Betrachtungen über Metaphysik und Kunst [Reprint 2021 ed.] 9783112435946, 9783112435939

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Betrachtungen über Metaphysik und Kunst [Reprint 2021 ed.]
 9783112435946, 9783112435939

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Betrachtungen über

Metaphysik und Kunst von

Dr. Hans Baer

Straßburg V e r l a g v o n K a r l J. T r ü b n e r 1914

Alle Rechte, i n s b e s o n d e r e das der Übersetzung, vorbehalten.

H o f - und Universitätsbuchdruckerei C . A. W a g n e r , Freiburg i. E r .

Vorwort. Die „Betrachtungen" von H a n s B a e r sind jenen Werten zugewendet, in denen sich das Kulturleben vollendet, der Kunst, Religion und Metaphysik, der Sphäre des absoluten Geistes, wie sie Hegel bezeichnet hat. Wir sehen, daß der Verfasser von dem Reich des Künstlerischen als seiner bevorzugten Heimat ausgehend 1 , mit einer gewissen Notwendigkeit dahingetrieben wurde, sich auch über das Wesen der beiden Schwestergebiete, die den Charakter der Vollendung und das Streben nach Weltanschauung mit ihr teilen, ernstlich Rechenschaft zu geben. Allerdings wird dieses Neue, das Gebiet der Religion und der Metaphysik, noch keiner systematischen Betrachtung unterworfen, sondern nur vom Ästhetischen her durch interessante Streifzüge erhellt. Der weitaus größte Teil der „Betrachtungen" gehört den künstlerischen Phänomenen, und hier kommt der Verfasser zu einer Reihe höchst interessanter Antworten und Lösungen. Er zeigt dabei die außerordentliche Fruchtbarkeit von Kants ästhetischem Hauptwerk, das für ihn zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen wird, über deren Resultate er aber weit hinausgeht. 1

Vgl. H a n s Baer: Grundriß e i n e s S y s t e m s der ästhetis c h e n Entwicklung. Straßburg 1913. B a e r , M e t a p h y s i k und K u n s t .

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Die Form der „Betrachtungen" ist Aphorismus und Essay. In den Gedanken über Metaphysik und ihr Verhältnis zu Religion und Kunst wird der Aphorismus bevorzugt, der hier als die gewollte und vollendete Form der Gedankenbildung auftritt und mit Bruchstück und Fragment nicht verwechselt werden darf. Der künstlerisch geformte Ausdruck strebt Einsichten in letzte Vernunftzusammenhänge zu. Anders die Form der kunstphilosophischen Betrachtung, die entweder in vollendeter Gestalt als Essay eine bedeutsame Isolierung der künstlerischen Probleme vollzieht oder als Fragment noch der Zusammenfassung in einer letzten Einheit entbehrt.

Dr. Georg Mehlis.

Aphorismen Das Metaphorische des Schönen hat nicht produktive, sondern höchstens reproduktive Allgemeingültigkeit; es ist eine poetische Qualität. Das Streben nach Großheit (Macht u. ä.) ist die Liebe des Menschen zum Ewigen, Unendlichen; es ist das Sehnen des Gott-Menschen. Die Assoziation beim Schönen ist die Brücke zur Individualität (Persönlichkeit) des Auffassenden. Sehnsucht ist der Trieb des Sinnlichen nach dem Übersinnlichen. Die höchste Erkenntnis endigt im Gefühl der „neue Zustand", er wird erreicht und besteht zum Teil schon im Streben nach Größe und Macht, in der Erhebung von den niederen Sphären der Menschheit im ästhetisch Schönen, in der Kunst. Nicht das Leben ist angenehm oder unangenehm, — es muß beherrscht werden, — und in dieser Herrschaft über das Leben ruht eine Ahnung des Ewigen.



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Wie man aus einer Muschel noch das Brausen des Meeres zu hören glaubt, so haben wir in diesem Erdenleben eine staunende Ahnung von etwas Übergewaltigem, das darin lebt und wirkt, ohne daß wir es doch finden, noch greifen und weisen könnten. Es ist der uralte Faustsche Drang, der in dem Philosophen lebt, über die Welt zu herrschen durch Wissen. Es ist wohl ein Streben des Geistes wahrnehmbar, sich selbst zu erkennen, etwa aus der Stufenleiter der Natur und aus der der Wissenschaften, die diesen Zweck zum Teil, wie in der Philosophie, sich mit Bewußtsein setzen; aber diese Eitelkeit des Geistes ist selbst kein Ziel, sondern er muß sich selbst erkennen, um zum eigentlichen Bewußtsein seines Strebens zu gelangen, das er bis jetzt in allem möglichen, aber keiner r e i n e n Form, erkannt und ebenso vielfach bezeichnet hat. Dies wird auch hier nicht als erkannt gesetzt, sondern es wird nur behauptet, daß sein Streben über die Selbsterkenntnis hinausgeht. Das bedeutet die „Sehnsucht des Sinnlichen nach dem Übersinnlichen", wobei die Worte nicht in ihrer abgebrauchten Bedeutung zu nehmen sind, sondern in dem Sinne eines „Diesen" und „Anderen"; so ist hier auch „irdisch" und „überirdisch" zu verstehen. In diesem Sinne bleibt die Menschheit immer irdisch, wenn sie auch bis zu den Sternen zu reichen wüßte.



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Wissen ist Macht; aber die Macht selbst wird erstrebt aus jenem dunklen Drange, der tief verborgen alle höchsten Ziele in uns weckt. Die Selbsterkenntnis des menschlichen gehört in die Kategorie des Übersinnlichen.

Geistes

Die Kunstepochen d ü r f e n nicht streng geschieden werden in der Art, daß die eine n u r symbolisch, die andere n u r klassisch, romantisch etc. genannt wird; denn man kann bei genauerer Betrachtung finden, daß in einer n u r einigermaßen belebten Kunstepoche diese Auffassungen meistens alle gleichzeitig existieren. Deshalb kann man vielleicht solche Epochen nach der vorherrschenden Richtung, — die aber auch durch die Zufälligkeit der Überlieferung in manchen Fällen bedingt sein kann — so bezeichnen, jedoch nicht aus dieser Bezeichnung eine Entwicklung folgern. Daß der H e r r s c h e r , im äußeren wie im geistigen Sinne, dem Übersinnlichen näher ist, das macht die Heiligkeit seiner Majestät. Der Tyrann im schlechten Sinn gehört nicht hierher, denn er herrscht nicht wirklich, er wird nicht a n e r k a n n t ; ebensowenig der geistige Charlatan, denn er hat sich seine vorübergehende A n e r k e n n u n g nur erschwindelt und verharrt in seiner Nichtigkeit. Das Individuum herrscht entweder dadurch, daß andere sich ihm fügen und unterordnen, oder dadurch, daß es sich selbst anderen einfügt und einordnet.



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Der Staat ist das vollendetste Werk des Menschengeistes. Er ist ein Kunstwerk höchstens im übertragenen Sinne zu nennen; er steht seiner umfassenden Natur nach über dem Kunstwerk; daher ist es die größte und herrlichste Aufgabe für einen Menschengeist, einen solchen Staat zu schaffen. Und er wird am besten hervorgehen aus e i n e m genialen Geist, und am besten bestehen, solange dieser selbst, sein Schöpfer, an seiner Spitze steht. Natürliches Herrschertum ist dem ererbten vorzuziehen. Der Thronwechsel darf nicht ausarten. (Renaissance — Italien.) Die beiden Standpunkte der Beurteilung sind: der Erdenstandpunkt und der transcendente. Was sind Menschen und Menschenschicksale! Ihr kennt die beiden Standpunkte, den terrestrischen und den transcendenten — den Erdenstandpunkt und den Blick vom Reich der Ideen; jener ist ein konstitutives, dieser kann nur ein regulatives Prinzip bedeuten. Jenem Erdenmaßstabe kann und soll genügt werden; doch dieses höhere Ziel steht in unnahbaren Fernen, es ist nur regulativ für uns; wir sollen immer so handeln, als ob wir es erreichen könnten, — als wenn jenes Unerreichbar-Erreichbare selbst einmal in uns verwirklicht werden könnte! — Es führt unser Schicksal, wie jene seligen Gestirne der alten Astrologie aus höherer Sphäre herabwinkend, wenn auch keinen glücklichen, so doch einen Gang der Höhenrichtung.



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Fragment. Aber oben in Gletscherhöhen Steht der Tempel der Kunst, Und es gelangt nur dahin, Wen der Geist dahin hebt. Dort stürzen ewige Gletschergießbäche, Und es schwingt sich Ein schimmernder Bogen Ewig den Tempel hindurch, Der gotisch-kühn hinansteigt In Ätherhöhen — Und innen durchrauscht Orgelton Die mächtigen Weiten. Und es schweben die Seelen In ewiger Harmonie Dem Göttlichen zu. (Das Göttliche ist als Ideal der Kunst zu fassen.)

Metaphysisches. Die natürliche Zweckmäßigkeit erscheint als eine Assimilation des Lebens an die Materie; die Intellektualität scheint sich aus der Elementarkultur (Entwicklung der Sprache etc.) zu ergeben; die Möglichkeit zu dieser Kultur mußte gegeben sein, jedoch nicht die Intellektualität selbst. Diese Möglichkeit brauchte aber nicht in der Natur des Lebens teleologisch begründet zu sein, sondern ist höchstens als kausal begründet zu verstehen, sofern sich eben das Leben in der Materie (welche beide eins sind) am vollkommensten im Menschen objektiviert hat, so daß es diesem, bei einiger Entwicklung, Intellektualität zu erlangen möglich war. Das Forschen nach den Gründen, weshalb unser Geist so beschaffen ist, um an dem mit diesen Formen Behafteten Gefallen zu finden, und weshalb die Wirklichkeit der Natur und Geschichte so eingerichtet ist, um in unserem Bewußtsein einen mit diesen Formen behafteten Sinnenschein hervorzurufen . . . ob ein transcendenter Demiurg diese Harmonie zwischen Natur und Menschengeist geordnet, oder ob sie sich auf dem Wege mechanischer Anpassung allmählich heraus-



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gebildet hat, oder ob sie überhaupt nur ein Schein ist, den das Bewußtseinssubjekt sich samt dem selbsterzeugten Schein einer Außenwelt vorspiegelt . . . alles das gehört zu den Rätselfragen der Metaphysik. Es besteht in der Menschheit, nicht deutlich in jedem einzelnen Menschen, ein Drang nach einem Übersinnlichen; das zeigen die Religionen, das zeigt aber auch die Metaphysik; diese ist aber, wenn sie auch in der religiösen Form den Religionen sehr ähnelt, nicht eigentlich Religion im engeren Sinne. Die Metaphysik entspringt aus dem Gemüt der Menschheit und will zu diesem sprechen; sie ist daher keine theoretische Erkenntnis, auch keine praktische, aber auch keine ästhetische Betrachtung; dennoch ist sie eine Art Erkenntnis; eine metaphysische Erkenntnis; eine Erkenntnis des Gefühls. Was sie aus der Tiefe des Gemüts schöpft, ist nicht weniger wahr als was theoretisch erkannt wird; bei der theoretischen Erkenntnis bleibt aber der Gegenstand derselbe und nur das Subjekt wechselt, der erkennende Geist. Bei der metaphysischen dagegen ist der Gegenstand und der erkennende Geist ein und dasselbe, sie wechseln also hier beide, während allerdings das Subjekt der gesamten Menschheit wieder ethnographische und historische Unterschiede aufweist. Es wird also in der Metaphysik nicht nur ein Unterschied der verschiedenen Systeme tatsächlich vorhanden sein, sondern er wird sogar notwendig be-



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stehen müssen, ohne daß dadurch die Wahrheit der einzelnen Systeme etwas einbüßt. Ein historischer allgemeingeltender Fortschritt zu immer deutlicherer Wahrheit ist damit nicht unbedingt gegeben. Aber die Metaphysik ist wahr, wie eine hohe Kunst wahr ist. Es ist einerlei, ob man behauptet, daß man zum Dinge an sich (denn dies muß als identisch mit „der Lösung des Rätsels der Welt" angesehen werden) nur durch uns a priori bewußte Formen gelangen könne, oder ob man sagt, daß man a posteriori aus dem Verständnis der Welt zum Ding an sich komme; denn im ersten Fall versperrt uns der Umstand den Weg, daß wir keine uns a priori bewußten Formen haben (wie Kant nachgewiesen). Im zweiten Fall ist es doch ganz und gar unmöglich, mit unserer an die Vorstellungsformen gebundenen Erkenntnis, durch Abstraktion oder irgendwelches Denken, welches doch immer in den Formen der Erkenntnis überhaupt (wenn vielleicht auch eine derselben fehlen kann) vor sich geht, etwas zu erkennen, zu dessen Erfassung unserer Erkenntnis überhaupt gar keine Formen oder Mittel zu Gebote stehen, welches (das Ding an sich) eben deshalb absolut außerhalb aller Möglichkeit der Erfahrung steht. Der Wille ist durchaus nicht ein Ding an sich, denn ihm haften ja die Formen der Erkenntnis an, wenn auch nicht alle. Deshalb ist es auch falsch, ihn als Hintergrund der Naturgesetze aufzustellen, da er für



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den Menschen, und vielleicht auch für die animalische Natur, als intimere Erkenntnisform des Dinges an sich gelten darf. Die Erkenntnis eines Willens im Menschen als Urgrund seiner Existenz erlaubt allein bei allen organischen, d. h. ihm gleichartigen Wesen (Objekten, ganz allgemein verstanden) auf den Willen als Urgrund zu schließen. Es gibt eine tiefe Kluft zwischen organischen und unorganischen Objekten, welche schon bei ihrer Entstehungserklärung sichtbar wird; während sich die Entstehung unorganischer Objekte noch als rein mechanisch erklären läßt, wird diese mechanische Entstehungserklärung bei allen organischen Objekten unmöglich, und wir sind gezwungen, deren Entstehung teleologisch zu erklären (durch eine absichtlich wirkende Ursache). Daran anschließend ist es einleuchtend, daß der Wille eine solche erste unbedingte und mit Absicht wirkende Ursache ist; indem er nämlich alles der unorganischen Natur, seinem Bestreben nach Leben zweckmäßig anpaßt. In der unorganischen Natur ist ein Zweck oder Absicht, die organische Natur zu unterstützen, durchaus nicht vorhanden, s o n d e r n umgekehrt ist eine Assimilation, Anpassung der organischen an die unorganische Natur ersichtlich, bei welcher Betrachtung man oft eine ungemeine Intensität und Zähigkeit des Willens gewahr wird. Es laufen also zwei Prinzipien nebeneinander her: das mechanische und das Willensprinzip. Das me-



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chanische wirkt nach dem Gesetz der Mechanik (der Naturkräfte), das des Willens nach dem Gesetz der Zweckmäßigkeit. Das mechanische Gesetz ist das universellere, indem sowohl alle unorganischen als organischen Objekte ihm unterworfen sind, wogegen sich das Gesetz der Zweckmäßigkeit nur auf organische Objekte erstreckt. Alles Mechanische wie Physikalische ist als solches nicht zweckmäßig, sondern nur in der organischen Natur zweckmäßig verwendet, indem es der Materie eigen ist, an welche sich der Wille assimiliert. Es findet also eine Objektivierung des Willens in die Materie statt, demzufolge alle Willensobjekte (organischer Natur) den Gesetzen der Materie unterworfen sind; der Wille paßt sich in der organischen Natur so den Gesetzen der Materie an, daß diese für ihn zweckmäßig werden (transcendente Assimilation), wogegen die Anpassung der organischen Natur unter sich, und an die unorganische, teils transcendent, teils aber schon transcendental zu erklären ist. Der Wille erhält durch seine Objektivierung in der Materie die größtmögliche Fähigkeit zu seiner Vervollkommnung; allerdings läßt sich kaum nachweisen, daß er in absolutem Zustande in dem ihm einmal eigenen Zustand beharren müsse. Ich sage n a c h w e i s e n , denn diese Betrachtung ist metaphysisch und zu transcendent, als daß man ohne weiteres jede Behauptung dieses Gebietes b e w e i s e n könnte. Der Wille (das Leben in der organischen Natur) müßte nun auch wieder in seiner Existenz als notwendig und



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durch irgend einen Umstand bedingt nachgewiesen werden, ein Bestreben ad inf. Ein absoluter Grund der Willensexistenz läßt sich wohl kaum finden, denn es ist sehr zweifelhaft, daß der Grund in ihm selbst liege (Schopenhauer); denn er kann doch nicht seine Existenz bedingt haben, bevor er überhaupt existiert hat. Dagegen läßt sich eine hypothetisch-kondizionale Notwendigkeit des Willens (Lebens) entschieden nachweisen, denn seine Voraussetzung ist dadurch bedingt, daß wir überhaupt leben und daher in dieser Beziehung notwendig, dagegen ist es unmöglich, seine absolute Notwendigkeit nachzuweisen. Der traumlöse Schlaf besteht hauptsächlich darin, daß die äußere Vorstellung aufhört; da wir aber in demselben auch das Selbstbewußtsein verlieren, so scheint es, daß das Selbstbewußtsein abhängig von der Vorstellung ist. Zunächst wird allerdings der Schlaf rein physische Ursachen haben, also nicht psychologische; man kann sich kein absolutes Nichts denken (vorzustellen kann ein solches überhaupt nicht sein), sondern nur ein relatives, z. B. ein Nichts in Bezug auf Alles. Wollte man nun rein formal zugeben, daß man bewußt kein Nichts vorstellen kann (obwohl: vorstellen und Nichts ein Widerspruch einbegreift), so könnte man sagen, daß wir unbewußt im Schlafe ein Nichts vorstellen, indem wir eben überhaupt nicht vorstellen.



