Vauvenargues Betrachtungen und Maximen [Reprint 2019 ed.] 9783486769180, 9783486769173

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Vauvenargues Betrachtungen und Maximen [Reprint 2019 ed.]
 9783486769180, 9783486769173

Table of contents :
Die großen Gedanken entspringen im Herzen

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VAUVENARGUES BETRACHTUNGEN

UND

M A X I M E N

V A U Y E N A R GU E S BETRACHTUNGEN

UND

MAXIMEN

ÜBERSETZT

ERNST

VON

HARDT

M Ü N C H E N U N D B E R L I N 1938 VERLAG

VON

R.OLDENBOURG

Druck von R. Oldenbourg in München

Vatmenargues, Lukas von Ciapier, wurde am 16. August IJI/

Aix

in der Provence als Sohn des Joseph von

Ciapier geboren, welcher später seinem Mute und seinem Pflichtbewußtsein, als einzigster Ratsbeamter während der Pestseuche des Jahres ijz2

die Stadt nicht verlassen

haben, die Marquis-Würde verdankte. Nach einem von Kränklichkeit oft unterbrochenen Schulbesuche, der ihm weder die Kenntnis des Lateinischen noch des Griechischen verschafft hatte, trat Vauvenargues wider seine Neigung mit iS Jahren als Leutnant in das Regiment des Königs, denn die beschränkten Mittel seines Vaters versperrten ihm die wissenschaftliche und die Vorurteile seines Standes jede andere Laufbahn. Er machte ij}4

den italienischen

und IJ42 den böhmischen Feld^ug mit, doch schon im darauffolgenden Jahre nahm er seinen Abschied, da ihn für die soldatische Laufbahn, in der er es trot% t^weier Kriege in sieben Jahren nur bis %um Hauptmann gebracht hatte, weder sein schwächlicher Körper, noch sein parier Geist, noch sein karges Vermögen sonderlich schienen. Ein

befähigen

Versuch, nun im diplomatischen Dienste

Verwendung finden, schlug fehl, und so kehrte er denn im Alter von 28 Jahren ohne äußeren Beruf in sein elterliches Haus mit der Absicht zurück, sich gan% seinem 5

inneren Berufe hinzugeben, die literarischen Ansätze, die draußen auf den lärmvollen Kriegsstraßen sich gebildet hatten, in der Stille äußerster Abgeschiedenheit fort^uspinnen und so auf den Schutt eines mißlungenen Lebens ein neues vyt bauen, das einzig von eingeborener Begabung und natürlicher Neigung beherrscht sein sollte. Dieses neue Leben war kur.^ und schrecklich. Eine furchtbare Krankheit befiel ihn, zerfraß seine Züge, zerrüttete seine Gesundheit und ließ ihn jeden Tag aufs neue begreifen, daß er heute, daß er morgen sterben müsse. Er starb vier fahre lang. Doch über den verglimmenden Scheiterhaufen seiner Körperlichkeit erhob sich seine vom Zwange endlich befreite Seele mit so hellem Licht, daß seine Freunde, geblendet von der Kühnheit, der Leidüberlegenheit und der unbesieglichen Heiterkeit seines Charakters und seines Gemüts, in ihm einen der allergrößten Geister des fahrhunderts

erkennen wähnten.

In diesen Jahren verfaßte oder vollendete er seine beiden Werke: die „Introduction ä la connaissance de l'esprit humain" und die „Sentences et maximes morales", und es war ihm vergönnt, sie 1746, ein Jahr vor seinem Tode, i(u veröffentlichen. Doch auch dieses einzige Gelingen und Vollenden seines Lebens vermochte sein Dasein äußerlich 6

nicht erhöhen, denn der zeitliche Erfolg blieb gering. Dagegen war es einer menschlichen Beziehung beschieden, diese letzten kränkesten Jahre lebendiger erfüllen, als es die gesündesten je gewesen waren. Das Schicksal hatte den widerstandskräftigsten und siegreichsten Mann der Zeit mit ihrem siechesten und besiegtesten zusammengeführt. Diese Freundschaft, in die sich auf Seiten Vauvenargues' eine große Bewunderung, auf Seiten Voltaires ein Gefühl erstaunter Verehrung mischte, ist das einzige veritable Glück dieses so peinvollen Daseins gewesen. Und der berühmte Ausruf Voltaires: Comment Vauvenargues avait-il prit un essor si haut dans le siècle des petitesses verrät, daß der keineswegs genialisch begabte, %age, schüchterne, einsame, vom Tode gestreifte Jüngling den alternden Philosophen bezwungen hatte durch dasselbe Gut, das ihn auch die fahrhunderte überwinden ließ: durch die Größe und den Adel seines Menschentums. Nach dem Erscheinen der ersten Auflage der Betrachtungen und Maximen änderte Vauvenargues die Reihenfolge, feilte am Ausdruck, fügte einige Maximen hin^u und verwarf aufAnraten Voltaires deren nicht weniger als über yweihundertundfünfiyg. Im fahre 1747 erschien dann in dieser noch von Vauvenargues selbst hergestellten Fas7

sung und Formung die zweite Auflage des Werkes. Es umfaßte die Maximen i—)}o. Die von Vauvenargues oder wenn man will von Voltaire verbannten Maximen sind in diese Übersetzung fast vollzählig wieder aufgenommen. Sie wurden aber nicht an ihre ursprünglichen Stellen zurückgeordnet, sondern unter den Nummern ßßi bis jp4 wie ein Anhang an das Ende des von Vauvenargues mit der dreihundertunddreißigsten Maxime letztwillig abgeschlossenen Werkes gesetzt. Aus Vauvenargues' literarischem Nachlaß wuchsen in späteren Auflagen dem Werke noch }jo Maximen zj*, von denen ungefähr zweihundert erst 18JJ, also über hundert Jahre nach dem Tode des Verfassers veröffentlicht worden sind. Diese nachgelassenen Maximen sind in unserer Übersetzung, deren erste Auflage im Jahre 1906 erschien, nicht enthalten. Berlin, im August 19 }8. Ernst Hardt.

8

Die großen Gedanken entspringen im Herfen

I

Es ist leichter, neue Dinge zu sagen, als die schon gesagten in Übereinstimmung miteinander zu bringen. 2

Der menschliche Verstand ist durchdringender als folgerecht und umspannt mehr, als er verknüpfen kann. 3

Wenn ein Gedanke zu schwach ist, um einen schlichten Ausdruck zu vertragen, wird dadurch offenbar, daß man ihn verwerfen soll. 4

Klarheit ziert tiefe Gedanken. 5

Dunkelheit ist das Reich des Irrtums. 6

Es möchte kaum Irrtümer geben, die — klar ausgedrückt — nicht von selber zergingen. 7

Die Selbsttäuschung manches Schriftstellers beruht oft in dem Glauben, die Dinge so wiederzugeben, wie er sie wahrnimmt oder empfindet. Ii

8

Man würde oft weniger Gedanken eines Werkes verurteilen, wenn man sie alle vom Standpunkt des Verfassers auffaßte. 9

Wenn ein Gedanke wie eine tiefe Entdeckung in uns auftaucht, und wir uns dann die Mühe nehmen, ihn zu entwickeln, finden wir nur allzuoft, daß er eine Gassenweisheit war. 10 Selten ergründet man den Gedanken eines anderen ganz, und daher bildet man sich, wenn man später zufällig die gleiche Überlegung anstellt, leicht ein, sie sei neu: so vieles war einem entgangen, was im Bereiche jenes Gedankens lag. ii Wenn ein Gedanke oder ein Werk nur Wenige interessiert, werden auch nur Wenige davon sprechen. 12 Stets nur mäßig loben — ist ein starkes Anzeichen der Mittelmäßigkeit. 12

13

Schnell gemachtes Glück jeder Art ist undauerhaft, weil es selten ein Werk des Verdienstes ist. Die arbeitsvolle Ernte der Klugheit reift spät. 14 Die Hoffnung belebt Weise, Vermessene und Träge jedoch, welche sich unbekümmert auf ihren Verheißungen wiegen, lullt sie ein. 15 Gar viele vernünftige Befürchtungen und Hoffnungen werden enttäuscht. 16 Glühender Ehrgeiz verbannt von Jugend auf alle Freuden, um Alleinherrscher zu sein. 17 Gutes Fortkommen schafft wenig Freunde. 18 Lange Wohlfahrt zerrinnt bisweilen in einem Augenblick, wie heiße Sommertage von einem Gewittersturm verweht werden. 13

Der Mut hat mehr Waffen gegen das Unglück als der Verstand. 20

Vernunft und Freiheit sind mit Schwäche unvereinbar. 21

Krieg ist nicht so drückend wie Knechtschaft. 22

Knechtschaft erniedrigt die Menschen — bis hinab zur Liebe zu ihr. 23 Das Heil schlechter Könige ist für die Völker ein Unheil. 24 Der Vernunft ist nicht gegeben, alle Fehler der Natur zu verbessern. 25 Ehe man einen Mißbrauch angreift, soll man prüfen, ob man seine Grundlagen zerstören kann. 26

Unvermeidliche Mißbräuche sind Naturgesetze.

14

27

Wir haben kein Recht, diejenigen unglücklich zu machen, die wir nicht gut machen können. 28

Man kann nicht gerecht sein, wenn man nicht menschlich ist. 29

Manche Schriftsteller handeln über Moral, wie man sich in der neuen Baukunst anläßt, in der man vor allem nach Bequemlichkeit strebt. 3°

Es ist etwas anderes, es der Tugend leicht zu machen, um sie zu ermuntern, als ihr das Laster gleichzustellen, um sie zu zerstören. 31 Unsere Irrtümer und Uneinigkeiten in der Moral kommen oft daher, wie wir die Menschen auffassen, nämlich: ob sie völlig gut oder völlig lasterhaft sind. 32 Es gibt vielleicht keine Wahrheit, die sich in einem beschränkten Kopfe nicht inIrrtum verkehren könnte. ij

33

Die Geschlechter der Meinungen gleichen den Geschlechtern der Menschen, welche abwechselnd gut und lasterhaft sind. 34

Wir kennen den Reiz heftiger Erregungen nicht! Diejenigen, die wir um ihrer Bedrängnisse willen bedauern, verachten unsere Ruhe. 35

Niemand will um seiner Irrtümer willen bedauert werden. 36 Die Stürme der Jugend sind von strahlenden Tagen umgeben. 37

Junge Leute wissen eher um die Liebe als um die Schönheit. 3«

Frauen und Jünglinge trennen ihre Achtung von ihren Neigungen nicht. 39

Gewohnheit tut alles — sogar in der Liebe. 16

40

Es gibt wenig beständige, aber viele aufrichtige Leidenschaften: das ist immer so gewesen. Aber die Menschen setzen ihren Stolz darein, beständig oder gleichgültig zu sein: je nach der Mode, als welche stets die Natur übertreibt. 41 Die Vernunft errötet über Neigungen, für die sie keine Gründe anzugeben vermag. 42 Das Geheimnis der geringsten natürlichen Freuden geht über die Grenzen unseres Verstandes hinaus. 43 Es ist ein Anzeichen geistiger Enge, wenn man stets zwischen achtenswert und liebenswert unterscheidet: große Seelen lieben von Natur, was ihrer Achtung würdig ist. 44 Bewunderung stumpft sich ab — wie die Liebe. 45 Das Bewußtsein, nicht zu besitzen, was uns die Schätzung eines bestimmten Menschen eintragen könnte, treibt uns fast dazu, ihn zu hassen. 2 Vauvenargues

17

46

Wem es im Vergnügen an Redlichkeit gebricht, der hat auch nur eine erheuchelte in Geschäften. Wen Freude nicht menschlich macht, der hat ein wildes Gemüt. 47 Vergnügungen lehren die Fürsten, mit den Menschen vertraut zu werden. 48 Schacher mit Ehre bereichert nicht. 49 Wer uns seine Redlichkeit erkaufen läßt, verkauft uns gewöhnlich nur seine Ehre. 50 Gewissen, Ehre, Keuschheit, Liebe und Achtung der Menschen sind für Geld zu haben: Freigebigkeit vermehrt also die Vorteile des Reichtums. 51 Wer seine Verschwendung nützlich zu machen weiß, besitzt eine große und edle Sparsamkeit. 52 Dummköpfe begreifen kluge Menschen niemals. 18

53

Niemand hält sich für geeigneter, kluge Menschen hinters Licht zu führen, als ein Dummkopf. 54

Wir vernachlässigen oft die Menschen, auf die wir von Natur Einfluß haben, anstatt gerade sie uns zu verbinden und gewissermaßen uns einzuverleiben, denn alle anderen hängen uns doch nur aus Eigennutz an, dem veränderlichsten Ding von der Welt. 55

Niemand ist härter — als die aus Eigennutz Sanften. 56 Eigennutz bringt wenig ein. 57

Niemand ist reich, der seinen Reichtum nicht zu nützen weiß. 58 Ruhmesliebe schafft die großen Schicksale zwischen den Völkern. 59

Wir haben so wenig Tugend, daß wir es lächerlich an uns finden, den Ruhm zu lieben.

60 Erfolg verlangt Pflege. Man muß gewandt und unterhaltend sein, Ränke schmieden, niemanden beleidigen, Weibern und hochgestellten Männern gefallen, sich in Geschäfte und Vergnügungen stürzen, geheimnisvoll tun, sich bis spät in die Nacht hinein bei Tisch langweilen und, ohne vom Stuhle aufzustehn, drei Kartenpartien hintereinander spielen können und nach alledem ist man seiner Sache noch keineswegs sicher. Wie viele Plagen und Widrigkeiten könnte man sich doch ersparen, wollte man seine Geltung durch bloßes Verdienst zu erstreben wagen. 61

Ein paar Narren haben irgendwann bei Tafel zueinander gesagt: allein wir sind gute Gesellschaft — und man glaubt ihnen. 62

Spieler haben vor geistigen Menschen den Vortritt, als gebühre ihnen die Ehre, den Reichtum zu vertreten. 63 Geistreiche Menschen wären oft fast einsam — ohne die Dummköpfe, die sich für geistreich halten. 20

64

Wer vor acht Uhr morgens aufsteht, um einer Gerichtsverhandlung beizuwohnen, oder im Louvre ausgestellte Bilder zu besichtigen, oder die Proben eines neuen Stückes anzuhören, und seinen Stolz darein setzt, auf jedem Gebiet über die Arbeit anderer zu urteilen, ist ein Mensch, dem es oft nur an zwei Dingen gebricht: an Verstand und an Geschmack. 65 Die Mißachtung von Dummen kränkt uns weniger, als die laue Achtung kluger Köpfe. 66

Menschen Lobsprüche erteilen, welche die Grenzen ihres Wertes abstecken, heißt sie beleidigen: denn nur wenige sind bescheiden genug, ohne Pein zu ertragen, daß man sie richtig einschätzt. 67 Es ist schwer, jemanden so hoch zu schätzen, wie er geschätzt sein will. 68

Man soll sich trösten, keine großen Gaben zu haben, wie man sich tröstet, keine hohen Stellungen einzunehmen: über beides kann man emporragen durch das Herz. 21

