Bestimmtes Selbst: Personalität und Determination in neurowissenschaftlichen Konzepten und Luthers "De servo arbitrio" 9783666564147, 9783525564141, 9783647564142

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Bestimmtes Selbst: Personalität und Determination in neurowissenschaftlichen Konzepten und Luthers "De servo arbitrio"
 9783666564147, 9783525564141, 9783647564142

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Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie

Herausgegeben von Christine Axt-Piscalar und Gunther Wenz Band 145

Vandenhoeck & Ruprecht

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Sebastian Sievers

Bestimmtes Selbst Personalität und Determination in neurowissenschaftlichen Konzepten und Luthers „De servo arbitrio“

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56414-1 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Ó 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch, Ochsenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Meinen Eltern

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Vorwort Um nichts Geringeres als die Darlegung und Verteidigung der tota summa Christianarum rerum ging es Martin Luther, als er mit De servo arbitrio seine Antwort an Erasmus von Rotterdam richtete. Immerhin hatte dieser mit seiner Abhandlung über das liberum arbitrium zielgenau den Grunddissens Luthers mit den Altgläubigen benannt. Meine Erfahrung mit dieser „Summe der christlichen Angelegenheiten“ ist: Man wird nicht fertig mit ihr. Sooft ich sie lese, entdecke ich neue Perlen, neue Fundstücke, neue Gedanken. Dass die vorliegende Arbeit, die eine geringfügig veränderte Version meiner Dissertation – im Sommersemester 2013 von der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen angenommen – ist, nun doch ein einstweiliges Ende meiner Beschäftigung mit De servo arbitrio markieren kann, habe ich vielen Menschen zu verdanken. Mein herzlicher Dank gilt vor allem meiner Doktormutter Frau Prof. Dr. Christine Axt-Piscalar, in der ich, wann immer ich dessen bedurfte, eine begeisterte „De servo“-Leserin als Gesprächspartnerin für inspirierende Diskussionen hatte. Mit ihren Angeboten zur Beratung, aber auch mit der Gewährung des nötigen Frei- und Zeitraums zur eigenen Denkarbeit hat Frau Prof. Dr. Axt-Piscalar meine Promotionszeit begleitet und geprägt. Dank sei ihr nicht zuletzt gesagt für die Erstellung des Erstgutachtens. Ihr und Prof. Dr. Gunther Wenz danke ich außerdem für die freundliche Aufnahme in die „Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie“. Herrn Prof. Dr. Martin Laube danke ich sehr für die Erstellung des Zweitgutachtens. Viele Menschen im Umfeld der Theologischen Fakultät haben mich über Jahre hinweg begleitet, mit mir diskutiert, nachgedacht und Kaffee getrunken. Dankbar nenne ich nur einige und meine alle: Frau Dr. Christina Costanza und Frau Anna Klassen haben mit großer Geduld meine Arbeit lektoriert und mir Mut gemacht. Vielen Dank. Den Herren Wolf Leithoff, Christoph Seifert und Oskar Hoffmann als Mitarbeitern am Lehrstuhl für Systematische Theologie I, sowie Frau Dr. Stefanie Frost sei für gute Gespräche und offene Türen gedankt. Am meisten danke ich Damaris und Michael Grimmsmann für die tiefe Freundschaft, mit der sie mich als Kommilitonen, später als Kollegen begleitet haben und hoffentlich bald als Amtsgeschwister begleiten werden. Dass diese Arbeit überhaupt entstehen konnte, ist das Verdienst der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, die mich vier Jahre lang

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Vorwort

als Repetent am Evangelischen Studienhaus Göttingen beschäftigt und mir so die Finanzierung des Promotionsvorhabens gesichert hat. Die Landeskirche hat sich schließlich überaus großzügig an den Druckkosten beteiligt. Einen erheblichen Teil der Druckkosten hat außerdem die Vereinigte EvangelischLutherische Kirche Deutschlands getragen, wofür ich sehr danke. Meine Frau hat mich und meine Launen – gerade in der Endphase dieser Arbeit und während der Vorbereitung aufs Rigorosum – ge- und ertragen. Dafür und für das gemeinsame Leben und Arbeiten danke ich ihr von ganzem Herzen. Diese Arbeit ist, weil Dank nicht ausdrückt, was zu sagen wäre, den beiden Menschen gewidmet, von denen ich erfahren habe, was wichtig ist, und worum zu sorgen mich am Ende ausmacht (vgl. H.G. Frankfurt, The Importance Of What We Care About, 1982). Thedinghausen-Lunsen, im Mai 2014

Sebastian Sievers

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Inhalt

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Thematische Bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Zum Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Anmerkungen zum gegenwärtigen Diskussionsstand . . . . 1.3.1 Melanie Beiner : Intentionalität und Geschöpflichkeit 1.3.2 Andreas Klein: Willensfreiheit auf dem Prüfstand . . 1.3.3 Wolfgang Achtner : Willensfreiheit in Theologie und Neurowissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.4 Benedikt Bruder : Versprochene Freiheit . . . . . . .

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2. Neurowissenschaftliche und philosophische Positionen . . . . . . . 2.1 Synchronisierte Metarepräsentationen und soziale Interaktion: Wolf Singers Bewusstseinstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Das Bindungsproblem: Einheitliche Objektwahrnehmung und einheitliches Bewusstsein . . . 2.1.2 Selbstmodell als soziales Konstrukt: Singers Verständnis des Ich-Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Die Libet-Versuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Entscheidungen als distributiver Wettkampf ohne zentrale Entscheidungsinstanz . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Einige Überlegungen zu Hirnforschung und Determinismus . . 2.2.1 Determinismus und Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . 2.2.1.1 Verneint die Hirnforschung den Personenbegriff ? – Zur Frage des angewandten Vokabulars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.2 Wer trägt Verantwortung? – Zur Subjektverdoppelung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.3 Allmächtige Naturgesetze? – Zu den Anforderungen an die Naturgesetze . . . . . . . . 2.2.1.4 Kompatibilistische Ansätze . . . . . . . . . . . . 2.2.1.4.1 Michael Pauens Minimalkonzeption von Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.4.2 Thomas Buchheim: „Können“ als zukunftsorientierte Eigenschaft identisch bleibender Individuen . . . . 2.2.1.4.3 Harry G. Frankfurt: „Caring“ und die Bedeutsamkeit der Liebe . . . . . . . .

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Inhalt

2.2.1.5 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Proto-Selbst, Kernselbst, erweitertes Selbst, Ich: Antonio R. Damasios neurobiologische Theorie des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Vom Gehirn zum Körper und zurück: Wie aus Emotionen Gefühle werden . . . . . . . . . . . 2.3.2 Innerhalb des Gehirns: Proto-Selbst, Kernselbst, erweitertes Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Ein Wort zur Sprachfähigkeit: das Ich . . . . . . 2.3.4 Kritische Würdigung der Theorie Damasios . .

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3. Luthers Position . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Theologischer Determinismus in De servo arbitrio . . . . . . . 3.1.1 Auslegungstendenzen von De servo arbitrio . . . . . . . . 3.1.2 Zur Begriffsbestimmung: arbitrium, libertas, suikausale Willensfreiheit, relationale Freiheit . . . . . . . . . . . . 3.1.2.1 Erasmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.2 Luther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Die Freiheit des Schöpfers in Beziehung zu seiner Schöpfung als Grund für einen theologischen Determinismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3.1 Heilsprädestination und allgemeine Weltlenkung liegen in Gottes Vorherwissen und -wollen . . . . 3.1.3.2 Der Wille des Schöpfers hat weder Ursache noch Maßstab: creatio prima als Grund der ,iuridischen Freiheit‘ Gottes in Beziehung zur Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3.3 Die Allwirksamkeit des Schöpfers negiert die Möglichkeit kontingenter Ereignisse: creatio continua als Grund der ,effektiven Freiheit‘ Gottes in Beziehung zur Welt . . . . . . . . . . . 3.1.4 Der Mensch unter der Allwirksamkeit Gottes . . . . . . . 3.1.4.1 Luthers Rede vom liberum arbitrium respectu inferioris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4.1.1 Das Gesetz verhaftet den Menschen in der Welt – Erst der Glaube lehrt die Unterscheidung von Welt und Gott . . . 3.1.4.2 Der getriebene Wille des Menschen unter der Wirksamkeit Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Quae supra nos und quae intra nos: Allwirksamkeit Gottes und affektives Getriebensein des Menschen . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Quae supra nos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Quae intra nos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3.3 Zur Frage der menschlichen Verantwortlichkeit . . . . . . . . . 3.3.1 Der Mensch verdient sich vor Gott weder Heil noch Verdammung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Verantwortung im zwischenmenschlichen Bereich – iustitia civilis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Verantwortlichkeit als übernommene Verantwortung – Das Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Die Freiheit eines Christenmenschen . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Die „zwei Naturen“ des Menschen: innerer und äußerer Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.1 Der innere Mensch: eschatologische Existenz im Vorgriff des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.2 Der äußere Mensch: freier Dienst als Wirksamkeit des Glaubens . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.2.1 Das Verhältnis von innerem und äußerem Menschen: Selbstüberwindung . . . . . . . . . . . 3.4.1.2.2 Dem Nächsten ein Christus: Selbsthingabe . . . . . . . . . . . . . . 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Affekt und Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Gesetz und Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Perspektivwechsel oder Perspektivenverschränkung 4.4 Freiheit und Evangelium . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 1. Quellen und Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 2. Weitere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

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„[D]ies also ist für einen Christen vor allem notwendig und heilsam zu wissen, dass Gott nichts zufällig vorherweiß, sondern dass er alles mit unwandelbarem, ewigem und unfehlbarem Willen vorhersieht, beschließt und ausführt. Durch diesen Blitzschlag wird der freie Wille vollständig zur Strecke gebracht.“ Martin Luther, De servo arbitrio (1525) „Alles, was wir tun, alles, was geschieht, geschieht – auch dann, wenn es uns veränderlich und zufällig zu geschehen scheint – in Wirklichkeit notwendig und unveränderlich, wenn du Gottes Willen betrachtest. Denn der Wille Gottes ist wirksam, er kann nicht gehindert werden, weil er Gottes natürliche Macht selbst ist.“ Martin Luther, De servo arbitrio (1525) „Warum machst du [sc. Gott,] mir Vorhaltungen, wenn doch alle meine Werke, seien sie gut oder seien sie böse, von dir verrichtet werden, wobei ich unweigerlich dein Werkzeug sein muss?“ Erasmus Desiderius von Rotterdam, De libero arbitrio (1524) „Keiner kann anders, als er ist. […] Diese Einsicht könnte zu einer humaneren, weniger diskriminierenden Beurteilung von Mitmenschen führen, die das Pech hatten, mit einem Organ volljährig geworden zu sein, dessen funktionelle Architektur ihnen kein angepaßtes Verhalten erlaubt.“ Wolf Singer, Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen (2004) „Haltet euch also an mein Gehirn, aber verschont mich!“ Thomas Buchheim, Wer kann, der kann auch anders (2004)

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1. Einleitung 1.1 Thematische Bestimmung Aussagen über das Wesen und die Eigenschaften des Menschen zu treffen, ist seit langem nicht mehr die alleinige Aufgabe der Theologie oder der Philosophie. Die Diversifizierung der sogenannten Humanities zeichnet einerseits ein immer stärker ausdifferenziertes und detaillierteres Bild von der conditio humana. Andererseits entsteht zunehmend der Eindruck, dass v. a. die Biologie (Genetik, Evolutionsbiologie sowie Neurobiologie) sich zur Primärwissenschaft in Fragen des Menschseins entwickelt hat. Dass der Mensch ein evolutionär entwickeltes, biologisches Wesen in einem einheitlichen Naturzusammenhang ist, ist mehr und mehr zum unbezweifelten Konsens geworden und hat der Biologie damit so etwas wie eine Deutungshoheit in anthropologischen Belangen verschafft. Interessanterweise rückte gerade dadurch in den letzten Jahren ein Problem ins Zentrum anthropologischer Diskurse, welches auch der Theologie altbekannt ist: das Thema der menschlichen Willensfreiheit. Indem einige Vertreter der Hirnforschung ihre Ergebnisse dahingehend interpretieren, dass die Rede von menschlicher Freiheit hinfällig sei, wiederbeleben sie die alte philosophische und theologische Debatte um Willensfreiheit, Personalität und Determinismus. Solchen naturwissenschaftlichen Stimmen zufolge gilt es, ein neurobiologisch fundiertes Menschenbild zu etablieren, in dessen Rahmen die Rede von Freiheit ebenso wenig Platz hat wie die traditionelle (strafrechtlich relevante) Auffassung von Schuld und Verantwortlichkeit. Menschliches Denken – Entscheiden, Wollen, Planen etc. – ist demnach abhängig von zerebralen Prozessen, die als Naturereignisse allein im Rahmen der Naturgesetze stattfinden. Freie Entscheidungen außerhalb dieser natürlichen Determination und folglich eine Verantwortlichkeit des Subjekts sind damit ausgeschlossen. Vornehmlich von Seiten der Philosophie wird gegen diese Position Widerspruch laut. Vor allem, was den Begriff der Freiheit angeht, wird eine genauere Bestimmung eingefordert. Aber auch im Hinblick auf bestimmte Grundannahmen hinter den neurowissenschaftlichen Postulaten lässt sich Kritik formulieren. Denn die Postulate der Hirnforschung, wir seien durchgängig bestimmt von Hirnaktivitäten, die ihrerseits den geltenden Naturgesetzen unterlägen, verfangen nur vor dem Hintergrund einer streng naturalistisch-monistischen Welt- und Menschensicht. Wer eine solche monistische Überzeugung vertritt, also annimmt, die Welt als Ganzes nehme ihren Verlauf mit Notwendigkeit, der muss sich schließlich auch davon überzeugt zeigen, dass der Mensch, weil er Teil dieser Welt (und

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Einleitung

also ganz zu ihr gehörend) ist, nicht einfach aus dem notwendigen Weltverlauf auszunehmen ist. Der Mensch, so muss man dann folgern, ist nicht etwa ein Anfang setzender Urheber, sondern bleibt eingebunden in den umfassenden Weltzusammenhang. So zeigt sich, dass die Bestreitung der Freiheit vor allem abhängt von einem monistisch geprägten Welt- und Menschenbild. Diese monistische Weltauffassung ist freilich eine Prämisse, deren Annahme keineswegs zwingend ist: Wie Christine Zunkes „Kritik der Hirnforschung“ zeigt, lassen sich die neurobiologischen Einlassungen zum Thema Freiheit unter Berufung auf die transzendentale Idee der Freiheit im Gefolge Kants nämlich rundweg kritisieren. Der Anspruch der Neurowissenschaften, einen Beitrag zur Freiheitsfrage oder grundsätzlicher zum Problem der Einheit des Bewusstseins zu leisten, wird dabei gänzlich abgewiesen – ebenso wie all jene Versuche seitens der Philosophie, Freiheit im phänomenalen Subjekt – also gerade nicht transzendental – zu verankern und so mit der Determinismusthese kompatibel zu machen. Legt man nämlich den Maßstab des kantischen Freiheitsbegriffs an jene philosophischen Ansätze, die wegen der von ihnen postulierten Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus unter der Sammelbezeichnung Kompatibilismus firmieren, so erscheinen diese als unzureichend. Zunke zufolge wird eine bedingte Freiheit – an Kant gemessen – zu einem begrifflichen Widerspruch: „Zeitgenössische philosophische Versuche von Habermas, Bieri u.A., Freiheit und Determinismus im empirischen Subjekt zu vereinen, führen oft zu unbefriedigenden Ergebnissen. Da der Begriff einer unbedingten Freiheit zu abstrakt erscheint, um ihn auf ein stets empirischen Bedingungen unterliegendes Subjekt wenden zu können, wird er durch handlungstheoretische Konzepte ersetzt. Diese führen zur Annahme einer bedingten Freiheit des Menschen, was begrifflich jedoch einen Widerspruch darstellt.“1 Nun ist Kant in einem bestimmten Sinne auch Kompatibilist2 – freilich unter Beibehaltung des starken Freiheitsbegriffs unbedingter Autonomie: Um der Zurechenbarkeit unserer Handlungen willen versucht auch Kant seinen Begriff von Autonomie mit der Determination innerhalb des Naturzusammenhangs widerspruchsfrei zusammenzudenken – als kompatibel darzulegen. „Wenn aber die Kritik nicht geirrt hat, da sie das Objekt in z w e i e r l e i B e d e u t u n g nehmen lehrt, nämlich als Erscheinung, oder als Ding an sich selbst; wenn die Deduktion ihrer Verstandesbegriffe richtig ist, mithin auch der Grundsatz der Kausalität nur auf Dinge im ersten Sinne genommen, nämlich so fern sie Gegenstände der Erfahrung sind, geht, eben dieselbe aber nach der zweiten Bedeutung ihm nicht unterworfen sind: so wird eben derselbe Wille in der Erscheinung (den sichtbaren Handlungen) als dem Naturgesetze notwendig gemäß und so fern n i c ht f r e i , und doch andererseits, als einem Dinge an sich selbst angehörig, jenem nicht unterworfen, mithin als f r e i gedacht, ohne daß hiebei ein Widerspruch vorgeht.“3 Die durch nichts außer dem 1 Zunke, Kritik, 15. 2 Vgl. hierzu auch die Darstellung bei: Klein, Willensfreiheit, 49 – 124. 3 KrV, B XXVIIf.

