins Auffassung des Allegorischen als »Antidoton« eines mythischen Einheitsscheins des Symbolischen nicht ohne seine Kritik an der bürgerlichen Warenwelt sowie den zeitgenössischen Hintergrund des heraufziehenden Nationalsozialismus gelesen werden.90 Aufgrund der Schwerpunktsetzung meiner Arbeit will ich hier nun exemplarisch etwas genauer auf Nowaks Auslegung des Gedichts »Die Jüdin« aus WEIBLICHES BILDNIS eingehen. Nowak geht davon aus, dass allein schon durch den Titel des Gedichts eine Fremdbestimmung gegeben sei, die dazu führe, dass das Besondere vom »Allgemeinbegriff« absorbiert zu werden drohe, »weil es unter dem Bann einer Zuschreibung« stehe, die »als Wesen oder Natur des jeweiligen Abstraktums« gedacht werde.91 Es sei daher auch kein Wunder, dass das Gedicht bereits mit der Feststellung eines Fremdseins beginne.92 89

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Rosmarie Zeller: Grenztilgung und Identitätskrise. Zu Musils Törleß und Drei Frauen. In: Matthias Luserke-Jaqui und Rosmarie Zeller (Hg.): Musil-Forum. Studien zur Literatur der klassischen Moderne. Band 27, 2001/2002. Berlin, New York: de Gruyter 2003, S. 189. Nowak, Sprechende Bilder (wie Anm. 15), S. 282. Ebd., S. 184. Vgl. dazu das ganze Gedicht »Die Jüdin« in LW, Gedichte 1927–1937, S. 91f.: Ich bin fremd. Weil sich die Menschen nicht zu mir wagen, Will ich mit Türmen gegürtet sein, Die steile, steingraue Mützen tragen In Wolken hinein. Ihr findet den erzenen Schlüssel nicht Der dumpfen Treppe. Sie rollt sich nach oben, Wie platten, schuppigen Kopf erhoben Eine Otter ins Licht. Ach, diese Mauer morscht schon wie Felsen, Den tausendjähriger Strom bespült; Die Vögel mit rohen, faltigen Hälsen Hocken , in Höhlen verwühlt. In Gewölben rieselnder Sand, Kauernde Echsen mit sprenkligen BrüstenIch möchte’ eine Forscherreise rüsten In mein eigenes uraltes Land. Ich kann das begrabene Ur der Chaldäer Vielleicht entdecken noch irgendwo, Den Götzen Dagon, das Zelt der Hebräer, Die Posaune von Jericho.

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Nowak fühlt sich überrascht von der Metapher mit Türmen gegürtet sein, wiederhole sich doch ihrer Meinung nach in den Türmen »der Ausdruck der Erstarrung des menschlichen Gesichts«, weshalb diese in »Analogie zu der geschlossenen Identitätsform der ›Menschen‹« zu lesen seien.93 Diese Beobachtungen führen sie wiederum zu der Erkenntnis, dass der poetische Prozess hier noch »an seiner Entfaltung gehindert« sei.94 Und während »das kleine Ich« in die Türme dergestalt einwachse, »mumifiziert es zugleich zu einer leblosen Wachsfigur. Es scheint nun selbst zu dem Riesentier Behemoth geworden zu sein.«95 Der Name des Behemoth, den Kolmars Gedicht einige Strophen später erst nennt und mit dem die Dichterin möglicherweise sowohl auf eine Gestalt biblischer Mythologie als auch aus der Dichtung anspielt,96 wird hier von Nowak

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Die jene höhnischen Wände zerblies, Schwärzt sich in Tiefen, verwüstet, verbogen; Einst hab’ ich dennoch den Atem gesogen, Der ihre Töne stieß. Und in Truhen, verschüttet vom Staube, Liegen die edlen Gewänder tot, Sterbender Glanz aus dem Flügel der Taube Und das Stumpfe des Behemoth. Ich kleide mich staunend. Wohl bin ich klein, Fern ihren prunkvoll mächtigen Zeiten, Doch um mich starren die schimmernden Breiten Wie Schutz, und ich wachse ein. Nun seh’ ich mich seltsam und kann mich nicht kennen, Da ich vor Rom, vor Kathargo schon war, Da jäh in mir die Altäre entbrennen Der Richterin und ihrer Schar. Von dem verborgenen Goldgefäss Läuft durch mein Blut ein schmerzliches Gleißen, Und ein Lied will mit Namen mich heißen, Die mir wieder gemäß. Himmel rufen auf farbigen Zeichen. Zugeschlossen ist euer Gesicht: Die mit dem Wüstenfuchs scheu mich umstreichen, Schauen es nicht. Riesig zerstürzende Windsäulen wehn, Grün wie Nephrit, rot wie Korallen, Über die Türme. Gott lässt sie verfallen Und noch Jahrtausende stehn. Ebd., S. 187. Ebd., S. 191. Ebd., S. 193. Vgl. dazu Hiob Kap. 40, Vers 15–24. Zudem taucht Behemoth u. a. auf in Arthur Rimbauds Gedicht »Das Trunkene Schiff«. Behemoth, was aus dem Hebräischen

1.2 Lektüren und Entfaltungen. Einige Anmerkungen zur Forschung

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wie zuvor die Metapher vom Fadenschein ein weiteres Mal aus dem Gedichtvers herausgenommen und paradigmatisch auf einen allgemeinen Zusammenhang projiziert, der nun für das destruktiv Zerstörerische des Antisemitismus im Allgemeinen stehen soll. Dies führt wiederum zu Vermutungen, die den Kontext des Gedichtes schließlich ein weiteres Mal übersteigen, wenn es heißt: Der Versuch des sprechenden Ichs, eine wahre jüdische ›Ur‹-Identität zu entdecken und neu zu beleben, schlägt hier paradoxerweise um in den Fund antisemitischer Mythen. Das verschlossene Wesen der ›dumpfen Treppe‹ kippt beim Versuch, die fremden Figuren in etwas Eigenes, Vertrautes zu verwandeln, in das ›Stumpfe‹ des Behemoth um. Als solches offenbart es nicht ein wahres, sondern ein mythisch dämonisches Gesicht des Jüdischen.97

Mithin, so Nowaks Fazit, finde das »poetische Wunder der Verlebendigung erstarrter Bilder« in der »gesellschaftlichen Realität« von »Die Jüdin« nicht statt.98 Es ist in der Tat etwas Wahres daran, wenn eine Verlebendigung der Bilder in dem Gedicht »Die Jüdin« sich schwierig gestaltet, wenn auch meiner Ansicht nach aus anderen Gründen als den von Nowak angeführten. Überhaupt ist es zweifellos auch ein Verdienst von Nowaks Arbeit, auf die Durchdringung von Symbolischem und Allegorischem in Kolmars dichterischem Werk, ihr gegenseitiges Einander-Infragestellen sowie das dadurch bedingte Aufbrechen klischeehafter, erstarrter Bildvorstellungen hingewiesen zu haben. Diese Auflösungen des im Artifiziellen Erstarrten durch entsprechende Dynamiken oder Brechungen innerhalb der poetischen Vorgehensweise der Dichterin sind – insbesondere in dem Verszyklus WELTEN – immer wieder nachzuvollziehen und haben durchaus eine genaue Kenntnisnahme verdient, wie ich anhand der Gedichtanalyse von »Garten im Sommer« aus ebendiesem Zyklus in meiner Arbeit noch zeigen werde. So hat derselbe Benjamin, den Nowak immer wieder zur Begründung ihrer Aussagen anführt, mit seinem Begriff eines dialektischen Denkbildes allerdings eine ganz andere Auffassung des Allegorischen vorgeschlagen. Ich möchte daher hier mit Sigrid Weigel dafür halten, dass den allegorischen Bildern – und das gilt auch für die poetischen Bilder Gertrud Kolmars – keine

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übersetzt einfach »Tiere« oder »Vieh« heißt, gilt als Name eines Ungeheuers. Meist trägt es Züge des Flusspferds, aber auch des Elefanten, des Wasserbüffels oder einer Ziege. Behemoth sowie Leviathan gelten nach Hiob »als erstes der Werke Gottes«. Ich meine, dass damit ganz allgemein auf eine animalische Urkraft verwiesen wird, deren »rohe Natur« immer wieder eine Bedrohung wie auch Herausforderung für den Menschen bedeutet. Nowak, Sprechende Bilder (wie Anm. 15), S. 195. Ebd., S. 197.

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Abbildfunktion einer realen gesellschaftlichen Situation zukommt.99 Diese Bilder stellen keine Repräsentationen dar, sondern können – im Sinne von Benjamins Allegoriebegriff – als Erinnerungsspuren gelesen werden, die in der Weise eines dialektischen Denkbildes neu zu beleben wären, denn das Bild als »nicht-materielle Erscheinung einer Ähnlichkeit, die der Struktur des Traumbildes vergleichbar ist«, fasst gerade Benjamin als »jene Gestalt« auf, »in der Erfahrungen, Geschichte und Wirklichkeit erkennbar werden, in der sie in Erscheinung treten«.100 Mit dieser Auffassung eines Bilddenkens ist Benjamin nach Weigel »jenen Momenten auf der Spur«, in denen »mit Blick auf Gedächtnis und Geschichte, Figuren der Erinnerung mit der gegenwärtigen Wahrnehmung« zusammentreffen.101 Es sei nun dieses Aufscheinen der Bilder im Gegenwärtigen – »worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt« – durch das sich ebenjenes »Moment einer Ursprünglichkeit« ereigne, das jeglicher Abbildfunktion entgegenstehe.102 Gerade dieser Bildbegriff Benjamins aber knüpfe an eine »zurückgedrängte biblische bzw. jüdische Bildtradition« an, in der das Bild als »Synonym« für eine »nicht-materielle Ähnlichkeit« verwendet werde. In dieser Weise werden die Bilder zur Schrift, werden sie lesbar. Diese »Denkbilder«, die sich im Sinne Schrift gewordener Konstellationen entfalten, nehmen wiederum ihren Ausgang von »etablierten Vorstellungen, von bekannten Bildern und Figurationen des Denkens, in denen Geschichte, Wirklichkeit und Erfahrungen strukturiert und ausgedrückt werden«.103 Wenn wir uns nun unter diesem Gesichtspunkt einer »Relektüre von Geschichte als Gedächtnisszene« ein weiteres Mal dem Gedicht »Die Jüdin« zuwenden, so erschließt sich uns allerdings eine gänzlich andere Lektüre als die von Nowak vorgeschlagene.104 Es kann hier allerdings aufgrund der Schwerpunktsetzung meiner Arbeit, in der schließlich ein anderes Gedicht Gertrud Kolmars im Zentrum stehen soll, nun nicht darum gehen, das Gedicht »Die Jüdin« in seiner ganzen poetologischen wie inhaltlichen Vielschichtigkeit einer Exegese zu unterziehen. Einige Hinweise sollen daher genügen. Fürs Erste bin ich mit Erdle der Auffassung, dass die Ruine der verfallenden Türme in der zweiten Strophe von »Die Jüdin« bereits einen diskursiven Raum semantisiert.105 Das sprechende Ich findet sich im Inneren dieses zerfallenden 99 100 101 102 103 104 105

Sigrid Weigel: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise. Frankfurt am Main: Fischer 1997, S. 52. Ebd., S. 54. Ebd., S. 56. Ebd. Ebd., S. 58. Ebd., S. 226. Birgit R. Erdle: Verbotene Bilder. Zur Interpretation des Exils bei Gertrud Kolmar. In: Itta Shedletzky und Hans Otto Horch: Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationsliteratur im 20. Jahrhundert. Tübingen: Max Niemeyer 1993, S. 126.

1.2 Lektüren und Entfaltungen. Einige Anmerkungen zur Forschung

29

und verlassenen Raums, der zugleich eine polylogische, eine geschichtete und gezeitigte Struktur besitzt und in dem sich das Ich auf der »Suche nach Anknüpfungspunkten innerhalb der eigenen, verschütteten Tradition« bewegt.106 Dabei wird diese Rückkehr zur jüdischen Überlieferung von der Dichterin als ein Lektüreprozess im Sinne der Re-Lektüre einer Schrift aufgefasst, handelt es sich doch bei den bruchstückhaften Resten, die das Ich während seiner Suche noch findet, keineswegs um materielle Überreste eines wirklich Gewesenen, geht es nicht um Repräsentationen einer möglicherweise noch auffindbaren Realität, sondern um »Fragmente erzählter und niedergeschriebener Geschichte, das heißt um Bruchstücke von Zeichen«.107 Mithin können wir dieses Zusammentragen einer allegorischen Gedächtnisszene durchaus im Sinne Walter Benjamins als den Versuch der Belebung eines dialektischen Denkbildes auffassen, in dem das Gewesene mit dem Jetzt zu einer unmittelbaren Konstellation zusammentritt. Demnach wird mit der Metonymie von den Türmen auf ein textuelles Gewebe verwiesen, das im Sinne einer Gedächtnisarbeit sowohl hinab in die Tiefe geschichtlicher Entwicklung als auch in die Höhe eines reflexiven Standpunktes weist, der sich dieser geschichtlichen Tiefendimension im poetologischen Vorgehen zu vergewissern und anzunähern sucht. Wenn wir die Türme, mit denen das Ich sich gürten will, somit zugleich als einen Raum verstehen, der die Struktur eines Textes besitzt, dann stellt sich des Weiteren die Frage, aus welchen textuellen Schichten diese Struktur gewebt oder aber gebaut oder aber aufgetürmt worden ist. Eine Fülle von intertextuellen Referenzen wird dabei für das gesamte Gedicht nachvollziehbar, die sich besonders auf die hebräische Bibel beziehen, zuweilen aber auch auf andere poetische Texte – in diesem Fall besonders auf ein Gedicht von Else Lasker-Schüler im ersten Vers von Strophe vier – oder schlichtweg auf überliefertes Allgemeinwissen aus der jüdischen Kultur.108 Auf diese transtextuelle Vielschichtigkeit, die zugleich einen diskursiven Raum eröffnet, möchte ich nun auszugsweise anhand der zweiten Strophe des Gedichts eingehen. So findet sich in diesen ersten Versen des Gedichts eine Anspielung auf das Hohelied, das Schir ha Schirim, Kapitel 8 Vers 10, in dem

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Erdle, Antlitz – Mord – Gesetz (wie Anm. 43), S. 157. Ebd., S. 161. Ebd., S. 160. Heitschmidt, Saiten, die noch tönen (wie Anm. 32), S. 152f. Wie ebenfalls Birgit R. Erdle und Alfred Bodenheimer erwähnen, ist die Anspielung in der vierten Strophe auf Else Lasker-Schülers Gedicht »Mein Volk« (1905) evident, wenn es dort heißt: Der Fels wird morsch/ Dem ich entspringe/ [...]. Else LaskerSchüler: Werke. Hg. von Sigrid Bauschinger. München: Artemis & Winkler 1991, S. 40f. Vgl. auch Erdle, Antlitz – Mord – Gesetz (wie Anm. 43), S. 158, Anm. 29. Bodenheimer, Krakelschrift, Sinaisand (wie Anm. 63), S. 253, Anm. 4.

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es – nach Klaus Reicherts sehr wortgetreuen Übersetzung – heißt: Ich bin eine Mauer/ und meine Brüste/ wie Türme.109 Doch während die Türme in den Versen des Hohelied die Standfestigkeit einer Geliebten umschreiben, gelten sie dem Ich in Kolmars Gedicht als ein Schutzraum gegen Ausgrenzung und Verstoßung. Zugleich verweist die Überschneidung von Türmen und Kleidung im Gedicht auf das textuelle Motiv dieser Türme als »Metonymie einer Differenz«, die sich aus den Erfahrungen von Leiblichkeit, Weiblichkeit und jüdischer Tradition herschreibt.110 Des Weiteren können die steilen, in ihrem Steingrau nachgerade denkmalartigen Mützen auf einen Passus in Exodus, Kapitel 28, Vers 40 anspielen, in dem Aaron und seinen Söhnen als Vertretern der Priesterkaste vorgeschrieben wird, Kegelmützen, Leibröcke und Leibgurte als Zierde und Schmuck zu tragen, wenn sie das Stiftszelt mit dem Allerheiligsten betreten.111 Zu dieser biblischen Lesart passen auch die Wolken, bis in die hinein das Ich des Gedichts die Mützen ragen lassen möchte und die jene Wolke ins Gedächtnis rufen, die den Israeliten im Sinai die Präsenz Gottes anzeigte. Doch kann es sich bei diesen Mützen andererseits auch um eine Andeutung auf die mittelalterlichen, spitzen, turmähnlichen Judenhüte handeln, die die Juden gezwungen waren zu ihrer Kennzeichnung zu tragen und die als Zeichen von Ausgrenzung und Stigmatisierung galten.112 Und während Letzteres durchaus in die Gegenwart eines Ich weist, das sich aufgrund der Furcht der Anderen, die sich nicht zu ihm wagen, fremd fühlt, kann Ersteres als ein Zurückgehen in eine Zeit gelesen werden, in der derartige Mützen noch ein Schmuck und eine Zierde waren, womit einem Göttlichen Ehrerbietung erwiesen wurde. Schon diese zwei Auslegungsstränge lassen hier ein weiteres Mal jenes Verhältnis von »Projektion und Reflexion« erkennen, das Alfred Bodenheimer im Kontext seiner Lesarten von Kolmars Gedichten »Ewiger Jude« und »Moses im Kästchen« – wie bereits erwähnt – herausgestellt hat und von dem an späterer Stelle noch eingehender die Rede sein wird.113 Überdies dürfte nachvollziehbar geworden sein, dass mit den verschiedenen Anspielungsebenen schon in diesen ersten Versen des Gedichts sich turmartig

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Klaus Reichert: Das Hohelied Salomos. Salzburg, Wien: Residenz 1996, S. 77. Auch Erdle verweist auf diesen Zusammenhang mit dem Hohelied: Vgl. Erdle, Antlitz – Mord – Gesetz (wie Anm. 43), S. 157. Ebd. Ich beziehe mich hier auf folgende Übersetzung aus dem Hebräischen: Die Heilige Schrift. Nach dem masoretischen Text neu übersetzt und erklärt nebst einer Einleitung von Dr. S. Bernfeld. Berlin: S. Calvary & Co. 1902. Vgl. hierzu auch: Markus J. Wenninger: Die Juden in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels. In: Gelber/Hessing/Jütte (Hg.), Integration und Ausgrenzung (wie Anm. 36), insbesondere S. 16f. Insbesondere dann in Kapitel 1.3.

1.3 Deutsch-jüdisch. Zwischen Differenz und Nicht-Differenz

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verschiedene Zeit- und Erfahrungsebenen übereinanderschichten und sich gegenseitig durchwirken, sodass eine ganze eigene Textstruktur entsteht, die allerdings sehr genau – sowohl inwendig als auch auswendig – die jüdische Situation des Fremdseins erfasst. Schließlich finden sich im gesamten Gedicht immer wieder polyvalente Textschichten, die nachgerade »palimpsestartig« übereinandergeschrieben sind.114 Mithin handelt es sich um eine stets gleitende Signifikantenkette, die von vornherein jeder eindeutigen Lesart entgegenläuft und zugleich auf das Uneinholbare eines irgendwie gegebenen ursprünglichen Signifikats verweist. Auch in dieser Weise lässt sich »Die Jüdin« als eine offen bleibende Suche verstehen, die ihr »schmerzliches Gleißen« in der Sehnsucht nach dem authentischen Namen zwar immer wieder aufscheinen lässt und in immer erneuten Anspielungen wie Erinnerungsbruchstücken zu umkreisen sucht, ohne indes je zu einem Abschluss kommen zu können. Doch während Kolmar den jüdischen Bezug in dem Gedicht »Die Jüdin« offen thematisiert, auch wenn sich dann viel Verborgenes darin entdecken lässt, so kann für das Gedicht »Garten im Sommer«, um das es im Folgenden gehen wird, nichts Vergleichbares behauptet werden. Hier handelt es sich vielmehr ganz offensichtlich um ein Gedicht, das auf der textuellen Oberfläche kaum auf einen jüdischen Kontext hinzuweisen scheint, diesen »subtextuell verstellt« aber sehr wohl anspricht.115 Davon wird noch eingehend die Rede sein. Zuvor aber gilt es, Kolmars Verhältnis zu ihrem Judentum genauer herauszuarbeiten.

1.3

Deutsch-jüdisch. Zwischen Differenz und Nicht-Differenz

Und dann: ich fühle, ich lebe seit langem hier in der Fremde. Und zöge ich in eine ferne Gegend und wäre sie noch so schön, ich bliebe im Herzen doch immer ›ein Wanderer, der zwei Fremden und keine Heimat hat‹. Ich sehne mich heimzukehren.116

In diesen wenigen Briefzeilen, geschrieben von Gertrud Kolmar am 26. Dezember 1939 an ihre bereits in die Schweiz emigrierte Schwester Hilde Wenzel, vermitteln sich mehrere Botschaften zugleich. Offenbar veranlasst durch den bedrückenden Hintergrund einer Realität, die für alle deutschen Juden 1939 bedrohlicher Alltag geworden war, teilt sich in ihren Worten – mit denen 114

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Diesen Begriff übernehme ich in Anlehnung an die Ausführungen von Andreas Kilcher über verborgene Textstrukturen in Franz Kafkas Schreiben. Andreas B. Kilcher: Das Theater der Assimilation. Kafka und der jüdische Nietzscheanismus. In: Friederich Balke, Joseph Vogl und Benno Wagner (Hg.): Für Alle und Keinen. Lektüre, Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka. Zürich, Berlin: Diaphanes 2008, S. 204. Ebd., S. 202. Kolmar, Briefe (wie Anm. 1), S. 49.

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1 Eine deutsch-jüdische Dichterin

sie wahrscheinlich auf Grillparzers Gedicht »In der Fremde« anspielt – eine äußere wie innere Heimatlosigkeit mit, die einen Ort zum Verweilen nicht mehr finden lässt, ja – trotz größter Sehnsucht danach – nicht einmal mehr vorstellbar sein lässt.117 Überdies spielt Kolmar in ihren Worten auf eine Zerrissenheit an, die über die subjektive Beschreibung hinaus symptomatisch für eine Vielzahl deutschjüdischer Autorinnen und Autoren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen ist und deren Brisanz sich ab 1933 dann ungleich verschärfen wird. So geht es in ihrer Selbstaussage eben auch um jene »zwei Seelen der deutschen Juden«, wie Paul Mendes-Flohr diese Befindlichkeit in seinem Buch mit gleichlautendem Titel bezeichnet hat.118 Mit dieser metaphorischen Umschreibung verweist er auf eine Ambiguität, die auch für Kolmar offenbar zu der Erkenntnis geführt hat, dass keine dieser zwei Seiten für sie eine gegebene Identität mehr bedeuten kann, ihr beide unzugänglich und fremd bleiben müssen. War zu der Zeit, als Kolmar die zitierten Zeilen an die Schwester niederschrieb, das Ausgestoßensein aus der deutschen Gesellschaft längst zur tragischen Gewissheit geworden, so war die Zugehörigkeit zum Judentum wiederum von einer Entfremdung geprägt, die ebenfalls keine selbstverständliche Verfügbarkeit mehr ermöglichte. Sowohl im Kaiserreich als auch – verstärkt dann – zur Zeit der Weimarer Republik reflektierten viele deutsch-jüdische Intellektuelle und Künstler diesen Konflikt zwischen jüdischer und deutscher Identität.119 Fand im Zuge der Emanzipation als lang ersehnte Erfahrung gleicher Rechte und freier Selbstbestimmung, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – wie Gershom Scholem das einmal benannt hat – »ein radikaler Übergang der Juden aus dem alttraditionellen Lebenskreis [...] zu einem Germanismus« statt, dem die deutschnationale Bildung und die Teilnahme an den allgemeinen und bürgerlichen Interes117

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Ich nehme an, dass Kolmar in ihrem Zitat auf Grillparzers Gedicht »In der Fremde« (1843) anspielt. Dort heißt es in der dritten Strophe: Wo also willst du weilen? Wo findest du die Statt? O Mensch, der nur zwei Fremden Und keine Heimat hat. Vgl. Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe in 42 Bänden. Hg. von August Sauer und Reinhold Backmann. Zweite Abteilung. Elfter Band: Tagebücher und literarische Skizzenhefte V. Wien: Kunstverlag Anton Schroll & Co. 1924, Nr 3681, S. 49. Auch Marion Brandt vermutet in ihrer Monographie hier eine Anspielung auf Grillparzer, benennt allerdings nicht das konkrete Gedicht. Vgl. Brandt, Schweigen ist ein Ort der Antwort (wie Anm. 19), S. 90, Anm. 29. Paul Mendes-Flohr: Jüdische Identität. Die zwei Seelen der deutschen Juden. München: Wilhelm Fink 2004. Vgl. zu diesem Thema auch die Abhandlung von Willi Jasper: Deutsch-jüdischer Parnass. Literaturgeschichte eines Mythos. München: Propyläen 2004, insbesondere S. 14–24.

1.3 Deutsch-jüdisch. Zwischen Differenz und Nicht-Differenz

33

sen als die wesentliche Aufgabe erschien,120 so lassen sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts dann verschiedentlich bereits auch kritische Töne vernehmen, die diesen schnellen und vielleicht allzu vorbehaltlosen Assimilationsprozess auf unterschiedliche Weise infrage stellen. »Seit dem späten 18. Jahrhundert«, schreibt Shulamit Volkov, »wurde von den Juden erwartet – nicht nur und nicht einmal in erster Linie von ihren Gegnern –, dass sie ihre eigentümliche ›Jüdischkeit‹ auf Wunsch ablegen konnten.«121 Das allerdings konnte in Wirklichkeit kaum in dieser Weise gelingen: »Die Juden selbst wunderten sich oft über ihre Unfähigkeit, gerade dies zu tun«, fährt Volkov fort und führt diesen Umstand darauf zurück, dass das Judentum eben mehr sei als nur eine Religion. Es sei vielmehr als ein »umfassendes ›kulturelles System‹« zu verstehen, dessen Spuren in seiner durchdringenden und prägenden Vielschichtigkeit nicht so einfach abzustreifen sind.122 Zwar waren am Ende des 19. Jahrhunderts die meisten Juden in Deutschland nicht mehr Teil der alten jüdischen Welt, doch waren sie »auch nicht so völlig mit ihrer neuen Umgebung verschmolzen, wie sie oft glauben wollten. Die meisten von ihnen lebten in einer dritten Sphäre, die sich während des Jahrhunderts langsam entwickelte. Sie lebten in ihrem eigenen deutschjüdischen Kultursystem.«123 Gerade um die Jahrhundertwende aber kehrten viele, desillusioniert in ihrem Streben nach Akkulturation und erschüttert durch den immer wieder gewaltsam ausbrechenden europäischen Antisemitismus, auch zu der einen oder anderen Form des Judentums zurück. Das »jüdische Projekt der Moderne« begann sich zu entwickeln.124 Mithin ging es im Übergang zum 20. Jahrhundert im Wesentlichen darum, einen neuen Bezugsrahmen und neue Identifikationskoordinaten für moderne Juden in einer modernen europäischen Umgebung zu schaffen, und das war »eine Sache sowohl der Rekonstruktion als auch der Invention«.125 Aus einer 120 121

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Gershom Scholem: Juden und Deutsche. In: Ders.: Judaica 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 31. Shulamit Volkov: Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland. In: Dies.: Das jüdische Projekt der Moderne. Zehn Essays. München: C. H. Beck 2001, S. 122. Vgl. dazu gleichfalls die Ausführungen von Yosef Hayim Yerushalmi: »Die Juden dagegen stellen seit Anbeginn ihrer Geschichte eine einzigartige Verschmelzung einer Religion und eines Volkes dar und sind mit nur einer dieser beiden Kategorien nicht zu begreifen.« Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Berlin: Wagenbach 1988, S. 12. Volkov, Die Erfindung einer Tradition (wie Anm. 121), S. 123. Ebd., S. 124. Auch der 1938 aus Hitlerdeutschland emigrierte Historiker Fritz Stern erinnert sich an das jüdische Umfeld seiner Herkunft, in dem das Judentum als eine für viele Juden »emotionale, persönliche Angelegenheit« angesehen wurde, »über die sie selten sprachen. Aber es bestimmte ihr Leben«. Fritz Stern: Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen. München: C. H. Beck 2007, S. 30. Shulamit Volkov: Reflexionen zum ›modernen‹ und zum ›uralten‹ jüdischen Nationalismus. In: dies., Die Erfindung einer Tradition (wie Anm. 121), S. 46. Amos

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1 Eine deutsch-jüdische Dichterin

Vielzahl von Elementen, die nebeneinander existierten und sich nur selten gegenseitig unterstützten, galt es eine Alternative aufzubauen. In diesem Kontext entwickelten sich vor allem Wissenschaft, Bildung und Kultur zu Idealen, die »von allen Schichten des deutschen Judentums verehrt wurden«.126 Eine Art »Kulturreligion« bildete sich heraus, wie sie für den überwiegenden Teil des bürgerlich-jüdischen Milieus dann so bezeichnend werden sollte.127 Gerade aufgrund dieser Annahme deutscher Kultur und Bildung aber, die auf der Kultivierung universeller, der deutschen Aufklärung entlehnter Werte basierte, war die eigene jüdische Identität zunehmend schwieriger zu bestimmen. Sowohl Identitäten als auch Loyalitäten spalteten sich und die Herausforderung eines Lebens, das von mehrfachen Identitäten und kulturellen Zugehörigkeiten bestimmt war, wurde immer unumgänglicher. Die wirkliche Bedrohung lag »in der Falle der Ambivalenz«, folgert dann auch Volkov.128 Man fühlte sich mehreren Identitäten zugehörig und lebte in vielen Welten. Auf der einen Seite gab es die vielfältigen Möglichkeiten eines Judentums, das seinen Anschluss an die Moderne suchte. Dabei reichte das Spektrum vom frühen Zionismus über die bewusst jüdische Politik des Centralvereins bis zu den erneuten Kontroversen über die verschiedenen Formen alter und neuer Orthodoxie.129 Auf der anderen Seite konnten die Juden ideologisch wie künstlerisch – ebenso wie andere Deutsche – jedes verfügbare kulturelle Material frei auswählen und taten dies auch täglich. Ein und derselbe Schriftsteller bezog seine Inspiration aus deutschen Heldensagen und aus chassidischen Geschichten. Ein und derselbe Pädagoge war in der Erwachsenenbildung der deutschen Volkshochschule und der des jüdischen Lehrhauses tätig. Ein und derselbe Maler bildete deutsche Soldaten und Ostjuden ab. Ein und derselbe Architekt baute Warenhäuser und Synagogen.130 Deutlich wird damit vor allem, dass »das Projekt der Assimilation« – wie Volkov es einmal bezeichnet hat – immer auch ein individueller Weg war, der von mehr oder weniger individuellem Erfolg gekrönt war und sich jeglichen vereinfachenden Zuordnungen entzieht.131 Schließlich aber lässt sich mit Gershom Scholem allgemein festhalten:

126 127 128 129 130 131

Elon: Zu einer anderen Zeit. Porträt der deutsch-jüdischen Epoche 1743–1933. München: Hanser 2003 , S. 238. Mendes-Flohr, Jüdische Identität (wie Anm. 118), S. 47. Stern, Fünf Deutschland und ein Leben (wie Anm. 124), S. 32. Shulamit Volkov: Der Einzelne und die Gemeinde: zwischen Erfüllung und Enttäuschung. In: dies., Die Erfindung einer Tradition (wie Anm. 121), S. 191. Ebd., S. 181f. Michael Brenner: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. München: C. H. Beck 2000, S. 12. Siehe Volkov, Der Einzelne und die Gemeinde (wie Anm. 128), S. 196. Wenn in meinen Ausführungen von Assimilation die Rede ist, so folgt dies ebenfalls Volkovs Auffassung, wenn diese schreibt: »Assimilation verlangte die persönliche,

1.3 Deutsch-jüdisch. Zwischen Differenz und Nicht-Differenz

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Sehr breite Schichten der deutschen Juden waren zwar bereit, ihr Volkstum zu liquidieren, wollten aber, in freilich sehr verschiedenen Ausmaßen, ihr Judentum, als Erbe, als Konfession, als ein Ichweißnichtwas, ein undefinierbares und doch im Bewusstsein deutlich vorhandenes Element bewahren.132

Was aber bedeutet die skizzierte Schwierigkeit einer klaren Identitätsfindung für den Bereich literarischer Auseinandersetzung? Will man Amos Elon glauben, so galt auch hier vielen jüdischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, Dichterinnen und Dichtern ihr Deutschtum weder als Selbstverleugnung noch als Versuch, die jüdischen Wurzeln zu verbergen, sondern als »ein Gefühl der Teilhabe an einer Kultur, die Humanisten und Kosmopoliten wie Lessing, Kant, Schiller und Goethe hervorgebracht hatte«.133 Diese positive Identifizierung mit dem humanistischen deutschen Kulturerbe war allerdings immer wieder auch den Erschütterungen antisemitischer Ausgrenzungen und Anfeindungen ausgesetzt. »Unser Verhältnis zu Deutschland ist das einer unglücklichen Liebe«, schreibt Moritz Goldstein in seinem viel beachteten und heftig diskutierten Aufsatz über den sogenannten deutschjüdischen Parnass, den er 1912 mangels anderer Möglichkeiten in der deutschnationalen Kulturzeitschrift »Kunstwart« veröffentlichen ließ.134 Und der Jakob Wassermann stellt bereits 1904 in seiner Schrift »Das Los der Juden« resigniert fest: »Sich fremd unter Fremden in fremdem Land zu fühlen, das hat der aufrichtige und seiner selbst gewisse Jude natürlich nie verlernt, denn mit Liebe ward ihm nichts gewährt«.135 Dennoch weiß gerade Wassermann um die Unauflösbarkeit beider Identitäten in ihm. »Ich bin Deutscher, und ich bin Jude, eines so sehr und so völlig wie das andere, keines ist vom anderen zu lösen«, schreibt er in seiner 1921 erscheinenden Bekenntnisschrift »Mein Weg als Deutscher und Jude«.136 Jener Schrift, deren Ausgangspunkt die eigene Entfremdung dem Judentum gegenüber ist, dessen begriffliche Konsistenz Wassermann ebenso unklar scheint wie die des »Deutschtums«.137 Rettung vor dieser Zerrissenheit findet er schließlich einzig in der deutschen Sprache, in der er »atmet«, die Lebenselexier und Zuflucht zugleich für ihn bedeutet.

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135

136 137

individuelle Übernahme der Normen und Werte, die das vorherrschende Element in Staat und Gesellschaft teilte.« Vgl. ebd., S. 197. Scholem, Juden und Deutsche (wie Anm. 120), S. 35. Elon, Zu einer anderen Zeit (wie Anm. 125), S. 344f. Vgl. Deutsch-jüdischer Parnaß. Rekonstruktion einer Debatte. In: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte, Bd 13. Hg. von Julius Schoeps, Karl E. Grözinger, Willi Jasper und Gert Mattenklott. Berlin, Wien: Philo 2002, S. 55. Vgl. Jakob Wassermann 1873–1934. Ein Weg als Deutscher und Jude. Lesebuch zu einer Ausstellung. Hg. von Dierk Rodewald in Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar. Bonn: Bouvier 1984, S. 67. Jakob Wassermann: Mein Weg als Deutscher und Jude (1921). München: Deutscher Taschenbuchverlag 2005, S. 126. Vgl. dazu den Artikel von Hans Otto Horch in: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Hg. von Andreas B. Kilcher. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000, S. 598.

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1 Eine deutsch-jüdische Dichterin

Ludwig Strauß wiederum äußert in seiner Replik auf Goldsteins Aufsatz das Bekenntnis, die bleibende Seele oder ›Essenz‹ des Juden könne nur schwer oder gar nicht definiert werden. Doch betont er zugleich, dass es genug sei, ein Wesentliches zu fühlen: »mag dieses Gefühl vage sein, [...] es ist stark, und unsere Pflicht ist, durch unsere Arbeit es zu klären.«138 Mit dieser eher gefühlsmäßigen Erfahrung der Zugehörigkeit zum Judentum kommt Strauß dem nahe, was Walter Benjamin für sich in Anspruch nehmen wird, wenn er erklärt: »Wir sind zweiseitig, jüdisch und deutsch.« Das Jüdische begreift er als ein Kulturelement, von dem sich vermutlich noch Spuren auch in der Seele derjenigen Juden befänden, die »der deutschen Dimension ihrer Identität notgedrungen den Vorrang gegeben haben«, und das daher auch wieder entdeckt und neu belebt werden könne. Nach Benjamin sollte sich das Jüdische in dieser Weise von selbst, mithin »intuitiv und ohne Anleitung von außen, ohne doktrinelle Katechismen oder theologische Führung«, verstehen.139 »Und alles Jüdische, was über das selbstverständliche Jüdische in mir hinausgeht, ist mir gefährlich«, konstatiert er schließlich und befindet sich damit durchaus auch in gedanklicher Verwandtschaft mit seiner Cousine Gertrud Kolmar, die ihr Judentum ebenfalls als etwas empfindet, was »in der Seele lebt«.140 Jüdisch und deutsch. Für Franz Rosenzweig nun ist eben dieses und von maßgeblicher Bedeutung: Es trenne und stelle zugleich eine Brücke zwischen den beiden Seiten der Gleichung her. Anknüpfend an den biblischen Mythos vom Land zwischen Euphrat und Tigris stellt Rosenzweig sich ebenso Deutschland als »Zweistromland« vor, dem er den hebräischen Namen Babylons – »Naharaim« – gibt. Von dieser Vorstellung bestimmt vertritt er die Auffassung, dass sich der moderne Jude in Deutschland gleichfalls an zwei nährenden Quellen befände, nämlich jener der deutschen humanistischen Kultur sowie jener eines durch »die Erfahrung der Modernität herausgeforderten und aufgewerteten Judentum«.141 Das Verhältnis zwischen Juden- und Deutschtum müsse aufhören, ein exklusives zu sein. Es müsse vielmehr zu einer Beziehung werden, »die auf einem authentischen, überzeugenden ›und‹ gründe«. Allerdings erkennt auch Rosenzweig, dass in der Abwesenheit eines echten ›und‹ »die Wahl – das ›oder‹ –, die dem modernen Juden offenstehe, allerdings keine richtige Wahl« sei.142 Zu dem Begriff »jüdischer Authentizität«, den er von dem Begriff »jüdischer Identität« betont abgrenzt, nimmt auch Alfred Bodenheimer Stellung, wenn er diesen definiert als »Dialektik zwischen Differenz und Nichtdifferenz 138

139 140 141 142

Zitiert nach Mendes-Flohr, Jüdische Identität (wie Anm. 118), S. 73. Vgl. auch Walter Benjamin: Brief an Ludwig Strauß vom 21.11.1912. In: Ders.: Gesammelte Briefe. Bd I, 1910–1918. Hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 76. Ebd., S. 74 und S. 77. Kolmar, Briefe (wie Anm. 1), S. 159. Mendes-Flohr, Jüdische Identität (wie Anm. 118), S. 44. Ebd., S. 110.

1.3 Deutsch-jüdisch. Zwischen Differenz und Nicht-Differenz

37

gegenüber der nichtjüdischen Gesellschaft, aus der sich jüdische Authentizität zu bilden sucht«.143 Indem er zwischen den Figurationen Ahasver und Moses unterscheidet, versucht Bodenheimer einen Akt der Selbstreflexion zu beschreiben. Dabei fasst er sowohl den ewigen Wanderer Ahasver als auch den Wanderer Moses als Chiffren für ein Nichtankommenkönnen auf, wobei der eine als passive Projektionsfigur für das Bild des ewigen Juden stehe, der andere hingegen als Leitfigur einer selbst gewählten, aktiven Wanderschaft anzusehen sei. Angesichts dieser Polarität müsse der Jude der Moderne zwischen Fremd- und Selbstzuschreibungen in einem bewussten Akt der Reflexion genau zu differenzieren lernen, damit aus »dem projizierten der reflektierte Jude« werde, der in dieser gegenseitigen Spiegelung »seinen historischen Ort als ausdrücklich geografischen Nicht-Ort« zurückzugewinnen habe.144 Diese Auffassung eines bewussten Wanderns, das an die Exodus-Erfahrung des jüdischen Volkes anknüpft und das nun nach 1933 ungleich verschärfte Brisanz gewinnt, lässt sich auch in Kolmars eingangs zitierten Briefzeilen erkennen. Gleichsam ausgesetzt zwischen zwei Fremden sehnt auch sie sich danach, heimzukehren in eine Landschaft, die südlicher und östlicher ist als Hellas..., wie sie in ihrem eingangs zitierten Brief weiterhin schreibt, denn – so Bodenheimer – »selbst der Wanderer bleibt an die Hoffnung gebunden, die Verheißung, der er folgt, führe irgendwann zu einem Bleiberecht, sei dieses nun auf einen geografischen Ort festgelegt oder nicht.«145 Es ist besonders auch diese Spannung zwischen einem Nichtankommenkönnen und der Sehnsucht nach einem wie auch immer gearteten Ort der Heimkehr, von der Kolmar in ihrem Brief so eindringlich spricht, die sich in ihrem Werk, ihrer Prosa und ihrer Lyrik, immer wieder Ausdruck verschaffen wird. Indessen stellt sich fürs Erste heraus, dass es einfache Zuordnungen nicht geben kann und dass sich stets jene komplizierte Vielschichtigkeit vor Augen zu halten ist, was als deutsch-jüdische Literatur, ja als deutsch-jüdische Identität überhaupt, angesehen werden kann. »Sind Literaturen nicht überhaupt als plurale, diskursive Felder zu verstehen, auf denen sich die semiotischen Systeme verschiedener Kulturen überkreuzen und verbinden«, fragt Andreas Kilcher in seiner Einleitung des von ihm im Jahre 2000 herausgegebenen »Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur«. Vor diesem Horizont aber erweise sich das »Bewusstsein irreduzibler Mehrdeutigkeit« als »die entscheidende Forderung an eine aktuelle Rede von der deutsch-jüdischen Literatur«.146 Die Frage nach der Interpretation und Selbstbestimmung des eigenen Judentums müsse daher in einer möglichst komplexen Form gestellt werden, die nicht nur Identifikationen und explizite Stellungnahmen zum Judentum wahrnehmbar mache, 143 144 145 146

Bodenheimer, Wandernde Schatten (wie Anm. 63), S. 22. Ebd., S. 21. Ebd., S. 105. Andreas B. Kilcher: Einleitung. In: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur (wie Anm. 137), S. XIV.

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1 Eine deutsch-jüdische Dichterin

sondern auch und gerade »Traditionsbrüche, Fremdheitserfahrungen, Differenzen, Distanzen und parabolische Transformationen«.147 Mithin sei es immer die einzelne, sich im individuellen Schreibakt vollziehende, selbstreflexive Standortbestimmung, die im Mittelpunkt des Interesses zu stehen habe. Wiederum geht es also um jenes authentische dichterische Wort, in dem die Spannung zwischen Herkunft und Dichtung Ausdruck und unverwechselbare Gestalt gewinnt. Ist das Verhältnis zur eigenen Herkunft dabei auch häufig ein überaus kompliziertes und gebrochenes, so zeugen die Sprache, zeugen die Bilder dieser Dichterinnen und Dichter dennoch immer wieder »von einer markanten Bindung an den kollektiven Fundus«, jenes »unsichtbare religiöse und historiografische Archiv der jüdischen Kultur«, das jenseits aller säkularen Bestrebungen nach wie vor überliefertes Erinnerungsgut bedeutet.148 Ja, das Zeit- und Geschichtsbewusstsein jüdischer Dichterinnen und Dichter sei in der Regel von eben jener Erinnerungskultur geprägt – behauptet wiederum Amir Eshel – die sich von Generation zu Generation weitervermittelt und so das jüdische Kulturerbe bewahren geholfen und am Leben erhalten habe. Die partikulare jüdische Kultur stelle so gesehen eine »unverzichtbare Quelle für das Verstehen literarischer Texte dar«, wobei Kultur und Quellen dabei keineswegs als »abgrenzbare, festgelegte Reservoire« aufzufassen seien, sondern als »Schrift-, Wort- und Bildarchive, die vom schreibenden und lesenden Subjekt stets verwandelt werden«.149 Diesen eher verborgenen Archiven der Überlieferung, diesen unverzichtbaren Quellen jüdischer Kultur und Geschichte näher nachzugehen und sie in ihrer spezifischen Rezeption und Aufarbeitung durch die Dichterin genauer zu untersuchen, erweist sich gerade auch für das Werk Gertrud Kolmars – insbesondere die Prosatexte und spätere Lyrik – als wegweisend. Dabei sind nicht nur Gedichte oder Textpassagen gemeint, die sich allein vom Titel her schon explizit auf eine jüdische Thematik beziehen, wie unter anderem der Gedichtzyklus VIER RELIGIÖSE GEDICHTE, Gedichte wie »Judith«, »Wir Juden«, »Die Jüdin« oder etwa die Prosaerzählung »Die jüdische Mutter«.150 Vielmehr geht es darüber hinaus noch um ein weitaus verborgeneres »Zitieren, Deuten und Reflektieren über den Stand des jüdischen Menschen [und ich möchte hier auf Gertrud Kolmar bezogen hinzufügen – der jüdischen Frau, F. H.] hinsichtlich seiner [ihrer] privaten und kollektiven Geschichte«.151 Gerade dies findet sich nach meiner Auffassung dann überaus verbreitet im Werk der Dichterin in ihrer zweiten großen Schaffensperiode ab 1927 und gilt besonders auch für den Verszyklus WELTEN mit jenem uns daraus näher interessierenden Gedicht »Garten im Sommer«. 147 148 149 150 151

Ebd., S. XVI. Amir Eshel: Zeit der Zäsur. Jüdische Dichter im Angesicht der Shoah. Heidelberg: C. Winter 1998, S. 24. Ebd., S. 15. Vgl. dazu LW, Gedichte 1927–1937, S. 495–499 sowie S. 133, S. 371, S. 91. Eshel, Zeit der Zäsur (wie Anm. 148), S. 19.

1.3 Deutsch-jüdisch. Zwischen Differenz und Nicht-Differenz

39

Gertrud Kolmar hat ihren jüdischen Hintergrund, diese problematische und schwer zu fassende Identität, in ihren Gedichten und in ihrem erzählerischen Werk immer wieder neu umkreist, ausgelotet, ein eigenes, nicht von außen aufgezwungenes Verhältnis dazu gesucht. Zugleich aber fühlte sie sich tief geprägt von der abendländisch-humanistischen Kultur, zu der sie ebenfalls immer wieder neu und anders in ihren Werken ein Verhältnis sucht, das ihr als Frau und Jüdin entsprechen könnte. Diese vielschichtige Spannung hinsichtlich einer eigenen Ortsbestimmung gewinnt noch zusätzliche Brisanz dadurch, dass diese 1937, als das uns hier vorrangig interessierende Gedicht entstanden ist, bereits unwiederbringlich vom Zerbrechen des deutsch-jüdischen Verhältnisses gezeichnet war. Hier nun trifft ebenfalls für Kolmar zu, was Ashraf Noor mit den Worten zusammengefasst hat: Einerseits assimiliert und von der eigenen jüdischen Tradition, bzw. den Formen, in denen diese sich in der Gegenwart manifestierte, entfremdet, wurde ihnen andererseits die Berechtigung abgesprochen, die deutsche Kultur, in deren Sprache sie sich ausdrückten, in deren Begriffen sie dachten, als die ihrige zu betrachten. Ihr Denken ist durchzogen von Figuren des Schnitts, des Umwegs, der Verborgenheit, des Sprechens bei gleichzeitigem Schweigen.152

Gerade für Kolmar, deren »Schweigen« in den Gedichten immer wieder thematisiert worden ist, lassen sich aus dieser Perspektive entscheidende Impulse für ein weiteres Verstehen gewinnen.153 Auch das Gedicht »Garten im Sommer« legt von eben diesen Figuren des Schnitts, des Umwegs, des Verborgenen Zeugnis ab und kann meiner Ansicht nach erst, wenn wir dieser Erfahrung eines grundlegenden Bruchs eingedenk bleiben, einer genaueren Lesart erschlossen werden. Dabei handelt es sich bei »Garten im Sommer« um ein Gedicht, das auf der textuellen Oberfläche zunächst von etwas ganz anderem zu sprechen scheint. Erst einer genaueren poetologischen Analyse eröffnen sich darunterliegende, vielschichtigere Lesarten, die verborgene, heterogene und in sich gebrochene Diskursverläufe sichtbar werden lassen. Um dieses Oszillieren zwischen textueller Oberflächenstruktur und poetologischer Tiefenstruktur nun methodisch genauer erfassen zu können, hat sich insbesondere der Transtextualitätsbegriff, den Andreas Kilcher und Detlef Kremer anhand ihrer Lektüren von Franz Kafkas »Bericht für eine Akademie« entwickelt haben, als weiterführend erwiesen.154 Um die »Vieldeutigkeit und Ambivalenz« in Kafkas Text genauer

152

153 154

Ashraf Noor: Einleitung: Erfahrung und Zäsur. In: Ders. (Hg.): Erfahrung und Zäsur. Denkfiguren der deutsch-jüdischen Moderne. Freiburg: Rombach 1999, S. 11. Vgl. dazu meine Ausführungen in Kapitel 1.2. Andreas B. Kilcher und Detlef Kremer: Die Genealogie der Schrift. Eine transtextuelle Lektüre von Kafkas Bericht für eine Akademie. In: Textverkehr. Kafka und

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1 Eine deutsch-jüdische Dichterin

beschreiben zu können, greifen Kilcher/Kremer schließlich auf den Begriff des Palimpsestes – als »Schrift unter der Schrift« – zurück, wie er von Gérard Genette im Sinne einer »Literatur auf zweiter Stufe« entwickelt worden ist.155 Dabei ist Kafkas Erzählung ihrer Meinung nach gerade dadurch bestimmt, dass ihre inneren, traumhaften Bilder als »heterogene und fragmentarische Textensembles angelegt sind«, in denen die Spuren anderer darin verwobener Texte »kryptisch verstellt und teilweise bis zur Unkenntlichkeit entstellt sind«.156 Eine Analyse dieser schwierig zu erschließenden Struktur von Transtextualität habe sich folglich auf zwei Ebenen zu vollziehen. So gehe es zum einen darum, auf einer ersten, mehr philologischen Ebene – die auch als exoterisch beschrieben wird – transtextuelle Bezüge anhand von Lektürenachweisen sowie historisch-biographischen Informationen herauszustellen. Zum anderen aber gelte es, auf einer zweiten, generativen oder esoterischen Ebene, diese Befunde intertextueller Spuren in ihrer »poetologischen Funktion« zu erfassen.157 Schließlich reiche es keineswegs aus, die »kryptischen Bezüge« allein zu rekonstruieren, sondern sie müssten darüber hinaus auch in ihrer »textkonstitutiven Funktionsweise« begriffen werden.158 Erst im Zuge einer dergestalt doppelgleisigen Lektüre könne die »transtextuelle Komplexität« erkannt und als »Effekt einer heterogenen Diskurskollision« erscheinen, die »einen und denselben Text und seine Bildelemente als Spuren unterschiedlicher und gleichsam unterirdisch verlaufender Diskurse« nachvollziehbar werden lasse.159 Wenn wir Kolmars Gedicht »Garten im Sommer« nun ebenfalls in dieser Weise als einen Text auffassen, der »auf der Ebene expliziter Äußerung« an keiner Stelle einen jüdischen Kontext anzusprechen scheint, in seiner »meta-

155

156 157 158 159

die Tradition. Hg. von Claudia Liebrand und Franziska Schößler. Würzburg: Königshausen und Neumann 2004. Ebd., S. 51. Vgl. zudem Gérard Genette: Palimpseste. Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. Kilcher/Kremer gehen allerdings nicht davon aus, dass es eine »Literatur auf erster Stufe« überhaupt geben könnte, sondern sie fassen »Literatur insgesamt als ein intertextuelles Phänomen« auf. Damit befinden sie sich mit jener poststrukturalistischen Auffassung in Übereinstimmung, wie sie unter anderem von Jacques Derrida vertreten wird und der auch ich hier zustimmen möchte, wenn es heißt, dass »kein Element je die Funktion eines Zeichens« haben könne, »ohne auf ein anderes Element, das selbst nicht einfach präsent ist, zu verweisen, sei es auf dem Gebiet der gesprochenen oder auf dem der geschriebenen Sprache.« Vgl. Jacques Derrida: Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva. In: Ders: Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, JeanLouis Houdebine, Guy Scarpetta (1972). Aus dem Französischen von Dorothea Schmidt, unter Mitarbeit von Astrid Winterberger und Mathilde Fischer. Wien: Passagen 2009, S. 50. Vgl. Kilcher/Kremer, Die Genealogie der Schrift (wie Anm. 154), S. 51. Ebd., S. 52. Ebd., S. 53. Ebd.

1.4 Die Andere: Fremdzuschreibungen und Selbstzuschreibungen

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phorisch chiffrierten« Sprache hingegen auf kryptisch verborgene Weise sehr wohl davon spricht, dann können die erwähnten Überlegungen hier sehr hilfreich sein.160 Schließlich mag auch für Kolmars Gedicht »Garten im Sommer« gelten, dass sich in seine Textur eine »vielfach gebrochene und zerstreute Spiegelschrift« eingeschrieben hat, die erst im Zuge einer transtextuellen Lektüre sichtbar und als »Resonanzkörper größerer diskursiver Zusammenhänge« erkennbar werden kann.161 Mithin wäre auch in diesem Fall zu fragen, welche »palimpsestartigen Spuren« anderer Texte und Bilder die textuelle Oberfläche verrät und auf welche poetologisch esoterische Tiefenstruktur uns diese schließlich hinzuführen vermögen?162 Soweit zu einigen Überlegungen für unsere Herangehensweise an Gertrud Kolmars Gedicht. Haben wir im Blickfang des immer wieder in den Bann ziehenden Porträts der Dichterin hier nun fürs Erste eine eher allgemeine Orientierung versucht, so wird sich im Folgenden die Frage stellen, welche persönlich individuelle Haltung Gertrud Kolmar selbst zu ihrer deutsch-jüdischen Identität eingenommen hat.

1.4

Die Andere: Fremdzuschreibungen und Selbstzuschreibungen

Sieh, liebe Schwester, hier ist etwas, darin wir ganz abweichend voneinander nicht so sehr denken als fühlen. [...] Wirst du mir glauben, wenn ich hierher setze: ›Ich habe niemals eine Enttäuschung erlebt,‹ und ›Die Wirklichkeit war stets unausdenkbar schöner als alle Illusionen.‹? [...] Nicht als ob ich nie unglücklich gewesen sei, als ob ich keinen Schmerz erlitten hätte. Nein, ich bin sehr, sehr unglücklich gewesen; ich habe große und tiefe Schmerzen erduldet [...]. Aber ich hatte das alles vorher geahnt, es kommen sehen, im voraus schon auf mich genommen, ich kannte den hohen Preis, den ich zahlen würde, da gab es keine Enttäuschung. Ich hab’ die Vokabeln ›ewig‹, ›beständig‹, ›treu‹, (soweit sie auf meinen Partner Anwendung finden sollten) von vorneherein aus meinem Wörterbuch gestrichen. Wozu wohl auch schon der Umstand mich führte, dass ich niemals ›die Eine‹ war, immer ›die Andere‹.163

Diese Zeilen schreibt Gertrud Kolmar am 1. Februar 1942 aus Berlin an ihre jüngere, 1938 emigrierte Schwester Hilde Wenzel in der Schweiz.164 160 161 162 163 164

Vgl. dazu ebenfalls Kilcher, Das Theater der Assimilation (wie Anm. 114), S. 202. Kilcher/Kremer, Die Genealogie der Schrift (wie Anm. 154), S. 48 und S. 70. Kilcher, Das Theater der Assimilation (wie Anm. 114), S. 203f. Kolmar, Briefe (wie Anm. 1), S. 113f. Dieser Satz: Niemals die ›Eine‹, immer die ›Andere‹, ist vielfach kommentiert worden. Vgl. dazu u. a.: Eva M. Schulz-Jander: »Ich bin im Dunkel und allein«. Zu Leben und Werk von Gertrud Kolmar. In: Ariadne, Almanach des Archivs der deutschen Frauenbewegung, Heft 31, Mai 1997, S. 47. Monika Shafi: Gertrud Kolmar: »Niemals ›die Eine‹ immer ›die Andere‹.« Zur Künstlerproblematik in Gertrud Kolmars Prosa. In: Gerhard P. Knapp (Hg.): Amsterdamer Beiträge zur

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1 Eine deutsch-jüdische Dichterin

Seit etwas mehr als zwei Jahren wohnt die Dichterin mittlerweile in der Speyerer Strasse 10. Ein Haus in Berlin Schöneberg, in das sie infolge der Reichsprogromnacht zusammen mit ihrem Vater aus dem geliebten Finkenkrug zwangsumgesiedelt worden war und das sie von Anfang an als einen Ort erlebt, an dem es für sie keinerlei Möglichkeit des Heimischwerdens gibt. Seit einem halben Jahr ist sie zur Zwangsarbeit in der Kartonagenfabrik Epeco in Lichtenberg eingezogen. Eine Arbeit, die schwer und eintönig ist, bei der sie sich dennoch eher »zu Hause« fühlen kann als in dem unruhigen und nervösen Zusammensein mit den anderen, ebenfalls zwangsweise zugewiesenen Mietern, die ständig mehr werden, und dem damit einhergehenden, um sich greifenden Platzmangel im Haus. Die Nischen zum Schreiben werden immer enger. Morgens muss sie bereits zwischen vier und fünf Uhr aufstehen, um rechtzeitig bei der Arbeit zu sein, von der sie erst abends in die Speyerer Straße zurückkehrt. Hier aber hat sie keinen wirklich eigenen Platz mehr, denn für die Nacht ist sie inzwischen ins Esszimmer der Wohnung einquartiert worden. So bleiben nur noch dem ohnehin kurzen Schlaf geraubte Stunden in aller Frühe, wenn die anderen noch schlafen. Diesmal, am 1. Februar 1942, schreibt sie ihren Brief an einem Wochenende und beruhigt auch gleich die Schwester: Du brauchst nicht an ›Schlafverkürzung‹ zu denken; es ist schon gegen 1/2 9, aber alle anderen hier in der Wohnung ruhen noch, und so hab’ ich Zeit, Dir zu schreiben.165

Diesmal soll es, im Gegensatz zu den kurzen, dem Schlaf abgetrotzten Postkarten der Wochen zuvor, ein richtiger, ein langer Brief werden. Ein Brief, der ihr wohl auch deshalb ein Bedürfnis ist, weil sie einige Wochen zuvor der Schwester von einer Begegnung mit einem jungen Arbeitskollegen berichtet hatte, der wie sie bei Epeco Zwangsarbeit zu leisten hat und der intensive Gefühle der Zuneigung in ihr geweckt hatte.166 Kolmar, die in ihren Mitteilungen an die Schwester durchaus die Problematik einer derartig starken Anziehung zwischen einer 47-jährigen Frau und einem 21-jährigen Mann erkannt und selbstkritisch reflektiert hatte, hatte dennoch zugleich deutlich zu verstehen gegeben, wie tief diese Sympathie füreinander sie ergriffen hatte, wie sehr ihr das plötzliche, ihr unverständliche Sich-Entziehen des jungen Mannes nachging und wie hingegeben an das eigene leidenschaftliche Gefühl sie trotz allem diese ungewöhnliche Beziehung erlebte: Gewiss, ich freute mich, wenn ich ihn morgens durch den Betrieb gehn sah, in einem schon reichlich zerfledderten und verdreckten blauen Leinenanzug, doch schön

165 166

Neueren Germanistik 31/33 (1990/91), S. 691–711. Thomas Sparr: Nachwort (1995). In: Kolmar, Susanna (wie Anm. 1), S. 87. Kolmar, Briefe (wie Anm. 1), S. 113. Ebd., S. 107f.

1.4 Die Andere: Fremdzuschreibungen und Selbstzuschreibungen

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und schlank und kraftvoll und lebendig – und diese Freude hab’ ich noch heut’ – ich war froh, wenn er mich mit einem Lächeln begrüßte [...].167

Hildes Antwort ist leider nicht erhalten geblieben, doch lässt sich vermuten, dass sie einige vorsichtige Warnungen und Bedenken geäußert hat. Auf die mahnenden, wohl vor Täuschung und Illusion warnenden Worte der Schwester angesichts dieser geradezu abenteuerlichen Konstellation, nun also jenes Bekenntnis Kolmars vom 1. Februar 1942, das ich eingangs in diesem Kapitel zitiert habe. Was sie damit zum Ausdruck bringt, geht dann allerdings weit über den konkreten Anlass hinaus. Die Dichterin zieht darin gleichsam Bilanz über eine umfassende Liebes- und Lebenserfahrung, um schließlich etwas zu umreißen, was sich als ein selbstauferlegtes »Lebensgesetz« charakterisieren ließe: Niemals ›die Eine‹, immer ›die Andere‹.168 Niemals ›die Eine‹. Das ist vor allem auch eine schmerzliche Erfahrung. Niemals diejenige sein, die bleiben kann, mit der ein gemeinsamer Weg ins Auge gefasst wird, niemals diejenige sein, die auserwählt wird für den einen Lebensentwurf, niemals diejenige sein, die dazugehört. Sie habe die Vokabeln ewig, beständig, treu von vornherein aus ihrem Wörterbuch gestrichen, schreibt sie noch in demselben Brief. Unmissverständlich definiert sie sich als diejenige, die immer schon draußen stand, die Andere eben, die Vorübergehende, die Fremde.169 In diesem Gefühl mangelnder Zugehörigkeit mag jener Schmerz begründet sein, von dem Kolmar gleichfalls in ihrem Schreiben vom 1. Februar 1942 spricht. Doch gibt es bei ihr zumindest hier in diesen Zeilen keine Auflehnung dagegen, kein Hadern damit. In voller Bewusstheit nimmt sie eben jenes Anderssein als entscheidende Grundbedingung ihres Daseins an, ja sie befreit sich geradezu zu ihrem Anderssein, als Grundvoraussetzung einer einmaligen, zutiefst authentischen Individualität. Differenz also statt Einheit.170 Kolmar ist sich, auch davon zeugen ihre Worte, sehr genau im Klaren darüber, welches hohe Maß an Verletzbarkeit eine solche Lebenseinstellung mit sich bringt. Doch scheint sie nur darin die einzige Möglichkeit für sich zu sehen, unverfälscht bleiben zu können. Der 167 168 169

170

Ebd., S. 108f. Vgl. dazu Sparr, Nachwort (wie Anm. 164), S. 87. Vgl. Hierzu die Bemerkung Julia Kristevas: »Wer ist Fremder? Derjenige, der nicht Teil der Gruppe ist, der nicht ›dazu gehört‹, der ›andere‹.« Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 104. Identifikation ist immer auf Einheit aus. Kolmar aber folgt in ihrer Selbstzuschreibung offenbar einem ganz anderen Eros. Einem »Eros«, in dem, – wie der Philosoph Jacques Derrida es einmal unter Bezugnahme auf Emmanuel Lévinas ausgedrückt hat – »in der Nähe des Anderen, die Distanz vollständig gewahrt« bleibe, dessen »Pathos« eben gerade »sowohl in dieser Nähe und in dieser Dualität besteht.« Jacques Derrida: Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Lévinas’ (1964) In: Ders: Die Schrift und die Differenz. Übersetzt von Rodolphe Gasché. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 128.

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hohe Preis wird gekannt, der Schmerz bereitwillig auf sich genommen, für eine Wirklichkeit, die stets unausdenkbar schöner war als alle Illusionen. Immer ›die Andere‹. Eine Selbstzuschreibung äußert sich in diesen Worten, die sich wie ein wiederkehrendes Muster durch Kolmars Leben zieht und die sie – nach allem, was wir von ihr wissen – bereits seit frühester Jugend für sich in Anspruch genommen hat. Wollen wir den Erinnerungen ihrer Schwester Hilde Wenzel glauben, so sondert sich die älteste Schwester Gertrud schon als junges Mädchen aus dem Kreis ihrer Geschwister ab. Aus dem geselligen Familienleben zieht sie sich lieber in ihr Zimmer zu ihren Büchern zurück, hütet ihre Geheimnisse und führt zugleich im Verborgenen ein eigenes, von für junge Mädchen eher ungewöhnlichen Neigungen erfülltes Leben: Die Geschichte der alten Völker, die östlichen Kulturen, die Französische Revolution beschäftigten sie; an den Wänden ihres Zimmers hingen die Bilder Napoleons, und in einer großen Holzkiste bewahrte sie unzählige Zeitungsausschnitte auf, die von Ereignissen handelten, an denen sie Anteil nahm.171

Diese Interessen schlugen sich schließlich in ersten selbstverfassten Theaterstücken nieder, deren Aufführung im familiären Rahmen dann mit den jüngeren Geschwistern einstudiert wurde und die »meist im alten Rom oder am Sultanshof spielten«.172 Bereits hier lassen sich zentrale Themenbereiche erkennen, die sich später immer wieder durch Kolmars Werk ziehen werden: Motive antiker Geschichte sowie der archaischen vorderasiatischen Kulturen, Themen der Französischen Revolution und die Begeisterung für Napoleon. Es ist leicht vorstellbar, dass eine derart ausgeprägte Interessenlage auf Befremden bei den ohnehin noch jüngeren Geschwistern stoßen muss und auch von Seiten der Erwachsenen wohl häufiger mit Kopfschütteln als mit Wohlwollen aufgenommen wurde, zumal das junge Mädchen offenbar von eher spröder Verschlossenheit war und auf ein gefälliges äußeres Auftreten wenig Wert zu legen schien. Eine Ausnahme mag der Vater gewesen sein, mit dem sich Gertrud Kolmar in vielerlei Hinsicht als wesensverwandt erlebte, später wahrscheinlich auch der Cousin Walter Benjamin, mit dem die Dichterin im Erwachsenenalter einen sporadischen Briefwechsel unterhalten wird.173 Vor allem aber scheint von Bedeutung zu sein, dass sich bei Kolmar bereits hier eine Art Gespaltenheit zwischen Okzident und Orient finden lässt: Rom 171 172 173

Hilde Wenzel: Nachwort. In: Gertrud Kolmar: Weibliches Bildnis. Sämtliche Gedichte. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1987, S. 772. Ebd., S. 773. Zwei dieser Briefe Kolmars an Walter Benjamin, geschrieben im Herbst 1934, finden sich in: Kolmar, Briefe (wie Anm. 163), S. 166–169. Diese zwei Briefe werden in einem Aufsatz von Chryssoula Kambas einer ausführlichen Analyse unterzogen. Vgl. Chryssoula Kambas: »...ob das innerliche Leben in der gegenwärtigen Weltzeit noch zu bewahren ist.« Gertrud Kolmars Briefe an Walter Benjamin. Hommage an Julien Green. In: Dies. (Hg.), Lyrische Bildnisse (wie Anm. 5), S. 125–145.

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und Sultanshof, die alten Völker der abendländischen Antike sowie die asiatisch-östlichen Kulturen, die Französische Revolution, Napoleon und der Wunderrabbi aus dem Stetl ... Denn ebenfalls im Gegensatz zu den anderen Familienmitgliedern hatte Gertud Kolmar offenbar bereits schon in der Jugend ein sehr eigenes und deutlich empfundenes Verhältnis zu ihrem Judentum entwickelt. Von Hilde Wenzel erfahren wir: »Indessen war bei uns die Rede davon, dass wir von einem Wunderrabbi abstammten, dessen Portrait sogar in der Nationalgalerie hing und Gertrud wollte sogar einige Ähnlichkeiten entdeckt haben.«174 Wo man Ähnlichkeiten zu entdecken meint, identifiziert man sich auch. Die junge Gertrud Kolmar scheint hier bereits von einer Zugehörigkeit angerührt, die in späteren Jahren zunehmend deutlicheren Ausdruck in ihrem Schreiben finden wird. Wie so viele andere ihrer Generation wuchs sie in großbürgerlicher, assimilierter Umgebung auf, mit Eltern, die ihr Judentum zwar niemals abgeleugnet oder gar versucht hätten, es durch Taufe gänzlich abzulegen, die dessen religiöse Gebote und Traditionen aber kaum noch beachteten. Wäre man durch den stets latent vorhandenen Antisemitismus der Außenwelt nicht immer wieder auch schmerzlich auf das eigene Judentum zurückgeworfen worden, so hätte dies wohl eine nur noch nebensächliche Rolle gespielt, fand doch die eigentliche Identifikation über die Teilhabe an der deutschen Nation und Kultur statt. Hilde Wenzel erinnert sich rückblickend: Wir waren gute Patrioten und es ging uns gut und doch erinnere ich mich an die antisemitischen Bemerkungen eines fanatischen Lehrers, erinnere mich an unsere alldeutschen Nachbarn [...]. Umso merkwürdiger mag es scheinen, dass unsere Schwester Gertrud schon in jungen Jahren eine überzeugte Zionistin war. Es war kein Nährboden dafür vorhanden. Mutter stammte aus einer liberalen Familie und die einzige, bei der ich das Judentum spürte, zu dem wir gehörten, das war unsere Großmutter Johanna, Vaters Mutter [...].175

Der Begriff »überzeugte Zionistin« ist hier allerdings in einem eher weit gefassten Sinn zu verstehen, verweist er doch kaum auf einen aktiv kämpferischen Standpunkt der jungen Dichterin, sondern auf ein bejahendes Verhältnis zum eigenen Judentum unter durchaus weltoffener, wenig religiöser Perspektive. Dabei sind vor allem kulturzionistische Einflüsse auf Kolmars Verhältnis zu ihrem Judentum zu vermuten, erwähnt sie doch späterhin in ihren Briefen an Hilde verschiedentlich Martin Bubers »Chassidische Geschichten« in einer Weise, als wären diese längst eine selbstverständliche Lektüre.176 Auch zeugen 174 175 176

Hilde Wenzel: Gertruds Ahnen: Dokumente zur Biographie 3. In: Woltmann, Gertrud Kolmar – Leben und Werk (wie Anm. 2), S. 301. Ebd., S. 304. Vgl. Kolmar, Briefe (wie Anm. 1), S. 85 und S. 161. Zu der herausragenden Rolle Martin Bubers innerhalb der kulturzionistisch geprägten »jüdischen Renaissance« um die Jahrhundertwende sowie zur Bedeutung seiner »Chassidischen Geschich-

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ihre Verweise im Zusammenhang ihrer Hebräischstudien auf Dichter wie Chaim Nachman Bialik sowie Saul Tschernichowski von einem Umgang mit deren Dichtungen, der auf eine altvertraute Auseinandersetzung damit zurückzuweisen scheint.177 Während offenbar alle anderen Familienmitglieder stolz darauf waren, dass die äußere Erscheinung des Vaters in angeblich auffälliger Weise derjenigen Wilhelms des Zweiten glich und zu mancherlei kuriosen Verwechslungen mit dem deutschen Kaiser führte, oder diese der Überzeugung waren, dass beim Vater, der wie Goethe am 28. August Geburtstag hatte, so manche innere »Ähnlichkeit« mit dem »Olympier« festzustellen sei, scheint die älteste Tochter Gertrud dieser Identifikation mit den bildungsbürgerlichen, wilhelminischdeutschen Einflüssen eher skeptisch gegenüber gestanden zu haben.178 Abermals von Hilde erfahren wir stattdessen jene nun möglicherweise doch etwas zu einfach gefasste Zuordnung: »Ohne einer religiösen Gemeinschaft anzugehören, war sie dem alten Glauben stark verwachsen.«179 Verbunden fühlte sich Kolmar wohl weniger dem Religiösen, dem sie wie viele ihrer Zeitgenossen weitgehend entfremdet war, sondern sie fühlte sich mit ihrem Judentum vermutlich eher auf eine zwar diffuse, aber tief empfundene, intuitive, geradezu körperliche Weise verwachsen.180 Soviel scheint sicher, dem Anpassungsstreben der Familie und dem damit einhergehenden Ziel gesellschaftlicher Anerkennung setzt Kolmar einen anderen, eigensinnigen Weg entgegen, der fürs Erste in selbst gewählter Distanz und der Identifikation mit dem verzichtenden, aber auch kämpferischen Heroischen bestanden zu haben scheint. Nicht nur Napoleon und den Protagonisten der Französischen Revolution galt die Bewunderung des jungen Mädchens, sondern ebenfalls dem asketisch-kriegerischen Volk der Spartaner. »Schon als Kind wäre ich gern eine Spartanerin gewesen, später wollte ich jedenfalls eine Heldin sein«, wird sie rückblickend in einem ihrer Briefe schreiben.181 Doch auch hier gilt es wiederum zu fragen, ob die sogenannten spartanischen Tugenden wie hohe Selbstdisziplin verbunden mit entbehrungsreichen Übungen zur Selbstabhärtung, Bereitschaft zur Selbstaufopferung und daraus resultierende kämpferische Stärke nicht wiederum den Werten des preußischen Kaiserreichs, die Gertrud Kolmars Kindheit und Jugend bestimmten, sehr nahekommen. Könnte es nicht sein, dass sich hier eine Überschneidung von Wahrnehmungen findet, die dem jungen Mädchen erlaubt, sich aus der Ferne mit dem antiken griechischen Volk zu identifizieren, während in der schwierigen Nähe des von der preußischen Umgebung beherrschten Alltags die Identi-

177 178 179 180 181

ten« in diesem Zusammenhang siehe auch Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik (wie Anm. 130), S. 34 und S. 39f. Vgl. Kolmar, Briefe (wie Anm. 1), S. 66, S. 79, S. 83. Wenzel, Gertruds Ahnen (wie Anm. 174), S. 300 und S. 303. Wenzel, Nachwort (wie Anm. 171), S. 132. Vgl. dazu Kolmar, Briefe (wie Anm. 1), S. 159. Ebd., S. 132.