69

Verständigkeit und Überspanntheit, Tugend und Laster, mit allem kann man glücklich sein. Zufriedenheit ist kein Anzeichen inneren Wertes. 7° Könnte man Geistesruhe für ein besseres Merkmal der Tugend ansprechen ? Gesundheit verleiht sie. 7i Wenn Ruhm und Verdienst die Menschen nicht glücklich machen, ist dann das, was man Glück nennt, ihres Strebens "wert ? Kann eine nur etwas mutige Seele Wohlfahrt, Geistesruhe oder Gelassenheit erwerben wollen, wenn sie ihnen die Kraft ihrer Empfindungen und den Schwung ihres Geistes aufopfern muß ? 7* Die Mäßigung großer Menschen dämmt nur ihre Laster ein. 73 Mäßigung Schwacher ist Mittelmäßigkeit. 74 Was Anmaßung in Schwachen ist, ist in Starken Erhebung, wie die Stärke Kranker Raserei und die Stärke Gesunder Lebenskraft ist. 22

75

Das Gefühl unserer Kräfte vergrößert sie. 76 M a n urteilt über andere nicht so verschieden wie über sich selbst. 77 Es ist nicht wahr, daß die Menschen in der Armut besser seien als im Reichtum. 78 O b reich, ob arm, niemand ist tugendhaft und glücklich, wenn ihn das Schicksal nicht an seinen Platz gestellt hat. 79 Man muß die Rüstigkeit des Leibes pflegen, um die des Geistes zu erhalten. 80

Greise sind wenig nütze. 81

Die Menschen hegen den Willen, dienlich zu sein, nur so lange, als es ihnen dazu an Gelegenheit fehlt. 82

D e r Geizhals flüstert im Geheimen: Was schiert mich das Schicksal der Armen ? und so unterdrückt er das Mitleid, das ihn befällt. 2

3

«3

Wer anderer nicht mehr zu bedürfen wähnt, wird unerträglich. 84

Selten erreicht man viel bei den Menschen, derer man bedarf. 85

Wenig gewinnt man durch Schlauheit. 86

Unsere verläßlichsten Beschützer sind unsere Gaben. 87

Alle Menschen halten sich höchster Stellungen für würdig, aber die Natur, welche sie dazu nicht befähigt hat, bewirkt, daß sie sich auch in den kleinsten ganz zufrieden fühlen. 88

Man hütet sich vor großen Absichten, wenn man sich großer Erfolge nicht fähig fühlt. 89 Die Menschen hegen kleine Pläne, aber große Erwartungen. 24



Große Menschen unternehmen große Dinge, weil sie ihre Größe erkennen, Narren, weil sie sie für leicht halten. 91

Oft ist es leichter, eine Partei zu gründen, als schrittweise an die Spitze einer schon bestehenden zu gelangen. 92

Keine Partei ist so leicht zu zerstören, wie eine nur aus Klugheit gebildete: selbst die Launen der Natur sind nicht so gebrechlich wie die Meisterwerke der Kunst. 93

Man kann durch Gewalt herrschen, niemals aber durch bloße Gewandtheit. 94

Wer nichts als Geschicklichkeit besitzt, steht nirgendwo in der ersten Reihe. 95

Kraft darf gegen Geschicklichkeit alles wagen. 96 Ziel der Geschicklichkeit ist es, ohne Gewalt zu herrschen. *5

97 Wer täuschen muß, ist ungeschickt. 98 Die Redlichkeit, welche mittelmäßige Köpfe ans Ziel zu gelangen hindert, wird in den Händen Verschlagener ein neues Mittel des Erfolges. 99 Wer mit anderen nichts anzufangen weiß, ist gewöhnlich selber wenig zugänglich. 100 Niemanden zurückweisen: ein Wahlspruch der Schlauen. iox Äußerstes Mißtrauen ist nicht weniger abträgig als sein Gegenteil. Die meisten Menschen werden völlig nutzlos für den, der nicht Gefahr laufen will, hintergangen zu werden. 102

Vom Wetter und von den Menschen soll man alles erwarten und alles fürchten. 103

Böse Menschen sind stets überrascht, auch in guten auf Schlauheit zu stoßen. 26

104

Zu große und zu geringe Verschwiegenheit in unseren eigenen Angelegenheiten verrät in gleichem Maße eine schwache Seele. 105 Vertraulichkeit ist eine Schule des Geistes. 106 Wir entdecken in uns, was andere vor uns verbergen, und erkennen in anderen, was wir vor uns selber verbergen. 107 Die Grundsätze der Menschen offenbaren ihr Herz. 108 Beschränkte Menschen wechseln ihre Grundsätze oft. 109 Oberflächliche Menschen neigen zur Gefälligkeit. 110 Lügner sind niedrig und ruhmredig. in Wenige Maximen sind in jeder Hinsicht wahr. *7

112 Man sagt wenig Gründliches, wenn man nur Außerordentliches zu sagen strebt. "3 Wir schmeicheln uns törichterweise, anderen einreden zu können, was wir selber nicht glauben. 114 Man ergötzt sich nicht lange am Geist anderer. "5 Auch die besten Schriftsteller reden zuviel. 116 Es ist ein Hilfsmittel mangelnder Phantasie zu fabeln. "7 Gefühlsarmut nährt die Trägheit. 118 Ein Mann, der weder am Mittag noch am Abend zu Hause speist, fühlt sich beschäftigt. Und wer gar den Morgen damit verbringt, sich den Mund zu spülen und seinen Schneider zu empfangen, hält sich über den Müßiggang eines Dichters auf, der alle Tage vor Tisch einen Spaziergang macht. 28

119 Es würde wenig Glückliche geben, wenn es anderen zustände, über unsere Beschäftigungen und unsere Vergnügungen zu bestimmen. 120 Wenn uns etwas nicht zu schaden vermag, dürfen wir die verlachen, die uns davor behüten wollen. 121 E s gibt mehr schlechten Rat als Eigensinn. 122

Man hüte sich, zu glauben, daß lasterhaft sein könne, was die Natur liebenswert gemacht hat: es gibt kein Jahrhundert und kein Volk, das nicht eingebildete Tugenden und eingebildete Laster aufgestellt hätte. 123 Der Verstand täuscht uns öfter als die Natur. 124 Der Verstand versteht sich nicht auf die Bedürfnisse des Herzens. 29

125

Wenn Leidenschaft oft kühnlicher rät, als Überlegung, so verleiht sie auch mehr Kraft zur Ausführung. 126 Die Leidenschaften begehen mehr Fehler als die Vernunft aus demselben Grunde, aus dem Regierende mehr Fehler begehn als Privatleute. 12

7

Die großen Gedanken entspringen im Herzen. 128 Guter Instinkt bedarf der Vernunft nicht, er verleiht sie vielmehr. 129 Man zahlt die geringsten Güter teuer, wenn man sie nur aus Vernunft besitzt. 130 Großherzigkeit schuldet der Klugheit keine Rechenschaft über ihre Gründe. 131 Niemand ist mehr Fehlern ausgesetzt, als wer nur aus Überlegung handelt. 30

132

Aus bloßer Überlegung entsteht nicht viel Großes. 133 Das Gewissen ist die veränderlichste aller Vorschriften. IJ4 Ein falsches Gewissen gibt es nicht. 135 Das Gewissen ist in den Starken vermessen, 2aghaft in den Schwachen und Unglücklichen, unruhig in den Unentschlossenen usw., also ein Organ der Empfindung, die uns beherrscht, und der Meinungen, die uns leiten. 136

Das Gewissen Sterbender verleumdet ihr Leben. 137 Festigkeit oder Schwäche im Tode hängt von der letzten Krankheit ab. 138

Die durch Schmerzen erschöpfte Natur betäubt bisweilen das Gefühl der Kranken und hemmt die Beweglichkeit ihres Geistes: und wer sich in gesunden Tagen vor dem Tode ängstigte, erleidet ihn später ohne Furcht. 31

139 Krankheit erstickt in manchen Menschen den Mut, in anderen die Furcht — und sogar die Liebe zum Leben. 140 Nichts vermag unser Urteil über das Leben so sehr zu fälschen, als der Gedanke an den Tod. 141 Es ist ungerecht, von einer niedergedrückten und durch die Angriffe eines furchtbaren Übels besiegten Seele zu fordern, sie solle die gleiche Kraft wie zu anderen Zeiten aufbringen. Verwundert man sich, wenn ein Kranker weder gehen, noch wachen, noch sich aufrecht halten kann? Und würde es nicht weit seltsamer sein, wenn er noch derselbe Mensch wie zur Zeit seiner vollen Gesundheit wäre ? Wenn wir Kopfschmerzen gehabt und schlecht geschlafen haben, entschuldigt man an diesem Tage unsere Unfähigkeit zu jeglichem Tun, und niemand argwöhnt, wir möchten stets derart unfähig gewesen sein. Sollen wir einem sterbenden Menschen das Vorrecht verweigern, das wir einem, der Kopfschmerzen hat, zugestehn? und dürfen wir die Behauptung wagen, er hätte auch in gesunden Tagen niemals Mut besessen, wenn es ihm im Todeskampfe an Mut gebricht ? 32

142

Um Großes zu vollbringen, muß man leben, als ob man niemals sterben müßte. 143 Die Vorstellung des Todes täuscht uns, denn der Tod läßt uns das Leben vergessen. 144 Bisweilen spreche ich zu mir selber: das Leben ist nicht wert, daß ich mich um seinetwillen beunruhige, denn es ist zu kurz. Wenn mich aber ein lästiger Besucher daran hindert, mich anzukleiden und auszugehn, so verliere ich die Geduld und kann es nicht ertragen, mich auch nur eine halbe Stunde zu langweilen. 145 Die falscheste aller Philosophien ist jene, welche den Menschen unter dem Vorwande, sie von den Qualen der Leidenschaften zu befrein, Müßigkeit und Vernachlässigung und Vergessen des eigenen Ichs anrät. 146 Wenn all unsere Voraussicht unser Leben nicht glücklich machen kann — um wie vieles weniger vermag es dann unsere Sorglosigkeit! 3

Vauvenargues

33

147 Niemand spricht am Morgen: Ein Tag ist schnell vergangen, harren wir der Nacht. Im Gegenteil, abends schon träumt man von dem, was man am nächsten Morgen tun will. Man wäre recht unglücklich, auch nur einen einzigen Tag lang der Zeit und den Menschen auf Gnade und Ungnade ausgeliefert zu sein. Man wagt dem Zufall nicht einmal die Verwendung auch nur weniger Stunden zu überlassen, und man tut recht daran: denn wer kann hoffen, eine Stunde ohne Langeweile zu verbringen, wenn er nicht Sorge trägt, diese kurze Zeitspanne nach eigenem Gefallen zu erfüllen ? Aber was man für eine Stunde nicht zu hoffen wagt, das erhofft man fürs ganze Leben und spricht: Wie unsinnig, uns derart um die Zukunft zu sorgen, das heißt: wir sind recht töricht, unser Los nicht dem Zufall zu überlassen und uns um das zu kümmern, was zwischen uns und dem Tode liegt. 148

Überdruß ist weder ein Zeichen von Gesundheit, noch Eßlust eine Krankheit: ganz im Gegenteil. So denkt man über den Körper. Aber über die Seele urteilt man nach anderen Grundsätzen. Man nimmt an, daß eine aller Leidenschaften bare Seele stark sei, und da die Jugend feuriger und ungestümer ist, 34

als das Alter, spricht man sie als eine Zeit des Fiebers an und setzt die Vollkraft des Menschen in seinen Niedergang. 149 Der Geist ist das Auge der Seele und nicht ihre Kraft. Ihre Kraft wurzelt im Herzen, das heißt in den Empfindungen. Der erleuchtetste Verstand tut nichts zum Wollen und Handeln. Genügen gute Augen zum Gehen ? Muß man nicht vielmehr noch Füße haben und den Willen zusamt der Kraft, sie zu regen ? 150 Vernunft und Gefühl raten und ergänzen einander abwechselnd. Wer nur eins von beidem befragt, und auf das andere verzichtet, begibt sich sehr unbesonnen eines Teils der Hilfsmittel, die uns zu unserer Führung gegeben sind. 151 Wir verdanken den Leidenschaften vielleicht die besten Kräfte unseres Geistes. 152 Hegten die Menschen nicht Liebe zum Ruhm — sie besäßen weder genug Verstand noch genug Tugend, um ihn zu verdienen. 3*

35

153

Würden wir ohne unsere Leidenschaften die Künste gepflegt haben? und würde uns Überlegung allein unsere Hilfsmittel, unsere Bedürfnisse und unsere Erfindungsgabe offenbart haben? 154 Die Leidenschaften haben den Menschen die Vernunft gelehrt. 155 In der Kindheit aller Völker wie aller Einzelnen ist das Fühlen dem Denken stets vorangegangen und ist sein erster Lehrmeister gewesen. 156

Wer das Leben eines einzelnen Menschen betrachtet, findet darin stets die gesamte Geschichte der Menschheit, welche weder Wissen noch Erfahrung besser zu machen vermocht hat. 157 Wenn es wahr ist, daß man das Laster nicht ausrotten kann, sollte die Weisheit der Regierenden danach trachten, es in den Dienst des öffentlichen Wohles zu stellen. 158

Junge Leute leiden weniger unter ihren Fehlern, als unter der Wohlweisheit der Greise. 36

*59 Die Ratschläge des Alters erhellen wie die Wintersonne: ohne zu wärmen. 160 Der übliche Vorwand derer, die am Unglück anderer wirken, lautet: daß sie deren Bestes wollen. 161 Es ist unbillig, von den Menschen zu verlangen, sie sollten aus Achtung vor unseren Ratschlägen das tun, was sie um ihrer selbst willen nicht tun wollen. 162 Man muß den Menschen erlauben, große Fehler gegen sich selber zu begehn, um ein noch größeres Übfel zu vermeiden: die Knechtschaft. 163 Wer strenger als die Gesetze ist, ist ein Tyrann. 164 Was die Gesellschaft nicht beleidigt, geht die Gerichte nichts an. 165 Ohne Notwendigkeit strafen, heißt sich an der göttlichen Gnade versündigen. 37

i66 Enge Moral vernichtet die Lebenskraft des Geistes, wie die Jünger Äskulaps den Leib zerstören, um ein oft nur eingebildetes Übel des Bluts zu vernichten. 167

Gnade ist besser als Gerechtigkeit. 168

Wir schelten Unglückliche ihrer geringsten Fehler •wegen recht sehr — und beklagen sie um ihres größten Unglückes willen recht wenig. 169

Wir sparen unsere Nachsicht für die Vollkommenen auf. 170

Man hält es für keines Menschen Schuld, wenn er ein Dummkopf ist, und vielleicht tut man recht daran, aber es ist sehr vergnüglich, zu denken, es sei sein eigener Fehler. 171 Kein Mensch ist freiwillig schwach.

Wir schelten Unglückliche aus, um sie nicht bedauern zu müssen.