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Thematische Bestimmung

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Sittengesetz bedingte Freiheit bleibt also dem Bereich des Empirischen gänzlich entzogen – und eben gerade darum mit ihm kompatibel. Sie nämlich dennoch im mundus intelligibilis anzunehmen, sieht Kant die praktische Vernunft insofern gezwungen, als das Sittengesetz als ratio cognoscendi auf Freiheit verweist. Umgekehrt ist Freiheit demnach die ratio essendi des Sittengesetzes: Du kannst, denn du sollst. Kant merkt gleich zu Beginn seiner Vorrede der Kritik der praktischen Vernunft an, „daß die Freiheit allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei. Denn wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft eher deutlich gedacht, so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas, als Freiheit ist […] anzunehmen. Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein.“4 Nun ist der kantische Begriff transzendentaler Freiheit nur in unlöslicher Verbindung mit den genannten Implikationen zu halten. Man muss die Unterscheidung von mundus sensibilis und mundus intelligibilis ebenso akzeptieren, wie das Postulat der Freiheit aus dem Sittengesetz. Mit Kant lässt sich unter diesen Grundannahmen der naturwissenschaftliche Freiheitsdiskurs also insgesamt beenden, weil ihm zufolge Freiheit eben nicht Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung sein kann. Indem die vorliegende Arbeit sich der Parallelität von neurobiologischer Freiheitsbestreitung heute und theologischer Freiheitsbestreitung durch Martin Luther widmet, verfolgt sie im Weiteren bewusst nicht einen transzendentalphilosophischen Ansatz. Diese Entscheidung gründet weniger im Vertrauen auf die Validität der gegenwärtigen Versuchsinterpretationen auf Seiten der Hirnforschung, als vielmehr in der Skepsis darüber, ob sich auf theologischem Felde die Philosophie Kants zur Luther-Interpretation eignet. Vor allem bezüglich der Gesetzesfunktion als Erkenntnisgrund der Freiheit wird man die lutherische Theologie von der kantischen Philosophie absetzen müssen. Gegenüber Erasmus macht Luther immer wieder stark, dass sich aus dem Sollen kein Können ableiten lässt, dass vielmehr die Funktion des Gesetzes die ist, den Menschen seiner Unfähigkeit zu überführen! Weil Luther außerdem den Menschen immer in dessen Geschöpflichkeit und Weltzugehörigkeit im Blick hat – auch die Frage von Glauben und Unglauben ist eine von Geschichtlichkeit in Raum und Zeit – sehe ich keine direkte Möglichkeit, Kants Unterscheidung von Phänomenon und Noumenon auf Luther anzuwenden und hierin freiheitstheoretische Konsequenzen zu suchen. Ausgeschlossen erscheint dies letztlich vor allem, weil ein durch nichts außer sich selbst bestimmter Wille von Luther allein Gott vorbehalten wird.5

4 KpV, AA 05, 4; 31 – 37. 5 Im Blick auf die Kantische Freiheitslehre wäre zudem auch seine Lehre vom radikalen Bösen zu berücksichtigen, der zufolge das radikale Böse die Antinomie mit sich führt, dass der Wille das Sittengesetz wollen können muss und zugleich – aufgrund seiner radikalen Verderbtheit – aus sich heraus, das, was er soll, nicht eigentlich wollen kann. Vgl. dazu insgesamt: Alexander Heit, Versöhnte Vernunft. Eine Studie zur systematischen Bedeutung des Rechtfertigungsgedankens in Kants Religionsphilosophie (FSÖTh 115), Göttingen 2006.

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Einleitung

Bezüglich einer monistischen Auffassung von der Stellung des Menschen in der Welt und der Notwendigkeit des Weltverlaufs macht es zunächst strukturell gesehen keinen Unterschied, ob man die Welt durch die in ihr geltenden Naturgesetze oder durch einen allwirkenden Schöpfergott bestimmt sein lässt:6 In beiden Fällen wird der Mensch als in den Weltzusammenhang Eingebundener wahrgenommen. In beiden Fällen wird ihm dadurch die Fähigkeit abgesprochen, seinen Lebensweg in dem Sinne selbständig zu bestimmen, dass er zwischen alternativen Möglichkeiten eigenmächtig wählen könnte.7 Die lutherische Theologie hat darum insgesamt wenig Grund zur Aversion gegen die neurowissenschaftlichen Folgerungen, weil Luther seinerseits die menschliche Willensfreiheit durch die Allmacht Gottes bestritten sah. Die vorliegende Arbeit wird dies rekonstruieren und dabei auch zeigen, dass sich die gegenwärtige Freiheitsdebatte geradezu als eine strukturanaloge Wiederaufnahme des Streits Luthers mit Erasmus von Rotterdam lesen lässt. Hier wie dort wird gerungen um das Verständnis von Freiheit. Hier wie dort hängt die Freiheit des Menschen an der Frage, ob und wie sein Dasein von einem allumfassenden Wirkmonismus bestimmt ist. Hier wie dort steht mit der Freiheit des Menschen seine Verantwortlichkeit zur Debatte. Ziel dieser Arbeit ist also der Aufweis gedanklich-struktureller Parallelen beider Freiheitsdiskurse, sowie ihrer sachlichen Differenzen. Der Ausdifferenzierung der Humanities setzt sie also die Suche nach gemeinsamen anthropologischen Aussagen über die jeweiligen Bereichsgrenzen hinweg entgegen. Wo die gedanklichen Gemeinsamkeiten hinreichend herausgearbeitet sind, lassen sich am Ende auch gewisse Aussagen Luthers (namentlich der Zusammenhang von Determiniertheit und christlicher Freiheit) im Licht gegenwärtiger – in dieser Arbeit vor allem der Habermas’schen – Beiträge neu lesen und deuten. Im Folgenden werden kurz die Spannungsfelder skizziert, in denen sich eine Arbeit mit der benannten Zielsetzung bewegt, und zugleich aufgezeigt, welcher These meine Lutherinterpretation zuarbeitet. An der Behauptung, der Mensch sei als Teil der Welt durchgängig in seinem 6 Aus Sicht des Glaubens ist es trotz der strukturellen Gleichheit sehr wohl ein grundlegender Unterschied, ob der Mensch es in der allbestimmten Wirklichkeit mit dem Naturzusammenhang zu tun hat oder mit dem allwirkenden Schöpfergott. 7 Die Rezeptionsgeschichte von De servo arbitrio zeigt allenthalben, wie schwer sich die Rezipienten mit dem Begriff des Determinismus getan haben – entweder, indem Luther Determinismus vorgeworfen wurde, oder, indem man ihn gegen den Determinismusvorwurf verteidigen zu müssen meinte. (Vgl. die immer wiederkehrende Erwähnung des Begriffs auch in: Schwarzwäller, Sibbolet.) Das Misstrauen gegen den Begriff „Determinismus“ lässt sich wohl auf die mechanistische oder naturgesetzliche Konnotation zurückführen, die der Begriff bei seinem Aufkommen im 18. Jahrhundert freilich hatte und die man im Bereich der Theologie verständlicherweise ausschließen wollte. Wenn aber unter Determinismus lediglich verstanden sein soll, dass alle zukünftigen Ereignisse in der Welt eindeutig festgelegt sind, so erkenne ich – trotz des begriffsgeschichtlichen Anachronismus – in Luthers Schrift einen „theologischen Determinismus“. Vgl. hierzu unten: 3.1.

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Thematische Bestimmung

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Wollen und Handeln bestimmt, entzündet sich die Kritik derjenigen, die sich mit Verve auf das subjektive Erleben des Menschen berufen können – und dies mit einem gewissen Recht: Wir alle erleben uns als wählende, entscheidende und insofern als selbstbestimmte Subjekte. Hinter der Kritik steht jedoch freilich mehr als das Geltendmachen des subjektiven Erlebens. Sie zielt im Kern auf die Frage der menschlichen Verantwortlichkeit, die sie durch die Determinismusthese infrage gestellt sieht. Wie steht es um die Verantwortlichkeit des Menschen, wenn seine Handlungen nichts anderes sind als alternativlose Teilereignisse im Ganzen des Weltverlaufs? Der gedankliche Zusammenhang von Determinismus und Verantwortlichkeit bezeichnet in aller Kürze das entscheidende Spannungsfeld dieser Arbeit. In diesem Spannungsfeld zwischen der allgemeinen Frage, ob die Welt insgesamt deterministisch verfasst ist und der spezifisch ethisch-anthropologischen Frage, ob der Mensch als Teil der Welt dann noch Verantwortung trägt, spielt der Begriff der Freiheit seine tragende Rolle. Verantwortlichkeit wird häufig geknüpft an einen libertarischen Freiheitsbegriff, also gerade an die Bestreitung des Determinismus. Prima facie leuchtet schließlich ein: Wenn der Mensch bei Geltung des Determinismus eine Handlung mit Notwendigkeit vollzieht, dann kann man ihn nicht zur Verantwortung ziehen für diese Handlung. So hat etwa Erasmus von Rotterdam von einem libertarischen Standpunkt aus versucht, das liberum arbitrium gegen Martin Luthers Angriff zu verteidigen. Die Frage nach der Verantwortlichkeit des Menschen kann also gestellt werden als Entscheidung zwischen Determinismus und Libertarismus. Nun kann hinsichtlich der Freiheit unterschieden werden zwischen der Frage, ob der Mensch alternative Handlungsmöglichkeiten zu seiner Entscheidung hat, und der Frage, ob er in ultimativer Weise der Urheber seiner Handlung ist – seine Selbstbestimmung zum Handeln mithin nicht in eine Kausalkette eingefasst ist. Die erste Position ist in der zweiten insofern enthalten, als ultimative Urheberschaft gerade auch die freie Wahl zwischen Handlungsoptionen – außerhalb jedweder Bestimmtheit – garantiert. Die zweite führt darüberhinausgehend eine ultimative Verantwortlichkeit mit in dem Sinne, dass der Urheber für die qualitative Bestimmung seines Willens letztgültig verantwortlich sein können muss, weil nicht nur je einzelne Handlungen, sondern der Wille selbst seiner unbedingten Selbstbestimmung unterliegt. In der geläufigen Rezeption von Luthers De servo arbitrio (Dsa) (1525) wird eine unbedingte Selbstbestimmung des menschlichen Willens generell verneint, um dann aber gleichwohl auf eine bedingte Form von Selbstbestimmung, nämlich auf eine Wahlfreiheit in den niederen Dingen zu rekurrieren. Im Hintergrund dieser Versuche, die Selbstbestimmung des Menschen – wenn auch nur innerhalb seiner geschöpflichen Bedingtheit – beizubehalten, steht zumeist wieder die Sorge um die Verantwortlichkeit. Auch die aktuelle DsaInterpretation ist also von der Grundannahme geleitet, dass es für die Wahrung der Verantwortlichkeit eines gewissen Freiheitsbegriffs bedarf. Hierzu

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soll dann ein kompatibilistischer Freiheitsbegriff dienen, der der göttlichen Allwirksamkeit angeblich keinen Schaden antue. Im Widerspruch zu dieser vorherrschenden Linie der Luther-Rezeption, die dem Menschen weiterhin die Fähigkeit zur Selbstbestimmung zuschreibt und sich zumeist auf Luthers Freiheitsaussagen bezüglich der niederen Dinge bezieht8, vertrete ich entschieden die Meinung, dass Luther zufolge die geschaffene Welt im Ganzen und darum auch der menschliche Wille in allen seinen Vollzügen einen gottgewollten und gottgewirkten Verlauf nimmt. Was den Menschen in der Welt betrifft, so unterlasse ich jeden Interpretationsversuch, irgendeine Selbstbestimmung des Menschen in Luthers Schrift hineinzulesen. Vielmehr erkenne ich in Dsa einen strikten theologischen Determinismus. Dass irgendein noch so kleines Detail der freien Entscheidung des Menschen überlassen wäre, ist mit Luthers Verständnis der göttlichen Allwirksamkeit abgetan. Denn nach Dsa unterliegt der menschliche Wille in jedem Willensakt dem steten Gerissen-Werden durch die göttliche Allmacht. Insofern erscheint es mir als eine fragwürdige Lesart von Dsa, dem Menschen nun doch die Fähigkeit einzuräumen, seinen Willen zeitweilig stillzulegen – als gäbe es einen ruhenden, nicht-wollenden Willen im Menschen – und sich kritisch mit ihm auseinanderzusetzen.9 Im Zuge dieser Dsa-Interpretation will man die Selbstbestimmung aus der Absolutheit unbedingter Urheberschaft ins empirische, bedingte Subjekt verlagern: Den zugrundeliegenden Charakter des Willens könne der Mensch demnach nicht bestimmen, im Rahmen dieses Charakters könne er jedoch zwischen Alternativen wählen. Ich halte die Berufung auf eine bedingte Selbstbestimmung im Kontext von Dsa dagegen aus zwei Gründen für unmöglich: Erstens wird damit übersehen, dass der Wille nach Luther eben nicht als ontologische Entität oder als ruhendes Vermögen im Menschen anwest, sondern überhaupt nur Wille ist als das Wollen von etwas Bestimmtem.10 Weil es den Willen ihm zufolge also nicht in ruhender Potentialität gibt, die je nach Entscheidung auf ein Objekt hin aktualisiert werden müsste, darum trifft der Wille eine Wahl zwischen Alternativen auch nicht vor oder logisch unterschieden von seinem Wollen, sondern er wählt, indem er etwas Bestimmtes will. Soll dem Menschen also eine Wahlfreiheit zugeschrieben werden, so müsste nach Luthers Verständnis der Wille das Wollen von etwas Bestimmtem selbst hervorbringen. Weil der Wille aber das Wollen selbst ist, müsste er sich selbst erzeugen. Luthers Willensverständnis vorausgesetzt, wäre die Behauptung der Wahlfreiheit zwischen Alternativen in inferioribus also letztlich doch die Behauptung der ultimativen Bestimmung des Willens durch sich selbst,

8 Vgl. hierzu unten 3.1.1. 9 Vgl. unten: 1.3.2. 10 Vgl. hierzu: 3.1.2.2.

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denn er muss dann in der Wahl eines Bestimmten sich selbst hervorbringen und so bestimmen können.11 Zweitens bleibt bei der Behauptung einer Wahlfreiheit die Frage m. E. ungeklärt, ob eine solche bestimmte Selbstbestimmung den Menschen aus seiner durchgängigen Bestimmtheit (innerhalb einer Kausalkette oder durch das göttliche Wirken) herausnimmt oder nicht. Tut sie dies nicht, so reduziert sich der Gedanke von bestimmter Selbstbestimmung darauf, dass der Mensch als bewusste Person die Bestimmtheit seines Willens als zu ihm gehörig akzeptiert. Bestimmte Selbstbestimmung meint dann letztlich Ungezwungenheit.12 Ein derart reduzierter Begriff von Selbstbestimmung ist tatsächlich mit der durchgängigen Bestimmtheit des Menschen nach Dsa vereinbar und wird als Abwesenheit von Zwang nirgends in Dsa bestritten. Ich kann darin allerdings nur schwerlich ein verbliebenes Moment von Selbstbestimmung erkennen. Überhebt bestimmte Selbstbestimmung aber den Menschen in irgendeiner Hinsicht seiner durchgängigen Bestimmtheit, so räumt man ihm damit die Möglichkeit ein, erster Urheber einer Kausalkette oder selbstmächtiger operator außerhalb der Allwirksamkeit Gottes zu sein. Dann ist auch bestimmte Selbstbestimmung wiederum inkompatibel mit der Wirksamkeit Gottes in allen Dingen. Nun gibt es, wie bereits angedeutet, innerhalb der gegenwärtigen Determinismusdebatte verschiedene – sogenannte kompatibilistische – Konzepte, die die Freiheits- und Verantwortlichkeitsproblematik an ihrem genuinen Ort, der Anthropologie, verhandeln und sie so aus der universalen Frage ,Determinismus/Libertarismus‘ herauszulösen versuchen.13 Der philosophische Kompatibilismus stellt einen Freiheitsbegriff vor, der von der Determinismusthese unberührt bleibt, und garantiert so die Verantwortlichkeit des Menschen. Martin Luther hat zwar – mutatis mutandis – eine kompatibilistische Position vertreten, dabei jedoch den Zusammenhang von Freiheit und Verantwortlichkeit aufgegeben: Er lehnt gegenüber Erasmus von Rotterdam jedes Insistieren auf der Freiheit des Menschen entschieden ab, sieht aber keine Veranlassung, die Verantwortlichkeit des Menschen für seine Handlungen zusammen mit dem liberum arbitrium in Frage zu stellen. Luther bemüht sich also nicht vornehmlich um einen kompatibilistischen Begriff von Freiheit. Wenn in Dsa überhaupt ein Konzept von Freiheit zu finden ist, dann lediglich dieses, das im Allgemeinen als Handlungsfreiheit bezeichnet wird –

11 „Die harmlose Feststellung ,ich will…‘ verführt also zunächst zur Illusion eines ,irgendwie‘ vorhandenen Willens, der dann auch noch ,irgendetwas‘ tut, nämlich etwas wollen. Die Sprache verführt unsere Gedanken. Wenn dann noch der Wille in der Lage sein soll, dies oder jenes von sich aus zu wollen – er soll ja keiner Notwendigkeit unterliegen –, wird er insgesamt überschätzt, denn dann müsste er sich selbst bestimmen können. Tief in der Person ,säße‘ demnach als innerste Instanz der freie Wille.“ (Maurer, Streit, 130). 12 So letztlich bei Melanie Beiner. Vgl. unten: 1.3.1. 13 Vgl. hierzu: 2.2.1.1 und 2.2.1.4.

