Zukunftspädagogik: Berichte und Kritiken, Betrachtungen und Vorschläge [3. Aufl. Reprint 2018] 9783111729404, 9783111127064

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Zukunftspädagogik: Berichte und Kritiken, Betrachtungen und Vorschläge [3. Aufl. Reprint 2018]
 9783111729404, 9783111127064

Table of contents :
Vorwort
Vorwort des Verfassers zu der zweiten Auflage
Inhaltsübersicht
Einleitung
Erster Teil. Berichte und Kritiken
Zweiter Teil. Betrachtungen und Vorschläge
Anmerkungen

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Zukunftspädagogik.

Zukunftspädagogrk Berichte und Kritiken, Betrachtungen und Vorschläge. von

Dr. Wilhelm Münch, weiland Geb. Regierungsrat und Professor an der Universität Berlin.

Dritte, mit der zweiten gleichlautende Auflage.

Mit einem Vorwort

Adolf Matthias.

Berlin. Z>mcf und Verlag von Georg Reimer.

1913.

Alle Rechte vorbehalten.

Vorwort. ^rTNer Plan der Reimerschen Verlagsbuchhandlung Münchs ZukunstsPädagogik in einer unveränderten wohlfeilen Auflage dm weitesten Kreisen zugänglich zu machen, halte ich für sehr glücklich, und ich habe dem Inhaber Herrn Dr. de Gruyter dringend zugeraten, es zu tun. Münch lebt nicht mehr unter uns, sein unmittelbares Wirken gehört der Vergangmheit an, aber der Reichtum seiner Ideen ist Zukunstsgut. Die Saat, die er gesät, ist wert, an vielen Stellen zum Wachstum und zur Reife zu gelangen. Münch wollte ja in seiner Zukunstspädagogik kein von heute auf morgen ausführbares Programm aufstellen; er wollte vielmehr die Gedanken, die sich in dm Schriften der gelesensten Reformpädagogen seiner Zeit fanden, durchforschen und die Spreu von dem Weizen sondern, das 'Wertvolle aus dem Minderwertigen oder gänzlich Wertlosen scheiden und es der Schulmännerwelt und allen Freunden feiner Bildung zum Besten unserer Jugmderziehung vorlegen. Als Suchmder durchschreitet er das große Feld der Erziehungs» aufgaben der Gegenwart, als Sämann geht er, wo er fruchtbaren und versprechmden Samen gefunden, weiter durch das erzieherische Gefilde und streut seinen Samen aus, den die Zukunft segnen soll; Berichte und Kritiken, Betrachtungen und Vorschläge gibt er, im ersten Teile an der Hand zahlreicher Reformschristen im weitesten Sinne, im zweiten Teile aus dem reichen Schatze eigener Erfahrungen und eigenm Sinnens und Grübelns, das ihm in der füllen Werkstatt seines Schaffms so schön lag; das wissen ja alle die, die einmal dort bei ihm gesessen und an seinen unablässig wanderndm Gedankm sich erquicken dursten. Münch hat sich ja in anderen Büchern — so besonders in den „Anmerkungen zum Text des Lebens"r) — als ein Meister aphoristischer Kunst gezeigt und als solcher Stellung genommen zu allem, was der Tag und seine Strömungm brachte. Ein gleicher Meister ist er auch in seiner Zukunstspädagogik, nur daß hier die geistvollen Aphorismen nicht !) Berlin, Weidmannsche Buchhandlung 1904.

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Vorwort.

für sich dastehen, sondern als köstliches Rankenwerk das Ganze durch­ schlingen. Was Münch mit seinem Buche will, missen wir ja. Er hatte die Absicht, die Angriffe auf unser bestehendes Unterrichts« und Erziehungs­ wesen zu prüfen und zurückzuweisen, wo sie unberechtigt und zerstörend radikal sind, dagegen zum Bestm der Erziehung auszunutzen, wo sie von innerer Berechtigung und von idealem Geiste getragen werden; dabei hält er es nicht für das Höchste, die Starrheit des Felsms inmitten brandender Wogen zu bewahren, sondern auch in vorgerückten Jahren ein Werdender oder doch immer noch Erkennender zu sein im Gegensatz zu jenen nicht beneidenswerten Gestalten, die seit dem Tage des Gymnastalabiturientmexamms fertig im Urteil und in ihrem Wissensschatze dastehen. Ws Werdender und Erkennender steht er dankbar da und stattet seinen Dank dadurch ab, daß er die Jugend und jeden auch noch so alt Gewordenen an seinem Werdm und Erkennen teilnehmm läßt. Möchten viele ihm folgen und von ihm genießen! Der Wunsch leitet mich, wenn ich dem Dahingeschiedenen ein Vorwort widme. Wir können vieles hebm aus dem Schatze, der in diesem Buche liegt. Vor allem die schöne Kunst, niemals, auch wo man ein gewiffes Recht dazu hätte, aus Zorn wegwerfend zu urteilen. Wie sein — um nur ein Beispiel zu netmen — erkennt Münch bei Ellen Key die Glau« bmsfrmde an, die ein Mann so leicht und so kräftig nicht 6efernten würde, wie denn die Frauen — so sehr sie zurzeit die geistige Eigenart des Geschlechts abtun möchtm, die Vorzüge samt dm Schranken — dennoch auch nach ihrem geistigen Leben innerhalb ihrer Natur zu bleiben pflegen: unbedingter in Ablehnung und Hingabe, unzugänglich allem Zweifel auf dem Standpunkte, wohin sie etwa durch jähm Zweifel gelangt sind, unmutig über jedes Bedmken gegenüber einem beglückmdm neuen Glauben, bitter hassend da, wo sie glühend sich begeistern, maßlos ver­ achtend, wenn sie gläubig bewundern. Münch findet es schwer, sich mit Fraum dieses Gepräges und auch mit dm männlichen Reformern ähnlichen Schlages, die an diese Fraum erinnern in unserm weiblich kritischm — ich möchte nicht sagen kritikasternden—Jahrhundert, zu verständigen, well Ruhe und Maß diesen Wesen zu fern liegt, die bei höchster Schärfe des Blicks und reifster Entwicklung des Geistes doch von der Natur oder der Stimmung des Kindes zuviel bewahrt haben, auch den leidenschaftlichen Trotz, der Kindern so leicht eigen ist. Aber trotzdem findet er sich mit diesen ab mit feiner Gerech­ tigkeit, ohne auch nur mit einem Ton in die frauenhafte Leidenschaftlichkeit seiner Gegner beiderlei Geschlechts zu verfallen. Münch kennt und be­ herzigt eben von seiner Religionslehrerzeit her zu sehr den alten Bibel­ spruch : „Laß dich nicht das Böse überwinden, sondern überwinde du das

Vorwort.

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Böse mit dem Guten." Er kennt auch den ganzen psychologischen Ha­ bitus unserer Zeit und der nach Reformen planlos schreienden Zeitge­ noffen, die immer nur die eine Seite von einer Sache sehen, die, weil sie auf ihr Temperament sehr stolz sind, eine Art von moralischen Passepartout auf krasses Hinmalen zu haben glauben, die allen leidenschaftlichen, aber auch allen beschränktm Menschen eigen ist. Münch bleibt ruhig diesen Eigenschaften gegenüber. Er erkmnt an, daß das Kulturleben der Gegenwart, auch unser nationales Kulturleben, des Unechten, Verfehltm, Verdorbmen ungeheuer viel aufweist, und daß, wer die Schäden unerbittlich mit Namen nennt, Gutes tut. Aber er steht anderseits unverrückbar auf dem Standpunkte, daß, wer über das Ziel hinausschießt, wer schlechtweg Absolutes als das Notwendige setzt, wer in allem Mangelhaften eine schwere Krankheit sieht und dem gleich­ zeitig positiv Wertvollen kein anerkennendes Wort gönnt, sich in Gefahr begibt, gänzlich wirkungslos zu bleiben. Von solchem Geiste getragene Betrachtungen und Kritiken zu lesen tut wohl, und deshalb ist es gut und nützlich, daß Münchs Zukunstspädagogik noch einmal ins Land geht. Wer auch aus anderen Gründen gebe ich dem Buche einen Reisesegen. Münch ist kein Kirchturmspädagoge. Er ist ein Weltmann; er hat einen weiten Horizont; und diesm haben viele Gebildete unserer Zeit und unter diesen auch zahlreiche Schulmänner und Reformer eben nicht. Nicht nur bei den heimischen Reformpädagogen kehrt deshalb Münch ein, auch bei dm Franzosen und Amerikanern hätt er Umschau. Und wmn wir uns mehr oder weniger scharfe Worte habm sagm lassen muffen von Landsleuten, die das eigme Nest nicht säuberlich behandeln, dann führt uns Münch zu geistvollm Männern wie Gustave Le Bon und läßt uns unser deutsches Erziehungswesm in dem Lichte sehm, in wel­ chem der geistvolle Ausländer es geschaut ganz im Gegensatz zu unsern wetten Landsleuten, die sich gegenwättig über deffm Grundverkehttheit öffmtlich vor aller Welt jämmerlich auftegm. Und wenn auch dieser Franzose unsere deutschen Verhältnisse überschätzt, so ganz Unrecht hat er nicht, und er muß uns doch vor übereilter Selbstver­ dammung schützen. Liegt in dieser Wiedergabe fremdländischer Anerkmnung unserer Zu­ stände schon eine Erweiterung unseres Blickes, so ist diese noch mehr zu gewinnen, wenn wir John Dewey, den Nordamettkaner, mit seinem pädagogischm Suchen und Versuchen und seinem Glauben an den Wett und Er­ folg neuer Ideen kennen lernen, die besonders da hervottreten, wo die Schulerziehung unter große soziale, die Selbständigkeit und Selbsttätigkeit der Jugend fördemde Gesichtspunkte gestellt wird.

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Vorwort.

Kurz, der Gang durch die Reformliteratur der Gegenwart, wie Münch ihn wandelt, ist ungemein belehrend und anregend. Und nun erst der zweite Teil! Ich kann hier auf das Inhaltsverzeichnis verweisen, möchte dazu aber ein Wichtiges bemerken. Münch steht hier nicht hüben oder drüben als Realist oder Humanist und ereifert sich nicht unnötigerweise über die Zukunft des sogmannten Hu­ manismus, wie kurzsichtige Männer, besonders auch in unserm phrasenreichm Abgeordnetenhause, es tun. Er sieht tiefer und gräbt tiefer. Er weiß, daß der ganze Kampf der Gegmwart zum Hintergründe oder, besser gesagt, zum Untergründe und zur Triebkraft die Wandlung des Bildungsideales hat, das nicht realistisch oder humanistisch sein, sondern ein Trittes, ein Neues bilden wird, um das der Geist der deutschen Gegmwart ringt, damit die Zukunft ruhiger genießen und ihrer Bildung sich gefesteter freum kann, wenn sie aus sich heraus ein volles und schönes Ideal der persönlichen Bildung geboren hat, wie es das deutsche Geistesleben zur Zeit Goethes, Schillers und Humboldts so beglückend verkörperte. Mit dieser Sehnsucht nach harmonischer Ausbildung der Kräfte deutscher Art und deutschen Geistes, die er unserer Jugend wünscht, ist Münch doch eigmtlich aus dem Lebm geschieden; von dieser Sehnsucht und von dem Glaubm an ihre Erfüllung ist seine Zukunftspädagogik erfüllt; er hat wie Moses nur einen Blick ins gelobte Land getan, er hat sein Buch uns hinterlassen wie einen Wanderstab, der uns, ich meine uns Erziehern, alt und jung, eine Stütze sein kann zur weiterm Wanderung durch die Wüste der Gegenwart, die dm Kleingläubigen endlos erscheint. Der aber, der nicht zu diesen zählt, der nicht zur Unterwürfigkeit unter die Sorgen der Gegenwart neigt, sondem mit Frei« und Frohsinn auf alle kleinmü­ tigen Philistematuren blickt, denkt im Sinne Münchs an den Spmch aus dem Buch des Sängers: Laßt mich nur auf meinem Sattel gelten, Bleibt in euren Hüttm, euren Zeltm; Und ich reite froh in alle Feme, über meiner Mütze nur die ©tetne!

A. Matthias.

Vorwort des Verfassers $u der zwrttrn Auflage. •tslAemt der Inhalt der früheren Ausgabe vorliegenden Buches gegen« wärtig so sehr erweitert und verändert ist, daß vielmehr eine Um­ arbeitung vorliegt als eine einfache zweite Auflage, so habe ich doch auf manche, in dm Zusammenhang mit hineingehörige Betrachtungm verzichtet, weil ich dieselben teils in der Zwischenzeit, teils auch schon früher in andern Schriften niedergelegt habe und Anstand nehmen mußte, sie auch nur in gekürzter Form zu wiederholen. Und so sei es mir gestattet, hier wenigstens auf die Titel derjenigen meiner Arbeiten hinzuweisen, in welchm eine Ergänzung der gegmwärtigm Ausführungen zu finden wäre; ich tue dies in dem Gedanken, meine schriftstellerische Betätigung aus dem ganzen in Betracht kommmden Gebiet mit der diesmaligen Darbie­ tung abzuschließen. Einzelne bestimmtere Hinweise werden sich noch in den Anmerkungen dieses Bandes finden. In Betracht also käme namentlich aus neuer Zeit die Schrift „Eltern, Lehrer und Schulen in der Gegenwart" (Berlin 1906, Alexander Tuncker), aus früherer: „Neue pädagogische Beiträge", und zwar darin 1. „An der Schwelle des Lehramts", 2. „Soll und Habm der höheren Schulen" (Berlin 1893, Gärtner-Weidmann), „Zeiterscheinungen und Unterrichts­ fragen" (ebmda 1895), „Geist des Lehramts. Eine Einführung in die Berufsaufgabe der Lehrer an höheren Schulen" (Berlin, 2. Ausl. 1905, Georg Reimer); außerdem verschiedenes aus drei Sammelbänden, nämlich 1. „Vermischte Aufsätze über Unterrichtsziele und Unterrichtskunst" (Berlin, 2. Ausl. 1896, Gärtner-Weidmann): daraus besonders „Einige Fragen des evangelischen Religionsunterrichts", und „Die Pflege des mündlichen Ausdrucks an unsern höheren Schulen"; 2. „über Menschenart und Ju­ gendbildung" (ebmda 1900): daraus besonders „Ästhetische und ethische Bildung in der Gegenwart", „Posie und Erziehung", „Schule und soziale Gesinnung", „Das akademische Studium und das pädagogische Interesse", Münch, Zukunstspädagogik. 3. Ausl.

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Vorwort.

„Einige Gedanken über die Zukunft unseres höheren Schulwesens"; 3. „Aus Welt und Schule" (ebenda 1904): daraus besonders „Die Rolle der Anschauung im Kulturleben der Gegenwart", „Die Erziehung zum Urteil", „Beredsamkeit und Schule", „Sprechm ftemder Sprachen". Auf speziellere methodische Arbeiten zu verweisen, habe ich an dieser Stelle keinen Grund oder kein Recht. Berlin, dm 23. Februar 1908.

w. m.

Inhaltsübersicht Vorwort ................................................................................................................ Einleitung............................................................................................................

Erster Teil.

Berichte und Kritiken.

Entstehen der kritischen Stimmung........................................................ Hugo Göring, Die neue deutsche Schule.............................................. Paul Güßfeldt, Die Erziehung der deutschen Jugend...................... Hermann Lietz, Emlohstobba.................................................................... Edouard Demolins, L’Education Nouvelle.......................................... Paul Lacombe, Esquisse d’un Enseignement etc............................... Pierre de Coubertin, Notes sur PEducation publique...................... Gustave Le Bon, Psychologie de l’Education.................................... Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes............................................ Heinrich Pudor, Die neue Erziehung................................................... Ferdinand Schmidt, Jugenderziehung im Jugendstil........................ Ludwig Gurlitt, Der Deutsche und sein Vaterland.......................... derselbe. Der Deutsche und seine Schule.............................................. derselbe, Erziehung zur Mannhaftigkeit................................................ Artur Bonus, Vom Kulturwert der deutschen Schule...................... Paul Förster, Deutsche Bildung, deutscher Glaube, deutsche Erziehung John Dewey, The School and Society................................................ Aus Schriften von Julius Baumann, Fritz Schultze, Theobald Ziegler, Rudolf Lehmann.................................................................... 19. Aus Schriften von Paul Natorp, August Döring, Paul Bergemann, Wilhelm Rein, E. von Sallwürk..................................................... 20. Georg Kerschensteiner, Staatsbürgerliche Erziehung der deutschen Jugend, und: Grundfragen der Schulorganisation...................... 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18.

Zweiter Teil. 1. 2. 3. 4. 5. 6.

ständig fortgebildet hat; und große Fordemngen für die rechte künftige Gestaltung aller Erziehung flechten sich auch hier in die theoretische Darlegung ein. Neben dem großen Werke „Pädagogik in systematischer Darstellung" und andem Schriften gibt davon auch die knappe Zusammenfassung Zeugnis, die in der Sammlung Göschen (1900) erschienen ist. Schön ist daselbst als treibende Kraft für alle Hingebung an die erzieherischen Aufgaben der Gedanke an eine all­ mähliche Beseelung der Gesellschaft bezeichnet; und daß es möglich sei, eine Erziehungsform zu finden, die wahrhaft der Menschheit angemessen sei, ein System hinzustellen, das in sich widerspruchslos alle guten und edlen Menschen aller Völker anzuziehen und mit nachhaltiger Begeisterung zu erfüllen vermöge, ist des Verfassers Zuversicht. Tie Fordemng eines für alle Kinder der Nation gemeinsamen Unterbaus der gesamten Schulerziehung wie die eines längeren Verweilens bei der Muttersprache vor dem Beginn fremder Sprachen, ebenso die eines durch alle Stufen auch des höheren Unterrichts durchzuführenden Kunst- und Zeichenunterrichts, weiter die Fordemng der Abschaffung der Reife­ prüfung sind, wie wir ihnen schon mehrfach begegneten, auch bei diesem Auwr anzutreffen. Namentlich aber ist hier erwähnenswert der Wunsch der Organisa­ tion lokaler Schulgemeinden, d. h. solcher Familienverbände, deren Glieder

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Erster Teil. Berichte und Kritiken.

sich zu einem und demselben Erziehungsziel bekennen und die dann zu Kreisund Provinzialschulgemeinden erweitert werden sollen. Entsprechend dieser Organisation wäre denn die Gliedemng der Schulbehörden einzurichten. Für das Erziehungswesen wäre eine ähnliche Selbständigkeit zu erstreben wie für Militär-, Kirchen- oder Justizwesen. Dabei müßte in jeder Instanz neben dem ausführenden Amt eine repräsentierende Versammlung bestehen und so über dem einfachen Schulvorstand sich die Kreisschulsynode, die Provinzialschul­ synode, die Landesschulsynode erheben. Tie von Natorp vertretene Idee der Nachbarschaftsgilden ist also erheblich überboten. Daß die Staatsgewalt als be­ stimmende sehr zurücktrete, ist dabei wesenllicher Wunsch. Der Staat sollte nur pädagogische Aufsichtsorgane einrichten, die den Schulvorständen helfend und unterstützend zur Seite zu stehen hätten. (Das ergäbe denn ein ähnliches Verhältnis, wie es in England mit seinem Board of Education und ähnlich auch in den Vereinigten Staaten besteht; welche Klagen nun sich in diesen Ländem zu erheben pflegen, sei hier nicht verfolgt.) Auch den Vertretern der Kirchen verbliebe nur das Recht des Besuchs der Religionstunden, ohne irgendwelche Vollmacht der Reguliemng oder des unmittelbaren Einspruchs. Unterlassen wir nicht, auch in der Keinen Schrift „Prinzipien und Me­ thoden der Erziehung", in welcher E. von Sallwürk (Leipzig 1906, bei Dürr) seine Stellung zu den pädagogischen Gmndfragen zusammengefaßt hat, die Punkte aufzusuchen, in denen Zukunftsforderungen von allgemeiner Be­ deutung enthalten sind. Indem der Verfasser für die Entwicklung des Men­ schensprößlings das Toppelziel der Ergreifung der äußeren Welt und des Auf­ baus einer inneren Welt (oder der Bildung einer Weltanschauung) aufstellt und zunächst bei dem ersteren Teil dieses Zieles verweilt, tadelt er es, daß bei unseren jetzigen Einrichtungen die wichtige Arbeit, die das junge Kind in selbsttätiger Ergreifung der Welt verrichte, zu früh abgebrochen werde. Den Gesichtskreis der sechsjährigen Kinder verengere man, statt ihn zu erweitem, indem man sie sofort mit Büchem umgebe. Es müsse für die ersten Schuljahre eine echte Heimatkunde gefunden werden, eine Einführung in die natürliche Heimat des Kindes, die auch seine geistige und sittliche sei, anstatt der Abbilder, wie sie die Bücher bieten; vor allem nicht jene herausgerissenen Bruchstücke, die der erste Lese- und Schreibunterricht zu bieten pflege! Dieser halte vielmehr die geistige und sittliche Entwicklung des Kindes auf. Der Unterricht dürfe sich auch nicht in Fächer zersplittem; er müsse einheitlich bleiben, weil er sonst an Stelle der inneren Einheit des kindlichen Wesens Zerstreuung setze, die an keinem Ort ein rechtes Interesse aufkommen lasse. Aus der Heimatkunde sollen später Natur­ kunde, Erdkunde und die ersten ethischen Belehmngen herauswachsen, letztere durch Bilder des gesellschaftlichen und sittlichen Lebens. Aber auch wenn der erste heimatkundliche Stammunterricht schon in Äste und Zweige sich gespalten

Georg Kerschensteiner, Staatsbürgerliche Erziehung usw.

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habe, soll der Zögling der Welt der Dinge noch näher bleiben als üblich ist. Ties gilt besonders für den naturkundlichen Unterricht. „Man muß die Natur mit Händen greifen, mit ihr umgehen, wenn man sie begreifen will." Jener Pwtest gegen die verfrühte Spaltung des bildenden Unterrichtsstoffs in selbständige Fächer wird denjenigen namentlich interessieren, der auch noch für die weiter folgenden Stufen des Unterrichts das Nebeneinander vieler wissenschaftlicher Einzelgebiete möglichst gemieden oder vielmehr überwunden sehen möchte. Auch in der Erörterung des Weges zum zweiten seiner Gesamtziele gibt v. Sallwürk interessante Winke. Nicht bloß die Verwebung der Gewinnung von Erkennmis mit mannigfachem Handeln kommt hier zur Sprache, sondem auch geradezu Erkenntnisbildung als Handeln. Doch diese theoretischen Gmndfragen als solche weiter zu verfolgen, gehört nicht in den Rahmen unseres Buches *).

20. Wenn wir in den beiden letzten Abschnitten Vertretem der philosophisch­ pädagogischen Wissenschaft an einer Reihe deutscher Universitäten oder anderer Hochschulen *) das Wort geliehen haben, so sei nun noch eines Autors gedacht, dessen schriftstellerische Tätigkeit nur neben seiner bedeutungsvollen organisa­ torischen hergeht, ihr den Boden bereitet oder sie erläutert. Handelt es sich dabei für ihn nicht um das uns eigentlich oder doch zumeist angehende höhere Schul­ wesen, so ist sein praktisches Hauptgebiet doch (namentlich in der von ihm ver­ tretenen Auffassung) nicht bloß sehr wichtig, sondern auch sehr interessant, und übrigens erstrecken sich seine Betrachtungen doch allmählich auf alle Schulund Erziehungssphären. Georg Kerschen st einer, jetzt Stadtschulrat in München, veröffentlichte 1901 eine gekrönte Preisschrift „Staatsbürgerliche Erziehung der deutschen Jugend" (Erfurt, Villaret), aus deren vielumfassendem Inhalt für den Zweck unseres Umblicks folgende Gedanken herausgehoben seien. Es ist im deutschen Lande während des neunzehnten Jahrhunderts „Bil­ dung" an sich das Feldgeschrei gewesen. Darüber aber hat man eine ziel­ bewußte Erziehung der weiteren Volkskreise zu staatsbürgerlichem Werte ver­ säumt. Wohl ist das Bewußsein, daß die vorhandene Volksschulbildung allein nicht ausreiche, seit den sechziger Jahren des Jahrhunderts bei den Regierenden erwacht, und man hat die öffentlichen Fortbildungsschulen zu verallgemeinem und zu heben getrachtet, aber obligawrisch sind dieselben nur in einigen wenigen deutschen Staaten gemacht worden. Und was die allmählich hinzugekommene Bewegung für die Beschaffung von Volksspielplätzen, von Lehrlingshorten, von Volkshochschulvereinen, Unterhaltungsabenden usw. betrifft, alle die Be­ strebungen auf Veredelung des Genußbedürfnisses beim Volke, so kann man, so schön und wertvoll diese Seite der Volkserziehung auch ist, doch eine große

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Erster Teil. Berichte und Kritiken.

erzieherische Gesamtwirkung davon nicht erkennen. Bedauerlich bleibt auch, wie in allen den Bestrebungen der letzten zehn Jahre die bäuerliche Bevölkemng fast leer ausgegangen ist. Die allgemeine Volksschule kann ein bescheidenes Maß von Erziehungseinfluß ausüben. Aber die geistige Reife der Schüler beim Abschluß des Schulbesuchs ist noch viel zu gering. Kommt nicht die Enllassung aus dem Schulverband für zahlreiche junge Menschen einem völligen (Anstellen aller systematischen Erziehung überhaupt gleich? Und zwar in dem Wer, wo bei dem erst in seinen Anfängen vorhandenen sitllichen Charakter die zerstörende Kraft des freien, unkontrollierten Lebens am verhängnisvollsten wirken kann! Die Erweiterung der Lehrstoffe kann bei ungenügender Schulpflichtdauer wenig Wert haben. Die Söhne der ohnehin besser erziehenden Familien behalten wir bis zum Mer von 18, 19 Jahren in der Schule, die überwiegende Mehrzahl der im späteren Leben gleichberechtigten Bürger geben wir noch im Zustande des Kindes schutzlos den Gefahren des öffentlichen Lebens preis. Es bedarf in der Tat für den Staat einer gwßen, weitausschauenden Erziehungspolitik. Wenn noch Treitschke größere Schichten der Bevölkerung bewußt auf einer niederen Stufe der Ausbildung und im Dienste der mechanischen Arbeit erhalten wissen wollte, damit die Hochgebildeten mit um so größerer Muße schaffen könnten zum Wohle des Vaterlandes, so stand er damit im Gegensatze zu den gwßen Ethikem des neunzehnten Jahrhunderts, die die Wohlfahrt des Staates in einem inneren Ausbau erblicken, der jedem ohne Ausnahme gestatte, seine geistigen Kräfte so weit als möglich zu entfalten. Das letzte Ziel aller Er­ ziehung ist eine menschliche Gesellschaft, die soweit als möglich aus selb­ ständigen, wohlentwickelten, sittlich freien Personen besteht. Welches nun ist das tatsächliche Unterrichtsbedürfnis für die aus der Volksschule entlassenen jungen Leute? An die Spitze müssen wir die Erziehung zu bemflicher Tüchtigkeit stellen. Wer sie verbindet sich durchaus mit den Gmndlagen höherer sittlicher Bildung, als welche Fleiß, Beharrlichkeit, Selbst­ überwindung, Gewissenhaftigkeit, Hingabe an ein tätiges Leben zu betrachten sind. Ms zweites Ziel, damit persönliche Tüchtigkeit entstehe, kommt dann hinzu: Erziehung zu einer vernünftigen hygienischen Lebensfühmng (und damit auch zur Wehrhaftigkeit). Bei den gegenwärtigen Fortbildungsschulen und Fachschulen und Lehrwerkstätten fällt der Mangel jeglicher Unterweisung in staatsbürgerlichen und hygienischen Fragen auf. Noch kein Gesetzgeber in Deutschland hat an eine Ausnutzung dieser Einrichtungen im Sinne unseres Zieles gedacht. Mrgends ist der Versuch gemacht, wenigstens nebenbei einen Unterricht einzuführen, um den Blick des Zöglings systematisch auch auf all­ gemeine Interessen zu lenken. Indessen tun wir llug, uns zunächst an den (in dieser Lebenszeit zweifellos stärkeren) Egoismus zu wenden und diejenigen Dinge ihm vor allem zu bieten, von denen der junge Mann sich eine Erhöhung

Georg Kerschenstein er, Staatsbürgerliche Erziehung usw.

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seiner künftigen Lebensverhältnisse verspricht. Auch liegen die Interessen des aus der Volksschule Tretenden zunächst gar nicht in der Richtung der all­ gemeinen Bildung, sondem in der Richtung seines speziellen Berufs. Aus der rechten Eingliederung in den Bemfskreis sind denn auch lebenskräftige Keime eines Gemeinschaftsgefühls zu erhoffen. Wir geben dem Zögling etwas sehr Gutes mit, wenn wir ihm die steigende Einsicht in den Wert guter Arbeit vermitteln, die Stärkung des Bewußtseins der Arbeitspflicht und vor allem die Zurückdämmung des Strebens nach übertriebenem arbeitsfeind­ lichem Genuß durch die erwachende Arbeitsfreudigkeit. Diese Arbeitsfreudig­ keit ist aber eine ziemlich regelmäßige Begleiterscheinung der Arbeitstüchtig­ keit. Und indem jenem egoistischen Interesse Rechnung getragen wird, soll doch allmählich in ungezwungener Weise auf das Gebiet der allgemeinen Staats­ interessen hinübergeblickt und hinübergeführt werden. So empfiehlt sich denn ein Unterrichtsplan wie etwa der folgende. Man baue an die Volksschulen Fortbildungsschulen an nach den ver­ schiedenen größeren oder kleineren Berufsgruppen, zunächst mit praktisch gewerblichem Unterricht je nach der Bemfsgruppe, also Zeichnen, Model­ lieren, Waren- und Wertzeugkunde, womöglich auch wirklichem Werkstattunterricht. Dazu komme dann theoretisch gewerblicher Unterricht, in Verbindung mit einer Schülerbibliothek und der Lesung guter deutscher Schriften. Dazu ferner staatsbürgerlicher Unterricht, Bürgerkunde, Lebenskunde und Gesund­ heitslehre. Anzuschließen ist aber auch Geschichte des Handwerk, mit besonderer Berücksichtigung wieder desjenigen Gewerbes, dem die Schüler angehören. Die Geschichte hat immer etwas Fesselndes für die Jugend, und eine an charakteristischen Persönlichkeiten reiche Vergangenheit fehlt den meisten Ge­ werben nicht. Von hier aus kann man aber nicht nur. zu einer allgemeineren Geschichte der Industrie sich hinüberbewegen, sondem es lassen sich zwanglos auch wirkungsvolle Momente aus der allgemeinen Geschichte des Vaterlandes oder Bilder von charaktervollen Persönlichkeiten einverweben, und allgemein Kulturgeschichtliches mag ebenso an die Waren- und Werkzeugkunde oder bei landwirkschastlichen Fortbildungsschulen an den Getreidebau angeschlossen werden. Rätlich wäre es wohl, für diesen ganzen Fortblldungskursus von vomherein zwei Stufen ins Auge zu fassen, eine etwa bis zum 17. Jahre, die der Lehrlings­ zeit entspräche und für welche der Unterrichtszwang vorherrschen müßte, und dann eine weitere von fakultativem Charakter. Es ist die jahrhundertelange Vemachlässigung der wirtschaftlichen Erziehung des Volkes nach dem volksschulpflichtigen Mer, welche im Verein mit dem harten Lebenskämpfe viel Egoismus, Kurzsichtigkeit, geistige Armut beim Hand­ werker und Landmann großgezogen hat.

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Erster Teil. Berichte und Kritiken.

Wenn man sicherlich diese Vorschläge in ihrer Originalität als trefflich anerkennen muß und sich freuen darf, daß zu ihrer Verwirklichung die Gelegen­ heiten allmählich geschaffen werden, so mögen uns von unserem besonderen Gesichtspunkt aus doch noch wichtiger die Ausführungen eines neueren Buches von Kerschen st einer erscheinen: „Grundfragen der Schulorganisation. Eine Sammlung von Reden und Aufsätzen" (Leipzig 1907, Teubner). Der Frage des der Volksschule anzuschließenden „Fortbildungsunterrichts" hat der Verfasser weiter nachgedacht, wie er auch bedeutungsvolle praktische Versuche hat machen dürfen; und der Aufsatz „Zwischen Schule und Waffendienst" bietet wiedemm sehr schätzbare Gedanken. Am wesentlichsten ist, daß auch dieser Schicht der deutschen Jugend gesunde und erfreuliche Bildungsmittel und Bildungsgelegenheiten von mancherlei Art zuteil werden sollen, daß z. B. auch dort freie Vereinigungen zu körperlichen Übungen, zu Sanitätszwecken und zur Feuerwehr, zur Lektüre guter Bücher usw. anzuregen sind. Dann aber wird in einem Aufsatze von allgemeinerer Bedeutung „Bemfs- oder all­ gemeine Bildung?" des der jungen Menschenwelt beizubringenden „gleich­ schwebenden Interesses" gespottet; aber gespottet auch des unproduktiven „Anschauungsunterrichts" an Silbern von allerlei Art, ebenso der Überschätzung eines möglichst rasch allseitig reagierenden Gedächtnisses. Me wenig ist von allem dem Schulwissen des Vierzehnjährigen nach wenig Jahren noch übrig, noch nachweisbar? Die Lehrer verrichten da eine Danaidenarbeit. Über­ haupt führt der Weg zum idealen Menschen nur durch den brauchbaren Men­ schen. Tie Bemfsblldung steht an der Pforte der Menschenbildung. Nur durch wirlliches Handeln entwickelt sich Stärke und Geschlossenheit des sitüichen Charakters. Tie große Zahl der Ideen, die uns von außen her zufliegen, hat nicht die erwartete bildende Kraft. Eines grüMich selbst erarbeitet zu haben, ist das eigentlich Wertvolle, Bildende. Die Pflege der Selbsttätigkeit muß in allen Schulen in ganz anderer Weise als bisher zur Geltung kommen. Es soll z. B., wie jede Lehrstunde eine Sprechstunde, so jedes Sachgebiet ein Zeichen­ gebiet sein *). Nicht etwa in einem beschränkten Sinne soll dem Begriff der Bemfserziehung das Wort geredet werden. Die bloß mechanisch-technische Brauchbarkeit eines Zöglings kann nimmermehr das Ziel sein. Den Menschen in seiner Arbeit untergehen zu lassen, bedeutet eine schwere Verschuldung. Aber der Handwerker wie der Bauer, der Künstler, der Gelehrte, sie alle kommen zu wahrer menschlicher Höhe nur durch selbsttätiges Schaffen an ganz bestimm­ ten Aufgaben. Wie zwischen bloß überliefertem und selbsterrungenem Mssen, so wird zwischen mechanischem und Werte schaffendem Können (in einem weiteren Aufsatze) sehr bestimmt unterschieden. Das Erfahrungswissen ist es, das den Menschen zugleich bescheiden macht und ihm treibende Kraft gibt. Ein wesent­ lich auf Buchwissen eingerichteter Schulbetrieb liefert für die Charakterbildung

Georg Kerschensteiner, Grundfragen der Schulorganisation.

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keine befriedigenden Ergebnisse. Daß dabei die Kinder mit wesentlich produk­ tiver Begabung „unter die Räder" kommen, wird auch hier ausgesprochen. Interessant ist die Stellung K.s gegenüber den „Kunsterziehungstagen". Er sieht hier Begeistemng ohne Klarheit. Die Menge lauscht den neuen Schlagwörtern. Eine plötzliche radikale Umwälzung des Bestehenden wäre überhaupt eine sehr gefährliche Sache. Gegenüber dem Glauben an den Wert ästhetischer Eindrücke oder des Sicheinfühlens heißt es hier: Unerläßlich ist auch ein in entsagungsvollem Ringen erworbenes mechanisches Schaffen. Produktive Arbeit ist es, die unser ganzes Sein in einer erhöhten Temperatur erhält. Sie wird eine Quelle der Untemehmungslust, des Mutes, der Selbständigkeit, der Begeistemng, der Arbeitsfreudigkeit. Dazu aber noch eins: alle produktive Arbeit in Kunst und Wissenschaft muß sich, wenn sie ganze Charaktere schaffen soll, mehr oder weniger in den Dienst der Menschheit stellen. Meviel ist in dieser Beziehung bisher versäumt worden, in Mädchenschulen zu allermeist! Jene Fordemng möglichster Selbsttätigkeit führt dann weiterhin auch zu sehr beachtenswerten Urteilen über den Wert der Methodik. Deren Finessen, heißt es, können der schöpferischen Begabung geradezu verhängnisvoll werden. „Man nennt denjenigen einen geschickten Methodiker, der alle Schwierigkeiten im Erfassen einer neuen Sache so zu zerlleinem weiß, daß alle Schüler, wenn möglich gleichmäßig, wie auf einem schiefen Asphaltpflaster in den neuen Vor­ stellungsinhalt hineinmtschen. Dieses Lob ist aber ein sehr bedingtes. Für eine Klasse geistig armer Schüler ist er vielleicht ein geschickter, für eine Klasse von Begabungen aller Art aber ist er ein sehr ungeschickter Methodiker. Denn die geistige Kraft der Kinder wächst, wie die körperliche, nur durch Überwindung von Schwierigkeiten. Was aber dem einen Kind eine Schwierigkeit ist, ist dem andem eine Spielerei." „Der allein ist der geschickte Methodiker, der seinen Unterricht so einzurichten versteht, daß jede Begabung die ihr angemessene Schwierigkeit findet." Daß produktive Arbeit ausdrücklich auch in den höheren Schulen sich einen ansehnlich breiten Platz ewbem müsse, ist des Verfassers Überzeugung, und er denkt nicht bloß an naturwissenschaftliches Experimentieren oder experimen­ tierendes Selbstfinden, sondem auch an Werkstätten (womit ja ein Anfang bereits an manchen Orten gemacht ist). Mer am eindringlichsten handelt er doch immer wieder von jener andem, bescheideneren und vemachlässigteren Volksschicht und ihren wahren Bedürfnissen, ihren eigentlichen Ansprüchen. Von einem bestimmten Zeitpunkt an „beginnt die lebenslange, mechanische, ewig gleichförmige Arbeit bei Mllionen von Volksgenossen sich wie ein dichter Schleier über die einst sonnigen Täler ihres Lebens zu breiten. Der Sllave der Maschinen bleibt ärmer als die Sllaven Roms und Griechenlands. Die all­ erlösende Arbeit, sie erlöst ihn nicht, die alles erwärmende Sonne produktiven Schaffens erwärmt chn nicht." Es gilt, chm wieder einen Lebensinhalt zu Münch, Zukunstspädagogik. z. Aufl.

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Erster Teil. Berichte und Kritiken.

geben, und einen wertvollen. Soll das etwa durch die „Kunst" geschehen? Kunstgenuß hat sehr bestimmte Voraussetzungen. Und Genuß kann nie Lebens­ inhalt werden. Oder durch Hebung der allgemeinen intellektuellen Bildung? Oder durch eindringlichere Wirkung der Religion? Es müßte sich doch um Religion der Tat handeln. Und von einem neuen, gut geleiteten Gemein­ schaftsleben wird, neben einer wirllich befriedigenden Art produktiver Arbeit, schließlich die rechte Wertblldung wie Beglückung erhofft. „Nicht das Wissen hat die Welt erlöst, sondem die Liebe; nicht das Herrschen gibt befriedigenden Seeleninhalt, sondem das Dienen." Nicht leicht wird ein Leser verkennen, daß wir es hier mit originalen Gedanken, mit zugleich hochgehendem und gesundem Streben zu tun haben. Wir verfolgen das Einzelne des Buchinhalts nicht weiter. Jedenfalls sehen wir uns am Schlüsse unseres Umblickes gleich weit von bloß leidenschaftlichen Protesten wie von bloß theoretischen Ideen. Das Beste von beiden Seiten her begegnet sich. Neben Männem, die eine neue Zukunft fordem, und solchen, die sie ausdenken, dürfen eben diejenigen nicht fehlen, die daran arbeiten, sie herbeizuführen. Und am wenigsten einer, der hierbei Führer ist1). l) Es sei daran erinnert, daß für den hiermit abgeschlossenen literarischen Um­ blick keinerlei Vollständigkeit in Aussicht gestellt war. So ist kaum etwas von dem Mannigfaltigen wiedergegeben, was zur Einführung der Kunst in die Jugenderziehung neuerdings mit so viel Eifer gesagt und geschrieben worden ist. Es ist überhaupt aus die (übrigens unübersehbaren) Aussätze in Zeitschriften oder Zeitungen nicht ein­ gegangen, nicht einmal auf die Tendenz wichtiger moderner Zeitschriften oder die Programme von Vereinen. (Zumeist wären hier wohl die „Blätter für deutsche Er­ ziehung" zu nennen gewesen, auch „Der Säemann", die Veröffentlichungen „Die Kunst im Leben des Kindes", die Weimarer „Erziehungstage" usw.) Es ist ferner nicht herbeigezogen die gesamte Literatur, welche Wissenschaft und Kunst der Erziehung auf eine exakte psychologisch-physiologische Grundlage zu stellen trachtet. Auch in diesem Sinne strebt man ja einer Zukunftspädagogik zu. Kaum wäre es möglich, schon jetzt das Maß von Einfluß abzuschätzen, welches diese Untersuchungen auf eine künftige praktische Gestaltung der Erziehung haben können. Keinesfalls konnte ein Versuch dieser Art hier so nebenbei mit unternommen werden.

Zweiter Teil.

Betrachtungen und Vorschläge. i. Auch eine große Zahl einzelner Schriften von annähemd übereinstimmen­ der Tendenz würde noch nicht beweisen, daß diese Tendenz innerhalb der Nation oder doch des hier zählenden Teiles derselben im ganzen Kraft habe. Ketzer mögen auch zur Zeit des sichersten Bestandes der Kirche ziemlich zahlreich sein, leidenschaftlich überzeugte Republikaner in einer Monarchie von vollster äußerer und innerer Festigkeit nicht minder; auf ein Gebilde wie das deutsche Heer schilt zur selben Zeit, wo es das stärkste Vertrauen genießt, eine Menge von Stimmen; und ähnlich wird es auf manchen andem Gebieten sein und immer bleiben. Ja, nicht bloß bleiben. Man muß doch auch bedenken, daß das Bedürfnis, sich laut und leidenschaftlich zu äußem und namentlich eine persönliche Überzeugung gegenüber der überlieferten Anschauungsweise geltend zu machen, in unserer Zeit viel lebendiger ist als wohl zu irgendeiner früheren; denn auch zur Zeit der bekannten größten öffentlichen Umwälzungen standen doch vielmehr einige deutlich unterschiedene Hauptströmungen einander gegen­ über als zahllose individuelle Auffassungen, wie denn das Vorwalten dieser letzteren mehr eine gwße Unruhe und Berwirmng ergeben wird, als einen klaren Kampf mit Aussicht auf Sieg und Mederlage. . In der Tat mußte bei der Musterung der Kritiken und Forderungen in unserm ersten Teil ein weites Auseinandergehen, ja vielfach vollständiger Gegensatz unter den Protestierenden bemerkt werden, und wer recht kon­ servativ ist, pflegt sich gern darauf zu berufen, daß die Gegner und Neuerer ja fürs erste noch unter sich sehr uneins seien. Aber wenn man auch nur in der Negation zusammentrifft, oder nur in der Negation gewisser Hauptpunkte, so ist zum Ignorieren solcher Gegnerschaft kein Recht. Und dazu kommt, daß für den, der die Mrklichkeit zu beobachten Gelegenheit hat und diese Gelegen­ heit benutzt, die weite Verbreitung von Gmndanschauungen jener Art auch unter den nicht literarisch oder sonst öffentlich Hervortretenden außer Zweifel steht. Frellich werden sie zum Teil erst durch die leidenschaftlichen Broschüren für diese Anschauungen gewonnen und jedenfalls darin befestigt; aber es hat

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Zweiter Teil. Betrachtungen und Vorschläge.

sich in der Sülle doch auch innerhalb der beteiligten Familien weithin Zweifel und innerer Widerstand genug gesammelt. Selbst das beweist an und für sich noch nichts gegen das Recht des Bestehenden: denn bestimmte Schattenseiten hat alles Bestehende, gewisse üble Nebenwirkungen gehen auch von dem wesentlich Guten aus, und namentlich bei langer Fortdauer des Bestandes werden dieselben mehr und mehr fühlbar, wie ein an sich ganz unbedeutender körperlicher Tmck an einer bestimmten Stelle bei langer Dauer unerträglich werden kann. Es gölte also, das Einzelne unterscheidend zu prüfen, um wo­ möglich Berechtigtes von Unberechügtem bestimmt zu sondem. Gleichwohl erlaubt die Fülle des Geforderten nicht, zu allem einzelnen nochmals Stellung zu nehmen. Eine gewisse Zusammenfassung, Vereinfachung, Ausscheidung muß gestattet sein. Blicken wir über das Gesamtgebiet der Proteste, so betreffen dieselben das Innerste wie das Äußere, die letzten Grundlagen des organisierten Er­ ziehungswesens wie die Gestaltung des Einzelnen, psychologische Voraus­ setzungen wie Ausgestaltung von Einrichtungen, Persönliches wie Sachliches, ideale Bildungsziele wie Kulturbedingungen. Fast überall wird Befreiung in irgendeinem Sinne, oder in mehrfachem Sinne zugleich, gefordert, Be­ freiung von dem schweren Druck der Lernpflicht, von der gleichmäßigen Ver­ pflichtung namentlich auch für die verschieden Gearteten und Beanlagten, Befreiung der früheren Jahre von Zumutungen, die erst späteren gebühren, Befreiung von der Herrschaft alter und veralteter Überlieferung in Stoffen wie Methoden, Befreiung auch von unnötig einengender Disziplin, von der Last häuslicher Aufgaben, von der Sorge und Not der Prüfungen und wohl auch der Strafen, Befreiung aus der Enge und Schwüle der Schulzimmer, und wie man diese Fordemng noch weiter variieren könnte. Den jugendlichen Menschen ihre Jugendzeit so schön als möglich zu machen, so sonnig und sorgen­ frei, so leicht und reich, das soll das größte Anliegen aller an der Einrichtung der Erziehung Beteiligten bilden. Ein großartiges Vertrauen in die Natur der Jugend, in die innere Gesundheit und die Stärke wertvoller Triebkraft durchzieht fast alle jene Programme. Und damit geht eine ebenso entschiedene Wsage an alte Büdungsideale *) zusammen, die man als Ideale überhaupt nicht mehr versteht und empfindet, die nur noch wie ein schlimmer Bann auf der Gegenwart und der Jugend zu liegen scheinen, denen man weder Wert noch Kraft mehr beimißt. Mcht nur ist der Glaube an die durch das System der eingeführten Bildungsstofse ver­ bürgte Harmonie der ausgebildeten Kräfte geschwunden: man findet darin zugleich zu viel Mannigfaltigkeit und zu viel Einseitigkeit, man denkt sich etwas ganz anderes als die wahre Harmonie, einfacher zugleich, natürlicher und *) Das Thema wird weiter unten in Abschnitt 5 näher behandelt.

Der Charakter der Gegenwart und die Erziehungsaufgabe.

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persönlicher; es ist auch in ganz außerordentlichem Maße die Schätzung des Mssens als großen Mittels zu innerer Wertbildung verloren gegangen, und namentlich des Mssens um Gedanken oder Ideen, um Wstraktes, um Ver­ gangenes, um fremden Geistesinhalt, um das in Worten Enthaltene; das alles scheint nun mehr zu lähmen, zu hemmen, zu täuschen, zu ertöten, als zu be­ leben, zu bereichem, zu beflügeln. Demgegenüber vermißt man den Blick für das wirllich Lebendige, für die Gegenwart und ihre eigentlichen Werte, Gestaltungen, Probleme. Mer man vermißt darüber hinaus überhaupt die rechte Aktivität als Ergebnis der Jugendbildung, die rechte Frische und Freudig­ keit, man sieht eben während der Schulzeit selbst die Passivität und Rezeptivität viel zu sehr gepflegt und begünstigt. Man verlangt also mehr Erziehung zum Tun und Handeln, zum unmittelbaren persönlichen Wollen wie auch Urteilen, und viel mehr Anregung und Berücksichtigung individueller Wesensart. Man sieht in der herrschenden Art der Schulerziehung zu viel Nachwirkung älterer Kulturperioden mit ihren Anschauungen und Gestaltungen: ein Stück mittel­ alterliches Mönchtum mit seinem Ideal der demütigen Unterordnung, des selbstentsagenden Gehorsams, der zittemden Sorge um das Bestehen vor dem hohen Richter, der Weltfremdheit, der steten Wendung des Blickes nach innen; und zugleich ein Stück des veralteten Humanismus mit seinem Ideal der aus­ schließlichen Kenntnis einer vergangenen literarischen Welt und seiner ein­ seitigen Geistesübung am nachahmenden Schreiben von sttlistisch-rhewrischen Ergüssen; und auch ein Stück nachwirkender Staatsomnipotenz gewahrt man mit ihren streng auferlegten Normen, Geboten und Bedingungen, ihrem Ver­ drängen natürlicher Rechte bei einzelnen oder Familien. Mnder allgemein, aber doch sehr vielfach ficht man ferner auch das Fortwirken älterer sozialer Schichtung an, die Begünstigung der Besitzenden gegenüber den Begabten, die beförderte Scheidung zwischen einer aristokratischen (oder plutokratischen) Gesellschaftsschicht und den immer auf geringer Mldungshöhe festgehaltenen Kindern des Volkes. Mer dieser soziale Gesichtspunkt ist eben nur einer von vielen, die durch­ einander spielen: weit im Vordergmnde steht wohl der hygienische Gesichts­ punkt, der nicht bloß, wie ehedem, für die eigentliche körperliche Behütung oder Kräftigung, sondem auch für die Bestimmung der gesamten geistigen Be­ tätigungen entscheidende Geltung beansprucht. Der psychologische Gesichts­ punkt erscheint im Zusammenhange nicht bloß mit allgemeineren anthropo­ logischen Feststellungen, sondem auch mit sehr bestimmten physiologischen, und neuere, feinere pathologische Erkenntnisse verlangen ihr Recht. Minder exakt, aber leicht einleuchtend wirken daneben immer die aus allgemein phil­ anthropischem oder bestimmter jugendfreundlichem Gesichtspunkt betonten Fordemngen. Und demgegenüber spricht dann die Mcksicht auf wirtschaftliche Bedürfnisse des Ganzen wie der Einzelnen, oder auf sicheres Bestehen in der

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Zweiter Teil. Betrachtungen und Vorschläge.

von Lebensschwierigkeiten durchzogenen äußeren Welt; es sprechen politische und nationale Gesichtspunkte, der Gedanke an das sichere Gedeihen des staat­ lichen Ganzen nach außen und nach innen, wobei man sich das letztere je nach politischem Standpunkt sehr verschieden vorstellt und demgemäß gefördert sehen will, der Gedanke auch an die Bewahrung wertvoller nationaler Eigenart. Für andere steht im Vordergründe der Gesichtspunkt der zu fördemden Kultur, ausdrücklich auf den Linien, auf welchen sich diese Kultur in der Gegenwart am erfolgreichsten voranbewegt, zum Teil auch mit dem Ziel einer immer weiteren Durchgeistigung der Nation. Für nicht wenige steht nach wie vor der religiöse Gesichtspunkt allen andern voran, und im Zusammenhang mit ihm oder auch ohne solchen Zusammenhang der ethische, und seit neuerer Zeit für sehr viele vor allem der ästhetische, und statt aller dieser vielleicht der eines unbestimmten Idealismus, und im Gegensatze dazu schlechtweg utilitarische Gesichtspunkte und eudämonistische Maßstäbe. Daß der gleichzeitige Ausgang von so verschiedenen Punkten geeignet ist, eine große Verwirrung hervorzubringen und die Entwirmng außerordentlich schwer zu machen, bedarf keiner Ausfühmng. Damm eben bleiben die päda­ gogischen Probleme so verwickelt, und dämm ist so viel Durcheinander der Meinungen vorhanden, weil so mannigfaltige und weit auseinanderstrebende Rücksichten tatsächlich mitzusprechen haben. Übrigens kommen zu allen ange­ deuteten noch andere: nämlich diejenigen auf praktische Möglichkeit unter gegebenen (sachlichen und persönlichen, wirtschaftlichen und technisch-organisa­ torischen) Verhältnissen, unter den stets beschränkenden Bedingungen. Viel­ leicht ist es sogar nirgendwo leichter, ideale Programme aufzustellen, als auf dem Gebiete der Jugendbildung, und es ist darin ja auch von jeher viel geleistet worden; aber vielleicht ist auch nirgendwo die Wirklichkeit dem Ideale schwerer anzunähem, trotz aller Bildsamkeit, welche die Jugend vor der Stufe der Er­ wachsenen voraus hat. Freilich verzichtet man trotz allem hier weniger gern auf das Ideal, als da, wo die Erwachsenen und Fertigen im Spiele sind. So hat denn auch kein großer Staatsmann sich gegen die Frage der Organisation der Jugenderziehung gleichgültig verhalten können, und vielleicht ist es ein Prüfstein für rechtes staatsmännisches Wollen, mit welchem Eifer und Nachdmck dieses Gebiet überdacht wird. Aber auch den größten politischen Denkern, ebenso wie den genialsten philosophischen Köpfen, ist es nie gelungen/ das schlechchin Gute und dauemd als gut Bewährte zu finden und hinzustellen. Das Wissen macht auch hier bescheiden, das Wissen um die Zeugnisse der Ver­ gangenheit und um die tatsächliche Verzweigung der Aufgabe in der Gegen­ wart. Eine einfache und zuversichtliche Überzeugung gewinnen diejenigen am leichtesten, die sich an ihrem zufälligen persönlichen Fühlen genügen lassen. Und eigentlich ist das ein Charakteristikum unserer Zeit, daß man solchen persönlichen oder subjektiven Urteilen lieber das Ohr leiht als jenen, die nach

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möglichster Überwindung oder Ausschaltung des zufällig Subjektiven einen wohlgeprüften und erweisbaren sachlichen Gehalt darbieten. Nachdem das achtzehnte Jahrhundert mit seinem Aufklärungsstreben geglaubt hatte, überall das unbedingt Vernünftige finden und aufrichten zu können, um. auf dieses Vernünftige die gesamte Einrichtung des Lebens aufzubauen, nachdem man also sorglich auf die Stimme der Vemunft gelauscht und an die menschliche Vernunft als sichere letzte Instanz zu glauben sich gewöhnt hatte, nachdem dann das neunzehnte Jahrhundert dem Auffinden objektiver Wahrheit auf all den erweiterten naturwissenschaftlichen Gebieten seine vollste Kraft gewidmet hatte, ist für das ganze Gebiet des nicht „Exakten" oder nicht „exakt" zu Machenden eine Art von intellektuellem Anarchismus eingetreten; man läßt hier gern momentane Autoritäten auf sich wirken; man möchte glauben und einen Halt für seinen Glauben haben, aber hält sich wieder mehr an unmittelbares Gefühl als an den Umweg der Beweise. Und nachdem das Kulturleben der Gegenwart eine außerordentliche Nivellierung der Geister mit sich gebracht hat, seufzt man gewissermaßen immer nach Urteilen, die originell wirken. Die ruhelos, aber doch im Kreise umgetriebene Menschheit von heute möchte durchaus irgendwie emporgerissen werden, empor über jenes gleichschwebende Niveau: empor­ gerissen vielmehr als gehoben, wie sie denn auch leichter wieder zurücksinkt und immer neuer stoßweiser An- oder Aufregung bedarf. Verfolgen wir dies jetzt nicht weiter. Es mag aber hinüberführen zu der für uns ungleich wichtigeren Frage: Welche Bedingungen bietet überhaupt das Kul­ turleben der Gegenwart für die Aufgabe der Jugend­ erziehung, welche Vorteile und welche Erschwerungen, und welche Fassung dieser Aufgabe wird dadurch erfordert? Ties denn sei der Inhalt des folgenden Abschnitts. Darf man nicht aus der Menge der öffentlich laut werdenden Stimmen schließen, daß das Interesse an der großen Gesamtfrage der Erziehung in unserer Zeit kräftiger und verbreiteter ist als je zuvor, oder doch jedenfalls als während des größten Teiles des abgelaufenen Jahrhunderts? (Denn freilich, unzweifelhaft groß und allgemein war es in der Zeit vor hundert und mehr Jahren.) Und bedeutet nicht die Allgemeinheit und Lebendigkeit des Interesses an sich schon eine günstige Bedingung für das Gedeihen der Sache selbst? Es ist vielleicht nicht so; eine weitgehende Unbefriedigtheit von dem Bestehenden braucht nicht mit Notwendigkeit der Ausgang für wertvolles neues Wollen oder gar Können zu sein. Aber wir haben doch Grund, lieber das hervor­ tretende Interesse von der günstigen Seite anzusehen: wie vielfach auch bei den öffentlich über das Gebiet Redenden die Freude am Protest als solchem, am Aufstellen überraschend kühner und neuer Behauptungen, an möglichst vernichtender Beurteilung überkommener Autoritäten mitspielt, es kann

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Zweiter Teil.

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jedenfalls die Anteilnahme so vieler den Fragen der Erziehung wirllich zugute kommen, wofem diese Anteilnahme eben sich in die rechten Bahnen leiten läßt. Natürlich muß dabei auch neben der Mcksicht auf das Wohl der einzelnen Zöglinge der Gedanke an das wirksam sein, was der Nation im ganzen frommt, was sie für ihr weiteres Gedeihen bedarf. Ties fällt eben keineswegs ohne weiteres mit jenem zusammen, wenigstens so wie viele Familien das Wohl ihrer jungen Mitglieder ansehen. Am meisten Genugtuung kann mau vielleicht über die einfache Tatsache empfinden, daß überhaupt so lebhaft nach beherr­ schenden großen Gesichtspunkten für die künftige Erziehung gesucht wird. Und dem darf wohl die ganz bekannte Tatsache zur Seite gestellt werden, daß die für das Erziehungswesen bestimmten und verausgabten öffenllichen Mittel in den letzten Jahrzehnten z. B. in Preußen, aber ähnlich auch in andem Staaten, ganz außerordentlich erhöht worden sind, daß sie aber geradezu eine fabechafte Vervielfältigung aufweisen, wenn man um mehrere Jahrzehnte oder etwa ein Jahrhundert oder etwas mehr zurückblickt. Man sieht also zurzeit — so darf man wohl zusammenfassend sagen — die Aufgabe lebendig und groß. Wie günstig muß diese Sachlage heißen! Selbst wenn die neuen Gedanken die Fordemng noch weit größerer öffentlicher Ausgaben für das Erziehungswesen einschließen, darf man keineswegs daran verzweifeln, daß auch diese wirklich bewilligt werden. Es ist doch wohl auch etwas wert, daß man den Mut hat, eine noch so feste Tradition auf ihr letztes Recht hin zu prüfen, und daß man über all die unzähligen kleinen Probleme des Tages hinaus Probleme von größter Tragweite aufsucht und selbständig zu lösen trachtet. Hat man bei aller irgend höher gehenden Jugendbildung immer an das Vorhandensein eines wertvollen Inhalts der Wissenschaften gedacht und an­ geknüpft, so kann nicht geleugnet werden, daß eine ungefähr gleichmäßig ernste und fruchtbare Pflege der verschiedensten Wissenschaften unsere Gegenwart auszeichnet. Und zwar ist es mehr eben diese Pflege, die nie ruhende und nie sich zufrieden gebende Forschung, als der sichere Schatz des Gefundenen, was wir hier schätzen müssen. Wie alle Forschenden in ihrer Forschung selbst Lemende und als solche gewissermaßen jung bleiben, so übt es auch schon innerhalb des Jugendunterrichtes eine belebende Kraft, wenn das zu übermittelnde Wissen gewissermaßen aus spmdelnder Quelle geschöpft wird, statt aus mhendem Teich, um nicht zu sagen aus eintrocknenden Tümpeln: ganz abgesehen davon, daß ein bestimmtes Wissen und Erkennen auf den verschiedenen Gebieten über­ haupt innerhalb der Nation oder der Menschheit gewonnen sein muß, um der Jugend übermittelt zu werden. Wir natürlich betrachten dieses Vorhandensein jetzt als selbstverständlich: man muß aber nur auf etwas ältere Zeiten zurück­ blicken, um zu sehen, wie es auch fehlen kann, und wie dann der Jugend ein unzulängliches und trügerisches Weltbild angeeignet wird. An das glorreiche Gebiet der Naturwissenschaften werden wir dabei ja zumeist denken, aber es

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ist nicht das einzige, von dem dieses Verhältnis gilt. Und wichtiger als diese materiale Unterlage eines belebenden und bildenden Unterrichts dürfte die formale sein, die in der Ausbildung der psychologischen und physiologischen Mssenschaft geboten ist. Wie weit die neueren Feststellungen der nunmehr möglichst exakt und experimentell betriebenen Psychologie auf die innere und äußere Gestaltung von Unterricht und Erziehung werden wirken können, läßt sich — wie schon oben bemerkt — noch nicht recht bestimmt übersehen; von vomherein aber darf man von dieser Mssenschaft wichtige Hilfe für unser Gebiet getrost er­ warten, und daß sich die Psychologie in engster Fühlung mit der Physiologie bewegt, ist gegenüber dem Leben der Jugend wohl besonders wichtig, da in ihr statt des späteren verhältnismäßigen Auseinandertretens leiblicher und geistiger Lebensvorgänge noch vollere Einheit, innigerer Zusammenhang zwischen beiden Seiten waltet*). Mit diesem Gebiete nun hängt nahe zusammen einerseits das fortgeschrittene Verständnis für alles irgendwie Pathologische im seelischen Leben, oder für das nach der pathologischen Seite Hinneigende, für die starken Schwankungen auch innerhalb der Gesundheitsbreite, für die unendliche Tifferenziemng des Individuellen, die Typen, die Mischungen, die Sonderarten; und andrerseits die außerordentlich gesteigerte Bedeutung der Hygiene, deren Stand ohne allen Zweifel eine der größten Lichtseiten in der Kultur der Gegen­ wart bildet, die als Mssenschaft und als praktische Organisation noch immer in erfreulichem Fortschritt verbleibt und auf völlig greifbare und tiefeingreifende Wirkungen nach vielen Seiten sich bereits bemfen kann. Daß sie auch dem jungen Geschlecht reichlich zugute kommt, ist besonders sicher und besonders erfreulich: wieviel luftigere Räume gönnt und schafft man ihm, in Schule und Haus, wieviel sorgsamer sucht man deren Ausstattung den wirllichen Bedürfnissen der Heranwachsenden anzupassen, wie eifrig arbeitet die erfinderische Technik auch an der Herstellung aller der einzelnen ausstatten­ den Stücke, Möbel, Geräte, Unterrichts- und Anschauungsmittel, wieviel auf­ merksamer ist die amtliche Überwachung aller dieser Gegenstände eben auch unter hygienischem Gesichtspunkte geworden, wieviel allgemeiner und unbe­ dingter die Schätzung von Tum- und Bewegungsspielen! Tie Art, wie die männliche Jugend der Schulen in Deutschland hinzuleben pflegte noch vor nicht vielen Jahrzehnten, diese anerzogene und nachgeahmte verfrühte Gemessen­ heit und falsche Geistigkeit mit ihren komischen oder lläglichen Zügen ist für die jetzige Generation gänzlich abgetan. Tie die Nation im ganzen durchziehende Freude an allerlei Sport, an Schwimmen und Rüdem, Eislauf und ver­ wandten fünften, an Gebirgswandemngen, Hochtouren, Wettfahrten usw.: wie man in alledem einen Jungbmnnen für die Erwachsenen und Mieren sucht, so gewähren sie vor allem der Jugend selbst ein echteres Jugendleben. Dazu, oder im Zusammenhang damit, die gegen früher weitgetriebene körper-

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liche Abhärtung, die Leichtigkeit und hygienisch heilsame Gestaltung der Klei­ dung ! Unverkennbar ist der Sinn für Kraft und Frische gewaltig gestiegen. Und ebenso derjenige für die Bedürfnisse und natürlichen Rechte der Jugend. Wer nicht bloß der Jugend im ganzen, sondem auch der Individuen und ihrer Eigenart. Diese Art, sofern sie von einer überkommenen Norm abweicht, als Unart ohne weiteres zu betrachten und zu bekämpfen, kann nur noch solchen Erziehem nahe liegen, die in diesem wichtigen Punkte hinter der Zeit zurück­ geblieben sind. Zu gute kommt es der Jugend weiterhin wohl auch, daß über­ haupt der Gesichtskreis der Menschen in den oberen und auch mittleren Ge­ sellschaftsschichten sich sehr erweitert hat, daß man sich umzusehen gewöhnt ist, wie es anderswo in der Welt zugeht, und auch dadurch vor der bloßen Ab­ hängigkeit von engen alten Gepflogenheiten bewahrt wird. Verallgemeinerter Wohlstand, erweiterter Gesichtskreis und gewährte Bewegungsfreiheit hängen natürlich zusammen. Und fragen wir nach dem Walten höherer oder höchster Triebkräfte inner­ halb der Nation, so kann man als eine Zeit des herrschenden Idealismus die Gegenwart freilich nicht bezeichnen; der Ausgang des achtzehnten Jahr­ hunderts und der erste Teil des neunzehnten weist in dieser Hinsicht ein ganz anderes, entschieden höheres Gepräge auf, wie auch die Periode der Reforma­ tion und später die des aufsteigenden Pietismus jene Anerkennung ungleich gewisser verdienen. Weder besitzt der hohe und schöne Begriff der Humanität noch eine lebenbtge Herrschaft über unsere Generation, obwohl man das Wort noch oft genug in den Mund nimmt und in allerlei Fällen an diese innere Instanz appelliert, noch hat die Religion über die meisten Zeitgenossen irgend­ wie jene ernste und volle Gewalt, daß sie das Fühlen und Handeln immer wieder vom Gemeinen hinweg zum Idealen hinzöge. Aber ideale Tendenzen darum überhaupt zu vermissen wäre doch unrecht. Schon daß weit seltener jene Selbstzufriedenheit der Irreligiosität anzutreffen ist, wie während ver­ gangener Jahrzehnte, daß ein Suchen und Sehnen nach religiöser Belebung sichtlich weit verbreitet ist, darf hier in Betracht kommen. Vielleicht wird man auch die Bemühung, der Kunst eine möglichst weithin belebende und erhebende Wirkung zu sichern, hierher ziehen wollen. Gewisser muß man den frucht­ baren sozialen Zug würdigen, der seit den letzten Jahrzehnten solche Kraft gewonnen und so mannigfache konkrete Leistungen hervorgebracht hat. Freilich sind es zum Teil nur Anwandlungen, die denn auch vor ernsterem Widerstände sich leicht verflüchtigen, und Krisen bleiben hier auch dem ernstesten Wollen nicht erspart: aber es ist unter uns doch die Zahl der Menschen außerordentlich groß, die in diesem Sinne „Menschen eines guten Willens" heißen müssen, und die aus diesem Willen heraus geleistete, mannigfach wohltätige Arbeit ist wohl das Beste, was unsere Zeit zu ihren Gunsten aufzeigen darf, ist tatsächlich wertvoller als ein wesentlich schwärmerischer Kultus der „Humanität" sein

Der Charakter der Gegenwart und die Erziehungsaufgabe.