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Der Mensch ist zum Bewußtsein gelangt 1. als Mensch, 2. in den verschiedenen Gemeinschaften bis zum Staat. 3. Er ist aber noch nicht zum Bewußtsein gelangt in der G e s c h i c h t e . Die Geschichte ist noch nicht von einem Zweckbegriff beherrscht; die einzelnen Staaten haben keine Gemeinsamkeit, sondern nur sich selbst zum Ziel; wobei auch innerhalb der Einzelstaaten selbst natürlich die Erfüllung des Zwecks noch fern liegt, aber immerhin doch der Gedanke des Zwecks vorhanden ist. Die Weltgeschichte dagegen scheint nur sehr allmählich einen solchen anzustreben in ihrer Gesamtheit. Die Idee der Realisierung des Zwecks in der Weltgeschichte (Geschichte) ist identisch mit der Idee des W e l t s t a a t s . Der Realismus der Person (des einzelnen Individuums) hat sich in einen „Nominalismus" der Gattung umgewandelt. Man hat mit naiver Selbstverständlichkeit verlangt, daß einem hohen Grade innerer, d. h. geistiger Bildung, auch 'ein entsprechender Grad der äußeren Lebensstellung koordiniert sein soll. Man hat es verlangt, und besonders da, wo es annähernd tatsächlich der Fall war, oft sehr darauf gehalten, daß jene gewissermaßen „semeiotische" Anerkennung der inneren Persönlichkeit nicht vernachlässigt wurde. Man muß sich aber doch klar sein, wie weit wir von einer wirklichen Korrespondenz dieser beiden Faktoren realiter noch entfernt sind. Es ist keine Frage, die Größe des Besitzes, die mehr praktischen Fähigkeiten ihre



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Entstehung verdankt, hat es dadurch, daß sie selbst schon der Äußerlichkeit angehört, leichter, dort anerkannt zu werden, zumal sie ja unter Umständen reale Zwangsmittel zu dieser Anerkennung besitzt. Es hat sich in diesem Fall ein Individuum so weit aufgeschwungen, daß es hinsichtlich des sozialen Vermögens gewissermaßen die Potenzen mehrerer Individuen, bis zu einem ganzen Volk, in sich vereinigt. Es kann nun aber ebensogut ein Mensch durch umfassende und tiefgehende geistige Bildung die geistigen Potenzen mehrerer Individuen (hier wie oben die Durchschnittsund Massenfälle angenommen) in sich vereinigen, und müßte, da der geistige Besitz um nichts geringer, sondern wohl um manches schätzenswerter ist als der reale, durch äußere Mittel ebenso vor der verständnislosen Menge geschützt werden, wie der sozial Überlegene, der es bei seinen Mitteln nicht einmal so sehr nötig hat. Das Individuum einer hohen Geistigkeit hat die Grenze des Individuellen, Einzelpersönlichen in der Richtung zur G a t t u n g hin überschritten und sucht diese geistige Souveränität auch äußerlich zu realisieren, um damit, als das feiner organisierte Wesen, einen gewissen Schutz zu haben. In diesem Sinne kann man mit Anwendung der mittelalterlichen Terminologie sagen: Der Realismus der Person, des Einzelindividuums, hat sich in einen Nominalismus der Gattung umgewandelt. Der geistige Realismus (Nominalismus) des Einzelindividuums sucht als Nominalismus (Realismus) der Gattung in Erscheinung zu treten. B a e r , Metaphysik und K u n s t .

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Das [istdXstv, die [lite&c des Einzelindividuums an der Gattung, erweckt in diesem den Drang, sein Einzelbewußtsein (sein Ich) zu dem der Gattung auszudehnen. Das ist das Streben nach „Macht" auf materiellem wie geistigem Gebiet. Das geistige Gebiet (ja schon an und für sich ein p r o b l e m a t i s c h e r Gegensatz zu dem „materiellen") greift in dieser Sphäre ganz auf das materielle über, weil Wissen zugleich auch Macht bedeutet. Die Natur hat (im lebendig organischen Zustand) das Bestreben, sich auszubreiten; wo sie nun bei einem Einzelindividuum angekommen ist und dennoch weitere Ausbreitung findet, aus einem noch zu erörternden Grund, geht sie rückwirkend vor, indem sie die Wertsphäre dieses Individuums über eine größere Anzahl von Durchschnittswerten verbreitet; und nicht allein die Wertsphäre, sondern damit verbunden in günstigen Fällen auch die Einwirkungs-, die Machtsphäre; so daß jenes Einzelindividuum doch zugleich wieder m e h r e r e Individuen b e d e u t e t . (Die organische Ausbreitung eines solchen Einzelindividuums — Nachkommenschaft — kann mit jener kaum in Vergleich gezogen werden, ist damit verschwindend.) Es ist wieder einer der U n g e d u l d s a k t e der Natur, die somit den Ausweg in einer r ü c k l ä u f i g e n E i n s c h l i n g u n g findet. Es wäre ein Zusammenhang denkbar zwischen dem Bestreben von Körpern der anorganischen Natur in erhitztem Zustande, sich auszudehnen, und dem Streben der bewußten Natur (des Menschen) im Zustande einer gesteigerten (jenem erhitzten Zustande



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in hohem Sinne entsprechenden) Lebenstätigkeit — nicht auf rein physischem Gebiet —, die aus einer souveränen Bildung und Lebensauffassung entspringt, ihren Machtbereich möglichst weit über ihre individuell-persönliche Sphäre auszudehnen. E p i k u r s Zurückziehung von jeder politischen Tätigkeit, Grund: staatliche Zersetzung, entspringend aus den damaligen religiösen und politischen Zuständen, besonders der Stärke des neuaufkommenden Christentums. Lange Jahrhunderte hindurch wurde Epikurs Lehre, wegen ihres aus ethischen Interessen vertretenen naturwissenschaftlich begründeten Atheismus, verpönt und vergessen. Um die Furcht vor den Göttern, und die mit ihr verknüpfte kleinliche Furcht vor Strafe nach dem Tode, als hinfällig zu erweisen, war dieser Atheismus entstanden, der schon durch den Hedoniker Euemeros vorgebildet war. Sein erstes Neuerstehen fällt in die Zeit Descartes und ist durch Pierre Gassend (1592—1655) verursacht. Im Atheismus aber sah das Christentum seinen größten Feind. Leichter ließ es sich mit Piatos Lehre und mit der des Aristoteles vereinigen. Gegensatz: Aristipp — Epikur. Verwandtschaft der Naturphilosophen: vor allen Demokrits mit Epikur; jedoch bedeutet die Lehre Epikurs naturwissenschaftlich einen Rückschritt gegenüber Demokrit. Dagegen H ä c k e l s Atheismus entspringt: 1. Nicht aus einem ethischen Interesse, das mit



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der Götterfurcht aufräumen möchte, sondern aus naturwissenschaftlicher Überzeugung. 2. Entsteht nicht zu einer Zeit, in der gerade ein neues langersehntes Religionssystem emporkommt, sondern in der ein altes — dasselbe, das damals emporgekommen — der modernen Geistesbildung widersprechende Hierarchie, mit außerordentlicher Zähigkeit, ihr Machtbereich zu behaupten sucht. Man wird also jener freieren Auffassung entgegenkommen, obwohl, abgesehen vom Katholizismus, auch der übrige Theismus dagegen auftritt. 3. Dennoch wird er Aussicht haben, weil er nicht antistaatlich, sondern philostaatlich gesinnt ist. J e mehr es ihm glücken wird, sich mit dem Staatsgedanken zu verschmelzen, desto aussichtsvoller wird seine Verbreitung. Denn der Staat ist in seiner materiellen Notwendigkeit der Mittelpunkt des modernen Interesses. Um so mehr, als die Hierarchie als Feindin des weltlichen Staates erscheint, wird also die philopolitische, die Freundin des weltlichen Staates, die naturwissenschaftliche Weltanschauung, bei der modernen gebildeten Menschheit verständnisvolle Aufnahme und Verbreitung finden. Die Sophistik Friedrich N i e t z s c h e s ist die moderne oder große S o p h i s t i k — gedacht im g u t e n Sinne, wie Nietzsche selbst etwa die antike Sophistik beurteilt. — Diese Sophistik ist keine müde Skepsis, sondern ein universales Wissen von der Relativität aller Dinge. Sie ist der moderne, der große M a c c h i a v e l -



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l i s m u s des Geistes neben dem politischen Macchiavellismus; der Macchiavellismus auf jedem Gebiet. Die religiöse Vorstellung eines seienden Jenseits, die Fiktion einer „ b e s s e r n " W e l t , welche u n s e r n W ü n s c h e n entspricht, schließt sich an die psychologische Deutung der Kunstproduktion a n ; sie ist die letzte Konsequenz (in ihren s e h r verschiedenen Formen) und erhält ihre Darstellung in den verschiedenen Künsten auch f ü r die äußere W a h r n e h m u n g . Weil es sich hier um ein Ziel der Welt handelt, b e r ü h r t sich in diesem P u n k t die Philosophie, d. h. die „religiöse", mit Religion, und zugleich auch mit der Kunst. Dieser Z u s a m m e n s c h l u ß der drei Gebiete ist jedoch kein Vorteil, wenigstens nicht f ü r die Philosophie. Z u m mindesten sollte diese das Ziel, die Art desselben bestimmen, und nicht, wie im oben erwähnten Falle, die Religion.

Ästhetische Fragmente. Die s u b j e k t i v e Einheit des M a n n i g f a l t i g e n der Vorstellungsbewegungen, von den einfachsten Elementen dieser Mannigfaltigkeit an bis zu den inhaltlich reichsten, ist das Prinzip aller Schönheit. Einfache Elemente (wie Farbe, Linie etc.), die bei uns das Gefühl der Lust hervorrufen, sind nur a n g e n e h m . Werden aber mehrere solcher Elemente zu einem harmonischen Ganzen vereinigt, so daß also jedes Element das andere in seiner Wirkung nicht abschwächt, sondern verstärkt, so nennen wir diese wohlgeordnete Zusammenfügung angenehmer Elemente: schön. Dieses harmonische Ganze bewirkt wohl in uns das nämliche Gefühl der Lust, wie die einzelnen Elemente; jedoch ist es so beschaffen, daß es durch seine vielfältige, doch einheitlich wirkende Anordnung das Gefühl der Lust in weit höherem Grade in uns hervorzurufen vermag, als es ein einzelnes Element vermöchte und imstande ist, unser ganzes Gemüt so vollkommen einzunehmen, daß wir, wie man sagt, ganz von seiner Schönheit erfüllt sind.



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Schönheit wäre also die Vereinigung einer Vielheit angenehmer Elemente zu einem einheitlich wirkenden Ganzen. Das Wort a n g e n e h m ist hier nicht geringschätzend, sondern nur um der Unterscheidung willen gebraucht. Die Empfindung der Lust aus e i n f a c h e n P r i n z i p i e n ist a n g e n e h m . Ein Gegenstand heißt s c h ö n , wenn er durch eine V i e l h e i t angenehmer Elemente in uns ein einheitliches Gefühl der Lust hervorruft. Es möchte der eigentümlichen Würde der Schönheit Eintrag tun, wenn wir schon die Empfindung der Lust, aus e i n f a c h e n Prinzipien, s c h ö n nennten, denn hier ist es allein das betreffende Sensorium, welches unserm Gemüt die Empfindung der Lust übermittelt, sofern dies nicht schon im Sensorium sozusagen stecken bleibt. Sobald uns dagegen eine geordnete Vielheit sich gegenseitig unterstützender angenehmer Elemente entgegentritt, genügt die Tätigkeit der Sensorien allein nicht mehr, sondern die verschiedenen Elemente müssen durch die Tätigkeit des Verstandes, sofern sie im Gegenstande darauf angelegt sind, in ihre ordnungsgemäßen Beziehungen gesetzt werden (wie dies überhaupt der Verstand bei der Wahrnehmung eines jeden Objekts zu tun pflegt). Erst so vermögen alle Elemente, in ihrer harmonischen Zusammenstimmung, auf unser Gemüt einen einheitlichen Eindruck zu machen. Diese Empfindung einer gehobenen Lust, die sozusagen ihre geistige Weihe durch die synthetische Tätigkeit des Verstandes bekommen hat, erscheint nun vollkommen



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würdig, s c h ö n genannt zu werden. Eben diese ordnende und harmonieerwirkende Tätigkeit des Verstandes, die zu der Annehmlichkeit der Elemente hinzukommt und dieselben aus ihrer Vielheit in eine höhere Einheit hebt, führt auch die Empfindung der Lust, von dem bloß Angenehmen, zum Schönen hinan. Bei Abendbeleuchtung einer Landschaft, die wir s c h ö n nennen, kommen sehr vielerlei Prinzipien in Betracht, z. B. sowohl Naturschönheit (Harmonie), als unsern Augennerven angenehme Farbenwirkungen, als schließlich auch (und in diesem Fall sehr hauptsächlich) Assoziationen. Dieser verschiedenartige Ursprung der einzelnen Wahrnehmungen, die wir zusammenfassend als schön in Bezug auf die Landschaft bezeichnen, paßt sehr wohl zu der reflektierten Betrachtung einer hohen Kulturepoche; während man derartige Schilderungen, in einer mehr naiven Zeit, kaum finden wird. Überhaupt entsteht der Geschmack für die Landschaft (das Idyllische) immer erst spät in jeder Kulturepoche. Während die organische Natur durch die Lebensharmonie schön wirkt, erscheint die unorganische Natur, allein aus f o r m a l e n Prinzipien, schön. Natürlich wird die Anschauung der organischen Natur auch formal sein, wie dies überhaupt bei jeder Anschauung der Fall ist, aber hier ist das Formale nur Mittel, der möglichst vollkommene Lebensausdruck, der es eben ermöglicht, daß die Harmonie jenes Lebens mit



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unserm zustande kommt. Bei der unorganischen Natur ist jedoch das F o r m a l e s e l b s t G e g e n s t a n d . Die Architektur und das Kunstgewerbe sind die einzig rein formalen Künste. Die Architektur tritt unter den bildenden Künsten wohl am frühesten in einiger Vollendung auf, sobald nämlich die Völker eine Stufe erreicht haben, in der die Verwendung dieser Kunst in reicherem Maße nahe liegt (Altertum und Mittelalter). Ihr Hauptprinzip ist rein formal, das in Verbindung mit einem außerästhetischen, poterischen, praktischen Moment tritt. Ästhetisch ist diese Kunst also, in derselben Weise wie die Dekoration, sehr einfach. Sie hat nur ein Prinzip aus dem ästhetischen Gebiet nötig, das rein formale, um ihre Vollendung schon erreichen zu können. Dies Prinzip kann späterhin zwar noch ein assoziatives entwickeln, aber zu einem eigentlich inhaltlichen scheint es hier nie zu kommen. Das inhaltliche Prinzip gehört nicht zum Charakter dieser Kunst; an seiner Stelle steht hier ein praktisches. Kants reine (freie) Schönheit, sofern sie nicht einem Zwecke dient, adhärierend ist, und auch kein Interesse, wie z. B. das am Guten, in sich begreift, ist nur in der absolut formalen Kunstform zu finden; hierauf allein trifft auch Kants subjektivistisches Prinzip der Schönheit zu: als einer subjektiven formalen Zweckmäßigkeit, ohne objektiven materialen Zweck.



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Zutreffend ist diese subjektive, formale Zweckmäßigkeit f ü r alles sinnlich Schöne (Kants Angenehme), also f ü r die Elemente der Vorstellung, soweit sie angenehm sind (Farben, Linien etc.), und für Arabesken und mathematische Figuren, Kristalle etc., sofern man diesen nicht schon einen Inhalt als konkrete Idee auf mathematischer Stufe z u e r k e n n e n will. Das Erhabene, das in einem Gesichtsausdruck liegen kann (Zeus des Phidias), wäre ebensowenig bei Kants dynamisch, als bei seinem mathematisch Erhabenen u n t e r z u b r i n g e n ; widerlegt auch seine Theorie vom Zurückdrängen des Lebens. Nicht das Leben wird zurückgedrängt (Lebensüberdruß), sondern das einzelne Individuum verschwindet vor der Übermacht des Geg e n s t a n d e s , mag diese Übermacht nun dynamisch, mathematisch oder ethisch sein. Die ethische Übermacht wird vor allem im Gesichtsausdruck, z. B. bei Götterstatuen, liegen. Durch dies momentane Untergehen des einzelnen Ichs (das dann nur noch im Leben überhaupt existiert) wird das G e m ü t von allen Schranken der individuellen Persönlichkeit befreit, und dadurch kommt sowohl das G e f ü h l des Allesumfassenwollens, wie auch das des Enthobenseins aus den, den Menschen beengenden Verhältnissen, das G e f ü h l des Befreitseins, des — E r h a b e n e n , zustande. Faust I, Teil 2, Monolog des F a u s t : „In jenem sel'gen Augenblicke Ich fühlte mich so klein, so groß."



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Solange die Künste noch abhängig von Staat und Kirche sind, werden sie, um so mehr mit ihrer Entwicklungverbunden, an sie gebunden sein (ältere Zeit); sobald sie sich aber verselbständigen, die Künste bei höherer Kultur frei werden von bloß dienenden Zwecken, wird auch ihr Entwicklungsgang nicht mehr so äußerlich an die übrigen Äußerungen der Psyche gebunden sein, sondern ihre Wandlung gemeinsam mit der der übrigen, unmittelbar in der Grundentwicklung der Psyche, sich begründen. Der allgemeine Geschmack wird den Kunstgegenstand nur nach der Gemütsbewegung, die er bei ihm hervorruft, beurteilen, nach den subjektiven Affekten (süß, trivial, lasziv, moralisch, komisch, tragisch). Er wird einen Eindruck nur von dem roh-gegenständlichen Inhalt empfangen, und daher das S p e z i f i s c h e jeder Kunst nie erkennen. Außere, vor allem i n n e r e F o r m , bleiben ihm immer verschlossen. Die Grotti des Barock und Rokoko haben kein künstlerisches Prinzip, können daher nicht als realistische Naturnachahmungen gelten, ebensowenig wie der ganze Gartenstil jener Zeit eine solche ist. Diese Grotti (rocco) entspringen aus demselben Zug des sozialen Geistes, wie die Schäferidylle und die Schwärmerei Rousseaus, die himmelweit entfernt ist von wirklicher Natürlichkeit, der wir heute bedeutend näher stehen.