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also den oben bereits benannten Fall der Ungezwungenheit.14 Luther zufolge hängt menschliche Verantwortlichkeit jedenfalls nicht an der Freiheitsfrage, sondern am anklagenden Amt des Gesetzes. So kann Luther die Freiheit des menschlichen Willens verneinen und muss dennoch keine Abstriche bei der Verantwortlichkeit des Menschen machen. Insofern ist seine Position eher als ein ,minimaler Kompatibilismus‘ zu bezeichnen. In jedem Fall zeigt sich durch die Konzentration auf die Anthropologie, dass der Zusammenhang von Determinismus und Verantwortlichkeit nicht zwingend im begrifflichen Rahmen ,Determinismus/Libertarismus‘ verhandelt werden muss. Will man nämlich, dass auch ohne alternative Handlungsmöglichkeiten die Verantwortlichkeit des Menschen Bestand hat, dann muss grundsätzlich geklärt werden, was den Menschen zu einer verantwortlichen Person macht und ob diese Bedingungen im Rahmen eines deterministischen Weltverständnisses dennoch gelten können. Da es folglich bei der Behandlung der Verantwortlichkeitsfrage darum geht, ob in einer deterministisch verfassten Welt überhaupt weiterhin von Personen und handelnden Subjekten die Rede sein kann, ist als weiteres Spannungsfeld dieser Arbeit der Zusammenhang von monistischer Überzeugung und dualistischem Erleben zu verfolgen. Denn speist sich auf der einen Seite die deterministische Überzeugung aus einem wie auch immer gearteten Wirkmonismus, so steht dem auf der anderen Seite das subjektive Erleben des Menschen gegenüber, der sich als Gegenüber zur Welt versteht und dessen Bewusstsein von der von ihm unterschiedenen Welt sich nicht so einfach einebnen lässt in eine monistische Überzeugung. Ein streng naturalistischer Monismus etwa kann naturgesetzlich-deterministisch auftreten, aber er gerät dabei zugleich in die Not, das Bewusstsein des Menschen – dessen ,Selbst‘ – nicht vollständig in die naturalistische Denkweise auflösen zu können. Der Naturalismus bleibt insofern unweigerlich durchzogen von mentalistischen Vorstellungen und Begriffen. Jürgen Habermas hat genau dies in der gegenwärtigen Debatte stark gemacht und einen Weg gewiesen, wie sich dieser notwendige und unhintergehbare Dualismus dennoch mit der Auffassung vereinbaren lässt, dass der Mensch ganz und gar ein Naturwesen ist.15 Indem Habermas darlegt, dass der Mensch die Welt – und sich selbst – als Beobachter beschreiben kann, dies aber ausschließlich als Teilnehmer in einem Kommunikationszusammenhang (Perspektivdualismus von Beobachter- und Teilnehmerperspektive), integriert er das mentalistische Vokabular in einen weichen Naturalismus, demzufolge geistige Phänomene in einem monistisch-naturalistisch verstandenen Universum existieren. Denn zur beobachtenden, ,naturwissenschaftlichen‘ Perspektive auf die Welt gelangt der Mensch nur innerhalb der Teilnahme an Kommunikation. Es kann demnach keine objektivistische Weltsicht geben, die 14 Ich halte wiederum den Begriff ,Handlungsfreiheit‘ für die Luther-Interpretation eher für hinderlich. Vgl. hierzu: 3.1.2.2. 15 Vgl. hierzu: 2.2.1.1.

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nicht zugleich durchzogen wäre vom subjektiven Vokabular bewusster Subjekte. Da die Teilnahme an Kommunikation den Teilnehmer – die Person – zugleich in einen normativen Zusammenhang stellt, ist mit dem Personsein Verantwortlichkeit unlösbar verbunden. Im Weiteren kommt es Habermas zufolge für das Freiheitserleben der Person dann darauf an, dass diese sich die beobachtbaren Determinanten, die sich aus ihrer Weltzugehörigkeit ergeben, als handlungsermöglichende Bedingungen aneignet. Es geht also darum, das eigene Bestimmtsein nicht als freiheitsbeschränkend anzusehen, sondern es so in das eigene Selbstverständnis aufzunehmen, dass gerade durch ein bestimmtes Sosein personale Handlungen ermöglicht sind. So stellt sich das Spannungsfeld von Determinismus und Verantwortlichkeit tatsächlich dar als Frage danach, wie sich die monistische Denkweise der Beobachterperspektive vereinbaren lässt mit dem unvermeidlichen Hinzutreten jener zweiten anthropologischen Perspektive: der Teilnehmerperspektive. In der Theologie Luthers nach Dsa speist sich der theologische Determinismus aus einem schöpfungstheologischen Monismus: Gottes allwirksamer Schöpferwille erlegt dem Weltverlauf grundsätzliche Notwendigkeit auf. Davon ist der Mensch, als Geschöpf zur Welt gehörend, nicht ausgenommen. Zugleich sieht Luther freilich, dass der Mensch zwar einerseits als Geschöpf coram Deo omnipotente in seiner durchgängigen Bestimmtheit zu betrachten ist, andererseits aber im Gegenüber zur Welt mit einem handlungsmächtigen Willen ausgestattet ist. Auch bei Luther findet sich also eine Perspektivverdoppelung und mit ihr ein Widerspruch zwischen Determinationsbewusstsein und Freiheitsbewusstsein. Der Mensch in der Welt ist für Luther insofern durchaus operator, bleibt darin aber co-operator Dei, der als solcher der Bestimmung durch Gott untersteht. Die vorliegende Arbeit geht davon aus, dass jene anthropologische Doppelbeschreibung ein Dilemma darstellt, das auf eine Verschränkung beider Perspektiven drängt. Wie gelangt der Mensch zu einem Selbstverständnis, demzufolge er einerseits durchweg von Gott bestimmt ist, andererseits sein Wirken und Handeln in der Welt zu Recht als eigenes und zurechenbares ansieht? Hinsichtlich der coram-Relationen des Menschen zu Gott und zur Welt (coram Deo / coram mundo) wird sich zeigen – so die Aussageintention meiner Arbeit –, dass die gelingende Verschränkung dieser beiden Perspektiven wesentlich zu jenem Lebensvollzug gehört, in dem Luther die Freiheit eines Christenmenschen verwirklicht sieht. In diesem Sinne leistet allein der Glaube bei Luther die Verknüpfung eines Perspektivendualismus (coram Deo / coram mundo) und der Glaubensüberzeugung einer einseitig-monistisch gedachten Allwirksamkeit Gottes. Indem sich die Perspektivverschränkung Habermas’scher Provenienz fruchtbar auf die Anthropologie Luthers anwenden lässt, zeigt sich gleichsam der Überschuss der theologischen gegenüber den neurowissenschaftlichen Freiheitsbestreitungen. Denn die bewusste Aneignung der eigenen Bestimmtheit bleibt dem harten Naturalismus verwehrt. Im Bereich der Theo-

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logie – so die Überzeugung dieser Arbeit – ist sie aber dem Fiduzialglauben wesentlich zu eigen. Naturwissenschaftlich auftretender und theologischer Determinismus könnten in dieser Hinsicht unterschiedlicher nicht sein.

1.2 Zum Aufbau der Arbeit Diese grundsätzlichen Überlegungen führen deutlich vor Augen, wie gewinnbringend es sein kann, die lutherische Theologie mit der aktuellen Freiheitsdebatte zu vergleichen. Dazu ist es nötig, beide Diskurse möglichst eingehend darzustellen, ohne dabei die Parallelität beider aus dem Blick zu verlieren. Letzteres legt zugleich eine Beschränkung auf die zu parallelisierenden Aspekte nahe. Wenn ich mich nun in einem ersten Kapitel der naturalistischen Anthropologie zuwende, bevor ich mich auf das Gebiet der Theologie begebe, so leiten hierbei bereits diejenigen Gesichtspunkte meine Darstellung, die im theologischen Abschnitt erneut aufgegriffen werden. Umfang und Detailliertheit meiner Ausführungen zur Hirnforschung stellen den theologisch interessierten Leser auf eine gewisse Geduldsprobe. Um die modernen Thesen zur Unfreiheit des Menschen ausreichend zu würdigen, halte ich diese Ausführlichkeit jedoch für geboten. Ich konzentriere mich für das Gebiet der Neurobiologie auf die Arbeiten Wolf Singers, des Direktors der neurophysiologischen Abteilung des MaxPlanck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt a.M. (2.1). Dessen Forderung „Wir sollten aufhören von Freiheit zu sprechen“16 hat neben den noch etwas provokanter auftretenden Veröffentlichungen des Bremer Hirnforschers Gerhard Roth für das Wiederaufleben des Freiheitsstreits gesorgt. Singers Grundthese ist, dass neuronale Prozesse, die mit den Mitteln der Hirnforschung fortwährend besser dargestellt werden können, menschliches Entscheiden und Verhalten eindeutig bestimmen: Verschaltungen legen uns fest. Die menschliche Freiheitserfahrung, als ein Subjekt denkend zu Entscheidungen zu gelangen, die ihrerseits handlungsbestimmend werden, erklärt Singer zur Täuschung. Singer verneint die menschliche Freiheit einerseits mit der Unterscheidung von bewussten und unbewussten neuronalen Prozessen, wodurch er plausibel zu machen versucht, dass es mitunter die unbewussten Abläufe seien, die als die ,entscheidenden‘ zu gelten hätten. Da wir auf diese unbewussten Hirnaktivitäten grundsätzlich keinen Einfluss nehmen können, sind wir folglich 16 So ein Aufsatztitel: Wolf Singer, Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen, in: Christian Geyer (Hg.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt a.M. 2004, 30 – 65, 43. Im Folgenden als „Verschaltungen“ zitiert.

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Zum Aufbau der Arbeit

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unfrei, erfahren uns aber zugleich dadurch als frei, dass wir das Gefühl haben, allein die Inhalte unseres Bewusstseins bestimmten unsere Handlungen. Nach diesem Argument erscheint das Gehirn als das bestimmende ,Subjekt‘ im Gegenüber zur bewussten Person, so dass unser Gehirn uns in verdeckter Weise steuert. Hieraus erklärt sich nach Singer unser Freiheitserleben. Andererseits beruht Singers Bestreitung der Freiheit auf der Gleichsetzung von bewussten und unbewussten Abwägungsprozessen: Weil für den Hirnforscher in der organischen Materie kein Unterschied zwischen bewussten und unbewussten Prozessen feststellbar ist, weil vielmehr sowohl bewusste als auch unbewusste Wettkämpfe neuronaler Aktivitätsmuster gleichermaßen organische Naturereignisse sind, unterliegen auch beide den allgemeinen deterministischen Gesetzen der Natur.17 Demnach unterscheidet sich eine bewusste Entscheidung nur darin von einer unbewusst herbeigeführten, dass sie überhaupt wahrgenommen wird – also eben bewusst ist. Dass ,wir‘ als Subjekte auf die Variablen der Bewusstseinsinhalte überhaupt Einfluss nehmen könnten, schließt Singer aus. Alles verläuft nach Naturgesetzen und wir schauen lediglich zu – sofern wir vom Gehirn involviert werden. Singers neurowissenschaftliche Verneinung der Freiheit stellt insofern auf eine umfassende Bewusstseinstheorie ab: Wie kommt es dazu, dass aus materiellen Prozessen im Gehirn bewusste Wahrnehmungen der Außenwelt und so etwas wie Selbstbewusstsein entsteht? Welche neuronalen Prozesse gelangen überhaupt ins Bewusstsein? Spielt das Bewusstsein eine kausale Rolle in der deliberativen Verhandlung von entscheidenden Variablen? Ein zweiter Abschnitt des ersten Hauptteils (2.2) wird die Schlussfolgerungen Singers auf ihre Implikationen für die Frage der menschlichen Verantwortlichkeit untersuchen und dabei verschiedene philosophische Positionen mit einbeziehen, die in die zeitgenössische Debatte mit der Neurobiologie eingetreten sind. Singer zeigt sich durchaus bemüht, unter Ablehnung des Freiheitsgedankens an der gesellschaftlichen Praxis von Verantwortungszuschreibung festzuhalten. Deshalb ist zu klären, ob ein naturalistischer Monismus notwendig zur Aufgabe mentalistischer Sprache zwingt oder ob nicht doch die Beschreibung des Menschen als Person – als Wesen mit Bewusstsein – auch in einem naturalistischen Denksystem unaufgebbar bleibt. Wenn es so ist, dass Handlungen, die per definitionem von einem personalen Willen bestimmt sind, Verantwortlichkeit mit sich führen, dann gilt es vor allem zu klären, unter welchen Bedingungen ein Handlungswille einer Person zu eigen ist. Eine Unterbrechung dieses Zusammenhangs von Handlung und Wille impliziert entweder das Bewusstsein von Zwang – bei Bestehen eines entgegengesetzten Willens – oder von Willenlosigkeit. In beiden Fällen 17 Diese doppelte Argumentation – Betonung der unbewussten Prozesse und Berufung auf die Determiniertheit bewusster Prozesse – lässt sich sehr gut nachvollziehen in: Singer, Entscheidungen, 188 – 193.

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reden wir dann nicht mehr von zurechenbaren Handlungen. Da aber nur Personen willentlich handeln, halte ich es für die Frage nach Verantwortlichkeit für unabdingbar zu klären, ob es nach monistischer Lesart der Welt ,Personen gibt‘, deren willentliches Handeln ihnen zurechenbar ist. Ob eine Person wiederum in der Ausbildung ihres spezifischen Willens frei ist, ist m. E. für die Frage der Verantwortung gegenstandslos, solange nicht daran gezweifelt wird, dass es in spezifischer Weise ihr Wille ist, von dem eine Handlung abhing. Die Frage, ob nach streng naturalistischer Lesart überhaupt weiterhin von Personen geredet werden kann, erscheint als ein Spezifikum des Diskurses mit den neurobiologischen Positionen. Denn während die Theologie Luthers freilich nicht mit der Frage eines reduktionistischen Naturalismus zu handeln hat, steht im Hintergrund der Konzentration auf die neuronale Verfassung eines Menschen das scheinbar radikalere Problem, ob Menschen überhaupt mehr sind als das komplexe Konglomerat von Hirnprozessen. Das Geist-LeibProblem hat sich Luther in dieser Weise nicht gestellt. Dass Luther seine Position des Allmachtsmonismus im überspitzten Bild des Handwerkers verdeutlicht, wonach der Mensch allein das Werkzeug in Gottes Hand ist, zeigt jedoch: Auch hier gilt es zu klären, in welcher Weise das Personsein des Menschen in den göttlichen Wirkmonismus eingefasst und bewahrt wird. Denn, dass der Mensch unter der Allmacht Gottes nicht zum leblosen Instrument Gottes reduziert wird, ist offensichtlich. So besteht im Perspektivdualismus auf den Menschen als bewusste Person und als biologischer Organismus eine Parallele zur lutherischen Unterscheidung zwischen dem Menschen coram mundo und dem Menschen coram Deo. Dass eine Person für eine Handlung verantwortlich ist, sofern diese Handlung von ihr bewusst gewollt wird, lässt sich auch als ein spezifisches ,Dabeisein‘ der Person bei ihrer Handlung verstehen. Da ich in Luthers Anthropologie18 sowohl die Unfreiheit der Entscheidung, als auch das unhintergehbar bestimmte Dabeisein der Person bei ihren Handlungen verankert sehe in seiner Sicht des menschlichen Affektenlebens – der Bestimmtheit des Herzens –, schließe ich das erste Kapitel mit einem neurowissenschaftlichen Bewusstseinskonzept, das explizit die Rolle der Emotionen für das Entstehen von Bewusstsein betont (2.3): In Antonio R. Damasios Bewusstseinstheorie sehe ich mutatis mutandis ein biologisches Pendant zu Luthers Konzept des menschlichen Herzens als Grund und Bestimmungsgrund der Person. Der theologische Teil dieser Arbeit widmet sich nach Anfangsüberlegungen zum Begriff des liberum/servum arbitrium der Darlegung von Luthers theologischem Determinismus und stellt außerdem seine Rede von der freien Willenskraft des Menschen bezüglich der niederen Dinge in den Zusam18 Ich verwende den Begriff der Anthropologie für Luther nicht im strengen Sinne einer umfassenden Lehre vom Menschen.