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würde: auch der Jugend gegenüber, die sich ja viel leichter für allgemeine Ideale gewinnen läßt, aber doch vor allem in ein redliches Wollen für Ziele hineingezogen werden soll, die zugleich praktisch und von idealem Werte sind. Und was das Wollen überhaupt betrifft, so darf es am Ende auch als Vorzug unserer Generation in Anspruch genommen werden, daß eine inten­ sivere Anspannung als wohl je zuvor fast auf allen Gebieten den sich darin Betätigenden nötig wird, wenn sie ihrer Aufgabe genügen, im Wettkampf bestehen, Erfolg erzielen wollen. Will man insbesondere an ein dem eigenen Selbst gegenüber wirksames Wollen denken, so mag immerhin die gegen­ wärtige und sichtlich zunehmende Bewegung der Abstinenz vom Mkohol als ein Zeichen angesehen werden, daß die Kraft und Bereitschaft zur Selbsterziehung jedenfalls nicht schlechthin fehlt. Aber wir müssen nun doch auch die andere Seite des Bildes ansehen. Was an dem Charakter der Gegenwart zu beklagen ist, wird ja wohl noch häufiger zum Ausdruck gebracht worden sein, als was ihren Vorzug ausmacht. Sich des vermißten Guten bewußt zu werden, liegt näher als es auch in versteckter Tiefe zu erkennen und anzuerkennen. Zu allen Zeiten sind über die Gebrechen der Gegenwart viele Klagelieder angestimmt worden. Fast alle alternden Menschen sind dazu bereit, und diejenigen, die öffentlich urteilen, werden hierzu viel häufiger von ihrer Verstimmung angetrieben als von irgendwelchem Hochgefühl. Dies letztere äußern mehr die Jungen, und sie werden freilich von ihrer Jugend reichlich getäuscht. Man darf es also durch­ aus noch nicht für ein Verdienst halten, die Schäden seiner Zeit recht deutlich zu sehen und gründlich beschreiben zu können. Aber man darf sich doch auch bei klarer Erkenntnis nicht einschüchtem lassen durch die Behauptung, das sei eben die Art und die Schwäche des Mers, ringsum Gebrechen und Rückgang zu sehen, und bedeute nichts für die Kennzeichnung der Wirklichkeit. Ein oberflächlicher Optimismus ist mindestens so anfechtbar wie eine allzu kritische Neigung. Auch entsprechen die im folgenden zu entwickelnden tiefgreifenden Ausstellungen an dem Werte der Gegenwart keineswegs nur der Anschauungs­ weise altemder Personen; es gibt genug ernste Menschen auch von mittlerem Lebensalter, die mit solchen Augen zu sehen vermögen. Hier müssen wir nun zunächst erwähnen, was denn doch allmählich Tausen­ den zum Bewußtsein gekommen und schon hundertfach ausgesprochen worden ist: die außerordentliche äußere Ruhelosigkeit des gegenwärtigen Lebens, die eben auch eine innere Ruhe, Sammlung und Stetigkeit schwer aufkommen läßt. Daß die vorher erwähnte allgemeine hohe Anspannung der Kräfte fast allerwärts zur Überarbeitung und namentlich auch Überreizung führt (oder geführt hat), daß krankhafte Erschöpfungszustände auch der Menschen in den besten Lebensaltem etwas weit Verbreitetes sind, braucht man als allgemein erkannt

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gar nicht mehr auszusprechen. Und zu der allbekannten „Neurasthenie" gesellt sich, was man neuerdings mit gutem Gmnde Psychasthenie nennt, Schwäche zum Fühlen und Wollen, Fehlen seelischen Gleichgewichts, Maßlosigkeit des Augenblicks und unberechenbares Umschlagen, kurz das unzweifelhafte Gegen­ teil von seelischer Gesundheit. Wer auch für diejenigen, die an solchen Zu­ ständen nicht teilhaben, ist eine Art innerer Verstreuung die große Gefahr oder die vorherrschende Wirklichkeit; die Eindrücke unseres so außewrdentlich bewegten Kulturlebens folgen einander zu massenhaft und schärfen zwar die momentane Aufmerksamkeit, aber verflüchtigen sich rasch und hindern die Bildung oder Pflege seelischer Zentralität. Ein Symptom zugleich und eine Ursache dieses Zustandes ist z. B. die überwältigende und immer zunehmende Menge der erscheinenden Zeitschriften,, die dann ihrerseits auf immer kürzere, zugespitztere Beiträge bei immer wachsender Mannigfaltigkeit des Gebotenen bedacht sind. Das Lesen von Büchem ist darüber sehr zurückgegangen auch in den Kreisen, denen es gebührt und ehedem eigentümlich war; die Wirkung aber des flüchtigen Vielerlei ist eine ganz nichtige, ja eher destmktive; in England bildete sich einst mit Recht die Formel, daß the man of few books die echteste Art von Bildung besitze. Es steht überhaupt zurzeit mit dem Begriff der Blldung mißlich und ebenso mit dem Begriff der Persönlichkeit. Nimmt man den ersteren in seinem älteren Sinne, in dem, wie er vor etwa hundert Jahren gemeint war, so ist die Zahl der Gebildeten verhältnismäßig sehr zurückgegangen; das damit eigentlich ange­ deutete persönliche Sein, die Organisation des inneren Lebens, die mhige Auf­ geschlossenheit für alle echtesten Werte, das alles ist ganz zurückgetreten hinter die bloße Orientiertheit auf allerlei Gebieten, die Sicherheit des Sichbewegens in der Welt, die geglättete, wenn auch banale und monotone Form. Ja, der Kreis derjenigen hat sich immer mehr erweitert, die eine ehedem nur von einer aristokratischen Schicht gepflegte Form sorgsam beherrschen, ohne daß irgendein wertvoller und eigenartiger persönlicher Inhalt bei ihnen zu entdecken wäre; (Stilisierung des Lebendigen reicht weithin, was denn mit Erstarrung sich nahe berührt. Von Persönlichkeit und ihrem Recht und Wert spricht man mehr als je, jede Individualität soll mehr gelten als edle Norm oder gar Annähemng an das Ideal. Aber man bleibt mit dem Streben nach Persönlichkeit wesentlich beim natürlich Gegebenen stehen, als ob dies schon, wie es auch sei, ein ethisches Recht mit sich trage, man macht es als einen geheiligten Anspruch geltend, so zu sein wie man ist, und man weiß gar nicht, wie sehr doch dieses ganze Sein nur durch Reflexe aus der Umgebung zustande kommt; die wirllichen Persönlichkeiten, die sich nur um einen festen ethischen Kem bilden können, scheinen um so weniger häufig, je mehr man von Persönlichkeit spricht und ihr zu huldigen bereit ist. Ist es vielleicht noch kein ganz schlimmes Zeichen, daß

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eine Generation nicht bewußtermaßen von großen, klaren Idealen angezogen wird und sich beherrscht zeigt, so muß es doch jedenfalls unerfreulich heißen, wenn von den möglichen hohen Idealen nur ein unsicher flackernder Schein in die Seelen fällt, nur matte Nachwirkung älterer Verehrung oder fragwürdiger neuer Ersatz sich gewahren läßt. Jenes fühlbar enteilte Sehnen vieler nach Religion als einem belebenden inneren Besitz verbürgt leider noch nicht im mindesten, daß man das Gesuchte finde und das Ersehnte gewinne: ob man neuen Most in neue Schläuche zu fassen vermöge, und ob der gärende Most sich zu gutem Wein entwickeln werde, wer will das jetzt schon beantworten? Die klägliche Tatsache, daß das Unkraut des absurdesten Aberglaubens in allerlei Formen bei einem höchst ansehnlichen (nicht bloß numerisch ansehn­ lichen) Teil unserer Zeitgenossen üppig wuchert, macht nur die Leere der Ge­ müter um so deutlicher. Wie ungleich die Macht der Kirchen und ihrer Dogmen und Zeremonien über ihre Mitglieder ist, weiß jedermann, und wieviel des besten Einflusses sie mehr oder weniger vermissen lassen, fühlt man immer wieder mit Wehmut, wie denn auch eine Stimmung des Verzagens nicht wenige bemfene Vertreter wenigstens der evangelischen, d. h. der nicht er­ starrten, erfüllt. Ein bloßes Sichabfinden mit der Kirche ist ganz gewöhnlich, ein anscheinendes Sichangleichen bei großer innerer Entfernung; auch was man Glauben nennt und als Glauben noch empfindet, hat fast nirgends mehr entfernt die Kraft der Gewißheit wie in vergangenen Zeiten; ganz ernst und klar sind die religiösen Überzeugungen nicht bei sehr vielen. Mer sind nicht überhaupt feste Grundüberzeugungen selten und erschwert? gemeinsame sowohl wie auch individuelle? Es ist so vieles im Wandel begriffen, das Leben so kompliziert, die Probleme immer wieder offen, die Möglichkeit der Sammlung so gering! Volles Vertrauen gilt nur noch den exakten Mssenschaften, oft ihren augenblicklichen Ergebnissen viel zu viel, die doch immer der Wlösung durch andere Feststellungen nach einiger Zeit ausgesetzt sind. Und so trachtet man ja auch immer mehr, solche Mssenschaften in exakte zu ver­ wandeln, die ehedem auf der Grundlage freien Denkens und Beobachtens aufgebaut wurden (womit man ihnen vielleicht doch unter Umständen die Seele nimmt). Dieser Tendenz steht denn eigentümlicherweise jene andere gegen­ über, dem ganz Subjektiven, namentlich wenn es recht originell auftritt oder wenn es aus einer gewissen unmeßbaren Tiefe zu kommen scheint, viel Recht und Ansehen zuzuerkennen. Mer wie ist es mit der Schätzung des Mssens überhaupt? Es ist in vergangenen Zeiten zweifellos viel übertriebener, auch unberech­ tigter Respekt dem Wissen als solchem gezollt worden; von der weit zurück­ liegenden Periode, wo sich unsere Vorfahren zuerst mit einer überlegenen Kultur in Berühmng fanden, wo diese Kultur mit allerlei fremdartigem Stoffen und Verstehen sich in Zusammenhang zeigte, wo dem Wissen leicht der Reiz

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Zweiter Teil.

Betrachtungen und Vorschläge.

des Geheimnisvollen anhaftete und leicht auch geheime, zaubemde Kräfte dahinter geahnt wurden, von dieser Periode her ist viele Jahrhunderte lang ein demütiger Respekt auch vor solchem Wissen dem Volke geblieben, dem keine Bedeutung für das Leben abzugewinnen war. Und in der Schule sah man die Gelegenheit, seinem jungen Nachwuchs einen Anteil an diesem von der Menge absondemden, geheimnisvoll verwandelnden, sozial adelnden Wissen zuzuwenden. Auf dieser Anschauung hat lange Zeit das Ansehen wenigstens der höheren Schulen im wesentlichen beruht; es ist eigentlich nicht viele Jahr­ zehnte her, daß dieselbe noch in Kraft stand. Wer diese hat sie neuerdings sehr eingebüßt. Zwar fragte man auch früher immer wieder einmal, wie sich eigent­ lich der Inhalt des Lemens zu dem Gesichtspunkte des Bedürfnisses und praktischen Wertes verhalte, aber es waren mehr vereinzelte Vorwitzige, die so fragten, und sie wurden als untergeordnete Geister abgewiesen. Auch sahen selbstverständlich die Schulen selbst nicht im Übermitteln von Wissen ihre wesent­ liche Aufgabe, als die sie vielmehr die Entwicklung von Kräften, die persönliche Vertiefung und Veredlung, den Einblick in den wertvollsten Inhalt mensch­ licher Kultur betrachteten. Aber daß dazu eine dauemde Anspannung des Ge­ dächtnisses und die Verarbeitung von viel positivem Lemstofs gehöre, wurde weder außerhalb noch innerhalb der Schulen bezweifelt. Des wachsenden Wissens ihrer jungen Angehörigen freuten sich auch die Familien, und die Unlust zu seiner Erwerbung ward als begreifliche, aber unerbittlich zu be­ kämpfende jugendliche Unart betrachtet *). Das ist allmählich sehr anders geworden, allmählich oder sogar ziemlich jäh. Es werden unsägliche Schmähreden losgelassen gegen die Kultur des Mssens auf Schulen, des „toten" Mssens, des Kleinkrams, der zahllosen Quisquilien, des unnötigen Ballastes, gegen die mechanische Inanspruchnahme des Gedächtnisses statt der edleren Kräfte des Willens, des selbständig freien Denkens, auch der jugendlichen Phantasie. Mindestens soll das verlangte positive Mssen sich jeden Augenblick und vor jedermann rechtfertigen auf seinen unzweifelhaften Wert für das Leben. Daß man längst aufgehört hat, in dem von Wissen strotzenden „Gelehrten" einen besonders respektablen Typus zu sehen, mag ja berechtigt genug sein; nur als Forscher und etwa als in seinem Fache zuverlässig und autoritativ Urteilender empfängt der Gelehrte jetzt Hochschätzung; aber außerhalb der eigentlich wissenschaftlichen Kreise nimmt man das Recht der Ignoranz doch gar zu unbefangen in Anspmch. Die Aus­ länder haben nicht unrecht, in diesem wie in verwandten Punkten eine erstaun­ liche WaMung deutschen Lebens und Fühlens zu sehen. Das alte Sprichwort von dem durch keine Sachkenntnis getrübten Urteil hört beinahe auf, nur im Spott zu gelten. In der Tagespresse zumal, die doch den Bereich ihrer Dar­ bietungen längst sehr über das Politische und Sensationelle hinaus erweitert hat, wird das Recht des öffentlichen Mitredens auf eine bloße Anwandlung

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hin sehr in Anspruch genommen. Und im Zusammenhang mit alledem hält man bei der zu bildenden Jugend jede zusammenhängende Periode des Unter­ richts für anfechtbar, wünscht die Ferien immer weiter ausgedehnt zu sehen und die Unterbrechungen immer häufiger, begrüßt jeden Anlaß zum Aus­ fallenlassen einzelner Unterrichtstage als willkommen, sei es auch nur, um der Neugierde der Jugend eine äußerliche Schau zu gewähren, von der eine wert­ volle Anregung nicht ausgehen kann, verlangt die Lektionen immer mehr gekürzt, die häuslichen Arbeiten immer mehr eingeschränkt oder am besten gänzlich abgeschafft zu sehen, erllärt Prüfungen, die doch nur dem eingelemten Wissen gelten könnten, für eine pure Verdrehtheit und bringt seine verächtliche Stimmung gegenüber dem ganzen Ziel des Wissenserwerbs zum deutlichsten Ausdmck. Wie sehr das Wissen, auch das Wissen der Schulen, doch mit Denken und Verstehen sich durchdringt, wie vielfach es auch mit Erregung von Gefühl und Phantasie sich verbindet, wie es der Erwerbung eines geschlossenen und nicht allzu ärmlichen Weltbildes vorarbeitet, in wie vielen Beziehungen man im späteren Blldungsleben der festen Gmndlage dieses Schulwissens bedarf, wie auch ein späteres wissenschaftliches Studium nur schwer ohne solche frühe Be­ festigung des Elementaren aus der Wissenschaft oder ihrer Vorstufe sich voll­ zieht, das alles pflegt in den weiteren Kreisen der über Schulen Urteilenden ganz und gar nicht in Betracht gezogen, nicht empfunden zu werden. Und ebensowenig beachtet man, wie die Erwerbung dieses Wissens, wie das „Semen" in der Jugend, und gerade das Lernen nicht praktischer Tinge, die wichtigste Schule des Willens bildet — während man doch eben Willensbildung statt der Inanspruchnahme des Intellektes sich als die große Aufgabe der Zukunft denkt. Aber in Beziehung auf das Wissen muß freilich anerkannt werden, daß man infolge des so weithin gestiegenen Wohlstandes gegenwärtig zur sozialen Ober­ schicht gerechnet werden kann, ja gerechnet zu werden pflegt, ohne daß man sich nach jener Seite über die Stufe einer höchst armseligen geistigen Aus­ stattung erhoben zu haben braucht. (Man muß nur mit Kind und Kegel die üblichen jährlichen Reisen abwechselnd nach all den interessanten Kur- und sonstigen Orten zu machen in der Lage sein, mit einer äußeren Lebensein­ richtung sich auf der Höhe der Zeit zeigen, mit Gastereien, Wohnung und Aus­ stattung, und muß etwa auch mit dem Theater der Gegenwart gut Bescheid wissen.) Natürlich ist ja Mssen noch nicht gleichbedeutend mit intellektueller Bildung. Recht bestimmt urteilen zu können, das ist eine Eigenschaft, die auch heute sehr geschätzt wird, zumal solche Bestimmtheit mit der Bedeutung des Präzisen und Exakten zusammenstimmt, die auf möglichst allen Gebieten die Gegenwart anstrebt, auch mit der Raschheit, mit welcher alles erledigt sein will. Daß nur bei bedeutend entwickelten Menschen die bestimmten Urteile auch dann etwas

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wert sind, wenn sie vielmehr auf unmittelbarem Empfinden bemhen, als auf erworbenem, zuverlässigem Sachwissen, sollte man nicht verkennen; aber man hat ja eben viel zu viel Respekt vor dem sich sicher gebenden Individuellen, Sub­ jektiven, „Persönlichen"; in dem allgemein Gültigen sieht man nicht mehr das Höhere, das eigentlich zur Herrschaft unter Vernünftigen Bestimmte, fonbent nur die Schablone, die Wertlosigkeit. Ist nicht damit doch ein ähn­ licher Zustand erreicht, wie ihn in der Entwicklung des einzelnen Menschen die Periode des eben angehenden (nicht des reifen) Jünglingsalters darbietet, oder das entsprechende und noch deutlicher bekannte weibliche Entwicklungsstadium? Da beginnt das Persönliche als solches Reiz zu üben, und da erweckt jedes drastische Zeichen von sich bildender Eigenart Wohlgefallen. In starken Aus­ drücken, in schroffen Behauptungen, in dezidierter Ablehnung will sich das kraftvoll Männliche kundtun, in der Bezeugung maßloser Antipathien und Sympathien das tief Weibliche. So bei den einzelnen in dieser Periode. Für die Kulturmenschheit im ganzen gilt eine so bestimmt gegebene Abfolge von Perioden nicht; aber kann es für günstig erachtet werden, wenn man auf vermeintlicher Höhe mit einem solchen Stadium der inneren Unfertigkeit (um keinen stärkeren Ausdruck zu gebrauchen) Ähnlichkeit beweist? Blicken wir sogleich etwas bestimmter hinüber auf die Region des Gefühls­ lebens. Es gibt ein Gebiet, auf dem man sich zurzeit eines sehr empfindlichen, verfeinerten, unmittelbaren Gefühlslebens bewußt ist, dies Empfinden mehr zu pflegen trachtet und daran das eigentliche, höhere Menschentum und viel­ leicht geradezu den letzten persönlichen Wertmaßstab zu haben meint: dies ist das ästhetische. Gewisse Seiten unseres Kulturlebens machen eine Beschäfti­ gung mit mannigfachen Werken der Kunst leichter und allgemeiner als ehedem. Dabei bleibt hier die Gefühlswirkung im Zusammenhang mit Sinnestätigkeit und Reflexion, was dem Bestand und gegenseitigen Austausch der Gefühle zustatten kommt. Die ästhetische Empfänglichkeit in immer weitere Kreise des Gesamtvolkes zu tragen ist man eifrig bedacht. Daß gewisse andere Gebiete des Gefühlslebens in der Menschheit jemals absterben könnten, ist durch die Natur selbst ausgeschlossen: weder die menschlich sympathetischen, noch die so­ zialen in ihren verschiedenen Erscheinungsformen, noch auch aller Wahr­ scheinlichkeit nach die religiösen werden aus dem Menschengemüt schwinden. Aber daß dieselben zum Teil für unsere Gebildeten sehr in den Hintergrund getreten sind gegenüber jenem Leben in der Gesühlssphäre des Ästhetischen, ist deutlich zu gewahren. Beinahe scheint das Wesen der „Bildung" in solchem Übergewicht bestehen zu sollen. Freilich wäre es unserer Generation unmöglich, es wäre ihr widernatürlich und auch keineswegs etwa zu wünschen, daß sie zu der Mhrseligkeit der Periode vor etwa hundert Jahren zurückkehrte, die aus allen Erlebnissen, Beziehungen, Übergängen, Situationen ihre Nahmng sog, und in Tränen, Umarmungen

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und seelischen Entzückungen sich nie zu viel tun konnte. Man blickt denn auch jetzt darauf als etwas nicht bloß Krankhaftes, sondem ganz Törichtes und Ab­ geschmacktes unmutig und verächtlich zurück. £b nicht zu verächtlich, bleibt doch die Frage, und ob jene Menschheit mit chrem Reichtum des Fühlens nicht eher zu beneiden war, sei dahingestellt. Es ist jetzt Sitte, in der bildenden Kunst noch mehr als in der LiteraMr, allem abzusagen, was mit der Darstellung von einfach Menschlichem beweglicher an die Herzen rühren möchte; die äußerste Geringschätzung der Genrebilder in der Malerei ist ein Beleg dafür, mtb da­ hinter steckt nicht bloß die (übrigens anfechtbare) Theorie, die Malerei dürfe nicht erzählen wollen. Man empfindet alles normal Menschliche als banal; man wünscht sich andere, teils gröbere oder krassere, teils intimere, verstecktere Anregungen. Selbst das einfach Tragische bedeutet kaum mehr etwas; das Gräßliche ist erwünscht, und seine Darstellung wird gefeiert. Es ist, als ob dies Geschlecht nur noch ein Nervenleben habe und seine Nerven mit immer neuen und entlegeneren Mitteln prickeln müsse — womit man denn den Zeiten schlimmster Dekadery in der Vergangenheit gleichgekommen wäre. Daß der Kultus des Häßlichen fast überall Eingang gefunden hat, wo man sonst des Schönen sich freute, mag etwas minderen Anstoß geben als jenes Bevorzugen des Gräßlichen, bildet aber eine Parallele dazu; zu dem Per­ versen, das jetzt aus so vielen Gebieten ans Licht tritt, paßt und gehört auch das alles. Eine Menge der Erscheinungen auf dem Gebiete der LiteraMr und der bildenden Kunst, die dem Publikum jetzt interessant sind, ist im Gmnde nur pathologisch zu verstehen. Und aus der großen Furcht, unter den Menschen der Gegenwart rückständig zu erscheinen, lassen so viele sich in diese Gefühls­ weise hineinziehen; die Suggestion hat nie eine allgemeinere Macht geübt als jetzt, wo man doch überall Individualität, Persönlichkeit antreffen und schätzen möchte. Daß das menschliche Gefühl gegen viel Gräßliches, das rings um uns in der wirllichen Welt geschieht, die fast alltäglichen Massenunglücke, die Bluttaten, die unmenschlichen Verbrechen, Dinge, die nur in gewissen phantastischen Erzählungen aus fernen Lebensregionen oder in Vorgängen aus den unheimlichsten Perioden der Menschengeschichte chr Ebenbild finden, daß das Gefühl sich gegen all dergleichen offenbar mehr und mehr abstumpft, ist weder wunderbar noch eigentlich übel zu nehmen; wir alle fühlen uns dieser allmählichen Abstumpfung verfallen; aber ein weiterer unerfreulicher Zug bleibt es darum doch. Die Fähigkeit zum Aufschwung großer Gemeinschaftsgefühle, also zum Beispiel namentlich der nationalen, fehlt in der Gegenwart nicht; sie scheint vielleicht sogar besonders zweifellos, wenn man nach sesüichen Worten und schwungvollen Formeln urteilen will; aber um wahchaft lebendig und echt zu sein, bedarf sie doch immer besonderer Anstöße, und ein Mißverhältnis zwischen schöner Einkleidung und innerem Bestand ist reichlich oft zu gewahren. Das BeMünch, Zukunstspädagogik. I. Ausl. 11

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dürfnis, alle Augenblicke auf seinem Wege innezuhalten, um Gedenkfeste und ähnliche Anlässe zu feiern (das übrigens nur in Deutschland empfunden zu werden pflegt, nicht im Auslande, nicht z. B. in Frankreich), scheint damit zu­ sammenzuhängen, daß man gerne doch zwischendurch etwas recht fühlen möchte und zur Lebendigmachung des Gefühls den Rausch der festlichen Worte und Genüsse sucht. Me es mit dem religiösen Fühlen steht, das soll uns noch an anderer Stelle zusammenhängender beschäftigen. Im Ästhetischen, um darauf zurückzukommen, glaubt man oder glauben wenigstens viele Ersatz zu finden für versagendes religiöses Fühlen. Manche meinen auch, das Nationale und die ^Begeisterung dafür an die Stelle des ab­ gesetzten religiösen Bewußtseinsinhalts treten lassen zu können. Bestimmter aber noch wird gegenwärtig nicht selten eben für das ästhetische Fühlen eine Gleichwertigkeit der Bedeutung mit dem ethischen behauptet, oder ihm die Nachfolge für das letztere zugesprochen. Wenn in der Tat einzelne Menschen aus ihrem ästhetischen Fühlen das Gleichgewicht für ihre sittliche Persönlichkeit zu gewinnen vermögen, dauemde Erhebung über alles Gemeine, geläuterte und läutemde Freudigkeit des Lebens, oder wenn es eine ganze Schicht von Menschen dieser Art geben kann und wirllich gibt, so bleibt es doch Täuschung, davon eine Kraft für die Vielen zu erwarten, die die normierende Wirkung des Sittlichen entbehrlich machen könnte, eine Kraft in den inneren Kämpfen und Krisen, in all den groben Versuchen der niederen Sinnlichkeit und den feinen der schleichenden Selbstsucht. Aber frellich, in diesen selbst etwas noch wirllich zu Bekämpfendes zu sehen, hat man in der Gegenwart weithin auf­ gehört. Nicht etwa bloß im Men, wo es immer eine vom Sittlichen eman­ zipierte Schicht gegeben hat, sondem laut und offen und mit dem Anspruch auf Anerkennung durch alle zur Höhe der Gegenwart emporgestiegenen Menschen. Daß die Menschen nicht von einer starren, steifen, geradlinigen Moral beherrscht werden dürfen, diese oft auftauchende Behauptung kann man sich noch gefallen lassen; wenigstens wenn wirllich die Moral als eine starre, nor­ mierende, grausame, alle Gewichte der Mrllichkeit für die individuelle Natur ignorierende gemeint ist; denn daß es eine Bewertung des Menschlichen von einer höheren Linie aus gebe als diese, hat doch wohl Jesus den Menschen um ihn und dann nach ihm fühlbar gemacht. Aber in Wahrheit ist schwerlich zu irgendeiner früheren Zeit die gmndsätzliche und offene Erschütterung ethischer Auwrität bei den Stimmführern des Augenblicks so stark gewesen wie jetzt. Spott über alle veraltete Normiemng und Beschränkung tönt nicht bloß aus vielen gedmckten Blättem uns entgegen, sondem man begegnet ihm auch im Munde zahlreicher jüngerer, weiblicher wie männlicher Mtglieder der guten Gesellschaft. Das Schlagwort von dem berechtigten Bedürfnis des Sichauslebens erweist sich weithin als maßgebend, und es ist dabei doch vor allem

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an die feinere und gröbere Sinnlichkeit gedacht, und dazu etwa an das Tempera­ ment, an die zufälligen Wünsche und Neigungen, an das Bedürfnis möglichst reichlicher Sensationen. Um schon oben Berührtes in diesem Zusammenhange zu wiederholen: schon daß die alle Augenblicke entgegentretende Bezeichnung „temperamentvoll" ohne weiteres eine Rechtfertigung für mannigfache persön­ liche Maß- und Rücksichtslosigkeit bedeuten soll, ist kennzeichnend, aber bleibt freilich verhältnismäßig sehr harmlos. Wer: „hier sitzen wir mit unserer kräftigen und gesunden Sinnlichkeit; man komme uns nicht mit veralteten, hemmenden und einengenden Moralverboten!" Äußerungen von solchem und ähnlichem Wortlaut kann man in höchst angesehenen Blättem immer wiedel lesen. Durch etwas bequeme allgemeine Menschenliebe nebst möglichst vier Toleranz soll dem ethischen Ideal der Zukunft genügt sein. Am Ende gab es diese Anschauung schon längst, aber sie blieb doch in der Sülle und beanspruchte nicht, sich andem aufzuerlegen. Man kann aber ohne Übertreibung behaupten, daß nie eine Zeit ungefähr auf Men Gebieten zugleich so unbedingt mit der Autorität hat brechen wollen wie die Gegenwart. Eine Bewegung wie die der Reformation, die freilich ebenso stürmisch war wie die gegenwärtige schleichend, blieb im ganzen auf ihr bestimmtes Gebiet, das kirchlich-religiöse, beschränkt, und selbst auf diesem ward die Autorität des Über­ lieferten nur tellweise angefochten; die französische Revolution, noch weit Mimischer und gewaltiger als jene, bog eben infolge ihrer Leidenschaftlichkeit nach kurzem, furchtbarem Vorstoß auf allen außerhalb des Politischen liegenden Gebieten wieder in die älteren Bahnen ein. Gegenwärtig will die Eman­ zipation sich zu Mermeist eben auf dem ethischen Gebiete geltend machen, und das der Kunst zieht sie großenteils in ihren Dienst. Es hat sich ja als sehr mißlich erwiesen, gegen die in den Städten auf Tritt und Schütt sich aufdrängende Darstellung — nicht des Nackten, sondem des schamlos Frivolen, öffentlich seine Stimme zu erheben. Weil dies zunächst und zumeist von solcher Seite geschehen ist, die überhaupt eine selbständige Bewegung der Geister, einen Fortschritt der Anschauungen, irgendwelche innere Freiheit der Individuen nicht will, die immer in sorgsamer Behütung und gleichsam Ummauemng die Gewähr für sittlichen Bestand findet, dämm meiden es auch unabhängig Denkende, sich an irgend etwas wie einem Pwtest gegen den Unfug zu beteiligen; rückständig möchte man schon deswegen nicht erscheinen, weil man damit auf Wirkung erst recht keine Aussicht erblickt. Aber die Sache liegt doch keineswegs so, daß es sich hier nur um das Gegenüber von gesunder Unabhängigkeit und dumpfer Engherzigkeit, wo nicht um Schlimmeres, handle. Auf dieses Schlimmere nämlich weist man gern an­ deutend hin: als ob es nur widrige Heuchelei gebe oder unverhüllte Hingabe an die Sinne, so pflegen die Vertreter der letzteren es darzustellen, diesen Kunst­ griff wenden sie an, um sich zu rechtfertigen: ähnlich wie die Weiber von liebet* ll*

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lichem Lebenswandel sich darauf berufen, daß die „anständigen" Frauen im Gmnde viel lüsterner seien als sie selbst und es ihnen nur auf die äußerliche Bewahrung ihres Berufes ankomme, oder wie die groben Verbrecher einander die Aufklärung geben, daß die andem nur nicht so viel Courage hätten als sie selbst und daß Unbescholtenheit und philiströse Feigheit eng zusammengehörten. Was in Bildwerken und was zu gleicher Zeit in Theaterstücken und dazu passenden Erzählungen geboten wird, würde mit der Bezeichnung des frechen Zynismus viel zu schonend beurteilt sein. Unzählige jugendliche Menschen, und namentlich auch weibliche, haben sich bereits unschwer in diese seelische Region hineinziehen lassen, und von den in mittleren Jahren stehenden zumeist die Schicht der Halbgebildeten, die nicht Wurzel haben in eigenem Urteil und die immer fürchten, sich nicht als voll mit im Strome zählend zu erweisen. Daß man auf diesem ganzen Gebiete die Tinge sich frei entwickeln lassen müsse und daß jeder abwehrende Eingriff einer Kontrollinstanz auf Torheit, Anmaßung, Borniertheit hinauskomme, ist freilich die umlaufende Behauptung, und gestützt wird sie dadurch, daß in der Tat die durch polizeüiche Zensur er­ folgenden Eingriffe als fast ebenso viele Fehlgriffe, mitunter von lächerlicher Art, sich erweisen. Kein Wunder: denn wenn der Staat das Recht des Verbietens und Regulierens hier sich nicht bloß äußerlich beilegen, sondem mit gutem Gmnde in Anspruch nehmen will, so kann nicht beliebigen, nach Reife und persönlicher Durchbildung ganz unzulänglichen Beamten die Ausübung anvertraut werden, sondem es müssen Zensoren von höchstem Personenwert, von zweifellos überragender Bildung, selbständigstem Charakter, weitestem Gesichtspunkt gefunden und bemfen werden. Übrigens ist eine Fordemng ungefähr von dieser Art auch in der Vergangenheit öfter aufgestellt worden, allerdings wesentlich von der Theorie aus, denn die praktisch Verantwortlichen scheinen sich noch nie verantwortlich genug dafür gefühlt zu haben; man hat immer viel zu viel „nötigere", praktischere, einzelne Angelegenheiten zu er­ ledigen. Finden ließen sich solche Zensoren und zu einem würdigen Kollegium sich vereinigen, wenn man dergleichen emstlich wollte. Und was das Recht des Staates dazu betrifft, so gibt es schlechterdings keine unbedingte Norm für die natürlichen Befugnisse des Staates und ihre Schranken; von dem Bemf des Staates macht sich jeder oder jede Zeit oder jede Partei ein Bild nach den sie beherrschenden Ideen; für immer gegeben ist hier nichts, ebenso­ wenig wie für immer vorenthalten. Man wird sich wohl immer periodenweise mehr dem Gedanken möglichst unabhängiger Bewegung der einzelnen innerhalb der staatlichen Gemeinschaft und wieder dem des vollen staatlichen Bemfs zur Ordnung des Gesamtlebens nähem; das letztere doch vielleicht auch unter dem Einfluß der zurückgegangenen Bedeutung der Kirchen für die Ordnung dieses Lebens. In Zeiten der Anarchie erschallt von selbst wieder der Ruf nach Ordnung und Herrschaft; natürlich kommt die äußere Anarchie mit ihrer bet«

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wüstenden Wirkung den Menschen leichter zum Bewußtsein als diejenige auf innerem Gebiet. Der letzteren freilich vermögen solche Träger der öffentlichen Gewalt nicht zu wehren, die für sich der Kraft, der Ruhe, der ethischen Bildung ent­ behren, um nicht im Punkte sittlicher Maßstäbe einfach von der Tagesbestimmung mitgezogen und bestimmt zu werden, also nie das für ernstlich anfechtbar zu halten, was der Durchschnitt der Gesellschaft toleriert oder übt. Und in diesem Sinne scheinen die meisten amtlichen Urteile auszufallen, oder, wenn sie anders erfolgen, doch bald auf diesen Standpunkt zurückgeleitet zu werden. Daß nicht mehr geschehen könne zur Eindämmung des sich immer breiter machenden Lasters, als zurzeit zu geschehen pflegt, davon kann man sich schwer­ lich überzeugen. Freilich, die zur Herrschaft gelangten Anschauungen könnten nur von innen her überwunden werden. Diese Anschauungen sind namentlich auf dem sexuellen Gebiet fast bei der gesamten jüngeren Männerwelt von einer unverhohlenen Laxheit, um nicht zu sagen Nichtsnutzigkeit, wie sie schwerlich eine frühere Zeit in ähnlicher Allgemeinheit dargeboten hat. Ein schlimmerer Krebsschaden kann schließlich doch bei einem Volke nicht vorhanden sein, auch nicht der Mohol, der ja freilich — die Bewegung gegen seinen Mißbrauch hat bis jetzt nur eine dünrw.Schicht der Bevölkerung zu berühren vermocht — auch seinerseits ein sichtbarer Vemichter geblieben ist, ein Menschenkraft und Glück in gewaltigen Massen verschlingender Dämon, dem man unter Lachen, als ob es puren Scherz gelte, die gewohnten Opfer bringt. Ist es vielleicht ein Schritt zum Besseren, daß sexuelle Dinge gegenwärtig allerwärts mit einer sonst nie erhörten Rückhaltlosigkeit besprochen werden? War es wirllich nur Torheit, Engherzigkeit, Heuchelei, daß man das animalisch Niedrigste nicht ohne Not im Tageslichte spielen ließ? Die Menschen der Gegenwart hängen an dem Reiz dieser Themata, wie sie auf Theatern, in Romanen, in Gesprächen und Verhandlungen beständig verhandelt werden, und die weibliche Hälfte der Gesellschaft steht darin hinter der männlichen nicht sehr zurück1). Zum Teil auch schon nicht mit der frechen Fordemng des unbedingten Rechtes der Sinnlichkeit. Wenn der Franzose Marcel Prövost seinerzeit ein Buch von den „Demi-vierges" schrieb, so ist die Zahl derjenigen, auf die diese Charakteristik der nur äußerlich bewahrten Jungfräulichkeit — auch bei uns — paßt, Legion. Immer vielleicht haben die Töchter das Leben etwas anders angesehen als die Mütter, ein Bedürfnis freierer Bewegung gefühlt, als in den festen und nicht allzu breiten Bahnen, in denen sie die ältere Genera­ tion sich bewegen sahen, und ein bischen Übermut des Urteils darüber hat ihnen wohl immer, weil sie eben jung waren, nahegelegen. Wer niemals kann der *) Selbst die breite Diskussion über das Bedürfnis sexualpädagogischer Be­ lehrungen, die mit einemmol sich allerwärts öffentlich abspinnt, ist nicht ohne Zu­ sammenhang mit dem wenig erfreulichen Vorwiegen dieses Interesses.

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Gegensatz so gwß wie jetzt gewesen sein zwischen dem Fühlen der Töchter und der Mütter, niemals soviel mitleidiger Spott der Emanzipierten geäußert worden sein über die allzu naiv Gebliebenen. Welche Freiheit des Tuns wird auf diesem Gebiete nicht in Schutz genommen, und auch wieviel widerliche Perversität wird gegenwärtig mit allem Gleichmut hingenommen und mit aller Freundlichkeit entschuldigt! Man kann nicht anders, als von einer gewaltigen Verseuchung reden, und man bedarf nicht einmal der Zahlen, die die statistischen Erhebungen über dieses und alle verwandten Gebiete der Verdorbenheit aufstellen, ebensowenig wie man solcher Zahlen bedarf, um den Gesamtumfang der brutalsten Verrohung mit allen Spielarten scheußlichen Verbrechertums zu ermessen, da ja die Zeitun­ gen keines einzigen Tages ohne eine ansehnliche Ausbeute von Nachrichten darüber bleiben. Und es ist ein ganz unzutreffender Trost, den man bei der Hand hat, daß dergleichen jetzt nur regelmäßiger öffentlich kundgetan werde, daß überhaupt die Welt immer im Sinne der Moralisten schlecht gewesen sei, während man doch auf so vielen schönen Gebieten sichtlich aufs schönste fort­ schreite. (Natürlich namentlich auch in der Überwindung von moralischen Vomrtellen und in der größeren Bewegungsfreiheit der — immer wertvollen — Individuen!) Bekanntlich gilt ja auch jede Äußerung des Unmutes über das stetige An­ schwellen der großen Städte und über die Abwendung vom ländlichen Leben für ein Zeichen großer Borniertheit, Rückständigkeit oder von verstecktem, bäuer­ lichem Egoismus: und doch kann man auch von rein psychologisch-ethischen Erwägungen aus die sich darin vollziehende Verändemng nur mit schmerz­ lichem Bedauern beobachten. Was hundertmal über die Wirkung der großen Städte ausgesprochen wird, daß sie eine innere Hast und Unruhe befördem, der inneren Sammlung und Vertiefung der Menschen ungünstig sind, daß sie vielerlei Unsittlichkeit erleichtem und viele Versuchungen dazu sich breit machen lassen, ist unzweifelhaft richtig und ist gewichtig genug; es ist aber noch nicht alles, was hier zu sagen ist. Es kommt hinzu eine stille und all­ mähliche Wirkung zur inneren Kälte und Entfremdung der Menschen gegen­ einander, zu einer ständigen leichten nervösen Gereiztheit und namentlich einer Depotenzierung des Gewissens der einzelnen durch die unmerklich er­ drückende, mitreißende, nivellierende Macht der allgemeinen Stimmung und ihrer gemeinen — denn selten ist es vom Allgemeinen weit zum Gemeinen — Maßstäbe. Für die Jugend sind alle diese Wirkungen von besonderer Bedeutung: sie ist der Macht der mitreißenden Umgebung und ihrer Stimmung weit zu­ gänglicher, sie glaubt leichter an den Wert des jedesmaligen Neuen, ihr im­ poniert in um so höherem Maße die Ankündigung neuer Ziele und Kräfte, sie fühlt sich sehr geneigt, die Autorität abzuschütteln, sie sieht gern eine Zukunft

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von unbegrenzter Weite und von völligster Bewegungsfreiheit. Und zugleich ist es doch die Jugend, die stetiger, geschlossener, ruhiger Verhältnisse bedarf, um ihr Sammlung und Vertiefung des Wesens zu ermöglichen, um das Werden wirklicher Persönlichkeiten zu begünstigen. Nicht bloß der noch zu erziehenden Jugend liegt naturgemäß der Glaube an den Wert des Neuen, des Kommenden nahe, der ganzen noch irgendwie jüngeren Generation wird es schwer werden, Anschauungen wie die im vor­ stehenden dargelegten zu würdigen oder gar zu teilen. Sie selbst, diese Generation, ist es ja, die den Strom schwellen und wallen macht, und sie wünscht von diesem Strome kräftig mitgetragen zu werden. Gleichwohl müßte ich wider­ sprechen, wenn man in Anllagen obiger Art nur Jeremiaden des Alters finden wollte. Emste Menschen auf sehr verschiedenen Lebensstufen, das sei wieder­ holt, treffen in jenen Urteilen zusammen. Daß sie die Masse nicht für sich haben, versteht sich, und daß die Stimmführer der Masse ihnen nach eigentlicher Reife sehr nachstehen, würde sich beweisen lassen — wenn auf diesem Gebiete Be­ weise überhaupt Platz fänden und Wirkung täten. Es handelt sich aber in gegenwärtigem Zusammenhange gar nicht darum, das Bild der Gegenwart überhaupt zu zeichnen, sondern hinzuweisen auf die bestimmten — begünsti­ genden oder gefährdenden und schädigenden — Bedingungen, welche dieselbe eben für die Aufgabe der Jugenderziehung oder allgemein der Jugendent­ wicklung darbietet. Wer durch praktische persönliche Tätigkeit, oder durch amt­ liche Normierung, oder durch regulierende Gedanken an der Gestaltung der Erziehung mitarbeitet und sich also für den Erfolg irgendwie mit verantwortlich fühlen soll, der muß auch eine gerechte Beurteilung der sachlichen Bedingungen fordern, unter denen die Aufgabe der Erziehung gelöst werden soll. Die Be­ deutung und Wirkung allgemeiner Verhältnisse ist weit größer, als sowohl der allzu unbefangene Laie wie der noch allzu unerfahrene Erzieher denkt. Sie ist weitaus wichtiger als alle planvollen erzieherischen Einwirkungen zusammen. Und es ist eine der größten, wenn auch sehr gewöhnlichen Unbilligkeiten, wenn bei öffentlich hervortretender Entartung der Jugend regelmäßig alsbald die Schule zur Rechenschaft gezogen werden soll, dieselbe Schule, der entgegen­ zuarbeiten man so vielfach gar keine Bedenken trägt. Übrigens wäre dem oben gezeichneten Bilde noch manches Wichtige hinzu­ zufügen. Es mag das aber in besonderen Abschnitten mit zur Sprache kommen, wo von der Familienerziehung als solcher und wo von der Verwaltung des öffentlichen Erziehungswesens zu handeln sein wird. Daß im Grunde das letztere nicht recht gedeihen kann, wenn nicht wirllich überragende und tief sachkundige Männer mit der obersten Entscheidung betraut werden, nur dies sei schon hier im Vorübergehen gesagt, denn nicht immer findet man diese wichtige Bedingung erfüllt, und doch wäre sie zu erfüllen leichter möglich als jenes allgemeine Angesicht der Zeit zu korrigieren.

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Nun aber doch noch ein anderer Nachtrag, mit dem schon hier nicht zurück­ gehalten werden soll. Ist wohl bei dem, der viel ungünstige Züge im Bilde der Zeit sieht, dem diese Züge durchaus zu überwiegen scheinen, der die Gegen­ wart von feindseligen inneren Mächten höchst gefährlich durchzogen, ja zum Teil ihr bestes Leben zerfressen sieht, ist bei ihm ein endgültiger Pessimismus eine notwendige und selbstverständliche Sache? Das muß doch vemeint werden. Wenn die günstigen Züge sich in kürzerer Zeichnung erschöpfen ließen, so ist eben das Zergehende als solches leichter zu erlernten als das erst Keimende, und wie kräftig sich die Keime des Positiven entwickeln werden, läßt sich nicht zum voraus ersehen. Unmöglich ist es ja sicherlich nicht, daß auch die weitere Zukunft von immer wachsenden äußeren und inneren Nöten angefüllt sei. Melleicht gehen der Kulturmenschheit oder gehen unserer Nation wirklich mehr und mehr die bestimmten sittlichen Haltepunkte verloren, vielleicht nimmt die Emanzipation der Sinnlichkeit nur immer weiter zu, vielleicht liegt die Periode echter Humanität und die eines lebendigen Idealismus auf immer hinter uns, und wir werden von da nun fortgesetzt abwärts gleiten, vielleicht wandelt sich unser Werk unter den Kulturvölkem wirllich, wie das jenseits unserer Grenzen nicht selten ausgesprochen wird, aus dem Feinen ins Gröbere, vielleicht führt die immer steigende Anspannung der Kräfte der Nationen um weitere Ex­ pansion, um vorteilhaftere Lebensbedingungen oder auch nur um ferneren Bestand ziemlich bald zu neuen und bann ungeheuren Zusammenstößen, viel­ leicht wird der Erdball schon sehr bald dem sich gewaltig rasch vermehrenden Menschengeschlecht zu eng und es kommt zu einem unaufhörlichen Krieg aller gegen alle um einen Platz an der Sonne, um die Behauptung im Leben, viel­ leicht schließt die Menschheitsgeschichte mit Zuständen, wie wir sie am Beginn, beim Emportauchen aus der Tierheit, denken mögen. Das alles sind keine bloßen bösen Fieberträume, es ist durchaus berechtigt, diesen Möglichkeiten bestimmt ins Auge zu blicken, und kein zufälliger und behaglicher Optimismus könnte sie widerlegen. Aber andrerseits ist, was die inneren Geschicke unseres Geschlechts betrifft, vor allem der tröstlichen Tatsache zu gedenken, daß demselben eine schöne, innere Regenerationskraft innewohnt, die, ohne daß die äußeren Bedingungen dabei berechnet werden könnten, sich immer wieder zu offenbaren und zu bewähren vermag. Es scheint, daß das Beste, was innerhalb der Menschheit einmal lebendig geworden ist, obwohl längst erstorben oder verweht, doch immer irgendwo keimkräftig ruhen bleibt, immer wieder eines Tages zum Leben erwacht und treibt und Fmcht bringt. Inmitten einer sittenlosen Welt erwacht wieder, in Einzelnen und sich ver­ breitend, die Freude an Reinheit, innerhalb einer sich innerlich ganz zer­ streuenden und verleugnenden Gesellschaft der Sinn für stille Sammlung, innerhalb einer sich immer überfeinernden Kultur derjenige für einfache Natur, in der Zeit ganz veräußerlichter Religion doch wieder echt religiöses Fühlen,

Erreichtes und Gefordertes.

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in idealloser Periode leuchten wohl plötzlich neue Ideale auf, und so kann man weiter schildem und hoffen. Und gerade die Jugend ist es ja, bei der auch vom Schlechten immer nur die Keime oder die Möglichkeiten da sind und diejenigen zum Guten immer wieder mit geboren werden. So scheint es, daß die Erziehung eine Zukunft immer behält, wie dunkel auch die Zukunft im ganzen sein mag.

2. Wenn ein Mensch vor vierzig oder fünfzig Jahren den Stand unse­ rer höheren Schulen gekannt hätte, dann ausgewandert und ohne irgendwelche Kenntnis ihrer weiteren Entwicklung geblieben, nun aber zurück­ gekehrt wäre und von neuem genauen Einblick nähme, was würde er finden? Stillstand, Rückgang, Verschlimmerung? oder vielfachen Fortschritt, Vervoll­ kommnung im großen und kleinen, Überwindung mannigfacher Gebrechen, Beschreiten neuer und glücklicherer Wege? Möglich wäre gewiß, daß ihm alle Veränderungen viel zu unzulänglich schienen, um auch da, wo sie sich als Verbessemngen geben dürften, ernstlich zu zählen. Möglich wäre das, wenn der Auswanderer schon so radikale Kritik mit sich genommen oder allmählich in sich hätte lebendig werden lassen, wie jene gründlich Unzufriedenen von heute sie vertreten. Wahrscheinlicher wären doch andere Eindrücke und eine andere Stimmung. So sehr man gerade heute über die sinnlose Menge des anzu­ eignenden Mssensstoffes aus allen möglichen Gebieten klagt, der Sachkenner und gerecht Urteilende müßte finden, daß man die ehemalige Fülle seitdem fast überall gewaltig gesichtet und verringert hat, daß statt dickleibiger fremd­ sprachlicher Grammatiken voll endloser Regeln und namentlich Ausnahmen, in Keinem Druck und mühsam zu durchforschen, Sprachlehren von sehr be­ scheidenem Umfang und höchst übersichtlicher Einrichtung im Gebrauch sind, daß also viel Selteneres und Unregelmäßiges, das den früheren Schülem zu lernen oblag, den heutigen erlassen ist, und daß man ihnen ebenso, statt dick­ leibiger Lexika von ehedem, Wörterbücher mit nur dem für sie regelmäßig in Betracht kommenden Wortschatz in die Hand gibt. Er müßte ebenso, trotz allen das Gegenteil behauptenden Beschwerden von heute, finden, daß das Maß des positiven Wissens im Religionsunterricht sehr vermindert ist, sowohl was Kirchenlieder wie Sprüche wie sonstiges präzises Bibelwesen und noch anderes betrifft. Er würde die so viel berufenen geschichtlichen Zahlen, Namen und Daten außerordentlich geschmälert finden, das ehemalige Memorieren kapri­ ziöser Tabellen, Genealogien usw. vermissen (mit ganz berechtigtem Vergnügen vermissen), und ebenso in der Geographie alle die einstmals üblichen Einwohner­ zahlen der bedeutenderen Städte (die ja allerdings seit damals fast sämtlich in stets unmhiger Bewegung nach oben begriffen sind), die Bestimmungen nach

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Zweiter Teil.

Betrachtungen und Vorschläge.

Längen- und Breitengraden, die Höhen aller wichtigeren Berge nach Fuß oder Meter; und was noch wesentlicher ist, er würde nicht mehr die ehemalige Beschränkung auf dieses trockene, positive Sachwissen antreffen, sondem den Versuch der Einführung in Anschauung und Verständnis des Lebens der Erde; und ähnlich Wiedemm auf andem Gebieten ein Zurücktreten des mehr mechanisch Anzueignenden gegenüber dem verständig zu Begreifenden. Er würde allerdings andrerseits Wohl etliche präzisere Kenntnisse in Physik und andem Naturwissenschaften gefordert sehen, das aber schwerlich mit Ver­ stimmung feststellen. Und weiter in das Getriebe einblickend, würde unser heimgekehrter Be­ obachter gewahren, wie fast überall das Ausgehen von anschaulichem Material an Stelle des früher allzu üblichen unmittelbaren Vorführens der Gesetze ge­ treten ist, in Sprachen und Wissenschaften. (Man kann freilich selbst dies alles und das weiterhin Anzuführende für tatsächliche bloße Verschlechtemng der Methode erllären, wenn man recht ingrimmig ist und weiser als alle Weisen erscheinen will, und daß es diesen Standpunkt gibt, haben wir ja oben gesehen.) Femer könnte unmöglich verkannt werden, wie vielerlei Erleichtemng den Schülem, den jüngeren nicht bloß, sondem auch den reiferen, gewährt zu werden pflegt durch vorherige Erllämng schwieriger Stellen der Lektüre oder durch ein gemeinsames Erarbeiten der Ergebnisse im Unterricht selbst statt der ein­ fachen Auferlegung des Herausfindens, wie sehr die daheim anzufertigenden Aufiätze durch vorherige Besprechung erleichtert werden, wieviel geringer im allgemeinen jetzt die Ausdehnung der schriftlichen Arbeiten ist und wie sie sich auch weniger häufen und drängen, und meist doch wohl auch, wie eine rigorose Beurteilungsweise dieser Arbeiten einer billigeren gewichen ist. (Dem grund­ gelehrten und unerbittlichen und um beider Eigenschaften willen besonders angesehenen phllologischen Lehrer von ehemals galt es als eine pädagogische Tugend, keinen gröberen Fehler jemals zu verzeihen, und die Jugend hatte fich auch in diese Auffassung zu finden und danach sich einzurichten.) Daß — wiederum im Gegensatze zu den bestimmten Anklagen der Gegenwart — die Ausdehnung und Bedeutung des Geschriebenen sehr vemünftigermaßen zurückgetreten ist gegen die der mündlichen Leistungen, wäre ebenso unrecht zu verkennen. Auch, daß das Diktieren und Nachschreibenmüssen so gut wie ganz aufgehört hat, und nebenbei, daß das Wertlegen auf saubere Schrift nicht mehr als im Wderspmch stehend mit dem Wesen einer „Gelehrtenschule" gilt. Und weiter wäre hier zu erwähnen die Einfühmng mannigfacher Mittel der Veranschaulichung, übersichtlicher Karten, zahlreicher Bildwerke, guter Samm­ lungen, Sorge für möglichst bequeme und gesunde Subsellien, Sorge um das rechte Licht in den Unterrichtsräumen, um guten, deutlichen Tmck in den Schulbüchern und mehr dergleichen. Auch bereits bei den meisten Schulen gut eingerichtete und ausgestattete Turnhallen und ein regelmäßiger und erfolg-

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reicher Betrieb des Lumens, ebenso wie gmndsätzliche Begünstigung von Schwimmen, Eislauf usw. Femer zwischen den Unterrichtsstunden grundsätzlich ansehnliche Pausen, die eben doch mit der Zeit immer länger geworden sind, während es früher als wünschenswertester Zustand galt, daß der Lehrer der beendigten Lektion dem der folgenden die Türklinke in die Hand gab, und während auch jetzt in unseren Nachbarländem die unmittelbare Aufeinander­ folge einiger Lektionen noch keineswegs verpönt ist und übrigens auch die einzel­ nen Lektionen zum Teil längere Dauer haben als bei uns. Nicht minder wäre festzustellen, daß Häufigkeit und Maß der verhängten Strafen außerordentlich eingeschränkt ist, daß insbesondere die einst so üblichen reichlichen schriftlichen Strafarbeiten gmndsätzlich fast ganz abgeschafft sind, und auch daß die für die Hausarbeiten in Anspmch genommene Zeit gegen früher sehr beschränkt ist*), was freilich noch nicht verbürgen wird, daß sie nicht noch immer für viele Schüler zu umfassend erscheint, aber dämm doch als Verbessemng anerkannt werden muß. Wie erheblich sind ferner die Reifeprüfungen gegen früher vereinfacht, wieviel weniger sind der verantwortungsvollen schrift­ lichen Arbeiten, wieviel mehr Prüflinge werden von der mündlichen Prüfung entbunden! Wieviel gesicherter ist das Zusammenwirken der Lehrer, auf Gmnd fest vereinbarter Pläne und oft wiederholter Konferenzen, wieviel unablässiges Sinnen und Verhandeln ist den Fragen der Unterrichtsziele, der Methode und der sonstigen Schulpädagogik in allen diesen Jahrzehnten gewidmet worden, wieviel Bemühung der höheren Vorgesetzten und Lenker des Schulwesens um Überwindung naheliegender Mängel, um Vergeistigung des Verfahrens, um Sichemng der Humanität im Verkehr mit den Schülem, um die rechte Vorbildung der jungen Lehrer! Daß die tatsächliche Unterrichtskunst sich int ganzen sehr gehoben hat, die Ziele richtiger gefaßt und mancherlei lange fest­ gewurzelte Verkehrtheiten überwunden sind, ließe sich leicht an diesem oder jenem Fache aufzeigen; hier soll aber nicht so ins einzelne gegangen werden. Jedenfalls, wenn man alles unleugbar Vervollkommnete zusammennimmt, darf man nicht getrost fragen, ob etwa jeder beliebige andere Berufsstand gleichen Schritt in der Selbstkorrektur gehalten habe? Auch darüber soll hier keine bestimmtere Untersuchung angestellt werden. Aber wenn, ähnlich wie der reiche Jüngling im Evangelium sprach: „Das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf", die deutsche höhere Schule darauf hinweisen darf, wie sie „das alles" sich zugemutet und geleistet habe, sie hätte dämm nicht weniger Anlaß als der Jüngling zu fragen: „Was fehlt mir noch?" Und heute hört sie ja eben von vielen Seiten die niederschmettemde Antwort: „Alles". In Wirllichkeit jedenfalls vieles, nicht bloß weil menschliche Gebilde niemals über den Zustand hinauskommen, daß an ihnen vieles zu verbessem möglich und wünschenswert wäre, sondem auch, weil wirllich die Verbesserungen keineswegs voll durchgedrungen sind, weil wichtige Seiten nicht genügend

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davon berührt worden sind, weil neue Gesichtspunkte und Maßstäbe mit neuer Zeit aufgekommen sind. Diese dreifache Unvollkommenheit muß im Prinzip von vomherein zugestanden werden. Die Frage ist nur, wie tief sie ins einzelne greift und wie tief denn auch die abhelfenden Eingriffe gehen sollen. Daß auch manche mit Überzeugung vorgenommene Verbessemng sich als solche nicht schlechthin und endgültig erwiesen, daß sie einen bedenklichen Schatten geworfen hat, dies muß doch noch ergänzend ausgesprochen werden. So verwandelt sich, was sicherer Abschluß schien, immer wieder in offene Frage. Und das dient immerhin mit zur Erllämng, wie gerade in solcher Zeit treulichen Voranstrebens so vemichtende Kritik weithin laut werden kann. Es kreuzen sich eben Angriffe, die die gesamte Gmndlage erschüttem, mit Zweifeln, die immerhin tief in die Organisation eingreifen, und mit Fragen, die der inneren Fortbildung oder auch allmählichen Umbildung gelten. Ver­ suchen wir einen raschen Umblick, der denn zugleich zusammenfassender Rück­ blick auf vorher Berichtetes sein wird. Angefochten wird also schlechtweg das Gebilde, das wir Schule nennen, das die Kulturmenschheit ungefähr so seit einigen Jahrtausenden kennt. Ein zusammenhängendes Dasitzen der jungen Schüler, um durch Ohr und Auge Lehre zu empfangen, um immer nur geistig (begrifflich) oder wenigstens schein­ bar geistig aufzunehmen und ein wenig zu verarbeiten, um viel mehr wiederzu­ geben als hervorzubringen, um nicht sowohl selbst zu tun, als etwas an sich tun zu lassen*). Schon das Sitzen als solches, wenn es auch immerhin durch Stehen zuweilen unterbrochen wird, erscheint als unnatürliche Zumutung angesichts der starken körperlichen Bewegungstriebe der Jugend, und wenn man Jahrtausende hindurch es den Kindern auferlegt hat, so vermögen sehr wohl Jahrtausende einer verkehrten Gewohnheit treu zu bleiben, und eine Er­ kenntnis, die hinterher vielleicht als besonders naheliegend oder besonders nötig erscheint, kann eine endlose Periode hindurch ««eröffnet, ungesucht ge­ blieben sein. So wäre es denn hier mit der Erkenntnis des wahren Wesens der Jugend, ihrer Bedürfnisse und ihrer Rechte, und Rousseau wäre in dieser Hinsicht nicht zu weit gegangen. Das Gebanntsein an das Zimmer anstatt der Möglichkeit und des Rechtes lebendiger Bewegung in der freien Natur käme mit in Rechnung, aber vor allem die Hemmung spontanen Wollens, Tuns, Versuchens, was alles im gesunden Jugendleben das Wesentliche bilden müßte. Und zur Entfaltung des eigenen Selbst gehörte denn auch das Auftauchen von Fragen in dem jungen Geiste, und seine Fragen sollte man vielmehr abwarten, um sie dann zu beantworten, anstatt daß man immer Fragen stellte, auf welche die Antwort in der jungen Seele gefunden werden oder eigentlich meist ihr übermittelt, mindestens suppeditiert wird. Nebenbei gesagt, ist in mittelalter­ lichen Lehrbüchern die Verteilung zwischen Fragen und Antworten nicht die uns aus Katechismen und ähnlichen Lernbüchern vertraute, fonbent dem

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Schüler fallen die Fragen zu, und die Antworten dem Lehrer, worin man denn in der Tat eine Ahnung des natürlichen Verhältnisses erkennen mag: die Jugend muß wünschen zu wissen, und der Wunsch ihr gewährt werden. Auf die natürliche Wißbegierde der Jugend ist der Unterricht aufzubauen, ein Lehren ohne deren Vorhandensein ist psychologisch unpraktisch, wenig fruchtbar und peinlich. Im Augenblick, wo der Zögling etwas Bestimmtes zu lernen oder zu können wünscht, hat die Unterweisung ihre rechte Stätte. Dese ganze Betrachtung hat etwas sehr Gewinnendes. Und in dem Lande, das sich nicht gleich uns im Banne alter Überlieferung fühlt, in Amerika also, werden praktische Versuche auf Gmnd dieser Anschauung gemacht, wie sie anderswo wenigstens gewünscht und verlangt werden. Auf eine Vermittlung zwischen Altem und Neuem wird es schließlich doch hinauskommen müssen. Wird sich etwa die natürliche Wißbegierde allgemein, emstlich, ausdauernd genug erweisen? (Um von der doch unerläßlichen Mehrseitigkeit weiter nicht zu reden.) Ist die erscheinende Wißbegier nicht oft wenig mehr als Schein, augen­ blickliche Außemng einer flüchtigen Anwandlung? Kann man zum Erlemen eines wertvollen, geschlossenen Ganzen gelangen ohne oft erneuten Willens­ ansatz, und ist dieser schon bei der weichen, vom AugeMick beherrschten Jugend zu erwarten? Muß nicht Nötigung eintreten, wo regelmäßige Selbstnötigung noch fehlt? Werden die jugendlichen Menschen von selbst, durch das bloße natürliche Wachsen, zu Erwachsenen, die in dem Kulturleben stehen können, würden sie nicht Kinder bleiben am Geiste, ungefähr so wie die Erwachsenen der sogenannten Naturvölker? Ist die Hinfühmng der Nachwachsenden auf die Stufe unseres Kulturlebens in der mäßigen Zeit der in Betracht kommenden Jugendjahre möglich, ohne daß ein erhebliches Maß von Dmck, Mtigung, Unfreiheit, Pein sich damit verbindet? Ist es nur Vorteil, in einer Periode aufzuwachsen, wo die Menschheit oder die Nation ihrerseits schon einen außer­ ordentlichen Weg der kulturellen Entwicklung zurückgelegt hat, oder schließt das nicht naturgemäß auch Nachteil und Mte ein? Der junge Mensch hat, um aus die hochgelegene Plattform mit dem herrlichen Umblick und der frisch be­ wegten Luft zu gelangen, eine sehr hohe Treppe zu ersteigen, und will und soll doch zu einem bestimmten Zeitpunkt oben angekommen sein. Das geschieht nicht ohne Keuchen und ohne leichte Kniegelenkschmerzen, und auf beliebige Zeit unterwegs liegen bleiben und ausmhen geht nicht an. Wer bildet nicht derartige Zumutung zugleich ein Stück der großen Schulung des Willens? Gehört nicht Eingewöhnung auch in das der Stimmung Widerstrebende zu dieser Schulung? Genügt es, daß der Wille sich frei regen könne, wird er damit schon zu einem wirllichen Willen werden, Ausdauer und Konsequenz erreichen, über das bloße Begehren oder über die bloße Willensstimmung hinauswachsen? Sich aus sich selber, aus gegebenen Keimen frei und voll zu entfallen, ist das Vorrecht der Blumen, und hier und da bildet sich in einem Individuum ein

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hoher und edler Menschenwert in solcher blumenhaften Entwicklungsfreiheit; für die weitaus meisten aber ergibt sich ein persönlicher Wert nicht ohne Erzie­ hung zur Pflicht; die große Lebensgemeinschaft macht an sie ihre Forderungen geltend durch Hineinziehung in ihre Aufgaben, durch Verflechtung mit ihrem organisierten Pflichtleben. Das mag zuzeiten der gerade lebenden Genera­ tion unwürdig und unerträglich scheinen, und die so Empfindenden mögen wenig Mühe haben, ihr Gefühl von der Sachlage dem jungen Nachwuchs einzuflößen; rufen doch die Menschen einer bestimmten Zeit meist in irgend­ einem Sinne nach Freiheit, weil das Leben sie wirklich immerdar empfindlich bindet; aber jenes dann unwürdig und kaum erträglich Scheinende kann darum doch nicht bloß erträglich, sondem auch menschenwürdig sein. Indessen, mit alledem ist nicht gesagt, daß das rechte Verhältnis zwischen der Erziehung durch Bindung und Mtigung und derjenigen durch Gelegenheit zu wahlfreiem Tun bis jetzt gefunden und innerhalb unserer Schulorganisationen verwirllicht sei; neue Formen der Vermittlung zu suchen, kann an sich nicht verkehrt, kann nur berechtigt erscheinen und kann verdienstlich werden. Nur ist möglichst völliges Umwenden auf die andere Seite eine allzu einfache Lösung, wie sie eben die Leidenschaft eingibt, nicht aber die Weisheit. (Oder darf man dem gegenwärtigen Geschlecht nicht mehr von Weisheit reden? Fühlt es sich zu sehr verjüngt, um ein solches Wort ertragen zu können?) So mag denn auch das Verhältnis von Wissen und Können immer neu erwogen und mit besserem Gleichgewicht verwirllicht werden, und es mag immer getrachtet werden, an Stelle des Mssens überhaupt — das übrigens jetzt allzu leicht als ein totes bezeichnet zu werden pflegt, indem doch seine Erwerbung nicht ohne Entwick­ lung von Kraft erfolgte und sich meist auch die Welt der Gefühle irgendwie damit verflicht — möglichst belebendes Wissen zu setzen und über das Können als solches hinaus möglichst persönliches Können zu suchen. Ist nicht Druck an sich anzufechten, so doch Tmck, der zu e r drücken droht; gibt es unter uns zahlreiche Menschen, die eigentlich ohne Lebensfreudigkeit wertvollen Dienst der Gemeinschaft leisten, so haben wir doch den wertvolleren von den der Freudigkeit nicht Entbehrenden zu erwarten, und wenn die Lebensfreude sich nicht neben der Lebenspflicht her behauptet, sondem mit dieser selbst sich ver­ webt, ist dies das Schönste, und es ist das, was wir bei der Erziehung eigentlich anstreben müssen, was wir gewissermaßen der Jugend schuldig sind. Mcht als ob, wie viele meinen, alles darauf ankomme, die Jahre der Jugend in möglichst ungetrübter Lust, in wolkenlosem Sonnenschein hingehen zu lassen, damit das spätere, unausbleiblich trübe Leben von dem Nachglanz der Jugend­ tage ein wenig erhellt und durch diesen Nachglanz erträglich werde. Diese Anschauung, der man schon immer nicht selten begegnete, die immer von ge­ wissen Naturen vertreten ward, wird ja neuerdings vielfach mit dem Anspmch der Allgemeingültigkeit literarisch verfochten; sie deutet aber doch, wenn

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nicht auf eine Art von hypochondrisch-sentimentaler Auffassung des Lebens, so doch auf eine gewisse Philisterhaftigkeit hin: wer nicht auf der Höhe des Lebens, aus seiner Stellung auf dieser Höhe, aus seinem Wirken und auch dem emsteren Genießen dieser Jahre Freudigkeit zu ziehen vermag, wer sie nur aus der Erinnerung holen will, wer die Jahre der eigenllichen Lebenstätigkeit mit Ächzen und Seufzen hinbringt, nur den Dmck der Aufgaben fühlt und nicht ihre beschwingende Wirkung, der ist eben Philister, sei es mehr von der platten oder mehr von der sentimentalen Sorte. Und wer nicht auch schon in Kindheit und Jugend sich gelegentlich „durch Leiden des Lebens schlagen" mußte, dürfte eine sehr fragwürdige Vorbereitung auf die Hauptzeit empfangen haben: zumal soweit jene Leiden sich doch mehr nur als zeitweilige Mzüge am Wohl­ befinden darstellen, die dann um so empfänglicher machen für die Freuden, für die Freiheit. Sollte wirllich die Jugend so viel besser als die Mten eine ununterbrochen lange Reihe schöner Tage vertagen können? Und sollten wirk­ lich alle Schatten, die sich über das Lebensland der Jugend breiten, von uns Erwachsenen als schreckliche Finstemis betrachtet werden? Sollte die viel­ beneidete Seligkeit, deren die Jugend fähig erscheint, sich dauemd bewähren, wenn sie nicht unterbrochen würde? Ist es nicht genug, daß die Jugend die wundervolle Elastizität besitzt, immer die Glückseligkeit des Augenblicks wieder­ zugewinnen? Fast jedem von uns erscheinen hinterher die Jahre seiner Kind­ heit schön, wenn sie auch reichlich mit Dmck, Entbehmng, Angst, Verlegenheit und auch Langeweile (mit dieser nicht etwa bloß in Schulstunden!) durchzogen waren. „Wer die Jugend" — es sei mir gestattet, mich selbst zu zitieren — „aus gesundem Herzen liebt, hat nicht so entsetzlich viel Mitleid mit ihr." Damit also sei zur Vorsicht im Protestieren gemahnt. Aber, wiedemm sei es gesagt: nicht zur Ablehnung aller Versuche der Bessemng des gegenwärtigen Ver­ hältnisses. Aus wirllich gedrückten Knaben und Jünglingen werden zwar mitunter höchst ausdauemd energische Männer, aber doch mehr ausnahms­ weise nur da, wo eine ungewöhnliche Kraft des Wesens vorhanden war, die aus dem Dmck nur Verdichtung empsing. Wie das Verhältnis unserer tatsächlichen Erziehungseinrichtungen zum natürlichen Freiheits- und Glücksbedürfnis, so wird dasjenige zu den Aufgaben des nachfolgenden Lebens immer wieder lebhaft in Frage gezogen. Me un­ endlich oft ist seit der Zeit, da es zuerst formuliert wurde, das Wort, daß man nicht für die Schule, sondem für das Leben lerne (oder lernen solle), als Aus­ druck mißbilligender Kritik in den Mund genommen worden! In welchem Sinne es ursprünglich gemeint war, pflegt dabei gleichgültig zu bleiben und mag allenfalls auch uns gleichgültig sein. Aber wie es genommen werden sollte, das ist die keineswegs einfach zu beantwortende Frage. Einer sehr hausbacken utilitarischen Auffassung steht eine fast rein formalistische gegen­ über. Als ob es nur gälte, Kräfte zu üben, und als ob die Stoffe, an denen

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sie geübt würden, gar keine Beziehung zu den Bedürfnissen des weiteren Lebens zu haben brauchten, auch als ob sich Stoffe vorfänden, die der Ausbildung der verschiedenen Kräfte zugleich günstig wären, und als ob man wirklich für das Leben vorbereiten könnte, indem man dem Leben ganz abgewandt bliebe! Indessen so extrem wird man sich nicht leicht zu der Frage stellen, und die andere Einseitigkeit, die der größeren Zahl der Mitsprechenden näher liegende, ist nur um so leichter zurückzuweisen. „Das Leben" muß doch nicht schlechtweg das Gebiet der äußeren Lebensbedürfnisse bedeuten, die Gesamtheit der zu erwartenden konkreten Aufgaben, der zu überwindenden äußeren Schwierig­ keiten, der möglichen greifbaren Erfolge — abgesehen davon, daß schon dazu neben der stofflichen Ausstattung eine Schulung der Kräfte gehören wird. Es gilt aber doch auch das innerliche persönliche Leben, die Eröffnung seelischer Hilfsquellen, die Eintauchung in die Welt freier und edler Gedanken, den Aus­ blick auf große Pwbleme des Menschenlebens. Also, der Formel an sich kann noch kein Wert zugesprochen werden. Sie kann höchstens dazu dienen, von Zeit zu Zeit zu erneuter Prüfung des Verhältnisses zwischen dem der Jugend bestimmten Bildungsinhalt und den Bedürfnissen des Lebens (aber mit Ein­ schluß der tiefsten) anzuregen. Daß mit der Forderung der Ausbildung „für das Leben" diejenige der Einführung vor allem „in die Gegenwart" sich nahe berührt, versteht sich. Man bleibt natürlich, um nur dies Eine zu sagen, der Gegenwart zu sehr abgewandt, wenn nicht jedenfalls der gesamte Lehrgang geistig bis an die Schwelle der Gegenwart führt, nicht schließlich die Tür zu ihrem Verständnis geöffnet hat; aber man kann die Eröffnung dieses Verständnisses verfehlen, gerade indem man alsobald mitten in die Gegenwart hineinversetzen will. Diejenigen, die mit ihrem ganzen Sein nur in der Gegenwart leben, nur zu ihr ein inneres Verhältnis haben, haben eben damit kein recht tiefes Verständnis derselben. Mögen die Menschen dieses Sinnes und werden sie auch weiterhin die Menschheit bilden, so darf eine Minderheit jener andern Art nicht fehlen. Über der rechten Beziehung zur Kultur die Jugend nicht diejenige zur Natur und dem Leben ihrer Gebilde verlieren zu lassen, das ist eine femere Sorge. Me die Entwicklung unseres Kulturlebens die Gelegenheiten dazu für einen immer größeren Teil der Jugend schwinden läßt, braucht nicht dar­ gelegt zu werden, und ebensowenig, wieviel Abzug an den Quellen echten Jugendlebens es bedeutet. Durch planvolle Vorkehmngen etwas von dem so Verlorenen wieder zu sichem, ist ein dankenswertes Bestreben. Auf die ernstlicheren Versuche zur Wedergewinnung soll an anderer Stelle die Rede kommen. Wieder eine große Klage und Forderung gilt, inmitten und gegenüber der allmählich immer mehr sich verwirllichenden Massenerziehung, den Rechten

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der Individuen als solcher. Und auch damit wird ein Problem berührt, das innerhalb des Menschheitslebens ewig heißen kann und das sich an allerlei Stellen und in allerlei Formen immer wieder auftut. Aber ein anderes freilich ist es, ob man das Verhältnis von Gemeinschaft und erwachsenem Individuum ins Auge faßt oder die erst werdenden Individuen und ihre Rechte. Begreiflich ist, daß man diese Rechte in einer Zeit betont, wo nicht nur die Einrichtungen sie in besonderem Maße in den Hintergmnd gedrängt haben, sondem wo zu­ gleich die Empfindlichkeit der JMviduen naturgemäß zugenommen hat. Toch tritt der neue Anspruch in zweierlei Gestalt, einer mehr praktischen und einer mehr theoretischen, hervor. Praktisch verlangen namentlich die gebildeten Familien immer mehr, daß die Eigenart ihrer einzelnen Sprößlinge in ganz anderem Grade oder überhaupt in einem ernstlichen Grade berücksichtigt werde. Und theoretisch verlangen die Vertreter moderner Anschauungen, daß der Individualität unbedingte Entfaltungsfreiheit gesichert werde, da von ihr eine unendliche Wertentwicklung zu erhoffen sei. Es spielt dann leicht der Begriff der Individualität und der der Persönlichkeit ineinander, und das be­ kannte Wort vom Rechte, das mit uns geboren ist, wird so gefaßt, daß alles mit uns Geborene sein heiliges Recht habe zu sein, zu bleiben, sich auszuleben. Ist es überhaupt nötig, auf diese ganz willkürliche, aus Stimmung und Erregung, nicht aus umsichtigem und tiefdringendem Denken geborene Anschauung weiter einzugehen? Die Gesellschaft hat so gewiß Rechte über und auch gegen das Individuum, wie dieses gegenüber jener; ja, jene sind die älteren und in weitaus den meisten Fällen die wichtigeren: nur positiv wertvolle Individualität kann ihre Ansprüche über die der Gemeinschaft stellen; Individualität ist aber nicht an sich positiv wertvoll, ist, alles ineinander gerechnet, von neutraler Bedeutung, Übles und Schätzbares miteinander enthaltend. Und so bedarf namentlich auch die jugendliche Individualität der Gegenwirkung ebensowohl wie der Be­ günstigung, und zwar um der Wertbildung des Individuums willen wie auch im Interesse der Lebensgemeinschaft. In einem bestimmten Maße ist An­ gleichung an diese letztere unzweifelhaftes Erfordemis, Hineingewöhnung in ihre Formen, Hineinziehung in ihr Kulturleben, auch in ihre Interessen. (Man denke nur an den nötigen Zusammenhalt der Nation.) Und nicht wenigem von dem, was namentlich in den vomehmeren Familien als gegebene, als nicht leicht zu beeinflussende, als dämm berechtigte und zu schonende Eigentümlichkeit betrachtet wird, muß ausdrücklich in höherem Interesse entgegengearbeitet werden. Übrigens ist es eine ungerechte Annahme, obwohl im Inland und vielleicht mehr noch im Auslande verbreitet, daß bis jetzt in den höheren Schulen möglichste Schablonisiemng die selbstverständliche Norm sei; nur wirklich unbedeutende Lehrer können darin ihr Ziel sehen. Soviel also muß zugestanden und nie kann das Schwergewicht schlechthin nach der Seite der Individualität verschoben werden. Aünch, Zukunftspädagoglk. S. Wust.