38

173

Großmut leidet unter den Übeln anderer, als ob sie dafür verantwortlich wäre. 174 Die abscheulichste, aber die häufigste und die älteste Undankbarkeit ist die Undankbarkeit der Kinder gegen ihre Väter. 175 Wir wissen unseren Freunden für ihre Schätzung unserer guten Eigenschaften wenig Dank, sobald sie unsere Fehler auch nur zu ahnen wagen. 176

Man kann von ganzem Herzen Menschen lieben, an denen man große Fehler erkannt hat. Es wäre Überhebung, zu glauben, einzig Vollkommenheit habe ein Recht, uns zu gefallen. Bisweilen verbinden uns unsere Schwächen ebenso eng miteinander, als Tugend es zu tun vermöchte. 177 Fürsten schaffen viele Undankbare, weil sie niemals soviel geben, wie sie vermöchten. 178

Haß ist heißer als Freundschaft und kühler als Liebe. 39

*79 Wenn unsere Freunde uns Dienste erweisen, wähnen wir, sie schuldeten sie uns als Freunde, und bedenken nicht im geringsten, daß sie uns ihre Freundschaft eben nicht schuldig sind. 180 Man ist nicht zum Ruhme geboren, wenn man den Wert der Zeit nicht fühlt. 181 Emsigkeit schafft mehr als Klugheit. 182 Wer zum Gehorchen geboren ist, gehorcht auch noch auf dem Thron. 183 Es hat nicht den Anschein, daß die Natur die Menschen zur Unabhängigkeit geschaffen habe. 184 U m sich vor Gewalt zu schützen, hat man sich dem Rechte unterwerfen müssen; Gewalt oder Recht, zwischen diesen beiden Herren hat man also wählen müssen: so wenig waren wir geschaffen, frei zu sein. 40

i8j Abhängigkeit ist aus der Gesellschaft entstanden. 186 Kann man sich wundern, daß die Menschen geglaubt haben, die Tiere seien für sie erschaffen, da sie dies sogar von ihresgleichen denken, und da das Schicksal die Mächtigen daran gewöhnt, auf Erden nur sich selber zu rechnen ? 187 Zwischen Königen, zwischen Völkern, zwischen Einzelnen maßt sich der Stärkere Rechte über den Schwächeren an, und derselbe Grundsatz wird von den Tieren, der Materie und den Elementen befolgt: so daß alles im Weltall durch Gewalt vor sich geht: dieses Gesetz, das wir mit einigem Anschein des Rechtes tadeln, ist das allgemeinste, unerbittlichste, unveränderlichste und das älteste aller Naturgesetze. 188 Schwache wollen gehorchen, um beschützt zu werden: Wer die Menschen fürchtet, liebt das Gesetz. 189 Wer alles ertragen kann, darf alles wagen. 4i

190

Es gibt Beleidigungen, die man um seiner Ehre willen überhören muß. 191 Es ist gut, fest aus Anlage und nachgiebig aus Überlegung zu sein. 192 Schwache möchten bisweilen für böse gehalten werden, aber die Bösen wollen stets für gut gelten. 193 Wenn innerhalb der Menschheit Ordnung herrscht, so ist dies ein Beweis, daß Vernunft und Tugend darin am stärksten sind. 194 Das Gesetz, dem der Geist unterworfen ist, unterscheidet sich nicht von dem des Leibes: beide können sich nur durch dauernde Nahrung erhalten. 195 Wenn die Freuden uns erschöpft haben, wähnen wir, wir hätten die Freuden erschöpft und sagen: Nichts könne das Herz des Menschen erfüllen. 42

196

Wir verachten gar vielerlei, um uns nicht selber zu verachten. *97 Unser Überdruß entspringt nicht Mängeln und Unzulänglichkeiten der Dinge außer uns, wie wir so gerne glauben möchten, sondern einer Erschöpfung unserer eigenen Organe und bezeugt unsere Schwäche. 198 Feuer, Luft, Geist, Licht, alles lebt nur handelnd: daher die Verbindung und Verknüpfung aller Wesen, daher die Einheit und Harmonie des Weltalls. Dennoch halten wir dieses so fruchtbare Naturgesetz am Menschen für ein Laster, und da er ihm unterliegen muß, weil er in völliger Ruhe nicht bestehn kann, schließen wir, er sei noch nicht an seinem ewigen Platze. 199 Der Mensch entschließt sich zur Ruhe nur, um sich von Zwang und Arbeit zu befrein, aber nur handelnd genießt er, und er liebt nur die Tat. 200 Der Erfolg der Arbeit ist die süßeste aller Freuden. 43

201 Wo alles abhängig ist, muß es einen Herrn geben: die Luft dient dem Menschen und der Mensch der Luft und nichts ist für sich und nichts ist sonder. 202

Oh Sonne 1 oh Himmel I Wer seid ihr ? Wir haben das Geheimnis und das Gesetz eures Wandels enträtselt, blinde Werkzeuge ihr und vielleicht gefühllose Kräfte in der Hand des Wesens aller Wesen 1 Verdient denn die Welt, über die ihr herrscht, unsere Achtung ? Der Umsturz der Reiche, das wechselnde Antlitz der Zeiten, die Völker, die geherrscht haben, und die Menschen, die das Schicksal dieser selben Völker gewesen sind, die Vorstellungen und Bräuche, welche in der Religion den Glauben der Völker umschlossen haben, die Künste, die Sitten, die Wissenschaften, alles das . . . als was kann es gelten ? Ein fast unsichtbares Atom, das man Mensch nennt, und das über die Oberfläche der Erde kriecht und dessen Dauer nur eines Tages Länge mißt, es umspannt gewissermaßen mit einem Blick das Schauspiel des Weltenalls von einer Ewigkeit zur anderen Ewigkeit. 20}

Wenn man viel Einsicht besitzt, bewundert man wenig, und ebenso, wenn man gar keine hat. Be44

wunderung deutet das Maß unserer Kenntnisse an und zeugt oft weniger von der Vollkommenheit der Dinge, als von der Unvollkommenheit unseres Geistes. 204

Es ist kein allzu großer Vorteil, einen schnellen Verstand zu besitzen, wenn er nicht auch genau ist. Die Vollkommenheit eines Pendels besteht nicht darin, schnell, sondern geregelt zu schwingen. 205

Unvorsichtig sprechen und kühn sprechen, ist fast immer ein und dasselbe; aber man kann ohne Vorsicht und doch treffend sprechen. Man muß nicht glauben, ein Mensch habe einen wenig umsichtigen Verstand, weil die Kühnheit seines Charakters oder die Lebhaftigkeit seines Wesens ihm wider seinen Willen irgendeine gefährliche Wahrheit entrissen haben. 206

Im Geist der Menschen west mehr Ernst als Narrheit. Wenige sind von Natur witzig, die meisten werden es durch Nachahmung: kalte Kopisten der Lebhaftigkeit und Lustigkeit anderer. 45

207

Alle, welche sich über ernste Neigungen lustig machen, lieben nichtsdestoweniger aufs ernsthafteste ihre Nichtigkeiten. 208

Verschiedener Geist: verschiedener Geschmack. Nicht immer setzt man einander aus Eifersucht herab. 209 Man urteilt über Erzeugnisse des Geistes wie über handwerkliche Arbeiten. Wenn man einen Ring kauft, sagt man: der ist zu groß und dieser zu klein, bis man einen für seinen Finger findet. — Aber beim Goldschmied bleibt keiner, denn der, der für mich zu klein war, paßt einem andern. 210 Wenn zwei Schriftsteller sich in gleichem Maße, aber in verschiedenen Gattungen hervorgetan haben, berücksichtigt man gewöhnlich den eigentlichen Rang ihrer Talente nicht genug, und Despreaux wird mit Racine zusammengekoppelt: das ist ungerecht. 211 Mir ist ein Schriftsteller lieb, der alle Zeiten und alle Länder überblickt und viele Wirkungen auf 46

wenige Ursachen zurückführt, der die Vorurteile und die Sitten der verschiedenen Jahrhunderte vergleicht, der durch Beispiele, die er der Musik oder der Malerei entnommen, mich die Schönheiten der Redekunst und die enge Verknüpfung der Künste erkennen lehrt. Von einem Mann, der solcherart allen menschlichen Dingen nahesteht, sage ich, daß er einen großen Genius besitzt, falls seine Folgerungen richtig sind. Wenn er aber falsch schließt, vermute ich, daß er die Gegenstände schlecht unterscheidet oder daß er ihre volle Gesamtheit nicht mit einem einzigen Blicke umfängt und endlich, daß etwas an der Ausdehnung oder Tiefe seines Geistes nicht in Ordnung ist. 212

Echte und unechte Geistesfülle läßt sich leicht unterscheiden: die echte erweitert ihre Gegenstände, die unechte erstickt sie unter Episoden und gelehrtem Prunk. 213

Wenige, mit wenig Worten und an richtiger Stelle wiedergegebene Beispiele verleihen allen Betrachtungen mehr Glanz, mehr Gewicht und mehr Wert; aber zu viele Beispiele und Einzelheiten schwächen eine Rede stets. Zu lange und zu häufige Abschweifungen zerstören die Einheit des Vorwurfs und

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ermüden den denkenden Leser, welcher vom Hauptgegenstande nicht abgelenkt werden will, der allzulangen Tatsachen- und Beweiskette aber nicht ohne große Anstrengung folgen kann. Man kann die Dinge gar nicht nahe genug aneinander rücken und gar nicht schnell genug schließen. Mit einem Blick muß man die wahre Schlußfolgerung seiner Rede erkennen und ihr zueilen. Ein durchdringender Verstand flieht die Einstreuungen und überläßt es den mittelmäßigen Talenten, stehen zu bleiben und die Blumen zu pflücken, die am Wege blühn. Ihnen liegt es nämlich ob, das Volk zu ergötzen, welches ohne Erfassen des Gegenstandes, ohne Geistesschärfe und ohne Geschmack liest.

214

Ein Dummkopf mit gutem Gedächtnis steckt voller Gedanken und Tatsachen, aber er weiß aus ihnen nichts zu folgern: und darauf allein kommt es an.

215

Dinge gut zu verknüpfen wissen, ist Verstandesschärfe; viele und große Dinge miteinander in Verbindung zu setzen, ist Gabe des umfassenden Verstandes. Verstandesschärfe scheint also die erste 48

Stufe und eine sehr notwendige Bedingung eines wahrhaft umfassenden Verstandes zu sein. 216 E i n schlecht verdauender, aber gefräßiger Mensch: vielleicht das treueste Bild der Geistesart der meisten Gelehrten. 217 Ich stimme der Maxime „ein gebildeter Mensch müsse von allem etwas wissen" durchaus nicht zu. Oberflächlich und ohne Grundgesetze wissen, heißt fast immer ohne Nutzen und bisweilen sogar zu eigenem Schaden wissen. Es ist durchaus wahr, daß die meisten Menschen gar nicht befähigt sind, gründlich zu wissen, aber ebenso wahr ist auch, daß die von ihnen erstrebte oberflächliche Wissenschaft nur dazu dient, ihre Eitelkeit zu befriedigen. Und sie schadet denen, die echte Schaffenskraft besitzen: denn sie lenkt notwendig von ihrem Hauptgegenstande ab, verbraucht ihren Fleiß in Einzelheiten und für Dinge, die ihren natürlichen Bedürfnissen und Gaben fremd sind, und endlich dient sie keineswegs dazu — wie man sich schmeicheln möchte — , die Größe des Fassungsvermögens darzutun. Zu jeder Zeit hat es Menschen gegeben, die mit einem mittelmäßigen Verstände sehr viel 4

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mißten und sehr bedeutende Geister, die fast gar nichts wußten. Unwissenheit ist weder ein Geistesmangel, noch Wissen Anzeichen des Genies. 218

Die Wahrheit entfällt dem Urteil, wie die Tatsachen dem Gedächtnis entfallen. Die verschiedenen Seiten der Dinge bemächtigen sich nacheinander des Verstandes und lassen ihn dieselben Meinungen abwechselnd verwerfen und annehmen. Der Geschmack ist nicht weniger unbeständig: er wird der reizvollsten Dinge überdrüssig und wechselt wie unsere Stimmungen. 219

Es gibt vielleicht ebenso viele Wahrheiten unter den Menschen wie Irrtümer, ebenso viele gute Eigenschaften wie schlechte, ebenso viele Freuden wie Leiden: aber wir lieben es, die menschliche Natur herabzusetzen, um uns über unsere Gattung zu erheben und uns mit eben dem Ansehen zu schmücken, das wir ihr zu rauben suchen. Wir sind so dünkelhaft, zu glauben, wir könnten unsere Sache von der der Menschheit abtrennen, und das menschliche Geschlecht herabsetzen, ohne uns selber zu treffen. Diese lächerliche Eitelkeit hat die Bücher der Philosophen mit Schmähungen gegen die Natur 5°

angefüllt. Der Mensch steht jetzt bei allen Denkenden in Ungnade, und wer ihn am meisten mit Lastern belädt, gewinnt die Wette. Aber vielleicht ist er gerade im Begriff, sich wieder zu erheben und sich all seine Tugenden aufs neue bestätigen zu lassen, denn die Philosophie hat ebensogut ihre Moden, wie die Kleidung, die Musik, die Architektur und alles übrige. 220

Sobald eine Meinung nur allgemein geworden ist, bedarf es gar keines anderen Grundes, um die Menschen zu veranlassen, sie aufzugeben und auf ihr Gegenteil zu schwören, bis auch dieses veraltet ist und sie schon etwas anderes wählen müssen, um sich hervorzutun. Wenn sie also in irgendeiner Kunst oder Wissenschaft das höchste Ziel erreicht haben, kann man sicher sein, daß sie bald darüber hinausstreben werden, um einen anderen, neuen Ruhm nachzujagen: das ist zum Teil der Grund, warum die schönsten Jahrhunderte so schnell entarten und in die Barbarei, der sie noch kaum entstiegen, wieder zurücksinken. 221

Dadurch, daß die großen Menschen dem Menschen das Nachdenken gelehrt haben, haben sie ihn auf den Weg des Irrtums geführt. 4*

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222

Wo es Größe gibt, fühlen wir sie selbst wider Willen. Der Ruhm der Eroberer ist zu allen Zeiten bekämpft worden, die Völker haben stets unter ihm gelitten — und haben ihn dennoch stets geachtet. 223

Wie warm, wohlig und weich sitzt nicht der Betrachter in seiner Stube — und urteilt über den Soldaten, der die Winternächte draußen am Ufer eines Flusses verbringt und schweigend unter den Waffen über die Sicherheit seines Vaterlandes wacht. 224

Nicht um Hunger und Elend über den Feind zu bringen, jagt ein Held dem Ruhme nach, sondern um beides für den Staat zu erleiden, nicht um den Tod in die feindlichen Reihen zu tragen, sondern um ihm dort zu trotzen. 225

Das Laster schürt zwar den Krieg, aber nur Mannestugend kämpft. Gäbe es keine Mannestugend, wir würden den ewigen Frieden haben. 226

Kraft oder Gewandtheit des Geistes haben den ersten Reichtum geschaffen. Die Ungleichheit der Lebens52

umstände ist aus der menschlichen Ungleichheit an Geist und Mut hervorgegangen. 227

Es ist falsch, daß Gleichheit ein Naturgesetz sei. Die Natur hat nichts Gleiches erschaffen. Ihr oberstes Gesetz ist Unterordnung und Abhängigkeit. 228

M a n mag die Oberhoheit in einem Staate noch so sehr umschränken, kein Gesetz ist fähig, einen Tyrannen an dem Mißbrauch seiner Amtsgewalt zu hindern. 229

Naturgaben, welche weder Studium noch Reichtum zu erringen vermag, ist man zu achten gezwungen. 230

D i e meisten Menschen sind so sehr in die Sphäre ihrer Lebenslage gebannt, daß sie nicht einmal den Mut haben, wenigstens mit ihren Gedanken über sie hinauszudringen: und wenn man einige Menschen trifft, welche das Durchdenken großer Dinge zu kleinen gewissermaßen unfähig gemacht hat, so trifft man doch noch weit mehr, denen die Ausübung kleiner Dinge sogar das Gefühl für die großen genommen hat. 53