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Anmerkungen zum gegenwärtigen Diskussionsstand

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menhang mit seinem Allmachtsverständnis (3.1). Wie bereits benannt, weiche ich hier von der gängigen Dsa-Deutung insofern ab, als ich Luthers deterministische Konzeption streng, und zwar so lese, dass der menschliche Wille auch in inferioribus nicht ,frei‘ ist, dass vielmehr der willentliche Vollzug einer Wahl selbst in weltlichen Belangen der göttlichen Allmacht unterliegt. Darauf folgt ein zweiter Argumentationsgang von der Gotteslehre zur Anthropologie, in dem Gottes allmächtiges Wirken in Verbindung zum menschlichen Affektenleben gebracht wird (3.2). Hier kommt es mir vor allem darauf an zu zeigen, dass und wie Luther das Affektenleben als bestimmendes Moment seiner Willenstheorie ansieht, durch welches der Mensch dem Gerissen-Sein in Gottes omnipotentia generalis unterstellt ist. Wenn sich daran die Frage nach der menschlichen Verantwortlichkeit anschließt (3.3), so behandele ich diese zum einen im Hinblick auf die Soteriologie (3.3.1) und zum anderen im Hinblick auf den zwischenmenschlichen Bereich (3.3.2). Einerseits wird sich zwar bestätigen, dass Luther eine Verantwortlichkeit im Sinne einer menschlichen Verdienstlichkeit bezüglich des Heils schlichtweg ablehnt. Das Verhältnis von Gott und Mensch wird von jeder Würdigkeitserwägung frei gemacht. Andererseits bleibt Verantwortlichkeit im Bereich des Sozialen bei Luther bestehen – ohne dabei auf irgendeinem Freiheitsbegriff fußen zu müssen. Dass und welcher Art die Frage der Verantwortlichkeit eng mit dem Gesetz in seinem usus duplex und mit dem lutherischen Gewissensbegriff verbunden ist, legt ein letzter Abschnitt zur Verantwortungsfrage dar (3.3.3). Erst vor dem Hintergrund dieser Ausführungen, meine ich, gelangen Luthers Überlegungen zur Freiheit eines Christenmenschen zu voller Leuchtkraft. Im Idealbild des gläubigen Christenmenschen zeigt sich die gelingende Vermittlung zwischen dem Menschen coram mundo und dem Menschen coram Deo. Trotz eines chronologischen Rückschritts von etwa fünf Jahren schließe ich darum das theologische Kapitel mit einer Betrachtung von Luthers Freiheitstraktat (3.4), um darzulegen, wie Luther zufolge der Glaube den Allmachtsmonismus mit dem weltlichen Handeln und Wirken in Einklang zu bringen vermag. Das Fazit (4.) bringt die beiden Hauptteile zum direkten Vergleich und benennt dabei die Differenzen und Konvergenzen beider Freiheitsdiskurse im Spannungsfeld meiner Themenstellung.

1.3 Anmerkungen zum gegenwärtigen Diskussionsstand Angesichts der umfangreichen Rezeptionsgeschichte von Dsa, die sich kaum mehr erschöpfend darstellen lässt19, will ich an dieser Stelle lediglich auf vier 19 Wie ich in Abschnitt 3.1.1 darlege, unterteilt sich die Luther-Rezeption v. a. in drei Haupttypen: einen freiheitsapologetischen, der dem Menschen sogar eine Freiheit in Heilsdingen einräumt; einen Typus, nach dem der Mensch in den niederen Dingen eine Wahlfreiheit behält, sowie

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Arbeiten hinweisen, die sich in jüngster Zeit der Willensschrift Luthers gewidmet haben und mit denen sich meine Lutherinterpretation darum auseinanderzusetzen hat. Diese Arbeiten zu Luthers Dsa, beziehungsweise zur gedanklichen Verbindung der Lutherschrift mit der gegenwärtigen, neurowissenschaftlich geprägten Freiheitsdebatte sind meines Erachtens exemplarisch für die geläufigste Linie der Dsa-Interpretation: Alle vier Studien zeichnen sich nach meinem Urteil dadurch aus, dass sie Luthers Grundannahme vom lückenlosen Gewirkt-Sein des Weltverlaufs benennen; zugleich zeigen sie sich jedoch alle in der einen oder anderen Weise darum bemüht, um der Verantwortlichkeit willen an der Selbstbestimmung des Menschen gegen die Grundannahme des umfassenden Allmachtsmonismus festzuhalten.

1.3.1 Melanie Beiner : Intentionalität und Geschöpflichkeit Melanie Beiners Arbeit zu De servo arbitrio ist im Jahr 2000 erschienen20, liegt also einige Jahre vor dem durch die Neurowissenschaften angestoßenen Neueinsatz der Freiheitsdebatte. Gleichwohl sind in ihrer Studie zu Dsa viele wichtige Punkte enthalten, denen ich zustimme und die ich in meiner Interpretation der Lutherschrift aufgenommen und in den Kontext des aktuellen Diskurses gestellt habe. Beiner kritisiert gleich zu Beginn mit Recht die in der Lutherrezeption vorherrschende Reduktion der Freiheitsfrage auf die Soteriologie. Sie benennt konzise, dass Freiheit und Unfreiheit nicht allein eine Frage der Heilserlangung bzw. Sündenverstrickung sind und konstatiert, daß mit der Erfassung des Menschen allein aus der Perspektive von Erhalt und Verlust der urständlichen Gerechtigkeit die menschliche Wirklichkeit theologisch nur reduktionistisch wahrgenommen werden kann. Darin scheint mir jedoch der tiefere Grund dafür zu liegen, daß eine Theorie wie Luthers Lehre von der Unfreiheit des Willens in ihrer anthropologischen Bedeutung bis heute nicht zureichend zur Geltung gekommen ist.21

Dass Luthers Lehre von der Unfreiheit des Willens, mag sie freilich vor allem anderen soteriologisch motiviert sein, ihre Begründung in der Geschöpflichkeit des Menschen haben muss, folgert Beiner sowohl aus anthropologischen als auch aus theologischen Erwägungen: Einerseits dürfe die Lebenswirklichkeit des Menschen nicht gespalten werden: Man könne den Menschen nicht das eine Mal zum Glaubenssubjekt, einen deterministischen, nach dem Gottes Allmacht jede Willensregung auch in weltlichen Belangen bestimmt. 20 Beiner, Intentionalität, 213 ff. 21 Beiner, Intentionalität, 8.

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Anmerkungen zum gegenwärtigen Diskussionsstand

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das seine Existenz passiv aus Gottes Handeln empfängt, erklären, ein andermal ihn aber zum autonomen Handlungssubjekt seiner eigenen Lebensgestaltung deklarieren.22 Andererseits sieht Beiner die Einheitlichkeit des geschöpflichen Daseins bei Luther gegründet in Aussagen über das Wesen und Wirken des Schöpfergottes. Dieser weitwinkligen Betrachtung der Freiheitsthematik innerhalb der Schöpfungstheologie stimme ich gegenüber der allzu engen Fokussierung auf die Soteriologie ebenso zu wie den folgenden Darlegungen Beiners: Menschliche Intentionalität wird von ihr als Wesensmerkmal des exzentrisch verfassten Personseins statuiert und über ebendiese Exzentrizität des Menschen an dessen Selbstbewusstsein gebunden.23 Intentionalität und Subjektivität – bewusstes Wollen – hängen also an der Beziehung des Menschen zu anderem Seienden. Diese Beziehung zu Anderem ist nach Beiner stets affektiv bestimmt. So verankert Beiner die Willensbestimmtheit des Menschen in dessen affektiv geprägter Relationalität. Die Relationalität des menschlichen Lebens ist als ein Verhältnis der fundamentalen Abhängigkeit des Menschen von seinem jeweiligen Relatum zu verstehen, und zwar deshalb, weil sich Gefühle in einer spontanen (d. h. vorreflexiver) Weise im Menschen einstellen. Welches Gefühl sich im Menschen einstellt, hängt davon ab, was dem Menschen wie begegnet. Das Gefühl ist demnach zu verstehen als ein Vermögen, durch das der Mensch sich selbst in seiner Bestimmtheit durch anderes erfahrbar wird. Das heißt jedoch, daß die inhaltliche Bestimmung der konkreten Gestalt menschlicher Selbsterfahrung dem Menschen von sich aus nicht möglich ist. Denn sie verdankt sich weder seiner Vernunft noch seiner Handlungsfähigkeit.24

Obwohl ich Beiners Studie insgesamt zustimme, v. a. weil sie die Bestimmtheit menschlicher Willensakte im Affektenleben des Menschen begründet sieht, muss ich auf zwei Punkte eingehen, denen ich kritisch gegenüberstehe. Zum einen räumt auch Beiner dem Menschen unter den von ihr dargestellten Strukturbedingungen menschlicher Intentionalität die Fähigkeit zur Selbstbestimmung ein. Selbstbestimmung meint bei ihr nicht, dass der Mensch seine Bestimmung grundsätzlich selbst setzt. Gleichwohl sieht sie Selbstbestimmung darin verwirklicht, dass der Mensch nicht anders kann als durch seine jeweilige Willensausrichtung seiner grundlegenden Bestimmung zu 22 Vgl. Beiner, Intentionalität, 4 f. 23 „Intentionalität als Wesensmerkmal des Menschen verweist insofern auf die exzentrische Verfassung menschlichen Lebens. Intentionalität verweist allerdings auch noch auf ein zweites Kennzeichen menschlichen Lebens, das Selbstbewußtsein. Etwas willentlich zu begehren oder anzustreben kann sich zwar unwillkürlich, jedoch nicht unbewußt im Sinne von triebhaft ereignen. Deshalb kann Luther Intentionalität als ein Wesensmerkmal bezeichnen, das nur dem Menschen und nicht auch anderen Geschöpfen gegeben ist.“ (Beiner, Intentionalität, 51). 24 Beiner, Intentionalität, 84.

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Einleitung

folgen – sie jeweils zu aktualisieren.25 Mit diesem Konzept bestimmter Selbstbestimmung geht Beiner über das Postulat einer schlichten ,Handlungsfreiheit‘ zunächst hinaus. Dem Menschen wird damit innerhalb seiner Grundbestimmtheit anscheinend nun doch der Raum geöffnet, sich im Detail gemäß seiner Bestimmtheit zu entscheiden. Wie ist das mit der Allwirksamkeit des Schöpfers, der alles in allem wirkt, vereinbar? Damit ist auch der zweite Punkt meiner Kritik benannt. Beiner erkennt die Unfreiheit des Menschen nämlich vor allem im Hinblick auf die grundlegende Bestimmtheit des Menschen oder vielmehr im Hinblick auf die Deutung seiner eigenen Bestimmung. Hat der Mensch die Fähigkeit zur Selbstbestimmung gerade auf dem Boden seiner unverfügbaren Bestimmung, so liegt seine Unfreiheit eben doch ,nur‘ in dieser Unverfügbarkeit seines Selbstverständnisses. Die intentionale Ausrichtung ist abhängig von der jeweiligen Erkenntnis weltlicher Ziele als gut oder böse. Weil sich die Bestimmung weltlicher Ziele als gut oder böse aber nach der jeweiligen inhaltlichen Bestimmung des Selbstverständnisses des Menschen richtet, deshalb wird auch die Ausrichtung menschlicher Intentionalität, das Streben nach oder Abwehren von weltlichen Zielen, von diesem Selbstverständnis bestimmt.26

Da es aber in diesem Selbstverständnis des Menschen um ,letzte Fragen‘ seiner Existenz geht27, ist die Frage der Unfreiheit des Menschen bei Beiner letztlich doch eine Frage von Glauben und Unglauben. Denn unfrei ist der Mensch ihr zufolge nur darin, nicht selbst bestimmen zu können, welcher Art seine grundlegende Gewissheit ist. Lässt sich aber jede intentionale Ausrichtung auf ein weltliches Ziel als von der Letztdeutung der eigenen Existenz bestimmt denken? Beiner hebt an, die arbitrium-Frage aus dem soteriologischen Korsett der gängigen Dsa-Rezeption zu befreien, und lässt dann ihre schöpfungstheologische Darstellung der Struktur menschlicher Intentionalität in die Frage münden, aus welcher Gewissheit der Mensch sein Selbstverständnis gewinnt: gläubig oder ungläubig? Dass dabei eine Determination aller menschlichen Willens- und Handlungsakte zunächst aus dem Blick gerät, dass Beiner vielmehr weiterhin Selbstbestimmung zur Bedingung von Verantwortlichkeit macht, erklärt auch, 25 Beiner meint mit Selbstbestimmung, „daß ein Geschehen sich einer selbstbestimmten, im Gegensatz zu einer fremdbestimmten, Entscheidung verdankt. Die Erfahrung der Selbstbestimmung wird jedoch nicht dadurch veranlaßt, daß der Mensch sich seine Bestimmung selbst setzt, sondern vielmehr dadurch, daß der Sachverhalt oder Gegenstand seiner Ausrichtung der eigenen Bestimmung entspricht und mit dem Akt der Ausrichtung die Verwirklichung dieser Bestimmung initiiert wird.“ (Beiner, Intentionalität, 56). 26 Beiner, Intentionalität, 91. 27 „[M]enschliche Intentionalität [ist] an diejenigen Einsichten des Menschen gebunden, die ihm Aufschluß über Grund und Ziel seiner Existenz geben, weil diese Einsichten das Verhältnis des Menschen zur Welt bestimmen.“ (Beiner, Intentionalität, 92).

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Anmerkungen zum gegenwärtigen Diskussionsstand

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dass Luthers theologischer Determinismus ihr zur erschwerenden Einsicht wird.28 Es bedarf dann einer weiteren Argumentationsschleife, um die Selbstbestimmung des Menschen in den ja durchaus von ihr erkannten göttlichen Allwirksamkeitszusammenhang einzustellen – mit dem Ergebnis, dass bestimmte Selbstbestimmung als einfacher Gegensatz zu Zwang lediglich zustimmendes Dabeisein des Menschen bedeuten kann: Jede individuelle Gewißheit verdankt sich letztlich dem Wirken Gottes, weil alle Wirklichkeit, der Mensch und das, was ihm von außerhalb seiner selbst begegnet, von Gott geschaffen ist. Als ein eigenes Wirken – und insofern als ein Zusammenwirken des Menschen mit Gott – kann das Handeln im Sinne dieser je individuellen Gewißheit aber verstanden werden, weil der Inhalt dieser Gewißheit als Gewißheit Ausdruck einer Bestimmung ist, die der Mensch als eigene Bestimmung erfährt. Nur so kann plausibel gemacht werden, warum einerseits zwar die Richtungsbestimmung des Einsatzes unserer Handlungsmacht für uns Menschen unverfügbar ist (und insofern als das alleinige Handeln Gottes bezeichnet werden kann), andererseits aber dennoch die faktische Ausrichtung als unsere je eigene, selbstbestimmte – und nicht von außen erzwungene – verstanden wird.“ Das bedeutet, „daß jegliches Geschehen in der Welt nach dem Willen Gottes und also mit Notwendigkeit geschieht.29

Ich meine, dass diese letzte argumentative Wendung v. a. Beiners Interesse am Erhalt der Selbstbestimmung und der Verantwortlichkeit geschuldet ist und dass Luther dagegen allein aufgrund der Geschöpflichkeit des Willens dessen Unfreiheit in allen Dingen vertreten hat, ohne dabei sonderliche Skrupel im Hinblick auf die sittliche Person zu haben.

1.3.2 Andreas Klein: Willensfreiheit auf dem Prüfstand Andreas Kleins umfangreiche Monographie führt eine große Vielzahl vornehmlich philosophischer Beiträge und Konzepte zur Determinismusfrage an. Kleins Verdienst besteht vor allem darin, die angloamerikanischen Beiträge in die deutschsprachige Theologie einzubringen und mit seiner eigenen Lutherrezeption ins Gespräch zu setzen. Konkrete Querverweise zwischen den neurowissenschaftlichen und theologischen Abschnitten lässt seine Arbeit allerdings nicht erkennen. Klein bemängelt die philosophische Abstinenz der deutschsprachigen Theologie, die sich vor allem in der Unklarheit der Luther-Rezeption bezüglich der zentralen Begriffe niederschlage. Dem will er Abhilfe verschaffen, wobei dann freilich sein eigenes, aus den philosophischen Überlegungen gewonnenes Konzept von Freiheit den theologischen Teil dominiert. Luthers Willenstheorie muss sich für Klein in der Folge auch an diesem messen lassen. 28 Vgl. Beiner, Intentionalität, 93. 29 Beiner, Intentionalität, 125 f.