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Aber ob man nicht im ganzen doch weit mehr als bisher sich nach dieser Seite hinneigen kann, darf, soll, ist eine andere Frage. Jedenfalls muß das Me und müssen die einzelnen Möglichkeiten willig erwogen werden, und es wird nicht weniges sich finden — was wir noch in anderem Zusammenhange zu berühren haben werden. Würden nur, dies eine Wort sei noch angefügt, alle die feineren natürlichen „Minderwertigkeiten", die leichten pathologischen Dispositionen, immer recht erkannt und beurteilt, und hielte man nicht allzu eigensinnig daran fest, auch solche junge Menschen in der großen Gemeinschaft Mitschreiten, in Rech' und Glied mit die Höhe Hinankimmen zu lassen, die nur in einer andern Luft und Behandlung einigermaßen gedeihen können! Dieser Zumf also gilt den Familien viel mehr als den Schulen. Nun aber das, was man als das „Schulleben" zusammenfassen kann. Ist es für jetzt so beschaffen, daß man tiefgehende Ändemng fordem oder doch dringend wünschen muß? Es ist außerordentlich viel schwerer, als man denkt, darüber im ganzen zu urteilen. Das bestimmte Gefühl, durch reichlichen llmblick innerhall» einer umfassenden Periode einen maßgebenden Eindruck von dem Durchschnitt erhalten zu haben, täuscht immer wieder. Unerwartet enthüllen sich irgendwo üblere Zustände, als man geahnt, aber doch auch irgend­ wo freundlichere, als man anzutreffen gehofft hatte. Mer es gibt ja, wie es scheint, eine einfache Probe auf die Richtigkeit einer optimistischen oder pessi­ mistischen Auffassung. In England, so sagt man, pflegt jeder ehemalige SchAer mit anhänglichem Swlz an seine alte Schule zurückzudenken und fort und fort zu ihr zu halten. „Wer von ehemaligen deutschen Schülem denk gern an seine Schule und Schulzeit zurück?" Vielleicht antwortet darauf jemand: Wenn die Mühsal reichlich und der Weg im ganzen recht beschwerlich war, so verdank der ehemalige Schulzögling eben diesem mühseligen Wege die feste und breite Grundlage der Bildung, die er schließlich erreicht hat; dem englischen SchAer (b. h. dem wohlhabenden, der eine der vomehmen Anstalten mit der herrlichen Ausstattung besuchen konnte) schwebt hinterher im wesentlichen das frische Gemeinschaftsleben vor und die Spiele, während er das Semen ja nicht ernstlich zu nehmen brauchte und eine tiefere Bildung in unserem deutschen Sinne auch meist kaum gewonnen hat. Es könnte auch jemand darauf hin­ weisen, daß es schließlich doch auch bei uns zahlreiche SchAer gibt, die offenbar gern an ihre Anstalt zurückdenken, ihren ehemaligen Lehrern Anhänglichkeit und Dankbarkeit beweisen, zu Festen der Schule gern herbeieilen und sich oft in sehr erfreulicher Weise beteiligen, wo es gilt, der Schule ein Zeichen ihrer Treue zu geben. So wären es am Ende überhaupt vorwiegend mittelmäßige Naturen, die Wer das damals begreifliche UWehagen auch nachher nicht hinaus­ kommen, die lebenslang Ranküne hegen ob jedes Ärgers, der ihnen damals bereitet wurde, die nie zwischen der Msicht oder Gesinnung der Lehrer und ihrem Ton und ihren einzelnen Maßnahmen zu unterscheiden lernen, oder

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solche, die überhaupt nicht genug sittlichen Emst haben, um die Bedürfnisse der Erziehung zu würdigen. Biele, vielleicht die meisten (wenn auch keineswegs die meisten der öffentlich darüber Mitredenden) lernen doch mit vierzig Jahren das billig beurtellen, was sie mit achtzehn als höchst unbillig empfanden. Und alle diese bösen Träume, von denen fast jeder zu erzählen weiß, in denen die Ängste der Schülerzeit noch beim Mann in reifen Jahren wiederkehren, be­ weisen nichts: der Traum vergrößert unendlich und namentlich alles Häßliche, Peinliche, Schreckliche, wie alle Angst, Hast, Verlegenheit usw. Mes das könnte man, ja kann man wirllich antworten. Es ist nicht falsch. Gleichwohl: im ganzen ist es doch wahr, daß das deutsche Schulleben eines hinlänglich freundlichen Charakters meist noch entbehrt*). Die starke Vermindemng, ja ein fast völliges Schwinden der Strafen tut es nicht allein. Dem Dmck des Sollens, der durchgehenden Gebundenheit an die Pflicht, der Zumutung des langen Sitzens steht nicht genug Befreiendes, Erfrischendes und Gewinnendes gegenüber. Wieviel besser Räumlichkeiten und Ausstattung der Schulen auch geworden sind, an einer hinlänglichen Berücksichtigung der hygienischen Fordemngen fehlt es im einzelnen noch sehr vielfach (die Ge­ wöhnung der Lehrer pflegt in diesem Punkte noch gar nicht zu genügen), und neben der Ausstattung für Lehr- und Lemzwecke ist diejenige für Spiel und Erholung noch vielfach ganz kümmerlich. Die Begünstigung freier körper­ licher Übungen und namenllich auch geeigneter Arten von Sport hängt noch sehr von dem zufälligen Interesse einzelner Lehrer oder Direktoren ab. Ein Maß von Selbstverwaltung den Klassen der Erwachsenen zuzuerkennen, hat man noch kaum versucht und für eine Art von Mterziehung durch die reifsten Schüler noch keine passende Form gefunden. Der Unterschied der Klassenund Reifestufen in Beziehung auf den ihnen zukommenden erzieherischen Ton wird nur teilweise genügend wahrgenommen. Für die wünschenswerte, die zugleich wohltuende und fmchtbare Verbindung zwischen den Eltern und der Schule sind die Formen und Wege im ganzen noch nicht verwirüicht. Die Einrichtung der üblichen Zeugnisse genügt weder diesem Zwecke noch ruht sie auf befriedigender psychologischer Grundlage. Unter den Lehrern haben noch viel zu viele eine wesentlich nur verstandes­ mäßige, fachwissenschaftliche oder etwa noch technisch-methodische Berufsbildung. Ein fröhliches Gemüt, eine unter allen Umständen jugendfreund­ liche Stimmung ist unter ihnen nicht gewöhnlich genug. Biele haben nicht die unbedingte seelische Überlegenheit gegenüber den Unreifen, vermögen nicht mit Freiheit und Leichtigkeit zu herrschen, viele werden lleinlich, grämlich, bissig, viele sehen in strenger Schulung die eigentliche Aufgabe der Erziehung, und auch die erzieherisch gut Beanlagten und freundlich Gestimmten unter ihnen werden großenteils im Laufe der Zeit durch den auf ihnen lastenden Dmck der Amtspflichten (der keinen viel mehr als der großen!) durch die Wir12*

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kung der steten persönlichen Reibung (diesen Begriff in seinem harmlosesten Sinne genommen), durch die große, körperlich-geistige Anspannung der Lek­ tionen müde, und Ermüdung hat mit Freudlosigkeit und Gereiztheit eine nahe Berühmng. Übrigens ist es wahrlich nicht leicht, dauernd auf das Kleine und Kleinste zu achten, was hier doch durchaus Pflicht und Bedürfnis ist, und bot dem Schein der Kleinlichkeit, nein, bot dieser selbst bewahrt zu bleiben. Me die ungeheuer bedrückende, geistig gewissermaßen aushöhlende Last der Korrekturen erleichtert werden könnte, bedarf sicher der ernstlichsten Erwägung: sie bilden jetzt eine Art bon unsichtbaren Sklabenketten an den Füßen unserer Lehrer. Daß man am Tage eine ganze Reihe bon zugleich sorgfältigen und strammen Unterrichtsstunden hintereinander geben könne, auf Vorbereitung und Korrekturen eine andere Anzahl bon Stunden verwenden, für befreiende und beschwingende Geistesbeschäftigung kaum etwas Zeit übrig behalten, das normale Maß bon Sorgen des Privatlebens (oder auch ein größeres) tragen und dabei das Leben hindurch frisch, wohlgemut, heiter, gwßzügig bleiben, das zu fordem ist zwar leicht, aber zu verwirklichen wahrlich sehr schwer. Es waltet hier doch auch den Lehrem gegenüber noch keine rechte psycho­ logische Betrachtungsweise. Freier müßten auch sie sein; die Unterbrechung durch die Ferien allein tut es nicht; aber geringere wöchentliche Pflichtstunden­ zahl mit weniger langen Serien von Lektionen, mehr Freiheit zu eigenem Studium würde trefflich wirken. (Von einer Einrichtung wie der ameri­ kanischen, nach der die Lehrer jedes fünfte Jahr dienstfrei sind, um sich durch neue Studien in aller Ruhe wieder um so tüchtiger zu machen, wird man vor­ läufig bei uns schwerlich auch nur reden dürfen. Jedenfalls würden alle übrigen Beamten die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.) Natürlich hängt die Frecheit der Stimmung auch sehr von dem Maße von Kontrolle ab, der man sich unterworfen fühlt. Nun pflegt diese Kontrolle zwar, als persöiüiche, in deutschen Staaten und tatsächlich auch in dem besonders beargwohnten Preußen keineswegs so streng, starr, unerbittlich, äußerlich zu sein, wie man das auszumalen liebt, und eine Persönlichkeit bon Wert darf auch getrost den Mut haben, etwas mehr auf eigene Hand zu verfahren; immerhin aber fehlen offenbar auch unter den zur Überwachung und Oberleitung Bemfenen enge Geister nicht, und namentlich nicht auf den Zwischenstufen (wo sie sich zugleich ihrerseits unter Kontrolle fühlen.) Weitherzigkeit und Mut sind hier auf­ einander angewiesen und müssen den Schulen miteinander gewünscht werden, natürlich nicht etwa der Mut, sich's bequem zu machen, wozu übrigens im deutschen Lehrer- wie Beamtenstand die Neigung selten ist. Kommt doch auch zu der persönlichen Kontrolle noch die sachliche, die Normiemng der Lehrpensa nebst den einzelnen Aufgaben, die durch Konferenzen zu erfolgen pflegt und durch das vorgesteckte Gesamtziel bedingt ist. Dieses Gesamtziel nun freilich — bildet es nicht seinerseits ein den Zweifeln

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und Angüssen mit Recht offenes Gebiet? Die Frage könnte in endlose weitere Erörterungen führen und soll dämm in dem Rahmen gegenwärüger Arbeit nicht wirllich verhandelt werden, wenigstens nur gewisse Seiten derselben an andem Stellen unseres Buches. Große durchgehende Strömungen haben sich auch in dieser Frage deutlich genug ergeben. So die mehr naive Fordemng einer ganz erheblichen Herabsetzung des wissenschaftlichen Zieles. Was soll all das angelernte Wissen, was die tausend Quisquilien, aus denen es sich zu­ sammensetzt? Gesundheit, Füsche, glücklicher, heiterer Sinn, Bereitschaft, sich kräftig zu betätigen, das sind die Eigenschaften, die man für das Leben braucht, und dazu eine leicht zu erwerbende Orientierung auf allgemeinen Bildungsgebieten, die zur Grundlage dienen mögen! Im Grunde hat so immer eine breite Schicht geurteilt, aber man wagte sich damit nicht emstlich hervor und man wurde auch nicht gehört. Gegenwärtig steht dies anders; die flotten Führer fehlen dieser Schar nicht, die ihrerseits unter dem Einfluß verschiedener Verhältnisse sehr erstarkt ist. Als zweite Hauptströmung wäre diejenige zu nennen, die auf eine tiefgreifende inhaltliche Verschiebung des Gesamtzieles hingeht, und als dütte die, welche der Umwandlung des Lehrund Lernprozesses gilt, in dem Sinne einer starken Verschiebung des Ver­ hältnisses zwischen Rezepttvität und Produküvität. Und was diese letztgenannte Tendenz betrifft, so fühlen zurzeit alle die besten pädagogischen Geister, daß ihnen oder daß der Zukunft wirllich sehr wichtige Aufgaben zu lösen bleiben. Wer ist, auf diese Frage können wir hier kommen, des Suchens nach der besten Methode unter den Pädagogen etwa wenig, zu wenig, oder vielleicht im Gegenteil allzuviel, mehr als gesund ist? Ist man nicht mit diesem Suchen auf eine verkehrte Bahn geraten und schließlich viel mehr festgefahren als empor­ gekommen? Ist die immer genauer ausgearbeitete Methode nicht zur Er­ stickung des wahren Lebens geworden, und zwar sowohl für die Lehrer wie die Schüler? Stimmen auch dieser Art fehlen ja nicht, und gewisse Wahr­ nehmungen der Wirllichkeit vermögen wohl in der Annahme zu bestärken. Es handelt sich hier zumeist um das, was unter dem Namen Herbartscher Me­ thode allmählich so viel Ansehen, Glaube, Ausbau und Anwendung gefunden und übrigens auch viel unbedingte Geltung beansprucht hat. Zwar war die eigensinnige und bequeme Ablehnung jeder methodischen Norm von feiten zahlreicher akademisch gebildeter Lehrer im ganzen schlimmer als eine zu weit gehende Bindung an Methode, und noch erwarten auch manche der protestieren­ den Laien eine Veredlung des Schullebens durch den volleren Sieg guter Methode. Aber eine wirllich gesunde methodische Normiemng muß auf einem viel breiteren psychowgischen Untergrund erfolgen als die der Herbartianer oder auch derer, die sie nur vervollkommnen und ablösen wollen. Zur Methodik der stofflichen Behandlung muß die Methodik der persönlichen Bewegung, die Anleitung zur persönlichen Kunst, kommen. Methode in dem gewöhnlichen

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Betrachtungen und Vorschläge.

Sinne ist immer in Gefahr, lähmend zu wirken auf den Geist des Lehrers, aber auch nicht wirklich belebend auf die Geister der Schüler; namentlich den erwachsenen Schülern bringt sie leicht Langewelle. Es muß dem Lehrer etwas (und zwar nicht bloß Nebensächliches) zu suchen bleiben und den Schülem auch etwas zu erraten, unmittelbar zu finden. Und so ist es denn auch ein großer Irrtum vieler unzufriedener Beurteller von heute, daß häusliche, also individuelle und selbständig zu bewältigende Aufgaben so gut wie ganz verschwinden sollten. Ihnen gilt als verfluchte Pflicht und Schuldigkeit der Lehrer, daß sie das Nötige den Schülern in den Schulstunden beibringen; wenn sie diesen nvch etwas zu tun mit nach Hause geben, so finden sie das bequem für die Lehrer, aber unrecht gegen die Schüler, wie es auch bequem wäre, einfach aufzugeben und abzuhören. Me viele Lehrer finden sich wohl in ganz Deutschland noch, die bei diesem Lehrverfahren, Aufgeben und Whören, stehen geblieben sind? (Wie viele derart im Ausland, ist eine andere Frage.) Mögen die Hausaufgaben vielfach nicht ohne Pein erledigt werden, nicht ohne Pein namentlich bei denen, die mit unzureichender Geistesbegabung die Bahn höherer Schulen durchlaufen sollen (und das sind leider viel zu viele), möge manche halbe Stunde der Ratlosigkeit und der Sorge für die meisten sich ergeben, diese Selbsttätigkeit (und nach Selbsttätigkeit ruft man ja allerseits) ist unentbehrlich, wenn wirkliches geistiges Wachstum erfolgen soll. Meviel größer die Zumutungen in diesem Punkte früher zu sein pflegten, sowohl was den Gesamtumfang als namentlich auch die vorenthaltene Hilfe betrifft, braucht uns allerdings nicht anzugehen, denn über die Verkehrtheit dieses Maßes ist man einig. Und dann: auf die Wahl, die Zusammenstellung, die Art der Vorbereitung oder Gewähr der Unterlagen für diese häuslichen Aufgaben kommt freilich fast alles an, und auch auf die rechte Billigkeit (die Nichts anderes als psychologisches Verständnis ist) bei der Beurteilung. Und in allen diesen Punkten ist Verfehlung offenbar äußerst naheliegend und demgemäß häufig; da bleibt also wiederum wirklich viel zu vervollkommnen. Daß eine Linie der Vervollkommnung auch die Gewähmng freier Wahl bei größeren Hausarbeiten innerhalb der obersten Klassen sein würde, sei hier nur kurz berührt. Mcht viel anders als mit den Hausaufgaben steht es mit den Prüfungen, die man ja ebenfalls abgeschafft zu sehen wünscht, teils aus Mitgefühl mit der unter diesem schweren Dmcke leidenden Jugend, teils aus der Überzeugung von ihrer Überflüssigkeit oder ihrer psychologisch-methodischen Verfehltheit. Daß Mitleid mit der etwas geplagten Jugend nicht gleichbedeutend ist mit Liebe zu ihr, wurde schon oben. angedeutet: mitunter taucht es in Kreisen auf, in denen man sich das Leben überhaupt nicht schwer machen wlll; der Jugend selbst kann man ebensowohl eine stoische Stimmung suggerieren wie eine schlaff wehleidige, und früher war man auf das erstere bedacht. Daß freilich

Erreichtes und Gefordertes.

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die Nervenkraft bei einem großen Seile der die höheren Schulen besuchenden Jugend gegen die früherer Generationen vermindert ist, läßt sich nicht ver­ kennen. Und bei den Zumutungen an das Gedächtnis zeigt sich das am aller­ ersten; sie setzen Gesundheit und Frische voraus. Plötzlich große und zu­ sammenhängende Zumutungen müssen denn gerade diejenigen an sich stellen, die es nicht regelmäßig im kleineren Maße zu tun pflegten. Dann erscheint die Vorbereitung auf die Prüfung als ein fast unter jedem Gesichtspunkte beklagenswertes mechanisches Einprägen einer Unsumme von Einzelheiten, die zum größten Teil kurze Zeit nachher wieder entschwunden sein werden. Und der regelmäßige Fortschritt der Bildung, für den die auf diese Prüfungs­ vorbereitung verwendete Zeit kostbar sein würde, erscheint bedauerlich gehemmt oder abgebrochen. Indessen das alles trifft doch nur zu, wenn die Prüflinge oder die Prüfenden (bzw. Lehrenden) oder beide die Sache schief auffassen, was ja freilich offenbar nicht fern liegt. Je höher Lehrer und Examinatoren stehen, desto weniger werden die Prüfungen nur Not und Truck bedeuten. Daß die entscheidenden Prüfungen — wir denken hier immer an die Reife­ prüfung, denn Versetzungsprüfungen und dergleichen sollten jedenfalls keine streng formellen Veranstaltungen sein *) — bei uns ganz wesentlich von denen abgehalten werden, die den Unterricht gegeben haben, und daß für das Be­ stehen immer die früheren Leistungen sehr ernstlich mit in Betracht kommen, sind große Vorteile der deutschen Prüflinge vor denen der meisten andem Länder. Daß aber der Staat, der an die Prüfungen bestimmte und bedeutende Rechte knüpft, zuverlässige Bürgschaften haben will, ist doch wohl in der Ord­ nung. Mt der Erlaubnis des Universitätsbesuchs ohne die Bürgschaft einer bestandenen Prüfung hat man in früheren Zeiten schlimme Erfahrungen gemacht. Und überall, wo nicht objektive Prüfungen über die Tüchtigkeit eines jungen Menschen entscheiden und über seine Ansprüche auf Ämter und dergleichen, da entscheiden tatsächlich Konnexionen, persönliche Fürsprache, persöMche Rücksichten, Bittgesuche und Bettelkünste! Daß die zur Entschei­ dung Berufenen eine über all dergleichen hinwegführende wunderbare Kraft der Menschenkenntnis hätten, kann man nicht erwarten. Übrigens vagen auch über die bösen Prüfungen zumeist solche Familien, die sonst das Mttel der Konnexionen kaum vergeblich in Anwendung bringen würden. Von der An­ nahme parteiischer Begünstigung bei den Prüfungen braucht man wirklich nicht emsüich zu reden: soweit dergleichen objektiv festgestellt werden könnte, würde seine Bedeutung verschwindend bleiben gegen die der persönlichen Be­ ziehungen und Empfehlungen. Zugleich muß gesagt werden, daß die An­ nahme von vorteilhafter Wirkung der Abschaffung der Prüfung auf das Bil­ dungsleben auf starkem Optimismus beruht. Zum allermindesten wäre ein plötzliches Erlassen in diesem Sinne ein höchst bedenlliches Experiment. Daß

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Zweiter Teil. Betrachtungen und Vorschläge.

die Selbstnötigung zu ausdauemden Mederholungen nebst präzisem Ein­ prägen doch zugleich eine sehr schätzbare Schule des Willens ist, und daß ein sicheres positives Mssen nicht ohne solche energische Wiederholungen erworben wird, daß ferner ein bei guter Zeit, in jugendlichen Jahren, an­ geeignetes positives Wissen eine wichtige Gmndlage für die weiter zu führende Bildung während des ganzen Lebens bleibt, daß nur sie die wirkliche Teil­ nahme an dem allgemeinen Kulturleben der Zeit ermöglicht, auch dies alles wird man doch ins Gedächtnis rufen müssen — obwohl damit voraussichtlich vielfach tauben Ohren gepredigt wird, denn der Wunsch des Herzens pflegt lauter zu sprechen als Gründe der Einsicht. Was man anstatt einer Abschaffung der Prüfung wünschen muß, ist fortschreitende Vervollkommnung in ihrer Ein­ richtung und Handhabung, so daß das Gegenteil von Mechanisiemng verwirk­ licht wird, Vergeistigung. Hieran würden sich nun die Fragen nach wünschenswerter Veränderung der Lehrpläne schließen, und neben der Auswahl der Fächer müßte die Ziel­ setzung für die einzelnen derselben und nicht weniges aus der Methode zur Sprache kommen. Das bedürfte aber eines sehr breiten Raumes und müßte an viele fachtechnische Probleme heranführen. Sache dieses Buches kann es nicht wohl sein. Durcheinander gehen bekanntlich auch hier die Wünsche, ja, hier mehr als bei den bis jetzt berührten Fragen. Me vielerlei soll nicht die höhere Schule in Zukunft leisten, neben dem oder statt dessen, was sie seither geleistet hat, und wie schön und leicht soll es den Schülem in ihr werden, wieviel einfacher die Organisation und wieviel ergiebiger doch der Erfolg! Um nur einen Augenblick eines Faches zu gedenken: wieviel neuen Erfolg erwartet man von einem neuen Betriebe der lebenden Sprachen, und wie schwer ge­ staltet sich hier doch in der Mrllichkeit des Schulunterrichts die Erzielung leid­ licher Ergebnisse! Wie stellen sich auch da die Wünsche nach geistbildender Mrkung und nach praktischer Beherrschung immer wieder einander entgegen! Man sucht da und streitet, und man soll sicherlich njcht aufhören zu suchen und nötigenfalls zu streiten. Daß Ruhe dem höheren Schulwesen nicht beschieden zu sein scheint, darf nicht als großes Unglück betrachtet werden. Mit der Ruhe der Lehrpläne stellt sich gar zu leicht Erstarrung des pädagogischen Lebens ein. Und so wird denn auch fortgehen der Kampf um die Gestaltung der ver­ schiedenen Typen höherer Schulen, um Haupt- und Zwischenformen, ebenso wie um möglichste Bewegungsfreiheit der einzelnen Schulen gegenüber der Zentralisation der Lehrpläne, neben dem besonders lebhaften Kampf um die rechte Schulbildung des weiblichen Geschlechts. So steht die deutsche höhere Schule gegenüber Angriffen auf ihr innerstes Wesen, einer zum Teil höhnischen, vemichtenden Kritik, optimistisch aufgestellten völlig neuen Idealen, mannigfaltig sich durchkreuzenden Beinen und großen Forderungen, und wirklich aus der Natur der Dinge, der Ziele, der Menschen und der Zeiten

Das Recht der Selbstentfaltung.

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herauswachsenden Problemen, die, wie sie von innen heraus sich immer neu gestalten, auch ihre Lösung von innen her erwarten, also nicht durch schroffen­ äußeren Eingriff, sondem auf Gmnd möglichst voller Kenntnis und möglichst tiefen Verständnisses *).

3. Bei einer Auswahl der von der Kritik berührten Fragen wollen wir etwas näher verweilen. Selbstentfaltung heißt das eine große Ziel, das an vielen Punkten aus den vorgetragenen Forderungen hervorscheint, das als der Kem solcher Forderungen bezeichnet werden kann. Und sicher muß es uns als wichtige Frage erscheinen, ob nicht der Selbstentfaltung des Kindes und namentlich auch des weiter Heranwachsenden Zöglings ein größeres Recht und ein breiterer Raum zu lassen sei, als innerhalb unserer Überliefemngen und Ordnungen zu ge­ schehen pflegt. Welches ist überhaupt ihre Bedeutung? Liegt Unterschätzung näher oder Überschätzung? und wechselt vielleicht in der Geschichte der Er­ ziehung die eine mit der anbetn? Welches wäre die ideale Verteilung der Rechte zwischen ihr und dem, was ihr gegenübersteht? Dies letztere ist zweierlei, einmal die Eindämmung oder Unterwerfung oder mindestens Gewöhnung, welche dem zu Erziehenden von der erziehenden Menschenumgebung zuteil wird, und dann die Übermittlung von positivem Kulturinhalt durch eben diese Umgebung und namentlich deren besondere Beauftragte. Daß über der Sorge um diese beiden Gesamtziele, die wir auch als Gegenwirkung und Übertragung (oder schlichter als Zucht und Lehre) bezeichnen können, die Kraft und das Recht der organischen Entwicklung, des selbständigen Wachstums weithin ver­ gessen oder doch unterschätzt worden ist, kann man schon nach flüchtigem Um­ blick mit Bestimmtheit sagen. Und es wird sich auch bei gründlicher Erwägung wohl so erweisen, daß die planvolle Berücksichtigung dieser dritten oder viel­ mehr der allerersten der Ausbildungslinien wirklich eins der großen Anliegen besonnener Erziehung bilden muß, nachdem mindestens das rechte Gleich­ gewicht bis jetzt nur schwer irgendwo verwirllicht worden ist. Man hat ge­ legentlich auf den großstädtischen Straßenjungen hingewiesen, der ohne irgend­ welchen Unterricht (dies gilt wenigstens von vergangenen Zeiten oder von anbetn Ländern), ohne irgendwelche planvolle Unterweisung aufwachsend eine Raschheit der Auffassung für die ihn umgebenden Tinge und Vorgänge, eine Sicherheit der Entschließung und Bewegung, eine Menschenkenntnis und eine Gewandtheit in treffender Rede erreicht, welche staunen machen muß, wenn man Bedingungen und Ergebnis zusammenhält. Indessen man braucht nicht an diesem trotz allem unerfreulichen Falle zu haften: aufmerk­ same Beobachtung bietet an vielen andem Stellen Gelegenheit, zur Aner-

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Zweiter Teil.

Betrachtungen und Vorschläge.

kennung dessen zu gelangen, was die Natur durch eigene Krastentfaltung leistet ohne die Einwirkung kulturübertragender Menschen. Freilich ist es da nicht die Natur schlechthin, sie wirkt so nur innerhalb der kulturellen Umgebung und zusammen mit dieser, gewissermaßen durch Reibung an dieser: das unter die Tiere des Waldes geratende Kind wird trotz Mer natürlichen Menschenanlage nur zum Tiere, selbst aufrechtstehen wird es kaum lernen; aber innerhalb der umgebenden Kultur- und Menschenwelt kann die natürliche EntsMungskraft um so voller wirken und um so weiter führen. Am unverkennbarsten in den frühesten Lebensjahren, wo die Erwachsenen trotz allem guten Willen und sympathischen Interesse dem jungen Menschenkinde zu seiner Entwicklung noch nicht recht zu helfen vermögen und wo im Grunde die wunderbarsten Fortschritte, die umfassendsten Errungenschaften in einem sehr knappen Zeitabschnitt gemacht werden. Tatsächlich fönt der erstaunlichste Bruchteil jener Entwicklung in den engen Zeitraum bis zum Erwerb der Sprache. Mit diesem Zeitpunkt ist dann den Menschen der Umgebung das bequeme Mittel gegeben, nun ihrerseits mit Plan und Zusammenhang weiter einzuwirken, und von da an wird der Zögling mehr in die geistige Welt der Umgebung hineingezogen, als daß er selbst eine solche in sich aufzubauen hätte. Immerhin bleibt der inneren Selbsttätigkeit noch viel zu leisten, zu erringen, aber mehr und mehr droht die Übermacht des entgegengebrachten Fertigen jene Kraft der Selbstllärung, des geistigen Selbsterringens zu schädigen, zu er­ drücken, wobei allerdings die Individuen — schon in dieser Periode tief ver­ schieden — ein sehr ungleiches Maß von stillem Widerstand entgegenstellen. Und offenbar ist die Gefahr solcher Erdrückung um so größer, je reicher oder wechselvoller eben die umgebende Welt der Dinge, je feiner ausgebildet die Sprachwelt, je komplizierter die ganze vorhandene Kultursphäre ist, und dazu wohl auch noch, je reifer, gebildeter die Vertreter der erwachsenen Menschheit an sich sind. Es ist das der Gmnd, weshalb die Söhne aus besonders hochge­ bildeten Familien zwar leicht zu ruhiger Harmonie des Wesens, aber so schwer zu kräftiger JndividuMtät und Initiative gelangen, und weshalb die Sphäre der Gebildeten sich immer ergänzen muß durch solche, die aus dem Volke hervor­ gegangen sind. Doch abgesehen von diesem besonderen Verhältnis: offenbar liegt es ungemein nahe, daß die Schule mit ihrer besonders planvollen Ein­ wirkung, mit chrer fertigen Begriffswelt, mit der Wucht ihrer Autorität für die Entwicklung der jungen Individuen aus eigener Kraft zum großen Hemm­ nis wird. Man kann diese Gefahr deutlich sehen, ja, sehen, daß es mehr als Gefahr ist, daß jene hemmende Wirkung in erheblichem Maße wirllich sich vollzieht, aber dämm doch nicht etwa (wozu die oben gehörten Stimmen zum Teil kräftig hinneigen) die Schule vemrteilen, sie für ein unglückseliges Institut erllären. Die Predigt der Prophetin Ellen Key von dem bloßen Gewähren-

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lassen des Kindes hat ihre gute Bedeutung für gewisse Kinderstuben, in denen alles entgegengebracht, beständig gelehrt und gebildet und zugleich beständig an dem Verhalten der Kinder hemmgezupft wird. Es ist in Wahrheit schon sehr wichtig, wie man die Kinder Bilder und Naturgegenstände beschauen läßt, wie weit man sie da selbst einbringen läßt und wieviel man orientierend oder anregend oder auch mitteilend dazu tut; und nicht minder weiterhin, wie man ihre Spiele gestaltet oder sich gestalten läßt, ob man ihrer Phantasie und ihren Bewegungstrieben sich frei auszuleben überläßt oder nicht, in welchem Maße man äußere Hilfsmittel (Spielgerät usw.) gewährt und in welchem Maße auch persönliche Anregung und Unterstützung. Wie viel innerhalb der Kulturmenschheit auf diesem Gebiete verfehlt worden ist, darauf sei nur eben hingedeutet. Die wirlliche Aufgabe der Erziehung bleibt doch immer, die Kraft der Selbstentfaltung mit Einordnung oder Eindämmung und mit Kulturübermittlung zugleich walten zu lassen, so daß keine dieser Funktionen zu kurz kommt. Lediglich von der Selbstentfaltung, als möglichst unbehinderter, die Bildung des vollsten Menschenwertes zu erwarten, ist ganz willkürlich: es gäbe ein Wuchem aller natürlichen Triebe, unter denen die indifferenten und die bösartigen oder doch gefährlichen sicherlich meist die Übermacht haben würden *). In die Kultur der Umwelt und die Lebensordnung der Gesellschaft muß das junge Individuum hineingezogen werden, und das geschieht eben teils durch entgegenwirkende Zucht und teils durch Übermittlung von Kulturbesitz. Rur das also kann die Frage sein, ob nicht innerhalb der bestehenden Erziehungs­ weise von jenen drei Linien der Entwicklung die erste, die hier in Rede stehende, wirllich zu wenig geschätzt zu werden pflegt und wie ihr insbesondere innerhalb der öffentlichen Schulerziehung größere Rücksicht zuteil werden kann. Wie schon angedeutet, wird die rechte Vermittlung schwieriger, je weiter die Kultur fortschreitet, d. h. je verwickelter ihre geistigen wie äußeren Gebilde werden. Nicht etwa das positive Wissen, dessen das neu hinzugewachsene Mtglied der Gemeinschaft innerhalb ihrer bedarf, muß mit der Dauer der kulturellen Fortentwicklung immer breiter werden; aber das Hineinkommen in die Sach- und Vorstellungswelt wird doch immer schwerer. Man denke nur an das immer breitete Vorwiegen abstrakter Begriffe in Sprache und Ge­ dankenleben, um von der verwickelten Natur des Technischen in unserem äußeren Kulturleben zu schweigen. Daß also in dem Maße, wie die Ansprüche von dieser Seite gestiegen sind (und das ist durch alle Jahrhunderte so gegangen), die andere Seite, also die der freien individuellen Kräfteentfaltung, Einbuße erfahren hat, ist sehr begreiflich. Auf dem Gebiete des Körperlichen hat immer die Freude an Fortschritt und Wachstum, haben individuelle Zielsetzung und Eifer um Selbstvervollkommnung ihre Bedeutung behalten; was hier von außen aufgenötigt und anbildend übertragen werden kann, ist im ganzen un­ wesentlich gegenüber dem, was frei erstrebt wird.

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Indessen schon früh (schon im alten Griechenland) hat das Bildungsziel der Kulturübertragung jenes andere allmählich sehr zurückgedrängt, und unsere ganze innere Schulorganisation geht in gerader Linie auf die Einrichtungen der späteren Zeit Altgriechenlands zurück. Gedanken übemehmen, Sprache übernehmen, beherrschen, nachahmen, vorgefundene Kunst verstehen, gegebene Formen nachbilden, diese Ziele traten — wenn wir von den doch immer nur für die Höchststrebenden in Betracht kommenden Phiwsophenschulen absehen — ganz in den Bordergmnd. Das Urchristentum hat zwar den Wert der einzelnen Menschenseele unendlich gesteigert und ähnlich die sittliche Verantwortlichkeit der einzelnen, aber das Interesse an der Entwicklung persönlicher Kräfte ebenso sehr herabgesetzt, und allerdings dasjenige an der Aufnahme von kultu­ rellem Stoff nicht minder. Tie dritte Linie, die der einschränkenden Gegen­ wirkung, ward damit zur wichtigsten während der Erziehung, wie sie ja auch für die Erwachsenen als Selbstüberwindung, Zucht, Askese an die vomehmste Stelle trat. Während des ganzen Mittelalters findet sich frohe Selbstent­ faltung nur auf dem Gebiete des ritterlich-körperlichen Könnens, alle sonstige Schulung geht auf Unterwerfung hinaus, auf Angleichung, Eingliederung in das fest gegebene Leben der Gemeinschaft und auf ein gewisses kärgliches und kaum sich verändemdes Stoffwissen. Tie Humanisten haben, trotz scheinbar tiefgehender Befreiung von überlieferten Bildungswegen, eine Entfaltung persönlicher Kräfte doch nur auf einem ganz bestimmten, einseitigen Gebiete gefördert: daß man sich zur Nachahmung eines fremden Geisteskönnens erheb?, war das große Anliegen der Zeit. Immerhin ward hier dem freien persön­ lichen Streben ein Raum vergönnt und Leistungen ihm zugemutet. Montaignes Anregungen gehen auf Befreiung auch in diesem Sinne: sich in die Welt hineinzufühlen, in ihr urteilen zu lernen, ein wirklich persönliches Können zu erwerben, das gehört zu den Zielen, die er für die Erziehung — wenigstens der jungen Leute von Welt — aufstellt. Tiefer gräbt im folgenden Jahrhundert Comenius, der zwar mit dem einen seiner berühmten Hauptwerke, der janua linguarum, auch nur der praktischen Übernahme eines gegebenen Wissens dienen will, aber mit dem anbetn, der großen Unterrichtslehre, zum erstenmal als echte Richtlinie für bildende Einwirkung die Entfaltung der Natur und die Beobachtung ihrer Wege, um sie bei der planvollen Einwirkung zu be­ nutzen, erkennt und als große, durchgehende Aufgabe hinstellt, wenn er das auch zum Teil schematisch und etwas spielerisch durchführt. Der gewaltige Vertreter des ganzen Prinzips aber ist bekanntlich Rousseau, dessen großes Verdienst, so unhaltbar vielfach seine einzelnen Annahmen sind, so unausführbar sein Gesamtplan, so ungerecht großenteils seine kritischen Ur­ teile, dessen überragend großes Verdienst eben darin besteht, daß er auf die Kraft und das Recht der Selbstentfaltung hingewiesen hat: das ist das von ihm verkündigte neue Evangelium. Auch in dem Denken Pestalozzis spielt

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diese Vorstellung tatsächlich eine große Rolle: ja es kann als sein Grundgedanke bezeichnet werden, daß durch die Erziehung die zur Entfaltung drängenden Keime in der Natur des Kindes wirklich zu dieser Entfaltung gebracht werden sollen; und es wird dabei namentlich auch die auszunutzende „Kunstkraft" ein­ geschlossen und gewürdigt. So sehr uns dies anmuten mag, so ist es andrerseits doch Pestalozzis Überzeugung, daß der Entfaltung der keimenden Kräfte aus­ drücklich durch eine streng planvolle, eine lückenlos zusammenhängende Ein­ wirkung gedient werden müsse. Und insofern freilich kann man von einem Glauben an die Kraft der freien, selbständigen Entfaltung bei ihm schwerlich reden. Schleiermacher, der alle erzieherische Einwirkung in Unterstützung und Gegenwirkung scheidet, deutet schon durch den ersteren Ausdruck an, daß ihm ein wertvolles Werden im Zögling Voraussetzung ist, ja er scheint geradezu dasselbe zu überschätzen, da er für die Übertragung und Übermitt­ lung vorhandenen Kulturinhalts keine eigene Kategorie hat. Übrigens sind bei Schleiermacher allerdings die einzelnen Momente so gegeneinander ab­ gewogen und ausgeglichen, daß seine Pädagogik keiner einzigen besonderen Richtung zur Stütze gereicht. Bei Herbart ist nach seinen psychologischen Grundanschauungen ein Glaube an die Kraft der Selbstentfaltung völlig aus­ geschlossen, und die in der zweiten Hälfte des verflossenen Jahrhunderts mehr und mehr erstarkte Schule der Herbartianer würde denn auch gegen nichts lebhafter protestieren oder spottender ankämpfen als gegen die Behauptung selbsttätiger Entfaltungskraft der menschlichen Seele. Aber auch da, wohin der Einfluß der Herbartschen Anschauungen nicht reichte, hat im Unterrichtswesen der allgemeine Gang der Dinge dazu geführt, immer weniger den unkontrollierbaren inneren Kräften des Schülers zu ver­ trauen, immer bestimmter die Fortschritte sichern zu wollen durch geschlossenen Plan, durch vorsichtiges Schreiten, durch enges Verketten. Es hängt das schon mit der Aufgabe der Massenerziehung zusammen, mit den vollen Schülerllassen, auch mit der fester organisierten Kontrolle, mit der Fordemng an die Lehrer, immer möglichst viele „reif zu machen". Es ist aber auch an sich nur sehr natürlich, daß die erzieherische Einwirkung auf dem Wege des Unterrichts zu immer bestimmterer Organisation gelangt, je länger man darüber nach­ denke und Erfahrungen sammelt, auch je mehr ein individuelles Verhältnis zwischen Lehrem und'Schülern verloren geht, je weniger Schulleben und sonstiges Leben vor demselben Blick sich abspielen. Wollte man glauben, daß das während des ganzen Jahrhunderts so viel betonte Prinzip einer formalen Bildung anstatt einer materiellen Ausstattung ungefähr auf Würdigung der Selbstentfaltung hinauskomme, so wäre das ein großer Irrtum: jene formale Bildung ist — abgesehen davon, daß sie sich tatsächlich in einem bestimmten, ziemlich engen Rahmen bewegt — doch immer weit mehr Schulung, Schmeidi-

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gung und Formung gewesen, als Anregung des geheimen Werdens, des Empor­ dringens aus eigener Kraft. Oder mindestens ist sie jenes allmählich immer mehr geworden. Es wird ja nicht möglich sein, theoretisch die Rolle der Einwirkung und der Entfaltung irgendwie bestimmt abzugrenzen. Daß praktisch die eine gegenüber der andem zu sehr verkannt und unterschätzt werden kann, und daß und wo sie es unter unseren gegenwärtigen Verhälmissen zu werden scheint, das nur läßt sich behaupten. Kommen wir noch einmal auf die Kraft der Selbstentfaltung in der frühen Kindheit zurück. Wieviel es bedeutet, daß das Kind überhaupt lernt wahrzunehmen, umgebende Dinge zu verstehen, aber auch gewissermaßen sich selbst zu verstehen, seine Organe zu einfachen und regelmäßigen Funktionen gu gebrauchen, und wie es allmählich mit der Sprache eine abgegrenzte Begriffswelt erobert, zugleich aber auch die große Eroberung des Ich macht, das wird man bei einiger Erwägung voll zu schätzen wissen. Wieviel aber bedeutet schon in dieser frühen Periode und wieviel dann weiter­ hin das innere Verarbeiten empfangener Eindrücke! Natürlich kommt es nicht auf wirkliche Reflexion hinaus, auf ein bestimmtes, llares, logisches Schließen noch weniger, aber es ist ein Nachwirken im Bewußtsein, ein Festhalten durch das Gefühl, ein allmähliches Deutlich- und Festwerden, und begünstigt wird das offenbar durch die Muße, mit welcher die Eindrücke aufgenommen werden, ohne ein von außen her bestimmtes, etwa knapp zugemessenes Tempo, durch die völlige innere Freiheit, durch das Wohlgesühl des sinnenden Verweilens. Me diese Dinge aber hätten doch wohl auch für spätere Perioden ihre Bedeutung! Die Schule, welche alle die aufzunehmenden Eindrücke plan­ mäßig und nach ihrer Wahl entgegenbringt, welche die Abfolge, das Tempo, den Wechsel bestimmt, welche es an Häufung und Durchkreuzung nicht fehlen läßt und welche namentlich fast immer für die Aufnahme der Eindrücke ver­ antwortlich macht, Rechenschaft von dem Verarbeiteten fordert, bietet damit also keineswegs die günstigen Bedingungen, wie sie zu glauben pflegt — obwohl andrerseits freilich auch Nötigung nicht leicht entbehrt werden kann, wo es gilt, die Persönlichkeit im ganzen zu bilden und für die Aufgaben des Lebens und der Gemeinschaft tauglich zu machen. Ebenso ist die Kontinuität der beab­ sichtigten Anregung gewiß der Anregbarkeit nachteilig: im Grunde sind es mehr einzelne Momente, in denen wir wirksame Anregungen erfahren, es muß ein Zusammenwirken von bestimmter Empfänglichkeit mit positiver Anregungs­ kraft stattfinden, und aus den Empfängnissen dieser Augenblicke baut sich wesent­ lich in uns auf, was unser Inneres wertvoll macht. Dabei ist förderlich, daß die Stimmung sich frei ausleben und sich wandeln darf (keineswegs ist alles anscheinende und auch wirlliche Träumen und Brüten vom Übel); ungünstig aber, wenn eine durch die persönliche Lage gegebene Gesamt- und Dauer­ stimmung lähmend wirkt; Druck- und Mhängigkeitsgefühl und Rechenschafts-

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Verpflichtung nebst körperlicher Gebundenheit legen jene freudige Bereit­ willigkeit nicht nahe. Nicht als ob sie dämm überhaupt ausbleiben müßte! Die Mrllichkeit würde denn doch zum Glück das Gegenteil tausendfach be­ weisen. Wer die Annahme, daß regelmäßige Anregbarkeit und Wirksamkeit der Anregungen das Normale sei und Wweichung davon irgendwie Tadel verdiene, wäre sehr verkehrt. Doch am Ende hilft die Karste Erkenntnis solcher hemmenden Wirkungen nicht darüber hinweg, sofern dieselben vom Wesen der Schule unzertrennlich sind. Zum mindesten werden sich gewisse Möglichkeiten der Befreiung doch ergeben, wenn die Sachlage im rechten Lichte gesehen wird. Es spielt allerdings noch anderes Ungünstige mit. Auch die Gleichmäßig­ keit und Gleichzeitigkeit der Anfordemngen an viele, untereinander immer sehr Ungleiche, vermindert die Anregungskraft der gestellten Aufgaben. Will man andrerseits auf die Fördemng Hinweisen, welche durch den Wetteifer dem Streben zuteil werde, so ist das in Mrllichkeit weder eine durchweg erfreuliche Hilfe noch hat sie in deutschen Schulen je die Bedeutung erlangt wie im Auslande; Ziele, die der Person des Zöglings als solcher gesteckt werden, die zugleich ihrem Wesen und Können entsprechen und sie doch auch über sich selbst hinaus­ wachsen lassen, sind tatsächlich weitaus wertvoller. Es kommt in unseren Schulen, so wie sich das Unterrichtsleben allmählich gestaltet hat, femer hinzu, daß man fürsorglich zu jeder Leinen Höhe auf streng abgemessenen Stufen hinaufführt, damit womöglich niemandes Kraft versage mit emporzusteigen. Gleichwohl verlangt die Schule neben allen den Leistungen, die auf fest objekivem Grunde des angeeigneten Stoffes und des angelernten Verfahrens ruhen, stets auch eine gewisse Reihe solcher, bei denen das Individuum ohne jede HLfe, ohne Stützen oder Schemata sich emporrecken soll, etwas durch unmittelbar persön­ liche Kraft leisten und damit die erreichte individuelle Gesamtstärke dartun. Dazu gehört das „Herausbringen" schwieriger fremdsprachlicher Texte, wozu die Schüler zwar nach unzulänglicher Lehreransicht durch Konstmieren, durch Aufschlagen der Wörterbücher, durch Erinnemng an grammatische Regeln usw. mit Sicherheit sollen gelangen können, wozu aber in Mrllichkeit doch vielfach ganz andere Kräfte gehören, die Fähigkeit des Kombinierens, die innere Anschauung der Sachen und Situationen, entwickeltes Sprachgefühl und Gefühl für Sprachsttl. Und freilich: well eben diese tiefer liegenden Kräfte dazu gehören, hat man unter dem Dmck des öffentlichen Mitleids mit der lern« pflichtigen Jugend bei uns mehr und mehr aufgehört, diese Zumutung emsllich zu stellen. Wer ob das nicht geradezu einer der Gründe für den Rückgang geistiger Leistungskaft geworden ist? Es sind dabei die stärkeren Individuen den schwächeren, der Überzahl der schwächeren, geopfert worden. Die zweite Hauptgelegenheit, die mehr unmittelbaren Geisteskräfte der Schüler in Anspruch zu nehmen, bildet die Lösung mathematischer Aufgaben. So sicher diese nach dem Gefühl des Fachlehrers aus der bestimmten Kenntnis

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der Lehrsätze mag hervorzugehen scheinen, es bedarf doch daneben der Findig­ keit, es bedarf vor allem eines ausdauemden, selbständigen Sinnens, Suchens, Versuchens, Divinierens, und es liegt ja gerade darin der hohe Reiz dieser Auf­ gaben, der zum Teil selbst die Mittelmäßigen mit erfaßt und stundenlang bei dem Lösungsversuche festhält: durch diese Aufgaben gewinnt der ganze mathe­ matische Unterricht vielleicht den größeren Teil seiner bildenden Kraft, indem er eben Kraft erheischt, Kraft hervormft, Selbsttätigkeit in einem volleren Sinne. Frellich, eine gleichmäßig unbedingte Forderung an alle die ungleichen Schüler einer Klasse kann das Wiedemm nicht bilden, und dies wird in den Augen mancher Lehrer eine Schattenseite sein; in Mrllichkeit aber ist es das nicht. Daß Kraft sich überhaupt entfalten kann, darauf kommt es mehr an, als daß Leistungen erzielt werden. Das britte Gebiet, auf welchem eine Entfaltung wirllich persönlichen Könnens gefordert wird, ist der deutsche Aufsatz, bei dessen Entstehung doch Urteil, Gesichtskreis und Lebenskreis, Sprachbeherrschung, Stil- und Form­ gefühl zusammenwirken sollen, der nicht einfach auf einem geraden und not­ wendigen Wege als Ergebnis empfangenen Unterrichts ans Licht treten soll, sondem als Zeugnis einer freieren, irgendwie persönlich selbständigen Ver­ arbeitung von vielerlei empfangenen Eindrücken, gewissermaßen als eine Reaktion der Person gegen das Empfangene. Oder soll er das etwa nicht? Das freilich ist Tatsache, daß man es immer weniger zu wagen scheint, in diesem Sinne Ansprüche zu stellen. Nicht bloß, daß die einstmals üblichen Themata verpönt worden sind, die eine wirllich über das Alter der Zöglinge hinaus­ gehende Selbständigkeit des Fühlens wie Denkens voraussetzten und auf das Arbeiten mit fertigen Phrasen und übernommenen Gedanken verwiesen; nicht bloß, daß die selbständigeren Arbeiten immer weiter nach oben zurückgeschoben worden sind und auf allen vorhergehenden Stufen völlige oder halbe Re­ produktion gepflegt wird: sondem selbst den Gereiftesten gegenüber ist der Anspruch an selbständige Gedankenentwicklung vielfach auf einen bloßen Schein herabgedrückt, immer zugunsten des Durchschnitts, zugunsten sicherer Möglich­ keiten, unanstößiger Gesamtergebnisse. Darf man nicht auch hier wieder einmal sagen, daß die Hälfte mehr wäre als das Ganze? Freilich erscheint trotz allem die Zumutung der Anfertigung eines Aufsatzes den jungen Leuten fast immer überaus schwer; peinlich lastet auf ihnen ihre eigene Unfruchtbar­ keit, und die Umgebung sieht oft ein großes Unrecht in der gestellten Anfordemng: aber dies doch wesentlich deshalb, weil die gesamte Linie der selb­ ständigen Geistesentfaltung zu wenig angebaut oder vielmehr zu wenig frei gehalten ist, weil die regelmäßige Mußarbeit die freie Entfaltung erstickt hat1). *) Daß sich für viele der Schüler eine ganz andere Art von „Aussätzen" empfehlen mag, als die bis jetzt auf unseren Oberstufen gepflegte, wird an anderer Stelle zur Sprache gebracht.

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Es wird eben auch hier ein sicherer Gewinn nach der einen Seite mit großen Opfern nach der andem erkauft. Tie Individuen von bedeutenderer Wesensanlage leiden unter dem System, das auf Vorsicht sich gründet und freilich auch auf Gerechtigkeit abzielt. Ausländische Beurteiler haben es schon öfter ausgesprochen, daß das so vortrefflich funktionierende deutsche Unter­ richtswesen doch den kraftvolleren Individuen ungünstig sei, daß es gleichmäßig geschulte Geister und Charaktere liefere, einigermaßen ähnlich wie gleichmäßig gebrillte Soldaten. Wenn unsere Unterrichtsmethode ja freilich gmndsätzlich immer die Selbsttätigkeit der Schüler zu der lehrenden Einwirkung der Unter­ richtenden hinzugewinnen will, so greift das in Wirllichkeit keineswegs so tief, wie man glaubt. Was durch das „entwickelnde Lehrverfahren", die katechetische Form, die Durchwebung alles Vortrags mit Fragen an die Schüler hervorgerufen wird, diese anscheinend oder wirllich stetige innere Mitarbeit der Schüler ist doch nur eine Selbsttätigkeit niederen Grades, bei der nur feste Schritte oder Schrittchen zu machen bleiben, die fast alle bereits gut vorbereitet sind. Weit entfernt also, den Wert dieser Methode überhaupt anfechten zu wollen, muß man doch sehr wünschen, daß sie nicht schon als die volle wünschenswerte Fördemng der Selbsttätigkeit der Schüler gelte. Hinter der großen Gesamtlinie der Bildung durch planvolle Einwirkung muß eben immer jene herlaufen, die des Fortschritts durch die stillere Selbstbildung, die teils auf der natürlich organischen Entfaltung treibender Keime beruht, teils auf der Wirkung frei und gelegentlich empfangener Eindrücke und Anregungen, teils auf selbständig gesuchtem Bildungserwerb, namentlich durch Lektüre, passive und aktive Kunstpflege, Bewegung im Leben und Beobachtung des Lebens. Es ist augenscheinlich, daß bei genialen Menschen diese gesamte verstecktere Bildungslinie weitaus die kraftvollere und bedeutendere wird, und gewiß, daß sie bei der Menge gewöhnlicher Naturen nur schwächliche Gesamtbedeutung hat, mindestens während der Schulzeit, daß auch wohl gerade bei diesen mittel­ mäßigen Naturen die ihnen etwa an sich mögliche Selbsttätigkeit durch das Gewicht der von außen empfangenen planvollen Einwirkung ganz abgestumpft wird, während bei den genialen die erstere oft gar nicht zu verfangen scheint, weil sie ihre innere Aktivität für sich haben. Für die Genialen die geeignete Fürsorge zu treffen, ist schwer möglich und ihnen vielleicht auch nicht notwendig: aber unterhalb dieser besonderen Höhe gibt es weit mehr andere, die sich über die Mittelmäßigkeit zu erheben vermögen, die im ganzen wohl das aller­ wertvollste Ferment im Leben der Volksgemeinschaft bilden, und die eben ein Maß von Frecheit zur Entwicklung ihres möglichen Wertes brauchen; auf diese also sollen auch die öffentlichen Unterrichtseinrichtungen Mcksicht nehmen, vollere Mcksicht, als sie jetzt zu tun pflegen. Wieder vollere Rücksicht, wäre vielleicht zu sagen? Tatsächlich war die frühere Periode eines methodisch Münch, Zukuilstspädagogik. z. Aufl. 13

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Zweiter Teil. Betrachtungen und Vorschläge.

minder fest organisierten Unterrichts in vielen Fällen der Entwicklung eigener Kraft bei den Zöglingen günstiger. Kann man sie dämm nicht zurückwünschen) so braucht man doch die vorteichaften Seitenwirkungen eines unvorteilhaften Zustandes nicht zu verkennen. Der vor einen neuen, schwierigen Autor gestellte und zum Herausarbeiten des Sinnes getriebene Schüler, auch der mit einem recht hochgegriffenen Aufsatzthema belastete, aber andrerseits auch der in einem geistlosen und nicht geistfordemden Unterricht gelangweilte oder der in einem nicht recht ernst genommenen Unterrichtsfach ausruhende: er mochte dadurch doch zu stärkerer einseitiger Kraftanstrengung getrieben werden oder durch Ausruhen sich für gelegentliche intensive Leistung sammeln. War doch eben auch die einseitige Wertschätzung eines bestimmten Lemgebiets unter gleich­ gültiger Behandlung der übrigen für die persönliche Kraftentfaltung günstig, und die gegenwärtige Ebenmäßigkeit vieler Lemziele im Gesamtplan ist mehr den stofflichen Bedürfnissen unseres Kulturlebens zu danken als den persönlich­ erzieherischen. Im ganzen kann man durch die Entwicklung der Dinge auf dem Gebiet unserer Schullehrpläne an etwas sehr weit Mliegendes erinnert werden, nämlich das Schicksal der Organisation des mittelalterlichen Rittertums. Immer vollkommener waren Trutz- und Schutzrüstung, Technik der Waffen­ führung und Taktik der ritterlichen Heere geworden, fester geschlossen denn je rückten sie in die Schlacht, und auch zuversichtlicher glaubten sie an den unaus­ weichlichen Erfolg und Sieg: aber da gerade wurde unerwartet eins der stolzen Ritterheere nach dem anbetn von ganz unrittermäßigen Gegnem, die Blüte der österreichischen Ritterschaft von wenig zahlreichen Schweizer Hirten, die der französischen von schlecht ausgestattetem englischen Kriegsvolk und zum Teil von ähnlichen Gegnem Karls des Kühnen Heere überwältigt und niedergeworfen. War doch dort die leichte Beweglichkeit der einzelnen aufgehoben, der feste Zusammenschluß lieferte auch dem Tode um so vollere Rechen aus. Wenn man vergleicht, welch sorgsames Sinnen der steten Vervollkommnung und Sichemng des Unterrichts seit so manchen Jahrzehnten an allen Enden ge­ widmet worden ist und mit welchem steigenden Emst die Aufgabe angefaßt und durchgeführt wird, und andrerseits, welche wegwerfenden Urteile über das Ganze dieser Arbeit und Organisation ringsumher gefällt werden, wie wenig Vertrauen und Hochschätzung sich draußen kundgibt, aber ferner auch, wieviel geistige Mattheit bei der Mehrheit der durch die Lehranstalten hindurchgegange­ nen jungen Leute erscheint, so kann man wirllich zuzeiten das Gefühl einer großen Gesamtniederlage oder doch eines greifbaren Mßerfolges haben in dem Augenblicke, wo der positive Erfolg am vollsten vorbereitet, am sichersten ver­ bürgt schien. Von einem Zurückgehen auf durchschrittenem Wege kann auf geistigem Gebiete nicht die Rede sein: zu Zuständen und Einrichtungen von ehedem können wir nicht zurückstreben wollen. Mer die Vorteile von ehedem

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Das Recht der Selbstentfaltung.

wiederzugewinnen, ohne sich die Mängel gefallen zu lassen, danach muß doch wohl getrachtet werden. Um auf das hier möglich Erscheinende kurz hinzudeuten (es wurde vom Verfasser längst bei anderen Gelegenheiten erörtert und ist seitdem auch von anderen Seiten ähnlich gefordert worden), so ist ein volleres Maß individueller Bewegungsfreiheit wenigstens für die geleisteten Schüler sicherlich denkbar, zulässig, wünschenswert: also eine gewisse Wahlfreiheit gegenüber den zu ver­ fassenden größeren Arbeiten, wie Aufsätzen, die genügende freie Zeit zu zu­ sammenhängenden, selbstgewählten, durch einen längeren Zeitraum fortzu­ führenden Arbeiten, eine gewisse Mannigfaltigkeit in der Wahl umfassender häuslicher Schriftstellerlektüre, mehr Wahlfreiheit gegenüber den einzuprägen­ den Gedichten und für die obersten Stufen wenigstens eine gewisse Wahl­ freiheit doch auch gegenüber den Unterrichtsfächem. Das Nebeneinander eines gemeinsam verbindlichen Kemunterrichts und persönlich gewählter Fächer, die Möglichkeit, sich auf gewisse Gebiete mit vollerer Kraft werfen zu können, mit größerer Ruhe, mit fühlbareren Fortschritten, das zusammengenommen würde — freilich nicht vor neuen unliebsamen Erfahmngen überhaupt schützen, denn diese erspart uns die menschliche Unvollkommenheit in keinem Falle, aber doch wohl einen neuen frischen Zug in das Schulleben bringen, nach dem das­ selbe doch gewissermaßen unbewußt zu seufzen scheint, wenn auch ausgezeichnete Lehrer mit günstiger Schülerschaft von einem solchen inneren Bedürfnis nichts gewahren mögen. Aber man muß, um hier mitreden zu können, nicht bloß die eigene, begrenzte Sphäre kennen, sondem den aus weitem Gesamtbezirk sich ergebenden Durchschnitt. Daß das Trachten nach immer vollerer Organisation des Unterrichts und Sichemng seiner Ergebnisse übrigens auch vielfach zur Mechanisierung statt zur Vergeistigung geführt hat, sei mehr nebenbei erwähnt: man denke z. B. an die Wertschätzung einer wortgetreuen Wiedergabe vorge­ tragener Musterübersetzungen statt des freien Erweises des gewonnenen Ver­ ständnisses, der inneren Sachanschauung und der wünschenswerten Variation des muttersprachlichen Ausdrucks; oder an die ebenfalls wortgetreue Meder­ gabe eines charakterisierenden Vortrags über geschichüiche und namentlich über irgendwie abstraktere Dinge; oder an den Aufbau der Aufsätze nach den alt­ vererbten äußeren Mtteln der „Rhetorik", oder endlich an die gesamte Ver­ nachlässigung der Pflege des persönlichen Urtells bei den Heranwachsenden *). Zum Abrichten ist man immer in Gefahr, wo man viele miteinander unter­ richten und den Erfolg davon aufweisen soll; mit dem Abrichten aber sinkt man so tief unter die Linie des Genügenden, wie man sich oder vielmehr die Schüler durch Anregung ihrer Selbstentfaltung darüber erhebt. Überhaupt aber, um wieder zum Mgemeinen zurückzukehren, kann alles noch so wohlüberlegt zugemessene Sollen nicht dieser Selbstentfaltung zur Kraft verhelfen. Es muß ihm ein freies Wollen nebst dem Wohlgefühl selbst-

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Zweiter Teil.

Betrachtungen und Vorschläge.

erstrebten Könnens zur Seite gehen. Zwischen dem Sollenden und dem, der das Sollende auferlegt, besteht eine Art von Feindschaft oder doch Spannung; wer uns das Bewußtsein des Könnens vermittelt, wird uns zum Freunde *). Aber auch von der persönlichen Seite des Verhältnisses abgesehen: wo nur Sollen ist, bildet oder behauptet sich kein Wohlgefühl, es sei denn bei subaltemen Naturen. Und es genügt auch nicht etwa, daß ja immer ein Maß freier Tages­ zeit zur Verfügung bleibt, das dann für ganz andere Beschäftigungen, mehr emster oder spielender Art, verwendet werden kann: wenn sich ein freies Können enger mit dem Sollen verbindet, auf demselben Gebiet eins mit dem andem Raum hat, dann erst ist das Wünschenswerte erreicht. Die Erwähnung der freien Spielzeit (wobei nicht bloß an Spiele im engeren Sinn oder gar an Kinderspiele zu denken ist) mag übrigens noch zu dem Hinweis führen, daß die Einführung des Tumens wie die freilich noch nicht weit reichende Einsühmng der Handarbeiten nach der ethischen Seite unter anderem den Wert gehabt hat, eben ein Gebiet des persönlichen Könnens nebst dem möglichen Wohlgefühl des Könnens zu gewähren; und den Zöglingen gewöhnlichen Schlages mag dieses Gebiet genügen, die von edlerer Natur bedürfen auch geistigerer Gelegenheiten, ihres Wachstums froh zu werden — ein Gefühl, das die ganze Jugend durchziehen soll und ein wesentliches Stück dessen ist, was die Jugend zur Jugend macht. An die wertvolleren Naturen eben möge in unserem öffentlichen Er­ ziehungswesen mehr als seither gedacht werden *). Andere Nationen (Fran­ zosen z. B., aber nicht bloß diese) sehen die Sache unter dem Gesichtspunkt an, daß es zum möglichsten Erfolg der Nation gehöre, die entwicklungsfähigen In­ dividuen zu dem höchsten Maße der ihnen möglichen Entwicklung hinzuführen oder hinzulocken, und diese Art von nationalem Utilitarismus braucht man nicht zu verurteilen. Mer man braucht dämm nicht just diesen — uns Deut­ schen bisher doch wesenüich fremden — Gesichtspunkt anzunehmen. Daß tüchtige Individuen neben den bloß irgendwie mit tauglichen zur Entwicklung kommen, ist eine Bedingung jedes gedeihlichen Gesamtlebens. Eine solche Entwicklung aber erfolgt nicht ohne Selbstentfaltung der im Keime verliehenen

4. Es ist nicht bloß das Verhältnis zwischen Einwirkung und Selbstentfaltung, das theoretisch wie praktisch schwer seine rechte Mgrenzung findet; verwandte Verhältnisse bieten nicht minder Versuchung zu einseitiger Stellungnahme. Anstatt immer Gewicht und Gegengewicht im Auge zu behalten, gibt man sich gern einem einzelnen Gesichtspunkt gefangen, und so läßt sich viel dilettanti­ sches Spiel mit den ewig großen Fragen unseres Gebietes gewahren: dilet-

Die Bedeutung der LebenssphLre.

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tantisch — d. h. hier ohne den rechten vollen Umblick — doch auch bei manchen, die durch Bemf mit der Erziehung zu tun haben. Welches soll die Bedeutung der Autorität in der Erziehung sein, welches ihr gegenüber die der freien indi­ viduellen Bewegung, des selbständigen Findens? Wie weit soll das Ge­ währenlassen reichen gegenüber dem Hemmen, Eindämmen, Nötigen, Auf­ erlegen? We weit soll das natürliche Recht der Jugend gelten gegenüber den Rechten und Bedürfnissen der Erwachsenen, der umgebenden Kulturwelt? Sicherlich ist es eine der schönsten Ermngenschaften neuerer Kultur, daß jenes Recht im ganzen nicht mehr verkannt wird, und eine Verbreitung und Befesti­ gung dieser Anerkennung muß nur gewünscht und gefördert werden. Auch nicht bloß in dem Sinne des Rechtes auf Lebensfreude und freie Bewegung, sondem zugleich in demjenigen, daß den einzelnen Stadien der jugendlichen Entwicklung wirllich das gegeben werde, was ihnen gemäß ist. Das Wort vom Verlegen des Zentrums der erzieherischen Bewegung in das Kind selbst mag dies drastisch ausdrücken: diese Verlegung hat aber doch nicht erst heute zu beginnen, sondem man ist dämm bemüht, seit es eine neuere Pädagogik gibt, wenn auch mit wechselndem Emst und Verständnis. Die ältere An­ schauung war, die Jugend sei so rasch und direkt als möglich in den Kulturbesitz der Erwachsenen hineinzuführen, in ihre Formen und Beschäftigungen hinein­ zugewöhnen, auch hineinzuzwingen, ihr sei deren positives Wissen und Glauben geläufig zu machen; und was darauf an Zeit verwendet werden mußte, was die jugendliche Unreife an Hemmung und Verlangsamung bewirkte, das galt schon als bedauerlicher Defekt der Natur. Wir sind sehr anderer Ansicht ge­ worden: jedes Lebensalter hat seine Organisation, hat für sich seine Voll­ endung, und die Nichtachtung der daraus hervorgehenden Rechte ist Mißbrauch zufällig überlegener Gewalt. Mer trotz alledem: das Emporsteigen zur Reife und zur Befähigung der Kulturteilnahme muß gefördert, muß beschleunigt, muß zum Teil abgenötigt werden durch planvolle und willensfeste Einwirkung; es hat auch der zu übermittelnde Swff, das „Lehrgut", die Angleichung an das vorhandene geistige Gesamtleben ihr großes Recht. So also steht es mit Ge­ wicht und Gegengewicht; man werfe das eine kräftiger in die Wagschale, wenn diese aus Versäumnis zu leicht belastet erscheint, aber man vergesse nicht, daß es eine Wagschale mit zwei Schalen ist, die gefüllt werden müssen. Wer nicht immer zugleich das Lebensrecht der Gemeinschaft und des Individuums sieht, der versteht menschliches Leben überhaupt noch nicht. Ein Gegenüber jener Art büdet auch die Bedeutung der umgebenden Lebenssphäre und der bestimmten erzieherischen Maßnahmen. Es be­ rührt sich tatsächlich mit dem vorher behandelten Verhältnis der Selbstent­ faltung zur persönlichen Einwirkung. Werden lassen, das ist es, was in diesem wie jenem Zusammenhang nicht vergessen werden soll. Es ist — nicht bloß gewisse Stellen der oben besprochenen Protestliteratur zeigen es — ein Zug

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Zweiter Teil.

Betrachtungen und Vorschläge.

der Zeit, daß man in den verschiedenen Ländem beginnt, jenem ruhenden Faktor seine Bedeutung zuzuerkennen; es ist ein Stück der großen Reaktion gegen das, was man in weitem Sinne Rationalismus nennen kann, die Einsicht in die Unzulänglichkeit alles Bewußten, verstandesmäßig Planvollen, die Würdigung des natürlich Werdenden. Eine naivere Erziehungsweisheit beschränkt sich darauf, von der Wirkung des guten oder bösen Beispiels zu reden, und jede Mutter, deren Sohn über Nichtsnutzigkeit ertappt wird, stellt fest, daß es die Kameraden seien, von denen er das Schlimme übernommen habe. Jeder Klassenlehrer weiß auch etwas vom Geiste der einzelnen Schülerklasse. Über den sitüich ganz fragwürdigen Geist der Jntemate oder auch der höheren Schulen wird namenllich in Frankreich gegenwärtig viel gellagt. Und an diesen Puntten wiedemm wie an andem steht England ganz eigenartig da, steht es im möglichsten Gegensatze zu den kontinentalen Verhältnissen. Die Lebenssphäre ist dort nach ihrer Bedeutung voll erkannt, ihre Gestaltung, ihre Pflege und Sicherung gilt den erzieherisch Verantwortlichen eigentlich als das Allerwichtigste. Auch das natürlich kann bis zur Einseitigkeit gehen und zur Unterschätzung der gegenüberstehenden Faktoren. Mer der Wunsch, etwas Gutes von dort her für uns zu übernehmen, wird doch mit Recht allgemeiner und lebendiger. Tatsächlich durchzieht, und zwar seit vielen Jahrhunderten, unsere Erzie­ hung der Glaube an die Wirkung der Lehre, der Einwirkung durch Wort und Einsicht, und bis auf den heutigen Tag steht dieser Glaube an den meisten Stätten in kaum erschütterter Geltung. Nur eben nicht bei den Angelsachsen. Daß bei ihnen eine andere Schätzung waltet, muß nicht als Ausfluß einer von je bewährten tieferen erzieherischen Einsicht betrachtet werden: es ist eher Mrkung einer gewissen Ohnmacht der Erwachsenen und Leitenden gegenüber der stürmischen Vollkraft und dem trotzigen Selbstgefühl der Jugend, und übrigens ist jene ganze Erkenntnis und Stellungnahme ziemlich neuen Datums, während früher (b. h. bis in das 19. Jahrhundert hinein) herbe Zuchtmaßnahmen im Vordergmnde standen, wovon sich gewisse Reste auch noch erhalten haben. Aber nachdem ein tüchtiger Geist in die öffenllichen Schulen eingezogen ist (das Verdienst ellicher überragender erzieherischer Persönlich­ keiten und eine Glückswendung für die Nation), gilt eben das Gewährenlassen und Fördern dieses Geistes als das wichtigste Stück der Erziehung. Ein Stück des erneuten Glaubens an die Natur gegenüber aller berechnenden „SBilbung* kommt darin zum Ausdmck, und eine unverlorene Jugendlichkeit auch der älteren Menschen erscheint als schönes Bindemittel. Anstatt des völligen Auseinandertretens von Erziehern und Empfängem der Erziehung findet sich vielmehr eine organische Verbindung und eine reichere Abstufung. Die miterziehende Bedeutung der wertvolleren Zöglinge wird gewürdigt und genützt. Gewisser­ maßen will die Gesamcheit sich erziehen oder sich gegenseitig emporziehen.