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fikation – zumal für ein Kind weiblichen Geschlechts und jüdischer Herkunft – bis zur Unlösbarkeit problematisch war? Warum es aber für ein Kind schließlich in dieser Weise wichtig wird, Verhaltensweisen wie asketische Selbstüberwindung und bereitwillige Entbehrung als ersehnte Maßstäbe für sich anzustreben, muss fürs Erste eine offene Frage bleiben, die keine vordergründig vereinfachenden Erklärungen erlaubt. Immer ›die Andere‹. Ihr Anderssein erlebt die junge Kolmar auch während ihrer Schulzeit gegenüber den anderen Gleichaltrigen, mit denen es ihr offenbar eher schwerfiel in ein näheres Verhältnis zu kommen. »Dass ein solches Mädchen es nicht leicht hat, Gefährtinnen oder gar Freundinnen zu finden, liegt auf der Hand«, folgert ein weiteres Mal Hilde Wenzel in ihren Erinnerungen.182 Dennoch stellt sie fest, dass später bei Gertrud Namen solcher Gefährtinnen auftauchen: »und vor allem war es Hilda Josan, eine sehr asiatische Russin, zu der sie sich begreiflicherweise hingezogen fühlte. Doch die Freundschaft, die sie dann mit der blonden, sehr preußischen Ella Dittmar schloss, sollte Jahrzehnte überdauern.«183 Einerseits fremdländisches, fernes Asien in der Wahl der einen Freundin, andererseits blondes, von Selbstbeherrschung bestimmtes Preußen in der Wahl der anderen. Abermals begegnen wir auch hier dem Thema Ost und West, zeichnet sich aufs Neue ein Muster ein, das für Gertrud Kolmars Leben und Dichten so charakteristisch werden wird. Die Freundschaft mit Ella Dittmar sollte nun allerdings außerdem von der Erfahrung des Antisemitismus überschattet sein. Die elternlose Freundin lebte bei einem Vormund, der aus seinen antijüdischen Ressentiments keinen Hehl machte und jegliche Besuche in jüdischen Häusern untersagte. Erst nach seinem Tod mussten sich die beiden, nun bereits erwachsenen jungen Frauen, bei ihren Zusammenkünften nicht mehr auf einen »neutralen« Ort beschränken, konnten sie sich zum ersten Mal in Gertrud Kolmars Elternhaus treffen. Über die Begegnung mit Hilda Josan aber wird Gertrud Kolmar selbst viele Jahre später, am 13. Mai 1939, an die Schwester im Schweizer Exil schreiben: Ich habe nun einmal – wie bei unserem Gebet – das Antlitz nach Osten gekehrt, und dass dies bei mir keine ›neue Mode‹ ist, weißt Du. Es hat sich schon früh gezeigt: umsonst war ich nicht als etwa Neunjährige mit Hilda Josan befreundet, und die Josans waren sehr asiatische Russen, hatten in Sibirien gelebt und in China ... Ich bin wohl auch so eine Art ›verhinderter Asiatin‹ – und wäre froh, wenn die Verhinderung beseitigt werden könnte.184

Wenn wir all dies aus heutiger Sicht zur Kenntnis nehmen, so zeichnet sich zunehmend die Kontur einer unlösbaren Spannung ein, unter der Kolmars Leben gestanden haben muss. Zum einen ist da die preußisch-deutsche Welt 182 183 184

Hilde Wenzel: Meine Schwester Gertrud. Dokumente zur Biographie 6. In: Woltmann, Gertrud Kolmar – Leben und Werk (wie Anm. 174), S. 319. Ebd., S. 320. Kolmar, Briefe (wie Anm. 1), S. 33.

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jenes Berlins, in dem sie aufwuchs, zur Schule ging, Freundschaften schloss, ihre Ausbildung als Erzieherin, Sprachlehrerin und Dolmetscherin absolvierte, in der sie lebte und arbeitete. Dabei gehörten Belesenheit und eine exzellente Bildung verbunden mit einer hohen Wertschätzung des deutschen Kulturguts, mit dessen aufklärerisch-humanistischen Werten man sich zutiefst identifizierte, zu einem Hintergrund, der für die Familie der Chodziesners selbstverständlich und zugleich repräsentativ für das assimilierte jüdische Bildungsbürgertum im Deutschland jener Zeit war.185 Und auch in Kolmars Briefen an die jüngste Schwester – leider einziges Zeugnis autobiografischer Äußerungen, das wir besitzen – finden sich immer wieder Anspielungen auf oder Zitate von namhaften deutschen Dichtern und Schriftstellern wie selbstverständlich in den Brieftext eingeflochten, aus denen hervorgeht, wie umfassend die Dichterin in deutscher, ja überhaupt europäischer Literatur und Geschichte bewandert war.186 Die Worte deutscher Dichter und Denker auf der einen Seite, jene mitreißenden Gedanken und auf das Kunstvollste geformte Sprache. Auf der anderen Seite die alltägliche Erfahrung einer stets vorhandenen latenten Unsicherheit, eine fortwährende – wenn auch manchmal laut übertönte – unterschwellige Angst vor Abweisung und Kränkung, eine Abweisung, die so weit gehen konnte, dass private Besuche selbst bei der besten Freundin nicht möglich waren. Es ist vor allem diese Ambivalenz, die Gertrud Kolmars Leben von früh an bestimmt hat. 185

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Hier mag zudem ein Erfahrungshintergrund zur Geltung kommen, den Gershom Scholem einmal wie folgt beschrieben hat: »Man darf sagen, dass es eine glückliche Stunde war, in der die neuerwachende Produktivität der Juden, die nach 1750 so bedeutende Formen annehmen sollte, gerade auf den Höhepunkt einer großen Produktivität des deutschen Volkes traf, die ein Bild des Deutschen hervorrief, das vor 1940 auch durch viele bittere und später auch bitterste Erfahrungen in sehr weiten Schichten nicht erschüttert worden ist. Die Amalgamierung einer großen historischen Stunde, für die Juden durch die Namen Lessing und Schiller bezeichnet [Hervorhebung F. H.], hat ihrer Intensität und ihrem Umfang nach keine Parallele in den Begegnungen der Juden mit anderen europäischen Völkern. Aus dieser Begegnung her, der ersten auf dem Weg nach Westen, von diesem neuen Bild her fiel ein großer Schein auf alles Deutsche.« Vgl. Scholem, Juden und Deutsche (wie Anm. 120), S. 29. Hierzu gehören – das versteht sich sozusagen von selbst – Goethe, Schiller und Lessing – aber auch Theodor Fontane, Gottfried Keller, Heinrich Heine, F. C. Meyer, Franz Werfel, Hermann Hesse, Hermann Löns, Otto Ernst, Ludwig Finckh, Werner Bergengruen, Edzard Schaper, Ludwig Uhland und – besonders geschätzt – Thomas Mann sowie vor allem immer wieder Rainer Maria Rilke. Dabei zähle ich hier aufgrund der interessierenden Fragestellung ausschließlich die Namen deutscher Dichter und Schriftsteller auf. Kolmars »abendländischer« Bildungshorizont reicht allerdings weit darüber hinaus. Besonders fühlte sie sich in französischer und russischer, teilweise auch in englischsprachiger Literatur und Dichtung und mit Sicherheit in altgriechischer und römischer Kulturgeschichte bewandert.

1.4 Die Andere: Fremdzuschreibungen und Selbstzuschreibungen

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Ja, es gab sie, die gesellschaftliche Anerkennung des Vaters, der ein höchst angesehener Anwalt war und in den vornehmsten Häusern verkehrte. Aber es gab auch diese unsichtbare Grenze zwischen denjenigen, die an ihrer Zugehörigkeit keinerlei Zweifel kannten, und jenen, die sich ihrer immer wieder vergewissern mussten, und sei es dadurch, dass man äußere und innere »Ähnlichkeiten« zu bedeutenden Persönlichkeiten der deutschen Geschichte – Kaiser oder Goethe – herausstellen musste, um eben nur ja nicht anders zu sein. Gertrud Kolmar nun scheint auf diesen ausgeprägten Wunsch nach Übereinstimmung mit instinktiver Abgrenzung reagiert zu haben. Zwar ist da durchaus und trotz aller äußeren Erschwernis die Neigung zu der »sehr preußischen« Freundin, ist da unterschwellig mit dem Umweg über die Spartaner eine wohl tiefe Bewunderung der proklamierten preußischen Tugenden der Zeit, zwar befindet sich sogar noch in der Speyerer Straße ein Porträt Goethes in ihrem Zimmer,187 doch ist da zugleich ebenfalls die Wahl jener anderen Freundin und damit verknüpft die Hinwendung eben zu jenem Anderen in sich selbst, dem Verhinderten, Ungekannten, dem Fremdgewordenen mithin, das mit dem Begriff des »Ostens«, vor allem aber mit dem des »Asiatischen« zu bezeichnen versucht wird. Was das junge Mädchen vormals nur erst als unklare Neigung, als ein intuitives Hingezogensein erlebt hat, wird sich bei der erwachsenen Dichterin im Jahre 1939 – wie die zitierte Briefstelle erkennen lässt – schließlich zu einer sehr bewussten Sehnsucht und dem unmissverständlichen Gefühl einer anderen, wenn auch fremd gewordenen Zugehörigkeit entwickelt haben. Die Sehnsucht aber gilt zunehmend dem Wunsch, dieses Andere in sich freizusetzen und zu beleben, die Verhinderung schließlich genauer zu fassen und zu bezeichnen und sie, wo möglich, vielleicht zu überwinden. Auch in ihrem Lektüreinteresse schlägt sich diese Suche nieder. In den späteren Briefen an die Schwester kommen nun ebenfalls Kolmars intensive Bibellektüre, vornehmlich des Alten Testaments, und ihre Rezeption des noch weiter in die Zeit zurückreichenden babylonischen Gilgamesch-Epos zur Sprache, über das sie am 7. März 1942 an die Schwester schreibt: »Mir ist der 187

Am 10. September 1939 berichtet Gertrud Kolmar anlässlich eines Besuches ihres fünfjährigen Neffen Wolfgang aus der Speyerer Strasse 10 an Hilde: »Er [Wolfgang] ist ein richtiger Junge, ein lieber, lebhafter Kerl mit gutem Blick und scharfem Ohr für die Dinge des täglichen, des praktischen Lebens und mit einer Fülle treffender Bemerkungen (so wenn er plötzlich mit einem Blick auf mein Bild erklärt: der Goethe [Hervorhebung F. H.] könne doch noch Motorrad fahren; er sei noch jung genug dazu – was er daraus entnimmt, dass der Goethe trotz des stark gelichteten Haars keinen Hut trägt und seinen Brief noch ohne Brille liest).« Es handelt sich bei diesem Bild Goethes vermutlich um eine Kopie des Porträts, das Josef Karl Stieler 1828 auf Veranlassung König Ludwigs I. von Bayern gemalt hatte und dessen Reproduktion sich bald darauf als fester Bestandteil des bildungsbürgerlichen Wohnzimmers etabliert hatte. Vgl. Kolmar, Briefe (wie Anm. 1), S. 36.

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›Gilgamesch‹ sehr nahe; ich weiß, ich fühle, dass ich aus seinem Ursprungsland komme [...].«188 Mit der metonymischen Bezeichnung »Asien« ist somit nicht allein eine Himmelsrichtung und ein Kontinent angesprochen, sondern gleichsam auch eine Reise zurück in die Zeit bis zur Wiege der menschlichen Zivilisation, die eben von diesem Asien aus ihren Ursprung nahm. Immerhin ist das Gilgamesch-Epos der älteste literarische Text, den wir kennen.189 Dass gerade das jüdische Volk seinen Ursprung im Zweistromland hat, steht hingegen bereits in der Bibel. Ich meine, dass die Dichterin Gertrud Kolmar in der Identifikation mit diesem ältesten Stück Literatur überhaupt sich einreiht in jene Tradition von Erzählung, Überlieferung und schriftlicher Aufzeichnung, die dann in der Bibel und schließlich in aller großen Literatur ihre Fortsetzung findet. Sie schreibt sich damit in einen Zusammenhang zivilisatorischer Errungenschaft ein, welcher von hier aus seinen Ausgang nahm und der in der sie umgebenden Welt nun in jeder Hinsicht gefährdet und vom vollständigen Untergang bedroht ist. Immer ›die Andere‹. Was bei den Freundinnen begann, setzt sich in den Liebesbegegnungen späterer Zeit fort. Von vornherein scheint Kolmar dabei den bürgerlichen Konventionen ihrer Zeit wenig Beachtung zu schenken, verhält sie sich kaum so, wie es für »ein Mädchen aus gutem Haus« vorgesehen war. In aller Heimlichkeit lebt die ungefähr Zwanzigjährige eine leidenschaftliche Affäre mit einem nichtjüdischen Mann, der wahrscheinlich preußischer Offizier war, und verletzt dabei gleich mehrere Tabus ihrer Zeit und ihrer Herkunft. Nicht nur verstößt sie in ihrer vorbehaltlosen, alles wagenden Hingabe gegen den bürgerlichen Sittenkodex, sondern sie setzt sich mit ihrer Wahl auch über das in jüdischen Kreisen weit verbreitete Reglement der Ablehnung näherer Verbindungen mit Nichtjuden hinweg. Mag ihr Elternhaus diesbezüglich auch liberal eingestellt gewesen sein, gegenüber der vermutlich aus dieser Beziehung entstandenen Schwangerschaft waren die Eltern es nicht mehr. Sie 188 189

Kolmar, Briefe (wie Anm. 1), S. 117. Im 28./27. Jahrhundert v. Chr. war Gilgamesch der sagenumwobene Herrscher von Uruk in Babylonien. Er galt als König und Halbgott zugleich. Gegen Ende des 3. vorchristlichen Jahrtausends wurden im südlichen Mesopotamien die bis dahin mündlich überlieferten Legenden um den heldenhaften König Gilgamesch erstmals in schriftlicher Form niedergelegt. Wahrscheinlich war es ein einzelner, besonders begabter Kopist, der aus verschiedenen Vorlagen eine erste zusammenhängende Version schuf. So entstand das erste Großepos der Weltliteratur. Das Epos besteht aus 11 Tafeln und umfasst ca. 3000 Verse, von denen ein Fünftel nicht erhalten ist. Angehängt befindet sich eine 12. Tafel. Vgl. Gilgamesch. Archäologie einer unsterblichen Gestalt. Katalog zur Ausstellung des Instituts für Vorderasiatische Altertumskunde der Freien Universität Berlin in der Urania. Berlin 19. Mai bis 9. Juni 2005. Berlin 2005, S. 3 und S. 5. Gertrud Kolmar bezieht sich vermutlich auf die Ausgabe von: G. Burckhardt: Gilgamesch. Eine Erzählung aus dem alten Orient. Leipzig: Insel 1916. Vgl. dazu auch Kolmar, Briefe (wie Anm. 1), S. 217.

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veranlassen die Tochter zum Schwangerschaftsabbruch, ein Trauma, das Kolmar wohl nie ganz überwunden hat.190 So folgt sie abermals in ihren Liebesneigungen einzig dem eigenen inneren Gefühl ohne Rücksicht auf irgendwelche Überlegungen hinsichtlich einer längerfristigen Lebensperspektive. Letzteres sei, so sagt sie es nun am 1. Februar 1942 in ihrem eingangs zitierten Brief, auch nie ihre besondere Erwartung gewesen. Ewig, treu, beständig – gestrichene Wörter von Anfang an. Was zählt, ist das Leben selbst, das echte, das wirkliche, authentische Gefühl. Welche Hürden und Hindernisse dem schließlich entgegenstehen würden, wurde wohl erahnt, doch kaum erwogen. So mag für Kolmar letztendlich ganz unerheblich gewesen sein, was die Schwester in ihren Erinnerungen so bemerkenswert findet: »Auf jeden Fall war dieser Mann Offizier, vielleicht sogar Berufsoffizier, gehört also, Ironie des Schicksals, zu jenen Kreisen, denen Gertrud im Gegensatz zu ihrer Familie ablehnend gegenüberstand.«191 Mehr allerdings weiß auch Hilde nicht, sodass sich weitere Spekulationen hier erübrigen. Bedeutsam hingegen erscheint jenes Muster, das sich in dieser für Kolmar entscheidenden Affäre aufs Neue vermittelt. Der andere, der preußische Mann, Soldat, womöglich Offizier, dabei in den 1.Weltkrieg zu ziehen, ein Liebesobjekt mithin, demgegenüber einzig jener Eros zur Geltung kommen kann, der von vornherein auf Differenz anstelle von Einheit zielt. Soviel ist sicher, gerade und ganz besonders in dieser ersten wichtigen Liebeserfahrung ist Kolmar unwiderruflich die Andere und die Frage bleibt offen, wie viel davon bewusste eigene Wahl bedeutete, wie viel der Rücksichtslosigkeit des jungen Mannes und wie viel einer rigiden, ausgrenzenden und sich verschließenden Umwelt zuzuschreiben gewesen ist. Erneut und gerade hier kommt jene Spannung zum Tragen, die für Kolmars Leben so bezeichnend ist und die doch zugleich zur entscheidenden Voraussetzung eigener schöpferischer Produktivität wird. In eben demselben Brief vom 1. Februar 1942, den wir zu Beginn des Kapitels zitiert haben, schreibt sie im Anschluss an die oben zitierte Stelle: Ich hatte eine geringe Entzündbarkeit und fing nicht leicht Feuer – ein Feuer, das dann schnell wieder ausgeht – brannte es aber (wie selten!) einmal, dann auch mit 190

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Diese Vermutungen entsprechen dem, was Johanna Woltmann in ihrer Biografie in Anlehnung an Aussagen besonders von Kolmars Schwester Hilde Wenzel ausgeführt hat. Während es Einigkeit über die Tatsache des Schwangerschaftabbruchs gibt, sind dessen Hintergründe allerdings weitgehend ungeklärt. Anzunehmen ist, dass Kolmars Eltern zwar gegenüber einer Verbindung mit Nichtjuden nichts einzuwenden hatten – schließlich war auch Hildes Mann Peter Wenzel nicht jüdisch – dass ein illegitimes Kind allerdings für ihren bürgerlichen Moralkodex, der nicht zuletzt auf Aufstieg und gesellschaftliche Anerkennung orientiert war, zu weit ging. Dies belegen ebenfalls Äußerungen Hilde Wenzels, die Woltmann dokumentiert hat. Vgl. Woltmann, Gertrud Kolmar – Leben und Werk (wie Anm. 174), S. 82f. Wenzel, Meine Schwester Gertrud (wie Anm. 174), S. 322.

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1 Eine deutsch-jüdische Dichterin starker dauernder Glut. Mein Gefühl besaß dann die Eigenschaft König Midas’, dem alles, was er berührte, in den Händen zu Gold ward; es ging auf gleich einer großen Sonne und vergoldete noch jeden Fleck, jeden Tümpel, jede Pfütze. Und schließlich war es gar nicht so wichtig mehr, was der tat, wie der sich verhielt, dem es seinen Aufgang, seine Wärme, sein Strahlen verdankte. Die Sonne scheint über Gerechten und Ungerechten ... Begreifst Du, dass ich da niemals enttäuscht ward, nie enttäuscht werden konnte? [...] Was war, war gut ...192

Was Kolmar hier ausdrückt, ist weitaus mehr als einige beruhigende Sätze an die Schwester in der Schweiz, was hier ausgedrückt wird, ist mehr, als die Lebensbilanz einer täglichen Anfeindungen und Bedrohungen des eigenen Lebens ausgesetzten 47-jährigen Frau.193 Zur Sprache kommt hier außerdem eine Lebenshaltung, die eine ganz entscheidende Voraussetzung für Kolmars künstlerisches Schaffen bedeutet. Die Dichterin gewährt an dieser Stelle gleichermaßen Einblick in den Schöpfungsgrund der eigenen seelischen Kraft. Wie König Midas, dem alles, was er berührte zu Gold wurde, so durchglänzt die Intensität des liebenden Gefühls – und sei es auch einer zurückgewiesenen, gescheiterten Liebe – die ganze umgebende Wirklichkeit und lässt diese auf ganz neue Weise von zuvor nicht gekanntem Glanz, ja von neuer Konsistenz hervortreten. Damit wird ein schöpferischer Prozess der inneren Umwandlung von Alltäglichem, Unscheinbarem zu etwas einmalig Kostbarem, gleichsam zu Gold Gewandeltem vollzogen.194 Eine Art seelischer Metabolismus findet 192 193

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Kolmar, Briefe (wie Anm. 1), S. 114. Die zitierten Briefzeilen vom 1. Februar 1942 schreibt Gertrud Kolmar vor dem Hintergrund einer permanenten, äußersten Gefährdung des eigenen Lebens. Nachdem ab Oktober 1941 die Deportationen der Juden in Ghettos oder Konzentrationslager im Osten eingesetzt hatten, schwebte auch Kolmar in ständiger Gefahr für einen dieser »Osttransporte« abgeholt zu werden. So erfahren wir aus einem bislang unveröffentlichten Brief Hilde Wenzels vom 7.12.1941 an ihre nach Chile emigrierte Schwägerin über die Besorgnis um Schwester und Vater in Berlin: »Verschweigen kann ich Dir nicht, dass ich mir ziemliche Sorgen um Vati und Trude [Gertrud Kolmar, F. H.] mache. Trude schreibt ja, um mich zu belasten, nichts, aber ich fürchte doch sehr, dass sie fort muss. Ich bekomme ziemlich regelmäßig Karten von ihr, zu Briefen hat sie begreiflicherweise keine Zeit, denn sie steht jeden Morgen außer sonntags um vier Uhr auf, die letzte Karte kam vorgestern [...]. Diese Ereignisse haben mich sehr aufgeregt und beunruhigt (man sagt, die Aktionen seien vorläufig wieder eingestellt, wenn’s wahr ist und für wie lange) [...].« Der angeführte Brief von Hilde Wenzel befindet sich im Marbacher Literaturarchiv im Nachlass Gertrud Kolmars. Hier ist ein weiteres Missverständnis im Umgang mit Gertrud Kolmar zu klären. Allzu häufig wird sie als die arme Verlassene, die Unterwürfige mit Neigung zur masochistischen Selbstaufgabe charakterisiert. Dies wird zwar von Gundel und Gert Mattenklott kritisch aufgegriffen, aber dann in eine Richtung gewendet, die nach meiner Ansicht nicht anders als eine Fehleinschätzung zu verstehen ist. In ihrem Kolmar–Essay »Metaphorischer Schattenriss« folgern sie über das Liebesverhalten der Dichterin: »Der nicht selten masochistisch anmutende Kolmarsche Opfermut in der Liebe, eine heute fast als anstößig empfundene Haltung, weil sie als

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statt, der unwillkürlich an einige Zeilen aus Rilkes »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« erinnert, jenes Buch, das Kolmar gerade in diesen letzten Berliner Jahren wiederholt als eine ihrer »Kraftquellen« erwähnt: »Immer übertrifft die Liebende den Geliebten, weil das Leben größer ist als das Schicksal. Ihre Hingabe will unermesslich sein: dies ist ihr Glück.«195 Den Weg, den Kolmar zurückgelegt hat, um schließlich in den zitierten Sätzen ihres Briefes vom 1. Februar 1942 eine solcherart bejahende Lebensbilanz zu ziehen, können wir nicht ermessen, wird und muss ihr Geheimnis bleiben. Wegweisend aber bleibt das Bekenntnis zu einem Anderssein, welches die Dichterin offenbar nur mehr noch als einzigen, wahrhaftigen Lebensgrund für sich selber anerkennen konnte. Das eigene Judentum ist dabei als Wurzel zu verstehen, von der her sich Gertrud Kolmars Wahrnehmung des Anderen von Anfang an gestaltet hat. In einem Brief vom 23. Januar 1943, einem ihrer letzten Briefe an die Schwester, schreibt sie schließlich ihr Judentum betreffend: ich habe nur, was ich schon bin. [...] Mir ist ein Stück des Gewesenen so ins Sein eingewachsen, dass ich es nicht, ohne mich schwer zu verwunden, herausreißen kann ...196

Unwiderruflicher lässt sich die eigene Zugehörigkeit kaum fassen. Nur um den Preis schwerer Selbstbeschädigung ließe sich leugnen, was eine so fundamentale Voraussetzung der eigenen Gewordenheit bedeutet. Bei aller Erfahrung des Verlusts, der Ausgrenzung und schließlich der tödlichen Bedrohung ist es dennoch das ins eigene Dasein untrennbar Eingezeichnete und das – bis zur Gefahr körperlicher Zerstörung – schlichtweg Unverlierbare. Was auch immer davon im Einzelnen zur Sprache gebracht wird oder werden kann, es ist ein für allemal – ob gewollt oder nicht – in das eigene Leben eingewachsen und unlösbarer Teil davon. Erst unter Einbeziehung dieses Wissens lässt sich selbstbewusst handeln und klare Position beziehen. Es war dann Hannah Arendt, Zeitgenossin Gert-

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weibliche Unterwürfigkeit missverstanden wird, ist in Wahrheit Ausdruck ihres Stolzes, mit dem sie das Geringere verachtet, weil nur das Höchste, der Gott selbst, ein ihr würdiger Geliebter sein kann.« Hier wird der Dichterin denn doch eine allzu naive, weltfremde Lebensauffassung unterstellt. Wenn Gertrud Kolmar, wie beispielsweise auch in dem hier besonders interessierenden Gedicht »Garten im Sommer«, den Geliebten in einer göttlichen oder mythologischen Erscheinung zu erkennen meint, dann ist das zum einen ein poetologisches Verfahren, dessen sich auch sehr viele männliche Dichter stets bedient haben und verlangt zum anderen eine genaue poetologische Untersuchung hinsichtlich dessen wie diese metaphorische Ausdruckweise zu interpretieren ist. Vgl. Gert und Gundel Mattenklott: Gertrud Kolmar. Metaphorischer Schattenriss. In: Berlin Transit. Eine Stadt als Station. Reinbek: Rowohlt 1987, S. 197. Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. In: Ders.: Werke in drei Bänden. 3. Band. Frankfurt am Main: Insel 1991, S. 299. Kolmar, Briefe (wie Anm. 1), S. 159.

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rud Kolmars, die in ihrer Studie über Rahel Varnhagen mit der Unterscheidung von Paria und Parvenu auf einen entsprechenden Zusammenhang verwiesen hat. Während der Parvenu unter Opferung der eigenen Wahrhaftigkeit und Authentizität dennoch nie das Gefühl echter Zugehörigkeit erreichen könne, sei es allein in der Akzeptanz des eigenen Paria-Daseins möglich – eben von außerhalb der Gesellschaft, die den freien Zutritt verweigert – »das Leben als Ganzes« zu erblicken.197 Nur dem Paria, der anders als der Parvenu sich selbst nicht verleugnen müsse, sei zugänglich, was Arendt beschreibt als: »die tiefe humane Liebe aller von der Gesellschaft Ausgestoßenen zu den ›wahren Realitäten‹ – einer Brücke, einem Baum, einer Fahrt, einem Geruch, einem Lächeln«.198 Was Hannah Arendt in diesem Zusammenhang so anschaulich benannt hat, ließe sich nach meinem Dafürhalten durchaus, zusätzlich zu vielen anderen Gründen, mit als eine Ursache für Kolmars Rückzug ab 1927 in die ländliche Abgeschiedenheit des elterlichen Hauses in Finkenkrug bei Berlin – und damit buchstäblich an den Rand des gesellschaftlichen Geschehens – auffassen. Hier findet sie den Ort, der ihr schließlich ein hohes Maß an dichterischer Produktivität ermöglicht, hier findet sie jenes »freiere Leben des Paria, mit ›Grünem, Kindern, Musik, Wetter‹«, wie Hannah Arendt es beschrieben hat.199 Es geht also um nichts Geringeres als die »wahren Realitäten«, die sich dann in Kolmars Gedichten immer wieder auffinden lassen. Es geht um Grünes, Tier und Pflanze, es geht um das Kind, wenn auch zumeist beklagt als schmerzlicher Verlust, es geht um Leben und Sehnsucht, es geht um tief in den Schichten der Zeit Verborgenes, um Erinnerung und Mythos, es geht um Liebe und Abschied, um Schönheit, Sinnenfreude und Begehren, um Trauer, Verzicht und Verzweiflung und nicht zuletzt geht es immer wieder auch um diejenigen, die ausgestoßen und abgelehnt von der menschlichen Gesellschaft ihr 197 198

199

Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München: R. Piper & Co. 1959, S. 200. Ebd., S. 195. In ihrem Essay »Die verborgene Tradition« weist Hannah Arendt allerdings dann ebenfalls auf die Grenze dieser Freiheit hin, wenn sie schreibt: »Sinnlos wurde sie [die Paria-Existenz, F. H.] erst, als in der Entwicklung des 20. Jahrhunderts die politischen Grundlagen dem europäischen Judentum unter den Füßen ins Bodenlose versanken, bis schließlich der gesellschaftliche Paria gemeinsam mit dem gesellschaftlichen Parvenu zu einem politischen Outlaw der ganzen Welt geworden war. In der Sprache unserer verborgenen Tradition heißt das, dass der Schutz von Himmel und Erde gegen Mord nicht schützt, und dass man von den Straßen und Plätzen, die einst jedermann offenstanden, verjagt werden kann.« Vgl. Hannah Arendt: Die verborgene Tradition. Essays. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag bei Suhrkamp 1976, S. 78f. Arendt, Rahel Varnhagen (wie Anm. 197), S. 197. Es sei hier zudem darauf hingewiesen, dass Regina Nörtemann im Kommentar zu der von ihr neu editierten Ausgabe der Gedichte Gertrud Kolmars im Jahre 2003, ebenfalls diese positive Bedeutung des Rückzugs Kolmars in die ländliche Abgeschiedenheit Finkenkrugs herausgestellt hat. Nörtemann, Das Bild der Dichterin (wie Anm. 2), S. 328.

1.4 Die Andere: Fremdzuschreibungen und Selbstzuschreibungen

55

jeweils eigenes Paria-Schicksal erleben.200 Und schließlich geht es um das Ewige, das Bleibende, jenes Immerwiederkehrende, das die Dichterin später, nach ihrer Zwangsumsiedlung in die Speyerer Straße inmitten Berlins, so schmerzlich vermissen wird. Noch im Oktober 1939 schreibt sie an die Schwester: Vielleicht ist es auch gar nicht F. [Finkenkrug, F. H.], was mir fehlt, sondern eben das Bleibende, Tier und Pflanze, das Immerwiederkehrende, im Werden und Vergehn Beständige.201

Immer ›die Andere‹. Indem Kolmar sich selbst in dieser Weise geradezu gesetzmäßig in dieses Andere einschreibt, misst sie zudem die Distanz aus, »die sie von denen trennt, die sie anders finden«.202 Diese Relationen in Sprache auszuloten und zu ermessen, zu umkreisen und zu artikulieren ist ein weiteres Unterfangen ihres dichterischen Werks. Das eigene Judentum bedeutet ihr dabei nicht allein Wurzel, von der sich ihr Anderssein herschreibt, sondern wird ihr zusehends zur Quelle, zu einem zwar schwer zugänglichen, zum Teil verschollenen, doch unverbrüchlichen Archiv, von dem her sie ihre Dimension des Anderssein sprachliche Gestaltung werden lassen kann. Dabei geht es kaum um eine Rückkehr in den »alten Glauben« oder in althergebrachte Traditionen, geht es nicht um Re-Identifikation mit einem ja auch gar nicht mehr wirklich verfügbaren Originären, sondern handelt es sich eher um »ein Erinnern im Sinne der Re-Lektüre einer Schrift«.203 Dieser Prozess, der bereits in der frühen Lyrik der jungen Dichterin in Ansätzen erkennbar wird, setzt sich dann ab 1927 in verstärktem Maß fort und gewinnt aufgrund der Erfahrungen nach 1933 noch an Brisanz, Intensität und innerer Notwendigkeit.204 Besonders in diesem Zusammenhang nun lässt sich der Begriff »jüdischer Authentizität«, wie ihn Alfred Bodenheimer für die jüdische Moderne entwickelt hat, auch auf Kolmars Selbstverständnis anwenden. Anders als der 200

201 202 203 204

Diesen Außenseiterfiguren widmet sich insbesondere der Gedichtzyklus WEIBLICHES BILDNIS, den Gertrud Kolmar im Zeitraum von 1927 bis 1932 verfasst hat. Kolmar, Briefe (wie Anm. 1), S. 38. Sparr, Nachwort (wie Anm. 164), S. 88. Erdle, Antlitz – Mord – Gesetz (wie Anm. 43), S. 156. So heißt es bereits in dem um 1920 entstandenen Gedichtzyklus NAPOLEON UND MARIE in dem Gedicht »Geschichte«: Ich wusch wie Esther mein Gesicht in Tränen Und lächelte dem Sieger schmerzlich zu. Diese Anspielung auf die biblische Geschichte Esthers verhilft hier der Dichterin dazu, die Perspektive der Geliebten im Gedicht – als diejenige der »besiegten« Anderen – mit einer Herschreibung aus dem Jüdischen zu verbinden. Zugleich wird der Besiegten mit der Nennung Esthers Hoffnung auf Wendung ihres Schicksals zuteil, wurde doch gerade durch Esthers Verführungskraft das jüdische Volk vor drohender Vernichtung gerettet. LW, Frühe Gedichte, S. 212.

56

1 Eine deutsch-jüdische Dichterin

Assimilant, der alles daransetzt, in »einer ursprünglich ihn ausgrenzenden Gesellschaft als nicht nur rechtlich, sondern auch vom Verhalten und Denken her ›Gleicher‹ aufzutreten und angenommen zu werden«, reflektiert sie ihren Ort einer Zugehörigkeit eben gerade als jenen »Nicht-Ort« einer Dialektik von »Differenz und Nichtdifferenz«.205 Der zunehmenden Erfahrung einer von außen auferlegten Diskriminierung vermag sie in dieser Weise ein Eigenes entgegenzusetzen, welches gleichwohl immer wieder neu in seiner aktuellen Befindlichkeit zu erkunden und herzustellen ist. Die zwiespältige Haltung zwischen jüdischer und abendländischer, deutscher, ja preußischer Kultur indiziert dabei den Spannungsbogen, in dessen Radius sich die Dichterin stets bewegt hat. »Sie war eine preußische und sie war eine jüdische Dichterin«, schreibt Thomas Sparr in seinem Nachwort zu Kolmars Erzählung »Susanna«, zwar habe sie nicht als Erste diese »zweifache ›contradictio in adjecto‹ « bezeugt, doch habe sie dies »auf einzigartige Weise« getan, denn sie habe »den ›gezauberten Kreis‹ von innen wie von außen« gesehen als eine Jüdin, »die das, was Nichtjuden und Juden trennt, die Illusionen der Assimilation«, durchschaut habe. »Ihr Leben teilten Risse, und diese Risse kennzeichnen ihr Werk.«206 Noch in größter Ausweglosigkeit hat Kolmar stets aufs Neue das lebendige Wort entlang dieser Risse, dieser Bruchstellen, ja dieser Zäsuren zu gestalten gesucht.207 Dabei bewegt sie sich in einer Art nebelhaften, immer wieder von 205 206

207

Vgl. Bodenheimer, Wandernde Schatten (wie Anm. 63), S. 19 und S. 21f. Sparr, Nachwort (wie Anm. 164), S. 91. Vgl. des Weiteren auch den Ansatz, den diesbezüglich Annegret Schumann verfolgt, wenn sie Kolmars Gedichtzyklus PREUSSISCHE WAPPEN von diesem Sichtwinkel des Andersseins her untersucht. Dabei kommt sie zu der interessanten Erkenntnis, dass Kolmar die Identitätsstiftung, die sich im Wappenbild äußert, eben genau von der Perspektive her hinterfragt, was im Zuge davon ausgegrenzt, ausgeschlossen, eingesperrt, unterdrückt oder gar vernichtet werden musste. Gleichzeitig zeigt Schumann auf, dass die Dichterin im jeweiligen Kontext dann häufig auf volksläufige Genres wie deutsche Märchen und Sagen, andererseits aber auch wieder auf alttestamentarische Texte anspielt, wobei sie zu der Schlussfolgerung gelangt, dass an einigen Stellen des PREUSSISCHEN WAPPENBUCHS bereits ein grundlegender Zweifel Kolmars »an der Möglichkeit einer integrierenden Verbindung von jüdischer und deutscher Tradition« zu verzeichnen sei. Dieser lohnende Ansatz, der die Möglichkeit erhellender Textinterpretation bedeutet, gerät allerdings außer Sicht, wenn die Autorin Kolmars Gedichte schließlich doch wieder als verschlüsselten Ausdruck der biografischen Erfahrung des Traumas einer Kindesabtreibung versteht. Hier gleitet die Interpretation in eine psychologisierende Assoziationsbildung ab, die so kaum dem Verständnis des Werks dienlich sein kann. Vgl. Schumann, ›Bilderrätsel‹ statt Heimatlyrik (wie Anm. 54), insbesondere S. 86f., S. 184, S. 187. Noch am 13. April 1942 schreibt sie an die Schwester: »Und ich habe heute am Abend unseres Peßachfestes (1. April) meine kleine Erzählung ›fertig gemacht‹, wie es bei uns in der Fabriksprache heißt; etwa 26 Heftseiten allerdings eng beschrieben, in 3 Monaten, das ist ein Schneckengang, dennoch bin ich so froh, dass

1.4 Die Andere: Fremdzuschreibungen und Selbstzuschreibungen

57

Sprachlosigkeit eingeholten Zone zwischen verlorener Zugehörigkeit, gescheiterter Emanzipation und dem zunehmenden Druck einer immer bedrohlicher werdenden Ausgrenzung und Entrechtung. Die sich im Zuge der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten verschärfende Fragestellung nach dem eigenen Ort findet ihre Reflexion auch im Werk der Dichterin, wobei sich die Thematik zuspitzt und schließlich zu einer zunehmenden Abkehr von allem Deutschen führt. Was in den letzten Jahren Gertrud Kolmars nun folgt, lässt in der Tat keinen Raum mehr für irgendeine Art von Wahl. Nun bleiben ihr nur noch das Aushalten und der Versuch, selbst im Schlimmsten noch ein Minimum jener inneren Freiheit zu wahren, in der die eigene Würde und Unantastbarkeit noch im Unerträglichsten behauptet wird.208 Nur so lässt sich schließlich jenes »amor fati« begründen, das in den letzten Briefen Gertrud Kolmars dann so schwer wiegen wird.209 Die »verschüttete Schrift« aber wird schließlich buchstäblich im Hebräischen selbst gesucht, jener »Vätersprache«, die Kolmar noch in Finkenkrug zu lernen begonnen hatte und in der sie nun ihre letzten Dichtungsversuche unternimmt, getragen von einer zunehmenden Weigerung, weiterhin auf Deutsch Gedichte zu schreiben.210

208

209

210

es überhaupt ging!« Diese nach unserer Kenntnis letzte Erzählung Kolmars ist leider nicht erhalten geblieben. Vgl. Kolmar, Briefe (wie Anm. 1), S. 122. Vgl. dazu auch Lorenz-Lindemann: »Gertrud Kolmar arbeitete bis zu ihrer Deportation in der Nacht an ihrem Werk und hat so mitten im Ausgeliefertsein einen paradoxen Raum der Freiheit behauptet.« Karin Lorenz-Lindemann: Meine Wurzel treiben hier und dort. Studien zum Werk jüdischer Autoren des 20. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein 2009, S. 7. So schreibt sie am 24. Januar 1943 in einem ihrer letzten Briefe an Hilde: »Vor allem dies Eine: ›Amor fati‹: Liebe zum ›Schicksal‹. Dies ist keimhaft wohl stets in mir gewesen, vielleicht auch schon als grüner Schaft; aber erst jetzt hat sich die Blüte entwickelt und brach die Knospe auf.« Vgl. Kolmar, Briefe (wie Anm. 1), S. 157. Ebd., S. 79.

2

Blickpunkt Sommer 1937

2.1

Familienbild

Das Gedicht »Garten im Sommer« ist 1937 verfasst worden. Es gehört den WELTEN an, einem Verszyklus von siebzehn Gedichten, der in der zweiten Hälfte des Jahres 1937 entstanden ist. Im Frühjahr hatte Gertrud Kolmar den Zyklus VIER RELIGIÖSE GEDICHTE fertiggestellt, ab Spätsommer folgten dann die WELTEN. Mithin war es ein hochproduktives Jahr für sie, noch begleitet von einigen Lesungen ihrer Gedichte im Jüdischen Kulturbund.1 Was lässt sich Genaueres erfahren über diesen Zeitraum, in dem die Dichterin noch einmal zu höchster lyrischer Schaffenskraft fand, bevor ihre Gedichte für immer verstummen? 1937 ist auch ein Jahr der Zäsur, ein Jahr, das bereits von vielen Verlusten bedroht ist. Noch einmal als eine Art Schwanengesang zwei bedeutende Gedichtzyklen. Gedichte von höchster Professionalität und einer Gestaltungsdichte, die immer wieder bis auf den heutigen Tag eine Herausforderung für die Rezeption bedeutet und hohe Anforderungen an eine Exegese stellt. Danach kein einziges Gedicht in deutscher Sprache mehr. Zwar werden noch einige Prosawerke folgen, doch wird Gertrud Kolmar niemals wieder deutsche Lyrik schreiben.2 Spätsommer 1937. Es ist Samstag, der 28. August. Ein sonniger Tag. Eine Familie versammelt sich für ein Foto um eine Gartenbank. Sonnenflecken spielen auf den Gesichtern und Körpern der Anwesenden, auf den Holzleisten der dunkel gestrichenen Bank und den Blättern der Buchsbaumhecke, vor der die Bank aufgestellt ist. Die Frauen tragen leichte, kurzärmelige Sommerkleider, die Männer aus festlichem Anlass Anzug und Krawatte. Man feiert den 76. Geburtstag des Vaters Ludwig Chodziesner. Zwei Fotos von dieser Zusammenkunft liegen uns vor. Sie sind in SchwarzWeiß gehalten, doch man kann sich das Flimmern aus Licht und Grün, die warme Luft und den Geruch eines Spätsommertages im August gut vorstellen. Die Gruppe besteht aus vier Frauen, drei Männern und zwei kleinen Kindern: einem Mädchen und einem Jungen. Drei der Erwachsenen sitzen auf der Bank: 1 2

Vgl. dazu Kap. 2.3 dieser Arbeit. In ihren Briefen an Hilde Wenzel schreibt Kolmar dann von ihren Versuchen, ein hebräisches Gedicht zu verfassen. Vgl. Kolmar, Briefe (wie Kap. 1.1, Anm. 1), S. 78f.

60

2 Blickpunkt Sommer 1937

In der Mitte der Jubilar selbst, rechts von ihm seine jüngste Tochter Hilde mit der vierjährigen Enkelin Sabine, links von ihm seine Schwiegertochter Thea, den dreijährigen Enkel Wolfgang auf dem Schoß. Die anderen gruppieren sich stehend um die Bank herum. Und eben hier beginnen die Schwierigkeiten. Denn von dieser Gruppenaufstellung existieren zwei verschiedene Aufnahmen. Eine davon, die gemeinhin als letzterhaltenes Familienfoto gilt, ist inzwischen vielfach veröffentlicht und des Öfteren besprochen worden.3 Auf diesem bekannteren Foto befinden sich die vier stehenden Personen allerdings in anderer Formation als auf der zweiten, bislang fast gänzlich unbekannten Abbildung von eben jenem Anlass. Zudem ist der Ausdruck beider Fotografien grundverschieden.

Auf der bekannten Version steht Gertrud Kolmar rechts neben Hilde etwas abseits von den anderen. Zwischen ihr und dem linkerhand von ihr als Nächster hinter der Bank stehenden Schwager Peter Wenzel klafft eine deutliche Lücke, wobei der Abstand durch Kolmars zur anderen Seite geneigten Kopf noch unterstrichen wird. Die Schwester Margot Chodziesner und der Bruder Georg Chodziesner, die sich links vom Schwager in der Reihenfolge anschließen, bilden hingegen mit diesem eine eher harmonische Dreierformation hinter der Rückenlehne der Bank. Margot befindet sich direkt hinter ihrem Vater in 3

Dieses Foto wurde erstmals 1955 veröffentlicht in Gertrud Kolmar: Das Lyrische Werk. 6. Veröffentlichung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Nachwort von Jacob Picard. Darmstadt: Kösel 1955. Vgl. dazu Gudrun Jäger: Gertrud Kolmar. Publikations- und Rezeptionsgeschichte. Frankfurt am Main, New York: Campus 1998, S. 15, Fußnote 17.

2.1 Familienbild

61

der Mitte zwischen den beiden Männern, die sich jeweils hinter Frau und Kind aufgestellt haben. Zweifellos ist diese Aufnahme die repräsentativere. Alle Beteiligten, bis auf Peter Wenzel, blicken in die Kamera, manche von ihnen, besonders die Frauen, wie Thea, Hilde und die kleine Sabine, bemühen sich um ein Lächeln, die anderen Gesichter deuten kaum eines an oder bleiben wie bei Kolmar selbst und ihrem Bruder Georg vollkommen ernst. Höchstwahrscheinlich wird die Situation nicht gerade von unbeschwerter Heiterkeit geprägt gewesen sein. Immerhin schreiben wir das Jahr 1937 und bis auf Peter Wenzel, den Schwager, handelt es sich bei den Abgebildeten um jüdische Menschen. Sommer 1937 in Deutschland. Das meint auch die Anwendung der Nürnberger Rassegesetze seit nunmehr bereits zwei Jahren. Durch diese Gesetze wurde das Ausgeschlossensein der Juden von ihren nichtjüdischen Landsleuten endgültig zementiert und eine fortschreitende Ghettoisierung und Entrechtung festgeschrieben. Übergriffe und Schikanen gerieten zum Alltagsgeschehen. Juden fanden immer weniger Schutz vor der anwachsenden Aggressivität und mörderischen Feindseligkeit der staatlichen Politik. Neben den zunehmend brutaler werdenden Angriffen auf die eigene Existenz musste zudem mit ständiger Überwachung durch den NS-Staat gerechnet werden, der schon beim geringsten Anlass nicht vor drastischen Haftstrafen und extremen Verhörmethoden zurückschreckte.4 Nicht umsonst hatte Gertrud Kolmar bereits am 22. September 1933, ungefähr ein halbes Jahr nach Hitlers Machtergreifung, folgende Zeilen in ihrem Gedicht »An die Gefangenen« aus dem Zyklus DAS WORT DER STUMMEN verfasst, in deren Aufgelöstheit und Pathos der emotionale Schrecken noch spürbar ist: Das wird kommen, ja, das wird kommen; irret euch nicht! Denn da dieses Blatt sie finden, werden sie mich ergreifen. Herr, gib, dass ich wach mich stelle deinem heiligen großen Gericht, Dann, wenn sie an blutendem Schopf durch die finsteren Löcher mich schleifen! [...] Verzweifeln will ich, will aufweinen, elend, verletzt, Und singen dem Vogel gleich, dem Nadeln das Auge stechen.5 4

5

Über die Zensurpraktiken der Nazis bereits ab 1933 schreibt Sebastian Haffner in seinen Erinnerungen: »Die Nazis [...] zeigten nie etwas anderes als die scheue, feige und bleiche Fratze des leugnenden Mörders. Während sie systematisch Wehrlose folterten und mordeten, versicherten sie täglich in edlen und weichen Tönen, dass niemandem ein Haar gekrümmt würde, und dass nie eine Revolution so human und so unblutig vonstatten gegangen sei. Ja wenige Wochen nach dem Einsetzen der Gräuel wurde durch ein Gesetz jedem, der auch nur in seinen vier Wänden die Behauptung aufstellte, dass Gräuel geschähen, strenge Strafe angedroht.« Dass besonders jüdische Menschen durch diese Zensurpraktiken gefährdet waren, liegt auf der Hand. Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914– 1933. München: Deutscher Taschenbuchverlag 2002, S. 125. LW, Gedichte 1927–1937, S. 365.

62

2 Blickpunkt Sommer 1937

Neben der Sorge um Leib und Leben ist es aber vor allem auch die tiefe Kränkung, die diese Menschen, die sich als patriotische Deutsche empfunden hatten, bis ins Innerste treffen muss. Alles ist ihnen fremd geworden, heimisch können sie sich längst nicht mehr fühlen. Mehr und mehr Freunde, Verwandte, Bekannte, Kollegen verlassen das Land oder werden unter fadenscheinigen Vorwänden verhaftet und oft muss Schlimmstes befürchtet werden.6 Nichtjüdische Landsleute wenden sich ab oder offen gegen sie.7 Zu der Erfahrung des Verstoßenseins, der Schutzlosigkeit, der Verlorenheit und Ächtung gesellt sich zunehmend das Gefühl akuter Bedrohung des eigenen Lebens, einer Bedrohung, die im November 1938 dann zum massiven Ausbruch kommen wird, sich aber längst in vielfältigen Vorfällen und Geschehnissen ankündigt.8 Dies zu dem aktuellen Hintergrund der beiden sommerlichen Familienaufnahmen. Eine originalgetreue Dokumentation der bekannteren Fotografie zeigt ein kleines Bild in Schwarz-Weiß mit morschem, zum Teil eingerissenem, zum Teil völlig zerfetztem Rand.9 Risse graben sich tief in das Papier ein, stoßen auf die Beteiligten zu, teilweise sind ganze Stückchen am unteren Rand herausgerissen, zwei Ecken sind wie abgeschnitten. Die Spuren, welche die Zeit auf dem Bildmaterial hinterlassen hat, verweisen hier nachgerade allegorisch auf real Geschehenes, das in der Abbildung selbst vordergründig noch verborgen scheint. Ein weiteres Mal kommen hier Gedichtzeilen aus dem Zyklus DAS WORT DER STUMMEN von 1933 in den Sinn, diesmal aus dem Gedicht »Wir Juden«:

6

7

8

9

Wie sich diese Umstände auf die eigene Befindlichkeit auswirkten vermitteln uns beispielsweise die Tagebuchaufzeichnungen der jüdischen Ärztin Hertha Narthoff, eine Zeitgenossin Kolmars, die ebenfalls in Berlin lebte. Am 9. September 1935 notiert sie: »Ich habe Angst, mein Buch [Tagebuch, F. H.] zu führen, sie haben ihre Spione überall. Jede Nacht verstecke ich das Heft irgendwo anders.« Am 4. Januar 1937: »Man lebt für den Augenblick solange man noch lebt. Ich habe Angst zu schreiben, sie schnüffeln ja alles aus.« Am 6. September 1937: »Aber ich zittere sooft es klingelt, ich zittere sooft das Telefon geht.« Das Tagebuch der Hertha Narthoff. Berlin – New York. Aufzeichnungen 1933 bis 1945. Hg. von Wolfgang Benz. Frankfurt am Main: Fischer 1988, S. 73, S. 93, S. 98. Am 28. Dezember 1937 beschreibt der Romanistikprofessor Victor Klemperer in Dresden eine Situation, wie sie inzwischen wohl zur alltäglichen Erfahrung von Juden in Deutschland gehört: »Die Einsamkeit wird immer lastender. Aus Berlin muss Bertold Meyerhof fort. Johannes Köhler hat mir weder zum Geburtstag noch zu Weihnacht (wie sonst seit Jahren immer) gratuliert.« Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1941. Berlin: Aufbau 1995, S. 388. Vgl. dazu Saul Friedländer: Kreuzzug und Kartei. In: Ders.: Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933–1939. München: Deutscher Taschenbuchverlag 2000, S. 196–207. Eine originalgetreue Wiedergabe dieses Fotos findet sich in: Gertrud Kolmar 1894– 1943. Marbacher Magazin 63 (wie Kap. 1.1, Anm. 7), S. 108.

2.1 Familienbild

63

Knöchel. Ihr schleppt doch Ketten, und gefangen klirrt mein Gehn. Lippen. Ihr seid versiegelt, in glühendes Wachs gesperrt. Seele. In Käfiggittern einer Schwalbe flatterndes Flehn. Und ich fühle die Faust, die das weinende Haupt auf den Aschenhügel mir zerrt.10

Zu wie vielen Deutungen über Gertrud Kolmar und ihr Verhältnis zu den anderen Familienmitgliedern aber hat dieses eine Foto geführt! Da hören wir es wieder, das alte Lied über die weltferne, geradezu absonderliche oder altjüngferliche Dichterin, die in ihrem zurückgezogenen Winkel am Rande der Welt, abgesondert von den anderen, einsam, verkannt, ohne Liebe, ohne Freunde, »dienend« für Andere lebt und sich in ihre Gedichte flüchtet, Ersatz für ungelebtes Leben und dennoch von eigenartiger Faszination.11 Wer spricht da eigentlich über wen? Finden hier nicht gerade jene Fremdzuschreibungen und Vereinnahmungen statt, die eine wirkliche Möglichkeit der Annährung von vornherein nur verhindern können? Denn dazu würde vor allem auch gehören, Zeit und Ort mitzureflektieren. Besonders deutlich aber werden diese Projektionen, wenn nun noch ein zweites Foto von jener um die Gartenbank versammelten Geburtstagsgesellschaft hinzugezogen wird.12 Es handelt sich um eine Abbildung, die weit weniger bekannt ist als diejenige, die wir bislang betrachtet hatten, und die nun allerdings eine ganz andere Sprache spricht. Zunächst fällt auf, dass diese zweite Aufnahme weit weniger gestellt wirkt als erstere und somit sicherlich weniger repräsentativ, vermutlich aber erheblich authentischer im Ausdruck ist. 10 11

12

Vgl. LW, Gedichte, 1927–1937, S. 372. So heißt es beispielsweise bei Johanna Woltmann über dieses Foto: »Gertrud Kolmar hält sich etwas abseits von der übrigen Familie, fast biegt sie sich zur Seite. Kleid, Haltung und Gesicht beweisen ihre große Entfernung zu den anderen.« Vgl. Woltmann, Gertrud Kolmar – Leben und Werk (wie Kap. 1.1, Anm. 2), S. 202. Dieses offenbar aufgreifend schreibt dann Gudrun Jäger noch weitaus zugespitzter: »Lediglich Gertrud Kolmar fällt aus der abgerundeten und in sich stimmigen Familienkonstellation heraus. Als einzige steht sie neben der Bank, abseits von den übrigen. In Haltung und Gestik scheint sie ihre Distanz zur Gruppe noch unterstreichen zu wollen. Oberkörper und Kopf sind leicht geneigt, abgewandt von den anderen, ein Arm ist auf dem Rücken verschränkt und verstärkt durch den abweisenden Gestus den Eindruck der Verschlossenheit, Isolation und Nicht-Zugehörigkeit. [...] Verglichen mit dem zeitgemäßen Aussehen ihrer Schwestern und Schwägerin wirkt Gertrud Kolmars Art sich zu kleiden merkwürdig verschroben und antiquiert. [...] Ein schwarzer Gürtel trennt den eher schmächtigen Oberkörper von den ausladenden Hüften und unterstreicht so die unvorteilhafte Erscheinung.« Soweit eine Kostprobe aus Jägers Abhandlung, die sich leider des Öfteren zu derartigen Äußerungen versteigt. Vgl. Jäger, Gertrud Kolmar (wie Anm. 3), S. 15. Dieses zweite Foto wurde veröffentlicht in dem Zeitungsartikel: Finkenkrug – das »verlorene Paradies«. Ein Lebensort der deutsch-jüdischen Autorin Gertrud Kolmar, 1894–1943. Von Beatrice Eichmann-Leutenegger. In: Neue Zürcher Zeitung, Samstag, 5. Dezember 1992.

64

2 Blickpunkt Sommer 1937

Hier hat man sich gelockert, wirkt wie befreit von der Aufforderung, lächelnd in die Kamera sehen zu müssen. Nun können sich spontanere, unverkrampfte Konstellationen herstellen. Hilde und Tochter Sabine lächeln jetzt auffordernd dem kleinen Wolfgang zu, Thea blickt eher verloren und ratlos, auch Georg, der Bruder, der nun außen neben Kolmar steht, wirkt verstört und bedrückt, während der unverändert in der Mitte sitzende Jubilar weiterhin in einer Art Benommenheit in die Kamera schaut. Alle wirken irgendwie versunken, manche wie innerlich abwesend.

Kolmar selbst steht dieses Mal nicht mehr abseits am Rand, sondern zwischen ihrem Bruder und ihrem Schwager. Ihre Haltung ist nun ebenfalls entspannter. Den linken Unterarm leicht auf die Rückenlehne der Bank gelegt, den rechten Arm gelöst an der Seite, geht von ihrer Gestalt eher eine ruhige Gelassenheit aus. Ihre Gesichtszüge, wie in Holz geschnitten, wirken gesammelt. Die ernsten, umschatteten, dunklen Augen sind direkt auf die Kamera gerichtet. Ihre Lippen sind fest geschlossen. In ihrer gesamten Erscheinung vermittelt sich eine starke Präsenz, aufrecht und zurückgenommen zugleich. Allein aufgrund dieser spürbaren Konzentration in Blick und Haltung wirkt sie anders im Kreis der Familie. Anders ja, aber nicht etwa isoliert, abgetrennt oder gar »nicht zugehörig«. Eher mag hier zutreffen, wie die entfernte Familienangehörige Hilde Benjamin sie in ihren Erinnerungen beschrieben hat: Die Mauer, hinter der Gertrud lebte, war nicht nur Unscheinbarkeit und Sonderlichkeit. Sie verbreitete eine große Stille und zugleich innere Unruhe um sich. Sie wirkte

2.1 Familienbild

65

dunkel, aber nicht düster; es waren dunkle, warme Farben, die sie zu umgeben schienen. Sie war herb, aber von milder Bitternis erfüllt. Sie wirkte kühl, aber niemals kalt.13

Einsam in ihrem Schicksal sind mehr oder weniger alle auf diesem Familienfoto. Allen außer den Kindern stehen die schweren Zeiten ins Gesicht geschrieben. Nicht nur Kolmars Augen sind von Schatten umrandet. Es ist nur noch ein letzter Moment an Gemeinsamkeit, der ihnen in diesen Wochen und Monaten vergönnt ist. Eine Atempause. Bereits im Frühjahr 1938 wird als Erste Hilde Wenzel das Land verlassen und mit ihrer Tochter in die Schweiz emigrieren. Das geliebte Haus in Finkenkrug, in dessen Garten man sich noch für diese Familienaufnahme zusammengefunden hatte, wird nach dem Novemberprogrom 1938 zwangsversteigert werden. Gertrud Kolmar und der inzwischen 77 Jahre alte Vater Ludwig Chodziesner werden daraufhin im Januar 1939 gezwungen, in die Speyerer Straße in BerlinSchöneberg umzuziehen. Ihnen gelingt es nicht mehr, aus Deutschland herauszukommen. Im Frühjahr 1939 emigriert Margot Chodziesner nach Australien, im August 1939 dann Georg Chodziesner, nachdem er knapp einer Verhaftung durch die Gestapo entkommen war. Im Dezember 1939, bereits nach Kriegsbeginn, gelingt schließlich auch Georgs Frau Thea mit Sohn Wolfgang die Flucht nach Südamerika. Sie wird ihren Mann nicht wiedersehen. Schon 1943 stirbt sie in Chile, während Georg nach etlichen Umwegen endlich im Sommer 1940 Australien erreicht, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1981 leben wird. Margot Chodziesner hingegen verstirbt ebenfalls noch vor Kriegende 1942 im Alter von nur 45 Jahren in Australien. Den Krieg überleben werden allein der Bruder Georg, die Schwester Hilde, Peter Wenzel und die beiden Kinder Sabine und Wolfgang.14 Sommer 1937. Alle Anwesenden dieser väterlichen Geburtstagsgesellschaft sind längst von den bedrohlichen Schatten der Zeit gezeichnet. Doch wird noch ein kurzes Innehalten gewährt, eröffnet sich noch einmal der Raum für einen der schönsten Gedichtzyklen, den wir von Gertrud Kolmar kennen. Am 17. August hatte sie begonnen, ihre WELTEN niederzuschreiben, die sie wenige Monate später, am 20. Dezember 1937, fertiggestellt haben wird. Und es ist nicht gänzlich abwegig, sich vorzustellen, dass es möglicherweise mit ein Sommertag war, wie jener denkwürdige 28. August, an dem Ludwig Chodziesner seinen 76. Geburtstag feierte, durch den sie zu ihrem Gedicht »Garten im Sommer« aus diesem Zyklus inspiriert worden ist.

13 14

Zitiert nach Woltmann, Gertrud Kolmar – Leben und Werk (wie Anm. 11), S. 264. Vgl. dazu ebd., S. 222–229. Die Todesdaten und -orte der jeweiligen Familienmitglieder sind entnommen aus dem Stammbaum der Familie Schoenflies, der dem Marburger Magazin 63 über Gertrud Kolmar beigelegt ist. Vgl. Kap. 1.1, Anm. 7.

66

2 Blickpunkt Sommer 1937

2.2

In einem ›Bereich des Mythos‹: Der Mann K. J.

Sommer 1937. Trotz der Zeiten Schwere scheint dieser Zeitraum in Kolmars Leben noch einmal von einer eigenen Intensität bestimmt. Abschiede und Verluste machen sich allenthalben bemerkbar und rufen unvermeidlich Trauer und Melancholie hervor, die nach Kolmars eigenen Worten bei ihr häufig erst den dichterischen Prozess in Gang setzen: Denn [...] ich schaffe ja nie aus einem Hoch- und Kraftgefühl heraus [...]. Wenn ich jedoch umgekehrt aus einem Ohnmachts- und Verzweiflungszustande heraus das neue Werk beginne, so bin ich wie einer, der von unten aus der Tiefe heraus, zur Gipfelwanderung sich anschickt; zunächst ist das Ziel noch sehr fern, der Blick versperrt, doch mit dem Fortschreiten wird die Aussicht immer weiter und schöner. [...] Ich muss mir sagen: ›Ich kann überhaupt nichts mehr. Meine Kraft ist erschöpft. Ich werde nichts mehr vollbringen‹, dann ist die rechte Stunde da.15

Dies schreibt die Dichterin noch in ihrem letzten Brief vom 21. Februar 1943 an ihre Schwester im Schweizer Exil. Mögen ihre Worte in diesen Zeilen zusätzlich noch dadurch mitbestimmt gewesen sein, dass Kolmar sie in hoffnungsloser Lage geschrieben hat, so drückt sich in ihnen zugleich doch auch eine Erfahrung aus, die über den aktuellen Anlass hinaus Gültigkeit beansprucht. »Der Glückliche phantasiert nie«, schreibt Freud, »nur der Unbefriedigte«. Jede einzelne Phantasie sei eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Gegenwart. Diesen Gedanken auf Kolmar übertragend, können wir als Anlass und Motor des dichterischen Schöpfungsvorgangs – durchaus im Sinne einer apotropäischen Geste – auch bei ihr die Bearbeitung einer Realität ansehen, die ansonsten schiere Ausweglosigkeit bedeuten würde, zugleich einhergehend mit dem Versuch, ein Anderes dagegenzusetzen.16 Sommer 1937. Vorerst schwelt da immer noch und immer wieder die Affäre mit dem Chemiker und Dichter Karl Josef Keller, die ihren Anfang um 1930 in einem mehrjährigen Briefwechsel genommen hatte und zu einer offensichtlich sehr ambivalenten persönlichen Begegnung von wenigen Tagen anlässlich einer gemeinsamen Norddeutschlandreise im Spätherbst 1934 führte, woraufhin sich ein weiterer Briefwechsel fortspann, der auch 1937 noch bestand, obwohl Keller in eben diesem Jahr – ohne Kolmar davon in Kenntnis zu setzen – geheiratet hatte. Ende des Jahres 1939 schließlich wird Gertrud Kolmar dieses Verhältnis zu Keller in erneuter kurzer persönlicher Begegnung dann abrupt beenden.17 15 16

17

Kolmar, Briefe (wie Anm. 2), S. 164. Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren (1908). In: Ders.: Studienausgabe. Band X. Bildende Kunst und Literatur. Frankfurt am Main: Fischer 2000, S. 173f. Den Begriff der »apotropäischen Geste« habe ich von Erdle übernommen. Vgl. dazu auch Kapitel 1.2 meiner Arbeit. Vgl. Woltmann, Gertrud Kolmar – Leben und Werk (wie Anm. 11), S. 209f.

2.2 In einem ›Bereich des Mythos‹: Der Mann K. J.

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K. J. Keller. Wir nähern uns damit einer Affäre, die oft interpretiert und wohl ungefähr genauso oft fehlinterpretiert worden ist.18 Wenig, und nicht unbedingt Gewinnendes, wissen wir über diesen Menschen, mit dem die Dichterin immerhin ungefähr ein Jahrzehnt korrespondierte und von dem sie sich aufgrund der kurzen Begegnung im Herbst 1934 zu einem ihrer eindrucksvollsten Gedichtzyklen, GERMAN SEA, inspirieren ließ.19 Da muss jener Zauber König Midas’ anscheinend kräftig mitgewirkt und manches von vornherein mit goldenem Glanz überzogen haben, was bei nüchternem Licht betrachtet so wohl nicht hätte standhalten können.20 Vermutlich war es denn auch schon ein ganz eigener Zauber, mit dem der Kontakt zu Karl Josef Keller seinen Anfang nahm. Der damals achtundzwanzigjährige Keller hatte der Dichterin 1930 aus eigenem Antrieb geschrieben, weil er sich tief beeindruckt fühlte von zwei Gedichten, die im Insel-Almanach auf das Jahr 1930 veröffentlicht worden waren.21 In den Almanach des renommierten Insel-Verlags aufgenommen zu werden, bedeutete eine ernst zu nehmende Anerkennung und kam einem entscheidenden Durchbruch gleich.22 Kolmars Name befindet sich nun neben denen der großen Dichter und Schriftsteller ihrer Zeit, wie unter anderem Rilke, Hofmannsthal, Stefan Zweig, Romain Rolland, was wiederum zur Folge hatte, dass andere zeitgenössische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Dichterinnen und Dichter auf sie auf-

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Im Allgemeinen wird die Affäre Kolmars mit K. J. Keller als eine unglückliche Liebesbeziehung interpretiert, in der Kolmar – wieder einmal – als die arme Verlassene angesehen wird. Dass ich dies für erheblich vielschichtiger halte, dürfte aus meinen Darlegungen hervorgehen. Vgl. dazu u. a. Johanna Woltmanns Biografie, insbesondere das Kapitel: Unerfüllbare Hoffnungen (wie Anm. 11), S. 209–221. Siehe auch den Kommentar von Regina Nörtemann in: LW. Anhang und Kommentar, S. 374–386. Kolmar selbst hielt einige der sieben Gedichte aus diesem Zyklus für die besten, »die ich je fand«. Vgl. Kolmar, Briefe (wie Anm. 2), S. 158. Eine genauere Untersuchung dieses Zyklus hat zudem Monika Shafi vorgenommen: Vgl. Monika Shafi: Reise und Eros: Zu Gertrud Kolmars Gedichtfolge German Sea. In: Kambas, Lyrische Bildnisse (wie Kap. 1.4, Anm. 172), S. 69–88. Vgl. hierzu Kapitel 1.4 dieser Arbeit. Es handelt sich bei den zwei Gedichten um »Die Entführte« und »Die Gauklerin« aus dem Zyklus WEIBLICHES BILDNIS. Vgl. Insel-Almanach auf das Jahr 1930 im Insel-Verlag zu Leipzig, S. 93–96. Sowie LW, Gedichte 1927–1937, S. 106 und S. 113. Diese Veröffentlichung hatte auf Gertrud Kolmar aufmerksam gemacht. Nicht nur begann Karl Josef Keller ihr zu schreiben, sondern auch Ina Seidel – seit dem Erscheinen ihres Romans »Das Wunschkind« (1930) eine der viel gelesenen Autorinnen der Zeit – begann, sich für Gertrud Kolmar einzusetzen. Ebenfalls nahm die Schriftstellerin Elisabeth Langgässer nun bewusst Kenntnis von Kolmars Gedichten. Vgl. dazu Jäger, Gertrud Kolmar (wie Anm. 3), S. 79.