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Einleitung

Meine Leitendperspektive [sic!] besteht also darin, zunächst auf philosophischer Ebene ein plausibles Freiheitsverständnis zu entwickeln, welches sich auch als theologisch anschlußfähig erweisen läßt und Willensfreiheit somit insgesamt als ein gemeinschaftlicher Problembereich sichtbar wird.30

Mehr noch: Sein Konzept vermittelter und bestimmter Selbstbestimmung31 wird sozusagen zum Prüfstein dafür, ob Luther mit seiner Bestimmung des Willensbegriffs ein ausreichendes Freiheitsverständnis vertritt, um noch an Verantwortlichkeit festzuhalten. Klein hält Luthers Angaben zum Willen zwar für anschlussfähig für sein – Kleins – Konzept bestimmter Selbstbestimmung, erwägt aber, ob Luther selbst nicht doch „eine Form zu schwacher Handlungsfreiheit im Blick hat.“32 Daran zeigt sich, dass Luthers Willenskonzept nach wie vor mit der erasmianischen Skepsis konfrontiert wird, ob es denn menschliche Verantwortlichkeit ausschließe oder nicht. Auch der Grundsatz, dass Verantwortlichkeit nur zu haben ist, wenn irgendeine Form von Selbstbestimmung oder Freiheit gegeben ist, ist bei Erasmus vorgezeichnet und findet in aktuellen Lutherrezeptionen steten Wiederhall. In Vielem ähnelt Kleins Verständnis von Selbstbestimmung dem von Melanie Beiner. V.a. die Bezogenheit des Selbst auf Anderes als Grund für die vorgegebene Bestimmtheit des Menschen tritt hier wieder auf: Vermittelte und bestimmte Selbstbestimmung zielt also auch darauf ab, daß es (zumindest menschliche) Selbstbestimmung nur über den Umweg konkreter und vielschichtiger Vermittlungsbedingungen geben kann und somit auch konstitutiv des Anderen und der Anderen bedarf. Selbstbestimmung ist nur als Angeknüpft-Sein und als Angeschlossen-Sein vollziehbar.33

Klein bringt damit ein ausdrücklich kompatibilistisches Freiheitsverständnis ein: Für Selbstbestimmung müsse weder gefordert werden, dass der Mensch über seine gesamte Biographie Kontrolle habe, noch dass er sich zu einem bestimmten Zeitpunkt von allen biographischen Determinanten frei mache. Personen können und müssen demnach keine Kontrolle über ihr jeweiliges Sosein haben, um sich dennoch selbst zu bestimmen. Freiheit und Verantwortung können nämlich nicht davon abhängig gemacht werden, daß eine Person in ihrer Biographie zu bestimmten Zeitpunkten der selbstmächtige Schöpfer der eigenen Präferenzen usw. ist. Damit wird noch einmal deutlich, daß bestimmte Selbstbestimmung nicht zuletzt über Faktoren vermittelt ist, die uns eher zuwachsen als daß wir selbst ihr Produzent sind. Aber diese Faktoren gehören konstitutiv zu uns als Personen und können auch nicht per se als freiheitsgefährdend veranschlagt werden.34 30 31 32 33 34

Klein, Willensfreiheit, 14. Vgl. Klein, Willensfreiheit, 291 ff. Klein, Willensfreiheit, 409. Klein, Willensfreiheit, 297. Klein, Willensfreiheit, 301.

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Dennoch – und hier geht Klein noch über Beiners Konzept hinaus – fordert er für einen ausreichend starken Begriff von Selbstbestimmung die Fähigkeit des Menschen, mit diesen Faktoren rational-kritisch umgehen zu können.35 Damit wird letztlich für den Willen eine Unterbrechung seiner steten Aktivität angenommen, durch die dem Menschen eine aktive Ausrichtung / Korrektur seines Willens ermöglicht werden soll. Klein betont zwar durchweg ein starkes Moment der Bestimmtheit in seinem Verständnis von bestimmter Selbstbestimmung und wendet sich so ausdrücklich gegen einen starken Libertarismus.36 Das Selbst, das sich in der Selbstbestimmung selbst bestimmt, ist ihm zufolge nicht zu denken als zuvor unbestimmtes Selbst.37 In ebendieser Bestimmtheit des Selbst sieht Klein nach Luther die göttliche Wirksamkeit am Werke. Doch auch wenn Klein diese Anforderung an ein Verantwortlichkeit mitführendes Willenskonzept für determinismuskompatibel hält38, sehe ich im Rahmen einer Dsa-Interpretation Schwierigkeiten: Obwohl nämlich Luthers Rede von der reinen Notwendigkeit deutlich mit der Determinismusthese korreliert wird39, bleibt es ungeklärt, wie der kritische Umgang des Menschen mit dem eigenen Willen in die Notwendigkeit allen Geschehens eingefasst werden soll. Klein spricht sich durchaus gegen die Lösung aus, die Freiheit des Menschen coram mundo zu suchen und dessen Unfreiheit coram Deo zu behaupten.40 Er lehnt in der Folge auch ab, die Notwendigkeit aus den weltlichen Bezügen zu tilgen.41 Und dennoch sieht er in der rationalen Fähigkeit des Menschen nicht nur eine kritische Bewertung des eigenen Willens ermöglicht, sondern auch die – eben selbst-bestimmte – Modifikation desselben. Es muß aber doch auch zur Geltung gebracht werden, daß dem Menschen die Möglichkeit eignet, auf den eigenen Willen rational, reflexiv und kritisch zurückzukommen. […] Es sollte jedenfalls nicht der Fehler wiederholt werden, die jeweiligen Wünsche und das eigene Wollen als gewissermaßen erratische Blöcke, als rein Gegebenes und Vorgefundenes, aufzufassen, sondern als durchaus auch der rückbezüglichen Bewertung und Modifikation Zugängliches. Ja, sie können u. U. sogar 35 Klein, Willensfreiheit, 301 f. Vgl. auch a. a. O., 432 ff. 36 Vgl. Klein, Willensfreiheit, 408 – 429. 37 „Grundsätzlich bleibt es dabei, daß auch mit diesen Modifikationen Selbstbestimmung immer nur als bedingte und bestimmte verstanden werden kann, da auch noch die kritische Selbstbezüglichkeit auf den eigenen Willen einer Basis bedarf, von der aus überhaupt erst eine solche Rückbezüglichkeit hergestellt werden kann. Es ist eben nicht möglich, sämtliche individuellen Voraussetzungen (Präferenzen, Wünsche usw.) auf einmal zur Disposition zu stellen. Dies wäre vielmehr ein ebenfalls wieder indifferentes Unding.“ (Klein, Willensfreiheit, 405). 38 Da Klein sich u. a. auf das Freiheitsverständnis Michael Pauens beruft, vgl. den entsprechenden Abschnitt unter 2.2.1.4.1. 39 Es ist von Luthers Behauptung, alles in der Welt geschehe aus absoluter Notwendigkeit, „nur ein kleiner Schritt zur These des Determinismus“ (Klein, Willensfreiheit, 356). 40 Vgl. Klein, Willensfreiheit, 380. 41 Vgl. Klein, Willensfreiheit, 384 u. 386.

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selbst aus einer entsprechenden Bewertung und aus bestimmten Gründen hervorgegangen sein.42

Wie aber bei dieser selbstbestimmten Modifikation des Willens Gott allwirkend anwesend ist, wie also die Notwendigkeit allen Geschehens auch mit dieser Form der Selbstbestimmung kompatibel sein soll, bleibt m. E. ungeklärt. Dass Gottes Wirken auch diesen kritischen Selbstbezug noch mit Notwendigkeit belegt, müsste als Hintergrundbehauptung mitgedacht sein. Da dies jedoch, soweit ich sehe, nirgends explizit benannt wird, verbleibt dem Menschen offensichtlich doch eine Freiheit außerhalb der göttlichen Wirksamkeit. Da Kleins Lesart von Dsa also vor allem eine weitgehende Verteidigung der menschlichen Selbstbestimmung anstrebt, wird die von Luther behauptete Unfreiheit m. E. erneut reduziert auf den Bereich der Heilserlangung. Entsprechend kommt für die unhintergehbare Bestimmtheit der eigenen Selbstbestimmung bei Klein letztlich nur wieder die rechtfertigungstheologische Dualität von Sünde und Glaube in Betracht. Und weil der Fokus vor allem auf der Fähigkeit zur Selbstbestimmung (innerhalb des soteriologischen Rahmens) liegt, werden diejenigen Formulierungen Luthers als inadäquat infrage gestellt, die gerade die Passivität des Menschen zur Sprache bringen. Die Selbstbestimmung, die in der extern konstituierten Umwendung zu Gott neu bestimmt wird, darf nicht im Zustandekommen und Vollzug des Glaubens ausgeblendet werden, weil dadurch der Mensch selbst in diese Ausblendung hineingeraten würde. Dementsprechend wäre auch zu fragen, ob dieser Umstand in Luthers Formulierung ,non operatur in nobis sine nobis‘ adäquat zum Ausdruck gebracht ist, erst recht im Blick auf seine Reittiermetapher, in welcher der Vollzug der Selbstbestimmung prima facie gerade übersprungen zu sein scheint.43

Kleins Bestreben, mit der selbstbestimmten Modifikation des Willens ein möglichst weitreichendes Freiheitsverständnis als determinismuskompatibel vorzustellen, ist ganz deutlich motiviert von der Rücksicht auf die Verantwortlichkeit des Menschen. Dass unter Maßgabe dieses Freiheitsverständnisses Luthers Willensbestimmung als zu schwach erscheint, ist klar. Erwägenswert erscheint mir hingegen einerseits, ob nicht die angestrengte Sorge um die Verantwortlichkeit insgesamt ein fremdes Anliegen an Dsa heranträgt. Luther zeigt sich doch gegenüber den erasmischen Bedenken hinsichtlich eines befürchteten Sittenverfalls gänzlich unbekümmert. Andererseits halte ich es für einen Mangel dieser Strategie zur Rettung der Verantwortlichkeit, die Funktion des göttlichen Gesetzes bei Luther gänzlich auszublenden. Indem man Luthers „Form zu schwacher Handlungsfreiheit“44 kritisiert, weil sie die Verantwortlichkeit des Menschen gefährde, begibt man sich doch wieder auf 42 Klein, Willensfreiheit, 403 f. 43 Klein, Willensfreiheit, 424. 44 Klein, Willensfreiheit, 409.

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die Pfade des Erasmus von Rotterdam. Dass sich Verantwortlichkeit als Verantwortlichmachung des Menschen durch das göttliche Gesetz darstellt – Du sollst, aber du kannst nicht! – und gerade so in die Verzweiflung führt und zur Gnade ruft, ist hierbei dann einfach übersehen. Hierin erkennt meine Arbeit den inneren Zusammenhang von göttlicher Allwirksamkeit und Heilsmonergismus.

1.3.3 Wolfgang Achtner : Willensfreiheit in Theologie und Neurowissenschaften Wolfgang Achtners „historisch-systematischer Wegweiser“45 unternimmt es auf knapp 260 Seiten, die verschiedenen Konzepte von ,Wille‘ von der Antike bis in die gegenwärtige neurowissenschaftliche Betrachtung zu verfolgen und zu kategorisieren. Sein Interesse liegt dabei – der Titel deutet es an – vor allem auf der Willensfreiheit und nicht so sehr auf ihrer Bestreitung. Auf diesem Weg kann er bei der Theologie Luthers freilich nur mehr oder weniger ausführlich verweilen und so verbleibt Achtners Studie zu Luther46 auf dem Stand eines durchaus kundigen Überblicks, der an zentralen Punkten zu Kritik einlädt. Zur Erhebung des Willensbegriffs bei Luther greift Achtner auf die Arbeit von Melanie Beiner zurück und übernimmt dabei auch den Gedanken der bestimmten Selbstbestimmung. So findet sich auch bei ihm die Figur, dass es zur Selbstbestimmung zunächst letzte Gewissheiten des Selbstverständnisses geben muss, aufgrund derer der Mensch dann entschieden handelnd zur Übereinstimmung mit jenem Selbstverständnis kommt. Doch was bei Beiner noch als strukturelles Merkmal beschrieben war, nämlich, dass ein bestimmtes Selbstverständnis (Glaube/Unglaube) die strukturelle Bedingung für menschliche Selbstbestimmung ist, ist bei Achtner missverstanden. Bei ihm beinhaltet Selbstbestimmung sogar noch die menschliche Möglichkeit, sich zu der – von ihm als Theologen als richtig erkannten, nämlich schöpfungsgemäßen – Bestimmung zustimmend oder ablehnend zu verhalten! Für Achtner ist Selbstbestimmung die Übereinstimmung nicht etwa mit irgendeinem grundlegenden Selbstverständnis, sondern mit der Bestimmtheit als 45 Achtner, Willensfreiheit in Theologie und Neurowissenschaften. Ein historisch-systematischer Wegweiser, Darmstadt 2010. Im Folgenden: „Achtner, Willensfreiheit“. 46 Bedenklich stimmt schon Achtners Ansinnen, Luthers Behandlung der Freiheitsfrage von den traditionsgeschichtlichen Quellen und von der Besonderheit seiner – Luthers – Persönlichkeitsstruktur her zu studieren. „Erst die Eigenart des religiösen Antriebs Luthers, verbunden mit seinen besonderen psychischen Dispositionen, können helfen, zu erhellen, warum er die ihm von der Tradition vorgegebenen theologischen Gedankenmassen in einem längeren schöpferischen Prozess in eine neue Form gießen konnte, die schließlich in De servo arbitrio vollendet wurde.“ (Achtner, Willensfreiheit, 138.) Achtner selbst räumt glücklicherweise drei Seiten später ein: „[Der Aspekt der psychischen Disposition] kann allerdings kaum mit Sicherheit näher qualifiziert werden.“ (A.a.O., 141).

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Geschöpf. Zu dieser kann sich der Mensch nun auch noch zustimmend oder ablehnend verhalten. Intentionalität [ist] mit Selbstbestimmung verbunden, ihr kann kein Zwang zugrunde liegen. Dieser scheinbare Widerspruch zum Argument der Willensunfreiheit des Menschen löst sich schnell auf, wenn klar ist, dass diese Selbstbestimmung nicht eine Sache schrankenloser Freiheit im Sinne des modernen Freiheitsideals ist, sondern im Sinne der Übereinstimmung mit dem eigenen schöpfungsmäßig vorgegebenen Sein zu verstehen ist. Diese Bestimmung ist aber nicht frei wählbar, man kann sich zu ihr nur zustimmend oder ablehnend verhalten und damit seine Bestimmung verfehlen. Auch dies also ein Argument für die Unfreiheit des Willens.47

Achtners Fokus gegenüber Luther liegt insgesamt eindeutig auf der soteriologischen Bedeutung des menschlichen Willens und dem menschlichen Verhältnis zu Gesetz und Evangelium, Werken und Glauben, Gott und Christus. Hervorzuheben ist, dass er sowohl in Luthers Assertio omnium articulorum als auch in Dsa einen Determinismus ausmacht und benennt. Dass diesem Gedanken keine weitere Aufmerksamkeit zuteilwird, mag daran liegen, dass Achtner keine Verbindung herstellt zwischen Luthers Determinismus und dessen Soteriologie – Achtner redet von einem „metaphysischen Determinismus.“48 Eben jene Verbindung von Determinismus und göttlichem Heilsmonergismus wird im theologischen Teil meiner Arbeit herausgearbeitet werden. Dass Luthers Position Achtner in dieser Frage „irritiert“49, dass er weiterhin erwägt, „weniger sachliche Überlegungen“50 als vielmehr die Solidarität mit Jan Hus und John Wycliff hätten Luther in der Sache motiviert, zeigt jedoch, dass hier keine gedankliche Verknüpfung von Luthers Allmachtsund Erlösungsaussagen geleistet wurde. So führt denn auch Luthers Bibelauslegung „zu einigen ungewöhnlichen Folgerungen“, namentlich zur „Relativierung der ethischen Maßstäbe“ und „zu der Schlussfolgerung, dass Gott auch im Bösen wirksam ist, eine gewagte Lösung des Theodizeeproblems.“51 Letzteres freilich ist überhaupt keine Lösung – schon gar nicht für ein Problem, das sich Luther so nicht gestellt hat.52 Das weitgehende Desinteresse an Luthers Aussagen zur göttlichen Weltlenkung, vielmehr das Interesse am Verhältnis von Wille und Heil und im Weiteren an der Freiheit eines Christenmenschen, machen es Achtner sichtlich schwer, hier Verbindungen zu den Neurowissenschaften herzustellen. Dabei erstaunen aber doch sehr Feststellungen wie die, Luther habe einen doppelten Freiheitsbegriff, nämlich neben demjenigen der libertas Christiana 47 48 49 50 51 52

Achtner, Willensfreiheit, 171. Achtner, Willensfreiheit, 158. Achtner, Willensfreiheit, 158. Achtner, Willensfreiheit, 159. Achtner, Willensfreiheit, 173. Das Theodizeeproblem stellt sich schließlich nur dem, der Gott unter vorgegebene Gerechtigkeitsmaßstäbe zwingen will, was Luther rundweg ablehnt.

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auch noch einen im Bezug auf das Gesetz – und zwar, weil der Glaube einen Kampf des Menschen gegen dessen gesetzeswidriges Wollen initiiere. Achtner trennt den Bereich der Schöpfung vom Bereich der Erlösung und spricht in beiden dem Menschen eine je spezifisch qualifizierte Freiheit zu! Unter dem Gesichtspunkt des Gesetzes kann Luther sowohl das autonome Freiheitsverständnis des Nominalismus, einschließlich seiner Werke, akzeptieren, wie das transautonome der Mystik [Gemeint ist eine Freiheit der Entgrenzung unter Aufgabe des eigenen zugunsten eines freien Willens. S.S.], einschließlich der damit verbundenen Freiheitsgrade. Unter dem Gesichtspunkt des Evangeliums hingegen ist die Freiheit des Glaubens gemeint, der sich gewiss ist, dass das religiöse Heil nicht an diese Praxis gebunden ist. Man kann es auch anders formulieren. Unter schöpfungstheologischen Gesichtspunkten ist für Luther der autonome und transautonome Freiheitsbegriff akzeptabel, nicht jedoch unter dem Gesichtspunkt der Erlösung.53

Im Hinblick auf die Berührungspunkte von Neurowissenschaft und dem lutherischen Verständnis christlicher Freiheit bleibt dann letztlich nur die Fehlanzeige: Da dieser Freiheitsbegriff nicht an die jeweiligen innerseelisch erlebbaren Freiheitsgrade des Gesetzes gebunden ist, ist er auch empirisch, d. h. unter heutigen neurowissenschaftlichen Gesichtspunkten, kaum fassbar. Für die neurowissenschaftliche Interpretation der Willensfreiheit bietet dieser Typus keine Anknüpfungspunkte, da die Heilszusage gerade unabhängig vom Willen ist – extra nos.54

Es ist einleuchtend, dass in der Konzentration auf die Freiheit Parallelen zwischen Luthers Schriften und neurowissenschaftlichen Interpretationen schwerlich bestehen können. Das liegt wohl eher am Frageinteresse der Darstellung und nicht daran, dass keine Parallelen zwischen Luther und der aktuellen Debatte bestünden. Meine Arbeit verfolgt indes die entgegengesetzte Fragerichtung: Indem die folgende Untersuchung gerade die Bestreitung der Freiheit bei Luther und die Bestreitung der Freiheit in den Neurowissenschaften zum Gegenstand macht, gelangt sie zu positiven Ergebnissen hinsichtlich der Vergleichbarkeit beider Grundaussagen. Gerade dieser Vergleich wird aber auch die Unterschiede zutage treten lassen. Luthers theologischer Determinismus hat eben – und darin unterscheidet er sich doch eminent von einem naturhaft hergeleiteten Determinismus – das Heil des Menschen zum Ziel und inneren Grunde. Zwar ist Luthers Determinismus in seiner schöpfungstheologischen Herleitung von der Heilsfrage unterscheidbar ; er ist jedoch kein verzichtbarer Nebengedanke seiner Theologie, sondern gerade als strenger, uneingeschränkter Determi53 Achtner, Willensfreiheit, 248. 54 Achtner, Willensfreiheit, 248.