Die Bedeutung der Lebenssphäre.

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Einen solchen Geist anderswohin zu übertragen, wird zunächst meist ein frommer Wunsch bleiben. Er wird sich nicht neu bilden ohne das glückliche Vorhandensein überragender Persönlichkeiten als Träger guten Geistes; er kommt auch immer wieder in Gefahr, im Gesamtleben der Gemeinschaft zu erstarren oder irgendwie abwärts zu sinken. Er ist auch nicht die höchste Wert­ bürgschaft; bei dem einzelnen, der von ihm eine Zeitlang umfangen wird, bedeutet er mehr nur eine Grundlage für allgemeine Charaktereigenschaften und Haltung, eine Befestigung vielleicht. Und leicht werden die Schranken des Gemeinschaftsgeistes endgMige Schranken für die weitere sittliche Ent­ wicklung des einzelnen. Tie zomigen Worte der Schriftstellerin Ellen Key gegen das sich bildende Kollektivgewissen, das die Verantwortlichkeit des einzel­ nen nicht zur Entwicklung kommen lasse und an weitreichender sittlicher Schwäche schuld sei, sind keineswegs ohne Berechtigung. Besser noch, viel besser wäre es gewiß, wenn fest auf sich selbst mhende Individuen überall reichlich hervor­ gingen. Aber sie tun es nicht, und eine gute Mittelmäßigkeit muß für die vielen etwas Gutes heißen. Daß die umgebende Menschensphäre, die Ge­ nossenschaft, den werdenden Naturen int ganzen mehr zur Stärkung gereiche als zur Hemmung, zur Schwächung, zur Entwertung, das ist es, was man von chr wünschen muß. Sollte die Erfüllung des Wunsches ganz und gar von Un­ berechenbarem abhängen? Fragt man nun, was geschehen könnte, um die gesamte Lebenssphäre unserer Schulen günstiger zu gestalten für die sittlich-persönliche Bildung der Zöglinge, so wäre freilich zu allemächst daran zu erinnern, wieviel wichtiger noch die Sphäre der Familie ist als die der Schule, wie jene doch noch viel tiefere Grundlagen zu legen pflegt als diese, und zugleich, wie wenig leicht irgendwelche öffentliche Erörtemng oder Mahnung dorthin zu wirken Aussicht hat, auch noch, wie ungünstige Bedingungen das Kulturleben der Gegenwart mit seinen großen Krisen und raschen Wandlungen für einen einheitlichen, stetigen, sicheren Geist der Familien gewährt. Und der Gedanke, daß das wahre Heil einer nationalen Erziehung von der neuen Errichtung vollständiger, allmählich zu mehrender und über das ganze Land zu verbreitender Erziehungsanstalten erwartet werden müsse, ist ja auch in den obigen Reformschriften wiederholt entwickelt worden. Aber unsere Schulen als solche, mit dem jetzigen Charakter der Extemate? Wie steht es da mit Normen und Maßstäben, wie mit den äußeren Seiten des Schullebens, wie mit den überlieferten und sich weiter überliefernden Stim­ mungen, mit der vorherrschenden Art des persönlichen Verhälmisses zwischen Lehrem und Schülem? Es soll auf alle diese Gebiete, Familienerziehung, Kulturbedingungen, Erziehungsanstalten, herrschende Schulstimmung unten in andem Abschnitten eingegangen werden. Nur soviel schon jetzt: Daß das Bestehen einer besonderen Schülermoral, deren Lizenzen in einer andem

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Zweiter Teil. Betrachtungen und Vorschläge.

Lebenssphäre höchst anstößig sein würden, nicht als etwas Harmloses und für die weitere Charakterbildung Gleichgültiges hinzunehmen sei, darin haben einige von den oben besprochenen Schriftstellern ganz recht, wenn auch erfahmngsmäßig von zahlreichen besseren Naturen die unsaubere Haut der Schülerphase nachher leicht abgestreift wird. Schlimm ist es namentlich, daß die außenstehenden Erwachsenen jene Lizenzen ihrerseits als selbstver­ ständlich berechtigt anzuerkennen Pflegen, nicht schlechthin aus sittlicher Ober­ flächlichkeit, sondern zum Teil auch aus Verständnis der inneren Situation. Das Mittel aber zur Überwindung ist zweifellos eine vollere innere Befreiung der Zöglinge, mehr Anregung und weniger Einengung, mehr freundschaftliche Führerstellung und weniger mißtrauende Jenseitigkeit, mehr Verständnis der Jugend und weniger Starrheit der Maßstäbe, mehr guter Humor und weniger kleinliches Nörgeln, mehr gefördertes Selbstvertrauen und weniger Angst, mehr Würdigung der individuellen Unterschiede und weniger Schablone. Es gibt alle diese guten Tinge gegenüber allen diesen schlechten oder fragwürdigen, es gibt sie schon jetzt: durchaus nicht bloß ganz vereinzelt, aber auch durchaus nicht allgemein genug. Jene wünschenswerten Eigenschaften und Stimmungen werden, wo sie lebendig hervortreten, oft vom beteiligten Publikum mit einer gewissen freudigen Verwunderung anerkannt: Beweis, daß sie ihm bei weitem nicht gewohnt genug sind. Der oben besprochene L. Gur­ litt äußert sich mit Recht in dem Sinne, daß, wenn die Tinge auf die rechte persönliche Art angefaßt würden, sich Wohl auch unter den gegenwärtig bei uns geltenden Bestimmungen alles Gute leisten lassen werde. In der Tat, an dem so entscheidungsvollen Punkte, von dem wir hier reden, dürfte das rechte Verhältnis zu gewinnen sein ohne Umsturz der vorhandenen Organisation, durch den bloßen guten Mllen, durch eine ganz mögliche Me innere Wandlung bei den Lehrenden, denen es ja schlechthin an Wohlwollen für die Jugend durch­ aus nicht fehll, nur daß das Wohlwollen noch nicht wohltut ohne die rechte Art der Bewährung, und diese nicht zu erwarten ist ohne eine recht lebendige innere Einsicht in das Verhältnis. Daß freilich auch eine die Lehrer selbst erfüllende heitere Lebensstimmung eine große Hilfe sein würde, daß wirklich frische Männ­ lichkeit die Verbindung mit der Jugend um so leichter findet, und daß die Ent­ wicklung gewisser äußerer Verhältnisse diese wünschenswerten Bedingungen fördem könnte, sei schon hier nicht übergangen.

5. Der Kampf um die Zukunftsschule, der Zusammenswß zwischen den schroff angreifenden Neuerem und den — sei es entrüstet, sei es spottend, sei es auch in mhiger Zuversicht — abwehrenden Freunden der bestehenden Organisation (die übrigens vielleicht noch vollere Freunde einer vergangenen sind), dieser

Die Wandlung unseres Bildungsideals.

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Kampf hat zum Hintergründe die Verschiedenheit des Bildungsideals, welches die Kämpfenden beherrscht. Nun ist ja wohl zu unterscheiden zwischen Bildungsideal in dem Sinne des höchsten und vollsten Zieles dessen, was die reifen Persönlichkeiten, was die Besten im Volke anstreben und mehr oder weniger verwirllichen,und andrerseits in dem einfachen Sinne des Gesamtzieles für die Bildungsanstalten der Jugend. Und das letztere kann je nach Art und Bestimmung der Schulen von dem ersteren ziemlich weit abliegen, nicht nur um soviel tiefer, sondem auch seitlich von ihm liegen. Aber das vor­ schwebende Vollziel persönlicher Bildung wird doch immer eine starke Herr­ schaft auch über die Festsetzung der Schulbildungsziele üben. Man unterscheidet sich dabei nun schon insoweit, als man entweder einer Spaltung des Ideals, einem möglichen Nebeneinander abweichender Jdealziele gar kein Recht zu­ erkennen oder sie doch nur in engen Grenzen zulassen will, oder aber sie als eine ganz natürliche und gesunde Sache betrachtet. Außerdem aber besteht der Gegensatz zwischen denen, die eine zeitliche Veränderlichkeit, eine zulässige leichte Verschiebung oder eine selbstverständliche regelmäßige Wandlung des maßgebenden Ideals leugnen, und solchen, die sie anerkennen. Da wird denn das, was dem einen nur Ideal ist, dem andem diesen Charakter gar nicht zu haben, dieser Bezeichnung nicht würdig zu sein scheinen. Daß sich geschichtlich die Bildungsideale von Jahrhundert zu Jahrhundert irgendwie gewandelt haben, und daß sie auch nach den Nationen, trotz aller Ausgleichung der Kultur, verschieden genug bleiben, sollte niemand verkennen. Aber freilich, man kann darum doch das Gefühl haben, das Ideal der Gegen­ wart und der eigenen Nation sei eben das wirkliche Ideal und die übrigen haschten nur ungeschickter nach dem Wahren, oder seien unfähiger, es in ihr Gemüt aufzunehmen. Es gibt Deutsche, die eine Bildung wie die l>er Eng­ länder noch immer nicht als rechte und eigentliche Bildung anerkennen wollen; und daß französische Bildung sich zur deutschen nur verhalte wie der Schein zum Wesen oder die Form zum Gehalt, ist noch immer unter uns eine ziemlich weitverbreitete Überzeugung. Es ist wahr, das deutsche Geistesleben hat ein sehr schönes und volles Ideal der persönlichen Bildung aus sich heraus geboten; Goethe, Schiller, W. v. Humboldt und die ihnen nahe Kommenden verkörpem es uns, und im ganzen sind es in jener unserer schönsten Zeit nicht wenige aus allerlei Ständen und Lebensstellungen, die es in sich aufgenommen haben. Es mit „harmonischer Ausbildung der Kräfte" zu bezeichnen, besagt nicht viel und jedenfalls nichts hinlänglich Deutliches und Bestimmtes. Humanität war beliebte Bezeichnung, aber doch nicht ein Wort, das einen bestimmten Inhalt notwendig einschlösse, und tatsächlich allmählich in ziemlich verschiedenem Sinn genommen und empfunden; und „Bildung" schlechtweg ist eigentlich der herrschende Name geworden und geblieben. Als das Wesentliche aber dieses

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Zweiter Teil.

Betrachtungen und Vorschläge.

deutschen Bildungsideals aus der klassischen Zeit muß doch wohl gelten ein Werden der persönlichen Eigenschaften von einem innersten Kem des Wesens aus, ein Sichgestalten von innen nach außen, oder vielmehr diese innere per­ sönliche Art des Fühlens und Verstehens selbst, bei der es verhältnismäßig gleichgültig blieb, wie weit sie auf die äußere Haltung der einzelnen wirkte. Zwar trifft man auf kein Anzeichen, daß eben in jener Periode der Entstehung und Blüte des Ideals selbst die Form, in der die Persönlichkeiten sich gaben, vernachlässigt worden wäre: vom Gegenteil empfängt man aus den literari­ schen Quellen viele Eindrücke. Indessen der Kern war es doch, den man nun suchte und pflegte, und Vemachlässigung der Form, auch ganz gwbe, ward darüber allmählich als völliges Adiaphoron nicht bloß, sondern geradezu als eine deutsche Tugend angesehen. So viel Recht schien der Natur wieder eingeräumt werden zu müssen, wobei für Natur oft genommen wurde, was nur schlechte Gewöhnung war. Also bis an die Peripherie des Wesens hat der gebildete Kem seine Wirkung wenig erstreckt. So sehr das Innere dem Äußeren an Wert überlegen heißen darf, seine Kraft zur Unterwerfung des Äußeren ist nicht immer groß. Man kann hier auf das religiöse Gebiet mit seinen analogen Theorien Hinüberblicken. Der unterscheidende Punkt des Protestantismus gegenüber dem Katholizismus, daß dem ersteren nur der Glaube eine Bedeutung hat, der dann die rechten Werke mit organischer Notwendigkeit hervorgehen lasse, bedeutet, psychologisch betrachtet, keinen so unbedingten Vorzug, da eben tatsächlich auch sehr schätz­ bare Bahnen von außen nach innen laufen und das Innere zum Teil erst gebildet und befestigt wird durch Handlung und Gewöhnung. Doch lassen wir dies auf sich beruhen: als ersten Punkt, an dem das bei uns in Geltung stehende Bildungsideal eine Ergänzung verträgt oder geradezu herausfordert, finden wir also eben den, daß die Pflege der Form eine vollere Würdigung er­ fahren soll, und zwar der Form nicht etwa bloß nach einer oder der andem besonderen Seite, etwa des literarischen oder überhaupt des schriftlichen Stils, was uns sehr literarisch-buchfreundlichen Deutschen immerhin schon am nächsten läge, vielmehr die Pflege der Form auch als der gesamten Körperlichkeit und der Soziabilität, der Eigenschaft also, welche wohltuend persönliche Berühmng mit andem zur Regel macht; denn hier hat eine bestimmte Auslese unserer Gebildeten, haben unsere sonst so rühmenswerten Gelehrten bekanntlich in ihrem Verkehr so viel Beispiele entgegengesetzter Gewöhnung gegeben, daß von nichts weniger als Humanität in irgendeinem zulässigen Sinne die Rede sein konnte. Die Humanität muß sich eben auch an der Peripherie bewähren, nicht bloß im versteckten Busen oder gar im Gehirn. Das Gesagte führt schon hinüber auf eine andere Linie, die wir verfolgen müssen. Es handelt sich um den vorwiegend intellektualistischen

Die Wandlung unseres Bildungsideals.

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Charakter unseres bisher herrschenden Bildungsideals. Man möchte bei dem soeben berührten Punkte zweifelhaft sein, wieviel derselbe überhaupt die öffent­ liche Schulerziehung angehen könne, obwohl er sicher schon da seine große Be­ deutung haben kann, in dem ganzen Geist und Ton des Unterrichts und nament­ lich auch des persönlichen Verkehrs zwischen Lehrem und Schülem, und dann in der Würdigung der körperlichen Durchbildung, der Gewandtheit, der Elastizi­ tät, Anmut. Indessen wenn hier immerhin sehr vieles der späteren und der gesamten freien Selbstbildung überlassen bleiben muß, so ist es mit dem Gewicht des Intellektualismus anders: diese Frage berührt die Schulerziehung sehr bestimmt und erheblich. Jene Innerlichkeit der deutschen Bildung, die von Hause aus ein Stück ihres idealen Wesens ausmachte, hat sich im Laufe der Jahrzehnte sehr in dem Sinne verschoben, daß sie eben wesentlich begriffliches Leben und Wissensbesitz einschließt, und die Schule als solche war dieser Wand­ lung — wenn es für sie eine Wandlung war — naturgemäß besonders ausge­ setzt. Im Grunde hat das Wesen der Schule immer dieser Seite zugedrängt. Daß ihr Name ursprünglich (griechisch) auf ein mhiges Sichhingeben oder Vertiefen, auf ein schönes Ausfüllen freier Stunden hinweist, oder auch (latei­ nisch ludus) auf ein freies Üben seiner Kräfte in Gemeinschaft mit onbem, konnte die Einrichtung in Wirllichkeit nicht lange davor bewahren, daß Wissensübermitllung und Begriffsschulung ganz in den Vordergrund trat, was denn auch schon im späteren griechischen Altertum geschah, und im Mittelalter finden wir den gesamten Schulbegriff gegenüber dem Altertum sehr vergröbert. Tie Humanisten haben bekanntlich Wesentliches aus dem inneren Schulleben des Altertums erneut, und immer hat die sprachliche und begriffliche Analyse die breiteste Herrschaft im höheren Unterricht behauptet. Im 19. Jahrhundert ist eine Gegenwirkung gegen diese Art von Ratio­ nalismus in der deutschen höheren Schule von mehr als einem Punkte aus unternommen worden; der neue, tiefere Begriff der Bildung wirkte, wenn auch wesentlich in der bestimmt begrenzten Form des Neuhumanismus; im Zusammenhange mit der neuen germanistischen Wissenschaft und auch mit der Romantik drang deutsche Literatur und drangen vaterländische Studien mit ihrem wärmeren Gemütston in den Lehrplan ein, Poesie ward denn doch als solche echter verstanden, und dazu wurde die Geschichte etwas viel Packende­ res denn die ehemalige Chronologie oder die Anekdoten oder die präzise Stoff» fülle der griechisch-römischen Historie. Aber zu derselben Zeit drangen doch auch die konkreten Wissensstoffe der sogenannten Realien in zunehmender Breite herein, und andrerseits fanden jene gemütbildenden Gebiete keineswegs allenthalben eine Behandlung, die sie zu dieser ihrer eigentümlicher Höhe und Bestimmung erhob: die Regelmäßigkeit der sich aneinanderschließenden Stunden, die begreifliche Schwunglosigkeit vieler Lehrpersonen, die nicht immer glückliche Nachwirkung der streng verstandesmäßigen Fachstudien, der

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Zweiter Teil. Betrachtungen und Vorschläge.

Mangel an Wärme und Intimität in dem Zusammenleben der Lehrer mit den Schülermassen, ferner aber die größere natürliche Lehrbarkeit und Kontrollierbarkeit alles Verstandes- und Gedächtnismäßigen und die Bedeutung der Kon­ trolle, der Prüfungen, des vergleichenden Messens der Schülerleistungen: das alles mußte zusammenwirken, um den wesentlich intellektualistischen Charakter der Schule und ihres Unterrichts herauszubilden und immer wieder zum herrschenden zu machen. Man hat kaum jemals zugegeben oder sich selbst gestanden, daß eine Ein­ seitigkeit in diesem Sinne vorhanden fei; die zugemutete Anstrengung, die Ausdauer, die Pflichtarbeit auch bei mangelnder Neigung wurde immer wieder gerühmt und hat ja auch sicherlich ihren Wert für die Willensbildung erwiesen. Aber was eine geraume Zeit hindurch wenig peinlich empfunden wurde oder sich doch nicht leicht zum Ausdmck bringen durfte, es wird eben gegenwärtig stärker gefühlt und kommt an allen Ecken und Enden zu sehr lautem Ausdmck. Hier handelt es sich nicht einfach um zufällige Mängel oder Verfehlungen der Lehr­ pläne und auch nicht um zufälliges Jrregeleitetsein der öffentlichen Meinung, um die Oberhand niedrigerer Gesichtspunkte über edlere, richtigere: es geht eben eine große Reaktion gegen die Schätzung von Verstandes- und Wissensbildung als solche durch die Welt. Sie macht sich, als populäre Strömung, vielfach linkisch geltend und maßlos. So ist es bei uns und in andem Ländem fast zum Dogma des Publikums geworden, daß die Anfordemngen der Schulen an den Umfang des Wissens sich immer steigerten, daß man nur Kenntnisse und immer Kenntnisse kontrolliere, daß ein toter Besitz anstatt lebendiger Kräfte hochgeschätzt werde. Es ist das Auge des Mißtrauens und Mßmutes, das die Dinge so sieht, aber diese Mßstimmung ist eben da. Den Ansturm eines mächtigen Bruchteiles der Bevölkemng in Frankreich gegen die „Intellektuellen" haben wir noch vor wenig Jahren gesehen: wie unrecht auch dieser Bmchteil im bestimmten Falle haben mochte, das Sympwm kann nicht unbeachtet bleiben, daß sich in einem Kulturlande wie Frankreich gegen die Vertreter des kultivierten Ver­ standes eine so elementare Opposition erheben konnte, auf chr unmittelbares Fühlen aller verstandesmäßigen Analyse zum Trotz pochend. Aber auch das neue Erstarken des religiösen Bedürfnisses kommt hier in Betracht, das Er­ starken ausdrücklich in dem Sinne, daß alle noch so hellen Erkenntnisse, wissen­ schaftlichen Feststellungen, empirischen Tatsachen durch einen großen Gemüts­ akt ignoriert werden und man nur das Glück des befriedigten Fühlens zurück­ gewinnen will. Und doch bedarf die Zeit mit ihren komplizierten Bedingungen für den äußeren Lebensbestand so sehr einer hohen Entwicklung der Intelligenz bei dem einzelnen! Aber freilich, einmal hat diese gewaltige Reibung der In­ telligenzen doch viel Fried- und Freudloses und weckt immer wieder die Sehn-

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sucht nach einem befreienden Gegengewicht, und dann ist in eben jenem Kampf des Lebens sowie zur inneren Genugtuung der einzelnen eine kräftige Ent­ wicklung des Willens mindestens so sehr Bedürfnis als die des Intellekts, beide zusammen erst befähigen zur sicheren Teilnahme am lebendigen Kulturleben und zum Bestand in demselben. Es ist den Menschen der Gegenwart, als müßten sie alle miteinander die stille Stube verlassen, um sich draußen frei zu tummeln, sei es mehr auf Landstraßen oder auf Wiesen. Die Pflege des Sports in so vielen Spielarten ist nur Sympwm, ja ist gewissermaßen nur Symbol der Zeitstimmung: ob man in die Eisberge hinaufsteigt, oder über weite Land­ strecken hinsaust, oder mächtige Wasserflächen durchfurcht, man will vor allen Dingen wollen, in seinem frischen, großartigen Wollen sich berauschen. Man verzichtet ganz gern darauf, immer „intellektuell" leben zu wollen, man kehrt sogar gern durch Tracht und Gebaren ein wenig in die Sphäre des Volkes zurück. Kurz, die Kulturbevölkemng ist etwas denkmüde und mindestens nicht eben denkfreudig. Und, um dazu zurückzukehren, auch die Schulen haben das erfahren. Wo sind die Familien, die die Geistesarbeit und die rein geistige Ent­ wicklung ihrer Söhne mit aufmerksamem Interesse verfolgen? Sie sind spärlich vorhanden1). Nur sofern das Fortschreiten die erwarteten äußeren Erfolge bringt oder in Aussicht stellt, Pflegt es, gewürdigt zu werden: im ganzen wird alles der Jugend an geistiger Betätigung Zugemutete als un­ erfreuliches Muß betrachtet. Aber was man mit Interesse und Sympathie begleitet, das sind die nebenbei hereingekommenen körperlichen Übungen, Handfertigkeit, Turnspiele, Exkursionen, und vom Wißen wesentlich dasjenige, was sich in Können umsetzt oder umsetzen läßt, was zu den lebendigen Auf­ gaben der Kulturgemeinschaft Beziehung hat, zu den Aufgaben der werdenden Generation: wenn auch nicht just an die praktischen Lebensvorteile für den einzelnen Lemenden gedacht zu werden braucht, wie es dem beschränktesten Gesichtskreis immer nahe liegt. Aber bedeutet nicht das Ganze überhaupt eine betrübende Verengerung, Verschiebung, Vergröbemng? Hängt es nicht einfach damit zusammen, daß der Kreis der praktisch am Schulleben Interessierten soviel weiter geworden ist, daß eine niedriger stehende Mehrheit mit ihrer Stimmung und Auffassung sich breitmacht und den Ton angibt (oder anzugeben strebt)? Bedeutet es nicht geradeswegs einen Medergang der Bildung, daß man nichts wesentlich For­ males, nichts Ruhendes, nichts Immaterielles mehr zu schätzen vermag? Gewiß darf man von einem weitreichenden Niedergang der Bildung in chrem besten Sinne sprechen, leider darf und muß man es; aber die Abwendung von dem, was in den Schulen formal-persönliche Bildung bedeutete, fällt damit doch >) Vgl. hierzu den unten folgenden Abschnitt über Familienerziehung.

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keineswegs zusammen. Wenn Bildung nach dem Sinn des Begriffs immer Form einschließt, so ist diese „Form" hier nicht bloß tatsächlich, sondem auch begrifflich etwas wenig Festes. Eine formale Bildung kann man suchen, die in ganz anderem liegt als in sprachlich-logisch-sttlistischer Schulung; sie ist in einem höheren und schöneren Sinne verwirklicht, wo vielseitige Empfänglich­ keit des Geistes und Gemütes gewonnen ist, Frische des Interesses, Leichtigkeit des Entschlusses, Gewandtheit der Bewegung. Und unverkennbar liegt in dieser Richtung das Ideal, das die jetzige Generation anzieht und beglückt. Mt wieviel Derbheit auch oder Ungerechtigkeit die bestehenden Formen der Jugendbildung angegriffen und verurteilt werden, die den Zeitgenossen vor­ schwebende neue Form ist eben eine abweichende; ideal kann sie dämm doch verstanden, kann als Ideal auch ihrerseits gefaßt werden. Man darf auch wohl in dem Bestreben, der Jugend möglichst wenig Zwang und Mühsal zu wünschen und möglichst viel Freiheit und Freude, an sich einen bedenklichen Mangel an Emst sehen, der durch die Zeit geht, aber es ist wieder nur eine Reaktion gegen die herbe Auffassung, die eine geraume Zeit hindurch die Jugenderziehung beherrscht hat, beruhend teils auf fortwirkender asketisch­ pessimistischer Stellung zur Menschennatur, teils auf zu hoch geschraubten Zeitidealen, teils auf mangelhaftem Verständnis der Jugend. Tie Losung, die seinerzeit (um 1835) der Leiter des höheren Unterrichtswesens in Preußen Johannes Schulze ausgab, daß diejenigen zugmnde gehen möchten, die nicht zu dem vollen Maße der ihnen zugedachten Arbeit sich gewillt oder befähigt zeigten, mutet das heutige Geschlecht als Grausamkeit und Verkehrtheit an. Da das Leben der Erwachsenen so viel Ringen und Kampf ist, so möchte man ein möglichst volles Maß von Willensfrische und ungebrochener Freudig­ keit mit in dasselbe hineingebracht sehen. Weil man selbst nicht alt werden darf inmitten der stets neu heranwogenden Aufgaben, so wünscht man alles der Jugend femgehalten zu sehen, was dieser etwas von vorzeitigem Alter ver­ leihen könnte. Der ehemalige, langsam über den Schulhof promenierende Obertertianer mit Bulle vor den Augen und das Him mit griechischen Par­ tikeln angefüllt, blind für die Umwelt und spröde von Gliedem, imponiert niemandem mehr wie vor fünfzig Jahren, er wird nur verhöhnt und bemit­ leidet. Indessen wieviel Gesundes im ganzen in solchem Wandel liegen mag und wieviel Fragwürdiges oder Ungesundes, er vollzieht sich eben mit unwider­ stehlicher Kraft. Wünsche und Rufe halten den Strom nicht auf, Reden nicht und nicht Beweisfühmngen, Entrüstung nicht und nicht Geringschätzung. An alledem fehlt es nicht, was aber der Strömung ihre Stärke gibt, ist doch wohl das Positive und Schätzbare, das in ihr mit enthalten ist; nebenbei freilich wird von den überschäumenden Wellen manches Wertvolle überflutet und zerstört. Ist es schon für den einzelnen schwer, sein Wesen an irgendeinem Punkte zu korrigieren, eine veränderte Richtung seinem Wollen zu geben,

Die Wandlung unseres Bildungsideals.

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alte Überzeugungen aufzugeben gegen neue Auffassungen, geschieht das alles nicht ohne Pein, Irrewerden, Ausgleiten, so ist es für eine große natürliche Gemeinschaft noch weit schwerer, sich selbst zu korrigieren, ohne daß die Maße verloren werden, ohne daß die Unklarheit des Übergangs schmerzlich würde. Aber daß eine Zeit in dem Suchen neuer Ideale begriffen ist, das ist nichts Übles; entsprechend einem Gesetz alles Lebendigen verlieren die vorhandenen Ideale nach einem gewissen Zeitraum ihre entzündende Kraft. Will die Umwandlung sich bis in die Tiefe erstrecken, die nach unserer Überzeugung unerschüttert bleiben muß, so mögen wir erschrecken; aber die geschilderte Opposition gegen den Intellektualismus in unserem seitherigen Bildungsideal gehört nicht zu dem, worüber wir wirllich zu erschrecken hätten. Wie gegen den Intellektualismus, so wendet sich mit zunehmender Deut­ lichkeit der Widerstand auch gegen das, was man den Universalismus unseres Bildungsideals nennen kann. Mt dem Wesen des Ideals selbst mag freilich die Forderung gegeben scheinen, daß alle bildungsfähigen Seiten der Person zur Entwicklung zu bringen seien, und auch, daß zu allen bildenden Gebieten der Zugang zu eröffnen sei; und es gab eine Zeit, wo die Besten einem solchen Ziele nicht bloß zustreben, sondem gerecht werden konnten. Wer indem die Zahl der zu den höheren Stufen der Bildung zu Führenden anschwoll und andrerseits auch die Gebiete des Wissens, Verstehens und Könnens sich immer mehr füllten und in sich differenzierten, indem ferner auch auf neue Gebiete neues Gewicht fiel und alte dämm nicht plötzlich ihre Schätzung einbüßten, hat sich jener Unwersalismus als immer weniger haltbar erwiesen (abgesehen davon, daß er auch im besten Falle dem neuen Geschlecht nicht ge­ nügen würde, dem alle Vielseitigkeit doch noch einseitig erscheint, so lange nicht dem Willen und Können ein volles Recht zugestanden ist). Die Klagen gehen nach einer doppelten Richtung: das Vielerlei, dem man sich öffnen und fortgesetzt offen und zugewandt bleiben soll, wird für zahlreiche im ganzen ein Zuviel, und — was der wichtigere Punkt ist — dieses Vielerlei neutralisiert sich zu sehr untereinander. Die letztere Tatsache hat man sich frellich erst sehr spät klar gemacht, und sie wird vielen auch jetzt noch keineswegs klar oder bekannt sein; aber verkennen läßt sie sich nicht mehr. Wie die ver­ schiedenen Farben einer rasch sich drehenden Tafel vor dem Auge in ein unbe­ stimmtes Grau zusammenfließen, so oder einigermaßen so ist es mit den der Aufmerksamkeit in stetem Wechsel dargebotenen mannigfachen Bildungsstoffen. Es ist doch wohl der menschlichen Natur entsprechend, daß Anregbarkeit nicht zu allen Stunden vorhanden ist, daß sie, wenn zuviel herausgefordert, sich ab­ stumpft, daß der Wille sie nicht zu ersetzen, nicht immer heraufzubeschwören vermag, und offenbar auch, daß sie selbst bei jedem Individuum nur auf ge­ wissen Gebieten lebendig ist, auf anbetn matt oder versagend. Es sind auch

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Zweiter Teil.

Betrachtungen und Vorschläge.

gar nicht just die vielversprechendsten SchAer, die in dieser Hinsicht sich durch Gleichmäßigkeit auszeichnen. Daß es ein Menschen- und ein Jugendrecht sei, Anregungen auch abzulehnen wie aufzunehmen, auch hier gewissermaßen zu lieben wie zu hassen, sollte man wlllig zugestehen. Und es kommt doch noch in Betracht, daß zum Bewirken von Anregung ein gewisses Verhältnis der Sympathie gehört oder eine Kraft der inneren Unterwerfung, wie sich das durchaus selbstverständlich allerwärts findet. 9hm ist es zwar twtz allen Be­ stimmungen und Vorschriften nie dazu gekommen, daß jedes Lehrfach volles Gewicht in der Schätzung der Lehrer wie SchAer erlangt hätte, aber bis zur quantitS nSgligeable soll doch kein Nebenfach mehr herabsinken dürfen, und volle Aufmerksamkeit und Rechenschaft wird in allen Lektionen erfordert. In der Tat darf ja auch nicht vergessen werden, daß es ein Stück der der Jugend nötigen Zucht ist, sich nicht schlechthin von ihren natürlichen Antipathien be­ stimmen zu lassen, auf diesem Gebiete so wenig wie auf andem, auch daß die anfängliche Unlust durch die rechte Einwirkung und durch die ersten erzielten Fortschritte oft überwunden wird und sogar in ihr Gegenteil übergehen kann, und ferner, daß die Ablehnung gewisser Bildungsstoffe sich nicht mit den Erfordemissen unseres Kulturlebens verträgt. Trotzdem bleibt individuelle Unterscheidung im ganzen in einem höheren Maße zulässig und auch rötlich, als sie bisher bei uns in Geltung war. So ist es ja auch nie wieder gelungen, die von manchen Seiten so sehr gewünschte höhere Einheitsschule ins Leben zu rufen, während eine Einheitsschule mit einer gewissen Wahlfreiheit im einzelnen recht wohl denkbar wäre. Auf Dif­ ferenzierung geht es bei dem Reichtum und der Vielseitigkeit unseres Kultur­ lebens doch hinaus, und wenn wir in Deutschland sicherlich nicht dem Gesichts­ punkt des möglichsten kulturellen Erfolges soviel zugestehen werden, daß wir die jungen Menschen möglichst früh für eine bestimmte Berufslinie sich vor­ bereiten ließen und nur für diese, so müssen wir andrerseits doch daran denken, auf welche Weise rechte persönliche Freudigkeit sich bilden und erhalten kann. Zu diesem Zweck wäre also doch wohl Ausdehnung des Rechtes der Kom­ pensation (schwacher Leistungen in einem Fache durch gute in einem andem), das Zugeständnis einer Art von Gewichtlosigkeit für dieses oder jenes Fach wenigstens unter gewissen Verhältnissen, ferner aber auch die Anregung, An­ erkennung und Anrechnung höhergehender individueller Leistungen in günstigen Fächem, und eine gewisse (schon wiederholt berührte und unten noch weiter zu berührende) Wahlfreiheit auf den obersten Stufen zu empfehlen. Bequemer wird der Unterricht dadurch natürlich nicht, und ebensowenig die Kontrolle, aber einen freundlicheren Zug kann er dadurch gewinnen. Wie die Gesamtheit der Lehrplanfächer als eine notwendige immer be­ gründet worden ist mit psychologischen, praktischen, historischen, kulturellen Gesichtspunkten, sei hier nicht verfolgt. Man kann dem Verstände manches

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beweisen, was das Gefühl doch aus eigener Machtvollkommenheit abweist. In andem Ländern, z. B. in England, ist man unbefangen darin, den Unterrichts­ und Studienplan für den einzelnen auf diese oder jene Weise zu beschränken; in Amerika läßt man neuerdings noch weit voller die Neigung oder Abneigung des einzelnen Schülers sprechen. Das Ziel einer harntvnisch allseitigen Geistesblldung und Wissensorientierung für jedes Mitglied der höheren sozialen Schicht ist in jenen Ländern kaum je aufgestellt worden. Doch auch bei uns hat die Besorgnis nicht gesiegt, daß die nicht gleichmäßig vorgeschulten Mitglieder der Nation oder der führenden Schicht derselben sich innerlich nicht genug verstehen würden. Eine gewisse Reibung der Ungleichen, der nach verschiedenen Seiten Interessierten, wird dem Gedeihen der nationalen Kultur eher Vorteil bringen. Man kann sich auch zu gut verstehen. Die Gleichheit der übernommenen Anschauungen und geistigen Interessen kann z u groß sein und ist es vielfach gewesen; das bringt dann immer die Gefahr der Bewegungslosigkeit mit sich; man stärkt und stützt sich gegenseitig in der Beschränkung. Glücklich mag dieser Zustand heißen, aber er ist dämm nicht fmchtbar. Das Mttelalter genoß ihn ganz, chm war er natürlich; auch die humanistische Periode der Bildungs­ geschichte besaß noch den Vorteil eines verhältnismäßig einseitigen Bildungs­ interesses. Als Wissen und Wissenschaften sich erweiterten, meinte man freilich zum Dell, das breite neue Ganze zu einem System zusammengefaßt an die Stelle des engen alten setzen zu müssen, wie dies dem Comenius bei seinem Plan einer Pansophie vorschwebte, und im Laufe des 17. Jahrhunderts füllten sich die Lehrpläne wenigstens der vomehm modemen Bildungsanstalten (der „Ritterakademien") mit einem reichen und bunten Nebeneinander von Wissens­ und Übungsfächern. Der Neuhumanismus des 18. und namentlich des 19. Jahrhunderts sicherte den alten Sprachen noch einmal ein so breites Recht, daß tatsächliche, wenn auch nicht nominelle Beschränkung auf ein geschlossenes Hauptgebiet vorhanden war. Die philanthropinische Bewegung wollte gern ein großes Vielerlei durch spielend leichte Behandlung des einzelnen möglich machen. Aber im Laufe des 19. Jahrhunderts ward — von strenger Lebens­ auffassung, hohen Idealen und der Grundlage blühender wissenschafllicher Forschung aus — mehr und mehr mit allem großer Emst gemacht, und leicht oder doch wohlgeordnet wohnten nun in den Lehrplänen beieinander die Fachaufgaben, während sich hart im beschränkten Raume der jugendlichen Köpfe oder der Gemüter die Lernobjekte zu stoßen begannen, eben mit jener Wirkung einer gewissen Neutralisiemng, anstatt des harmonischen Bollllangs. Und dennoch: wie einfach sind die geltenden Pläne, wenn man diejenigen dagegen hält, die durch Berücksichtigung aller neu hinzugekommenen Wünsche entstehen würden! Man denke an die Fordemng nicht bloß solcher natur­ wissenschaftlicher Gebiete, deren Fehlen gegenwärtig in der Tat zu bedauem ist, sondem dazu an Kulturgeschichte, Kunstgeschichte, Nationalökonomie, Münch, ZukunftSpädagogtk. 3. Stufl.

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Gesetzeskunde, Bürgermoral, verschiedene Gebiete der Philosophie, dazu etwa auch noch weitere Sprachen oder wenigstens viel weitergehende Sprachziele, und dazu namentlich noch alle die schönen praktischen, technischen, sportlichen Übungen, ^mittet wird das Geforderte als nicht mehr entbehrlich hingestellt oder wirllich so empfunden, und gerade um der Mannigfaltigkeit des neu Herandringenden willen verhalten sich die zur Organisation Bemfenen abwehrend. Wer die Tendenz, den bisherigen Universalismus noch sehr zu überbieten, die Tendenz oder die Gefahr ist vorhanden. Um so bestimmter denn wagt sich auch jene entgegengesetzte zwischendurch immer wieder hervor. Mes umfassen wollen — so ist hier die Anschauung — ist ungesund, man muß den Mut der Beschränkung haben, Beschränkung auf wenige wertvolle, wahrhaft blldende Gebiete, mit Überlassung des übrigen an die gleichzeitige oder spätere freiwillige Lemlust des einzelnen, oder aber Beschränkung auf das am gewissesten Notwendige, Mtzliche oder auf das für alle Arten von Schülem gleich Wichtige. Man weiß, daß von dem einen dieser Standpunkte aus die alten Sprachen wieder möglichst in ihr altes, breites Besitzrecht eingesetzt werden sollen, während von dem anbetn aus gerade sie am allerbestimmtesten preisgegeben werden. Doch die Zahl der einzelnen Vorschläge ist ja endlos, und hier kommt es nur darauf an, die Strömungen zu kennzeichnen, den Zug der Zeit im ganzen zu verstehen. Und da muß eben doch die an so vielen Stellen kund werdende Wwendung von jenem aufs Universale gehenden Charakter der Schulblldung gewürdigt werden. Es mag sein, daß man auch in Zukunft immer zwischen den beiden Richtungen hin und her schwankt; es gibt Gebiete, auf denen zugleich das Auseinanderstreben und das zur Einheit Drängen die ewig natürliche Bestimmung für uns zu sein scheint (man denke an das Verhältnis vom Recht des Individuums und der Gemeinschaft); in jedem Falle wird etwas vermißt, und lange kann man nicht zufrieden bleiben. Auch wird man nie lange unterlassen, Vermittlung zu suchen. Um den universellen Charakter zu behaupten und die Proteste dagegen abzustumpfen, ist ein Mttel immer gewesen, möglichst alles das einzelne ge­ wissermaßen zu verdünnen, leichte Berühmng zu wählen statt emstlicher Be­ arbeitung, spielenden Betrieb statt schulenden. Ein anderes Mttel ist die Ver­ teilung der verschiedenen Gebiete auf verschiedene Perioden des Schulbesuchs, eine engere Konzentration also auf Zeit, und es mag sogleich gesagt werden, daß in diesem Sinne wahrscheinlich noch erfolgreiche Versuche zu machen sind. Als ein anderes, höheres und freilich auch schwierigeres Ziel darf man aber wohl das bezeichnen, daß die gegenwärtig noch als selbstverständlich geltende Scheidung der Fächer als solche einer anbetn, mehr verbindenden als trennenden Organisation des Wissensstoffes weichen möge. Anfänge dazu sind gemacht, aber freilich nur für eine untere Stufe: man beginnt da wenig­ stens, zoologisches, botanisches und geographisches Semen, verbunden an be-

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stimmte, und zwar möglichst vertraute Lebenskreise, anzuschließen. Sollte sich das nicht weiterführen lassen und dem Unterricht eine neue Kraft des Lebendi­ gen verleihen, wenn es auch für die Lehrenden viel weniger einfach und für Prüfende vielleicht noch weniger bequem sein wird? Zugleich fühlt man ja auch am andern Ende des Gesamtkursus das Bedürfnis, Naturwissenschaft in allgemeiner Zusammenfassung, mit vergleichendem Überblick zu behandeln, oder eine „allgemeine Geographie" der besonderen folgen zu lassen, wie man etwa auch eine „allgemeine Chemie" der besonderen gegenüberstellt. Das alte Re­ zept, die Schüler „mitunter aus einer Szienz in die andere hinübersehen zu lassen", muß vielleicht als ein zeitwelliges Hausmittel betrachtet werden, das allmählich durch eine wissenschaftlich begründete Therapie abzulösen ist. Jena Scheidung in Wissensfächer rührt doch aus der Zeit, wo Mssenschaft und Schule noch in unbefangenster Verbindung standen, wo es als die natürliche und wesenlliche Aufgabe der Schule galt, das von der Menschheit errungene Wissen möglichst vollständig oder doch in vollständigem Überblick und auch möglichst zeitig zu übermitteln. Und wenn man an diesem primitiven Begriff des Schulziels längst nicht mehr festhält, wenn nun als Aufgabe Erziehung und Bildung durch das Mittel der Wissenschaften vorschwebt, so fragt es sich doch, ob die Konsequenz der veränderten Auffassung schon hinlänglich gezogen ist. Ließe sich eine Umgestaltung dieser Art — über die nachzudenken die ver­ schiedenen Fachleute dringend eingeladen seien — verwirklichen, so könnte der Universalismus unserer Jugendbildung nicht bloß gerettet (was ja eben vielleicht gar kein wertvolles Ergebnis bedeutete), sondem in einer besseren Gestalt aufrecht erhalten werden. Es handelt sich um eigentlichere Organisa­ tion statt Konstruktton und Division (wenn auch die herben Worte vom toten Schachtelwissen und dergleichen schon dem jetzigen Verhältnis gegenüber un­ berechtigt sind), um eine Organisation, die nicht bloß der immer wieder sich als Ziel auferlegenden Einheit der Mssenschaft, sondem auch der immer sicherer beobachteten Organisation der jungen Menschenseelen gerecht wird *). *) Nach den gegenwärtig geltenden Lehrplänen haben die Schüler der untersten Klassen höherer Schulen, wenigstens wenn man die Fertigkeiten mitrechnet, Unterricht in etwa zehn nebeneinander stehenden Fächern, die der obersten können deren bis zu vierzehn haben. Wird der Übelstand dieses Vielerlei einigermaßen gemildert durch Personalunion, indem mehrfach zwei verwandte Fächer in der Hand desselben Lehrers liegen, so wird die sachliche Trennung doch fast überall grundsätzlich aufrecht erhallen, und eine bewußte Gruppierung des Gesamtunterrichts int großen Stil liegt fern. Gleichwohl ergäbe sich eine solche unschwer, wenn wir einmal die Bildungsgebiete aus einer gewissen Höhe überblicken wollen. Die Vereinigung der beschreibenden Natur­ wissenschaften mit den exakten und auch mit der (wesentlich physischen) Geographie bildet ja das Nächstliegende Beispiel einer solchen großen Stosseinheit. Dieser Art von Naturkunde ließe sich eine ebenfalls mehrere Einzelstoffe umfassende „Kultur­ kunde" gegenüberstellen, politische und Kulturgeschichte in weitem Sinn umfassend

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Zweiter Teil.

Betrachtungen und Vorschläge.

Wie gegen den Intellektualismus und den Universalismus, so geht ferner gegen eine dritte Eigenschaft der herrschenden Schulbildung eine vielerorten laut werdende Bewegung: gegen das, was wir kurz den transzendenten Charakter dieser Bildung nennen wollen. Dabei ist nicht nur zu denken an das Vorwiegen des Abstrakten gegen das Konkrete, des Gedachten gegen das Gegen­ ständliche, des Formalen gegen das Materiale, sondem auch des Femen gegen das Nahe, des Vergangenen gegen das Gegenwärtige, des ideell Bedeutenden gegen das praktisch Wertvolle; ja man darf wohl nicht leugnen, daß selbst ein verkehrtes Überwiegen des Idealen gegen das Reale möglich ist. Gewiß macht gerade die sorgsame Pflege je des ersten Gliedes der hier auseinandergestellten Begriffspaare ein wesentliches Stück der höheren Jugendbildung und der höhe­ ren Schule aus: gleichwohl ist Übertreibung, ist Einseitigkeit, ist Verschieben des Vernünftigen nichts Unmögliches, und ein großer Teil der Gegenwarts­ menschen — nicht allein der oberflächlichen, sondem auch der selbständig und ernst denkenden — ficht eben das vorhandene Mischungsverhältnis an. Sollte nicht wirllich wieder einmal die Vergangenheit zu zähe nachwirken? Die tiefe und unbedingte Geringschätzung alles sogenannten Utilitarischen wenigstens bei fast allen älteren Vertretem unseres höheren Bildungswesens, die entrüstete Ablehnung aller zu dessen Gunsten gemachten Ansprüche, die An­ schauung, als ob das zu Nützende eine Entweihung des echten Lehrgutes be­ deute, als ob damit das Gemeine, Unedle, Abwärtsziehende hereindringe, woher rührt diese ganze Stellungnahme? Sie ist doch großentells ein Überlebsel aus dem Altertum, der modemen Welt vermittelt durch die Humanisten und vor allem ausgebildet durch die Neuhumanisten, sie geht aus der uns gänzlich und Einführung in gegenwärtige Organisation des Lebens. Unter idealem Gesichts­ punkte müßten dann eigentlich Poesie und sonstige edle Literatur, womöglich mit Einschluß auch der religiösen Ächtung oder überhaupt der religiösen Schriften und Vorstellungswelt, und dazu in weiterem Sinne Kunstanschauung eine fernere Gesamt­ gruppe bilden, bei der es sich (gegenüber jenem Wellverständnis) wesentlich um Er­ hebung über die Well handeln würde, und zu der auch noch die philosophische Pro» pädeutik als Borstufe zur Bildung einer Weltanschauung gehören würde. Aber äußere Verhältnisse würden die Bildung dieser organischen Einheit schwerlich irgendwo zulassen. Weit eher ließe sich die Verbindung einiger fremden Sprachen in der Weise denken, daß in der Gruppe vielmehr ein Allernieren stattfände, als gleichzeitig voller Betrieb. Denn das eben müßte die praktische Bedeutung der Bildung solcher umfassenden Einheiten sein, daß zwar möglichst viel organische Verbindung gesucht und verwirklicht würde, aber vor allem die Einzelstosse der Gruppe auch einander ablösen dürsten. Daß beim Beginn einer neuen Fremd­ sprache man dieser mindestens ein Jahr hindurch eine sehr reichliche Zeit widmen und andere Sprachen solange nur etwa repetendo beibehalten müsse, haben denkende und praktische Pädagogen oft ausgesprochen oder auch durchgeführt. Andere Möglichkeiten fruchtbarer Verbindung fehlen nicht. Um das Einzelne zu rechten, ist hier nicht der Raum, aber das Pwblem als solches kann nicht entschieden genug hingestellt werden.

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fremden sozialen Organisation des Mtertums hervor, wo es des Freien Vor­ recht und seine Würde war, nichts zu tun, was irgend Bedürfnis des praktischen Lebens war (etwa den Ackerbau im ganz alten Rom ausgeschlossen), ja wo selbst die Urheber edelster künstlerischer Leistungen persönlich als Praktiker mißachtet wurden, wo der Mann der besseren Schicht nur denken, räsonnieren, politisieren, Waffen tragen und sich körperlich üben, außerdem natürlich träumen und ge­ nießen durfte, alle konkrete Kulturarbeit aber der gemeinen Unterschicht übertragen war. Das vemichtende Wort „banausisch" führen unsere Schul­ männer von da her im Munde, ja sie gebrauchen es gewissermaßen wie ein flammendes Schwert, mit dem das Paradies des reinen und unbekümmerten Geisteslebens gehütet wird. Und doch ist unsere Welt eine so andere geworden, die Organisation des Gemeinschaftslebens und die Wertung der einzelnen Glieder und ihrer Funktionen eine so veränderte, der Veredelung und Klärung sichtlich mindestens zustrebende! Übrigens ist freilich auch die Einwirkung des Christentums in jener Bevor­ zugung zu fühlen: die neutestamentliche Gegenüberstellung vom Leben im Geiste und im Fleische, die Geringschätzung aller Sorge um das äußere Leben, die tiefe Innerlichkeit des evangelischen Standpunktes, sie haben doch auch eine Wirkung in jenem Sinne getan, eine Wirkung auf die Wertung der Bil­ dungselemente. Noch mehr aber hat vielleicht die durchaus nicht evangelische Scheidung von Klerus und Laienstand gewirkt oder nachgewirkt: denn daß eine Schicht der geistigen Menschen einer solchen der gewöhnlichen oder Sinnen­ menschen gegenüber zu stehen habe, und daß jene die natürlichen Leiter des Lebens für alle einzelnen oder doch für die Gemeinschaft seien, diese Anschauung haben die Humanisten von dem mittelalterlich kirchlichen Klerus für sich über­ nommen (wie sie eine neue und bessere Art des Klerus ihrerseits zu sein beanspmchten). Und später haben die Philologen sich als diese eigentlichen Geistes­ menschen inmitten des profanum vulgus empfunden. Dazu kommt nun die besondere deutsche Wesensanlage und die daraus hervorgehende Eigentümlichkeit des seinerzeit bei uns geprägten Bildungsideals. Durchaus auf das Innenleben gerichtet und durchaus nicht auf das Tun, mit seinem Gedankenleben sich gern über die Welt des Wirklichen hinweg­ hebend, wenig darauf bedacht, diese zu gestalten und umzugestalten, lieber edel träumend als erfolgreich handelnd, viel Fremdes sich gern assimilierend, aber wenig energisch sich selbst zur Geltung bringend: mußte nicht dieses unser Wesen auch für die Gestaltung der Jugendbildung von Bedeutung werden? Vielleicht freilich scheinen sich unsere nationalen Lehrprogramme gar nicht so wesentlich von denen anderer, hetewgener Nationen zu unterscheiden. Gemeinsames ist ja eben allen aus älteren Zeiten geblieben, und nicht weniges ist von uns ins Ausland hinübergetragen worden; aber unsere Eigentümlichkeit bleibt doch deutlich genug. Die Nachbarvölker nun finden gegenwärtig, daß wir diese unsere

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altbekannte Art augenscheinlich verlassen, daß wir unsere alte Haut abwerfen — oder was mehr ist als die bloße Haut; sie sind gewissermaßen ärgerlich, daß wir aufhören wollen, die alten Idealisten zu sein. Ist doch die Tatsache eines ziem­ lich tiefgehenden Wandels wirklich unverkennbar. Ob wir uns nun eine Zeitlang schlechtweg auf die andere Seite legen wollen, oder nur unsere Einseitigkeit korrigieren? Jedenfalls glauben wir nun auch an Bildung, die minder jenseitig ist, wir schätzen Männer, die frisch sind an Leib und Geist, wir wollen jedenfalls unsere eigene Zeit verstehen, um ihren Bedürfnissen abzuhelfen, wir möchten jede äußerliche Kluft der Stände durch vollere Organisation des sozialen Gesamtlebens überwinden, und mit alledem wird jener überlieferte „transzendente" Charakter des Jugendunterrichts der gegenwärtigen Generation bedenllich oder anstößig. Im Grunde hat die Re­ aktion dagegen schon seit mehr als einem Jahrhundert begonnen, mit der Grün­ dung von Realschulen, oder doch seit einem halben Jahrhundert, mit der Er­ hebung vollerer Ansprüche seitens der Realschulfreunde, übrigens auch schon durch die Aufnahme gewisser mehr praktischer oder moderner Lehrfächer in die Pläne der Gymnasien. Die rechte Abgrenzung der beiderseitigen Ansprüche gegen­ einander, die seitdem immer Gegenstand des Streites gewesen ist, läßt sich wiedemm unmöglich kurz formulieren, oder vielmehr, wenn sie auch sehr gut formuliert wird, so löst das doch nicht die Schwierigkeiten der Wirklichkeit. Es gibt eben auch hier eine ungesunde und eine gesunde Art, dieser Tendenz gerecht zu werden. So weit sind wir ja gekommen, daß man Geschichte nicht mehr lehrt unter liebevollstem Verweilen bei den Volksgeschicken der fern Ver­ gangenen und mit flüchtiger Berührung oder kurz schematischer Erledigung des uns nahe Angehenden; den Faden der Geschichte nur bis zur französischen Revolution zu spinnen oder etwa bis zum Wiener Kongreß, hat man sich doch abgewöhnen müssen (müssen — denn es geschah nicht ohne viel Dmck, Wider­ stand und Proteste). Und in der Erdkunde steht das Vaterland der übrigen Welt voran, die deutsche Poesie ist längst ein stärkeres Ferment geworden als die fragwürdige lateinische und auch die fraglos edle griechische, die deutschen Lesebücher bieten den reiferen Schülern nicht mehr bloß Bruchstücke aus den nun schon zurückliegenden Klassikern, sondern lassen auch in die besten Denker und Stilvorbüder der Gegenwart hineinblicken, und alle Lektüre wird unter dem Gesichtspunkte des Gedankeninhalts mindestens ebensosehr gewählt wie unter dem der sprachlich-stilistischen Form, die Nachahmung vergangener fremder Sprachkunst hat so gut wie gänzlich aufgehört, die Naturgeschichte bevorzugt durchaus das Heimatliche, in der Mathematik sucht man teils durch wohlgepflegte Beziehung zur Physik teils auf andere Weise über das ganz abstrakte hinaus Anschluß an das praktische Leben, das industrielle oder technische, bei den leben­ den Sprachen gllt Kenntnis und eine gewisse Vertrautheit mit der tatsächlichen Verkehrssprache (über die literarisch-akademische hinaus) und Einführung in

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die Kenntnis des gegenwärtigen fremdländischen Kulturlebens und Volkstums als wichtiger Teil des Gesamtzieles. Mso weltfremd hat man nicht bleiben wollen und nicht der Gegenwart abgewandt; die Tendenz, welche die innere Schulentwicklung seit geraumer Zeit verfolgt, ist dieselbe, die sich in jenen modemen Fordemngen ausspricht; aber ob sie schon kräftig genug verfolgt worden sei und weit genug geführt habe, auf allen in Betracht kommenden Punkten weit genug, das eben ist die Frage. Verschiedene hierauf bezügliche Fordemngen sind in den Besprechungen unseres ersten Teiles zur Sprache gekommen. Wie weit man im einzelnen wird gehen können, sei hier nicht untersucht: wie weit z. B. mit Einfühmng in unser innerstaatliches Leben oder in die Fragen der Gesellschaftslehre. Tat­ sächlich bringt die reifere Jugend doch auch den Lebensproblemen der Gegen­ wart inneres Interesse entgegen, das man nicht sich abstumpfen lassen soll. Sie muß nicht allzulange bloß in Schulwissenschaften festgehalten werden (die übrigens ehemals selbst weit mehr Lebenswissenschaften waren und nur hier etwas eingetwcknet sind). Auch sind die Schülerschaften der verschiedenen Zeitalter nicht ganz dieselben, und je nachdem das gesamte nationale Leben bewegt ist oder beschaulich, wird auch die Jugend — eben schon die Jugend der Schulen — nach teilnehmendem Verständnis verlangen. Wird zu diesem Verständnis nicht von berufener Seite aus verholfen, so fehlen die Unberufenen nicht, die das Interesse befriedigen, und wenn es in sehr unerfreulicher Weise geschieht, darf man sich nicht wundem. Im ganzen wird es ja mit dem Charakter des deutschen Bildungsstrebens auch in Zukunft sich schwerlich vertragen, daß man nur unmittelbar für das Leben tüchtig machen, von Kenntnissen bloß die sicher verwendbaren übermitteln, möglichst voll sogleich in die Gegenwart hineinstellen wolle. Und statt idealer Religion nur eine praktische Bürgermoral zu lehren — denn auch das gehört mit hierher — lassen wir uns ebensowenig leicht bereit finden. Aber daß es im Transzendenten (dies Wort in dem vorstehenden Sinn genommen) ein Über­ maß geben könne, fühlen wir doch deutlich, und daß die gegenwärtige Zeit stärker als frühere Perioden eine wirkliche Gegenwartsbildung so ziemlich von jedem fordere, nicht minder. Ideal genug kann auch diese bleiben; ist doch der beste Idealismus nicht der, dem die Wirllichkeit fremd bleibt, sondern der, der sie durchdringt und unterwirft.

6. Schon frühere Betrachtungen führten mehr als einmal an die Schwelle eines besonderen Kampfgebietes: zu der „Jenseitigkeit", die man vielfach an unseren Lehrprogrammen empfindet, mag auch der „humanistische"

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Zweiter Teil. Betrachtungen und Vorschläge.

Charakter unserer angesehensten Schulen gehören. Die oben besvrochenen Zukunftsprogramme treten ihm in der Tat fast alle irgendwie entgegen; die­ jenigen, welche die alten Sprachen nicht mit kurzer Begründung über Bord werfen, fordem doch für dieselben eine ganz veränderte Stellung, so daß sie den Freunden des Bestehenden als Feinde kaum minder gelten werden. Handelt es sich doch teils um wesentliche Verkürzung, um Zusammendrängung auf viel knappere Zeit, namentlich einen erheblich späteren Beginn, teils um Ver­ schiebung des Zweckes nach der prakttschen Seite hin, teils um einen überhaupt loseren Betrieb, und teils um Beschränkung auf den Bedarf einiger weniger Berufsarten. Natürlich mischen sich mit den hier laut gewordenen Stimmen auch ganz entgegengesetzte, der Aufrechterhaltung des humanistischen Pro­ gramms fehlt eine beredte literarische Vertretung durchaus nicht *), während dasselbe außerdem einen sehr starken Schutz in der Anhänglichkeit der Fach­ lehrer und zahlreicher akademisch Gebildeter zweifellos besitzt. Aber verkennen läßt sich wohl nicht, daß doch von dem fest zusammenhaltenden Boden dieser Anhängerschaft die Zeit immer mehr abbröckelt: auch in den ehemals fast ein­ mütig treuen akademischen Schichten tönen die «Stimmen jetzt sehr geteilt, das Interesse für abweichende Bildungsbedürfnisse hat sich zusehends gehoben, und es wäre z. B. der Beschluß der Berliner Schullonferenz vom Juni 1900 über die grundsätzliche Gleichberechtigung der drei Arten von höheren Lehr­ anstalten nicht möglich gewesen, wenn nicht eine Wandlung in diesem Sinne vorhanden wäre, wie denn der Beschluß in der Tat auch nur ein einziges Jahr­ zehnt vorher bei uns nicht hätte erfolgen können. Ist er nunmehr geradezu mit Zustimmung maßgebender Vertreter der altsprachlichen Studien erfolgt, so schließt das natürlich nicht aus, daß man über den Wert der verschiedenen Mldungswege sehr ungleich denkt. Ja, es ist noch viel verhaltene Leidenschaft zu spüren, die gelegentlich einmal als Entrüstung oder Bitterkeit oder auch Spott oder wehmütige Klage sich äußert. Tie Zahl der Philologen ist auch heute groß, die ihr Fachgebiet als die Wissenschaft der Wissenschaften, als die Königin über den anbetn empfinden und den ganzen Abzug, den die Zeit den altsprach­ lichen Studien in den Schullehrplänen gebracht hat, als Verirrung vom wahren Ideal ansehen, als Sympwm der Verflachung oder Berwhung unter dem gegenwärtigen Geschlecht, als große Minderung des nationalen Wertes, als Preisgabe des Palladiums deutscher Bildung. Daneben fehlen die Mchtemen nicht, und nicht die Resignierten, die die Kraft der neuen Zeitbedürfnisse erkennen, wenn sie auch diese Zeit als böse Zeit empfinden müssen. Auch eine vermittelnde Stellung zwischen der absoluten Schätzung und der skrupellosen Preisgabe wird nun doch bei vielen angetroffen, obwohl andere immer wieder die Fordemng erheben, daß man sich in einem unbedingten Sinne für oder gegen das Recht der alten Sprachen zu erllären habe, wobei dann derjenige die Andeutung von Mattheit, Unklarheit, Mutlosigkeit oder Halbheit gewärtigen

Die Zukunft des Humanismus.

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muß, der nicht mit lautem Schall in das eine der extremen Lager einschwenkt. Ja, es hat sich die Differenz für viele so zugespitzt, als ob man für die neueren oder die alten Sprachen sein müsse, als ob jedes kulturgeschichtliche oder didakti­ sche Interesse, das man den neueren Sprachen entgegenbringt, eine Absage des Herzens an die alten einschließe, als ob man hüben und drüben nur die Wahl habe zwischen Anbeten und Verdammen, und als ob erst das heiße Cha­ rakter beweisen. In Wirllichkeit beweist es eher, daß man in einer gewissen Enge stecken geblieben ist. Bei der ebenfalls nicht selten hervortretenden An­ schauung, als ob unmittelbar jenseits der Grenzen der altsprachlichen Studien der Materialismus anfange und zum mindesten die eigentliche Bildung aufhöre, auch eine verhältnismäßige Gleichgültigkeit gegen sie mit Frivolität oder Hohlheit ganz nahe verwandt sein müsse oder eine Art von Felonie gegenüber der rechten Fahne bedeute, soll nicht weiter verweilt werden. Eine geschichtliche Betrachtung kann, ebenso wie eine psychologische, nicht zu einer derartigen Wertung der Dinge führen. Es ist hundertmal nachgewiesen worden, daß die alten Sprachen ehedem ebensowohl utilitarische Bedeutung gehabt haben wie ideale oder formal bildende, und daß die letztere als die eigentliche und wesenlliche für sie erst in Anspmch genommen wurde, als die erstere sich verloren hatte. Darauf übrigens läßt sich noch gar kein Urteil gegen das Recht und den Wert dieser Bildungselemente gründen: manches in der Welt ist zunächst aus einem untergeordneten Motiv aufgenommen worden, das sich nachher um eines höheren Wertes willen behauptete. Der Gegensatz von utilitarisch und ideal-bildend muß nicht so schroff gefaßt werden, wie man es zu tun pflegt: der eine Gesichtspunkt schließt den anbetn nicht aus, und irgendwie kann man jedem der bei uns geltenden Bildungsstoffe den einen Charakter neben dem andem abgewinnen. Das Studium der alten Sprachen hat in der Vergangenheit unendlich viel frohes Geistesleben geweckt, eine Fülle schöner und edler Befriedigung gegeben, eine großartige Erziehungskraft auf Willen und Intellekt geübt, viel tüchtige persönliche Konzentration veranlaßt und objektiv uns mit dem geistigen Inhalt anderer und reich entwickelter Welten verbunden und durchtränkt. Es ist Gmndlage für den eigentlichen Aufschwung unseres nationalen Geisteslebens geworden, es hat unsere Kultur­ entwicklung mit derjenigen der benachbarten, etwas älteren Kulturvöller ver­ bunden. Es hat dann auch eine Reihe schroffer Angriffe, die sich während ver­ schiedener Jahrhunderte wiederholt haben, überstanden. Es lebt noch gegen­ wärtig in der Erinnerung vieler hochgebildeter Männer als ein durchwandertes fernes Sonnenland fort. Aber andrerseits ist es auch — oder ist der Betrieb in der Schule — zum Gegenstand endloser, bitterer, zomiger Klagen und An­ klagen geworden, und diese fehlen ja heute so wenig wie in der Vergangenheit, ja sie sind weniger vereinzelt und treten vielleicht nur noch zuversichtlicher

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Zweiter Teil.

Betrachtungen und Vorschläge.

hervor als ehedem. Hier muß Subjektives und Objektives zur Erklämng herangezogen werden. Das Bedürfnis voller Hingabe an ein großes Gebiet des Erkennens und Könnens, die Freude des Vertrautwerdens, des wachsenden Verstehens und Vermögens, auch das Interesse für etwas weit vom Tageswege Abliegendes wird in vielen Seelen wohnen oder sich leicht erwecken lassen und wird sich dann an das Gebiet heften, das zurzeit eben zugänglich ist, das im Vordergmnde steht, das namentlich auch bei vielen Mitlebenden ähnliche Stimmung erzeugt hat und erzeugt. Es besteht hier gewissermaßen das Verhältnis seelischer Anschauungsformen oder Kategorien zu dem Material, das von ihnen auf­ gefaßt wird. Das große Gebiet der altsprachlichen Studien hat viele Genera­ tionen hindurch sich diesem inneren Bedürfnisse dargeboten. Es brauchte nicht an sich die Idealität zu besitzen, in der es dann erschien, aber wenn sie auf dem Wege der Subjektivität hineingetragen ward, so war sie damit vorhanden. Und indem diese Studien gerade die jugendlichen Jahre wesentlich ausfüllten, indem hier namentlich auch die Jünglingsjahre zu einer erfreulichen Emte dessen gelangen konnten, was in den Knabenjahren ziemlich mühselig gesät war, erschien später dieses ganze Feld von einem Sonnenschein beglänzt, der schon von der sonnigen Jugendzeit an sich ausging und um so gewisser Poesie wurde, als diese für immer entschwunden war. Wozu noch kommt, daß die späteren Berussgeschäfte mit chren konkreten Zielen, ihren einengenden Nor­ men, ihrer Last und Hast jenes um Gegenwart und Wirklichkeit unbekümmerte Semen um so freier erscheinen lassen, und als eben der freundliche Gesamteindmck des Vergangenen über alle damalige Unfreude im einzelnen obzu­ siegen pflegt. Andrerseits: wie unendlich tief ist der Unterrichtsbetrieb auf diesem edlen großen Gebiet oft unter dem geblieben, was die schönen Worte der Programme und die hymnischen Schilderungen der Sachfreunde erwarten ließen! Die alten Sprachen, die man samt den in ihnen geschriebenen Büchern analysiert hat schon seit den Zeiten des späteren Griechentums, sind eben durch diese un­ ablässige Analyse der vielen Generationen und der „besten Köpfe" aus den Generationen so durch und durch „lehrbar" gemacht worden, daß sie nun bis in chre lleinsten Züge hinein zum Tummelplatz der trockenen Verstandesarbeit werden konnten; und das Formale kam denn hier zu einer so eindringenden Würdigung, daß darüber das Inhaltliche oft dem Blicke ganz entschwand. Oft — ja man kann sagen, durch lange Perioden, manche Generation hindurch, unter den Händen zahlreicher öder und ermüdender Lehrer. Und in der Tat, der zwischendurch gehende Preis der unvergleichlichen Herrlichkeit des ganzen Mertums gegenüber allen neueren Geisteserzeugnissen oder Lebenswerten mußte oft um so deprimierender wirken, je weniger der Lehrer der Mann war, jene Schönheit und Herrlichkeit wirllich fühlbar zu machen. Fehlte doch den

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gewöhnlichen Fachlehrern auch jede Unmittelbarkeit des inneren Verhältnisses zu ihrem Objekt: alles war auf gelehrtem Wege erarbeitet, alles verstandes­ mäßig auseinandergelegt, der Kleinkram des Wissens überwucherte alles schöne Fühlen; selbst wo sie schwärmen wollten, blieben sie Philister, und das jugendliche Bedürfnis der Begeistemng ward durch sie vielmehr niedergehalten als geweckt, abgespeist anstatt befriedigt oder genährt oder befeuert. Es fand ja wohl außerhalb die hier versagte Anregung: allmählich lernte unsere Jugend ihre eigentliche Begeisterung aus der deutschen Lektüre ziehen, aus unfern großen Dichtem, Schiller zu allermeist, und ich hoffe, aus dem Neuen Testa­ ment, oder auch — die Individuen sind eben so verschieden angelegt — vor­ wiegend aus einem ganz heterogenen Gebiet wie den Naturwissenschaften, und natürlich doch auch wiedemm aus den Schriften der Alten, wenn sie im Unterricht so schön behandelt wurden, wie das möglich ist, wie ein wirllich über­ legener und fesselnder Lehrer es zu tun vermag? Daß man solche Lehrer vergeblich suchen würde, wäre eine falsche An­ nahme: sie sind jetzt sogar entschieden häufiger anzutreffen als vor einigen Jahrzehnten; sie stehen nicht mehr vereinzelt zwischen jenen andem — die übrigens ihrerseits oft den größten Hochmut an den Tag legten bei der gering­ sten pädagogischen Leistungsfähigkeit. Haben doch andere Fächer sich didaktisch erst entfalten und eine Stellung in den Bildungsprogrammen erringen müssen, während jenes bevorzugte Unterrichtsfach auf seinen llberliefemngen mhte, weithin erstarrt und verknöchert inmitten des Aufstrebenden und Beweglichen, so daß ein keineswegs abholder, aber hellblickender Beobachter sich gelegentlich zu dem Ausspmch gedrängt fühlte, diese Studien könnten chren greisenhaften Charakter nicht mehr verleugnen. Sollte wirllich die ewige Jugendlichkeit, die man der griechisch-römischen Geisteswelt nachrühmt, eine Täuschung sein? Mußte Erstarmng eintreten und Absterben des Interesses? Daran hat sicher großenteils die Allgemeinverbindlichkeit, der Zwang, das Monopol, der Dogmatismus einen Hauptteil der Schuld. Hinzu kommt allerdings auch die Tatsache, die schon oben in anderem Zusammenhang berührt wurde, daß, wie das Interesse der einzelnen mit den Altersperioden, so auch das der großen Gemeinschaften in gewissen Zeiträumen wechselt, abstirbt und einem andem Gebiete Platz macht, daß die Begeistemng auch der Generationen für bestimmte Ziele sich verbraucht, und daß auf demselben Acker trotz aller Tüngversuche nicht immer wieder die gleiche Besamung eine ordentliche Emte gibt. Daß die Gesamtheit der Geblldeten zu den altsprachlichen Studien noch wieder die gleiche innere Stellung gewinnen werde, wie sie dieselbe ehedem besaß, ist um so weniger zu erwarten, als ganz andere Sachgebiete sie so mächtig und dringlich in Anspmch nehmen. Aber damit ist nicht gesagt, daß nicht ein ferneres und ein neues Leben diesem schönen alten Studiengebiet vorbehalten sein könne! Das Gegenteil dürfte sich als wahr erweisen.