2}I Die lächerlichsten und vermessensten Hoffnungen sind bisweilen schon die Ursache außerordentlicher Erfolge gewesen. 232

Die Untertanen bringen ihre Huldigungen mit weit größerer Lust dar, als die Fürsten sie empfangen. Zweckvolles Tun erregt das Gefühl stets mehr als bloßes Genießen. 233 Wir bilden uns ein, nur aus Faulheit nicht nach Ruhm zu streben — und mühen uns doch um der kleinsten Dinge willen unendlich. 234 Wir lieben bisweilen sogar das Lob, das wir nicht für aufrichtig halten. 235

Man muß Kopf und Herz auf dem rechten Fleck haben, um Aufrichtigkeit sogar dann zu lieben, wenn sie kränkt, oder sich ihrer zu bedienen, ohne zu beleidigen. Wenige Menschen haben Kraft genug, die Wahrheit zu ertragen und zu sagen. 54

236 Manche Menschen bilden sich — ohne sich dessen bewußt zu werden — von ihrem Äußeren eine bestimmte Vorstellung, die sie dem in ihnen vorherrschenden Gefühl entlehnen: dies ist vielleicht der Grund, warum ein Geck sich stets für schön hält. 237 Wer nur Geist hat, hat für große Dinge zwar Sinn, Leidenschaft aber nur für kleine. 238

Die meisten Menschen werden in einem kleinen Umkreise von Gedanken alt, die sie nicht einmal aus sich selbst geschöpft haben; vielleicht gibt es weniger beschränkte als unfruchtbare Köpfe I 239

Wie wenig scheint doch alles, was die Menschen unterscheidet. Was ist Schönheit oder Häßlichkeit, Gesundheit oder Kränklichkeit, Geist oder Stumpfsinn ? ... eine geringe Verschiedenheit der Organe, etwas mehr oder etwas weniger Galle usw. Und dennoch ist dieses Etwas-Mehr oder Etwas-Weniger von ungeheurer Bedeutung für die Menschen, und wenn sie anders darüber urteilen, sind sie im Irrtum. 55

240

Zwei Dinge können im Alter Sinnenfreuden und Talent einigermaßen ersetzen: Ruf oder Reichtum. 241

Wir hassen die Eiferer, die alles zu verachten vorgeben, woran uns liegt, während ihnen selber an weit nichtigeren Dingen gelegen ist. 242

Mag man uns immer Eitelkeit vorwerfen, aber von Zeit zu Zeit haben wir es nötig, unseres Wertes versichert zu werden. 243 Große Demütigungen' verwinden wir selten: wir vergessen sie. 244

J e weniger man in der Welt gilt, desto eher kann man straflos Fehler begehn oder sich nutzlos wahrhaft verdient machen. 245 Wenn das Schicksal Kluge demütigen will, überfällt es sie bei jenen kleinen Gelegenheiten, in denen man gewöhnlich ohne Achtsamkeit und Vorsicht handelt. Der umsichtigste Mensch von der Welt kann nicht verhindern, daß kleine Fehler manchmal 56

furchtbares Unglück nach sich ziehn — und er verliert seinen Ruf oder sein Vermögen durch eine kleine Unklugheit, wie ein anderer sich beim Durchschreiten seines Zimmers das Bein bricht. 246

Sei's Lebhaftigkeit, HofFart, Habsucht — jeder Mensch birgt in seinem Charakter einen dauernden Anlaß, Fehler zu begehn . . . wenn sie ohne Folgen bleiben, hat er es allein seinem Schicksale zu danken. 247 Es bestürzt uns, daß wir rückfällig werden und selbst unser Unglück uns nicht von unseren Fehlern zu heilen vermocht hat. 248

Notwendigkeit lindert mehr Mühsal als die Vernunft. 249

Notwendigkeit verschlimmert die "Übel, die sie nicht heilen kann. 250

Die Günstlinge des Reichtumes oder des Ruhmes — Unglückliche in unseren Augen — heilen uns dennoch nicht von unserem Ehrgeiz. 57

251

Geduld ist die Kunst zu hoffen. 252

Verzweiflung vergrößert nicht nur unser Elend, sondern auch unsere Schwäche. 253 Weder die Gaben noch die Schläge des Schicksals gleichen denen der Natur, sie übertrifft es an Härte wie an Güte. 254 Für höchstes Wohl und höchstes Wehe sind mittelmäßige Seelen taub. 255 In der sogenannten großen Welt gibt es vielleicht mehr leichtfertige Charaktere als in minder glücklichen Lebenslagen. 256

Die Menschen der großen Welt unterhalten sich nicht über so geringe Dinge wie das Volk, aber das Volk gibt sich nicht mit so leichtfertigen ab, wie sie. 257 Man findet in der Geschichte große Männer, die von Wollust oder Liebe beherrscht wurden, keiner 58

fällt mir bei, der ein Galan gewesen wäre. — Was den wesentlichsten Vorzug mancher Menschen ausmacht, kommt in anderen nicht einmal als Schwäche vor. 258

Wir hängen bisweilen Menschen an, deren Äußeres Eindruck auf uns gemacht hat, gleich wie junge Männer verliebt hinter einer Maske herlaufen, sie für das schönste Weib der Erde halten und sie solange bestürmen, bis sie sich ihnen entdeckt... als ein kleiner schwarzer Mann mit einem Bart. 259

In geistreicher Gesellschaft dämmert und darbt der Dumme wie ein Mensch, den Neugier aus seinem Element gelockt hat, und der nun in der feineren Luft weder atmen noch leben kann. 260

Der Dumme ist wie das Volk — es glaubt sich mit wenigem reich. 261

Wenn man von seinem Geiste weder etwas einbüßen noch etwas verbergen will, vermindert man gewöhnlich dessen Ruf. 59

262 Erhabene Dichter haben es nicht verschmäht, sich auch durch unterhaltende Reize hervorzutun, stolz darauf, den ganzen Raum zwischen den beiden äußersten Grenzen zu erfüllen und den vollen Umkreis des menschlichen Geistes zu umspannen. Anstatt der Allumfassendheit ihres Talentes Beifall zu spenden, hat das Publikum angenommen, sie hätten sich im Heroischen nicht halten können, und so wagt man es nicht, sie jenen großen Männern gleichzustellen, die sich in eine einzige große und schöne Stilart einschlössen und alles das, was sie verschwiegen, zu sagen verachtet zu haben scheinen, und die mittleren Gebiete den untergeordneten Talenten überließen. 26}

Was den einen als geistige Weite erscheint, ist in den Augen anderer nur gutes Gedächtnis und Oberfläche. 264

Es ist leicht, einen Schriftsteller zu tadeln, aber schwer, seinen wahren Wert zu bestimmen. 265

Für mich nimmt es dem berühmten Racine, dem weisesten und formvollendetsten aller Dichter, nichts, 60

daß er nicht allzuviel Dinge behandelt (die er alle veredelt hätte), sondern sich darin beschieden hat, in einer einzigen Gattung den Reichtum und die Erhabenheit seines Geistes zu offenbaren. Nichtsdestoweniger fühle ich mich aber auch gehalten, einen kühnen und fruchtbaren, hohen, durchdringenden, leichten, kraftvollen und unermüdlichen Schaffensgeist zu verehren, der ebenso geistvoll und liebenswürdig in den unterhaltenden Schriften, wie groß und pathetisch in den anderen ist, der eine weite Phantasie besitzt, welche im Fluge die gesamte Ordnung der menschlichen Dinge umspannt und durchdrungen hat, und dem weder die abstrakten Wissenschaften, noch die Künste, noch die Politik, noch die Sitten der Völker, noch ihre Anschauungen, ihre Geschichte und selbst ihre Sprache haben entgehen können: vom Verlassen des Kindesalters an berühmt durch die Größe und die Kraft seiner gedankenreichen Poesie und bald danach durch die Reize und die ursprüngliche, kluge und stets klare Eigenart seiner Prosa, hat dieser erlauchte Philosoph und Maler alles, was am Menschenwesen Größe hat, glanzvoll in seinen Schriften ausgebreitet; er hat die Leidenschaften mit lichten und feurigen Zügen geschildert und hat sie auf unseren Bühnen mit Zartheit und Wucht zum sprechen gebracht; dank der außerordentlichen Umfassendheit 61

seines Geistes verstand er es, die Eigenart der guten Werke jeden Volkes nachzuahmen und deren Geist zu erfassen, aber nichts ahmte er nach, ohne es nicht auch zu veredeln; bedeutend sogar in den Fehlern, die man in seinen Schriften zu finden geglaubt, hat er, trotz den bei so seltenen Vorzügen unvermeidlichen Mängeln und trotz den Bemühungen der Kritik, ohne Unterlaß seine Freunde und seine Feinde durch die Früchte seiner arbeitsvollen Nächte in Atem gehalten und von seiner Jugend an den Ruf seines Vaterlandes und den Ruhm unseres Schrifttums — dessen Grenzen er alle erweitert hat — bis zu allen fremden Völkern getragen. 266

Wenn man nur bestimmte Werke der besten Dichter betrachtet, wird man sich versucht fühlen, sie gering zu achten. Um sie gerecht einzuschätzen, muß man alles lesen. 267

Man muß die Menschen nicht nach dem beurteilen, was sie nicht wissen, sondern nach dem, was sie wissen, und nach der Art, in der sie es wissen. 268

Ebensowenig darf man von Schriftstellern eine Vollkommenheit verlangen, die sie nicht erreichen 62

können. Es hieße den menschlichen Geist überschätzen, wollte man annehmen, ungleiche und regelwidrige Werke hätten niemals das Recht, ihm zu gefallen, besonders wenn diese Werke Leidenschaften schildern. Es gehört nicht gar so große Kunst dazu, selbst hervorragende Köpfe aus ihrem Gleichgewicht zu bringen und ihnen die Formmängel einer kühnen und ergreifenden Schilderung zu verbergen. Jene vollkommene Regelrechtheit, die den Schriftstellern fehlt, findet sich auch in unseren eigenen Vorstellungen keineswegs. Die natürliche Veranlagung des Menschen verträgt nicht soviel Regel. Wir dürfen nicht voraussetzen, daß dem Gefühl eine Feinsinnigkeit eignet, die wir nur durch Überlegung erworben haben. Es fehlt noch viel, daß unser Geschmack ebenso schwer zu befriedigen sei, wie unser Urteil. 269

Es fallt uns leichter, uns einen oberflächlichen Schimmer einer großen Zahl von Kenntnissen zu verschaffen, als einige wenige gründlich zu besitzen. 270

Solange das Geheimnis nicht entdeckt ist, die Menschen scharfsinniger zu machen, werden alle Schritte, die man in der Erkenntnis der Wahrheit auch tun kann, die Menschen nicht hindern, falsch zu denken, 63

und je mehr man sie über allgemeine Begriffe wird hinausdrängen wollen, desto mehr wird man sie in Gefahr bringen, sich zu irren. 271

Das Schrifttum und der Trieb, auf eigene Faust zu denken, kann sich niemals über ein ganzes Volk ausbreiten, ohne daß man in der Philosophie und in den schönen Künsten nicht sofort dasselbe eintreten sieht wie bei den Volksregierungen, unter denen alle nur denkbaren Kindereien und Albernheiten auftauchen und augenblicklich Anhänger finden. 272

Der einer Wahrheit beigesellte Irrtum vergrößert sie keineswegs. Schlechte Kunst zulassen, heißt nicht, das Gebiet der Kunst erweitern, sondern den Geschmack verderben und den Geist der Menschen vergiften, welcher sich von sogenannten Neuheiten leicht bestechen läßt und — in der Folge das Wahre mit dem Falschen vermengend — sich in seinen Schöpfungen von der Nachahmung der Natur nur allzubald abwendet und auf diese Weise durch den eitlen Ehrgeiz, zu erfinden und sich von den alten Vorbildern zu entfernen, in kurzer Zeit völlig verarmt. 64

2

73

Was wir einen geistreichen Gedanken nennen, ist gewöhnlich nur ein bestechender Ausspruch, der uns mit Hilfe einer kleinen Wahrheit einen Irrtum auf2wingt, der uns blendet. 274 Wer das Große hat, hat, so sagt man, auch das Geringe: das ist falsch. Der König von Spanien vermag, so mächtig er ist, in Lucca nichts. Die Grenzen unserer Talente sind noch unerschütterlicher als die Grenzen der Reiche, und eher könnte man die ganze Erde sich aneignen, als die geringste Begabung. 275 Die meisten großen Persönlichkeiten sind zugleich die redebegabtesten Menschen ihres Jahrhunderts gewesen. Die Schöpfer der schönsten philosophischen Systeme, die Häupter der Parteien und Sekten, alle die, die zu jeglicher Zeit die größte Macht über den Geist der Völker gehabt haben, schuldeten den besten Teil ihres Erfolges vornehmlich der natürlichen und lebendigen Beredsamkeit ihrer Seele. Es hat nicht den Anschein, als ob sie auch die Dichtkunst mit gleichem Glücke ausgeübt hätten. Das kommt daher, weil die Dichtkunst es kaum zu5 Vauveaargues

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läßt, daß man sich teilt, und weil eine so erhabene und so schwierige Kunst sich nur selten mit dem Drang der Geschäfte und den lärmvollen Betätigungen des Lebens verträgt: während die Redekunst sich zu allem gesellen kann und den größten Teil ihrer Macht dem Geiste geschickter Vermittelung und klugen Ausgleichs verdankt, als welcher die Staatsmänner und die Politiker erzeugt.

276

Der Glaube der Großen, sie könnten mit ihren Worten und Versprechungen verschwenderisch umgehn, ohne ihnen Folgen zu geben, ist ein Irrtum. Die Menschen ertragen es schwer, daß ihnen genommen wird, was sie sich durch Hoffnung gewissermaßen angeeignet hatten. Man kann sie nicht lange über ihren Vorteil täuschen, und nichts hassen sie so sehr, als hintergangen zu werden. Aus diesem Grunde ist Trug so selten von Erfolg begleitet, selbst zum Verführen gehört Aufrichtigkeit und Redlichkeit. Die, welche Völker in irgendeinem allgemeinen Interesse gemißbraucht haben, waren gegen den Einzelnen redlich; ihre Geschicklichkeit bestand darin, die Geister durch wirkliche Vorteile an sich zu fesseln. Wenn man die Menschen gut kennt und sie seinen Plänen dienstbar machen will,

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darf man sich auf einen so schwachen Köder wie Worte und Versprechungen nicht verlassen. So suchen große Redner keineswegs — wenn es mir erlaubt ist, diese beiden Dinge miteinander zu verknüpfen — durch ein Netz von Schmeichelei und Täuschung, durch dauernde Verstellung und durch geistvolle Sprechweise Vertrauen zu erwecken, sondern, wenn sie über irgendeinen Hauptpunkt zu täuschen suchen, so vermögen sie es nur durch Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit in den Einzelheiten: denn die Lüge ist an sich schwach, sie muß sich sorgfältig verbergen, und wenn man durch bestechende Redeweise wirklich etwas weismachen kann, so gelingt es doch nur mit großer Mühe. Man würde hieraus aber sehr zu Unrecht folgern, daß darin eben gerade die Beredsamkeit bestände. Man erkenne vielmehr aus dieser Macht des bloßen Anscheins der Wahrheit, wie beredt und unserer Kunst überlegen sie selber ist.