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Der blasseste, klassizistische Idealismus und der gröbste Naturalismus (Realismus) kranken beide an Unfruchtbarkeit, die der eine durch übermäßige Anleihen bei f r ü h e r e r Kunst, der andere bei der Wirklichkeit zu decken sucht. In beiden Fällen ist das Fehlen der i n n e r n F o r m zu konstatieren. Diese vorzutäuschen mißlingt eben, weil sie etwas ist, dessen Gesetze nicht zu erlernen, die nicht einmal wirklich aufzustellen, zu abstrahieren sind, wie etwa die der äußern Form, das m e h r Technische. Die innere Form muß autochthon sein. Ihre Wurzeln müssen von vornherein vorhanden sein, während ihre Bildung mannigfachen Einflüssen, durch Vorbilder oder sonst, bis zu einem gewissen Grad zu ihrem Vorteil, unterworfen sein wird. Die beiden Operationen der systematischen Wissens c h a f t : die A u s f ü h r u n g eines T y p u s und die A b s t r a h i e r u n g von Eigenschaften, und deren Z u s a m m e n fügung zu einem Gattungs- oder Artbegriff, kann nicht als verschieden bezeichnet werden. Denn der Typus vertritt eben ein solches Aggregat von abstrahierten Eigenschaften, indem er zufällig ein solches in sich vereinigt; er erspart also die Abstraktion, weil er sie schon geleistet hat. Er unterscheidet sich aber darin vom Gattungsbegriff, daß er mit den gemeinsamen Merkmalen noch einige spezifische, n u r ihm zukommende, vereinigt. Übrigens bleibt die Arbeit des Abs t r a h i e r e n s zur Auffindung des Typus keineswegs erspart, da auch hier i m m e r festgestellt werden muß,



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ob das typische Exemplar auch wirklich die charakteristischen Eigenschaften in sich vereinigt. Der Typ u s wird aber vielleicht m e h r gefühlsmäßig gefunden, ist m e h r ästhetisch. Bei der Auffassung von Kunstwerken kann von den drei Bestandteilen des Gegenstandes, Inhalt, äußere Form und innere Form, soweit diese — nämlich n u r bei der höheren Kunst - in Betracht kommen, jeweils eines überwiegen, und die Auffassung wird a potiori danach jedesmal bezeichnet werden können. Es ist dabei wichtig, daß daraus drei ästhetische Theorien entspringen k ö n n e n : die rein inhaltliche, die formalistische, und diejenigen Theorien, die aus verschiedenen G r ü n d e n assoziative Vorgänge f ü r wesentlich halten. Diese Auffassungsweisen können nun persönlich konstant sein, oder sie können auch bei ein und demselben Menschen abwechselnd v o r h e r r s c h e n . Bei der G e s a m t a u f f a s s u n g eines höhern Kunstwerkes sollten jedoch alle drei genannten Faktoren wirksam w e r d e n , da n u r auf diese Weise die ganze mögliche W i r k u n g des K u n s t w e r k s e m p f u n d e n wird. Der sogenannte s y m b o l i s c h e besondere Art der innern Form.

Stil ist n u r eine

Ist die Kunst einmal auf jener Stufe angekommen, auf der sich jene drei Faktoren vereinigen, so pflegt sie hin und wieder ihr Schwergewicht unter jenen Faktoren wechselnd zu verlegen.



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D e r Impressionismus in der bildenden K u n s t entspricht

z. B .

Lyrik,

Musik.

auch

einem

Der

einseitige

Richtung

nicht,

zeigt

so

sich,

solchen

in

der

Impressionismus aufgefaßt

darf

werden;

Literatur, nicht

wird

daß er aus einem

er

als dies

verfeinerten

Stilgefühl entspringt; aus dem B e d ü r f n i s der Einheitlichkeit,

allerdings

der

momentanen.

festhalten, ist auch das Z i e l des D e r ästhetische Schein, sondern der Schein der

Augenblicke

Impressionismus.

nicht der schöne Schein,

Wirklichkeit.

Das Scheinbare bei den G e m ü t s b e w e g u n g e n in der M u s i k und P o e s i e ( D r a m a ) , M a l e r e i und Plastik, sind die realistischen O b j e k t e , der W i r k l i c h k e i t wirken. unser W o h l g e f a l l e n , keit,

noch mehr,

welche

durch

den

Schein

Ideale K u n s t w e r k e e r w e c k e n

durch den Schein der

als es

die

realistischen

Wirklichvermögen,

indem s i e durch den Schein der W i r k l i c h k e i t den G e danken an eine i d e a l e

Wirklichkeit

erwecken.

P o e s i e und M u s i k w i r k e n nur insofern schön, als ihre

in

der

Komposition

harmonisch

samtwirkung, mit dem S c h e i n e das

Gemüt

bewegt.

dar, die M u s i k wobei

natürlich

Die

Poesie

der

angelegte

stellt

Handlungen

ruft n u r G e m ü t s b e w e g u n g e n beide in l e t z t e r L i n i e

hervor,

Gemütsbewe-

gungen (nur die P o s i e in b e s t i m m t e r e r W e i s e ) sachen.

Ge-

Wirklichkeit,

N i e m a n d w i r d behaupten können,

verur-

daß

eine

wirklich e r l e b t e T r a g ö d i e dem in M i t l e i d e n s c h a f t G e z o g e n e n als schön erscheint.

Damit ist nicht gesagt,

daß es in W i r k l i c h k e i t keine schönen V o r g ä n g e

gibt;



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jedoch werden in der Dichtung die unerquicklichen Seiten abgeschwächt, die schönen verstärkt, und die unerquicklichen Seiten werden, als Schein der Wirklichkeit, das G e m ü t n u r schwach b e r ü h r e n , da es eben die Freiheit hat, sich von ihnen ab- und dem Schönen sich z u z u w e n d e n , wie es ihm in der Wirklichkeit nicht möglich wäre. Als Beispiel der dichterischen Schilderung mag das Seesenheimer Idyll aus „Wahrheit und Dichtung" dienen. Z u r Darstellung der Kunst, vorzüglich der realistischen Malerei, die Schlußworte des H e r r n im Prolog zum F a u s t : „Und was in schwankender Erscheinung schwebt, Befestiget mit dauernden Gedanken."

Die organische Naturschönheit r u f t in uns das Gefühl des Wohlgefallens h e r v o r , weil wir in einem schönen organischen Naturobjekt den Lebenswillen möglichst zweckmäßig objektiviert sehen. Nicht als ob wir uns dieses Vorganges bei dem G e f ü h l des Wohlgefallens bewußt wären, sondern dies ist eben der Begriff auf welchen wir das Wohlgefallen beziehen, obzwar er f ü r uns, wenn wir auch dem Wohlgefallen irgend einen Begriff zu G r u n d e liegend denken müssen, unbestimmt erscheint. Das Wohlgefallen an einer organischen Naturschönheit ist also die unbewußte Harmonie der Form des Objektes mit dem uns innewohnenden Leben. A n d e r s ist es mit der Schönheit der unorgani-



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sehen Natur. Wenngleich die unorganische Natur an sich, ohne jegliche Verbindung mit der organischen, beinahe ausschließlich nur das Gefühl des Erhabenen erweckt, so gibt es doch Fälle, in welchen sie, auch allein, als solche uns schön erscheint; diejenigen aber sind weit zahlreicher, in welchen sie, in Verbindung mit der organischen Natur (hauptsächlich Pflanzen), uns als schön vorkommt. Letztere Schönheit betrifft vor allem die idyllische Natur, während die romantische wohl durchweg erhaben ist. Das Wohlgefallen an der landschaftlichen Natur geht wiederum von der zweckmäßigen Objektivierung des Lebenswillens aus, obwohl wir uns auch des Begriffs dieses Wohlgefallens ganz und gar nicht bewußt sind. Wie oben gesagt, wird die unorganische Natur, ohne jede Verbindung mit der organischen, in jedem Fall öde, und aus diesem Grunde höchstens erhaben, nicht aber schön erscheinen. Allein Beleuchtung und Bewegung können hier als schön gefühlt werden. Die Farben sind ein wichtiger Bestandteil der organischen Natur; da sie aber der Materie als solcher eigen sind, finden sie sich auch in den Produkten der unorganischen Natur (ganz abgesehen, wie wir zur Empfindung der Farben gelangen). Weil nun die Farbe in der organischen Natur überhaupt und vielleicht vorherrschender und augenscheinlicher ist als in der unorganischen, so kommt es, daß wir mit ihr unwillkürlich den Begriff des Lebens verbinden, und nun schon allein das Belebtwähnen der unorganischen Natur eine Harmonie mit dem uns innewohnenden Leben wachruft,



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ohne daß hier also, wie bei den organischen Objekten, unbewußt eine größtmögliche Zweckmäßigkeit gefordert wäre, wie es ja in der Tat auch hier unmöglich ist. Das Wohlgefallen an der beleuchteten Natur beruht allerdings, aber erst in zweiter Linie, auf ihrer Analogie mit der jeweils uns beherrschenden Gemütsstimmung, weshalb man ja geradezu von einer Landschaftsstimmung spricht. Es soll damit aber nicht gesagt sein, daß jede Stimmung in einem Bilde notwendig aus der Beleuchtung hervorgehen müsse. Obgleich wir uns wohl allein der Analogie mit unserer Gemütsstimmung, beim Anblick einer beleuchteten Natur, bewußt werden, ist trotzdem die Belebung der unorganischen Natur als vorhergehend wahrscheinlich, da sonst die Stimmung kaum wahrgenommen werden könnte. Der Belebung sind wir uns natürlich nicht bewußt, denn das eben ist der unbestimmte Begriff, der unserem Wohlgefallen zu Grunde liegt. Es sind also drei Begriffe, die unbestimmt, durch e i n e Harmonie unser Gemüt ergreifen: Die organische Natur: nahezu vollendeter Ausdruck des Lebens (Zweckmäßigkeit), organische mit unorgani(größtmögliche Zweckscher Natur gemischt mäßigkeit der Natur (idyllische Natur): im Verhältnis zum Lebenswillen) und nahezu vollendeter Ausdruck des Lebens, im großen betrachtet. B a e r , Metaphysik u n d K u n s t .

3

— unorganische Natur:

34

— Belebung der unorganischen Natur.

Soweit Wasserfälle, rauschende Ströme nicht erhaben sind, ist der unbestimmte Begriff unseres Wohlgefallens auch, wie bei der Beleuchtung, eine Belebung, diesmal hervorgerufen durch die mechanische Bewegung, die, der Materie eigen, in der organischen Natur ebenso, und hier wieder weit häufiger als in der unorganischen, sich findet, und deshalb unbewußt von uns mit dem Begriff des Lebens verbunden wird. Diese letzte scheint die minderwertigste Art des Wohlgefallens zu sein. Wir beziehen also das Wohlgefallen am Schönen auf keinerlei Begriff, und alles Schöne hörte auch in dem Augenblicke auf schön zu sein, in welchem es auf Begriffe bezogen würde. Die Natur der aufgestellten Begriffe ist ja auch derart, daß irgendwelche Beziehung auf sie gar nicht erforderlich ist, an Stelle der Beziehung tritt eben hier die unbewußte Harmonie. Da also das Wohlgefallen an der Naturschönheit aus einer Harmonie der Objektivierung mit dem uns innewohnenden Leben entspringt, ist der Begriff von der Natur als Kunst unmöglich. Zu beachten ist, daß bei der schönen Landschaft der Grund unseres Wohlgefallens in dem möglichst vollendeten Ausdruck des Lebenswillens im großen, d. h. in einer Zusammenstellung von zahlreichen Objekten, zu suchen ist. Die anorganische Natur, soweit sie in einem Landschaftsbild sichtbar ist, wird, teils durch die sie umgebende organische Natur mit-



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belebt, teils als zweckmäßige Vorbedingung für die organische Natur mit dieser eng verwachsen, so von .der organischen Natur ins Schlepptau genommen, daß sie mit zum Ausdruck des Lebenswillens wird, und in diesem Falle an sich jedenfalls nicht mehr in Betracht kommt. Wohl deshalb, weil das Verständnis für die schöne Landschaft eine umfassendere Auffassungsfähigkeit voraussetzt, findet sich das Wohlgefallen an der schönen landschaftlichen Natur um ihrer selbst willen, und dessen Ausdruck in der Kunst (Dichtung und zeichnende Kunst) erst in vorgeschrittener Kultur. Diesen Betrachtungen zufolge beruht das Wohlgefallen auf Willensprinzipien, also auf Prinzipien a priori, und hat daher Allgemeingültigkeit. (Vielleicht jeweils mit Beschränkung auf eine bestimmte Menschenrasse.) E i n e Harmonie ist es auch, die unserem Wohlgefallen an der rein geometrischen Form zu Grunde liegt. Die geometrischen Formen nämlich sind, als Grundformen und Bildungsgesetz, der Materie eigen, und nur vermittelst ihrer ist eine Vorstellung der Materie möglich; unserer Vorstellung liegen diese Formen zu Grunde, weil wir eben selbst Materie sind. Die Vorstellung an sich ist also rein materiell, d. h. auf den Eigenschaften der Materie beruhend, die Tätigkeit aber (die Möglichkeit der Vorstellung) hat ihren Ursprung im Willen, indem eben kurzweg der belebten Materie, infolge der Übereinstimmung der inneren Gesetzmäßigkeit mit der unbelebten, die Vor-



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Stellung möglich wird. Es ist also in der Möglichkeit der Vorstellung vielleicht durchaus keine Zweckmäßigkeit (als Bedingung zu unserem Leben), sondern ein höheres Naturgesetz zu erkennen, so daß sich der Wille auch diesem höheren Gesetz der Materie assimiliert. Die geometrischen Formen liegen also aller Vorstellung zu Grunde, und zwar sind sie in dieser Eigenschaft formell ideal. Z. B. liegt jeder Vorstellung eines Kreises, in unserem Vorstellungsvermögen, ein Kreis von idealer Rundung zu Grunde, bei welchem also nur die charakteristische Form, nicht die Größe, Material oder Farbe, bestimmt ist. Sobald wir nun einen Kreis sehen, der diesem Ideale nahezu in der Form gleichkommt (denn in der Wirklichkeit gibt es wohl keine idealen geometrischen Formen), so findet eine Harmonie des vorgestellten Kreises mit dem idealen statt, indem er sich nahezu mit dem idealen deckt; und dies ist der Grund des Wohlgefallens an der schönen geometrischen Form. In derselben Weise wie der Kreis werden auch alle andern vorgestellten schönen geometrischen Figuren mit ihren Idealen in unserem Vorstellungsvermögen harmonisieren. Auch hier wird vielleicht bei den verschiedenen Menschenrassen die eine oder andere Seite des Vorstellungsvermögens (etwa der Art der vorzustellenden Gegenstände zufolge, wie z. B. die Symmetrie) mehr ausgebildet sein. Es ist nun freilich richtig, daß bei dem Wohlgefallen an einem organischen Objekte die geometri-



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sehe Form, nicht nur als ideale Form zur Möglichkeit der Vorstellung überhaupt, sondern auch als an dem Objekte selbst in manchen Teilen vorgestellte Form in Betracht kommt; dies kann allerdings beim Wohlgefallen mitwirken, hat aber an sich nur für die Einzelbetrachtung verschiedener Teile des Objektes, und daher nur sekundäre Bedeutung. Die Formen der organischen Natur sind nun gar nicht Objekte der mechanischen Natur, also auch keine nach der der Materie eigenen Gesetzmäßigkeit hervorgebrachte, ihre Form ist also in der Gesetzmäßigkeit der Materie nicht wie die der geometrischen Formen enthalten; folglich können sie von uns, als belebter Materie, gar nicht direkt, sondern erst vermöge der geometrischen Ideale in unserem Vorstellungsvermögen, durch den Willen als Grund aller Vorstellung, vorgestellt werden. Nach diesen Betrachtungen ist es also nicht möglich, daß Formen der organischen Natur, in derselben Weise wie die geometrischen Formen, unserem Vorstellungsvermögen als Ideale eigen sind. Farben und Töne sind Eigenschaften der Materie, welche von uns also nur unserer materiellen Beschaffenheit zufolge wahrgenommen werden können. Töne (zu welchen auch die Sprache gehört, obwohl dieselbe vielleicht etwas höher zu werten ist, in Anbetracht der Dichtkunst) und Farben gehören in die Rangordnung der geometrischen Figuren, sind aber jedenfalls etwas tiefer zu stellen, da ihr Eindruck ein unbestimmterer ist, als der der geometrischen Figuren. Jedenfalls werden sie dann am schönsten für sich

— allein

gefunden, wenn

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— in ihrer

größtmöglichen

Reinheit auftreten; auch hier findet wieder eine Harmonie statt, nämlich der wahrgenommenen Töne und Farben mit den Idealen.

Den Tönen verleiht die Ver-

bindung mit gewissen Gemütsbewegungen die Brauchbarkeit

zur

künstlerischen

Verwendung;

denn

es

kommen von diesen Grundformen, in der Natur, nur selten Kombinationen vor, wie z. B. der Gesang der Vögel, weshalb vielleicht auch die Musik mit der Zeit eine

so ausgedehnte Theorie gebildet hat.

mit der schwarzen Farbe

bei

uns etwa

W i e wir

den Begriff

der Feierlichkeit oder Trauer, mit der roten den der Liebe verbinden,

obgleich

die

Farben

nicht so ab-

hängig von diesen Verbindungen in der künstlerischen Verwendung sind wie die Töne, da sie der Zeichnung zur größeren Belebung (Täuschung) zugefügt werden, so

finden

wir

mit

hohen Violinen,

Stahlspiel,

oder

Harfentönen das Gefühl einer gewissen Glückseligkeit verbunden.

(Wird viel bei Opern angewandt.)

Eine

Verbindung von Horn-crescendo mit geschüttelten baskischen Trommeln zum Ausdruck

des

(Tamburinen) verwendet Liebesdranges.

Wagner

Man wollte und

könnte z. B. auch nicht etwa eine Verstimmung durch den C-dur-Dreiklang wiedergeben.