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Zweiter Teil. Betrachtungen und Vorschläge.

Die Art, wie ihm gegenwärtig in allerlei Schriften oder Äußerungen der Prozeß gemacht wird, ist wirklich vielfach leichtfertig und oberflächlich. Es spricht auch daraus die Unfähigkeit der Gegenwartsmenschen, sich ruhig zu ver­ tiefen, und die Nervosität, mit der man zu den Extremen neigt, und es ist recht gut, daß die anstürmenden Wellen auch einer erstarkenden öffentlichen Stim­ mung nicht so bald das längst Bestandene wegspülen. Der Wert der alten Sprachen unter didaktischem Gesichtspunkt ist wirllich ein außerordenllich großer. Die Nötigung, durch die so heterogene, aber an sich reizvolle Form in den schließlich der Jugend so wohl verständlichen menschlichen Inhalt einzudringen, schließt einen starken erzieherischen Wert ein; den neueren Sprachen mit rasch fertiger Argumentation die gleiche Natur und Wirkung zuzuschreiben, ist falsch, wie gewiß auch diese Sprachen ihre eigentümlichen Vorzüge haben und didak­ tisch wertvolle Gelegenheiten mannigfach gewähren. Tie Beschäftigung mit Übersetzungen leichthin als wesentlich gleichwertig derjenigen mit Original­ texten zu bezeichnen, ist ein weiterer Irrtum. Und ebenso ist der Wert der alten Sprachen als verbindender Gmndlage für die Kultur der verschiedenen Nationen nicht zu unterschätzen (obwohl gegenwärtig diese Verbindung noch voller durch das gemeinsame Teilnehmen an Naturwissenschaft und Technik geleistet wird). Doch auch als Untergmnd für das Verständnis zahlreicher Lebensformen der Gegenwart muß jene Kenntnis wirllich hochgeschätzt werden. Also zugleich verzichten und festhalten, hegen und ersetzen? Mag das unmöglich scheinen oder doch schwächlich, es ist in der Tat die Losung, die sich aufdrängt, sich nicht bloß aufdrängt dem Denken des einzelnen, das alle Seiten in Betracht zieht, sondem auch denen, die die Verantwortung für die Organisation haben. Es ist auch der Weg, auf dem wir uns in Wirklichkeit schon befinden, schon ein beträchtliches Stück vorgeschritten sind. Beschränkung — das scheint denn freilich das Nächste und scheint mit dem Vorherigen schon ausgesprochen. Beschränkung ist es ja tatsächlich, was schon seit manchen Jahrzehnten diesem Unterricht widerfahren ist. Gewisse Beine Schwankungen abgerechnet, ist er immer wieder ein wenig eingeschränkl worden, die Ziele herabgesetzt, der Stoff gesichtet, die Lehrbücher verdünnt, die Übungen vereinfacht, die Hilfen vermehrt, Schriftsteller ausgemustert, Stunden vermindert, und — das muß doch auch herbeigezogen werden — die Konkurrenzfächer erhöht worden! Zuletzt hat all diese Beschränkung den Beteiligten wenig Freude übrig gelassen. Muß man sich auf dieser Linie noch weiter bewegen? Es gibt noch andere Möglichkeiten. Eine derselben wäre (und die wird frellich von manchen trotz allem gefordert oder wieder erhofft) die Beschränkung der Lehrfächer überhaupt und des Vielerlei der Studien, um jenem alten Hauptgebiet wieder Luft zu schaffen, daß es die Kraft wieder voller in Anspruch nehmen und in aller Ruhe Frucht tragen könnte: oder doch Be­ schränkung der Bedeutung der anderen Fächer, so daß wieder jenem das

Tie Zukunft des Humanismus.

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eigentliche Gewicht verbliebe. Daß das so insgemein noch einmal geschehen könne, würde ganz vergebliche Hoffnung der Fachfreunde sein; so allgemein ist der Glaube nicht mehr, und so frei ist die Zeit nicht mehr von anderen Auf­ gaben. Gleichwohl ist eine dieser ähnliche Art der Beschränkung denkbar: unter Verstärkung nämlich der eingeräumten Zeit Beschränkung auf eine engere Auswahl höherer Schulen, also etwa die Organisation einer Anzahl altllassischer Lyzeen, denen sich diejenigen zuwenden würden, die für diese Studien durch Neigung, Anlage, Famüiengeist, künftigen Lebensplan geeignet sind und die hoffen dürfen, mit dem dabei erzielten Krafterwerb auch mancherlei hohen Aufgaben sonst gewachsen zu sein. (Daß eine ähnliche Bevorzugung dieses Studiengebiets durch einzelne Schüler der Oberstufe innerhalb der­ selben Schule infolge des Gmndsatzes relativer Wahlfreiheit neuerdings emp­ fohlen und begünstigt wird, muß auch in diesem Zusammenhang erwähnt werden.) Damit würde sich schon ein anderer Modus berühren, nämlich die Beschränkung der Vorbedingung altsprachlicher Studien auf gewisse Berufsarten, und tatsächlich ist man auf diesem Wege schon ein Stück weit gegangen. Tatsächlich ist auch bereits eine ganz andere Art von Beschränkung ver­ sucht, nämlich unter Aufrechterhaltung des Gesamtziels Beschränkung der Gesamtreihe der darauf verwendeten Jahre, was also zugleich eine Verdichtung bedeutet und damit vielleicht, wenn nicht wahrscheinlich, eine Verstärkung. Es ist das Prinzip der „Reformgymnasien", die sich trotz aller fachmännischen Bedenken doch rasch vermehren, nicht etwa bloß, well ein großer Teil des Publikums seinem Nachwuchs die unbequeme Zumutung eine Zeitlang zu er­ sparen wünscht, oder weil die schwierige Entschließung über die zu wählende Berufsart sich hinausschiebt; eher schon, weil man einer neuen Einrichtung als solcher überhaupt neue Hoffnungen entgegenbringt; aber über das hinaus doch wohl, well man eben an die gute Wirkung dieser Verdichtung glaubt und an' ein richtigeres inneres Verhältnis der geleisteten Schüler zu der ganzen Aufgabe. Das Lebensalter, in welchem man Latein beginnen läßt, hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer weiter nach oben verschoben. A. H. Francke hatte seinerzeit einen jungen Schüler von 2% Jahren, und I. M. Gesner fing diese Sprache mit seinem Söhnchen in ähnlichem Alter morgens im Bette an; mit 6 oder 7 oder 8 Jahren hat man lange Zeit ziemlich allgemein den Beginn gemacht, und es muß wahrlich kein Zeichen von zunehmender Laxheit oder Weichlichkeit sein, daß man dann auf 9 oder 10 Jahre gegangen ist, auch nicht, wenn man nun bis auf 12 hinaufgeht: die psychologisch-empirische Grund­ lage scheint dafür nicht schlecht. Daß manche noch weiter gehen wollen in dieser Art von verdichtender Beschränkung, wie oben dargelegt ist, sei hier nicht weiter in Betracht gezogen. Aber eine andere Seite noch ist, nach der sich die Strömung der Zeit un­ verkennbar wendet, und zwar von Fachleuten nicht weniger wie von draußen

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Zweiter Teil. Betrachtungen und Vorschläge.

Stehenden begünstigt: das ist das Hervorkehren des Inhaltlichen gegenüber der Form, und auch des Historischen gegenüber dem Idealen. Und zwar ist mit diesem „Inhaltlichen" nicht etwa bloß der Inhalt der Schriftsteller gemeint (der immer nur bei wirklich schlechtem Unterricht vemachlässigt werden konnte), sondem auch der allgemeinere Kulturinhalt des Mtertums. Eine Anschauung griechischer Kunst zu geben und womöglich auch griechischen philosophischen Denkens, das wird nun doch als das gesundeste letzte Ziel dieser Studien auch schon für die Schule weithin empfunden und bezeichnet. Und da kann denn natürlich nicht alles aus den sprachlichen Originaldenkmälern heraus erarbeitet werden; hier darf Wohl eine freigebigere Hülfe des Lehrers, ein Vorlesen, ein Begleiten oder Turchweben der Originallektüre mit Übersetzungslektüre, nebst einem Beleben durch äußere Anschauung, Vergleichung usw. eintreten. Eine Belebung wird das alles dem Unterricht ja auch insofern geben, als viel An­ regung stattfindet statt Aufgabe, statt Zwang und Kontrolle, Anregung auch zu freigewählter Lektüre, Eröffnung des Blickes über diese ganze vergangene Welt. Sehr möglich, daß so noch einmal eine Renaissance des llassischen Mter­ tums erfolgt, nach der Periode des Humanismus und der des Neuhumanismus als dritte. Daß an solcher Einfühmng übrigens doch auch die Schüler der nicht in jenem vollen oder alten Sinne humanistischen Anstalten teilnehmen können oder sollen, wird nicht willkürlich behauptet werden; daß der dort gefürchtete Lateinunterricht (der übrigens schon in der letzten Zeit bei weitem nicht so gefürchtet war wie vor Jahrzehnten, offenbar infolge richtigerer Lehrweise der ehedem nur immer entrüstet dreinfahrenden Fachlehrer), mit materialem Mtertumsunterricht sich verbindend, einen noch weit freundlicheren Charakter bekomme, ist zu erwarten; und auch die lateinlosen Anstalten finden Wege, jene vergangene Kulturwelt in den Bereich ihrer Beschäftigungen zu ziehen, etwa durch Lektionen mit dem Charakter von „Rekreationen" — wie man ehemals diejenigen Stunden nannte, die neben dem Hauptunterricht herliefen und mehr zur Anregung, Unterhaltung und Erfrischung dienten als zur Schulung. (Es waren damals freilich Mathematik und Realien.) Darüber müssen die sogenannten humanistischen Anstalten freilich auf­ hören, sich diesen Namen im Sinne eines sicheren Weges zu höherer, freierer, echterer Menschlichkeit beilegen zu wollen, eine Einbildung, die man oft just bei denen am festesten gewurzelt sah, die am allertiefsten unter der Aufgabe edler Menschenbildung blieben. Ererbte Vorrechte machen eben viel hoch­ mütiger als erworbene. Ein in gutem Sinne humanistischer Charakter wie auch ein idealistischer ist nicht an besondere Lehrpläne gebunden und noch weniger durch bestimmte Lehrpläne verbürgt. Andrerseits ist es unverkennbar, daß ein sehr großer Teil der Jugend derjenigen sozialen Schicht, für die lange Zeit nur das humanistische Gymnasium in Betracht kam, nach dem Maße der tat­ sächlich in ihr vorhandenen Leistungsfähigkeit sowie nach der Art des nunmehr

Die Stellung der Kunst im künftigen Erziehungsplan.

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lebendigen Interesses vielmehr auf realistische Lehranstalten gehört, auf Schulen mit einem jener leichteren Lehrpläne und mancherlei Gelegenheit zu natür­ lichem Ausleben, ungefähr so, wie sie in den in unserm ersten Teile geschilderten Programmen vielfach verlangt werden.

7. Zu den Strömungen, die dem Intellektualismus im Schulleben entgegen­ arbeiten, gehört auch diejenige, welche der K u n st eine neue Stellung inner­ halb der Jugendbildung erringen möchte.

Diese Strömung hat verschiedene

Quellen und ergießt sich weiterhin auch nicht in ganz gleicher Richtung.

Man

geht dabei zum Tell mehr von der Kunst aus und zum Teil mehr von der Jugend; und man denkt zum Teil mehr an ein rezeptives Verhältnis, zum Teil mehr an ein pwduktives; man hat endlich entweder ein mehr ästhetisches Verständnis im Auge oder mehr persönliches Können. Im letzteren Sinne weist man gegenwärtig gern wieder auf Pestalozzi zurück, der zu den im Zögling mhenden und durch sorgsam erzieherische Ein­ wirkung auszubildenden Kräften ausdrücklich auch die Kunstkraft rechnet. Aber man kann auch an die Auffassung der heutigen physiologischen Psycho­ logie denken, von der die Bewegungstriebe und das Bedürfnis tätiger Re­ aktion auf empfangene Eindrücke weit voller als früher ins Licht gestellt werden. Indessen auf diese ganze Seite brauchen wir hier kaum noch zurückzukommen: in die Jugenderziehung, auch die höhere, also die Erziehung der nicht wesentlich für körperlich-praktische Berufstätigkeit bestimmten Jugend doch wieder mehr körperlich-praktische Beschäftigung und Übung einzuführen und damit ein Gegengewicht zu gewinnen für die abstraktere Denkarbeit, das Buchstudium, die körperliche Passivität, damit eine Quelle stillet Genugtuung zu eröffnen, ein Gebiet gesunden, harmlosen Interesses, zugleich auch eine Bewahmng der Phantasie, Wlenkung oder Vorbeugung gegenüber niederen Gelüsten: dieses ganze Streben muß vor jedem gesunden Auge sich so leicht und völlig recht­ fertigen, daß man es nicht noch mit vielen Worten zu empfehlen braucht. Nicht zu unterschätzen ist dabei auch die Wirkung, daß für die Arbeit der Hand überhaupt eine Wertschätzung sich bildet und damit für den Stand, dem sie ob­ liegt, daß etwas von der Schranke zerrinnt, die jetzt Gebildete und Volk von­ einander trennt.

Ist übrigens doch auch unsre ganze Kulturentwicklung

längst in der Wandlung begriffen, daß einem immer größeren Teil auch der wissenschaftlich sich Bildenden und Arbeitenden manuelles Können unent­ behrlich wird. Nun kann ja wohl von all solcher elementar-technischen Betätigung, mit Werkzeug also, in Holz, Eisen, Metall, Pappe, Ton usw., ein Weg hinauf-

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Zweiter Teil-

Betrachtungen und Vorschläge.

führen zum Künstlerischen und zum Schönen, und was von Kunstbildung wün­ schenswert ist, könnte sehr natürlich sich auf dieser Grundlage aufbauen. Das entspräche auch der normalen Abfolge des jugendlichen Verstehens und Inter­ esses, wie es zugleich — was immer eine Empfehlung bedeutet — eine Art Wiederholung des Ganges der tatsächlichen kulturellen Entwicklung sein würde. Es hat nicht zuerst eine unabhängig ideale Kunst gegeben und dann als An­ hängsel an dieselbe, als Nachklang oder Seitenwirkung, ein Kunstgewerbe; die zu dem, was wir nun Kunst nennen, und zur Erzeugung nützlicher Gerätschaften sichernden Triebe haben sich naturgemäß leicht zusammen gefunden. Der Jugend ist auch eine Zeitlang das ideal Geformte, das künstlerisch Produzierte an sich noch gar nicht zugänglich; aber ihr großes Interesse erweckt das praktisch Entstehende, durch könnende Hand geformte, die glückende Nachahmung, das nützlich Konstruierte. Von da aus also, von dem Geformten überhaupt zum edel Geformten hinaufblicken zu lassen und hinaufzuführen, ist gewiß ein ver­ nünftiger Weg. Er ist auch unfern Zeichenlehrern durchaus nicht mehr semliegend. Wünschen wir dieser gesamten Nebenseite des wissenschaftlichen Schul­ unterrichts eine gedeihliche weitere Entwicklung! Daß Modellieren zum Zeichnen hinzukomme, wird von allen Vertretem der Kinderpsychologie als eine durch die Natur gegebene Fordemng so bestimmt vertreten, daß man schwerlich auf die Dauer ablehnend bleiben kann. Kaum minder bestimmt erhebt sich die Fordemng, dem Zeichnen schon ganz früh Einlaßzu gewähren, und der an unseren preußischen höheren Schulen gegen­ wärtig geltende Lehrplan, nach welchem man mit Zeichnen erst im elften Lebensjahre den Beginn machen läßt, ist in diesem Punkte ganz offenbar von veralteten humanistisch-literarischen Anschauungen bestimmt — wie es auch ein unerfreuliches Zeichen für Anschauungen und Bildungsstreben der reifen Jugend selbst ist, daß es an den Gymnasien den allermeisten Schülem als selbstverständlich gilt, das in den oberen Abteilungen wahlfreie Zeichnen preiszugeben. Freilich, die Frage, wie den verschiedenen Handübungen (die natürlich in Wirllichkeit noch etwas ganz anderes und viel mehr sind als Hand­ übungen) Raum im Unterrichtsplan zu schaffen sei, ist noch nicht gelöst, und bei den unglückseligen Verhälmissen unserer großen Städte, wo die Mehrzahl der Schüler eine erhebliche Zeit des Tages auf der Reise vom und zum Schul­ haus verbringt und jede neue Gebundenheit irgendeines Famüienmitglieds als Steigerung eines unerträglichen Zustandes empfunden wird, ist die Schwie­ rigkeit noch besonders groß. Auch könnte wohl der Schule als solcher manches erlassen werden und der privaten Erlemung verbleiben, wie das ja mit der Jnstmmentalmusik schon jetzt so ist, für die am Ende die Konkurrenz anspruchsloserer Handarbeit (bekanntlich kann das musikalische Hämmem das aller­ unerfreulichste sein) sehr zu wünschen wäre *). Wie gut wäre es überhaupt, wenn in den gebildeten Famllien sich eine

Die Stellung der Kunst im künftigen Erziehungsplan.

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gewisse Umbildung des Interesses nach dieser gesamten Seite hin vollzöge! Für jetzt werden diese ja wesentlich beherrscht von den Schätzungen der Schule einerseits und der Mode andrerseits, wie sehr diese beiden Sphären auch sich widersprechen mögen. Denn auch wenn wir nun von dem mehr technisch­ propädeutischen Verhältnis zur Kunst auf die Pflege der letzteren selbst Hinüber­ blicken, dürfen wir nicht verkennen, daß nur von einem Zusammenwirken zwischen häuslicher und Schulanregung das im ganzen Wünschenswerte zu hoffen wäre. Welches ist das innere Verhältnis unserer Gebildeten zur bilden­ den Kunst? Es besteht viel Enthusiasmus — für das, was zu schätzen just Mode ist, Enthusiasmus der Worte oder Ausmfe noch mehr als des beglückenden Verständnisses, nicht wenig Kunstkennerschaft als Kenntnis der europäischen Museen, viel Bereitschaft zum Urteilen und namenüich auch Aburteilen, und es besteht eine zunftmäßige Kritik von sehr zweifelhafter Gerechtigkeit, jedem oft peinlich, der das Können schätzt und die Könnenden. Aber ein ruhiges, sicheres, persönliches Verhältnis zur Kunst und Kunstübung ist selten. Zum Teil doch deshalb, weil ein solches Verhältnis nicht von früh auf allmählich mit erwachsen, weil es erst hinterher, wesentlich auf dem Wege des Verstandes, der Kenntnis, des Wissens gesucht worden ist. Zum Tell freüich auch, weil eine Anlage nach dieser Seite kein nationales Erbe bei uns ist, zum mindesten seit Generationen verloren gegangen, aber wohl den meisten deutschen Stämmen überhaupt nicht im Blute liegend. Und das völlige Auseinanderfallen von Rezeptivität oder Kritik und von Produktivität ist zwar ein Ergebnis der Entwicklung modemer Bildung, aber an sich nichts recht Gesundes. Vergeblich allerdings erscheint es, jene Zeit zurückzusehnen, in der Re­ zeption und Betätigung viel näher aneinandergerückt waren: es mußte dies ja auch eine Zeit einfachen Könnens sein. Und immer hat es von der bildenden Kunst weniger gelten können als von Gesang und Musik und dem, was damit zusammenhängt, von Künsten also, die eben großenteils durch Re­ produktion lebendig sind. Doch gerade diese fünfte sind es auch, deren Pflege bei uns nicht aufgehört hat, populär zu sein und aus der Jugendbildung kaum je ausgeschieden ist. Möchte nur dem Gesang vor allem eine treue, fteubige, großherzige Pflege weiter gewidmet werden, ja eine vollere Teünahme ihm gesichert werden, als sie chm jetzt bei so starker Jnanspmchnahme des intellektualistisch-literarischen Clements im ganzen verbleibt, eine Pflege mit all chren natürlich trefflichen, psychischen und hygienischen Wirkungen. Denn in der Tat ist der Gesang doch die natürlichste aller Künste, namenüich auch für die Jugend, und viele Jahrhunderte lang hat er — durch die chrisüiche Kirche ge­ tragen und gehegt — die große Lichtseite in allem Schulleben gebildet. In den gelehrten Schulen trat ein anderes Kunstgebiet schon frühzeitig vor den Gesang, nämlich die Poesie samt der Rhewrik, zugleich als Gegenstand der verstandes­ mäßigen Analyse und der übenden Nachahmung. Herzerhebend hat das Münch, Zukunttspädagogik. 3. Hüll.

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niemals sein können, ertötend weit mehr als belebend. Wären nur auch die letzten Reste dieser auflösenden, ausdörrenden, verleidenden Behandlung der Poesie aus unfern höheren Schulen geschwunden! Aber es ist viel zu kühn, von letzten Resten zu reden: was gegenüber der griechischen und lateinischen Poesie besser geworden ist (und da ist es entschieden besser geworden), damit steht es nun bei unserer eigenen, deutschen Poesie um so übler. Durch falsche Schulmeisterei unsere edelsten Dichtungen der Jugend auf Lebenszeit verleidet zu haben — und die Zeugnisse, daß das geschehen ist und geschieht, sind immer lauter und reichlicher geworden — ist eine der schlimmsten Verfehlungen, deren sich ein Jugendlehrer schuldig machen kann, die an wirkliche Sünde ganz nahe grenzt und den Fluch aller Volksfreunde verdient. Übrigens zeigt, wenn man nicht auf unmittelbare Weise Einsicht in diesen Betrieb nehmen kann, die gegenwärtig blühende Literatur der Kom­ mentare zu unfern nationalen Dichtem, zu welchem Grade von Plattheit, Geschwätzigkeit, Mchtemheit, Aufdringlichkeit, Analysiersucht diese Behand­ lung herabsinken kann. Wenn doch aus der Region der obersten Schulregenten eine grimmige Poseidongestalt sich emporheben und mit wuchtigem Dreizack diese unfugtreibenden Kleingeister scheuchen wollte! Statt all dieser blechemen Weisheit die Kunst eines guten Vortrags mit Liebe zu pflegen, bei Lehrem selbst und SchÜlem, das wäre das Lobenswerte, dessen bedarf die Schule, das kann Freudigkeit pflanzen für schöne Kunst überhaupt und übrigens auch eine echtere Erhöhung des Verständnisses bedeuten als das Disponieren, Formu­ lieren, Kommentieren ohne Ende. Me sehr läßt sich eine solche Pflege guten Vortrags, lebendigen und schönen Lesens und Sprechens in den meisten unserer Schulen vermissen, wie wenig setzen sich im ganzen selbst die Lehrer hier ein höheres Ziel! Wohl „tötet" der Buchstabe nicht immer, aber er zieht abwärts, wir sind darüber immer in Gefahr, nicht zu voller innerer Anschauung zu gelangen. Hier erweist sich die Beziehung zwischen Ohr und Seele als die nähere. Und als eins der edelsten Mittel zu künstlerischer Darstellung muß doch auch die menschliche Sprechstimme betrachtet werden. Doch so viel über dieses Gebiet im ganzen zu sagen wäre, hier sei die Betrachtung nicht weiter­ gesponnen *). Um aber auf die büdende Kunst zurückzukommen, so ist es ja allerdings gerade diese, für die man jetzt so vielfach eine Zukunft im Plan und Leben der Schulen erhofft. Wie schon oben gesagt, zum Teil im Interesse der Kunst selbst: man wünscht ein stärkeres Interesse dafür innerhalb der -Kation über­ haupt, ein lebendigeres Verständnis bei den Gebildeten, und mit der Jugend muß man da beginnen; ist das deutsche Volk mit seinem Kunstsinn weit zurück hinter anbetn, z. B. dem französischen, so liegt dies — das ist die Anschauung — an Nichterweckung desselben in der Jugenderziehung, und durch veränderte Erziehung muß das ausgeglichen werden *). Natürlich wird dabei von den

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'einen wesentlich an das Verständnis der edelsten und anerkanntesten Kunst­ werke aus verschiedenen Zeiten gedacht, und von den Anbetn mehr an die Kunstbewegung der Gegenwart (wie man von gewisser Seite auch durchaus für die Gegenwart die Sympathien in Anspruch nehmen möchte, die den klassi­ schen Dichtem zugewandt zu werden pflegen). 92un wird ja die Jugend nie schwer bereit zu machen sein, mit den Gegenwärtigen für das Gegenwärtige ,ju schwärmen, mit den noch Werdenden für das Werdende, herrlich Bevor­ stehendes zu ahnen und zu glauben; aber die höhere Schule betrachtet es doch wohl mit Recht als ihre erste Aufgabe, für das als groß Bewährte, das Bleibende, auch das geschichtlich Gmndlegende Verständnis und Schätzung vorzubereiten; und die Kunst der Gegenwart, bildende wie Poesie, in der .gestaltlose Stimmung so stark vorwiegt, darf wohl schwerlich als das für eine gesunde Jugend Passende und ihr natürlich Zusagende bezeichnet werden. Gleichwohl, wenn wirklich durch ein ernstlicheres Hineinziehen der Kunst in den höheren Jugendunterricht dem Leben derselben innerhalb der Nation vollere Kraft zugeführt werden kann, wer wird das nicht begrüßen! Und wer wird nicht wünschen, daß man dämm sich bemühe! Denn es soll doch nicht bloß der Kunst zugute kommen, sondem eben auch der Jugend. Es gibt sogar die Anschauung — sie ist deutlich hindurchzufühlen, wenn sie auch nicht leicht mit dürren Worten ausgesprochen wird — es müsse, da alle allgemeine ethische Normiemng des individuellen Lebens sich ja doch als ungerechtfertigte Einengung erwiesen habe, da alle Moral fließend sei und zerfließend, in der ästhetischen Bildung der Ersatz dafür zu suchen und zu finden sein, und damit werde nur eine reifere Stufe eine propädeutische ablösen *). Es würde viel zu weit führen, sollte hier eine Auseinandersetzung mit diesem Standpunkte versucht werden: selbst wenn man an die Unzulänglichkeit aller festen ethischen Normen für die Regelung des persönlichen Lebens der einzelnen oder gar an das Zerrinnen chrer Kraft in der Gegenwart und Zukunft glauben müßte, so wäre die Hoffnung auf jene innerlich harmonisierende Kraft der Kunst schwer­ lich mehr als ein schöner Traum. Bleiben wir denn also bei bescheideneren Zukunftshoffnungen. Kraft zur Bewahrung vor dem Gemeinen wird die Kunst ja sicherlich in vielen Fällen bewähren, wenn sie auch das Innerste nicht vor den entscheidenden Versuchungen, den tiefen Krisen und Kämpfen, der Selbstsucht in allen ihren Wirkungen bewahrt. Was aber kann wirklich geschehen, um für die Kunst neben und gegenüber der Wissenschaft innerhalb der Jugendbildung eine furchtbare und wertvolle Stellung zu gewinnen? In der Tat, gegenüber der Wissenschaft, auch darauf kommt es den Freunden der Kunst an, die damit ein Gegengewicht wünschen ■gegen die Verstandestätigkeit, die Analyse, und auch gegen die Herrschaft des Wortes, ein innerlich aufbauendes Element gegenüber dem zerteilenden. Das Wort nun freilich kann auch hier nicht ausgeschlossen werden, und seine Gefahr

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Zweiter Teil.

Betrachtungen und Vorschläge.

wird es auch hier haben. Tie Gefahr breitet Kommentierung, trockener Charakteristik, starrer Formulierung liegt sicherlich nicht fern. Wieviel wirk­ liche Vertrautheit mit dem Objekte, wieviel innere Klarheit, wieviel Kunst des treffenden Ausdrucks gehört dazu, wirklich anregend zu erläutern! Denn dies ist offenbar die rechte Erläuterung, die anregt, nicht abschließt. Daß zu­ sammenhängender Vortrag über Erscheinungen oder Gesamtperioden der Kunstgeschichte nicht etwa auszuschließen ist, versteht sich, aber zur regelmäßigen Einrichtung wird er weder leicht zu machen sein noch auch sich als solcher so wertvoll erweisen, wie man denken mag. Gesund ist all dergleichen nur, wenn es zu voll genügender Anschauung hinzukommt, wenn aus mhiger, auch andauernder oder wiederholter An­ schauung das Bedürfnis erwacht ist nach klärender Deutung: dann in der Tat vermag ein kurzer, treffender Hinweis, eine aufgeworfene Frage, ein herbei­ gezogener Vergleich viel zu leisten. Es kommt eben doch immer darauf an, daß ein wirlliches inneres Verhältnis zu dem Kunstwerke gewonnen werde, während von einer objektiv völligen Würdigung noch nicht die Rede zu sein braucht. Man täusche sich nicht: zum Verständnis der bildenden Kunst gelangt man nicht auf kurzem, bequemem Wege, nicht durch klare Jnstmktion, nicht in jungen Jahren; mindestens für uns Deutsche (oder uns Germanen) bedarf es im allgemeinen eines langsamen Sicheinlebens. In Frankreich scheint bei­ nahe jeder Spießbürger eine gute Bwnze von einer mittelmäßigen unter­ scheiden zu können und eine ganze Stadtbevölkerung verständnisvolles Inter­ esse zu nehmen an feineren Kunstwerken; bei uns ist es jedenfalls nicht so. Mer die Hauptfrage: das Gewinnen der Anschauung selbst! Daß man von gelegenüicher Führung ganzer Schülermassen oder wenigstens großer Gruppen durch Museen sich lange nicht so viel versprechen dürfe, als man geneigt ist, das ist nun schon öfter ausgesprochen worden; wirkt doch auch der freie Museumsbesuch der Erwachsenen nur sehr allmählich zur Bildung von Verständnis; alles Hasten nicht bloß, auch fast alles Pwgrammäßige ist hier vom Übel; und daß die Verständnisstufe des Führers (Lehrers) wirklich sich zu der des jugendlichen Schülers herabsenke, ist hier nicht leichter, sondem eher schwerer, als auf den Gebieten der regelmäßigen Unterrichtsfächer. Künstler selbst als Führer und Deuter zu gewinnen, mag unter Umständen möglich und gut sein, aber meist ist deren Verhältnis zu den Kunstwerken ein zu inner­ liches, als daß sie es auszusprechen vermöchten, oder ein zu technisches, als daß es uns hier zugute käme *). Eine bescheidene Auswahl schätzbarer Kunst­ werke in nicht schlechten Nachbildungen zu besitzen, ist für eine nicht kümmerlich situierte Schule nichts Unmögliches, und mit ihnen vertraut zu machen ebenso­ wenig. Freüich sind die schätzbaren Nachbildungen doch nicht so all­ täglich, wie die Industrie und Rellame es verkündigen: dazu, daß eine Reproduktton die Wirkung gänzlich verfehle, die das Original hervorbringt, genügt

Forderungen für den Religionsunterricht.

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oft schon die Verändemng der absoluten Dimensionen, oder aber eine mäßige Abweichung in Farbe oder Glanz, und der ganz wirkungslosen Nachbildungen gibt es zahllose Arten. Was man nicht links liegen lassen sollte, ist das Kunsthandwerk, das so­ genannte, oder besser das Gebiet der dekorierenden Kunst, wie natürlich auch nicht das der Architektur, welches mit diesem eine gleichartige Gmndlage hat. Zu dem, was eine kleine Kunstsammlung heißen kann, wird man es meist an Schulen bis jetzt noch kaum bringen; wenn nur wenigstens die Ausstattung der Räume, und zwar ausdrücklich nicht bloß die des einen großen Festraums, künstlerisch Befriedigendes nicht vermissen läßt! Elendes pflegt hier namentlich dann zugelassen zu werden, wenn es patriotische Bedeutung hat oder Loyalität zum Ausdruck bringt. Das Stoffliche übrigens überhaupt für verhältnismäßig gleichgültig zu halten, wäre sehr verkehrt. Ausdrücklich muß in stofflicher Hinsicht dem inneren Bedürfnis der jugendlichen Mersstufen Rechnung getragen werden: der ihrerseits in einer Art von heroischem Mter stehenden Jugend Darstellungen aus der nationalen oder idealen Heldengeschichte vorzuenthalten oder der Stufe des beginnenden tieferen Innenlebens die Darstellung großer dramati­ scher Szenen, um statt dessen ein Stück ödes Torfmoor oder einen ackemden Landmann oder eine besonnte Wiese im Bilde vor Augen zu stellen, das mag den modemen Künstlem und ästhetischen Reformem nahe liegen, ist aber gänz­ lich unpsychologisch. Die Jugend nämlich, obwohl auch ihrerseits nicht schlecht­ hin die gleiche in verschiedenen Jahrhunderten, wandelt sich eben doch, da sie mehr Natur ist als die ausgereiften Kulturmenschen, weit weniger als diese, unterliegt weniger der Macht der Mode, und man sollte sie nicht mit dem nähren wollen, was mehr nur Reizmittel für SStiete, auch sentimentaler Ge­ wordene, ist. Es müßte ein wunderbar suggestionsfähiger Lehrer sein, der hier die Sinne zu öffnen verstände. Frellich einen Lehrer mit Fähigkeit der Übertragung von Interesse muß man immer voraussetzen, und dem gegenüber ist es gleichgültig, welchem Fache er sonst angehören mag. Mer genug ist es nicht an Gefühl und Interesse: es gilt auch das Urteil der Schüler anzuregen und den rechten Ausdruck heraus­ zulocken. Me Frage der bestimmten Organisation dieses ganzen Gebietes ist noch eine offene. Hier bleibt eben ein Stück Zukunftspädagogik *).

8. In der Urzeit des Christentums brauchte an einen schulmäßigen Unter­ richt in der Religion nicht gedacht zu werden. Unterricht, wenn man's so nennen will, empfing und gab sich gegenseitig die neue Christenheit

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Zweiter Teil.

Betrachtungen und Vorschläge.

im ganzen; man ließ sich hineinziehen in diese neue Welt der Gefühle und Ge­ danken, die Men zugleich mit den Jungen, die Freien mit den Sklaven, Wohl­ habende mit den Bettelarmen. Die heiligen Worte, geschrieben und gelesen oder gesprochen, senkten sich in die Herzen und drangen gelegentlich wieder aus dem Munde. Man brauchte sich wohl nicht vorzunehmen, etwas zu behalten, man behielt von selbst. Ob auch mitunter etwas verworren: der neue Most war eben gärend; nicht Lehren und Sätze waren zu übemehmen, nicht ein komplizierter Wissensinhalt; es übertrug sich der Glaube an einige einfache Tatsachen, und mit ihm der neue Geist, das neue Fühlen. Mmählich entstand doch eine fester abgegrenzte Formulierung, und diese Formeln erhielten An­ sehen, depo mehr, durch je mehr Generationen sie sich überlieferten. Sie er­ hielten auch als Formeln ein Ansehen, das dem Inhalt oder richtiger noch dem Geist gebührt hätte. Sie traten als etwas äußerlich Greifbares an die Stelle anderer äußerlich greifbarer Tinge, an welche die Religionen sich gehalten hatten. Tie Bekenntnisformeln gesprochen zu haben, ward gleichbedeutend mit der Aneignung des Christentums; sie und sonstige formelhafte Bestandteile wieder und wieder zu sprechen, das bewährte eine Art von Zauberkraft, wie solche Kraft ehedem andern Formeln, Funktionen oder Gegenständen zuge­ schrieben worden war. Sie zu lehren machte die christliche Unterweisung aus. Noch bis in sehr neue Zeiten hat man dies den Unterricht im Christentum genannt, und das Wissen dämm dem Besitz des Christentums gleichgeachtet. Es deutet sich damit ein ungeheurer Niedergang von der Höhenstufe der christlichen Urzeit an; welcher Wahnglaube wäre es, zu meinen, daß die sich folgenden Jahrhunderte der Menschengeschichte ein M stetiges Aufwärts­ dringen bedeuteten! Auch große Naivität in der Auffassung des Seelenlebens verrät sich: daß das Aussprechen ein Wissen verbürge, das Wissen ein Fühlen, das Fühlen ein Beherrschtsein des gesamten persönlichen Lebens, das ist die psychologische Annahme jener Zeiten, die übrigens bis in unsere Zeiten hinein weithin maßgebend geblieben und offenbar selbst an höchst einflußreichen Stellen nicht überwunden ist. Tie positiven Leistungen der mittelalterlichen Kirche liegen auf ganz anderem Gebiete, auf dem der Nächstenliebe und der Selbstüberwindung, dem Kampf gegen Roheit, Leidenschaft und Sinnlichkeit, und die Pflege der „guten Werke" war keine so üble, keine gering zu schätzende Sache, sofern durch Tun und Gewöhnung an Tun auf das Innere immerhin mehr erziehender Einfluß geübt wird, als durch Reden, Hören und Nachsprechen. Auch daß man krasse Gefühlserregungen gegen rohe Leidenschaft setzte, also die stets erneuerte Vorstellung von Höllenpein oder doch unermeßlich langem Fegefeuer, war psychologisch begründet: das alles für eine Art von kindlichem Entwicklungsstadium der Völker. Selbst für die bemfenen Verwalter der christlichen Wahrheit, für den Klems, ließ man sich an bescheidenster äußerlicher Abrichtung anstatt geistiger Durchbildung genügen. Ein Religionsunterricht,

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der über stoffliches Einprägen hinausgegangen wäre und anderem als der (aktiven oder passiven) Teilnahme am Gottesdienst oder den privaten religiösen Übungen gegolten hätte, fand in dem, was wir Schulen nennen, in den Jahr­ hunderten des Mittelalters nicht statt. An den Universitäten trat allmählich das prüfende oder doch das sich übende (scholastische) Denken dazwischen, immer doch mit dem Ziele, höchste Wahrheiten festzustellen, um sie zu besitzen, und von diesem sorgsam verfochtenen Besitz einer von aller menschlichen Wirklichkeit ganz fernen Wahrheit schlechthin das Heil erwartend. Tie ganz abseits davon, aus den Tiefen menschlichen Gemütslebens unter der füllen Wirkung höchster religiöser Anregungen hervorquellende Mystik konnte zum Unterrichtsinhalt nur in ganz vertrauten Kreisen, zwischen besonders gearteten Seelen werden. Doch wirkte sie hier und da als Predigt auf ansehnliche Zuhörerschaften, wie denn in der Predigt der späteren Jahrhunderte des Mittelalters ein wichtiges Stück lehrender Täügkeit gesehen werden mag. Tie Geschichte des Religionsunterrichts auf Schulen kann also gewisser­ maßen erst mit der Reformation einsetzen. Eine Seite dieser großen Neuerung ist es eben doch, daß nun der Religionsinhalt von jedem christlichen Individuum wirklich erfaßt werden soll, ihm hell und voll bewußt werden, um vom Innersten her dies Leben zu bestimmen und Selbstverantwortung zu begründen. In gewissem Sinne ist also schon der Charakter der Reformation Aufllämng, und während die nun grundsätzlich in den Vordergrund gestellte Erkenntnis wiederum keineswegs nur als Sache des Intellektes gedacht wurde, so ist doch der natür­ liche (unerfreulich natürliche) Verlauf der Dinge der gewesen, daß wiederum wortmäßige Formulierung, Abzirkelung, Einprägung und rein verstandesmäßige Beleuchtung das Wesentliche für Vererbung und Behauptung evangelischen Christentums wurde, womit ein mindestens ebenso ungünstiger Zustand ge­ geben war wie jener der früheren, der mittelalterlichen Stufe. Mehrere große neue Wellen sind dann ferner über den so sich weiter überliefernden Prote­ stantismus hingegangen: die des Pieüsmus, der Aufllämng, der erstarkten allgemeinen Wissenschaft, indem phiwsophische, naturwissenschaftliche und historische Forschung eine solche Kraft der Bewegung und der Ergebnisse gewannen, daß dadurch die äußere und innere Position der kirchlichen Theo­ logie eine ganz veränderte werden mußte. In den Religionsunterricht der Schulen hat selbstverständlich der Wellen­ schlag dieser Bewegungen hineingespielt, ja er ist dort vielleicht fühlbarer ge­ wesen als in der Hauptform, in welcher für die Gemeinden der Unterricht im Christentum stattfindet, nämlich in der Predigt. Zunächst jedoch muß fest­ gestellt werden, daß ein Unterricht in diesem „Fache" als solcher eben seit der Reformation in die Lehrpläne der Schulen aufgenommen war, wie denn der Inhalt der Religion jetzt nicht mehr durch äußere Eingewöhnung, sondem durch persönliche Erwerbung und Verarbeitung weiterleben sollte, und wie

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Zweiter Teil. Betrachtungen und Vorschläge.

unter Zurückdrängung aller sinnlichen Hilfen, aller bloßen Pflege der Stint« mung jetzt die echte Betrachtung, mit dem Ziel voller persönlicher Klarheit ganz in den Vordergmnd gerückt wurde. Diese Betrachtung aber konnte der neuen Scholastik der dogmatischen Theologen folgen, sie konnte auf eine mög­ lichst gründliche biblisch-literarische Jnhaltskenntnis hinauslaufen, sie konnte (namentlich seit dem Hervortreten des Pietismus) vorwiegend erbaulichen oder erwecklichen Charakter haben, sie konnte dann (seit der Herrschaft der Aufklämng) mit dem ganz unabhängigen menschlichen Denken, der natürlichen „Vernunft" arbeiten wollen und von da aus zugleich ein naiv kritisches Gepräge annehmen, sie konnte weiter sich mit der ungleich tiefet grabenden Philosophie durchdringen (so namentlich unter der Herrschaft Hegels), sie konnte mit der Periode der siegessicheren Naturwissenschaft und des sich daranhängenden populären Materialismus wesentlich apologetisch werden, und sie konnte endlich von der neuen wissenschaftlichen Theologie sich bestimmen lassen, also historisch-kritisch-psychologisches Verständnis des überlieferten Religionsinhalts nach Maßgabe der jugendlichen Reife anstreben, wobei denn wieder mehr das zu bewahrende Positive das Hauptgewicht empfangen konnte oder die Sichtung des überkommenen Inhalts, in Wirklichkeit aber natürlich ganz vorwiegend das erstere geschah. Und während hiermit ein Nacheinander der möglichen Arten angedeutet ist, können nun doch auch all diese Typen miteinander und durcheinander im Unterricht ihre Stätte haben. In der Tat ist es so, daß man zurzeit von alledem etwas antreffen kann, je nach den Persönlichkeiten der Lehrer und ihrem Standpunkt, auch wohl je nach den in den verschiedenen Landesteilen geltenden Vorschriften und der Kontrolle, oder nach dem ebenda vorherrschen­ den Gepräge des religiösen Lebens. Ist doch der Religionsunterricht, nach und neben der Veranstaltung, Verwaltung oder Überwachung durch die Kirche, auch vom Staate als seine Pflicht und Angelegenheit übernommen worden, um nun von da aus Regelung und Überwachung zu erfahren. Daß der Re­ ligionslehrer zugleich der Gemeinde verantwortlich sei, aus der seine Schüler ihm zukommen, wird wohl meist so empfunden, wenigstens in dem Maße, wie eine solche Gemeinde ein religiöses Leben von fest bestimmter Ausprägung und höherer Lebendigkeit besitzt. Und wenn der Lehrer sich dann zugleich der forschenden theologischen Wissenschaft gegenüber verantwortlich fühlt, und wenn eine eigene, persönliche, wirlliche Überzeugung ihn bindet und ver­ pflichtet, so ist schon mit der Zahl der bestimmenden Instanzen die Schwierig­ keit der Aufgabe angedeutet. In der Tat ist das Gebiet und die persönliche Verwaltung dieses Unter­ richts zu einem der meist umstrittenen in der Gegenwart geworden. Oder, wenn nicht wirllich am meisten darüber geredet und geschrieben wird, wie denn tatsächlich die Frage der alten Sprachen und auch wohl der Naturwissenschaften

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auf Schulen reichlicher und selbst leidenschaftlicher erörtert wird, so sind doch die Probleme dieser letzteren Gebiete im Grunde minder tiefgreifend als das des Religionsunterrichts. Natürlich kann hier nur vom evangelischen Religions­ unterricht die Rede sein, denn für den katholischen sind ähnliche Schwierig­ keiten auch nicht entfernt vorhanden. Da ist der Stoff bis ins einzelne bestimmt ausgestaltet und braucht nur mit allen wortmäßigen Begriffsbestimmungen, allen Unterscheidungen und ausgearbeiteten Beweisen übermittelt zu werden, die Seele des Schülers scheint nicht viel andere Funktionen zu haben als die Membran eines Phonographen. Nur um die Fragen der Abfolge des Stoffes und etwa um die Eindringlichkeit des apologetischen Verfahrens pflegt es sich da zu handeln; die psychologischen Bedürfnisse der sich folgenden Altersstufen findet man wenig berücksichtigt. Wenigstens sofern man eine wirklich persön­ liche Aufnahme und geistige Verarbeitung des Swffes erwarten will. Aber einGwßes wird hier doch geleistet: nämlich die Übermittelung der gewünschten allgemeinen Stimmung, das Gefühl der Sicherheit einer die Jahrtausende durchdauemden, von vielen Tausenden getragenen und von ungezählten Millionen anerkannten Autorität, einer fest gefundenen Wahrheit, die Stim­ mung der persönlichen Kleinheit vor der Größe dieser Autorität, der Ehrfurcht vor chr und ihren Trägem. Und daß die Vermittler dieses Inhalts persönlich so jenseits alles Kampfes und Zweifels erscheinen, emporgehoben über die Linie all der unmhigen Weltkinder samt ihrem verworrenen Suchen, getragen und gehalten von der mächtigen Gemeinschaft gleichartig Wissender, Fühlender und Entsagender, das vor allem gibt ihrer Lehre Wirkung. Auch kommt die dem Kleriker als solchem nötig gewordene Selbsterziehung dem Lehrer zugute: Selbstbeherrschung und Wohlwollen lassen weitaus die meisten dieser Lehrer nie vermissen. Den Vorteil einer ähnlich gewichtigen Autorität und eines unantastbaren Erkenntnisbesitzes möchte der konservative Teil der Protestanten den Religionslehrem ihres Bekenntnisses ebenso gesichert wissen. Nur im Inhalt der Lehre läge hier, neben gewissen Seiten der Verfassung und Formen des Kultus, der Unterschied der einen Konfession von der anderen. Und es gibt eine Anzahl Religionslehrer, die ihre Stellung und Aufgabe nicht anders auffassen, für die in der Einprägung von Katechismus, Bibelwissen, Kirchenliedem, Dogmatik nach den Dokumenten aus der Reformationszeit, Kirchengeschichte in gegebener Färbung und Apologetik gegenüber allen Formen des „Unglaubens" ihre Tätig­ keit beschlossen liegt. Mer die Mehrzahl bilden die Religionslehrer dieser Art in deutschen Landen nicht, wenigstens nicht an höheren Schulen, wo sie eine akademische theologische Bildung fast sämtlich empfangen haben und von der Bewegung der Wissenschaft nur im Falle besonderer Härte des Intellekts un­ berührt geblieben sein können. Und wie schon innerhalb der evangelischen Geistlichkeit die Zahl derjenigen zusehends wächst, die bei dem alten schroffen

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und bequemen Gegenüber von Glaubenspflicht und Wissenschaft nicht stehen zu bleiben vermögen und denen auch eine Vermittlung mehr äußerlicher, künstlicher, oberflächlicher Art nicht genügt, so ist eine solche Seelenverfassung bei den durch freie Wissenschaft Hindurchgegangenen, zum Denken Erzogenen und zum Lehren als solchem Berufenen um so natürlicher. Könnten sie es ertragen, sich als bloße Sprachrohre des Bewußtseinsinhalts vergangener Generationen zu fühlen? Können sie verschweigen, was ihnen an zahlreichen einzelnen Punkten von besserer Sachkenntnis sich eröffnet hat? Können sie mit gutem Mut versuchen, lebendige Wirkung mit dem zu tun, was nach ihrem innersten Bewußtsein keine wirkliche Lebenskraft mehr beweist? Können sie kapitulieren vor einer bloßen Majorität von Altgläubigen — wofem von einer noch vorhandenen solchen Majorität wirklich die Rede sein darf? Man müßte dann alle die Passiven, die nur äußerlich weiter Gewährenlassenden, und alle die für eine höhere Stufe religiösen Lebens zu unmündig Gebliebenen in großer Unbefangenheit mitrechnen! Und überhaupt: wie ist es mit der Aufrechterhaltung des alten „Bekennt­ nisstandes" in Wirllichkeit? Tie Anschauung, daß ein objektiv abgeschlossener Glaubensinhalt in einer diesem Inhalt notwendigen Form für eine sich un­ wandelbar gleichbleibende menschliche Seelenbeschaffenheit gefunden und ge­ geben sei, wer hegt sie eigentlich in Wirllichkeit noch? Das „Volk" vielleicht, soweit sie ihm nach wie vor sorgsam eingeflößt wird und es nicht unter dem Einfluß modemer Verführer mit einemmal einem platten Atheismus sich ge­ öffnet hat, was ja bekanntlich in gewaltigem Umfang bereits geschehen ist. Und daß es so auf einmal geschehen konnte, deutet das nicht darauf hin, daß doch auch eben in dieser untersten Bildungsschicht die innere Disposition oder die innere Fähigkeit zum Festhalten der älteren Vorstellungswelt sehr ge­ schwunden war, daß die Verankemng in den Seelen nicht mehr hielt, weil. Neues und Lebendigeres sich dazwischen durchsetzen wollte? Es ist im allge­ meinen eine geistig sehr unlebendige Schicht, die starr genug zu bleiben ver­ mochte, um dort mit ihrem religiösen Bedürfnis die Befriedigung zu finden, wie frühere Geschlechter in anders beschaffenen Jahrhunderten. Denn auch da, wo mit wirllichem religiösem Eifer anscheinend der alte Glaube von einer ganzen Bevölkerung oder doch starken Volksschicht gehütet und verteidigt wird, ist es, wenn man näher zusieht, nicht etwa das alte orthodoxe System mit seiner Fülle der Dogmen, als vielmehr gewisse fundamentale oder fundamental erscheinende Punkte, die das innerste Lebensgefühl zu berühren geeignet sind; es ist weit mehr der Pietismus als die Orthodoxie, was Leben bewahrt hat und noch immer leicht wieder zu gewinnen scheint. Tie Orthodoxie als solche wird im wesentlichen noch verfochten von scholastisch gearteten, systemfrohen„ dem reichen Seelenleben der Wirllichkeit verschlossenen Köpfen, bei denen zu­ gleich ein Trotz- und selbst Kampfbedürfnis damit befriedigt wird und großen-

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teils ein, wenn auch unbewußter Trieb zu geistiger Knechtung mitspricht. Man unterwirft sich gewissermaßen selbst, um wieder mit auf die Knie zu zwingen. Und zu ihnen kommen dann die Mitglieder einer sozialen — zum Teil auch der regierenden — Oberschicht, die in dem Zergehen des Men ein Zerrinnen alles festen sozialen und moralischen Bestandes sehen oder befürchten, für die die mauerfeste Fortdauer des „Glaubens" eine Schutz- oder Brand­ mauer für ihr behagliches altes Haus bedeutet, die übrigens meist auch selbst sich eines die Probleme in größerer Tiefe erfassenden Geisteslebens nicht be­ fleißigt haben. So spricht denn wohl auch eine gewisse Angst mit vor dem möglichen Verluste des Heils, das dort so wohl verbürgt dasteht, und Respekt vor der Autorität auf diesem Gebiete, da man der Autorität auf anderen so viel verdankt. Aber ohne daß wir diese Unterscheidung hier weiter verfolgen wollen: wäre es wahr, daß auch unsere orthodoxen Christen tatsächlich den so oft mit Pathos im Munde geführten „Glauben der Väter" noch besäßen? Darüber waltet offenbar viel Selbsttäuschung; das Herz der Menschen von heute ist eben, sie mögen es glauben oder nicht, nicht das der Menschen von 1500 oder 1600 (abgesehen davon, daß schon damals ein großer Teil des Dogmenbestandes ohne rechte innere Beteiligung festgehalten wurde). Ist nicht z. B. in aller Stille eine Glaubensvorstellung ganz entwichen oder sicher um alle seelische Wirkung gekommen, die vor wenig Jahrhunderten die Seelen stark erfüllte, die Vorstellung von dem Teufel als einer immer umgehenden, lauemden, sich einmischenden persönlichen Macht? Es läßt sich kein Augenblick auf­ zeigen, in dem diesem mächtigen Herrn gekündigt worden wäre, aber man hat ihn fallen oder sich verflüchtigen lassen, weil die Seelen nichts mehr von ihm wissen wollten; wieviele Prediger werden es heute noch wagen, ihn zu zitteren, um dadurch zu schrecken und zu erziehen? Tie im 19. Jahrhundert so in Ver­ achtung gesunkene „Aufklärung" hat eben doch manches so mit weggefegt, daß es auch nach der Wiederkehr altgläubiger Auffassungen nicht mehr mit auflebte. Hat ferner etwa die Vorstellung von der Ewigkeit der Höllenstrafen, also des nimmer endenden Verbranntwerdens, wirklich noch Kraft über die Menschen, auch die allergläubigsten, von heute? Für wen sie Wirklichkeit be­ deutete, der könnte jeden Augenblick seines Lebens wirklich nur in namenloser Angst und düsterem Beben zubttngen. Entstehen konnte ja jene Vorstellung von unermeßlicher Furchtbarkeit nur in ottentalischer Phantasie, und schon die Theologie der älteren Kirche mochte sie nicht festhalten, dachte sich ein Maß und Ziel der Leiden, wenigstens für die nicht ganz Bösen, und erfand die Lehre vom Fegefeuer, wobei sie jener orientalischen Ungeheuerlichkeit das Zuge­ ständnis gewaltiger Zahlenmaße machte. Ten Reformatoren und ihren Nach­ folgern war schon das zu viel Halbheit, zumal es im Neuen Testament keine Unterlage fand. Gepredigt aber wird auch darüber so leicht nicht mehr; man

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geht über solche Dogmen hinweg, man läßt sie in den Schatten sinken; übrigens ist ja das ganze eschatologische Gebiet auch nie aus Widersprüchen herausge­ kommen. Ist nicht ebenso die Lehre von der Prädestination, obwohl sie in der Bibel guten Anhalt findet, obwohl sie von Calvin wie von Augustin mit Leiden­ schaft verkündet und auch von Luther vertreten worden ist, aus dem religiösen Bewußtsein fast sämtlicher Evangelischen geschwunden? Wird feinet etwa die Höllenfahrt Christi, obwohl sie ihre Stelle in dem sogenannten apostolischen Glaubensbekenntnis hat, noch zum Thema gemacht, wird bei der Lehre von den Ständen und den Stottern und den Naturen Christi und ihrem Verhältnis zueinander verweilt? Pflegt auch selbst die Lehre von der Satisfaktion durch den Opfertod Jesu oder die von der ausdrücklichen Inspiration der heiligen Schrift im einzelnen wie im ganzen noch die Beredsamkeit der Kanzelredner zu beschäftigen? Und steht es nicht ähnlich mit der Trinität, obwohl dieses Dogma, das man freilich als Beispiel für die Unhaltbarkeit der alten Dogmen überhaupt am häufigsten anführen hört, in der Tat besseren psychologischen Anhalt hätte als viele andere? Denn auf das Sein eines Götllichen führt uns immer wieder die Betrachtung der Welt als einer daseienden und ganzen, die Anschauung des unbedingt Edlen, Guten und Vorbildlichen, das im er­ habensten Menschentypus sich schauen läßt, und das Bewußtsein einer idealen Entwicklungsfähigkeit der Menschennatur überhaupt: Geheimnis und psycho­ logische Unterlage brauchen sich doch keineswegs auszuschließen. Nun nehme man aber weiter den Begriff des Glaubens, der, wie er schon in der Urzeit des Christentums eine sichtlich ungleichwertige Auffassung fand, entschieden auch seit der Blütezeit der protestantischen Orthodoxie, wie sorgsam man auch den Namen festhält, eine tiefgehende Wandlung erfahren hat. Ebenso ist die „Furcht Gottes" den gläubigsten Menschen von heute nicht mehr das­ selbe, was sie älteren Geschlechtem war. Oder man nehme die Auffassung der Einzelheiten des biblischen Inhalts, der Schöpfungsgeschichte, mannigfacher seltsamer Wundergeschichten aus dem Men Testament, aber nicht bloß dieser, man. nehme die Anschauungen von der Entstehung und dem gegenseitigen Verhältnis der biblischen Schriften überhaupt: wenn hier und da ein in seinen bomierten Trotz sich einspinnender dumpfer Kopf noch wirllich bei den alten, dogmatisch festgelegten Kategorien verblieben ist, oder wenn selbst viele hundert solcher Köpfe, über die Torfkanzeln ganzer Landesteile hin verteilt, dabei bleiben: die wissenschaftlichen Führer auch der konservativen Theologie haben sich neueren Erkenntnissen nicht endgültig verschlossen; sie fühlen sich auch von ihren „liberalen" Amtsgenossen nicht durch eine abgrundtiefe Kluft geschieden, nur daß sie mit ihrem theologischen Sinnen und Prüfen zu minder weitgehen­ den Resultaten geführt werden. Im ganzen aber, und das ist es, worauf es uns in diesem Zusammenhang ankommt, ist eine innere Fortblldung der reli­ giösen Anschauungen, der Stellung zu den religiösen Problemen und Faktoren

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innerhalb der evangelischen Christenheit unverkennbare und unleugbare Tat­ sache, und auf dieser Fähigkeit und Natürlichkeit der Fortbildung bemht die Lebenskraft des Protestantismus. Freilich, die Möglichkeit immerwährender Fortdauer auch ohne eine solche Fähigkeit beweist ja die katholische Konfession; sie hat aber mit dem, was wir geistiges Leben nennen müssen, nichts zu tun, als Religion bemht sie auf den unterhalb des eigentlich Geistigen liegenden seelischen Bedürfnissen, die ja ihre große Stärke immer behalten, so daß ein großer Bmchteil auch der als Christenheit zusammengefaßten Menschen für immer sein Genüge darin finden mag. Auf der evangelischen Seite ein ebenso unveränderlich Gegebenes annehmen, festhalten, verfechten, auferlegen wollen, erweist sich immer wieder als ebenso unmöglich wie verkehrt. Hegt man die Sorge, daß das religiöse Leben, an den fest abgegrenzten Dogmen hängend, mit ihrer Verflüchtigung sich selbst verflüchtigen müsse und daß namentlich auch eine eigentlich sittliche Gesinnung damit schwinden werde, so liegt der Fehler eben darin, daß man deren Pflege an so brüchigen Halt zu knüpfen für das Rechte, das allein Mögliche gehalten hat. Gewiß sind allmählich zahl­ lose Gemüter des sichersten Haltes verlustig gegangen, indem ihnen das eine im Gefolge des andem. zerrann; aber dabei die Schuld diesen einzelnen zu geben, den Zweifel des Intellekts als Verschuldung hinzustellen, den sogenann­ ten Unglauben als eine sitllich zu verantwortende Abirrung, eine unhellvolle innere Verderbnis, ist das bekannte, seit Jahrhunderten in unendlicher Wieder­ holung geübte Unrecht: als Anllägerin tritt hier diejenige Macht auf, gegen die die Anllage sich zu richten hätte, ähnlich wie die politischen Tyrannen ihre eigene Mißwirtschaft die Untertanen entgelten zu lassen pflegten oder wie schlechte Erzieher ihre Zöglinge da schelten und strafen, wo deren Unart von ihrer Er­ ziehungsweise verschuldet ist. Und so liegt freilich im ganzen nun ein Zustand voller Schwierigkeiten und Unbehagens vor. Daß diejenigen, für welche die von früh auf erfolgte innere Eingewöhnung in die dogmatische Vorstellungswelt inmitten aller andem Eindrücke eine unerschütterlich feste Herrschaft behält, sich in einem tiefen inneren Gegensatz zur umgebenden Menschenwelt und zu dem treibenden Bewußt­ seinsinhalt der gegenwärtigen Generationen fühlen, brauchen wir unsererseits nicht besonders zu bellagen, zumal diese meist sich in ihrem Besitz wie in chrer Sonderstellung glücklich fühlen; und daß mit diesem „positiven Christentum" eine sittliche Gesinnung, eine Lebensfühmng, eine Herzensbeschaffenheit von erfreulichstem Werte verbunden sein kann und wirklich in weitem Umfang verbunden ist, darf man nie verkennen. Könnten nicht auch reine Illusionen das Innenleben in schönster Weise beeinflussen, gestalten? Zu jenen aber kommen dann die vielen, man wird sagen dürfen, die ungleich Zahlreicheren, die nur einen matten Rest religiöser Empfindungen weiterführen, von Ge­ wohnheit beherrscht oder von Verlegenheit bestimmt, die vielleicht nur den

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Symbolen und Zeremonien treu bleiben, oder die nur bei gewissen, sie tiefer berührenden Erlebnissen die älteren Religionsvorstellungen vor sich aufleben und sich in dieselben wieder für den Augenblick hineinziehen lassen. Übel ist es freilich keinem einzelnen heutzutage zu nehmen, wenn er eine feste persönliche Stellung zu den so gewaltig verwirrten religiösen Problemen nicht zu ge­ winnen vermag, und das Mitgehen innerhalb der überkommenen Formen und Bahnen auch ohne volle und freudige Einstimmung kann sehr wohl geschehen in Hoffnung auf die Kraft des Ganzen zur allmählichen inneren Erneuerung, wie denn nach eines hervorragenden amerikanischen Denkers Urteil dort die von den meisten unveränderlich dokumentierte Teilnahme am Leben der Kirche nichts anderes als das Gefühl zur Voraussetzung hat, daß die Kirche die große Organisation zur Vertretung des Guten in der Welt sei. Von denen, die nur aus feiger Sorge um ihr bürgerliches Ansehen oder aus Berechnung der Wir­ kung, um vorteilhaften Eindrucks willen, oder in Anpassung an eine Standesfitte kirchlich-religiösem Leben treu erscheinen, braucht nicht weiter geredet zu werden. Durchaus nicht gering ist aber auch die Zahl derer, die sich in qualvollen inneren Konflikt versetzt fühlen, und man möchte da den Weheruf über die­ jenigen, die den Geringen Argemis geben, einmal auch auf die anwenden, die durch hartnäckige Verschiebung der religiösen Werte allen solchen armen Seelen Angst bereitet haben. Dann die anwachsende Schicht der sich aus tiefem Herzen nach neuer Gründung und Gestaltung religiösen Lebens Sehnenden, bei denen das Bedürfnis brennend geworden ist und die schon von solchem inneren Bedürfnis sich bereichert fühlen, aber doch neue Antwort auf ihre neue Frage haben möchten! Und es fehlt doch nicht an neuen, inhaltreichen Ant­ worten; neue lebendige Auffassungen der Gestalt Jesu, der Tendenz des Ur­ christentums, des wirllich ewigen Kernes des Christentums und der Religion überhaupt werden dargeboten, und die Zahl derer, die sich von Herzen darum kümmem, ist bereits groß. Daß die Inhaber der gegenwärtigen Kultur über die Religion überhaupt hinausgewachsen seien, diese Anschauung ist nicht mehr so verbreitet, wie sie vor einigen Jahrzehnten war, aber sie empfängt freilich immer wieder auch neue (literarische) Nahrung. Auch die Versuche, neben einem materialistischen Monismus als Religion der Zukunft dem Buddhismus Raum zu schaffen, werden nicht ohne Energie gemacht. Andererseits wachen Merlei krankhafte Zustände religiösen Gefühls- und Gemeinschaftslebens wieder auf und beweisen ihre ansteckende Kraft. Ohne alle ZurückhMung aber werden nun auch die feindseligsten Urteile über das Christentum im ganzen geäußert; daß es alle gesunde Entwicklung des Menschentums nur ge­ hemmt und geschädigt habe, daß es im Grunde — oder doch daß seine weitere Aufrechterhaltung unmoralisch sei, daß erst nach seiner Überwindung der Weg zum Hervorgehenlassen eines großen und immer größer werdenden Menschen-

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tums sich öffnen werde, so und ähnlich klingt die neue Botschaft, von leiden­ schaftlichen Frauen mindestens so fanatisch verkündigt wie von Neuerem männlichen Geschlechts. Worauf es hierbei vielleicht zu allermeist ankommt, ist die Frage, ob wirllich die Ethik des Christentums sich für die mit unserer Kultur- oder Reife­ stufe gegebene Sachlage als untauglich erwiesen habe. Wie oft ist darauf hin­ gewiesen worden, daß tatkräftige Selbstbehauptung, daß emstlichste Hingebung an die konkreten diesseitigen Lebenszwecke, daß Bereitschaft nicht bloß zu tätigem Eingreifen, sondem auch zum Kampf unerläßliche und ethisch keines­ wegs anfechtbare Anfordemngen an die Menschen der Gegenwart und Wirklich­ keit seien, und daß damit die von der christlichen Ethik gepredigte Passivität, das völlige Sichunterordnen und Leiden, die Demut, die Entsagung, die Gleichgültigkeit gegen die Ziele des irdischen Lebens, die pessimistische Grundstimmung, ja auch die Ängstlichkeit gegenüber dem eigenen Gewissen, das Sündenbewußtsein, die Reue, das Verzagen an der eigenen Kraft, die Er­ wartung alles Gedeihens von überweltlich eingreifender Hilfe, daß das alles mit jenen Anfordemngen nicht zusammenpasse, nicht verträglich sei und sich denn auch wirffam weder erweise noch erweisen könne. Es ist wahr, das Christen­ tum ist als eine völlige Ablösung der vorhandenen sittlichen Maßstäbe oder Ideale in die Welt getreten, es erscheint als ein einziger großer Protest gegen das Geltende, das, was sich natürlich durchgesetzt hat. Das Urchristentum sieht in diesem Natürlichen ein Verkehrtes, Verdorbenes, es tritt ihm gegenüber als flammendes Korrektiv (flammend, doch dämm nicht mit gemeinem Feuer ver­ zehrend). Trotz allem äußeren Siege des Christentums hat sich eine natür­ liche Ethik immer wieder mit ihren Normen und Maßstäben behauptet oder erneuert, und ihr das Daseinsrecht zu bestreiten, wäre auch wirllich nicht recht. Zur Regelung des Lebens in seinem gewöhnlichen Verlaufe und zur Weiterfühmng der äußeren Kultur mag sie durchaus ihre Geltung behaupten, da werden Selbstbehauptung, Kampfbereitschaft, Schätzung aller positiven Lebens­ güter und das andere nötige und gute Tinge sein. Wer man kommt damit — auch das ist eben naturgemäß — immer an die Grenze des Unsittlichen und zwischendurch über diese Grenze hinaus, und die Gesichtspunkte der christ­ lichen Ethik sind bestimmt, ein ewiges Korrektiv zu bilden für das Natürliche. Ihre Stimme ergeht immer wieder aus größerer Höhe, ihr Echo findet sie in größerer Tiefe. Ihr ist, im Unterschied von aller natürlichen, von aller gedankenmäßig konstmierten Moral, auch das eigen, daß sie nicht an teleo­ logischen Beweisen hängt: sie lebt nur durch das Gefühl von ihrer Hoheit. Und es ist denn ferner auch verkehrt, sie als bloßen Anhang zur „Glaubens­ lehre" zu betrachten, als eine Art von praktisch aus der Theorie der Dogmen zu ziehender Konsequenz, die schwinden werde und müsse mit der Verflüchtigung der Dogmen. Im Gegenteil: sie allein, der christlich-ethische, dauemde und

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echte innere Herzenszustand ist das Wesentliche, das Wichtige, das Lebendige, das Bleibende. Es wäre wohl zu viel gesagt, daß die Glaubensvorstellungen nur Hilfskonstmktionen seien für den Bestand der Gefühle; aber daß diese bei der Verflüchtigung jener ihren Bestand zu behaupten vermögen, ist sicher und auch nicht bloß als eine nur noch eine gewisse Zeit andauemde Nachwirkung, nicht als ein bloßer Nachhall. Das Christentum in seiner äußeren Ausge­ staltung, in seinen Lehren und Formen, ja überhaupt in präziser Ausprägung hat mannigfache Wandlungen durchgemacht. Man kann auch in diesem Sinne nicht sagen: hier ist es oder da ist es, nicht damals war es oder jetzt ist es. Es wird noch weitere Wandlungen erfahren. Es ist dazu fähig, es war von Hause aus zu wenig nach menschlicher Art abgegrenzt oder eingegrenzt, um nicht un­ endliche Entfaltung zu ermöglichen. Und so fehlt uns wohl auch das Recht nicht, seine ethischen Grundbegriffe aus den älteren Bezeichnungen in neuere, ja aus der älterenFärbung in eine neuere umzusetzen. So mag der vertrauende Kindesglaube den Charakter der Freudig­ keit zum Leben und Wirken, des hoffnungsreichen Aufschwungs über Leinliche Sorge, der Zuversicht in die mannigfaltigen Hüfsquellen des Lebens annehmen. Die allgemeine Mchstenliebe, die ja als solche weniger denn irgendetwas anderes ihre Anerkennung eingebüßt hat, verdichtet sich doch zugleich zur Arbeit für die gwßen und schönen Ziele der Menschengemeinschaft. Die Idee der Feindesliebe, der man immer mehr Respekt erwiesen als praktische Anerkennung hat zutell werden lassen, behält ihre Bedeutung nicht bloß gegenüber allen natürlichen Antrieben der Rachsucht mit ihren furchtbaren Äußerungen (denn der natürliche Rächer will das ihm zugefügte Leid nicht mit einfachem Maße zurückgeben, sondern übertmmpfen); sondem es wird daraus für uns zugleich die Aufgabe, all das Böse, das sich innerhalb der Gemeinschaft gestaltet und betätigt, durch Gutes zu überwinden, durch eine entgegenwirkende Entfaltung von Gutem, in Einrichtungen, Maßnahmen, Gesinnung. Die Selbstverleugnung hat aufgehört, sich als Kasteiung oder in ähnlicher Weise zu bewähren, dergleichen könnte heute nur den Wert schulender Übung haben und vemichtete in Wirllichkeit vielfach die Kraft, die sich hätte bewähren und betätigen sollen; aber als entsagungsvolle Hingabe an große Ziele, als ausdauemdes und alles unmittelbare Behagen beiseitesetzendes Wirken, als Treue des Herzens auch in Weh und Bitterkeit, als unwandelbares Beharren in der Pflicht, und frellich doch auch nicht zum mindesten als persönliche Reinheit, als Absage an das bloß sinnlich Gemeine, besteht das ethische Ideal der Selbstverleugnung, es besteht in allen diesen Ausprägungen auch für neue Geschlechter. Nicht minder die Demut: nicht als freiwillige Knechtsgesinnung, als Verzicht auf Würde unter den Menschen, aber als Selbstbewahrung vor dem ordinären Hochmut, als stete innere Bereitschaft, sich am Ideal zu messen, seinen Wett in der Tiefe zu suchen statt in irgend etwas Äußerem, als stets lebendiger Antrieb

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zur Vervollkommnung. Lähmt doch der Hochmut die Selbstentwicklung, und werden wir doch in der Zeit der allgemein beobachteten und geschätzten „Ent­ wicklung" die Entwicklung an dieser uns wichtigsten Stelle, innerhalb des eigenen Ich nicht geringachten wollen — wobei freilich allmähliche Verändemng nicht schon gleich Entwicklung sein darf. Und so wird auch die Reue nicht ein Seelenvorgang sein, der dämm (wie freilich viele oberflächliche Menschen in der Gegenwart wollen) abzusetzen sei, weil er die Kraft schwäche, und weil er unfmchtbar sei; das biblische Wort von der „göttlichen Traurigkeit" behält seine edle Bedeutung. Es gibt jedenfalls eine Reue, die als tiefe innere Krisis in Wahrheit Ausgang für neues Leben wird und in eine durchaus befmchtende oder beschwingende Wirkung ausläuft, und die Besten unter den Menschen werden diese Reue auch in Zukunft kennen, während sie nicht mehr daran denken werden, etwa mit Äußerungen der Reuestimmung oder mit Bußübungen den Zorn des allwissenden Richters abzuwenden. Auch hängt die innere Fähig­ keit zum Bereuen mehr mit dem Bewußtsein der Verantwortlichkeit zusammen, und diese ihren einzelnen Mtgliedem zu erlassen, wird sich schon die menschliche Gesellschaft als solche nie bereitfinden können. Noch weniger freilich werden wertvolle Menschen sie selber sich erlassen: und die Wertvolleren werden doch auch in Zukunft die bleiben, die ihr inneres Leben zu einem Ganzen verknüpfen wollen, nicht bloß vom Augenblick sich bestimmen lassen und nur für den Augen­ blick einstehen wollen. Dann femet die Weltverachtung! Als Verachtung der gemeinen Welt oder der Welt als der Sphäre alles Gewöhnlichen, Gemeinen, abwärts Ziehenden bleibt sie sicherlich in ihrer Würde bestehen. Nicht anders die Verachtung der mannigfachen konkreten Güter des Lebens: daß wir im Werben und Sorgen um dieselben nicht unser bestes Selbst preis­ geben, diese Norm sicherlich verbleibt uns, auch wenn wir jeden mönchischen Trotz gegen die Wertung jener Güter hinter uns gelassen haben. Und von einem so gekennzeichneten Zustande des Inneren aus wäre es auch wohl nicht weit zur Stimmung der Gottesliebe, der Gottesfurcht, der Gottseligkeit. Vielleicht ist damit nur von einer anbetn Seite her das be­ zeichnet, was von jener unserer Seite her anders Lang, vielleicht nur ein positiver Ausdruck gewählt für einen negativen. Doch wollen wir nicht die Meinung äußem, daß dieses Positive nicht auch etwas viel mehr sein könne. Die Beziehung der Menschenseele zum Höchsten, zum unbedingt Seienden, zum Urgründe des Seelenlebens besteht fort auch als unmittelbare. Meviel von den bestimmten und formulierten Vorstellungen für die Gebildeten unserer Zeit weichen mußte, von den naiv geozentrischen, anthropomorphischen, wie sehr ihnen der Glaube an historische Vorgänge zwischen Gott und Menschheit, die sogenannte Heilsgeschichte mit ihren einzelnen Heilstatsachen, geschwunden ist: man beobachte nur, wie gewiß die ewigen religiösen Empfindungen wieder Leben gewinnen beim Anhören edler geistlicher Musik. Offenbar handelt es Münch. Zukunftspädagogtk. 3. Hust.