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nismus, und zwar nur so, integraler Bestandteil des göttlichen Heilsmonergismus. Das wird diese Arbeit darlegen.

1.3.4 Benedikt Bruder : Versprochene Freiheit Zuletzt zum Thema erschienen ist Benedikt Bruders Dissertation, „Versprochene Freiheit“, die aus mehreren Gründen bemerkenswert ist. Vor allem ist die sehr positive Rezeption des libertarischen Inkompatibilismus aus der Feder Robert Kanes auffällig. Beachtenswert ist Bruders zustimmende Haltung zum Libertarismus darum, weil sie in der protestantischen Literatur derzeit ein Alleinstellungsmerkmal zu sein scheint. Zwar grenzt auch Bruder sich gegen eine allzu weit gehende Behauptung der ultimativen Verantwortung im Sinne Kanes ab.55 Dennoch sieht er offensichtlich in dessen starkem Konzept von Willensfreiheit den philophisch stichhaltigsten und zudem einen erfahrungskonformen Freiheitsbegriff56 – wenngleich Bruder sich einem Urteil über die faktische Verfasstheit der Welt enthält. Da Bruder den Wert jedes Freiheitskonzepts daran bemisst, inwieweit es die zwischenmenschliche Zuschreibung von Verantwortung erlaubt57, erscheint ihm freilich ein derart weitgehender Freiheitsgedanke wie er von Kane formuliert wird, als attraktiv. Denn Kane zielt ja mit seinem Indeterminismus tatsächlich auf ultimative Verantwortung des Menschen für dessen Sosein. Bruder sieht mit Kane in dem Prinzip einer solchen Letztverantwortung (ultimate responsibility = UR) die eigentliche „Demarkationslinie“58 zwischen Kompatibilismus und Inkompatibilismus, da das Prinzip alternativer Mög-

55 Vgl. Bruder, Freiheit, 259. Ob Kanes Konzept allerdings graduelle Einschränkungen übersteht, ob es quasi eine etwas weniger ultimative Verantwortung des Menschen für sich selbst geben kann, sei hier ohne eingehende Diskussion in Frage gezogen. Mir scheint Bruder am Ende doch in die Nähe von Pauens „liberaler Variante“ des Umgangs mit den eigenen Präferenzen (Vgl. hierzu unten 2.2.1.4.1.) zu geraten, wenn er schreibt: „Wir sind zwar als Menschen in der Lage, uns selbst zu transzendieren, können dabei aber nicht beliebig hinter uns selbst zurückgehen. […] Die Verantwortung für das Ganze des Lebens kann sicher nicht bedeuten, dass Menschen für jeden einzelnen Charakterzug unmittelbar Verantwortung tragen. […] Verantwortlichkeit aber muss stets angenommen werden für die Art und Weise des Umgangs mit uns selbst“ (Bruder, Freiheit, 259). 56 So sieht er in seinen Darlegungen zum Kane’schen System eine „Aufklärung desjenigen Phänomens, das wir üblicherweise mit dem Schlagwort ,Freiheit‘ benennen“ und „eine Explikation des Selbstverständnisses freier Personen“ (Bruder, Freiheit, 261). 57 „[E]in (unumstrittenes) Merkmal eines sinnvollen Freiheitsbegriffs muss – egal wie er definiert wird – sein, dass er die Zuschreibung von Verantwortung rechtfertigt. Sollte dies nicht der Fall sein, so hätte auch die Rede von Freiheit, die eben ihren Sitz im Leben in der Interaktion von Personen und deren reziproker Zuschreibung von Verantwortung hat, keinen Sinn.“ (Bruder, Freiheit, 118; Hervorhebung im Original.) Vgl. a. a. O., 136 u. 210. 58 Bruder, Freiheit, 222.

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lichkeiten für sich genommen immer noch kompatibilistische (deterministische) Interpretationen59 anziehen kann. Kane zufolge setzt das Prinzip UR am Prinzip alternativer Möglichkeiten an und besagt darauf aufbauend, dass eine Person dann im letzten Sinne verantwortlich für ein Ereignis ist, wenn (1.) „ihre Handlung, die sie willentlich vollzog und für die ihr alternative Möglichkeiten zur Verfügung standen, entscheidend zum Auftreten des Ereignisses beitrug“60, und wenn (2.) die Person für „alle hinreichenden Ursachen, die zu der entsprechenden Handlung [.,.] der Person geführt haben (also etwa deren Motive, Intentionen etc.) im gerade genannten Sinn verantwortlich“61 ist. Also: Letztverantwortlich ist eine Person, die ihr aktuales Sosein – und die daraus sich ergebenden Handlungen – wiederum einer bestimmten Klasse von eigenen freien Handlungen verdankt: den self forming actions (SFA’s). Somit muss ein Akteur keine vollständige Kontrolle über die Vorgeschichte einer Handlung besitzen; aber er muss für „einige zentrale Handlungen“62, eben jene vorausgehenden SFA’s, direkt verantwortlich sein können – und darum dürfen SFA’s auch nicht vollständig determiniert sein: PAP muss ebenfalls für sie zutreffen. Interessant ist daran einerseits, dass nach Kane aktuelle Handlungen nicht unbedingt PAP unterliegen müssen, solange der Handelnde seine Intentionen qua vorausgehender SFA’s selbst zu verantworten hat.63 Die Verantwortung des Agenten für seine Entscheidungen ergibt sich mittelbar aus der Verantwortung für die Selbstbildung der eigenen Persönlichkeit, auch wenn der Wille der Person im Moment der Entscheidung keine Alternativen zulässt.64

Interessant ist aber außerdem, dass die gesamte Argumentation Kanes auf eine Leerstelle hinausläuft, an der Kane behaupten muss, konfliktreiche Entscheidungen fielen aufgrund von indeterminierten (chaotischen) Prozessen, nämlich womöglich quantenmechanischen neuronalen Ereignissen.65 Bruder hat völlig Recht, wenn er dazu festhält: „Allzu schnell wird auf diese Weise das indeterminierte neuronale Chaos zum Garanten der Freiheit.“66 Aber mehr noch: Hier zeigt sich doch einmal mehr, wie jede Argumentation zur Freiheistsfrage am Ende auf einer grundsätzlich unbegründbaren Positionierung des jeweiligen Autors basiert.67 So ist auch hier die nicht weiter begründbare 59 60 61 62 63 64 65 66 67

Vgl. dazu auch unten Abschnitt 2.2.1.4. Bruder, Freiheit, 225. Bruder, Freiheit, 225. Bruder, Freiheit 226. Ein ähnlicher Fall sind Harry G. Frankfurts „volitionale Nötigungen“. Vgl. hierzu unten 2.2.1.4.3. Bruder, Freiheit, 227. Vgl. dazu Bruder, Freiheit, 240 – 248. Bruder, Freiheit, 260. Gegenüber der Frage Determinismus/Indeterminismus könnten in der Tat kulturell geprägte Intuitionen oder das individuelle Bedürfnis, „ein jemand und nicht nur ein etwas zu sein“ (Bruder, Freiheit, 236) ausschlaggebend sein.

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Behauptung des Indeterminismus der seidene Faden, an dem das gesamte System hängt. „Der epistemische, aber auch der ontologische Indeterminismus ist hier [sc. bei R. Kane] eine conditio sine qua non.“68 Ohne an dieser Stelle tiefer in die Diskussion des Kane’schen Libertarismus einsteigen zu wollen, sollen kurz die von Bruder benannten Vorzüge dieses Ansatzes dargestellt werden. Bruder sieht bei Kane einen Begriff von Willensfreiheit vorgestellt, der hält, was das Wort verspricht. Während kompatibilistische Ansätze aus der Sicht Bruders hinter einem vollgültigen Begriff von Willensfreiheit zurückbleiben, geht es Kane um die kontrollierte, selbstverantwortliche Ausbildung und Gestaltung des eigenen Willens. Bruder pflichtet dem bei: „Nur wenn auch der Wille selbst der Kontrolle des Handelnden unterliegt, kann von Willensfreiheit gesprochen werden.“69 Außerdem unterstützt Bruder die holistische Sichtweise Kanes auf das Problem: Es geht ihm nicht um die Freiheit und Verantwortbarkeit einzelner isolierter Handlungen, sondern um die Freiheit der Person und einer Verantwortlichkeit des Menschen für sich selbst. Freiheit kann sich nicht in der freien Ausübung einzelner Taten erschöpfen, sondern muss, wenn sie stichhaltig sein soll, als Freiheit der Person verstanden werden.70

Mit einem solchen ganzheitlichen Ansatz geht für Bruder offensichtlich des Weiteren einher, keinem Modell von Personalität, Wille und Freiheit zustimmen zu können, das zu unterscheiden versucht zwischen einer Grundausrichtung der Person bzw. ihres Willens und aktuellen Willensbewegungen. Eine Absage erteilt Bruder auch solchen theologischen Studien, die eine Art „bestimmter Selbstbestimmung“ auf genau dieser Differenz von Grundwille und Aktualwille zu gründen suchen.71 Ob Bruder am Ende nicht aus der Gegenrichtung kommend in dieselbe Falle tritt, will ich an dieser Stelle nur fragend andeuten. Bisweilen erhält man den Eindruck, Freiheit in der einzelnen Entscheidung sei auf Dauer entbehrlich, solange der jeweilige Aktualvollzug einer Person der grundsätzlichen Verantwortung für ihr Sosein qua vorheriger SFA’s entstamme. Menschliche Freiheit muss sich in der Gesamtschau eines personalen Lebens nicht immer wieder neu aktualisieren und in jeder Entscheidung unmittelbar sichtbar werden, sondern erwächst aus der grundlegenden Verantwortung von Menschen für sich selbst.72

Wie aber unterscheidet man SFA’s, für die Indeterminiertheit gelten muss, von anderen Handlungen, die nicht unbedingt PAP unterliegen müssen? 68 69 70 71 72

Brunder, Freiheit, 256. Bruder, Freiheit, 239. Bruder, Freiheit, 258. Vgl. etwa Bruder, Freiheit, 322 u. 327, v. a. 402 ff. Bruder, Freiheit, 228.

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Schließlich betont Bruder den zeitlichen Aspekt dieses Modells. Bruder sieht in Kanes Überlegungen den Vorteil gegenüber einigen kompatibilistischen Konzepten, dass Kane nicht auf ein starr abgrenzbares Selbst als Ausgangspunkt von Handlungen rekurriert, sondern zugleich in Rechnung stellt, dass die Zukunft des Selbst durch Handlungen bestimmt ist. Freiheit vollzieht sich […], so kann der Ansatz Kanes hier interpretiert werden, immer auch im Werden zu einer bestimmten Person, das gerade nicht immer schon ableitbar ist aus vorangehenden Kriterien, Werten oder Merkmalen. Sie ist also elementar Teil der zeitlichen Dimension menschlicher Existenz.73

Hängt aber die Freiheit des Menschen vornehmlich an der Indeterminiertheit von SFA’s, und somit an der Offenheit der Zukunft der Person, so muss umso dringlicher gefragt werden, anhand welchen Kriteriums SFA’s und andere Handlungen unterschieden werden können.74 Wann also ist die Indeterminiertheit einer Handlung nötig und wann nicht, um begründet von Freiheit reden zu können? Was Bruders Studie desweiteren bemerkenswert macht, ist einerseits die Art des von ihm angestrebten interdisziplinären Gesprächs, bei dem er die verschiedenen Freiheitsdiskurse (in Neurobiologie, Philosophie und Theologie) mehr oder weniger widerspruchsfrei nebeneinander bestehen lassen kann, andererseits das spezielle Gepräge seiner Interpretation von Dsa. Die unterschiedlichen Aussagen über Freiheit bzw. Unfreiheit des Menschen innerhalb der verschiedenen Disziplinen weder vereinheitlichen noch übermäßig gegeneinander abwägen zu müssen, ist eine einleuchtende Konsequenz aus Bruders Ansatz, „die distinkten Herangehensweisen zunächst in ihren je eigenen Zuspitzungen darzustellen, und die darin implizierten Aspekte bezüglich des Freiheitsproblems freizulegen.“75 Einerseits scheint Bruders Konzentration auf den je abgesteckten wissenschaftlichen Kontext einen Einwand abzufedern, den man gegenüber meiner eigenen Arbeit erheben könnte: die Frage nach der Vergleichbarkeit derart divergenter Forschungsund Zeitkontexte. Gleichwohl: Auch Bruder strebt ein „interdisziplinäre[s] Gespräch“76 an, wobei ihm die Vielfalt der „Perspektiven“77 von Neurobiologie, Philosophie und Theologie als Differenzierungsgewinn im Hinblick auf das Phänomen Freiheit gelten und als ein solcher Gewinn bestehen bleiben sollen. Unter der Hand steht dabei aber letztlich in Frage, ob es sich überhaupt um verschiedene Perpektiven auf ein und denselben begrifflichen Gegenstand handelt, oder ob „Freiheit“ hier nicht in jedem Deutungskontext anderes meint. Bruder kommt her von und zielt ab auf eine Epistemologie der Freiheit. 73 74 75 76 77

Bruder, Freiheit, 245. Bruder, Freiheit, 260 weist ebenfalls darauf hin. Bruder, Freiheit, 3. Bruder, Freiheit, 5. Bruder, Freiheit, 5.

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Einleitung

Er befragt – quasi als Beobachter zweiter Ordnung – die unterschiedlichen Deutungskontexte nach ihrer spezifischen Verwendung des Begriffs Freiheit. Ist aber das Freiheitsproblem ein je verschiedenes, dann muss weder Konsens noch Dissens den Dialog bestimmen. Das nimmt – man kann das befürworten – dem interdisziplinären bzw. multipositionalen Gespräch an vielen Stellen die Kontroverse.78 Ob Bruder damit jedoch das Selbstverständnis der drei Disziplinen trifft? Zumindest für die Theologie Luthers bezweifle ich das. Denn dass bei Bruder im Besonderen Aussagen der Philosophie und Theologie über die Freiheit und Unfreiheit des Menschen in weitgehend unvermitteltem Nebeneinander bestehen können, liegt an Bruders Verhältnisbestimmung beider Disziplinen. Während ihm zufolge die Philosophie „allgemein-anthropologische Strukturen beschreibt“79, handele die Theologie das Thema allein im Hinblick auf das Gottesverhältnis ab – und dies ausschließlich in christlicher Binnenperspektive. Was sich vordergründig auf Luthers Verhältnisbestimmung der beiden Wissenschaften in dessen Disputatio de homine beruft80, nimmt dieser m. E. die Pointe, indem es die anthropologische Kompetenz der Theologie einschränkt – und nicht gegenüber der Philosophie ausweitet. „Denn die theologisch relevante Relation, also die Gottesbeziehung eines Menschen, kann nicht von vornherein als selbstverständlich bzw. jedermann einsichtig angesehen werden.“81 Da also die christliche Binnenperspektive sich ihrer Partikularität bewusst ist, steht auch der Geltungsanspruch ihrer Aussagen immer schon unter Glaubensvorbehalt. Das heißt: Der Anspruch der Theologie ist nach Bruder grundsätzlich keiner auf Allgemeingültigkeit. Der hermeneutische Rahmen auch der Dsa-Interpretation ist allein die Soteriologie. Die Soteriologie ist damit zugleich Gegenstand und Standpunkt der theologischen Reflexion auf die Freiheitsfrage.82 Wirklich spannend daran ist, dass Bruder jene theologischen Studien kritisiert, die einen Grundwillen (mit bestimmter Grundrichtung) und einen Aktualwillen (mit Freiheitsspielraum) unterscheiden, und dass er dennoch zu ganz ähnlichen Aussagen gelangt. So meine Luther mit seinen Aussagen über die völlige Unfreiheit des Menschen eben keine wirklich totale Unfreiheit83 und die Rede von der Notwendigkeit allen Geschehens widerstreite auch nicht dem philosophisch sinnvollen Freiheitsverständnis.84 Leider nimmt es der Arbeit in meiner Sicht außerdem die Stringenz. Bruder, Freiheit, 268. Vgl. Bruder, Freiheit, 269. Bruder, Freiheit, 269. „Diese Binnenperspektive ist zunächst dadurch gekennzeichnet, dass sie diejenigen Phänomene von Freiheit oder Unfreiheit des Menschen in den Blick nimmt, die sich aus der Perspektive des Gottes-, genauer des Christusglaubens ergeben und diesen Glauben betreffen. Dabei ist zu beachten, dass nicht nur die Phänomene aus dem Blickwinkel des Glaubens artikuliert werden, sondern dass auch die Reflexion über die Phänomene dieser Perspektive entspringt“ (Bruder, Freiheit, 268). 83 Vgl. Bruder, Freiheit, 293. 84 „Aus dem Gedanken der Notwendigkeit, wie er bei Luther formuliert ist und wie er theologisch 78 79 80 81 82