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2 Blickpunkt Sommer 1937

merksam wurden und sich in den folgenden Jahren, wie Ina Seidel und Elisabeth Langgässer, für weitere Veröffentlichungen von Kolmars Werk einsetzten.23 So erlebt Gertrud Kolmar in diesen letzten Jahren vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten eine erste deutliche Würdigung ihres Werkes in der zeitgenössischen Literaturlandschaft und findet Zugang zu anderen Dichterinnen und Dichtern ihrer Zeit. Und in eben dieses Erleben einer Öffnung des deutschen literarischen Publikums ihr gegenüber fällt der Briefkontakt mit Karl Josef Keller, der sich als ein gleichfalls aufstrebender Dichter vorstellt. »Es entspann sich ein Briefwechsel, beide schickten einander Gedichte, nahmen dazu Stellung«, weiß die Kolmar-Biografin Johanna Woltmann zu berichten, die Keller im Juli 1978 noch persönlich getroffen und über sein Verhältnis zu der Dichterin befragt hatte.24 Ein junger Mann namens Karl Josef, abgekürzt K. J., schreibt an eine 36jährige, eher scheue Dichterin, die gerade erste öffentliche Erfolge zu verzeichnen hat. Ein K. J. Keller, selbst ein Dichter, also einer, der etwas verstehen könnte, fühlt sich offenbar beeindruckt und angerührt. Schien hier nicht endlich ein großer Wunsch nach Annahme und Würdigung wahr zu werden? Es geht fürs Erste wohl auch gar nicht so sehr um den Menschen Karl Josef Keller selbst. Es geht wohl vielmehr um einen Mann K. J. Denn den gab es schon einmal, diese Initialen galten auch für einen, der sich Karl Jodl nannte, jener großen Liebe aus Kolmars Jugendjahren, von der nur weniges bekannt ist, die mit ihrem traumatischen Ende aber tiefe Spuren im Leben der Dichterin hinterlassen hat. So ist es letztlich nicht auszumachen, wem die zwei Gedichte »Der Wal« und »Fischkönig« aus dem zwischen 1927 und 1932 entstandenen Zyklus TIERTRÄUME, die ausdrücklich einem K. J. gewidmet sind, in Wahrheit gelten sollen.25 Jener fernen, verloren gegangenen Liebe von einst oder jenem fernen Briefeschreiber, der so nachdrücklich von ihren Versen angerührt ist und den die Dichterin zum Entstehungszeitpunkt dieser Gedichte noch gar nicht persönlich kennengelernt hatte. Wie von wundersamem Geschick ge23

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Dazu lesen wir bei Johanna Woltmann: »1932 bereitete Ina Seidel gemeinsam mit Elisabeth Langgässer eine Anthologie von ›Frauengedichten‹ vor, in die sie nun auch Gertrud Kolmar aufnehmen wollte.« Des Weiteren erfahren wir bei Woltmann: »1934 gab Stomps die Anthologie ›Das Leben‹ heraus. Dieser Band wurde mit den Druckstöcken des Jahrgangs 1933 hergestellt und enthält von Kolmar wiederum ›Wappen von Allenburg‹. Wilhelm Lehmann, Eberhard Meckel, Peter Huchel, Oda Schaefer, Günter Eich, Hermann Kasack, Georg von der Vring, Kurt Heynicke und andere sind darin mit Gedichten und Prosatexten vertreten. Im Herbst desselben Jahres erschien dann endlich das kleine graugrüne Heftchen der ›Preussischen Wappen‹ [...]«. Außerdem veröffentlichte Kolmar in den Jahren 1932 bis 1934 verschiedentlich Gedichte in der Literaturzeitschrift »Der weiße Rabe« sowie »Die Literarische Welt«. Vgl. Woltmann, Gertrud Kolmar – Leben und Werk (wie Anm. 11), S. 173 und S. 203. Zu den Publikationen zu Lebzeiten Kolmars vgl. außerdem: Jäger, Gertrud Kolmar (wie Anm. 3), S. 270f. Vgl. Woltmann, Gertrud Kolmar – Leben und Werk (wie Anm. 11), S. 209. LW, Gedichte 1927–1937, S. 229 und S. 239.

2.2 In einem ›Bereich des Mythos‹: Der Mann K. J.

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webt, scheinen sich entfernte Vergangenheit und noch verborgene Zukunft zu überschneiden und so das Verhältnis zu Keller von Anfang an in ein von starken Gefühlen verklärtes Licht getaucht zu haben. Als würde das Verlorene zu neuem Leben erwachen, das Trauma der Vergangenheit gemildert, vielleicht sogar überwunden werden können. »Sie war für mich in einem Bereich des Mythos«, soll Keller über die Dichterin gegenüber Johanna Woltmann geäußert haben.26 Es ist davon auszugehen, dass diese Art der Wahrnehmung für Kolmar umgekehrt ganz ähnlich gewesen sein muss. Jahrelang spielte sich alles nur in Gedichten und Briefen ab, schien der Wunsch auch gar nicht besonders drängend gewesen zu sein, eine persönliche Form der Begegnung herzustellen. Dazu mag noch eine gewisse unstete Lebensweise Kellers mit beigetragen haben, der wie Johanna Woltmann ebenfalls berichtet, sich als Dichter und Abenteurer zu stilisieren liebte, sich gern mit dem »Nimbus des Seemanns und Klabautermanns« umgab, welcher sich »Weite, Meer und Wogen« verschrieben hatte und zuweilen an Bord von Fangschiffen auf dem Atlantik, der Nordsee oder dem Mittelmeer herumreiste.27 Was auch immer er davon Kolmar gegenüber geäußert haben mag, es kann keinen Zweifel daran geben, dass bei ihr durch den Kontakt mit diesem K. J. offenbar die dichterische Phantasie in Gang gesetzt worden ist. So verständigen sich die beiden Briefeschreiber schließlich in einer Meer- und Unterwassermetaphorik, in der auch die Vorstellungen vom »Wassermann« und vom »Schwan« auftauchen.28 Metaphern, die Kolmar in ihren Gedichten aufgreifen wird und mit denen sie, laut Kellers eigener Aussage, diesen in ihren Briefen persönlich angeredet haben soll.29 »Sie war für mich in einem Bereich des Mythos.« Mehr als alles andere stellt dieser Satz das Verhältnis Kellers zu Gertrud Kolmar dar. Immerhin hatten ihn ihre Gedichte so sehr angesprochen, dass er ihr persönlich schrieb.30 Welche Vorstellungen mögen geweckt worden sein, als die Verfasserin dieser Verse ihm schließlich antwortete, ja mehr als das, sich zutiefst für ihn und sein Werk zu interessieren schien? Für ihn, der noch kaum Anerkennung als Dichter gefunden hatte, muss es ein erhebendes Gefühl bedeutet haben, dass eine Dichterin sich ihm nun eingehend zuwandte, die bereits soweit avanciert war, dass sie neben den berühmten Autoren der Zeit veröffentlicht wurde. 26 27 28 29 30

Woltmann, Gertrud Kolmar – Leben und Werk (wie Anm. 11), S. 209. Ebd. Vgl. hierzu die Ausführungen Regina Nörtemanns in: Nörtemann, Nachwort (wie Kap. 1.1, Anm. 2), S. 379f. Woltmann, Gertrud Kolmar – Leben und Werk (wie Anm. 11), S. 212. Gedichte, in denen sich Verse finden wie: Unsere Nacht: Ein Duft der Wiesenblume, Eines Mannes Schulter, dran ich lerne Sonne sein und Strauch und Ackerkrume Und die Baumfrucht, fehllos bis zum Kerne.

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2 Blickpunkt Sommer 1937

Noch 1979 erklärt Keller in einem Brief an Johanna Woltmann: Ja, es begann, als ich sie mit einer Reihe meiner (durch den Krieg) vernichteten Arbeiten bekannt gemacht hatte. Sie schwärmte davon mit viel Lob und nannte mich, auf Leda bezogen, zunächst den Schwan, dann später ›ihren Schwan‹. Dann war ich in Briefen ihr ›Wassermann‹.31

Des Weiteren teilt er mit: »Sie hat andere Arbeiten geschickt, die mir wegen der Mythosnähe zusagten, mich ziemlich stark beeindruckten.«32 Doch geht aus diesen Briefzeilen auch hervor, dass die Ebenen sich für Keller schnell zu verwischen begannen, er kaum noch zu unterscheiden weiß, was dichterischer Austausch ist und was unmittelbares persönliches Gefühl, das ihn als Mann meint und nicht mehr der dichterischen Verklärung des Anderen gilt. »Wassermann«, »Schwan«, eine erotische Konnotation schwingt da ja deutlich mit, obwohl Gertrud Kolmar den Adressaten dieser tiefgründigen Anreden vorerst noch nicht einmal persönlich kennengelernt hatte, diese Anrede überhaupt vor allem wohl jenem inneren Bild galt, das durch den Briefwechsel mit Keller zu neuem Leben erweckt worden war. Wie aber sollen wir uns seine für einen sich selbst als Dichter verstehenden Menschen erstaunliche Naivität erklären, derartig direkte Parallelen zwischen der Metaphernwahl in Kolmars Gedichten und sich selbst zu ziehen? Dichtung und Wahrheit. Mehr Dichtung als Wahrheit, um eine Aussage Kolmars aus einem ihrer Briefe an die Schwester, in dem sie aus der Erinnerung noch einmal auf diese Affäre zu sprechen kommt, zu zitieren.33 Um es – überflüssigerweise – noch einmal zu sagen, es ist kein realer Mensch, der mit »Wassermann« und »Schwan« angeredet wird, selbst dann nicht, wenn diese Metaphern in Briefen als eine Anrede benutzt werden. »Ist die Metapher einmal eingeführt, stiehlt sie die Schau«, würde der Dichter Josef Brodsky hier wahrscheinlich salopp sagen.34 Kolmar hatte sich ihr inneres Objekt längst erschrieben, bevor sie die reale Person kennenlernte. Ein Schöpfungsvorgang, wie ihn die Dichterin 1937 in dem Gedicht »Sehnsucht« eindrücklich beschreibt: Im Winkel der Stube sass ich dann ohne Lampenlicht, tagmüde, verhüllt, ganz dem Dunkel gegeben, Die Hände lagen im Schoss, Augen fielen mir zu, Doch auf die innere Wand der Lider war klein und unscharf dein Bild gemalt.35 31 32 33 34

35

Vgl. Brief an Johanna Woltmann vom 18. Februar 1979 dokumentiert in: Marbacher Magazin 63 (wie Kap. 1.1, Anm. 2), S. 106. Woltmann, Gertrud Kolmar – Leben und Werk (wie Anm. 11), S. 209. Kolmar, Briefe (wie Anm. 2), S. 160. Josef Brodsky: Neunzig Jahre später. In: Von Schmerz und Vernunft. Über Hardy, Rilke, Frost und andere. Aus dem Amerikanischen von Sylvia List. München: Hanser 1996, S. 120. LW, Gedichte 1927–1937, S. 506.

2.2 In einem ›Bereich des Mythos‹: Der Mann K. J.

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Es hat etwas auf sich mit der inneren Wand der Lider wie auch derjenigen der Lieder. Keller hingegen erklärt gänzlich unbeirrt von solchen Erwägungen in einem bereits 1948 an Hilde Wenzel gerichteten Brief, den er laut eigener Aussage »unbedingt schreiben« musste, nachdem ihm zufällig der gerade erschienene Gedichtband WELTEN in einer Buchhandlung in die Hände gefallen war: »wir sind uns sehr nahe gestanden, und ich habe einst, vor all mein Hab’ und Gut vernichtet wurde, all ihre Verse besessen. Ein Teil der Gedichte in ›Leben‹ [er meint WELTEN! F. H.] ist nach unserem gemeinsamen Aufenthalt in Hamburg entstanden«.36 Und in einem folgenden Brief führt er aus: »Ich war ja so erschüttert, in ihrem Gedichtband vielen Gedichten zu begegnen, die sie mir gewidmet hatte – ich war der Wassermann in diesen Dichtungen!«37 Nicht allein, dass Keller den Titel des Gedichtbandes, der ihm ja vorliegt und aus dem viele Gedichte, wie er zu verstehen gibt, angeblich ihm gewidmet seien – obwohl eine explizite Widmung Kolmars, wie durchaus öfter üblich bei ihr, keineswegs vorliegt –, in seinen Briefen verfälscht wiedergibt, meint er darüber hinaus noch, er habe alle ihre Verse selbst besessen, was ebenfalls nicht der Realität entspricht.38 Überdies ist der Gedankenaustausch mit Gertrud Kolmar für diese ganz so einzigartig wie Keller meint augenscheinlich nicht gewesen. Es vermittelt sich vielmehr der Eindruck, dass die Dichterin, wann immer sich ihr eine ernst zu nehmende Möglichkeit bot, an einer Auseinandersetzung mit ihrem Werk interessiert war und sich gern davon inspirieren ließ. So berichtet ihre Freundin Ilse Vigiveno, dass Gertrud ihr sowohl hand- als auch maschinengeschriebene Gedichte zugesandt habe, »wenn die Gedichte durch Gespräche mit mir angeregt waren oder im Anschluss an etwas entstanden, was wir gemeinsam erleb-

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Vgl. Brief an Hilde Wenzel vom 3. Februar 1948. In: Marbacher Magazin 63 (wie Anm. 31), S. 106. Vgl. Brief an Hilde Wenzel vom 22. Februar 1948. In: Woltmann, Gertrud Kolmar – Leben und Werk (wie Anm. 11), S. 213. Dieser »Lapsus« unterläuft Keller hier bereits zum zweiten Mal in demselben Brief. Gleich zu Beginn schreibt er an Hilde Wenzel: »Sie werden sicher erstaunt sein, über diese Zeilen einer fremden Hand; ich habe mir auf eine tiefe Erschütterung hin, die mir letzter Tage wurde, da ich den Gedichtband ›Leben‹ [!] Ihrer Schwester zufällig in einer Buchhandlung fand, Ihre Anschrift besorgt, da ich Ihnen unbedingt schreiben muß. – [...].« Vgl. Marbacher Magazin 63 (wie Anm. 31), S. 103. So verweist beispielsweise Regina Nörtemann darauf, dass Keller selbst gegenüber Johanna Woltmann erstaunt zugegeben habe, vom Verszyklus DAS WORT DER STUMMEN, den Kolmar 1933 verfasst hat, nichts gewusst zu haben. Ich gehe davon aus, dass dies nicht der einzige Fall von Unkenntnis seinerseits gewesen sein wird, sondern dass er auch andere Verse Kolmars nicht kannte, ganz zu schweigen von deren Prosawerk. Vgl. Nörtemann, Nachwort (wie Anm. 28), S. 378.

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2 Blickpunkt Sommer 1937

ten«.39 Und auch die Schriftstellerin Ina Seidel berichtet, dass Kolmar sie »nach der brieflichen Ankündigung, die von mir ausgegangen war«, in ihrer Wohnung in der Kronenstraße besucht habe, woraufhin sie dann »viele ihrer Dichtungen im Manuskript« kennengelernt habe.40 Wir können den historischen Karl Josef Keller somit getrost in der Krypta biografischer Erfahrung versenken, nähern wir uns doch zusehends dem, worauf es wirklich ankommt, dem Gedicht selbst. Jenem Gedicht, das sich eben nicht mit den personenbezogenen Daten biografischer Erfahrung deckt, sondern der Essenz eines Gefühls gilt, welches die Gestalt einer eigenen, hochverdichteten Wirklichkeit angenommen hat. Das Gedicht ist eine Wirklichkeit. Und es ist allein diese Wirklichkeit des Gedichts, der jeder Versuch einer Annäherung schließlich zu gelten hat. Entscheidend an der Affäre mit Karl Josef Keller ist allerdings, dass sich damit ein weiteres Mal das Trauma einer gescheiterten deutsch-jüdischen Begegnung wiederholt. Immer ›die Andere‹. Wann, wenn nicht in dieser Begegnung mit Keller, muss sich für Gertrud Kolmar aufs Neue diese Grunderfahrung ihres Lebens bestätigt haben? So mag auch für sie schließlich jene Aussage Theodor W. Adornos über Heinrich Heine Gültigkeit beanspruchen, dass ihr »stereotypes Thema hoffnungslose Liebe« als ein »Gleichnis der Heimatlosigkeit« anzusehen sei.41 Zu all dem von ihr selbst keinerlei Kommentar. Erst Jahre später, da ist die Affäre mit Keller längst beendet, wird sie im Januar 1943, wenige Wochen vor ihrer Deportation, in Erinnerung an ihre einzige gemeinsame Reise mit Keller im Jahr 1934 an ihre Schwester schreiben: Meine letzte – und schönste – Reise ging nach Hamburg, nach Lübeck (auf Buddenbrooks Spuren) und Travemünde, und der unverwischbarste Eindruck war eine Winternacht am einsamen Meeresstrande. Mein Reisetagebuch bilden sieben Gedichte, von denen ein paar zu den besten gehören, die ich je fand. [...] – mehr Dichtung als Wahrheit – – und doch auch Wahrheit – – – [...].42

Doch wird der Briefwechsel zwischen ihr und Keller auch nach dieser Reise noch über Jahre aufrechterhalten, schicken sie sich auch weiterhin gegenseitig Gedichte zu. Vielleicht aber wird sich nun doch etwas verändert haben. Nun wird es möglicherweise und zunehmend weniger um gegenseitige Übereinstimmung in einer Art »Unterwassermetaphorik« gegangen sein, sondern – davon legt späterhin vor allem der Gedichtzyklus WELTEN Zeugnis ab – geht es zusehends auch um Rückbesinnung auf das Trennende und dessen Benen39

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Vgl. Marion Brandt: Hohe Kerze der Richtenden. Gertrud Kolmars Frankreichreise und der Neubeginn ihres literarischen Schaffens im Jahr 1927. In: Kambas, Lyrische Bildnisse (wie Anm. 19), S. 17. Marbacher Magazin 63 (wie Anm. 31), S. 64. Theodor W. Adorno: Die Wunde Heine. In: Noten zur Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 100. Kolmar, Briefe (wie Anm. 2), S. 158 und S. 160.

2.2 In einem ›Bereich des Mythos‹: Der Mann K. J.

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nung, geht es mithin um Abgrenzung und Gegengesang, versucht Kolmar ihr Anderes nun zu behaupten. Vor allem Kolmars Gedichte werden inzwischen häufiger publiziert und finden Eingang in anerkannte Anthologien und Literaturzeitschriften. So finden einige ihrer Gedichte Aufnahme in die von Elisabeth Langgässer in Zusammenarbeit mit Ina Seidel 1932 zusammengestellte und schließlich 1933 veröffentliche Anthologie »Herz zum Hafen. Frauengedichte der Gegenwart«. Auch wird 1934 die Publikation des aus achtzehn ihrer Wappengedichte bestehenden Bandes »Preussische Wappen« in Victor O. Stomps bekannter »Rabenpresse« verlegt.43 Letztgenannte Publikation hatte sich bereits aufgrund der um sich greifenden, zunehmenden Diskriminierung jüdischer Autoren zeitlich erheblich verzögert, sodass Kolmar in einem Brief an ihren Cousin Walter Benjamin am 10. Oktober 1934 schreiben wird: Ich habe über die Veröffentlichung mit dem Verleger schon im Anfang des Jahres 1933 verhandelt, auch schon den Vertrag abgeschlossen: aber durch die Ereignisse [Hitlers Machtergreifung, F. H.] ist das Erscheinen des Büchleins so lange hinausgezögert worden. Du findest auf einer der ersten Seiten das Entstehungsdatum der Verse; ich habe die Feststellung gewünscht, dass ich die ›Wappen‹ zu einer Zeit dichtete, als Heimatlyrik nicht groß in Mode war.44

In diesen Zeilen äußern sich Abgrenzung und Differenzierung zugleich. Zwar besingen Kolmars Wappengedichte Preußen, doch beziehen sie sich in höchst komplexer und vielschichtiger Weise auf dieses Geburtsland der Dichterin und sind somit in nichts zu vergleichen mit jener Heimatlyrik, die nun im Zuge zunehmender nationalistischer Verklärung die »Einzigartigkeit deutschen Bodens (und deutschen Blutes)« beschwört und im dichterischen Wort verherrlichenden Ausdruck verleiht.45 43

44 45

Elisabeth Langgässer (Hg.) unter Mitwirkung von Ina Seidel: »Herz zum Hafen. Frauengedichte der Gegenwart.« Leipzig: R. Voigtländer 1933, S. 125–128. Vgl. dazu auch Woltmann: »In dem Band ›Herz zum Hafen‹, in den unter anderem auch Else Lasker-Schüler, Ricarda Huch, Regina Ullmann, Ruth Schaumann, Paula Ludwig und die beiden Herausgeberinnen selbst aufgenommen wurden, erschienen dann 1933 die vier Gedichte ›Die Fahrende‹, ›Das Räubermädchen‹, ›Die Ottern‹ und ›Die Sinnende‹.« Woltmann, Gertrud Kolmar – Leben und Werk (wie Anm. 11), S. 173. Vgl. auch Gertrud Kolmar: Preussische Wappen. Berlin: Die Rabenpresse 1934. Hierzu bemerkt Annegret Schumann: »Das Typoskript des ›Preussischen Wappenbuchs‹ enthält 53 nach preußischen Provinzen geordnete Gedichte. 1934 wurde eine Auswahl von 18 Gedichten unter dem Titel ›Preussische Wappen‹ von Victor O. Stomps veröffentlicht.« Vgl. Schumann, ›Bilderrätsel‹ statt Heimatlyrik (wie Kap. 1.2, Anm. 54), S. 16f. Kolmar, Briefe (wie Anm. 2), S. 166. Diese Komplexität erkennt auch Annegret Schumann: »Auch die Sprache der Kolmarschen Wappengedichte zeichnet sich durch eine komplexe Verschränkung und Überlagerung von Bildern aus. [...] Der Text überführt so einen in seiner Bedeutung scheinbar stabilen Bildtext in einen sprachlichen Text, dessen vielschichtige

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2 Blickpunkt Sommer 1937

Nicht zuletzt aber lässt Kolmar damit auch eine deutliche Distanzierung gegenüber Dichterinnen wie beispielsweise Agnes Miegel erkennen, mit der zusammen sie noch in eben jener Anthologie »Herz zum Hafen« veröffentlicht worden war und die – mittlerweile zum Vorstandsmitglied der gleichgeschalteten Deutschen Akademie der Dichtung avanciert – als ostpreußische Heimatdichterin zu einem literarischen Aushängeschild des neuen Regimes geworden war.46 Auch die inhaltlichen Differenzen zwischen dem deutschen Dichter Karl Josef Keller und der deutsch-jüdischen Dichterin Gertrud Kolmar müssen sich zusehends als unüberbrückbar erwiesen haben. So feiert Keller in seinen »Gesängen an Deutschland« pathetisch Deutschland als leidvoll gebeugte Mutter, als Sonnensehnsüchtige, im Schatten, als eine vom Erbe Verdrängte.47 Demgegenüber setzt Kolmar offenbar sehr bewusst nun ein Anderes als ihr eigenes Mutterland ein: Mutter, Die du mir warst, eh mich die meine wiegte, Ich kehre heim.

Mit diesen Versen beginnt das Gedicht »Asien«, das dann im Zentrum des WELTEN-Zyklus stehen wird.48 Ein Gegenentwurf sicherlich auch gegenüber nationalpathetischen Gesängen wie jenem »Deutschland, o Mutter« von Karl Josef Keller. Die Einsamkeit der Dichterin. Es gibt sie nicht, die Antwort eines Geliebten, jenes deutschen Geliebten, mit dem eine andere Sprache – innige Worte gleich Samen von Würzkraut und Sommerblumen wie sie es in dem Gedicht »Sehnsucht« von 1937 dann benennt – möglich wäre. In diesem Kontinent findet sich kein Ort der Antwort mehr.

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Metaphorik jede lineare Lesart durchkreuzt.« Vgl. Schumann, ›Bilderrätsel‹ statt Heimatlyrik (wie Anm. 43), S. 33. Diesen Hinweis auf Agnes Miegel verdanke ich ebenfalls Annegret Schumann. Vgl. ebd., S. 21. Des weiteren heißt es in diesem Gedicht: Immer umgibt dich wie je ihr heischender Kreis und auf dich, o Mutter, richten sie forschende Blicke ob aus der Furche, der deinen, unversiegbar spendenden, du ihnen gewönnest der Samen tausendfachfrüchtigen, den eigene Kraft ihnen und Scholle nicht leiht. Pflügerin, edelste du auf Feldern und Formerin, kunstvollste zugleich an der Krone: Europa. Zitiert nach Nörtemann, Nachwort (wie Anm. 28), S. 382. LW, Gedichte 1927–1937, S. 528.

2.3 ›So fern den Andern ...‹ Im Jüdischen Kulturbund

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Sie ahmt, die gespenstische Magd, dir Herrscherin nach, heuchelt deine Gebärde, dein Wort, stiehlt deinen Namen, heißt es nun auf die abendländische Gegenwart bezogen ebenfalls in dem Gedicht »Asien«. Dies mag zugleich auch eine Entgegnung auf Kellers Gesänge sein, die Kolmar 1937, da sind seit ihrer persönlichen Begegnung ungefähr drei Jahre vergangen, in Versen wie diesen zu geben unternimmt.49 Hier wartet keine »Leda« mehr – wie noch im gleichnamigen Gedicht in GERMAN SEA – auf den sie beglückenden Schwan.50 Hier haben die Fluten der Zeit sowie Unfähigkeit und Verkennung die Dichterin längst anderen Ufern zugetrieben.

2.3

So fern den Andern ... Im Jüdischen Kulturbund

Sommer 1937. Von Publikationsmöglichkeiten in der herrschenden deutschen Öffentlichkeit kann schon längst keine Rede mehr sein. Bereits der noch 1934 unter einigen Schwierigkeiten veröffentlichte Gedichtband »Preussische Wappen« hatte aufgrund »der Ereignisse« keine Neuauflage mehr erhalten, war in keinem Literaturblatt mehr besprochen worden. Kolmars Stimme, noch kaum auf dem Weg gehört zu werden, wird – was das allgemeine deutsche Publikum anbelangt – sehr schnell wieder gewaltsam zum Verstummen gebracht.51 Letzteres teilt sie mit den anderen jüdischen Dichterinnen und Dichtern, Schriftstellerinnen und Schriftstellern, ja Kulturschaffenden ihrer Zeit. Zuflucht findet auch sie schließlich – wie so viele andere – im Jüdischen Kulturbund, der

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Hier gebe ich Silke Nowak Recht, wenn sie davon ausgeht, dass es im Gedicht »Asien« um einen Nicht-Ort im Sinne von U-topos geht. Die gespenstische Magd wiederum kann hier nicht einfach – wie z. T. in der Forschung geschehen – allegorisch als Personifikation Europas gelesen werden, sondern ist vielmehr als ein Ausdruck der Entfremdung und Entstellung aufzufassen. Dass mit dem »geheuchelten Wort« und dem »gestohlenen Namen« dabei auch auf ein Sprachproblem verwiesen wird, ist evident. Silke Nowak: Der Untergang utopischer Heimat. Die Reflexion von Kunst und Kitsch in Gertrud Kolmars »Asien«. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie, Bd 123. Berlin: Erich Schmid 2004, S. 250 sowie S. 261f. LW, Gedichte 1927–1937, S. 479f. Letztgenannter Ausgabe kommt dabei bereits eine besondere Bedeutung zu, wurde doch dieser Band kurz vor der Reichsprogromnacht im Herbst 1938 im jüdischen Buchverlag Erwin Löwe veröffentlicht, wobei er bereits wenige Wochen später nach dem Novemberprogrom dann wieder aus dem Verkehr gezogen und eingestampft werden musste. Dieses Schicksal von Gertrud Kolmars letztem zu Lebzeiten publizierten Gedichtband scheint mir indessen mit ein Licht auf die davor liegenden Jahre zu werfen. Erschien 1934 noch gerade eben jene Sammlung »Preussische Wappen« – und das bereits unter erheblichen Schwierigkeiten –, so unterlag die Dichterin fortan in allen nichtjüdischen Verlagen einem strikten Publikationsverbot. Welche Möglichkeiten sich für Kolmars Weg als Lyrikerin ohne diese schwerwiegenden Restriktionen geboten hätten, wird von daher immer eine offene Frage bleiben müssen.

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2 Blickpunkt Sommer 1937

bereits seit 1933 darum bemüht war, arbeitslos gewordenen jüdischen Künstlern Aufnahme und Unterstützung zukommen zu lassen. Nachdem am 1. April 1933, zwei Monate nach Hitlers Machtergreifung, bereits in ganz Deutschland jüdische Geschäfte boykottiert, Beamte aus dem öffentlichen Dienst entlassen, Ärzte und Anwälte bedroht und in Folge immer mehr jüdische Künstler von der Reichskulturkammer ausgeschlossen oder mit Auftrittsverbot belegt worden waren, gründete sich als eine Art Selbsthilfeunternehmen der »Kulturbund deutscher Juden«. Nach dem Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze ab 1935 wurde er dann auf Anordnung der nationalsozialistischen Machthaber in »Jüdischer Kulturbund« umbenannt. Hatte es sich zu Beginn um eine dezentrale Organisation mit vielen kleinen lokalen Ablegern gehandelt, so ordnete das Propagandaministerium unter der Leitung des Geschäftsführers Hans Hinkel 1935 den Zusammenschluss aller Kulturbundorganisationen zu einem zentralen landesweiten Verband mit Sitz in Berlin an. In einer Rede von 1936 formulierte Hinkel dann noch einmal das unmittelbare Ziel der NS-Kulturpolitik hinsichtlich der Juden: Sie waren zur Entwicklung ihres eigenen kulturellen Erbes in Deutschland berechtigt, aber nur in völliger Isolierung von der allgemeinen Kultur. Jüdische Künstler »können ungehindert arbeiten, solange sie sich auf die Pflege des jüdischen Kunst- und Kulturlebens beschränken [...]«.52 Soweit zunächst Hinkels Vorstellungen als Vertreter der offiziellen staatlichen NS-Kulturpolitik. Seine Absicht der Ausgrenzung jüdischer Künstler vom öffentlichen deutschen Kulturgeschehen mit dem Ziel ihrer Ghettoisierung spricht für sich selbst. Nur Juden durften Mitglieder des Kulturbundes sein und nur sie hatten Zutritt zu den geschlossenen Veranstaltungen. Ein Kartenverkauf in freier Form war verboten.53 Auf jüdischer Seite wiederum wurde die Einrichtung des Kulturbundes mit hoher Ambivalenz wahrgenommen. Zwar vollzog sich einerseits mit seiner Gründung noch unter aktiver Mithilfe derjenigen, die ihn voller Engagement mit Leben füllten, die ständig mehr forcierte Absonderung jüdischen Kulturlebens, das in dieser organisierten Weise außerdem der Kontrolle des NSMachtapparates besonders leicht unterliegen konnte. Zum anderen aber bot der Kulturbund eine Zuflucht vor um sich greifender Diskriminierung und Entrechtung; ein noch geschützter Raum mithin, über den der Schriftsteller Julius Bab in seiner Eröffnungsrede vom 17. Juli 1933 gesagt hatte:

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Vgl. Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933–1939. München: Deutscher Taschenbuchverlag 2000, S. 153. Vgl. Volker Dahm: Kulturelles und geistiges Leben. In: Wolfgang Benz (Hg.): Die Juden in Deutschland 1933–1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft. München: C. H. Beck 1996, S. 86.

2.3 ›So fern den Andern ...‹ Im Jüdischen Kulturbund

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So fühlen wir uns verbannt und verwaist gerade auf geistigem Gebiet. Und es ist diese Not, der zugleich mit der Not der jüdischen Künstler und Geistesarbeiter der Kulturbund deutscher Juden entgegentreten will.54

Hinkels bereits erwähnte Vorgaben von 1936, deren Einhaltung durch eine engmaschige Zensur streng überwacht wurde, lösten innerhalb der jüdischen Kreise heftige Diskussionen darüber aus, was überhaupt als jüdische Kunst und Kultur zu verstehen sei und an welchen Kriterien diese zu messen wären. Für die Dichtkunst bemühte sich schließlich der Lektor und Kritiker Kurt Pinthus in seinem in der CV-Zeitung vom 9. April 1936 veröffentlichten Aufsatz: »Jüdische Lyrik der Zeit« um Klärung dieser Frage, wobei er folgert: Es kommt nicht auf jüdische Dekoration und Motive an, mit denen ein Gedicht äußerlich umkleidet ist, sondern auf jüdisches Gefühl und jüdische Anschauung, aus denen es notwendig erwächst – wobei Gefühl und Anschauung durchaus nicht immer auf historische Tradition zurückzugehen braucht.55

Eine sehr weitgefasste Umschreibung, die nun allerdings ziemlich nebulös ist. Jüdisches Gefühl, jüdische Anschauung – höchst dehnbare, kaum fassliche Begriffe, während die so genannte historische jüdische Tradition zwar bemüht, aber nicht unbedingt als notwendig erachtet wird. Entsprechend schwierig wird sich die lyrische Produktion der jeweiligen Dichterinnen und Dichter dann auch gestaltet haben, die sich häufig genug im eher Folkloristischen und Plakativen bewegte und nicht unbedingt mitreißend war. Einige der besseren Kostproben liefert Pinthus in seinem Aufsatz allerdings auch mit, so unter anderen jeweils ein Gedicht von namhaften Dichterinnen und Dichtern wie Nelly Sachs, Ilse Weiß, Helene Rothbart, Mascha Kaléko, Arno Nadel, Manfred Sturmann, Jakob Picard und eben Gertrud Chodziesner, die nun ihren Künstlernamen Kolmar nicht mehr tragen darf und die Pinthus ausdrücklich würdigt: »Und abseits von allen anderen stehend: die an Phantasie und Ausdruckskraft reichste Begabung. Gertrud Chodziesner, mehr als eine Begabung, – – eine Traumwandlerin«.56 Fast zeitgleich mit dieser Würdigung beginnt für Gertrud Kolmar eine Zeit der aktiven Teilnahme am Kulturbundgeschehen. Bereits wenige Wochen nach Erscheinen von Pinthus’ Essay in der CV-Zeitung werden einige Gedichte von ihr – unter anderem zusammen mit Gedichten Else Lasker-Schülers – von der

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Zitiert nach: ebd., S. 84. Die CV-Zeitung als »Allgemeine Zeitung des Judentums« war das Organ des Centralvereins der Juden in Deutschland. Sie war im Mai 1922 gegründet worden, hatte eine Auflage von 40 000 und erschien wöchentlich. Vgl. Philo-Lexikon. Handbuch des jüdischen Wissens. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2003, S. 140. Vgl. Aufsatz von Kurt Pinthus: »Jüdische Lyrik der Zeit« in der CV-Zeitung vom 9. April 1936.

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2 Blickpunkt Sommer 1937

Rezitatorin Erna Leonhard-Feld auf einer Abendveranstaltung des Kulturbundes vorgetragen.57 Auch in den folgenden Monaten und Jahren werden immer wieder Gedichte Kolmars von Erna Leonhard-Feld im Kulturbund rezitiert, meistens mit ausgesprochen positiver Resonanz. Kolmar selbst wiederum scheint von dieser wohlwollenden Ansprache auf ihre Gedichte nicht uninspiriert geblieben zu sein. So wäre denkbar, dass sie sich durch den künstlerischen Austausch mit ihrer Rezitatorin, mit der sie bald eine persönliche Freundschaft verbinden sollte, ebenfalls zu eigenen Produktionen anregen ließ.58 Aus der CV-Zeitung vom 18. März 1937 erfahren wir, dass Leonhard-Feld im Berliner Kulturbund »Liebesgeschichten aus der Bibel« vortrug.59 Mithin wird es vielleicht kein Zufall gewesen sein, dass Kolmar ungefähr zu diesem Zeitpunkt ihren Zyklus VIER RELIGIÖSE GEDICHTE verfasst hat, worin die Liebesgeschichten von Tamar und Juda sowie von Esther Thema sind.60 Kolmar, die ihr Anderssein stets auch aus ihrem Judentum heraus begriffen hat, steht den aktuellen Forderungen der Stunde nach einem jüdischen Standpunkt in der Kunst nun weit weniger hilflos gegenüber als viele andere. Hatte sie in früheren Jahren vor Hitlers Machtergreifung ihr Judentum immer auch als eine Fremdheit in der sie umgebenden deutschen Gesellschaft empfunden, so wird es ihr unter der Erfahrung fortschreitender Isolation und sich verschär57

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In dem Artikel »Frauendichtungen« in der CV-Zeitung vom 23. April 1936 lesen wir über diesen Abend: »Erna Leonhard (Feld) ist nicht nur eine klar durchgeistigende Rezitatorin, sondern gleichzeitig eine Sucherin und Finderin in geistigen Bezirken [...]. Nach den mit klangvoller Inbrunst vorgetragenen, bereits zum klassischen Bestand jüdischer Poesie gehörenden Gedichten und dem selbstbekennerischen Prosastück ›Der Versöhnungstag‹ von Else Lasker Schüler machte sie die Hörer mit vier in Berlin lebenden jüdischen Dichterinnen bekannt [...] unter denen als eigenwilligste Gertrud Chodziesner hervortrat.« Über diese Freundschaft mit Erna Leonhard-Feld äußert sich Kolmar in zwei Briefen an Hilde Wenzel. Am 3. August 1938 schreibt sie: »Du kannst meinem ›lieben Ungeheuer‹ [gemeint ist die Nichte Sabine Wenzel, F. H.] erzählen, dass am Montag Leonor und seine Mutti den ganzen Tag lang hier draußen waren. Die Mutti ist ›meine‹ Rezitatorin und Leonor ihr jetzt 15jähriger Sohn, für den Püppi, als sie ihn vor etwa zwei Jahren bei uns kennen lernte, eine Liebe auf den ersten Blick empfand, der sie durch intensives Anschauen, Wangenstreicheln u.s.w. sehr drolligen Ausdruck gab [...].« Aus diesen Zeilen geht hervor, dass augenscheinlich bereits seit 1936 ein Kontakt mit persönlichen, zuweilen ganztägigen Besuchen zwischen Leonard-Feld und Kolmar bestand. Im Brief vom 16. Oktober 1938 heißt es dann: »Ich habe mich nämlich entschlossen, noch einmal kochen zu lernen; seit vergangenem Montag nehme ich Unterricht bei ›meiner‹ Rezitatorin, die eine sehr gute, erfahrene Köchin ist [...] Der Unterricht macht mir Freude und ihr, glaube ich, auch.« Hier spricht sich eine entspannte, durchaus freundschaftliche Vertrautheit im Miteinander von Rezitatorin und Dichterin aus. Kolmar, Briefe (wie Anm. 2), S. 19 und S. 23. Vgl. Artikel »Konzerte und Vorträge« in der CV-Zeitung vom 18. März 1937. Vgl. Marbacher Magazin 63 (wie Anm. 31), S. 180.

2.3 ›So fern den Andern ...‹ Im Jüdischen Kulturbund

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fender Bedingungen schließlich zunehmend auch zur Inspirationsquelle und zu einem Ort der Zuflucht. [...] Sie aber trug die Qual, die ewige Niederlage Als Last, als Krone, und sie schwieg. So fern den Andern, ihrem Prunk aus Funkeln, Klang und Macht Begann sie und entdeckte langsam dem Beschauer Die Lande Juda, Benjamin mit ihrer Völker Trauer Und die gestirnte große Nacht.

Diese Verse schreibt Kolmar in dem Gedicht »Esther« aus jenem Zyklus VIER RELIGIÖSE GEDICHTE vom Frühjahr 1937.61 So fern den Andern ... Jenen Andern, die unbeschwert leben können, die weiterhin dazugehören, Prunk und Macht genießen können. Die, wie eine Ina Seidel im Herbst 1933, eine Treueerklärung für Hitler unterschreiben, die zuvor noch protegierte jüdische Dichterin einfach vergessen können und ungehindert von derartigen Belastungen ihren Aufstieg verfolgen.62 Die, wie eine Agnes Miegel oder auch ein Karl Josef Keller, im Geist der Zeit mitschwimmen, ohne auch nur einen Moment des Innehaltens oder der Nachdenklichkeit gegenüber denjenigen, die gnadenlos ausgegrenzt so plötzlich im Unsichtbaren verschwunden sind, von denen man buchstäblich nichts mehr sieht und hört.63 Es bleibt nur noch das Schweigen. Und sie schwieg ... Wessen 61 62

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LW, Gedichte 1927–1937, S. 499. »Ina Seidel aber unterschrieb in diesem Herbst [1933] zusammen mit 87 weiteren Autoren eine Treuekundgebung für Hitler. Sie hielt sich von Oktober 1933 bis Februar 1934 wieder in Berlin auf [...]. Wenn ihr damals weiter an der Verbindung zu Gertrud Kolmar gelegen gewesen wäre, hätte sie dies der inzwischen Ausgegrenzten zu erkennen geben können.« Des weiteren erwähnt Woltmann, dass Karl Josef Keller sich ihr gegenüber erinnerte: »G. K. beklagte sich auch bei mir über den plötzlichen Gesinnungswandel ihrer ›arischen Bekannten‹, die zuvor für ihre Arbeiten eingetreten waren. In diesem Zusammenhang nannte sie u. a. eine der bekanntesten deutschen Schriftstellerinnen, die m. E. in Berlin wohnhaft war u. sich distanziert hatte«. Woltmann merkt an, dass Keller auf ihre Nachfrage hin bestätigt habe, dass es sich bei der erwähnten Schriftstellerin um Ina Seidel gehandelt habe. Vgl. Woltmann, Gertrud Kolmar – Leben und Werk (wie Anm. 11), S. 177f. sowie S. 287, Fußnote 179. Agnes Miegel wird im Mai 1933 in die Sektion Literatur der bereits gleichgeschalteten Preußischen Akademie der Künste berufen. Ein Foto aus dem Herbst 1933 zeigt Miegel bei einer Sitzung der Preußischen Akademie für Dichtung nach deren »Säuberung« von sogenannten »unliebsamen« Schriftstellern und -innen zusammen mit Rudolf Binding, Werner Beumelberg, Hans Johst, Friedrich Blunck, Agnes Miegel selbst, Boerries von Münchhausen, Erwin Guido Kolbenheyer und Will Vesper. Die meisten dieser Namen sind heute vergessen. Hans Johst war zum SS-Brigadeführer ernannt worden und wird 1949 von der Berufungskammer München in die Gruppe der am NS-System Hauptschuldigen eingestuft. Vgl. Das Dritte Reich. Daten–

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2 Blickpunkt Sommer 1937

Erfahrung wird hier eigentlich in der Rückbesinnung auf die Esther Gestalt der Bibel reflektiert?64 Die Lande Benjamin und Juda mit Jerusalem als Hauptstadt bildeten das judäische Königreich der davidischen Könige von 930–586 v. Chr., das sein traumatisches Ende in der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels durch Nebukadnezar II. fand. Die Juden wurden daraufhin nach Babylonien und in andere Länder des Vorderen Orients, wie unter anderem nach Persien, verschleppt. Es handelt sich um ein Geschehen, das bis zum heutigen Tag als zentrale Exilerfahrung des jüdischen Volkes gilt, als ein erstes grundlegendes Erleben im Erdulden von Schutzlosigkeit und Abhängigkeit, verbunden mit dem Versuch, das verlorene Königtum aus der Niederlage in die Überlieferung des kollektiven Gedächtnisses zu retten.65 In diesem Exil nun tritt Esther als eine der rettenden Figuren des jüdischen Volkes auf: Begann sie und entdeckte langsam dem Beschauer Die Lande Juda, Benjamin mit ihrer Völker Trauer Und die gestirnte große Nacht.

Es geht in diesen Versen um mehr als das reine Überleben. Es geht um Entdeckung, um Offenlegung und Mit-Teilung des Eigenen, das bei Esther, wie wir wissen, einem fremden, aber zu guter Letzt doch bereitwilligen Herrscher nahegebracht wird. Die Bezeichnung Beschauer indessen kann darüber hinaus auch auf Weitergefasstes, Allgemeineres verweisen, mithin auf jemanden, der schaut und wahrzunehmen bereit ist. Wer immer das unter den gegebenen Umständen auch hätte sein können, hier trifft zu, was Anne Heitschmidt an-

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Bilder–Dokumente. Eine Tageschronik mit 1700 Abbildungen aus dem Bildarchiv Heinz Bergschicker, Digitale Bibliothek, Yorckstr. 59, 10965 Berlin, Disc. Compact, Berlin 2001. Über ihre Gespräche mit Karl Josef Keller wiederum berichtet Johanna Woltmann: »Auf die Frage nach seiner Beziehung zum Nationalsozialismus antwortete er 1978: ›Mir galt dies Land im patriotischen Sinne alles, ohne dass ich zunächst NS-Parteigänger gewesen wäre.‹ Als jedoch die außenpolitischen Erfolge des Regimes sichtbar wurden und sogar die Olympiade in Deutschland stattfand, wäre auch er zu einer positiven Einschätzung gekommen.« Vgl. Woltmann, Gertrud Kolmar – Leben und Werk (wie Anm. 11), S. 210. Regina Nörtemann spricht sogar von Kellers sich durch seine Gedichte vermittelnden »nie überwundenen Affinität zum Nationalsozialismus«. Vgl. Nörtemann, Nachwort (wie Anm. 28), S. 376. Noch heute wird der Sieg Esthers über den »bösen Hamann«, der das jüdische Volk vernichten wollte, am jüdischen Purimfest gefeiert. Diese Rückbesinnung auf das eigene »Königtum« formuliert Kolmar dann noch einmal in der Erzählung »Susanna« von 1939/40. Wir finden darin die Aussage der Protagonistin Susanna: »Ich bin doch die Königstochter.« Auf die erstaunte Nachfrage der Erzieherin: »Du?«, antwortet Susanna: »Ich bin eine Tochter vom König David oder vom König Saul. Die lebten, das ist schon lange her; aber wir haben es nicht vergessen. Aber die anderen vielen Leute stammen nicht von Königen ab. Bloß ich. Denn ich bin eine Jüdin.« Vgl. Kolmar, Susanna (wie Kap. 1.1, Anm. 1), S. 20.

2.3 ›So fern den Andern ...‹ Im Jüdischen Kulturbund

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dernorts beschrieben hat, dass das Gedicht auf diese Weise eine Gegenwärtigkeit gewinnt, »als lägen diese Ereignisse nicht mehrere tausend Jahre zurück, sondern als hätten sie sich gerade erst zugetragen«.66 Es geht, wie gesagt, um Entdeckung und um Selbstentdeckung. Die Trauer der Völker Juda und Benjamin war fortan Bestandteil ihres Exils und gewinnt unter den gegenwärtigen Ereignissen um 1937 eine neue, verschärfte Aktualität. Zugleich findet sich in dieser Rückbesinnung auf längst Vorhandenes, schon immer Dagewesenes auch ein Zuwachs an neuem Selbstbewusstsein. In der Niederlage verbirgt sich nicht allein Qual und Last, sondern gleichzeitig ein königliches Wissen, das mit der gestirnten großen Nacht auf einen weiten, in der Dunkelheit dennoch schimmernden Himmelsraum verweist, der von unzähligen Gestirnen der Vergangenheit und möglichen Zukunft erleuchtet wird. Angesichts dieser Unermesslichkeit kann die gegenwärtige Bedrückung als begrenzt und schließlich – gemessen an der Zeiten Ewigkeit – als vorübergehend erlebt werden. Es ist vor allem diese Eröffnung eines »überirdischen«, zeitenübergreifenden Raumes, in der sich die eigentlich rettende Perspektive des Gedichts findet.67 In dieser Art von Rückbesinnung auf die Wurzeln jüdischer Geschichte, in dieser Re-Lektüre des überlieferten Textes unter dem »Neigungswinkel« der gegenwärtigen Situation um 1937 findet Kolmar aus der Erfahrung der Unterordnung und Ächtung schließlich zu einer »verborgenen, aber befreienden Schrift«, erwächst ihr, wie Alfred Bodenheimer schreibt, ein »klarer umrissenes Profil des Selbstbewusstseins, auf welches sich der Widerstand des ausgegrenzten und verfolgten Judentums im nationalsozialistischen Deutschland zurückzieht«.68 Wir kommen zurück zum Kulturbund. Die Vergewisserung des Eigenen, die eben auch ein Anliegen des Kulturbundes bedeutete, scheint bei Kolmar zudem zu einem neuen Selbstgefühl hinsichtlich ihres dichterischen Könnens geführt zu haben. Dem ihr befreundeten Dichterkollegen Jacob Picard, der sie in dem Aufsatz »Der schöpferische Augenblick« in der CV-Zeitung vom 11. November 1937 als eine der großen Dichterinnen der Zeit gepriesen hatte, entgegnet sie in einem Brief: Nun will ich nicht falsche Bescheidenheit heucheln und sagen, dass ich das hohe Lob, das Sie meinen Versen gespendet, doch nicht verdiene ... Nein, sehen Sie, ich habe das große künstlerische Ringen anderer Dichter eigentlich nicht gekannt – das 66

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Vgl. Heitschmidt, Saiten, die noch tönen (wie Kap. 1.2, Anm. 32), S. 144. Dabei geht es um eine Gegenwärtigkeit im Sinne der Belebung von Bruchstücken einer tradierten Schrift, die in der aktuellen Schrift des Gedichts auf vielfache Weise neu reflektiert wird. In dem Gedicht »Geschichte« von Beginn der zwanziger Jahre, in dem Kolmar ebenfalls Esther zitiert hatte, war es noch vor allem um das konkrete physische Überleben des eigenen Volkes gegangen, welches durch Anspielung auf Esthers Geschichte in Erinnerung gerufen werden sollte. Vgl. LW, Frühe Gedichte, S. 212. Vgl. Bodenheimer, Wandernde Schatten (wie Kap. 1.2, Anm. 63), S. 179.

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2 Blickpunkt Sommer 1937 bekenne ich offen – [...]. Nicht wahr, Sie werden um dieses Eingeständnis willen mein Wort nicht geringer schätzen?69

Hier spricht sich ein gelassenes Selbstbewusstsein aus. Die Frau dieser Zeilen weiß, wo sie steht. Der Ort der Antwort sind ihre Gedichte. Auch darüber gibt es nun keinen Zweifel mehr. Gedichte, deren Wert sie zu behaupten wusste. Ihr Standpunkt ist deutlich, wenn sie schließlich in einem Brief an Hilde Wenzel vom 16. Oktober 1938 schreibt: Es gab eine Zeit, da mich fremdes Lob erfreuen und fördern konnte [...]; heut weiß ich auch ohne Kritiker, was ich als Dichterin wert bin, was ich kann und was ich nicht kann ... Ich habe gar kein Verständnis für Nero, der sich in der Arena vor allem Volk Beifall klatschen ließ; ich hätte an seiner Stelle meine Dichtungen als kostbare, nur Auserwählten zu spendende Gabe betrachtet ...70

Können wir aus diesen Zeilen – in ihrer metaphorischen Umschreibung geschickt dem Fangnetz der Zensur ausweichend – nicht auch eine Kritik an den deutschen Dichterkollegen und -kolleginnen heraushören, die ihre Dichtungen dem mehr als fragwürdigen Geschmack einer Volksarena unterwarfen und somit zur beliebigen Ware des Zeitgeistes verkommen ließen? Blinkt hier nicht erneut die heimliche Krone einer Esther auf, die ihren königlichen Standpunkt sehr wohl zu wahren weiß? Einer derartigen Öffentlichkeit würde sich die Dichterin auch freiwillig nicht anschließen wollen. Es werden sich die Auserwählten finden, die ihre Gedichte zu schätzen wissen. Diese Hoffnung zumindest bleibt unbenommen.

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Jacob Picard: Der schöpferische Augenblick. In CV-Zeitung, vom 11. November 1937. Vgl. außerdem Kolmar, Briefe (wie Anm. 2), S. 170. Ebd., S. 25.

Teil II Das Gedicht

3

Flaschenpost: Ein Gedicht hält auf uns zu

Was also kann es heißen, sich von einem Gedicht ergreifen zu lassen, sich in die »Trag- und Reichweite« eines Gedichts zu begeben?1 Was hält da auf uns zu, erregt unsere Aufmerksamkeit oder, um es mit Paul Celan zu sagen, was ist da »unterwegs« zu uns?2 Bleiben wir noch fürs Erste bei Celan, der in seiner Bremer Rede von 1958 das Gedicht, eine Bemerkung Ossip Mandelstams aufgreifend, auch als eine »Flaschenpost« bezeichnet hat: Das Gedicht kann [...] eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem – gewiss nicht immer hoffungsstarken – Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht.3

Das Gedicht als eine »Flaschenpost«. Eine Vorstellung wird damit geweckt, die sich auch auf Kolmars Gedicht »Garten im Sommer« übertragen lässt. Etwas treibt da ja aus unbestimmter Ferne aus den Fluten der Zeiten auf uns zu, lässt aufmerken, ruft Interesse hervor sowie den Wunsch, die mitgegebene Schrift – soweit möglich – einer Lesbarkeit und nachvollziehenden Aufnahme zuzuführen. Um im Bild zu bleiben: Eigentliches Ziel einer jeden Flaschenpost ist eben jener unbekannte, heimlich ersehnte Adressat, um dessentwillen sie ins Ungewisse geschickt wurde. Mandelstam zufolge haben die Flaschenpost und das Gedicht zwei Momente gemeinsam: Der Brief, genau wie das Gedicht, ist an niemand Bestimmten gerichtet. Dennoch haben beide einen Adressaten: der Brief nämlich den, der die Flasche zufällig im Sand entdeckt, das Gedicht aber den ›Leser in der Nachwelt‹.4

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Diese Begrifflichkeit habe ich von Derrida übernommen: »Das Gedicht tragen heißt sich in seine Trag- und Reichweite begeben, es in jene eines anderen bringen, es dem anderen zu tragen geben.« Vgl. Jacques Derrida und Hans-Georg Gadamer: Der ununterbrochene Dialog. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 44. Paul Celan: Der Meridian. Rede anlässlich der Verleihung des Georg-BüchnerPreises. Darmstadt, am 22. Oktober 1960. In: Der Meridian. Endfassung – Entwürfe – Materialien. Hg. von Bernhard Böschenstein und Heino Schmull unter Mitarbeit von Michael Schwarzkopf und Christiane Wittkopp. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 8. Paul Celan: Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen (1958). In: Paul Celan: Gesammelte Werke. Band 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 186.

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3 ›Flaschenpost‹: Ein Gedicht hält auf uns zu

Schließlich geht mit der Metapher der Flaschenpost auch die Vorstellung eines aufs Äußerste bedrohten Individuums einher, gleich einem Schiffbrüchigen an einem einsamen Ort, der eine letzte, in gewisser Weise vielleicht doch noch rettende Nachricht aussendet, und wenn auch nur, um Zeugnis von sich abzulegen. Als eine in dieser Weise vielleicht letzte Eröffnung eines in seiner Zeit existenziell vom Untergang bedrohten Ich an ein Anderes aber, ist die Flaschenpost zu einer Chiffre der modernen Dichtung geworden. Als eine Mitteilung, die in einer »Pause vor dem möglichen Untergang« verfasst worden ist oder, so möchte ich hinzufügen, vielleicht als ein noch Hinübergerettetes bereits stattgefundener Katastrophe überdauert hat.5 Und auch Kolmars Gedichte, insbesondere aus dem WELTEN-Zyklus sowie das darin enthaltene Gedicht »Garten im Sommer«, erreichen uns von einem Ort, den wir mit Celan als einen Ort »weit draußen« beschreiben können, ausgesandt ins »Offene und Leere«, uns dennoch nach ihrem »Woher und Wohin« fragen lassend. Fragen, die zu keinem Ende kommen können und die wir doch stets aufs Neue zu stellen haben.6 »WELTEN. Gedichte. 17.8. – 20.12.1937«. So steht es auf dem Titelblatt des im Marbacher Literaturarchiv hinterlegten Durchschlags des Originaltyposkripts.7 Ein Zyklus von siebzehn Gedichten, den die Dichterin kurz nach ihrem 43. Geburtstag fertig gestellt hat. Wie wir wissen, sind die WELTEN die letzte abgeschlossene Gedichtsammlung, die Gertrud Kolmar in deutscher Sprache verfasst hat. Eine nach ihren eigenen Worten ihrer liebsten und, wie sie ergänzend bemerkt, auch besten Dichtungen. Dies schreibt sie im Februar 1939 an die Schwester im Schweizer Exil, verbunden mit der Bitte, eine Abschrift von ihnen in Gewahrsam zu nehmen: »da ich nicht weiß, was das Schicksal mit mir selbst vorhat, wohin es mich verschlagen wird.«8 Zum ersten Mal ist dieser Gedichtzyklus Gertrud Kolmars im Jahr 1947 posthum nach der Überarbeitung von Hermann Kasack im Suhrkamp Verlag herausgegeben worden. In kritischer Abgrenzung zu den darin vorgenommenen editorischen Eingriffen Kasacks, der die originäre Reihenfolge der Gedichte verändert und umgestellt hatte, bemerkt wiederum Ludwig Völker, dass der Anordnung der Gedichte im Zyklus dieselbe poetische Qualität zuzuspre4 5

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Ossip Mandelstam: Über den Gesprächspartner. In: Ders.: Über den Gesprächspartner. Gesammelte Essays. 1913–1924. Frankfurt am Main: Fischer 1994, S. 9f. Gudrun Kohn-Waechter hat dies überzeugend in ihrem Essay über Paul Celan und Ingeborg Bachmann dargelegt. Vgl. Gudrun Kohn-Waechter: Dichtung als ›Flaschenpost‹ bei Paul Celan und Ingeborg Bachmann. In: Bernhard Böschenstein und Sigrid Weigel (Hg.): Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetische Korrespondenzen. Vierzehn Beiträge. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 223. Celan, Der Meridian (wie Anm. 2), S. 10. Dieses Titelblatt ist zudem dokumentiert in dem von Johanna Woltmann herausgegebenen Marbacher Magazin über Gertrud Kolmar. Vgl. Woltmann, Marbacher Magazin (wie Kap. 1.1, Anm. 2), S. 182. Kolmar, Briefe (wie Kap. 1.1, Anm. 1), S. 30.

3 ›Flaschenpost‹: Ein Gedicht hält auf uns zu

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chen ist, wie sie beim einzelnen Gedicht für die Anordnung der Verse und Strophen gilt.9 Gerade in Kolmars letztem Gedichtzyklus WELTEN sei in der Reihenfolge der Gedichte eine bewusste inhaltliche Gewichtung zu erkennen, die Völker darin gegeben sieht, dass »das in den einzelnen Gedichten Thematisierte einerseits im europäisch-deutschen, andererseits im fernöstlichasiatischen Raum angesiedelt ist«.10 Dies nun ist eine Auffassung, die ebenfalls Karin Lorenz-Lindemann in ihrem Essay zum Zyklus teilt.11 Doch während Völker davon ausgeht, dass »Kolmars Gliederung des Zyklus mit der Positionierung der Gedichte ›Die Mergui-Inseln‹ am Anfang, ›Asien‹ in der Mitte und ›Kunst‹ am Ende« eine, wie er schreibt, »klare Linie der gedanklichen Entwicklung und Steigerung« erkennen lasse,12 geht Lorenz-Lindemann davon aus, dass das »Asien«Gedicht »in mehrfachem Sinne die Mitte des Zyklus« darstellt, »um die sich in konzentrischer, höchst kunstvoller Anordnung die sechzehn anderen Gedichte in vielfältigen thematischen Entsprechungen versammeln«.13 Zwar scheint auch mir der Gedanke von »Asien« als einer Mitte, um die sich in diesem Zyklus alles dreht, sehr nachvollziehbar und einleuchtend. Wobei ich hier jedoch – ähnlich wie Alfred Bodenheimer das in seiner KafkaStudie dargelegt hat – von einer leeren Mitte ausgehen möchte, von einem Signifikat, das unbestimmt bleiben muss und das allein in immer neuen Wendungen – da gebe ich wiederum Lorenz-Lindemann recht – umkreist werden kann.14 Allerdings hat sich mir gegenüber Lorenz-Lindemanns Auffassung eines um die Asienwelt konzentrischen Kreisens der Aufbau im Zyklus auf eine 9

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Ludwig Völker: Formstrukturen als Sinnstrukturen. Der Zyklus als poetische Form im Werk Gertrud Kolmars. In: Jacques Lajarrige (Hg.): Vom Gedicht zum Zyklus. Vom Zyklus zum Werk. Strategien der Kontinuität in der modernen und zeitgenössischen Literatur: Innsbruck, Wien, München: Studienverlag 2000, S. 99. Kasacks Bearbeitungen blieben jahrzehntelang unhinterfragt. Erst seit der 2003 von Regina Nörtemann im Wallstein Verlag herausgegebenen Edition des lyrischen Werks Gertrud Kolmars ist der WELTEN-Zyklus zum ersten Mal in der von der Dichterin gewählten, ursprünglichen Reihenfolge der Gedichte veröffentlicht worden. Siehe LW (wie Kap.1, Anm. 1), S. 503–545. Ebd., S. 107. Lorenz-Lindemann, Der Verszyklus »Welten« (wie Kap. 1.1, Anm. 16). Vgl. Völker, Formstrukturen als Sinnstrukturen (wie Anm. 8), S. 115. Vgl. Lorenz- Lindemann, Der Verszyklus »Welten« (wie Anm. 11), S. 63. Die buchstäblich »leere Mitte« zwischen den von links nach rechts und von rechts nach links aufeinander zulaufenden deutsch-hebräischen Wortlisten in Kafkas vocabulaire markiert für Bodenheimer dabei die unumgängliche »Lücke oder Kluft« zwischen diesen Sprachen, wobei es in Kolmars Gedichten dann stattdessen um eine solche »Lücke oder Kluft« zwischen den unterschiedlichen kulturellen Herschreibungen geht. Vgl. Alfred Bodenheimer: Kafkas Hebräischstudien. Gedanken zur Magie der Mitte und zur Fragmentierung sprachlichen Denkens. In: Caspar Battegay, Felix Christen und Wolfram Groddeck (Hg.): Schrift und Zeit in Kafkas Oktavheften. Göttingen: Wallstein 2010, insbesondere S. 218.

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noch andere Weise vermittelt. So habe ich die ersten acht Gedichte vor dem »Asien«-Gedicht im Zentrum als immer wieder neu ansetzende Suchbewegungen auf dieses »Asien« zu gelesen, wohingegen die danach folgenden acht Gedichte mir eher Trauer- und Verlustprozesse zu thematisieren scheinen, in denen dieses ersehnte »Asien« sukzessive untergeht. »Garten im Sommer«, an zwölfter Stelle im Zyklus, befindet sich dabei bereits eindeutig auf der Verlustlinie. Es ist nun dieses Gedicht aus den WELTEN Kolmars, das im Mittelpunkt unserer Betrachtungen stehen wird. Ein Gedicht, das auch im Sinne Celans als eine »Flaschenpost« gedacht werden kann und das in seiner Gerichtetheit auf einen unbekannten Empfänger stets auf ein im Vorhinein nicht zu kennendes Anderes – auch im Sinne einer »Instanz, die die Sprechweise des Gedichts elementar bedingt« – ausgerichtet ist.15 Und so mögen wir uns hier gleichsam als jener unbekannte Empfänger verstehen, dem das Gedicht – einer Flaschenpost gleich – zugetrieben ist. Etwas, das wie eine unerwartete Gabe gefunden wurde und dessen möglicher Gesprächspartner wir damit geworden sind. Indem wir uns bemühen, die darin eingezeichnete Schrift zu lesen und seine Sprache zu vernehmen. Indem wir versuchen, seinen Anspruch aufzugreifen und ihm verantwortlich Rede und Antwort zu stehen.16 Eingehende Aufmerksamkeit ist dabei geboten. Vieles kann der Lesbarkeit zunächst entgegenstehen. Da ist die Zeitenferne, aus der uns diese Schrift erreicht, da ist die Problematik der Dechiffrierung seiner Zeichen und Daten. Diese Schwierigkeiten einer genauen Kenntnisnahme begleiten noch jedes moderne Gedicht. Wir können dieses uns wie eine Flaschenpost zugetriebene Gedicht somit auch als eine Spur verstehen, die sich in seiner »gestaltgewordenen Sprache«, seinen Tropen, seinen Bildern und Chiffren eingeschrieben hat und uns auffordert, ihr zu folgen.17 Das Gedicht als Spur eines Anderen. Keine Spur ist imstande, die ursprüngliche Bedeutung dessen, von wo sie herkommt wieder herzustellen. Diese »unendliche Verschiebung des Bezeichneten« kommt Derrida zufolge insbesondere in der Schrift zu ihrem äußersten Ausdruck.18 Text und Bedeutung können niemals identisch werden: »Das Wahrgenommene lässt sich nur als Vergangenes unter der Wahrnehmung und nach ihr lesen.«19 Die Auslegung ist 15 16 17

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Vgl. Miriam Sieber: Paul Celans ›Gespräch im Gebirg‹. Erinnerung an eine ›versäumte Begegnung‹. Tübingen: Max Niemeyer 2007 (Conditio Judaica; 64), S. 121. Vgl. dazu Derrida/Gadamer, Der ununterbrochene Dialog (wie Anm. 1), S. 17. So heißt es bei Celan: »Dann wäre das Gedicht [...] gestaltgewordene Sprache eines einzelnen, – und seinem innersten Wesen nach Gegenwart und Präsenz.« Vgl. Celan, Der Meridian (wie Anm. 2), S. 9. Vgl. dazu Ze’ev Levy: Der Begriff der Spur bei E. Lévinas und J. Derrida. Einflüsse und Rückwirkungen. In: Ders.: Probleme moderner jüdischer Hermeneutik und Ethik. Cuxhaven, Dartford: Junghans 1997, S. 102. Jacques Derrida: Freud und der Schauplatz der Schrift. In: Ders., Die Schrift und die Differenz (wie Kap. 1.4, Anm. 170), S. 341.

3 ›Flaschenpost‹: Ein Gedicht hält auf uns zu

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notwendig, um den Abstand zwischen dem Text und seiner Bedeutung zu überbrücken und kann doch zugleich diese Aufgabe niemals zufriedenstellend ausführen. Zwar ist jede Interpretation dazu bestimmt, das, was der Text sagt, zu erläutern, aber sie führt das eben dadurch aus, dass sie etwas sagt, was der Text nicht gesagt hat. Eine unendliche Verschiebung findet statt.20 Der Beziehung zum Anderen, auch zum Anderen des Gedichts, ist der Bruch immanent. »Das Gedicht ist einsam«, behauptet andernorts der Dichter Paul Celan, »Es ist einsam und unterwegs. Wer schreibt, bleibt ihm mitgegeben.« Aber er fährt auch fort: »Das Gedicht will zu einem Anderen, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu.«21 Einsamkeit und zugleich das fundamentale Begehren nach Begegnung als die zwei markanten Pole des Gedichts. Auch Gertrud Kolmar gibt dieser Erfahrung Ausdruck, allerdings finden wir bei ihr – anders als bei Celan, der sich in der reflektierenden Form eines öffentlichen Vortrags dazu äußert – eine entsprechende Selbstauskunft nur mehr in einzelnen Gedichten vor. So spricht ihr Gedicht »Die Einsame« eben von der Erfahrung einer existenziellen Einsamkeit, als Voraussetzung dafür, dass sich die inneren Blicke erst aufzutun vermögen und sich das eigene kreative Potential so erst freisetzen kann: Der Erde Körner sind hineingesät. Aus meiner Schulter bricht ein Felsengold, Das Tuch durchschimmernd, das sich schleift und bläht Und langsam über meiner Stirn zusammenrollt.22

Doch weiß auch Kolmar um die Sehnsucht nach Mit-Teilung dieses zutiefst Eigenen in der Begegnung mit einem Du. In einem anderen Gedicht dieser Schaffensphase (1927–1932) mit dem bezeichnenden Titel »Die Dichterin« gibt sie besonders der Hoffnung an einen unbekannten Empfänger Ausdruck, von der bereits im Zusammenhang mit der Vorstellung des Gedichts als einer Flaschenpost die Rede war: So ruf’ ich dich. Mein Ruf ist dünn und leicht. Du hörst, was spricht. Vernimmst du auch, was fühlt?23

Hören, was spricht. Vernehmen, was fühlt: Lesen auch als eine aktive Art des Hörens.24 Den Ton als jenes »Schwingen des Körpers«, jenes bloße »Erzittern 20

21 22 23

Es würde sich anbieten, in diesem Zusammenhang Derridas Begriff der différance aufzugreifen. Doch wird damit zugleich ein so komplexer Sachverhalt angesprochen, dass es den Rahmen dieser Darlegungen überschreiten würde. Vgl. dazu Jacques Derrida: Die différance. In: Ders.: Randgänge der Philosophie. Wien: Passagen 1988. Celan, Der Meridian (wie Anm. 2), S. 9. LW, Gedichte 1927–1937, S. 146. Ebd., S. 89.

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des Gegenstandes«, als eine innere Bewegung, »in welcher sich durch ihr Klingen gleichsam die einfache Subjektivität, die Seele der Körper äußert«, vernimmt das Ohr, ohne sich zugleich »selber gegen die Objekte hinauszuwenden«.25 Denn aktive Lektüren dieser Art erschließen eine verborgene Struktur in den Worten, die unterschwellig vermittelt, ja geradezu »geisterhaft« »voll von Widerhall« ist.26 Besonders gilt dies für Worte der Lyrik, die immer einer eigenen Musikalität folgen, Assonanzen, Alliterationen sowie Dissonanzen transportieren können, Onomatopoesien entwerfen, Zäsuren und Brüche evozieren, dabei zugleich getragen und bestimmt von den Rhythmen und Metren des Verses. So steh ich weisend, was mir widerfuhr, heißt ein weiterer Vers in »Die Dichterin«. Jedes Gedicht sei eine Wirklichkeit, versichert uns der Dichter Joseph Brodsky an anderer Stelle, man erfahre aus ihm erheblich mehr über seinen Autor »als irgendeine Lebensgeschichte von ihm bieten kann«.27 Dabei ist die ästhetische Zeit des Gedichts keinesfalls einfach mit historischer Zeit gleichzusetzen.28 Schlagen sich die historisch-biografischen Bedingungen, unter denen das Gedicht entsteht, zwar schon in irgendeiner Weise in ihm nieder, so weist doch jedes gelungene Gedicht über diesen Rahmen konkreter Bezogenheit weit hinaus. Zeichen und Ausdrücke der poetischen Sprache mögen in Beziehung zur historischen Zeit stehen und wandeln doch die konkrete Bezugnahme in etwas Anderes um, oder wie Jacques Derrida es pointiert zusammenfasst: Glauben wir ja nicht, dass das, was auf diese Weise lesbar wird, etwa das Datum selbst sei, nein, es ist lediglich die dichterische Erfahrung des Datums, es ist das, was ein Datum, ebendieses hier, an Bezugnahme unsererseits fordert, nämlich eine dichterische Untersuchung.29

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Geoffrey Hartmann: Worte und Wunden. In: Aleida Assmann (Hg.): Texte und Lektüren. Perspektiven in der Literaturwissenschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 106. Vgl. dazu Derridas Ausführungen, der sich dabei auf Hegels Vorlesungen über die Ästhetik bezieht. Derrida, Gewalt und Metaphysik (wie Kap. 1.4, Anm. 170), S. 153. Siehe auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über Ästhetik II. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu editierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 261f. Vgl. Hartmann, Worte und Wunden (wie Anm. 24), S. 106. Ebenfalls äußert sich Kathy Zarnegin zu diesem Aspekt: »Das Gedicht geht von einer Dichotomie zwischen ›hören‹ und ›vernehmen‹ aus und fordert die Leserin und den Leser auf, sich mit ihm ins ›Einvernehmen‹ zu setzen.« Vgl. Zarnegin, Tierische Träume (wie Kap. 1.1, Anm. 15), S. 141. Brodsky, Neunzig Jahre später (wie Kap. 2.2, Anm. 34), S. 130. Amir Eshel: Blumen der Geschichte, Blumen der Erinnerung: Paul Celan und der postmoderne Diskurs. In: Frank Stern und Maria Gierlinger (Hg.): Die deutschjüdische Erfahrung. Beiträge zum kulturellen Dialog. Berlin: Aufbau 2003, S. 129. Jacques Derrida: Schibboleth. Für Paul Celan. Wien: Passagen (1984) 2002, S. 19.