*77 E i n Lügner ist ein Mensch, der nicht zu täuschen versteht, und ein Schmeichler täuscht gewöhnlich nur Dummköpfe. Nur wer sich der Wahrheit geschickt zu bedienen weiß und ihre Überzeugungskraft kennt, darf sich einbilden, schlau zu sein. $*

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278

Wer hat mehr Phantasie als Bossuet, Montaigne, Descartes, Pascal — lauter große Philosophen ? Wer besitzt mehr Verstand und Weisheit als Racine, Boileau, La Fontaine, Molière — lauter geniale Dichter ? Es ist also falsch, daß die Hauptbegabung alle anderen ausschließt, im Gegenteil, sie set2t sie voraus. Es würde mich sehr überraschen, wenn ein großer Dichter nicht hellsichtige Gedanken über Philosophie, zum mindesten über Moralphilosophie hegte, und selten wird es vorkommen, daß ein echter Philosoph gänzlich bar aller Phantasie ist. 279 Descartes hat sich in einigen seiner Grundgesetze irren können, nicht aber oder selten in seinen Folgerungen. Man schlösse also aus seinen Irrtümern zu Unrecht, scheint mir, daß Phantasie und Erfindung sich mit Folgerichtigkeit nicht paaren könne. Die große Eitelkeit der Phantasielosen besteht darin, sich allein für scharfsinnig und vernünftig zu halten. Sie beachten nicht, daß die Irrtümer des Descartes, eines schöpferischen Genies, auch die Irrtümer von drei- oder viertausend Philosophen, lauter phantasielosen Köpfen, gewesen sind. Untergeordnete Intelligenzen besitzen durchaus keine eigenen Irrtümer, denn sie sind unfähig, zu erfinden, selbst 68

wenn sie sich irren, aber sie werden, ohne es zu wissen, stets von den Irrtümern anderer mitgeschleppt; wenn sie sich aber selber irren, was ja oft vorkommen mag, so tun sie es nur in Einzelheiten und in Schlußfolgerungen. Diese ihre eigenen Irrtümer aber besitzen zu wenig Wahrscheinlichkeit, um zu verführen, und zu geringe Wichtigkeit, um irgendwelches Aufsehen zu erregen. 280

Die, welche beredt geboren sind, sprechen bisweilen mit solcher Klarheit und solcher Knappheit über große Dinge, daß die meisten Menschen sich nicht vorstellen können: sie sprächen auch tief über sie. Schwerfällige Köpfe und Sophisten lassen keine Philosophie gelten, wenn Redekunst sie volkstümlich macht, und sie das Wahre mit stolzen und kühnen Strichen zu malen wagt. Sie verdammen diesen Glanz und Schwung des Ausdrucks, der den Beweis der vorgebrachten großen Gedanken in sich trägt, als oberflächlich und leichtfertig. Sie verlangen Erklärungen, Erörterungen, Einzelheiten und Beweise. Hätte Locke kühn und lebendig auf wenigen Seiten die weisen Wahrheiten seiner Schriften zusammengefaßt, so würden sie nicht gewagt haben, ihn unter die Philosophen seines Jahrhunderts zu rechnen. 69

281

Es ist ein rechtes Unglück, daß die Menschen gewöhnlich keine Gabe ohne die Sucht besitzen können, alle anderen herabzusetzen. Wenn ihnen feine Sinne eignen, schmähen sie die Kraft. Wenn sie Mathematiker oder Physiker sind, schreiben sie gegen die Dichtkunst und die Beredsamkeit: und die Weltleute, welche nicht bedenken, daß jemand, der sich auf einem Gebiet hervorgetan hat, über ein anderes Talent deshalb dennoch falsch urteilen kann, lassen sich von ihren Aussprüchen einnehmen. Wenn also Metaphysik oder Mathematik an der Mode sind, so schaffen Metaphysiker oder Mathematiker den Ruf der Dichter und Musiker oder umgekehrt: jedesmal unterwirft die herrschende Geistesrichtung alle anderen ihrem Richterspruche und die meisten der Zeit ihren Irrtümern. 282

Wer kann sich rühmen, zu jeder Stunde des Tages zu denken, zu erfinden oder zu begreifen ? Die Menschen besitzen nur ein bestimmtes kleines Maß an Geist, an Geschmack, an Talent, an Tugend, an Witz, an Gesundheit, an Kraft usw. und dieses Wenige, in das sie sich teilen, besitzen sie nicht einmal nach ihrem Willen, auch nicht nach ihrer Notwendigkeit oder in allen Lebensaltern. 7°

28}

Die Maxime, man solle die Menschen vor ihrem Tode nicht loben, ist vom Neid erfunden und von den Philosophen allzu leichtfertig gebilligt worden. Ich meine, man soll die Menschen im Gegenteil während ihres Lebens loben, wenn sie es verdienen. Gerade während Eifersucht und Schmähsucht gegen ihre Tugend oder ihr Talent losgelassen sind und sie herabzuwürdigen suchen, soll man es wagen, Zeugnis für sie abzulegen. Ungerechten Tadel soll man zu äußern fürchten, ehrliches Lob niemals. 284

Neid: er klagt an und verurteilt ohne Beweise, er übertreibt alle Fehler, er hat ungeheuerliche Bezeichnungen für die geringsten Versehen, und seine Sprache ist von Bitterkeit, Übertreibung und Mißgunst erfüllt. Er stürzt sich mit Verbissenheit und wilder Wut auf jedes offenbare Verdienst, und ist blind, hitzig, unbesonnen und gewalttätig. 285

Man muß in den Menschen das Gefühl ihrer Klugheit und ihrer Kraft stärken, wenn man ihren Geist heben will. Wer in Reden oder Schriften nichts weiter erstrebt, als ohne Unterschied und Rücksicht die Lächerlichkeiten und Schwächen der Menschheit auf71

zudecken, der erleuchtet viel weniger Vernunft und Urteil des Publikums, als daß er dessen Neigungen verdirbt. 286

Einen Sophisten, der gegen den Geist und Ruhm großer Männer Einspruch erhebt, kann ich nicht bewundern. Gerade indem er mir über die Schwächen der herrlichsten Menschen die Augen öffnet, lehrt er mich, seinen eigenen Wert abzuschätzen — und er ist der erste, den ich aus der Liste erlauchter Männer streiche. 287

Sehr zu Unrecht glauben wir, daß irgendein Fehler alle Tugend ausschließen könne und erblicken in der Vereinigung von Gut und Böse zu Unrecht etwas Ungeheuerliches oder Rätselhaftes — nur unser Mangel an Erkenntnis läßt uns die Verbundenheit so weniger Dinge begreifen. 288

Falsche Philosophen suchen die Aufmerksamkeit der Menschen dadurch zu erregen, daß sie in unserem Geiste Widersprüche und Schwierigkeiten aufweisen, die sie selber erst geschaffen haben, wie andere die Kinder mit natürlichen und sehr unmagischen

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Kartenkunststücken belustigen, die dennoch den kindlichen Geist verwirren. Wer solcherweise Knoten um des Ruhmes willen knüpft, sie zu lösen, ist ein Charlatan des Geistes. 289

In der Natur gibt es keine Widersprüche. 290

Verstößt es wider Vernunft oder Gerechtigkeit, sich selbst zu lieben ? Und warum wollen wir, daß Eigenliebe immer ein Laster sei? 291

Wenn es eine von Natur dienstbereite und mitfühlende Selbstliebe gibt, und eine Selbstsucht ohne Menschlichkeit, ohne Billigkeit, ohne Grenzen, ohne Vernunft — muß man sie denn durchaus zusammenwerfen ? 292

Wenn es wahr wäre, daß die Menschen nur aus Vernunft tugendhaft sind, was folgte dann daraus ? Wenn man uns mit Recht für unsere Gefühle lobt, warum sollte man uns dann nicht auch um unserer Vernunft willen loben ? Ist sie weniger unser als der Wille ? 73

293

Man nimmt an: wer der Tugend aus Überlegung dient, könnte sie um eines nützlichen Lasters willen verraten. Ja, wenn irgendein Laster in den Augen eines vernünftigen Menschen nützlich sein könnte I 294

Im menschlichen Herzen schlummert ein Same von Güte und Gerechtigkeit. Wenn der Eigennutz darin vorherrscht, so wage ich zu behaupten, daß dies nicht nur nach der Natur, sondern auch nach der Gerechtigkeit so sein muß — vorausgesetzt, daß niemand unter dieser Eigenliebe leidet oder die Gesellschaft durch sie mehr einbüßt, als gewinnt. 295 Wer durch Tugend nach Ruhm strebt, fordert nur, was ihm gebührt. 296

Ich habe es stets lächerlich gefunden, daß die Philosophen eine mit der menschlichen Natur unvereinbare Tugend aufgestellt und, nachdem sie sie so gestaltet, kalt nachgewiesen haben, daß die menschliche Natur bar jeder Tugend sei. Mögen sie von dem Gespinst ihrer Phantasie reden und es nach Gefallen fahren lassen oder zerstören, da sie es ja geschaffen haben: aber die wahre Tugend, jene, die 74

sie mit diesem Namen nicht nennen wollen, weil sie mit ihrer Erklärung nicht übereinstimmt, und die ein Werk der Natur und nicht das ihre ist, und die vornehmlich in der Güte und Kraft der Seele besteht, diese Tugend ist von ihrer Phantasie durchaus nicht abhängig und wird bis in alle Ewigkeit in unverlöschlichen Schriftzügen fortbestehn. 297

Der Körper hat seine Anmut, der Geist seine Talente. Und das Herz sollte nur Laster haben? und der Mensch, der der Vernunft fähig ist, sollte der Tugend unfähig sein ? 298

Wir sind für Freundschaft, für Gerechtigkeit, für Menschlichkeit, für Mitgefühl und für Vernunft empfänglich. Oh, meine Freunde, was ist denn Tugend ? 299

Wenn der berühmte Verfasser der Maximen so gewesen wäre, wie er alle Menschen zu schildern versucht hat, verdiente er dann unsere Verehrung und den abgöttischen Kult seiner Jünger ? 300

Die meisten Bücher über Moral sind so unerfreulich und ihre Verfasser so unaufrichtig, weil sie 75

— einer des anderen schwaches Echo — ihre eigenen Grundsätze und geheimen Empfindungen nicht auszusprechen wagen. So verbringen nicht nur in der Moral, sondern auf jeglichem Gebiete fast alle Menschen ihr Leben damit, zu sagen und zu schreiben, was sie nicht denken; die aber, welche sich noch Liebe zur Wahrheit bewahrt haben, erregen gegen sich den Zorn und die Vorurteile des Publikums. 301

Kein Verstand ist fähig, ein Ding von allen Seiten zugleich zu betrachten, und daraus entspringt, so scheint es mir wenigstens, die häufigste Quelle der menschlichen Irrtümer. Während der größere Teil einer Nation in Armut, Schande und Frohn lebt, wird der andere Teil, welcher in Ehren, Bequemlichkeiten und Freuden schwelgt, nicht müde, die Macht der Politik zu bewundern, welche Handel und Künste blühen läßt und die Staaten furchtbar macht. 302

Die größten Werke des Menschengeistes sind sicherlich seine unvollkommensten. Die Gesetze, die schönste Erfindung der Vernunft, haben die Ruhe der Völker nicht sichern können, ohne ihre Freiheit zu vermindern.

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J°3 Wie groß ist doch bisweilen die Schwäche und der Mangel an Folgerichtigkeit bei den Menschen I Wir verwundern uns der Rauheit unserer Väter, welche nichtsdestoweniger im Volke, im größten Teile der Nation also, noch herrscht, und mißachten zu gleicher Zeit die schönen Wissenschaften und die Geisteskultur, den einzigen Vorzug, der uns vom Volke und von unseren Vorderen unterscheidet. 304

Vergnügungs- und Prunksucht tragen in den Herzen der Großen den Sieg über den Eigennutz davon. Unsere Leidenschaften stimmen sich gewöhnlich nach unseren Bedürfnissen. J°5 Das Volk und die Großen haben weder dieselben Tugenden noch dieselben Laster. 306

Unserem Herzen liegt es ob, die Rangordnung unserer Interessen zu bestimmen, unserer Vernunft, sie zu verfolgen. 307 Geistige Mittelmäßigkeit und Trägheit erzeugt mehr Philosophen als das Denken. 77

308

Niemand ist aus Überlegung ehrgeizig, noch lasterhaft aus geistigem Defekt. 309

Alle Menschen sind, was ihre Vorteile anbelangt, hellsichtig, und selten gelingt's, ihnen durch List die Augen zu trüben. Man hat die überlegene Klugheit des Hauses Österreich in allen Staatsverträgen bewundert, aber nur in der Zeit der ungeheuren Macht dieser Familie, nicht nachher. Die günstigsten Verträge entstehen nach dem Gesetz des Stärkeren. 310

Der Handel ist eine Schule des Betrugs. 311 Betrachtet man, wie's die Menschen treiben, fühlt man sich manchmal versucht, das menschliche Leben und die Geschäfte der Welt für ein ernsthaftes Spiel zu halten, in dem alle Listen erlaubt sind, um sich auf eigene Rechnung und Gefahr fremdes Gut anzueignen, für ein Spiel, in dem der Glücksvogel den Pechvogel oder den Minder-Gewitzten in allen Ehren ausplündern darf. 78

311 Ein großes Schauspiel fürwahr, zu sehn, wie die Menschen im geheimen darauf aus sind, sich gegenseitig zu schaden, und wie sie, wider Neigung und Absicht, einander dennoch helfen müssen. 313 W i r haben weder Kraft, noch Gelegenheit, all das Gute und all das Böse zu tun, das wir planen. 314 Unsere Taten sind weder so gut noch so lasterhaft, wie unsere Gedanken. 315 Sobald man Macht hat, Gutes zu tun, hat man auch Macht, zum Narren zu halten. Ein einziger Mensch füttert dann eine Unzahl anderer, die alle nur einzig darauf aus sind, ihm etwas vorzumachen, mit falschen Hoffnungen. Vorgesetzte haben es also leicht, ihre Untergebenen zu täuschen, Hilfsbedürftigen dagegen ist es sehr schwer gemacht, irgend jemanden zu hintergehn. Wer anderer bedarf, ruft allein dadurch schon Mißtrauen gegen sich wach: ein nichtsvermögender Mensch hat es gar schwer, irgend jemanden zu täuschen. 79

316

Unsere Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit in der Moral entspringt unserer Entschlossenheit, unseren Leidenschaften zu folgen, wie jene auch immer lauten möge: und deshalb zögern wir, trotz der Ungewißheit unserer Anschauungen, auch nicht, wenn es zum handeln kommt. Was schiert's mich, wo die Wahrheit steckt, sagen die Menschen, da ich weiß, wo das Vergnügen zu finden ist. 317 Die Menschen mißtrauen dem Brauch und dem Herkommen ihrer Vorfahren weniger als ihrer eigenen Vernunft. 318

Die Schwäche oder Stärke unseres Glaubens hängt mehr von unserem Mute als von unserer Erkenntnis ab. Alle, die sich über Weissagungen lustig machen, sind darum doch nicht stets klüger als jene, die an sie glauben. 319 Auch die Schlauesten sind leicht zu täuschen, wenn man ihnen Dinge anbietet, die ihren Verstand übersteigen, ihr Herz aber verlocken. 80

320 D a es natürlich ist, vieles ohne Beweis zu glauben, ist es auch natürlich, an anderem trotz der Beweise zu zweifeln. 321 W e r möchte sich des Aberglaubens alter Zeiten verwundern, wenn er bedenkt, daß noch heute, in dem philosophischsten aller Jahrhunderte, gar viele außerordentlich kluge Menschen nicht wagen würden, zu dreizehn bei Tische zu sein.