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Anmerkungen zum gegenwärtigen Diskussionsstand

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Bei Bruder wird jene Unterscheidung, welche von der geläufigen Dsa-Interpretation innerhalb der Theologie getroffen wird (zwischen Gottes- und Weltverhältnis, superiora und inferiora, Christenmensch und Weltperson), auf die Grenze zwischen den Wissenschaften verschoben. Ich stimme Bruder sehr darin zu, dass eine Unterscheidung innerhalb der Theologie – wo sie auf eine Trennung der Bereiche hinausläuft – zu kritisieren ist. Dennoch bin ich der Meinung, dass die Dsa-Interpretation auch dort auf tönernen Füßen steht, wo man die Lutherschrift mit dem eigenen pluralistischen Bewusstsein für die Partikularität der theologisch-christlichen Aussagen liest und diese Haltung auch Luther unterstellt. De servo arbitrio erhebt dagegen nach meinem Verständnis den Anspruch auf Allgemeingültigkeit und vernunftgemäße Nachvollziehbarkeit. Auch wer heute in der christlichen Theologie einen lebensund welthermeneutischen Ansatz unter vielen sieht, muss m. E. der Lutherschrift einen anderen Anspruch zugestehen, um sie recht zu verstehen. Nun will Bruder die theologische Perspektive auf das Phänomen Freiheit anhand von Dsa als christliche Binnenperspektive präsentieren und legt dabei einen eindimensionalen Glaubensbegriff an, der fides immer schon als fiducia meint85. Dadurch erhält seine Interpretation von Dsa ihren besonderen Charakter. Denn wenn man – etwas schematisch formuliert – die Reihenfolge von „Gesetz und Evangelium“ umkehrt, wenn man in der Rechtfertigung des Sünders sowohl den inhaltlichen Gegenstand als auch den Reflexionsstandpunkt der Lutherschrift sieht, bricht man ihr nahezu jede Spitze ab. Bruder zufolge gründet Freiheit vornehmlich in menschlicher Erkenntnisfähigkeit: Ihre Ontologie ist Epistemologie. Ist Freiheit aber vor allem eine Frage des epistemischen Standpunktes, dann kann im soteriologischen Rahmen die Unfreiheit des Sünders grundsätzlich nur noch als negierte Unfreiheit behandelt werden. Dabei ist die epistemische Dimension nun sowohl für die Reflexion des Freiheitsproblems, als auch für Entstehung und Faktizität von Freiheit und Unfreiheit selbst zentral, weil Freiheit eminent mit Selbst- und Gotteserkenntnis zu tun hat. Es ist für Luther der Glaube an Christus als Form des Selbstverhältnisses und damit der Perspektivität freiheitstheoretischer Überlegungen deshalb vorausgesetzt, weil nur der Glaube als diejenige Existenzform in Frage kommt, in welcher die Befreiung des Menschen von der Sünde durch das Evangelium Wirklichkeit wird, und damit sinnvoll gebraucht werden kann, ist also nicht prinzipiell die Verneinung eines (auch philosophisch verifizierbaren) Begriffs von Freiheit im Sinne freien Wahlhandelns zu gewinnen“ (Bruder, Freiheit, 397). 85 Luther Fragestellung sei eine „spezifisch christliche […] in dem Sinne nämlich, dass sie durch den Glauben an Gott angestoßen ist. Dieser Glaube, im Sinne Luthers also ein lebensbestimmendes, existentielles Vertrauen auf Gott – nicht etwa ein historischer Glaube an die Existenz der Person Jesu von Nazareth – ist bei der Erörterung des Freiheitsthemas immer schon vorausgesetzt“ (Bruder, Freiheit 271).

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Einleitung

auch nur die Erkenntnis des Sünders als in sich Unfreier Gestalt gewinnen kann […].86

Wenn die theologische Reflexion des Freiheitsproblems als Glaubensreflexion immer schon von einem intakten Gottesverhältnis ausgeht, wenn also Verständigung nur quasi unter Gerechtfertigten möglich ist, verliert die Lutherschrift m. E. ihre existentielle Provokativität: a) Die Sünde des Menschen und die spezifisch hamartiologisch begründete Unfreiheit sind nurmehr im Rückblick erkennbar – als aufgehobene. Das servum arbitrium zeigt sich im Grunde nur einem durchs Evangelium bereits befreiten arbitrium!87 Zwar behauptet Bruder einerseits, die Erkenntnis der Sünde sei „erkenntnistheoretisch an die Botschaft von Gesetz und Evangelium gebunden“; er schließt aber sofort an, es sei der Sünde „wesentlich, dass sie erst aus der Überwindung, und gerade nicht im Zustand der Sünde selbst, erkannt werden kann.“88 Wie es jedoch zur Annahme des Evangeliums komme, ohne die vorherige, gewissheitserschütternde Wirkmacht des Gesetzes, erläutert Bruder nicht. Nicht nur widerstreitet der theologische Begriff der Unfreiheit nach Bruder nicht der sonstigen Erfahrung von Freiheit und ihrer philosophischen Begriffsbildung. Selbst innerhalb der Theologie ist die Unfreiheit lediglich eine Erinnerung an die Vergangenheit des Sünderseins. b) Desweiteren ist Luthers Behauptung der Notwendigkeit allen Geschehens Bruder zufolge keine Aussage über die Beschaffenheit der Welt, sondern ein Glaubenssatz, der vom Gerechtfertigten gesagt werden kann. „Die Allmachtsthese ist eine Glaubensaussage und zunächst kein metaphysischer Satz zur Beschreibung der Welt und Gottes aus objektiver Perspektive.“89 Bruder erkennt zwar durchaus an, dass Luther eine Lenkung der Welt durch Gott im Sinne hat, er sieht diese Aussage aber allein im Rahmen eines solchen Glaubens, der vom Standpunkt des heilvollen Gottesverhältisses her die Weltlenkung zum eigenen Heil behaupte. Die Rede von der Allmacht Gottes und der Notwendigkeit allen Geschehens kann darum aus Sicht Bruders auch keinen Determinismus begründen. Denn Luther habe keine „objektive[] Perspektive“90 zur Welterklärung beansprucht, sondern um des menschlichen Vertrauens willen die Allmacht Gottes behauptet. Vielmehr eröffne die definitive Festlegung des Endziels – die Treue Gottes –, an die der Glaube sich hängt, einen Freiheitsspielraum für den Menschen, weil 86 Bruder, Freiheit, 349. 87 „Indem die Erkenntnis nur im Hören des Evangeliums geschehen kann, ist dem servum arbitrium zunächst der Index der Vergangenheit eigen, denn sobald das Evangelium tatsächlich als Evangelium gehört wird und Glaube entsteht, ist das arbitrium eben nicht mehr im radikalen Sinne geknechtet. Im Ereignis der Verheißung, dem Verprechen des Evangeliums geschieht schon Freiheit“ (Bruder, Freiheit, 413 f). 88 Bruder, Freiheit, 308. 89 Bruder, Freiheit, 390. 90 Bruder, Freiheit, 314.

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Anmerkungen zum gegenwärtigen Diskussionsstand

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die Zukunft ihren bedrohlichen Charakter verliere. Die theologisch vertretbare Notwendigkeit sei eine „Freiheit und Verantwortung schaffende Notwendigkeit“91. Weil die Allmachtsthese nach Bruder vom Fiduzialglauben und nicht vom vernunftsgemäßen Gottesgedanken getragen ist, löst sich für Bruder die Abskondität Gottes bzw. die Uneinsichtigkeit in die göttliche Weltlenkung auf, noch bevor ihr eigentlicher Ärgernischarakter sich entfaltet. Bruder betont, dass die Aussagen bezüglich der Allmacht Gottes ex post, also aus einer erfahrenen Wirkung, nämlich dem je individuellen, sich an die Verheißungen Gottes bzw. an den im Wort offenbaren Gott hängenden Glauben, nicht aber ex ante von der Ursache (Gott selbst) her begründet sind.92

Dies hat m. E. weitere Implikationen. Wenn zum einen die Allmacht Gottes bereits das Angesicht des offenbaren, den Tod des Sünders nicht wollenden Gottes trägt, dann erfährt die allmächtige Weltlenkung eine deutliche Einschränkung an jenem neuralgischen Punkt der Sünde. Bruders Interpretation erscheint insgesamt geprägt von einer „signifikanten Asymmetrie“93 innerhalb der Anthropologie: Für seine Sündhaftigkeit muss der Mensch verantwortlich gemacht werden können – nicht zuletzt, um Gott aus der Verantwortung für das Böse zu entlassen. Für seine Rechtfertigung jedoch trägt der Mensch freilich keine Verantwortung. Diese Asymmetrie muss in der Konsequenz eine Bürde tragen, die auch vielen anderen Dsa-Interpretationen auferlegt ist. Denn weil die Sündhaftigkeit des Menschen keinen anderen Realisierungsort hat als das weltliche Sein, darum muss dem Menschen nun doch auch Freiheit coram Deo zugeschrieben werden. Wer Freiheit und Verantwortung coram mundo postuliert, der wird sie auch nicht los coram Deo. Bei Bruder heißt das: Sosehr mit Luther ein Freiheitsbegriff abzulehnen ist, der die Fähigkeit zu eigener Rechtfertigung vor Gott implizieren würde, sosehr ist doch ein Freiheitsbegriff zu bejahen, der sich auf die Übernahme von Verantwortung coram mundo, damit aber auch wiederum coram Deo bezieht. Gerade im Kontext der Sündenlehre betonte Luther ja die Tatsache, dass der Sünder aus eigenem Verschulden so ist, wie er ist. Gott kann nicht für die Sünde bzw. das Sündersein des Menschen verantwortlich gemacht werden. Der Mensch muss hier verantwortlich genannt werden, auch und gerade für das Sündersein.94

So wird eher die andernorts gelobte Unterscheidung der menschlichen Relationen95 aufgeweicht, als vom Konzept der Verantwortlichkeit zu lassen. 91 92 93 94 95

Bruder, Freiheit, 394. Bruder, Freiheit, 393. Bruder, Freiheit, 333. Bruder, Freiheit, 426. Vgl. Bruder, Freiheit, 335.

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Einleitung

Dass meine Untersuchung trotz des nahezu identischen Sujets an vielen Punkten – vor allem in der Deutung der Lutherschrift – zu anderen Ergebnissen kommt, mag ein Hinweis darauf sein, dass die theologische Bearbeitung des Freiheitsbegriffs aber auch seine grundsätzliche Funktion in der Theologie Luthers und der lutherischen Theologie weiterhin kontrovers bleibt. Die Kerndifferenz meiner Arbeit zu derjenigen Bruders – aber auch zu jenen von Beiner und Klein – ist dabei, dass theologischerseits der Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung aufgegeben wird. Das Festhalten an diesem Zusammenhang, mithin die Zuschreibbarkeit von Verantwortung geradezu zum Kriterium eines akzeptablen Freiheitsbegriffs zu erklären, führt in der Interpretation und Beurteilung der Aussagen Luthers regelmäßig dazu, freiheitstheoretische Konzessionen zu machen: Göttliche Lenkung und menschliche Unfreiheit werden eingeräumt, aber nur ad superioris, nicht in den niederen Dingen; nur in der Theologie, nicht in der allgemeinen Beschreibung der Welt; nur bei der Heilserlangung, nicht im Hinblick auf die Sünde. Man fürchtet die sittlich ruinösen Konsequenzen einer Theologie, die den Menschen deutlich für unfrei und Gott für allmächtig erklärt. Wie diese Arbeit zeigen wird, hat Luther neben einer libertas Christiana, die gerade darin besteht, dass menschliche Handlungen keine Konsequenzen für das zukünftige Heil des Menschen haben, keine andere Freiheit des Menschen vertreten – auch nicht im Bereich coram mundo. Dass der Mensch gleichwohl Verantwortung zu tragen hat, entscheidet sich dabei nicht an der Freiheitsfrage, sondern daran, dass der Mensch durch das Gesetz Gottes zur Verantwortung gerufen wird. Dies hat aus meiner Sicht als ein theologischer Beitrag zur gegenwärtigen Debatte zu gelten, die kommunikativ sich vollziehende Zuschreibung von Verantwortung im Wirksamwerden des Gesetzes insgesamt loszulösen von der Frage, ob der Mensch frei oder unfrei sei. Ich sehe jedenfalls in dem Aspekt, dass die Verantwortlichmachung im kommunikativen Vollzug die Person zur verantwortlichen Identifikation mit ihrem eigenen Willen veranlasst, einen vielversprechenden Ansatz, von der allenthalben vorausgesetzten Verbindung von Freiheit und Verantwortlichkeit loszukommen.

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2. Neurowissenschaftliche und philosophische Positionen 2.1 Synchronisierte Metarepräsentationen und soziale Interaktion: Wolf Singers Bewusstseinstheorie Fragt man nach den basalen Voraussetzungen, die ein Gehirn erfüllen muss, um Bewusstsein zu entwickeln, so findet sich bei Wolf Singer die Auskunft, das menschliche Gehirn unterscheide sich von dem der meisten niederen Tierarten durch einen in Relation zur Gesamtgröße des Gehirns vergrößerten Neocortex. Die menschliche Großhirnrinde zeichne sich vor allem dadurch aus, dass zwar etliche Bahnen sensorischer Art ein- und viele motorische Signalbahnen auch austräten, dass aber der Großteil der Verknüpfungen cortexintern bestünde. „Die Hirnrinde beschäftigt sich also vorwiegend mit sich selbst. In hochorganisierten Gehirnen machen die Eingänge von Sinnessystemen und die Ausgänge zu den Effektoren einen verschwindend kleinen Prozentsatz der Verbindungen aus.“1 Durch diese internen Verbindungen ist das Gehirn Singer zufolge in der Lage, die eigenen Prozesse zu verarbeiten. Das Gehirn verarbeitet dann nicht nur primäre Wahrnehmungen der Außenwelt, sondern leistet eine gestufte Weiterverarbeitung der primären Wahrnehmungsrepräsentationen: „So ließen sich im Prinzip durch Iteration der immer gleichen Repräsentationsprozesse Metarepräsentationen aufbauen – Repräsentationen von Repräsentationen –, die hirninterne Prozesse abbilden anstatt die Welt draußen.“2 Durch solche Metarepräsentationen will Singer phänomenales Bewusstsein erklären und versteht darunter die Fähigkeit, sich seiner Wahrnehmungen und Gefühle als der eigenen bewusst zu werden. Singer zufolge werden dazu primäre kognitive Prozesse vom Neocortex erneut verarbeitet und erzeugen so ein „inneres Auge“; das heißt in der Konsequenz: die Fähigkeit zu reflektierter Handlungsplanung („internal deliberations“3). Eben hierin sieht Singer die evolutionär wertvolle adaptive Funktion von Bewusstsein, da Gehirne mit inner eye function in der Lage seien, „to respond with more flexibility to changing conditions than brains that lack consciousness and are confined to reacting to stimuli without the option of further reflection and internal deliberation.“4 Ein weiterer möglicher Selektionsvor1 2 3 4

Singer, Verschaltungen, 43. Singer, Bewußtsein, 70. Singer, Consciousness, 1829. Singer, Consciousness, 1829.

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Neurowissenschaftliche und philosophische Positionen

teil könnte darin bestehen, dass jene Metastrukturen, wenn sie außerdem motorische Systeme beeinflussen können – und so Mimik, Gestik, Laute, Sprache ermöglichen –, ihre Verarbeitungsergebnisse an andere Organismen kommunizieren und damit das Leben in sozialen Verbänden verbessern könnten.5 „As such information markedly increases the predictability of future actions of the respective other, it is likely to have an important function in the consolidation of social systems.“6 Für die Metarepräsentation einer Wahrnehmung als der eigenen bedarf es nach Singer Prozesse, die in zweiter Ordnung die neuronale Primär-Repräsentation des Objekts erneut verarbeiten. Die Frage, die dabei zunächst beantwortet werden muss, ist, wie es überhaupt dazu kommt, dass das Gehirn die mannigfaltigen Eigenschaften eines Objekts zu einem einheitlichen Objekt synthetisiert und wie daraufhin diese neuronale Repräsentation eines integeren Gegenstandes von höheren Prozessen zur Verarbeitung „identifiziert“ werden kann. Eben dies – das sog. Bindungsproblem – ist nach Singer die Hauptfrage einer neurobiologischen Bewusstseinstheorie, sobald man erkannt hat, dass es kein Hirnzentrum gibt, in dem Bewusstsein gebündelt und synthetisiert würde: Wie verarbeitet das Gehirn die Vielzahl sensorischer Signale derart, dass dabei einheitliche Objektwahrnehmungen und – im weiteren Prozess durch Metarepräsentationen – ein einheitliches Bewusstsein entstehen?