3 ›Flaschenpost‹: Ein Gedicht hält auf uns zu

91

In seiner Nennung verweist ein Datum zwar auf etwas Bestimmbares und damit Nachvollziehbares und bleibt doch zugleich hypothetisch und kryptisch verborgen, bleibt sozusagen immer eine Art »Stützvorrichtung für eine unbegrenzte Zahl von Projektionen der Erinnerung«.30 Das Datum ist so verstanden eben »kein Punkt auf der Skala eines historischen Lineals, sondern eine Verdichtung von Zeitbezügen, als deren Zentrum sich ein dem Erscheinenden zugewandtes Ich erweist«.31 Es ist gleichsam die Erfahrung eines Datums, die auf diese Weise transportiert wird und damit einen Zugang eröffnet für die Erfahrung eines Anderen in dessen Zeit. Mithin geht es um ein Lesen, das im Sinne einer »kalkulierten Re-Lektüre« – auch im Sinne einer akribischen Spurenentzifferung – mit der »Eruierung grundsätzlicher, lebenswichtiger Erfahrungen zu tun« hat.32 So lesen auch wir die Schrift dieses uns zugetriebenen Gedichts, folgen wir ihren Zeichen, Chiffren und – soweit möglich – auch ihren Daten. Als einer Spur, die wir einerseits als ein in seinen verborgenen, bewussten und unbewussten Intentionen zu deutendes System von Zeichen wahrnehmen, die wir aber andererseits auch als sich uns fortwährend aufs Neue ins Unzugängliche entziehend begreifen müssen.

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32

Ebd., S. 56. Axel Gellhaus: Das Datum des Gedichts. Textgeschichte und Geschichtlichkeit des Textes bei Celan. In: Axel Gellhaus und Andreas Lohr (Hg.): Lesarten. Beiträge zum Werk Celans. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1996, S. 191. Aleida Assmann: Metamorphosen der Hermeneutik. In: Dies. (Hg.): Texte und Lektüren. Perspektiven in der Literaturwissenschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 16.

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In der Spur des Anderen: Das Gedicht »Garten im Sommer«

Die du wohnst in den Gärten – Freunde lauschen – deine Stimme lass sie mich hören. (Schir ha Schirim)

Nun endlich, nach all diesen Wegen der Suche und der Annäherung an die Dichterin und ihre Dichtung, nähern wir uns dem Gedicht »Garten im Sommer«. Dieses von Gertrud Kolmar an zwölfter Stelle in den Zyklus WELTEN eingereihte Gedicht. Eingefügt zwischen Titeln wie »Die alte Frau« und »Das Opfer«, mithin eingeklammert von dem Klagegesang um den Verlust von Liebe und Lebenskraft und der Vision eines Selbst verlorenen, schicksalhaften Ganges in den gewaltsamen Tod. Dergestalt umrandet von Dunkelheiten strahlt allein schon der Titel von »Garten im Sommer« in einem eigenen Glanz, wirkt er besonders ergreifend und zugleich doch auch umschattet von jenem bedrohlichen Umfeld, in das er, dieser »Garten im Sommer«, eingebettet ist. Allein durch diesen ihm im Zyklus zugewiesenen Ort gerät dieses Gedicht von Anfang an zu einer Art lichten Insel inmitten schwerer Bedrängnisse, einem vorübergehenden, sehr vergänglichen Zufluchtsraum inmitten von Niedergang und Gefahr.1 Zugleich werden mit dem »Fingerzeig« seines Titels zwei Topoi in einer Weise vorgestellt, die unsere Vorstellung zunächst in eine bestimmte Richtung lenken.2 Da ist zum einen ein Garten, ein Raum eingegrenzter, überschaubarer, kultivierter Erde, und da ist der Sommer, eine Jahreszeit, in der in einem Garten alles grünt und blüht, gedeiht und reift. »Garten im Sommer« – das könnte auch der Titel eines Liedes, die Ankündigung einer Lobpreisung sein. Mithin begeben wir uns in der Eröffnung des Titels in diesen Garten wie durch eine Pforte bereits mit mehrfacher Erwartung, um zu erfahren: 1

2

Gerade in diesem letzten Zyklus habe Kolmars »Zyklen-Dichtung« Völker zufolge »jenen Grad der Durchformung erreicht, der die Form, wie in jedem guten Gedicht, als Funktion der Bedeutung erscheinen lässt.« Vgl. Völker, Formstrukturen als Sinnstrukturen (wie Kap. 3, Anm. 9), S. 119. Zur Funktion des Titels im Gedicht stellt Joseph Brodsky fest, dass dieser einen »Fingerzeig« für den Leser biete. Vgl. Brodsky, Neunzig Jahre später (wie Kap. 2.2, Anm. 34), S. 131.

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4 In der Spur des Anderen: Das Gedicht »Garten im Sommer« Gar nichts anderes wars; kein Vogel, kein Falter flog. Nur ein gilbendes Blatt zitterte in den umsponnenen Weiher, ich sah es. 3

So lauten die ersten Verse des Gedichts. Es ist, als wäre statt eines hymnischen Gesanges die verhaltene Tonfolge eines Andante oder Adagios angeschlagen. Ein Hauch von Hinfälligkeit und Dahinscheiden weht uns an, und wir sind an diesem sommerlichen Gartentag bereits von einem dunklen Ton in Moll ergriffen. Nicht Vogel und Falter durchfliegen heiter die Lüfte, sondern entscheidend, des Sehens wert, ist ebenjener Moment, in dem ein absterbendes Blatt vom Baum ins Wasser fällt und die Allgegenwart vergehenden Lebens vor Augen führt. Eine andere, innere Art des Sehens wird damit vorgestellt, das einen Übergang, eine Öffnung schafft auf etwas ganz Anderes hin, das mehr ist als nur, und diesen ersten Vers bereits als einen Litotes, eine gezielte Untertreibung, erkennbar werden lässt. Es ist ein elegischer Grundton, der diesen Versen von Anfang an eingeschrieben ist. Dabei wird die Schönheit des Bildes noch vervollkommnet durch den umsponnenen Weiher, in den das Blatt in seiner zitternden Fragilität nun herabgleitet. Ist der Garten in der Regel ein umhegtes Gelände, so ist der Weiher hier ein umsponnenes und damit ebenfalls umgrenztes Gebiet. Wasser und Land werden in dieser Weise in ihrer umfriedeten, aber auch eingegrenzten Form dargestellt, wobei das Umsponnene des Weihers auch Entrückung, ja Verzauberung anklingen, eine Ahnung von einer Wirklichkeit jenseits üblicher Wahrnehmung durchscheinen lässt. Zugleich wird damit noch das nahende Ende des Sommers betont, scheint doch die Vorstellung von überall zwischen Gräsern und Sträuchern hängenden Spinnfäden des »Altweibersommers« damit angedeutet. Jenes Ich aber, welches uns in das Ereignis dieses Gedichts, was auch das Ereignis des Sehens meint, mit hineingezogen hat, befindet sich offenbar genau an dieser Grenzlinie zwischen Land und Wasser, mithin zwischen Sichtbarem und Verschwimmendem oder einfacher gesagt am Ufer des umsponnenen Weihers, in den es das gilbende Blatt ja herabfallen sah. Nachdem wir in dieser Weise eingestimmt Kommendes erwarten, sei das Gedicht nun als Ganzes vorgestellt. Es handelt sich dabei um eine Kopie des im Marbacher Literaturarchiv hinterlegten Originaltyposkripts, das eine Schreibweise aufzeigt, die in dieser Weise in keiner der bisherigen Publikationen übernommen worden ist.

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Ich zitiere hier wie auch überhaupt in meiner Arbeit nach dem Originaldurchschlag des im Marbacher Literaturarchiv hinterlegten Typoskripts. Die Begründung für diese Entscheidung befindet sich an späterer Stelle in diesem Kapitel.

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Das Gedicht ist aus vier Strophen sehr unterschiedlicher Länge komponiert, die in freien Rhythmen gehalten sind, mit häufig langen, weitschweifigen Versen bis hin zu Versen, die aus einem einzigen, einsilbigen, kurzen Einwurf bestehen (Komm., 1. Strophe, Vers 3).

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Der ersten Strophe, mit ihren 22 Versen deutlich die längste, kommt dabei offenbar ein besonderes Gewicht in der Eröffnung zu. Demgegenüber wirkt die zweite Strophe, mit ihren nur fünf Versen bei Weitem die kürzeste, wie ein knapper, äußerst konzentrierter Umschwung im Gedichtgeschehen. Zusammengenommen wiederum entsprechen die 23 Verse der dritten und vierten Strophe ziemlich genau der Länge der ersten Strophe. Aus diesem Blickwinkel aber fällt die kurze zweite Strophe erst recht ins Auge. Rein optisch wirkt sie bereits wie eine Art Scharnier, ein Dreh- und Wendepunkt zwischen Anfang und Ende des Gedichts. Was hier rein formal bereits auffällt, entspricht dem inneren Gedichtgeschehen. Befinden sich Garten und Weiher in der ersten Strophe noch in einer abgegrenzten Ordnung, ja steht eigentlich hier der Garten im Mittelpunkt, so scheint sich mit dem Umschlag der zweiten Strophe zunehmend der Bereich des Wassers auszubreiten. In der dritten Strophe dann wird der Raum eines weltversunkenen Schlosses, das mit seinem kunstvoll geschmiedete[n] Gitter von einem parkähnlichen Anwesen umgeben zu sein scheint, nur mehr von außen noch, aus einer Perspektive vom Ufer aus wahrgenommen. In der vierten Strophe gibt es schließlich weder Garten noch Schloss, sondern das gesamte Geschehen wird allein noch vom Wasser beherrscht. Entsprechend erfahren wir die Situation des Ich, das sich ja gleich zu Beginn an dieser Grenzlinie zwischen Land und Wasser positioniert hatte, als sich steigernde Gefährdetheit. Der »Garten im Sommer« aber, der ja schließlich den Titel des Gedichts angibt, scheint zusehends zu verschwinden, um schließlich ganz in der ansteigenden Dominanz des Wasserbereichs unterzugehen, bis dieser zum Schluss alles mit sich fortzureißen droht. Es ist nicht gerade ein undramatischer Vorgang, der mit dem nur eines fallenden Blattes so harmlos eingesetzt hatte. Im Zittern, das die Wahrnehmung seines Niedersinkens begleitet hatte, vermittelte sich zugleich das Empfinden eines Anfangs als auslösendes Moment sowohl für das Sehen des Ich als auch für unsere Berührtheit durch diese Verse. Eine Schwingung, ein Vibrato, war damit initiiert worden, das sich, wie wir noch sehen werden, durch das ganze Gedicht fortsetzen wird, um schließlich im dramatischen Schlussakkord des letzten Verses zu enden. Als würde ein Kreis sich schließen, als würde eine fortlaufende Bewegung im Untergang des Ich erst zu ihrem Stillstand kommen. Dabei möchte ich hier hervorheben, dass ich dieses Gedicht sowie auch alle anderen Gedichte aus dem WELTEN-Zyklus in meinen Ausführungen ausschließlich nach der Vorlage des im Marbacher Literaturarchiv hinterlegten Originaldurchschlags von Kolmars Typoskript zitieren werde. Denn noch immer liegen uns diese Gedichte in ihrer von der Dichterin selbst vorgenommenen Version in keiner gedruckten Ausgabe vor, besitzt das Originaltyposkript eine Zeilenführung, die in keiner der bisherigen Publikationen entsprechend wiedergegeben worden ist. Doch anders als es in Kolmars Lyrik sonst

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der Fall ist, sind die Verse dieser siebzehn Gedichte aus WELTEN in freien Rhythmen gehalten, was häufiger dazu führt, dass Vers- und Zeilenlänge nicht übereinstimmen. Dabei kommt es bei längeren, über mehrere Zeilen verteilten Versen zuweilen zu Worttrennungen, die eine holprige, ungeglättete Optik entstehen lassen. Kasack sowie alle nachfolgenden Editionen aber haben diese »Brüche« in ihren Abschriften schlichtweg aufgehoben, Getrenntes durch eine veränderte Zeilenführung wieder zusammengefügt und damit das Ganze in eine eher konventionelle Schreibweise umgewandelt, die den Vers an sich unangetastet lässt.4 Könnte es aber nicht sein, dass es die Versstruktur und Metrik überaus souverän beherrschende Dichterin eben gerade auf diesen Eindruck der Ungefälligkeit und Sperrigkeit angelegt hatte? Immerhin haben wir es mit Lyrik zu tun, einer Gattung, in der es um höchste strukturelle Semantisierbarkeit geht, in der die Form selbst mit zum Bedeutungsträger werden kann, alle Teile und Zeichen einen Sinn erhalten können.5 Ich möchte daher dafürhalten, dass die originäre, teilweise eher gegenläufige, aufgerissene Schreibweise der WELTEN-Gedichte deren Aussagekraft noch unterstreichen hilft. Darüber hinaus lässt diese Schreibweise einen inneren Rhythmus sichtbar werden, dem noch zusätzlich inhaltliche Gewichtung zukommt und der in der geglätteten Fassung nicht mehr in gleicher Weise nachvollziehbar ist. Mithin ist es eben keineswegs belanglos, ob sich das Ich gleich im ersten Vers des Gedichts direkt am Ende der Zeile befindet und damit bereits in einen optisch gegebenen unmittelbaren Kontext mit dem herabzitternden Blatt gerät, oder ob sich dieses Ich am Beginn der nächsten Zeile positioniert (ich sah es) und damit sowohl den Rhythmus unterbricht als auch sich vor allem als ein Sehendes, Beobachtendes behauptet. Gerade die Schreibweise der Dichterin selbst aber suggeriert nach meiner Auffassung, dass dieser Vorgang des Sehens überhaupt erst von dieser Ergriffenheit des Ich durch das herabfallende Blatt seine ganze Tragweite gewinnt. Im ohnehin das Fallende unterstützenden 4

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Vgl. Gertrud Kolmar: Welten. Mit einem Nachwort von Hermann Kasack. Berlin: Suhrkamp vorm. S. Fischer 1947. Hier, wie in allen bislang folgenden Editionen ist beispielsweise die Schreibweise der zitierten Eingangsverse des Gedichts: Nur ein gilbendes Blatt zitterte in den umsponnenen Weiher, ich sah es. Auch wenn es möglicherweise wohl überlegte Gründe gibt, warum eine geglättete Form in der Schreibweise vorzuziehen wäre, so wäre doch zu wünschen, dass diese Entscheidung auch begründet wird und die Veränderung gegenüber dem Original nicht einfach mit Stillschweigen übergangen wird. So lässt auch die ansonsten sehr anerkennenswerte und schöne Neuedition der lyrischen und dramatischen Werke Gertrud Kolmars durch Regina Nörtemann, in der uns nun auch endlich die originäre Reihenfolge der WELTEN-Gedichte im Zyklus vorliegt, hier noch eine Klärung vermissen, die ergänzenswert wäre. Vgl. dazu Dieter Lamping: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, S. 51.

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4 In der Spur des Anderen: Das Gedicht »Garten im Sommer«

Metrum der Daktylen und Trochäen, von denen diese Verse getragen werden, wird in der ursprünglichen Zeilenführung der Eindruck des Sich-Lösenden, Niedersinkenden hin auf dieses ich am Ende der Zeile noch unterstützt. Und so fragt es sich, wer oder was hier eigentlich zitternd niederfällt: nur das gilbende Blatt? Muss nicht vielmehr dieses Blatt und das, was mit ihm geschieht als Metonymie für etwas (es) gelesen werden, das dieses ich betrifft? Ein Ich am Ende der Zeile sich befindend wie an einem Abgrund. Ein Ich auf das hin sich die gesamte Dynamik des Welkens und Fallens nun auszurichten scheint. Nur so ist schließlich die geradezu unheimliche Stille zu erklären, die diesen Vorgang begleitet und in der weder Vogel noch Falter ihren Platz haben. Für das sehende Ich bedeutet diese Erfahrung genau eine alles andere für den Augenblick ausschließende Konzentration auf etwas, das schließlich nichts anderes meint als sich selbst. Nichts als das Fallen dieses Blattes, das vom Baum in das Wasser herabzittert, findet darin statt, zeichnet sich ein wie ein Frösteln, ein Erschauern, oder vielleicht sogar ein großes Erschrecken. Die Erschütterung ist spürbar, etwas in Schwingung gebracht worden, das in den Bann jenes Erzitterns geraten lässt, von dem her das Gedicht seinen Ausgang nimmt, das uns weiter umtreibt und neue Fragen hervorbringt. In dieser Berührung, diesem Mit-Erzittern, treten wir ein in die Spur des Gedichts, machen wir einen Schritt zu auf den Anderen als Anderen, dessen Erfahrung wir zwar nicht teilen können, zu dem wir aber in der Erfahrung eines Lesens die »Grenze zur anderen Seite, zum Anderen hin« zu überschreiten suchen können.6 Liebende, seid ihrs dann noch? Wenn ihr einer dem andern Euch an den Mund hebt und ansetzt – : Getränk an Getränk (Rainer Maria Rilke)

4.1

Die erste Strophe: Tanz und Traum

Lesen wir die erste Strophe von »Garten im Sommer« aufmerksam, so gewinnen wir bald den Eindruck von etwas Tänzerischem wie auch von etwas Träumerischem. Ein Ich, das ein Du auffordert, ihm zu folgen. Ein Ineinanderübergleiten verschiedener Raum- und Zeitebenen, die sich gegenseitig durchdringen wie im Traum, um schließlich in eine Nacht zu weisen, in der eine Liebesbegegnung aus Mitternächten erinnert werden kann. Tanz und Traum. Mit diesen handelt es sich um poetische Vorgänge par excellence. Teilt sich im einen eine leichtfüßige, die Erdenschwere überwindende Dynamik mit, so wird mit dem anderen eine Wahrnehmungsform angesprochen, die herkömmliche Sehweisen übersteigt und in verborgene Bereiche hineinzureichen vermag. Beginnen wir, der Dynamik des Gedichts folgend, mit Tanz. Schon Aristoteles war in seiner »Poetik« von einer uralten Affinität zwischen der Kunst des 6

Derrida, Schibboleth. Für Paul Celan (wie Kap. 3, Anm. 29), S. 116.

4.1 Die erste Strophe: Tanz und Traum

101

Tanzes und der Dichtkunst ausgegangen. Und während ihm zufolge der Tanz sich vor allem im Rhythmus darstellt, bedient die Dichtung sich zusätzlich noch der Melodie wie der Sprache. Doch sei auch die Versrede von einem tänzerischen Rhythmus durchdrungen, ja »dass die Verse Einheiten der Rhythmen sind, ist offenkundig«.7 Gar nichts anderes war’s// Nur ein gilbendes Blatt//

Es ist ein exakter metrischer Gleichklang, dem diese zwei Kola aus den Eingangsversen aus »Garten im Sommer« unterliegen: –x –xx –. Eine Verssequenz scheint damit von Anfang an gefunden, welche die unterschwellige Gangart dieses Gedichts durchziehen wird und der wir immer wieder begegnen werden. Zwar wohl noch keine Melodie, aber ein kleiner, nachgerade tänzerischer Taktfuß, der etwas in Bewegung zu setzen vermag, ja von dem vielleicht überhaupt das Gedicht seinen Ausgang genommen hat. So ist es nach Maßgabe des französischen Dichters Paul Valéry, der sich eingehend mit dem Verhältnis von Poesie und Tanz befasst hat und den auch Gertrud Kolmar nachweislich schätzte, nicht unbedingt ausgemacht, was bei einem Gedicht als Erstes vorhanden ist.8 Ein Ereignis, das seinen Ausdruck sucht oder ein rhythmisches Bruchstück, das seine inhaltliche Ausgestaltung erst finden muss: Der Dichter erwacht im Menschen durch ein unerwartetes Ereignis, einen äußeren oder inneren Anlass: einen Baum, ein Gesicht, ein ›Thema‹, eine Erregung, ein Wort. Und bald ist es ein Ausdruckswille, der die Partie eröffnet, ein Bedürfnis zu übersetzen, was man empfindet; bald ist es im Gegenteil ein formales Element, eine Andeutung von Ausdruck, die ihre Ursache sucht, die sich in dem Raum meiner Seele einen Sinn sucht ...9

Wie dem auch sei, jene »Doppel-Erfindung von Gestalt und Gehalt«, die das Los des Dichters, der Dichterin ist, hat sich in die ersten Verse von Kolmars Gedicht bereits auf das Kunstvollste eingeschrieben.10 Mit ihnen wird eine Schwingung in Gang gesetzt, die sich sowohl einem Ereignis des Sehens als auch einem geheimen metrischen Gleichklang sowie überdies der Gestaltung einer fallenden Linie verdankt, welche nach der deutlichen Mittelzäsur hinter Blatt in fast nicht enden wollenden, achthebigen, daktylischen Metren auch

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Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1994, S. 6f. und S. 13. Vgl. dazu Brief an Walter Benjamin vom 5.11.1934. In: Kolmar, Briefe (wie Kap. 1.1, Anm. 1), S. 168. Paul Valéry: Dichtkunst und abstraktes Denken. In: Ders.: Zur Theorie der Dichtkunst. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1962, S. 166f. Ebd., S. 168.

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4 In der Spur des Anderen: Das Gedicht »Garten im Sommer«

rhythmisch nachvollzogen wird, bis hin zur vollständig abschließenden Kadenz jenes sah es. Auch Gertrud Kolmar war bekannterweise dem Tanz sehr zugetan: Ich will doch tanzen, aber ja, ich muss doch einmal tanzen;/ Denn Lieder haben keinen solchen Dank.11 Diese Verse hatte sie einige Jahre zuvor in ihrem Gedicht »Der sonderbare Tanz« aus dem Zyklus MEIN KIND geschrieben.12 Sie verdeutlichen eine Nähe zwischen den Ausdrucksmitteln des Tanzes und denen der Poesie, die besonders für die Sichtweise dieser Dichterin bezeichnend ist. So erklärt sie in ihren Briefen an die Schwester, dass sie die Tanzkunst liebe und dass der Tanz groß und ewig sei.13 In einem weiteren Brief vom 10. September 1939 wiederum meint sie bei ihrer Nichte Sabine Wenzel eine tänzerische Begabung festgestellt zu haben, weil diese sich bereits als kleines Kind ihr unverständliche französische Texte vorlesen ließ, bloß um des Rhythmus willen.14 Hier spricht ganz die Dichterin, die ihre eigene Dichtung selbst einmal als meine Dynamisches schaffende Kunst charakterisiert hat und für die Rhythmisches und Tänzerisches nahe beieinanderliegen.15 Kolmar selbst hat in Berlin nach eigener Auskunft wiederholt moderne Tanzaufführungen besucht und dabei namhafte Tänzerinnen, wie unter anderem Lucy Kieselhausen und Mary Wigman, teilweise mehrfach, tanzen gesehen.16 Später wird sie der Schwester brieflich erklären, dass sie wohl eine Tänzerin geworden wäre, wäre dieses Talent beizeiten bei ihr gefördert worden.17 Stattdessen wurde sie zur Dichterin. Sowohl beim modernen Tanz als auch beim Gedicht geht es um eine Kunst, die Schöpferisches ins Fließen bringt, es in einen dynamischen Prozess umsetzt.18 Mithin finden wir im Gedicht statt der tänzerischen Gebärde eines Körpers, eine »Stimme in Tätigkeit« vor, wie Paul Valéry dies einmal bezeichnet hat. Eine Stimme, die ebenjene »sinnlichen Merkmale der Sprache, den Klang, den Rhythmus, die Betonungen, die Klangfarbe, die Bewegung« hervorruft.19 Eine Stimme, die auch die Bilder in Sprache entwirft, möchte ich

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LW, Gedichte 1927–1937, S. 268. Eine der ersten, die den Tanz als poetisches Modell in der Dichtung Gertrud Kolmars reflektiert hat, ist Yoko Yamaguchi gewesen. Sie beschreibt den Tanz als »eine Form der Verwandlung«, die wiederum den »Kern von Kolmars Schreiben« bilde. Vgl. Yoko Yamaguchi: Tanz als poetisches Modell in der Dichtung Gertrud Kolmars. In: Marion Brandt (Hg.): Gertrud Kolmar. Orte. Berlin: KONTEXTVerlag 1994, S. 72–79. Vgl. Kolmar, Briefe (wie Anm. 8), S. 72f. Ebd., S. 36. Ebd., S. 120. Ebd., S. 73. Ebd., S. 34. Mary Wigman: Die Sprache des Tanzes. Stuttgart: Ernst Battenberg 1963, S. 14. Valéry, Dichtkunst und abstraktes Denken (wie Anm. 9), S. 158.

4.1 Die erste Strophe: Tanz und Traum

103

hinzufügen, welche uns beim Tanz wiederum durch die Darstellungen des Körpers übermittelt werden.20 Komm. Ach, dies tauig hauchende Gras, wie es zärtlich meine fiebrigen Zehen kühlt! Bück’ dich ein wenig: Haselnüsse, die wohl der große plündernde Buntspecht hierher verstreut hat. Aber noch sind sie nicht reif. Nein, ich bin nicht genäschig noch hungrig. Später werden wir unter die Obstbäume gehn und auf dem Rasen schöne rotflammige Äpfel suchen Oder die runden, saftigen goldgrünen Pflaumen schütteln. Ja, willst du? Weißt du noch: all die Pfauenaugen, so viele, die an den abgefallnen, verrotteten Früchten sogen und taumelten? Und auch ein Trauermantel wehte, finsterer Sammet, gülden umsäumt, blau beperlt ...

Komm. Eine Aufforderung, die hier offenbar ohne besondere Exklamation ausgesprochen wird, wie der schlichte Punkt zu verstehen gibt. Doch wird mit ihr zum ersten Mal die Anrede an ein Du eröffnet, womit sich eine neue, für den gesamten Fortgang des Gedichts entscheidende Figuration ergibt: Ich und Du. Alle weiteren Bewegungen, Drehungen und Wendungen des Gedichts werden sich fortan aus dieser Konstellation ergeben. Gleichzeitig spricht sich – im Gegensatz zum Präteritum der Eingangsverse – mit dieser Aufforderung an ein Du eine Gegenwart aus, die als die aktuelle und damit handlungstragende Zeit des Gedichts anzusehen ist. Wer aber ist hier Ich und wer ist Du? Das ist – soweit ich sehe –, nicht einfach zu umreißen und gerade in diesem Gedicht einer mehrfachen Wandlung unterzogen. Fürs Erste aber wäre – wie der Philosoph Hans-Georg Gadamer in seiner Celan-Studie ausgeführt hat – auch auf Kolmars Gedicht bezogen ganz allgemein festzustellen, dass das Du hier der Angeredete schlechthin ist: »Das ist die allgemeine semantische Funktion, und man wird sich fragen müssen, wie die Sinnbewegung der dichterischen Rede diese Funktion ausfüllt.«21 So gesehen könnten für das Du in den vorliegenden Versen Kolmars verschiedene, sich durchaus wandelnde Beschreibungen zutreffen. Es könnte – naheliegend und wie das Gedicht an späterer Stelle auch nennt – der Geliebte damit angesprochen sein, es könnte aber auch einfach ein Gefährte, ein Zeitgenosse, ein Lieber (3. Strophe), mithin ein Freund mit ihm vorgestellt werden oder aber gar – wie Gadamer es ausgedrückt hat – »das Zwiegespräch der 20 21

Ebd., S. 23. Hans-Georg Gadamer: Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans ›Atemkristall‹. Frankfurt am Main: Suhrkamp (1973) 1986, S. 12.

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4 In der Spur des Anderen: Das Gedicht »Garten im Sommer«

Seele mit sich selbst« damit zum Ausdruck gebracht werden.22 Doch können auch wir uns als jener Empfänger, von dem bereits die Rede war, mit diesem Du zur Anteil-Nahme am Geschehen aufgefordert fühlen, uns in die Vorstellung des sommerlichen Gartens einbeziehen und mit zu den rotflammigen Äpfeln und goldgrünen Pflaumen hinziehen lassen. Und das Ich?23 Wird mit diesen Versen ein Ich vorgestellt, welches schlichtweg »als das notwendige Satzsubjekt seiner Feststellungen und Anordnungen« zu begreifen wäre, mithin ein Ich, das »von sich aus spricht«, ausgerichtet auf ein Du, welches das Subjekt der Rede eben erst zum Ich werden lässt?24 Ein Ich, welches im Sinne der Philosophie Martin Bubers danach strebt, mit einem Du in Beziehung zu stehen, ja aus dieser Beziehung auf das Du hin sich als Ich überhaupt erst verwirklichen kann?25 Oder haben wir vielmehr demgegenüber ein Ich vor uns, welches in der Anrede eines Du – wobei die Apostrophe ja bereits auf ein Abwesendes zielt – gerade jene Differenz auszuloten unternimmt, die Ich und Du als von vorneherein Getrennte erfahrbar werden lässt?26 Ein Ich mithin, welches eher im Sinne von Lévinas das Du immer schon als Anderes, als ein Abwesendes erfährt, ja gleichsam ein »Rufen des Anderen« wäre, eines Anderen, »der nicht erscheinen kann, jedoch Sprache findet im Ich«? Ein ›Ich-Sagen‹ schließlich, welches durch die Arbeit des Textes »den Anderen sucht und als Gesuchtes« in »ein Gewebe zu verwickeln« vermag?27 So viel bereits wird deutlich, dass es sich beim sogenannten lyrischen Ich dieses Gedichts keinesfalls um einen einfach zu erfassenden Sachverhalt handelt. »Wir haben es zu lernen«, dieses Ich, wie ebenfalls Gadamer andernorts formuliert hat.28 22 23

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Ebd., S. 10. Dabei ist das sprechende Ich des Gedichts hier natürlich nicht mit der Dichterin gleichzusetzen, auch wenn im Gedicht zweifellos eine Thematik des Ich zur Sprache gebracht wird, die dem Ich der Dichterin entsprungen ist. In diesem Zusammenhang der Präzision halber nun von einem »Textsubjekt« zu sprechen widerstrebt mir allerdings, wirkt dieser Begriff doch allzu technisch formal. Ich werde mich daher – wie auch bislang – auf das Ich des Gedichts vor allem als »lyrisches Ich« oder »sprechendes Ich«, manchmal auch als »lyrisches Subjekt«, beziehen. Vgl. dazu auch: Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse. Stuttgart: Metzler 1997, S. 195f. Gero von Wilpert: Lyrisches Ich. In: Ders.: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Kröner 2001, S. 493. Vgl. Martin Buber: Ich und Du. In: Ders.: Das dialogische Prinzip. Heidelberg: Lambert Schneider 1962, S. 71. Ebd., S. 32. Auf diesen Zusammenhang, verweist auch Birgit R. Erdle, wenn sie schreibt: »Die Figur der Apostrophe [...] bringt einen Anspruch und eine Anrede an ein Abwesendes zum Ausdruck, die vom Ort des Anderen aus(er)gehen.« Vgl. Erdle, Antlitz – Mord – Gesetz (wie Kap. 1.2, Anm. 43), S. 21. Vgl. Bernhard Fassbind: Poetik des Dialogs. Voraussetzungen dialogischer Poesie bei Paul Celan und Konzepte von Intersubjektivität bei Martin Buber, Martin Heidegger und Emmanuel Lévinas. München: Wilhelm Fink 1995, S. 74 und S. 91. Gadamer, Wer bin Ich (wie Anm. 21), S. 13.

4.1 Die erste Strophe: Tanz und Traum

105

Fürs Erste nun erfahren wir von diesem Ich, dass da dies tauig hauchende Gras – zärtlich meine fiebrigen Zehen kühlt. Ein weiteres Mal hören wir das unterschwellige Pochen –x –xx – (tauig hauchende Gras), erkennen wir in der Synekdoche der fiebrigen Zehen eine Fortsetzung der »exzeptionellen Form der Erregtheit«, die mit dem Zittern des Blattes vom Anfang bereits begonnen hatte.29 Eine feuchte, atmende Natur, tauig hauchend, eine kühlende Zärtlichkeit für die fiebrigen Zehen. Dieses Epitheton ist allerdings doppeldeutig. Fiebrig kann unruhige Leidenschaft wie krankhafte Überhitztheit anzeigen. Etwas aber, was sich vorerst nur in den Zehen äußert. Das Begehren nach einer Bewegung wird so evoziert, die sich dem Fieber überlassen will, zunächst aber noch von dem kühlenden Gras wie von einer beruhigenden Liebkosung zurückgehalten wird. Eine Erregtheit wird damit zur Sprache gebracht, die geradezu darauf zu drängen scheint, sich in einem tänzerischen Impuls entäußern zu können.30 Valéry wiederum hat in seiner Schrift »Die Seele und der Tanz« von Händen, die sprechen, und Füßen, die zu schreiben scheinen, gesprochen.31 Rhythmus und Bewegung, Stimme und Lied. Ein Raum, der in immer wieder neu sich ergebenden Mustern ausgeschritten werden will. Eine Metaphorik von Tanzen und Weben bildet sich auf diese Weise heraus, die auf die Freisetzung eines schöpferischen Prozesses zielt, der seine gestalterische Komponente in der Erscheinung einer stets aufs Neue aus der eigenen Mitte heraus entstehenden, unablässig sich wandelnden Bewegung sichtbar macht.32 Es ist ein lebendiger Teppich, dieser grüne Rasen, dieses tauig hauchende Gras. Ein Teppich, der die Dynamik von vor Bewegungslust fiebriger, sich in die Feuchte seiner atmenden Natur einschreibender Füße anlockt und schließlich freizulassen vermag.33 29

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Ein Zustand wird in dieser Weise angesprochen, in dem wir in Übereinstimmung mit dem französischen Dichter Paul Valéry den Ausdruck einer besonderen Art von Energie erkennen, »welche die gleichzeitige Überhöhung unserer Sensibilität, unseres Intellekts, unseres Gedächtnisses und unserer sprachlichen Fähigkeiten verwirklicht«, und die so überhaupt erst den dichterischen Vorgang initiiert. Vgl. Valéry, Dichtkunst und abstraktes Denken (wie Anm. 9), S. 166. Bei der Synekdoche repräsentiert der Teil das Ganze, d. h. die »fiebrigen Zehen« repräsentieren hier diejenige, die vom Fieber ergriffen ist, wenn man wie wir davon ausgeht, dass es sich im Gedicht um ein weibliches Ich handelt. Paul Valéry: Die Seele und der Tanz. In: Ders.: Eupalinos oder der Architekt. Übertragen von Rainer Maria Rilke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 20. Vgl. dazu auch die Ausführungen Silke Nowaks: »Der ›Teppich‹ – als Textgewebe eine der gängigsten Metaphern für das Gedicht überhaupt – [...] wäre ein toter, wenn ihm sein Muster so starr eingewoben wäre, dass es sich nicht mehr selbsttätig frei bewegen könnte. Dann könnte er auch die Phantasie des Betrachters nicht mehr dazu aktivieren, das Entstehen und Vergehen seiner Bildmuster nachzuvollziehen [...].« Nowak, Sprechende Bilder (wie Kap. 1.1, Anm. 15), S. 58. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Nietzsches Bemerkung: »Und grüner, weicher Grund und Rasen, das Königreich des Tanzes.« Friedrich Nietzsche: Die fröhliche

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4 In der Spur des Anderen: Das Gedicht »Garten im Sommer«

Bück’ dich ein wenig.

Eine Aufforderung zu einer kleinen Verbeugung, einem Sich-Neigen. Eine Bitte vielleicht auch um Zuneigung, um Hinwendung. Eine erste Wendung auf etwas hin, das eine gemeinsame Bewegung einzuleiten sucht. Es könnte durchaus etwas Tänzerisches sein, das die Dichterin hier zwischen Ich und Du beginnen lässt. Hier in dieser ersten Strophe von Kolmars Gedicht nun ist es der Raum eines Gartens, von dem ja bereits im Titel die Rede war, der als ein imaginärer Raum dichterischer Expansion in immer neuen Variationen durchschritten wird. Dabei wird mit dem Eintritt in diesen grünenden, lebendigen Gartenraum zugleich ein Bild entworfen, das seine Gegenwart beschreibt: Haselnüsse, die noch nicht ausgereift sind, und ein plündernder Buntspecht, der diese sinnlos umhergestreut hat: Aber noch sind sie nicht reif. Immerhin, solange die Nüsse noch nicht reif sind, ist auch der Herbst noch nicht da, den das herabfallende Blatt, und sei dies auch ein Blatt aus der Erinnerung, ja bereits hatte ahnen lassen. Und während das triebhafte Tier blindlings seinen Impulsen folgt, ist das Ich in der Lage seine – wenn auch fiebrigen – Begierden, die sich unterschwellig ja längst mitgeteilt haben, noch zurückzuhalten: Nein, ich bin nicht genäschig noch hungrig. Später werden wir unter die Obstbäume gehn und auf dem Rasen schöne rotflammige Äpfel suchen Oder die runden, saftigen goldgrünen Pflaumen schütteln. Ja, willst du?

Später. Eine dritte Zeitebene wird damit eröffnet, mit der eine Zukunft entworfen wird, in der – im Gegensatz zu den unreifen Früchten der Gegenwart – die Früchte reif sein werden und mit dem Du zusammen genossen werden können. Eine Begegnung wird antizipiert, die – wenn das Du nur wollen würde – sein könnte wie ein Erntefest des Sommers, das einlädt zur lustvollen Freude an den Früchten eines spätsommerlichen Gartens. In die Darstellung der verführerischen Fülle dieses Gartens aber hat sich längst jene Fiebrigkeit eingeschrieben, die noch verhalten und verborgen, von den Zehen aus aufstrebend nun die gesamte Wahrnehmungsweise des Ich mit einer vibrierenden Aura zu durchziehen scheint. Eine Unruhe und Erhitztheit breitet sich aus, die bereits mit dem »Zittern« des gilbenden Blatts begonnen hatte, um sich schließlich fortzuschreiben in den rotflammigen Äpfeln und dem »Schütteln« der Pflaumen, sowie späterhin im »Taumeln« der Falter, dem »Erröten« der Rose, im »Glühn« auch des alabasternen Bechers, von dem Bienen und Hummeln in schwarz und fuchsigen Pelzen träumen mögen. Eine Wissenschaft, pass. 383. In: Ders.: Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Fünfte Abteilung. Zweiter Band. Berlin, New York: de Gruyter 1973, S. 319.

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Erregtheit, die dann im Wein, Malaga und rubinenen Kirschenwasser vollends berauschende Form annimmt. Eine Art innere Aufladung durchzieht als eine angespannte Leidenschaftlichkeit, in der das Gegenteil schon angelegt sein mag, die Beschwörung all dieses üppigen Treibens und Gedeihens in diesem Garten in diesem Sommer, als würde der Schrecken vom Anfang immerfort auch die lebendige Fülle des Gartens weiterhin durchdringen und das Ich, trotz aller Verlockung durch dessen paradiesisch anmutende Freuden, mit einer untergründigen Furcht vor jenem Abgrund kalten Erkennens umtreiben. Es kann daher kaum erstaunen, dass in der Apostrophe, als Anrede eines weiterhin abwesenden Du, nun unversehens erneut jener melancholische Ton erinnerter Vergänglichkeit hervorbricht, der unserem Gedicht ja von Anfang an eingeschrieben war: Weißt du noch: all die Pfauenaugen, so viele, die an den abgefallnen, verrotteten Früchten sogen und taumelten? Und auch ein Trauermantel wehte, finsterer Sammet, gülden umsäumt, blau beperlt ...

Ist es nicht vor allem ebenjener modernde Untergrund von Verfall und Fäulnis, aus dem sich die taumelnde Lust der schönen Falter gespeist hatte, der hier wiederum zur Sprache gebracht und gemeinsamer Erinnerung zugänglich gemacht werden soll? Hofft das Ich hier nicht gerade auf eine Anteilnahme, eine Ansprechbarkeit des Du, die ihm helfen könnte, genau diesen abermaligen Schrecken einer Wahrnehmung, die in den Abgrund zu ziehen droht, zu tragen und zu ertragen? Liegt nicht eben in dieser Rückblende auf eine gemeinsame Vergangenheitserfahrung, in diesem Weißt du noch? zugleich eine Vorausschau auf das, was nach einem Später mit reifen Früchten, den rotflammigen Äpfeln und goldgrünen Pflaumen, kommen muss? Schönheit des Schmetterlings und Todesverderbnis durchdringen einander in den hier gezeichneten Bildern. Schön ist auch der Falter mit dem beziehungsreichen Namen Trauermantel, gülden umsäumt, blau beperlt ..., schön und doch finster. So wie die abgefallenen Früchte in Fortführung der mit der Synekdoche des gilbenden Blattes verbundenen Vorstellung des Herbstlichen die nachsommerliche Zeit des Welkens, Absterbens, Vergehens erinnern lassen, so verweist die Metapher des Schmetterlingsnamens auf die Aspekte von Trauer und Verlust. Es ist, als würde sich in der Bezeichnung dieses Falters ein dunkler Flor (finsterer Sammet) wie eine kaum greifbare Mahnung (wehte) über all den zuvor aufgeführten fiebrigen Gelüsten ausbreiten. Die Zeitebenen sind in der lyrischen Rede dieses Gedichts längst nicht mehr deutlich voneinander geschieden. Das Vergangene weist bereits ins Zukünftige und die erwartete Zukunft scheint schon von der Erinnerung an die Vergangenheit eingeholt. Die Idylle, die sich mit dem Titel »Garten im Sommer« erwarten lässt, wird nicht nur in der Verneinung des ersten Verses von Anfang an infrage gestellt, sondern erhält im Fortlauf der ersten Strophe einen sich

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weiterhin verdunkelnden Unterton. Die antizipierte heile Welt dieses Gartens durchzieht ein Riss, durch den es bedrohlich hereinströmt. Die Kehrseite der Schönheit von Falter und Vogel – einer Schönheit, die noch in der gelungenen Alliteration ihren klanglich-harmonischen Ausdruck findet – besteht in wilder Plünderung dessen, was noch gar nicht reif war, oder in einem bewusstlosen Taumel rauschhafter Sättigung an schon Verderbendem. Vor allem anderen scheint es ebendieser Riss zu sein, über den sich das Ich in der Beschwörung gemeinsamer Erinnerung mit dem Du verständigen möchte, wobei das Thema noch nicht zu Ende geführt ist, wie die drei Auslassungspunkte am Versende zu verstehen geben. Allein auch diesmal geht die Anrede des Ich an jenes abwesende Du, geht die Apostrophe, die ohne Antwort bleibt, ins Leere. Etwas bleibt da weiterhin stumm, kann nicht zur Sprache gebracht werden. Stattdessen eine Art weitere tänzerische Bewegung, wie wir sie bislang als charakteristisch für die Dynamik dieser Strophe erkannt haben. Eine weitere Wendung, eine neue Drehung, ein anderes Bild. Abermals kehren wir zurück in die Gegenwart des Gedichts, in der nun aufs Neue das Fest des Lebens im sommerlichen Garten gepriesen wird: O die Rose! Sie duftet ... Gestern noch wollte sie Knospe bleiben; Nun schloss Nacht sie auf, dass sie blühe, die scheue, errötende, und sie scheint glücklich ... Du Geliebter, im Traum der Hummeln und Bienen muß solch unberührt schwebender alabasterner Becher glühn. Du fragst mich, ob Bienen und Hummeln träumen? Sicher träumen sie, wenn sie in jener rahmweißen Schwertel schlummern, kindlich von süßer schaumiger Bienenmilch. Aber Steinhummeln sind die schönsten, summend in warmen schwarz und fuchsigen Pelzen ... Was blickst du auf einmal seltsam mich an und lächelst? War ich bleich schimmernd in Mitternächten dir berauschender Kelch? Dir Milch, dir Wein, goldbrauner Malaga, rubinenes Kirschenwasser? Schweig. Ich lege die atmende Hand auf deine Lippen ...

Blüten und Bienen, Rosenduft und Bienenmilch, Nacht und Traum, Milch und Wein. Es ist eine machtvolle Symbolik mit vielfachen Reminiszenzen, die von der Dichterin mit dem Bild dieser Rose sowie dem Traum der Hummeln und Bienen in das Gedicht eingeführt wird. Welche Einflüsse auch immer Kolmar selbst für ihr Werk geltend gemacht hat oder aber anderweitig dafür geltend gemacht werden möchten, eine Affinität zum Symbolismus des fin de siècle ist in diesen Versen der ersten Strophe unverkennbar.34 34

In einem Brief an den Cousin Walter Benjamin hat Gertrud Kolmar selbst die Einflüsse insbesondere der französischen Lyrik angeführt, die sich auf sie ausgewirkt haben könnten. So erwähnt sie in diesem Kontext Leconte de Lisle, Paul Valéry, Verlaine, Rimbaud, aber auch Milton aus dem englischsprachigen Raum und vor al-

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»Es ist, als wüsste jede Stelle von allen. So sehr nimmt sie teil.« Mit diesen Worten hat der Dichter Rainer Maria Rilke einmal das Ideal reiner artistischer Perfektion beschrieben. Dabei sorge jede Stelle auf ihre Weise für das Gleichgewicht des ganzen Gebildes und stelle es her, »wie das ganze Bild schließlich die Wirklichkeit im Gleichgewicht hält«.35 Auch in Kolmars Gedicht ergibt sich jede Form aus der vorhergehenden, führt in die nächste und steht doch mit allen gleichzeitig in einem geheimen Zusammenhang. Die Rose duftet, ein alabasterner Becher schwebt unberührt und glüht, Schwertel und Kelch betören und berauschen mit Lebenselixieren unterschiedlicher Art. Bienen und Hummeln träumen und ein Ich erinnert sich wie im Traum. In nachgerade tänzerischer Virtuosität vollzieht die Dichterin in diesen Versen eine symbolische Verwandlungskette, die alle »grundlegenden Aspekte« der Form – Blume, Schwert, Kelch – durchläuft.36 Eine Verdichtung

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lem den deutschen Dichter Rainer Maria Rilke. Vgl. Brief an Walter Benjamin vom 5.11.1934. In: Kolmar, Briefe (wie Anm. 8), S. 168. Gleichwohl ist in der KolmarForschung wiederholt von Einflüssen Baudelaires und Mallarmés ausgegangen worden, Dichtern, zu denen sie sich selber nie explizit geäußert hat. Dabei lassen intertextuelle Untersuchungen durchaus auf deren Kenntnisnahme durch Kolmar schließen. Inwiefern aber von einer ausdrücklichen, gar noch kritischen poetologischen Auseinandersetzung Kolmars mit ihnen ausgegangen werden kann, wäre eine noch weiterhin zu diskutierende Frage. Eine Untersuchung dichterischer Korrespondenzen zwischen Rilke und Kolmar wäre da nach meiner Ansicht besonders aufschlussreich. Diesen Dichter hat Kolmar nachweislich geschätzt und viel gelesen. So mögen sich ihr auch über Rilke poetologische Auseinandersetzungen mit dem Symbolismus mitgeteilt haben. Entsprechendes gilt für Paul Valéry. Vgl. Kolmar, Briefe (wie Anm. 8), S. 72. Vgl. auch: Bayerdörfer, Die Sinnlichkeit des Widerlichen (wie Kap. 1.1, Anm. 11), S. 44–61 sowie Monika B. Schenker: Die Dichterin als Lumpensammlerin. Spuren Baudelaires in Kolmars Gedicht die ›Lumpensammlerin‹. In: Heidy Margrit Müller (Hg.): Klangkristalle. Rubinene Lieder. Studien zur Lyrik Gertud Kolmars. Bern: Peter Lang AG 1996, S. 26–49. Auch Kathy Zarnegin und besonders dann Silke Nowak verweisen auf diesen Zusammenhang. Des Weiteren sei hierzu ebenfalls auf meine Ausführungen in Kapitel 1.2 verwiesen. Zarnegin, Tierische Träume (wie Kap. 1.1, Anm. 15), inbesondere S. 26f. Nowak, Sprechende Bilder (wie Anm. 32), insbesondere S. 108ff. Rainer Maria Rilke: Brief an Clara Rilke vom 22. Oktober 1907. In: Rainer Maria Rilke: Briefe in zwei Bänden. 1. Bd: 1897–1914. Hg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Karl Altheim. Wiesbaden: Insel 1950, S. 217. Vgl. dazu auch folgende Bemerkung Mallarmés: »Die Tänzerin ist ›keine Frau, die tanzt‹, aus zwei verschiedenen Gründen: sie ›ist keine Frau‹, sondern eine Metapher, die in sich einen der grundlegenden Aspekte unserer Form, Schwert, Kelch, Blume, usw., zusammenfasst, und ›sie tanzt nicht‹, sondern deutet wie ein Wunder durch verkürzte oder schwungvolle Bewegungsabläufe mit körperlicher Schrift an, wozu – wollte man es niederschreiben – ganze Absätze in dialogischer und beschreibender Prosa nötig wären: ein Gedicht von jeglichen Schriftzeichen befreit.« (Stéphane Mallarmé: »Crayonné au Théâtre«. In: Oeuvres complètes, texte ètablie et annoté

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und Komplexität stellt sich her, die immer wieder fasziniert und neue, weitere Lesarten evoziert, ohne ihr inneres Geheimnis jemals zur Gänze zu offenbaren. Und während diese Sprachmagie für den bezauberten Leser ein nie sich erschöpfender Quell und Gewinn sein mag, so bedeutet es für die Textanalyse eine hohe Herausforderung, das kunstvolle Gewebe in seiner Dichte und Vielfalt zwar möglichst genau nachzuvollziehen und zu reflektieren, ohne es jedoch in Einzelteile zu zerreißen und damit zu zerstören. Noch einmal also die Rose, als wäre das nach den ins herbstlich Vergängliche weisenden Versen zuvor kaum noch erwartet worden. Nun aber steht sie da, in voller Blüte, und wird damit zum tragenden Symbol der ersten Strophe, zugleich ein Gegengewicht bildend gegen den Sog der Synekdoche des gilbenden Blattes wie auch gegen die morbide Lust der taumelnden Falter. Und wie noch mit jeder Rose, so wird auch mit dieser ein altes poetisches Bild für die Liebe und die Kunst zur Sprache gebracht.37 Denn ganz im Sinne dessen, was wir bislang über das Verhältnis von Tanz und Dichtung und ihre unablässigen dynamischen Wandlungen festgestellt haben, können wir in diesem Erblühen der Rose auch eine lyrische Chiffre für die Entfaltung des künstlerischen Prozesses sehen, der das Gedicht – ein Gedicht wie eine Rose – schafft.38 In ihrem Blühen präsentiert sich diese Rose in einem Allaugenblick vollkommener Gegenwärtigkeit, scheu und glücklich, gleichsam in zarten Farben errötend, von Leben und Atem durchflossen.39 Morgenfrisch und duftend haftet ihr nichts Welkes, Herbstliches an.

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38

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par Henri Mondor et George Jean-Aubry. Paris 1945, S. 304.) Zitiert nach Anmerkungen zu »Die Seele und der Tanz«. In: Valéry, Eupalinos (wie Anm. 31), S. 121f. Hans-Werner Ludwig bemerkt, dass »die Rosenmetapher [...] gewiss eine der am meisten strapazierten, wenn nicht inzwischen die abgenutzteste Metapher der abendländischen Dichtung« sei. Er fährt fort: »Denn [...] die Neuigkeit der dichterischen Aussage liegt ja nicht in der Wahl des Bildfeldes als solchem – dies wird vielmehr von jedem erfahrenen Leser sogleich als traditionell erkannt und auf die literarische Reihe früherer ›Rosengedichte‹ bezogen; das Neue liegt vielmehr in der kunstvollkünstlichen Variation des Bildfeldes und seiner Kombination mit anderen. In der Rezeption solcher Texte verbindet sich das Vergnügen über die Wiederentdeckung des Bekannten mit dem Überraschungseffekt des Neuen, Unerwarteten.« HansWerner Ludwig: Arbeitsbuch Lyrikanalyse. Tübingen: Gunter Narr 1994, S. 182f. Gertrud Kolmar hat außer in einem Gedichtzyklus mit Rosensonetten die Rosenmetapher auch ansonsten häufig in ihrer Dichtung und Prosa verwendet. Vgl. BILD DER ROSE. EIN BEET SONETTE. In: LW, Gedichte 1927–1937, S. 323–343. Yoko Yamaguchi zufolge beschreibt das »Symbol der Rose« nicht allein die Blume, sondern ist zugleich auch »Symbol der Dichtung«. Dabei bringen ihr zufolge die »sich verwandelnden und auf die Rose bezogenen Bilder«, die in »optischer und akustischer Verbindung stehen«, die Verwandlungsmöglichkeiten der Dichtung zum Ausdruck. Vgl. Yamaguchi, Tanz als poetisches Mittel (wie Anm. 12), S. 73f. »Dann sage ich Rose«, lässt Gertrud Kolmar in ihrer 1939/40 verfassten Erzählung »Susanna« die gleichnamige Protagonistin sagen. Woraufhin die Erzählerin kommentiert: »Und ich sah die Regung, der Hauch ihrer Lippen blühte, zart, mit betau-

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Gleichzeitig mit ihrem Erblühen aber werden wir in einen Bereich des Nächtlichen wie auch des Träumerischen hineingeführt. Denn mit ihrer Wahrnehmung setzt auch ein Reflexionsvorgang über ihre Verwandlungen innerhalb der Zeit ein. Wollte sie gestern noch Knospe bleiben, so schloss Nacht sie nun auf und hat sie ins Blühen gebracht. Von der rein gegenwärtigen Präsenz ihres Blühens wird sich damit sogleich wieder abgewandt in einen Bereich von Nacht, der wiederum solche lebendigen Wunder erst schaffen geholfen hat. Seit jeher gilt die Nacht den Dichtern als ein Raum der besonderen Wahrnehmung. Die Nacht streift des Weibes Hüllen und der Seele Gewänder ab, wird Kolmar selbst wenige Monate später in ihrem Drama mit dem Titel NACHT schreiben.40 Das Dunkel der Nacht erst erzeugt einen Bereich des Schutzes und der besonderen Intimität, in dem Hüllen fallen, Geheimnisse sich offenbaren können. In nächtlicher Verborgenheit mögen Liebende zueinanderfinden, mag sich die Knospe schließlich zur vollen Blüte öffnen. Es ist auch eine Entjungferungsmetaphorik, die in dieser Weise zur Sprache gebracht wird. Die Nacht schließt auf, was vorher zu war und sich nun errötend, scheu und glücklich duftend geöffnet hat. Sie duftet ... Was wäre eine Rose ohne Duft? Wenn es ein Zeichen von Lebendigkeit und Präsenz gibt, dann ist es dieser Duft, der einem lebendigen Atem entspricht. Ein Odem, der die Sinne öffnet und damit zugleich ein erotisches Konnotationsspektrum, das sich im Träumen der Hummeln und Bienen weiterhin entfalten wird, um dann in Mitternächten das Ich und das Du mit zu ergreifen. Und als hätte das Ich mit dieser Rückbesinnung auf die Rose und die Nacht gleichsam das eigene knospende Gefühl zum Erblühen gebracht, wird das Du jetzt als ein Geliebter angesprochen, mit dem gemeinsam über Traum und Träumen zu sprechen wäre. Der Vorgang des Schlummerns und Träumens wird nun allerdings in allegorischer Weise auf die Hummeln und Bienen verschoben, die nach Mutmaßung des Ich zwar nicht mehr von einer Rose als solcher träumen, in deren Traum aber ein unberührt schwebender alabasterner Becher glühn müsse. Eine Phantasie, die allein das Ich selbst betrifft und die den Insekten im eigentlichen, direkten Wortsinn nur angedichtet wird. Überdies scheint es keineswegs sicher zu sein, ob das Du sich in das ihm in dieser Weise präsentierte Imaginäre überhaupt mit einbeziehen ließe. Eine Unsicherheit, die das Ich umzutreiben scheint, wenn es jetzt meint diesen Geliebten fragen zu hören, ob Bienen und Hummeln denn überhaupt träumen, wobei es zugleich – wie um jeden Zweifel auszuräumen – behauptet: Sicher träumen sie. In diesen Träumen wiederum wird das konkrete Symbol der blühenden Rose verwandelt in die abstrakte Form eines steinernen Bechers, der einerseits als

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ten, atmenden Blättern, mit wunderbarem Duft. Rose.« Kolmar, Susanna (wie Kap. 1.1, Anm. 1), S. 13. Gertrud Kolmar: NACHT. Dramatische Legende in vier Aufzügen. In: Dramen (wie Kap. 1.1, Anm. 1), S. 101.

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unberührt schwebend vorgestellt wird, zugleich in seinem Glühen aber das Begehren der träumenden Insekten sowohl aufscheinen lässt als auch weiterhin anzulocken scheint. Ein Glühen, das unterschwellig fortdauert und wieder zu Licht und Flamme entfacht, mithin aus der Zurückgenommenheit in allgemeiner, reduzierter Form aufs Neue in die pulsierende Fülle dichterischer Belebung geführt zu werden vermag. Doch noch ist es ein verborgenes Glühn, das sich aus ungekannten Tierträumen speist und jenen Becher – unberührt und schwebend – zu einem zwar sehr begehrten, gleichwohl nicht wirklich fassbaren Objekt der Begierde werden lässt. Eine sinnliche Lust nach einem kindlichen Aufgehobensein und Genährtwerden spricht sich in diesen Träumen aus. Wenig später ist es denn auch schon kein Becher mehr, sondern eine rahmweiße Schwertel, die als nährende Spenderin kindlicher Träume gilt, womit zugleich die sich verjüngende Form eines Kelches evoziert wird, wie er einige Verse darauf als berauschender Kelch dann benannt werden wird. In gewisser Weise entspricht der poetische Zustand dem Geschehen des Traumes.41 Beides gleicht sich sowohl in der Nähe zum Unbewussten als auch in der Herstellung einer manifesten Bildsprache, die auf ein Unsagbares hinweist. Mithin spricht auch die Dichterin Gertrud Kolmar in ihren Briefen wie in ihrem poetischen Werk wiederholt vom Träumen und Sinnen als notwendiger Voraussetzung des eigenen dichterischen Schaffens. Stets geht es dabei um einen Rückzug vom Alltagsgeschehen und die konzentrierte Versenkung in ein inneres Geschehen, aus dem sich dann die poetischen Visionen und Bilder entwickeln. Dabei waren ihr nach eigener Auskunft die Nacht- und Morgenstunden am ergiebigsten, manchmal auch der Abend, doch nur dann, »wenn ich mich nicht zu abgespannt fühlte, so auch der Winternachmittag, der ja schon Abend ist«, erklärt sie in einem Brief an die Schwester und ergänzt: »untertags habe ich kaum etwas schaffen können, selbst dann nicht, wenn ich, wie in der Sommerfrische, reichlich Zeit genug dazu hatte.«42 Zuweilen beschreibt sie die Entstehung eines Gedichts auch als Schwangerschaft, als etwas, das in ihr wächst, sich allmählich entwickelt, dem sie in jenen zurückgezogenen, hoch konzentrierten Stunden Stück für Stück zum Werden verhilft.43 Ein anderes Mal wiederum äußert sie sich angesichts eines 41

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Eine Analogie zwischen dem »All der Poesie« und dem »All des Traumes« stellt auch Paul Valéry fest. Allerdings wehrt er sich zugleich gegen die »bedauerliche Vermengung der Begriffe Poesie und Traum« und grenzt damit das sich aus poetischer Erregung entwickelnde bewusste Bezugssystem von der Zufälligkeit des Traumes auch wieder ab. Gleichwohl geht er beim Traum wie bei der Poesie davon aus, dass beide uns »das vertraute Beispiel einer in sich geschlossenen Welt« geben, »wo alle wirklichen Dinge dargestellt sein können, wo aber alle Dinge allein durch die Abwandlungen unserer tieferen Sensibilität verändert erscheinen.« Valéry, Dichtkunst und abstraktes Denken (wie Anm. 9), S. 13f. Kolmar, Briefe (wie Anm. 8), S. 66. Ebd., S. 50.

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solchen Schaffensprozesses selbst als gespannt darauf, was wird, »fast so, als wäre ich an dem Entstehen des Neuen gar nicht beteiligt. Und es ist ja auch etwas, was ›über einen kommt‹ ...«.44 Bei dieser Art Träumen geht es mitnichten nur um eine harmlose, verspielte Träumerei. Vielmehr wird damit eine höchst konzentrierte Tätigkeit bezeichnet, die dem Tagesgeschehen entfernt und ungewohnt zwar, gleichwohl von außerordentlicher Gestaltungskraft ist. Wenn wir nun darauf zurückgreifen, dass sich sogar Sigmund Freud im Verfahren seiner psychoanalytisch orientierten Traumdeutung allegorischer Vorgehensweisen bedient hat, um Strukturen des Unbewussten darstellbar zu machen, so scheint mir zur Sichtbarmachung eines Verborgenen hier im Gedicht insbesondere seine Überlegung hilfreich, dass die Verdichtungsarbeit des Traumes eben gerade dort am greifbarsten sei, wo sie »Worte und Namen« zu ihren Objekten gewählt habe.45 Worte würden vom Traum »überhaupt häufig wie Dinge behandelt«, wobei diese dann auch dieselben Zusammensetzungen wie die Dingvorstellungen erführen. »Komische und seltsame Wortschöpfungen« seien – so Freud – schließlich das Ergebnis solcher Träume«.46 Dabei erachtet er gerade solche paradoxen Wortbildungen, die sich im Traum scheinbar zufällig zusammenfinden, keineswegs als sinnlos, sondern diese könnten »den schönsten und sinnreichsten Dichterspruch ergeben«.47 Auch auf Kolmars Gedicht übertragen lässt sich eine solche seltsame Wortschöpfung feststellen: Bienenmilch. Ein Neologismus, der Ungewöhnliches zusammenbringt und paradox anmutet. Bienen saugen Nektar und produzieren Honig. Milch und Honig erwecken Assoziationen an eine paradiesische Lust. In rahmweißer Schwertel träumen sie von Bienenmilch. Eben nicht nur von Milch und nicht schon von Honig. Mithin stellt das Kompositum einen Signifikanten für etwas viel Ursprünglicheres, gleichsam Reineres dar, wie ja auch der Becher unberührt schwebt, die Insekten kindlich davon träumen. Bienenmilch. Wir lesen darin zugleich eine Metonymie für etwas, was als eine Art Urnahrung, die frischer und ursprünglicher kaum sein könnte, jenem Bereich des Träumerischen, noch Unbewussten entstammt. In der ungewöhnlichen Wortschöpfung erkennen wir aber dennoch auch den bewussten dichterischen Akt, der hier nun deutlich die reine Traumebene übersteigt. Darauf werden wir an späterer Stelle noch genauer zu sprechen kommen. Hier sei fürs 44 45

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Ebd., S. 69. Sigrid Weigel: Die Lektüre, die an die Stelle der Übersetzung tritt – Zur psychoanalytischen Entstellung von Sprachmagie und Allegorie. In: Dies., Entstellte Ähnlichkeit (wie Kap. 1.2, Anm. 99), S. 97f. Sigmund Freud: Die Traumdeutung (1900). Studienausgabe. Band II. Frankfurt am Main: Fischer 2000, S. 297. Ebd., S. 281. Auch Derrida geht in seinen Überlegungen zu Freud davon aus, dass der »bildhafte Inhalt« der Träume als eine »wirkliche Schrift« zu verstehen sei; dass sich in diesem eine »Ökonomie der Sprache« darstelle, die »sicherlich einen Diskurs« zusammenfasse. Derrida, Freud und der Schauplatz der Schrift (wie Kap. 3, Anm. 19), S. 333.

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Erste nur festgestellt, dass mit dem Konnotationsspektrum dieser Bienenmilch eine deutliche Opposition zu jenen verrottenden Äpfeln hergestellt wird, von denen der Rausch der Falter – wir erinnern uns – vormals genährt war. »Ihr Gesumm sprach mir irgendwie von all dem Grünen, Blühenden, Wachsenden, Fruchttragenden« wird Kolmar im September 1940 sehnsüchtig an ihre Schwester schreiben, nachdem sie zwei Bienen an einer blühenden Pflanze auf dem Balkon ihrer Stadtwohnung beobachtet hatte.48 Etwas Heiteres, Freundliches geht von diesem Gesumm aus in bedrückender Zeit. Ebenso wandelt sich im Gedicht in der Vergegenwärtigung des Traumes der Hummeln und Bienen in Gelöstheit, ja Heiterkeit, was zuvor in der Erinnerung an Vogel und Falter noch bedrohlich und finster gewesen war: Aber Steinhummeln sind die schönsten, summend in warmen schwarz und fuchsigen Pelzen ...

Mit diesen Steinhummeln, die in ihren schwarz und fuchsigen Pelzen durchaus Reminiszenzen an Tänzerinnen wecken, wird im Gedicht nun abermals eine dynamische Figuration aufgerufen. Dass Bienen als Tänzerinnen gelten können, die in ihrem Schweben von Blüte zu Blüte auf der Suche nach »der Süßigkeit eines Saftes« vergleichbar dem Dichter sind, der in der konzentrierten Suche des dichterischen Prozesses unter allen grundlegenden Formen jene eine Blüte des Gedichts zu finden trachtet, hat ein weiteres Mal Paul Valéry in »Die Seele und der Tanz« anschaulich gemacht. Allein in solcher Leichtigkeit eines nachgerade träumerischen Schwebens von Blüte zu Blüte, von Form zu Form ließe sich der »goldene Faden« fassen, der dem Entstehen der Idee zu folgen imstande wäre und deren lebendige Wahrheit in Sprache umzusetzen verstünde, »bis zu dieser ein wenig abseits blühenden Rose«. 49 Lesen wir den Namen Steinhummeln in diesem Zusammenhang außerdem noch metonymisch, so scheinen diese gleichsam einem Steinernen zu entschweben und in neuer Wachheit – poetischen Gedanken gleich – summend umherzufliegen. Ihr Summen aber ist der erste und einzige Ton, den wir außer der Stimme des Ich in der gesamten ersten Strophe vernehmen. Ein warmes, dunkles Vibrato, beruhigend, vielleicht sogar einschläfernd, eine lebendige, freundliche Sommermusik, wortlos, doch fast schon ein Lied, dessen inneres Ertönen das Ich dieser Verse vielleicht überhaupt erst ins Träumen gebracht hat. Als würde sich mit dem Summen der Steinhummeln, die damit jetzt aufs Neue in eine Bewegung von Tanz und Lied hineingeraten, zugleich auch eine weitere Wandlung in der Konstellation von Ich und Du vollziehen: –x –xx – : Du Geliebter, im Traum.

48 49

Kolmar, Briefe (wie Anm. 8), S. 72. Valéry, Die Seele und der Tanz (wie Anm. 31), S. 26.

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Wieder hören wir auch hier jene kleine rhythmische Sequenz, die wie ein geheimer Herzschlag nun die Vorstellung eines Geliebten hervorbringt. Durch den übergreifenden Versfuß, der sich dadurch ergibt, erweist sich schließlich abermals die Lesart als aufschlussreich, dass der zur Sprache gebrachte, den Hummeln und Bienen zugeschriebene Traum eigentlich einen Traum des Ich meint, das hier von seinem Geliebten träumt: Was blickst du auf einmal seltsam mich an und lächelst? War ich bleich schimmernd in Mitternächten dir berauschender Kelch? Dir Milch, dir Wein, goldbrauner Malaga, rubinenes Kirschenwasser? Schweig. Ich lege die atmende Hand auf deine Lippen ...

Wenn der Geliebte schon nicht bei den verrottenden Früchten einer erinnerten Vergangenheit, noch bei den noch unreifen in der Gegenwart des Gedichts zu finden ist, wenn schließlich ein Später ganz ungewiss ist, dann wenigstens mag er jetzt in einem Traum, der sich aus der Erinnerung nährt, noch einmal Wirklichkeit werden. Dieser Geliebte scheint für das Ich dieser Verse nun zunehmend präsent zu werden: Es hört ihn fragen, fühlt sich angeblickt, sieht ihn lächeln, spricht ihn an und erinnert sich selber als ein einstmals begehrtes Objekt für dieses Du. Dabei überträgt das Ich die Symbolik eines Gefäßes, das mit lebensnährenden wie lebenssteigernden Elixieren gefüllt war, nun auf sich selbst. So wird es gleichzeitig zum überströmenden Kelch und zum Getränk selbst, wird es zu Milch und Wein, zu Malaga und Kirschenwasser. Form und Inhalt werden hier eins, während der Kelch zugleich überfließt von mannigfacher Fülle. Eine Fülle, die sich verströmen möchte, die angenommen werden will, die nach Antwort verlangt. War ich dir? Es ist wohl mehr Wunsch als Gewissheit, den das Ich damit äußert. Ohne Bestätigung durch das Du muss sich die erinnerte Fülle ins Leere ergießen. Erst in der Antwort eines Du könnte es überhaupt die Erinnerung zweier Liebender werden. Liebende, wie sie der Dichter Rainer Maria Rilke, den Gertrud Kolmar überaus schätzte, in seiner Zweiten Duineser Elegie beschreibt: Wenn ihr einer dem andern/ euch an den Mund hebt und ansetzt –: Getränk an Getränk.50 Erst dann würde der Traum, der ja ein verborgenes Wünschen umfasst, sich vollends erfüllen. So wie die Hummeln und Bienen von Bienenmilch träumen, so könnten sich schließlich die Liebenden gegenseitig wie einen Becher einander an den Mund heben und jeder dem anderen zum Getränk werden. Dabei wären sie, wie der Literaturwissenschaftler Peter Szondi auf Rilke bezogen zu Recht bemerkt hat, »füreinander wie auch für sich selbst nur noch in dieser Weise da, nicht mehr als die beiden Menschen, die sich einander genähert haben«. Allein noch die Handlung des Trinkens bleibe erhalten, die Trinken50

Rainer Maria Rilke: Die Zweite Elegie. In: Ders.: Werke in drei Bänden. Erster Band: Gedicht-Zyklen. Frankfurt am Main: Insel 1991, S. 447.