Der Vorgang bei

der Musik, von den einzelnen Tönen bis zur größtmöglichen Bestimmung des Gefühls, das sie hervorrufen, ist also folgender: Zuerst empfinden wir, vermöge unserer materiellen Beschaffenheit, durch deren Willen, Töne, die uns zunächst, gemäß ihrer Harmonie oder Disharmonie (hier



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nicht im musikalischen Sinne zu verstehen), mit den Idealtonhöhen in unserem Vorstellungsvermögen schön oder unschön (häßlich) vorkommen. Die Gefühlsdetermination der Tonwirkung findet nun durch eine Analogie der äußeren mit der inneren Empfindung statt, und zwar besteht die Analogie in einer gleichen oder nahezu gleichen Mischung von Wohl- und Mißfallen. Auf diese Weise wäre vielleicht ein sehr einfaches Gefühl durch einen einzigen Ton wiederzugeben: z. B. reines Wohl- oder Mißfallen. Was nun ganz im allgemeinen die Ideale unseres Wahrnehmungsvermögens betrifft, so ist deren Anzahl vielleicht a priori bestimmt, aber keineswegs sind alle Ideale in Aktion. Damit aber sind nicht die außerordentlich hohen, oder vielleicht auch jene Töne gemeint, die manche Menschen nicht mehr zu hören vermögen, das liegt an einer geringeren Ausbildung des Gehörs, ist also durchaus äußerlich; denn es werden manchmal irgend welche Intervalle oder Verbindungen von Tonhöhen als musikalisch empfunden, die man früher für unmusikalisch hielt. Unmusikalisch ist also ein Ton, der unrein ist — mit ungleicher Schwingungszahl in einer Sekunde, oder sonst einer Zeiteinheit, während die Schwingungsweite die Tonstärke, die Schwingungsdauer die Tonlänge bedeutet —, der also mit keinem unserer Ideale übereinstimmt. Ein Ton, der annähernd übereinstimmt, ist disharmonisch (im musikalischen Sinne), während unmusikalische Töne disharmonisch im idealischen Sinne sind. Es ist nun natürlich sehr klar, daß, da die Tonhöhe von der Schwingungszahl



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abhängt, unter den Tönen eine mathematische Gesetzmäßigkeit (von Zahlen) herrscht; aber deswegen braucht und ist auch wohl nicht unser Wohlgefallen an den Tönen ein unbewußt mathematisches (wie Schopenhauer will). Eine noch feinere Nüancierung als die Tonhöhe ist die Klangfarbe, welche imstande ist, das Gefühl noch genauer zu determinieren. Soweit man behaupten will, daß die Natur auch als Kunst zu betrachten sei, daß also in ihr eine künstlerische Absicht tätig gewesen, oder sei, welche bewirke, daß uns Naturobjekte schön (oder erhaben) vorkommen, liegt es bei dem Vogelgesang am offensten klar, daß derlei ganz und gar nicht vorhanden; so genau man auch den Gesang der Vögel verfolgen mag, mit Ohr und Empfindung, man wird nichts von der Wirkung fühlen, die eine symphonische oder sonstige Kunstmusik auf uns ausübt. Der Vogelsang ist rein elementar, wie es ja auch lächerlich wäre, bei einem Vogel ein so entwickeltes Gefühlsleben zu suchen wie beim Menschen, welches er in seinem Gesang ausdrücke. Bei dem Gesang der Vögel ergötzen uns die Töne in ihrer oben erwähnten einfachsten Wirkung; dann, wie bei aller Musik, wirkt das Tempo mit ein (das aber nicht allein ihr angehört), ferner die mit dem Vogelsang verbundene Erinnerung an verschiedene Jahreszeiten, welche wohl das allgemeinste Wohlgefallen an demselben ausmacht. Von denjenigen Vögeln, die durch ihren Gesang unser Empfinden anregen, ist wohl die Nachtigall die einzige, deren Gesang durch Tonverbindung, Rhythmus und Vortrag eine



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Wirkung hat, die vielleicht entfernt einigermaßen an diejenige der Kunstmusik erinnert. Ähnlich der Dichtkunst hat also wohl auch die Musik ihren Ursprung in der menschlichen Sprache, und zwar die Musik speziell im Ton derselben, aber zugleich ist sie auch abhängig von der Erfindung von Instrumenten, so daß diese etwa nicht dienten, die menschliche Stimme nachzuahmen, sondern diejenigen Körper, durch deren Schwingungen bei irgend einem Zufall ein Wohllaut entstand, wurden daraufhin zu Instrumenten kultiviert, d. h. man gab ihnen eine zur Tongebung möglichst zweckmäßige Form und Lage. Die Musik scheint danach vielleicht die künstlichste aller Künste zu sein, womit aber nicht gesagt sein soll, daß sie die höchste ist, welche Stelle wohl mit allem Recht die Dichtkunst einnimmt. Es steht zu vermuten, daß, wie wir ein Buch sehr wohl verstehen können, ohne es laut zu lesen, so auch die Musik, sobald sie zu so allgemeiner Kenntnis kommt wie das Lesen, auch empfunden werden kann, ohne gehört zu werden, wie es ja bei manchen Musikern der Fall ist. Allerdings ist die Musik nicht so notwendig wie das Lesen, und ist es daher sehr fraglich, ob diese Hypothese sich verwirklichen wird. Das Gehör wird dabei jedesmal ausgeschaltet als verzögerndes Moment der Apperception. Dadurch, daß wir die Worte oft gehört haben, und vielleicht auch laut gelesen haben, verbinden wir mit dem geschriebenen Worte schon die gewohnte Empfindung des Klanges,



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ohne uns dessen bewußt zu werden, und so tritt an die Stelle der gesprochenen Worte nur noch die Empfindung, die jenes hervorrufen würde, so daß man glaubt, unmittelbar mit dem Auge zu lesen, während dies nur mittelbar geschieht. Die Musik zeigt das erste Stadium des Lesens.

Die Töne einzeln genommen werden zufolge ihrer Tonhöhe und Klangfarbe als angenehm oder unangenehm empfunden, und als solche sind sie dem Komponisten gegeben, einfache Elemente. Dabei wäre zu wissen interessant und in vielem wichtig, warum wir die einen Töne (die mit den zahlreicheren Schwingungen) hoch, die andern tief nennen, jedoch scheint dies nicht leicht zu ermitteln zu sein. Die hohen Töne rufen nun eine anders nüancierte Empfindung des Angenehmen in uns hervor, als die tiefen Töne. Helmholtz sagt: „Je mehr sich die Töne der mittleren Schwingungszahl nähern, desto angenehmer scheinen sie zu sein." Der Komponist hat nun offenbar die Fähigkeit, bei einer Empfindung die Töne zu hören, die umgekehrt ungefähr diese Empfindung in uns hervorrufen würden. Und zwar scheint sich dies in der auch sonst bei andern Künsten (auch krankhaften Zuständen, Haluzinationen, Illusionen) vorkommenden Art und Weise zu vollziehen: zuerst Empfindung, dann Vorstellung, anstatt: Vorstellung, dann Empfindung. In dieser Umkehrung besteht wohl überhaupt das eigentliche Wesen



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der Phantasie, und somit auch der geordneten Phantasie: des künstlerischen Schaffens. Zu diesen einfachen Elementen der Musik treten nun Rhythmus und Harmonie. Was die einzelnen Töne nur schwach vermochten: angenehm zu wirken, das vermag die Harmonie in weit höherem Grade. Die Musik hat eben vermöge ihres äußerst transitorischen Charakters die Fähigkeit, durch angenehme oder unangenehme Empfindungen, die sie in unserem Gehör hervorruft, unsere ganze Person in angenehme oder unangenehme Stimmung zu versetzen. Gerade durch ihr transitorisches Wesen, weil sie uns keinen Augenblick Ruhe läßt, sondern immer vergeht und doch immer kommt, so daß keine Einzelempfindung getrennt entstehen kann, sondern jede entstandene sogleich zu einer andern fortgeführt wird. Der Rhythmus ist es schließlich, der dem Ganzen eine Form gibt (außer der musikalischen Form überhaupt); er ist dasjenige Element in der Musik, was am allgemeinsten wirkt, denn er erregt die Leidenschaft am elementarsten. Wie bei den Temperamenten scheint auch hier die Wirkung durch die Schnelligkeit des Blutumlaufs zu erfolgen, indem durch die raschere Aufeinanderfolge der Nervenaffektionen das Blut genötigt wird, seinen Kreislauf zu beschleunigen. Die ganze Möglichkeit der Wirkung der Musik beruht auf der nahen Verwandtschaft der sogenannten Seelen- und Gehörempfindungen. Es wird also offenbar, wenn wir eine Freude oder einen Schmerz empfinden, unser Nervensystem in denselben oder wenig-



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stens sehr ähnlichen Zustand versetzt, als dies bei dieser oder jener Gehörsempfindung der Fall ist; nur in diesem Falle kann durch eine Gehörsempfindung eine annähernd bestimmte Seelenstimmung entstehen. J e mehr ein Komponist es versteht, eine bestimmte Empfindung in uns wach zu rufen, durch die ihm zu Gebote stehenden Mittel, desto höher wird er zu schätzen sein; er wird also den Spielraum unserer Empfindung desto enger zu begrenzen imstande sein, je feiner sich ihm seine eigene Seelenstimmung in musikalische Empfindung umgewandelt hat. Die Bezeichnung a n g e n e h m wurde bisher verwendet, weil man eigentlich erst eine zusammenhängende Musik, ein Musikstück, eine Musik, die eine musikalische Form hat, s c h ö n nennen kann. Wenn wir einen Ton, eine Farbe oder eine Form schön nennen, so liegt der Grund nicht in dieser, sondern in uns; ebenso widersinnig wäre es zu glauben, daß die Farben in den Gegenständen begründet wären. Daß wir eine Empfindung des Auges gerade für grün halten, ist ganz unsererseits, ja schließlich ist es auch in uns begründet, daß wir diese Äußerung eines Objektes gerade als optische, und nicht etwa als akustische oder thermische Wirkung empfinden. Die Schönheit eines Dinges kann nicht eigentlich zum Bestände eines Gegenstandes selber mitgehören, da sonst jeder, wenn er nur wahrnehmen könnte, ein von irgend jemand für schön erfundenes Ding auch für schön halten müßte; dies ist nun nicht der Fall, zumal in der Musik. Wenn die Schönheit als Eigen-



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schaft zum Ding gehörte, hätte es dann noch einen Sinn, daß diese schon als schön feststehenden Eigenschaften einem in uns verwirklichten Ideale entsprächen? Die Eigenschaften, die wir als schön empfinden, brauchen dem Dinge nicht gleichgültig zu sein, aber jedenfalls werden sie bezüglich des Gegenstandes nicht als schöne Eigenschaften vorhanden sein. Die Musik scheint in ihren Anfängen, gemeinsam mit Tanz und Poesie, in dem Streben des Menschen seine Affekte auszudrücken, zu wurzeln. Sie trat wohl zuerst als Vokalmusik, als Gesang, auf; immerhin sind aber zum Ausdruck eines Affekts nicht unbedingt Worte nötig, und besonders in jenen ersten Zeiten werden diese — ähnlich wie bei den Kindern — noch gefehlt haben. Sie wurden vertreten durch bloße Laute des Affekts, durch Ausrufe, Interjektionen. Wenn man sich daher vielleicht die ältesten Gesänge noch als wortlos vorstellen darf, so ist doch dabei der scharfe Unterschied festzuhalten, der zwischen jenem wortlosen Gesang und der späteren wortlosen Koloratur besteht. J e n e r erste Mangel an wortmäßigem Ausdruck entspringt aus der noch unzulänglich ausgebildeten Poesie (begrifflichen Sprache), die noch eins mit der Tonsprache, sozusagen Gefühlssprache, ist, während die Koloratur ein Übergewicht der rein formalen Seite der Musik über die meist auch zugleich verkümmerte Dichtung bedeutet. Die ältesten Kultgedichte, die höchst wahrscheinlich gesungen wurden, bestehen aus ganz einförmigen



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Wendungen; etwa der Name des Gottes verbunden mit einem Worte des Ausrufs. Die Musik ist anfangs noch rein formal. Ihre Verbindung im Lied mit der Sprache bedeutet die erste Einung von inhaltlichem mit formalem Prinzip, wovon dann vielleicht der Sprachausdruck späterhin die ersten formalen Charaktere abstrahiert. (Fraglich — man könnte auch das formale Prinzip der Musik aus der Sprache ableiten, indem die, vielleicht durch physische Bedingungen der Atmung hervorgerufene Takteinteilung — Ton-Hebung und -Senkung — Vers- und Rezitationsweisen zum Teil gesteigert, und durch primitive Instrumente begleitungsweise markiert werden.) Immerhin scheint aber der formale Zug der Sprache anfangs nicht ohne diese primitive Musik aufzutreten. Für die Ableitung der Musik aus der Sprache (Poesie) spricht aber der Gesang. Die Vereinigung des inhaltlichen und formalen Faktors scheint hier jedenfalls insofern transgredient zu sein, als bei diesem primitiven Gesang das formale Prinzip doch mehr musikalisch als rein sprachlich ist. Es hätte sich also eine hier noch rein formale Kunst aus einer bloß inhaltlichen Ausdrucksweise abgelöst, wodurch aber der Schein entsteht, als ob diese Ablösung schon die Gewinnung eines formalen Faktors seitens der Sprache bedeutete. Es wäre dies also eine transgrediente — weil nämlich der Formfaktor der einen sich mit dem inhaltlichen Faktor der andern Ausdrucksweise vereinigt — und außerdem auch eine genetische Ver-



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einigung, weil sich zugleich in diesem formalen Faktor jener Kunst, die Musik, überhaupt allererst zu entwickeln scheint. Die erste Vereinigung des inhaltlichen mit dem formalen ist danach transgredient, nicht immanent. Der assoziative Faktor scheint sich bei dieser transgredienten Verbindung noch nicht zu entwickeln, sondern erst bei der immanenten. Es möchte mit Folgendem darauf hingewiesen werden, daß die Theorie der i n n e r e n F o r m auf dem Gebiet der Musik um so mehr geltend gemacht werden muß, als bei der Musik das Technisch-Formale ganz besonders in den Vordergrund tritt und vielleicht allzusehr ihren Charakter bestimmt. Aber warum dies? Weil die Musik etwa, mit der Dichtung verglichen, nicht eine grammatikalisch durchgebildete Sprache zum Material hat, zu der als äußere Kunstform z. B. die in der Poesie gebräuchlichen, relativ nur wenigen, doch immerhin noch variablen Grundformen hinzukommen, sondern weil ihr nur die den Gefühlen korrespondierenden Töne zur Verfügung stehen und sie deren Grammatik zugleich mit ihrer Formenlehre einzuüben hat. Hier muß also erst sprechen gelernt werden — wenn auch der Drang dazu vorhanden sein mag —, ehe gedichtet, komponiert werden kann. (Vergleiche hierzu auch „Kunst und Künstler" über Lesen der Musikstücke!) In diesem Teile des Sprechenlernens wird die Musik ihre Grammatik ebensogut wie jede andere Sprache mit der Zeit zu wechseln das Bedürfnis haben;



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man vergleiche hierzu den Streit über die Verwandtschaft der Tonarten. Weil man den musikalischen Ausdruck nicht so natürlich und von Kind auf selbstverständlich verwendet wie die Sprache, so wird das rein formale Element bei der Musik viel unwillkürlicher vorherrschen als bei der Poesie; das Sprechen wird hier gewissermaßen nur für das Dichten gelernt, und prinzipiell dürfte es ihrem Charakter etwas an Selbstverständlichkeit fehlen. Dem eigentlichen Kunstgebiet gehört daher von der Theorie erst die musikalische Formenlehre an, die Lehre von den verschiedenen Arten der Komposition, die natürlich auch veränderlich sind. Und hier werden sich praktisch Grenzen des Kompositionsunterrichts ergeben, soweit er rein formtheoretisch erfolgt. Es wird sich nämlich zeigen, daß man hier auf Punkte stößt, wo man nur noch sagen kann: das gefällt mir nicht; ich hätte es in der Weise gemacht, und zwar ohne mit Hilfe irgend welcher Regeln nachweisen zu können, daß man es so machen m ü s s e . In solchem Falle ist man eben auch bei der Musik auf dem Gebiete der i n n e r e n F o r m angekommen, wo die Unmittelbarkeit des künstlerischen Schaffens sich keiner Vorschrift (Regel) mehr unterwirft, sondern sich höchstens intuitiv an andern Werken bilden kann. Die Musik darf sich nicht zu sehr mit mathematisch-physikalischen Forschungen und Theorien abgeben, soweit sie K u n s t ist, sonst wird sie leblos und inhaltsarm. (Man denke an den Pointilismus in der Malerei, soweit er nicht originalpersönlich ist.)



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Zu größeren Perspektiven könnte die philosophische Ästhetik Anlaß geben. So war es ja auch die musikalischästhetische Willenstheorie Schopenhauers, die eine nachhaltige Wirkung auf die spätere Kunst und Theorie Richard Wagners ausübte, von Herders ästhetischen Anschauungen zum mindesten vorbereitet, wenn nicht beeinflußt. Schopenhauer sagt: „Die Musik ist nämlich eine so u n m i t t e l b a r e Objektivation und Abbild des ganzen W i l l e n s , wie die Welt selbst er. ist, ja wie die Ideen es sind, deren vervielfältigte Erscheinung die Welt der einzelnen Dinge ausmacht. Die Musik ist also keineswegs, gleich den andern Künsten, das Abbild der Ideen, sondern A b b i l d d e s W i l l e n s s e l b s t , dessen Objektität auch die Ideen sind. Deshalb eben ist die Wirkung der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher, als die der andern Künste: denn diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen." Und Herder sagt: „Die Musik ist Gegenstand nicht der Sinnlichkeit noch des Verstandes, sondern sie ist Objekt der tieferen Einheit beider, des Gefühls." Die Monade (denn Herder steht hier ganz auf dem Standpunkt der Leibnitzschen Nouveaux essais) fühlt sich in ihrer innersten Tiefe bewegt: „von Tönen emporgetragen schwebt die Andacht rein und frei über die Erde, genießend in Einem das All in Einem Ton harmonisch alle Töne. Und da sie in jeder kleinen Dissonanz sich selbst fühlt, fühlend im engen Umfang unserer wenigen Tongänge und Tonarten alle Schwingungen, Bewegungen, Modos Akzentuationen des Weltgeistes, des Weltalls." (Kalligone II 4.) B a e r , M e t a p h y s i k und K u n s t .