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Zweiter Teil. Betrachtungen und Vorschläge.

sich da keineswegs bloß um einen Nachhall aus dem Empfinden früherer Ge­ schlechter, um einen sentimentalen Reflex ehemaliger Gläubigkeit; dergleichen spielt sonst im modemen Leben keine geringe Rolle; es gibt eine Religion (wie eine Theologie) der Überreste, einen Liberalismus der bloßen Subtraktion; aber es gibt eben auch Echteres, zugleich Einfacheres, Tieferes, Ewiges. Der Kampf zwischen der zäh festgehaltenen alten Konstmktion und dem als neu durchdringenden Bestand ist gegenwärtig zwar nicht ohne Heftigkeit, aber er würde doch noch viel gewaltigere Maße aufweisen, wenn an offenem Kampf alle teilnehmen wollten, die innerlich eine bestimmte Stellung ein­ nehmen. Ob die Zukunft vielmehr allmählichen Übergang bringen wird oder schrofferen, zäheren, auch äußeren Kampf, muß dahingestellt bleiben. An­ dauernder harter Kampf muß wohl als das Wahrscheinlichere gelten. Sei es um den äußeren Kampf: wenn nur nicht soviel bitterer Kampf in unmündige Seelen getragen würde! Man hat hierbei nicht bloß an das nachwachsende junge Geschlecht zu denken, aber doch auch sehr bestimmt an dieses. Und damit gewinnt die Aufgabe derjenigen, die an Schulen Religionsunterricht zu geben haben, noch eine besondere Bedeutung, außer der, die diesem Unterricht über­ haupt innewohnt. Von den Lehrern mit seminarischer Bildung sind die meisten in die alten geistigen Formen sicher hineingezogen worden, sie haben eine abweichende Anschauungsweise kaum kennen oder jedenfalls nicht würdigen gelernt, sie sind zufrieden, einen fest gegebenen und geordneten Lehrinhalt vorzufinden und ihr pädagogisch-methodisches Können innerhalb dieses Bereiches zu be­ tätigen. Die gesamten pädagogischen Anweisungen, die ein so einflußreicher Führer wie der ehemalige Professor der Pädagogik an der Universität Leipzig Tuiskon Ziller gegeben hat, zeigen ihn hier unbeirrt auf altem, „positivem" Standpunkte. Gleichwohl ist doch ein Teil auch der Bolksschullehrer in Be­ wegung gekommen; die höheren, mehr wirklich wissenschaftlichen Studien, zu denen nicht wenige mit Eifer hinstreben, haben ihnen jene bequeme Ruhe des Standpunktes nicht gelassen, und schon protestieren gewisse Gruppen mit sehr viel Leidenschaft gegen eine Verpflichtung, die sie als Knechtung und als Veranlassung zur Unwahrhaftigkeit empfinden. Bei den durch akademische Studien regelmäßig hindurchgegangenen Lehren der höheren Schulen hat ein Maß von geistiger Bewegungsfreiheit auch auf diesem Gebiete nicht fehlen können; zum Teil mindestens ist es ihnen auch von den aufsichtführenden In­ stanzen in weitem Maße gewährt worden. Ist es ihre Berufsaufgabe, die religiösen Anschauungen der demnächstigen Generation der Gebildeten zu ge­ stalten oder doch erheblich mitbestimmend darauf einzuwirken, so haben sie sicherlich Ursache, sich nicht mit simpler Übermittlung eines altüberlieferten Lehrinhalts zu begnügen. Über die formal-methodische Behandlung hinaus erhebt sich hier mit viel größerer Bedeutung die Frage nach der persönlichen

Forderungen für den Religionsunterricht.

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Behandlung, wozu denn unterscheidende Auswahl im einzelnen, namentlich aber Ton und Stimmung, der Reflex der inneren Stellung zur Sache, gehört. Über die Wichtigkeit dieses Religionsunterrichts, über die Vomehrnheit der Aufgabe ist von je aufs schönste geredet worden; es ist auch leicht, darüber schöne Worte zu machen. Mer die innere Schwierigkeit ist viel größer, als man anzuerkennen Pflegt. Dem Erkenntnisstande der Gegenwart trotzen, hieße — auch abgesehen davon, wie schwer es einem wissenschaftlich Gebildeten fallen müßte — der Bildung für die Zukunft schlecht dienen. Und die Jugend in die Unsicherheit des Wissens auf höchstem Gebiete blicken lassen, sie in den Kampf der Geister, die Zweifel, die Negationen schon einzuführen, wie be­ denklich muß das erscheinen! Tie rechte Bermittlung zu finden, positive Wir­ kung zu tun bei Preisgabe von so vielem, was als das Positive in den weiten kirchlichen Kreisen gilt, wie schwierig! Dennoch ist die Schwierigkeit keine, die mit Notwendigkeit in der Sache selbst läge, sie wird weit mehr durch uner­ füllbare Ansprüche von der konservativen Seite her erzeugt. Daß man das innerlich Wirksame zur Wirkung bringe und das nicht Wirkungsfähige zurück­ treten lasse, es pädagogisch ausschalte, ist eine sehr natürliche und einfache Forderung. Wie gewisse Bestandteile des älteren Vorstellungsinhalts gewisser­ maßen von selbst im Laufe der Jahrhunderte zurückgetreten und versunken sind, wurde schon oben berührt. Wer vieles andere noch gibt es, das uns nichts mehr sagt, wie eifrig man ihm auch sein ehemaliges Gewicht wahren möchte. Bei der Behandlung der biblischen Geschichten des Men Testaments (deren Auswahl aus dem ganzen Bibelzusammenhang vor 200 Jahren bereits einen mutigen und großen Schritt der Befreiung bedeutete) hat schon immer die Kunst walten müssen, das ethisch Unfruchtbare, ja Ungesunde verschwinden zu lassen hinter dem lebendig Auszunützenden. Auf dieser Linie viel weiter zu schreiten ist möglich und geboten. Ein Katechismusunterricht ist in den höheren Schulen mancher Landesteile überhaupt nie eingeführt gewesen, und wenn er überall schwände, so wäre das sehr gut, denn an dieser Fessel zumal werden Lehrer und Schüler, wird die junge Generation nach der alten von den Vertretem des Men festgehalten, und eine hinlänglich freie Ver­ waltung dieses Unterrichts ist kaum möglich. Wieviel Widerstand hat doch schon überwunden werden müssen, bis die Einführung einer Schulbibel statt der vollständigen Bibel in die höheren Schulen zugestanden wurde, obwohl alle denkenden und gesund fühlenden Erzieher über dieses Bedürfnis längst einig und viele über die Verweigemng empört waren! Ist bei den Kirchenlledem gegen frühere Zeit ein bedeutender Nachlaß des einzuprägenden Quantums erfolgt, so werden doch zumeist die Lieder von dogmatischem Inhalt festgehalten, auch möglichst mit aller Kraßheit des Ausdrucks, wobei das Wohl­ gefallen der Philologen mit dem der Theologen zusammentrifft und die bellebte Bezeichnung als „Kernlieder" auch den pädagogischen Wert um so voller 16*

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Zweiter Teil. Betrachtungen und Vorschläge.

verbürgen soll. Hier wie bei den einzuprägenden Bibelsprüchen stoßen eben der kirchlich-theologische und der pädagogische Gesichtspunkt hart aufeinander. Um so emstlicher haben die Pädagogen für ihre Sache zu kämpfen, die die gute Sache so vieler jungen Seelen ist; sie müssen das Gefühl hegen und bewähren, daß in Wahrheit der tiefere Emst auf ihrer Seite ist. Das Verständliche muß über das dunkel Wortmäßige gehen, und vor allem das fruchtbar Lebendige über das formelhaft Konservierte. Das läßt denn auch ein sichereres Ergebnis erhoffen als der künstlich konservierende, der allseitig apologetische Unterricht. Falsche Erwartungen werden freilich an diesen Unterricht immer in mehr als einem Sinne geknüpft. Fragt man nicht alsbald bei Gericht und sonstwo zweifelnd und entrüstet nach der Art des Religionsunterrichts, wenn bei einem Jüngling oder Manne eine ausfallend rohe Gesinnung mit abstoßenden Missetaten hervortritt? Als ob ein Unterricht, und namentlich ein Massenunterricht, je etwas von Bürgschaft übemehmen könnte für hervorgehende Gesinnung! Haben doch auch einige Mllionen gehaltener Predigten eine Unsumme von Nichtsnutzigkeit in der Hörerwelt nicht zu überwinden vermocht. Und zu den falschen Erwartungen kommt dann vielfach auch falsche amtliche Normierung. Daß z. B. noch in neuester Zeit ein Kursus der Glaubenslehre auf der Ober­ stufe der höheren Lehranstalten an die Augsburgische Konfession geknüpft werden konnte, zeugt von erstaunlicher Unbefangenheit (um einen milden Ausdmck zu gebrauchen) bei denen, die eine solche Bestimmung erließen. Vielleicht deutet sich damit ja eine gewisse Verlegenheit an: das Historische soll herhalten, wo gegenwärtig Lebendiges nicht recht erhofft wird. Viel größer aber ist die Verlegenheit, in die man die gewissenhaftesten und sachkundigsten Lehrer damit versetzt hat; manche der besten emanzipieren sich mit Recht von dieser Norm. Gerade für die Oberstufe der höheren Schulen ist ja die ganze Frage zumeist brennend. Den jüngeren Schülern gegenüber bleibt es immer möglich, dem positiven alten Material die rechten Anregungen abzugewinnen, sofern der Lehrer recht zu unterscheiden und auszuwählen und nicht weniges unberührt zu lassen weiß; Kritik und Zweifel sind noch kaum erwacht, von den Ideen der Erwachsenen sind die Schüler schwerlich schon berührt. Aber der Oberstufe gebühren ganz andere Gesichtspunkte als die offiziell noch fast überall aufrecht erhaltenen *). Wenn es als ein Lichtblick in dem dunllen Bilde der Gegenwart empfunden wird, daß man nicht mehr in so weiten Kreisen der Gebildeten mit der Religion fertig zu sein glaubt, wie das unter naturwissenschaftlichem Einfluß geraume Zeit hindurch der Fall war, so ist es doch vor allem das Gefühl für die gewaltige Bedeutung, welche Religion überhaupt in den Gemütem der Menschen be­ sessen und bewährt hat, und welche schließlich als ein Stück des natürlichen, echten und vollen Lebens des Menschengemüts anzuerkennen ist. Diese An­ erkennung und ein neu erwachtes Bedürfnis treffen zusammen; man gewahrt

Forderungen für den Religionsunterricht.

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gewissermaßen rings um sich her (namentlich wenn man die Zeiten zugleich als Raum fassen will) Religion, man schätzt sie; man fühlt die Bewegung der großen Wogen und fühlt sich selbst in die Woge mit hineingezogen, von chr getragen und im Innersten belebt. Man sucht Religion und findet sie inmitten der Religionen, der mannigfaltigen Ausprägungen und Äußerungen. Man steht nicht am Rande und blickt als kühler Beschauer darauf, nicht als über­ legener, über das alles hinausgelangter Beobachter. An diesem Stück edelster Natur will man Anteil haben, zu dieser Natur gleichsam heimkehren, nicht aus innerer Mersschwäche, sondem um wahrer Verjüngung willen. Das ist die Stimmung, die viele der Besten durchzieht. Und es ist die, die man der dem Leben entgegengehenden Jugend zuführen kann, zuzuführen trachten soll. Namentlich auch, weil auf sie soviel triviale, negative Einflüsse wirken, weil sie int Stadium der eben erwachten geistigen Selbständigkeit dem unbedingten Zweifel und der zähen Vemeinung so leicht zugänglich ist. Und weil sie andrer­ seits sich gerade einer großzügigen Auffassung unschwer öffnet, den Schwung nicht aus der Welt weichen sehen möchte und in dieser Anerkennung beschwin­ gender Kraft innerhalb der Menschenwelt eine Genugtuung für sich selbst findet, ebenso gewiß, wie sie dem künstlichen Aufbau einer ewig bindenden, unterwerfenden Lebens- und namentlich Denkensnorm nur schwer sich im Innern fügt. So soll denn also, nachdem die untere und mittlere Stufe mit einer mehr unmittelbaren Entgegennahme des religiös Wirksamsten und Gewissesten durchlaufen ist, die Oberstufe vor allem die Religion als Geschichte anschauen und nach ihrer tatsächlichen Macht in dem Menschen empfinden; das nie endende innere Ringen um Gotteserkenntnis und Gottannäherung, um Erhebung über das Bloßmenschliche, um das Emportauchen zu vollerem Licht soll ange­ schaut, soll nachempfunden werden: das ist ein Stück echtester, höchster Bildung. Dieses stete Ringen gewinnt die jugendlichen Seelen, während das Gefunden­ haben, das Fixierthaben, das Überliefern und Auferlegen sie nur bedrückt, lähmt und leicht gleichgültig macht oder zum Widerstand reizt. Man denkt jetzt soviel an die Rechte der Jugend: hier ist eins ihrer größten. Dabei muß denn auch die Kritik als solche, die negative Kritik, gar nicht in den Vordergmnd treten; man stellt sich von vomherein auf den Standpunkt des sympachischen Begleiters der Entwicklung in ihren mancherlei Phasen. Gleichwohl wird ein rechter Religionslehrer keineswegs so weit gehen, allgemeine Religionsgeschichte mit der Kühle eines philologisch gestimmten Historikers vorzubringen und primitive Religionen, antike Gottesvorstellungen, Buddhismus, Islam usw. zu gleichen Ehren wie die großen Ideen und Stimmungen des Christentums gelangen zu lassen. Sein Hauptgebiet werden immerhin die Dokumente des Men Testaments und des Neuen und die Phasen der Entwicklung des Christen­ tums bleiben.

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Zweiter Teil. Betrachtungen und Vorschläge.

Wie leicht sind doch Jünglinge für den Schwung alttestamentlicher Poesie zu gewinnen (einer Poesie, die nicht Spiel und Traum und Schmuck, sondern wirklich Muttersprache des Herzens ist), sobald man aufhört, ihnen die Psalmen als eine Art von Lehrgedichten, als Belege zu Glaubenssätzen zu bieten, oder die Propheten als eine Art von Wahrsagem, die eine Anzahl von wunder­ samen Durchblicken auf den kommenden Messias getan haben und dämm ihre Bedeutung und ihren Wert besitzen, oder diese ganze israelitische Literatur­ sammlung samt allem orientalisch Sinnlichen und sagenhaft Ungeheuerlichen als inspirierte Gotteslehre, oder die kaum zu entwirrenden theoretischen Ge­ dankengänge eines zugleich so gewaltigen und so dunklen Suchers wie Paulus als endgültig zu übemehmende Dogmatik, über deren möglichst gründlicher Analyse und Erläutemng die Zeit für alle mehr unmittelbar religiöse Anregung verloren zu gehen pflegt; oder überhaupt die reichsten Schriften des Neuen Testaments als Repertorium von Beweisstücken für die allmählich zusammen­ gestellte kirchliche Dogmatik, und ihre einzelnen Kapitel als Rahmen für ein­ zuprägende Inhaltsangaben. Es ist dem Verfasser in einem früheren Zeitpunkt vergönnt gewesen, auszuführen, in welcher Richtung er sich die wirlliche Be­ wegung des rechten Religionslehrers denke (unter der Überschrift „Einige Fragen des evangelischen Religionsunterrichts" in „Vermischte Aufsätze über Unterrichtsziele" usw.). Erörtert ist dort, wie vielfach unzweifelhafte päda­ gogische Gmndsätze über rein theologischen nicht haben zur Geltung kommen können, wie das sonst überall gemiedene Isolierte und Unverstandene hier seine ausdrückliche Pflege gefunden habe, ebenso wieviel Trockenes, Schematisches, Unlebendiges anstatt des religiös Lebendigen und Wirkungsfähigen; dann, wie wenig das Persönliche als solches zur Würdigung gebracht zu werden Pflege, in welcher Weise eine Gestalt wie die des Propheten Jesaja oder namentlich des Apostels Paulus als solche wirksam zu machen sei; femer wie sich die Bibel­ lektüre über herkömmliche Einseitigkeit und dogmatische Voreingenommenheit erheben solle, wie mannigfache religiöse Dichtung zu würdigen sei, wie das positiv Wertvolle auch in den Ausprägungen der Vergangenheit und auch in fremden Konfessionen zur Anerkennung kommen solle, wie den reifsten Schülem ein erweiterter religionsgeschichtlicher Umblick zu gewähren sei usw. *) Alles Kopfzerbrechens wären wir ledig, wenn der nun schon oft hervor­ getretene Vorschlag angenommen würde, den gesamten Religionsunterricht aus dem Lehrplan unserer höheren Schulen zu streichen, ihn den kirchlichen Organen zu überlassen, wie das in so vielen andem Ländem längst einge­ richtet ist. Die Schulen sollen nach dieser Auffassung Lehr- und Lemanstalten sein, etwa mit dem Blick auf das praktische Leben, auf höhere wissenschaftliche Studien, auf ein allgemeines menschliches Bildungsideal. Die Religion sei „Privatsache", wie int Programm der Sozialdemokratie. Munter ist die Ausscheidung freilich auch von ganz andem Gesichtspunkten empfohlen worden:

Philosophische Vorbelehrung.

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die Schwierigkeit, die rechten Lehrer mit der rechten Befähigung und Einwirkung, dem rechten Verhältnis zur Kirche und zur Wissenschaft, vorzufinden, soll dazu drängen. Man möchte auch wohl die Religion aller betrachtenden Analyse entzogen, als ein Gegebenes auf die Gemüter wirken lassen, durch regelmäßige feierliche Verkündigung, etwa durch Schulgottesdienste, vielleicht wesentlich von liturgischem Charakter; man denkt an die Rolle, die solche ein­ fache Darbietung im englischen Schulleben spielt und zum Teil im amerikani­ schen. Aber zwischen deutscher und englischer oder angelsächsischer Geistes­ art ist ein starker Unterschied. Und was in einem Lande geschichtlich ge­ worden, lebenskräftig geworden und geblieben ist, läßt sich nicht mit gleicher Wirkung in ein anderes übertragen. Zudem hat Abschaffen eine andere Bedeutung als Nichtüberkommenhaben. Bei uns würde es gegen­ wärtig eine wesentlich nur negative Wirkung tun. Es ist in den F a m i l i e n eine innig lebendige Religiosität zu wenig allgemein. Sie kann auch nicht leicht nach englischer Art allgemein sein. Wir vermögen auf Reflexion nicht so dauernd zu verzichten wie unsere angelsächsischen Vettern. Und wir haben ein von diesen abweichendes Bildungsideal. Wir möchten gewisseren Zusammenhang und vollere Organisation der bildenden Stoffe und Ein­ wirkungen. Wir müßten fürchten, daß die reifende Jugend in den Bann inferiorer Anschauungen über ein so hochliegendes Gebiet gelangte. Es gilt, ihre Begriffe auch auf diesem Felde zu läutern, ihnen die Probleme von der Höhe aus zu zeigen, die sie sonst meist nur aus der Niedemng erblicken würden. Ob es also erwünscht sein könnte, nach jenen Vorschlägen alles Kopfzerbrechens ledig zu werden? Nein, es sind offenbar in deutschen Landen recht viele sehr bereit, sich den Kopf über diese Frage zu zerbrechen, auch femerhin, und sie werden eine Orientierung darüber oder Ermutigung dazu nicht ungern ent­ gegennehmen *). Mögen denn gewisse neue Geister die Höhe der Erkenntnis darin finden, daß es unmoralisch sei, noch christlichen Religionsunterricht in der jetzigen Welt geben zu wollen, und mögen einige allzu Unselbständige sich von einem solchen Ausmf imponieren lassen! Es wird auch in Zukunft einen Weg geben, der wirklich gesund und wirklich erfolgreich ist. Aber dieser Weg ist frellich nicht eine am Abhang hinaufführende Treppe, die man bequem und doch freudlos hinansteigt; er zieht sich frei auf der Höhe hin — auf die der ein­ zelne Religionslehrer zunächst für seine Person gelangt sein muß.

9. Es ist keine von den Klagen, wie sie gegenwärtig vor der breiten Öffent­ lichkeit erhoben werden, aber doch auch eine Klage, die man nicht überhören kann, die nämlich, daß aus den Lehrplänen unserer höheren Schulen d i e

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Zweiter Teil.

Betrachtungen und Vorschläge.

Philosophie so gut wie ganz verschwunden sei. Den natürlich, der nur ein frisches und ungetrübtes Hinleben für die Jugend wünscht und etwa eine möglichst spielende Einführung in das zum Leben in der Welt Notwendige, kann jene Frage nicht kümmem. Zurückschieben der ernsteren geistigen Zu­ mutungen bis in möglichst späte Jugendjahre ist die Losung, wie in früheren Jahrhunderten möglichst frühem Beginn die Sorge galt. Wer also vermag sich dafür zu erwärmen, daß dem jungen Geschlechte Weltweisheit zugeführt werde? Es sind doch nicht bloß die Philosophen von Bemf, die Vertreter dieser höchsten Wissenschaft an den Hochschulen, die das Interesse für ihr Ge­ dankengebiet möglichst zeitig und allgemein begründet sehen möchten. Es sind auch Laien, die ihrerseits eine abgemndete Weltanschauung gern mitbekommen haben möchten und eine solche vermissen. Wer auch Bildungsfreunde, die an dem dauemden Nebeneinander der Stoffe auf unseren höheren Schulen kein rechtes Wohlgefallen finden und ein Zentralgebiet wünschen, in das alles zusammen einmündet. Dabei fällt der Blick sowohl in die Vergangenheit sowie auf den gegenwärtigen Stand der Dinge im Auslande. Philosophie hat jahr­ hundertelang allgemein in den Lehrplänen oberer Stufen figuriert; in Öster­ reich wie in Frankreich ist sie nicht daraus geschwunden; bei uns hat sie fast während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts als „philosophische Propäbeuttf" ein nur schwaches, unsicheres, weithin ganz aussetzendes Dasein gehabt. Haben wir der Intelligenz unserer Zöglinge weniger zuzumuten gewagt? Lassen wir uns gleichmütig von Nachbam beschämen, die man nicht just als „Volk der Denker" zu bezeichnen pflegt? Doch ist in jenen Ländem die Philo­ sophie dämm auf dem Plane geblieben, weil die Einrichtung der jesuitischen Lehranstalten dort bis heute geblieben ist oder wenigstens nachgewirkt hat, und bei den Jesuiten mußte die Philosophie beizeiten erledigt werden, damit sich dann über dieser untergeordneten Wahrheit die höhere, volle, eigentliche, die theologische erhöbe. Und just weil man die Philosophie als ein Gedanken­ gebiet empfand, über das an Schwierigkeit und Bedeutung nichts gehen könne, schob man sie in deutschen Staaten über die Grenze der ganzen Schulperiode hinauf. Man konnte schon die bloß „reifere" Jugend sehr wohl damit beschäfti­ gen im achtzehnten Jahrhundert, mit jener aller Welt zugänglichen und alle Welt beschäftigenden Popularphilosophie nach Christian Wolfs und andem, die nicht tiefer gingen; aber bei den Lehren von Kant, Fichte oder Hegel konnte man nicht umhin, in der Vereinfachung eine Verflüchtigung, um nicht zu sagen, eine Fälschung, zu sehen. Oder sollte man auf der Schule in den niederen Regionen der alten formalen Logik verbleiben, die den Schülem so leer, so nichtssagend vorkommen mußte, durch die sie sich ganz und gar nicht bereichert fühlen konnten? Und in denen der alten „empirischen" Psychologie? Die war immerhin vielen interessant genug, namentlich mit ihren sauberen Lehren von den Temperamenten, oder den Leidenschaften, den Affekten usw. Aber

Philosophische Vorbelehrung.

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neuere Logik, modeme exakte Psychologie oder gar Erkenntnistheorie, Gin« führung in die geschichtliche Reihe der großen Systeme, ist dergleichen in Schulen möglich? Darf man unreife junge Leute mehr wie äußerlich einführen wollen, eine Scheinarbeit leisten oder Überreizung herbeiführen? Hat man zu ruhigem Eindringen die nötige (sehr beträchtliche) Zeit zur Verfügung? Gutem Ver­ nehmen nach wird auf den französischen Lyzeen gegenwärtig eine emstliche und erfolgreiche Einfühmng selbst in Systeme wie das Kantsche gegeben. Tie Fähigkeit, auch verwickelte Gedankenmassen durchsichtig zu machen, be­ sitzen die Franzosen wirllich vor uns anbetn: es muß nicht immer sogleich ober­ flächlichere Auffassung heißen, es ist Klarheit als Geistesanlage. Außerdem kann man sagen, daß dort die Köpfe immerhin etwas schneller reifen als bei uns (wie ja schon zwischen deutschen Stämmen oder Landesteilen in dieser Hinsicht ein Unterschied ist). Was am wenigsten schwierig zu leisten wäre, aber auch am wenigsten uns befriedigen darf, ist eine solche geschichtliche Einfühmng, die auf die Mitteitung von Schlagworten zur Kennzeichnung der einzelnen Systeme hinaus­ läuft. Es ist dies diejenige Kenntnis der Geschichte der Philosophie, die man im Munde der im gewöhnlichen Sinne Gebildeten anzutreffen pflegt; sie schließt aber weder eine wirkliche Anschauung der Gedankengänge ein, noch -ermöglicht sie eine eigentliche Würdigung des philosophischen Denkens: es erscheint so leicht, einem solchen zusammenfassenden Satze einen andem gegen* überzustellen und ihn dadurch abzutun. Und während man mit der bequemen Formuliemng die Kenntnis der entscheidenden Gedanken zu besitzen meint, zerbrechen sich die eigentlich Denkenden noch jetzt die Köpfe über den wirllichen Sinn zentraler Punkte in der Philosophie eines Plato, oder Spinoza, oder Leibniz, oder Kant. Einer rechten Bildungsanstalt würdiger erscheint also die Einfühmng in philosophisches Denken überhaupt; wie es an der Hand wohlgewählter Lesestücke aus den verschiedenen philosophischen Autoren sich ermöglicht. Viel Klarheit und Kunst des Lehrers aber ist dabei vonnöten, damit es nicht bei einem kommentierenden breiten Gerede bleibe, das ebensowohl zu verwirren wie zu erhellen vermag, und damit man nicht (wie im Unterricht so oft) eine wortmäßige Auffassung und Wiedergabe schon für sachliches Verständnis halte. .Im Gmnde werden es immer nur gewisse Köpfe unter den Schülern sein, die mit der nötigen Befähigung das nötige Interesse entgegenbringen. Aber schlechthin bei der formalen Übung im Auffassen und Nachdenken stehen zu bleiben wird sich doch nicht empfehlen. Was die jungen Menschen am meisten gewinnt, ist die Eröffnung von Problemen, wie sie wirllich — nicht die tiefsten Köpfe einmal in der Vergangenheit beschäftigt haben, sondem auch die Gegen­ wart noch oder wieder beschäftigen. Das Ubernehmensollen einer fertigen -Erkenntnis hat fast immer etwas Bedrückendes, durchaus nichts Befreiendes;

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Zweiter Teil.

Betrachtungen und Vorschläge.

und wenn auch das Selbstfinden oder das Mitsuchen bei so hohen Materien nicht alsbald beliebigen jugendlichen Individuen angesonnen werden kann, so hebt es dieselben doch schon, daß sie an die offenen Fragen als solche heran­ geführt werden: indem man die Zukunft voll großer, zu lösender Aufgaben sieht, erscheint die Zukunft selber groß und bedeutend; es ist der Mühe wert, ihr entgegenzuleben. Ties aber wird doch um so mehr fühlbar werden, wenn man in bestimmte philosophische Einzelwissenschaften hineinblicken läßt. Einige Probleme auch der modemen Psychologie, die größten und allgemeinsten sogar eher als die speziellen, lassen sich als solche wohl eröffnen. Von der neueren Logik kann schwerlich irgendwie die Rede sein; überhaupt dürfte auf logischem Gebiet die Aufllämng über die dem gewöhnlichen Denken so naheliegenden prakti­ schen Verfehlungen und also die praktische Abwehr derselben, die Erziehung zur Vorsicht im Schließen, die nächste und eigentliche Aufgabe bilden: also die Erhebung über unberechtigte Jnduktionsschlüsse, Analogieschlüsse, Schlüsse aus dem Zeichen, über das post hoc, ergo propter hoc. In der größeren Vor­ sicht des Schließens oder überhaupt des denkenden Wschließens erscheint ja der Unterschied des höhergebüdeten vom gewöhnlichen Geiste. In ästhetische Theorie einzuführen sind die Lehrer — an der Hand der poeti­ schen Lektüre — vielleicht eher zu sehr geneigt als zu wenig. Daß hier nament­ lich vor jeder aufdringlichen Normierung gewamt werden muß (zu welcher die Schule als solche seit denZeiten desWtertums nur allzu bereit gewesen ist), ist heute wohl unzweifelhafter als je zuvor, und sofern die Jugend wirklich die Seele der Gegenwart in sich trägt, wird sie dergleichen auch innerlich ablehnen und dem Lehrer sich fremd fühlen. Die Frage einer Beschäftigung mit Ethik als einem philosophischen Denkgebiete ist nicht oft erhoben worden. Meist glaubte man das ethische Gebiet dem Religionsunterricht überlassen zu müssen, diesen weder durchkreuzen zu dürfen noch ergänzen zu sollen, während in Wirklichkeit im Religionsunterricht der oberen Stufen man über den her­ kömmlichen sonstigen Materien selten Raum für eine einigermaßen selbständige Behandlung der Ethik behielt. Aber gerade auch auf diesem Gebiete sind die besseren unter den im Jünglingsalter stehenden Schülem durchaus empfänglich für die Eröffnung von Problemen, besonders nachdem chnen auf unteren Reifestufen nur fertige sittliche Normen und Vorschriften entgegengetreten sind. Sozial-ethische Fragen ebensowohl wie individual-ethische durchzu­ sprechen ist sehr wohl möglich und ist anregend in dem Augenblicke, wo man der freien inneren wie äußeren Gestaltung seines persönlichen Lebens und auch dem Miteingreifen in das Gemeinschaftsleben entgegengeht. Daß der Lehrer hier auch Vorsicht gegenüber verderblichen ethischen Theorien wecken kann, ist selbstverständlich und ist wichtig: er muß sich aber hüten, seinerseits allzu fertig und gegen mögliches Neue sich abschließend zu erscheinen. Gemeinsame Emp-

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fänglichkeit verbindet, Bereitschaft zum Suchen läßt jung bleiben. Auf diesen Gebieten gerade muß sich das Verhältnis zwischen einem nur gebenden, über­ mittelnden, auferlegenden Lehrer und einem zum Empfangen des Fertigen verpflichteten Schüler in ein anderes verwandeln, in ein solches, wie es soeben angedeutet worden ist. Nur der erfahrene Begleiter oder vorsichtige Führer soll der Lehrer hier sein, und daß von Kontrolle des Angeeigneten hier nicht die Rede ist, ist eine weitere Wohltat. Und wenn gefragt wird, ob die „philosophische Propädeutik." als ein Unterrichtsfach neben die anbetn Fächer des Lehrplans treten soll (also mit einer fest überwiesenen Stundenzahl, während des letzten Schuljahres oder der beiden letzten Jahre, denn so wird es von gewissen Freunden des Gebietes gewünscht): so steht dieser Möglichkeit der (mehr als einmal von ansehnlicher Seite gemachte) Vorschlag gegenüber, vielmehr nur dem gesamten Unterricht einen möglichst philosophischen Charakter zu wahren oder erst zu geben, unter Verzicht auf jeden bestimmten Kursus. Vielleicht ist dieser durchgehend philo­ sophische Charakter doch leichter zu wünschen als in gesunder Weise durchzu­ führen: vergeblich würde man ihn jeder beliebigen Lehrematur zur Vorschrift machen, und unmittelbarere Zwecke des Unterrichts, denen ihr großes Recht nicht bestritten werden darf, würden damnter Schaden leiden. Der Anschluß an ein bestimmtes, sonst vorhandenes Fachgebiet oder an einige derselben ist das Günstigere. Von der Naturwissenschaft aus würde heutzutage der Weg am leichtesten zur Psychologie gehen, aber von den gesamten exakten Wissen­ schaften auch zur Logik, während für gewisse Gebiete dieser letzteren auch die Naturgeschichte wertvolle Ausgangspunkte bietet (Induktion, Klassifikation). Ästhetik und auch Ethik verbleiben ebenso naturgemäß dem, was wir „deut­ schen" Unterricht nennen und was seit langer Zeit auch die Gelegenheit zu jeder Art allgemeinen, freien, sachlich tieferdringenden Denkens ergeben muß. Als Vorstufe oder Begleitung der deutschen Aufsätze (nicht als unmittelbare Be­ reitung des Materials!) sind freie Besprechungen von Fragen aus jenen Ge­ bieten durchaus am Platze und können um so fmchtbarer werden, je gewisser der Lehrer ein wirlliches Zusammenarbeiten der Schüler mit ihm hervorzumfen weiß. Viel älter bereits ist der Anschluß philosophischer Besprechungen an die Lektüre Platos und Ciceros, und daß etwas wirklich Lebendiges dabei herauskommen kann, hat sich auch in der Gegenwart bewährt *). So mag denn auch der Versuch, französische und englische Lektüre der Oberstufe aus der philosophischen Literatur zu wählen, sympathisch berühren: in Wirklichkeit muß man nur fürchten, daß nach der gesamten Lage der VerhälMisse dabei das Ziel der Spracherlemung zugleich mit dem der philosophischen Einsicht in Gefahr kommt, verfehlt zu werden. Ist Englisch leichter als Latein, so ist z. B. Stuart Will keineswegs so zugänglich wie der Autor der Tusculanen. Doch auch hier mag die entscheidende Norm sein: „Erlaubt ist, was gelingt" *).

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Zweiter Teil. Betrachtungen und Vorschläge.

Wenn der Gedanke durchdringt, daß — mindestens oder zumal für Ober­ klassen — neben einem gemeinsam verbindlichen Kemunterricht verschiedene wahlfreie Kurse zu treten haben, so ist die philosophische Einfühmng wohl ein für solchen wahlfreien Betrieb besonders geeignetes Feld: um zu gedeihen, setzt sie eben doch besonders disponierte Köpfe und die Genugtuung freiwilliger Betätigung, neben durchaus geeigneten Lehrem, voraus. Man muß auch bedenken, daß eine Schülergemeinschaft, in der die dumpfen und stumpfen, die langsamen und verlangsamenden, die schwerbeweglichen und abwärts­ ziehenden Köpfe fehlen, einen ganz andem Aufschwung zu nehmen vermag wie eine gewöhnliche Klasse, in bereit Mitte der Lehrer wie eine Sonne für die Bösen und Guten sein, sie durchaus alle durchleuchten und erwärmen soll.

10. Unter welchen Bedingungen vollzieht sich in der Gegenwart die Er­ ziehung in den Familien? Jean Paul flocht in sein schönes Buch über Erziehung, die „Levana", einen Abschnitt ein, den er „Jacquelinens Beichte" überschrieb. Er dachte ja überhaupt, im Unterschiede von den meisten Theoretikem der Erziehung, zumeist an die natürlichen Erzieher, die Eltem, und deren Pflichten und Irrungen, und auch heute, oder heute noch viel mehr als früher kommen auf zahlreiche systematische Anleitungen für Bemfserzieher nur höchst vereinzelte für die in gewissem Sinne berufensten, die Eltem, und .namentlich werden tausend absprechende Kritiken über Schulen und Schul­ erziehung laut, bevor eine einzige an die Familien und die Art, wie sie zu erziehen pflegen, gerichtet wird *). Vielleicht rächen sich hie und da die Lehrer in der Stille, indem sie untereinander von der Weisheit und Kunst der Eltem mit der äußersten Geringschätzung reden. Wer schön ist das alles nicht. Gewisse neue Zeitschriften, die auch in die Familien dringen sollen und es hie und da zu tun scheinen, verfolgen mehr bestimmte, einzelne, neue (und zum Teil fragwürdige) Gesichtspunkte, als daß sie das Ganze der Erziehungsaufgabe und die naheliegenden Verfehlungen behandelten. Und vielleicht ist ja auch eine zusammenhängende, geschlossene Lehre gar nicht das, was Wirkung ver­ spricht. Anders steht es aber doch wohl mit der Aufklärung über bestimmte, immer wieder oder gerade in der Gegenwart naheliegende Anschauungen oder Maßnahmen. Jene Beichte, die Jean Paul eine lebensfrohe junge Mutter über ihre pädagogischen Sünden ablegen läßt (und zwar vor ihm selbst, dem ernsten Sach- und Seelenkenner und liebevollen Richter), umfaßt eine Anzahl Verfehlungen, die der damaligen Generation näher lagen als der unfrigen, z. B. eine sich nie genugtuende weiche Zärtlichkeit, aber daneben viel mehr andere, die auf Gmnd menschlicher Schwäche ein Dauerleben führen.

Familienerziehung und Erziehungsanstalten.

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„Ich bekenne, daß ich nie einen Grundsatz einen Monat lang treu befolgt habe, fonbern nur ein paar Stunden; daß ich oft meinen Kindem halb in Gedanken und also halb ohne Gedanken etwas verboten habe, ohne nachher hinzusehen, ob sie gehorchten." Und so weiter. Auch eines reichlichen Vorpredigens über den Unwert alles Putzes weiß sie sich schuldig, während sie für ihre Person und diejenige ihrer Kinder diesem selbigen Putz den üblichen Kult widmete. Aber bewußt ist sie sich dieses Widerspruchs und erkennt, daß sie „zeitliche Strafe und böse Kinder" verdient habe, und sie verspricht, ihr „pädagogisches Leben" hinfort zu bessern. Matt kann wohl sagen, daß die eine der Verkehrt­ heiten seitdem selten geworden ist, nämlich die Gewohnheit, jeden Augenblick den Kindem längere Moralpredigten zu halten. Aber ist nicht vielleicht die Bereitwilligkeit, sich selbst zur Rechenschaft zu ziehen und sein „pädagogisches Leben" nach möglichst guten Gmndsätzen einzurichten, ebenso oder noch voll» ständiger geschwunden? Das Interesse der Eltem ist in unserer Zeit ganz wesentlich auf Kritik der Schulen beschränkt. Von diesen aus erwächst ihnen viel Sorge und Unbequemlichkeit, und an deren Einrichtungen nehmen sie alle Augenblicke Anstoß. So häufig auch in Schulprogrammen oder festlichen Ansprachen die Normen für ein rechtes Zusammenwirken von „Schule und Haus" entwickelt werden und dessen selbstverständliche Notwendigkeit dar­ gelegt wird: wenn man die Wirllichkeit beobachtet, so sieht man, daß die Eltem ihre die höheren Schulen besuchenden Kinder wesentlich nur bedauem, ent­ schuldigen, verteidigen. Und selbst wo sie mit ihrer eigenen Unzufriedenheit ungünstige Urteile der Schule begleiten, geschieht es vielmehr des verfehltem Erfolgs und der den Eltem selbst daraus erwachsenden Unannehmlichkeit wegen, als unter den moralisch-psychologischen Gesichtspunkten der Schule. Mitunter freilich trifft man auch einen allzu kritiklosen Anschluß an den objektiven Schultadel, leidenschaftliche Verschärfung jeder Strafe, unbedingtes Verant­ wortlichmachen für jeden mangelnden Schulerfolg, Aufrichtung noch viel starrerer Gebote, als die Schule ihrerseits sie festzuhalten Gmnd hat. Aber dieses ganze Verhältnis sei hier nicht weiter verfolgt, zumal es an andem Stellen vollständiger geschehen ist. Blicken wir auf Mgemeineres. Daß die Zeit dem Suchen nach erzieherischen Prinzipien, mindestens zu­ sammenhängenden Prinzipien und ihrer Verwirklichung nicht günstig ist, kann insofern nicht wundernehmen, als eine Gestaltung des Lebens auf der Unter­ lage von Gmndsätzen, von ruhig verständiger Erwägung überhaupt den Men­ schen der Gegenwart weit ferner liegt als gewissen vergangenen Generationen. Wie weit liegt das Jahrhundert der „Aufklämng" hinter uns, wie weit innerlich von uns ab, diese Zeit, wo man hoffnungsselig das ganze menschliche Leben immer vollständiger auf Vemunftprinzipien zu stellen, mit ihnen zu durch­ dringen, durch sie zugleich zu adeln und zu sichem meinte! Wie eine ungeheure Reaktion gegen diese Periode ist für uns die Schätzung impulsiven Lebens

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gekommen, der Glaube an das Recht des unmittelbar Empfundenen und Be­ gehrten, an das Recht namentlich auch, vom Augenblick sich seine Stimmung geben zu lassen, die Ablehnung jeder unbedingten Vollmacht des rein Geistigen gegenüber dem Natürlichen. Äußere Verhältnisse wirken mit, um eine wirkliche Zentralität des persönlichen Lebens zu erschweren. Und so ist denn auch auf innere Konzentration bei dem zu erziehenden Familiennachwuchs das Auge nicht leicht gerichtet. Ganz zurückgegangen ist z. B. die Schätzung eines ge­ schlossenen, reichen, bestimmten, zusammenhängenden Mssens als eines sicheren Wertes für das persönliche Leben. Über das Wissen als solches ist der Spott in allerlei Formen und Tonarten an der Tagesordnung. Tie Impulsivität, die für das Bewußtsein der Alten die bewahrte Jugendlichkeit bedeutet, muß um so gewisser das Recht der Kinder sein. (Daß man ihr freilich da entschieden entgegentritt, wo sie die Zirkel der Men zu stören geeignet ist, kommt reichlich vor, bedeutet aber doch nur eine Rückkehr zu den allerersten Anfängen von Erziehung überhaupt, so wie sie bei Naturvölkern und selbst zum Teil in der höheren Tierwelt geübt wird.) Den Kindem ein möglichst hohes Maß von Freiheit der Bewegung zu gewähren, ist man schon im Hinblick auf den schweren Tmck geneigt, den die unumgänglichen Schulen ihnen auflegen: es entspricht ja außerdem auch der ganzen Stimmung der Zeit, die die Entfaltungs- und Bewegungsfreiheit so hochhält und so viel davon erwartet, und paßt zu der Tatsache, daß man viel weniger nach bestimmt normierten Zielpunkten aus­ schaut, als man auf Sicherung freier Bahn bedacht ist. So ist uns denn nichts gewisser, als daß Kinder vor allem sich tummeln dürfen, und sofern das in körperlicher Hinsicht gemeint ist, liegt darin auch ein höchst erfreulicher Fort­ schritt gegen die Zeiten der früh beginnenden, unaufhörlichen Regulierung, Eindämmung, Eingewöhnung in allerlei Anstandsnormen, die früher einen so breiten Raum in der Erziehung einnahmen, Erzwingung von vielerlei Zeichen der Höflichkeit und der Demut (Auferlegung seelenkrümmender Gewohn­ heiten, wie der treffliche Jean Paul das ausdrückt, wovon denn die schlimmsten das reuige Wbittenmüssen, das Danken für gnädige Strafe, das Küssen der Rute waren). Das Übertragen jenes freien Sichtummelns auf das seelisch­ geistige Gebiet ist nun aber doch minder berechtigt. Indes kommt hier am Ende auf das rechte Maß alles an, das im einzelnen Falle gefunden werden muß, und etwas Übertreibung nach der einen Seite muß die Gegenwart sich gefallen lassen, wenn die Vergangenheit durch Übertreibung nach der andem eine Schuld aufgehäuft hat. Da wir aber soeben auf das körperliche im Verhältnis zum seelischen Leben zu reden kamen, so wird wohl sogleich anerkannt werden müssen, daß auf die Pflege, auf die möglichst volle Erhaltung, ja die möglichste Steigerung der körperlichen Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Jugend bei weitem das breiteste und wärmste Interesse gerichtet ist, gerichtet in einem Grade

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wie nie zuvor, nach immer neuen Seiten sich entfaltend, immer neue Mittel und Wege übemehmend. Es ist — namentlich wenn man wieder etwas in die Vergangenheit zurückblickt — wie wenn man jetzt die gesamte, seit Jahr­ hunderten oder Jahrtausenden geübte Bevorzugung der geistigen Seite als einen einzigen großen Holzweg empfände, von dem man nun auf das be­ stimmteste sich zurückzuwenden habe. Und so ist denn in der Erhöhung körper­ licher Widerstandsfähigkeit, in Abhärtung, in der Befähigung zu mannigfachen sportlichen Leistungen so außerordentlich viel geschehen, daß hier ein großes Verdienst der gegenwärtigen Erziehung zweifellos anerkannt werden muß; mit Beschämung tust man sich die früheren Maßstäbe und Zustände ins Ge­ dächtnis. Viel schöner freilich wäre das Errungene, wenn nicht gleichzeitig mit der Stählung der Muskeln, der Abhärtung der Haut, der Beweglichkeit der Gelenke eine so große Steigemng der Nervosität Hand in Hand ginge, und wenn diese Nervosität nicht zugleich mehrere Quellen hätte, in der äußeren und inneren Unruhe unseres Kulturlebens und in den so vielfachen überreizten Zuständen der Eltem, der Erzeuger vielmehr und der Erzieher. Ein Minus also und ein Plus machen die Rechnung aus, eine Erhöhung und eine Herab­ stimmung gehen parallel. Ob die letztere nur ein zeitweiliges Übel bedeutet, ob die Kulturmenschheit durch Akkommodation oder durch neue Lebensein­ richtung zur Medergewinnung früherer Nervenkraft gelangen wird, läßt sich nicht voraussagen, kann nur erhofft werden. Jedenfalls, ihre Kinder gesund zu sehen, ist das erste, das beherrschende große Anliegen der meisten Eltem von heute, ein Ziel, gegen welches ihnen andere als durchaus untergeordnet oder als von außen aufgenötigt erscheinen. Gesund und nächstdem: glücklich. Ob das möglichste Wohlbefinden, die „Glückseligkeit", wie man im 18. Jahrhundert sagte, das Ziel der Erziehung des Individuums bilden dürfe, darüber hat man sich lange Zeiten hindurch immer wieder gestritten, und im allgemeinen ist dieser „Eudämonismus" von strengeren Gesichtspunkten aus dem Felde geschlagen worden. Mer daß die natürlichen Erzieher mit ihrer natürlichen Liebe für die Erben ihres Blutes Glück zum Ziele nehmen oder doch ersehnen, das wird wohl immer selbstver­ ständlich und auch unanfechtbar bleiben. Es kommt darauf an, worin dieses Glück gesucht wird, und in welche Beziehung es zu idealeren Zielen gelangt. Daß man gegenwärtig dieses Verhältnis einfach so zu sehen pflege, wie es in jenem Jahrhundert der Aufllämng geschah und wie übrigens auch schon im Altertum, nämlich als sicherste Bürgschaft des Glückes die Tugend, das trifft offenbar nicht zu. Es wird in unserem auf konkrete Werte hinstrebenden Zeitalter doch wohl weit allgemeiner der Erfolg sein, der Erfolg im Leben, worin man das Glück sieht. Damm immer wieder der Ruf nach einer Er­ ziehung oder Bildung für das Leben (womnter man tatsächlich sehr Ver­ schiedenes verstehen kann, sehr Richtiges wie ganz Unzulängliches). Damm

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Zweiter Teil. Betrachtungen und Vorschläge.

ferner auch — allerdings durch die äußeren Kulturverhältnisse begünstigt — das Streben, das junge Geschlecht beizeiten weltsicher zu machen. Tie Anschauung, daß dasselbe eine geraume Zeit hindurch vielmehr weltfremd bleiben dürfe oder solle, daß Sammlung und Vertiefung in engem Lebens­ kreise das Wünschenswerte sei, daß eine gewisse Verlegenheit der Jugend nicht übel anstehe, daß Scheu vor Fremden zur echten Kindlichkeit ganz wohl passe, diese alte, doch wohl echt deutsche Anschauung ist fast allerwärts geschwunden. Schon die üblich gewordenen regelmäßigen und immer weiter ausgedehnten Reisen der gesamten Familien bringen solche Wandlung mit sich. Das „Über­ all bin ich zu Hause" können nun schon zahllose halb oder ganz Unerwachsene von sich rühmen; überall vermögen sie sicher und unverlegen aufzutreten, sie sind jeder Öffentlichkeit — nicht bloß, wie von je, derjenigen der Straße — gewachsen. Daß ein immer größerer Bruchteil der Nation in Städten auf­ wächst und von diesem ein immer größerer Teil in Großstädten, kommt hierbei fördernd in Betracht. Tie mit dieser Tatsache verbundene Entfernung vom Naturleben, von einem gewissen regelmäßigen Verkehr mit der Tierwelt, von möglichen natürlichen Beziehungen zum Leben der Erde und ihrer Gewächse ist so oft bellagt worden, daß man dabei nicht besonders zu verweilen braucht. Wäre etwa der Ferienaufenthalt in einer großartigen fremden Gebirgswelt der rechte Ersatz für das mangelnde Regelmäßige? ein zoologischer Garten, ein Etablissement „Flora" Ersatz für treulichen Verkehr mit der Bewohnerschaft einiger Stallungen oder für das Hantieren in einem Garten? Es gibt zwar keine ewige Norm für das, was den einzelnen Mersstufen der Jugend gebührt; das verschiebt sich offenbar einigermaßen mit veränderter Kultur: aber jedenfalls ist, gegen eine noch ziemlich nahe Vergangenheit gehalten, eine stärke Verfrühung in gewisser Hinsicht gleichzeitig mit Verspätung in anderer gegenwärtig zu beobachten. Mit dem Beginn zusammenhängenden Lernens hält man immer mehr zurück in derselben Zeit, wo man die Befähigung zu sicherer Bewegung in der Welt nicht früh genug anstreben kann. Ist das gleichbe­ deutend mit der Bevorzugung der Wlllensbildung vor derjenigen des Intellekts? Vielleicht faßt man das Verhältnis so auf, das doch in Wirklichkeit viel kompliziertere Probleme einschließt. Der in seiner Größe als pädagogischer Denker gegenwärtig wie früher allerwärts gerühmte Pestalozzi konnte noch als Ausgangspunkt aller rechten Erziehung für das Leben die „Wohnstube" betrachten, von dem Leben in ihr, inmitten aller Familien- und Hausangehörigen, dem Reichtum ihrer Beziehun­ gen, von der Teilnahme an den gemeinsamen nützlichen Arbeiten wie den harmlosen Freuden die echte Wertbildung für Geist wie Gemüt erwarten. Er dachte dabei freilich an das „Volk", an die Mütter aus dem Volke als die natürlichen Hüterinnen aller dieser Werte. Aber mußte das „Volk" mit der Schicht der „Keinen Leute" gleichbedeutend sein? In Wirllichkeit gab es diese

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Bedeutung der Wohnstube weit über eine solche Schicht hinaus aufwärts. Nun ist die Welt viel wohlhabender geworden und ihre Lebenseinrichtungen viel großartiger. Ein sehr ansehnlicher Teil der Nation bewegt sich auf eine Lebenshaltung hin, wie sie ehedem die hochgestellten Familien kennzeichnete. Eine mehr zentrifugale Tendenz ergibt sich von selbst, wird aber auch durch anderes gefördert. Tie Klage, daß der Familienvater von der Last und Hast seines geschäftlichen Tuns nicht Zeit übrig behalte für eine nennenswerte Teilnahme am Leben der Seinen, ertönt von allen Seiten; und daneben ist die Zahl der mit ihrem Interesse viel zu sehr nach außen gewandten Mütter bekanntlich groß genug. Daß ein verständnisvolles und fördemdes Begleiten der Studien der Kinder des Hauses den Eltem noch möglich wäre, kann man aus mehr als einem Gmnde nicht erwarten. Me oft bezahlte Nachhilfe aus mehr äußeren Mcksichten und ohne rechte innere Notwendigkeit beschafft wird, weiß man namenllich in Großstädten und zumeist in den dort reichlich vertretenen protzenhaften Famüien. Der bildende und echt erziehende Wert guter und einfacher Hausmusik wird selten noch erkannt; regelmäßiges Vorlesen guter Bücher sollte man sicherlich viel allgemeiner Pflegen. Und was die stille Lek­ türe der jüngeren Mtglieder der Familien betrifft, so unterbleibt eine Über­ wachung der Auswahl offenbar viel häufiger, als sie geübt wird, und das in einer Zeit, wo die Literatur stolz darauf ist, von Jahr zu Jahr Fortschritte zu machen in der rückhaltlosen Darstellung alles dessen, was ehedem Scham zu verhüllen und zu verschweigen gebot, wie denn auch der Besuch von Theater­ vorstellungen vielfach mit—man kann nur sagen —sträflichem Leichtsinn ge­ stattet wird *). Von Scham vor sittlich korrumpierenden Einflüssen ist in der Familienerziehung gegenwärtig eben wenig zu spüren. Hält man es für nötig, daß die jugendlichen Menschen mit allem Nichtsnutzigen beizeiten in Be­ rührung kommen, damit sie innerlich abgehärtet werden? Daß über diese große Frage, inwieweit Behütung vor den Eindrücken des Schlechten und wieweit ein Waltenlassen solcher Eindrücke für die verschiedenen jugendlichen Mersstufen und die Geschlechter das Rechte sei, sich seit Jahrtausenden manche der edelsten und bedeutendsten Menschen besonnen haben, ahnt man nicht; jedenfalls scheint man sich selbst nicht sehr darüber besinnen zu wollen. Oder ist es das Gefühl, daß inmitten der Welt von heute eine Bewahrung ja doch nicht möglich sei, daß schon öffentliche Einrichtungen sie vereiteln? Das letztere wäre freilich schwer zu leugnen. Doch darüber ist an anderer Stelle unseres Buches geredet worden *). In der Tat, der ungünstigen Bedingungen für die Erziehung in der Fa­ milie und der entgegentretenden ungünstigen Züge sind nicht wenige. Man kann hinzufügen, daß, je tiefer die Beobachtung dringt und je weiter die Er­ wägung geführt wird, um so weniger einfach das ganze Geschäft der Erziehung erscheint, gerade soweit sie wesentlich die Familie angeht, also die erzieherische M ü n ch, ZukunstSpädagogtk. 3. Aufl.

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Behandlung der frühesten Jahre (der eigentlichen Kindheitsjahre) und weiterhin die Bildung des Gemütes umfaßt. Ganz und gar nicht einfach, nämlich insofern dieses Geschäft sich in einzelnen Maßnahmen erschöpft, deren Berech­ nung für die einzelnen Individuen, Stufen, Zustände, Beziehungen endlos und deren jedesmalige und sofortige richtige Wahl kaum von der höchsten menschlichen Weisheit zu erwarten wäre. Zum Glück ist denn für den Ausfall der Erziehung weit wichtiger und maßgebender als alle solche einzelnen Maß­ nahmen der allgemeine Geist und Ton, welcher in dem umgebenden Lebens­ kreise, hier also der Familie, herrscht. Von solchem rechten Geist oder seelischen Ton wird man schließlich mit Benutzung eines biblischen Wortes sagen können: er wird bedecken die Menge der Sünden, d. h. hier der falschen Maßnahmen. Aber neben diesem Troste läßt doch auch noch anderer sich finden. Von jener oben erwähnten spontanen Regenerationsfähigkeit ist auch für die Richtung der Famllienerziehung etwas zu hoffen. Nach der Periode des möglichsten Gewährenlassens, des Glaubens an die wertvollen Ergebnisse der freiesten Selbstentfaltung dürfte sich von selbst wieder eine Periode einstellen, in der man vor allem auf wertvolle Zielsetzung bedacht ist; man dürfte des nach allen Seiten in die Weite strebenden Lebens mit der Zeit müde werden und wieder mehr Sülle und Stetigkeit suchen. Daß Irrwege auch weiten Kreisen als solche fühlbar werden, darf man immer hoffen. Zwischen den sich jetzt meist so un­ freundlich gegenüberstehenden Parteien, Schule und Haus, muß und wird sich ein besseres Verständnis und Zusammenwirken anbahnen lassen. Vor allem bringen, so gewiß auch die Neugeborenen mit dem Erbe bestimmter Eigen­ schaften oder Keime in das Leben hereintreten, die jungen Generationen immer ein großes Maß freier Bildungs- und Umbildungsmöglichkeit mit. Ungünstige Zeitbedingungen mögen mit der Zeit entschwinden und ungünstige Gewohnheiten durch andere abgelöst werden. Auf den natürlichen Wandel der Dinge darf man viel Hoffnung setzen, wo die gegenwärtigen Tinge viel VersÜmmung bringen. Eine sehr praküsche Frage gewinnt neuerdings für uns eine Bedeutung, die ihr lange Zeit ganz zu fehlen schien, nämlich die nach dem Wert eigent­ licher Erziehungsanstalten im Unterschied von bloßen Schulen. In dieser Frage stand das Ausland bisher ganz anders als wir, und gegenwärüg findet gewissermaßen auf beiden Seiten zugleich eine Selbstbesinnung statt. Ob es besser sei, heranwachsende Knaben in größerer Gemeinschaft von Alters­ genossen oder möglichst als einzelne im Schoß der Familie und unter deren bestimmter Überwachung erziehen zu lassen, darüber hat man sich schon im Mtertum sehr ernstlich besonnen, wenigstens in der späteren Zeit, wo das In­ dividuum nicht mehr lediglich als Glied der staatlichen Lebensgemeinschaft betrachtet wurde, und weiterhin immer von neuem, wesentlich so, daß die Bor-

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teile der einen Erziehungsweise in Zeiten zum Bewußtsein gebracht wurden, wo die entgegengesetzte überwog. Auf die Klosterschulen des Mittelalters, in denen ein dem Mönchsleben nahekommendes Zusammenleben selbstverständlich war, und die ähnlichen, unter geistlicher Verwaltung stehenden Anstalten folgten nach der Reforma­ tion, zum Teil in den Räumen der alten Klöster, protestantische Fürsten- oder Landesschulen und ihnen gegenüber alsbald auch die bekannten und zahlreichen Anstalten der Jesuiten oder anderer geistlichen Orden. Tie französischen Ly­ zeen sind bis auf den heutigen Tag ganz wesentlich Jntemate, weil sie in ihrer Organisation, trotz allen Umwälzungen und trotz allem neuen Geiste der Zeiten, Fortsetzungen jener geistlichen Anstalten sind, und die bekannten engli­ schen höheren Schulen sind es ebenfalls durch Kontinuität ihres Daseins oder doch ihrer Prinzipien seit mittelalterlichen Zeiten. „Tagesschüler" sind nicht ausgeschlossen, und ihre Zahl hat sich auch allmählich vermehrt, aber an dem organischen Leben des Ganzen nehmen sie eben nicht teil, und dieses Leben ist ein eigenartig organisches, nicht bloß ein äußerlich organisiertes. Man übergibt in Frankreich seine Söhne jenen Jntematen, weil sie die gegebene Form für die Ausbildung der Jugend sind, weil man eines bestimmten Erfolges ziemlich sicher ist, weil sie eine anerkannte und sozial sich fühlbar machende Bildungsweihe verleihen, und auch weil man damit aller bestimmteren Selbst­ verantwortung ledig ist; den Eltem wird die Erziehungspflicht unbequem, zumeist um ihrer allzu großen natürlichen Zärtlichkeit willen. Wenn man in England gegenwärtig große Stücke auf die Erziehung in den Jntematsschulen hält, von ihr für die jungen Insassen eine Charakterbildung erwartet, wie sie das Leben außerhalb nicht zu geben vermöge, so hat sich diese Überzeu­ gung doch erst nachträglich begründet, während die Entstehung dieser Er­ ziehungsform keine andere ist als die in den anbetn christlichen Ländem. Und daß man in derselben Zeit, wo solche Überzeugung in England allgemein lebendig und ganz unerschüttert ist, in Frankreich an dem Wert der Jntemate nicht etwa bloß hie und da zu zweifeln beginnt, sondem ihn von vielen, sehr ansehnlichen Seiten aufs leidenschaftlichste geleugnet sieht, mag sehr seltsam erscheinen. Es zeigt aber eben, daß Jntemate etwas sehr Gutes sind, wenn sich ein guter Geist darin gebildet hat und erhält, und etwas sehr Schlechtes, wenn das Gegenteil der Fall ist. Und einen guten Geist durch möglichst feste Organisationsbestimmungen oder besonderen Eifer der Überwachung zu er­ zeugen und zu sichem, ist erfahmngsgemäß nicht möglich. Es bedarf anderer erzieherischer Weisheit, um ihn erhoffen zu dürfen. Auch kann durch den Einfluß überragend edler Persönlichkeiten ein günstiger Wandel hervorgerufen werden, wie das in England vor 70 Jahren durch Thomas Amold geschehen ist; aber das ist ein Glück, mit dem die Menschheit nicht rechnen kann: ein ethisches Genie ist weit seltener als ein künstlerisches. So ist denn das Auf17*

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geben des Prinzips der Internate in Zeiten, wo man von ihrem Innenleben nichts Gutes mehr sagen kann, vielleicht das einzig Verständige. Nun aber hängt das innere Gedeihen oder Nichtgedeihen doch auch an Unterschieden der nationalen Wesensanlage und des national-kulturellen Geistes. Ohne daß wir diese psychologische Analyse hier zu geben versuchen, können wir sagen, daß das englische Blut und das dortige nationale Leben günstige Bedingungen dafür einschließt und das französische ungünstige. Wie ist es mit uns in Deutschland? Es stand im Mittelalter kaum anders als sonstwo. Aber in der Zeit des Humanismus und der Reformation ist neben den fortgeführten oder neu errichteten Internatsschulen eine Menge von Schulen entstanden, die aus­ drücklich Lemschulen für die Stadtkinder oder die der Nachbarschaft sein sollten. Man erwartete eben vom Semen, vom Lateinlernen und was sich daran reihte, von Mssen und Wissenschaft bei uns vollere Früchte und maß ihnen größeren Wert bei als anderswo. Und die angesehenen Fürstenschulen wie Pforta, Grimma, Meißen und dergleichen sollten doch auch nur um so vollere Lerngelegenheiten bedeuten, sollten guten Köpfen als solchen zur Entwicklung helfen. Ein allgemeineres Erziehungs- und Büdungsideal verfolgten im 17. Jahrhundert die Ritterakademien, aber ein wesentlich äußerliches oder exllusiv aristokratisches, und viel Bedeutung im nationalen Leben haben sie nicht erlangen können. Weit größere haben bekanntlich auch in gewissen deutschen Landen die Jesuitenschulen gewonnen. Auch die im letzten Teile des 18. Jahrhunderts aufgekommenen Philanthropine, die ja ausdrücklich die jugendlichen Menschen viel mehr erziehen als nur lehren wollten und auf wohl­ bedachten Erziehungsprinzipien sich aufbauten, sind wohl noch weniger als jene Ritterakademien für eine größere Zahl deutscher Sprößlinge wirksam geworden, während ihre didaktischen Gmndsätze, die schlechten mit den guten, immerhin eine weitere Verbreitung gefunden haben. Und so haben wir im ganzen 19. Jahrhundert außer vereinzelten, aus älterer Zeit fortdauernden Internaten, wie neben Schulpforta, Joachimstal namentlich die württembergischen „Klosterschulen", wesentlich nur hie und da Versuche der Angliedemng von „Mumnaten" an bestehende gewöhnliche Schulen, für eine kleine Zahl solcher auswärtigen Schüler, deren Eltern eine besondere Gewähr der Beaufsichttgung und Fürsorge für sie wünschten: vielfach deshalb, weil besondere Erziehungsschwierigkeiten sich ergeben hatten, irgendeine Minderwertigkeit schon dargetan war. Und ein in erhöhtem Grade zum Erziehen befähigtes Personal war keineswegs verbürgt. In Ermangelung zugänglicher besserer Gelegenheiten sind dann zahlwse junge Besucher der höheren Schulen in be­ liebigen Bürgerhäusern einquartiert worden, wo von einer erzieherischen Leitung ganz und gar nicht die Rede war, die früh Entwurzelten vielmehr alle Gelegenheit hatten, sich gegenseitig zu verderben. Tie Aufnahme irgendeiner

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größeren Zahl von Schülem in das Haus eines der Lehrer wurde nie mit günstigen Augen angesehen, während diese Einrichtung in England nicht bloß unangefochten besteht, sondem sehr geschätzt wird. Das Bedürfnis hat sich ja mit der Vermehmng der höheren Schulen, die nun in keiner Stadt fehlen, sehr vermindert. Aber andere Umstände haben es doch neuerdings wieder in höherem Grade fühlbar gemacht. Die Anzahl der (Stiem, die in der Hast und Anspannung des heutigen Lebens nicht mehr die Muße oder die innere Sammlung zur Erziehung ihrer heranwachsenden Sprößlinge finden, ist sehr groß geworden, und die Zahl derjenigen, die das selber fühlen, nicht mehr ganz gering. Dabei sind auch diejenigen häufiger geworden, denen ihr Wohlstand die besonderen Ausgaben für eine auswärtige Erziehung erlaubt. Und das Leben in viel mehr Städten als ehedem hat den Charakter des Großstädtischen gewonnen, mit allem nicht bloß Zerstreuenden und Gefährdenden, sondern auch Einengenden, namentlich innerlich Ein­ engenden, was das Großstadtleben mit sich bringt. Hinzu kommt, daß man nicht mehr wie früher an den Wert des bloßen Lernens, des schulmäßigen Wissenserwerbs, glaubt, daß man von jenen englischen Erziehungsanstalten als solchen eine große Meinung gewonnen hat, daß man vielseitige Gelegen­ heit zu einem harmlosen und erfreulichen Sichausleben der Jugend, Beziehun­ gen zur Natur, tüchtige körperliche Spiele, gute kameradschaftliche Lebens­ beziehungen sehr zu schätzen begonnen und als Mttel gesunder Persönlichkeitsbildung betrachten gelernt hat. Und so ist das Bedürfnis geschlossener, wohl­ organisierter Erziehungsanstalten gegenwärtig objektiv dargetan, wie es sub­ jektiv immer lebenbtger zu werden scheint. Auch verdient, was in dieser Hinsicht bis jetzt bei uns versucht worden ist, offenbar Vertrauen, und man darf weitere Entwicklung getrost wünschen. Von Lösterlicher Einschränkung ist man dabei natürlich ebensoweit entfernt wie andrerseits von (körperlicher oder seelischer) Verweichlichung. Kommt zu den in großem Stil betriebenen Turnspielen ein Maß von wirllicher ländlicher Arbeit, so ist's um so erfreulicher. Daß das Zusammenleben von Lehrern und Schülem sich durchaus nicht als ein bestäMges Beaufsichtigen und Beauf­ sichtigtwerden, Regieren und Regiertwerden vollzieht (wie seit den Zeiten der Jesuiten noch jetzt in französischen Internaten), sondern wirllich als gemein­ schaftliches Leben, macht die ersteren tatsächlich zu um so besseren Erziehern und nicht wenige von ihnen überhaupt erst zu Erziehern. Wenn es zur prakti­ schen Bemfsausbildung gehörte, daß jeder ein Jahr in einem solchen Erziehungs­ heim mitgelebt und sich betätigt haben müßte, so wäre das sehr gut *). Übrigens deutet sich mit diesem Namen Erziehungsheim im Unterschiede von Anstalt schon richtig an, welcher andere, welcher freie und gesunde Geist darin wohnen soll: ein Mit- und Füreinander, nicht ein bloßes Gegenüber oder ein Über­ und Unter- oder ein geheimes Gegeneinander. Man muß bei uns die

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Vermehrung dieser Erziehungsgelegenheiten wünschen. Es kann eine neue Periode deutscher Erziehung damit anheben. Es kann hier auch im ein­ zelnen manches neu versucht werden, was Ausgang werden mag für allge­ meinere Regelung; aber nicht etwa soll wieder alsbald zur Gleichmacherei hingestrebt werden. Und zahlen müßten die einzelnen nach dem Maße ihrer wirtschaftlichen Lage. Denn keineswegs sollten diese Organisationen nur private Untemehmungen bleiben. Aber wird nicht, diese Frage erhebt sich doch schließlich, damit das natür­ lichste und gesundeste Prinzip verlassen, daß die Erziehung durch die Familie und im Schoß der Familie so lange erfolgen solle, als die Umstände das nur ermöglichen, daß die Loslösung und die Vereinigung vieler in der Fremde nur ein roher Ersatz, ein Notbehelf sein könne und namentlich eine feinere Gemütsbildung darüber versäumt werde. Diese Anschauung setzt jedenfalls ein Familienleben von sicherem Werte oder setzt feine und zarte Naturen bei den Zöglingen voraus und paßt andrerseits am ehesten auf Erziehungsanstalten schlechteren Stils, mit zu zahlreichen Insassen und äußerer Reglementierung. Daß es nicht bloß äußere, sondem auch innere Zustände der Gegenwart sind, welche die Familien von jenem Ideal sehr weit entfernt zu halten pflegen, braucht nicht nochmals dargelegt zu werden.