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den selbst lösen sich auf, gehen ihrer Begegnung im Kuss verloren.51 Es ist eine hingerissene, selbstverlorene Vision, auf die auch in Kolmars Gedicht mit dem berauschenden Kelch angespielt wird. Indes erfahren wir von einer Entgegnung des Du, die eine solche Erfahrung bestätigen könnte, in diesen Versen nichts. Stattdessen legt sich die atmende Hand auf dessen Lippen und hält es zum Schweigen an. So bleibt es bei einer offenen Frage, die weder etwas darüber zu erkennen gibt, ob das Du dem Ich jemals ein entsprechender Kelch gewesen ist, noch, ob es selber von diesem Du in seinem Begehren als berauschendes Gefäß, das ein Vielfaches aus sich heraus zu verströmen und damit zu geben vermag, überhaupt wahrgenommen worden ist. 4.1.1 EXKURS: Schriftspuren. Ein uraltes Lied War ich in Mitternächten dir? Es geht allerdings sehr tief nun hinein in die Nacht, sehr weit zurück auch in der Zeit. In Mitternächten, wenn im Dunkel der Nacht alles bleich schimmernd, nur mehr schemenhaft wahrnehmbar ist. Mitternacht zeigt auch das nicht mehr Datierbare, im Unbestimmten sich Verlierende an. Erst recht, wenn es heißt: in Mitternächten. Der Plural registriert eine Wiederholung, die ein weiteres Mal ein Kontinuum fortlaufender Zeit in den Blick rückt, welches sich im Imperfekt des war in eine nachgerade phantasmatische vergangene Tiefe verliert, in seiner steten Wiederholbarkeit aber ein sich daraus ergebendes mögliches, allerdings rein imaginäres Später mit impliziert. Die Verschiebung des Liebesbegehrens auf die Hummeln und Bienen löst sich mit dieser Erkenntnis nun endgültig auf. Es ist das Ich, das in diesen Mitternächten seinen Geliebten sucht, der sich in dieser Dimension allerdings nun erst recht als einer des Traumes erweist. Doch wird in dieser Erinnerung an eine Begegnung mit dem Geliebten in nächtlicher Ferne zugleich für das Ich noch ein Anderes aktiviert, wird gleichzeitig tief Verschüttetes heraufgeholt und der Sprache zugeführt: War ich dir berauschender Kelch (–x –xx –), fragt jetzt dieses Ich. Wieder jenes geheime Versschema des Gedichts. Die Getränkemetaphorik, mit der sich der Kelch in der Erinnerung für das Ich gefüllt hatte, spielt nun allerdings auf einen ganz anderen, nur mehr schemenhaft noch schimmernden Kontext an. Denn mit diesem Milch und Wein, goldbraunen Malaga und rubinenes Kirschenwasser spendenden Kelch taucht wie aus dunkler Ferne unverkennbar der Text des Schir ha Schirim auf, jenes in der Bibel auch als Hohelied Salomos bezeichneten jüdischen Liebesliedes.52 51 52

Peter Szondi: Rilkes Duineser Elegien. In: Ders.: Das lyrische Drama des Fin de siècle. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 413. Schir ha Schirim heißt wörtlich aus dem Hebräischen übersetzt: Lied der Lieder. Diese Fügung ist superlativisch und bedeutet das größte, das schönste oder auch das reichste Lied. Martin Luther hat es daher mit »Das Hohelied« übersetzt. Karin Lo-

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Das »Lied der Lieder«, das zugleich außerdem das älteste Liebeslied ist, das wir in schriftlicher Überlieferung kennen. Ein bis heute von einzigartiger Aura durchdrungener Liebesdialog, in dem es schließlich – ganz im Sinne obiger Verse – so bezeichnend heißt: Dein Schoß – ein tiefer Kelch, dem der Würzwein nie fehle, (Kap. 7, Vers 3)53

Oder auch: Ich gäb dir zu trinken vom Würzwein, vom Saft meiner Granatfrüchte. (Kap. 8, Vers 2;)54

Woraufhin der Geliebte wiederum an anderer Stelle antworten wird: Wie gut – deine Zärtlichkeiten mehr als Wein, und der Duft deiner Öle mehr als alles Gewürz. Honig fließt von deinen Lippen, Braut, Honig und Milch unter deiner Zunge, (Kap. 4, Vers 10–11)

Und wenig später: Ein behüteter Garten meine Schwester, Braut, (Kap. 4, Vers 12)55

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renz-Lindemann verweist in ihrem Essay ebenfalls auf diesen Zusammenhang mit dem Hohelied: »Es ist die Stimme des weiblichen Ich aus dem Gedicht ›Garten im Sommer‹. Sie sucht den Geliebten mit ihren Fragen wie Sulamith den Geliebten sucht, der von ihr sagt: ›Die du wohnst in den Gärten, lass mich deine Stimme hören‹.« Vgl. Lorenz-Lindemann, Der Verszyklus ›Welten‹ (wie Kap. 1.1, Anm. 16), S. 79. Des Weiteren erkennt ebenfalls Monika Shafi einen Zusammenhang zum Hohelied, den sie vor allem vermittelt über das Gedicht »Sehnsucht« in spiegelbildlicher Ergänzung zu »Garten im Sommer« hergestellt sieht. Vgl. Shafi, Gertrud Kolmar. Eine Einführung ins das Werk (wie Kap. 1.1, Anm. 2), S. 174f. Zitiert nach Klaus Reichert: Das Hohelied Salomos. Übersetzt, transkribiert und kommentiert von Klaus Reichert. Salzburg, Wien: Residenz 1996, S. 65. Ebd., S. 73. Ebd., S. 43. Reichert macht zu seiner Übersetzung hier folgende erklärende Anmerkung: »Ein behüteter Garten: kaum eine Stelle des Hohenliedes ist so bildprägend geworden wie dieser Garten, den die Vulgata mit ›hortus conclusus‹ übersetzt hat, [...]. Aber in der ›harten Fügung‹ des Originals stehen die Ausdrücke grammatisch unverbunden, parallel, nicht als Vergleich, nicht als Ineins, und ›meine Schwester Braut‹ könnte eben auch als Invokation gelesen werden. ›Hart gefügt‹ hat die Stelle

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Bienenmilch. Noch eine weitere Lesbarkeit der Metonymie findet sich in dieser Rückbeziehung auf das Hohelied, wobei ein Exkurs ins Hebräische dabei hilfreich sein mag.56 Der flüssige, noch nicht verarbeitete Wabenhonig, von den meisten Übersetzern mit dem veralteten Begriff Seim oder auch »Honigseim« ins Deutsche übertragen, kann im Hebräischen – wenn auch unüblich – mit einem anderen Wort bezeichnet werden als der gemeinhin feste Honig.57 So bezeichnet »nofet« ebendiesen noch flüssigen, direkt von der Blüte kommenden Nektar, während »dvash« dann jenen Honig meint, wie wir ihn gemeinhin

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57

etwas Schwebendes. Das mit ›behütet‹ übersetzte Verb heißt eigentlich ›(mit einem Riemen) zubinden‹ – eine Gartentür, ein Gatter, eine Sandale. Was (temporär) zugebunden ist, kann auch wieder aufgebunden werden – es hat nicht die Schroffheit des Verschlossenen.« Vgl. auch ebd., S. 111. In der Torczyner-Bibel heißt es in Georg Salzheimers Übersetzung »Der Lieder Sang« von Vers 11 aus Kapitel 4: Seim träufeln deine Lippen, Braut, Und Honig und Milch an deiner Zunge [...]. Buber/Rosenzweig hingegen wählen die Worte: Seim träufen deine Lippen, Braut, Honig und Milch sind unter deiner Zunge [...]. Luther wiederum übersetzt hier: Deine Lippen, meine Braut, sind wie triefender Honigseim; Honig und Milch ist unter deiner Zunge [...]. Seim, Honigseim – Worte, die kaum noch gekannt werden und in gewisser Weise gestelzt, antiquiert wirken. Demgegenüber scheint mir die von Klaus Reichert gewählte Übersetzung die weitaus gelungere. Im Übrigen zeigen die unterschiedlichen Übersetzungsbeispiele hier eindrucksvoll, wie anders Luther ins Deutsche überträgt. Während sich alle anderen hier aufgeführten Zitate offenbar in Wortwahl und Sprachrhythmus dem hebräischen Original anzunähern suchen, unternimmt Luther es, dieses in möglichst fließendes Deutsch umzuwandeln. Vgl. Torczyner: Der Lieder Sang, übersetzt von Georg Salzberger. In: Die Heilige Schrift neu ins Deutsche übertragen, herausgegeben von Harry Torczyner. Frankfurt am Main: J. Kauffmann 1937. Vgl. Martin Buber: Der Gesang der Gesänge. In: Die Schriftwerke, verdeutscht von Martin Buber. Neubearbeitete Ausgabe. Köln: Jakob Hegner 1962. Zur Problematik des Versuchs von insbesondere Buber/Rosenzweig, die Authentizität des hebräischen Urtextes in ihrer Übersetzung gegenüber der vom ChristlichAbendländischen ausgehenden Verdeutschung Luthers wiederzubeleben vgl. auch den Aufsatz von Klaus Reichert: Zwischen den Sprachen. Buber und Rosenzweigs Bibelübersetzung. In: Eveline Goodman-Thau und Fania Oz-Salzberger (Hg.): Das jüdische Erbe Europas. Krise der Kultur im Spannungsfeld von Tradition, Geschichte und Identität. Berlin, Wien: Philo 2005, S. 93–105. In seinen Anmerkungen zur Übersetzung führt Reichert aus: »Honig ... Honig: im Hebräischen zwei verschiedene Wörter, das erste wird meist mit ›Honigseim‹ übersetzt, gemeint ist der flüssige aus der Wabe tropfende Honig.« Reichert, Das Hohelied Salomos (wie Anm. 53), S. 110.

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kennen. »Chalav« aber als Milch kommt im Jüdischen darüber hinaus eine hohe Symbolkraft als lebendige Urnahrung und Stoff des Lebens selbst zu.58 Zwar wissen wir nicht, inwieweit Kolmars Hebräischkenntnisse zur Zeit der Niederschrift von »Garten im Sommer« ausreichten, um den Bibeltext im Original zu rezipieren. Doch wissen wir, wie sie in einem Brief vom 16. Dezember 1941 ihrer Schwester Hilde mitteilt, dass sie unter mehreren deutschen Fassungen außerdem eine hebräische Bibel besessen hat und diese mithilfe der deutschen Übersetzungen, insbesondere der 1937 von Torczyner herausgegebenen, des öfteren zu lesen unternommen hat.59 Kolmar könnte daher dieses »nofet« als sozusagen direkt von den Blüten kommendes, quellfrisches Produkt in der Metonymie Bienenmilch ins Gedicht übertragen haben. nofet titofnah sivtotajich – Bienenmilch fließt von deinen Lippen. Eine poetische Möglichkeit der Übersetzung des ursprünglichen Bibeltextes wäre damit angesprochen, welcher für das Lesen des Gedichtes durchaus der Charakter eines Schibboleths zukommt. Darauf werden wir noch zu sprechen kommen. Der Kelch könnte in eine neue Schwingung versetzt werden, sich erneut in die Fülle eines dichterischen Liedes verströmen. Kommen wir zurück zu »Garten im Sommer«. Wir fragen uns schließlich, ob es nicht vor allem jener über das uralte hebräische Lied des Schir ha Schirim sich vermittelnde Geliebte ist, der in der Apostrophe in nicht zu stillender Sehnsucht angerufen wird, dabei zur Projektionsfläche eines Begehrens werdend, das die im Gedicht sich ereignende, aktuelle Zeit zu überschreiten sucht, um eine andere Vision von Begegnung ins Sichtfeld zu rücken. Wird 58

59

Zu »dvash« und »nofet« vgl.: The New Brown, Driver, and Briggs Hebrew and English Lexicon of the Old Testament. Ed. by Francis Brown. Associated Publishers & Authors. Indiana/USA: Inc. Lafayette 1981 (Reprint of 1907 edition), S. 185, entry no. 1706 und S. 661, entry no. 5317. So schreibt Kolmar an die Schwester: »Du hast Dir eine Bibel gekauft – und ich besitze vier! Eine alte Lutherbibel vom Jahre 1854, [...] dann die, allerdings nicht vollständige, Bibel mit den Bildern und Randzeichnungen von Lilien, ferner die ganz neue handliche Dünndruckbibel (ohne neues Testament), die den Hebraisten der Universität Jerusalem, Professor Torczyner zum verantwortlichen Herausgeber hat und vermutlich auch den zuverlässigsten deutschen Text bietet. [...] Ich selbst aber greife, wenn ich in meiner hebräischen Bibel – denn die besitze ich auch noch – lesen will und dabei eine Übersetzungshilfe brauche, stets wieder zum Torczyner.« Vgl. Kolmar, Briefe (wie Anm. 8), S. 105 und S. 106. Ich habe mich bei meinen Zitaten aus dem Hohelied dennoch nicht auf den von Torczyner herausgegebenen Bibeltext bezogen, sondern auf die meiner Ansicht nach in besonderer Weise um den Originaltext bemühten Übertragungen aus dem Hebräischen von Klaus Reichert. Sein Ansatz, »die alten Buchstaben mit den Sinnen neu zu lesen«, »nachzufühlen, nachzuhorchen, was sie sagen, wie sie es sagen«, scheint mir dabei der lyrischen Vorgehensweise Kolmars besonders nahe zu kommen. Vgl. Reichert, Das Hohelied Salomos (wie Anm. 53), S. 12. Gelegentlich werde ich andere Übersetzungen, insbesondere die der Torczyner-Bibel und die ebenfalls um besondere Wortgenauigkeit bemühte von Buber/Rosenzweig, sowie hin und wieder auch die Lutherbibel, ergänzend hinzuziehen.

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hier nicht in Anrede des Du ein Liebesdialog erinnert, wie er schöner kaum je gestaltet worden ist?60 Ein Dialog, in dem sich Frau und Mann als autonome, sich gegenseitig begehrende Subjekte erfahren, in einem stets sich erneuernden Zwiegesang von Anrufung und Antwort, Antwort und Anrufung, einem steten Hin- und Her, unablässig sich wiederholend, ins Offene und in der Wiederholung auch Unendliche weisend, mithin so den Tod überwindend: Denn stark wie der Tod ist die Liebe. (Kap. 8, Vers 6)61

Dabei wird die Liebe sowohl im Gedicht als auch im Hohelied mit dem sinnlich beglückenden Genuss von Milch, Honig und Wein verglichen, ja die Geliebte selbst wird im Schir ha Schirim mit einem behüteten, verriegelten oder gar verschlossenen Garten in eins gesetzt.62 Entsprechend ist im Lied der Lieder das Begehren der Liebenden mehr als reine Triebhaftigkeit, bedarf es vielmehr der gelungenen Kultivierung des durch die Natur Hervorgebrachten (Most, Wein, Honig, Milch, Früchte), damit die Liebe sich erfüllen und Begegnung glücken kann. Es ist ebendiese Zügelung der rohen Leidenschaften und deren Umwandlung in einen feinsinnigeren Genuss von Schönheit und Sinnenfreude, die das Ich und dessen Traum-Geliebten von der räuberischen Lust des Buntspechts und dem »dionysischen« Taumel der Schmetterlinge unterscheidet.63 60

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Ich bin hier – die religiöse Exegese außer Acht lassend – mit Tim Schramm einer Auffassung, wenn er schreibt: »Thema aller acht Lieder ist tatsächlich und ganz ausschließlich die Liebe eines Paares – des Paares, das hier bald monologisch, bald im Dialog spricht.« Tim Schramm: Alt-Hebräische Lyrik. In: Heinz Hillmann und Peter Hühn (Hg.): Europäische Lyrik seit der Antike. 14 Vorlesungen. Hamburg: University Press 2005, S. 28. Vgl. Reichert, Das Hohelied Salomos (wie Anm. 53), S. 75. Von der Übersetzung dieser Passage des 12. Verses in Kapitel 4 liegen entsprechend unterschiedliche Versionen vor. Am bekanntesten ist die Übersetzung Martin Luthers: Meine Schwester, liebe Braut, du bist ein verschlossener Garten. In der von Torczyner herausgegebenen Bibel heißt es: Verschlossener Garten bist du, Schwester, Braut. Martin Buber übersetzt demgegenüber: Ein verriegelter Garten ist meine Schwester-Braut. Bei Moses Mendelssohn heißt es gar: Ein wohlverwahrter Garten.[Hervorhebungen F. H.] Vgl. dazu auch Reichert, Das Hohelied Salomos (wie Anm. 53), S. 111. Wie bei Nietzsche veranschaulicht: »Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so tun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie

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Mithin erkennen wir in der Metonymie dieser Bienenmilch jenes Schibboleth, das uns den Zugang zum Anderen des Gedichts eröffnen hilft.64 Zugleich verlassen wir damit den symbolistischen Kontext, von dem Kolmars Rosenmetaphorik bislang mit bestimmt war. Anstelle von schöner Form, Ich-haftem Rausch und tänzerischem Um-sich-selber-Drehen, wie es noch im Blühen der Rose sowie im kindlichen Träumen und Summen der Bienen zur Geltung gebracht worden war, bringt die Rückblende auf das alte hebräische Lied nun stattdessen eine Gegenseitigkeit ins Spiel, über die sich die Schönheiten der Liebe noch einmal auf ganz andere Weise herstellen und mitteilen lassen. Hier, im Schir ha Schirim, bedingen Ich und Du sich gegenseitig. Erst im Du-Sagen wird das Ich sich seiner Liebe gewahr, erst im Sprechen des Ich entsteht ein Du. Es ist auch diese Auffassung einer dialogischen Form liebender Verwirklichung, die Kolmar mit der Re-Lektüre des Hohelied im Gedicht aufs Neue aufruft. »Gedichte sind Daseinsentwürfe«, hat Paul Celan einmal gesagt, »nicht bewusste, sondern zwischen Bewusstlos und Bewusst zustande kommende Entwürfe«.65 – Den Hypotext des Schir ha Schirim als eine Schwelle erkennend, die es wahrzunehmen und zu überschreiten gilt, wären diese Verse aus der ersten Strophe in Gertrud Kolmars Gedicht als Entwurf einer Begegnung von Ich und Du zu lesen, der in der Anspielung auf dieses wohl berühmteste Liebeslied jüdischer Überlieferung in einen eigenen Kontext weist und dem Erkennen der dumpfen Todverfallenheit kreatürlicher Existenz vom Anfang des Gedichts ein Anderes entgegenzusetzen sucht.66 Es wird mithin die Möglichkeit eines Du

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65 66

des Rausches gebracht wird.« Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie oder: Griechentum und Pessimismus. In: Ders.: Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Dritte Abteilung. Erster Band. Berlin, New York: de Gruyter 1972, S. 24. Mit dem Begriff des Schibboleth greife ich einen Gedankengang Derridas auf, den dieser im Zusammenhang mit seiner Celan-Studie entwickelt hat. Das hebräische Wort Schibboleth, das bereits die Bibel im Buch Richter, Kapitel 12, Vers 5–6 nennt, meint ein Losungs- oder Schwellenwort, das einen Grenzübergang markiert. Dabei ist nicht allein seine Kenntnis, sondern zugleich seine adäquate Performanz von entscheidender Bedeutung für das Überschreiten zur anderen Seite hin. In dieser Weise handelt es sich nach Derrida um ein »verschlüsseltes Zeichen«, das man mit dem Anderen »teilen können« muss, um durchgelassen und eines Zugangs teilhaftig zu werden. Vgl. Derrida, Schibboleth (wie Kap. 3, Anm. 29), S. 59. Celan, Der Meridian. Materialien. Atem (wie Kap. 3, Anm. 2), S. 120. Ich verwende hier den Begriff »Hypotext« im Sinne von Gérard Genettes Intertextualitätstheorie. Seine Definition einer »Anspielung« als »einer Aussage, deren volles Verständnis das Erkennen einer Beziehung zwischen ihr und einer anderen voraussetzt, auf die sich diese oder jene Wendung des Textes bezieht«, lässt sich dabei auf Kolmars Gedicht in diesem Zusammenhang genau anwenden. Genette, Palimpseste (wie Kap. 1.3, Anm. 155), S. 10. Derrida spricht in diesem Zusammenhang von einer »Vielgestaltigkeit der Sprachen«. Eine solche »Schwelle« begreift er dabei als einen »Ort«, von dem her sich »praktisch und pragmatisch die Bündnisse knüpfen, die Kontrakte, die Codes und Konventionen sich etablieren, welche dem Bedeutungs-losen Bedeutung geben, die Losungswörter instituieren, die Sprache zu dem hinformen, was über sie hinausgeht, die aus ihr einen Gestus, eine Gebärde des

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erinnert, das vormals zur Antwort fähig war und in dessen Anrufung und Erhörung dem Schauder des Todes ein Rettendes entgegenzutreten vermochte. Die biblische Überlieferung wird in dieser Weise zum bewahrenden Hypotext eines Begehrens, das mit dem Komm des dritten Verses bereits eingeleitet worden war. Dabei kann dieses Komm schon als ein erstes Zitat aus dem Schir ha Schirim gelesen werden, in dem es ja heißt: Komm, mein Liebster, lass uns hinausziehn ins Feld. (Kap. 7, Vers 12)

Oder auch: Da komme mein Liebster, der zärtliche, in seinen Garten und esse seine köstliche Frucht. (Kap. 4, Vers 16)67

Es scheint überflüssig, hier noch die rotflammigen Äpfel oder goldgrünen Pflaumen aus Kolmars Gedicht zu erwähnen. Besonders deutlich aber wird diese Verwobenheit der verschiedenen Texturen mit jener »seltsamen Wortschöpfung« Bienenmilch. Die mit ihm gegebene Öffnung auf das im Gedichttext verborgene Andere kann sich allerdings erst erschließen, wenn der zugrunde liegende anderssprachige Text mitgelesen wird. Dieser Zusammenhang ließe sich zudem noch erweitern, heißt doch »Lippe« im Hebräischen zugleich auch »Sprache«.68 Mithin können wir Bienenmilch als ein Erzeugnis sowohl der Lippen als auch als eines der Sprache ansehen. Lippen, Atem, Sprache. Jedes Sprechen, jeder dichterische Vorgang beginnt so. Auch liegen Küssen und Sprechen nach dieser Lesart nah beieinander. Die Möglichkeit einer Sprache wird evoziert, die sein könnte wie eine Liebkosung oder wie ein Liebestrank, von dem nun nicht mehr Hummeln und Bienen sicher träumen, sondern das Ich selbst. Schließlich ist es auch kaum wichtig – wie der profilierte Übersetzer dieses Textes aus dem Hebräischen Klaus Reichert treffend bemerkt hat –, ob hier Liebende sich wirklich ansingen mit »autonomer Stimme« oder »ob einer, ob eine, die Liebe träumt«. Die phantastische Radikalität solcher Liebe hebe solche Unterscheidungen auf, deshalb »lassen sich die Bilder und Vergleiche auch als Traumsequenzen lesen«.69 Traum und Wirklichkeit gleiten in dieser Weise im Schir ha Schirim wie auch in Kolmars Gedicht auf mehreren Ebenen ineinander. Und während jene »Stimme in Tätigkeit« uns im Gedicht, einer tänzerischen Darbietung gleich,

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Schreitens machen, sie auf eine sekundäre Ebene heben oder sie von sich stoßen, um sie wiederzufinden.« Vgl. dazu Derrida, Schibboleth (Anm. 64), S. 63f. Reichert, Das Hohelied Salomos (wie Anm. 53), S. 69 und S. 45. Derrida, Schibboleth (wie Anm. 64), S. 50. Vgl. dazu Klaus Reicherts Ausführungen in: Reichert, Das Hohelied Salomos (wie Anm. 53), S. 9.

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auf dieses alte Liebeslied hingeführt hat, erkennen wir nun, dass die Figur der Apostrophe, die sich an einen »Geliebten im Traum« gerichtet hatte, eigentlich die Adressierung eines verborgenen Textes meint. Bienenmilch. Ein Wort, das ein Traumgeschehen zugleich speist und transzendiert. Ein Wort, das von alters her erwacht ist und eine neue Lebendigkeit erweckt, einen Übergang aufzeigend auf eine verborgene, andere Sprache hin, die – um es noch ein weiteres Mal mit Derrida zu sagen – »genauso gut eine erste Sprache« sein könnte, »die Sprache des Morgens, die ursprüngliche Sprache, die vom Herzen und aus dem Herzen und aus dem Osten spricht«.70 Erst mit der Re-Lektüre dieses in Mitternächten verlorenen, aus ferner Vergangenheit hervorschimmernden Textes würde das eigene Wünschen und Wollen für dieses Ich vielleicht überhaupt sagbar werden können. Die in ihrem Anspielungscharakter exoterische Struktur dieser letzten Verse der ersten Strophe markiert so gesehen zugleich eine Schwelle, bei deren Überschreiten die darin verborgene esoterische Rede der Sehnsucht nach einer abhanden gekommenen Sprache, die auf einer anderen Form von Dialogizität gegründet wäre, hervorzutreten vermag.71 Nein, dieses Ich ist weder genäschig noch hungrig, wie Falter und Vogel zuvor, wie vielleicht sogar auch noch die Hummeln und Bienen im Traum. Das Begehren, von dem diese Stimme eines Ich in dieser ersten Strophe von »Garten im Sommer« umgetrieben wird, ist auf ein Anderes gerichtet. Eine andere Sprache, ein anderes Du. Etwas, das uns Wendung um Wendung in die tieferen Schichten des Gedichts hineingeführt hat. Dreh dich, dreh dich, du Shulamith, dreh dich, dreh dich, wir wollen dich sehn. (Kap. 7, Vers 1)72 70 71

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Derrida, Schibboleth (wie Anm. 64), S. 50. Meiner Ansicht nach wird Kolmars Re-Lektüre des nur mehr schemenhaft verfügbaren Textes ein weiteres Mal von einem Wünschen geleitet, das sie bereits in dem zu Beginn der dreißiger Jahre entstanden Gedicht »Die Jüdin« mit den Versen ausgedrückt hat: Ich möchte eine Forscherreise rüsten In mein eigenes uraltes Land. Dabei geht es um ein Eigenes, das in dieser Weise gar nicht mehr verfügbar sein kann. Zur Sprache kommen vielmehr die Bewegungen dieser Suche sowie ein Begehren, das diese stets wieder neu in Gang setzt. Erwähnenswert wäre in diesem Zusammenhang zudem, dass anders als in Kolmars Gedicht, in welchem das Du stets abwesend bleibt, gerade im Schir ha Schirim die Anwesenheit des Geliebten oder der Geliebten – wie Julia Kristeva hervorgehoben hat – zwar stets vorübergehend flüchtig und doch von der Gewissheit beständiger Wiederkehr getragen ist, dass mithin »keinerlei Ungewissheit über die Existenz desjenigen, der geliebt wird und liebt« bestehe. Vgl. Julia Kristeva: Ein heiliger Wahn. Er und sie. In: Dies.: Geschichten von der Liebe. Frankfurt am Main: Suhrkamp1989, S. 101. Reichert, Das Hohelied Salomos (wie Anm. 53), S. 65.

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Diese Verse lesen wir ebenfalls im Schir ha Schirim. Auch hier wird ein tänzerisches Drehen und Wenden in einem Freudentanz des Sinnenglücks und Liebesbegehren zur Sprache gebracht. Es mag weit ausgeholt erscheinen, doch zeigt sich für mich in dieser Weise ein weiteres Mal, wie sehr die Textur dieses Liedes bis in die innere Dynamik des poetischen Vorgangs hinein mit der Textur von Kolmars Gedicht auf das Kunstvollste verwoben worden ist. »Die liebende Sulamith ist die erste souveräne Frau vor ihrem Geliebten«, erklärt Julia Kristeva. Als eine Hymne auf die Paarliebe trete der »Judaismus« damit als eine erste Befreiung der Frauen hervor: »Der Frauen als Subjekte begriffen: liebend und sprechend.«73 Es bedeutet durchaus etwas, dass in der Rückbesinnung auf die jüdische Überlieferung entsprechende Muster für ein weibliches Ich bereits vorfindbar sind. Das verschollene Eigene, das mit dem alten Text wieder aufzusuchen unternommen wird, lässt dieses zugleich als eine Quelle neuer, ersehnter Möglichkeiten von Gleichwertigkeit und Gleichrangigkeit im Liebesstreben erscheinen. Das aus jüdischer Überlieferung erinnerte Lied wird auch in dieser Weise für die Dichterin zu einer zurückliegenden Schrift, die Teil der eigenen Schrift im Gedicht wird. Indem die Liebenden des Hohelied in ihrem gegenseitigen Begehren »großmütig auf ein Du« zugehen, erhalten ihre Sehnsucht und ihr Verlangen in der Selbstvergessenheit ihrer Zuwendung zugleich eine Transzendenz, die sich dem Unendlichen nähert.74 Es geht mithin auch um eine Differenz, die bleibt, ja die jene Spannung eigentlich erst erzeugt, aus der heraus das Begehren und das Sagen eines Ich und eines Du als beglückend erlebt werden können. Es gilt, wie Lévinas es sagt, »mit dem Unfassbaren in Beziehung zu treten und zugleich seinen Status als eines Unfassbaren zu gewährleisten«.75 Ein Raum öffnet sich, in dem die Liebe sich ereignen und wie ein wohlgehüteter Garten 73 74

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Kristeva, Ein heiliger Wahn (wie Anm. 71), S. 90f. Vgl. dazu Emmanuel Lévinas: Rätsel und Phänomen. In: Ders.: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg, München: Alber 1999, S. 258. Des Weiteren erklärt Lévinas: »Dies ist das Begehren: von einem anderen Feuer verzehrt werden als dem des Bedürfnisses, das die Sättigung löscht; über das hinaus denken, was man denkt. Wegen dieses nicht assimilierbaren Zuwachses, wegen dieses Jenseits, haben wir die Beziehung, die das Ich mit dem Anderen verbindet, Idee des Unendlichen genannt.« Lévinas geht mit diesem Begriff eines Anderen noch über Bubers Vorstellung des Dialogischen hinaus, denn dieser Andere schließt zugleich das Inkommensurable, Unsagbare mit ein. Vgl. ebd., S. 225. Ebd. Dieses Denken Lévinas’ kommentiert der Philosoph Ephraim Meir mit den Worten: »Die Forderung zur ethischen Offenheit, weit erhoben über jeglicher Anwesenheit bei sich selbst, ist das dire (Sagen), das niemals adäquat in einem dit (Gesagte) erfasst werden kann.« Mir scheint um ein solches unablässiges Sagen geht es auch im Schir ha Schirim. Vgl. Ephraim Meir: Modernes Jüdisches Denken. Fuldatal: Atelea 1996, S. 68.

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gedeihen kann, wobei die Durchdringung des »Sensitiven mit dem Signifikanten«, des Körperlichen mit dem Sprachlichen in diesem Urtext eines Liebesliedes einen erotischen Zauber erzeugt, der in der Weltliteratur seinesgleichen sucht und der noch in den Versen von Kolmars Gedicht spürbar wird.76 Zugleich knüpft die Dichterin von »Garten im Sommer« in dieser Weise an eine Tradition an, die bereits für die Herkunft des Schir ha Schirim bestimmend gewesen ist. Nach Auskunft Klaus Reicherts handelt es sich bei dem aus der Bibel überlieferten Lied, das sich in den Übersetzungen so »glatt und wie aus einem Atem liest«, eher um einen »vielstimmigen Klangkörper«, mit »Echos von etwas, dessen Herkunft verloren ist«; liegt damit ein Text vor, der im Original eher mit einem »zusammengestückelten Gefäß« zu vergleichen sei, »in dem die Bruchstellen sichtbar sind«. Was sich aber erhalten habe, sei alles andere »als ein karges Dokument archaischer Frühe – es lässt die Pracht und den Glanz einer hochentwickelten Kultur ahnen«.77 Es ist auch diese Kultur, in die sich Kolmar mit ihrer Anspielung im Gedicht einbezieht, der sie vielleicht sogar eine weitere Scherbe hinzufügt. Ein weiteres Mal geht es eben auch um »Asien«, jenen Ort, dem sich die Dichterin in ihrem WELTEN-Zyklus aufs Neue zuzuschreiben sucht und dem dieses alte Lied entstammt, dessen unterschiedliche sprachliche Strömungen noch in ihm enthalten sind.78 Hier, in »Garten im Sommer«, ist es der Hypotext des Schir ha Schirim, der diese Funktion der Herschreibung aus einem Anderen für die Dichterin übernimmt.79 Schweig’. Ich lege die atmende Hand auf deine Lippen ...

Ein plötzlicher Abbruch, ein abruptes Innehalten trifft uns in diesem letzten Vers der ersten Strophe. Alle tänzerische Bewegung kommt nun zu einem Stillstand. Zugleich erfahren wir von einem Paradox: Es ist eine atmende Hand, die sich auf deine Lippen legt, die eigentlich atmen müssten, von denen wir aber nichts Derartiges erfahren. Eine Leerstelle, die signifikant ist. 76 77 78

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Vgl. Kristeva, Ein heiliger Wahn (wie Anm. 71), S. 92. Reichert, Das Hohelied Salomos (wie Anm. 53), S. 8. Vgl. dazu auch meine Ausführungen in Kapitel 1.4, in dem Kolmars Suche nach dem »Asiatischen« thematisiert wird. Klaus Reichert bemerkt: »[...] denn ins Hebräische sind aramäische Elemente eingestreut, Persisches, ein griechisches Wort, und bei manchem Wort weiß man überhaupt nicht, was es heißt, und versucht irgendeine arabische Analogie heranzuziehen«. Vgl. Reichert, Das Hohelied Salomos (wie Anm. 53), S. 8. Hier ist zudem erwähnenswert, dass das Schir ha Schirim darüber hinaus schon seit jeher in jüdischer Dichtung eine wichtige Rolle spielte, wobei dies insbesondere in der synagogalen Dichtung des Mittelalters, Piyyut genannt, zum Ausdruck kam. Kolmar knüpft also auch in dieser Hinsicht an eine verborgene Tradition an. Siehe dazu auch Leopold Zunz: Die synagogale Poesie des Mittelalters. Zweite nach dem Handexemplar des Verfassers berichtigte und durch Quellennachweise und Register vermehrte Auflage. Frankfurt am Main: J. Kauffmann 1920, S. 63f.

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4 In der Spur des Anderen: Das Gedicht »Garten im Sommer«

Den mein Atem liebt (Kap. 1, Vers 7) heißt es gleich zu Beginn des Hohelied.80 Auch dieses Mal mag ein Exkurs in das Hebräische hilfreich sein. Es ist das hebräische Wort »nephesch«, das in diesem Fall mit »Atem« übersetzt worden ist und das nach Auskunft des »Hebräischen und Aramäischen Lexikons zum Alten Testament« von der ursprünglichen Bedeutung »Atemhauch« auch zu »Verlangen, Seele, Leben, Selbst« erweitert werden kann. Der Sitz von »nephesch« aber »ist das Blut.«81 Dieser Kontext wirft allerdings einiges Licht auf die Synekdoche der atmenden Hand in Kolmars Gedicht, die damit auch als eine vom Leben durchströmte, beseelte Hand gelesen werden kann. In der Dynamik der poetischen Stimme eines Ich auf ein angerufenes, gleichwohl abwesendes Du hin, die mit den fiebrigen Zehen ihren Ausgang genommen hatte und sich im Summen der Hummeln und Bienen auf einen Geliebten im Traum zubewegt hatte, hatte sich zu guter Letzt in der Re-Lektüre des alten jüdischen Liebeslieds die Leerstelle im Sagen des Du zusehends mit Leben gefüllt. Zwar nur mehr mitternächtlich schemenhaft, gleichsam traumverloren, doch als ein vorhandener Text immer noch präsent, hatte sich das Ich in seiner Rückerinnerung daran eine neue Lebendigkeit erschrieben. Die atmende Hand, in der nicht mehr ein fiebrig übersteigertes Begehren zurückgehalten werden muss, sondern die in neuer Beseelung von Leben durchströmt ist, kann nun eine Geste konkreter Berührung auf dieses Du hin vollziehen. Diese atmende Hand, die vielleicht auch eine schreibende Hand ist, legt sich auf deine Lippen ... – drei Auslassungspunkte angefügt. Es ist genau diese Geste des Handauflegens, die erneut in die Wirklichkeit gegenwärtiger Zeit im Gedicht zurückführt. In der konkreten Vergegenwärtigung kommen Sprechen und Träumen an ein Ende. Die Stimme, die auch eine innere Stimme, ein innerer Dialog mit einem imaginären Du gewesen sein mag und die bislang das poetische Geschehen in Gang gehalten hatte, wird zum Schweigen angehalten: Schweig’. Die Lippen dieses Gegenübers gehören allerdings einer anderen Wirklichkeit an. Die paradoxe Verdrehung von atmender Hand und nichts sagenden Lippen legt die Vermutung nahe, dass dieses Du, was nun in einer abermaligen Transfiguration dem Ich im Abschluss dieser ersten Strophe entgegentritt, weder von Atem und Stimme noch von Sprache oder Liebkosung erfüllt ist. Von diesem Du wird wohl keine Antwort mehr zu erwarten sein. Zu schweigen von Bienenmilch. Es ist in der Tat ein sehr weiter Raum, den wir mit dieser ersten Strophe von »Garten im Sommer« durchschritten haben. Ein tänzerischer und träumerischer Prozess durchdrang sich gegenseitig und hat uns sukzessive eingeführt in die tieferen Schichten des Gedichts. Mit den Auslassungspunkten am Ende der 80 81

Reichert, Das Hohelied Salomos (wie Anm. 53), S. 17. Diese Information habe ich Klaus Reicherts Kommentar zum Hohelied entnommen. Ebd., S. 91.

4.1 Die erste Strophe: Tanz und Traum

127

Strophe aber kommt uns auch wieder das gilbende Blatt vom Anfang in den Sinn: Gar nichts anderes war’s – Nur ein gilbendes Blatt – Du Geliebter, im Traum – ( –x/–xx/–).

Dreimal in Folge dieses inzwischen wohlbekannte Versschema.82 So ist in dieser Lesart kaum mehr sicher zu unterscheiden, ob der Geliebte nicht vor allem als einer des Traumes oder – wenn man so will – auch als eine Vision aus Sehnsucht und Verlangen zu verstehen ist, flüchtig, davontreibend, vergehend wie jenes gilbende Blatt, das zitternd in das Wasser herabfällt. Gar nichts anderes war’s – es ist möglicherweise auch dieses Phantasma des Unwirklichen, Sich-Entziehenden, von dem in dieser ersten Strophe des Gedichts Mitteilung gemacht werden soll. Zweifellos ist es in dieser ersten Strophe wiederholt und nicht zu verkennen ein gilbendes Blatt, von dem das Ereignis des Gedichts seinen Ausgang nimmt und auf das alles Geschehen immer wieder – nachgerade tänzerisch kreisförmig – zurückzubeziehen ist. Dennoch bleibt fürs Erste ebenfalls der Eindruck vom Beginn eines Gesanges und seines Gegengesanges, von einer Dynamik der Konstruktion wie einer der Destruktion, wird die hymnische Preisung der Fülle sommerlichen Gedeihens im melancholisch-dunklen Thema von Vergänglichkeit und Todverfallenheit gebrochen, wird dieser Schrecken wiederum in der Preisung des blühenden, früchtetragenden Gartens sowie der Beschwörung der glücklichen Hingabe Liebender aneinander übertönt. Es ist vor allem auch dieses Oszillieren zwischen Melancholie und Jubel, das in dieser ersten Strophe von »Garten im Sommer« in seinen Bann zieht und auf den Fortgang des Gedichts einstimmt.

82

Gerade in diesem Kontext scheinen mir Peter Szondis Bemerkungen über den Text als Textur des Wortes besonders zutreffend: »[...] da der Text Textur des Wortes ist, fügt die Interpretation ihm nichts Fremdes hinzu, wenn sie versucht, das WortGewebe zu beschreiben. [...] zugleich gilt es, darauf zu achten, dass diese Verbindungen im Text auf eine eher musikalische als diskursive Weise realisiert sind [...].« Von dieser musikalischen Realisation, in unserem Fall der Entsprechung der drei Verssequenzen, geraten wir nun allerdings aufgrund ihrer Verwobenheit in die Textur des Gedichtes zu einer semantischen Bezogenheit, die wiederum diskursiv zu betrachten wäre. Peter Szondi: Durch die Enge geführt. In: Ders.: Celan-Studien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 59.

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4 In der Spur des Anderen: Das Gedicht »Garten im Sommer« Das ist ein Hinaustreten aus dem Menschlichen, ein Sichhinausbegeben in einen dem Menschlichen zugewandten und unheimlichen Bereich – ... (zitiert nach Paul Celans Büchnerpreisrede)

4.2

Die zweite Strophe: Mortifikationen

Die zweite Strophe von Kolmars Gedicht markiert einen Bruch und zugleich einen Übergang auf etwas, das mit dem fallenden Blatt in den Eingangsversen des Gedichts bereits eingeleitet worden war. Man könnte auch sagen, den Visionen und Träumen folgt nun die Ernüchterung bei Tagesbeginn, wobei sich das Ich jetzt in kühler Brise am Ufer des Weihers wiederfindet: Morgenwind. Leise schauernde Halme. Feuchte. Und ein winziger reglos hockender Frosch, der aus grüner Bronze geformt ist. Und eine Seejungfer, stahlblau mit gläsernen Flügeln, Sirrt dahin. Mich fröstelt ... Weiden wie badende Fraun neigen die Stirnen, fahlblond rieselndes Haar dem Teich

Eine einsame, kalte Landschaft. Alles ist anders in dieser zweiten Strophe. War die erste lang und weitschweifig, ist diese ausgesprochen kurz. Wurden in der ersten Strophe alle Zeitebenen durchschritten, so ist die zweite Strophe allein im Präsens gehalten. War die erste Strophe von einer fiebrig erregten Dynamik bestimmt, so erfahren wir jetzt von Schauern und Frösteln im Morgenwind. Statt der warmen Farben Rot, Gelb oder Goldgülden nun entsprechend der Nähe zum Wasser die Farbgebung von Blau und Grün, der in ihrer metallischen Verhärtung (stahlblau, grüne Bronze) zugleich etwas Plastisches, Dinghaftes anhaftet, das in seiner harten Form der tänzerischen Dynamik der ersten Strophe wiederum ganz entgegengesetzt ist. Kälte und Erstarrung kennzeichnen diese gesamte Szenerie am Teich. Von dem Ich erfahren wir nichts, als dass diesem fröstelt. Kein Du wird mehr angerufen und begehrt. Nur mehr ein winziger Frosch, der reglos am Ufer hockt und eine Libelle mit dem vielsagenden Namen Seejungfer, die stahlblau und gläsern dahinsirrt, werden hier noch wahrgenommen.83 Auch in dieser Strophe geht es, wie zu Beginn der ersten Strophe, um ein Ereignis des Sehens. Ja, ich möchte behaupten, dass es in der Bewegungslosigkeit und dem Schweigen dieser Strophe, in der außer dem naturhaften Schauern der Halme, dem Rieseln der Blätter und schließlich dem Sirren einer 83

Libellen wurden volkstümlich auch gern als »Wasserjungfern« bezeichnet. Bei der »Seejungfer« handelt es sich wiederum um eine bestimmte Gattung der Libelle, deren Körper metallisch schimmert und deren gleichförmige, durchsichtige Flügel blau schillernde Flecken haben. Vgl. »Libellen«. In: DTV-Lexikon. Ein Konversationslexikon in 20 Bänden. Band 11. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1969, S. 204.

4.2 Die zweite Strophe: Mortifikationen

129

Seejungfer nichts weiter zu vernehmen ist, im Eigentlichen nur noch um die Wahrnehmungsweise des Sehens geht. Wie ein Bild, das von außen betrachtet wird. Frosch wie Libelle sind Tiere, die im Wasser ihren Ursprung haben, die im und am Wasser leben und die, indem sie sich vom Wasser- zum Landwesen wandeln, eine Metamorphose zu durchlaufen haben. Dem Frosch als Amphibium kommt dabei auch weiterhin eine Zwienatur zwischen den beiden Elementen zu, während die Libelle wiederum noch zusätzlich der luftigen Sphäre angehört. Kolmars Vorliebe für derartige Tiere aus den Grenzbereichen zwischen den Elementen ist in der Exegese des Werks häufiger hervorgehoben worden, wie auch der Begriff der Metamorphose für viele ihrer Gedichte als aufschlussreich angesehen wird.84 Gehört zu einer Metamorphose immer auch ein Prozess der Verwandlung innerhalb zeitlicher Kontinuität, so steht bei den Stadien echter Metamorphose dennoch nicht allein die »Kreation neuer Wesen«, sondern auch »das Identische im Zentrum«, muss das Neue, das Andere bereits in Larve, Ei oder Kern angelegt sein.85 Dies gilt durchaus auch im übertragenen Sinn. Denn im verschwimmenden, umsponnenen Grenzbereich zwischen Land und Wasser wohnen nicht allein Amphibien und Insekten, sondern siedeln auch die Mythen und Märchen, locken die Fabelwesen, Seejungfern und an späterer Stelle im Gedicht dann der Wassermann. Zeugt der winzige Frosch als amphibisches Tier von der Wandlungsfähigkeit reinen Wasserwesens zum Wasser- und Landtier, so lässt seine märchenhafte Einbindung dann bekanntermaßen noch auf Metamorphosen ganz anderer Art hoffen. In dieser zweiten Strophe des Gedichts allerdings ist er nicht nur winzig, sondern auch reglos, aus grüner Bronze geformt und dergestalt wahrgenommen kaum mehr möglicher Hoffnungsträger auf eine vielleicht doch noch märchenhaft anmutende Begegnung mit einem Prinzen, der vor allem wohl ein ansprechbares Du zu bedeuten hätte. Unmissverständlich gibt die Dichterin dieser Verse mit der Perfektform geformt ist zu verstehen, dass dieser Frosch bereits endgültig ins unbelebt Dinghafte eingearbeitet ist. Das Grün der Bronze verweist eben nicht auf das Grün des lebendigen Tiers, sondern auf eine Patina, deren Grün sich aus längst zurückliegender Vergangenheit auf der reglos bronzenen Form abgelagert hat. Entsprechend begegnet ebenfalls jene als Seejungfer bezeichnete Libellenart stahlblau und mit gläsernen Flügeln hier wie ein toter Gegenstand. Das dem Wasserbereich entstammende tierhafte Paar – Frosch wie Libelle – wird derge84

85

»Im Bestiarium der Dichterin nehmen die Amphibien einen hohen Rang ein«, erklärt beispielsweise Gert Mattenklott, wobei diese die »metamorphotischen Tiere par excellence« seien. Vgl. Mattenklott, Metaphorischer Schattenriss (wie Kap. 1.4, Anm. 194), S. 93. Vgl. Zarnegin, Tierische Träume (wie Anm. 34), S. 16.

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4 In der Spur des Anderen: Das Gedicht »Garten im Sommer«

stalt fixiert und festgeschrieben niemals mehr Hoffnungsträger einer Dynamik sein können, in der ein weibliches Ich in der Anrede eines männlichen Du eine neue, rettende Beseeltheit – auf die der Name Seejungfer ja noch hoffen lässt – gewinnen könnte oder, in der aus einem Frosch ein menschlicher Geliebter werden würde.86 Stattdessen sind sie in ihrer seltsamen Künstlichkeit zu entfremdeten Gegenständen verdinglicht, die von der Dichterin im Text gleichsam als mechanische Statisten einer Szenerie am Gartenteich spielzeug- oder automatengleich aufgeführt werden.87 »Sollen wir«, fragt Paul Celan in seiner berühmt gewordenen ›Meridianrede‹ zur Verleihung des Büchnerpreises 1960, »um es ganz konkret auszudrücken, vor allem – sagen wir Mallarmé – konsequent zu Ende denken?«88 Damit reflektiert er ebendiese Gefahr in der Kunst zur tödlichen Erstarrung im Künstlichen, Artifiziellen, die gerade jener »poésie pure« eines Mallarmé besonders innewohnen mag. Gleichwohl betrifft sie jede Kunst, wenn diese sich von ihrem eigentlichen Ort entfremdet, ist sie immer dort anzutreffen, wo es allein noch um die »Fragen der Kunst« geht, die reine kunstvolle Form im Zentrum des Interesses steht. Nur wenn Dichtung sich wieder als »Gestalt und Richtung und Atem« wahrnehme, könne sie ihren Ort als Dichtung wahren und sich aufs Neue freisetzen.89 In dieser Freisetzung eines Eigenen erst wäre eine Belebung überkommener Formen und Strukturen möglich, würde ein atmend Menschliches das ansonsten automatenhaft Bleibende neu beseelen können. In Gertrud Kolmars Versen dieser zweiten Gedichtstrophe hingegen bleibt alles in regloser Versteinerung fixiert. Hier kann weder ein altes deutsches Märchen wieder belebt, noch können die fabelhaften Erzählungen aus deutscher Sage und Dichtung einer weiteren Beseelung zugeführt werden. Der Blick der Dichterin auf die Figuren von

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Bekannt ist, dass Seejungfern sich durch die Liebe eines Menschmannes verwandeln und sowohl menschliche Gestalt als auch eine menschliche Seele gewinnen können, die sie allerdings bei Verlust der Liebe des Mannes auch wieder verlieren. Berühmte Beispiele über Verwandlungen dieser Art finden sich u. a. in Friedrich de la Motte Fouqués Erzählung »Undine« oder Hans Christian Andersens Märchen »Die Kleine Meerjungfrau«. Kolmar könnte sich bei ihrer verdinglichenden Gestaltung von Frosch und Seejungfer am Teich möglicherweise auch auf die zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Jugendstil völlig zur artifiziellen Chiffre geronnene Verwendung nixen- und nymphenhafter Wesen bezogen haben. Vgl. Jost Hermand: Undinen-Zauber. Zum Frauenbild des Jugendstils. In: Ders. (Hg.): Jugendstil. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971, S. 493. In dieser Rede spricht Paul Celan auf den Vorgang der Versteinerung durch das »Medusenhaupt« der Kunst an. Die Kunst bewahrt hier für ihn etwas Unheimliches, wie sie ja auch in der Künstlichkeit der Frosch- und Libellengestalt von Kolmars Gedicht etwas Unheimliches aufzeigt. Celan, Der Meridian. Endfassung. Vorstufen. Materialien (wie Anm. 65), S. 5. Ebd., S. 6.

4.2 Die zweite Strophe: Mortifikationen

131

märchenhaftem Frosch und libellenhafter Seejungfer bleibt ein entfremdeter, rein äußerlicher. Sinnentleerte Metaphern, die zu toten Objekten werden. Wenn in dieser zweiten Strophe irgendwelche Reminiszenzen an ein »Dinggedicht« zu erkennen sind, dann allein im Sinne einer leeren Präsenz dieser Dinge.90 Hier wird nicht mehr versucht, durch eine möglichst formvollendete Sprache das innere Geheimnis des jeweiligen Objektes zu umkreisen und in Schwingung zu versetzen. In diesen Objekten ist gar kein Geheimnis mehr vorhanden. Fröstelnd steht das Ich dieser Verse einer reinen Kunstwelt gegenüber, deren seelenlose Figurationen keinerlei Ansprache mehr zulassen. Als hätte ein versteinernder Blick, stahlblau und gläsern, alles Leben endgültig in starre Reglosigkeit verwandelt. Eine Unerlöstheit, die bleibt. Das vor allem ist das Unheimliche, das in diesen Versen mitgeteilt wird, die damit auch eine Gewissheit vermitteln, die mehr als alles andere Gefühle von Trauer und Verlust hervorrufen muss. Zugleich zeigt die zweite Strophe damit eine Zäsur an, mit der etwas endgültig abbricht, was zuvor in der ersten Strophe noch am Leben zu erhalten versucht worden war. Reglos – stahlblau – fahlblond. Drei Adjektive, die sowohl vom identischen Metrum her als auch aufgrund ihrer Semantik darauf schließen lassen, dass die Dichterin sie höchst bewusst in dieser Weise in die Textur des Gedichts eingefügt hat. Das wie aus Stahl hervorgetriebene Blau ist hart und tot, wie auch das fahle Blond ein trübes, glanzloses, bereits ins Graue changierendes Blond bezeichnet. Ich halte die Vermutung hier allerdings für naheliegend, dass in einer Zeit, in der »blauäugig« und »blond« sowie »stählerne Härte« in entmenschlichter Automatenhaftigkeit zur Kennzeichnung rassischer Überlegenheit missbraucht wurden, dieses reg- und leblose Stahlblau und Fahlblond einige Rückschlüsse auf die Wahrnehmungsweise der jüdischen Dichterin erlaubt. Was wir längst vermutet haben, bestätigt sich hier: Dem Schauern der Halme im Morgenwind entspricht das Frösteln des Ich, das nun gleichsam in kalter morgendlicher Ernüchterung in seiner Gegenwart mit diesem Gedicht angekommen ist. Der kurze, schrille i-Ton im sirrt dahin der Seejungfer zerschneidet noch zusätzlich wie quälender Misston die so entworfene Szenerie. Kein warmes freundliches Summen von Hummeln und Bienen wie noch in der ersten Strophe wird hier mehr gehört. Der einzige Ton dieser zweiten Strophe ist ebendieses Sirren. Ein hoher, die Stille zerreißender Ton. Dissonant, beunruhigend, aufstörend. Ein Ton, dessen Vibrieren dennoch das Ich – wenn auch mit einem Frösteln – zu affizieren vermag. Auch dieses Erzittern kann noch als eine »exzeptionel90

Zu diesem Aspekt vgl. die Ausführungen von Michael C. Eben: Rainer Maria Rilke and Gertrud Kolmar: ›Das Dinggedicht‹ – Two Poems (wie Kap. 1.1, Anm. 13), S. 633–636.

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4 In der Spur des Anderen: Das Gedicht »Garten im Sommer«

le Form der Erregtheit« aufgefasst werden, wie sie bereits in der ersten Strophe erfahren worden war, hier nun allerdings von dem konträren Affekt einer Kälteempfindung ausgelöst. Ein Erzittern, das auch dieses Mal die Dynamik des Gedichts vorantreibt, eine erneute Bewegung – wenn auch zum Wasser hin – in Gang setzt: Weiden wie badende Fraun neigen die Stirnen, fahlblond rieselndes Haar dem Teich.

Wenn wir uns Weiden am Ufer vergegenwärtigen, die ihre langen Zweige ins Wasser hängen lassen, so wird die Verknüpfung von Stämmen, die ihr fließendes Blattwerk dem Wasser zuneigen, mit der Vorstellung verwunschener, langhaariger, weiblicher Gestalten sehr nachvollziehbar, wobei Kolmar nicht die Erste wäre, die derartige dichterische Vergleiche entworfen hat. –91 Nach der Fiebrigkeit und Leidenschaft der ersten Strophe nun die in morgendlicher Kühle badenden Frauen, die ihr aufgelöstes Haar in den Weiher herabfallen lassen.92 Es ist auch ein erotisches Bild von gelöster Schwerelosigkeit, das mit diesen Weiden wie badende Fraun zunächst vor Augen gebracht wird.93 Doch ist es das Fahlblond der Haare, das diese Vorstellung einer idyllischen Badeszene wieder zunichte macht. 91

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So finden wir beispielsweise in dem Gedicht »Am Strom« von Josef von Eichendorff die Verse: [...] Verträumt die stillen Weiden hingen Hinab bis in die Wellen kühl. Die waren alle wie Sirenen Mit feuchtem, langen, grünen Haar, Und von der alten Zeit voll Sehen Sie sangen leis und wunderbar. [...] Anders als bei Eichendorff erfahren wir allerdings bei Kolmar von einem Singen der Weiden nichts. Auch ist das Haar der Weiden in diesem Gedicht grün und lebensvoll, während es bei Kolmar durch das Epitheton »fahlblond rieselndes« bereits von herbstlichem Welken gezeichnet dargestellt ist. Vgl. Joseph Freiherr von Eichendorff: Am Strom. In: Ders.: Werke und Schriften. Neue Gesamtausgabe der Werke und Schriften in vier Bänden. Erster Band. Gedichte. Epen. Dramen. Stuttgart: Cotta’sche Buchhandlung 1957, S. 254. Über die Bedeutung des »Haars« in Kolmars Gedichten lesen wir bei Kathy Zarnegin: »Die Haare, der natürliche Schmuck der Frau, sind in den Gedichten meistens farblich gekennzeichnet. [...] Berücksichtigt man, dass die Haare in der Sammlung nicht selten als blond vergegenwärtigt werden, dann könnte man in diesem Zusammenhang an eine Meerjungfrau, an ein amphibisches Wesen denken.« Vgl. Zarnegin, Tierische Träume (wie Anm. 34), S. 42f. Monika Schmitz-Emans bemerkt in ihrer Studie über Wasserfrauen und Elementargeister insbesondere zu diesem Themenkomplex: »Eros, Tod und Kunst als Themen erscheinen den Reichen der Unter- und der Wasserwelt besonders nahezustehen.«

4.2 Die zweite Strophe: Mortifikationen

133

Nur ein gilbendes Blatt – fahlblond rieselndes Haar. Der identische Rhythmus der beiden Verssequenzen lässt hier aufs Neue einen verborgenen Zusammenhang zwischen erster und zweiter Strophe des Gedichts in Schwingung geraten. Dabei zeigen beide Epitheta, gilbend wie auch fahlblond, eine Farbgebung an, die das Schwinden von Lebenskraft zum Ausdruck bringt. Abermals zieht hier der Rhythmus von Daktylen und Trochäen in eine Bewegung des Niedersinkens, sich dem Wasser Überlassenden, mit hinein. Diesmal nun nicht mehr in Gestalt eines einzelnen, sich vom Baum lösenden, gilbenden Blattes, sondern als ganzer Baum, als Weiden mithin, die wiederum badenden Frauen gleichen. Die Weide gilt allgemein als Schwellenbaum vom Land zum Wasser, wobei im Gedicht vermutlich auf die Trauerweide mit ihren herabhängenden Ästen angespielt wird. Die Rinde der Zweige dieser mit dem botanischen Namen ›Salix alba tristis‹ bezeichneten Weidenart aber ist gelb, und diese können daher, zudem bei beginnender gelblicher Herbstfärbung des ansonsten fahlen silbrigen Grüns der Blätter, leicht die Vorstellung fahlblond rieselnden Haar[s] erwecken. Ich bin der Baum der demütigen Klage. Weide. Diesen Vers hatte Gertrud Kolmar bereits wenige Jahre zuvor in dem Gedicht mit dem bezeichnenden Titel »Tänzerin I« aus dem Zyklus WEIBLICHES BILDNIS geschrieben.94 Mit der Weide verknüpft sich hier für die Tänzerin wie die Dichterin die Identifizierung mit einem Baum, der gleichermaßen für Demut wie für Klage steht. Auch in der zweiten Strophe des Gedichts »Garten im Sommer« scheint es schließlich eine Bewegung der Trauer und des Sich-Beugens zu sein, mit der die Weiden sich, badenden Frauen gleich, dem Wasser zuneigen. Verwunschene weibliche Gestalten – auf die ja bereits die Metaphorik des Namens Seejungfer hingewiesen hat –, in deren Neigen der Stirnen, in deren gleichsam schon dem Fließenden zugehörigen Rieseln des fahlblonden Haars eine melancholische wie tänzerische Geste beschrieben wird. Eine Gelöstheit wird darin mitgeteilt, welche die zuvor so unheilvolle Starre zu überwinden vermag, allerdings nur, indem sie sich einer Wendung ins Resignative, allein noch dem Wasser Zugewandte, überlässt. Weiden, die wie Frauen sind oder die vielleicht auch einmal Frauen gewesen sein können. Von Metamorphosen, möglichen wie unmöglichen, war schon verschiedentlich die Rede gewesen. Könnte es nicht sein, das sich hier nun bereits eine Art rückwärtsgewandte Metamorphose zu vollziehen scheint, die ins Vormalige, nicht zu Überwindende weist? Vielleicht – um ein weiteres Mal über das Gedicht als solches hinauszugehen – weisen diese Weiden wie badende Fraun sogar bis in die mythische Zeit

94

Vgl. Monika Schmitz-Emans: Wasserfrauen und Elementargeister. In: Hans-Georg Pott (Hg.): Liebe und Gesellschaft. Das Geschlecht der Musen. München: Wilhelm Fink 1997, S. 182. LW, Gedichte 1927–1937, S. 120.

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4 In der Spur des Anderen: Das Gedicht »Garten im Sommer«

der Antike zurück, in der Metamorphosen aller Art noch gang und gäbe waren, in der die Schranke zwischen »Mensch und Tier, Tier und Pflanze, Pflanze und unbelebter Natur« noch als überschreitbar galt.95 In seinen Dichtungen, die nun auch gleich noch den Titel »Metamorphosen« tragen, weiß beispielsweise der Dichter Ovid auf vielfache Weise davon zu erzählen. Und so berichtet er schließlich auch von jenen Frauen, den Töchtern des Sonnengottes Helios und der dem Wasser entstammenden Okeanide Klymene, die aus nicht enden könnender Trauer über den Verlust ihres sehr geliebten Bruders Phaethon zu guter Letzt in Pappeln oder eben Weiden verwandelt wurden: [...] Und Rinde verschloss die redenden Lippen. Tränen noch fließen heraus erstarren vom jungen Gezweige.96

Den antiken Mythos hier mit bedenkend, könnten Kolmars Verse möglicherweise auch auf einen Verwandlungsprozess von Frauen anspielen, die aufgrund unstillbarer Trauer um einen unersetzlichen Verlust in sich selber eingewachsen sind wie Bäume am Wasser. Frauen, die in ein pflanzenhaftes Verstummtsein gebannt, sich an jener Scheidelinie befinden, in der sich alles dem auflösenden, verflüssigenden Element zuneigt, die in ihrer sprachlosen Trauer an »der Grenze der Menschenwelt« angekommen sind.97 Eine Grenze, die auch eine der symbolischen Ordnung ist, auf der diese Menschenwelt beruht und zu der dieses Ich keinerlei Zugang mehr finden kann. Reglos hockender Frosch – grüner Bronze geformt – fahlblond rieselndes Haar (–x –xx –): Noch einmal läuft hier alles auf das Unumkehrbare jenes Rieselns ins Fahle, Lichtlose, Vergehende zu, dem schließlich alles im Verfließen der Zeit unterliegen muss, ja dem sich selbst das in fest gefügter Form Erstarrte, Unbewegte, Metallische und Gläserne, letztlich nicht wird 95 96

97

Helena Malzew: Menschenmann und Wasserfrau. Ihre Beziehung in der Literatur der deutschen Romantik. Berlin: Weißensee 2004, S. 67. Diese Vergleichbarkeit von Pappeln und Weiden vorausgesetzt, erkennen wir in den Versen Ovids allerdings Einiges, was sich auf Kolmars Gedicht übertragen ließe. Auch die Affinität zwischen Haar und Laub im Verwandlungsvorgang ist bei Ovid eindrucksvoll: Als mit den Händen das Haar sich wollte zerzausen die dritte, raufet sie Laub. Sie siehet mit Angst wie die Schenkel ein Stamm hält; Vgl. Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Zweites Buch. Vers 350/351 und Vers 364/365. Nach der Übersetzung von Reinhart Suchier. Wiesbaden, Leipzig: Drei Lilien 1986, S. 43. Diesbezüglich bemerkt Malzew: »Die Weiden gelten allgemein als Trauersymbole, nicht zuletzt nach Ovids ›Metamorphosen‹. Oft treten sie an die Stelle der Pappeln, die seit der Antike versteinerte Jungfrauen (Heliaden) darstellen.« Vgl. Malzew, Menschenmann und Wasserfrau (wie Anm. 95), S. 126. Einige Jahrzehnte später wird Ingeborg Bachmann von dieser »Grenze der Menschenwelt« in dem Märchen der Prinzessin von Kagran aus dem Roman »Malina« erzählen. Auch hier spielen Weiden eine wichtige Rolle. Ingeborg Bachmann: Malina. Roman. In: Dies.: Werke 3. München: Piper 1993, S. 67.

4.2 Die zweite Strophe: Mortifikationen

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entziehen können. Verweist das Verb rieseln zum einen auf den Bereich des Flüssigen, Quellenden, Gelösten, so wird darüber hinaus Zerfallendes, Bröckelndes, ja Zerrieselndes konnotiert und damit auf eine Morbidität, mürbe wie von welken Blättern, angespielt, die dann in der dritten Strophe mit den bröckelnden Putten und müden Blumengewinden wiederum erneut thematisiert werden wird.98 Überdies bringt das Rieselnde des Haars nun auch den Teich zu Bewusstsein, auf den schließlich diese ganze Bewegung ausgerichtet ist und mit dem diese Strophe endet. Mit dem Teich aber sind wir in einer weiteren eleganten Kreisbewegung wiederum beim umsponnenen Weiher des Gedichtanfangs angekommen sowie bei dem Ereignis eines Sehens, von dem das Ich – wir erinnern uns – gleich und unmittelbar Mitteilung gemacht hatte. Mit der Übertragung des Vorgangs eines Fallens und Niedersinkens von Blatt und Baum auf das weibliche Ich des Gedichts in dieser zweiten Strophe vermittelt sich vor allem eine radikale Umkehrung im Vergleich zur ersten Strophe. Das Land erweist sich nun nicht mehr als verlockender Garten, sondern ist in unheimlicher Künstlichkeit zu einem Ort entseelter Kälte geworden. Allein in der Hinwendung zum anderen Element des Wassers scheint hier noch eine diese Starre erweichende Bewegung möglich. Die Melancholie über die Hinfälligkeit des Lebens in der ersten Strophe, deren Gegengewicht ja im paradiesischen Garten gesucht wurde, ist nun zu einer Art Sehnsucht nach Selbstauflösung gewandelt. Als ließe der unheimliche Ort einer in Metall und Glas verhärteten Welt keine andere Wahl mehr, wird damit zugleich ein Zustand höchster Gefährdetheit für das Ich benannt, das im Wasser schließlich seinen Untergang finden müsste, wenn es denn auf Erden keinen Ort des Bleibens mehr zu finden vermag. Mithin teilt sich in jenen womöglich verwandelten Frauen, deren nixenhaftes Haar zwischen Land und Wasser zu verrinnen scheint, ein Ich mit, das sich in einer Gebärde der Trauer von einer symbolischen Ordnung nun abwendet, die für es tot und sinnlos geworden ist. Es überlässt sich allein noch einem Sehen, das in der Hinneigung der Stirnen zum Wasser als spiegelnder Fläche dann seinen bildhaften Ausdruck findet. Wenn keine Ansprache eines Du mehr möglich ist, wenn kein Anderes in den umgebenden Dingen mehr poetisch belebt werden kann, wenn jede Dialogizität damit an ein Ende gekommen ist, bleibt schließlich nichts als die reine, narzisstische Selbstbezüglichkeit, deren flüssiges Abbild die Wellen nun spie98

Entsprechend scheint die grüne, bronzene Reglosigkeit des Frosches mit dem fahlen Blond der Frauen zu korrespondieren, als würde die beiderseitige Unbelebtheit sich gegenseitig bedingen. Es ist mitnichten hier noch ein Grün der Hoffnung, der atmenden Lebendigkeit, wie Kolmar es noch zu Beginn der dreißiger Jahre in dem Gedicht »Teichfrosch« aus dem Zyklus TIERTRÄUME beschrieben hat. Dort trägt der Frosch noch ein Kleid, das atmet und dessen Glanz als smaragden frisch wahrgenommen wird. Auch die Weide war in diesem Gedicht noch eine blonde Weide, die ihr Haar zum Bad löst. Vgl. LW, Gedichte 1927–1937, S. 195.

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4 In der Spur des Anderen: Das Gedicht »Garten im Sommer«

geln mögen. Ein Bild, das dennoch keinerlei Selbsterkenntnis zu eröffnen vermag, da es auf niemanden verweist, mit nichts übereinstimmt, ein leeres unbestimmtes Bild außerhalb jeder gemeinsamen Referenz bleiben muss. »Stirbt Narziss?«, fragt Maurice Blanchot in seinen Reflexionen zum Mythos des sich unsterblich in das eigene Abbild im Wasser verliebenden Narziss. Um gleich darauf zu antworten: »Beinahe; Bild geworden, löst er sich in der reglosen Auflösung des Imaginären auf, in der er unwissentlich zerfließt, ein Leben verliert, das er nicht hat.«99 In Kolmars Gedicht nun äußert sich eine Stimme, die eben diese Gefahr des Selbstverlusts poetisch zu umkreisen sucht. Es ist eine doppelte Gefährdung, die dabei zum Ausdruck gebracht wird. Der tödlichen Unzugänglichkeit einer sinnentleerten künstlichen Welt, der sich das Ich gegenübersieht, entspricht der Verlust des Anderen für dieses Ich, das sich damit gleichermaßen in einen endlosen Narzissmus der Selbstbespiegelung hineingezwungen sieht. Doch ist es ebenjene Gebärde der Trauer, die diesen tödlichen Solipsismus hier dennoch aufzubrechen versteht, indem sie die Erstarrung in einem falschen Imaginären aufreißt und dieses ins Rieseln, in ein weiteres Strömen versetzt. Damit wird zugleich ein Vorgang angestoßen, der die Differenz zur vorgefundenen Ordnung der Dinge aufzeigt und ein Anderes wieder zulassen kann. Ein Anderes, das nun allerdings auch in die Tiefen des Wassers hineinführt. Wasser ist doppelbödig, das ist bekannt. Dieselbe Oberfläche, eben noch blinkender Spiegel einer äußeren Welt, vermag darüber hinaus zum durchlässigen Fenster in Ungekanntes werden, aus dem Verborgenes heraufscheint.100 Mithin gerät der Teich nicht allein zu einer Art offenem Auge, mit dessen 99 100

Maurice Blanchot: Die Schrift des Desasters (1980). Aus der Schriftenreihe ›Genozid und Gedächtnis‹. München: Wilhelm Fink 2005, S. 154. In ihrem Gedicht »Der Seegeist« Aus dem Zyklus WEIBLICHES BILDNIS fasst Kolmar ebendiese Wahrnehmung eines unablässig aufgeschlagenen Auges in die Worte: Die Glashaut meiner Lider Verwirft die Nacht, verwirft das Licht; [...] Weil ihre wölb’ge Schale Nicht von des Auges Sternfrucht sprang: Es sah den Tanz der Wale Und fühlte niemals Salz noch Tang. Dies Aug’ steht ewig offen; Ihm ist der milde Schlaf versagt. [...] Vgl. »Der Seegeist«. In: LW, Gedichte 1927–1937, S. 108. Sybille Selbmann bemerkt diesen Zusammenhang betreffend: »See und Teich werden oft als ein aufgeschlagenes Auge der Erde interpretiert und damit in den Gedankenzusammenhang von Sehen, Erkennen und Erkenntnis gebracht.« Sybille Selbmann: Mythos Wasser. Karlsruhe: Badenia 1995, S. 131.