4



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Die verschiedene Ausdrucksweise tut hier nichts zur Sache. Wie bei Schopenhauer die Musik als besonders unmittelbare Objektivation des Willens auf den Willen im Menschen (unter welchem Begriffe als nach seiner deutlichsten Äußerung Schopenhauer das An-sich der Welt denkt), eine mächtigere Wirkung ausübt, als die andern Künste, so sehen wir auch Herder in obiger Stelle die Wirkung der Musik in ähnlicher metaphysischer Weise darstellen. Und an derselben Stelle ruft Herder auch aus: „Wäre es noch Frage, ob die Musik jede Kunst, die am Sichtbaren haftet, an innerer Wirksamkeit übertreffen werde?" Wenn die Dichtkunst die Idee darstellt und durch diese auf den Willen wirkt, so führt die Musik nur Wirkungen auf den Willen aus ohne Ideen, d. h. sie gibt nur die Wirkungen von Ideen, ohne diese selbst zu geben, weshalb sich bei ein und derselben Musik verschiedenes vorstellen läßt und die Musik einen viel unbestimmteren Charakter hat als die Poesie. Die Wirkungen der Musik auf unser Gemüt sind mittelbar, und zwar entstehen sie durch Analogie. Die Nervenerregung, die bei der Aufnahme (Empfindung) eines Tones entsteht, wird gleichgesetzt einer Nervenerregung, die durch unmittelbar seelische Eindrücke (Gemütsbewegungen) hervorgerufen wird. Diese Gleichsetzung geschieht unbewußt, setzt aber eine gesteigerte Empfindung voraus und eine unbewußte Übung, d. h. indem durch häufiges Hören von Musik dieser Vorgang oft stattfindet und dadurch das Verständnis



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der Musik immer erhöht (verfeinert) wird, vorausgesetzt, daß die betreffende Persönlichkeit durch Naturanlage dazu geeignet ist. Die Naturanlage selbst aber wird in einem gewissen Sinne atavistisch zu begründen sein, indem nämlich bei den Vorfahren schon eine Übung des musikalischen Verständnisses stattfand, ohne daß diese Übung bei diesen besonders hervortretend gewesen sein brauchte. Ein Vergleich der modernen Musik mit der Musik des Mittelalters und der Antike wird diese Ausführung im großen veranschaulichen. Durch die Musik entsteht also eine Gemütsbewegung auf dem Grund der Analogie der Nervenerregung (hier ist zunächst immer nur von der absoluten Musik die Rede, z. B. Beethoven). Die Poesie dagegen ruht in unserer vorstellenden Phantasie; ich sage v o r s t e l l e n d e Phantasie, im Gegensatz zu der Phantasie der E m p f i n d u n g e n in der Musik, welche als solche allein keine Bilder, sondern nur Empfindungen entwickelt. Natürlich brauchen die Phantasiebilder, welche die Poesie hervorruft, nicht unbeweglich vor uns stehen, sondern die Dinge und Personen werden im allgemeinen bewegt, und überhaupt, ganz so wie im wirklichen Leben, vor unserer Phantasie erscheinen; und je besser die Poesie, desto natürlicher und lebensvoller werden auch die durch sie hervorgerufenen Phantasiebilder sein. Es wäre also das Reich der Empfindung ohne Vorstellung das Wirkungsfeld der absoluten Musik, wogegen das Reich der Poesie die vorstellende Phantasie ist.



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Schema: Poesie Poesie

Musik Musik Analogie d. Nervenerregung\ Empfindung im Gemüt. /

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Empfindung im Gemüt. Aus diesem Schema ist zu erkennen, daß die Musik auf diese Weise allerdings unmittelbarer auf das Gemüt wirkt als die Poesie, dafür ist ihr Eindruck aber auch ein weit undeutlicherer. Die Vorstellung der Phantasie ist immerhin mittelbarer als die unbewußte Gleichsetzung der (Empfindung) Nervenerregung, wobei die Empfindung im Gemüt eigentlich schon als zweites Glied eintritt. Zuzugeben ist noch, daß es bei den meisten sogenannten Unmusikalischen bei der angenehmen oder unangenehmen Nervenerregung bleibt und sich keine Gemütsbewegung damit verknüpft (Tanzmusik, Tafelmusik). Aus dieser unmittelbaren Wirkung der Musik als der Poesie ist es zu verstehen, daß Schopenhauer sagt, die Musik wirke auf den Willen ganz unmittelbar. Es lassen sich nun mit musikalischen Empfindungen allerdings Vorstellungen verbinden, doch sind diese so willkürlich, daß es kaum in der Hand des Komponisten liegt, diesen eine bestimmte Grenze zu setzen, nämlich in der absoluten Musik. Ganz anders ist es bei der dramatischen Musik, der Oper, und zumal beim Musikdrama Richard Wagners. Dieser vertieft



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die Worte der handelnden Personen und die Naturvorgänge durch seine allerdings meisterhafte „Tonmalerei"; daher kommt es auch, daß man mit den oft radebrechenden Textworten, sobald die Musik dabei ist, unwillkürlich versöhnt wird. Wagner ist es z. B. in seiner Nibelungentetralogie geglückt, mit den Motiven tatsächlich beim Hörer nicht nur Empfindungen, sondern auch Vorstellungen hervorzurufen; dies ist aber nur dadurch möglich, daß er konsequent bei bestimmten Handlungen, Namen und Naturvorgängen in der begleitenden Musik immer die dazu gehörigen Motive erklingen läßt. Auf diese Weise wird die Phantasie daran gewöhnt, sich bei einer bestimmten Tonempfindung (z. B. in der Ouvertüre, dem Vorspiel), die sonst dabei erblickte Person, Sache oder sich abspielende Handlung vorzustellen. Dies beruht auf der Assoziation, wie sie unserem ganzen Erinnern zu Grunde liegt. Während beim Erinnern sowohl subjektive als objektive Assoziation in Betracht kommt, so ist hier nur die objektive Assoziation wirkend, bei der es auf eine sachliche Beziehung der Vorstellungsinhalte und nicht nur auf eine Kontinuität in Raum und Zeit, Berührungsassoziation (Hume) ankommt. Im Lied wird die Poesie der Musik genähert, indem der Wohlklang der Worte durch die Musik erhöht wird; dann aber wirken hier beide Künste zugleich, jede in ihrer Weise, ohne daß jedoch dabei die Poesie zur vollen Wirkung kommt; besser schon kommt die Poesie beim M e l o d r a m weg. Im Charakter des Liedes finden wir im Großen, Poesie und Musik, in



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der alten, der italienischen, auch Mozartschen Oper vereinigt. Hier liegt ein Unterschied des Musikdramas von der Oper; bei dieser nähert sich die Dichtung der Musik an, bei jenem die Musik der Dichtung; letzteres scheint nun auch geratener, da durch die Annäherung der Musik an die Poesie die Musik an scharfer Charakterisierung des Ausdrucks, an Bestimmtheit gewinnt, welche Eigenschaften nur der Poesie, wie oben gezeigt, eigen sind; dies geschieht jedoch nicht in gleichem Maße zum Vorteil der Poesie, weshalb das Musikdrama auch absolut keinen Fortschritt (keine Vervollkommnung) des Dramas bedeutet, sondern höchstens einen der Oper. Es wäre und ist eine ebenso große Verirrung, wenn die Poesie nur dem Wohlklang der Worte dient auf Kosten des Inhalts, als es ein falscher Weg ist, den man einschlägt, wenn man durch absolute Musik (hier ist nicht Ouvertüre gemeint) nicht nur das Gemüt durch Klangwirkungen bewegen, wie es allein möglich, sondern auch die vorstellende Phantasie zu Vorstellungen anregen zu können glaubt (Programmmusik von Richard Strauß). Es ist wohl möglich, durch einen begleitenden Text und Überschriften der einzelnen Musiksätze, bei guter Tonmalerei, gewisse Vorstellungen im Hörer zu erwecken; aber dennoch, eine Musik, die eines Kommentars bedarf, ist nicht rein künstlerisch zu nennen. Wenn Wilde den Kritiker, sofern er überhaupt noch Kritiker ist, als produktiv bezeichnet, hat er



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diesem Namen eine andere Bedeutung untergeschoben. Die paradoxe Ausdrucksweise besteht darin, mit einer gewissen Taschenspielergewandtheit einem Worte möglichst plötzlich und unmerklich, wie selbstverständlich, einen Sinn unterzuschieben, der bisher nicht dahinter steckte. Man hat dann leicht sein Recht zu demonstrieren. Ob die Bevorzugung der Kritik vor der schöpferischen Tätigkeit nicht ein Anzeichen des epidermalen Charakters der Zeit ist? Denn wenn Wilde auch schließlich auf seinen Kritiker einen Sinn überträgt, der schon schöpferisch ist, so bleibt doch in der Tatsache, daß er gerade den Namen des Kritikers heben will, hinreichend Nüance der Vorliebe für die Kritik überhaupt. Es ist eine weitgehende Verteidigung der Kritik, wenn man sie deshalb als der schöpferischen Kunst vorzuziehen betrachtet, weil die Kunst aus dem Wirklichkeitsmaterial schöpft, während die Kritik gleichsam nur den von den realistischen Schlacken gereinigten ästhetischen Schein zu ihrem Material hat. Das ist an und für sich schon richtig, aber Wert und Bedeutung hat damit nichts zu tun. „Ja, ich fürchte sogar, auch die unkünstlerischen Naturen der Zeit (des Hellenismus) beschäftigten sich mit den Dingen der Literatur und Kunst, denn endlos waren die Beschuldigungen des Plagiats, und solche Beschuldigungen werden entweder von den dünnen, blutlosen Lippen der Impotenz ausgesprochen, oder sie entstammen dem grotesken Mund solcher, die nichts Eigenes besitzen, und wähnen, sie erlangten



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den Ruf, etwas zu haben, wenn sie schreien, man habe sie bestohlen." (Oskar Wilde, „Kritik eine Kunst" I. Teil.) J a natürlich! — Es gibt Menschen, die auch im Allerneuesten immer nur das Alte erblicken können. Die so wenig Fähigkeit des „Weiterwachsens" besitzen, daß sie das Neue als ein ihnen heterogenes Element, für das sie gar keine Empfindung haben, auch für tatsächlich gar nicht existierend halten. Sie sehen also in einem neuen Werk nur das, was von einem früheren Jahrhundert, das ihren Hauptbildungsfond ausmacht, allenfalls darin gesehen werden kann. „Allenfalls!" — denn oft unternehmen sie die kompliziertesten Kunststücke — weil sie doch e t w a s darin finden wollen, — irgend etwas aus dem ihnen bekannten Wissensschatz hineinzutaschenspielern, um es dann vor aller Augen mit süffisanter Miene wieder herauszuholen. Umgekehrt verhalten sich diejenigen, welche in alten Werken ihre neuen Ideen finden; diejenigen, die jenes bloß antiquarische Verhalten zu überschreiten vermögen. Ihnen bilden sich sofort Leitern und Brücken von jenen Problemen alter Zeit zu den jüngsten der ihrigen; l e b e n d i g e Leitern und Brücken, auf denen sie eine Lebenskommunikation unterhalten können. Da aber auch sie natürlicherweise aus der Kultur der früheren Zeit — wobei diese Zeit nicht immer allzufern sein braucht, sondern an deren Stelle oft nur wenig frühere, kontemporäne Geister treten können



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— hervorwachsen, so werden sie deren Formen und Ausdrucksweise, besonders im Anfang, nie verleugnen. Auch hier kann man ruhig sagen: natura non facit saltus. Besonders in dieser ersten Zeit werden sie daher unter den benakibaschen Gelüsten der „Allesschon-dagewesen"-Menschen zu leiden haben. Denn natürlich, je deutlicher noch die alte Form zu erkennen ist, je weniger die neuen Ideen noch diese Schale durchbrechen, desto leichteres Spiel werden jene haben. Gewissermaßen hat jeder originell schaffende Geist seine „Apollinische" und seine „Dionysische" Epoche. Die apollinische als Höhepunkt des Lern-Aneignungsvorgangs hinsichtlich des bis dahin Geleisteten. Gleichsam das Wurzelfassen des Geistes und Durchdringung des Erdreichs, bevor er die Samenhülle sprengt, abwirft, und auch nach oben seinen Trieb entfaltet — seine dionysische Epoche heraufführt. Das Ideal der ersten Zeit wird dabei leicht mehr theoretisch intellektualistisch (im aristotelischen Sinne der dscopta verstanden), das der dionysischen das eigentlich schöpferische Ideal auf dem jeweiligen Gebiete jenes Geistes sein.

Die ästhetische Idee als innere Form betrachtet.1 Inhalt und Form in ihrem angemessenen Verhältnis sowohl gegenseitig als hinsichtlich unseres Erkenntnisvermögens erzeugen erst die wahre (inhaltliche) Schönheit. Die Form im sublimsten Verstände genommen — wir werden innerhalb dieses Begriffs noch eine Unterscheidung versuchen — wird aber immer das Charakteristischste der Schönheit bleiben. Wir sagten eben, daß wir hinsichtlich des Begriffs der „Form" noch eine Unterscheidung machen werden, denn wenn man allerdings mit Recht die Form als das Eigenste der Schönheit bezeichnen darf, so wird man doch bald darin auf einen Widerspruch stoßen. Denn man wird in der Geschichte des künstlerischen Geistes beobachten können, wie bald die Form, bald der Inhalt in den Vordergrund trat. Und es waren vor allem die jungaufstrebenden reichen Zeiten des Geistes, welche, auf eine in überlieferten Kunstformen erstarrte formalistische Kulturperiode folgend, den In1

D i e s e Abhandlung und die beiden folgenden sind der Dissertation von H a n s Baer: „Beobachtungen über das Verhältnis von Herders Kalligone zu Kants Kritik der Urteilskraft" e n t n o m m e n .



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halt über die Form erhoben und diese fast ganz zurückdrängten; so etwa am Ende des achtzehnten Jahrhunderts die „Sturm- und Drang"-Bewegung. Wäre nun bei der inhaltlichen Schönheit die Schönheit in gleicher Weise wie bei der rein formalen nur an die äußere Form (denn vom Inhalt allein kann sie auch nicht abhängen), z. B. bei der Poesie an Vers und Reim u. a., gebunden, so könnten Werke, die solchen Zeiten angehören, nicht schön sein — und dennoch sind sie es in manchen Fällen, auch wenn ihnen die äußere Kunstform beinahe ganz fehlt. Dieser Widerspruch muß nämlich dann entstehen, wenn man den BegrifF der „Form" zu eng faßt. So kann das rein formale Prinzip der Analytik der Urteilskraft von Kant der inhaltlichen Schönheit eigentlich nicht gerecht werden. Da man aber dennoch behaupten darf, daß die Form den Charakter der gesamten Schönheit ausmacht, und dieser Begriff nur nicht ausdrücklich und hinlänglich in eben der Urteilskraft für das Gebiet der inhaltlichen Schönheit gerechtfertigt scheint, so wollen wir versuchen, diese Seite desselben mit Hilfe des zugleich noch etwas umzuformenden Begriffs der ästhetischen Idee ein wenig mehr ins Licht zu rücken. Kant steht dem Gedanken, den wir ausführen wollen, damit am nächsten, daß er das Genie als »das Vermögen ästhetischer Ideen" bezeichnet (S. 213). Die ästhetische Idee hat bei Kant zum Teil transcendentale, zum Teil psychologische Bedeutung, je nachdem man mehr sie selbst oder ihre Wirkung in Betracht zieht. Die ästhetischen Ideen dienen nun



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bei Kant einerseits zum Teil dazu, Begriffe für die Einbildungskraft faßbar zu machen, anderseits beleben sie das Gemüt, indem sie ihm die Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen eröffnen; in letzterer Hinsicht sind sie recht eigentlich psychologische Begriffe. Gerade bei dieser ihrer Eigenschaft als psychologische Tatsache ist es verständlich, daß sie sich auch bei Herder angedeutet finden, dessen Mißverständnis der Kritik der Urteilskraft eben hauptsächlich darin besteht, daß er die von Kant als transcendental, als Rechtsgrund für den psychologischen Vorgang gedachten Theorien selbst psychologisch interpretieren will, und eine Folge dieses Bestrebens ist es auch heute, wenn man immer wieder über die Kompliziertheit der Kantischen ästhetischen Theorie sprechen hört, als einer psychologischen Unwahrscheinlichkeit oder Unmöglichkeit — während von einer psychologischen Auffassung bei Kant eben gar keine Rede sein kann. Die durch die ästhetische Idee veranlaßte „Mannigfaltigkeit von Teilvorstellungen", dies „Unnennbare, dessen Gefühl die Erkenntnisvermögen belebt", sind — würden wir heute sagen — die in einem abgegrenzten Begriffe nicht faßbaren Assoziationen. Die ästhetische Idee hat bei den verschiedenen Künsten eine verschiedene Gestalt, weil jede Kunst mit ihren besonderen Mitteln arbeitet; das Gemeinsame all dieser ästhetischen Ideen ist deren assoziativer Charakter. Aber es handelt sich hierbei nicht um eine Assoziation überhaupt, sondern um eine ästhetische Assoziation;



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nicht jede Assoziation ist aber ästhetisch. Zunächst muß die rein begriffliche Assoziation ausgeschieden werden, und nur die Assoziation der Anschauungen der Einbildungskraft, vielleicht ab und zu durchsetzt mit der begrifflichen Assoziation, wird in das Gebiet der Ästhetik gehören. Wir bezeichnen die erste Art als „abstrakte", die zweite als „konkrete" Assoziation. Es zeigt sich aber, daß auch der Begriff der konkreten Assoziation noch zu weit für die Ästhetik ist. Denn wenn man hier auch behaupten darf, daß ein ästhetisch vollkommen gleichgültiges Objekt keine, oder wenigstens nicht reiche Assoziationen wachrufen wird, so gibt es doch auch Gegenstände, die Assoziationen erwecken und dennoch nicht schön, sondern häßlich, und zwar unästhetisch häßlich sind. Ebensowenig als durch den Begriff der konkreten Assoziation also das Wesen der ästhetischen Idee hinlänglich bestimmt wird, kann aber auch die Erklärung, daß sie Begriffe für die Einbildungskraft faßbar macht, ihr Wesen erschöpfen. Denn wenn ich z. B. einen despotischen Staat durch eine „Handmühle" charakterisiere, so kann damit der Begriff des Despotismus für die Einbildungskraft faßbar gemacht werden, ohne daß aber deshalb an dieser Metaptier etwas Schönes ist, und ebenso verhält es sich mit zahlreichen, unbemerkt metaphorischen Ausdrucksweisen unserer Sprache. Es muß also bei der ästhetischen Idee noch etwas zu dieser Faßbarkeit hinzukommen — es muß hinzukommen eben die Belebung des Gemüts durch Assoziation, aber nun nicht durch Assoziation überhaupt, sondern durch



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ästhetische Assoziation. Dazu aber, möchten wir behaupten, muß diese faßbare Form, die ästhetische Idee, so geartet sein, daß sie eine harmonische Stimmung unserer Erkenntnisvermögen hervorbringt. Es wird dieselbe proportionierte Stimmung der Erkenntnisvermögen sein, nur wird sich diese Stimmung bei der inhaltlichen Schönheit in größeren Verhältnissen, in reicherer Gestaltung, wenn man so sagen darf, darstellen, man wird ihr anmerken, daß sie sich nicht auf einen rein formalen, sondern auf einen inhaltlichen Gegenstand bezieht. Wir finden nun, daß diese ästhetische assoziative Eigenschaft, die wir an der ästhetischen Darstellung eines Begriffs wahrnehmen, an aller Schönheit zu bemerken ist. Bei jeder Schönheit, von der rein formalen an bis zur höchsten inhaltlichen, wird der Fall eintreten, daß die Stimmung, die durch die Harmonie der Erkenntniskräfte entsteht, geeignet ist, das Gefühl auf ästhetische Assoziationen, d.h. auf diesem Zustand durch Assoziationsgesetze zugeeignete, in der Erinnerung aufbewahrte ästhetische Erlebnisse zu lenken, welche dann ins Bewußtsein treten und die Belebung des Gemüts zur Folge haben. Wir glauben deshalb, daß die Forderung einer allgemeinen Fassung des Begriffs der ästhetischen Idee berechtigt erscheint. Die ästhetische Idee wird nämlich für die ästhetische Darstellung eines jeden inhaltlichen Gegenstandes erforderlich sein, und wir können noch weiter gehen und sagen: die ästhetische Idee ist identisch mit der Gemütsstimmung des inhaltlich Ästhetischen überhaupt. Wir sehen also, daß die ästhetische DarB a e r , Metaphysik und K u n s t .