322 Alle Unerschrockenheit eines Ungläubigen, der stirbt, kann ihn dennoch vor einer gewissen Bangigkeit nicht schützen, wenn er die folgende Überlegung anstellt: Ich habe mich zu tausenden von Malen über meine handgreiflichsten Vorteile getäuscht, es könnte also sein, daß ich mich auch über die Religion im Irrtum befinde. Aber ich habe weder Kraft noch Zeit, das zu prüfen, denn ich sterbe . . .

323 D e r Glaube ist den Unglücklichen ein Trost und den Glücklichen ein Schrecken. 6 Vauyenargues

8l

324 Die kurze Dauer des Lebens kann uns weder seine Freuden verleiden — noch über seine Plagen trösten. 325 Die, welche die Vorurteile des Volkes bekämpfen, wähnen nicht Volk zu sein. Der Mensch, der in Rom eine Abhandlung gegen die heiligen Gänse veröffentlichte — hat sich vielleicht für einen großen Philosophen gehalten, während die wahren Philosophen seiner als eines Narren spotteten, der unnütz den Glauben des Volkes angriff. Cäsar aber, der wahrscheinlich an Wahrsager nicht glaubte, unterließ nicht, sich mit ihnen zu verbinden. 326

Wer ohne Parteilichkeit die Beweisgründe entgegengesetzter Sekten aufzeichnet, sich selber aber keiner anschließt, scheint sich in gewisser Hinsicht über alle Parteien zu erheben. Aber man fordere von solchen neutralen Philosophen, daß sie sich einer Meinung anschlößen oder selber eine aufstellten, und man wird sehen, daß sie nicht weniger befangen als alle anderen sind. Die Welt ist mit dürren Köpfen bevölkert, die sich, da sie selber zum Erfinden nicht befähigt sind, durch das Verwerfen aller Erfindun82

gen anderer darüber zu trösten und durch ihre zur Schau getragene Verachtung so vieler Dinge Achtung zu erwerben trachten. 327 Wer behauptet, die Welt sei alt geworden ? Ich glaube es ihm gern. Ehrgeiz, Ruhm, Liebe, mit einem Worte, alle Leidenschaften der ersten Zeitalter richten nicht mehr die gleiche Verwirrung und den gleichen Lärm an. Nicht etwa, daß diese Leidenschaften heute weniger heftig wären als ehedem: man mißbilligt sie nur und bekämpft sie. Ich meine also, daß die Welt einem Greise gleicht, der sich alle Gelüste der Jugend bewahrt hat, sich ihrer aber schämt und sie vor sich selber versteckt, sei es, weil er über den Wert vieler Dinge enttäuscht worden ist, oder weil er es scheinen möchte. 328 Die Menschen verbergen aus Schwäche und aus Furcht, verachtet zu werden, ihre liebsten, ihre beständigsten und bisweilen ihre tugendhaftesten Neigungen. 329 Die Kunst zu gefallen ist eine Kunst zu täuschen.

83

33° Wir sind zu unaufmerksam oder zu sehr mit uns selbst beschäftigt, um uns gegenseitig kennen zu lernen. Wer auf einem Balle einander unbekannte Masken zusammen tanzen und sich freundschaftlich bei der Hand halten gesehen hat, die sich im Augenblicke darauf trennten, um sich nie wiederzusehn, noch sich nacheinander zu sehnen — der kann sich eine Vorstellung von der Welt bilden. * * *

331 Die ersten Schriftsteller arbeiteten ohne Vorbilder und haben alles nur aus sich selber nehmen können, das macht ihre Werke ungleichmäßig: gemischt aus vollkommen göttlichem Genie und tausend schwachen Stellen. Alle, die nach ihnen von Erfolg begleitet gewesen sind, haben aus den Erfindungen dieser Werke geschöpft und sind dadurch gleichmäßiger geworden; niemand findet alles in seinem eigenen Inneren. 332 Wer selbständig zu denken und edle Gedanken zu haben vermag, benütze, wenn er es kann, geruhig Art und Wendung der Meister. Alle Schätze des Ausdrucks stehen mit Recht allen denen zu, die sie an die richtige Stelle zu setzen wissen. 84

333 Ebensowenig soll man eine alte Wahrheit zu wiederholen fürchten, wenn man sie durch eine bessere Fassung verständlicher zu machen, eine andere, sie erhellende Wahrheit mit ihr zu verknüpfen und eine Gedankenkette zu bilden vermag. Es ist das Eigentliche der Erfinder, die Verbundenheit der Dinge zu erfassen und sie in einen Bezug zueinander zu setzen, ja, die alten Entdeckungen gehören weniger denen, die sie machten, als denen, die sie nützlich zu machen wußten. 334

Man findet das Talent und die Lust zu Schriftstellern an einem Weltmanne lächerlich. Ich frage alle vernünftigen Menschen: was tun denn die, die nicht schreiben? 335

Man kann keine große Seele oder keinen einigermaßen scharfen Verstand ohne einige Leidenschaft für das Schrifttum haben. Die Wissenschaften sind der Erkenntnis, die Künste der Schilderung der Natur geweiht. Die Künste oder die Wissenschaften umspannen demnach alles, was es in den Gegenständen des Denkens an Edlem oder Nützlichem 85

gibt: so daß also für die, welche sich nicht mit ihnen befassen, nur 2urückbleibt, was des Geschildert- oder Gelehrtwerdens unwürdig ist. 336 Zwei Dinge soll man studieren: die Beredsamkeit und die Wahrheit; die Wahrheit, um der Beredsamkeit eine feste Grundlage zu geben und sein Leben weise zu leiten, die Beredsamkeit, um das Leben der anderen Menschen zu leiten und um die Wahrheit zu verteidigen. 337

Die meisten großen Angelegenheiten werden schriftlich geführt, es genügt also nicht, gut sprechen zu können: alle untergeordneten Dinge: Abmachungen, Vergnügungen und die Angelegenheiten des bürgerlichen Lebens erfordern, daß man zu sprechen wisse: schreiben können ist also wenig. Täglich ergibt sich die Notwendigkeit, diese beiden Arten der Beredsamkeit miteinander zu verbinden: aber niemand kann sie erwerben, wenn er nicht zu denken versteht, und man versteht es kaum, wenn man nicht feste und aus der Wahrheit gewonnene Grundsätze besitzt. Alles bestätigt unsere Maxime: Das Studium des Wahren zunächst — und dann erst Beredsamkeit. 86

338 Es ist ein mißlich Ding für eine Frau, kokett zu sein. Selten erweckt ein so geartetes Wesen große Leidenschaften — und nicht, wie man gemeinhin glaubt, weil solche Frauen leichtfertig sind, sondern weil niemand der Getäuschte sein will. Die Tugend läßt uns Falschheit verachten, und die Eigenliebe sie hassen. 339

Leidenschaften haben — ist das Stärke in den Menschen, oder Schwäche und Unzulänglichkeit ? Frei von Leidenschaften sein — ist das Größe oder geistige Mittelmäßigkeit? Oder ist alles gemischt aus Schwäche und Kraft, aus Größe und Kleinheit ? 340

Was ist zur Aufrechterhaltung einer Gesellschaft schwacher Menschen, die ihre Schwäche verbunden hat, notwendiger: Milde oder Strenge? Man muß beides anwenden! Das Gesetz sei streng und die Menschen nachsichtig. 341

Strenge in den Gesetzen bedeutet Menschlichkeit für die Völker, in den Menschen selber aber ist sie das Anzeichen eines engen und grausamen Geistes. Einzig Notwendigkeit kann sie entschuldigen.

87

342

Die Absicht, die Lebensbedingungen aller Menschen auszugleichen, ist stets ein schöner Traum gewesen, denn niemals vermöchten Gesetze, der Natur zum Trotz, die Menschen einander gleich zu machen. 343

Wenn einzig und allein gerecht geübte Herrschaft gesetzlich wäre — schuldeten wir schlechten Königen keine Unterwerfung. 344

Rechne selten auf die Achtung und das Vertrauen eines Menschen, der in all deine Angelegenheiten dringt, ohne dir nicht auch zugleich von den seinen zu sprechen. 345

Es ist ein offenkundiger Beweis unserer Unfähigkeit, wenn der Zufall so ganz allgemein und ausschließlich über alles bestimmt. Nichts ist in der Welt seltener, als echte Begabung und wahres Verdienst im Amt: das Geschick ist weit parteiischer als ungerecht. 346

Das Geheimnis, in das man seine Pläne hüllt, verrät bisweilen mehr Schwäche als Unverschwiegenheit tun würde, und schadet uns oft mehr. 88

347

Alle, die ein schändliches Gewerbe betreiben, wie Diebe und Dirnen, machen sich einen Ruhm aus ihren Verbrechen und erblicken in den ehrlichen Menschen nur Gimpel. Die meisten Menschen verachten im Grunde ihres Herzens die Tugend — wenige den Ruhm. 348

La Fontaine war, wie er selber sagt, überzeugt davon, daß der Apolog eine göttliche Kunst sei. Aber wahrhaft große Menschen haben wohl niemals ein Ergötzen darin gefunden, Fabeln zu drechseln. 349

Eine schlechte Vorrede verlängert ein schlechtes Buch beträchtlich; aber was gut gedacht ist, bleibt gut gedacht, und was gut geschrieben, bleibt gut geschrieben. 350 Kürzen soll man die mittelmäßigen Werke; an der Spitze eines guten Buches habe ich noch niemals eine langweilige Vorrede gefunden. 351 Jeder erkünstelte Stolz ist kindisch; gründet er sich auf vorgegebene Eigenschaften, ist er lächerlich, 89

und sind diese Eigenschaften nichtig, so ist er gemein: das Wesen des echten Stolzes besteht darin, stets am Platze zu sein. 35* Wir erwarten von einem Kranken nicht, er solle die Heiterkeit der Gesundheit und seine Körperkraft bewahren, ja, wir verwundern uns sogar, wenn er seine Vernunft bis zuletzt behält, und wenn er im Tode einige Festigkeit zeigt, sagen wir, er sei „nicht ganz natürlich" gestorben: so selten und schwer ist das also. Wenn es aber geschieht, daß ein anderer im Tode der Festigkeit ermangelt oder die Grundsätze seines Lebens widerruft, wenn er im schwächsten Zustande der Welt einige Schwäche verrät . . . Oh blinde Bosheit des Menschengeistes I Es gibt keine so offenbaren Widersprüche, die der Neid nicht häufte, um jemandem Abbruch zu tun. 353

Man ist weder zur Führung großer Angelegenheiten, noch zur Wissenschaft, Kunst oder Tugend berufen, wenn man diese Dinge nicht um ihrer selbst willen liebt: unabhängig von dem Ansehn, das sie verschaffen. Man würde ihnen nämlich unnütz obliegen, denn weder Verstand noch Ehrgeiz können Genie verleihn. 90

354

Die Weiber können nicht begreifen, daß Männer ihnen gegenüber unparteiisch sein könnten. 355

Einem Manne, der in der großen Welt lebt, ist es nicht freigestellt, ob er sich mit Weibern einlassen will oder nicht. 356 Die Vorzüge der Jugend mögen noch so groß sein, ein junger Mann ist den Weibern nicht früher -willkommen, als bis sie einen Gecken aus ihm gemacht haben. 357

Es ist ergötzlich, daß man den Weibern aus der Scham ein Gesetz gemacht hat, — ihnen, die an den Männern nichts so sehr schätzen wie Unverschämtheit. 35«

Man kann eine Frau und einen mittelmäßigen Schriftsteller niemals so sehr loben, wie sie selber es tun. 359

Eine Frau, die sich gut zu kleiden glaubt, sagt ein Schriftsteller, denkt nicht daran, daß ihr Putz eines Tages ebenso lächerlich sein wird, wie die Haar91

tracht der Katharina von Medici. Alle Moden, von denen wir eingenommen sind, werden vielleicht früher altern als wir selber . . . auch der „gute Ton". 360

Weniges wissen wir gut. 361 Wenn man nicht schreibt, weil man denkt, ist es unnütz, zum Schreiben überhaupt zu denken. 362

Was man nur für andere gedacht hat, ist gewöhnlich wenig natürlich. 363

Klarheit ist die Ehrlichkeit der Philosophen, 364

Deutlichkeit der Schmuck der Meister. 365 Deutlichkeit erspart Längen und dient den Gedanken zum Beweise. 366

Das Treffende eines Ausdruckes offenbart sich darin, daß man ihm auch in Zweideutigkeiten nur einen Sinn beilegen kann. 92

367

Die großen Philosophen sind Genies der Vernunft. 368

Um zu erkennen, ob ein Gedanke neu ist, muß man ihn nur recht einfach ausdrücken. 369

Es gibt wenig gleiche, aber viele einander ähnliche Gedanken. 37°

Wenn ein guter Kopf die Nützlichkeit eines Gedankens nicht zu erkennen vermag, ist er aller Wahrscheinlichkeit nach irrig. 371 W i r erfahren bisweilen großes Lob, lange ehe wir vernünftiges verdient haben. 372 Die Glut der Morgenröte ist nicht so herrlich wie die ersten Strahlen der Ruhmessonne. 373

Schlecht erworbener Ruf schlägt leicht in Verachtung um. 93

374 Hoffnung ist das nützlichste oder das verderblichste aller Güter. 375

Schicksalstücke schafft viel Schuldige und Unbesonnene. 376 In Schwachen ist die Vernunft fast machtlos. 377

Mut ist Sonne im Unglück. 378 Der Irrtum ist die Nacht des Geistes und der Fallstrick der Unschuld. 379

Wenn Halb-Philosophen den Irrtum preisen, werden sie wider ihren Willen zu Anwälten der Wahrheit. 380

Welch leichtfertige Vermessenheit, behaupten zu wollen, man habe nicht genug Illusionen, um glücklich zu sein. 381

Wer sich allen Ernstes Illusionen wünschen sollte, könnte deren weit über seine Wünsche hinaus erhalten. 94

382

Die Staatskörper haben ihre unvermeidlichen Mängel wie die verschiedenen Lebensalter I Und wer anderes könnte das Greisenalter vor Gebrechlichkeit bewahren, als der Tod ? 383 Weisheit ist für Schwache ein Tyrann. 384 Leutselige Blicke 2ieren das Antlitz der Könige. 385 Maßlosigkeit vergrößert Tugend und Laster. 386 Der Friede macht die Völker glücklicher und die Männer schwächer. 387 Der erste Seufzer der Jugend gilt der Freiheit. 388 Freiheit und Schwäche sind unvereinbar. 389 Stumpfheit ist Schlummer des Geistes. 95

39°

Die heißesten Leidenschaften sind die, deren Gegenstand am nächsten ist — wie im Spiel und in der Liebe. 391

Wenn Schönheit die Augen beherrscht, beherrscht sie wahrscheinlich auch noch etwas anderes. 392

Nicht alle Untertanen der Schönheit kennen ihre Herrin. 393

Wenn die Schwächen der Liebe verzeihlich sind, so sind sie's vornehmlich an den Frauen, welche durch Liebe herrschen. 394

Unsere Unmäßigkeit singt das Lob der Vergnügungen. 395

Beständigkeit ist das Trugbild der Liebe. 396

Schlichte und tugendhafte Männer vereinigen Zartheit mit Redlichkeit bis in ihre Vergnügungen hinein.