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4.3 Die dritte Strophe: Welt versunken

Hilfe reflexhaft gespiegelt wird, was sich ihm zuneigt, sondern zugleich zu einer Metapher für die Unergründlichkeit des Unbewussten selbst.101 So spricht sich in diesen abschließenden Versen der zweiten Strophe schließlich eine wie willenlos ausgelieferte Geste aus, Hingabe und Hinfälligkeit in einem melancholischen Eros eigener Art verbindend, um sich schließlich einer Erkenntnis zuzuneigen, deren dunkle, verwirrende Abgründigkeit bereits aus dem Wasser des Teiches heraufzuschimmern scheint. Davon vor allem wird in der vierten Strophe des Gedichts dann mit ihren vielfachen Unheimlichkeiten die Rede sein. Das ursprüngliche Interesse an der Allegorie ist nicht sprachlich, sondern optisch. (Walter Benjamin)

4.3

Die dritte Strophe: Welt versunken

In der dritten Strophe des Gedichts werden uns das Symbolische als ein Ort der Sprache sowie die »Anders-Rede« der Allegorie zu beschäftigen haben und in manchmal verwickelte Konstellationen führen. Während das Symbolische stets auf eine gemeinsame Referenz orientiert ist, zielt die Allegorie von vornherein auf eine uneinholbare Differenz, auf einen »Abgrund«, wie Walter Benjamin es dann genannt hat, der von seinesgleichen trenne und nicht vermittelbar sei.102 Zunächst aber findet überhaupt eine Rückkehr zur Sprache statt. Nach dem Bruch, dem Umschlag in eine kalte und stumme Gegenwärtigkeit, der mit der zweiten Strophe des Gedichts vollzogen worden war, wird die dritte Strophe wiederum mit der erneuten Anrede eines Du eröffnet: Sprich, bedeutet ein Schneckenhorn Gutes, dem, der es aufhebt? Wenn du zweifelst, schenk’ ich’s der Flut. Wie sie sich kräuselt, sich bauscht ... seiden ... und blinkt doch Kälte.

Sprich. Nun also doch: die ausdrückliche Aufforderung zur Rede, nach der am Ende der ersten Strophe so klaren Einforderung zu schweigen. Noch immer wird Antwort erhofft, wobei diese Möglichkeit zugleich schon wieder von Zweifeln infrage gestellt zu werden droht: wenn du zweifelst ... An der Grenze zwischen Wasser und Land, nah am Ufer, wo das Ich sich im Verstummen so deutlich verortet hatte, findet sich allerlei Angeschwemmtes, 101

102

Auf diesen Zusammenhang verweist ebenfalls Sybille Selbmann in ihrer bereits genannten Untersuchung, wenn sie schreibt: »Die Psychoanalyse sieht im Wasser vorwiegend ein Sinnbild des Unbewussten.« Vgl. ebd., S. 101. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Erster Band. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 425, J 60a, 5.

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darunter auch ein Schneckenhorn. Ob dieses aufgefundene Objekt für das Ich aber etwas Gutes bedeuten könnte, ob es positiv mit Sinn anzureichern wäre, hängt offenbar nur noch einzig von der Antwort eines Du ab. Ohne Anerkennung und Bejahung durch einen Anderen wird dieses aufgehobene »Ding« für das Ich ganz wertlos. Schon ein Zweifeln reicht aus, es der Flut zu schenken, es dem stummen Element des Wassers wieder zurückzugeben. Dieser Flut, die sich zwar seiden weich kräuselt und bauscht, aber doch Kälte blinkt, wobei das Verb blinken wiederum Metallisches, Unbelebtes, aber auch Spiegelndes, Reflektierendes evoziert. So ist es denn auch eine Reflexion über Sprache und Mitteilbarkeit, die in diesen Versen stattfindet. Wie lässt sich das Schneckenhorn in diesem Zusammenhang überhaupt begreifen? Ist es einfach nur ein zeichenhafter Begriff, der erst in der Präsentation bedeutungsvoll wird? Ist es von vornherein nichts weiter als ein mögliches Medium für etwas, das dem Du damit mitgeteilt werden soll? Auf welches Signifikat würde dieser schneckenhafte Bedeutungsträger sich dann als etwas Gutes beziehen wollen? Und wie können wir schließlich das Verb »aufheben« hier lesen, als ein schlichtes momentanes Hochheben oder als ein An-sich-Nehmen, ein andauerndes Aufbewahren? Das Zeichen müsse interpretiert werden, wenn wir die Vorstellung, die es zu vermitteln bestimmt sei, verstehen sollen, schreibt Paul de Man: »und zwar deshalb, weil das Zeichen nicht das Ding ist, sondern eine Bedeutung, die von dem Ding bloß abgeleitet ist durch einen Prozess, der hier Repräsentation genannt wird«.103 Diese Resonanz, auch als Bezugnahme auf eine bejahende Einschreibung in das zur Sprache gebrachte Objekt, kann allein durch das Du geschaffen werden. Es geht also auch darum, sich zu vergewissern, ob mit dem Du überhaupt die Möglichkeit einer sprachlich-symbolischen Mitteilungsebene gegeben ist. Dabei scheint sich das Ich keineswegs mehr sicher zu sein, ob dem von ihm gemachten Fund in dieser Weise noch die Bedeutung von etwas Gutem zugewiesen werden, mithin ob es überhaupt zu einem Medium der Verständigung werden könnte. Mit diesem Akt der Reflexion einer möglichen oder unmöglichen Übertragung eines an Land gespülten und aufgehobenen Objekts in ein Zeichen sprachlicher Mitteilung überschreitet die Dichterin zugleich den Rahmen des inneren Gedichtgeschehens und bezieht implizit auch einen Empfänger mit ein, der zwar ein noch abwesender, dennoch möglicher Adressat dieses Gedichts sein könnte. So müssen auch wir als Leserinnen und Leser dieser Verse uns letztlich fragen, ob wir in der Lage sind, dieses im Uferbereich aufgefundene Schneckenhorn als Signifikant eines darin eingeschlossenen, verborgenen Bedeutungszusammenhangs zu erkennen. Wie in einer Nuss, vielleicht einer Haselnuss, bereits in nuce der ganze Tanz des Lebens angelegt ist, so kann sich 103

Paul de Man: Allegorien des Lesens. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 38.

4.3 Die dritte Strophe: Welt versunken

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im winzigen Gehäuse eines Schneckenhorns etwas verbergen, was einer Entfaltung harrt. Es könnte Gutes bedeuten. Eine erste Überlegung nun wäre, ob wir das Schneckenhorn im Rahmen sprachlicher Repräsentationen hier als eine Metapher oder als eine Synekdoche auffassen können. Ein Unterschied, der keineswegs unerheblich ist, wie wir noch sehen werden. Begreifen wir den Fund besagten Schneckenhorn[s] fürs Erste als Synekdoche und damit als pars pro toto, als Teil eines größeren Ganzen, so lässt sich in ihm bereits ein deutlicher Hinweis auf den Wassermann erkennen, von dem dann in der vierten Strophe ausdrücklich die Rede sein wird. Bekanntermaßen gibt es in der Biologie Schneckenhörner, die mit dem Namen »Tritonshorn« bezeichnet werden,104 eine Vorstellung, die noch umso deutlicher jenes Muschelhorn vor Augen ruft, welches seit der Antike als Attribut der als Tritonen bezeichneten Wassermänner gilt.105 Fassen wir das Schneckenhorn demgegenüber als Metapher auf, in dem Sinne, dass diese ein Nomen von seinem ursprünglichen Ort in einen anderen Sinnzusammenhang überträgt, um damit zugleich eine Entsprechung darzustellen, die unmittelbar sinnlich einleuchtet, so teilt sich hier zugleich auch seine Bedeutung als »Schneckenhaus« mit. Ein Schneckenhaus, das in seinen spiralförmigen Windungen in diesem Fall noch besonders kunst- und reizvoll gebildet ist. In dieser Lesart vermittelt sich im Schneckenhorn nun allerdings auch 104

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Ein als »Tritonshorn« benanntes Schneckenhorn stammt von der Trompetenschnecke, einer Gattung von Vorderkiemern, die im Meer lebt. Vgl. dazu DTV-Lexikon. Ein Konversationslexikon in 20 Bänden, Band 19 (wie Kap. 5.2, Anm.79), S. 7. Über Triton, den griechischen Meergott, der meist auf einer Muschel blasend dargestellt wird, bemerkt Karl Kerényi: »Hesiod nannte den Triton ›weithin gewaltig‹ und einen großen Gott, der den Boden des Meeres im goldenen Palast seiner lieben Mutter Amphitrite und seines Herrn und Vaters Poseidon bewohnte, eine schreckliche Gottheit [...] Triton war halb Fisch, halb menschengestaltig, am besten mit den Silenen und Satyrn vergleichbar. [...] Die Erzählungen von Triton können so zusammengefasst werden, dass er der Silenos oder Satyros des Meeres war, ein Frauenräuber, ja ein Räuber von Jünglingen – und zwar seit altersher in Gesellschaft von seinesgleichen – ein Schreckenerreger und Verführer mit seinem Muschelhorn.« Vgl. Karl Kerényi: Die Mythologie der Griechen. Band I: Die Götterund Menschheitsgeschichte. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1966, S. 149. Des Weiteren führt Herbert Rose über Triton aus: »Natürlich ist es keineswegs sicher, dass er griechisch ist, denn die Griechen können Triton samt seinem Namen und Mythos aus dem minoischen oder aus einem kleinasiatischen Kult übernommen haben. Der Gestalt nach ist er, von der Hüfte aufwärts menschlich, abwärts wie ein Fisch gestaltet, ein Typus, der vielleicht bis zu den zwiegestaltigen orientalischen Göttern, wie dem bekannten Dagon des Alten Testaments, zurückverfolgt werden kann. [...] Man kann kaum sagen, dass er einen eigenen Mythos hatte, obwohl er häufig genug in der literarischen und bildlichen Darstellung der Sagen von größeren Seegöttern erscheint. Zweifellos gingen viele Geschichten über Triton bei Seefahrern und Fischern um, aber für uns sind fast alle verloren bis auf einige trümmerhafte Reste [...].« Vgl. Herbert J. Rose: Griechische Mythologie. Ein Handbuch. München: C. H. Beck 1988, S. 64f.

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die Suche nach etwas Bergendem, Schützendem, was zugleich doch äußerst fragil, ja miniaturhaft bleiben muss und somit vor allem auch das Weltabgewandte, nach innen Zurückgezogene, nach außen Abgekapselte derartiger Behausung vor Augen führt. Zusätzlich möchte ich vorschlagen, das Schneckenhorn hier als eine Katachrese aufzufassen. Diese kann als eine Art »schiefe« oder »schräge Metapher« etwas bezeichnen, was anders noch keine Benennung gefunden hat.106 Sie sucht also etwas mitzuteilen, was die herkömmliche Metapher – in diesem Fall »Schneckenhaus« – nicht mitliefern kann. Insbesondere tritt dabei die Interdependenzwirkung zwischen Schnecke und Horn hervor, der deutlich eine musikalische Komponente beiwohnt. Als Schneckenhorn noch unscheinbar und klein, kann es durch die Bestätigung des Du offenbar die Bedeutung von etwas Gutem annehmen, aufgehoben werden und vollen Klang erreichen, wobei das Innere so dem Außen geöffnet und mitteilbar werden würde. Das Semiotische des Schneckenhorns gewönne – um es mit Julia Kristeva zu sagen – damit zugleich den Charakter des Symbolischen.107 Erst in einem solchen Akt der Anerkennung und Teilhabe könnte die dem Schneckenhorn zugeschriebene zeichenhafte Repräsentation Resonanz gewinnen und für einen Anderen vernehmbar werden. Auch bildet – nun metonymisch gelesen – eine solche »Klangschnecke« in ihrer spiralförmigen Ausformung gleichsam eine äußere Analogie der Gehörschnecke im Inneren des menschlichen Ohres. Ein Organ, das jegliche akustische Resonanz von Stimme, Wort und Klang und damit das Vernehmen möglicher Signifikanz erst ermöglicht. So verstanden deutet sich mit diesem Schneckenhorn bereits ein Chiasmus von Hören und Sehen an, der uns im Fortlauf dieser dritten Strophe noch beschäftigen wird. Eine weitere Frage schließt sich hier nun allerdings an, und zwar, um was für ein Du es damit in dieser dritten Strophe eigentlich geht. Nach allen bisherigen Überlegungen erweist sich dieses Du schließlich als ein deutlich anderes als jenes der ersten Strophe. Hier geht es nicht mehr um das leidenschaftliche Begehren eines Geliebten im Traum, um eine Art tänzerische Dynamik der Annäherung in immer neuen Drehungen und Wendungen. Das Du in dieser Strophe ist vielmehr eines, mit dem eine Ebene gemeinsamer Bezogenheit auf ein Drittes angestrebt wird. Ein Du, mit dem ein Austausch, ein Akt der Kommunikation möglich wäre, das ein Zeitgenosse, ein Gefährte oder sogar ein Freund, ein Lieber sein könnte:

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Vgl. dazu Gert Ueding und Bernd Steinbrink: Grundriss der Rhetorik. Stuttgart: Metzler 1986, S. 269. Vgl. dazu Julia Kristeva: Das Semiotische und das Symbolische. In: Dies.: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, S. 32– 113, insbesondere S. 35.

4.3 Die dritte Strophe: Welt versunken

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Hier auf dem einzig offnen, besonnten Fleckchen im Röhricht, Lieber, lass noch ein wenig uns sitzen Und hinüberschaun nach den Fenstern, unseren Fenstern, die Waldrebe und dumpferer Efeu umkriechen.

Kein tauig hauchende[s] Gras schafft hier noch zärtlich Kühlung, sondern wassernahes Röhricht, das kaum noch offenen Platz gewährt, umwächst bedrängend das Ich. Das Du aber wird nun mit einem Namen angeredet, mit dem sich Vertrautheit verbindet, der ein Miteinander bereits voraussetzt oder herzustellen sucht: Lieber. Mir scheint, als würde sich insbesondere von hier aus, in solcherart Zuwendung und dem darin sich aussprechenden erwärmenden Gefühl, ein heller Schein auf jenes Ich am Wasser legen, als würde jenes offne, besonnte Fleckchen im Röhricht so erst erschaffen werden, das nun gleichsam inselhaft geborgen dem Ich noch einen Augenblick der Ruhe zwischen Land und Wasser gewährt. Eine Art Idylle en miniature in ihrer lichtungshaften Kreisform, kaum ein auf Dauer anheimelnder Ort, aber doch – noch – offen, besonnt.108 Denn die Kreisform gilt als Grundfigur der Idylle, wobei gerade »die Kostbarkeit ihres harmonischen Friedensraums durch die Andeutung angrenzender gefährlicher Räume betont« wird.109 So ist auch dieses einzig offene, besonnte Fleckchen im Röhricht für das Ich nur noch ein mehr als flüchtiger Ort, der bereits von Finsternis und Wasser bedroht ist. Dennoch gewährt er ein kurzes Innehalten vor der zunehmenden Neigung, sich abzuwenden und die Schwelle zum anderen, dem Irdischen entgegengesetzten Element hin zu überschreiten.110 108

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Renate Böschenstein-Schäfer weist in ihrer grundlegenden Abhandlung darauf hin, dass als Grundfigur der Idylle immer wieder die Kreisform zu finden sei. Vgl. Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. Zweite durchgesehene und ergänzte Auflage. Stuttgart: Metzler 1977, S. 9. Renate Böschenstein: Undine oder das fließende Ich. In: Irmgard Roebling (Hg.): Sehnsucht und Sirene. 14 Abhandlungen zu Wasserphantasien. Pfaffenweiler: Centaurus 1992, S. 109. In diesem Zusammenhang erscheint es mir interessant, auf das 1932 von Agnes Miegel verfasste Gedicht mit dem Titel »Leda« aufmerksam zu machen. Dort finden sich folgende Eingangsverse: Sie lag im Nest gebettet, Im rauschenden Röhricht vor dem Wind geborgen, Der kalt und klirrend durch die Halme stieß. Aus Sumpf und Dickicht stieg der fahle Morgen. Sowohl das Nest im rauschenden Röhricht, das bei Kolmar dann ein Fleckchen im Röhricht ist, als auch der kalte, klirrende Morgenwind in den Halmen, der an den Beginn der zweiten Strophe von Kolmars Gedicht mit den leise schauernden Halmen im Morgenwind denken lässt, erlauben die Vermutung, dass Kolmars Gedicht von 1937 neben vielen anderen Aspekten zusätzlich auch eine Replik auf das Gedicht Miegels von 1932 darstellen könnte. Auch vom Titel »Leda« her ist ja bereits eine gewisse inhaltliche Nähe zur vierten Strophe des Gedichts »Garten im Sommer« wie außerdem zu dem von Kolmar 1934 in GERMAN SEA verfassten Ge-

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4 In der Spur des Anderen: Das Gedicht »Garten im Sommer«

Für einen Augenblick – solange die Sonne eben noch scheint – geht der Blick noch ein Mal hinüber, über das Wasser vielleicht oder zurück in den Garten, zu den Fenstern, und zwar unseren Fenstern, des demnach gemeinsamen Hauses, das, wie wir einige Verse später erfahren, ein Schloss gewesen sein soll, möglicherweise aber nicht viel anderes als ein Schneckenhorn zu bedeuten hatte. Aus Fenstern sieht man gemeinhin von innen nach außen, sowie mitunter auch von außen nach innen, was sie bereits von jeher als Metapher für das die äußere Welt wahrnehmende, aber auch die innere Welt der Empfindungen widerspiegelnde Auge geeignet erscheinen ließ. Der Blick hinüber. Der in die Horizontale gerichtete Blick misst die Distanz in Raum und Zeit. Die gemeinsamen Fenster sind schon das Entfernte. Auch der gemeinsame Blick aus diesen als Erfahrung geteilter, gegenseitiger Wahrnehmung im Rahmen desselben Wirklichkeitsausschnitts gehört bereits der Vergangenheit an. Hier geht es allein noch um eine Rückschau – auch auf diese vergangene Nähe – mit der zugleich ein Äquivalent hergestellt wird zu jenem Weißt du noch? in der ersten Strophe. Abermals geht es damit auch in der dritten Strophe um ein Ereignis des Sehens, das allerdings nun vor allem einen Akt erinnernder Reflexion an ein vorgängiges gemeinsames Drittes einleitet. Das, was da im Hinüberschaun noch sichtbar ist, ist längst von Auflösung und Überwucherung betroffen. Diese Fenster sind bereits umkrochen von Waldrebe und Efeu, wobei die Zeile bereits hinter Wald- abbricht, bevor sie in die nächste fällt und den Vers zu Ende treibt. In dieser Lesart konnotiert »Wald« schließlich auch sich ausbreitende, raumgreifende Wildnis: [...] die Waldrebe und dumpferer Efeu umkriechen.

Dabei spricht die Verbwahl eine lautlose, fast schlangenhaft bedrohliche Ausbreitungsart der Pflanzen an, welche einer verschlingenden Inbesitznahme gleichkommt. Die umgebende Natur eines Gartens, der hier zunehmend in wildwüchsigen Wald überzugehen scheint, wird die Fenster, wenn Einhalt nicht geboten wird, wohl bald gänzlich überwachsen und verdecken. Die Rebe, die sich in dieser Weise ausbreitet, erfüllt nun nicht mehr die altvertraute Erwartung süßen Weins, sondern meint als Waldrebe die als »Clematis vitalba« sich rankende Pflanze, deren Blüten übel riechen und deren Giftigkeit gefährlich werden kann. Der noch dumpfere Efeu weckt in dieser Bezeichnung noch dicht »Leda« gegeben. Weitere Motivüberschneidungen von Miegels Gedicht und dem hier zur Rede stehenden von Kolmar unterstreichen noch diese Überlegungen. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, diese mögliche Auseinandersetzung Kolmars mit der völkisch orientierten, dem Nationalsozialismus gegenüber positiv gestimmten, zeitgenössischen deutschen Dichterin genauer nachzugehen. Wir müssen uns hier mit dem Hinweis darauf begnügen. Vgl. Agnes Miegel: Leda. In: Dies.: Gedichte und Prosa. Düsseldorf, Köln: Diederichs 1980, S. 31.

4.3 Die dritte Strophe: Welt versunken

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zusätzlich die Vorstellung einer Grabbewachsung, wird doch dieses Schloss womöglich selbst bald nur noch eine unter wuchernden Pflanzen begrabene Stätte vergangener Erinnerungen darstellen. Entsprechend ist in den folgenden Versen dieser dritten Strophe auf vielerlei Weise von Vergänglichkeit und Zerfall die Rede: Wie mir dies kleine umschattete, weltversunkene Schloss gefällt! Auch das Mauergeschnörkel, auch die geschwärzte Vergoldung, die bröckelnden Putten, die müden Blumengewinde, Auch das Moos, das an den zersprungenen griechischen Vasen hängt. Auch am Tor die mächtige Linde und ihre Ringeltaube, die wieder mit dunkelndem Rucksen ruft. Und das kunstvoll geschmiedete Gitter ...

Die Dichterin Gertrud Kolmar vollzieht hier im Grunde das, was Walter Benjamin in seinem Passagen-Werk so anschaulich über das Vorgehen des Allegorikers ausgeführt hat. Dieser sei jemand, der aus der »ungeordneten Masse« seiner Erinnerungen fragmentarische Bruchstücke herausschneide, um sie in einer Art Puzzle dann wieder zusammenzusetzen. Er greife, so Benjamin, »bald da bald dort aus dem wüsten Fundus« seines Wissens ein Stück heraus, halte es neben ein anderes und versuche, »ob sie zueinander passen: jene Bedeutung zu diesem Bild oder dieses Bild zu jener Bedeutung«.111 Der »Blick des Allegorikers« lasse »die Dinge zur Schrift« werden, schreibt an derartige Überlegungen anknüpfend Sigrid Weigel. In der reflexiven Perspektive eines Hinüberschauens fassen wir somit die Allegorie des niedergehenden Schlosses gleichsam wie ein »gelesenes Bild« ins Auge.112 Ein weiteres Mal wird deutlich, dass es einfache Lesarten hier nicht geben kann, dass der arbiträre Charakter jeder Allegorie auch unsere Lektüren von vornherein mit bestimmt und jegliche Eindeutigkeit zunichte macht. Bleiben wir fürs Erste auf der Oberfläche der textuellen Bildbeschreibung und dem, was uns von der Dichterin darin mitgeteilt wird, so lässt sich leicht erkennen, dass sich in dem allegorisch zu verstehenden Gebäude offenbar eben jener Ort findet, an dem das Ich sich in Gemeinsamkeit mit dem Du aufgehoben und dem Außen zugewandt (unsere Fenster) hatte fühlen können. Hier war Wohlergehen, ja Identifikation möglich gewesen, denn an diesem wenn auch kleinen und umschatteten, ja weltversunkenen Schloss hinter kunstvoll geschmiedete[m] Gitter findet das lyrische Subjekt dieses Gedichts ausdrücklich und immer noch Gefallen.113 111 112 113

Benjamin, Das Passagen-Werk. Erster Band (wie Anm. 102), S. 466. Weigel, Entstellte Ähnlichkeit (wie Kap. 1.2, Anm. 99), S. 96. Dass gerade umgebende bedrohliche Gefährdungen den idyllischen Raum besonders anziehend machen, galt für die Idyllendichtung von jeher. So folgert Böschenstein-Schäfer insbesondere auf die Romantiker bezogen: »Andererseits wird aber diese Lieblichkeit nicht selten zum Kontrapunkt des Abgründigen und Dämonischen, dessen Reiz man eben entdeckt. So darf die Idylle zwar nicht mehr

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4 In der Spur des Anderen: Das Gedicht »Garten im Sommer«

Zugleich wird mit der poetischen Rückschau auf diese architektonische, der Natur überlassene, mittlerweile morbide Topographie, gleichsam aus reflektierender Distanz der Ort eines gemeinsamen Gedächtnisbildes aufgerufen, in dessen Darstellung ein weites Konnotationsspektrum auf die abendländischdeutsche Kulturgeschichte eröffnet wird.114 Erinnern die bröckelnden Putten – ursprünglich Figuren aus der italienischen Frührenaissance – die müden Blumengewinde, das Mauergeschnörkel und die geschwärzte Vergoldung an die Bukolik und Verspieltheit von Barock oder Rokoko, so lässt sich in den bemoosten, zersprungenen griechischen Vasen sowohl eine Anspielung auf den griechischen Urgrund abendländischen Denkens als auch auf die Anverwandlung griechischer Antike in der deutschen Klassik lesen. Die mächtige Linde am Tor aber weist dann deutlich in Richtung deutsche Romantik, wie ja auch diese gesamte Schlossszenerie spätromantische Vorstellungen von mehr oder weniger ruinenhaften Schlössern in verwunschenen Gärten wachruft, deren herausragender Dichter Josef von Eichendorff gewesen ist.115 Überhaupt gilt Eichendorff als derjenige Romantiker, der zur Idylle in der engsten Beziehung stand.116 Im 19. Jahrhundert und auch noch zur Zeit Kolmars war er ein viel gelesener, allseits bekannter Dichter, der auch im Elternhaus der Dichterin geschätzt wurde. Noch an seine emigrierte Tochter Hilde Wenzel wird der Vater Ludwig Chodziesner in seinen brieflichen Lebensrückblicken über die Erinnerung an die Gymnasialschulzeit in Wrongowitz (Polen) schreiben: Die Räume der Schule gab ein altes Cistercienser Kloster her. [...] Das Ganze, von einer hohen Mauer umgeben, machte auf mich, der ich nach dieser Richtung nicht verwöhnt war, einen romantischen Eindruck. An lauen Sommerabenden, wenn der

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den autonomen Raum der Gattung aufrichten, doch ihre Idee lebt in der romantischen Dichtung inselhaft fort.« Böschenstein-Schäfer, Idylle (wie Anm. 108), S. 114. Über diese Topographie eines Kollektivgedächtnisses führt Sigrid Weigel in ihren Reflexionen über Benjamins Allegoriebegriff aus: »In der Beziehung von Ruinen, Wunschsymbolen und Monumenten entwirft Benjamin eine geschichtliche Anschauung, die als Lektüre von Zeichen einer vorausgegangenen Darstellung erscheint, zu der die gegenwärtige Entzifferung in keinem spiegelbildlichen oder reziproken Verhältnis steht. Sie ist also nicht als Spurensicherung oder als (De)Chiffriermethode zu bewerkstelligen, sondern nur als Lektüre von Gedächtnisspuren bzw. von entstellten Darstellungen.« Siehe Weigel, Entstellte Ähnlichkeit (wie Anm. 112), S. 39. Vgl. hierzu ebenfalls meine Ausführungen in Kapitel 1.2. Es erübrigt sich, alle Texte aufzuzählen, in denen bei Eichendorff Schlösser oder Schlossruinen, sowie Schlossgärten oder aber blühende Gärten überhaupt eine Rolle spielen. Vgl. dazu: Birgit Diekkämper: Formtraditionen und Motive der Idylle in der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Bemerkungen zu Erzähltexten von Joseph Freiherr von Eichendorff, Heinrich Heine, Friedrich de la Motte Fouqué, Ludwig Tieck und Adalbert Stifter. Frankfurt am Main: Peter Lang 1990, insbesondere S. 102. Vgl. dazu Böschenstein-Schäfer, Idylle (wie Anm. 108), S. 115.

4.3 Die dritte Strophe: Welt versunken

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Mond mit silbernem Glanz darüber stand und in den uralten Linden und den dichten gewölbten Tür- und Fensternischen Verstecken spielte, kam eine Stimmung über mich, wie sie nur Eichendorff so meisterhaft und echt schildert.117

Laue Sommerabende, altes Gemäuer, Mondenschein und uralte Linden. Das altbekannte romantische Repertoire. Noch hier in diesen erinnernden Zeilen, die Ludwig Chodziesner 1939/1940 – mehr als zwei Jahre nachdem Kolmar ihr Gedicht verfasst hatte – niederschrieb, findet sich unverhohlene Faszination und Bewunderung. Trotz der bereits schmerzlich erfahrenen Ausgrenzung als deutscher Jude, ja obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits in einem sogenannten Judenhaus zu leben gezwungen worden war, scheint er seine Erinnerungen in diesen Zeilen keineswegs hinterfragen zu wollen. Wenn es um romantische Sehnsucht geht, kommt ihm wie selbstverständlich Eichendorff in den Sinn, der solche Stimmungen »meisterhaft und echt« zu schildern verstand. Die innere Identifikation mit dem deutschen Dichter wird dabei für ihn weiterhin fraglos aufrechterhalten. Für seine Tochter Gertrud hingegen, die ja mit solchen Gedankengängen aufgewachsen und vertraut gewesen sein muss, kann sich eine derartige Rückschau auf romantische Traditionen, wie wir noch sehen werden, dann nur noch auf vielfach gebrochene Art und Weise herstellen.118 Doch auch für Eichendorff selbst war die Sehnsucht nach dem idyllischen Ort bereits keineswegs widerspruchsfrei. Zwar gewähren die von ihm beschriebenen Schloss- und Gartenlandschaften immer wieder einen glückseligen Raum für ungetrübtes Lebens- und Liebesglück, doch führen sie auch immer wieder zu Gefühlen der Eingeengtheit und des Ausgeschlossenseins, die Anlass zu erneut ausbrechender Wanderlust geben.119 Dies allerdings ist für Kolmar ungefähr hundert Jahre später im Jahr 1937 mitnichten noch das Thema. Ihr, die in einer Welt lebt, von der sie sich unfreiwillig ausgegrenzt sieht, wird der abgeschiedene Ort vielmehr eine lebensnotwendige Zuflucht in bedrohlicher Zeit, in der Unbehaustheit nicht etwa wie noch bei Eichendorffs Taugenichts mit höchster Lust, sondern mit höchster Gefahr einhergeht. Und das kunstvoll geschmiedete Gitter ... Dieser Hortus conclusus ist ein längst verschlossener Ort. Endgültig bleibt das Tor versperrt, das vom Ich 117 118 119

Zitiert nach Woltmann, Gertrud Kolmar – Leben und Werk (wie Kap. 1.1, Anm. 2), S. 28. Zu den Einflüssen der Romantik auf Kolmars Dichtung vgl. auch Zarnegin, Tierische Träume (wie Anm. 34), S. 219f. Auch bei Eichendorff lässt sich immer wieder ein ambivalentes Verhältnis gegenüber einer in dieser Weise idyllischen Abgeschlossenheit erkennen, allerdings aus völlig entgegengesetzten Motiven als bei Kolmar. So stellt Heinz Hillmann über Eichendorffs Verhältnis zu seinen so häufig in Waldeinsamkeit gelegenen idyllischen Räumen fest: »Zwar kann solche Waldeinsamkeit auch ›schön‹ genannt werden, sie bedeutet ja glückseliges Leben mitten in der Natur; doch enthält sie auch immer das Beängstigende des Ausgeschlossenseins von der freien Bewegung auf der ganzen Erde.« Vgl. Heinz Hillmann: Bildlichkeit der Deutschen Romantik. Frankfurt am Main: Athenäum 1971, S. 223.

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nur mehr von außen, aus der Ferne noch, wahrgenommen wird. Aus dieser Idylle ist das lyrische Subjekt des Gedichts längst ausgeschlossen.120 Aus seiner Distanz vom wassernahen Fleckchen am Ufer folgt es nur mehr einer Rückschau auf ein sich Entfernendes. Das einstmals Schutz bietende, Begegnung ermöglichende Schloss wird ohne menschliche Gegenwart und Fürsorge schließlich doch zum sterbenden Gemäuer zerfallen, der kunstvoll gestaltete, behütete Lebensort unter dem Wildwuchs der Zeiten begraben werden. Ein weiteres Mal nur noch Baum und Tier: Auch am Tor die mächtige Linde und ihre Ringeltaube, die wieder mit dunkelndem Rucksen ruft.

Abermals erkennen wir Linde und Taube als romantische Versatzstücke, die das Gedächtnisbild weiterhin aktivieren. So gilt die Linde seit altersher als ein Lieblingsbaum der Deutschen.121 Häufig wird sie in Volksliedern wie Dichtungen aller Art besungen, und immer wieder wurden Linden gern in Hof und Garten angepflanzt. Besonders im Frühjahr entfalten sie ihren ganzen Zauber, wenn sie von Bienen umsummt die Luft mit dem Duft ihrer Blüten erfüllen. Und auch die Ringeltaube ruft wieder, diese häufigste und größte einheimische Taube, ursprünglich eigentlich eine Waldtaube, welche allerdings zunehmend auch Garten und Parklandschaften erobert hat. 120

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Hier ist eine deutliche Veränderung in Kolmars Wahrnehmung festzustellen. Noch 1933/34 schreibt sie in ihrem Gedicht »Garten« aus dem Zyklus DAS WORT DER STUMMEN: Bläue rauscht, und mein Garten versinkt, Eiland, im Meer. In diesen Versen lässt sich noch eine Identifikation des lyrischen Subjekts mit dem Garten (mein Garten) erkennen. Dieser Garten ist noch ein Hort inselhafter Aufgehobenheit in den umgebenden Fluten, mit dem sich das Ich identifiziert und mit dem es, wenn, dann gemeinsam, versinken wird. Demgegenüber schaut das Ich im Gedicht »Garten im Sommer« von 1937 nur noch auf die Idylle vom Wasser her zurück, wobei sowohl jene Idylle als auch das lyrische Subjekt zwar vom Untergang bedroht sind, dabei aber nicht mehr zusammengehören, sondern voneinander getrennt dem Versinken entgegengehen müssen. LW, Gedichte 1927–1937, S. 355. Die Linde gilt neben der Eiche als ein Lieblingsbaum der Deutschen. Ursprünglich Freya, der germanischen Göttin der Liebe und des Friedens zugeordnet, wurde die Linde von jeher als ein Baum angesehen, der Schutz und Glück spendet und für Gerechtigkeit sorgt. In der Regel fand das germanische »Thing« unter einer Linde statt. Es handelte sich dabei um eine Ratsversammlung, in der auch über Streitund Rechtsfälle Gericht gehalten wurde. Ein Brauch, der durch die Zeiten unter so mancher Dorflinde noch beibehalten wurde und noch bis heute gilt die Dorflinde in vielen Gemeinden als ein Ort der Begegnung für Jung und Alt, sei es zum täglichen Beisammensein oder zum festlichen Vergnügen mit Tanz und Musik. Vgl. dazu auch Wilhelm Mannhardt: Der Baumkultus der Germanen und ihrer Nachbarstämme. Berlin: Gebrüder Borntraeger 1875, insbesondere S. 59 und S. 187f.

4.3 Die dritte Strophe: Welt versunken

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In einem nachgerade futurisch ausgerichteten Präsens erfahren wir nun in Kolmars Gedicht, dass auch vor diesem morbiden Schloss der dritten Strophe in der Linde am Tor wieder ihre Ringeltaube ruft. Es könnte eine Idylle des Friedens sowie einer beständigen naturhaften Erneuerung sein, die hier gezeichnet wird. Doch ist es genau der Ton eines dunkelnden Rucksens, der das Gegenteil evoziert. Ein schwerer, melancholischer U-Laut in der dreimaligen Assonanz dieser Metonymie: dunkelndem Rucksen ruft. Zwar ruft diese Taube wieder, was einen Kreislauf steter Wiederholung anzeigt, doch wird damit kein heller Frühlingsklang, auch als Aufkeimen neuer Hoffnung, mehr wahrgenommen. Ein weiteres Mal bedeutet damit die Erfahrung eines Hörens einen Umschwung im Gedichtgeschehen, werden wir so darauf aufmerksam gemacht, dass wir es eben nicht mit einer verklärenden Rückschau auf eine verlorene romantische Idylle zu tun haben, sondern mit einem modernen Gedicht, das sich seiner Gebrochenheiten durchaus bewusst ist und gezielt damit arbeitet. Dass ein Unbewusstes, noch Verborgenes durch die Erfahrung eines Hörens erst aktiviert wird, haben wir bereits in den zwei vorhergehenden Strophen kennengelernt. Hier nun wird mit dem dunkelnden Taubenrucksen zugleich etwas angerührt, das weiterhin Dunkelndes hervorruft, sowohl was das noch besonnte Fleckchen im Röhricht anbelangt als auch das umschattete Schloss mit geschwärzter Vergoldung. Diese Patina entstammt der inneren Wahrnehmung eines Ich, das verloren und ohne Resonanz bislang, einem Lieben vergeblich Mitteilung von dem zu machen versucht hatte, was von seinem Ort des Schauens aus dabei ist zu versinken. Alt und morsch geworden erweist sich die in dieser Weise wahrgenommene Topographie im Ruf der Taube schließlich als ein melancholischer Ort im Ich selbst, welcher bereits längst einer sich auch von Innen her ausbreitenden Verdunkelung anheimgefallen ist. In die positive Konstruktion des gemeinsamen Gedächtnisbildes schreibt sich so zugleich eine destruktive Bewegung von Niedergang und Zerfall ein. Es ist eben hier, wo die in der Allegorie angelegte Differenz zur Trennung führt, wo der Abgrund sich öffnet. Der in ihr als »Anders-Rede« angelegte Abstand zwischen Bild und Bedeutung wird zugleich zu einer »Rede des Anderen« im Sinne der Sprache eines Unbewussten.122 So mag der Ruf der Ringeltaube nicht zufällig auch der einer Taube des deutschen Waldes sein. Ein Wald, der mit Waldrebe und Efeu das längst weltversunkene Schloss, ehemals Heimstatt vermeintlich befreundeter Seelen, schon zu umkriechen begonnen hat. Dieser so berühmte Deutsche Wald, besungen von Dichtern wie ganz besonders Eichendorff und zur Zeit der Niederschrift von Kolmars Gedicht als tiefster Wesensgrund aller reinrassigen, arischen Deutschen gefeiert.123 Efeu als immergrüne Pflanze wiederum steht für 122 123

Vgl. dazu Weigel, Entstellte Ähnlichkeit (wie Anm. 112), S. 98f. Besonders Eichendorffs Dichtungen wurden von Literaturkritikern und -wissenschaftlern im Nationalsozialismus mit Vorliebe für eigene Zwecke umgedeutet. So

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üppiges Wachstum und gilt zudem als ein Attribut des Dionysos,124 sodass wir in der schlingpflanzenhaften Ausbreitung dieser Gewächse nun außerdem ein

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schreibt ein Rainer Schlösser in seinem Aufsatz: »Das einfältige Herz: Eichendorff als Geschichtsschreiber unseres Innern«, der in »Aurora: Ein romantischer Almanach V« im Jahr 1935 veröffentlicht wurde, folgende bemerkenswerten Sätze: »Da ist das Kräuseln des Rauchs am abendlichen Himmel, da ist das Schweigen der dörflichen Gärten, das ist die klingende Stille des Waldes, nach dem der Ewige Deutsche seit je ein unstillbares Fern- und Heimweh in sich trägt, da ist das Ziehen der Wolken und das Steigen der Nebel, das Rauschen der Brunnen und das ferne Bellen der Hunde; es ist das Schlagen der Lerchen und Schluchzen der Nachtigall, es ist überhaupt eine ganze deutsche Welt voller Gemüt, die es nicht geben würde, wenn sie nicht von Eichendorff gedichtet worden wäre.« Und Herbert Cysarz erklärt gar über selbigen Dichter vor der Erstaufführung von Eichendorffs »Freier« bei den Reichsfestspielen in Heidelberg am 31.7.1938 in einer Ansprache mit dem imposanten Titel: »Eichendorff und das große Deutschland«: »Das ist Eichendorffs Geschichte, das ist der Mythos, der durch Eichendorffs Natur, Gemeinschaft und Geschichte geht. Eine Geschichte, die uns heute vorerst allzu märchenhold und flügelleicht anmuten könnte, allzu wenig bluthaft verpflichtend. Die Unseren bekennen sich zu strengeren Satzungen der Geschichte, sie marschieren mit rauherem Tritt und unter blutigeren Fahnen. Indes auch Eichendorffs Geschichte bindet, indem sie verbindet. Sie bindet Geschlecht an Geschlecht. Sie richtet die Augen, die Herzen in einen unendlichen Zug des Fühlens und Wollens, der volklichen Selbstverwirklichung von den Ursprüngen her nach der Ewigkeit hin. Sie speit das Laue, das Halbe fort. [...] Ein Schloss, in dem das deutsche Mittelalter und die deutsche Renaissance lebt, aus dem die Not und Mahnung der alten westlichen zum Dichter der östlichen Mark spricht – für ihn wie für viele Gefährten gleich einer erhobenen Faust ganz Deutschlands gegen den Würger Napoleon. So wird Romantik zum Schlachtruf.« Vgl. Sander L. Gilman (Hg.): NS-Literaturtheorie. Eine Dokumentation. Frankfurt am Main: Athenäum 1971, S. 142 und S. 161. Bei soviel Gemüt, soviel ewig deutscher Natur, bei soviel »bluthaft« empfundener Geschichtszugehörigkeit, bei soviel Anti-Aufklärung und tiefempfundenem Waldesheimweh erübrigt sich jeder Kommentar. Wo reine Projektion am Werk ist, ist es müßig den Dichter zu rechtfertigen, der für derartigen Missbrauch nicht verantwortlich zu machen ist. Aufschlussreich an den hier aufgeführten Zitaten sind allein die Einblicke in den Zeitgeist, vor dessen Hintergrund Kolmars Gedicht entstanden ist. Wie sehr für Kolmar ein böser Zauber über diesem deutschen Wald gelegen hat, lässt sich ebenfalls in der 1940 fertig gestellten Erzählung »Susanna« nachlesen. Nachdem die Protagonistin Susanna die Erzählerin gefragt hatte, ob sie sich ebenfalls freue, eine Jüdin zu sein, reflektiert diese aus der Erinnerung an jene Szene Jahre später: Ich senkte den Kopf und murmelte undeutlich, sprach hastig ein Wort vom Wald. Er wälzte sich fern, geduckt und massig, ein düster drohendes Ungetüm mit buckligem Rücken. Susanna erblickte ihn so. ›Wir wollen nicht hingehn, sonst frisst er uns auf. Wir gehen erst hin, wenn er nicht mehr verzaubert ist, wenn er wieder klar ist und voller Bäume‹. Vgl. Kolmar, Susanna (wie Kap. 1.1, Anm. 1), S. 21. Nach griechischer Überlieferung wurde Dionysos mit Efeu bekränzt. Vgl. Otto Holzapfel: Lexikon der abendländischen Mythologie. Freiburg i. Br.: Herder 1993, S. 114. »Der efeu- und rebenumwundene Thyrsosstab war des Gottes Hauptattribut

4.3 Die dritte Strophe: Welt versunken

149

Zeichen des Dionysischen erkennen, vor dessen Grausen kein apollinisches Kunstwerk mehr heilsame sowie Schutz gewährende Sublimierung zu bieten vermag.125 Stillschweigend vollzieht die Kreatur ihr Werk, erneuert sich immer wieder die Natur. Das Elysium abendländisch-deutscher Geistesgeschichte als ein nicht nur für das Ich verlorener, sondern zugleich auch von einem jeglichen Menschlichen verlassener Ort,126 von dem her kein antwortendes Du mehr zu vernehmen ist, entpuppt sich angesichts derartig sich selbst überlassener Gewalten als ein zerbrechliches, wenn auch kunstvoll gewirktes Schneckenhorn, dessen Verlust unaufhaltsam scheint.127 Nichts als die wirkliche, ja rohe Natur trägt hier noch den Sieg davon.128 Es ist auch dieser Kontext, der hier

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[...]«, lässt uns außerdem Lurker wissen. Manfred Lurker: Dionysos. In: Ders.: Lexikon der Götter und Dämonen. Stuttgart: Kröner 1989, S. 113. Über diesen Zusammenhang macht Nietzsche beispielsweise folgende Ausführungen: »Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende, heilkundige Zauberin, die Kunst; sie allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche und Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt.« Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (wie Anm. 63), S. 53. Ich beziehe mich hier auf den Begriff Elysium wie Friedrich Schiller ihn in seiner Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung« dargelegt hat: »Er [der moderne Dichter, F. H.] mache sich die Aufgabe einer Idylle, welche jene Hirtenunschuld auch in Subjekten der Kultur und unter allen Bedingungen des rüstigsten, feurigsten Lebens, des ausgebreiteten Denkens, der raffiniertesten Kunst, der höchsten gesellschaftlichen Verfeinerung ausführt, welche, mit einem Wort, den Menschen, der nun einmal nicht mehr nach Arkadien zurück kann, bis nach Elysium führt.« Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Werke und Briefe. Band 8: Theoretische Schriften. Frankfurt am Main: Deutscher Klassikerverlag 1992, S. 775. Über das Verblassen und Zerfallen der Bedeutung von Zeugnissen deutschen Kulturguts aufgrund der eigenen zeitgenössischen Erfahrung als Jüdin in Nazideutschland schreibt Kolmar am 22. Juli 1941, in eben jenem Monat, in dem sie zur Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie verpflichtet worden war, an ihre Schwester folgende, aufgrund allgegenwärtiger Zensur wahrscheinlich eher noch vorsichtigen, Zeilen: »Zum Lesen komme ich jetzt nicht viel, und mit Büchern geht es mir eigentümlich. Ich erlebe in letzter Zeit so eine Art – wie soll ich’s nennen? – ›Götterdämmerung‹; Dichternamen, die mir von Schule und Haus her als gewichtig galten, werden in ihren Werken auf die Waage gelegt und – zu leicht befunden.« Kolmar, Briefe (wie Anm. 8), S. 93. Diesbezüglich bemerkt abermals Schiller in seiner bereits erwähnten Abhandlung: »Wirkliche Natur existiert überall, aber wahre Natur ist desto seltener, denn dazu gehört eine innere Notwendigkeit des Daseins. Wirkliche Natur ist jeder noch so gemeine Ausbruch der Leidenschaft, er mag auch wahre Natur sein, aber eine wahre menschliche ist er nicht; denn diese erfordert einen Anteil selbständigen Vermögens an jeder Äußerung [...]. Wirkliche menschliche Natur ist jede moralische Niederträchtigkeit, aber wahre menschliche Natur ist sie hoffentlich nicht [...].« Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung (wie Anm. 126), S. 780. »Jede moralische Niederträchtigkeit«, wir sind in der wirklichen Natur des Deutschlands

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4 In der Spur des Anderen: Das Gedicht »Garten im Sommer«

mitzureflektieren wäre und der noch einen zusätzlich verdunkelnden Schatten zusammen mit diesem Taubenrucksen werfen mag. Im Zusammenhang mit diesem Ruf kommt uns nun außerdem als ein weiteres Ereignis des Hörens jenes Summen aus der ersten Strophe mit ihrer Anspielung auf das Lied der Lieder wieder in den Sinn und lässt uns zugleich an eine andere Taubenart und deren Ankündigung eines allerdings ganz anderen Frühlings denken. Diesmal ist es das Bild der Turteltaube, jener zierlicheren und südlicheren Taubenart, von der es im Hohelied nach der von Torczyner herausgegebenen Übersetzung heißt: Die Blumen zeigen sich im Grunde, Die Zeit des Rebtriebs ist da, Der Turtel Ruf schallt uns im Lande, Die Feige treibt ihre Köpfchen, Die Reben, sie blühen, Duft spendend.129

Statt Lindenbaum, Waldrebe und Efeu nun also der Feigenbaum, Trieb und Duft von Weinreben, Blumen auf der Erde. Es ist durchaus nicht nur ein Lied allein, das in Kolmars Gedicht in den Dingen schläft.130 Doch erstirbt der Klang des einen wie des anderen hier im Gedicht nach und nach, überschattet von einem Rufen, das ins Dunkelnde weist. In der Gegenwart, die sich hier äußert, vernehmen wir eben nicht die Turteltaube – vertrauter Inbegriff Liebender von jeher –, sondern allein noch jene weitaus robustere, größere Ringeltaube. Zwei Idyllen im klassischen Sinn sind bis hierher vor Augen geführt worden.131 Da ist zum einen der Traum einer möglichen Glückserfüllung im sommerlichen Garten der ersten Strophe, der sich nicht allein auf das naturhafte Kindheitsparadies summender Hummeln und Bienen beschränkt, sondern in seiner Anspielung auf das Schir ha Schirim auf einen kulturgeschichtlichen Zusammenhang eigener Art verweist, der hochentwickelte, differenzierte Vorstellungen einer geglückten, Leidenschaft und Dialogfähigkeit miteinander verbindenden Liebesbegegnung zur Sprache bringt. Diese Vision gelungener Bezogenheit zwischen dem Eigenen und dem Anderen, zwischen Ich und Du scheint umso tiefgründiger, als sie sich aus Texten jüdischer Überlieferung

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von 1937 als Ort und Zeitpunkt von Kolmars Gedicht angekommen. Schillers Elysium kann angesichts der Überwucherung durch derartig heillose Gewalt roher Natur allerdings nur mehr noch untergehen. Der Lieder Sang, Kapitel 2, Vers 12–13 (wie Anm. 56), S. 296. Vgl. Eichendorffs Gedicht »Wünschelrute«. In: Ders., Neue Gesamtausgabe (wie Anm. 91), S. 112. Ich beziehe mich dabei unter anderem auf die Ausführungen von Renate Böschenstein-Schäfer: »[...] so entsteht das Schema des locus amoenus: Gras, kühle, Quelle, schattige Bäume. Verschiedene Baumarten, Vogelgesang, das Zirpen der Zikaden, das Gurren der Tauben, das Bienengesumm variieren die Anmut solcher Orte. [...] Der Charakter des Abgeschirmten, Eingegrenzten, Geborgenen bestimmt den Raum der Idylle.« Vgl. Böschenstein-Schäfer, Idylle (wie Anm. 108), S. 8f.

4.3 Die dritte Strophe: Welt versunken

151

speist und somit auch als Ausdruck einer Identitätssuche der Dichterin in Verbindung mit der eigenen jüdischen Herkunft gelesen werden kann. Doch erweist sich der schöne Traum in Konfrontation mit der aktuellen Wirklichkeit des Gedichts als nicht haltbar und eben vor allem nicht mitteilbar. Kein Du lässt sich mehr in das Weißt du noch? dieser Erinnerung einbeziehen. Der idyllischen Vorstellung folgt schließlich die ernüchternde Wendung der zweiten Strophe als Ankunft in der kalten Gegenwart des Gedichts. In der dritten Strophe wiederum findet sich in der Allegorie des sich selbst überlassenen, bereits vom Untergang gezeichneten, weltversunkenen Schlosses mit kunstvoll geschmiedetem Gitter zugleich eine zweite Idylle entworfen, deren Imaginäres sich offensichtlich aus dem Kulturgut des abendländischen Humanismus als einem möglichen »Aufenthaltsort der Seligen« speist. Doch sind die griechischen Vasen für die Stimme, die hier spricht, längst zersprungen und mit Moos bedeckt. Die Erinnerung einstmals gemeinsamer glücklicher Behausung in deutscher Geistesgeschichte, welche nun gleichermaßen von jedweder bewahrenden menschlichen Teilhabe verlassen dem Verfall preisgegeben ist, erweist sich als verlorener Ort, dem das lyrische Subjekt im Gedicht nur mehr mit dem Erleben einer Ausgeschlossenheit gegenübersteht, die allein noch erlaubt, diesen Niedergang von fernher zur Kenntnis zu nehmen. In diesem Begreifen des Scheiterns, dass eine irgendwie mögliche Zugehörigkeit für das lyrische Subjekt dieser Verse noch zu erreichen wäre, findet sich das eigentlich Elegische in Kolmars Gedicht.132 Ausgesetzt zwischen zwei Entwürfen eines – wenn man so will – doppelt verlorenen »Paradieses« bleibt dem Ich schließlich nur die Wirklichkeit jenes ins Wasser herabzitternden gilbenden Blattes der ersten Strophe sowie dieses noch besonnten Fleckchens im Röhricht der dritten Strophe, auf das sich – so scheint es – kein Lieber mehr hinzugesellen will.133 132

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Über die Differenz zwischen Idylle und Elegie schreibt Schiller in »Über naive und sentimentalische Dichtung«: »Entweder ist die Natur und das Ideal ein Gegenstand der Trauer, wenn jene als verloren, dieses als unerreicht dargestellt wird. Oder beide sind ein Gegenstand der Freude, indem sie als wirklich vorgestellt werden. Das erste gibt die Elegie in engerer, das andere die Idylle in weitester Bedeutung.« Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung (wie Anm. 126), S. 748. Schillers Ausführungen sind dabei weniger als strenge Begriffsbestimmungen, denn als Versuche einer Klärung zu verstehen, die sich bestimmten Begrifflichkeiten von verschiedenen Seiten her anzunähern sucht. Vgl. dazu auch Norbert Oellers: Schiller. Elend der Geschichte. Glanz der Kunst. Stuttgart: Reclam 2005, S. 488. »Alle Völker, die eine Geschichte haben, haben ein Paradies, einen Stand der Unschuld, ein goldenes Alter; ja jeder einzelne Mensch hat sein Paradies, sein goldenes Alter, dessen er sich, je nachdem er mehr oder weniger Poetisches in seiner Natur hat, mit mehr oder weniger Begeisterung erinnert.«, schreibt Friedrich Schiller ein weiteres Mal in »Über naive und sentimentalische Dichtung«. Diese Aussage auf Kolmars Gedicht anwendend erkennen wir, dass darin allerdings zwei Vorstellungen eines goldenen Alters einander gegenübergestellt werden, die dennoch gleichermaßen unerreichbar sind. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung (wie Anm. 126), S. 771.

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4 In der Spur des Anderen: Das Gedicht »Garten im Sommer«

Ungerührt vom Zerfall kunstvoll gestalteter Bauwerke vollzieht sich der Zeiten Fluss, gleichgültig erneuert sich die Natur. Sowohl zeitlich wie räumlich, noch betont durch das kunstvoll verzierte Gitter, wird so ein Sinnhorizont entworfen, dem in seiner totalisierenden Kreisform Symbolisches zugeschrieben werden kann. Die arbiträre Offenheit der Schlossallegorie schlägt damit in die symbolische Geschlossenheit von etwas um, das wie ein toter Gegenstand dem Untergang geweiht ist. Gleichsam wie ein Schneckenhorn, das der Flut geschenkt wird und sich so schließlich doch als ein Medium des Wassermanns erweist. Auch hier also, in der dritten Strophe, erkennen wir wiederum eine fallende Linie zum Wasser hin. Und ist es nicht eigentlich bereits ein Wassermannschloss, von dem hier die Rede ist? Ein Welt-versunkener Ort, über den die Flut längst sich kräuselnd und sich bauschend hinweggeht? Diese seidene Flut, die doch Kälte blinkt. Erwacht aus allzu entlegener mitternächtlicher Vision eines fern verklingenden Liebeslieds, außerhalb jeglicher – dem Vergehen anheim gegebenen – deutschen Idyllenlandschaft finden wir das Ich, noch am Ufer sitzend. Statt der Antwort eines Lieben nur mehr das dunkelnde Rucksen der Ringeltaube im Ohr. Im Angesicht die Flut. Schenk’ ich’s der Flut ... Es ist ein sehr spezifischer Chiasmus von Hören und Sehen, mit dem die Dichterin auf die vierte Strophe im Gedicht einstimmt. Die Seele neigt sich vor, tödlich, als wäre da Ein Gott und will nach ihm im Glanz des Wassers fragen, das frei und würdig scheint, des Schwanes Bahn zu tragen ... (Paul Valéry)

4.4

Die vierte Strophe: Tauchen zum Grund

Wo das Heimische verloren geht, ist das Unheimliche nicht fern. Aus der horizontalen Gerichtetheit in den Raum eines »Garten im Sommer« kippt das Gedicht nun um in eine Vertikale zwischen Himmel und Unterwelt und gerät so mehr und mehr ins Gegenweltliche. Von einem Grund noch unter dem Wasser geht es wiederum in die Höhe eines Göttlichen, das von oben her auf das Ich niederstürzt. Wassermann und Schwan, Fabelwesen und Tier, verdeutlichen als Metaphern noch diese Abgewandtheit von allem Menschlichen. Es ist ein Wissen vom Grund, vom Ab-Grund auch. Als hätte die »erschütternde Gewalt des Tones« im dunkelnden Rucksen des imaginären Taubenrufs etwas aufgerissen und zum Vorschein gebracht, was sich längst mit dem kalten Umschwung der zweiten Strophe angekündigt hatte, eröffnet sich mit dieser vierten Strophe eine zunehmend sich verdunkelnde Unbehaustheit.134 Nicht 134

Zu dieser »Gewalt des Tones« vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (wie Anm. 63), S. 29.

4.4 Die vierte Strophe: Tauchen zum Grund

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nur Licht und Wärme schwinden vom einzig besonnten Fleckchen am Ufer, sondern auch die Befürchtung breitet sich aus, dass das Du jetzt fortgehen wird: Gehst du jetzt? ... soll ich schon folgen? Führ mich; ich friere ... ich fürchte ... Bis zu den Mummeln, dem gelben Leuchten, möchte ich schwimmen. Sieh’, der Flausch deiner Brust wuchert algenhaft, und ich weiß: der Wassermann bist du.

Eine weitere Steigerung ins Frierende, Furchterfüllte wird in diesen Versen vollzogen. Im Frieren und Fürchten aber geht der Blick noch einmal hinüber über das Wasser bis zu den Mummeln, dem gelben Leuchten. Jener auch als »Nuphar lutea« bezeichneten Seerosenart, die gern in stillen Gewässern wächst und deren Blüten dottergelb und duftend sind. Gelb sei, so schreibt Johann Wolfgang von Goethe in seiner »Farbenlehre«, die »nächste Farbe am Licht«, sie führe in »ihrer höchsten Reinheit immer die Natur des Hellen mit sich« und besitze »eine heitere, muntere, sanft reizende Eigenschaft«.135 So mag es immerhin noch der sonnenhafte Glanz der Wasserpflanzen sein, der die Blicke des Ich anzieht und die mit ihrer lichten Blüte als ein Hoffnungsschimmer inselhafter Rettung den Wunsch nach Hinüberschwimmen wecken. Ihr volkstümlicher Name Mummeln aber weist bereits in das Reich des Wassermanns hinab, der, wie die Sage wiederum erzählt, gern seinen Aufenthalt in »Mummelseen« hat.136 Mithin legt sich auf dieses helle Leuchten schon der Schatten einer unterweltlichen Tiefe, wie auch die Farbe Gelb in einem Gedicht von 1937 eben nicht einfach ungetrübt Lichtes meinen kann, sondern unterschwellig Abgründiges mit sich führen muss. Eine Farbe, die nach langer unheilvoller Tradition nun ein weiteres Mal zur Stigmatisierung gegenüber Juden eingesetzt wird, kann für die jüdische Dichterin kaum unbelastet in den Text aufgenommen worden sein.137 Vielmehr ist davon auszugehen, dass mit dieser gelben Farbe 135

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Johann Wolfgang von Goethe: Goethes Werke. Band XIII. Naturwissenschaftliche Schriften I. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Dorothea Kuhn und Rike Wankmüller. München: C. H. Beck 1981, S. 495. Vgl. dazu beispielsweise die Sage »Mummelsee« in Brüder Grimm (Hg.): Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1965, S. 79. Diese Sage berichtet von einem im Schwarzwald gelegenen »Mummelsee«, der von merkwürdigen Geistern bewohnt zu sein scheint. Bereits im Mittelalter wurden ein aufgenähter gelber kreisförmiger Stoffflecken sowie das Tragen spitz zulaufender hoher Hüte zur Kennzeichnung der Juden eingeführt. Dies ging einher mit ihrer zunehmenden Ghettoisierung. Die Farbe Gelb war dabei negativ konnotiert. Sie stand für Seuchengefahr und Neid. Vgl. dazu Rudolf Hirsch und Rosemarie Schuder: Der gelbe Fleck. Wurzeln und Wirkungen des Judenhasses in der deutschen Geschichte. Essays. Köln: PapyRossa Verlagsgesellschaft 2006.

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4 In der Spur des Anderen: Das Gedicht »Garten im Sommer«

eine Metapher eingeführt wird, die des öfteren in Kolmars Texten aufzufinden ist und dabei eine jeweils eigene semantische wie auch referentielle Anreicherung erfährt, indem sie immer wieder auch – wie Birgit Erdle zu Recht herausgestellt hat – »die Bezeichnung als Anderer« sowie die damit einhergehende Geschichte der Verfolgung aufruft.138 Doch während in einem Gedicht von 1933 mit dem Titel »Die gelbe Rose« noch eine Rose – die auch an jene über Nacht erblühte Rose aus »Garten im Sommer« erinnern mag – das blühende Haupt geöffnet hatte, um damit zart und dunkel umlaubt dem engen Himmel jener, die sich selbst besser preisen als Jude oder Hottentott, ein dem Kranz des ewigen Todes entfallenes Anderes entgegenzusetzen, ist es hier nun eine Mummel, eine Wasserpflanze, die mit ihrem gelben Leuchten Sehnsucht nach Hinüberschwimmen weckt.139 So wird das Gelb, im Gegensatz zum Verfolgenden und Vernichtenden der umgebenden Welt, in der es als negative Farbe von Auswurf und Verwerfung gilt, in Kolmars Gedicht als etwas gewürdigt, das durchaus im Sinne von Goethes Farbenlehre Lichtes, Helles, Heiteres, ja Reines transportiert und damit Identifikatorisches freisetzt, das zu erreichen ersehnt wird. Damit erfährt die von außen aufgezwungene negative Heteronomie von der Dichterin ein weiteres Mal eine Umwertung ins Positive, Selbstbezügliche eines zwar nur mehr entfernten, doch anziehenden gelben Leuchtens, das gleichwohl unerreichbar, weit draußen, bleibt.140 Denn es ist schon eine Wassermannsblume, die so lockt, eine Mummel eben, die zwar verheißungsvoll herüberscheint, doch zugleich hinabweist in jene Gegenwelt eines ganz Anderen unter dem Wasser, wo der Wassermann haust. Sieh’, der Flausch deiner Brust ... Ein weiteres Mal vernehmen wir jenes metrische Versschema, das untergründig das Gedicht durchpocht und trägt: –x –xx –. Als würde sich die kleine tänzerische Sequenz vom Anfang, die eine Stimme auf der Suche nach einem Du in »Garten im Sommer« in Gang gesetzt hatte, nun in einen dunkel lockenden Rhythmus wandeln, der mit der Figuration eines Wassermanns das Ich in einen Unterwassertanz hineinzuführen sucht. Zugleich fragt sich, ob hier nicht ein letzter Nachhall des Schir ha Schirim noch zu vernehmen ist. So heißt es dort nach Klaus Reicherts Übersetzung: Sieh doch – schön bist du mein Liebster ja wie lieb, unser Bett ja wie üppig grün.

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Vgl. dazu Erdle, Antlitz – Mord – Gesetz (wie Anm. 26), S. 112, Anm. 84. Das Gedicht »Die gelbe Rose« gehört zum Verszyklus DAS WORT DER STUMMEN von 1933. Vgl. LW, Gedichte 1927–1937, S. 360. Vgl. dazu Bodenheimer, Wandernde Schatten (wie Kap. 1.2, Anm. 63), S. 22.

4.4 Die vierte Strophe: Tauchen zum Grund

155

Hinnecha – (»sieh«) lautet das hebräische Wort. Auch der algenhafte Flausch der Brust eines Wassermanns ist als üppig grün vorstellbar, würde aber nun wohl ein ganz anderes Bett bereiten als jenes, das im Hohelied gepriesen wird.141 Und ich weiß: der Wassermann bist du. Derartige Gewissheiten stellen sich nicht über einen Akt reflektierender Bewusstseinsbildung her. Sie bereiten sich lange vor, steigen allmählich, vielleicht sogar widerstrebend aus der Tiefe des Unbewussten nach oben.142 Von so weit her durch der Zeiten Ewigkeit dieses algenhafte Schleiern und Hinüberwehn. Geschmückt mit den Attributen einer wildwüchsigen, archaischen Männlichkeit steht der Wassermann hier für den Lebenstrieb uralter schweigender Geschöpfe aus dem Unterwasserreich wie auch für das Dionysische einer elementaren Triebhaftigkeit und Lust, als einer Verführung von jenseits jeglicher Sprache und Begrifflichkeit. Etwas Diffuses, Unbestimmtes, »Flauschiges« geht damit einher.143 Etwas, das einlädt zum Tanz unter Wellen. Denn der Wassermann ist auch eine geheimnisvolle, betörende Figur.144 Zwar ist er in Literatur und Sage nicht gerade häufig anzutreffen, aber geben tut es ihn schon.145 Von Triton war ja bereits die Rede, jenem 141 142

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Vgl. Reichert, Das Hohelied Salomos (wie Anm. 53), S. 21. Über dieses Verhältnis zum Unbewussten führt Hartwig Suhbier in seiner Untersuchung über den Wassermann aus: »Die folkloristische Tradition stattete ihn [den Wassermann, F. H.] also aus mit einer Ambivalenz, an der dichterische Phantasie sich durchaus zu entzünden vermochte, zumal er – ein Wesen aus der Tiefe des Wasser – auch als Symbol für die Macht des Unbewussten taugt.« Vgl. Hartwig Suhbier: Der Mann, den es nicht geben darf. Anmerkungen zur Figur des Wassermanns in der deutschen Literatur. In: Roebling (Hg.), Sehnsucht und Sirene (wie Anm. 109), S. 352. In ihrer 1940 fertiggestellten Erzählung »Susanna« greift Gertrud Kolmar dieses Motiv dann in der Gestalt des Meergotts abermals auf, wenn sie Susanna sagen lässt: Ich kann nicht umkehren. Mein Schiff ist in Trümmern. Und meine Kleider zerfasern und fallen mir ab; aber ich bin nicht nackt ... ich wehe so ... in einem Wasserschleier ... Und der Meerkönig kommt und sieht mich und findet mich schön. Weißt du, wie der Meerkönig ist? Seine Brust ist mit schwarzgrünen Algen ganz buschig verpelzt [...]. Wäre es zuviel vermutet, dass Susanna gerade deshalb nicht mehr in der Lage ist, das »Unterwasserreich« noch zu verlassen, weil »ihr Schiff in Trümmern ist«? Und inwiefern gibt die in dieser Weise benannte Aussichtslosigkeit über Kolmars eigene Situation Auskunft? Vgl. Kolmar, Susanna (wie Kap. 1.1, Anm. 1), S. 27. Hartwig Suhbier erklärt diesen Zusammenhang betreffend: »Der Wassermann ist eine Verführer-Figur, folglich ist er auch dort zu finden, wo Gelegenheit zur Verführung in besonderem Maß gegeben war – beim Dorftanz unter der Linde beispielsweise, und gar noch ›In des Maien mildem Glanz‹, wie in dem Gedicht von Justinus Kerner [...].« Vgl. Suhbier, Der Mann, den es nicht geben darf (wie Anm. 142), S. 359. Dazu bemerkt wiederum Suhbier: »Der Wassermann, auch Nöck, Neck, Nix oder Nickelmann geheißen, dieser [...] Wassergeist, hat – so der Befund – deutschsprachige Dichterinnen und Dichter nicht sonderlich zu inspirieren vermocht. Seit Herder jene dänische Ballade unter dem Titel ›Der Wassermann‹ publizierte, seit die

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4 In der Spur des Anderen: Das Gedicht »Garten im Sommer«

Meergott, Kind des Poseidon und der Amphitrite, der im goldenen Palast auf dem Meeresboden wohnt und das Muschelhorn bläst, sei’s zum Heil oder Unheil oder einfach nur zur schlichten Verführung eines vorübergehenden Objektes seiner Begierde.146 Auch diese Erzählungen kommen von weit her aus der Zeiten Tiefe der Antike zu uns und geben noch Auskunft von der tief unbewussten Sehnsucht des Menschen nach den eigenen Uranfängen im Meer.147 Sich wandelnd und verwandelnd tauchen die Erzählungen vom Meergott oder späterhin dann vom Wassermann durch die Zeiten hin immer wieder auf, um schließlich Eingang in Volkssage und Dichtung zu finden.148 Dabei ist dieser Elementargeist häufig lockend und verlockend in einem und ruft doch zugleich Furcht und Schrecken hervor, kennt sich doch kein Menschenwesen

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Brüder Grimm in den ›Deutschen Sagen‹ (1816/18) und in der ›Deutschen Mythologie‹ (1835) die volkstümlichen Vorstellungen vom Wassermann zusammen getragen und damit auch für Poeten verfügbar gemacht haben, taucht dieses männliche Wasserwesen in der deutschen Literatur bis heute immer wieder auf – aber eben nur selten.« Entsprechendes ließe sich über die Forschungslage zum Wassermann sagen, möchte ich anfügen. Auch diesbezüglich ist der Befund eher dünn. Vgl. ebd., S. 352. Zu Triton vgl. auch Kap. 4.3, Anm. 105. Zudem erfahren wir bei Helen King: »Wassermänner (oft auch Tritonen genannt) haben zwar ihren Platz in Kunst und Literatur, aber sie kommen weit weniger häufig vor als Meerjungfrauen [...].« Helen King: Halbmenschliche Wesen. In: John Cherry (Hg.): Fabeltiere. Von Drachen, Einhörnern und mythischen Wesen. Stuttgart: Reclam 1997, S. 249. Ich möchte an dieser Stelle auf die meiner Ansicht nach in diesem Zusammenhang sehr interessanten Ausführungen des Psychoanalytikers und Zeitgenossen Freuds, Sandor Ferenczis, hinweisen, die dieser in seinem »Versuch einer Genitaltheorie« dargelegt hat: »Indem wir die in gewissen Seeleninhalten analytisch als solche erkannten ›Symbole‹ nicht als wahllos-spielerische Äußerung der Phantasietätigkeit, sondern als historisch bedeutsame Spuren ›verdrängter‹ biologischer Tatbestände auffassten, gelangten wir zu wesentlich neuen und vielleicht nicht ganz unrichtigen Annahmen über den Sinn der Genitalität im allgemeinen und vieler ihrer EinzelErscheinungen. Es ist kaum abzusehen, welcher Entwicklungen diese Betrachtungsweise noch fähig ist und wie viel unbewusstes Wissen in den naiven Überlieferungen der Folklore, der Märchen und Mythen und insbesondere in der üppig wuchernden Symbolik der Träume noch versteckt ist.« Vgl. Sandor Ferenczi: Versuch einer Genitaltheorie. Leipzig, Wien, Zürich: Internationaler psychoanalytischer Verlag 1924, S. 118f. Davon, dass das Wasser als Ursprung aller Schöpfung gilt berichten viele Mythen und auch so manche männliche Wassergottheit spielte dabei eine entscheidende Rolle. Vgl. dazu auch Selbmann, Mythos Wasser (wie Anm. 100), S. 10 und S. 17. Auf diesen Überlieferungsstrang verweist auch Beate Otto in ihrer Studie zur Unterwasserliteratur: »Diese Figur des Fischmenschen oder Wassermanns taucht in den unterschiedlichsten Sagen und naturwissenschaftlichen Berichten über alle Zeiten hinweg immer wieder auf.« Vgl. Beate Otto: Unterwasser-Literatur. Von Wasserfrauen und Wassermännern. Würzburg: Königshausen und Neumann 2001, S. 173.