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Stellung eines Begriffs nicht für sich etwas ganz Besonderes, sondern nur eine Art der ästhetischen Darstellung überhaupt ist. Man könnte nun durch die tatsächliche Ausdehnung der ästhetischen Assoziation über das ganze Gebiet des Ästhetischen verführt werden, auch den Begriff der ästhetischen Idee, dessen Bedeutung eben vorzüglich in der Erweckung ästhetischer Assoziation besteht, oder unabhängig von diesem Begriff, das inhaltliche Prinzip überhaupt damit zugleich auch auf das ganze Gebiet des Ästhetischen auszudehnen, wie dies hinsichtlich des inhaltlichen Prinzips bei den ausgesprochenen Inhaltsästhetikern der Fall ist. Es wird aber ein großer Unterschied sein, ob ich beim Anblick einer Kugel an die leichteste, gleichmäßige Bewegung, oder ob ich bei der Betrachtung von Feuerbachs „Gastmahl des Plato" durch die Art der künstlerischen Darstellung an die erhabenschöne Lehre dieses Philosophen erinnert werde. Diese beiden ästhetischen Tatsachen sind nämlich nicht nur der Quantität, sondern auch der Qualität nach verschieden. Der Quantität nach, sofern die Assoziationen im zweiten Fall bedeutend zahlreicher auftreten als im ersten; der Qualität nach aber, insofern im zweiten Fall die harmonische Gemütsstimmung und damit die ästhetische Assoziation nicht allein durch die rein-formale Schönheit der bildlichen Darstellung, sondern hier vorzüglich durch die künstlerische Auffassung und Wiedergabe des Gegenstandes, d. h. die ästhetische Darstellung (Idee) und den darin wirkenden Inhalt hervorgerufen wird.



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Die ästhetische Idee ist eigentlich eine „innere Form", eine „ästhetische Gedankenform", die überall da auftritt, wo zu der äußeren formalen Schönheit ein Inhalt hinzukommt. Bei einem Gedicht haben wir z. B.: 1. die Vers-, Reim- und Strophenform, 2. den Gedanken (überhaupt), der im Gedicht ausgesprochen wird, und 3. den ästhetischen Ausdruck, den der Gedanke gefunden hat (die künstlerische Darstellung). Das letztere ist die ästhetische Idee, die innere Form. Kant führt als Beispiel für die ästhetische Idee u. a. den Vers an: „Die Sonne quoll hervor, wie Ruh aus Tugend quillt." Und zwar gibt er zu, daß hier umgekehrt ein Begriff dazu diene, eine Vorstellung der Sinne zu beleben, wie sonst eine Vorstellung der Einbildungskraft einen Begriff belebend gestaltete. Es wird aber ganz einerlei sein, welche Kombinationen von Vorstellungen und Begriffen im einzelnen Fall eintreten; die verschiedenartigsten Verbindungen werden dieselbe für die ästhetische Idee charakteristische Wirkung der ästhetischen Assoziation haben können, und das Gemeinsame wird nur die ästhetische Form überhaupt sein. Der Gedanke: „Die Sonne quoll hervor" wäre für sich, auch in Versform, nicht unbedingt schön, sondern es gibt ihm der Vergleich: „wie Ruh aus Tugend quillt" erst Schönheit — vorausgesetzt, daß dieser Vers überhaupt schön ist. Aber nun nicht so, daß im Vergleich mit dem ersten Gedanken der



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zweite erst die Schönheit eigentlich hinzubrächte, daß gerade er das spezifisch Schöne dabei ausmachte, sondern die Metapher, abgetrennt vom ersten Gedanken, würde für sich auch wieder nicht eigentlich schön sein. Erst der erste Gedanke mit dem zweiten vereinigt, erzeugt das wahrhaft ästhetisch Schöne; weshalb eben auch nur diese Vereinigung den Namen der ästhetischen Idee verdiente. Die Trennung ist nur sprachlich und besteht nicht im Gedanken. Der Künstler hat nicht einen Begriff und findet die ästhetische Idee dazu, sondern er stellt in der künstlerischen Intuition den Begriff ästhetisch vor, er betrachtet darin überhaupt jedes Objekt ästhetisch, und die sprachliche Form, die er zum Ausdruck dieser Intuition verwendet, und die darin notwendige Trennung des geistig Verbundenen — für dessen einheitlichen Ausdruck eine besondere ästhetische Sprache, eine eigentliche Geniesprache erforderlich wäre — darf nicht dazu führen, die ästhetische Form selbst, die eben als „ F o r m " als Ganzes zu fassen ist, in einer derartigen nur rein äußerlichen, sprachlich oder überhaupt materiell bedingten Zusammensetzung erblicken zu wollen. Die ästhetische Idee ist deshalb eigentlich nicht „eine einem gegebenen Begriff b e i g e s e l l t e Vorstellung der Einbildungskraft", sondern der Gedanke: „Die Sonne quoll hervor" bekommt eine besondere ästhetische Form durch den obigen Vergleich; und es ist eben deshalb nicht von einem Nebeneinanderstellen die Rede, sondern von einem Verschmelzen



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des Gedankens mit der ästhetischen Idee (im Kantschen Sinne), von einer gegenseitigen Durchdringung. Eben dies Einswerden ergibt erst das Poetische, Künstlerische, Geniale. Es ist sehr bezeichnend, daß Kant, in seiner Kritik der Urteilskraft, bei der inhaltlichen Schönheit die ästhetische Idee aufführt; denn hier bemerkte er eben etwas, was außer der äußeren Kunstform noch vorhanden war, ein „Etwas", das recht eigentlich erst jene Gemütsstimmung hervorrief, die in einer gewissen Belebung bestand. Die Bezeichnung „ästhetische Idee" scheint uns aber für dieses Etwas nicht geeignet, weil dadurch eben zu sehr die Vorstellung erweckt wird, als ob dies Etwas in einem Hinzufügen, einem Daranhängen bestände — deshalb versuchten wir dasselbe, das, im Gegensatz zu der äußeren Form, die der niederen und der höheren Schönheit gemeinsam ist, allein bei der höheren inhaltlichen Schönheit auftritt, als: i n n e r e F o r m oder ästhetische Gedankenform zu bezeichnen. Die Form im doppelten Verstände, subjektiv genommen, ist ein transzendentales, die ästhetische Assoziation ein psychologisches Prinzip der ästhetischen Betrachtung. Damit ist aber auch zugleich die Lösung des oben erwähnten scheinbaren Widerspruchs gegeben, denn wenn einer Dichtung die äußere Kunstform auch beinahe ganz fehlt, so wird sie dennoch auch durch die innere Form allein, wenn sie nur diese besitzt (aber niemals umgekehrt), ästhetisch bzw. schön erscheinen können. Die ästhetische Assoziation, die aus der ästhetischen Form als ihrem transzendentalen Prinzip ent-



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springt, ist eigentlich das Entscheidende für den Grad des G e f a l l e n s der Schönheit. Und wir glauben, daß darin ein Hauptgrund für die Verschiedenheit des Urteils über das Schöne zu suchen ist, daß nämlich das G e m ü t einen gewissen Reichtum einer persönlichen ästhetischen E r f a h r u n g — eine in der Erinnerung bewahrte innere Schönheit — besitzen muß, um dann je nach seiner Reichhaltigkeit und Richtung eine größere oder kleinere Belebung durch den neuen Eindruck dieses oder jenes ästhetischen Gegenstandes zu e r f a h r e n : Dem einen sagt eine bildliche Darstellung, ein Drama, eine Musik viel, dem andern wenig. Die reichste ästhetische Belebung des Gemüts, die eine große ästhetische Disposition voraussetzt, ist der ästhetische Enthusiasmus. Von hier aus läßt sich nun auch erklären, warum in manche Schöpfungen der Kunst m e h r hineinempfunden oder auch gedeutet wird, als der Künstler, nach eigenem Zeugnis, selbst dabei e m p f u n d e n oder gedacht hat, oder umgekehrt, daß nämlich die Empfindung, die der Künstler in ein Kunstwerk hineingelegt hat, von andern nicht wiedergefühlt wird, was absolut nicht immer an einem Mangel des künstlerischen A u s d r u c k e s liegt, sondern, ebenso wie im ersten Fall, in der verschiedenen Regsamkeit des assoziativen Vermögens begründet ist. Weiter ist jetzt auch verständlich, warum uns z. B. die Poesie f r e m d e r oder zeitlich weit zurückgelegener Völker oft schwer oder gar nicht genießbar ist. Denn jedes Volk verbindet zu seiner Zeit und seinem Erd-



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strich, entsprechend mit dieser oder jener Vorstellung, diese oder jene Assoziationen, die ihm durch Assoziationsgesetze — gleichgültig, welche es nun sein mögen — zugeführt wurden, und aus dem Stoffgebiet zugeführt wurden, das dieses Volk umgab. So verbinden z. B. wir mit der Sonne gewöhnlich den Gedanken der Güte, des Wohlwollens, während die südlichen Völker die Sonne eher als feindlich auffassen, als die Fluren versengend und den Menschen Schaden bringend, und eher mit dem Mond — der uns wieder an kalte, klare Winternächte erinnert — geneigt sind, die uns bei der Sonne naheliegenden Gedanken zu verknüpfen, als dem Spender der die südländische Tagesgluthitze ablösenden, kühlenden, zauberischen Mondnächte. Darauf deutet auch schon die Tatsache, daß z. B. die Griechen und Römer in der Sprache dem Mond weibliches, der Sonne männliches Geschlecht beilegten, im Gegensatz zum Deutschen. Entfernt sich nun die Auffassungsweise eines Volkes gar zu weit von der unsrigen, und bietet uns die Kulturgeschichte in diesem Falle nicht die genügenden Hilfsmittel, so bleiben für uns bei einem Kunstwerk desselben entweder nur die allerallgemeinsten Beziehungen übrig, oder es wird uns vollkommen unverständlich; in beiden Fällen aber ist die Schönheit desselben für uns verloren. Die ästhetische Idee, wie wir sie oben bestimmt haben, ist die ä s t h e t i s c h e F o r m ( D a r s t e l l u n g ) e i n e s I n h a l t e s ü b e r h a u p t . Diese Definition weist aber über das Gebiet des spezifisch Schönen hinaus,



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einerseits zu dessen Modifikationen, anderseits zu dem Gegensatz des Schönen, dem H ä ß l i c h e n . Der Betrachtung des letzteren werden wir uns in einem andern Abschnitt widmen. Es soll hier aber noch der Hinweis auf die ästhetische Theorie H e r m a n n Siebecks (dargestellt in: „Das W e s e n der ästhetischen Anschauung", 1875) nicht unterlassen werden. So wenig wir freilich auf Siebecks Lehre eingehen können, möchten wir doch bemerken, daß sein „analogon personalitas" uns als ästhetisches Prinzip zu eng erscheint, und daß wir, so viel mit u n s r e r Ansicht verwandte P u n k t e bei ihm sich finden mögen, dennoch bei der hier versuchten Darstellung nicht in der Weise wie bei Siebeck an eine Personifikation, ein Hypostasieren von Persönlichkeit als illusorisches Prinzip der Schönheit gedacht haben. Vielmehr scheint uns, daß die ästhetische Assoziation erst auf G r u n d der harmonischen Stimmung der Einheit des Mannigfaltigen erfolgt, und so allerdings den sublimsten, individuellsten Reiz des Ästhetischen ausmacht, aber doch gewissermaßen n u r ein Prinzip zweiten Grades, wenn auch ein sehr wichtiges, ist.

Das Häßliche. Auch auf diesem Gebiete kann der Begriff der Form in seiner doppelten Bedeutung Anwendung finden, weshalb wir auch die erste Frage: was ist überhaupt häßlich? nicht voraus, getrennt, sondern zugleich mit der zweiten: was ist ästhetisch-häßlich? zu beantworten suchen. Alles Häßliche, soweit es nur Negation ist und nichts Positives enthält, kann für die Ästhetik nicht in Betracht kommen: Alles Unkünstlerische, alle Inkorrektheit gehört nicht in das Gebiet der Ästhetik, weil es nicht ein Gegensatz der Schönheit, sondern ein Mangel des künstlerischen Könnens ist und als solcher seine Stelle in der Theorie der Künste findet. Nicht das Grauenerregende, das Böse, das Abscheuliche ist unästhetisch-häßlich, sondern das Unkünstlerische, das Nachempfundene, — das Unwahre. Das Häßliche wird sich, dem Schönen entsprechend, scheiden in rein-formal und inhaltlich Häßliches. Soweit als sich das erstere mit dem Inkorrekten, Unkünstlerischen deckt, ist es gleich von vornherein aus der Ästhetik ausgeschieden. Es kann sich aber zum Teil in der Natur mit einem schönen Inhalt verbunden darstellen, z. B. so wie man sich den



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Aesop dachte; sofern dient es dann dem Schönen als Kontrast und kann ästhetisch wirken. Im allgemeinen wird das, was in der Natur häßlich ist, das NaturHäßliche, sowohl das formale wie das inhaltliche, immer zugleich auch unästhetisch sein, und es wird da, wo eine ästhetische Betrachtung desselben überhaupt möglich ist, immer — möchten wir sagen — eine besondere künstlerische Produktionsfähigkeit der Einbildungskraft zur Ästhetisierung des betreffenden Gegenstandes erfordert werden, beinahe ebenso wie zu dessen künstlerischer Darstellung selbst. Deshalb kann hier nicht von einem allgemeinen Prinzip die Rede sein. Man könnte nun das rein-formal Häßliche nach Art der Kantischen Formel des formal Schönen so definieren: Formal-häßlich ist das, was in der bloßen Anschauung mißfällt, sofern nämlich die Einbildungskraft in ihrer Freiheit der Gesetzmäßigkeit des Verstandes widerstreitet, so daß zwar dabei noch ein Erkenntnis überhaupt entsteht, das aber den Stempel der Disharmonie seiner Entstehung aufgeprägt trägt. Das formal Häßliche wird nun überhaupt, sofern es nicht einem Inhalte dient, immer unästhetisch sein; denn da es als rein formales Objekt keinen Inhalt aufweist und somit auch keine ästhetische Darstellung vermittelst der inneren Form zuläßt, weil das Prinzip der Häßlichkeit hier in der äußeren Form selbst liegt, so kann es auf diese Weise auch keine ästhetischen Assoziationen erzeugen; es ist subjektiv genommen absolut häßlich. Das äußerlich rein Formale in der Kunst ist die äußere Kunstform,



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und es ist verständlich, daß z. B. die Vers- und Reimform eines Gedichtes nicht häßlich sein darf, d. h. der künstlerischen A n f o r d e r u n g widersprechend, wenn dasselbe als Kunstwerk gelten soll; denn eine solche Inkorrektheit der äußeren wird auch zugleich die Schönheit der inneren Form beeinträchtigen, und damit das, was wir als das Wesentlichste der ästhetischen Darstellung erkannt haben, aufheben. G e g e n ü b e r dem formal Häßlichen wird man inhaltlich häßlich das nennen, was zu unserem sittlichen Bewußtsein — im weitesten Sinne des W o r t e s — in Widerspruch tritt. Dies inhaltlich Hässliche darf den Inhalt eines Kunstwerkes n u r in der Weise ausmachen, daß die innere Form desselben, d. h. die Darstellung dieses Inhaltes, dem Gebiete des Schönen angehört. Eine derartige Darstellung des Häßlichen wird immer darauf hinweisen, daß dies uns vorgestellte Häßliche, n u r insofern es mit der der Schönheit zugewandten Geistesrichtung vereinbar ist, in das Kunstwerk A u f n a h m e gefunden hat. Der Geist einer Gesamtkomposition, in welche das Häßliche eingegliedert wurde, muß eine gewisse Höhenrichtung zur Schönheit haben — denn ist dies nicht der Fall, wird die Häßlichkeit um der Häßlichkeit willen uns vor Augen gestellt, so haben wir die Empfindung, daß der Künstler mit der Häßlichkeit als solcher sympathisierte und sein Produkt wird obszön und unkünstlerisch, er selbst erscheint pervers und vom Wege der wahren Kunst abgeirrt. In diesem Sinne sagt Fr. Th. Vischer in seinen „Kritischen G ä n g e n " : Das Häßliche „begleitet die Asthe-



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tik auf allen ihren Wegen, bald ungültig, aber als abhebender Schlagschatten, bald gültig, eingelassen, aber als Feind, der überwunden werden soll" (Heft 6 S. 116). Als Beispiel dafür könnte man Shakespeares Richard III. nennen. Bei der ästhetischen Darstellung des inhaltlich Häßlichen in der Kunst wird die ästhetische Assoziation nicht vom Häßlichen als solchem ausgehen, sondern von ihm nur soweit es ästhetisch ist, d. h. sie wird sich an den Inhalt nur so weit anschließen, als er die innere Form durchdrungen und von dieser gestaltet wurde — und umgekehrt, eben nur sofern es diese Wirkung erreicht, ist das Häßliche überhaupt ästhetisch. Dieser Gedanke findet sich in der „Kritik der Urteilskraft" in der Bemerkung angedeutet, daß die Kunst „Dinge, die in der Natur häßlich oder mißfällig sein würden, schön beschreibt" (S. 175). Diese schöne Beschreibung ist eben das, was wir die innere (schöne) Form genannt haben. Wir glauben aber nicht, daß irgend eine Art des Häßlichen von der Kunstdarstellung ausgeschlossen ist, auch nicht die Art von Häßlichkeit, welche Ekel erweckt, die man so oft, wie Kant es auch will, aus dem Kunstgebiet ausscheiden wollte. Es scheint nämlich hier der Irrtum vorzuliegen, als ob das Ekelhafte isoliert dargestellt werden müsse, indem es den einzigen Inhalt eines Objektes bildet — auf diese Weise freilich kann es schwer eine ästhetische Darstellung finden —• dennoch, eigentlich unästhetisch wird auch das Ekelhafte nur in einer häßlichen Form. Wenn man aber dagegen das Ekelerregende in einer großen