96

397

Wer nicht mehr dazu angetan ist, den Frauen zu gefallen und es weiß, entwöhnt sich ihrer. 398

Die ersten Frühlingstage sind nicht so lieblich wie die keimende Tugend eines jungen Mannes. 399

Die Nützlichkeit der Tugend ist so offenbar, daß die Bösen sie aus Eigennutz üben. 400

Nichts ist so nützlich wie guter Ruf und nichts verschafft ihn so sicher, als wahres Verdienst. 401

Ruhm ist ein Prüfstein der Tugend. 402

Allzu große Sparsamkeit macht Menschen eher zu Narren als Verschwendung. 403

Die Freigebigkeit des Bedürftigen wird Verschwendung genannt. 7

Vauvenargties

97

4°4

Verschwendung erniedrigt nur, wen sie nicht verherrlicht. 405

Die Dummen wundern sich, daß ein talentvoller Mensch — was seinen Vorteil anbelangt — nicht ein Tölpel ist. 406

Freigebigkeit und Liebe zu den Wissenschaften ruinieren niemanden, aber die Sklaven des Reichtums halten die Tugend stets für überzahlt. 407

Wenn man Altertümer nicht liebt, schlägt man eine Denkmünze nicht hoch an: ebenso messen die, welche für Verdienst kein Gefühl haben, den allergrößten Gaben kaum Wert bei. 408

Der große Vorteil der Begabung offenbart sich darin, daß Glück ohne Verdienst fast unnütz ist. 409

Man versucht sein Glück gewöhnlich mit Gaben zu machen, die man nicht hat. 98

410

Es ist besser, seinem Stande untreu zu werden, als seinem Genius. Man müßte ein Narr sein, wollte man um den Preis eines großen Schicksales und Ruhmes einen mittelmäßigen Zustand aufrechterhalten. 411 Ohne Geist ist jedes Laster schädlich. 412 Ich habe geforscht, ob es nicht ein Mittel gäbe, sein Glück ohne Verdienst zu machen — ich habe keines gefunden. 413 Je weniger man sein Glück sich verdienen will, desto größere Mühe muß man sich geben, es zu machen. 414 In der guten Gesellschaft nehmen auch die Schöngeister einen Platz ein, aber den letzten. 415 Die Dummen benutzen die Klugen, wie kleine Menschen hohe Absätze tragen. 416 Uber manche Menschen schweigt man besser, als daß man sie nach ihrem Verdienste lobte. 7*

99

4*7 Neidische soll man nicht zufrieden zu stellen suchen. 418

Habsucht wird nicht durch Reichtum gestillt, Unmäßigkeit nicht durch Lust, Trägheit nicht durch Muße, Ehrgeiz nicht durch Gelingen — aber wenn selbst Tugend und Ruhm uns nicht glücklich machen können, ist dann das, was man Glück nennt, noch unseres Strebens wert ? 419

Sich durch seine Fehler gedemütigt zu fühlen, verrät mehr Schwäche als Verstand, ja, es ist die Quelle aller Schwäche. 420

Die Verachtung unserer Natur ist ein Irrtum unseres Verstandes. 421

Ein wenig Kaffee nach der Mahlzeit bewirkt, daß man sich hochschätzt, und so genügt auch manchmal ein kleiner Scherz, um eine große Anmaßung niederzuschlagen. 422

Man zwingt junge Leute, sich ihres Vermögens so zu bedienen, als ob es fest stünde, daß sie alt werden würden. 100

423

In dem Maße, in dem das Alter die Bedürfnisse der Natur vermehrt, mindert es die der Phantasie. 424

Alle Welt maßt sich über einen Kranken Rechte an, Priester, Ärzte, Bediente, Fremde, Freunde, ja, bis herab zu seiner Wärterin glaubt jedermann ihn beherrschen zu dürfen. 425 Wenn man alt wird, gilt es, sich bereit zu machen. 426

Geiz kündigt Altersverfall und beschleunigte Flucht der Freuden an. 427 Geiz ist die letzte und unerbittlichste unserer Leidenschaften. 428

Niemand kann begründeteren Anspruch auf hohe Stellungen erheben, als wer die notwendigen Gaben besitzt. 429

Die größten Minister wurden stets fern von allen Ministerien geboren. 101

430 Die Kunst der Pläne besteht darin, den Schwierigkeiten der Ausführung im voraus zu begegnen. 43i Zaghaftigkeit bei der Ausführung läßt kühne Unternehmungen mißlingen. 43z Der größte aller Entschlüsse besteht darin, einen Entschluß zu fassen. 433 Man verspricht Viel, um nicht wenigstens Etwas geben zu müssen. 434 Eigennutz und Trägheit vernichten die manchmal aufrichtigen Verheißungen der Eitelkeit. 435 Man muß nicht allzu große Angst davor haben, betrogen zu werden. 436

Geduld erreicht bisweilen von den Menschen, was sie niemals zu gewähren beabsichtigten. Gelegenheit kann sogar die ärgsten Schelme zwingen, falsche Versprechen zu erfüllen. 102

437

Geschenke aus Berechnung sind lästig. 438

Selbst wenn es möglich wäre, zu geben, ohne einzubüßen, würden sich noch unzugängliche Menschen finden. 439 Der verstockte Lästerer spricht zu Gott: Warum hast du Unglückliche erschaffen ? 440

Die Geizigen machen sich gewöhnlich aus nicht allzuviel etwas. 441

Der Wahn derer, die Erfolg haben, besteht darin, sich für gescheit zu halten. 442

Spott ist eine Prüfung der Eigenliebe. 443 Heiterkeit ist die Mutter aller Einfälle. 444 Sentenzen sind die Einfälle der Philosophen. 103

445

Schwerfällige Menschen sind eigensinnig. 446

Unsere Gedanken sind unvollkommener als die Sprache. 447

Die Sprache und der Verstand haben Grenzen: die Wahrheit ist unerschöpflich. 448

Die Natur hat dem Menschen verschiedene Talente gegeben, der eine wird geboren, um zu erfinden, der andere, um zu verschönern: aber der Vergolder zieht die Blicke mehr auf sich als der Baumeister. 449

Ein wenig gesunder Menschenverstand macht gar viel Geist zunichte. 450

Geistreichigkeit lebt stets auf Kosten der Vernunft. 451 Ohne Genauigkeit ist man desto unvernünftiger je mehr Geist man hat. 452 Der Geist will beschäftigt sein: ein Grund, viel zu sprechen und wenig zu denken. 104

453

Wenn man sich selber nicht zu unterhalten und zu belustigen versteht, will man — andere unterhalten und belustigen. 454

Man wird wenige Faulenzer finden, denen ihr Nichtstun nicht beschwerlich fiele: wo man in ein Kaffeehaus tritt, wird Domino gespielt. 455

Die Faulen haben stets Lust, etwas zu tun. 456

Die Vernunft soll die Tugend nicht regeln, sondern ergänzen. 457

W i r urteilen allzu unbeteiligt über das Leben, wenn wir es zu verlassen gezwungen sind. 458

Sokrates wußte weniger als Bayle: es gibt wenig nützliche Wissenschaft. 459

Bedienen wir uns ruhig falscher Gründe, um uns in unseren guten Vorsätzen zu bestärken. ioj

460

Die am leichtesten zu befolgenden Ratschläge sind die nützlichsten. 461 Raten, heißt den Menschen ihnen selbst unbekannte Gründe zum Handeln angeben. 462 Es heißt ungerecht sein, wenn man von anderen verlangt, sie möchten für uns tun, was sie für sich selber nicht tun wollen. 463 Wir mißtrauen dem Tun der besten Köpfe, aber niemals unseren Ratschlägen. 464 Kann das Alter ein Recht geben, die Vernunft beherrschen zu wollen ? 465 Wir glauben das Recht zu haben, einen Menschen auf seine Kosten glücklich zu machen, aber wir wollen nicht, daß er selber es hat. 466 Wenn ein Mensch oft krank ist und, nachdem er eine Kirsche gegessen, am folgenden Morgen erkältet xo6

wäre, würde man nicht verfehlen, ihm zu seinem Tröste zu sagen, es sei seine eigene Schuld 1 467

E s herrscht mehr Strenge als Gerechtigkeit. 468

Man sollte uns wenigstens die Fehler verzeihen, die ohne unser Mißgeschick keine Fehler wären. 469

Man ist gegen seine Feinde nicht stets ebenso ungerecht wie gegen seine Nächsten. 470

Man kann ziemlich schlecht von einem Menschen denken und doch wahrhaft sein Freund sein, denn wir sind nicht so zart besaitet, daß wir nur die Vollkommenheit lieben könnten: es gibt gar viele Laster, die uns gefallen, selbst an anderen. 471 D e r Haß der Schwachen ist nicht so gefährlich wie ihre Freundschadft. 47*

I n der Freundschaft, in der Ehe, in der Liebe, in jeder wie auch immer gearteten Verbindung wollen 107

wir gewinnen, und da die Verbindung von Freunden, Liebenden, Verwandten, Brüdern usw. dauernder, enger und lebhafter ist als alle anderen, muß man sich nicht wundern, darin auch mehr Undankbarkeit und Unbilligkeit anzutreffen. 473

Haß ist nicht weniger unbeständig als Freundschaft. 474 Mitleid ist weniger zärtlich als Liebe. 475

Am besten weiß man die Dinge, die man nicht gelernt hat. 476

Aus Mangel an außergewöhnlichen Dingen haben wir es gern, wenn man uns den Glauben an solche zumutet, die wenigstens außergewöhnlich scheinen. 477

Der Verstand enthüllt die Schlichtheiten der Empfindung, um sich alle Ehre davon anzumaßen. 478

Man wendet einen Gedanken wie einen Rock, um ihn öfter tragen zu können. 108

479

Wir fühlen uns geschmeichelt, wenn man als ein Mysterium hinstellt, was uns zu denken ganz natürlich war. 480

Man liebt die Philosophen nicht allzusehr, weil sie uns zu wenig von den Dingen sprechen, die wir wissen. 481

Faulheit und Furcht, sich bloßzustellen, haben Ehrlichkeit in den wissenschaftlichen Streit gebracht. 482

Hohe Ämter entbinden manchmal von der geringsten Begabung. 483

Das Verdienst, nach hohen Ämtern nicht zu gieren, mag noch so groß sein, ein größeres liegt vielleicht dennoch darin, sie gut auszufüllen. 484

Wenn große Gedanken uns täuschen, belustigen sie uns. 485 Es gibt keinen Strophendrechsler, der sicfi nicht höher schätzte als Bossuet, den einfachen Prosa109

schreibet, denn es liegt in der Ordnung der Natur, daß niemand so verfehlt denkt, wie ein verfehltes Genie. 486

E i n Verseschmied erkennt über seine Schriften an: Verse macht, versteht man man welche, ist man sein

keinen berufenen Richter wenn man selber keine nichts davon, und macht Nebenbuhler.

487

E r glaubt auch die Sprache der Götter zu sprechen, da er die der Menschen nicht spricht — er ist wie ein schlechter Schauspieler, der, wie man spricht, nicht zu deklamieren versteht. 488

Ein anderer Fehler schlechter Dichtkunst besteht darin, die Prosa in die Länge zu ziehn, während gute die Eigenschaft hat, sie abzukürzen. 489

Jedermann denkt von einem Prosawerke: wollte ich mir Mühe geben, würd' ich's besser machen. Habt doch nur erst einmal einen Gedanken, der des Niederschreibens überhaupt wert wäre 1 110

49°

Alles, was wir in der Moral für Unvollkommenheit halten, ist keine. 491

Wir gewahren viel Laster, um wenig Tugenden zuzugeben. 492

Der Geist ist begrenzt bis hinein in den Irrtum — den man für sein eigenstes Reich hält. 495

Die Selbstsucht einer einzigen, oft unglücklichen Leidenschaft hält bisweilen alle anderen gefangen, und die Vernunft trägt ihre Ketten, ohne sie zerreißen zu können. 494

Es gibt, wenn man es auszusprechen wagen darf, Schwachheiten, die von unserer Natur untrennbar sind. 495

Wenn man das Leben liebt, fürchtet man den Tod. 496

Ruhmesliebe und Stumpfsinn verbergen den Tod, ohne ihn zu besiegen. in

497 . Das höchste Ziel des Mutes ist Unerschrockenheit im Angesicht des Todes. 498 Adel ist ein Tugenddenkmal, unsterblich wie der Ruhm. 499 Wenn wir die Gedanken herbeirufen, fliehen sie uns, und wenn wir sie verjagen wollen, bestürmen sie uns und halten wider unseren Willen unsere Augen in der Nacht offen. 500 Allzuviel Zerstreuung und allzuviel Studium erschöpfen gleicherweise den Verstand und bringen Dürre über ihn: kühne Einfälle jeglicher Art bieten sich niemals einem überspannten und ermüdeten Geiste. 501 Wie es flüchtige Seelen gibt, welche abwechselnd von allen Leidenschaften beherrscht werden, so findet man auch lebhafte Köpfe ohne feste Grundlage, welche nacheinander von allen Meinungen mitgerissen werden, oder die entgegengesetztesten annehmen, ohne eine Entscheidung zu wagen. 112

502

D i e Helden Corneilles äußern prunkende Grundsätze und sprechen herrlich von sich selber, und diese Aufgeblasenheit ihrer Reden gilt für Tugend unter denen, welche kein Maß in ihrem eigenen Herzen haben, um Seelengröße von Prahlerei zu unterscheiden. 5°3

Nicht mit dem Verstände erkennt man die Tugend. 504

Kein Mensch hat Geist genug, um niemals langweilig zu sein. 505

Auch die reizvollste Unterhaltung ermüdet das Ohr eines Menschen, der in irgendeiner Leidenschaft befangen ist. 506 Die Leidenschaften trennen uns bisweilen von der menschlichen Gesellschaft und machen allen Geist, der auf der Welt ist, ebenso unnütz für uns, wie wir selber unnütz für die Vergnügungen der Menschen geworden sind. 5°7

Die Welt ist voll von Menschen, die auf andere durch ihren Ruf oder ihr Geschick großen Eindruck 8

Vauvenargues

113

machen, lassen sie uns aber allzusehr in ihre Nähe, so geht man oft mit einem Schlage von der Bewunderung zur Geringschätzung über, wie man bisweilen in einem Augenblick von einer Frau geheilt wird, die man heiß begehrt hatte. 508 Wenn man nur Geist hat, gefällt man noch lange nicht. 509 Aller Verstand kann uns vor den Torheiten unseres Gemüts nicht bewahren. 510 Verzweiflung ist der größte all unserer Irrtümer. 5" Die Unabwendbarkeit des Todes ist unser bitterster Kummer. 512 Wer würde an seinem Schicksal verzweifeln, wenn das Leben kein Ende hätte. Der Tod vergrößert alles Mißgeschick. 513 Wie wenig nütze sind doch die besten Ratschläge, wenn sogar unsere eigene Erfahrung uns so selten belehrt! 114

Ji4 Die Ratschläge, die man für die weisesten hält, sind unserer Lage stets am unangemessensten. 515 Wir haben Gesetze für die Bühne, welche vielleicht die Kraft des menschlichen Geistes übersteigen und auch von den glücklichsten Begabungen nur halb erfüllt werden können. 516

Wenn ein Stück geschrieben wurde, um gespielt zu werden, ist es ungerecht, darüber zu urteilen, wenn man es nur gelesen hat. 517 Nur aus Mangel an Geistesschärfe vermögen wir so wenige Dinge in Übereinstimmung zu bringen. 518