4.4 Die vierte Strophe: Tauchen zum Grund

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aus mit dem Reich des Wassers, aus dem er hervorkommt, in das er hinabzieht und in dessen Tiefen der Mensch sich allein bei Gefahr des Lebens hinabbegeben könnte. Schließlich gibt es immer wieder auch deutliche Warnungen vor diesem gefährlichen Verführer. In der von Johann Gottfried Herder überlieferten und 1778/79 überarbeiteten dänischen Volksballade »Der Wassermann« finden sich beispielsweise folgende Verse: Ich rath euch Jungfern, was ich kann: Geht nicht in Tanz mit dem Wassermann.

Eben dies aber hatte das schöne Mädchen getan und war dabei elendig mit dem Wassermann untergegangen. Noch lange hörte man an Land, wie es im Wasser unten schrie. Auch das weiß die Ballade zu berichten.149 Es ist also kein ungefährlich Ding mit dem Wassermann. Häufig kommt er gar in schöner, verführerischer Gestalt und erweist sich als schwungvoller Tänzer, dem es zuweilen beliebt, am Dorftanz unter der Linde teilzunehmen, und gerade besonders lebens- und liebeshungrige Mädchen neigen dazu, ihm zu verfallen.150 Ein gutes Ende aber nimmt das selten. Zu gegensätzlich sind die Ordnungen, die da aufeinander treffen. Das nasse Element kann – bei aller Sehnsucht nach selbstvergessener Hingabe, bei aller Faszination durch das ganz Andere und Fremde – dem Menschen am Ende nur verderblich sein. Und anders als so manche Wasserfrau, ob sie nun Kleine Meerjungfrau, Undine oder Melusine heißen mag, denkt der Wassermann keineswegs daran, um einer sterblichen Seele willen fortan ein Leben auf dem Land zu führen, sondern ob es nun will oder nicht, das Mädchen muss mit ihm hinab in die tiefe Flut.151 149

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So lauten weitere Verse von Herders aus dem Dänischen überlieferten Gedicht: Und als sie kamen auf den Sund, Das schöne Mädchen sank zu Grund. Noch lange hörten am Lande sie, Wie das schöne Mädchen im Wasser schrie. Johann Gottfried Herder: Der Wassermann. In: Ders.: Volkslieder. Übertragungen. Dichtungen. Hg. von Ulrich Gaier. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1990, S. 333f. Von einem solchen Vorfall erzählt zum Beispiel die von den Brüdern Grimm überlieferte Sage »Tanz mit dem Wassermann«, die offenbar auch Justinus Kerner als Inspirationsquelle für sein 1811 veröffentlichtes Gedicht »Der Wassermann« gedient hat. Brüder Grimm (Hg.), Deutsche Sagen (wie Anm. 136), S. 74f. Vgl. dazu Ortrud Gutjahrs Ausführungen zur Gestalt der Undine: »Diese Undine ist wesenhaft dadurch bestimmt, dass sie keine Seele besitzt und nur durch die Heirat mit einem Mann zur beseelten Frau werden kann [...].« Entsprechendes gilt für die Kleine Meerjungfrau in Andersens Märchen sowie ebenfalls für die Gestalt der Melusine, während der Wassermann offenbar nirgends überhaupt von einem derartigen Anliegen getrieben wird. Ihn interessiert allein sein ganz eigenes Vergnügen mit der Menschenfrau, wobei die Seele dabei für ihn, der ohnehin unsterblich ist, nicht die geringste Rolle spielt, deren Verlust durch die Verbindung mit dem Was-

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Gerade in der deutschen Romantik dann wurden – wie Peter von Matt hervorgehoben hat – die Elementargeister zu einem »aufregenden Denk- und Bildungszusammenhang«.152 Besonders anschaulich aber erzählt davon wieder einmal Joseph von Eichendorff in einer als »Märchen« ausgegebenen Erzählung innerhalb seines Romans »Ahnung und Gegenwart« (1812).153 Auch diesmal erfahren wir, wie so häufig bei Eichendorff, von der Idylle eines in Waldeinsamkeit gelegenen Schlosses, das von einer alleinstehenden, lebenshungrigen jungen Frau bewohnt wird, die dort ehemals einzig mit ihrem tief religiösen, völlig weltabgewandten Vater gelebt und es von diesem schließlich geerbt hatte. Die junge Frau, Ida genannt, die schon immer als eigensinnig galt und wohl allzu lange weltfern und abgeschieden zu leben gezwungen worden war, lässt die dunkle Burg des Vaters in ein prachtvolles, weißes Schloss umbauen. Umgeben von einem idyllischen Park mit Fluss wird es fortan zu einem Ort vieler rauschender Feste und anderweitiger Vergnügungen. Zusätzlich zu allen anderen Reichtümern aber hatte der Vater Ida noch einen Ring vermacht, mit dem es eine besondere Bewandtnis hat. Derjenige, dem sie ihn eines Tages überreicht, wird und muss ihr zukünftiger Gemahl werden. Zugleich zeigt der Ring, der aus reinem Gold gefertigt ist, durch Eintrübung an, wenn der Lebenswandel seiner Trägerin zu wünschen übrig lässt. Es kommt der Tag, an dem die junge Frau, die sich an niemanden binden mag und nur nach den eigenen Launen und Gelüsten lebt, erkennen muss, dass sich der Ring ganz und gar verdunkelt hat. Voller Unmut wirft sie ihn in weitem Bogen in den Fluss, wo er »sogleich in den tiefsten Abgrund« hinabtaucht. Dort aber findet ihn der Wassermann, der ihn an sich nimmt und nun mit dem Anspruch, die dazugehörige Braut zu holen, an Land kommt: Alle Gäste waren fortgezogen, die ganze Gegend lag still und schwül. Einzelne seltsam gestaltete Wolken zogen langsam über den dunkelblauen Himmel; manchmal flog ein plötzlicher Wind über die Gegend, und dann war es, als ob die alten Felsen und die alten Bäume sich über den Fluss unten neigten und miteinander über sie besprächen. Ein Schauder überlief Ida. Da sah sie auf einmal einen schönen, hohen Ritter, der auf einem schneeweißen Rosse die Straße hergeritten kam.154

So kommt der Wassermann auch hier in schöner, geheimnisvoller Gestalt. Nachdem er der erschrockenen Ida den gefundenen Ring gezeigt hat, küsst er sie und nennt sie seine Braut. Schon am nächsten Tag wird er sie nach einer rauschhaft durchtanzten Nacht für immer in sein Unterwasserreich fortführen,

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sermann allerdings eine immense Bedrohung für die Menschenfrau bedeutet. Vgl. Ortrud Gutjahr: Ironisierter Mythos? Ingeborg Bachmanns Undine geht. In: Roebling (Hg.), Sehnsucht und Sirene (wie Anm. 109), S. 223. Peter von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur (1991). München: Deutscher Taschenbuchverlag 2004, S. 232. Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart. In: Ders.: Neue Gesamtausgabe der Werke und Schriften in vier Bänden. Zweiter Band. Romane. Novellen. Märchen. Erlebtes (wie Anm. 91), S. 41–46. Ebd., S. 44.

4.4 Die vierte Strophe: Tauchen zum Grund

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nicht ohne mit seinen Fluten zuvor Schloss und Park gründlich verwüstet zu haben. Das »Märchen« endet mit den Worten: Frühmorgens als die Sonne fröhlich über das Gebirge schien, sah man den Schlossgarten auf dem Berge verwüstet, im Schlosse war kein Mensch zu finden und alle Fenster standen weit offen. Die Reisenden, die bei hellem Mondenschein oder um die Mittagszeit am Flusse vorübergingen, sahen oft ein junges Mädchen sich mitten im Strome mit halbem Leibe über das Wasser emporheben. Sie war sehr schön, aber totenblass.155

Und auch diesmal gibt es keine Rückkehr mehr aus der einmal vollzogenen Umkehr von der irdischen Ordnung. Das Mädchen bleibt rettungslos verloren. Als eine entfernte Erinnerung wird sie zuweilen noch gesehen, wie sie sich schön und totenblass »mitten im Strome mit halbem Leibe über das Wasser« emporhebt. Eine Gefangene auch hier. Der verschlingende Abgrund also am Rand der Idylle, die vielleicht ja auch schon längst aus sich heraus brüchig geworden war. Denn mit der Figuration des Wassermanns geht sowohl Destruktives als auch Befreiendes einher. Dabei grenzt der Spätromantiker Eichendorff die Idylle von Schloss und Park scharf von den untergründigen Fluten ungehemmter Leidenschaften und triebhafter Begehrlichkeiten ab. Und doch ist auch Eichendorffs Märchen bei aller vordergründigen Moral nicht ohne untergründige Ambivalenz. Zwar ist die alte Ordnung von der Gewalt des Wassermanns zerstört worden, doch waren weder die pietistisch abgeschiedene Lebensweise des sittenstrengen Vaters noch die oberflächliche Vergnügungssucht der leichtsinnigen Tochter kaum wirklich glaubwürdige Orientierungen, ja zeugen diese eher von einer grundsätzlichen Überlebtheit der vorgängigen Ordnung. Mithin geht mit dem Wassermann etwas zugrunde, was sich als nicht mehr tragfähig erweist. Alle Fenster des verlassenen Schlosses stehen nun »weit offen«, woraufhin auch immer. Ist es nicht dieselbe destruktiv erneuernde Kraft, die auch in Gertrud Kolmars Gedicht an der Figuration des Wassermanns fasziniert und in den Bann zieht, nachdem sich ja auch hier die überlebte Ordnung eines Schlosses als vollkommen brüchig und perspektivlos erwiesen hatte? Eine auslöschende, befreiende Kraft, die zugleich zu verschlingen droht: Und ich weiß: unzählige Schätze, Seesilber, Schlämmgold, häufst du tief in verborgenen Kammern unter dem Wasser, der Erde. Wirst du jetzt meine Hände nehmen, mit mir zum Grunde tauchen, zur Pforte, die ein schwerer, schnauzbärtiger Wels bewacht? Soll ich nie Schwester noch Bruder mehr sehn, nicht den alten Vater mehr, den ich liebe? Du ich bebe ... Wenn ich empfinge: mein Kind trüge Schwimmhäute zwischen Fingern und Zehn, trüge Muscheln und Wasserlinsen seltsam in immer triefenden Haaren. 155

Ebd., S. 46.

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4 In der Spur des Anderen: Das Gedicht »Garten im Sommer«

So könnte es weitergehen im Unterwassertanz mit dem Wassermann. Er könnte das Ich an den Händen nehmen, mit ihm hinabtauchen auf den Grund. Die Dichterin eröffnet dies als eine Möglichkeit, die nicht frei von Sehnsucht zu sein scheint, und belässt es zugleich bei einer Frage, die ins Ungewisse weist. Sehr tief würde das Ich schließlich mit dem Wassermann hinab müssen, in verborgene Kammern noch unter dem Wasser, mithin in eine äußerste Tiefe, die zugleich in eine absolute Nacht hineinreicht. Alle Gewissheiten müssen an dieser Schwelle enden, und doch weiß das Ich eines genau: In diesen Kammern eines dunkel verborgenen Grundes noch unter dem Wasser häuft der Wassermann unzählige Schätze: Schlämmgold, Seesilber. Zwei schillernde Metaphern werden damit genannt. Sowohl dieses Gold als auch dieses Silber haben einen Reinigungs- wie Verdichtungsprozess in ihrem Hinabsinken in diese Tiefen noch unter dem Wasser durchlaufen. Könnten wir Seesilber homophonisch verstanden nicht auch als ein »Sehsilber« wahrnehmen, sodass zu der weitgefächerten Reflexion im silbernen Spiegel des Sees – der einem sehenden Auge gleichkommt – die spezifische Dichte des kondensierten Silbers einer verborgenen Tiefe hinzukäme? Und während dieses Seesilber gleichsam rein wie das Wasser selbst hier nun als Ergebnis eines Verdichtungs- und Kondensationsvorgangs angesehen werden kann, verweist das Kompositum Schlämmgold auf ein Gold, das von allen Verfärbungen und Beschmutzungen befreit, gänzlich unvergleichbar jener vom Schmutz der Zeit geschwärzten Vergoldung am Schloss der dritten Strophe unter den Wassern nun lagert. Ein Gold und ein Silber, reingewaschen vom Gang der Zeiten, vom Stigma historischer Entstellung, locken als Schätze konzentrierter Lauterkeit vom Grund. Hier hat sie der Wassermann, der nicht nur ein Verächter aller menschlichen Ordnung, sondern zugleich ein Bewahrer des Ewigen ist, toten Seelen gleich, in verborgenen Kammern angehäuft. Auch einige Volkssagen erzählen davon, dass der Wassermann gern die Seelen der Toten raubt, um diese in Gefäßen oder auch geheimen Kammern unter dem Wasser zu horten. Manchmal gibt es dann einen mutigen Erdenbewohner, der das heimliche Tun des Wassermanns beobachtet hat und die gefangenen Seelen unter Einsatz seines Lebens wieder zu befreien sucht.156 Mithin können wir diese Kammern unter dem Wasser auch als Grabkammern 156

Besonders eindrücklich wird von einem solchen Seelenraub durch den Wassermann in der Sage »Der Wassermann und der Bauer« berichtet. Darin muss ein Bauer, der sich einmal vom Wassermann unter Wasser locken ließ, die erschreckende Erkenntnis machen, dass unter all den Schätzen in einem kleinen Stübchen »viel neue Töpfe umgekehrt, die Öffnung bodenwärts standen.« Auf seine Frage, was das denn wäre, wird ihm geantwortet: »Das sind die Seelen der Ertrunkenen, die hebe ich unter den Töpfen auf und halte sie damit fest, dass sie nicht entwischen können.« Dieses traurige Schicksal muss der Bauer zum Glück nicht teilen, er darf wieder zurück an Land, kehrt aber eines Tages heimlich wieder unter Wasser zurück, um die Töpfe umzustülpen und so die armen Seelen zu erlösen. Vgl. Brüder Grimm (Hg.), Der Wassermann und der Bauer (wie Anm. 136), S. 75.

4.4 Die vierte Strophe: Tauchen zum Grund

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lesen, in denen die Essenz eines längst Vergangenen – ähnlich den Seelen Verstorbener – aufbewahrt ist und seiner Freisetzung wie Neubeseelung harrt. In der Figuration des Wassermanns vermittelt sich uns daher nicht allein eine anarchische Gewalt, die Bestehendes zertrümmert und zerschlägt, sondern entdecken wir außerdem einen Bewahrer des Essentiellen, Authentischen, der den reinen Schätzen ihr Signum des Ursprungs zurückzugeben vermag. Damit charakterisiert auch ihn, was Hannah Arendt zufolge jeden wirklichen Sammler auszeichnet, dem es weder auf das Kriterium der Tradition noch Überlieferung ankomme, sondern einzig auf das der Echtheit. Eben aus diesem Grund zerstöre jeder Sammler den Zusammenhang, in dem »sein Gegenstand einmal nur Teil eines größeren Ganzen gewesen ist, und da für ihn nur das einmalig Echte in Betracht kommt, muss er den erwählten Gegenstand von allem reinigen, was an ihm typisch ist«.157 Wenn dies bereits für die menschliche Sammelleidenschaft gilt, wie erst für jene elementare eines Wassermanns. Wirst du jetzt meine Hände nehmen, mit mir zum Grunde tauchen [...]? Wir können den Wassermann auch metonymisch lesen, sodass er uns als eine Art Mann aus Wasser oder männliche Kraft des Wassers, mithin als eine wässrige, verfließende Figuration erscheint, flauschig verschwommen, wie der algenhafte Flausch seiner Brust. Ein elementarer dionysischer Geist, welcher die Hände des Ich zu ergreifen vermag, um es in ein Hinabtauchen zum Grund hineinzuziehen. Könnte damit nicht auch auf ein Ingangsetzen des dichterischen Schreibprozesses angespielt werden, hinab zu jenem Gold und Silber, worin als Ingredienzen des Authentischen und Wurzelhaften, Altes und Ältestes aufbewahrt sein mag, als eine auserlesene, gefilterte und gereinigte Urschrift einer unverfälschten poetischen Sprache? Gold und Silber wären dann als signifikante Elemente einer vorgängigen Schrift aufzufassen, die neu zu heben und zu beleben wäre. Ein Vorgang, der das Gedicht Kolmars längst durchzieht, wie wir es ja zum Beispiel bereits in der ersten Strophe mit der Anspielung auf das Schir ha Schirim, aber auch späterhin in der poetischen Bearbeitung von Motiven aus deutschen Sagen und Märchen oder Erzählungen der deutschen Romantik erfahren haben. Als eine »Schrift unter der Schrift« sind in palimpsestartiger Überschreibung so immer wieder Elemente anderer Erzählzusammenhänge sichtbar geworden. Schriftspuren, die gleichsam unter der Textoberfläche als Fragmente kostbarer Substanzen noch durchschimmern, um in einer Art metabolischem Vorgang dann einer neuen Form poetischer Sprache eingefügt zu werden. In gleitender Signifikation vom Wellengang des Gedichts getragen und gespiegelt, werden sie gleichsam als Spuren unterirdisch verlaufender Diskurse sichtbar und bleiben doch nicht wirklich fassbar. 157

Hannah Arendt: Walter Benjamin. In: Dies.: Walter Benjamin. Bertold Brecht. Zwei Essays (1971). München, Zürich: Piper 1986, S. 56.

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4 In der Spur des Anderen: Das Gedicht »Garten im Sommer«

So ginge mit dem Begehren nach Hinabtauchen auf das Andere des Grundes im poetischen Prozess zugleich der Wunsch nach einer neuen Weise des Sehens und Sagens einher. Das Uralte neu denken, es einer neuen Belebung zuführen. Ein Versuch, auf das wesentliche Sprechen zurückzukommen, die »Dinge aus den Worten zu entfernen und dem Sein zu lauschen.«158 In ein neues Fließen wäre einzutauchen, jenseits aller bisherigen Festlegungen wie Konventionen. Das authentische Wort, »Körnern von Schlämmgold« gleich – wie Kolmar selbst es einmal sagt –, wäre von Neuem zu heben und mit Atem zu beseelen, gleichsam als eine Befreiung aus Kammern, die vielleicht Schatzkammern, vielleicht aber auch längst Grabkammern geworden sind.159 Diese Pforte zum Grund aber wird bewacht. Es ist ein schwerer, schnauzbärtiger Wels, der diesen Zugang versperrt. Ein seltsamer Unterweltwächter, der hier nicht ohne Ironie von der Dichterin ins Spiel gebracht wird. Ein schwerer, mit langen Kiemenhaaren behangener Fisch kann von vornherein kaum anders denn als Karrikatur des drei- bis fünfzigköpfigen Hundes aus der griechischen Mythologie gelesen werden, der gemeinhin die Unterwelt zu bewachen pflegt. Schwer und schnauzbärtig. Allerlei schnauzbärtige Männergestalten der wilhelminischen Ära des Fin de Siécle kommen uns mit diesen Epitheta vor Augen, die zugleich auf eine behäbige, konventionelle, unbewegliche Männlichkeit anspielen. Wer käme einem da nicht alles in den Sinn? Und es stellt sich die Frage, ob von der Dichterin mit diesem schnauzbärtigen Wels nicht auf den Wächter eines Sittenkodexes angespielt wird, an dem das weibliche Ich auch in diesem Fall nicht ungestraft vorbei könnte, schon gar, wenn es sich mit einem solch skandalösen Geschöpf wie dem Wassermann einzulassen gedenkt, der uns inzwischen ja hinlänglich als Verächter der herrschenden patriarchalen Ordnung bekannt ist.160 158

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Emmanuel Lévinas: Maurice Blanchot – der Blick des Dichters. In: Ders.: Eigennamen. Meditationen über Sprache und Literatur. München, Wien: Hanser 1988, S. 30. Vgl. das Gedicht »Fischkönig«, LW, Gedichte 1927–1937, S. 239. Dazu schreibt Hartwig Suhbier: »Verpönt wird aber imgrunde die Liebesleidenschaft, die zu einer sexuellen Verbindung wider die tradierten gesellschaftlichen und religiösen Normen hinreißt. [...] ersetzt man die gewaltsame Entführung durch das freiwillige Eingehen auf des Wassermanns Werbung, also durch den auf Leidenschaft gegründeten Liebesbund, der ohne elterliche Einwilligung geschlossen wird, dann wird der Konflikt in voller Schärfe deutlich: dann nämlich hat das Mädchen gegen das Vaterrecht verstoßen, das ihm die Heirat nur mit Zustimmung des Vaters erlaubt [...]; mit seinem Verstoß gegen Vaterrecht und Religionsgebot wird das Mädchen also doppelt schuldig.« Auf Kolmars Gedicht übertragen hieße dies, dass das lyrische Ich im Sich-Einlassen auf den Wassermann zum einen gegen das patriarchale Gebot herrschender Konvention, wie es sich in jenem »schnauzbärtig« vermittelt, verstoßen würde, zum anderen die von der Liebe zum Vater geprägte Familienordnung als Ort eigener Zugehörigkeit zerreißen würde.

4.4 Die vierte Strophe: Tauchen zum Grund

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Dem Unterwasserreich gehören allemal beide – Wassermann wie Wels – an. Mit der Anspielung auf die konventionelle Barttracht der Epoche aber wird der ursprünglichen, elementaren Kraft des Wassermanns zugleich die Figur eines Wächters gegenübergestellt, der weniger Bedrohliches als Lächerliches anhaftet. Es ist schließlich nur ein kalter, schwerfälliger Fisch, der die Pforte bewacht. Und dennoch fürchtet das Ich, nach dem Überschreiten dieser Schwelle niemals mehr zurückzukönnen, Schwester, Bruder, den alten Vater, den ich liebe, nicht wiedersehen zu können. Ein grundsätzlicher Antagonismus wird damit von der Dichterin zur Sprache gebracht, der Tradition hat und der auch dieses Mal nicht zu überwinden ist. Das Locken der Schätze vom Grund, zu denen eine erotisch lösende, destruktive wie auch befreiende Kraft hinabzuführen verspricht, steht in einem unüberbrückbaren Widerspruch zur patriarchal beherrschten irdischen Ordnung, insbesondere dann, wenn diese durch Bande der Liebe begründet ist. Dazwischen die aberwitzige Figur eines schnauzbärtigen Fisches als Wächter. Doch ist auch dieser »Hüter des Gesetzes« nicht nur Unterbrecher, sondern auch Bote. Er wahrt eine Grenze, die unüberschreitbar bleiben muss. So mag hier auch für das Ich in Kolmars Gedicht gelten, was Derrida einmal über Kafkas Erzählung »Vor dem Gesetz« ausgeführt hat: Denn das Gesetz ist das Verbot/ene (l’interdit). Nomen und Attribut. Dies wäre der erschreckende double-bind seines eigentlichen Statthabens. Es ist das Verbot/ene: Dies bedeutet nicht, dass es verbietet, sondern, dass es selbst verboten ist, ein verbotener Ort.161

In diese Unergründlichkeit des verbotenen Ortes, der auch einer des Grundes noch unter dem Wasser sein mag, könnte sich nur bei Gefahr des eigenen Lebens hinabbegeben werden. Alle menschliche Bezogenheit müsste an dieser Stelle ihr Ende finden. Darf man nicht wissen, wer oder was dieses Gesetz ist, wo es ist, wie es sich zeigt, woher es kommt und von wo aus es spricht, so gilt es allerdings wiederum, mit seinen Vertretern, seinen Beispielen oder eben seinen Wächtern in Beziehung zu treten.162 Was aber, wenn diese patriarchal deformiert und entseelt zugleich wie in Kolmars Gedicht zu stummen, schnauzbärtigen Welsen entstellt sind? Es ist eine allerdings zugespitzte Situation für das weibliche Ich, das ja noch immer am Ufer zwischen Land und Wasser, wie auch zwischen dem väterlichen Liebesgebot und der Verführung durch den Elementargeist, verharrt.

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Auch diesmal also doppelte Schuld. Siehe Suhbier, Der Mann, den es nicht geben darf (wie Anm. 142), S. 356. Vgl. Jacques Derrida: Préjugés. Vor dem Gesetz. Wien: Passagen 1992, S. 62f. Ebd., S. 63.

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4.4.1 EXKURS: Schriftspuren. Ein Vatertext Noch immer finden wir in dieser letzten Strophe von Kolmars Gedicht ein Ich am Ufer zwischen Wasser und Land, das nun nichts mehr zu halten scheint als eine familiäre Ordnung, gegründet auf der entsagungsvollen, gleichwohl in ihrer ödipalen Ausschließlichkeit auch prekären Liebe zum Vater und zugleich unterwandert durch ein elementares Begehren nach den Schätzen eines Grundes noch unter dem Wasser: Du, ich bebe ... Wenn ich empfinge: mein Kind trüge Schwimmhäute zwischen Fingern und Zehn, trüge Muscheln und Wasserlinsen seltsam in immer triefenden Haaren.

Höchste Erregung, die sowohl lustvoller als auch furchterfüllter Natur sein mag, teilt sich in diesem Beben mit. Als hätte das Zittern des Blattes vom Anfang des Gedichts seine absolute Steigerung im Ich selbst jetzt erfahren, das sich zunehmend dem Abgründigen einer Gegenwelt unter dem Wasser nun zuneigt. Zugleich spricht sich mit diesem dichterischen Ich, das hier zwischen dem Begehren nach den Schätzen des Wassermanns und der Furcht vor jenem vielleicht albernen, doch unerbittlichen Unterweltwächter, der mit dem Verlust aller familiären wie liebenden Bindungen droht, hin- und hergerissen zu sein scheint, auch ein Dilemma des poetischen Prozesses aus. Es scheint nicht sagbar zu sein, was sich in dem Verlangen nach uneingeschränkter Freisetzung aller Schätze aus verborgenen Kammern und jenseits der Zwänge einer starren Konvention vielleicht als ein Wassermannskind hätte regen und leben können. So könnte der schnauzbärtige Wels auch als ein innerer Zensor figurieren, der ein freies schöpferisches Fließen immer wieder zu unterbrechen und aufzuschieben anstrebt und in dieser Konfrontation mit einer uneinholbaren Grenze das Gedicht überhaupt erst schaffen hilft. Gertrud Kolmars sehr innige Bindung an ihren Vater Ludwig Chodziesner ist bekannt und oftmals hervorgehoben worden. Ja, es wird sogar vermutet, dass Kolmar auch deshalb nicht wie alle ihre Geschwister in die Emigration gegangen sei, weil sie den alten, gebrechlichen Vater nicht allein zurücklassen wollte.163 In dieser Gebundenheit an einen alten Vater, den ich liebe, mag daher mit eine Begründung dafür zu sehen sein, dass in »Garten im Sommer« schließlich auch unterschwellige Schriftspuren eines verborgenen Textes von diesem Vater auffindbar sind. Denn auch Ludwig Chodziesner hatte sich im Verlauf seines Lebens hin und wieder schriftstellerisch erprobt. So war unter 163

Kolmars besonders nahes Verhältnis zu ihrem Vater ist immer wieder betont worden. Insbesondere auch ihre Schwester Hilde Wenzel hat darüber Auskunft gegeben. Vgl. Hilde Wenzel: »Meine Schwester Gertrud«. In: Woltmann, Gertrud Kolmar – Leben und Werk (wie Anm. 117), S. 315f.

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anderem eine als »Skizze« bezeichnete Erzählung von ihm mit dem Titel »Der Kuppler« bereits 1904 – da war Gertrud Kolmar selbst noch nicht ganz zehn Jahre alt – in einer Maiausgabe des »Berliner Tageblatt« veröffentlicht worden.164 Diese Erzählung nun können wir in der Tat als eine »intertextuelle Folie von hochgradiger Signifikanz« für das Gedicht Gertrud Kolmars ansehen.165 Zahlreiche Motive, die die Dichterin Jahrzehnte später in »Garten im Sommer« zur Sprache bringen wird, tauchen bereits in dieser »Vatererzählung« auf. Es handelt sich dabei um eine ziemlich melodramatische, vertrackte Geschichte, in der es um Ehre und Ansehen geht, um Liebe und Skandal, um Tugend und wilhelminische Sittenstrenge, um den kalten Buchstaben des existierenden Gesetzes, um unbarmherzige Ausgrenzung sowie die Lauterkeit echter menschlicher Zuneigung und aufopferungsvoller familiärer Bindungen. Vielleicht gespeist aus einem Fall der eigenen juristischen Tätigkeit, hat Ludwig Chodziesner es sich in der Erzählung nicht leicht gemacht, die unterschiedlichen menschlichen Handlungsweisen glaubwürdig darzustellen und den schließlich tragischen Ausgang des Ganzen zu begründen. Im Mittelpunkt stehen ein alter verwitweter Vater, dessen Tochter und deren unehelicher Sohn. Der Vater, einst begeisterter kaiserlicher Soldat, inzwischen Schlosskastellan a. D., wird als grau und gebeugt dargestellt, wozu wohl nicht unwesentlich das Schicksal beigetragen hat, das ihm durch die Tochter zugefügt worden ist. Hatte ihm bereits »dieselbe Stunde, die ihm sein einziges Töchterchen schenkte«, sein »geliebtes Weib« genommen, so bringt ihm die erwachsene Tochter noch zusätzliches Unglück dadurch, dass sie einer leichtsinnigen Leidenschaft verfällt und illegitim schwanger wird. Dies kommt innerhalb der wilhelminischen Sittenstrenge einem außerordentlichen Tabubruch gleich, der zwangsläufig zu sozialer Ächtung führen muss. In ihrer Ausweglosigkeit unternimmt die Tochter einen Selbstmordversuch, wird aber gerettet. Der Vater, der Tochter und Enkel aufrichtig liebt, entschließt sich nun trotz des gesellschaftlichen Skandals, diese zu unterstützen, indem er das Kind hütet, wenn die Tochter tagsüber ihrer Arbeit als Klavierlehrerin nachgeht. Die üble Nachrede angesichts des unehelichen Kindes verfolgt sie indessen überallhin. Hatte der Vater seine Stellung als Schlosskastellan, »mit der er verwachsen war«, bereits aufgeben müssen, so setzt sich trotz diverser Umzüge die Ausgrenzung immer erneut fort. Eine Zuspitzung erfährt die Situation noch, als die Tochter wieder einen Lebensgefährten findet, einen anständigen, zuverlässigen Gerichtsreferendar. Schon bald kommt auch diese Verbindung ins Gerede, und schließlich wird der alte Vater, der die Liaison aus Liebe zur 164

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Ludwig Chodziesner: Der Kuppler. Skizze. In: Berliner Tageblatt vom 4. Mai 1904. Dokumentiert in Woltmann, Gertrud Kolmar – Leben und Werk (wie Anm. 117), S. 309–314. Diese Begrifflichkeit habe ich der bereits in Kapitel 1.3 eingehend erwähnten Kafka-Studie von Andreas Kilcher und Detlef Kremer entnommen. Vgl. Kilcher/ Kremer, Die Genealogie der Schrift (wie Kap. 1.3, Anm. 154), S. 58.

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Tochter stillschweigend geduldet hat, der schweren Kuppelei bezichtigt. Dies ist ein schwerwiegender Tatverdacht in der wilhelminischen Rechtsprechung, der mit dem Verlust aller bürgerlichen Ehrenrechte und schlimmstenfalls mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren geahndet werden kann. Der junge Referendar will die Frau nun heiraten, die er liebt und mit der er leben will, muss aber gleichzeitig fürchten, fortan in seinen Kreisen angesichts des Vorlebens seiner Frau gesellschaftlich abgelehnt zu werden. Überdies würde auch eine Heirat die gegen den alten Vater erhobenen Vorwürfe keineswegs mehr außer Kraft setzen können. Während sich die jungen Leute noch über Für und Wider besprechen, hört der Alte, den das junge Paar abwesend wähnte, ungewollt alles mit an. Er hält die Kränkung nun nicht weiter aus und gibt sich selbst den Tod, indem er sich mit seiner ehemaligen Dienstpistole mitten ins Herz schießt. Eine komplizierte Verwickeltheit unterschiedlicher Motivationen und Normen. Ein überaus repressives Moralgesetz sowie eine rigide ausgrenzende Gesellschaftsordnung auf der einen Seite, eine lebenshungrige – offenbar musisch begabte – junge Frau, die sich nach Liebe und Freiheit zu sehnen scheint, auf der anderen Seite. Ihr Scheitern an der vorherrschenden Ordnung, das fast zum Tode führt. Ein mit der herrschenden Ordnung vollkommen identifizierter Vater, der nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit und Anerkennung strebt und der sich dennoch aus echter väterlicher Liebe verantwortlich fühlt, die familiäre Bindung an die Tochter und deren Kind aufrechtzuerhalten und diese zu unterstützen, auch wenn sich damit die gesellschaftliche Ächtung gleichermaßen auf ihn selbst mit erstreckt. Doch ist das Verhängnis nicht aufzuhalten. Der böse Leumund folgt ihnen überallhin, und selbst der junge Mann, der die Tochter aufrichtig liebt, kann weder diese noch deren Vater mehr vor der endgültigen gesellschaftlichen Verwerfung bewahren. Eine erbarmungslose Strafgesetzgebung beansprucht eine Gültigkeit, der sich die Menschen in blindem Gehorsam zu unterwerfen bereit sind, während sie auf alles, was sich dem zu widersetzen wagt, mit gnadenloser Ächtung und Verfolgung reagieren. Es stellt sich hier natürlich auch die Frage, auf welche Situation der Autor Ludwig Chodziesner da eigentlich außerdem noch angespielt haben mag. Welche Angst vor Stigmatisierung verbunden mit dem Verlust aller Zugehörigkeiten hat ihm da vielleicht auch eine besondere Feinfühligkeit für Menschen mitgegeben, die – aus einer fragwürdigen Schuldzuweisung heraus – derartige gesellschaftliche Ausgrenzungen auf sich zu nehmen haben? Zu schweigen über die Folgen für ein Kind, das gezwungen ist, in solchen Verhältnissen aufzuwachsen. Was hat die Tochter Gertrud aus dieser Erzählung entnehmen können? Was hat sich der Dichterin dabei unauslöschlich eingeprägt, welche Spuren im Gedächtnis hat diese bei ihr hinterlassen? Sie, die selbst als junge Frau dann genauso mit einer leidenschaftlichen Affäre den gesellschaftlichen Sittenkodex verletzen wird, die daraus entstandene Schwangerschaft aber – anders als die Protagonistin in der väterlichen Erzählung – nicht auszutragen wagt.

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Über den Selbstmordversuch der Tochter, die sich im Schlossteich ertränken wollte, heißt es in Chodziesners Text von 1904: An einem schwülen Julitage hatte man die Tochter im Schlossteiche gefunden, regungslos, zwischen weißen Seerosen und gelben Mummeln, in deren starken Ranken sich ihr langes blondes Haar verfangen hatte, und deren breite, fleischige Schwimmblätter sie trugen. Schlanke Wasserjungfern mit seidenartig glänzenden Flügeln umschwebten sie.

Ein schwüler Tag, wie es auch bei Eichendorff schwül und still ist, als der Wassermann auftaucht. Eine Affinität, die dem Eichendorffliebhaber Chodziesner womöglich nicht zufällig unterlaufen ist.166 Zugleich verweist dieses »schwül« auf eine schwelende, dämonische Aufgeladenheit, die bereits unter der Textoberfläche etwas durchscheinen lässt, was diese kontrapunktisch unterläuft und schließlich ins Abgründige hinabzuziehen droht. Es ist ein beeindruckendes Bild von starker erotischer Suggestionskraft, das Ludwig Chodziesner hier entwirft. Nachgerade hochzeitlich aufgebahrt, wird die schöne Ohnmächtige zwischen weißen und gelben Wasserblumen präsentiert, getragen und umfasst von einer unbekannten, körperlichen Kraft, die verlockend und verschlingend in einem erscheint. Somit wohnt diesem Vatertext bereits ein deutlich ödipales Verführungsmoment inne. Dabei ist es nun allerdings von hoher Signifikanz, in welcher Weise mehr oder weniger verstellte Zitatfragmente daraus dann im späteren Gedicht der Tochter wieder auftauchen. Wenn wir den Tochtertext somit als Resonanzkörper einer väterlichen Schrift auffassen, der diese »als eine vielfach gebrochene und zerstreute Spiegelschrift« nach eigener Maßgabe und in freier Gestaltung weiterschreibt, so gilt es zu fragen, welche Funktion diese Spuren erfüllen und auf welche Weise sich die Dichterin darin selbst reflektiert.167 Ein Sommertag mit Schloss und Teich. Die Tochter regungslos, liegt wie tot auf der Wasseroberfläche zwischen Seerosen und gelben Mummeln, gehalten von den fleischigen Schwimmblättern der Unterwasserpflanzen. Ranken, in denen sich das lange, blonde Haar verfangen hat. ›Wasserjungfern‹ mit seidenartig glänzenden Flügeln, die sie umschweben ... Abgesehen von den begrifflichen Korrespondenzen mögen hier auch klangliche Assonanzen zu beachten sein. »Fleischig« und »flauschig« sind allein vom Hören her nicht sehr weit voneinander entfernt, wie auch »glänzend« und »gläsern« etwas Homophonisches beiwohnt. Fehlen nur noch der winzige Frosch und die Weiden am Ufer, und die Szenerie am Teich aus Kolmars Gedicht wäre komplett. Zahlreiche Motive der väterlichen Erzählung sind auf die eine oder andere Weise im Gedicht eingearbeitet. Besonders in der zweiten Strophe tauchen diese als artifizielle, reglose Versatzstücke, mithin als unbelebte, zum Teil auch entstellte Bruchstücke einer vorgängigen Schrift wieder 166 167

Vgl. dazu auch Hillmann, Bildlichkeit der Deutschen Romantik (wie Anm. 119), S. 212. Vgl. Kilcher/Kremer, Die Genealogie der Schrift (wie Anm. 165), S. 48.

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auf. Eine in Fremdheit versteinerte symbolische Ordnung, die immer auch eine der Sprache ist, tritt dem Ich damit entgegen. Entsprechend ist das romantische Schloss in der dritten Strophe von Kolmars Gedicht dann von Niedergang und Zerfall gezeichnet. Schließlich können wir in dieser gegenseitigen Verwobenheit von Vater- und Tochtertext sowohl eine grundlegende Ungelöstheit als auch ein kritisches Stilgespräch erkennen, das sich bis zu den Romantikern hin miterstreckt und in dessen Vollzug die Dichterin Gertrud Kolmar Fragmente des Vatertextes herausbricht, um diese dann in die eigene Schrift einzuarbeiten wie in ihr einer Verwandlung zu unterziehen.168 Denn was sich beim Vatertext noch als eine wenn auch tragische Gerichtetheit einer horizontalen Erzählperspektive erweist, kippt im Gedicht der Tochter endgültig in die Vertikale eines Abgründigen um. Hatte das dämonisch Untergründige, das sich in Ludwig Chodziesners Text in der Schwüle des Sommertages auszubreiten scheint, indessen nirgends deutlich benannt wird, bereits in der romantischen Erzählung Joseph von Eichendorffs als Wassermann sichtbare Gestalt gewonnen, so wird dieser im Gedicht der Tochter dann allerdings sehr wohl wieder zur Sprache gebracht. Und ich weiß: der Wassermann bist du. In der Figuration des Wassermanns im Gedicht erkennen wir eine bewusst eingesetzte poetologische Chiffre, die zwar insgeheim an den vorgängigen väterlichen Text anzuknüpfen scheint und zugleich doch deutlich über ihn hinausgeht, indem sie mit der Vorstellung einer Liebesleidenschaft spielt, die frei und gelöst ist von jeglichen Zwängen und Begrenzungen herrschender Ordnung. Einer Ordnung, über die sich das Ich dieses »Garten im Sommer« angesichts einer doch noch möglichen Zugehörigkeit – ungleich radikaler als es die väterliche Erzählung vermittelt hatte – keinerlei Illusionen mehr hingibt. Denn die Fluten des Wassermanns machen nirgends halt. Sie reißen alles mit hinab zum Grund, das schlecht gewordene Alte und die leere Konvention genauso wie die liebende familiäre Bindung und die symbolische Ordnung eines noch immer gültigen, wenn auch überlebten väterlichen Gesetzes. Dabei steht der Elementargeist – ein Wesen, dem weder Singularität noch Individualität zukommt – als eine rein ursprüngliche Kraft auch für das Anarchische einer »Undine-Liebe«, wie Peter von Matt diese einmal bezeichnet hat, die zusammenfällt mit dem Willen zu einer radikalen Subversion, »aber nicht in Hinsicht auf eine bessere Einrichtung der Welt, sondern allein als ekstatische Erfahrung von Freiheit im Schutt und in der Asche aller Ordnung«.169 Schlussendlich bleibt der Wassermann eben doch eine unterweltliche, verfließende, 168

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Dabei ist »Garten im Sommer« nicht das einzige Gedicht, in dem Versatzstücke dieser Vatererzählung auffindbar sind. Des weiteren wären zu nennen die Gedichte: »Teichfrosch« und »Biene« aus dem Zyklus TIERTRÄUME; das Gedicht »Der sonderbare Tanz« aus MEIN KIND sowie die Gedichte »Nächte« und »Meerwunder« aus GERMAN SEA. Vgl. LW, Gedichte 1927–1937, S. 195, S. 197, S. 268, S. 482, S. 488. Von Matt, Der Liebesverrat (wie Anm. 152), S. 245.

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nicht wirklich fassbare Gestalt. Ein Wassermann eben, ungeahnten archaischen Tiefen entstammend, fernab von allem Irdischen und letztlich lebensbedrohlich in seiner Abgewandtheit von allem Menschlichen. Und wieder, auch hier, ist es abermals dieses längst vertraute kleine Versschema: –x –xx –, das ein weiteres Bild von jenseits der Oberfläche des Wassers heraufbeschwört: Ich empfinge: mein Kind. Immer wieder spielt das Kind in den Dichtungen Gertrud Kolmars eine zentrale Rolle. Bereits in ihren »Frühen Gedichten« taucht es häufig als eine oftmals auch schmerzliche Sehnsuchtsvorstellung auf. Später, zu Beginn der Dreißigerjahre, wird sie dem Thema des Kindes dann unter dem Titel MEIN KIND einen ganzen Zyklus widmen.170 Doch auch in vielen anderen Gedichtzyklen finden wir die Figur des Kindes immer wieder vor.171 Kolmars Worte, die sie »Die Irre« aus WEIBLICHES BILDNIS sagen lässt, beanspruchen eine weitreichende Gültigkeit: Denn wo ich auch sitze: immer geh’ ich zu meinem Kind.172 Wenn das Kind – wie Emmanuel Lévinas meint – eigentlich für einen Ausdruck der Liebe stehen sollte, »die das unendlich Zukünftige« sucht, »weil in dieser unvergleichlichen Konstellation der ›Identifikation‹, in dieser TransSubstantiation, das Selbe und das Andere nicht miteinander verschmelzen, sondern gerade – jenseits eines jeden möglichen Entwurfs, jenseits eines jeden sinnvollen und intelligenten Könnens – das Kind zeugen«, dann können wir in Kolmars Gedichten mit der Figur des Kindes oftmals auch das Scheitern jeglicher Hoffnung auf eine solche Zukunft verfolgen.173 Denn immer wieder kreisen ihre Verse um das verlorene, das nicht empfangene, das vermisste, ja das ermordete oder das zu begrabende Kind. Die Figur des Kindes führt in dieser Weise eine geradezu »phantomatische«, eine gleichsam geisterhafte Existenz in ihren Gedichten, die auf die Nichtaussprechbarkeit eines Unbewussten, das mit ihm immer wieder neu zur

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Zu den zwei Fassungen dieses Zyklus vgl. Erdle, Antlitz – Mord – Gesetz (wie Anm. 26), S. 319. So schreibt beispielsweise Johanna Woltmann in ihrer Kolmar-Biografie: »Von ihrer Publikation von 1917 an wird das Thema ›Mein Kind‹ in fast allen Gedichtsammlungen Gertrud Kolmars aufgegriffen und inhaltlich in unterschiedlicher und doch ähnlicher Weise durchgeführt. In den ›Preußischen Wappen‹ und zuletzt im ›Weiblichen Bildnis‹ finden sich zahlreiche Gedichte, die die Kinderlosigkeit oder den Verlust eines Kindes beklagen. Auch in den ›Tierträumen‹, vor allem aber im ›Wort der Stummen‹, in den Gedichten ›German Sea‹ und in den ›Welten‹ gibt es bedeutende Gedichte zum Thema des ersehnten und versagt gebliebenen Kindes.« Vgl. Woltmann, Gertrud Kolmar – Leben und Werk (wie Anm. 117) , S. 149. LW, Gedichte 1927–1937, S. 144. Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Übersetzt von Nikolaus Krewani. Freiburg, München: Karl Alber (1987) 2008, S. 389f.

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Erscheinung gebracht wird, hinweist.174 Doch wird mit ihm – wie Birgit Erdle überzeugend dargelegt hat – nicht nur auf einen traumatischen Verlust hingewiesen, der allein ein individuelles Schicksal meint, sondern auf einen Ausfall, der in eine viel weiter gefasste, vorgängige Genealogie mit zurückreicht. Letztlich könne dieses verlorene oder verhinderte Kind auch für jenen gescheiterten Traum einer deutsch-jüdischen Symbiose stehen. Das Kind wäre dann »gleichsam das, was von dieser Symbiose übrig geblieben ist, was von ihr zeugt und von ihr gezeugt wurde: das Produkt, die Schöpfung, die das ›kulturelle Paar‹ hervorbrachte«.175 In dieser Weise bezeichnet das Kind auch eine »Lücke im Aussprechbaren«, verweist es auf etwas, das keinen Namen finden, das nicht in Worte gefasst werden kann. Wie Kolmar selbst es einmal in dem Gedicht »Die Andere« ausgedrückt hat: So rühre ich dich an. Mein Kindlein! Bist du, was ich sagen kann?176

Kommen wir zurück zu »Garten im Sommer«. Es könnte ein tief innerlicher Wunsch sein, den die Dichterin Gertrud Kolmar dieses Ich am Ufer mit den wenigen Worten ich empfinge: mein Kind aussprechen lässt. Mit dem Wassermann, der alles Alte radikal zu zerstören und auszulöschen in der Lage ist, wäre auch so etwas wie die Empfängnis eines Kindes, sowohl als eine Zukunftseröffnung für das lyrische Subjekt selbst als auch als Begründung einer möglicherweise ganz neuen Genealogie, denkbar. Zugleich lässt die Dichterin das weibliche Ich damit eine Möglichkeit antizipieren, deren Verwirklichung der Vatertext ursprünglich noch zugelassen hatte, wenn auch um den Preis des Opfers eines alten Vaters, dessen Welt zusammenbricht, damit Tochter und Enkel leben können. Alles müsste noch einmal neu, von vorn, aus dem Wasser heraus beginnen. Eine neue Phylogenese wäre zu durchlaufen. Doch ist es nur ein Phantasma, das sich hier ausspricht. Wenn ich empfinge. Selbst wenn, dann wäre dieses Kind allerdings mit seinen Schwimmhäuten zwischen Fingern und Zehn für ein Leben auf Erden schlichtweg untauglich. Ein weiteres Mal findet hier eine ironische Brechung statt. Denn es ist ja zweifellos eine belustigende Vorstellung, die uns mit diesem Kind, seinen Muscheln und Wasserlinsen in immer triefenden Haaren, seinen Schwimmhäuten zwischen Fingern und Zehn, vor Augen gebracht wird. So müssen wir auch erkennen, dass dieses Kind wie in einer Art vorgeburtlichen, ja embryonalen Zustand eingeschrieben ist. Dieses Wassermannskind müsste für immer unter 174 175 176

Auf diesen Zusammenhang hat insbesondere Erdle aufmerksam gemacht. Vgl. Erlde, Antlitz – Mord – Gesetz (wie Anm. 26), S. 319. Ebd., S. 321. LW, Gedichte 1927–1937, S. 126.

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Wasser bleiben, wäre wohl niemals in der Lage, eine Metamorphose zur vollen Menschwerdung zu vollziehen. Ich empfinge: mein Kind – zwischen Fingern und Zehn (–x –xx –). Ein Kind empfangen, zwischen Fingern, die sich dem Fließen überlassen, die also schreiben, und dem rhythmischen Schlagen tänzerischer Zehn, die – wir erinnern uns – vormals fiebrig gewesen waren. Das Wort »Rhythmos« sei entstanden aus »Fluss und Rückfluss dessen, was fließt«, oder wird auch mit dem Ausdruck »fließende, wechselhafte Gestalt« gefasst, erklärt Maurice Blanchot.177 Der Wassermann ist auch eine schöpferische Kraft, die eine Sprache wieder ins Fließen bringen könnte, die längst in Leblosigkeit erstarrt ist und die in ihrer aufs Neue strömend wechselhaften Gestalt das bislang unzugänglich Schweigende als Gedicht empfangen helfen könnte. Dennoch ist nicht sagbar, was da im Entstehen wäre. Ein aus diesen jenseitigen Tiefen empfangenes »Wassermannskind« könnte nicht mehr der symbolischen Ordnung einer Sprache zugeführt werden, die immer schon und immer noch vom versteinerten väterlichen Diskurs bestimmt wie auch durch ihn entfremdet ist, und sei es auch desjenigen eines alten Vaters, den ich liebe.178 Was in der Erzählung des Vaters in unterschwelligen Andeutungen als ein Grund von Scheitern und Verwerfung evoziert wird, setzt die Tochter dann in »Garten im Sommer« als ein Mittel grundsätzlicher, gezielter Infragestellung ein. Hatte der Vater bereits ansatzweise gewagt, eine rigide, alles Andere ausschließende bürgerliche Moral anzuprangern, deren Forderungen er sich – da ist er seinem namenlosen väterlichen Protagonisten durchaus ähnlich – doch nicht zu entziehen vermochte, so greift seine Tochter Gertrud Kolmar diesen Gedankengang ungleich radikaler drei Jahrzehnte später wieder auf. Die herrschende Konvention und Sitte hat sich in ihrer Zeit allerdings längst ins Aberwitzige verkehrt.179 Wobei diese Verkehrung – das immerhin entnehmen wir durchaus der väterlichen Erzählung – bereits im Vorhergehenden angelegt war. Es ist auch eine Veränderung innerhalb der Generationen, die sich auf diese Weise darstellt. In der »Vatererzählung« muss die traditionelle väterliche Welt untergehen, damit Tochter und Enkel leben können. Gleichwohl gibt es noch immer eine Lebensmöglichkeit für das Kind. In der »Tochtererzählung« – eine Generation später – wird hingegen gar kein Kind mehr gezeugt. So sehr es 177 178

179

Blanchot, Die Schrift des Desasters (wie Anm. 99), S. 137. Auch hier ist – wie Zarnegin für Kolmars Gedicht »Eine Mutter« ausgeführt hat – das »Kind Bild im poetischen Sinne«. Und sie führt aus: »Vor dem Kind werden ›alle Namen schal‹, alles verliert an Bedeutung, sogar die Sprache selbst. Der Logos hat in dieser Ansprache keinen Ort. Deswegen muss eine andere, dunklere Sprache erfunden werden, die dem Kind gerecht wird. Diese kommt aus dem Herzen, wie der Wunsch nach dem Kind selbst. [...] Mit anderen Worten: Die Präsenz des Kindes ist auf engste Weise mit der des Wortes im Gedicht verknüpft.« Vgl. Zarnegin, Tierische Träume (wie Anm. 34), S. 150f. So sorgten ab 1935 dann auf zynische Weise die Nürnberger Gesetze dafür, dass jegliche »Grenzüberschreitung« mit Gefahr für Leib und Leben verbunden war.

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auch ersehnt wird, so wird es doch nur als eine Möglichkeit erwähnt, die keine Realisierung mehr finden kann. Selbst ein sogenannter »Fehltritt« könnte in diesen Versen Gertrud Kolmars von 1937 keine Zukunftsmöglichkeit – und sei diese auch noch so angreifbar – mehr eröffnen. Für diese Tochter ist eine hoffnungsvolle Perspektive längst verloren. Mithin sehen wir das Ich dieser vierten Strophe noch einmal übers Wasser gebeugt, während durch das auf der Oberfläche sich spiegelnde Abbild die Gestalt ebendieses Kindes wie ein Phantom aus der Tiefe zu ihm heraufschimmert, als eine Hoffnung und eine Resignation zugleich. So wie jenes Gold und jenes Silber unerreichbar in den tiefsten Tiefen verborgen bleiben müssen, so kann auch dieses Kind nicht dem wirklichen Leben zugeführt werden, muss es unter Wasser bleiben. Für immer dem Bereich der stummen, sprachlosen Geschöpfe angehörend, wird es als Figuration unverwirklichter Möglichkeiten keine Beseelung durch Atem und Sprache erfahren können, kann es nicht in das lebendige Wort gehoben werden, muss es in diesem Sinne schließlich eben doch auf ewig ungeboren bleiben. 4.4.2 Von oben ein Göttliches. Fabel oder Mythos? Es geht zurück in die Wirklichkeit des Gedichts. Noch immer auf diesem Fleckchen am Ufer ein Ich, der Kälte von Zeit und Vergänglichkeit ausgesetzt: Kehr’ ans Ufer... Spötter! Ein weiteres Mal erfahren wir von einer Metamorphose des Du, das sich mit der Rückkehr in diese Gegenwärtigkeit nun in einen Spötter verwandelt hat, wie ja auch bereits Spott und Ironie die Beschreibung der phantastischen Welten von unter dem Wasser begleitet hatten. Was bleibt auch schließlich anderes angesichts der schier ausweglosen Situation an dieser Grenze zur Menschenwelt? Und doch scheint es dem Ich, als ereigne sich hier, in dieser Hingeneigtheit zum Grund eines unzugänglichen Anderen, trotz aller ironischen Gebrochenheit noch einmal etwas bislang gänzlich Unerhörtes. Zum ersten und einzigen Mal im Gedicht wird die Vermutung geäußert, wenn auch noch immer in der Form einer Frage an ein abwesendes Du, ob da nicht ein leises, scherzhaftes, fast gar nicht ernst zu nehmendes Flüstern zu vernehmen sei und mit diesem eine Nennung hörbarer Worte, ja konkreter Namen: Flüsterst du scherzend, ich müsste dir Zwillingsknaben, Kastor und Polydeukes, gebären, weil ihrer königlichen Mutter Name mich schmückt? Glauben denn wir, dass im Schwan ein Göttliches irdischem Weibe zu nahn vermag? Die liebliche Fabel? –

Etwas ist im Gedicht eben doch mit nach oben geschwemmt worden aus jenem Reich der Tiefe, zwischen dem die Wasser gehen, aus jenem prähistorischen

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Grund unzähliger Schätze. Eines hat das Ich schließlich doch daraus empfangen können: Die Erinnerung an den konkreten Mythos, von dem im Ausklang dieser letzten Verse nun ausdrücklich die Rede ist. Oder anders gesagt, durch das Hinabsteigen in tiefere, dem alltäglichen Oberflächenbewusstsein nicht unmittelbar zugängliche Schichten ist als eines jener Urphänomene einer vorgängigen Schrift, einem Goldkorn gleich, der Mythos aktiviert worden. Wie auch die Themen Empfängnis, Mutterschaft und Gebären fortan im Raum des Gedichts stehen. Indessen soll hier nun kein Wassermannskind mehr empfangen werden. Hier wird unmissverständlich auf Namen aus der griechischen Mythologie angespielt, Zwillingsknaben zumal – Kastor und Polydeukes –, über deren halb menschliche, halb göttliche Existenz einiges Erstaunliche zu erfahren ist. Darauf werden wir noch zu sprechen kommen. Überhaupt sind diese letzten Verse des Gedichts von einer vielschichtigen Komplexität bestimmt, die kaum aufzulösen ist und über die dennoch zu reden sein wird. Die Rede über den Mythos muss jeglicher Eindeutigkeit von vornherein entbehren, geht es in ihm doch um Erzählung und Bildhaftigkeit zugleich, mithin um das Symbolische und das Imaginäre, um das Erzählbare wie um das Unsagbare und nicht zuletzt um Lüge und Wahrheit. Wir können uns dem nur anzunähern suchen, immer wieder eingeholt von der Erkenntnis, dass eindeutige Antworten dabei weniger denn je angemessen wären. Vorerst steht vor allem und insbesondere das Thema des Gebärens und damit passenderweise verbunden das einer Namensgebung im Raum. Es geht um Namen, die wie die Namen der Zwillinge genannt werden, und es geht um einer königlichen Mutter Name, mit dem sich das Ich zwar geschmückt fühlt, der aber eben gerade nicht genannt wird. Ein Signifikant, der unbestimmt bleibt. Es geht also um Namen und damit um das dichterische Handwerk schlechthin. »Das Wort – der Name«, wie Paul Celan einmal gesagt hat.180 Mithin meint »Name« nicht nur die Namen der Menschen, sondern überhaupt die Sprache als solche.181 Der Schluss des Gedichts rücke die Maße des Ganzen fest, hat wiederum Hans-Georg Gadamer behauptet.182 So gesehen geht es mit den Äußerungen einer konkreten Namensgebung oder gerade der Vermeidung davon in diesen Schlussversen zugleich um den Kern des Gedichts, seine Quintessenz, in der alle vorherigen Bewegungen und Wendungen in höchster Verdichtung wie in einem mächtigen Schlussakkord noch einmal zusammengeführt sind. Unter dieser Voraussetzung scheint es naheliegend, dass hier nun zum ersten und einzigen Mal im gesamten Gedicht so etwas wie der Laut einer anderen menschlichen Stimme zu vernehmen ist, die zwar nur mehr flüsternd und 180 181 182

Paul Celan: Die Dichtung Ossip Mandelstams. In: Ders., Der Meridian. Endfassung. Vorstufen. Materialien (wie Anm. 65), S. 216. Vgl. dazu Gadamer, Wer bin Ich und wer bist Du (Anm. 21), S. 25. Ebd., S. 35.

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scherzend, aber doch deutliche Worte spricht. Kein Summen und Sirren, kein dunkelndes Taubenrucksen mehr, sondern konkret bestimmte Namen: Kastor und Polydeukes. Fassen wir diese Namen fürs Erste einfach als zwei Worte auf, so wäre zu fragen, was diese mitzuteilen vermögen. Als einen ersten Versuch, ihrem verborgenen Sinn näher auf die Spur zu kommen, könnten wir sie einfach aus dem Altgriechischen ins Deutsche übersetzen. Kastor hieße dann »Biber«, während Polydeukes der »Vielsüße« meinen kann, ein Beiname, den auch Zeus selbst zuweilen getragen haben soll. Bereits hier liegen also tierhaft Irdisches und eher göttlich Himmlisches nah beieinander. Gänzlich Unbekannte sind Kastor und Polydeukes ohnehin von vornherein nicht gewesen. Immerhin ist längst bekannt, dass beide ebenfalls Sternennamen sind, die als Kastor und Pollux dem Sternbild der Zwillinge angehören. Ein Gedicht, das zu guter Letzt ins Sternenhafte weist, wäre durchaus keine Seltenheit und steht jeder wahren Dichtkunst gut an. »Mit dem Mars Signale austauschen«, hat der Dichter Ossip Mandelstam das einmal genannt.183 Zugleich gerät das Gedicht mit derartiger Entrücktheit in deutliche Nähe zum Mythos, der sich ebenfalls in allen irdischen wie über- und unterirdischen Dimensionen wie selbstverständlich zu bewegen weiß und dabei gern Profanes mit Göttlichem vermischt, wobei wir ein weiteres Mal bei Kastor, dem Biber, und Polydeukes, dem sehr Süßen, wären. Oder bereits bei dem Schwan, mit dem sich ein Göttliches schließlich vielleicht doch irdischem Weibe zu nahn vermag. Denn bei dieser Frage nach dem Göttlichen, die das Ich im Ausklang des Gedichts aufwirft, handelt es sich ja keineswegs allein um eine Hypothese, deren Verifikation offen bleibt, sondern zudem um eine sehr bekannte und berühmte Erzählung aus der griechischen Mythologie, in der schließlich auch die Zwillingsknaben eine wichtige Rolle spielen. Haben die Namen der Zwillingsknaben schon längst in eine bestimmte Richtung gewiesen, so werden mit der königlichen Mutter Name wie auch der Nennung des Schwans, mit dem sich ein Göttliches nahen könnte, weitere deutliche Akzente dafür gesetzt, dass hier vermutlich auf die berühmte Erzählung von Leda und dem Schwan angespielt werden soll. Ein vielfach zitierter, immer wieder aufgegriffener Mythos, der sich besonders auch in Darstellungen der Bildenden Kunst niedergeschlagen und dort einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht hat.184 Auch die spartanische Königin Leda befand sich einst wie das weibliche Ich im Gedicht einsam vor den Toren der Stadt am Ufer des Flusses Euratos, als sich der begehrliche Gott, kein anderer als Zeus selbst, in Gestalt eines schönen Schwanes über die arglos Badende hermachte. Was Leda selbst angesichts dieses Übergriffs auf ihre körperliche Integrität empfunden hat, lassen die 183 184

Mandelstam, Über den Gesprächspartner (wie Kap. 3, Anm. 4), S. 15. Besonders bekannt ist hier das Gemälde von Leon Rieser von 1840, das im Musée des beaux arts in Rouen hängt.

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Mythographen im Dunkeln, als gesichert aber gilt, dass Leda aus dieser Begegnung mit dem Gott geschwängert hervorging und späterhin dann die Zwillinge zur Welt brachte. Nun soll Leda aber noch in selbiger Nacht nach ihrem Abenteuer am Fluss ebenfalls mit ihrem angetrauten Gemahl Tyndareos den Beischlaf vollzogen haben. Angesicht dieser Verwirrungen herrschte eine nie ganz geklärte Unsicherheit, welcher Abstammung die Zwillinge wirklich seien. Auch darauf verweisen weitere Namensgebungen. Manche nannten sie die Dioskuren, was so viel heißt wie »Söhne des Zeus«, andere wiederum sagten lieber Tyndariden, »Söhne des Tyndareos«. Schließlich aber erweist sich Göttliches dem allzu Menschlichen doch schnell als überlegen, sodass die Bezeichnung Dioskuren gebräuchlicher und naheliegenderweise beliebter blieb. Doch auch die Auffassung setzte sich insgeheim durch, dass Polydeukes ein Sohn des Zeus sei, wofür ja bereits sein Name spricht, sein Zwilling Kastor hingegen Tyndareos zum Vater habe.185 Ein nicht gerade unerheblicher Unterschied, führte er doch dazu, dass Polydeukes aufgrund seiner göttlichen Herkunft unsterblich, Kastor hingegen – menschlich gezeugt – sterblich war. Zu Lebzeiten stark und mutig waren die Zwillinge der ganze Stolz Spartas. Während Polydeukes als ein geschickter Athlet oder Faustkämpfer beschrieben wird, galt Kastor als Rossebändiger und Wagenlenker. Sie waren so unzertrennlich, dass Polydeukes untröstlich war, als Kastor sterben musste, und sich nicht von ihm trennen wollte. Zu guter Letzt war sein himmlischer Vater Zeus derartig von Polydeukes’ Trauer beeindruckt, dass er den Zwillingen gestattete zusammenzubleiben, »und zwar jeweils einen Tag im Olymp, einen in der Unterwelt. So teilte Polydeukes seine Unsterblichkeit mit dem sterblichen Kastor«.186 Eine anrührende Geschichte, die alle Wünsche nach harmonischer Eintracht und nach Unsterblichkeit aufgrund nie versiegender, geschwisterlicher Liebe zu befriedigen scheint. Einander innig verbunden stehen die Zwillinge für den Inbegriff symbiotischer Zweisamkeit schlechthin. Außer ihrer unklaren väterlichen Abstammung scheint alles gleich zu sein: die Mutter, das Alter, das Geschlecht, körperliche Gestalt und Tatkraft und schließlich sogar die Teilung der Unsterblichkeit. Ein schönes Bild wird mit ihnen entworfen, das zugleich für ein kulturelles Imaginäres stehen mag und das einer uralten Menschheitssehnsucht entspricht. Darauf verweisen auch alle archäologischen Funde, die man bislang von den Dioskuren ausfindig machen konnte, auf denen sie stets in gleicher Gestalt und häufig einander spiegelbildlich zugewandt abgebildet sind.187 Im Doppelgänger, als einer zweiten, sich wiederholenden Gestalt des eigenen Selbst, scheint 185 186 187

Rose, Griechische Mythologie (wie Anm. 105), S. 220. Holzapfel, Lexikon der abendländischen Mythologie (wie Anm. 124), S. 107. Vgl. dazu die ausführliche archäologische Studie von Eckart Köhne: Die Dioskuren in der griechischen Kunst von der Archaik bis zum Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. Heidelberg: Dr. Kovac 1996, insbesondere S. V–VII.

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die Furcht vor Sterblichkeit und Hinfälligkeit gebannt, die – wir erinnern uns – das Ich in Kolmars Gedicht ja von den ersten Versen an umgetrieben hatte.188 Stets wiederauferstehend aus den Finsternissen der Unterwelt, galten die Dioskuren vielleicht gerade deshalb als die helfenden Gottheiten par excellence. Auf- und untergehend wie Gestirne, doch an kein Grab gebunden, hielt man sie für schnelle Reiter, »die durch die Luft fahrend, von oben her eintreffen, wo immer Menschen in der Gefahr sie anrufen: Helfer und Retter in der Not der Schlachten, noch häufiger aber in der Not des Meeres«.189 Wäre die Vorstellung der Zwillingsknaben also auch als ein »Lichtgestirn der Hoffnung« im Gedicht aufzufassen, nachdem sich der Lebensraum für dieses Ich zuvor ja immer mehr eingeschränkt hatte, es sich zusehends verloren und ausgeschlossen einer ansteigenden Flut gegenüber fand? Wäre somit eine Rettung in aussichtsloser Lage von einem Bild ins Auge gefasst, das offensichtlich tief verankert ist in der abendländischen Mythologie und ein geheimes Heilsversprechen mit sich zu führen scheint? Es könnte eine verlockende Vorstellung sein, solche Zwillingsknaben zu gebären. Wobei das Wort »gebären« hier metaphorisch zu verstehen wäre, als eine Neuerschaffung von etwas, was bereits vor langer Zeit angelegt worden ist. Die metaphorische Rede von der Geburt ist mindestens so alt wie die Schriftkultur.190 So spricht beispielsweise Diotima in Platons »Symposion« – diesen Reden über Eros, die Liebe und das Schöne – dem Sokrates davon, dass das erotische Verlangen der Liebe immer auf die Empfängnis und Erzeugung von etwas Unsterblichem aus sei und nicht etwa die Schönheit um ihrer selbst willen begehre, sondern »die Ausgeburt von etwas Schönem« zum Ziel habe.191 Ja, sie spricht geradezu von den »Geburten der Dichter«, die das Schöne zur Welt bringen.192 Ohne Du, ohne das Begehren nach einem Anderen, ohne jene Liebessehnsucht, die das Schöne zu gebären strebt, könne es demnach auch im Geistigen keine Erzeugung und Empfängnis geben. Dabei mag es 188

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Diesen Zusammenhang stellt beispielsweise der Psychoanalytiker und Zeitgenosse Freuds, Otto Rank, heraus: »Es spricht nun sehr deutlich dafür, dass es der primitive Narzissmus ist, welcher sich vorwiegend durch die unausweichliche Vernichtung des Ich bedroht fühlt, wenn als die ursprünglichste Seelenvorstellung ein dem körperlichen Ich möglichst ähnliches Ebenbild, also ein wahrhaftiger Doppelgänger, angeführt, wenn also die Todesvorstellung durch eine Verdoppelung des Ich [...] dementiert wird.« Otto Rank: Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie. Reprint der Ausgabe von 1925. Wien: Turia und Kant 1993, S. 113. Karl Kerényi: Die Mythologie der Griechen. Bd II: Die Heroengeschichten. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1966, S. 94. Vgl. dazu Christian Begemann: Gebären. In: Ralf Konersmann (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, S. 121–134. Platon: Symposium (Das Gastmahl). Ausgewählt, übersetzt und mit einem Nachwort von Jürgen Mittelstraß. München: C. H. Beck 2008, S. 65. Ebd., S. 69.

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durchaus kein Zufall sein, dass ausgerechnet die einzige Frau im ganzen Text von Geburt und Gebären auch im übertragenen Sinn spricht. Auch die Dichterin Gertrud Kolmar schreibt sich in diesen längst vorhandenen kulturellen Kontext ein, wenn sie den Prozess dichterischen Schaffens mit der Metaphorik von Geburt und Gebären beschreibt, wie einige Briefstellen an die Schwester im Schweizer Exil bezeugen. Am 15. Januar 1940 erklärt sie in einem solchen Brief: Jede dichterische Erschaffung ist für mich eine Geburt (die Wehen sind manchmal scheußlich!). Zur Zeit findet dieses Ereignis – in Etappen – immer nachts statt [...]. Wenn ich dann ›das Kind‹ wieder einige Zentimeter weiter ›gehoben‹ habe, ist 5 Uhr vorbei, und ich kann noch ein bisschen druseln.193

Und einige Monate später, am 24. November 1940, schreibt sie: wenn es sich um Körperliches handelte, würde ich diesen Zustand als Schwangerschaft bezeichnen. Und das ist er wohl auch, im Geistigen.194

Warum aber handelt es sich bei der Vorstellung eines zu gebärenden Kindes in den Versen von Kolmars Gedicht um die besagten Zwillingsknaben? Warum dieses Bild einer Doppelung, die zugleich von einer abgeschlossenen Totalität umfasst ist? Ein weiteres Mal kommt hier eine Erzählung aus Platons »Symposion« in den Sinn. Gemeint ist jene Rede des Aristophanes von den zwei gleichen Hälften, die von jeher füreinander bestimmt in ewiger Liebe zusammenfinden und als ein glücklicher »Kugelmensch« unsterbliche Glückseligkeit gewinnen. »Von so langem her also ist die Liebe zu einander den Menschen angeboren«, behauptet Aristophanes, »um die ursprüngliche Natur wiederherzustellen, und versucht aus zweien eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen«.195 Wenn Symbole als »sinnliche Zeichen und Bilder« anzusehen sind, »die eine körperliche Form haben«, die etwas bedeuten und ein ethisch-kulturelles Fundament voraussetzen, so kommt dieser Kugelgestalt der Liebenden in der Rede des Aristophanes in klassischer Weise die Funktion eines Symbols zu.196 Der Andere wird zu einem zweiten Exemplar des Selben, beide sind von demselben Begriff umgrenzt, sie werden »eins«. Keine Differenz, kein Bruch hat in diesem Bild symbolischer Vollkommenheit noch Platz. 193 194 195 196

Kolmar, Briefe (wie Anm. 8), S. 50. Ebd., S. 78. Platon, Symposium (wie Anm. 191), S. 41. Vergleiche dazu die Ausführungen von Berndt und Drügh: »Beim Symbol hat man es also nicht nur mit der semiotischen Trias von Bedeutendem [...], Bedeutetem [...] und deren Verbindung im Zeichen zu tun, sondern mit der sinnlichen Verankerung der Zeichenfunktion. [...] Symbole sind sinnliche ›Zeichen‹ und ›Bilder‹, die eine körperliche Form haben, [...].« Frauke Berndt und Heinz J. Drügh (Hg.): Symbol. Grundlagentexte aus Ästhetik, Poetik und Kulturwissenschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 10f.