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Wenn es oben bei der Besprechung des universalistischen Charakters unserer Unterrichtspläne auch zur Sprache kam, wie von mancher Seite jeg­ liches Auseinandergehen in Bildungsstoffen und -zielen als eine Gefahr für die innere Einheit in der Nation oder doch in der führenden Schicht derselben beklagt werde, so konnte schon dies Anlaß geben auch zu einem Blick auf den Mädchenunterricht. Denn diesen ausdrücklich dem Knabenunterricht anzugleichen, ist ja eine seit einiger Zeit lebhaft erhobene Forderung: allerdings nicht bloß oder nicht gerade unter dem Gesichtspunkt, daß nur dort die rechte universelle Blldung verwirllicht sei, sondern auch aus einem allgemeinen Streben nach Rangerhöhung. Es spielen indessen bei der Frage des künftigen höheren Mädchenunterrichts mannigfache Rücksichten durcheinander, und die Forderungen (die in den kritischen Teil unseres Buches nicht einbezogen wurden) haben untereinander sehr verschiedenen Inhalt. Daß die ganze Frage der weiblichen Bildung von je sehr weit hinter die der männlichen hat zurücktreten müssen, und zwar bei den pädagogischen Denkem sowohl wie bei den prakti­ schen Organisatoren, ist bekannte Tatsache, die sich ja freilich kulturgeschichtlich unschwer erllärt. Allerdings fehlen auch in der Vergangenheit bedeutende Persönlichkeiten nicht, die ausdrücklich den Fragen der weiblichen Erziehung

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ihr Sinnen zugewandt haben: Fsnelon ist einer der bekanntesten Namen; eine ganze Reihe französischer Frauen, namentlich im 19. Jahrhundert, hat dem Gebiete schätzbare, zum Teil sehr feinsinnige Bücher gewidmet. Das Werk der französischen Schweizerin Mme. Necker de Saussure übertrifft die anbetn noch an Wert. Rousseau fügte seinem Emil wenigstens ein Buch „Sophie oder über weibliche Erziehung" an. Ein Pestalozzi strebte so ernst in die Tiefen allgemeiner Menschennatur, daß der Unterschied der Geschlechter bei ihm kein Gewicht haben kann, und eine die ganze Jugend wie die Menschheit mit wärmstem Herzen umfassende Natur wie unser Jean Paul widmet ausdrücklich der weMchen Mldung als solcher große Abschnitte seiner Erziehungslehre. Interessanter natürlich als diese äußere Stellung zur Frage ist die innere; und hier zeigt sich, daß auch in der Vergangenheit zuzeiten möglichste Gleichartigkeit mit der Knabenerziehung und dann wieder völlige Entfemung von dieser ihre großartige Vertretung gefunden haben. Wer soll uns maßgebend sein? Als Plato in seinem Buch vom Staate die für die Erziehung der Knaben ausgestellten Normen möglichst voll auch auf die Mädchen ausgedehnt wissen wollte, kam es ihm offenbar darauf an, die Zurücksetzung des weiblichen Ge­ schlechts zu seiner Zeit und bei seinen Landsleuten als etwas Willkürliches, Ungerechtes, auch Unpraktisches zu bekämpfen; daß er in das Wesen der weib­ lichen Natur und ihre seelisch geistigen Bedürfnisse einen Einblick getan habe, verrät sich nirgend: indem er eine Schranke der griechischen Kultur durch­ brechen will, zeigt er sich doch selbst von der Schranke seiner Lebenssphäre umfangen. Das ganze Mertum würdigt kaum hie und da einen Eigenwert des Weibes. Wenn später mitunter die Humanisten für die höher zu blldenden Mädchen einen gleichen Unterrichtsgang forderten wie für die Knaben, so war in ihren Gesichtskreis eben eine andere Möglichkeit von Geistesbildung oder persönlicher Wertbildung nicht getreten; die glückselige Selbstzufriedenheit, mit der sich die Humanisten in ihrer auf literarischer Rezeption und Nachahmung bemhenden geistigen Ringschule bewegten, gönnten sie auch den lernbegierigen Jungfrauen, und so ist eine Anzahl von Gelehrtentöchtern und Prinzessinnen zur Konkurrenz mit den männlichen jungen Humanisten herangebildet worden, sie haben griechische und lateinische Autoren aller Art gelesen, um chnen die Kunst der Phrasen und Wendungen zu entnehmen und sich in Versen nach ihrem Modell zu versuchen. Doch das betrifft eben bloß die intellektuelle Seite: daß die Gemütsbildung wesentlich durch volles Mitleben in der kirchlichen Religiosität verbürgt werden müsse, galt namentlich auf romanischem Boden als selbstverständlich; und selbst Rousseau stellt die Erziehung seiner Sophie in dieser Hinsicht auf eine ganz andere Grundlage als die seines Emil. Nament­ lich in Frankreich ist es bekanntlich noch weithin herrschende Anschauung, daß für das Weib die gegebene Religion mit allen ihren Satzungen und namentlich Zeremonien da sei und bleibe und für den Mann eine kühle Freigeisterei.

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Zweiter Teil. Betrachtungen und Vorschläge.

Muß diese Art des Auseinandertretens der beiderseitigen Bildungslinien als eine durchaus unbefriedigende bezeichnet werden, so ist andrerseits doch gerade auch in der höchstgebildeten Sphäre, auf die wir zurückblicken können, in der Zeit unserer dichterischen Klassiker und all ihrer edlen Lebensgenossen, das Gefühl für die freie und tiefe Wesensverschiedenheit der beiden Geschlechter sehr entwickelt. Und wäre es verwunderlich, daß da, wo man das echte Men­ schentum am vollsten zu verwirllichen strebt, auch die tiefgründigen Unterschiede, welche die Natur mitgegeben hat, gewürdigt und vielmehr verllärt als zuge­ deckt wurden? In der Tat kann es keine schönere Auffassung von dem sich gegenübertretenden Wesen der beiden Geschlechter geben, als wir sie in den llassischen Schriftstellem der Zeit um 1800 an vielen Stellen finden. Allerdings doch nicht ohne daß die tatsächlichen kulturellen Verhältnisse der Zeit die Auffassung mit beeinflußt hätten. Jean Pauls Äußemng z. B., daß die Frauen ein geborenes Stubengeschlecht seien, erllärt sich leicht aus betn Lebens­ und Gesichtskreis des Dichters, der schwer über die Schranken damaliger deutscher Kleinstädte hinausflog — außer gelegentlich direkt in den Himmel, von wo aus er denn auch eine sehr schöne Beleuchtung der irdischen Dinge, die weibliche Wesensbesttmmung mit eingeschlossen, hemiederbrachte. Im ganzen aber weist das weibliche JdealbLd jener guten Zeiten freilich soviel Rezeptivität, Passivität, Stille, Innerlichkeit auf, daß der rollende Wagen der Zeit auf seinen harten Wegen dieses edle Gut nicht unerschüttert bis in die Gegenwart zu führen vermochte, oder vielmehr, daß auch die ganze Anlage des Geschlechtes darin nicht zur Geltung kommt. Ist es doch überhaupt un­ möglich zu sagen, wo die Grenze liegt zwischen Natur und Notwendigkeit einerseits und tatsächlicher Kulturwirkung andrerseits, was ursprüngliche Natur heißen darf und was gewordene. Tie praktische Bemachlässigung der weiblichen Bildung gegenüber der­ jenigen der männlichen Jugend ist keineswegs lauter Schaden gewesen. Na­ türlich war die Hinlenkung auf bloßen äußeren Schliff, auf die Verkehrskünste des Salons unter Verzicht auf wertvollere Gmndlagen (wie diese Richtung übrigens doch im Ausland stärker in Geltung war als bei uns) wirklich ein großer Schaden, und an dem, was über weibliche Oberflächlichkeit tausendfach gellagt werden mußte, ist unzulängliche Bildung zu einem großen Teile schuld. Aber das minder Zusammenhängende, das minder Vollständige, das geringere Gewicht des logisch Verbundenen hat eben doch auch der stillen Selbstentfaltung und der Unmittelbarkeit ihre Kraft gelassen, und niemand wird behaupten können, daß die Intelligenz, die Urteilsfähigkeit, das Weltverständnis, das geistige Interesse der Frauen der geblldeten Stände dem der Männer soviel nachstünde wie Zeit und Umfang des planmäßigen Lemens auf beiden Seiten. Gerade für jene Kraft des füllen geistigen Auswachsens läßt sich ein stärkeres Zeugnis gar nicht finden als diese Art von tatsächlicher Ebenbürügkeit bei so

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ungleichen Vorbedingungen. Freilich wird Ebenbürtigkeit leichter immer da empfunden, wo nicht ein völliges Zusammenfallen der Strebensziele oder -linien vorliegt. Tiefes völlige Zusammenfallen also ist ja in unserer Zeit das Programm vieler geworden. Innere Antriebe wirkten zusammen mit äußeren, und die letzteren hatten wohl mehr Bedeutung, auch für die inneren, als es scheint. Neue Schwierigkeiten des äußeren Lebens sprachen ihr starkes Wort; das auf sich selber Angewiesensein so vieler, denen sich ehedem bequeme Anlehnung geboten hätte, trieb die Kraft der Selbständigkeit heraus, und diese, einmal geweckt, pocht dann an allerlei Pforten, die sich seither nicht öffnen wollten; irgendwo zu müssen, macht, daß man kann und will — auch anderes als man muß. Eine gewisse Bitterkeit macht sich fühlbar gegenüber dem beherrschenden und seinerseits so ganz unabhängigen Geschlecht, mit dem man nun auf möglichst vielen Punkten voll zu konkurrieren wünscht, anstatt ihm nur begleitend zu folgen. Ja, die einmal geweckte Reaktion gegen das, was jahrhundertelang un­ angefochten galt, schäumt nun über und greift bekanntlich hinüber in die Sphäre des elementar Sittlichen; unverhüllt wird selbst für den Drang der niederen Sinnlichkeit neues Recht verlangt; roh Natürliches verbindet sich mit Raf­ finiertem und Forciertem, und natürlich gesetzte Grenzen möchte man austilgen. Ties die häßlichen Züge des Bildes. Nicht unter dieses Urteil fällt der an so vielen Punkten hervortretende Drang nach Aktivität, der sich zuerst auf dem Gebiete der spielenden körperlichen Betätigung gezeigt hat: seit das „Stubengeschlecht" von ehedem sich mit auf Schwimmen, Schlittschuhlaufen, Radfahren und alle die ähnlichen Übungen geworfen hat (was alles zusammen noch nicht viele Jahrzehnte her ist, während früher nur vereinzelte sozial Hoch­ gestellte zu Pferde stiegen und mit zur Hetzjagd zogen), ist die Passivität auch innerlich weithin abgeschüttelt, wie denn der Körper so oft die Seele mitreißt, und Wille ist nun die Signatur des Geschlechts, das ehedem ganz Gefühl zu sein schien. Wille freilich oft als leidenschaftliches Streben, mit krankhaften Zielen, ohne ruhige Abmessung, mit der Wollust der Selbsthingabe, oder als Trotz der Jchnatur, aber oft auch als schöne Beharrlichkeit, die alte weibliche Tugend der Geduld in still aktive Ausdauer wandelnd. So hat denn auch das alle Bildungsziel samt den Bildungswegen nicht mehr gefallen können. Was über die allen Kindern der Nation zuteil werdende Elementamnterweisung hinausging, der Gehalt der „höheren Töchterschule" mußte an Wertschätzung sehr verlieren. Auch hier wird die Art von „allge­ meiner Bildung" angefochten, die diese Schulen ausdrücklich zu geben bestimmt sind oder waren. Ist es mehr die Unbestimmtheit dieses Begriffs oder der Ziele an sich, mehr die Beziehungslosigkeit gegenüber den Bedürfnissen der Zeit und des Lebens, oder mehr die Art des Betriebes, was hier die Unzu­ friedenheit hervorgerufen hat? Es wirkt wohl vielmehr das alles mit- oder

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Zweiter Teil.

Betrachtungen und Vorschläge.

durcheinander. Als bestimmte neue Ziele treten dem alten gegenüber oder mindestens ihm zur Seite: das Ziel vollerer Befähigung zu schätzbarer prakti­ scher Arbeit, die über die elementar äußerliche oder die Handwerkssphäre hinausliegt, und zwar dies teils behufs bestimmterer und fmchtbarerer Teil­ nahme am Kulturleben, teils zur Gewinnung sicherer Subsistenz, und dann das Ziel wissenschaftlicher Reife, zum Zweck vollerer Teilnahme an dem höheren und höchsten Geistesleben der Nation oder der Kulturmenschheit und je nach Gabe und Neigung auch zur Mtarbeit auf dem Gebiete wissenschaftlicher Forschung. Wer neben oder zwischen diesen beiden Zielen zeigt sich dem Blicke der Einsichtsvollsten doch auch das Ideal einer möglichst hochgehenden und echten, aber durchaus der weiblichen Wesensanlage entsprechenden Bildung schlechthin, ein Ideal, in dem z. B. das soziale Interesse ein besonderes Gewicht besitzt. Und so ringen denn bis jetzt miteinander die Rücksicht auf praktische Tüchtigkeit nebst sicherer äußerer Lebensgmndlage, der Wunsch freier Bahn zu jeder intellektuellen Höhe und jenes neue und eigenartige, in sich wertvolle Ideal allgemeiner Bildung. Entsprechend verschieden ist die Organisation, die man dem Mädchenschulwesen wünscht. Veredelte Fortbildungsschulen, Mädchengymnasien, eigenartige Frauenschulen und vielleicht organische Ver­ bindung solcher Zwecke kommen in Betracht. Und unter den Mädchengym­ nasien versteht man, wie es scheint, bis jetzt durchaus Anstalten mit dem Lehr­ plan der vorhandenen Gymnasien für Knaben. Tie Vereinigung von Knaben und Mädchen in diesen (oder auch in beliebig höheren) Lehranstalten legt sich dann als weiterer Schritt nahe, ist ja auch bereits an manchen Orten vollzogen und wird weiter vielfach verlangt. Bedenklich müßte es nun doch wohl schon machen, daß Angleichung an den Charakter der für Knaben und Jünglinge bestimmten Schulen in derselben Zeit erfolgen soll, wo diese ihrerseits so einschneidender Kritik von so vielen Seiten unterliegen. Und Angleichung an ein vorhandenes Schema jetzt, wo möglichste Mannigfaltigkeit und Anpassung an allerlei natürliche und kulturelle Eigenart so lebhaft verlangt wird? Und Steigemng der bisherigen Aufgaben, während über die vorhandenen Lasten so bitter gellagt wird, während die Kraft der Nerven so weithin versagt? Straffere Anspannung also für das Geschlecht, dessen Nervenleben ohnehin so leicht überreizt ist und so seltsamen Gesetzen unterliegt? Gleichwohl kann man nicht mehr daran denken, eine Ent­ wicklung zu unterbinden, die sich durchzusetzen im Begriff ist, und man muß auch nicht meinen, künftige Wirkungen ziemlich sicher vorhersehen zu können. Erfreulich ist das Neue, soweit es dazu dient, emster zu machen, neuen Ernst zur Arbeit oder neuen Emst zum Denken dem Geschlecht einzuflößen, dessen Innenleben so leicht zwischen Erhabenem und Läppischem sich hin und her bewegt. Aber die Eigenart nicht mehr würdigen wollen, das will doch vielen

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unter uns noch als ein grober Fehler erscheinen. In dem Verkennen der Unterschiede des gesamten Innenlebens (toie übrigens auch des körperlichen) läßt sich — der harte Ausdruck ist nicht zu umgehen — eine Art von Verrohung finden. Es mag freilich auch eine bloß primitive Auffassung darin liegen, dort nämlich, wo man eine entwicklungs- und lehrreiche kulturelle Vergangenheit noch nicht zum Ausgang nehmen kann, also besonders in Nordamerika. Aber die Überzeugung, daß mit dem dort weithin durchgeführten System der coeducation, der für beide Geschlechter völlig gleichen Bildungswege bis zum Abschluß der Universitätsstudien, die wahre Zukunftsbahn betreten sei, ruht eher auf geradliniger Theorie als auf tiefgehender psychologischer Beobachtung, und die Sache ist doch von Hause aus nichts anderes als ein Notbehelf, eine Maß­ nahme zur Ersparung von Geldaufwand, gewesen *). Was indessen unsere heimischen Verhältnisse betrifft: welcher Vorteil kann doch darin gefunden werden, daß noch nicht der Tmck einer so zähen Überliefemng auf der Be­ weglichkeit des Organismus der Mädchenschulen lastet, wie auf dem der Knaben­ schulen! Mögen die Lehrpläne für jene Schulen und mag der Unterrichts­ betrieb über alles Vage, Oberflächliche, Äußerliche hinausstreben, mag den konkreten Forderungen des Lebens und der Gegenwart und der rechten Ar­ beitsfähigkeit größeres Gewicht eingeräumt werden, mag mit Denken mehr Ernst gemacht werden und mit Gründlichkeit (die aber keineswegs mit Kleinlich­ keit oder mit Stoffülle verwechselt werden darf), mag man durch den Unter­ richt toirflid) ein Gegengewicht erstreben gegen alle natürlichen Schwächen der weiblichen Geistesanlage: die Vorzüge der Wesensanlage sollte man nicht preisgeben. Die Abmessung der Unterrichtszeit für die verschiedenen Lehr­ fächer darf oder sollte eine andere bleiben als drüben, wie auch die Zielsetzung in den einzelnen; Art und Geist und Ton des Unterrichts darf nicht bloß, sondem soll vielmehr ein anderer sein, um der rechte zu sein, so im Fach der Geschichte, der Literatur, der Naturwissenschaft, der Mathematik, ja auch der Religion, beim Aufsatz, der fremdsprachlichen Lektüre usw. Dem wird freilich von Vor­ kämpferinnen der Frauenbewegung leidenschaftlich widersprochen, aber die älteren und tatsächlich gebildeteren Menschen sind noch nicht ausgestorben, die in dieser ganzen Sucht nach Angleichung um jeden Preis, in inneren wie äußeren Dingen, eine bedauerliche Krankheit sehen, für welche nur ein häßlicher Name in Anwendung kommen könnte. Im Grunde haben in der Vergangenheit die besten Vertreter des Mädchen­ bildungswesens immer nach der Fixierung und Verwirklichung der rechten Eigenart gesucht, formuliert worden ist sie hundertmal in schönen edlen Worten, und auch gute Wirklichkeit hat in der Tat nicht gefehlt. Aber gehemmt odet verkehrt worden ist das Gute so vielfach durch wenig fähige Lehrkräfte (wozu die lleinmeisterlich Korrekten und Sicheren so oft gehören wie die Verschwomme­ nen und die Hilflosen, die trocken abwärts Ziehenden wie die ungesund Über-

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Zweiter Teil.

Betrachtungen und Vorschläge.

reizenden): gehemmt auch durch die mangelnde innere Mitarbeit oder innere Entgegenwirkung der Familien, deren Geist und Ton als Rückhalt oder Unter­ grund hier wichtiger noch ist als für die männlichen Sprossen; gehemmt endlich auch durch die Hintansetzung, die diese ganze Abteilung des Erziehungswesens von feiten der öffentlichen Gewalt erfahren hat. Man braucht über den letzteren Punkt keine ausdrücklichen Vorwürfe zu erheben, denn die Würdigung dieses Gebietes ist eben erst allmählich erwachsen, und die höheren Schulen überhaupt sind von Hause aus nicht sowohl im Interesse eines zu verwirklichenden Blldungsideals gepflegt worden, als in dem des staatlichen Bedarfs an höher gebildeten Männem; daß die Mädchen oder Jungfrauen nicht oder doch nur kaum in dem staatlichen Organismus feste und wesentliche Stellungen einzunehmen hatten, hielt die Sorge um ihre Ausbildung fern. Nun haben die Anschauungen sich gewandelt. Natürlich aber kann nicht in einer neuen und möglichst strengen Kontrolle von seiten höherer öffent­ licher Instanzen das Heil liegen. Hat doch Aufsicht überhaupt, namentlich als überwachende, kontrollierende, mißtrauende, einschränkende, nicht wenig Unhell angerichtet, inneres Unheil wenigstens, Schädigung der Freudigkeit, der Be­ weglichkeit, der Initiative. Tie aufsichtführende Instanz muß vor allem wirk­ liche Überlegenheit, große Weite des Blickes und auch Weitherzigkeit gegenüber Persönlichem, dazu Kraft zur Anregung bewähren, die Auffassung vertiefen und die Liebe zu erhöhen vermögen. Das ist freilich nicht wenig verlangt, aber es steht auch nicht wenig auf dem Spiele. Und es soll selbst für Schulräte ein Bildungsideal geben — unter dem sie natürlich auch ihrerseits ein Stück zurückbleiben dürfen, weil sie nur Menschen sind.

12. Von Universitäten haben wir nicht bloß und insoweit zu reden Anlaß, als zu deren Aufgaben auch die Vorbildung eines höchst wichtigen Bruchteils der öffentlichen Erzieher gehört. Sollten sie nicht auch ihrerseits als Erziehungsan st alten betrachtet werden dürfen? Als die vor­ nehmsten aller Erziehungsanstalten natürlich, bestimmt, einer Auslese der reifsten Jugend die abschließende Bildung zu geben! Gleichwohl liegt diese Betrach­ tungsweise in Deutschland nur wenigen nahe. Im Ausland ist es anders, zum mindesten in England und Amerika. Wie schon der Gebrauch des Wortes „education“ dort zeigt, empfindet man die Einwirkungen auf die Bildung eines Individuums bis zum Ende der Studienzeit als ein zusammengehöriges Ganzes, und es schämen sich die Jünglinge nicht, sich selbst noch in der Werde­ zeit ihrer Persönlichkeit zu wissen. Mt Stolz blickt die Nation auf ihre hohen Schulen, als Schulen in der Tat für die Formung von Charakteren, durch

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Wissenschaft und wohlorganisiertes Gemeinschaftsleben. In andem Ländem bewahren die Universitäten wohl auch insofern noch mehr vom Charakter der Schulen, als die Studierenden in Studien und Disziplin minder unabhängig sind denn bei uns. Schon der Ausdruck „Mittelschulen" in Österreich z. B. für das, was wir höhere Schulen nennen, deutet auf diese Auffassung: man denkt eben an drei Arten von Schulen, die sich übereinander aufbauen, während namentlich im nördlichen Deutschland selbst der Name Hochschule für die Universität gegenwärtig gemieden wird. Freilich verschließt man sich auch bei uns nicht dagegen, daß die Universi­ täten in einem gewissen Sinne die Bestimmung haben, zu erziehen: von dem durch sie Hindurchgegangenen erwartet man zuversichtlich eine vollkommenere Entwicklung der geistig-sittlichen Persönlichkeit nebst entsprechender Haltung, als die andem sie aufzuweisen pflegen. Und daß dabei zu der Einwirkung der Studien eine solche des sonstigen „akademischen Lebens" komme, auch das erwartet man, eine Erziehung also durch das Zusammenleben für das Leben in der Gesellschaft — obwohl diese Seite tatsächlich in Deutschland durchaus nicht in der wünschenswerten Weise verbürgt zu sein pflegt, sondem sich viel­ fach sehr vermissen läßt. Aber fragen wir bestimmter: worauf bemht über­ haupt unsere akademische Erziehung? In erster Linie (und nach der Idee ganz wesentlich) auf dem Empfangen, Entgegennehmen, Verarbeiten von Lehre, auf der Einfühmng in schwierigere Denkarbeit, der Eingewöhnung in wissen­ schaftliche Methode, und zwar dies teils im Hinblick auf das Bedürfnis der Wissenschaft, das mehr objektive der Verwendung und das mehr subjektive der Weiterpflege, teils aber — und das wäre eben das Erzieherische — um der Gewöhnung willen an Bestimmtheit und Konsequenz des Denkens und Vorsicht des Urteils und der Befähigung zu begründetem selbständigen Urteil wenig­ stens auf bestimmtem Gebiete. Denn darin pflegt in der Tat der akademisch Gebildete sich vom andem zu unterscheiden. Mt der Vorsicht des Urteils verbindet sich wohl auch persönliche Diskretion, das Bewußtsein von der Be­ grenztheit der Rechte des Individuums, auch wohl ein feineres Gefühl für alles Menschliche im Zusammenhang mit den Studien (sofern diese immer irgendwie wirklich humanistisch sein können), und ferner doch auch, bei der Kon­ zentratton des Interesses auf geistige Ziele hin, eine Entfemung vom Rohen, Gemeinen, niedrig Sinnlichen, also eine Art von Idealismus. Aber diese gesamte erziehettsche Einwirkung ist nun doch nicht das Einzige, und sie erfolgt nicht auf ganz abstrakte Weise. Da sind zunächst die Persönlich­ keiten der Dozenten. Männer zu sehen, die dieses Maß von Hingebung an ideale Erkenntnis- oder Strebensziele besitzen und durch die Energie ihres geistigen Strebens auf diese Stufe menschlicher Geistesreife gelangt sind, sie zu sehen bald in forschender Betätigung und bald in der Klarheit des Gefunden­ habens, das hat ohne Zweifel erzieherischen Wert, denn nicht in beliebiger

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Zweiter Teil. Betrachtungen und Vorschläge.

Lebenssphäre berührt man sich jemals mit Naturen dieser Art. Das nun schon verbrauchte Wort vom Spüren eines Geisteshauchs und der Mrkung davon auf die Seelenstimmung mag hier immer wieder seine Verwirklichung finden. Es ist für die meisten wie der Blick von der Ebene oder von mäßiger Anhöhe aus weit aufwärts zu Hochgebirgsgipfeln. Freilich nicht ohne daß sich manchmal Enttäuschung gegenüber dem Erwarteten einstellte: sehr viel kühler, sehr viel trockener, oder persönlich ungeschickter, oder abstoßend leidenschaftlicher haben sich manche der Vielgerühmten erwiesen. Indes die positive Mrkung ist im ganzen weit überwiegend. Kommt es nun aber zu einer volleren persönlichen Beziehung der Studierenden zu diesen geistigen Führern? Bei weitem in den meisten Fällen doch nicht. Schon die Menge der für den einzelnen Universitäts­ dozenten wohl in der Mehrzahl der Fälle in Betracht kommenden Studierenden würde das verhindem, und der meist rasche Wechsel dieser Schülerschaft legt es um so ferner. Erschwert wird eine fruchtbare Berührung auch durch die meist allzu große geistige Distanz zwischen Dozenten und Studierenden, die sich noch besonders fühlbar zu machen Pflegt durch die Unsicherheit des Auftretens, die Verlegen­ heit, Schwerfälligkeit, man darf vielleicht sagen Dumpfheit unserer jungen Leute. Dazu sind die Professoren von ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit und sich anschließender Bemfsarbeit meist so voll in Anspruch genommen, daß sie für einen irgend reichlicheren und freieren persönlichen Verkehr mit Studenten die Zeit nicht erübrigen, und übrigens sind doch auch unter ihnen manche keine im persönlichen Verkehr ausgiebigen Naturen, manche leben wesentlich in sich hinein, sind von verschlossener Art, leben ihren Gedanken und nicht der Umgebung, haben vielleicht auch ihrerseits sich ihr Leben lang durch das Gegen­ teil von Gewandtheit ausgezeichnet. Treten doch auch die zwei Hauptllassen von solchen, die wesentlich Akademiker, und von solchen, die wesentlich Lehrer sind, ziemlich deutlich auseinander, und die Union dieser Eigenschaften in den­ selben Personen ist eine nichts weniger als selbstverständliche Sache. Schließlich pflegt die Berührung zwischen Studenten und Professoren, auch soweit sie wirklich als eine persönliche statthat, doch immer nur auf dem Gebiete der Studien sich zu halten und darüber hinaus in das allgemein Menschliche nur ausnahmsweise und mehr zufällig sich zu erstrecken. Trotz alledem kann es nur wiederholt werden, daß von dem Gegenüber der wissenschaftlichen Führer und der unfertigen jungen Leute im ganzen doch eine bedeutende erzieherische Mrkung auf diese letzteren ausgeht. Den Fertigen, den auf der Höhe Stehen­ den zu schauen, ist für den noch tief unten Weilenden etwas wert, und den auch auf seiner Höhe ganz im Suchen und Streben Aufgehenden erst recht. Es ist doch ein ähnliches Gefühl, wie das derJünglinge in heroischer Zeit gegen­ über den Helden, denen sie „die Wege zum Olymp hinauf sich nacharbeiten". Und sicherlich hat manchen auch vor dem Versinken ins moralisch Gemeine

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das im Gedächtnis gehaltene Bild eines ganz dem Ideal zugewandten aka­ demischen Lehrers bewahrt. Neben dieser erziehenden Wirkung aus der Höhe gibt es nun aber eine solche von der Seite her, nämlich durch die Gemeinschaft der Mitstudierenden. Es gibt eine Erziehung dieser Art eigentlich immer, von der Kinderstube an hat sie das ganze Leben hindurch eine große Kraft, sie wird derjenigen von oben her an Wirkung im ganzen gleichkommen, bei nicht wenigen Individuen dieselbe sogar übertreffen und nur bei Vereinzelten unwesentlich bleiben. Wie hoch die Erziehung durch das kameradschaftliche Zusammenleben an englischen Uni­ versitäten gewertet wird, wurde schon berührt, und daß es nach dem dortigen Stande der Tinge mit Recht geschieht, ist unverkennbar. In Frankreich dürfte die wertvolle Wirkung des studentischen Verkehrs (neben der es natürlich auch eine erzieherisch wertlose oder schädigende gibt) in der gegenseitigen geistigen «Stimulierung liegen. Wie steht es bei uns? Da ist nun zunächst festzustellen, daß die höchsten Bildungsanstalten, und zwar bei uns wie im Auslande, nicht etwa von Hause aus unter dem Gesichtspunkt allgemein erzieherischer Zwecke errichtet und organisiert worden sind. Höchste Lehranstalten oder Studien­ gelegenheiten sollten sie sein. Man erwartete allerdings von begrifflicher Bildung auch eine sittliche Mrkung, der Besitz der Wahrheit schien den rechten Lebenswandel zu verbürgen, wie noch jetzt auch für die Auffassung mancher Protestanten rechtgläubig und wohlgesinnt zusammengehören. Im Mttelalter standen die Universitäten mit ihren Dozenten und Studierenden, ebensogut wie alles Gemeinschafts- und Privatleben sonst, unter der erziehenden Gewalt der Kirche; von dem, was wir jetzt Schulen nennen im Gegensatze zu Hoch­ schulen, haben sie sich auch in diesem Punkte keineswegs schlechthin unterschieden. Das Zusammenleben der Scholaren ist nach allen Anzeichen vielfach ein ziem­ lich wüstes gewesen, und ist es bekanntlich so geblieben bis nahe an unsere Zeit heran. Von dem gewöhnlichen Studentenleben noch während des gesamten achtzehnten Jahrhunderts darf man sich eine günstigere Vorstellung nicht machen. Unsere besten Männer aus jener Zeit (zahlreicher als aus irgendeiner anbetn!) haben sich als Studierende am Rande dieser Welt und ihres Treibens bewegt. Ein Streben nach Gesittung lief übrigens nebenher, aber nach den äußerlichsten Seiten dieser Gesittung: Formen, Formeln, Trachten, Zeremonien aus aristokratischer Sphäre zu übemehmen, war schon seit Ende des 17. Jahrhunderts das Anliegen gewesen. Innere Roheit blieb damit durchaus vereinbar. Eine tiefe Wandlung erfolgte erst im Anfange des 19. Jahrhunderts. Die erhebende Wirkung der Befreiungskriege, auch die läutemde und ver­ tiefende der vorhergehenden Emiedrigung taten es allein noch nicht: der ver­ edelnde Einfluß der ganzen Periode der „Humanität" mit ihrem hohen Emst der Erfassung des Lebens mußte vorarbeiten, um jene so rasch hervortretende

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Wandlung zu ermöglichen. Man mag an der deutschen Burschenschaft hinter­ her vermissen oder verurteilen oder belächeln, was man will, sie bedeutete eine wundervolle Emeuerung des Geistes der akademischen Jugend, und viele ihrer Mitglieder ließen einen prächtig kemhaften Idealismus noch als Greise aufs erfreulichste gewahren: war doch neben Mut und Kraft, neben Glauben und Treue auch Reinheit und Selbstzucht ein Stück ihres Ideals (und ihrer Lebens­ führung.'). Wenn jetzige Studenten unter so manchen anbetn und anders­ artigen auch die in jenem Geiste gedichteten Lieder singen, so kann das meist nur ein Singen mit dem Munde sein. Eine ähnliche Emeuemng von innen heraus noch einmal zu erleben, wäre das größte Glück, das über die deutsche Jugend kommen könnte, und vielleicht das größte für die Nation. Unllarheiten und persönliche Entgleisungen beweisen nichts gegen den Wert der alten burschenschaftlichen Idee. So schätzbar eine gegenseitige Verbündung und Verbrüdemng für Hohes, Edles und Reines schon an sich sein mußte, so gewann sie noch durch den Gedanken an eine Zusammenfassung aller Hochgesinnten gegenüber dem Zerfallen in vielerlei äußerlich getrennte Korporationen. Aber so Edles scheint immer nur auf mäßige Zeit die Bmst der Menschen zu erfüllen. Und lebenskräftiger auf die Dauer mögen engere Gemeinschaften sein. Sie fehlen dem akademischen Leben von heute so wenig wie ehedem. Arten und Benennungen sollen uns hier nicht beschäftigen. Aber sie alle wollen auch erziehen, die Mitglieder sich gegenseitig erziehen, die älteren die neuen, die Gesamtheit die einzelnen; sie betrachten das als einen ihrer Daseinszwecke, natürlich neben dem Zwecke der Befreundung, der Verbündung zur äußeren Selbstbehauptung, des Lebensgenusses und etwa der gegenseitigen Anregung. Zum Teil denken sie sich als Zweck der Erziehung nur die kräftige Vertretung der Körperschaft und ihrer Eigenart. Doch auch in viel bestimmterem Sinne will man da erziehen: zur Unterordnung des einzelnen unter das Interesse der erwählten Gemeinschaft und unter ihre bestimmten Normen, zur Einordnung in gegebene feste Form überhaupt und vielleicht zur sicheren Beherrschung feiner, aristokratischer Lebensformen, zu männlichem Selbstbewußtsein, zu tapferer Selbstbehauptung, zum Mute, zum Großnehmen des Lebens, zum Bewähren echter Jugendnatur. Aber daneben, wie oft gewahrt man Er­ ziehung zum Hochmut, zum Klassendünkel, zum Übermut, zu sozialem Trotz, zu rückhaltloser Anerkennung des Rechtes der niederen Sinnlichkeit, zu wider­ licher und verderblicher Völlerei, um vom Emstnehmen eines ganz inhaltlosen Systems von exllusiven Zeremonien nicht weiter zu reden (obwohl dergleichen aus den ödesten Zeiten deutschen Kulturlebens stammt, obwohl es auch eine freiere geistige Entfaltung beim Zusammensein vielfach behindert und das Niveau herabdrückt)! Und an die so verbrachten Universitätsjahre erinnern sich tausend deutsche Männer nachher ihr Leben lang als an die Poesie ihrer Jugend, schmücken sich gelegentlich gerührt mit den Emblemen ihrer einstigen

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Zugehörigkeit zur Korporation, und das Gaudeamus igitur singt man trotz seines trivialen Inhalts und der trockenen Ausdmcksform mit einer Feierlich­ keit und Andacht, wie sie sonst den Herzen ganz fremd zu bleiben Pflegt. Sofern die Stimmung nur der entschwundenen Jugend gilt und der Schwungkraft der Jugend überhaupt, ist das ja nicht anzufechten. Indessen daß just dieses unser Universitätsleben zu dem Schönsten deutschen Lebens im ganzen gehöre, ihm gewissermaßen eine seiner Weihen verleihe, diese An­ schauung ist zwar bei uns noch sehr verbreitet, aber die Zahl der zu unab­ hängigerer und ernsterer Auffassung der Dinge durchgedrungenen Beurteiler mehrt sich doch: man gesteht sich gegenseitig, wie gründlich man von jenem fortgeerbten Enthusiasmus zurückgekommen sei, nicht unter dem Einfluß des Alters und des Philistertums, sondern im Gegenteil auf Grund tiefer Selbst­ besinnung, weitgewordenen Blickes, erkannter wahrhaft würdiger Ziele des nationalen Lebens. Daß man außerhalb Deutschlands schon längst ganz andere Maßstäbe hat, brauchte uns an und für sich in unserer Schätzung noch nicht irre zu machen; denn in der Tat findet das Ausland oft nicht die rechten Gesichts­ punkte für unsere Angelegenheiten, z. B. für die Bedeutung unseres Heeres, für das Wesen unserer Monarchie, für unfern Individualismus, unsere Ab­ lehnung gleichmäßig zwingender Formen usw. Was das Ausland anders hat, besser zu finden, ist bekannte deutsche Unart. Aber Unart doch nur, sofern dem Ausland als solchem ein ungerechtfertigter höherer Kredit gegeben wird. Wenn man dagegen ganz unabhängig von jener schiefen Gewöhnung in einem bestimmten Punkte zu der Anerkennung gelangen muß, daß wir mit dem Unsrigen dahinten geblieben sind, daß wir handgreiflich gegen gewisse andere Länder zurückstehen, dann braucht das doch wohl nicht aus nationalem Stolz oder Eigensinn verschwiegen zu werden? Man kann auf das Leben in den englischen oder amerikanischen Uni­ versitäten nur mit Neid oder Beschämung blicken, mit Neid freilich zunächst um der herrlichen Ausstattung, der schönen Organisation des Zusammen­ lebens, all der gebotenen Erleichterung der Studien willen, und mit Beschämung keineswegs, sofern der Höhestand der Studien an sich, bei Führem wie Ge­ führten, in Betracht kommt: in diesem Punkte lassen wir uns ja von niemandem überbieten und nicht leicht irgendwo gleichkommen, und das Ideal der Uni­ versität schlechthin finden wir denn auch drüben keineswegs verwirllicht, das Studium auf verhältnismäßig bescheidenem Niveau und vielfach mehr bloßes Aneignen als selbständiges Erarbeiten. Wer wie unendlich viel schöner, innerlich und äußerlich gesünder ist doch dieses Wetteifem in körperlicher Tüchtigkeit und Gewandtheit, dieses echte Ephebenleben, witiklich ebenbürtig den gymnastischen Spielen Mtgriechenlands, für das unsere Philologen eine herkömmliche, aber bei ihnen ganz unfruchtbare (um den Ausdruck pla­ tonisch hier nicht zu entwechen) Liebe und Hochschätzung haben und zu überMünch. Zukunftspädagogik. 3. Aufl.

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Mitteln suchen, wie unendlich viel besser als das Hocken unserer Studenten hinter den Bierkrügen, das Suchen der Mannhaftigkeit in den Massen des ein­ gesogenen alkoholischen Getränkes, unter dem Beobachten jenes aus kläglichen Zeiten stammenden Zeremoniells, das frevelhafte Vergiften ihrer Gesundheit, Wstumpfen ihrer Intelligenz, als ob diese von der Natur gewährten edelsten Lebensjahre dem Kultus des Stumpfsinns gewidmet werden dürften! Das mit wohlwollendem Lächeln von der Höhe und Reife des Lebens aus anzu­ sehen, geht nicht mehr an, paßt nicht mehr in unsere hygienisch aufgestörte und zu vollerer nationaler und sozialer Verantwortlichkeit erwachte Zeit. Allerdings, die gcntje Schilderung gilt ja nur für einen Tell der Stu­ dierenden, für die Inkorporierten, die zusammen wohl nur noch die lleinere Hälfte bilden. Immerhin ist es der Teil, dessen Art für das deutsche Stu­ dentenleben kennzeichnend ist, und bis auf einen gewissen Grad Pflegen sich doch zahlreiche andere jenem Typus zu nähem. Man vemimmt auch immer wieder die Kunde, daß es mit dem Vieltrinken neuerdings etwas besser ge­ worden fei. Etwas besser: wenn jemand für 100 000 Mark Schulden gemacht hatte und dann 5000 Mark abzahlte, so ist seine Vermögenslage etwas besser geworden! Doch vielleicht sind hier die Zahlenverhältnisse bereits günstiger; es gibt ja auch eine Anzahl Studenten, die dem Alkohol abgeschworen haben, die „abstinent" leben: aber die aussichtsvollste Art, den Unfug zu überwinden, liegt darin nicht. Nun gibt es aber weiter unter den deutschen Studenten gegenwärtig doch eine Pflege des Lumens, es gibt Turnvereine, die auf ihrem Gebiet Prächtiges leisten, und verschiedene neuere, aristokratischere Arten von Sport werden gern betrieben. Indes, man stelle auch hier die Zahlen zusam­ men, die der Teilnehmer gegen die der Studenten überhaupt, und man bleibt bei recht bescheidenen Bmchtellen. Gehört doch auch zu diesen Liebhabereien Zeit und Geld, und wie sich unsere Studentenschaft rekmtiert, können die meisten keine Unkosten für Sport tragen. Dann ist noch, aus vergangenen Zeiten treulich weiter vererbt, das Fechten da, allerdings doch auch nur von einem Teile der Studentenschaft gepflegt, aber jedenfalls ein durchaus schätzbares Gegengewicht gegen die Dumpfheit, in der andere Tagesstunden zugebracht werden. Zwar der Swlz auf den auf der Mensur bewiesenen männlichen Mut brauchte nicht so groß zu sein: es gibt hundert Wege, um eine wertvollere Art von Mut zu bewähren, und bewähren müssen ihn die verschiedensten Men­ schen, ohne daß sie sich dessen rühmen dürfen. Der Mut, sich einem herrschenden Vomrteil gegenüberzustellen, wäre vielleicht nicht der schlechteste. Und die Art, wie man sich seiner studentischen Duelle rühmt, ist ja eine sehr konkrete, öffenlliche: die absichtlich gewonnene Entstellung des Angesichts ist etwas un­ glaublich Geschmackloses in ästhetischer und moralischer und man möchte sagen auch in intellektueller Hinsicht, denn ein wirllich gebüdeter Mensch kann un­ möglich diese Art von Auszeichnung für sich wählen. Sicher ist das Tätowieren

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eine höhere Form, und das Auftreiben der Ohrläppchen oder Unterlippen keine viel niedrigere. Man muß doch wieder einmal auf das Urteil gebildeter Menschen aus andem Ländem hinweisen dürfen, die über diese Rückständig­ keit, Renommisterei, Donquixoterie, Koketterie nicht genug den Kopf schütteln können. Indessen soll der Mißbrauch nicht den Gebrauch und Wert aufheben, die erwähnte Geschmacklosigkeit geht hoffentlich vorüber wie eine Art von Kinderkrankheit, und das Fechten bleibt eine Lichtseite unseres Studenten­ lebens, die sich nur verallgemeinem und ergänzen müßte. Die tiefste Schattenseite aber ist in der Gegenwart nicht einmal das Trinken, selbst soweit es in alten brutalen Maßen betrieben wird, sondem die nach allen sachkundigen Urteilen gerade auch in der deutschen Studentenwelt eingerissene entsetzliche Laxheit in sexuellen Dingen. Da scheint der reinigende Geist der alten Burschenschaft allmählich lläglich geschwunden, da gilt der Jüngling, der auf Reinheit des Leibes und der Seele bei sich hält (denn natür­ lich fehlt eine gewisse Anzahl solcher auch in diesen schlechten Zeiten nicht), für lächerlich, einfältig, und die Macht der allgemeinen Stimmung über die einzel­ nen ist gerade in diesen Jahren noch ganz besonders groß. Der Versuch, die sittlich ernsteren Elemente zu besonderen Vereinigungen zu sammeln und von da aus einen heilenden und rettenden Einfluß zu gewinnen, hat noch nicht weit geführt. Ist doch auch der allgemeine Geist der Zeit zu ungünstig, wird doch der niederen Sinnlichkeit fast allerwärts bei uns ein so unbegrenztes Recht zuerkannt, wie ehedem nur etwa in besonderen, engeren Lebenskreisen. Aber von wo her könnte diesem allgemeinen Geiste die Korrektur besser kommen als aus der Welt der studierenden Jünglinge? An das Elend und die Schmach der immer weiter um sich greifenden körperlichen Verseuchung braucht man gar nicht allein zu denken, die eben auch unter den Studierenden ungeheuer verbreitet sein muß. Daß die Sozialdemokraten mit besonderem Hohn und mit Bitterkeit auf diese Tatsache hinweisen, ist sehr begreiflich, ja berechtigt. Hier also bleibt Unendliches zu wünschen. Gering mag dagegen ein anderes Übel des akademischen Lebens erscheinen, nämlich der Müßiggang. Natürlich nur der zeitweilige, denn den Abschluß der Studien durch ernste Prüfungen müssen ja fast alle suchen, und studiert müssen sie zu diesem Behufe haben. Aber wie schwer es den meisten wird, sich noch im notwendigen Zeitpunkte dazu aufzuraffen und zusammenzufassen, kann man immer wieder beobachten. Ist das Ganze dessen, was auf deutschen Universitäten wirllich gearbeitet wird, vielleicht mehr als irgendwo sonst, so ist die Verteilung jedenfalls meist eine ganz unglückliche. Daß man das Recht und gewissermaßen gegen sich selbst die Pflicht habe, von der langen (d. h. an der Schwelle lang erscheinenden) Studienzeit zunächst ein ansehnliches Bruchteil zu einem vergnügt pflichtlosen Sichausleben zu verbrauchen, ist alte Über­ lieferung, die zum Glück bei den verschiedenen Fakultäten nie gleiche Geltung 18*

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gehabt hat und die gegenwärtig auch im ganzen nicht mehr so sicher wirkt wie früher. Neben veränderten Verhältnissen (erhöhten Anfordemngen an die Berufsleistung fast auf allen Gebieten) wirken hier doch wohl auch sich ver­ ändernde Anschauungen: wenigstens wäre es nicht mehr als natürlich, daß in einer Zeit erhöhten sozialen Pflichtbewußtseins und sich vervolllommnender sozialer Organisation auch die Studentenschaft von dem Gefühl bestimmt würde, es könne nicht einem einzelnen Stande gestattet sein, müßig zu spielen, wo alle anbetn, die gleichaltrigen wie die älteren, feste und anstrengende Funktionen im Leben des sozialen Organismus zu erfüllen haben. Scheint es eine jeunesse dor6e fast immer gegeben zu haben und weiter zu geben, so darf die akademische Jugend sich nicht als etwas Derartiges fühlen, auch nicht im Punkte der Zeitvergeudung, während von Gold und Prunk bei ihr ja meist nicht die Rede sein kann. Doch auch, wenn wir absehen von diesem Gesichtspunkt und nur die innere Stellung, ja den Zweck des Universitätsbesuchs ins Auge fassen, was ergibt sich da? Den Eintretenden erfüllt sehr begreiflicherweise das Gefühl, daß das Ziel in gewaltiger Höhe liege und der Weg dazu recht wenig bequem sei, die ersten Anfänge ergeben leicht etwas deprimierende Eindrücke: die wenig gewohnte philosophische oder streng fachliche begriffliche Diktion, die neue sachliche Begriffswelt selbst, die sich andeutende Unendlichkeit des Ge­ bietes, auch wohl die erscheinende Twckenheit der Behandlung, wenigstens das Großnehmen des ganz Kleinen, das alles wirkt in diesem Sinne. Dazu andrerseits das Bewußtsein der neuen Frecheit, der Wunsch, noch einmal froh dahinzuleben, das tröstliche Beispiel so vieler Kameraden, der große Gegensatz gegen die Schule mit der Gebundenheit für alle Stunden, für alle Kräfte, mit der Regelmäßigkeit chrer Kontrolle und der Tragweite ihrer Tadelsvoten. Nicht wenige sind's, die dieses bequeme Hinleben doch auch über die ersten Semester hinaus fortsetzen, nicht wenige, die sich schließlich auf eine äußerliche und kümmerliche Weise mit ihrer Studienpflicht abfinden, aber ohne dabei jemals zur Freudigkeit zu gelangen, ohne eigentlich ein inneres Verhältnis zu den geistigen Aufgaben zu gewinnen, seufzend über die leidige Notwendig­ keit, murrend gegen die Grausamkeit der Prüfungsanordnungen, das Phi­ listertum bellagend, vor dessen Pforten sie sich fühlen, aber ein viel bellagens­ werteres Phüistertum bereits in sich tragend, die wahren Philister gegenüber den wirklichen Musensöhnen, — ein Name, der in der üblichen Mgemeinheit nur aus ungeheurem Wohlwollen, mit Beimischung von etwas Jwnie, angeroanbt werden kann. Aber auch in der Organisation der akademischen Studien selbst — und das muß uns hier das Allerwichtigste, das eigenllich Wichtige sein — liegt doch viel Schuld. Geboten wird den Studierenden ganz wesentlich zusammen­ hängender mündlicher Vortrag der Dozenten. Zwischendurch werden lite-

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rarische Hilfsmittel aufgeführt und damit grundsätzlich betn Studium em­ pfohlen, wobei der gutwillige Benutzer aber meist bald in der Fülle ersticken würde. Vielleicht gewährt auch der persönliche Ton des Vortragenden, sein hindurchblickendes warmes, inneres Verhältnis zur Wissenschaft, zur gesuchten Wahrheit starke Anregung, entfacht mehr als oberflächliches Interesse und mehr als gefühlsmäßigen Eifer; und femer wird dem Intelligenten das methodische Verfahren des Lehrers alsbald zum Vorbild. Indessen so einfach und so gewiß ist das alles nicht; in unzähligen Fällen wird eine solche Wirkung nicht geübt. Um so weniger gewiß, als das Mancherlei, das der Studierende nebeneinander anfaßt und anfassen soll, sich leicht durchkreuzt und ein Stadium der Ver­ worrenheit, der Stumpfheit oder doch des versagenden Eifers, der vorläufigen Resignation eintritt. Es ist nicht leicht, daß bei einem Menschen von nicht über­ ragender Geistigkeit der Wille zu schwieriger und ausdauernder Geistesanstren­ gung in Kraft bleibe beim Fehlen jedes Zwanges, jeder Nötigung und momen­ tanen Verpflichtung, jeder laufenden Kontrolle; denn tatsächlich ist eine solche Kontwlle doch nur ausnahmsweise, in bestimmten Fällen und Situationen, einigermaßen vorhanden, bei Dekanatsprüfungen für Stipendien etwa oder bei seminarischen Übungen, wovon aber doch die einen wie die andem der freien Entschließung des Studierenden überlassen sind. Nicht sonderlich lange ist es her, daß bei jeder belegten Vorlesung am Schluß des Semesters der Dozent einen Zeugnisvermerk über die Regelmäßigkeit des Besuchs und die Intensität der Aufmerksamkeit auszustellen hatte, und noch jetzt wird, wenig­ stens der Besuch, zum Schlüsse „testiert". Aber jene Vermerke pflegten aus­ nahmslos vorzüglich zu lauten, und das Testat wird ohne irgendwelche Über­ zeugung des Testierenden von der emstlichen Tellnahme des Empfängers erteilt. Es ist, als ob man sich gegenseitig um keinen Preis unangenehm werden wollte, als ob die universitas der Lehrenden und Lernenden in ihrem Innern durchaus keine Disharmonie aufkommen lassen wolle; heißen doch auch, wie die Professoren und Dozenten eruditissimi et celebemmi, so alle jungen geistigen Mitstreiter (Kommllitonen) omatissimi düectissünique oder ähnlich ein für allemd, und bezeugt doch auch am Schlüsse des Rektoratsjahres der abgehende Rektor Fleiß und Tugend der Studentenschaft auf Gmnd all der belegten Vorlesungen und der nicht nötig gewordenen Strafen von seiten des Universitätsrichters. Man möchte, vom Lateinischen zum Französischen über­ gehend, fragen: Qui trompe-t-on ici? Das arithmetische VerhAtnis zwischen der Zahl der belegten Vorlesungen und der regelmäßig besuchten dürfte, wenn es einmal zuverlässig aufgestellt würde, einen ganz anbetn Eindruck machen. Belegen doch auch vielleicht die meisten Studenten viel zu viele Vorlesungen zugleich, wofür sie mit ihrem noch ungenügenden Verständnis vom Wesen des wissenschaftlichen Studiums und der Funktionen des mensch­ lichen Seelenlebens entschuldigt sein mögen. Wie oft zugleich physische Be-

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dingungen die Durchführung solcher guten Vorsätze durchkreuzen, sei nicht weiter verfolgt; es ließe sich doch auch darüber nicht wenig sagen. Aber erst die Frage, wie viele von den korrekt angehörten Vorlesungen mit rechtem Erfolg gehört werden, wäre peinlich zu beantworten. Was für eine schwierige Aufgabe bedeutet es doch im ganzen für den jungen Studenten, daß er sein Studium selbst organisieren soll! Statt schwierig unlösbar zu sagen, hieße kaum übertreiben. Selber die Wahl zu treffen für Beginn und Fortsetzung, für Nebeneinander und Nacheinander, für das un­ bedingt zu Hörende und das nach Lehrbüchem zu Studierende, für das Ver­ hältnis der Übungen zu den Vorlesungen, und namentlich sich selber die geeigne­ ten Übungen voMschreiben und sie durchzuführen, femer das Große vom Kleinen beizeiten unterscheiden zu können und die rechte Kontinuität zugleich mit der rechten Abwechselung durchzusetzen, die allein fruchtbare Kontinuität mit der tatsächlich erfrischenden Abwechflung, femer auch die für den Studieren­ den wirklich geeignetsten Bücher kennen zu lernen (was weder die ausführlich­ sten und gelehrtesten noch die kompendiösesten sind)! Ob die meisten Professoren von der Allgemeinheit dieser Nöte ein deutliches Bild sich machen, bleibe un­ untersucht. Daß über überaus zahlreiche Studierende zum Schluß den von ihnen genommenen Weg als ein tief bedauerliches Hemmirren empfinden und sich der vermißten Anleitung mit Leid bewußt werden, sei bestimmt aus­ gesprochen (nachdem es dem Schreiber dieser Zeilen in Hunderten von Fällen immer wieder vorgellagt worden und von ihm selbst in amtlicher Funktion erkannt worden ist). Man ist dabei freilich oft erstaunt, bis zu welchem Grade die Verfehlungen in der Anlage des Studiums gehen, in der Verteilung der Zeit, in der getroffenen Abfolge, in gedankenloser Versäumnis von selbstverständlich Nötigem usw. Jede optimistische Einschätzung der Selbständigkeit der jungen Leute erweist sich tatsächlich als falsch. Das Beispiel und der Rat eines kaum intelligenteren Kommilitonen gibt leicht den Ausschlag, während ein Ratgeber nach Art der englischen Tutors den meisten so „bitter not" täte. Aber von einer solchen Einrichtung hat bei uns nie etwas verlautet. Und auch von fachkundig entworfenen Studienplänen scheint man bis jetzt an den meisten Universitäten nichts wissen zu wollen, obwohl dieselben ja eine falsche Be­ schränkung der Freiheit nicht zu bedeuten brauchten. Die dagegen vorge­ brachten Gründe treffen auch meist nicht das Bedürfnis selbst, sondem nur gewisse Unannehmlichkeiten der Ausfühmng. Auch denkt jeder Fachdozent zu gem ausschließlich an sein Gebiet und erwartet von dem Studierenden, daß er den Gang gerade durch dieses in rechter Vollständigkeit zurücklege. Ein Studienplan für das Ganze würde den einzelnen Konzessionen und Verzicht zumuten. Es stehen ja in dieser ganzen Frage die verschiedenen Fakultäten nicht etwa gleich. Im bestimmtesten Sinne paßt das Gesagte auf die philosophische

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Fakultät, die gerade auch zu den vorhergehenden Schulstudien die meiste Beziehung hat. Aber es ist seltsam, wie entgegengesetzte Wege wir bei Schulund Universitätsbildung einschlagen. Dort alles reguliert, alle einzelnen Schritte geleitet und kontrolliert, stete Nötigung zur Rechenschaft, zur schrift­ lichen oder mündlichen Darstellung, gemeinsame und mannigfaltige häufige Wiederholungen, und hier mit einem Male völliges Freilassen, was aber auf ein Hilfloslassen leicht hinauskommt. Ist dieser Gegensatz der beiden Perioden etwa durch bewußte erzieherische Weisheit eines Tages so gewollt, so geordnet worden? War es die Ansicht, daß die Jugend bis zum vollendeten achtzehnten Jahr oder auch etwas länger unter vollster Kontrolle und allseitiger Leitung bleiben müsse und von da ab vollständig frei sich zu bewegen habe? Denkbar wäre ja diese Anschauung, wie eine feste Mündigkeitsgrenze rechtlich besteht, wie Prinzen bis zu jenem selbigen Jahre vom Gouvemeur gelenkt und geleitet werden und dann einen eigenen Hofhält bekommen, also freie Herren werden. Aber in Wirklichkeit haben sich die Tinge doch vielmehr zufällig zu diesem Gegensatz entwickelt. Bei den höheren Schulen hat in gewissem Sinne zu viel pädagogische Berechnung gewaltet, und bei den Universitätsstudien hat sich im wesentlichen die Überliefemng aus dem Mittelalter her behauptet. Ob diese auf haltbaren oder wertvollen psychologischen Unterlagen ruht? Das Mittelalter ging von der Voraussetzung aus, daß es einfach gelte, Lehre darzubieten, Lehre aufzunehmen. Der übernommene Besitz von Wissen, von Kenntnis und Erkenntnis war das Ziel, und wenn durch diesen Besitz auch manche zu ansehnlichen Ämtem gelangten, so wurden doch bei weitem die meisten von der gebotenen Lehre an sich angezogen; in dieser Zeit war inmitten einer teils dumpf dahinlebenden, teils nur körperlich-ritterliche Schulung nebst etlicher äußerlichen Bildung suchenden Menschenwelt der Drang nach Mssen von nicht sichtbaren Dingen, nach Erkenntnis im Unterschiede von bloßer Welt­ kenntnis, in erstaunlichem Maße lebendig. Der akademische Unterricht fand bei den Tausenden, die sich herbeidrängten, um ihn zu empfangen, eine psychi­ sche Disposition, wie sie nie günstiger vorhanden gewesen ist. Das Auffassen, das Nachschreiben des mündlich Vorgetragenen, das schon durch die Seltenheit der Bücher nötig wurde, geschah unter so ungünstigen äußeren Bedingungen, daß man heutzutage darin eine unsinnige Zumutung sehen würde. Es war aber gewissermaßen auch hier eine Zeit der ersten Liebe. Der Verstand hatte so zu sagen an seiner eigenen Ausheilung helle Freude. Auch war alles eben für den Verstand aufs säuberlichste auseinandergelegt. Übrigens ging, und darin waren die mittelalterlichen Universitäten eigentlich den unsrigen voraus, mit der Auffassung der vorgetragenen Lehre regelmäßig ein Durchsprechen der­ selben parallel. Waren die Vormittage den Vorlesungen gewidmet, so die Nachmittage den „Disputationen"; oder ebenso die Sonnabende nach den übri­ gen Wochentagen. Wie hohl auch der Wissensstoff von damals uns jetzt großen-

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teils erscheinen will, er wirkte damals in hohem Maße belebend, zumal ja eben zur Auffassung immer die Verarbeitung hinzukam, die in jenen Disputa­ tionen sich bewähren mußte; und das war doch etwas Besseres, als das lange hinterher hinkende, mühselig-freudlose Durcharbeiten eines Kollegheftes; das doch nicht recht gelingen will, weil die Mederschrift mangelhaft bleiben mußte und das Verständnis nicht mehr voll zu erreichen ist. Denn daß ein dem Hören unmittelbar folgendes und dauernd parallel gehendes Durcharbeiten üblich sei, ein Durcharbeiten aller der verschieden­ artigen, gleichzeitig belegten Vorlesungen, wird wohl der allergrößte Optimist nicht von ferne glauben. Es geschieht in Wirklichkeit fast gar nicht. Es würde dazu auch. eine große Willensenergie gehören. Und diese Kraft ist ja auf einige Zeit abgestellt, wie eine Leitung. Jede Nötigung von außen aber fehlt mit verschwindenden Ausnahmen; es fehlt die Nötigung zur Rechenschaft, zur Präzision der Aneignung, zur Nachgestaltung, zur lebenden Wiedergabe, zur Bildung oder Formulierung bestimmter Urteile, zu zusammenhängenderen Ausarbeitungen. Uber dem Durcheinander der Eindrücke aus allen den Ge­ bieten, über der ewigen Passivität findet gerade nach Seite der geistigen Prä­ zision oft Entartung statt gegenüber dem, was auf der Oberstufe der Schule gewonnen war. Und sie zeigt sich hinterher bei den Prüfungen, die dann als unermeßlich schwerer Druck sich auf die Seele legen und deren Verlauf gerade in jenem Sinne viel peinliche Eindrücke für den Examinator zu bringen pflegt. Tie Wahrheit zu sagen, so bilden die eigentlich befriedigenden Prüfungen eine Mnderzahl, nachdem auf den Schulen regelmäßig weitaus die größere Zahl der Zöglinge einer Klasse zum Ziele gelangt oder vielmehr gebracht worden ist. Mzu sehr sich selbst überlassen, können nur die tüchtigsten aufwärtssteigen, alle Gewöhnlicheren müssen abwärts sinken. Und wieviel von dem, was schließ­ lich doch Brauchbares aus den jungen Männem wird, der zwar unbequem, aber fest gelegten Grundlage in den Schulen zu verdanken ist, pflegt man sich zwar nicht zu fragen, indem man an den Schulen immer nur das Üble sieht; es wird aber sehr erheblich sein. 9hm ist ja auch die Überzeugung, daß das alte System nicht wirllich genüge, unter den Universitätslehrem selbst schon seit einiger Zeit zum Durchbmch ge­ kommen. Tie Anfügung der „Seminare" und der „Übungen" zeugt davon, und deren Umfang nimmt gegenüber den Vorlesungen allmählich zu. Daß die „Vorlesungen" selbst meist oder doch großenteils nicht mehr bloß das sind, was der Name sagt, nicht nur nicht, was sie ursprünglich waren, Vorlesen eines autoritativen fremden Textes mit bloßen Erläuterungen, auch nicht Vorlesen eines ausgearbeiteten Heftes, sondern freierer, persönlicher Vortrag, muß als wertvoller Fortschritt ausdrücklich anerkannt werden. Gegenüber dem leidigen lucus a non lucendo haben wir hier das günstige lectio a non legende. Und überhaupt haben die Universitätslehrer allmählich es viel allgemeiner als ihre

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Aufgabe erkannt, durch den Gehalt ihrer ganzen Persönlichkeit auf ihre Zu­ hörer zu wirken, es ist mehr Schwung, mehr Mannhaftigkeit und Frische, mehr freie Beredtsamkeit auf den Kathedem vertreten, ohne daß die Wissenschaftlich­ keit als solche irgendwie damnter gelitten hätte. Ja, diese Wissenschaftlichkeit nach chrem jetzigen Charakter weist leider auch eine ungünstige Seite auf: die immer weiter gehende Spezialisierung, die zum Leben der Wissenschaft gehört und ihr nur von der Torheit und Unbildung zum Vorwurf gemacht werden könnte, läßt die Distanz immer größer werden zwischen dem, was der Professor treibt, und dem, was das Bedürfnis des Studierenden zumeist erfordert. Die Einfühmng in die wissenschaftliche Methode, auf irgendeiner speziellen Linie, ist sicherlich bildender als die Darbietung, auch die abgerundete, lebendige, anregende Darbietung von wissenschaftlich festgestelltem Inhalt: aber für einen Teil der Studiengebiete würde doch auch die letztere genügen, oder vielmehr das Wünschenswerte sein. Kurz, es sind weitere innere wie äußere Wandlungen möglich, ihre Berwirllichung muß gesucht werden. Bor allem aber muß man erkennen, daß unser ganzes System auf einer so idealistischen Anschauung von Natur, Geist und Mllen der durchschnittlichen Studenten bemht, wie sie von der Wirklichkeit für jeden, der sehen will, widerlegt wird. Ist man mit den Früchten unserer Universitätsbildung herkömmlichermaßen sehr zufrieden, so braucht diese Zufriedenheit nicht gerechtfertigt zu sein: es könnte aus dem rechten Zu­ sammenwirken der vorhandenen vortrefflichen Kräfte doch noch etwas ganz anderes herauskommen, und auf gewissen Berufslinien wenigstens wäre das auch dringend wünschenswert *). Wie steht es denn auch mit der allgemeinen Bildung unserer meisten Studierenden, mit ihrer Belesenheit, ihrem Ver­ hältnis zu dem Wertvollsten unserer llassischen oder neueren oder auch neuesten Literatur, ihrem Verständnis bildender Kunst, ihrer Ausdrucksfähigkeit, ihrem Urtell über wichtige allgemeine Gebiete usw.? Friedrich der Große schließt in einer seiner Schriften ein Kapitel mit dem Zitat aus einem französischen Schriftsteller: „Doch wir wollen aufhören, damit wir keine Grobheiten sagen". Und hier möchte man den Zitator zitieren, mit der Beinen Abweichung: „Wir wollen dämm nicht anfangen, damit wir keine Grobheiten sagen." Die Ein­ drücke aus einer sehr großen Zahl persönlicher Berühmngen möchten diese Grobheiten nahelegen. Und um sogleich noch ein Zitat herbeizuziehen: kürzlich bemerkte jemand, das Sprichwort, daß das Bessere der Feind des Guten sei, lasse sich auch umkehren, denn oft sei das Gute der Feind des Besseren; weil man mit dem Bestehenden immerhin zufrieden sein könne, versäume man es, Vollkommneres anzustreben, oder glaube man Versuche dazu ablehnen zu dürfen; und das alles wurde dann ausdrücklich auf unsere Universitäten an­ gewandt *). Sehr mit Recht. Es ist doch sicher nicht ein Standpunkt, auf den wir mit Geringschätzung

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hinabzublicken hätten, der der englischen Universitäten, die in erster Linie die Charakterbildung der Studierenden als ihre Bestimmung betrachten, obwohl sie ebensogut wie die unsrigen zum Zwecke der wissenschaftlichen Ausbildung gegründet sind und diesem Zwecke nach ihren besten Kräften dienen. Oder wäre der Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Geistesschulung und persönlich­ sittlicher Bildung schon ein so gewisser? Kommt nicht bei unserem System auch viel Charaktererschlaffung heraus? Und gewinnen die Studierenden im allgemeinen das schöne Wohlgefühl der englischen Studenten, dieses Wohlgefühl, das auf freundlichem, echt kameradschaftlichem Zusammenleben, stets neu erfrischendem körperlichen Spiel, auf dem Verfolgen anständiger und gesunder Freuden, auf ruhigem geistigen Fortschreiten, auf der Jnnehaltung guter Verkehrsformen beruht? Tie Fortexistenz der aus mittelalterlicher Einrichtung stammenden getrennten „Colleges" mit ihrer Selbständigkeit und ihrer verhältnismäßigen Enge gegenüber der immer allen gleichweit offen­ stehenden Gesamtuniversität mag man achselzuckend beurteilen: in Wirllichkeit sind solche Studiengemeinschaften etwas außerordentlich Schönes, und das Zusammenleben berühmter Autoritäten der Wissenschaft, einfach tüchtiger Fach­ lehrer, jüngerer Gelehrter in dem Stadium zwischen Student und Professor, praktischer Studienleiter oder Berater, älterer und jüngerer, geprüfter und ungeprüfter Studenten, dieses Zusammenleben auf einem Fuße mäßigen Wohlstandes und fester, guter Formen hat einen unvergleichlichen erzieherischen Wert. Wer das ist ja eben unsere Frage: Sollen bewußt erzieherische Gesichts­ punkte für die Periode über die höhere Schule hinaus noch ihr Recht und ihre Wirkung auf die Organisation haben oder nicht? Erzieherische Gesichtspunkte nämlich nicht bloß im Sinne der wissenschaftlichen Schulung! Daß auf diese Frage die Zukunft ein Ja antworte, wie die Gegenwart im allgemeinen noch ein Nein vemehmen oder entnehmen läßt, ist unsere Hoffnung. Man schlägt jetzt vor, das Alter der Strafmündigkeit hinaufzurücken. Man hat andrerseits die akademische Gerichtsbarkeit für ernstere Vergehungen aufgehoben. Beides nicht so unvereinbar, wie es scheint. Keine falsche sittliche Lizenz! Wer auch keine verfrühte völlige Verweisung auf die eigene, rein individuelle Regelung des Lebens! Wie der Kontrast zwischen der vollen Gebundenheit der obersten vorakademischen Stufen und der völligen Bewegungsfreiheit der akademischen Zeit doch nur zufällig geschichtlich geworden ist, so sollte er durch das Gegenteil, durch psychologisch-erzieherische Erwägung aufgehoben werden. Zu der dort zu gewährenden größeren Freiheit könnte und sollte hier ein wenig mehr Ge­ bundenheit kommen. Es brauchte nur wirklich ein wenig zu sein: eine gewisse Kontrolle z. B. über die Durchführung des Besuchs einmal belegter Vor­ lesungen, ein Erteilen des Testates nur auf Grund solchen durchgeführten Besuchs. Wichtiger aber als diese Änderung wäre ein Vermehren der Gelegen-

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heilen zum sicheren persönlichen Fortschreiten. Viel allgemeiner, als durch die bis jetzt eingerichteten wissenschaftlichen Seminare geschehen kann, müßten mündliche und schriftliche Übungen und Erprobungen stattfinden können, und eine stets verfügbare beratende Kontrolle müßte hinzukommen. Daß die deutschen Universitäten zum Teil in den Großstädten liegen, bringt alles in allem genommen doch mehr Nachtell als Gewinn; und freilich, wenn die Keinen Universitätsstädte wesentlich als gute Biernester aufgesucht werden, ist auch das nicht schön. Tie alte und nach und nach preisgegebene Anschauung, daß eine Universität am besten eine Art Insel bilde, hatte sehr viel für sich. Oxford und Cambridge sind übriggebliebene wundervolle Regionen dieser Art; übri­ gens sind sie nicht die einzigen. In Paris ist wenigstens die Vereinigung aller höchsten Studiengelegenheiten in einem und demselben füllen (und wohlfeilen!) Stadtteil zu schätzen. Einen herrlichen Eindruck macht auch Upsala, mit seinem vornehmen Frieden, seinen großen Erinnerungen und seiner sympathischen Studentenschaft, die neben den Studien ihre Freude in der sorgsamen Pflege vierstimmigen Gesanges sucht, und in der Bewähmng dieses ihres Könnens bei festlicher Gelegenheit im ehrwürdigen alten Hain. Zurückkehren zu ver­ lorenen Formen können wir ja nicht. Aber während in neuerer Zeit immer stattlichere, vollständigere, kostspieligere, vomehmere wissenschaftliche An­ stalten, Museen, Laboratorien allenthalben im Lande gebaut worden sind und weiter gebaut werden, während alle wünschenswerten Summen der hehren Wissenschaft als solcher dargebracht werden, sollte nicht auch die wissenschaft­ liche Jüngerschaft mit ihren menschlichen Lebensbedürfnissen an die Reihe kommen dürfen? Studentenheime im großen Stil oder in mannigfach ver­ schiedener Ausgestaltung müssen auf das Programm der Zukunft, Stätten zur Pflege eines wirllich gesunden, teilten, anregenden, fruchtbaren Zusammen­ lebens, zu gesicherterem Betriebe der Studien. Diese akademische Jugend bildet doch innerhalb der Naüon und für die Naüon sicher „ein kostbares Ma­ terial", um diesen allzu beliebten und etwas mißlichen Ausdruck hier anzu­ wenden. Der Pflege der Wissenschaft muß im nationalen Leben doch immer die ebenso emstliche Pflege wertvollen Lebens selbst parallel gehen. Zu dem wissenschaftlich-akademischen Nachwuchs, der Klasse der Privatdozenten und der unscheinbareren, aber sich doch vermehrenden und ausbreitenden der Lek­ toren sollten wissenschaftliche Repetenten, Berater, Studienleiter treten. Es muß nicht alles für die Ewigkeit so abgeteilt bleiben, wie es seither war: Zwischen- und Übergangsformen läßt das Leben allerwärts hervorgehen, und die bewußte Organisation des Lebens soll sie nicht versäumen. Zu organisieren statt nur blind gewähren, sich bekämpfen, sich verschieben, sich verbrauchen zu lasten, ist doch wohl eine verständige Parole. Vor unseren Augen darf ein Bild künftiger deutscher Universitäten erstehen, deren jede mit ihren mancherlei Gebäuden wie eine kleine Stadt für sich daliegt, mit Wohn-

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Häusern, mit Gesellschaftsräumen neben den wissenschaftlichen, Spiel- und Turnplätzen, Gärten und Parks und im Innern mit einem zugleich freiwMgen und doch verständig organisierten und erleichterten Betriebe der Studien. Müssen darüber Caf6s chantants und dergleichen entbehrt werden, so braucht das ja wohl nicht bedauert zu werden. Nach der Schule nun auch „die Welt" kennen zu lernen oder „das Leben", ist ja wohl an sich kein verkehrtes Bedürfnis; aber daß man immer wirllich die Gelegenheit behalte, sich zu sammeln, ist jeden­ falls nicht weniger wichtig. Da die Proportionen und Dimensionen innerhalb unseres nationalen Lebens ja überall wachsen und so viel neu Organisiertes unzulänglich Altes ablöst, toatunt nicht auch auf diesem unserem Gebiete hoffen? Zum Hoffen muß man nie zu alt geworden sein, und gerade im späten Lebens­ stadium hat man wohl das Recht, der Mitwelt noch zuzumfen, was sie neu machen soll. Noch einmal: auch dieses Gebiet gehört zu den Sorgen um die nationale Erziehung. Auch die Jünglinge wollen noch Erziehung, das heißt wesentlich die besten Gelegenheiten zur besten Selbsterziehung. Sie sich selbst überlassen heißt nicht, ihnen diese beste Gelegenheit gewähren *).