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Komposition, z. B. in einem Drama, einem Gemälde, dem ästhetischen Hauptgedanken eingegliedert und untergeordnet findet, so wird es in gleicher Weise wie die übrigen Arten des Häßlichen dem Schönen darin als Kontrast und Folie dienen, und das Wohlgefallen am Ganzen nicht nur nicht stören oder gar zu Grunde richten, sondern im Gegenteil steigern können. Als Beispiel für die ästhetische Verwendung des Ekelhaften in der Kunst könnten vielleicht diejenigen Stellen im Philoktet des Sophokles gelten, welche sich auf die eiternde Fußwunde des Philoktet beziehen. Denn eine Tatsache, deren ekelerregende Wirkung in Wirklichkeit hinreichend war, die Griechen zu bewegen, einen tapferen Krieger hilflos auf einer einsamen Insel zurückzulassen, tut hier dem Kunstwerk nicht den mindesten Eintrag, sondern vermag ihm Farben zu verleihen, die seine Wirkung besonders eindringlich machen. Wann aber wird sich denn nun das ästhetische Schaffen genötigt sehen, das Häßliche, als den Gegensatz des Schönen, mit dem letzteren zu vereinigen? — Die Kunst wird es dann tun, wenn das vom Häßlichen abgesonderte Schöne uns abgeblaßt, unnatürlich vorkommt, wenn wir so gewohnt sind, es in Wirklichkeit mit seinem Gegensatz vereinigt zu sehen, daß wir eine Sonderung davon auch in der Kunst nicht ertragen können. Eine solche Vereinigung, in der das Häßliche zur Erhöhung, nicht zur Vernichtung der Schönheit beiträgt, bedeutet der Hauptsache nach wohl das C h a r a k t e r i s t i s c h e . Das Charakteristische ist eine Qualität des Inhalts und hat



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nichts mit der ästhetischen Form als solcher zu tun. Es gehört seiner Natur nach zu den Modifikationen des Schönen (im weitesten Sinne des Wortes); als Synthese des Schönen (im engeren Sinne) und des Häßlichen nimmt es aber unter diesen eine ausgezeichnete Stelle ein. Wir können nun das Resultat dieser Betrachtung so zusammenfassen: 1. Das Ästhetische des ästhetisch Häßlichen besteht nur in seiner R e l a t i o n z u r s c h ö n e n ( i n n e r e n ) Form. 2. Jedes i n h a l t l i c h Häßliche kann in der Kunst ästhetisch dargestellt werden; die Verwendung dagegen des rein formal Häßlichen in der Kunst wird sich im allgemeinen auf die Fälle beschränken müssen, in welchen dasselbe in der Natur so eng mit einem Inhalt verbunden ist, daß eine Trennung auch in der Kunst nicht ohne Verlust der Wahrheit möglich wäre.

Kunst und Künstler. Die ganze Reihe der Künste läßt sich sowohl hinsichtlich der produktiven als der reproduktiven Phantasie in der Art entwickeln, daß zu der optischen und akustischen Vorstellung, einzeln oder in ihrer Vereinigung, das Gefühl (Fühlen) als gemeinsamer Faktor hinzutritt. Verfolgt man diese Verbindungen auf der Seite der produktiven Phantasietätigkeit, so findet man zunächst bei den bildenden Künstlern: dem Maler, Bildhauer und Architekten, eine, allerdings nicht im Kantischen transzendentalen Sinne apriorische, wohl aber in gewissem Sinne virtuell angeborene Verknüpfung des Fühlens mit Anschauungen; wobei übrigens hinsichtlich der Skulptur und Architektur eine in der optischen Vorstellung selbst wieder besonders wirksame Beziehung auf den Tastsinn hinzutritt. Der Maler f ü h l t ein Bild, wenn es in seiner Phantasie aufdämmert, der Bildhauer eine Statue, der Architekt eine Architektur; nur ihr Gefühl (Fühlen) fügt die Anschauungen zu einem aus ihm selbst harmonisch produzierten und deshalb ihm auch selbst wieder wohlgefälligen Ganzen zusammen. Das kann von niemandem erlernt werden. Es ist aber dem Künstler eigentümlich, daß er dieses in seiner Phan-



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tasie in Erscheinung getretene Gefühl auch außerhalb derselben festzuhalten sucht, wodurch für ihn selbst dieser schöne Augenblick dauernd, und absichtslos eine allgemeine Mitteilbarkeit ermöglicht wird. — Die wahre schöpferische Phantasie des bildenden Künstlers besteht also: 1. in der aller Kunstproduktion zu Grunde liegenden besonderen Feinheit und Lebendigkeit des Fühlens überhaupt, 2. hier im Besonderen, in der Entwicklung der virtuell vorhandenen Anlage der Verbindung von G e fühlen mit Anschauungen. Die Darstellung dieser Anschauungen ist das Technische der Kunst, wozu auch eine gewisse Begabung erforderlich ist. Aber das Bewußtwerden bei diesem oder jenem Gefühlszustand, gerade dieser oder j e n e r Anschauungen, gründet sich eben auf eine — nicht einseitige Beziehung von Anschauungen auf Gefühle, wie bei der bloßen Reproduktivität, sondern — durch ursprüngliche Reziprozität der Verbindung von G e fühlen und Anschauungen in dem künstlerischen Individuum bedingte, originale Leitung des Steigens einer Mannigfaltigkeit von Anschauungen durch gewisse Gefühlsakte. J e inniger diese Verbindung und je reicher die beiden Faktoren sind, desto größer wird auch das Genie sein. Von dieser Betrachtungsweise der künstlerischen Produktion aus scheint es schon gleich bei der bildenden Kunst ungereimt zu fragen, wo sie ihre Vorbilder aus der Natur hernähme. Denn die Nachahmung



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([U(j.Y]atc) erweist sich schon bei der Unmöglichkeit, für die Architektur ein zureichendes Vorbild in der Natur zu finden, als unhaltbar. bildende Kunst, wie

Das einzige Vorbild für die

für alle Kunst

überhaupt,

ihre

Quelle, wie das Maß ihrer Beurteilung,

ist das G e -

fühl;

tatsächlichen

wobei

die Mannigfaltigkeit

der

menschlichen Vorstellungen die E r s c h e i n u n g s m ö g lichkeit

für

dasselbe

(äußeren) Natur Greuel,

und

ist

diese

abgibt.

in

Eine

künstlerischer

Konsequenz

des

Imitation

der

Hinsicht

ein

Nachahmungs-

prinzips, die schwer zu umgehen ist, sollte schon von vornherein von dem Gedanken der Anwendung dieses Prinzips

auf

die

Kunst

abgeschreckt

haben;

und

anderseits entfernt sich die Architektur doch so weit von allem, was wir aus der uns umgebenden Natur entnehmen

können, —

so sehr sie

Kunst zu rechnen ist — Prinzip

der

Nachahmung

nie

für

hätte aufkommen lassen sollen. auf

die

Verbindung

doch selbst zur

daß auch diese Einsicht das die

Kunsttheorie

Denn hier darf nicht

des Künstlerischen

mit

einem

praktischen Zweck (dem der Nützlichkeit) hingewiesen werden —

obgleich diese tatsächliche Verbindung hier

modifizierend wirkt, aber man hat noch nie versucht, selbst einen rein dekorativen Bau, bei dem also der Zweck, dem er dienen sollte, lediglich auf künstlerischer Seite lag, irgendwie den Formen der Natur anzunähern.

Die

naturalistischen

menten etc. können hierbei —

Zutaten

in

Orna-

als nicht prinzipielle

Bestandteile — natürlich nicht geltend gemacht werden. Bei der Musik schien nun das Prinzip der NachBaer,

M e t a p h y s i k und K u n s t .

g



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ahmung noch weniger brauchbar zu sein; denn die Naturgeräusche wiederzugeben konnte doch immer nur eine untergeordnete Aufgabe dieser Kunst bedeuten. Aber hier ist es nun gerade, wo die Vorbildlichkeit der Gefühle für die Kunst am stärksten hervortritt, weil die Töne, welche sich hier mit den Gefühlen verbinden, — so wenig sie geeignet sind, im einzelnen Gedanken zu tragen — vorzüglich, und mehr als Anschauungen, Gefühle zu erwecken vermögen. Das ist eine Tatsache, die nur zu konstatieren ist. Es wird sich aber beim Komponisten — in gleicher Weise wie beim bildenden Künstler die Anschauung — die Tonempfindung in ursprünglicher Verkettung mit seinem Fühlen befinden. Der Tondichter f ü h l t eine Melodie, eine Komposition. Wir haben endlich die Dichtung deshalb bis zuletzt zurückbehalten, weil sich hier in verschiedenem variabeln Verhältnis beide Gebiete, das optische und das akustische, mischen. Das Akustische tritt, so sehr auch die sogenannte Tonmalerei hier oft eine Rolle spielen mag, — die akustische Aufnahme der Sprache als solcher, sofern sie die Schwelle des Gewohnheitsmäßigen nicht in der Richtung zu dem Musikalischen hin überschreitet, kann hier nicht in Betracht kommen — als integrierender Bestandteil großenteils nur noch in quantitativer Hinsicht auf. Die Anschauung des Raumes, die für die bildende Kunst charakteristisch ist, vereinigt sich hier samt den ihr dort eigenen qualitativen Eigenschaften, die allerdings dabei einen rein ideellen Charakter annehmen, mit der Anschauung



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der Zeit, als dem bloßen Träger der Musik, abgezogen von den musikalischen Qualitäten. Natürlich soll hier nicht geleugnet werden, daß bei der Auffassung der räumlichen Verhältnisse ebenso ein Nacheinander stattfinde, wie bei der Auffassung der Töne, aber den ausgesprochenen Charakter der bildenden Kunst scheint mehr das rein Räumliche, den der Musik mehr das rein Zeitliche auszumachen. Sofern sich aber die Dichtung schon als die ursprünglichste Synthese der beiden Fundamentalgebiete erweist, kann durch die weitere Verbindung derselben mit einer der beiden besonderen Künste mehr oder weniger nur noch eine Einseitigkeit erzielt werden, welche auf Kosten der Dichtung kommt — jedenfalls keine höhere Synthese. Dennoch schien zunächst die letzte Kunstsynthese überhaupt im Musikdrama — wo sie jedoch nur gleichzeitig in verschiedenen Graden, vom niedersten rein äußerlicher Vereinigung bis zum höchsten eben in der Dichtung des Dramas selbst, auftritt — obgleich dagegen schon gelegentlich Bedenken laut wurden, in idealer Vollkommenheit, wenn nicht schon geleistet zu sein, so doch geleistet werden zu können. Dem gegenüber glauben wir die eigentümlichste und innigste Synthese, die unter Künsten überhaupt möglich ist, allein in der Dichtung, in der Poesie, verwirklicht zu sehen. Die Tatsache, daß hier die Raumanschauung samt ihrem qualitativen Inhalt, die Zeitanschauung dagegen großenteils ohne musikalisch-qualitative Bestimmungen auftritt (im Rhythmus), ist begründet in dem Primat der optischen vor der akustischen repro-



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duktiven Phantasie — während man denselben für die produktive wohl nicht behaupten kann. Es wäre denkbar, daß dies erstere Verhältnis in einer vorwiegend akustisch bestimmten Vorstellungswelt sich umkehrte. Manche Musiker entwickeln z. B. beim Lesen einer Partitur ebenso eine reproduktive Gehörphantasie, wie sonst das Lesen einer Dichtung eine reproduktive Anschauungsphantasie zu begleiten pflegt. Deshalb ist es aber auch allgemein üblich, musikalische Kompositionen mittelst Instrumenten aufzuführen und nicht als Lektüre zu behandeln. Nicht der komponierte Text, das gesungene Lied, sondern die rhythmische Poesie ist die wahre, innigste Vereinigung der beiden Fundamental-Kunstgebiete. Sofern sich nun beim Dichter das Fühlen zum Teil mit Vorstellungen, die dem Gebiete des räumlichen Nebeneinander, zum Teil solchen, die dem des zeitlichen Nacheinander angehören, prinzipiell verbunden zeigt, kann man auch vom Dichter sagen: er f ü h l t eine Dichtung. Die geniale, vermöge einer Grundstrebung des gesamten Fühlens, durchbrechende Aufdämmerung der den Gefühlen mit teleologischer Allgemeingültigkeit korrespondierenden V o r s t e l l u n g e n ü b e r h a u p t , das ist der universale Charakter, der der Dichtung gegenüber den andern Künsten eigen ist. Nach diesen Erwägungen dürfte vielleicht das erklärt und gerechtfertigt scheinen, was immer, wenigstens unsere Empfindung bei einem gesungenen, an und für sich auf poetischer Höhe stehenden Liede ist: daß nämlich das Lied durch die Komposition zwar



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etwas Neues gewinnt, aber nur um den Preis eines Teiles spezifischen dichterischen Gehaltes. Es gewinnt das Qualitative der Musik, d. h. es wirkt durch Töne nun

unmittelbarer

einen Teil

seines

auf das Gefühl, spezifischen

aber es verliert

Anschauungsgehaltes

und der Schönheit, die in dem ihm eigenen Rhythmus und

der

Sprache

liegt. —

Vielleicht

könnte

durch

melodramatische Liederkomposition diesem Mangel abgeholfen, und durch eine mehr zurücktretende, in einer den

Gefühlsgehalt

nur

ahnen

lassenden W e i s e

gleitende Musik, dieser ohne Schädigung der

be-

dichte-

rischen Eigenart gehoben werden. W i r können nun, mehr zusammenfassend, als es in dem Abschnitt über „ D i e ästhetische Idee als innere Form betrachtet" geschehen ist, sagen: Das P r i n z i p a l l e r S c h ö n h e i t ist die

subjek-

tive Einheit der M a n n i g f a l t i g k e i t der V o r s t e l lungsbewegungen,

von

den

einfachsten

Ele-

m e n t e n d i e s e r M a n n i g f a l t i g k e i t an, b i s zu d e n inhaltlich bloße

reichsten,

Anschauung

Wortes)

gerichtetes

sofern

(im

mit

weitesten

Wertgefühl

ihr

ein

Sinne

auf des

verbunden

wird. Wenn wir weiter annehmen, daß eine wenn auch nur auf ideale Allgemeingültigkeit mit Recht Anspruch erhebende Norm des Fühlens nur dem Schönen

(im

weiteren Sinne: dem Ästhetischen) Geltung verleihen könne, dagegen nicht dem Häßlichen als solchem, so läßt sich ferner nach diesen Betrachtungen folgender allgemeiner Satz aufstellen:



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Die K u n s t ist das mit t e l e o l o g i s c h e r A l l g e m e i n g ü l t i g k e i t in (mit i d e a l e r Annäherung) ihm k o n g r u e n t e E r s c h e i n u n g g e t r e t e n e originale G e f ü h l (Fühlen). Schließlich hinsichtlich der Naturschönheit ließe sich das Resultat so formulieren: Das rein r e z e p t i v e V e r h a l t e n g e g e n ü b e r der N a t u r als N a t u r s c h ö n h e i t ist die A n w e n d u n g der R e g e l n der r e p r o d u k t i v e n P h a n t a s i e auf d e n G e g e n s t a n d (die E r s c h e i n u n g s m ö g l i c h k e i t ) der p r o d u k t i v e n (des o r i g i n a l e n F ü h l e n s ) . A u s diesen Gründen pflegt eine allgemeine Beachtung und Bewunderung der (höheren) Naturschönheit, das sog. „Naturgefühl", auch erst bei vorgeschrittener Kultur aufzutreten, wenn nämlich die Phantasie in ihrer reproduktiven Tätigkeit an den Kunstwerken sich so weit geübt zu haben scheint, daß sie vermag, dieselbe auf Dinge (Naturobjekte) auszudehnen, die hinsichlich ihrer Schönheit zufällig und unabhängig von den ihnen zum Teil hypostasierten und durch sie hervorgerufenen Gefühle entstanden sind. Die Tatsache jedoch, daß diesem reproduktiven Verhalten bei der Apperzeption der Naturschönheit ein höherer Wert als der bloßen Illusion (im gewöhnlichen Sinne des Wortes), nämlich der einer größeren Berechtigung des Fühlens, und damit der der Allgemeingültigkeit, beigelegt wird, scheint darauf hinzuweisen, daß diesem Verhalten eine besondere transzendentale Spontaneität zu Grunde liegt.

Von der Kunst. Das Wesen des Schönen ist schon auf mancherlei Art gedeutet und erklärt worden. Man braucht nur eine Geschichte der Ästhetik zu durchblätttern, um alle möglichen, sich meist widersprechenden Theorien über diesen Gegenstand zu finden. Ohne hier näher auf jene Erörterungen und Streitfragen einzugehen, möchten wir nur zwei Hauptpunkte, um die es sich dabei handelt, hervorheben, weil an sie auch die folgende Untersuchung anknüpfen soll; das sind: I n h a l t und F o r m . Es gibt hier einseitige Formalisten, die in der Form allein, unbekümmert um ihren Inhalt, um das, was sie formte, das Wesen des Schönen erblicken; anderseits gibt es aber auch Ästhetiker, die bei der Schönheit den Inhalt, also den dargestellten Gegenstand nur hinsichtlich seiner sachlichen Beziehungen, ohne Rücksicht auf die Form seiner Darstellung, für allein maßgebend erklären. Diese ausschließliche Inhaltsästhetik erscheint da als gezwungen und künstlich, wo das Wohlgefallen offenbar von der bloßen äußeren Form ausgeht, wie beim reinen Ornament, mathematischen Figuren. Eine Kugel z. B. kann mir gefallen, ohne daß ich dabei an die leichteste gleichmäßige Bewegung denke. Eine solche Über-



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legung ist durchaus sekundärer Natur und kann nicht als das Wohlgefallen allererst begründend angesehen werden.