Wir möchten das Menschengeschlecht all seiner Tugenden entkleiden, um unsere eigenen Laster zu rechtfertigen und sie an die Stelle der vernichteten Tugenden zu setzen: gleich jenen, die sich wider die gesetzliche Macht empören, nicht um durch Freiheit die Menschen einander gleich zu machen, sondern um dieselbe Macht an sich zu reißen, die sie vorher schmähten. 8*

5*9

Ein wenig Bildung und gutes Gedächtnis mit einiger Kühnheit in den Ansichten und gegen die Vorurteile erwecken den Anschein eines überlegenen Geistes. 520 Man soll verehrte Anschauungen nicht lächerlich machen, denn man verletzt dadurch nur ihre Anhänger, ohne sie zu überzeugen. 521 Der treffendste Witz überzeugt nicht, so sehr ist man gewohnt, daß er sich stets auf falsche Grundsätze stützt. 522 Der Unglauben hat ebenso seine begeisterten Anhänger wie der Aberglauben: und wie man Frömmler trifft, die Cromwell sogar den gesunden Menschenverstand absprechen, so findet man andere Menschen, welche von Pascal und Bossuet wie von kleinen Geistern sprechen. 523 Der weiseste und der tapferste aller Menschen, Turenne, hat die Religion verehrt — und unzählige be116

langlose Menschen rechnen sich den Genies und den starken Seelen bei, einzig weil sie sie verachten. 5M S o erblicken wir in unseren Schwächen und närrischen Irrtümern Grund zur Eitelkeit. Gestehen wir es ein: Vernunft schafft Philosophen, Ruhm Helden, aber einzig die Tugend Weise. 525 Wenn wir etwas zu unserer Belehrung oder Herzenserleichterung niedergeschrieben haben, so werden unsere Gedanken aller Wahrscheinlichkeit nach auch noch für viele andere von Nutzen sein: denn niemand ist in seiner Art einzig — und wir selber sind niemals so wahr, so lebhaft und so gefühlvoll, wie wenn wir die Dinge um unserer selbst willen betrachten. 526 Wenn unser Herz voller Gefühl ist, sind unsere Reden voller Reiz. 527 Das Falsche — mit Kunst dargestellt — überrascht und blendet, aber das Wahre überzeugt und beherrscht. I:

7

528

Genie kann man nicht nachahmen. 529

Zum Kochen eines Huhns gehört nicht viel Nachdenken, und doch finden wir Menschen, die ihr ganzes Leben lang schlechte Köche bleiben werden: so notwendig ist es für jeglichen Beruf, daß man durch einen besonderen Trieb — unabhängig vom Verstände — dazu berufen sei. 530

Wenn die Gedanken sich mehren, mehren sich Irrtümer und Kenntnisse in gleichem Verhältnis. 531 Die, welche nach uns kommen, werden vielleicht mehr sein als wir, und werden sich für klüger halten, aber werden sie auch glücklicher und weiser sein? Wir selber, die wir so viel wissen, sind wir etwa besser als unsere Väter, die so wenig wußten? 532 Wir sind derart mit uns und unseresgleichen beschäftigt, daß wir allem übrigen, obgleich es rings um uns und unter unseren Augen lebt, nicht die geringste Beachtung schenken. 118

533

Über wie wenige Dinge urteilen wir richtig I 534

W i r haben nicht genug Eigenliebe, um die Geringschätzung anderer zu verachten. 535

Niemand tadelt uns so streng, wie wir uns oft selber verurteilen. 536 Liebe ist nicht so verletzlich wie Eigenliebe. 537

W i r schreiben uns gewöhnlich unser Mißlingen und unser Gelingen zu und tadeln oder loben uns für die Launen des Schicksals. 538 Niemand kann sich rühmen, niemals verachtet worden zu sein. 539

Unsere Geschicklichkeiten und Mißgriffe haben noch lange nicht alle ihre Wirkung: wenige Dinge hängen von unserem Handeln allein ab. 119

54° Wie viele Tugenden und Laster bleiben nicht ohne Folgen! 541 Wir sind nicht damit zufrieden, geschickt zu sein, "wenn es nicht auch bemerkt wird: und um dieses Ruhmes nicht verlustig zu gehen, büßen wir oft die Früchte unserer Geschicklichkeit ein.

542 Eide Menschen können nicht schlau und geschickt sein, denn sie haben nicht die Kraft, zu schweigen.

543

O f t ist es für einen Unterhändler von großem Nutzen, wenn er den Glauben erwecken kann, er kenne die Vorteile seines Herrn nicht und werde nur von seinem eigenen Gefühl beraten: er vermeidet dadurch, durchschaut zu werden, und zwingt die, welche zum Ende kommen wollen, ihre Ansprüche herabzusetzen. Die Geschicktesten halten sich nämlich für gezwungen, einem Menschen nachzugeben, der selbst der Vernunft widersteht und ihren Händen stets entschlüpft. 120

544

Der ganze Gewinst, den man durch das Einsetzen mancher Menschen in hohe Ämter hat erzielen können, beschränkte sich auf die Feststellung, ob sie geschickt seien oder nicht. 545

Es gehört nicht soviel dazu, geschickt zu sein, als geschickt zu scheinen. 546

Nichts ist Menschen in Ämtern leichter, als sich das Wissen anderer anzueignen. 547

Vielleicht ist es in hohen Ämtern nützlicher, die Kunst und den Willen zu besitzen, sich unterrichteter Männer zu bedienen, als selber unterrichtet zu sein. 548

Großer Sinn weiß viel. 549

Die Liebe, die man zu großen Angelegenheiten hegt, mag noch so stark sein: nichts ist so langweilig und so ermüdend zu lesen wie ein Vertrag zwischen Fürsten. 121

55°

Es ist das innerste Wesen des Friedens, ewig zu sein, und dennoch sehen wir keinen ein Menschenalter lang dauern und kaum eine Regierung vergehn, unter der er nicht zu verschiedenen Malen hätte erneuert werden müssen. Aber kann man sich wundern, daß Wesen, die der Gesetze bedürfen, um recht zu handeln, auch fähig sind, sie zu vergewaltigen ?

551 Die Politik tut zwischen den Fürsten, was der Gerichtshof zwischen Privatleuten vollbringt. Viele gegen einen Mächtigen verbündete Schwache zwingen ihm die Notwendigkeit auf, seinen Ehrgeiz und seine Gewalttaten zu mäßigen.

552 Für die Griechen und die Römer war es leichter, große Völker zu unterjochen, als es heute leicht ist, eine kleine, gerecht eroberte Provinz zu behalten inmitten so vieler eifersüchtiger Nachbarn und Völker, welche in Staatskunst und Kriegswesen gleich unterrichtet und durch ihren Nutzen und durch die Künste oder den Handel ebenso eng miteinander verbunden wie durch ihre Grenzen getrennt sind. 12z

553

Voltaire sieht Europa nur als eine große, aus verschiedenen Herrschaften gebildete Republik an. So verkleinert ein umfassender Geist scheinbar die Dinge, indem er sie in eine sie auf ihre richtige Bedeutung zurückführende Gesamtheit einbegreift; in Wirklichkeit aber vergrößert er sie, indem er ihre Beziehungen aufdeckt und aus so vielen ungleichen Teilen ein einziges und herrliches Gebilde schafft. 554

Es ist eine nützliche, aber beschränkte Politik, sich immer im Gegenwärtigen zu begrenzen und das Gewisse dem Unsicheren vorzuziehen, selbst wenn es weniger günstig ist — aber nicht auf diese Weise erheben sich die Staaten, ja, nicht einmal die Einzelnen. 555

Die Menschen sind geborene Feinde untereinander, nicht weil sie sich hassen, sondern weil sie nichts erreichen können, ohne sich gegenseitig ins Gehege zu kommen, so daß sie unter strengster Beobachtung aller Höflichkeiten (der Gesetze des stummen Krieges, den sie gegeneinander führen), sich dennoch stets — ich wage es zu sagen —: höchst ungerecht gegenseitig der Ungerechtigkeit zeihen. 123

556

Die Privatleute unterhandeln, schließen Bündnisse, Verträge, Pakte ab, machen Krieg und Frieden, mit einem Wort vermögen alles, was die Könige und mächtigsten Völker der Erde tun können. 557

Aller Welt gleichmäßig Gutes nachsagen, ist eine kleine und schlechte Politik.

Bosheit ersetzt Geist.

558

559

Selbstüberhebung entschädigt für Herzensmangel. 560

Wer sich selber betrügt, betrügt andere. 561 Da die Natur die Menschen einander an Wert nicht gleich gemacht hat, konnte und durfte sie, so scheint's, es auch nicht durch das Schicksal tun. 562

Hoffnung schafft mehr Betrogene als Schlauheit. 124

56J D e r Ehrgeizige muß mehr Beleidigungen einstecken als ein Feigling. 564 Wenn man sein Glück gemacht hat, fehlt's einem niemals an Gründen, einen Wohltäter oder einen alten Freund zu vergessen, und man erinnert sich dann mit Unwillen alles dessen, was man so lange von ihren Launen hatte ertragen müssen. 565 Wie eine Wohltat auch beschaffen sein mag, hat man sie einmal angenommen, muß man sich — es koste, was es wolle — für sie erkenntlich zeigen, wie man auch einen schlechten Handel einhält, wenn man einmal sein Wort gegeben hat. 566

E s gibt keinen Schimpf, den man nicht verzeiht — wenn man sich gerächt hat. 567 Eine Schande, die man einmal ertragen hat, vergißt man so leicht, daß man sich durch diesen Mangel an Scham fast mit neuer bedeckt. 125

568

Wenn es wahr ist, daß unsere Freuden kurz sind, so sind unsere Leiden nicht lang. 569

Die größte Kraft des Geistes tröstet uns weniger schnell als seine Schwäche. 57° Keinen Verlust fühlt man so heftig und so kurze Zeit wie den Verlust einer geliebten Frau. 571 Wenig Trauernde wissen sich so lange zu verstellen, wie es für ihre Ehre notwendig wäre. 572 Unsere Trostworte sind Schmeicheleien für die Leidtragenden. 573

Wenn die Menschen einander nicht schmeichelten, würden sie es kaum zusammen aushalten. 574

Es hängt nur von uns ab, den religiösen Freimut unserer Vorfahren zu bewundern, die uns gelehrt 126

haben, uns für eine Lüge zu erdrosseln; eine derartige Verehrung der Wahrheit unter Barbaren, die nur die Gesetze der Natur kannten, ist ein Ruhm für die Menschheit. 575

Wir ertragen wenig Beleidigungen aus Güte. 576 Wir reden uns oft unsere eigenen Lügen ein, um uns nicht Lügen strafen zu müssen, und täuschen uns selbst, um andere zu täuschen. 577

Die Wahrheit ist die Sonne des Geistes. 578 Während ein Teil der Nation das höchste Maß an Bildung und gutem Geschmack erreicht, bleibt die andere Hälfte in unseren Augen barbarisch, ohne daß dieses so seltsame Schauspiel uns unsere Geringschätzung der Geisteskultur benehmen könnte. 579

Alles, was unserer Eitelkeit am meisten schmeichelt, gründet sich auf die Kultur, die wir mißachten. 127

580 Die Erfahrung, die wir von den Grenzen unserer Vernunft haben, macht uns für Prophezeiungen empfänglich und öffnet unseren Geist dem Argwohn und den Gespenstern der Furcht.

581

Ebenso wie es natürlich ist, viele Dinge ohne Beweis zu glauben, ist es auch nicht weniger natürlich, an anderen trotz der Beweise zu zweifeln.

582

Die Überzeugung des Geistes zieht nicht immer die des Herzens nach sich.

58j Die Menschen verstehen einander nur nicht: es gibt weniger Narren, als man glaubt.

584

Sobald man seinen Ansichten über Religion und das Elend der Menschen freie Bahn gibt, trägt man keine Bedenken, sich unter die höheren Geister zu rechnen. 128

5«5

Ängstliche und aus den geringsten Anlässen zitternde Menschen tun so, als ob sie den Tod nicht fürchteten. 586

Wenn schon die geringsten Gefahren in Geschäften uns leere Schrecken einjagen, in welch eine Aufregung muß uns dann nicht der Tod versetzen, in dem es für ewig um unser ganzes Wesen geht, und nicht mehr in unsere Macht gegeben ist, den einzigsten uns noch bleibenden Vorteil zu leiten, und oft nicht einmal, ihn zu kennen. 587 Newton, Pascal, Bossuet, Racine, Fenelon, das heißt die erleuchtetsten Männer der Erde in dem philosophischsten aller Jahrhunderte, haben in der Vollkraft ihres Geistes und ihres Lebens an Jesum Christum geglaubt, und der große Conde wiederholte sterbend die edlen Worte: „Ja, wir werden Gott erblicken wie er ist, sicuti est, facie ad faciem." 588

Krankheiten heben für ihre Dauer unsere Tugenden und unsere Laster auf. 129

589 Stille und Nachdenken verzehrt die Leidenschaften, wie Arbeit und Fasten die Launen bricht. 590

Einsamkeit ist für den Geist, was Diät für den Körper ist. 59* Tätige Menschen leiden unter Langerweile mehr als unter Arbeit. 592

Jede wahre Schilderung entzückt uns, sogar wenn sie andere lobt. 593 Beredsamkeit ist mehr wert als Wissen. 594 Wer den Menschen verachtet, ist kein großer Mensch.

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DIE MAXIMEN DES HERZOGS VON LA ROCHEFOUCAULD Übersetzt von Ernst Hardt 2. Auflage. 151 Seiten. 1938. In Leinen RM. 3.20 Fortunat

Strowski

VOM WESEN DES FRANZÖSISCHEN GEISTES La Sagesse

Française

Übersetzt von Hans Hennecke. 210 Seiten. 1937. In Leinen RM. 4.80 Max Bense

VOM WESEN DEUTSCHER D E N K E R oder z w i s c h e n K r i t i k und I m p e r a t i v 204 Seiten. 1937. In Leinen RM. 4.80 Charles

Seignobos

GESCHICHTE DER F R A N Z Ö S I S C H E N N A T I O N 359 Seiten. In Leinen RM. 9.50

R. O L D E N B O U R G • M Ü N C H E N 1 U N D

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BERLIN

W e r k e v o n Ernst Hardt: Gesammelte Erzählungen, 10. Tausend An den Toten des Lebens (Novelle), 125. Tausend Aus den Tagen des Knaben (Gedichte), vergriffen Tote Zeit, Drama, 4. Tausend Der Kampf, Schauspiel, 4. Tausend Ninon von Lenclos, Drama, 28. Tausend Tantris der Narr, Drama, 54. Tausend Gudrun, Drama, 35. Tausend Schirin und Gertraude, ein Scherzspiel, 6. Tausend König Salomo, Drama, 3. Tausend Brief an einen Deutschen ins Feld, 10. Tausend, vergriffen Joseph Kainz, vergriffen

Übersetzungen: Kipling: Puck vom Bocksberg Flaubert : Drei Erzählungen Zola: Thérèse Raquin Doktor Pascal Rousseau: Bekenntnisse Voltaire: Erzählungen La Rochefoucauld: Maximen Taine: Philosophie der Kunst, 2 Bd. Reise in Italien, 2. Bd. Aufzeichnungen über England Balzac: Geschichte der Dreizehn Claudel: Vom Wesen der holländischen Malerei

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