13. Wer nach Zukunftspädagogik fragt, wird auch an Zukunfts Pädagogen denken müssen; wer Vollkommneres erhofft, kann es nicht ohne diese erwarten. Es ist aus aller Vergangenheit so vielerlei Verfehlung der Erzieher deullich als solche erkannt worden, toatunt sollen die Fehler nicht einmal überwunden werden, warum nicht das Hin-und Herfahren in ein sicheres Schreiten übergehen, das Tasten in ein Können? Zwar, von der großen natürlichen Erzieher­ schaft, den Eltem und denen, die in ihrem Gefolge mithelfen, von dieser sich ewig neu gebärenden und ewig neu naiven Gesamtheit etwas wie künftigen allgemeinen Emst und Sachverstand zu erwarten, wäre offenbar zu kühn. Viel­ leicht wird Erziehung einmal ein Gebiet so durchgehenden allgemeinen Inter­ esses, Sinnens und Lemens, wie nur irgendein Gebiet menschlicher Aufgaben; Optimisten wie einige der oben Besprochenen hoffen es nicht nur, es ist ihnen selbstverständliche Notwendigkeit. Aber ob das zu festen, gleichmäßigen Prin­ zipien und Gewöhnungen hinführen wird, und ob die Prinzipien samt Ge­ wöhnungen genügen werden, das ist eine andere Frage: gewissermaßen ist das ganze Gebiet den Menschen zu nahe, es ist zu sehr mit ihrem allgemeinsten Leben verwachsen, es würde eine zu unbedingte und ununterbrochene Selbst­ erziehung voraussetzen. Indessen die Bemfspädagogen, sie, die den Amtsnamen führen und das sein sollen und wollen, was er sagt, nicht etwa in seinem ältesten Sinne, nämlich etwas zwischen begleitendem Hüter und abhängigem Familiendiener, soudem

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in dem nun geltenden höheren, die also sichere, sachkundige, jugendkundige Führer und Bildner sein sollen! Es gibt an ihrer Zulänglichkeit unendlich viel geheimen und offenen Zweifel neben viel bmtaler Kritik oder höhnischer, es gibt lange nicht genug Würdigung des wirklich aufgewandten Sinnens, Denkens und Mühens und namentlich auch des redlichen Wollens. Daß man in der Technik und Kunst des Unterrichts von Jahrzehnt zu Jahrzehnt unzweifechaft fortgeschritten ist, daß gute Didaktiker an deutschen höheren Schulen gegen­ wärtig reichlich vorhanden sind, das Ausland bezeugt es gern. Ob die er­ zieherische Aufgabe als solche so voll und freudig ins Bewußtsein auf­ genommen ist, wie denkbar und wünschenswert? Wo sie es nicht ist, muß man dem einzelnen darum noch nicht zu sehr grollen, Geist und Stimmung der Gesamtheit ziehen ihn in sich hinein, und Geist und Stimmung der Gesamtheit entwickeln sich geschichtlich aus gegebenen Verhältnissen. Man hat die höheren Schulen von Hause aus als Veranstaltungen zur Übermittlung gelehrten Wissens betrachtet und die erzieherische Seite kam nur als Bedingung für die Ermöglichung gemeinsamen Unterrichts, also nach ihrer elementarsten und vorwiegend negativen Seite in Betracht. Später, etwa zur Zeit des Neuhumanismus, dachte man allerdings an einen erzieherischen Einfluß idealster Art, nämlich durch begeisternden Unterricht oder noch richtiger durch ein begeistemdes Unterrichtsgebiet, aber nur bei höheren Naturen konnte eine solche Wirkung von selbst aus dem Stoff und dem Unterricht erwachsen, und viele erzieherische Mißerfolge oder Nichterfolge gingen nebenher. Tie Erkenntnis, daß die erzieherische Befähigung in einem allgemeineren und volleren Sinne ausgebildet sein müsse und daß erst in Verbindung mit dieser die fachwissenschaftliche Tüchtigkeit den Wert des Lehrers verbürge, hat längst bei den Behörden und in der Kollegenschaft Eingang gefunden, obwohl aus der letzteren manche noch immer die gute alte Zeit loben und zurückwünschen, wo man nur dichtes Fachwissen vom Lehrer verlangte, danach seinen Wert bemaß und seine Beförderung veranlaßte und das sonst Nötige als selbstver­ ständliches Nebenergebnis erwartete. Auch die gut schulmeisterliche Gewohn­ heit, die Schüler in ihrer Gesamtheit oder nach ihrer Mehrzahl als ein stumpfes „Material" zu bezeichnen und anzusehen, an dem man zu arbeiten verpflichtet sei, zu dem man mit seiner unmeßbaren Überlegenheit herabzusteigen habe, ist zwar sichllich zurückgegangen, aber doch keineswegs verschwunden. Me oft die anscheinende Dummheit der Schüler nur psychologische Blindheit des Lehrers ist, ahnen die meisten schwerlich. Es gibt freilich etwas, das sicherer als alle erworbene Pädagogik die erzieherische Kraft eines Mannes verbürgt, nämlich eine echte, edle Männlich­ keit. Aber diese gwße, unmittelbare Borbildlichkeit kann man nicht von jedem Mtgliede der großen Gesamtheit erwarten und wird der einzelne sich selbst nicht zu leicht zutrauen dürfen; nach bewußter Einsicht in das Berufsziel

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und Herrschaft über die Mttel zu streben, gereicht sicher niemanden zur Un­ ehre. Ist übrigens doch auch der Sinn der jetzigen Generation ein anderer geworden als der der vorhergehenden. Tie Übermittlung eines wertvollen Lehrgutes, die Schulung der Köpfe im Denken, das zusammen genießt nicht mehr die ehemalige Schätzung in der Nation. Man lobt persönliche Ge­ wandtheit, körperliche Tüchtigkeit und Gesundheit, und die Bildung von Cha­ rakter gilt allerwärts für edler als die des Intellekts. Tie Wissenden gelten um ihres Wissens willen nicht mehr als die Oberschicht; man faßt nicht mehr Ärzte, Richter, Anwälte, Gymnasiallehrer und Geistliche unter dem Ehrennamen der Gelehrten zusammen, und „gelehrte Schulen" nennen sich nur noch ganz vereinzelte aus alter Gewohnheit. So unklar Stimmung und Urteile im einzel­ nen oft sein mögen, unverkennbar stimmt die Mtwelt darin zusammen, daß die Erziehung in einem anderen, größeren, weitherzigeren Sinne ge­ nommen werden muß denn als Schulung, Disziplin und Wissensübermittlung. Hat doch auch die körperliche Seite eine ganz andere Schätzung gewonnen als ehedem, und das Willensleben die größte. Wir sind damit auf oben bereits Dargelegtes zurückgekommen. Worauf es also hier ankommt, ist, daß die als Lehrer an den höheren Schulen Stehenden namentlich sich auch ihrerseits in einem solchen großen Sinn als Erzieher fühlen, als Erzieher nicht im Dienste der ergänzenden Hilfe für die Familie, nicht als eine Art von Dienem für die Bedürfnisse beliebiger Familienkinder, sondem im nationalen Auftrag, um der Nation den rechten Wertbestand und die rechte Verjüngung zu sichem. Denn eine Nation muß sich eben immer wirklich ver­ jüngen, da sie zugleich immer auf dem Wege ist, zu erstarren, sie muß den immer neuen Lebensaufgaben immer neue Jugendkraft entgegenbringen. Die weisesten und weitblickendsten unter den politischen Denkern haben stets die unvergleichliche Bedeutung des Erziehungsgeschäftes gewürdigt, und auch die gewöhnlichen Inhaber der organisierenden Gewalt können sich dieser Be­ deutung unmöglich je verschließen. Neuerdings haben unsere Offiziere" sich es gerne sagen lassen oder einander gesagt, daß sie die eigentlichen Erzieher der Nation seien (gewissermaßen als Antwort auf die schiefe Behauptung, daß unsere Schulmeister unsere Schlachten gewonnen hätten): es wäre sehr übel, wenn sie in ihrer erzieherischen Bedeutung nicht außerordentlich über­ troffen würden durch die, für welche das Erziehen nicht bloß ein schätzens­ wertes Nebenergebnis ihrer Bemfstätigkeit ist, sondem der Bemf selbst. Daß also der Stand in allen seinen Mitgliedern sich selbst so fühle, nicht bloß das Wort in den Mund nehme, sondem damit das große innerste Anliegen der Personen nenne, das ist vor allem wünschenswert und das soll weit voller noch, als bis jetzt geschieht, verwirllicht werden. Ob dazu bei uns die jetzige Vorbildung so recht leicht und sicher hinführt? Der spätere Teil derselben, die praktische Einfühmngs- und Erprobungszeit, ist ja in neuerer Zeit mit

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neuem Emst geregelt worden, wobei aber die Regelung nicht hindem kann, daß die Einführung an einem Orte mehr mechanisiert und mechanisierend erfolgt und an einem andem mehr frei entwickelnd und anregend (und leider manchmal, infolge zufälliger äußerer Verhältnisse, gar nicht). Immerhin ist von den gegenwärtigen Einrichtungen im ganzen eine günstige Wirkung für die Zukunft zu erhoffen. Schwieriger muß die rechte Gestaltung der Universitätsstudien heißen. Sind auch diese nicht schlechthin in ihren alten Formen stehen geblieben, so haben sie sich doch zunächst tatsächlich eher von dem entfernt, was der künftige Lehrer höherer Schulen als solcher suchen muß. Tie Schwierigkeiten des gegenwärtigen akademischen Studiums, die oben in einem allgemeineren Kapitel besprochen wurden, tun ihre mißliche Wirkung nicht bloß für den Zeit­ punkt der abzulegenden großen Prüfung, sondern auch für die dann folgende Periode der Bemfsübung. Tifferenziemng und Spezialisiemng der Mssenschaften wird demjenigen zu großer Gefahr, der in begrenzter Zeit irgendwie zum Ganzen gelangen muß, um seinerseits mit Ganzem wirken zu können. Ein eigentümliches Dilemma wird dadurch geschaffen, daß eine wirkliche Einführung in die Wissenschaft oder persönliche Wissenschaftlichkeit nicht möglich ist ohne intensive Berührung mit bestimmten Problemen, und daß das vielmehr Spezialprobleme sein müssen als generelle, namentlich heutzutage auch nur solche sein können, daß aber dann andrerseits eine verfrühte Spezialisiemng des Studiums zu erfolgen pflegt, mit Verengemng des Blickes und Sinnes, manchmal mit einer Art von Erstarrung, mit Absterben des allgemeinen Inter­ esses verbunden. Und jene Spezialstudien, mindestens wenn sie aus dem Re­ zeptiven zum Produktiven übergehen (was ja freilich erst die wahre Lebendig­ keit des Studiums ist), erheben sich oft nicht über niedere Kärmer- und Hand­ langerdienste, über geduldige Zählarbeit, die durch die Mühsal vieler Monate zu einem Ergebnis von minimaler Bedeutung führt und int ganzen mehr persönliche Lähmung bewirkt hat als Bildung. Tie jungen Männer sind hier wie Arbeiter, die auf weitem Wiesenland einen schmalen Seitenkanal zu graben haben, tief genug, daß sie nicht über den Rand blicken können, und die dann, müde und steif aus ihrer engen Tiefe emporsteigend, kaum noch Auge haben für die weite Landschaft mit ihren Strömen und Hügeln und Baumgruppen. Es fällt übrigens den Universitätslehrem nicht leicht, die Bedürfnisse der Wissenschaft und ihrer Diener einerseits und andrerseits die der persönlichen Bildung durch Wissenschaft im rechten Lichte zu sehen: da sie selbst wesent­ lich intellektuelle Naturen sind, erblicken sie wohl auch in der Schärfung des Intellekts, in Präzision der Unterscheidung und des Schließens die höchste Linie menschlicher Bildung (was sie wirllich dann sein kann, wenn sie auf großer Höhe hinläuft und überragende persönliche Kraft voraussetzt). Und so wird es eben möglich, daß das akademische Studium tatsächlich

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von der inneren Disposition für unseren Lehrerbemf hinwegführt, während es für ihn befähigen will. Wir sind stolz darauf, daß unsere Lehramtsstudien etwas ganz anderes sind als die in manchen andem Säniem, wo man vielfach nur das zu Lehrende lehrt und alsbald auch wohl die Art, wie es weiter gelehrt werden soll; die echte Wissenschaftlichkeit ist unser Ruhm, aber es ist doch eine vergangene Zeit, in welcher Inhalt und Charakter der Universitätswissenschaft mit demjenigen der auf die Universität vorbereitenden Schulen möglichst zu­ sammenfiel, oder doch sich bloß durch Maß und Umfang unterschied. Unser Bildungsideal (auch das Schulbildungsideal) ist freier geworden, weiter, viel­ seitiger zugleich und auch einfacher, was keine Inferiorität bedeuten muß. Vorschläge zur Herbeiführung eines fmchtbareren Verhältnisses fehlen nicht. Im Auslande bemüht man sich um die Lösung zum Dell viel eifriger als bei uns; jedenfalls bemüht man sich fast überall *). Daß zur fachwissen­ schaftlichen Prüfung der künftigen Bemfslehrer eine solche in der Pädagogik komme, ist schon seit geraumer Zeit geltende Fordemng und Einrichtung, also auch ein Studium der Pädagogik neben den gewählten Fachstudien. Jenes kann aber sehr äußerlich neben diesen herlaufen und wird das immer tun, sofern die Prüfung sich etwa wesenllich auf die geschichtliche Entwicklung des Schulwesens, die Biographie berühmter Pädagogen, die großen Theorien und Systeme oder vielleicht bloß auf ein Betn wenig von alledem erstreckt. Auf die Pädagogik als Kunst wird sie sich ohnehin schwerlich erstrecken können, und selbst wenn man, was einige wünschen, praktische Universitätsseminare einrichtete und obligawrisch machte, könnten nur einfache didaktische Anfänge aufgezeigt werden. Worauf es in Wirklichkeit mehr ankommt als das eine samt dem andem, das ist die Erweckung eines lebendigen Interesses für die bestehendeü großen Fragen und Probleme, die theoretischen und praktischen, und etwas Kenntnis von dem Suchen ihrer Lösung in der Vergangenheit, auch ein Aus­ münden des psychologischen Studiums in die sich anschließenden pädagogischen Gesichtspunkte, und dazu freilich womöglich eine solche Beschäftigung mit den fachwissenschaftlichen Objekten, die diese als ganze lebendig vor der Seele stehen, nicht aber Geist und Seele davon erdrücken läßt, welches letztere durch unend­ liche Analyse, durch ein andauerndes Senken des Auges tief auf die Klein­ schrift der Wissenschaft geschieht. Daß es noch die Möglichkeit eines weiteren Verderbs gibt, sei nicht ver­ schwiegen: nämlich die schon aus der Humanistenzeit herrührende Freude an einer wissenschaftlichen Polemik, die in persönliche Klopffechterei übergeht, viel Neigung zum Höhnen, zum Verletzen, zum Bloßstellen zeitigt, viel ganz vulgäre Gwbheit, neidvolle Gehässigkeit, „Stechen durch den Zaun" (wie Luther von Erasmus sagte), alles zusammengenommen das Gegenteil von gwßer Gesinnung, von edler Menschlichkeit, von schöner Wirkung der Wissen­ schaft auf den Charakter. Wer davon während seiner empfänglichen — und

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natürlich auch für das Herausfordemde, Übermütige und Trotzige sehr empfäng­ lichen — Jünglingsjahre nicht wenig zu kosten oder einzuatmen bekommt, der wird nur dann nicht infiziert werden, wenn er durch angeborene oder bereits fest gewordene edlere Eigenart immun ist. Es ist in diesem Punkte auf deut­ schen Universitätskathedem zweifellos viel besser geworden; von den großen Philologen des 19. Jahrhunderts haben bekanntlich mehrere nach der be­ zeichneten Seite ebenso exzelliert wie durch ihre Fachleistungen: aber schlechthin verweht ist ihr Geist noch keineswegs. Doch um zu Harmloserem zurückzukehren: schon wenn das Interesse für das Buchstudium dasjenige für lebendige Menschen, die Freude an deren Wert und Entwicklung hat ersterben lassen, ist es sehr übel; und ebenso, wenn man aus der großen Gesamtschule der freien Studien nicht mit dem dauemden Triebe der weiteren Selbstbildung nach allen menschlich wertvollen Seiten hervorgeht, wobei übrigens die körperliche Durchbildung nicht vergessen werden sollte, die nicht nur eine wertvolle Gmndlage für andauemde geistige Frische ist, sondern auch für seelisches Wohlbefinden, was dem Verkehr mit der Jugend sehr zugute kommt, abgesehen davon, daß diese niemals in bloß intellektuell überlegenen Menschen wirksame Vorbilder erkennt. Der Gegensatz zwischen Brotstudium und idealem Erkenntnisstreben, der oft so beredt geschildert worden ist, ist in Wirklichkeit nicht häufig in dieser Nacktheit anzutreffen: was als Brotstudium gewählt ward und gewählt werden durfte, mag dämm doch ideale Kraft beweisen, und der von manchen für allein echt gehaltene Idealismus, nämlich derjenige, der sich um die Wirllichkeit und ihre Bedürfnisse nicht kümmert, verfliegt oder verflattert sich sehr leicht oder stößt sich tödlich an dem gemeinen Erdboden. Es wirkt bei einer solchen Gegenüberstellung eben, wie an einer andem Stelle oben erwähnt wurde, antike Anschauung nach, die nun durch höhere soziale Gesichtspunkte überwunden sein sollte. Daß die Lehrer unserer höheren Schulen unter allen Umständen in erster Linie suchen sollen, Gelehrte zu bleiben, dieser Rat wird ihnen immer wieder von sehr autoritativen Seiten her erteilt. Würde das so aufgefaßt, daß es am wichtigsten sei, unter allen Umständen in der Weiterbeschäftigung mit streng wissenschaftlicher Arbeit seine höchste Pflicht zu sehen, so wäre damit nur eine Stellungnahme gestützt, die vielfach durchaus nicht erfreulich gewirkt hat; soll das Erzieherische wirklich sich so nebenbei von selbst genügend ergeben, so ist das eine zwar alte, aber bestimmt zu verwerfende Annahme. Aber jene Fordemng muß vielmehr so verstanden werden, daß nur bei lebenslang wach gebliebener Bereitwilligkeit zum Semen, und zwar allerdings zum Schöpfen an der vornehmen Quelle der großen Wissenschaft selbst (nicht bloß an den ab­ geleiteten, bequem gefaßten, aber mitunter trüben Bächlein oder Rinnsalen), die geistige Lebendigkeit erwartet werden kann, die der höhere Unterricht er­ fordert, wenn er nicht trotz aller Höhe minderwertig wirken soll. Das fortMünch, Zukunstspädagogik. 3. Aufl. 19

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dauernde Semen und Suchen verbürgt eine Art von fortdauernder Jugend, und diese sich irgendwie zu bewahren, ist dem Jugendlehrer höchst nötig. Der für sich fettige Lehrer wird zum Schulmeister, der sich selbst Fortbildende kann Bildner sein. Wer nicht für sich ringt, bleibt nicht für andere anregend. Doch mag die Mischung zwischen wissenschaftlichem Sinn und erzieherischem sehr verschieden sein. Es gibt auch Erzieherseelen von gwßer Kraft durch sich selber, solche, die jugendlich bleiben durch das Feuer ihres Fühlens. Unter­ scheiden wir die einzelnen Möglichkeiten nicht weiter, damit wir nicht Kate­ gorien suchen oder Normen zu suchen scheinen, wo das Leben das Recht der Mannigfaltigkeit hat. Tüchtig zu sein durch wissenschaftliche Bildung und tüchtig zugleich durch erzieherische Kraft, ist nicht im mindesten unmöglich: viele Lebende beweisen das. Aber freilich viel möglicher wird es erst werden, wenn der gegenwärtig dem einzelnen obliegende Umfang der regelmäßigen Amtsarbeit verringert ist, ein Ziel, das von keinem wirklich Einsichtigen ver­ kannt wird und für das auch die Regierenden mit der Zeit einen Weg finden werden.

14 Den Rufen nach allerlei einzelnen Bessemngen in dem Bestehenden schließt sich, wie wir oben sahen, nicht selten der Ruf nach einer Organisation der gesamten Verwaltung des Erziehungswesens an. Man erwartet namentlich von dem Übergang der eigentlichen Leitung in die Hände von Pädagogen großen Gewinn. Eine so gewisse Aussicht ist das nicht: die Fachleute haben—und zwar ausdrücklich auch auf dem pädagogischen Gebiete— oft gezeigt, daß sie über die Mauern der gegebenen Organisation weniger leicht hinauszublicken vermochten als die nicht Eingewöhnten, von der Überliefemng Unabhängigen. Die meisten tieferen Wandlungen in den pädagogischen Anschauungen sind von solchen erzeugt worden, die entweder ganz und gar nicht oder doch nicht im vollen SinneFachleute heißen konnten. Und andrer­ seits ist es immer auch natürliche Aufgabe der Staatsmänner gewesen, die all­ gemeineren Fragen des Erziehungswesens zu bedenken und zu regeln. Die höchsten maßgebenden Gesichtspunkte dafür zu suchen ist Sache nicht bloß der­ jenigen vom Fache. Tie Gefahr übrigens, daß die sorgsamste Regelung, die ja Organisation im eigentlichen Sinne des Wortes sein soll, zu den Funktionen eines Mechanismus herabsinkt, diese Gefahr ist innerhalb des menschlichen Gemeinschaftslebens immer vorhanden: indessen wird sie sich geringer erweisen, wo die einzelnen Organe recht von Leben durchströmt sind. Möglich ist, daß die Kraft des Ganzen wesentlich im Haupte liegt, im Zentralorgan, aber möglich ist auch eine gleichmäßige Gesundheit und Tauglichkeit des gesamten Organis-

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rnus, und möglich natürlich auch ein Lahmen und Stocken hier oder dort oder an allen Enden. Und all dies Mögliche ist im Laufe der Zeiten wirklich geworden, anderswo und auch bei uns. Nach einem Wilhelm von Humboldt zu rufen wäre vergeblich; aber wenn ein ihm ebenbürtiger Geist emportauchte, es wäre gleichgültig, ob man ihn zu den Fachleuten zu rechnen hätte oder nicht. Um wahrhaft große Männer zu beten, hätte eine Nation öfter Ursache. Indes wenn die minder Gwßen und doch nicht etwa Kleinen sich frei regen können, daß sie das zu leisten vermögen, was ihre Kraft sich abgewinnen kann, dann steht es schon nicht schlecht. Um jemanden den vollen Amtsverstand zu geben, muß Gott ihm das Amt wirklich geben. Wer an eine abhängige Stelle gebannt ist, wo seiner Fähigkeit eine leitende gebührte, dessen Kraft entfaltet sich nicht; sie wird zu sehr in sich zurückgeworfen, und statt der Freudigkeit großen Tuns können nur gemischte Gefühle herrschen, namentlich wenn die Abhängigkeit so viel bedeutet wie Tmck der stumpfen Routine, der Einschränkung und Bangigkeit auf den Schwung des Wollens. Gefühle wie die, welche Fremdherrschaft einem Volke einflößt, kommen da auf, wo bloß formalistisch tüchtige Berwaltungsbeamte das Regiment üben und ein so innerliches Gebiet, wie es das Er­ ziehungswesen ist, nur mit äußeren Maßnahmen bedenken und lenken. In unserem Preußen strebt man ja einigermaßen über diesen Zustand hinaus, aber er hat auf der Entwicklung vielfach schwer gelastet und tut es noch immer. Tie Herbeiziehung der besten unter den pädagogischen Fachleuten unter der Bezeichnung „Techniker" ist charakteristisch. Ms ob es sich um etwas Derartiges handle wie die Gewerbeaufsicht oder den Wasserbau oder die Landesmelioration oder die polizeiliche Hygiene, denn für alle diese Gebiete werden die „Techniker" den leitenden und entscheidenden Verwaltungsbeamten bei- oder untergeordnet. Da ist es denn schwer, großen und freien Gedanken nachzuhängen, und noch schwerer, den Eifer um ihre Verwirllichung zu behalten. Dabei ist auch zu viel Nebeneinander gleichberechtigter „Techniker" innerhalb der einzelnen Behörden. Der Meister mag mehrere Gesellen miteinander bedürfen, oder der Bauherr zahlreiche Arbeiter, von denen er etwa einen zum „Polier" macht. In der Tat, mit den bwß das Gebälk ausfüllenden Maurern werden die Fachleute gewissermaßen gleichgestellt, aber selbst konstmieren dürfen sie nicht. Jenes Nebeneinander hat auch seinerseits etwas Lähmendes, ein wenig Dezematseigensinn kommt leicht auf, es bilden sich unsichtbare, undurchlässige Zwischenwände, viele Köpfe pwduzieren zusammen weniger als ein einzelner, auf den Führenwollenden wird man eifersüchtig, und im ganzen ist diese Ein­ richtung das sicherste Mttel, um den Fortschritt zu lähmen. In Preußen sind z. B. die den Provinzialbehörden für die höheren Schulen unterstehenden Anstalten allmählich so zahlreich und im einzelnen so umfangreich geworden, daß

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man die Anstellung immer neuer Schulräte neben den vorhandenen nötig fand, und während in früheren Jahrzehnten ein einzelner Mann von bedeutendem Geiste das höhere Schulwesen einer Provinz tatsächlich lenkte und namentlich auch innerlich beherrschte und belebte, bleiben jetzt die Tetrarchen oder Hex­ archen für das Leben des Ganzen fast wirkungslos, zumal in äußeren Ordnungsgeschäften ihre Zeit großenteils verbraucht wird. Was an bedeutenden Gedanken und Anregungen von diesen ehrenwerten Stellen ausgegangen ist, hat demgemäß nicht viel sein können. Und daß zu einer verhältnismäßig selb­ ständigen Stellung in ihrer Mtte just der Dienstälteste bemfen werden soll, trägt auch nicht gerade zur Beweglichkeit bei. (Wer selbst bei Jahren ist, darf wohl zugunsten der Jüngeren eintreten.) Steigen doch die originellen Ge­ danken am häufigsten von unten nach oben, nicht umgekehrt, und unter den jüngeren Mtgliedem der Lehrerkollegien, unter den jüngeren Direkwren etwa, tauchen zunächst die Ideen auf, die sich dann übertragen und verbreiten und im günstigen Falle (wozu natürlich auch gehört, daß es gute Ideen sind) viel­ leicht nach oben empordringen. Und so erhebt sich denn auch die Frage, ob nicht etwas mehr republikanische Mitregierung zu gewähren wäre. Die Zentralinstanz für das Unterrichts­ wesen im Staate Preußen ist gegenwärtig nicht im mindesten unzugänglich: das ist weder eine Schmeichelei noch eine captatio benevolentiae, sondern die einfachste Wahrheit, die jeder Kundige bestätigt. Ob die Beiordnung einer freier zusammengesetzten Körperschaft nach Art des französischen eonseil suptöeur zu wünschen wäre, sei dahingestellt: gelegentliche gemischte „Schul­ konferenzen" haben wir ja in den letzten Jahrzehnten wiederholt gehabt. Daß aber bei derartigen Enqueten über das künftig Wünschenswerte Mch einfache Mitglieder des höheren Lehrerstandes selbst zugezogen würden, darin könnte wohl jenes conseil superieur Muster werden, und auch dazu ist ein gewisser Anfang schon gelegenllich gemacht worden. Auch in einem anderen Punkte scheinen wir französischem Vorgang folgen zu wollen oder könnten das doch in Erwägung ziehen. Ehemals war es selbst­ verständlich, daß der höchste Schulaufsichtsbeamte einer Provinz klassischer Philologe war, und indem er dieses große Hauptgebiet beherrschte und den sich anschließenden Gebieten wie Geschichte oder Deutsch oder Religion noch ein gewisses Interesse widmete, auch für die etwaigen Realschulen noch ein Maß gesunden Menschenverstandes zur Verfügung hatte, war er durchaus tüchtig für seine Aufgabe. Seit aber verschiedene Gruppen ungleichartiger Lehrfächer sich ungefähr mit gleichem Gesamtgewicht gegenüberstehen und verschiedene Arten höherer Schulen gleiche Beachtung zu beanspmchen haben, ist die fach­ liche Unzulänglichkeit des einzelnen Schulrats oft peinlich für ihn oder andere. Und wenn es auch nicht unmöglich ist, das Notwendige von sachlicher Einsicht nach allen Seiten zu erwerben, so gehört doch mehr dazu, um anregend zu

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wirken, um ins Innere einzugreifen und feinere Kräfte zu würdigen. A little leaming is a dangerous thing, sagte Pope. Hier könnte das übersetzt werden: Der nur ein klein wenig Sachverständige und doch zum Entscheiden Bemfene ist in Gefahr, engherzig zu urteilen. So gibt es denn eben in Frankreich die Inspecteurs g6n6raux für verschiedene Fachgebiete, eine Einrichtung, die sich bei uns bis jetzt nur für Lumen und Zeichnen durchgesetzt hat. Sie weiter auszubauen und zu verallgemeinem dürfte sich als unabweisliche Forderung mit der Zeit ergeben. Freilich sind dabei Zusammenstöße mit den festen pro­ vinziellen Aufsichtsbehörden möglich, aber diese sollten sich dann um so bestimm­ ter auf das allgemein Erzieherische werfen neben den Fragen der äußeren GesamtorganisationEin weiter Blick und ein weites Herz — es wird erlaubt sein, dies zu wiederholen — stehen in nahem Zusammenhang. Die Bereitwilligkeit, auch neue Vorschläge zu würdigen und neue Versuche zu gestatten, vielleicht zu fördem, wird sich da am ehesten finden, wo der Gesichtskreis nicht eng und die Eingewöhnung nicht zu starr ist. Der in den oben besprochenen Schriften mehr als einmal ausgedrückte Wunsch, daß für solche Versuche Raum gewährt werde, muß in der Tat als zeitgemäß bezeichnet werden. Freüich, die Schulmänner oder Schulverständigen mit angesehenstem Namen fehlen nicht, die alles ein bischen vom „Bewährten" Abweichende mit dem bekannten Humanistenspott verurteilen. Mer zwischen dem Gefühl der sicheren Unfehlbarkeit eines Systems und seiner wirllichen Unerschütterlichkeit ist ein großer Unterschied. Die Gestattung, ja die Ermutigung und Fördemng jener — vorläufig natürlich nur privaten — Erziehungsanstalten auf freierer pädagogischer Gmndlage muß unseren entscheidenden Behörden aufrichtigst empfohlen werden. Doch auch innerhalb des Gesamtsystems der öffentlichen Schulen wird die Gefahr der Erstarrung nur dann beschworen, wenn ein Maß von Bewegungs- und Versuchsfreiheit gern belassen wird, und der Linien, auf denen dies möglich ist, ohne daß man Verwirrung befürchten muß, sind nicht wenige. Zur völligen Gleichheit der Organisation drängt vieles: die Freizügigkeit der Familien oder Versetzbarkeit der Familienhäupter, die den Übergang ihrer Kinder auf andere Schulen selbst dann nicht leicht finden, wenn sie die gleiche Organisation wieder antreffen, und die unter erheblicher Verschiedenheit schwer leiden; aber außerdem auch das Bedürfnis der Regierung, feste Ordnung zu schaffen, feste Maßstäbe zu finden, die als die beste erkannte Form überall durchzuführen. Gerade ein großer Staat mit willenskräfügem Regiment neigt immer zur Zentralisation; vom Auseinandergehen zum Auseinanderfallen ist nicht weit. Mer gleichwohl neigt wiederum die Zentralisation immer zur Erstarrung, und staatsmännische Weisheit ist es jedenfalls, ein ansehnliches Maß von Bewegungsfreiheit zu fördem, so lange Gesundheit der allgemeine Eindmck ist. Einer ganz bestimmten Form genügen zu sollen, das erlaubt

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nur Korrektheit als höchste Tugend, die Menschen müssen da gewissermaßen sich selbst formen lassen; aber lieber möchten sie sich selbst entfalten. Wo Initiative ergriffen werden darf, da ist aktives Interesse; auch die Schüler weisen eine lebendigere innere Beteiligung auf, wenn sie sich auf einem Wege fühlen, den nicht alle die Generationen vor ihnen gegangen sind, und selbst die Familien nehmen an dem Interesse teil, folgen mit Anteilnahme, wo sie sonst nur mit Mißmut abwarten, nur Negatives auffassen und sich kritisch gehen lassen. Daß diese und alle sonst möglichen Maßnahmen über die an sich unend lichen Schwierigkeiten in Zukunft hinwegheben würden, dergleichen muß man freilich nicht meinen. Zumal die allgemeinen Zeitbedingungen, wie oben ausgeführt, für die Aufgabe der Jugenderziehung besonders er­ schwerend sind! Von jenem überreizenden, ermüdenden und entkräftenden Einfluß unseres Kulturlebens wird eben die Jugend mittelbar wie unmittelbar betroffen. Das Erbe des herabgestimmten ellerlichen Kräftezustandes ist weit mehr, als das Maß der gefordertenAnstrengungen, an dem leichten Versagen der Kraft schuld. Eine Anpassung der Anforderungen an das vochandene Maß von Leistungskraft scheint sich als Notwendigkeit aufzudrängen, und allen Mitteln zur allmählichen Medergewinnung verlorener Frische Spielraum zu gönnen, ist nicht minder unabweislich. Mer andrerseits muß doch jenen zerstreuenden Einwirkungen des modemen Lebens ausdrücklich entgegengearbeitet werden durch die alten Mittel der Stetigkeit, des Emstes, der Nötigung zur Konzentration, zur Aus­ dauer und Vertiefung. Nicht alles kann zum Spiel werden, was die Jugend für die Arbeit des reifen Lebens kräftig machen soll. Und die Anfordemngen an das Verstehen und Können jedes einzelnen steigern sich zugleich durch jene erhöhte Temperatur des Wettbewerbs auf allen Gebieten. Wahrlich, die Schwierigkeiten sind so groß, daß demjenigen am wenigsten leicht Recht gegeben werden kann, der für die Erziehung des jungen Geschlechts einen ganz einfachen, leichten und sicheren Weg gefunden zu haben meint. Kann eine Pädagogik dargeboten werden, die die Zukunft sicherstellt? Auch die Zukunft wird voll Kampf sein, Kampf mit den sich widersprechenden An­ sprüchen des Lebens und mit all den erschwerenden Elementen in Natur und Kultur. Doch muß die Gegenwart nicht zufrieden in sich selbst versinken; sie soll nicht plötzlich sich selbst aufgeben, aber sich selbst zu prüfen und bereitwillig sich zu korrigieren, das ist die Gegenwart der Zukunft schuldig.

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15. Sollen zum Schluß die aus allem Vorstehenden sich ergebenden Gesichts­ punkte und das innerhalb des höheren Schulwesens zunächst Wünschenswerte zusammengefaßt werden, so mag es in folgenden Sätzen geschehen. 1. Da das Problem der rechten Jugenderziehung zu keiner Zeit als schlechthin gelöst betrachtet werden kann, indem die Aufgabe nicht bloß an sich un­ endlich kompliziert ist, sondem auch von Generation zu Generation sich einigermaßen verschiebt und außerdem nach allerlei natürlichen Bedingun­ gen sich immer wieder differenziert, so ist in dem periodischen Hervortreten neuer Programme eine Verfehlung durchaus nicht zu sehen, und zu Pro­ testen gestalten sich dieselben um so eher, einer je festeren, weithin bindenden Organisation sie sich entgegenzustellen haben. 2. Es ist verständlich, daß die seit etwa einem Jahrhundert bei uns von staat­ licher Machtstelle aus erfolgte und durch angeknüpfte öffentliche Berechtigungen geschützte Regelung der Schulerziehung in der Stille allmählich eine Menge von Zweifeln hat entstehen lassen und daß die dieser (wie einer jeden Regelung) anhaftenden Schattenseiten immer deutlicher und stärker empfunden werden. 3. Mer tatsächlich wiegen innerhalb derselben auch Gmndsätze allzu sehr vor, die einer Ergänzung oder Korrektur von anderen Gesichtspunkten aus bedürfen. 4. Das erste, natürlichste und allgemeinste Anliegen der Erziehung ist, daß das von dem erwachsenen Geschlecht vertretene Maß von Lebensverständnis und Lebenstüchtigkeit auf die Nachwachsenden übertragen werde. Damit verbindet sich dasjenige der Einordnung in das Leben der Gemeinschaft, das nicht ohne vielfaches Entgegenwirken gegen die natürlichen Antriebe und Lebensäußemngen des jungen Individuums erfolgt. Andrerseits wird jene Übertragung erleichtert oder eigentlich erst ermöglicht durch die dem Menschenkinds innewohnende Kraft der Selbstentwicklung, die es vielfach nur zu begünstigen oder anzuregen gilt. Das rechte Gleichgewicht zwischen Übertragung, Einordnung und Entwicklung findet sich ganz und gar nicht leicht und nicht von selbst, es muß immer wieder gesucht werden und wird viel öfter verfehlt als gefunden und verwirllicht. 5. Natürlich ist es auch, daß Bedeutung und Recht der Selbstentwicklung erst sehr allmählich und spät erkannt worden ist und im Zusammenhang damit der Wert des Individuellen; ebenso natürlich, daß namentlich in Schulen von jeher die Übertragung und die Einordnung als das Wesent­ liche empfunden worden sind, die sich dann als Unterricht und Disziplin darstellen, aber bestimmter auch als Aufgabenstellung, Lernpflicht, Ge-

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horsam. Femer hängt mit dem Wesen der Schule nicht bloß eine gleich­ macherische Tendenz natürlich zusammen, sondem auch die Bevorzugung desjenigen Teiles der zu übertragenden Kultur, der sich zur Übertragung am meisten eignet, nämlich des Wissens. Daß sich mit dieser Übertragung des Wissens die Übung persönlicher Kräfte tatsächlich verbindet wie auch planvoll verbinden läßt, darf nicht verkannt werden, und ebensowenig, daß die Schulen im Laufe der Zeit immer mehr getrachtet haben, mit dem zu übemehmenden Wissen ein Verstehen zu verbinden, wie sie auch gewissen für sich stehenden Fertigkeiten den Raum kaum jemals ganz versagt haben. Aber das Verhältnis zwischen Wissen, Ver­ stehen und Können bedarf immer wieder der Kontrolle, der Korrektur oder doch Vervollkommnung. Das die deutsche höhere Schulerziehung seit einem Jahrhundert beherr­ schende Ideal allgemeiner Bildung oder einer harmonischen Ausbüdung der wertvollen Kräfte hat nicht zufällig für das Gefühl unserer Zeitgenossen sehr viel von seinem Ansehen eingebüßt. Es wird als zu vielumfassend und dennoch nicht ohne Einseitigkeit, als zu gleichgültig gegen die berech­ tigte und schätzbare Verschiedenheit der Anlagen, als zu abstrakt, zu wenig lebendig wirksam empfunden. Und die auf jenes Ideal begründeten Lehr­ pläne unserer höheren Schulen unterliegen damit einer entsprechenden Kritik. In bestimmterer Weise noch wird an diesen Lehrplänen oder der Art der Unterrichtsgestaltung angefochten: die zu gleichmäßige Verpflichtung aller Schüler zur Bewältigung gestellter Aufgaben bis zum Schlüsse der ge­ samten Periode des Schulbesuchs, das zu starke Zurücktreten freiwilliger Bemühung gegenüber der auferlegten, ein zu starkes Vorwiegen des streng Jntellektualistischen und auch des Gedächtnismäßigen, ein zu starkes Vor­ wiegen der Rezeptivität und Passivität, und im Zusammenhange damit sowie mit der neutralisierenden Wirkung des Vielerlei ein unbefriedigendes Gesamtergebnis nach Seite des erworbenen Interesses wie der Lebens­ tüchtigkeit. Wenn weit mindere Übereinstimmung der Kritik hinsichtlich der wünschens­ werten Ausscheidung oder Neuaufnahme bestimmter Bildungsstoffe herrscht, so dürfen wir uns doch auch in dieser Beziehung nicht allzu sehr von der Tradition binden lassen, zumal die Entwicklung der Wissenschaften und auch Verändemngen des Kulturlebens Einfluß auf Auswahl, Gewicht und Verbindung der Unterrichtsstoffe müssen üben dürfen. Im Zusammenhang mit dem allzu starken geistigen und moralischen Tmck findet man weithin ein nicht nur unfreudiges, sondem auch sittlich in be­ stimmter Weise (an Verstecktheit, Unwahrhaftigkeit und Entfremdung) krankendes Schulleben, und eine Wandlung in dieser Hinsicht muß mit

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besonderem Emst befördert werden; für die äußere und innere Ge­ staltung des Schullebens sind deshalb zum Teil veränderte Gmndlagen zu suchen. Im ganzen sollen die höheren Schulen in einem volleren und echteren Sinne den Charakter von Erziehungsanstalten anstreben, der chnen als Lehranstalten zwar nicht fremd ist, aber doch erfahmngsgemäß mehr nur ausnahmsweise sich befriedigend verwirllicht. Um so wünschenswerter ist dies in einer Zeit, wo die neben der Schule hergehende Erziehung besonders unsicher und gefährdet erscheint. Aus den hiermit bezeichneten Gmndsätzen die rechten theoretischen und praktischen Folgerungen zu ziehen, erfordert viel bestimmte Sach­ kenntnis und Besonnenheit; leidenschaftliche Geltendmachung maßloser Neufordemngen unter einseitigem Gesichtspunkte kann nur den wirklichen Vollzug der wünschenswerten Wandlung hemmen, und eine wirklich herbeigeführte volle Umkehmng des Bestehenden würde nur die Reaktion des entgegengesetzten Gesichtspunktes nach einiger Zeit veranlassen. Übri­ gens sind die vorhandenen Schulen twtz aller Übereinstimmung der Lehr­ pläne und der Organisation nach dem in chnen herrschenden Geiste so ver­ schieden, daß allgemein zutreffende, gerechte Urteile sich weit schwerer fällen lassen als man denkt. Von den verschiedenen Vorschlägen, die auf möglichste Befreiung der Schuljugend vom Dmck des Lemens hinzielen, können gewisse allzu leicht­ herzig gemachte keinen Anspmch auf ernstliche Erwägung machen. Weder können wir uns auf Beibehaltung bloß einiger weniger Schulfächer be­ schränken noch ist der gegenwärtig anzueignende Wissensstoff tatsächlich so massenhaft und ungesichtet, wie man es darzustellen liebt, ebenso wie auch die Aneignung mit Unrecht als eine schlechthin mechanisch-gedächtnis­ mäßige angesehen wird. Von den beiden Hauptaufgaben der Erziehung, nämlich Weckung und Pflege der persönlichen Kräfte und Übermittlung eines wertvollen Bewußtseinsinhalts, darf die letztere nicht der ersteren geopfert werden, zumal sie nicht nur zur Lebenstüchtigkeit in einem besseren Sinne mit gehört, sondem mit ihr auch ein bewährter nationaler Vorzug preisgegeben würde. Auch der Tendenz auf immer größere Ausdehnung der Ferien und immer häufigere Unterbrechung des regelmäßigen Unterrichts darf man nicht zustimmen. Ohne den nötigen Zusammenhang bleibt die Lehr- und Semarbeit unfruchtbar; zur Ausdauer auch unter ungünstigen äußeren Be­ dingungen muß schon die Jugend, und zwar nicht bloß körperlich, sondern auch auf geistigem Gebiete angehalten werden, und die einer bedeutenderen Stellung im nationalen Gemeinschaftsleben entgegengehende Jugend der höheren Schulen erst recht. Ausgiebige Pausen zwischen den sich folgenden

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Unterrichtsstunden sind nicht nur zu gewähren, sondern es muß auch die vorteilhafteste Benutzung ermöglicht und angeregt werden. Die Forderung, den Unterricht meistens im Freien stattfinden zu lassen, ist unerfüllbar, sie würde eine außewrdentliche körperliche Zumutung an die Unterrichtenden bedeuten und auch sonst große Unznträglichkeiten mit sich bringen. Dergleichen kann bloß für die Anfangsstadien in gewissen Fächern und später nur zwischendurch und gelegentlich in Betracht kommen. Andrerseits muß der Ermüdung im Unterricht nach Möglichkeit sorgsam vorgebeugt werden durch den rechten Wechsel der Betätigungen, die Heranziehung der Schüler zu möglichst viel Selbsttätigkeit, durch lebendigen Ton und sonstige Mittel persönlicher Unterrichtskunst. Der Verzicht auf Hausaufgaben bedeutet eine aus ganz oberflächlicher Betrachtung der Dinge hervorgehende, mit der wirllichen Erziehungs­ aufgabe unvereinbare Fordemng. Die Hausaufgaben, bei denen der einzelne Schüler wirllich auf seine Kraft angewiesen wird, büden eine ganz notwendige Ergänzung der Unterrichtsstunden. Indessen muß das Maß der dafür aufzuwendenden Zeit, welches oft infolge ungünstiger Lebensgewohnheiten viel größer erscheint, als es an sich ist, und welches seit Jahrzehnten gmndsätzlich immer mehr beschränkt worden ist, gleich­ wohl immer wieder sorgfältig kontrolliert, und namentlich muß der sehr ungleichen Kraft der verschiedenen SchAer tunlichst Rechnung getragen werden. Die vielfach geforderte Wschafsung der Schlußprüfungen könnte zwar dem Gedeihen der Studien namentlich bei besseren Schülern zugute kommen, würde aber andrerseits auch eine wichtige Schule des Willens preisgeben und bei der Mehrzahl die Lässigkeit begünstigen. Die Bedeutung eines bestimmten und geschlossenen positiven Wissens und Könnens als Grundlage für vollere Teilnahme am Kulturleben wird mit Unrecht ver­ kannt. Es müssen aber die Prüfungen immer mehr so gestaltet werden, daß das Positive der Leistungen zur Geltung kommt, daß Urteil und Ausdmcksfähigkeit durchaus den Vorrang vor Gedächtnisbesitz und Reproduk­ tion erhalten und daß der Ausgleich bestimmter Schwächen durch bestimmte Vorzüge weitherzig zugelassen wird. Die Individualität der einzelnen SchAer in dem Maße zu berücksichtigen, wie es von feiten der Familien vielfach verlangt wird, ist innerhalb des Schullebens weder möglich noch mit dem Zwecke der öffentlichen Schule und der Erziehung für das Gemeinschaftsleben wohl verträglich. Aber weiter, als bis jetzt Mich, kann und sollte die Berücksichtigung individu­ eller Wesensart allerdings gehen. Die alten oberflächlichen Unterscheidun­ gen der SchAertypen genügen durchaus nicht, neuere Psychologie wie

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auch Humanität und Menschenkenntnis legen weit feinere Unterscheidungen nahe, und es muß z. B. das Unrecht vermieden werden, welches den be­ sonders mit Phantasie und mit künstlerischer Anlage begabten Schülem unter dem Gesichtspunkte rein verstandesmäßiger Bewertung angetan zu werden pflegt. So müssen auch die den Schülem erteilten Zeugnisse nicht bloß Nummem oder abgestufte Prädikate geben, sondem in besonderen Wendungen be­ stimmte Beobachtung und Kenntnis der Natur des einzelnen Schülers nicht vermissen lassen. Wenn dies eins der Mttel zur Bessemng des jetzt weichin fehlenden Ein­ verständnisses zwischen Schule und Familie ist, so sollten noch andere Ein­ richtungen zur Herbeifühmng eines vertrauensvollen Austausches nicht versäumt werden. Die künftige Gestaltung des Unterrichts muß namentlich auch in dem Ver­ hältnis zwischen Lehrem und Schülem eine günstige Wandlung hervormfen. Nicht im Auferlegen, Anbefehlen, Kontrollieren, Zensieren muß sich die Tätigkeit der ersteren erschöpfen, sondem zugleich und vor allem im Anregen, Ermutigen, Fördem, Unterstützen, Anerkennen. Uber dem Feststellen des Fehlenden und Verfehlten darf nicht das Würdigen des Positiven versäumt werden; die innerhalb des wissenschaftlichen (besonders des philologischen) Studiums gewonnenen Maßstäbe dürfen nicht in die Sphäre des Jugendunterrichts übernommen werden. Das rechte Verhältnis der pädagogischen Vorbildung zur fachwissenschaft­ lichen bleibt schon für die Universität ein noch zu lösendes Problem. Im Zusammenhang damit wird auch die Einrichtung der praktischen Borberei­ tungszeit noch neuerPrüfung zu unterziehen sein. Daß einTeil derselben von jedem Kandidaten in einem Jntemat zugebracht würde, wäre wün­ schenswert. Andrerseits muß Ermäßigung der Pflichtstundenzahl der Lehrer im Inter­ esse der rechten erzieherischen Disposition, einer freien Lebensstimmung wie einer steten wissenschaftlichen Selbstverjüngung gewünscht werden. Eine periodische längere Beurlaubung (nach gutem amerikanischen Vor­ bild), etwa für ein Semester in jedem fünften Jahre, wäre gerade auch unter jenem Gesichtspunkt eine treffliche Maßnahme. Die allzu an­ dauernde innere Reibung macht leicht gereizt, lleinlich und unfroh. Sehr viel allgemeiner muß innerhalb der Lehrerkreise das Verständnis für die besten hygienischen Bedingungen des Schullebens werden, und zwar für die physische wie die geistige Hygiene. Gleichgültigkeit gegen diese Gebiete ist ein unerfreuliches Erbstück aus humanistischen und rationalistischen Zeiten. So sehr sich die Schulbauten der Neuzeit auch in hygienischer Beziehung

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über die früher als genügend geltenden erheben und so mannigfaltig schätzenswerte Ausstattung sie auch aufweisen, so wäre doch dem eigent­ lichen Bedürfnis erst genügt, wenn große und gute Spielplätze sowie Schul­ gärten mit mannigfach anregendem Inhalt regelmäßig zur Verfügung ständen. In der Zurückschiebung anstrengenden Unterrichts in die höheren Klassen hinein bürsten noch weitere Versuche als die bisher gemachten angezeigt sein. Es scheint, daß die heutige Jugend für die Jahre bis an die Schwelle des Jünglingsalters leichte Schulen braucht. In die höheren Klassen sollten dann aber nur solche zugelassen werden, die durch Begabung und ernsten Willen zu eindringenderen Studien berufen erscheinen, während jetzt eine große Anzahl von geistig und moralisch sehr Mttelmäßigen durch­ geschleppt werden muß. Auch besondere Anstalten mit erhöhten Anfordemngen für gut begabte und strebsame SchAer wären, wie sie früher bestanden, wieder erwünscht, und namentlich sollte eine eindringliche Pflege der alten Sprachen auf solchen besonderen Anstalten („Lyzeen" ?) ihre Stätte finden. Eine gewisse Wahlfreiheit in den weiter zu betreibenden oder neu zu ergreifenden StMenfächem sollte unbedingt schon während der letzten Schuljahre zugestanden sein; schlechchin gleichmäßige Fordemngen in diesen Jahren, von einem abstrakten Ideal aus auferlegt, sind unpsycho­ logisch, ungerecht und unpraktisch. Ist bestimmtes und ausdauerndes Müssen zwar für die Bildung des Willens von großem Werte, so muß andrerseits im Interesse dieser selbigen, möglichst echten Willensbildung mit dem Müssen immer die Gelegenheit zu freiem Wollen zusammen­ gehen, und es dürfen neben den von außen gesteckten Zielen die selbst­ gewählten nicht fehlen. In dieser Beziehung müssen die bisherigen schwachen Versuche viel weiter geführt und muß von dem überkommenen Ideal mutiger abgegangen werden. Ob man nicht schließlich zu der Unterscheidung von allgemein verbindlichem „Kemunterricht" und einer Anzahl wahlfreier Fächer und Kurse gelangen soll, sei wenigstens als Frage hingestellt. Es ließe sich dann auch von der strengen Durchfühmng des Klassensystems einigermaßen abgehen und Bereinigung verschiedener SchAer zu Gruppen für bestimmte Neben­ fächer (wie sie früher längere Zeit üblich war und dies im Auslande zum Teü noch jetzt ist) daneben stellen. Während der Unterricht in jedem einzelnen Lehrfach stets eine Menge methodischer Fragen entstehen läßt und der Eifer ihrer Erörterung in der deutschen Lehrerwelt große Anerkennung tierbient, knüpfen sich zurzeit besondere Fragen an den Unterricht: in der evangelischen Religion, wo für die oberen Klassen ein viel mehr

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historischer als autoritativer Unterricht durch die ganze innere Zeitlage erfordert wird; int Deutschen, wo die Beschäftigung mit literarischen Kunstwerken sich von intellektualistisch-analytischer Gepflogenheit frei machen, wo in den Aufsätzen die Denk- und Ausdrucksfähigkeit unter Preisgabe des alten rhetorischen Betriebs erprobt werden und auch dem Versuch in selb­ ständigem Urteil sowie der Entfaltung von Phantasie, Schilderungskunst usw. Raum gelassen werden soll; in den alten Sprachen, wo die noch immer durchaus nicht überall über­ wundene kleinlich grammatische Ausnutzung der schriftstellerischen Kunst­ werke völlig abgetan werden muß und keineswegs, wie noch immer vielfach, die unvorbereitete schriftliche Übersetzung in die fremde Sprache (das „Extemporale") den entscheidenden Maßstab für die Beurteilung des Schülers bilden darf; in den neueren Sprachen, wo entsprechend den ganz eigenartigen, mannig­ fachen und schwierigen Zielen dieses Unterrichts der Anschluß an den Betrieb der alten Sprachen noch weit bestimmter abgelehnt werden muß, wo auf wirkliche Richtigkeit der Aussprache ein ganz anderes Maß von Energie als bisher üblich verwendet werden, wo Lebendigkeit des gesamten Betriebes (int Gegensatze zur Buchmäßigkeit) eine Haupt­ aufgabe bilden und wo auf allen Stufen Übung mit Verständnis sich mannigfach durcheinanderschlingen muß; in den sogenannten Fertigkeiten, deren Bedeutung innerhalb des Bildungs­ geschäfts voller als seither gewürdigt werden muß und die, wenn auch zum Tell wahlfrei, doch bei der Gesamtbeurteilung der einzelnen Schüler gebührend mit ins Gewicht fallen sollten. 32. Eine Erwägung von besonderer Wichtigkeit aber stellt sich bei der Frage ein, ob nicht der Inhalt mancher der jetzt getrennten Fächer derart zu­ sammengeschlossen werden kann, daß größere Lehrstoffeinheiten gebüdet und die Schüler weniger zwischen mannigfachen separierten Gebieten gleichzeitig hin und her gezogen werden. Innerhalb dieser größeren Ein­ heiten (deren z. B. „Biologie" als Zusammenfassung aller Naturgeschichte, oder auch Naturgeschichte samt Geographie, oder exakte Naturwissenschaft, eventuell auch Mathematik mit mathematischer Physik, je eine bilden könnte) hätte dann der Stoff zu wechseln, so daß mehr Sukzession als Simultaneität der Stoffe gepflegt würde. Auch bei den fremden Sprachen wäre der Versuch mit zeitweiliger voller Inanspruchnahme für eine derselben und Absetzen oder Zurücktretenlassen anderer angezeigt (wie dies von denkenden Pädagogen früherer Zeit oft befürwortet worden ist). Die (schon er­ wähnte) neutralisierende Wirkung des gegenwärtigen Vielerlei ist eine

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Zweiter Teil. Betrachtungen und Vorschläge.

der Hauptquellen der jetzigen Unzufriedenheit wie der Dürftigkeit der Ergebnisse. In ein naturwissenschaftliches Gesamtgebiet der vorstehend angedeuteten Art wären auch Gmndbegriffe solcher Mssenschaften hineinzuarbeiten, die gegenwärtig bedauerlicherweise von den Lehrplänen abgesetzt zu sein pflegen, aber mehr als manches andere nicht bloß zur allgemeinen Bildung gehören, sondem auch meist auf lebendiges Interesse rechnen können, wie Geologie, Paläontologie, Astronomie. Das eigentliche Schulziel müssen eben auf vielen Gebieten vielmehr Gmndbegriffe und Anregungen bilden als Einzelkenntnisse und Systematik. Tie Kontrolle über die Tätigkeit der einzelnen Lehrer sowie Schulen muß in einer Weise geübt werden, daß weder schablonenhafte Anfordemngen noch Kleinlichkeit herrschen, daß nicht das äußerlich Aufzeigbare gegenüber dem eigentlich Wertvollen bevorzugt wird und nicht bloße völlige Korrekt­ heit als schätzenswerter Borzug gilt. Aus der gewöhnlichen Amtssphäre darf hier so wenig wie aus der müitärischen das Vorbild entnommen werden. Die auf gute neue Gesichtspunkte begründeten ländlichen Erziehungs­ heime verdienen, weil mindestens für vieleFälle sehr geeignet, Begünsti­ gung; ähnliche Anstalten auch aus öffentlichen Mitteln zu errichten, muß empfohlen werden. Das gegenwärtige Interesse an Umgestaltung und Erhöhung des Wertes der weiblichen Schulbildung sollte vielmehr zum Aufsuchen neuer Organisa­ tion der Bildung überhaupt Anlaß geben als zu einfachem Anschluß an die vorhandene (ihrerseits so vielfach angefochtene) Knabenschulbildung, und es könnte sogar von dort her eine günstige Rückwirkung aus die letztere erfolgen. Den von einem völlig gemeinschaftlichen Unterricht von Knaben und Mädchen sowie Jünglingen und Jungfrauen gegenwärtig erwarteten Bortellen stehen auch sicher zu erwartende Nachteile gegenüber, die zugleich mit jenen zu sehen man zu wenig geneigt scheint. Tie Beziehungen zwischen höherer Schule und Universität sind unter mehr als einem Gesichtspunkte neuer Erwägung bedürftig. Um die Schroff­ heit des Übergangs abzustumpfen, sind von beiden Seiten Zugeständnisse nötig. Auch für die Periode des Universitätsbesuchs sollte nicht auf jede Regelung des Lebens unter erzieherischem Gesichtspunkte verzichtet werden, wobei es sich nicht sowohl um Maßnahmen handeln kann als um Einrichtungen, die der rechten Entwicklung der Persönlichkeiten zu dienen haben. Der einheitliche organische Aufbau des ganzen Schulwesens unter sozial­ philanthropischem Gesichtspunkt in der Art, daß alle Kinder der Nation dieselben ersten Stadien zu durchlaufen haben und ein Aufsteigen zu

Zusammenfassung des zunächst Wünschenswerten.

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höheren Unterrichtsgelegenheiten nur nach Maßgabe der intellektuellen und sittlichen Tüchtigkeit erfolgen soll, bedeutet ein Ideal, dessen Verwirk­ lichung doch nicht bloß egoistische Standesgefühle und die Macht des Her­ kommens entgegenstehen, sondem auch praktische, politische und psycho­ logische Gesichtspunkte. Jedenfalls ist so tiefgreifenden Neuerungen gegenüber besonnene Zurückhaltung nicht verwerflich.

Anmerkungen zu den im Text mit *) versehenen Stellen. S.

88: Tatsächlich besteht in Preußen längst die Einrichtung, daß der Nachweis eines gewissen Grades künstlerischer Ausbildung das Zeugnis der wissenschaft­ lichen Befähigung für den einjährig-freiwilligen Militärdienst ersetzen kann. Man vergleiche die „Wehrordnung". S. 98: Hingewiesen darf in der Tat darauf werden, daß manche der bedeutendsten pädagogischen Denker ausdrücklich den Kindern Stunden der Kontemplation (so Schleiermacher) zugebilligt wissen wollen, was als ein etwas hochgehender Ausdruck für ein auch in einfacherer Weise zu bezeichnendes, aber durchaus richtig erkanntes Bedürfnis gelten mag. Ebenda: Über den nötigen Humor in der Schule sind denn doch in den Kreisen der Lehrer selbst manche treffliche Ausführungen gemacht worden, so noch im November 1907 in der Berliner Gymnasiallehrer-Gesellschaft in einem aus­ gezeichneten Vortrag von Professor Eugen Grünwald. S. 109: Den gleichen Gedanken von bitterem Ernst im Kleid des Scherzes habe ich meinerseits schon längst (s. „Anmerkungen zum Text des Lebens", Berlin 3. Aufl. 1894, S. 153) ausgesprochen. •©. 110: „Nicht genug Kunstverständnis? Also Kunst in die Schule! Die Schule kann doch nicht noch mehr bewältigen! Weshalb nicht? Es ist noch viel Platz in den Lehrplänen l Was nützt es im Lehrplan, wenn es nicht geleistet werden kann! Nicht geleistet werden kann? Da soll der Teufel den Lehrer holen. Wenn ein Nationalökonom ausrechnet, daß zu viele Pilze im Walde verderben — die Schule! eine Pilzstunde! Die Obstzucht könnte mehr Gewinn abwerfen — die Schule! eine Obstbaustunde! Die Wahlen sind schlecht — eine Stunde soziale Frage! Die Missionskollekten geben nicht genug Ertrag — Mission in die Schule! Die Frechheit nimmt überhand — eine Stunde gegen die Frechheit t Ebenda: Gegen eine ungünstig wirkende Anwendung der auf Herbart und mehr noch auf Pestalozzi zurückgehenden Theorie von der notwendigen Lückenlosig­ keit im Prozeß des Unterrichts habe ich meinerseits längst und mehrfach Ein­ wendungen erhoben; so „Neue Pädagogische Beiträge" S. 116 und „Geist des Lehramts" 2. Aufl. S. 358 f., wo es u. a. heißt: „Ob auf vorgerückteren Stufen der jugendlichen Geistesentwicklung nicht durch allzu vorsichtiges Ver­ weilen, allzu ängstliches Voranschreiten, allzu dichtes Verknüpfen und Ver­ wirken geradezu Schaden angerichtet werden kann und vielfach wird? Ob dem Geiste des Schülers wirklich nichts zu kombinieren, zu überbrücken, zu erjagen und zu erfliegen bleiben soll?... Mit dem Grundsatz der Lückenlosigkeit kann in der Tat Unfug getrieben werden, er kann verödend und abstumpfend wirken." Usw.

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Anmerkungen.

S. 122: Die Namen auch nur der bedeutendsten unter all den eifrigen dortigen Arbeitern auf dem Gebiete pädagogischer Erkenntnis können hier nicht auf­ geführt werden. Viel Originelles bringen 5, B. auch Zeitschriften wie die in Rahway NU. und in New Jork erscheinende Educational Review oder die in Chicago (University Press) veröffentlichte School Review. Es wäre wün­ schenswert, daß an deutschen höheren Schulen man sich durch Halten solcher Zeitschriften in Fühlung mit dem frischen transatlantischen Leben hielte. S. 133: Daß auch andere Werke über Pädagogik, die noch weniger als die besproche­ nen Polemik zu ihrem eigentlichen Zwecke haben, doch mehr oder weniger oft ein zukünftig Wünschenswertes dem gegenwärtig Geltenden gegenüber­ stellen, versteht sich. In diesem Sinn dürfte z. B. die „Praktische Pädagogik für höhere Lehranstalten" von Adolf Matthias (München, 2. Ausl. 1903, Osk. Beck) nicht unerwähnt bleiben. S. 141: Pädagogischem Fortschritt oder dem Können der Zukunft zu dienen ist selbstverständlich auch ein Werk geeignet wie „Die Elemente der ErziehungSund Unterrichtslehre auf Grund der Psychologie der Gegenwart", dargestellt von Paul Barth (Leipzig 1906, I. A. Barth). Ebenda: ES handelt sich.um Güttingen (Baumann), Dresden (Schultze), Straßburg (Ziegler), Marburg (Natorp), Berlin (Döring), Jena (Rein), Karlsruhe (v. Sallwürk). Übrigens wäre von Dresden auch noch die Rektoratsrede von W. Hempel „Über die Erziehung der jungen Männer" (1902) in Betracht gekommen. S. 144: Dem Verfasser K. selbst verdanken wir zugleich das große Werk über „Die Entwicklung der zeichnerischen Begabung" (München 1905, Carl Gerber). S. 153: Übrigens ist eine solche Zurückhaltung des Urteils, wie sie hier zum Ausdruck kam, nicht füglich mehr berechtigt, seit wir in den (Ende 1907 veröffentlichten) „Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik und ihre psycho­ logischen Grundlagen" von Professor Ernst Meumann (2 Bände, Leipzig bei Wilh. Engelmann) einen lichtvollen, zuverlässigen und vollständigen Über­ blick über das bis jetzt Erstrebte und Festgestellte besitzen. Dieses Werk ist ge­ eignet, namentlich auch viele Lehrer höherer Schulen in das neue und große Gebiet hineinzuführen und für manche bestimmte Zielsetzung im einzelnen die Unterlagen zu geben. S. 158: Zur Schätzung des Wissens als solchen sei ein Zeugnis noch aus dem 16. Jahr­ hundert angeführt, nämlich das Urteil von Samuel Johnson: „A desire of knowledge is the natural feeling of mankind, and every human being whose mind is not debauched will be willing to give all that he has to get know­ ledge.“ Und noch ein ganz moderner amerikanischer Autor, C. V. O'Shea, spricht sich dahin aus: „Knowledge sets the mind free, gives it poise and balance and stability in the face of an apparently disorganised universe.“ S. 171: Bis zu 12 und selbst 14 täglichen Stunden geistiger Arbeit hat man zuzeiten und haben namentlich gewisse führende Männer den Schülern der obersten Klassen ansinnen zu dürfen gemeint. S. 172: Es muß hier doch angeführt werden, daß im Laufe des 19. Jahrhunderts bedeutende Vertreter der Gymnasialpädagogik ausdrücklich erllärten, das Gymnasium solle nicht Schule der Produktton sein, sondern der Rezeptton und Reproduktion. (So Hirzel in seinen 1867—73 gehaltenen Vorlesungen.) 6.179: Ich hätte hier weder Anlaß, auf die Ausführungen über das Bedürfnis eines freundlich zu gestaltenden Schullebens schon in meinen „Neuen Päda­ gogischen Beiträgen" S. 133 f. zurückzuverweisen. Münch, ZukunftSpädagogik. 3. Ausl.

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Anmerkungen.

S. 183: Über die große Zahl der bestimmt angeordneten regelmäßigen Prüfungen ist schon in dem pädagogisch nicht bloß uns besonders nahestehenden, sondern gegenwärtig auch besonders angeregten Österreich viel Klage zu hören. Und im ganzen gehen fast überall im Auslande die Bestimmungen für die Prüfungen weit mehr als bei uns vom Mißtrauen aus. S. 185: Den Versuch, zwischen den Forderungen der modernen Protestler und den wirklichen Zukunftsbedürfnissen der deutschen Schulerziehung die rechte Vermittlung zu finden, hat neuerdings auch der Direktor Josef Baar zu Linz a. Rh. in einer Schulfestrede gemacht, die im Juniheft 1907 der Berliner Zeit­ schrift für das Gymnasialwesen unter der Überschrift „Gegenwarts- und Zu­ kunftspädagogik" abgedruckt ist und sicherlich der Beachtung durch einen weiteren Leserkreis würdig wäre. Einige Stellen zur Kennzeichnung des Gedanken­ gehalts seien hier angeführt. „Wohl ist die Willenserziehung zu preisen... auch wir wollen zur Energie erziehen, aber zu einer Energie, die in den Dienst der sittlichen Vervollkommnung gestellt wird." ... „Der Lehrer kann seiner Zeit vorauseilen in der Entwicklung und den Typus des umsichtigen, groß­ zügigen, vornehm denkenden, hochgebildeten Pädagogen vorstellen, wie er erst nach hundert Jahren allgemeiner sein wird." ... „Die Schulfrage kann jeder einzelne Lehrer für sich lösen durch seine Persönlichkeit, eine allgemeine Lösung dagegen ist unmöglich." ... „Wir dürfen nicht zu oft mit den gehar­ nischten Worten dreinfahren: Das muß anders werden! Sondern wir müssen viel öfter den kategorischen Imperativ gegen uns selbst wenden und fragen: welche Ursachen sind hier tätig gewesen und welche lassen sich beseitigen?" ... „Der Lehrer muß fröhlich sein mit der Jugend; denn wie können die Schüler einer Tugend trauen, die böse Launen, Verdrossenheit und ärgerliche Menen zeigt?" Da hier wieder die Frage der rechten Willenserziehung berührt wurde, so sei doch noch eine sehr beachtenswerte Äußerung von W. L. Fritzsche (im „Tag" 20. August 1907) angeführt: „In Humboldtscher Erkenntnis ... gilt es, den Willen zu tätigem, bedeutendem Leben ... zu entwickeln;... dann auch dafür zu sorgen, daß er nicht ohne Frucht wild ins Kraut schieße." Zugleich „erscheint es richtig, der jugendlichen Eindrucksfähigkeit auch unsympathische Lerngegenstände zuzuweisen, wenn diese voraussichtlich später nur mit erhöhter Schwierigkeit aufgenommen werden müßten. Drittens erachte ich es für den Durchschnittsmenschen gefährlich, ohne alle Gewöhnung an gelegentliches hartes Müssen, nach wolkenloser Kindheit plötzlich in die Kompliziertheit des Kulturlebens gestellt zu werden."