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In dieser steten Rückkehr zu sich selbst in die Abgeschlossenheit eines Eigenen handele es sich allerdings – wie wiederum der Philosoph Emmanuel Lévinas erklärt – um eine Liebe ohne Transzendenz, um jene Seligkeit des Einen, »die darin besteht, das Andere zu verneinen oder zu absorbieren, um nichts zu begegnen.«197 Ein sehr süßer Rausch muss es sein, der diese Wahrnehmung einer leibhaftigen Verdoppelung begleitet. Ein Narzissmus, der sich vollkommen wähnt, der sich selbst befriedigt, der sprachlos bleibt und den wirklichen Namen der Mutter nicht kennen muss, weil er sich selbst als absolut setzt. Doch bleibt es im Gedicht vorerst allein bei dem Postulat eines Gebärens oder eher noch eines Gebären-Müssens. Nicht etwa »ich möchte« oder gar »ich will«, sondern ich müsste dir [...] gebären. Eine Aussage, die von vorneherein eine asymmetrische Beziehung zwischen Ich und Du voraussetzt. Als würde dieses Ich nun ganz hinter den Wünschen des Du verschwinden wollen. Als würde es sich zusehends im Diffusen, Unfassbaren verlieren, wie ja auch der Mutter Name gar nicht mehr wirklich genannt wird und ihm nur anhaftet als ein Schmückendes, mithin als etwas, das wie ein dekoratives Wort an- und wieder abgelegt werden kann und das ihm keinesfalls als ein wirklicher Name eingeschrieben ist. Mithin scheint sich zwischen dem antizipierten Wollen des Du und der Zurückgenommenheit eines Ich, das Sich nicht zu sagen weiß, zunehmend ein unüberbrückbarer Abgrund aufzutun. »Eigennamen sind unter allen Namen und Gemeinplätzen diejenigen, die der Auflösung des Sinns widerstehen und uns helfen zu sprechen«, schreibt Lévinas.198 Was also heißt es, wenn hier ein Ich seinen Eigennamen nicht sagen kann, ihn vielleicht nicht einmal kennt? Vielleicht kann die Geschichte der Leda doch eine Brücke sein und zur Erhellung beitragen. Einige Übereinstimmungen lassen sich ja durchaus feststellen. Sowohl die ferne königliche Mutter namens Leda als auch das namenlose Ich im Gedicht befinden sich an einem ausgesetzten Ort am Ufer, an dem sie die erotische oder gewaltsame Überwältigung durch ein fremdes, männliches Göttliches in Schwanengestalt erfahren. Die ferne Vorgängerin, um daraus geschwängert hervorzugehen und späterhin die genannten Zwillinge zu gebären. Ihre namenlose Nachfahrin, um ein entsprechend Göttliches überhaupt zu erwarten und das Gebären jener Zwillingsknaben vielleicht zu antizipieren, denn noch sind es ja nichts als Fragen, die in der Apostrophe an das Du ergehen. Dabei fragt hier ein Ich, das der Stimme einer jüdischen Dichterin angehört, die damit wie Leda auch der Fremde eines anderen, nicht abendländischen Kulturkreises entstammt. Denn »Leda« ist kein griechisches Wort. Die Mythographen sind sich weitgehend einig, dass dieser Name von den Lykiern

197 198

Lévinas, Totalität und Unendlichkeit (wie Anm. 173), S. 422f. Lévinas, Eigennamen (wie Anm. 158), S. 9.

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aus Kleinasien abstammt und sich ursprünglich von »Lada« oder »Latona« ableitet, was schlichtweg »Frau« bedeutet.199 Eine Frau, die aus der Fremde kommt, vielleicht durch Heirat, vielleicht aber auch durch Raub und Gewalt erst nach dem griechischen Sparta gekommen ist. »Vielleicht«, mutmaßt gar Karl Kerényi, »feierte Zeus die Schwanenhochzeit mit einer Göttin, die – neben Mutter Erde – das erste weibliche Wesen der Welt war, und die eben darum einfach Leda, ›die Frau‹, heißen mochte.«200 Eine Art Urszene der Menschheitsgeschichte also und es bleibt zu fragen, ob und in wiefern hier nicht einiges ebenfalls auf das Ich in Kolmars Gedicht übertragen werden kann? Es ist ja nicht das erste Mal, dass die Dichterin diesen Mythos zitiert. Bereits 1934 hatte sie ein Gedicht mit dem Titel »Leda« verfasst. Verse, in denen das weibliche Ich am offenen Fenster auf den Schwan wartet, ja seinen Flug, der schneeig blinkt, geradezu als Befreiung aus schwarzen Himmeln herbeisehnt.201 Nun, drei Jahre später, wird der Name nicht mehr genannt. Ein leerer Signifikant, der auf etwas Unsagbares, Nicht-Signifizierbares hinweist. Bei allen indirekten Gemeinsamkeiten schafft die Dichterin damit zugleich eine unüberbrückbare Distanz zwischen der Geschichte, die mit dem Namen Leda verknüpft ist, und der Geschichte des Ich, das im Gedicht namenlos bleibt. Hören und lesen wir noch einmal aus Kolmars Gedicht: Glauben denn wir, dass im Schwan ein Göttliches irdischem Weibe zu nahn vermag? Die liebliche Fabel? – Ich verstumme ... ich log ...

Es könnte der Höhepunkt einer schönen Erzählung sein, diese Begegnung des Göttlichen in der Gestalt des Schwanes mit der empfangenden Frau am Ufer, die daraufhin unsterbliche Zwillinge gebären wird. Doch sind die Fragezeichen am Ende der Sätze unübersehbar. Möglicherweise ist es gar keine liebliche Fabel, die hier zu erzählen wäre. Die Fabel als das Dargestellte erfülle »eine repräsentative Funktion, indem sie eine soziale und geschichtliche Ordnung vorführt und diese als natürlich ausgibt«, erklärt ein weiteres Mal Birgit Erdle.202 Vielleicht nur mehr ein leiser Gedanke oder eine lose, nicht ganz ernst zu nehmende Anspielung, wird das Erzählte in der konkreten Namensnennung durch das Du dennoch – sowohl 199

200 201

202

Vgl. Kérenyi, Die Mythologie der Griechen. Bd I (wie Anm. 105), S. 86. Sowie ebenfalls Robert Ranke-Graves: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987, S. 186f. Kerényi, Die Mythologie der Griechen. Bd I (wie Anm. 199), S. 86. LW, Gedichte 1927–1937, S. 479. Dieses Gedicht gehört dem Zyklus GERMAN SEA an und wurde von Kolmar nach der gemeinsamen Reise mit K. J. Keller 1934 verfasst. Erdle, Antlitz – Mord – Gesetz (wie Anm. 26), S. 176.

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was die Empfängnis der Frau durch ein Göttliches als auch das Gebären der Zwillingsknaben anbelangt – als lieblich und damit als Sinn stiftend vernommen. Ein kulturelles Bild wird damit entworfen, in das sich – da lässt die Dichterin keinen Zweifel – vor allem ein Begehren dieses Du eingeschrieben hat. Eines Du, das mit dem zu gebärenden Kind eine Zukunft antizipiert, die nichts als die Verdoppelung des eigenen Ebenbildes anstrebt. So gesehen könnte gerade in der Nennung der Zwillingsknaben abermals auf jenes Phantom eines Kindes verwiesen werden, das als Ausdruck einer traumatischen Erfahrung des Scheiterns einer gelungenen deutsch-jüdischen Verbindung immer wieder in den Texten Kolmars sein geisterhaftes Dasein führt und – wir erinnern uns – vor allem eine »Lücke im Aussprechbaren« bezeichnet.203 Mutter Name – Mutter Sprache. Eine Dichterin hat als Hebammenwerkzeug schließlich immer nur den Namen, mithin die Sprache, um ein solches geistigseelisches Kind zur Welt bringen zu können.204 Es wäre der königlichen Mutter Name, welcher für beide Knaben gilt, der das Symbolische zu stiften hätte. Mögen die Kinder auch von vollkommen verschiedenen Vätern empfangen worden sein, dieselbe symbolische Ordnung als Schaffensgrund der Dichterin gleicht beide Söhne einander an. Für das Imaginäre, das sich im Bild der Zwillinge darstellt, gibt es nur die eine Repräsentation, die es einzig in ein und dieselbe Rede zu übersetzen vermag. Die liebliche Fabel ist schließlich das, was erzählt wird. Doch haben wir es nicht nur mit einer Fabel, sondern eben mit einem Mythos zu tun, der sich wiederum nicht so einfach fassen lässt. Wahrheit und Lüge sind dem Mythos von jeher zugehörig gewesen, eine Dialektik hervorrufend, die viele gelehrte Diskussionen entfacht hat.205 Es würde allerdings zu weit gehen, im Rahmen dieser Betrachtungen darauf im Näheren einzugehen. Nur einige wenige Stimmen mögen daher in die weiteren Überlegungen mit einbezogen werden. Für den Dichter Josef Brodsky bilden die Mythen einen Teil unseres Gedächtnisses und können daher als Orte der Erinnerung verstanden werden, die insofern besonders sind, als sich in ihnen Sterbliches und Unsterbliches, 203 204

205

Vgl. Kapitel 5.4.1 dieser Arbeit. Diese »spiegelbildliche Beziehung« zwischen Kind und Wort spricht ebenfalls Kathy Zarnegin an: »Das Herz der Mutter ist demnach sowohl der Ursprung der Sprache als auch der Ort des Kindes. Dort, wo sich die Sprache der dichtenden Mutter bildet, hat das Kind seine Wirklichkeit.« Vgl. Zarnegin, Tierische Träume (wie Anm. 34), S. 150f. In diesem Zusammenhang sei insbesondere Horkheimer/Adornos »Dialektik der Aufklärung« erwähnt, mit den einleitenden Thesen: »[...] schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück«. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1947). Frankfurt am Main: Fischer 1998, S. 6. Ebenfalls finden sich weiterführende Auseinandersetzungen in: Karl Heinz Bohrer (Hg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983.

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Menschliches wie Göttliches gleichermaßen aufgehoben findet.206 Wenn ein Gedicht daher ein mythologisches Thema zur Sprache bringt, so läuft das nach Brodsky auf eine Wirklichkeit hinaus, »die ihre eigene Geschichte untersucht, oder, wenn man so will, auf eine Wirkung, die ihre Ursache unter ein Vergrößerungsglas legt und von ihr geblendet wird«.207 Es hat einiges für sich, diesen Gedankengang auf Kolmars Gedicht zu übertragen. Die Dichterin spricht in ihm mit der Stimme eines Ich, das geblendet von der Erzählung der lieblichen Fabel und verführt durch sein Begehren nach Begegnung und Empfängnis nicht weiß, ob es an ein Göttliches glauben kann, das sich ihm aus erhabener Höhe zu nahn vermag oder ob es nicht vielmehr einer Lüge folgt, die ein falsches Einvernehmen in dem Glauben an ein zweifelhaftes wir voraussetzt. Ein wir, das mit der Nennung der Zwillingsknaben bereits hat deutlich werden lassen, dass ein Anderes in der imaginierten Zweisamkeit keinen Raum hätte, indem es jegliche differente Erfahrung von vornherein ausschließt. Gerade hier aber offenbart sich die Fragwürdigkeit des ganzen Konstruktes. Das Bild der sogar noch über den Tod hinaus unzertrennlichen Zwillingsknaben ist im Ende allzu vollkommen, um nicht eine dunkle Kehrseite vermuten zu lassen. Als würde das vollendete Lichtgestirn ihrer sternenhaften Existenz den bedrohlichen Abgrund nur überblenden, der sich darunter auftut. Wenn wir genauer und vielleicht wie mit dem Vergrößerungsglas hinsehen, lassen sich bald einige Ungereimtheiten feststellen. So war es immerhin nur einer der Zwillinge, dem die göttliche Abstammung und damit die Gabe der Unsterblichkeit zugewiesen worden war. Allein Polydeukes war dazu auserkoren, die Genealogie des Göttervaters Zeus in die Unsterblichkeit, ins Unendliche der Zeit, fortzusetzen. Damit war er von Anbeginn an gegenüber seinem sterblichen Bruder Kastor auserwählt und als Erbfolger prädestiniert. Kastor hingegen ist in seiner menschlichen Gebrechlichkeit vollkommen abhängig von der ewigen Treue seines Bruders, um nicht endgültig ins Totenreich hinab zu müssen. Es herrscht also eine ziemliche Ungerechtigkeit zwischen den Brüdern von Anfang an, zumal noch dazu der fremde Vatergott – Zeus – erst über die Rettung Kastors vor dem Tod zu entscheiden hat. Was für eine Schwäche für den armen Kastor, der uns geradezu kastriert und hilflos vorkommen muss.208 206 207 208

Brodsky, Neunzig Jahre später (wie Kap. 2.2, Anm. 34), S. 140. Ebd., S. 130. Darauf weist ebenfalls Otto Rank in seiner Untersuchung von Brüdermärchen hin. In diesem Zusammenhang zitiert er eine Behauptung, in welcher der Name »Kastor« mit dem lateinischen »castrare« in Verbindung gebracht wird, was die zurückgesetzte Position Kastors seiner Meinung nach noch besonders anschaulich verdeutlicht. Otto Rank: Das Brüdermärchen. In: Ders.: Psychoanalytische Beiträge zur Mythenforschung aus den Jahren 1912 bis 1914. Zweite veränderte Auflage. Leipzig, Wien, Zürich: Internationaler psychoanalytischer Verlag 1922, S. 141f.

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Was wäre gewesen, wenn der Bruder Polydeukes auf seiner angestammten Differenz bestanden hätte? Was wäre, wenn Kastor seinem Schmerz und Unmut über seine vernichtende Ohnmacht angesichts der eigenen Sterblichkeit gegenüber dem Bruder Ausdruck verliehen hätte? Von Anbeginn an von der Gnade eines fremden Väterlichen abzuhängen, kann äußerst kränkend sein und lässt eher Auflehnung vermuten als jene übergroße Anpassung, wie sie uns in der mythologischen Erzählung so anrührend vor Augen geführt wird. Wird hier nicht in seltsamer Ungelöstheit von vornherein eine allzu große Verbundenheit der Knaben vorausgesetzt, die möglicherweise weder angemessen noch gerechtfertigt wäre? Eine Ungelöstheit, die derartig demonstrativ hervorgehoben wird, dass sich vielleicht gerade das Gegenteil dahinter verbergen mag, die allzu verschmelzende Liebe den gegenteiligen Wunsch nach Übertrumpfung und alleinigem Besitz zu verbergen oder zu nivellieren sucht.209 Lauert in der Verselbigung des Anderen im schönen Bild der Unzertrennlichkeit nicht eigentlich ein Tödliches, das sich gerade im wortlosen Einvernehmen der beiden manifestiert? Ein Vernichtendes, das dann zum Ausdruck käme, wenn der Andere sich als ein Anderer zur Sprache bringen würde, sich mit der Sprache als ein Anderer positionieren würde? Das dann überhaupt erst sichtbar werden könnte, womit ihm ein Teil des Schreckens vielleicht bereits genommen wäre? Denn es gibt ja durchaus ein gemeinsames Objekt der Begierde, das Grund genug für die gegenseitige Rivalität abgeben würde. Da ist jene königliche Mutter, die zwar beiden gleichermaßen das Leben gegeben hat, aber aufgrund sehr zweifelhafter Umstände dem einen eine göttliche Herkunft und damit Unsterblichkeit übertragen hat, dem anderen hingegen ein profanes menschliches Schicksal mit Tod und Untergang zumutet. Wir wissen, dass die arme Leda ja nichts dafür konnte, der Mythos weiß es ebenfalls. Aber wollen Söhne so etwas wirklich wissen? Vielleicht, ließe sich außerdem vermuten, hat die Zwillinge ja gerade die Liebe zur königlichen Mutter so sehr vereint. Vollkommen sei das Bild der 209

Auf die Unterschiedlichkeit in den Positionen der Zwillinge verweist ein weiteres Mal Ranke-Graves. Ihm zufolge ist der sterbliche Kastor nur Stellvertreter des als unsterblich geltenden Heiligen Königs, für den in diesem Fall Polydeukes steht: »Um dem Heiligen König höheren Rang als seinem Stellvertreter zukommen zu lassen, wurde er gewöhnlich als Sohn eines Gottes betrachtet. Dann gebar seine Mutter ihrem Gemahl einen sterblichen Zwilling. [...] Der vollständige Einklang zwischen den Zwillingsbrüdern kennzeichnet eine neue Stufe in der Entwicklung des Königtums: Der Stellvertreter fungiert als Vizekönig und Oberbefehlshaber, obwohl er dem Namen nach weniger Macht als der Heilige König besaß. [...] Bis sich aber das System des Doppelkönigtum entwickelt hatte, galt der Stellvertreter weder als unsterblich, noch wurde ihm der gleiche posthume Status wie seinem Zwillingsbruder zuerkannt.« Ranke-Graves, Griechische Mythologie (wie Anm. 199), S. 226f.

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Tyndariden nur dann gewesen, folgert denn auch Karl Kerényi, »wenn sie in ihrer Mitte eine leuchtende Frauengestalt hatten«. Diese sei zuweilen die schöne Schwester Helena gewesen, oft aber gerade auch »die größte Göttin, die Mutter aller Götter«.210 Jede den Tod überwindende, rettende Wiedergeburts- oder Wiederbelebungsphantasie betreffe regelmäßig die Mutter, lässt uns wiederum Otto Rank wissen, der eine Vielzahl von Brüdererzählungen untersucht hat.211 Fast immer liege den Zwillingserzählungen ein primitiver Familienkonflikt mit einem übermächtigen Vater zugrunde, wobei in der Regel die ursprünglich dem Vater geltenden feindseligen Regungen auf den älteren, bevorzugten Bruder verschoben werden. Diese – wie er sie nennt – »mythische Verschiebung« spiegele ein Stück primitiver Kulturentwicklung wider, »die mit der Nivellierung der früher so ungleichen Gegner zu Zwillings-Doubletten einen ethisch befriedigenden Abschluss in den pietätsvollen Brüdermärchen« gefunden habe.212 Auch im Bild unserer Zwillingsknaben könnte diese ursprüngliche Rivalität um den ausschließlichen Besitz der Mutter und die damit einhergehende väterliche Erbfolge in einem Bild übergroßer Harmonie überblendet worden sein. Gleichwohl lebt das Verdrängte, das Andere, das Ungleiche und somit NichtSpiegelbildliche, untergründig fort. Im Gedicht wird es schließlich wiederkehren als ein Göttliches, das im fremden Vatergott – dem Erzrivalen schlechthin – sichtbar wird, dessen Fittiche nun zum Schluss über das weibliche Ich, das vielleicht ein Mutter Name schmückt, das aber eigentlich namenlos und unerkannt bleibt, hinschlagen.213 210 211 212

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Vgl. Kerényi, Die Mythologie der Griechen, Band II (wie Anm. 189), S. 92. Vgl. Rank, Das Brüdermärchen (wie Anm. 208), S. 137. Ebd., S. 139 und S. 142. Ebenfalls kommt auf diese »Ich-Verdopplung, IchVertauschung« Alfred Bodenheimer wenn auch mit etwas anderer Gewichtung zu sprechen. Vgl. Bodenheimer, Wandernde Schatten (wie Anm. 140), S. 82f. Es könnte auch noch bedrohlicher werden. So könnte sich schließlich die Frage ergeben, ob statt der platonischen Liebe jenes Kugelmenschen in glückseliger Vereinigung seiner zwei wiedergefundenen Hälften nicht ebenso von »platonischem Hass« die Rede sein könnte. Immerhin hat Hans Keilson diesen Begriff in Anlehnung an Leon Pinsker vorgestellt als ein nicht minder leidenschaftliches Verlangen als das der Liebe nach der verlorengegangenen und wiedergefundenen Hälfte, nur dass es eben mit den Regungen des Hasses verbunden sei. Keilson spricht von dem »Faszinosum des Hasses«, das er beschreibt als »die – anscheinend – unauflösbare Bindung des Hassers an das Objekt seines Hasses, seinen Widersacher«, worin sich zugleich »seine verlorengegangene oder nie besessene Souveränität über seine eigene Existenz« offenbare. In seinem Widersacher sehe er »all das, was er in sich selbst nicht sehen und wahrhaben will. Er erträgt ›seine‹ Wahrheit nicht, und er erträgt auch die Spiegelung in dem ›Anderen‹ nicht, in ihm, ›dem Anderen‹, muss er sich selbst vernichten, um den Wahn seiner eigenen Grandiosität zu retten.« Mithin transportiert das Bild der Zwillinge in seinen Tiefenschichten ein Vielfaches an möglichen Lesarten, die den schönen Schein hinterfragen lassen. Vgl. Hans Keilson: Die Faszination des Hasses. Das Verhältnis von Juden und Christen in Deutschland. Ein Versuch. In: Hans Otto Horch und Charlotte Wardi: Jüdische

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Mithin trägt der Mythos auch in Kolmars Gedicht seine eigene Subversion bereits in sich. Indem er die Fabel schaffen hilft, zerstört er diese zugleich wieder, unterwandert er ihre Geschlossenheit, macht er das Unabgeschlossene immer wieder sichtbar, das ihm zugrunde liegt. Man könne den Mythos so gesehen auch als ein Urphänomen verstehen, behauptet wiederum Karl Kerényi, spreche er doch grundsätzlich von einem »allgemeinsten Konkreten«, als einem sich wiederholenden Geschehen, das niemals wirklich abgeschlossen sei, sich immer wieder neu und anders ereigne. »Zum Wesen des Mythos gelangen wir«, so Kerényi, »wenn wir wissen, dass der Mythos eben die ihm eigene, nicht abgeschlossene Bearbeitung von Wirklichkeit ist.«214 Der Mythos objektiviere sich dergestalt im Bild wie im Wort, doch bezeichne das Wort »die Hauptrichtung des Geschehens«.215 Wörter, die auch Namen sein können, wie jene Namen der Zwillinge in Kolmars Gedicht. Und jener Nichtname der Frau, die vielleicht einiges mit Leda gemeinsam hat, und doch von einer schließlich gänzlich anderen Erfahrung bestimmt ist. Als ein unbestimmt bleibender Signifikant verweist er auf die Unabgeschlossenheit eines Geschehens, das dieses Ich bislang nicht unter seinem Eigennamen zu erzählen vermag oder erzählen will. Ich empfinge: mein Kind – Mutter Name mich schmückt. Der Wellengang des Gedichts, jene geheime rhythmische Sequenz, die es von Anfang an durchzogen hat, führt uns auch dieses Mal einer anderen Wahrheit zu. Ein Mutter Name kann nur schmücken, wenn ein Kind empfangen wird. Erst dann auch wäre es ein wahrhaft königlicher Name. Dies aber ist im Gedicht nur eine reine Möglichkeit, die nach wie vor der Wirklichkeit entbehrt, wie der Konjunktiv deutlich zu verstehen gibt. Hier ist bislang weder ein Kind empfangen worden, noch könnte eines zu gebären sein. Kein Mutter Name schmückt dieses Ich. Es ist vor allem auch diese Erkenntnis, die das Ich außerhalb der Erzählung der lieblichen Fabel verortet und verstummen lässt. Es bedarf der Begegnung mit dem Anderen, »damit die Zukunft des Kindes aus dem Jenseits der Möglichkeiten, aus dem Jenseits der Entwürfe, ankomme«, schreibt Lévinas.216 Hier nun gibt es weder Raum für ein Anderes noch findet Begegnung statt. Was fehlt, ist ein Mutter Name als ein Sagen, das die Differenz zwischen Ich und Du hätte benennen und so das gemeinsame Dritte innerhalb der symbolischen Ordnung zur Welt hätte bringen können. Ein Name, der auch ein Schibboleth sein könnte, das als ein Losungswort des Übergangs zum Anderen immer schon die Differenz voraussetzt. Indem der Name

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215 216

Selbstwahrnehmung. La prise de conscience de l’identité juive. Tübingen: Max Niemeyer 1997 (Conditio Judaica; 19), S. 40. Karl Kerényi: Wesen und Gegenwärtigkeit des Mythos (1964). In: Ders. (Hg.): Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos. Ein Lesebuch. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, S. 240. Ebd., S. 241. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit (wie Anm. 173), S. 391.

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fehlt, kann er weder falsch noch richtig ausgesprochen werden. Es gibt keinen Übergang mehr, der zu überschreiten wäre. »Lässt sich das Mannigfaltige auf zwei zurückführen?«, erklärt Maurice Blanchot als die immer wieder zu befragende Frage. Und er antwortet: »Wer zwei sagt, wiederholt nur eins (oder die duale Einheit), wenn nicht der zweite Term, als der Andere, das unendlich Mannigfaltige ist [ ... ].«217 Es könne daher auch keine zwei Diskurse geben. Es gebe den Diskurs, und es gäbe den Dis-kurs, »von dem wir fast nichts ›wissen‹, außer, dass er dem System, der Ordnung, der Möglichkeit, auch der Möglichkeit von Sprache entgeht und dass vielleicht die Schrift ihn dort ins Spiel bringt, wo sich die Totalität hat überschreiten lassen«.218 Indem das Ich den Mutter Namen nicht nennt, widersetzt es sich dieser Ordnung des Diskurses und stellt sich außerhalb davon. Sowohl das Andere des Jüdischen als auch das Andere des Weiblichen, das eben nicht Leda ist, findet darin keine Repräsentation. Ich verstumme ... ich log. Das Sagen, das Nennen der Namen, die keine Eigennamen sind, wäre die Lüge. Im Verstummen, im Schweigen erst offenbart sich das Wahre, das für dieses Ich ein Unsagbares bleibt. So geht es im Abschluss des Gedichts um das gerade Gegenteil seines Anfangs. Statt des Ereignisses eines Sehens, das zu einem Erzittern, einer Erschütterung geführt hatte, die sich zugleich als Auslöser des Gedichts vermittelte, wird in diesen letzten Versen nichts mehr gesehen noch erkannt. Vor seinem endgültigen Verstummen bleibt einzig noch die rein leibliche Erfahrung, in der sich noch einmal das Begehren des Ich nach Berührung mit einem Du Ausdruck zu verschaffen sucht. Ein weiteres Mal sind es die Hände, die sich in einer Geste zärtlicher Liebkosung ausstrecken und den fremden Körper zu erreichen suchen: Meine kosenden Hände ducken Gefieder, tasten weicheren Flaum und weiße, zitternd gebreitete Fittiche schlagen über mich hin ...

Der Leib ist der eigentliche Selbstbesitz und doch auch die eigentliche Form der Trennung. Für das Ich ereignet sich in diesen letzten Versen des Gedichts allein noch eine sinnliche, eine wollüstige Erfahrung mit einem fremden Körper. Eine Erfahrung, die reine Erfahrung bleibt, die keinen Begriff finden kann.219 Ein tief romantisches Gefühl, das ins Bodenlose führt. Um es mit den

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Blanchot, Die Schrift des Desasters (wie Anm. 99), S. 163. Ebd., S. 163. Oder wie Lévinas schreibt: »Als Intentionalität ohne Sicht schafft die Entdeckung kein Licht: Was sie entdeckt, zeigt sich nicht als Bedeutung und erhellt keinen Horizont.« Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit (wie Anm. 173), S. 380.

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Worten von Theodor W. Adorno zu sagen: »Todverfallen ist diese Liebe und selbstvergessen. In ihr verhärtet das Ich nicht länger in sich selber.«220 Am Ende bleibt es für dieses Ich eine »unvergleichliche Beziehung« mit dem Nicht-Signifikanten. Ein Hingerissenwerden von diesem göttlich schönen Vogel, einem Göttlichen in Schwanengestalt, diesem verführerischen Tierkörper mit all der duckenden, tastenden, kosenden Zärtlichkeit der Hände auf ihn zu. Ein Tasten, das ins Weiche greift, nichts Festes vorfinden kann.221 Dem nachdrücklichen Suchen der Hände begegnet nichts wirklich Fassbares. Sie tasten weicheren Flaum. Allzu weichen, mag sein, der schon fast ein Abgleiten, eine Leere evoziert, in die diese Hände fallen könnten. Ein Flaum, der fast schon wieder ein algenhafter Flausch sein mag, sodass die Konturen zwischen Wassermann und Schwan hier zusehends verschwimmen und das Ich dieser letzten Strophe schließlich unerlöst und blind zwischen der unfasslichen Höhe eines Göttlichen und der unfassbaren Tiefe eines Unterweltlichen umhertastet. Weiße, gebreitete Fittiche. Könnte dies sich nicht auch auf eine ganz andere Vorstellung beziehen? Könnte hier nicht ebenfalls Schützendes, Bergendes mitgelesen werden, etwas wie »unter die Fittiche nehmen«?222 Ist hier, in all dem suchenden Ertasten des Ich, nicht auch so etwas wie eine Bedürftigkeit nach diesem Schutz zu vernehmen? Könnte sich in der Suche nach Zuflucht unter diese Fittiche nicht möglicherweise eine Suche nach Zuflucht vor jenem erschreckenden Sehen der Eingangsverse finden? Nicht nur erotische Beglückung in Berührung mit dem verführerischen, fremdartigen Vogel, sondern zugleich engelhafter Schutz vor dem Schrecken über ein Erkennen, das ins Bodenlose zu reißen droht? Gleichsam rein und weiß evozieren die gebreiteten Fittiche des schönen Schwans noch immer ein bergend Göttliches, das engelhaften Schutz zu versprechen scheint. weiße, zitternd gebreitete Fittiche schlagen über mich hin ... 223 220 221

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Theodor W. Adorno: Zum Gedächtnis Eichendorffs. In: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp (1974) 1981, S. 78. Für dieses Nicht-Sehen-Können ließe sich anführen, was Kathy Zarnegin für das Gedicht »Die Blinde« hervorgehoben hat: »Aber auch hier scheint, wie bisher, die sinnliche Wahrnehmung durch das Fehlen der Augen, durch das Fehlen des vernünftigen Organs, dem Chaos unterworfen zu sein.« Vgl. Zarnegin, Tierische Träume (wie Anm. 34), S. 67. Psalm 61, Vers 5, Lutherbibel. Ich zitiere hier weiterhin nach der Originalfassung. In allen anderen Editionen hingegen wird der Vers wie folgt geschrieben: Meine kosenden Hände ducken Gefieder, tasten weicheren Flaum, und weiße, zitternd gebreitete Fittiche schlagen über mich hin ... In dieser Schreibweise geht es vor allem um das Schlagen der weißen, zitternden Fittiche, während diese in der Originalversion viel deutlicher über das Ich hin schlagen. Vgl. LW, Gedichte 1927–1937, S. 534.

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Vielleicht noch betört und verführt vom Nachhall der lieblichen Fabel einer königlichen Mutter und ihrer Zwillingsknaben verkennt das weibliche Ich die Gewalt, die mit dem begehrten, fremden Objekt, das ein Anderes nicht kennen will, auf es niederstürzen wird. Das so sehr begehrte Du, das im Schwan die Gestalt eines aus schicksalhafter Höhe herabkommenden Göttlichen angenommen hatte, wird zur negativen Alterität: [...] schlagen über mich hin ... Drei schwere Schläge im Metrum. Zitternd in gleichsam heftiger Aufwallung schlagen diese Flügel schließlich über das Ich hin und begraben es unter sich. Drei Auslassungspunkte zum Schluss. Nichts weiter. Verstummen. Ersterben aller Worte. In diese Sprachlosigkeit entlässt uns das Gedicht. Im Ausklang von Kolmars Gedicht greift eine unmenschliche, schicksalhafte Gewalt Raum, die in einem leidenschaftlichen Akt der Überwältigung zunichte macht, was mit ihr in Berührung kommt. Nicht nur ist es ein Akt der Einverleibung eines Anderen in das Selbe, wie er im Bild der Zwillinge zum Ausdruck kommt, sondern es wird überhaupt kein Kind mehr gezeugt noch empfangen. Jede gemeinsame Zukunft endet hier. Das Ich, das sich nicht mit Namen sagen kann, verschwindet in der Geschichte eines Anderen. Die liebliche Fabel erweist sich nun vollends als Lüge. Kein Diskurs zwischen zwei Gleichen findet statt, sondern der Dis-kurs des Einen, das sich absolut setzt und jenes Andere, das keinen Namen haben darf, ausschließt und ins Schweigen verbannt. Was bleibt, ist – um es noch einmal mit Blanchot zu sagen – »das Namenlose, das nur der Name, den es nicht hat, auf Distanz halten könnte. Es ist der Wahnsinn und der Tod«.224 Es mag eben an dieser Stelle sein, an der die Schrift des Desasters beginnt, das zugleich auch die Grenze der Schrift markiert.225 Ein unauslotbares Schweigen, das einsetzt. Sie wiegen schwer, die drei Auslassungspunkte, mit denen Kolmars Gedicht endet.

224 225

Vgl. Blanchot, Die Schrift des Desasters (wie Anm. 99), S. 163. Ebd., S. 16.

Und ein Lied will mit Namen mich heißen, Die mir wieder gemäß. (Gertrud Kolmar: »Die Jüdin«)

5

Epilog: Schwanengesang einer Dichterin

Wir blicken auf das Gedicht zurück mit einem Erkennen und einem Erschrecken zugleich. In Gang gesetzt von jenem fallenden Blatt gleich zu Beginn, das eine Erfahrung von Hinfälligkeit und Vergehen transportiert hatte, haben wir eine dichterische Stimme vernommen, die sich auf eine endlos scheinende Suche nach dem Anderen eines Du gemacht hat, das Antwort sein könnte. Dabei war sowohl dieses sprechende Ich als auch das aufgerufene Du ständigen Wandlungen im Gedicht unterzogen. Keine Höhen und keine Tiefen, keine Zeitdimension, keine Möglichkeit einer nahen wie fernen Erinnerung hat das Ich in Kolmars Gedicht »Garten im Sommer« auf dieser Suche nach einem ansprechbaren Du ausgelassen. Bis in die Ferne salomonischer Zeit mit dem alten jüdischen Liebeslied des Schir ha Schirim und seinem Traumgeliebten ging es zurück. Um dann in Frosch und Seejungfer die toten Versatzstücke einer längst erstarrten symbolischen Ordnung vor Augen zu führen, deren Untergang erst recht schließlich im bröckelnden Schloss der dritten Strophe, in der das Du nur mehr ein Lieber ist, verdeutlicht wird. In diesem deutschen »Vatertext« war kein Zukunft verheißendes »Kind« mehr aufzufinden gewesen. In der vierten Strophe endlich wurde hinab gestiegen in eine Tiefe noch unter dem Wasser mit einem Du, das dieses Mal als Wassermann erkannt wird, um sich in den folgenden Versen in einen Spötter und letztendlich den göttlichen Schwan zu verwandeln, in dessen Gestalt nach abendländischem Mythos der Göttervater Zeus sich mit Leda vereinigt hatte und so die unsterblichen Zwillinge Kastor und Polydeukes zeugte. Dabei verbirgt sich unter der Oberfläche der Worte und Verse zugleich eine abgründige Tiefe, die sich erst beim genaueren Hinhören allmählich eröffnet und zu unvermuteten Erkenntnissen führt. Immer wieder wird so eine Transtextualität, werden Anspielungen und Zitierweisen wahrnehmbar, die auf ein profundes Wissen, eine sehr genaue Kenntnisnahme und eine überaus differenzierte Auseinandersetzung der Dichterin hinweisen. Ein sehr weiter Bogen ist auf diese Weise von der Dichterin gespannt worden. Es waren – wir erinnern uns – zunächst vor Begehren fiebrige Zehen gewesen, die beseelt von einer tänzerischen Dynamik im tauig hauchenden Gras als einem lebendigen Teppich zugleich Kühlung wie die Spur eines dichterischen Entwurfs zu suchen schienen. In der Re-Lektüre des jüdischen Lie-

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besliedes hatte sich schließlich eine atmende Hand von neuer Lebendigkeit durchströmt ein anderes Du, einen Geliebten im Traum, herangeschrieben. Doch kommen Lied wie Tanz im Verlauf des Gedichts zusehends an ein Ende. Ein Begehren durchzieht »Garten im Sommer«, dessen Hoffnungen auf Erfüllung sukzessive zunichtegemacht werden. Das Ich in Kolmars Gedicht bleibt zurückgeworfen auf sich selbst von jeder Aussicht auf Gegenseitigkeit und Zukunft verbannt. Der Andere erweist sich schließlich weder als ein Geliebter noch als ein Lieber, sondern als ein Göttliches, das überwältigt, indem es sich selbst als absolut setzt. Es gibt mitnichten noch irgendeinen Ort, in den sich dieses Ich im Gedicht hätte einschreiben können, dem es sich hätte zugehörig sprechen können. Das alte, verheißungsvolle Lied verklingt ungehört, die Räume gegenwärtigen Geschehens zerfallen und verschließen sich, die Begegnung mit dem Anderen vermittelt sich als letztlich vernichtende Alterität, die keine Möglichkeit für ein drittes Gemeinsames – auch als das gemeinsame Kind – mehr eröffnet. Der Ort des namenlos bleibenden Ich in »Garten im Sommer« ist mithin der Ort eines ungenannten, jedoch deutlich bezeichneten Anderen. Wenn die Identität eines Individuums, wie Emmanuel Lévinas schreibt, nicht darin besteht, »mit sich gleich zu sein und sich von Außen vom Zeigefinger, der es bezeichnet, identifizieren zu lassen, sondern das Selbe zu sein, es selbst zu sein, sich von innen zu identifizieren«, dann versucht Kolmar mit eben diesem Gedicht sich einem solchen Identitätsbegriff zu nähern.1 Indem das Ich den Mutter Namen nicht nennt, verweigert es sich genau dieser Bezeichnung von außen, die das Eigene, das Selbe, zu verhindern trachtet. Doch ist dieses Eigene ebenfalls nicht mehr wirklich verfügbar. Es schimmert vielleicht noch schemenhaft aus Mitternächten oder befindet sich tief unter dem Wasser in verborgenen Kammern im Reich des Wassermanns. So bewegt sich die Sprache dieses Gedichts zwischen dem Verlust eines jeglichen Ortes der Zugehörigkeit und der Suche nach dem verschütteten Eigenen, uns Schicht um Schicht in eine Auseinandersetzung hineinführend, mit der die Dichterin die Möglichkeiten des Sagbaren wie Unsagbaren auszuloten unternommen hat. Indem Gertrud Kolmar den eigenen Ort dabei immer wieder als einen Ort des Nicht-Ankommenkönnens umkreist und reflektiert gewinnt sie ebenjene Möglichkeit echter Authentizität, die ihr dazu verhilft, sich den von außen auferlegten Vereinnahmungen wie Stigmatisierungen stets wieder zu entziehen. Bis sie sich von dieser Außenwelt schließlich ganz abzuwenden gezwungen sieht. Statt jenes Nicht-Ortes zwischen »Differenz und NichtDifferenz« wird es für Kolmar nach 1937 dann zunehmend und unausweichlich allein noch einen Ort grundlegender Differenz geben können. Was bleibt ist ein »Schwanengesang« von besonderer Schönheit, in dem die Dichterin ihre Muttersprache Deutsch noch einmal zu höchster Vollendung 1

Lévinas, Totalität und Unendlichkeit (wie Kap. 4.4.1, Anm. 173), S. 417.

5 Epilog: Schwanengesang einer Dichterin

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treibt.2 Nie wieder wird Gertrud Kolmar nach ihrem WELTEN-Zyklus, dem ja auch »Garten im Sommer« angehört, Verse in Deutsch verfassen. Zwar folgen noch einige Prosawerke, doch die poetischen Versuche werden fortan allein noch im Hebräischen unternommen, jener bislang »toten« Vätersprache, die einem Versuch der Neubelebung, einem neuen dichterischen Gebären zugeführt werden soll. Kolmar selbst wird diese Versuche als »Elefantenkind« bezeichnen, vor allem deshalb, weil es wie bei den Elefantenkindern Jahre brauchen werde, bis sie das Licht der Welt erblicken können. Es ist nun glücklicherweise nicht so, dass ein Dichter nur in seiner Muttersprache reden kann und muss, sonst hätte ich keine Hoffnung, je mit meiner Vätersprache zu dichten,

schreibt sie am 24. November 1940 an ihre Schwester und fährt fort: Nun das Elefantenkind ist dies: Seit kurzem weiß ich, wie ein hebräisches Gedicht nicht sein, wie ich nicht dichten darf, und fühle jetzt, dass ich bald wissen werde, wie ich dichten muss, und dieses Gedicht, das noch nicht da ist (›das Ungeborene‹), das bildet sich schon in mir. Vielleicht wird es Monate, Jahre dauern, bis ich es ausgetragen; aber ans Licht kommen wird es, und ich hoffe, es wird keine Fehlgeburt sein, trotz aller wahrscheinlichen Mängel... Vielleicht habe ich deshalb letztlich auch gar nichts mehr in deutscher Sprache geschaffen...3

Auch hier also ein weiteres Mal die Metaphorik von Empfängnis, Werden und Geburt. Es ist ein Abschied von der Muttersprache hin zu einem zwar vorhandenen, doch versunkenen, nur mehr noch weitgehend unbekannten Väterlichen. Der Differenz eines bislang Unsagbaren, das in der Mutter Namen mithin der Muttersprache stets zum Selben eines fremden Väterlichen nivelliert worden war, wird versucht, in der Wiederaneignung des eigenen Väterlichen, das fortan mit dem Hebräischen identifiziert wird, ein anderes Sagbares entgegenzusetzen. Doch haftet der Metapher »Elefantenkind« zugleich etwas Unbeholfenes, ja geradezu Monströses an, sodass wir uns fragen müssen, ob sich auf diese Weise nicht gleichzeitig auch die Gewalt mitteilt, die sich die Dichterin anzutun gezwungen war, um sich überhaupt derartig von ihrer Muttersprache abwenden zu können. Eine Muttersprache, in der das Sagen eines Eigennamens und damit das Sagen des Eigenen und des Differenten für die jüdische Dichterin zunehmend unmöglich wird. Eine Muttersprache, die – entseelt und entfremdet – ihr als ein geschlossenes System gegenübertritt, das ihre Erfahrung als deutsche Jüdin nicht mehr mitteilbar sein lässt. Ein unzugänglicher, zerfallender, sich verdunkelnder Raum hinter verschlossenem, wenn auch kunstvoll ge-

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Vgl. zur Entstehung der Metapher vom »Schwanengesang« auch Angelo de Gubernatis. Die Thiere in der indogermanischen Mythologie. Aus dem Englischen übersetzt von M. Hartmann. Leipzig: F. W. Grunow 1874, S. 580. Kolmar, Briefe (wie Kap. 1.1, Anm. 1), S. 79.

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schmiedetem Gitter. Für die Dichterin ist es ein Raum, aus dem sie ausgestoßen ist, dem sie sich nicht mehr einschreiben kann. »Der Dichter kommt aus dem Wort«, schreibt der Philosoph Gadamer, und seine ganze Anstrengung gehe darauf, dies Wort wieder zu erreichen, »aus dem er kommt und das er als das Seine weiß«.4 Welches Wort aber kann die deutsch-jüdische Dichterin Gertrud Kolmar im Deutschland von 1937 überhaupt noch als das Ihre wissen? Kann die Rückkehr in ein Väterliches, das kaum mehr gekannt und entsprechend nicht mehr verfügbar ist, überhaupt eine Möglichkeit sein? Muss der gezielte, bewusste Wiederaneignungsversuch nicht zu Überanstrengungen oder gar Auswüchsen merkwürdiger Art führen?5 Keine von Kolmars hebräischen Dichtungen ist uns überliefert, sodass wir nicht beurteilen können, wie erfolgreich ihre poetischen Versuche darin waren. Dass es Monate, ja Jahre dauern könnte, sich in der alten Vätersprache angemessen ausdrücken zu lernen, sagt sie selbst. Aber selbst wenn ihr Erfolg darin beschieden gewesen ist, so hätte das Verlassen der Muttersprache damit höchstens übertüncht, kaum aber verarbeitet oder gar ausgeglichen werden können. Der Schmerz und die Verlorenheit sind vielleicht auch nicht mehr in Worte zu fassen, die mit der Aufgabe des Mutter Name, mit dem Verlust der Muttersprache – angeborener Ort eines jeden Dichters, einer jeden Dichterin – einhergehen müssen. Sich von dieser voraussetzungslosen, grundlegenden Zugehörigkeit abzuwenden gezwungen zu sehen, muss einem Akt der Selbstvernichtung gleichkommen. Nicht von ungefähr hat Kolmar ja auch in ihrer Prosa, den Erzählungen, Dramen und Briefen, weiterhin auf Deutsch geschrieben. Dass sie aber in ihrem Ureigensten, ihrer Dichtung, nach 1937 für immer auf Deutsch verstummt, zeigt die Gewalt, der sie sich ausgesetzt sah, und weist zugleich auf eine sehr genaue Wahrnehmung dessen hin, was ihr geschehen ist und weiterhin geschehen würde. Die rettenden wie engelhaften Fittiche eines anderen Du gehören nun höchstens noch dem Bereich einer lieblichen Fabel an, wohl aber kaum noch dem einer erwartbaren Realität.6 Stattdessen herrscht ein Denken, in dem jegli4 5

6

Gadamer, Wer bin Ich und wer bist Du (wie Kap. 4.1, Anm. 21), S. 30f. Zur Problematik der Unüberbrückbarkeit zwischen beiden Sprachen vgl. auch Alfred Bodenheimers Ausführungen zu Kafkas Hebräischstudien. Alfred Bodenheimer: Kafkas Hebräischstudien. Gedanken zur Magie der Mitte und zur Fragmentierung sprachlichen Denkens. In: Caspar Battegay, Felix Christen und Wolfram Groddeck (Hg.): Schrift und Zeit in Kafkas Oktavheften. Göttingen: Wallstein 2010, S. 218f. Es ließe sich hier möglicherweise auch eine Anspielung auf Lessings »Nathan der Weise« erkennen, worin sich Recha noch von einem »Engel« auf »weißen Fittichen« aus dem Feuer gerettet fühlte. Der Versöhnungsgestus Lessings mag der Dichterin nun im Jahr 1937 dabei nur mehr noch als reine Illusion gelten. Aus der hier ansteigenden Flut retten keine bergenden »Fittiche« mehr. Eine liebliche Fabel, die Lüge geworden ist. Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. In: Lessings Werke in fünf Bänden. Berlin, Weimar: Aufbau 1988, S. 14. Vgl. hierzu außerdem die Diskussion im Jüdischen Kulturbund angesichts der dortigen Nathanaufführung

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cher Bruch mit dem gesellschaftlich etablierten Imaginären tödliche Ausmaße annehmen kann. Hier existiert nur mehr ein Totalitarismus, den das Gedicht zwar keineswegs nennt, auf den es allerdings antwortet, indem es dessen Wurzeln sehr genau auf verborgene Weise zur Sprache bringt. Denn noch immer, nach all unseren vielen, oft umständlichen Worten bleibt das große Schweigen, von dem das Gedicht durchdrungen ist und das andere, weitere und tiefere Schichten an Schweigen umfasst. Vielleicht aber haben wir es vermocht, etwas Licht in diese schweigenden Tiefen zu werfen, in der Hoffnung, damit die Dichterin Gertrud Kolmar und ihr Gedicht »Garten im Sommer« ein wenig mehr einer nachvollziehenden Lektüre zugänglich gemacht zu haben. Gar nichts anderes war’s – nur ein gilbendes Blatt ... Vielleicht doch nicht ganz. Dieses Gedicht. Nur ein gilbendes Blatt?

im Jahr 1933, nachdem das Stück auf allen nichtjüdischen deutschen Bühnen verboten worden war. Siehe dazu Volker Dahm: Kulturelles und geistiges Leben. In: Wolfgang Benz (Hg.): Die Juden in Deutschland 1933–1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft. München: C. H. Beck, 1988, S. 125–132.

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Ein letztes Mal sehen wir das gilbende Blatt im Abschluss nun in den umsponnenen Weiher zittern, damit zugleich die Oberfläche des Wassers in ein Erzittern versetzend, das den glatten Spiegel aufbricht und darunter Verborgenes durchscheinen lässt. Auch wir waren in die Erschütterung dieser Aufstörung geraten, die unsere Lektüren schließlich in Gang setzte und bestimmte, um unter der vollendeten Oberfläche des Gedichts dann palimpsestartig durchscheinende Schriftspuren verborgener Texte zu erkennen. Gilt dies bereits für das einzelne Gedicht, so muss es erst recht für das gesamte Werk Gültigkeit beanspruchen. Wie das Wasser seine unter der Oberfläche verborgenen Schätze immer nur bruchstückhaft preisgibt, so lässt sich dem im Gesagten des Gedichts verborgenen Sagen stets nur annähern, muss diese Nähe flüchtig bleiben, um sich erneut im Entfernten zu verlieren. So ist schließlich auch Kolmars Gedicht mehr als nur ein einzelner Ausdruck, sondern Teil eines umfassenderen Ganzen, in eben dieser Spur eines letztlich doch Unfasslichen. Insbesondere wird dies deutlich, wenn wir hier nun abschließend noch einmal die Zyklusform ins Auge fassen, der das Gedicht angehört. Für jedes einzelne Gedicht darin gilt, wie wir es in unserer eingehenden Auseinandersetzung mit »Garten im Sommer« herausgestellt haben, dass sich auf seiner exoterischen Ebene vielfache transtextuelle Anspielungen oder Hinweise finden lassen, die auf palimpsestartige Weise übereinandergeschrieben sind und auf esoterisch verborgene, gleichsam unterirdisch verlaufende Diskursstrukturen verweisen. So lassen sich beispielsweise Bezugnahmen auf das Schir ha Schirim ebenfalls in einigen anderen Gedichten des Zyklus vorfinden. Dies gilt insbesondere für die Gedichte »Sehnsucht« und »Dienen«.1 Zahlreich sind zudem Anspielungen auf weitere Texte der Bibel. Während die »Tiere von Ninive« bereits vom Titel her eine Anspielung auf die JonaGeschichte enthalten, scheint in dem Gedicht »Das Einhorn« beispielsweise dann die Exodus-Geschichte auf sowie ebenfalls darin intertextuelle Anspielungen auf den biblischen Jesaja-Text zu erkennen sind.2 Und immer wieder 1

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Vgl. dazu beispielsweise Shafi, Gertrud Kolmar. Eine Einführung in das Werk (wie Kap. 1.1, Anm. 2), S. 174 oder auch Lorenz-Lindemann, Der Verszyklus »Welten« (wie Kap. 1.1, Anm. 16), S. 79. Hierauf hat Thomas Gugliemetti eingehend hingewiesen. Vgl. Thomas Gugliemetti: Die Tiersymbolik in Gertrud Kolmars Gedicht »Das Einhorn«. In: Müller (Hg.), Klangkristalle (wie Kap. 4.1, Anm. 34), S. 159–177.

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lassen sich schließlich gleichfalls transtextuelle Hinweise auf das abendländisch-deutsche Kulturgut auffinden. So ist Kolmars Nähe zu Hölderlins Elegie »Brot und Wein« in dem Gedicht »Aus dem Dunkel« nicht zu verkennen.3 Doch während es bei Hölderlin noch eine ruhende Stadt ist mit still erleuchteter Gasse, die Menschen heimgehen von Freuden des Tags zu ruhen und der geschäftige Markt nun leer steht von Trauben und Blumen/ Und von Werken der geschäftigen Hand ruht, während hier noch Saitenspiel tönt fern aus Gärten, vielleicht dort ein Liebendes spielt oder ein einsamer Mann/ Ferner Freunde gedenkt und der Jugendzeit, hat sich in Kolmars Gedicht eine deutliche Verfinsterung durchgesetzt.4 Hier nun, nach weiteren in etwa einhundertfünfunddreißig Jahren deutscher Geistesgeschichte, hören wir allerdings einen anderen Ton. Hier schreitet ein Ich einsam durch finstere Gassen, hier zerreißt jäh vorstürzendes Licht mit Krallen die sanfte Schwärze, ist aus geöffneter Tür hässliches Kreischen, wüstes Gejohle, tierisches Brüllen zu hören. Hier wälzen sich Trunkene, geht das Ich über verödeten Markt, faulen Früchte zertreten, quält ein Greis in Lumpen noch immer sein armes Saitenspiel/ Und sang mit dünner, misstönig klagender Stimme/ Ungehört, kennt ein wimmernder Bettler nichts anderes mehr als Hunger und Durst.5 Hölderlins »Brot und Wein« sind fern wie jener Fluss, den das Ich nur mehr im Fernen noch mit seinen Ufern reden hört. Diesem Ich bleibt allein noch der Rückzug in eine Höhle im tiefsten Geklüft fernab von dieser Welt. Dort will es niederkauern und ruhn,/ Verdämmernd dem stummen wachsenden Wort meines Kindes lauschen/ Und schlafen, die Stirn gen Osten geneigt,/ Bis Sonnenaufgang. Es ist das Gedicht »Asien«, welches als nächstes Gedicht im Zyklus nun in gewisser Weise diesem erhofften Sonnenaufgang zugehören mag.6 Im Mittelpunkt des WELTEN-Zyklus stehend, zugleich eines seiner zentralen Gedichte, ist es auch in der Rezeption des Öfteren hervorgehoben worden.7 Es würde hier nun allerdings allzu sehr den Rahmen meiner Untersuchung sprengen, darauf im Einzelnen noch genauer einzugehen. Einige abschließende Bemerkungen zu diesem Gedicht im inneren Zentrum des Zyklus mögen daher genügen. In gewisser Weise damit vergleichbar, wie Bodenheimer jene »Magie der Mitte« als Leerstelle zwischen den deutschen und den hebräischen Wortlisten in Kafkas vocabulaire beschreibt, stellt sich mir mit dem Namen Asien eine 3

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Dieser Bezug zu Hölderlin in Kolmars Lyrik ist bislang noch kaum erkannt und laut Regina Nörtemann nachgerade Forschungsdesiderat. Vgl. Nörtemann, Nachwort (wie Kap. 1.1, Anm. 2), S. 383, Anm. 65. Friedrich Hölderlin: Brot und Wein. In: Hölderlin: Sämtliche Werke. Zweiter Band. Hg. von Friedrich Beissner. Stuttgart: W. Kohlhammer 1953, S. 94. LW, Gedichte 1927–1937, S. 523f. Ebd., S. 525f. So z. B. Nowak, Der Untergang poetischer Heimat (wie Kap. 2.2, Anm. 49) oder Arlette Schnyder: Asien, das Sein ohne Tun oder der Ort der Dichtung. In: Müller (Hg.), Klangkristalle (wie Anm. 2), S. 112–138.

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solche ebenfalls magische leere Mitte in Kolmars Gedichtzyklus her.8 Auch hier geht es um »die geradezu unumgängliche konstitutive Lücke oder Kluft«, wenn auch zunächst weniger zwischen den Sprachen als zwischen den kulturellen Herschreibungen, die einander fremd und nicht mehr vermittelbar gegenüberstehen.9 Auch die Dichterin Gertrud Kolmar unternimmt es, dieses im eigenen Selbstverständnis einander Fremde, sich zunehmend gegenseitig Ausschließende immer wieder in eine Sprache zu übersetzen, die sowohl den Abgrund bezeichnen hilft als auch die Sehnsucht nach einer anderen Möglichkeit von Sprache als einer anderen Möglichkeit von Selbstausdruck zu benennen sucht. Das imaginäre Mutterland als Ort ihrer Sehnsucht wird dabei mit der Metonymie Asien benannt. Wobei dieses Asien zugleich als ein Synonym für Anders gelesen werden kann, wie es der herausragende, einzeln für sich stehende Vers, der zugleich wohl eine ganze Strophe zu bedeuten hat, zwischen der sehr langen ersten und der ebenfalls eher episch ausufernden dritten Strophe rein optisch bereits anschaulich macht. Ein Anders, das eben nicht sagbar ist, wie es die Reduktion einer ganzen Strophe auf dieses einzige Wort sowie die drei Auslassungspunkte im Anschluss deutlich vorführen. Zwar ist Asien eine Zaubernde, die magische Kräfte wachzurufen imstande ist, doch ist um sie zugleich Ferne, sitzt sie hinter gläserner Wand, geschieden, doch nah, sichtbar, unfasslich. Anders aber als dann in »Garten im Sommer«, dem um einiges später folgenden Gedicht, in dem – wir erinnern uns – kein Mutter Name mehr schmückt, ist der Name dieser Mutter mit Asien nennbar. Ein deutlich bezeichnender Signifikant, dessen Signifikat aber eben sich in die unfassliche Ferne einer tief innerlichen Schau verliert. Eine Apostrophe mithin, die – wie in Kapitel 1.2 ausgeführt – Stimme und Leben in das Angeredete hineinwirft und so zugleich das eigene Sprechen am Leben erhält. Eine Apotrope auch, die das Tödliche, das Vernichtende durch eine Bildfindung zu umgehen sucht. Denn Draussen ziehn sie dahin [...] Draussen bettelt und nimmt und rafft dein eigenes Abbild, Schemen, Der Seiden, lieblich wie Krokuss und Orchidee, mit hässlich schwarzem englischen Tuch vertauschte Und deines Sehers Sprüche, die blühenden, vieltausendjährig verzweigten Äste, um graue Büschel dürr und geschwätzig knisternder Blätter gab. Sie ahmt, die gespenstische Magd, dir Herrscherin nach, heuchelt deine Gebärde, dein Wort, stiehlt deinen Namen, Wenn du hinabgetaucht zum tiefen Innen unseres Sterns, dem Bade schäumenden Feuers ... 8 9

Bodenheimer, Kafkas Hebräischstudien (wie Kap. 5, Anm. 5), S. 218. Ebd., S. 218f.

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Ein vielsagendes Wortspiel mit den Klangkörpern verschiedener Sprachen tut sich in diesen Versen auf. Schemen, aus dem Griechischen kommend, meint fürs Erste so viel wie Schattenbild, gespenstische Erscheinung, was Blutleere und Abgestorbenes evoziert und damit gut zu der heuchlerischen wie räuberischen, nachgerade vampirhaften, gespenstischen Magd passt, die schließlich deinen Namen stiehlt: den Namen Asiens, den wahren Namen. Denn in dem Wort Schemen klingt auch das hebräische Schem mit an, das als Schem ha-meforasch eben genau den wahren Namen meint.10 Jenen Namen, der zugleich für den unnennbaren Namen Gottes als stellvertretend eingesetzt werden kann und damit hier im Gedicht noch dazu die Göttlichkeit des wahrhaftigen Namens mit anspricht. Eines Namens, der auch auf das Innen unseres Sterns zielen kann, denn auch diese Metapher zeugt von einer weiteren transtextuellen Komplexität. Zum einen kann dieser Stern metonymisch gelesen natürlich der Planet Erde sein, der bekanntermaßen in seinem Innern aus glühender, flüssiger Magma besteht. Zum anderen aber ließe sich dieser Stern naheliegenderweise auch symbolisch auffassen. Denn mit diesem Innen unseres Sterns hat die Dichterin wahrscheinlich überdies auf den jüdischen Stern angespielt, der zur Zeit der Abfassung des Gedichts zusehends als Zeichen für Diskriminierung und Verfolgung eingesetzt wurde und dessen in dieser Weise abwertende Konnotierung Kolmar in diesen Versen nun in das Gegenteil wendet: Birg voll Scham, was die Törichte blösst, deiner Mitte Geheimnis, das Flammensamen empfing, heißt es in der kurzen letzten Strophe des Gedichts. In Abgrenzung zu einem höchst negativ wahrgenommenen Draussen, das ein substanzloser, schattenhafter Schemen geworden ist, wird das Innen unseres Sterns zum Träger einer feurigen Tiefe und Beseeltheit, die das Geheimnis des wahren schöpferischen Namens wahrt und hütet.11 Doch ist auch dieses Gedicht Kolmars bereits von Resignation durchdrungen. Hier vernichtet der Schemen den wahren Namen, hier sind die Geborenen nur mehr Geiderdämonen, die ewiglich kreisen über den Totentürmen. Beziehung und Bruch. Das Gedicht »Asien« thematisiert dies noch einmal auf besondere Weise. Fortan und zunehmend wird es nun um Verluste gehen, um Trauer und Verzicht, die alle folgenden acht Gedichte im Zyklus dann verstärkt thematisieren werden. Auch hier wird immer wieder jene Scheide von Ost und West poetisch verhandelt, wie Kolmar sie in »Der Ural« nennt, als 10 11

Vgl. Philo-Lexikon. Handbuch des jüdischen Wissens. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2003, S. 657. Hier findet sich eine Reminiszenz an Franz Rosenzweigs »Stern der Erlösung«, die mir nicht unbedeutend scheint, ist es doch durchaus denkbar, dass Kolmar diesen rezipiert hat. Auch bei Rosenzweig sammelt und versammelt dessen »Feuer, das nach Innen glüht« in höchster Konzentration der reichen »Mannigfaltigkeit des Daseins« die Gegensätze des inneren Lebens in sich selber. Vgl. Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung. Seitenidentische Ausgabe mit der Erstausgabe von 1921. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, insbesondere S. 442.

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eine Mauer zwischen zwei Erden, die unüberbrückbar geworden ist.12 Zwei Erden – Ost und West –, die dennoch in den unterschiedlichen Diskursen und Versatzstücken ihrer Poetik immer erneut einen Widerhall finden. Eine dieser Verlusterfahrungen haben wir mit »Garten im Sommer« nachvollzogen. Doch wäre zu dem Zyklus der WELTEN sowie zum gesamten dichterischen Werk Gertrud Kolmars auf diesen Aspekt bezogen sicherlich noch viel zu sagen, wären da wohl noch manche Gebirge oder auch Abgründe an einer diffizil geschichteten Textstruktur zu durchschreiten.

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LW, Gedichte 1927–1937, S. 540f.

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Danksagung

Für die vielfältige Unterstützung, die mir während meiner Arbeit zuteil wurde, möchte ich abschließend meinen Dank aussprechen. Besonders bedanken möchte ich mich bei Professor Dr. Alfred Bodenheimer, der meine Arbeit als Dissertation betreut hat und diese in unterschiedlichen Phasen mit stetem Engagement und vielen hilfreichen Anregungen, besonders auch was judaistische Fragestellungen betrifft, begleitet hat. Es war für mich eine ausgesprochen fruchtbare, lehrreiche Zusammenarbeit, die ich sehr zu schätzen weiß und über die ich sehr froh bin. Ebenfalls möchte ich Frau Professor Dr. Birgit Erdle meinen besonders herzlichen Dank aussprechen. Ihre interessierte Lektüre, ihre sehr kompetenten Anregungen und ihre vorbehaltlose Unterstützung waren mir eine außerordentlich wertvolle Hilfe. Unsere Gespräche und unser Gedankenaustausch werden mir darüber hinaus eine bedeutsame Erinnerung bleiben. Des Weiteren bin ich Frau Professor Dr. Sigrid Weigel dankbar, die meinem Anliegen mit selbstverständlicher Hilfsbereitschaft entgegen gekommen ist und durch deren Vermittlung ich mit Birgit Erdle in Kontakt gekommen bin. Überdies gilt mein herzlicher Dank Professor Ephraim Meir von der Bar Ilan Universität in Ramat Gan, der mir bei philosophischen Fragestellungen des Öfteren hilfreich beratend Auskunft erteilt hat und der stets von meinem Projekt überzeugt war. Frau Dr. Angelika Jacobs schulde ich Dank für ein erstes genaues Gegenlesen des Textes sowie ihre kritisch-konstruktiven Hinweise in diesem Zusammenhang. Frau Professor Dr. Rosmarie Zeller wiederum bin ich für ihre Bereitschaft, als Korreferentin meiner Dissertation fungiert zu haben, zu Dank verpflichtet. Professor Dr. Hans Otto Horch möchte ich für sein freundliches Entgegenkommen angesichts der Publikation meiner Arbeit in der »Conditio Judaica« danken. Auch bedanke ich mich bei Frau Doris Vogel für ihre engagierte und sorgfältige Arbeit bei der Drucklegung des Verlages und bei Frau Ulrike Krauß vom DeGruyter Verlag für ihre angenehme, kooperative Begleitung angesichts der Publikation des Textes. Ebenfalls sei Thorsten Tynior für sein aufmerksames Korrekturlesen gedankt. Dem Literaturarchiv in Marbach danke ich für die Publikationsgenehmigung zweier Fotos zu Gertrud Kolmar sowie der Originalfassung des Gedichts

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7 Danksagung

»Garten im Sommer« und einiger weiterer Gedichtauszüge aus dem WELTEN-Zyklus. Schließlich möchte ich meiner Freundin Marion Kollbach für ihre vertrauensvolle Begleitung meines Projekts von Anfang an, für ihre Bereitschaft erste Textentwürfe zu lesen und zu besprechen und für ihr nie nachlassendes Interesse am Entstehen dieser Arbeit meinen herzlichen Dank ausdrücken. Vor allem aber bin ich meinem Mann Michael, der meine Arbeit mit viel Geduld unterstützt hat, der stets ein offenes Ohr für mich hatte und oft ein erster, wichtiger Gegenleser für mich gewesen ist, in liebevoller Dankbarkeit verbunden. Ohne meine Kinder Rafael und Naomi hingegen hätte ein vitales Moment gefehlt, das immer ein besonderer Anreiz und ein oftmals inspirierender Lebenshintergrund beim Schreiben gewesen ist.

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Literaturverzeichnis

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Bibelübersetzungen Die Heilige Schrift. Auf Veranlassung der Jüdischen Gemeinde Berlin herausgegeben von Harry Torczyner. Frankfurt am Main: J. Kauffmann 1934–1937. Die Schriftwerke. Verdeutscht von Martin Buber. Neubearbeitete Ausgabe. Köln: Jakob Hegner 1962. Die Heilige Schrift. Nach dem masoretischen Text neu übersetzt und erklärt nebst einer Einleitung von Dr. S. Bernfeld. Berlin: S. Calvary & Co. 1902. Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der deutschen Übersetzung von Martin Luther. Stuttgart: Privileg. Württ. Bibelanstalt 1924.

Lexika, Wörterbücher und Handbücher Brown, Francis (Ed.): The New Brown, Driver and Briggs Hebrew and English Lexicon of the Old Testament. Associated Publishers & Authors. Indiana, USA: Inc. Lafayette 1981.

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215

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9

Personenregister

Adorno, Theodor W. 16, 72, 186 Arendt, Hannah 53–54, 161 Aristoteles 100 Bab, Julius 76 Barthes, Roland 15 Baudelaire, Charles 22, 25 Bayerdörfer, Hans-Peter 13 Benjamin, Hilde 64 Benjamin, Walter 22, 24–25, 27– 29, 36, 44, 73, 137, 143 Bialik, Chaim Nachman 46 Blanchot, Maurice 136, 171, 185, 187 Bodenheimer, Alfred 18, 30, 36– 37, 55, 81, 87, 196 Brandt, Marion 11 Brodsky, Joseph 70, 90, 180–181 Buber, Martin 45, 104 Celan, Paul 5, 10, 85–86, 88–89, 103, 121, 128, 130, 173 Chodziesner, Elise 5 Chodziesner, Georg 60–61, 64–65 Chodziesner, Ludwig 5, 48, 59, 65, 144–145, 164–168 Chodziesner, Margot 60, 65 Chodziesner, Thea 60–61, 64–65 Chodziesner, Wolfgang 60, 64–65 De Man, Paul 138 Derrida, Jacques 88, 90, 123, 163 Dittmar, Ella 47 Droste-Hülshoff, Annette von 6

Eichendorff, Josef von 144–145, 147, 158–159, 167 Eichendorff, Joseph von 145, 159, 168 Elon, Amos 35 Erdle, Birgit R. 14–19, 21, 23, 28, 154, 170, 179 Eshel, Amir 38 Freud, Sigmund 16, 19–20, 66, 113 Gadamer, Hans-Georg 103–104, 173, 192 Genette, Gérard 40 Goethe, Johann Wolfgang 35, 46, 49, 153–154 Goldstein, Moritz 35–36 Grillparzer, Franz 32 Heine, Heinrich 72 Heitschmidt, Anne 12, 80 Herder, Johann Gottfried 157 Hinkel, Hans 76–77 Hitler, Adolf 61, 73, 76, 78–79 Hofmannsthal, Hugo von 67 Hölderlin, Friedrich 6, 196 Horkheimer, Max 16 Jagow, Bettina von 12 Jodl, Karl 68 Josan, Hilda 47 Kafka, Franz 39–40, 163, 196 Kaléko, Mascha 77

218 Kant, Immanuel 35 Kasack, Hermann 86, 99 Keller, Karl Josef 66–72, 74–75, 79 Kerényi, Karl 179, 182, 184 Kieselhausen, Lucy 102 Kilcher, Andreas 37, 39–40 Kirsch, Sarah 8–9 Kremer, Detlef 39–40 Kristeva, Julia 16, 124, 140 Lacan, Jacques 16 Langgässer, Elisabeth 68, 73 Lasker-Schüler, Else 8, 29, 77 Leonhard-Feld, Erna 78 Lessing, Gotthold Ephraim 35 Lévinas, Emmanuel 14, 104, 124, 169, 178, 184, 190 Lorenz-Lindemann, Karin 87 Lyotard, Jean-Francois 16–17 Mallarmé, Stéphane 22, 25, 130 Mandelstam, Ossip 85, 174 Matt, Peter von 158, 168 Mendes-Flohr, Paul 32 Miegel, Agnes 74, 79 Nadel, Arno 77 Nancy, Jean-Luc 21 Napoleon Bonaparte 44–46 Nebukadnezar II. 80 Noor, Ashraf 39 Nörtemann, Regina 12 Nowak, Silke 21–28 Ovid 134 Picard, Jakob 77, 81 Pinthus, Kurt 77 Platon 176–177 Rank, Otto 183 Reichert, Klaus 30, 125, 154 Rilke, Rainer Maria 6, 53, 67, 100, 109, 115

9 Personenregister

Robespierre 13 Rolland, Romain 67 Rosenzweig, Franz 36 Rothbart, Helene 77 Sachs, Nelly 8, 77 Schiller, Friedrich 35 Schnurre, Wolfdietrich 4 Scholem, Gershom 32, 34 Seidel, Ina 68, 72–73, 79 Sokrates 176 Sparr, Thomas 56 Stomps, Victor O. 73 Strauß, Ludwig 36 Sturmann, Manfred 77 Szondi, Peter 115 Torczyner, Harry 119, 150 Tschernichowski, Saul 46 Valéry, Paul 101–102, 105, 114, 152 Varnhagen, Rahel 54 Vigiveno, Ilse 71 Völker, Ludwig 86–87 Volkov, Shulamit 33–34 Wassermann, Jakob 35 Weber, Lara 12 Weigel, Sigrid 27–28, 143 Weiß, Ilse 77 Wenzel, Hilde 31, 41, 44–45, 47, 60, 65, 71, 82, 119, 144 Wenzel, Peter 60–61, 65 Wenzel, Sabine 60–61, 64–65, 102 Wigman, Mary 102 Wilhelm II. 46 Woltmann, Johanna 10–11, 68–70 Zarnegin, Kathy 18–21, 23 Zeller, Rosmarie 25 Zweig, Stefan 67