Der

Formalismus hingegen wird da

reichend, wo es sich um W e r k e handelt, wo wir überhaupt fallen an dem Kunstwerk

unzu-

der höheren Kunst

gar nicht wirkliches Gefinden

können, wenn wir

keine Vorstellung von dem haben, was dargestellt ist. Wenn

man dem gegenüber zunächst auch behaupten

darf, daß erst Inhalt und Form vereinigt, in ihrem angemessenen Verhältnis sowohl gegenseitig als hinsichtlich unseres Apperzeptionsvermögens, die höhere inhaltliche Schönheit hervorzubringen imstande sind die F o r m , werden



im sublimsten Verstände genommen (wir

noch

innerhalb

dieses Begriffs eine

Unter-

scheidung versuchen) wird doch immer das Charakteristischste der Schönheit bleiben.

A b e r der Begriff

der Form bedarf hier einer näheren Untersuchung. Mag

man nämlich auch mit Recht die Form als

das Eigenste der Schönheit bezeichnen, so wird man doch bald darin auf einen Widerspruch stoßen.

Man

wird in der Geschichte des künstlerischen Geistes beobachten können, wie bald die Form, bald der Inhalt in den Vordergrund trat. die

jungaufstrebenden

Und es waren vor

reichen

Zeiten

des

allem

Geistes,

welche, auf eine in überlieferten Kunstformen erstarrte formalistische Kulturperiode folgend, den Inhalt über die Form erhoben und diese fast ganz zurückdrängten; so etwa am Ende des

18. Jahrhunderts die „Sturm-

und Drang-"Bewegung.

Wäre nun bei der inhaltlichen

Schönheit

die Schönheit

in gleicher W e i s e wie

bei



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der rein formalen nur an die äußere Form, z. B. bei der Poesie an Vers und Reim u. ä., gebunden, so könnten Werke, die solchen Zeiten angehören, nicht schön sein — und dennoch sind sie es in manchen Fällen, auch wenn ihnen die äußere Kunstform beinahe ganz fehlt. Dieser Widerspruch muß nämlich dann notwendig entstehen, wenn man den Begriff der „Form" zu eng faßt. Es wird zunächst zu untersuchen sein, was denn an solchen Kunstwerken, denen die äußere Form, das Äußerlich-technische abgeht, eigentlich noch vorhanden ist, um ihnen künstlerischen Reiz z u g e b e n . Dabei zeigt sich, daß jede inhaltliche Schönheit bei demjenigen, auf welchen sie überhaupt eine Wirkung auszuüben vermag, eine eigenartige Belebung seiner Phantasie zur Folge hat, und dies, einerlei ob eine äußere Form vorhanden ist oder fehlt; eine Belebung, die der Gegenstand nicht hervorriefe, wenn er nicht gerade so und so dargestellt wäre. Man hat in diesem Falle behauptet, daß mit dem zu Grunde liegenden sozusagen ästhetisch neutralen Gedanken ein anderer ihn schmückender, z. B. eine Metapher, verbunden worden sei, den man „ästhetische Idee" nannte. Diese ästhetische Idee sollte nun ihrerseits jene belebende Mannigfaltigkeit von Teilvorstellungen, die in einem abgegrenzten Begriffe nicht faßbar sind, veranlassen. Nun läßt sich eine solche belebende Mannigfaltigkeit aber leicht als das im Auffassenden erwachende Leben der Assoziationen erkennen; dabei ist zugleich zu bemerken, daß man hier nicht von

— einer

einem

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gegebenen Begriffe b e i g e s e l l t e n

stellung (ästhetischen Idee)

sprechen

kann,

Vor-

sondern

ein Gedanke bekommt, etwa durch den Zusatz einer Metapher,

eine besondere

ästhetische

Form,

der

bildliche Ausdruck wandelt ihn selbst in ästhetischem Sinne um. Bei einem Gedicht haben wir z. B. 1. Versund Reimform, 2. den Gedanken (überhaupt), der im Gedicht ausgesprochen ist, 3. den ästhetischen Ausdruck,

den der Gedanke gefunden hat, die künstle-

rische Darstellung. Das letztere ist die ästhetische, die i n n e r e F o r m , wie wir sie nennen möchten, im Gegensatz zur ersten, als der äußeren.

Nicht

von

einem

Nebeneinander-

stellen ist daher die Rede, sondern von schmelzen

des Gedankens

mit

einem Ver-

dem bildlichen Aus-

druck, von einer gegenseitigen Durchdringung.

Eben

dies Einswerden

ergibt erst das Poetische,

rische, Geniale.

Nicht so ist es zu verstehen, als ob

Künstle-

mit dem ersten Gedanken der zweite erst die Schönheit eigentlich hinzubrächte, daß gerade er das spezifisch Schöne dabei ausmachte, sondern die Metapher, abgetrennt vom ersten Gedanken, würde für sich auch wieder nicht eigentlich schön sein.

Die Trennung ist

nur sprachlich und besteht nicht im Gedanken. Künstler

Der

hat nicht einen Begriff und findet die Me-

tapher dazu, sondern

er stellt in der künstlerischen

Intuition den Begriff ästhetisch vor, er betrachtet darin überhaupt jedes Objekt ästhetisch,

und

die

sprach-

liche Form, die er zum Ausdruck dieser Intuition verwendet, und die darin notwendige Trennung des Geistig-



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Verbundenen — für dessen e i n h e i t l i c h e n Ausdruck eine besondere ästhetische Sprache, eine eigentliche Geniesprache erforderlich wäre — darf nicht dazu führen, die ästhetische Form selbst, die eben als „Form", als Ganzes zu fassen ist, in einer derartigen nur rein äußerlichen, sprachlich oder überhaupt materiell bedingten Zusammensetzung erblicken zu wollen. Dies wird dadurch noch klarer, daß man oft genug beobachten kann, wie ein schaffender Künstler, gleichgültig auf welchem Kunstgebiet, mit dem Ausdruck seiner Gedanken ringt: sie stehen bereits in künstlerischer Form vor seinem Geist, aber mit dem materiellen Ausdruck hat er noch zu kämpfen. Wenn oben die Assoziation als das die ästhetische Belebung begründende Prinzip bezeichnet wurde, so handelt es sich jedoch hierbei überall nicht um Assoziation überhaupt, sondern um ästhetische Assoziation. Zunächst muß die rein begriffliche ausgeschieden werden, und nur die Assoziation der Anschauungen und Gefühle, vielleicht ab und zu durchsetzt mit der begrifflichen Assoziation, wird in das Gebiet der Ästhetik gehören. Soll nun eine Mannigfaltigkeit von Assoziationen eine ästhetische Wirkung haben, so scheint eine ähnliche harmonische Stimmung dabei in der Vorstellungstätigkeit erforderlich zu sein, wie sie es in einfacherer Art bei der rein formalen Schönheit (Linienornamenten u. dergl.) ist. Es wird dieselbe proportionierte Stimmung des Gemütes sein, nur wird sich diese Stimmung bei der inhaltlichen Schönheit in größeren Verhältnissen, in reicherer Gestaltung



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darstellen; man wird ihr anmerken, daß sie sich nicht auf einen rein formalen, sondern auf einen inhaltlichen Gegenstand bezieht. Der Inhalt eben, nachdem er durch den Künstler seine ästhetische Darstellung gefunden, ist nun geeignet, das Gefühl des Auffassenden auf in der Erinnerung unbewußt aufbewahrte, durch Assoziationsgesetze ihm zugeeignete Erlebnisse zu lenken, welche dann ins Bewußtsein treten, und zwar in derartiger Proportion, daß sie jene harmonische Belebung des Gemüts zur Folge haben. Man darf aber nun nicht, weil die Assoziation — die eine spezifische Erscheinung der inhaltlichen Schönheit bedeutet — auch bei der rein formalen Schönheit in gewisser unbestimmter Weise eintreten kann, das inhaltliche Prinzip zugleich auch auf das ganze Gebiet des Ästhetischen ausdehnen, wie das eben bei den ausgesprochenen Inhaltsästhetikern der Fall ist. Es wird nämlich ein großer Unterschied sein, ob ich beim Anblick einer Kugel an die leichteste gleichmäßige Bewegung, oder ob ich bei Betrachtung von Feuerbachs „Gastmahl des Plato" durch die Art der künstlerischen Darstellung an die erhaben-schöne Lehre dieses Philosophen erinnert werde. Diese beiden ästhetischen Tatsachen sind nämlich nicht nur der Quantität, sondern auch der Qualität nach verschieden. Der Quantität nach, sofern die Assoziationen im zweiten Fall bedeutend zahlreicher auftreten als im ersten, der Qualität nach, sofern im zweiten Fall die harmonische Gemütsstimmung der ästhetischen Assoziation nicht allein durch die rein formale Schönheit der



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bildlichen Darstellung, sondern hier vorzüglich durch künstlerische Auffassung und Wiedergabe des Gegenstandes,

d. h. die ästhetische

Darstellung

und

den

darin wirkenden Inhalt hervorgerufen wird. Nach diesen Erwägungen ist aber die Lösung des anfangs erwähnten Widerspruchs gegeben; denn wenn einer Dichtung die äußere Kunstform ganz abgeht,

so wird sie dennoch

auch

beinahe

auch durch

die

innere Form allein, wenn sie nur diese besitzt (selten aber umgekehrt), ästhetisch bezw.

schön

erscheinen

können. Die ästhetische Assoziation, die aus der

ästheti-

schen (inneren) Form entspringt, ist eigentlich das Entscheidende für den Grund des Gefallens der Schönheit.

Und wir glauben, daß ein Hauptgrund für die

Verschiedenheit des Urteils über das Schöne darin zu suchen ist, daß nämlich das Gemüt Reichtum

einen

einer persönlichen ästhetischen

gewissen Erfahrung

— eine in der Erinnerung bewahrte innere Schönheit — besitzen muß, um dann, je nach seiner Reichhaltigkeit und Richtung, eine stärkere oder geringere Belebung durch den neuen Eindruck eines ästhetischen Gegenstandes zu erfahren: dem einen sagt eine bildliche Darstellung, ein Drama, eine musikalische K o m position viel, dem andern wenig.

Die reichste ästhe-

tische Belebung des Gefnüts, die eine große ästhetische Disposition voraussetzt, ist der ästhetische Enthusiasmus.

In dieser Weise

Assoziation

die Brücke

bildet

die

zur Persönlichkeit

ästhetische des

Auf-

fassenden, zur Individualität, und wird dadurch zum



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innigsten Band, das uns mit dem Kunstwerk verbinden kann. Von hier aus erklärt sich, warum in manche Schöpfungen der Kunst mehr hineinempfunden oder gedeutet wird, als der Künstler, nach eigenem Zeugnis, selbst dabei empfunden oder gedacht hat; oder umgekehrt, daß nämlich die Empfindung, die der Künstler in ein Kunstwerk hineingelegt hat, von andern nicht wiedergefühlt wird; was absolut nicht immer an einem Mangel des künstlerischen Ausdrucks liegt, sondern ebenso, wie im ersten Fall, in der verschiedenen Regsamkeit des assoziativen Vermögens begründet ist. Ebenso wird verständlich, warum z. B. die Poesie fremder oder zeitlich weit zurückgelegener Völker oft schwer oder gar nicht genießbar ist; denn jedes Volk verbindet, zu seiner Zeit und seinem Erdstrich entsprechend, mit dieser oder jener Vorstellung diese oder jene Assoziationen, die ihm durch Assoziationsgesetze — gleichgültig, welche es nun sein mögen — zugeführt wurden, und aus dem StofFgebiet zugeführt wurden, das dieses Volk umgab. Entfernt sich nun die Auffassungsweise eines solchen Volkes gar zu weit von der unsrigen, und bietet uns die Kulturgeschichte nicht genügende Hilfsmittel, so bleiben für uns bei einem Kunstwerk desselben entweder nur die allerallgemeinsten Beziehungen übrig, oder es wird uns vollkommen unverständlich; in beiden Fällen aber ist die Schönheit desselben für uns verloren. Die Höhen-Ruhepunkte der Kultur pflegt im allgemeinen eine stark hervortretende überwiegende Nei-



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gung der ästhetischen Beurteilung zu bezeichnen; jedoch so, daß sie gleichsam ein kontemplatives Verweilen auf dem durch den Kulturfortschritt Erworbenen darstellt, vor allem auf dem durch die Wissenschaft Errungenen. Sie bedeutet selbst nicht einen wissenschaftlichen, sondern einen künstlerischen Fortschritt. Diesem Verhalten, das einem ruhenden Seespiegel gleicht, der das ihn umgebende Leben in sich aufleuchten läßt, nur als Farbe und Linie — geht gewöhnlich eine andere Erscheinung voraus. Eine Zeit, im Steigen begriffen, wirkt etwa durch Wissenschaft, Handel und Politik stetig vorwärts — auf einmal hält sie aus irgendwelchen Gründen im Aufsteigen inne. Aber nun zeigt sich, daß diejenigen, die die Träger jener Kultur gewesen, zum Teil noch hinter ihren bedeutsamen Neuerungen zurückgeblieben sind, zurückgeblieben hinsichtlich ihres Gefühlslebens. Jetzt erfolgt die große Anpassung an die neuen Verhältnisse. Und was eben hauptsächlich angepaßt werden muß, ist das Gefühlsleben des Menschen, das man auch als „Gemüt" bezeichnet. Dies Gemüt stellt nun eigentlich eine mehr oder weniger fein entwickelte und mehr oder weniger k o n s t a n t e I d e e n a s s o z i a t i o n dar. Es entsteht also zunächst eine Gemütsrevolution. Die notwendig gewordenen neuen Assoziationen bilden sich in anfangs oft absonderlicher Weise und auf vielen Irrwegen. Das der Anpassung widerstrebende Gefühl kann dabei leicht zu vorübergehendem „ r o m a n t i s c h e m " Verhalten geführt werden, indem es die neuen Lebensformen als ihm un-



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erträgliche Fesseln empfindet, und sich, davor fliehend, in eine frühere, nach seinen Träumen ausgestaltete Zeit zurückversetzt, worin es sich dann nach Belieben frei ergehen kann. Sobald aber das Gewoge des Neuanstürmenden sich geglättet hat, wird die Beurteilung des Neuen auf seinen reinen Empfindungswert hin in ruhigere und verständnisvollere Bahnen gelenkt. Erst in solcher abgeklärteren Zeit tritt in der Kunst deutlicher ein Streben hervor, der Empfindung durch Naturbilder Ausdruck zu verleihen. Der Natur in einer vielleicht ungeahnt innigen Weise entstammt, bedeutet dies für den Menschen eine gewisse Selbsterkenntnis des Gefühls; sein Gefühlsleben findet sich in den Vorgängen der Natur wieder. Die hieraus entspringende N a t u r l y r i k kann aber nicht als „Landschaftsmalerei" bezeichnet werden, als ob sie dabei auf das Gebiet der Malerei übergriffe und mit ihr wetteifern wolle, sondern sie ist Darstellung von Zuständen und Vorgängen des psychischen Lebens im Bilde der Natur. Im Vergleich hiermit ist es bemerkenswert, daß überhaupt eine a l l g e m e i n e Beachtung und Bewunderung der höheren Naturschönheit, das sog. „Naturgefühl", erst bei vorgeschrittener Kultur aufzutreten pflegt, wenn nämlich die Phantasie in ihrer reproduktiven Tätigkeit an den Kunstwerken sich so weit geübt zu haben scheint, daß sie vermag, dieselbe auf Dinge (Naturobjekte) auszudehnen, die hinsichtlich ihrer Schönheit zufällig und unabhängig von den durch sie hervorgerufenen und ihnen zum Teil hypostasierten Gefühlen entstanden sind.



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Natur und Kunst stehen in einem eigentümlichen Verhältnis zueinander. Der Mensch, in dem sich die schaffende Natur zum Bewußtsein ihrer selbst emporbildete, greift nun als Natur selbst schöpfend ein; denn dadurch, daß die Natur in ihm zum Selbstbewußtsein gelangte, entzweite sich ihr Schöpfungsdrang. Während sie, als in ihrem Wesen uns unbekannt, in ihrem Wirken den Gesetzen der Entwicklung folgend, sich ewig weiterbildet, hat sie als bewußte Natur die mit ihrer Bewußtheit streitende andere Seite ihrer Wirksamkeit erkannt; und während sie einerseits durch Erkenntnis die Überwindung ihrer elementaren Triebe, die ihre höheren Glieder schädigen, allmählich anstrebt — wer weiß, wie weit sie darin kommt — hat sie anderseits, nicht jene unsichere und weitabliegende Umbildung abwartend, in gewaltiger Ungeduld ihrem Bewußtsein gemäß zu schaffen begonnen — und ward zum Genie, zur Kunst. So war mit dem Bewußtsein ein neuer andersartiger Schaffensdrang in ihr erwacht, der nicht allmählich vorwärtsschritt, sondern immer, wie ungeschickt es auch sein mochte, gleich bis zum Ziele stürmte. Wie sie aber in ihrer großen elementaren Entwicklung sich weiterbildete, so wurden auch in den einzelnen Epochen ihres Kunststrebens ihre Ziele verschieden — das ist die Kunstgeschichte. Durch ihr Bewußtwerden aber nun einmal in sich selbst entzweit, sind ihre beiden Wirksamkeiten in ewiger Fehde begriffen; die Kunst scheint mit der Natur nicht wirklich und dauernd sich versöhnen zu können. Einmal wendet sie sich verB a e r , Metaphysik und Kunst.

7



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zweifelt ab von dem Wirklichen und wird R o m a n t i k , einmal stürzt sie sich so weit in die Natur hinein, daß sie sich selbst zu verlieren droht — und wird R e a l i s m u s . Eine harmonische Vereinigung mit der Natur gelingt ihr nur in der Form, die als k l a s s i s c h bezeichnet wird. Aber immer noch nicht ist es eine wahre Vereinigung — eine Vereinigung, die den Unterschied von Kunst und Natur verschwinden ließe, die die Kunst so weit zur Natur, aber auch die Natur so weit zur Kunst heranführte, daß sie zu einem höheren herrlichen Gebilde sich vereinten, daß die durch ihr Bewußtwerden in sich selbst zerrissene Natur dadurch zu einer höheren Stufe sich emporhebe.