5 Dass für Singer das Bewusstsein einen evolutionären Vorteil bedeutet, lässt die Frage aufkeimen, warum ebenjenes Bewusstsein Phänomene hervorbringt, deren Selektionsvorteil zumindest nicht direkt erkennbar ist. Denn während der Vorteil von gut entwickelten Kommunikationssystemen für die Konsolidierung sozialer Systeme einleuchten mag, bleibt z. B. die Frage offen, warum der Mensch Kunst hervorbringt. Singer argumentiert, dass die Fähigkeit zum künstlerischen Ausdruck als ein emergentes Epiphänomen von bewusster Reflexion entstanden sei, ohne dabei zunächst einen eigenen Selektionsvorteil zu erzeugen, und dass nun allerdings die Nutzung nonverbaler, „künstlerischer“ Kommunikation einen Vorteil in der Erschließung komplexer Systeme darstellen könnte, was seinerseits eine „neue evolutionäre Epoche unserer kulturellen Bezugsräume einleiten“ könnte. „Es könnte also sein, daß wir ein Entwicklungsstadium erreicht haben, in welchem eine Fähigkeit, die zunächst als Epiphänomen bestimmter adaptiver Funktionen entstanden ist, plötzlich eine wichtige, möglicherweise arterhaltende Funktion bekommen hat.“ (Singer, Anmerkungen, 234.) Es fällt Singer erkennbar schwer, Kunst in spezifischer Weise von anderen kommunikativen Strategien wie etwa Sprache abzugrenzen (vgl. a. a. O., 221ff). Ob diese Grenzziehung zwischen Sprache und Kunst den Evolutionsvorgängen überhaupt gerecht wird, ist außerdem strittig. „The first cave paintings and carvings […] are the first concrete evidence of the storage of such symbolic information [sc. language] outside of a human brain.“ (Deacon, Species, 374). 6 Singer, Consciousness, 1829 f.

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Wolf Singers Bewusstseinstheorie

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2.1.1 Das Bindungsproblem: Einheitliche Objektwahrnehmung und einheitliches Bewusstsein Singers Erklärungsansatz für das Entstehen des Bewusstseins und dessen Einheitlichkeit bringt zeitlich hochpräzis organisierte Erregungsmuster in Anschlag: Die Wahrnehmung eines Objekts wird dabei zusammengesetzt aus der Wahrnehmung seiner einzelnen Merkmale (Form, Farbe, Textur, Bewegung etc.). Dies wird nach Singer dadurch möglich, dass Neuronen, die auf Einzelmerkmale „spezialisiert“ sind, zu Ensembles vereint werden, indem sie über weite Strecken hinweg präzis synchronisierte Feuerungsraten etablieren.7 So kann eine einzelne Nervenzelle zu verschiedenen Zeitpunkten Teil verschiedener solcher Synchronisations-„Orchester“ sein. Dieser Prozess ist nicht nur sparsam im Hinblick auf die erforderliche Neuronenanzahl.8 Er ermöglicht außerdem den nachfolgenden Verarbeitungsstrukturen im Neocortex, ein einheitliches Objekt anhand jener aktuellen Muster zu identifizieren. Da diese Weise der zeitlichen Bindung von Objektmerkmalen zu einer einzigen Objektrepräsentation für die primäre visuelle Verarbeitung sowohl bei Tieren9 als auch beim Menschen gut nachweisbar ist und da zudem nicht davon auszugehen ist, dass das Gehirn in phylogenetisch jüngeren Arealen andere Prozessmechanismen als die bewährten anwendet, folgert Singer, auch Meta-Repräsentationen würden durch Synchronisation zusammengefasst. In einer ebenso überzeugenden wie zirkulären Formulierung kann Singer daher die Erklärungslücke (explanatory gap) zwischen neuronalen und mentalen Aktivitäten auf die Frage nach der Bindung primärer Repräsentationen reduzieren, wenn man denn akzeptiert, dass Bewusstsein überhaupt aus einer weiteren Iteration ebensolcher Prozesse entstünde.10 Bewusstsein als die erneute Verarbeitung hirninterner Prozesse, wäre neurobiologisch demnach weniger eine Frage der dafür notwendigen distinkten Areale (so Damasio, 7 Ausführlich beschrieben bei Singer, Beobachter, 144 – 170 und ders., Consciousness, 1830 ff. 8 Hierarchische Verarbeitungsstrukturen, in denen über konvergierende Signalbahnen die verschiedensten Objektmerkmale am Ende gruppiert auf ein einzelnes Bindungsneuron – etwa ein „Autoneuron“ für das Erkennen eines Autos – treffen, mögen intuitiv einleuchten, würden aber die notwendige Zahl von Bindungsneuronen ins Unendliche treiben. „Der Grund ist, daß für jedes erkennbare Objekt und alle seine Erscheinungsformen jeweils mindestens ein Bindungsneuron erforderlich ist, das mit dem entsprechenden Satz von Merkmalsdetektoren verknüpft sein muß. Ferner wären für alle möglichen Orte im Gesichtsfeld Bindungsneurone für die jeweils gleichen Objekte vorzusehen, um dieselben Objekte an verschiedenen Orten zu repräsentieren.“ (Singer, Beobachter, 154). 9 Vgl. hierzu Wolf Singer, Consciousness, 1832 ff. 10 Singer, Consciousness, 1830: „If one accepts the scenario that the aspect of consciousness that we address as phenomenal awareness results from an iteration of the same cognitive operations that support primary sensory processing, the explanatory gap reduces itself to the question of how the cerebral cortex processes signals and generates representations.“ Freilich betont auch Singer, dass diese erste Annahme eine konzeptuelle Prämisse darstellt, die an sich nicht experimentell verifiziert werden kann. (Vgl. a. a. O., 1838).

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Neurowissenschaftliche und philosophische Positionen

vgl. 4.), sondern vielmehr das Phänomen einer aufs Genaueste abgestimmten Weiterverarbeitung durch Neuronenorchester innerhalb der Großhirnrinde. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass Bewusstseinsinhalte nach Singer folgende notwendige Bedingungen erfüllen müssen: Sie müssen (1.) über eine bestimmte Dauer (2.) als synchrone Aktivitätsmuster repräsentiert werden und (3.) außerdem cortikal lokalisiert sein.11 Im Hinblick auf (1.) und (2.) muss nun gefragt werden, warum denn manche Objektrepräsentationen, die durchaus cortikal auftreten, ins Bewusstsein gelangen, andere aber nicht. Wer oder was entscheidet also darüber, ob eine Objektrepräsentation über eine ausreichende Dauer stabilisiert werden kann? Darum hält Singer fest: Bewußte Vorgänge unterscheiden sich von unbewußten […] vornehmlich dadurch, daß sie mit Aufmerksamkeit belegt, im Kurzzeitspeicher festgehalten, im deklarativen Gedächtnis abgelegt und sprachlich gefaßt werden können.12

Dies ist als sukzessive Abfolge so zu verstehen, dass Aufmerksamkeit die Grundvoraussetzung für das Bewusstwerden von Inhalten ist. Was im Grunde tautologisch klingt – dass nämlich einer Person Inhalte bewusst werden, denen sie Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt – ist bei Singer nicht tautologisch gemeint, da „Aufmerksamkeit“ hier als eine Eigenschaft des Gehirns verstanden wird, nicht als eine Art Konzentrationsleistung von Personen!13 „Aufmerksamkeit“ heißt neurobiologisch: Zu den sensorischen Eingangssignalen treten Bewertungssignale hinzu, die die ersteren als adäquat und verhaltensrelevant identifizieren. Die Kriterien für Adäquatheit und Verhaltensrelevanz werden ihrerseits wiederum aus der bereits vorhandenen Systemarchitektur und den in ihr erzeugten Aktivitätsmustern abgeleitet.14

11 Singer, Verschaltungen, 46: „Vieles spricht dafür, daß nur die neuronalen Erregungsmuster zu bewußten Empfindungen und Wahrnehmungen führen, die in der Hirnrinde generiert werden. […] Manches spricht dafür, daß Erregungsmuster nur dann bewußt werden können, wenn ihnen ,Aufmerksamkeit‘ geschenkt wird und sie dadurch ein kritisches Maß an Kohärenz, an Ordnung, an Synchronisation erlangen und diesen Zustand über hinreichend lange Zeit aufrechterhalten können.“ 12 Singer, Verschaltungen, 59. 13 Dennoch verdoppelt sich bei Singer das Subjekt der Aufmerksamkeit bisweilen, so dass es sowohl „stammesgeschichtlich alte Systeme“ des Gehirns sind, die zur selektiven Aufmerksamkeit herangezogen werden – nur von wem? – als auch „wir“ es sind, die aufmerksam sind. (Vgl. Singer, Anmerkungen, 219 f). Es handelt sich hier in der Tat eher um eine Verdoppelung des Subjekts als um eine Verschiebung der Subjektivität auf das Gehirn. Da Singer einen kausalen Zusammenhang zwischen Hirnaktivität und Personaktivität postuliert, geht ihm eine klare Unterscheidung verloren: Was das Gehirn „tut“, das „tut“ auch die Person. Vgl. hierzu auch: Singer, Ende, 28 f. 14 Singer, Beobachter, 168.

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Wolf Singers Bewusstseinstheorie

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Es bedarf also zur „Auswahl“ der Bewusstseinsinhalte keiner zentralen Bewertungsinstanz. Aufmerksamkeit unterliegt nach Singer einem „distributiv organisierten Wettbewerb“.15 Hierin liegt der erste Teil der Freiheitsbestreitung: Denn – so Singer – da der Raum des Bewusstseins vergleichsweise klein sei, sei es durchaus möglich, dass die Verhandlung von verhaltensrelevanten Faktoren im Unbewussten ablaufe. Da dem „inneren Auge“ – dem Bewusstsein – all diejenigen „Motive“, die implizitem Wissen entsprängen, grundsätzlich verborgen bleiben, sei nicht ausgeschlossen, dass eben sie die „entscheidenden“ sind. Hat Singer mit diesem Prinzip iterativer Weiterverarbeitung hirninterner Synchronisationsmuster eine Theorie für „phenomenal awareness“ vorgelegt, also für das individuelle Subjektivitätsempfinden der eigenen Wahrnehmungen, so sieht er selbst auf der anderen Seite des Bewusstseinsspektrums das Selbstbewusstsein angesiedelt. Während bewusste Wahrnehmungen der eigenen Körperlichkeit also in das phänomenale Bewusstsein fallen, wird ein distanziertes Selbstverhältnis – Singer redet von einem „Selbstmodell“ – erst in der sozialen Vermittlung möglich.

2.1.2 Selbstmodell als soziales Konstrukt: Singers Verständnis des Ich-Bewusstseins Erst durch eine Iteration kognitiver Spiegelungsprozesse zwischen bewussten Individuen komme der Mensch überhaupt zu seinem Ich. Für solche iterativen Prozesse der Form „Ich weiß, dass Du weißt, wie ich mich fühle“ bedarf es nach Singer zum einen der Fähigkeit zur Bildung einer Theory of Mind16 und zum anderen der Sprachbegabung. Beides – Theory of Mind und Sprachbegabung – hat indes nach Singer das oben beschriebene Bewusstsein durch Metarepräsentationen bereits zur Voraussetzung, so dass Metarepräsentationen im individuellen Gehirn sowohl eine Theorie des Geistes ermöglichen als auch zu Sprache befähigen, die dann wiederum in sozialer Interaktion zu 15 Singer, Verschaltungen, 58. Vgl. hierzu auch: Zunke, Kritik, 48 f. Zunke betont dabei die unzulässige Subjektivierung des Gehirns in Singers Aufsätzen: „[S]o oft Singer auch betont, dass es keinen Dirigenten oder Schiedsrichter gebe, der über die Inhalte nach übergeordneten Kriterien verfügen könne, weil sich im Gehirn kein Zentrum findet, in dem alle neuronalen Signale zusammenlaufen, so fällt er doch selbst stets wieder hinter diesen von ihm hartnäckig verfochtenen Wissenstand der Neurobiologie zurück und macht das Gehirn nicht bloß zu dem Organ, in dem ,distributiv organisierte neuronale Wettbewerbe‘ ablaufen und zu Resultaten führen, die wir dann als unsere Handlungen erleben, sondern er erklärt das Gehirn zugleich zum Subjekt dieser Prozesse.“ 16 Vgl. Singer, Verschaltungen, 48. Singer unterscheidet offensichtlich die Theorie des Geistes, d. h. die Fähigkeit, sich vorstellen zu können, „was im anderen vorgeht“ (Ebd.), als Vorbedingung von solchen iterativen Spiegelungsprozessen, bei denen „wir uns in den kognitiven Funktionen, in der Wahrnehmung des je anderen spiegeln können“ (Ebd.), bei denen also das eigene Ich dasjenige Objekt ist, das „im anderen vorgeht“.

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Neurowissenschaftliche und philosophische Positionen

einem Selbstmodell führen. Das Bewusstwerden der eigenen Empfindungen ermöglicht es nach Singer, sich Vorstellungen auch über die Empfindungen anderer zu machen (Theory of Mind) und die Re-Repräsentation der Außenwelt bringt symbolische Beschreibungen, letztlich eine komplexe sprachliche Kodierung hervor.17 So ergibt sich in einer Art Stufenmodell aus der Beschäftigung des Gehirns mit sich selbst die Fähigkeit zu Sprache und zur Bildung einer Theorie des Geistes, welche wiederum in ihrer Kombination soziale Interaktionen ermöglichen, woraus eine Ich-Identität erwächst. Dieses am Gegenüber entworfene Ich-Bewusstsein beinhaltet nun nach Singer stets die – seiner Meinung nach illusionäre – Erfahrung von Freiheit. Warum aber sollte durch Spiegelungsdialoge der o.g. Form die Erfahrung entstehen können, „ein autonomer Agent zu sein“18 ? Wo im Prozess der Theoriebildung über den mentalen Zustand eines Anderen oder im sprachlichen Ausdruck dieser Theorie sollte die Erfahrung von Autonomie entstehen, wenn sie nicht bereits auf der untersten Stufe, nämlich des individuellen Bewusstseins angelegt ist? Singer muss daher zwei Quellen für die irrtümliche Erfahrung von Freiheit benennen, nämlich erstens auf der Ebene des individuellen Gehirns und zweitens innerhalb der sozialen Prägung. Da zum einen die unbewussten neuronalen Determinanten eines Entscheidungsprozesses per definitionem von der bewussten Selbstwahrnehmung ausgeschlossen seien, könne es nicht zu Widersprüchen gegen die Erfahrung eigener Freiheit im Sinne bewusster Einflussnahme auf Handlungen kommen. Denn wir wissen nur von den uns bewussten Inhalten und halten diese dann für die „entscheidenden“. Auf der zweiten Ebene der zwischenmenschlichen Kommunikation trägt zum anderen die frühkindliche Erziehung, in der das elterliche „Du sollst“ dem Kind Freiheit und Verantwortung zuschreibt, maßgeblich zur Entwicklung jenes illusionären Selbstmodells der Marke „autonomer Agent“ bei.19 Diese Zuschreibungen durch die Eltern beginnen in einem Alter, da das Kleinkind noch kein deklaratives Gedächtnis entwickelt hat, weshalb dem herangewachsenen Individuum später die Inhalte der Selbsterfahrung aufgrund jener frühkindlichen Amnesie als absolut, d. h. nicht erlernt, erscheinen. „In der fehlenden Erinnerung an frühe soziale Lernprozesse könnte somit die Ursache liegen für die eigentümliche, transzendente Komponente unseres Selbstmodells, die wir mit unserem Ich verbinden, dieses allen materiellen Prozessen vorausgehende, ihnen gegenübergestellte und von ihnen unabhängige Konstrukt.“20 Wie kommen Eltern nur auf die Idee, ihren Kindern eine solche Illusion anzuerziehen? Sie haben – so Singer – natürlich selbst keine 17 18 19 20

Vgl. Singer, Hoffnung, 48. Singer, Verschaltungen, 48. Vgl. Singer, Verschaltungen, 50. Singer, Verschaltungen, 51. Vgl. auch ders., Consciousness, 1830: „Because of this amnesia these experiences lack causation, and I propose that this is the reason why these subjective connotations of consciousness are perceived as having transcendental qualities that resist reductionist explanations.“

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andere Erziehung genossen und sind ihrerseits gefangen in der Vortäuschung der Freiheit, was aber die Frage aufkeimen lässt, ob sich diese Konvention etwa zu einem Zeitpunkt in der Menschheitsgeschichte einfach entwickelt hat und fortan tradiert wurde. Dazu Singer : „So würde ich das sehen.“21 Wenn Singer die Entwicklung eines Selbstmodells, in dem sich der Mensch immer bereits als frei und verantwortlich erlebt, der sozialen Interaktion zuschreibt, will er damit keineswegs die Existenz dieser Inhalte der Selbsterfahrung leugnen. Diese hätten letztlich aber einen „anderen ontologischen Status“22 als Wahrnehmungsinhalte der dinglichen Welt.23 Singer bezeichnet sie daher als soziale Realitäten oder kulturelle Konstrukte und Zuschreibungen. Nun möchte man fragen, was denn dann der neurobiologische Beitrag sein möge zur Frage der sozialisierten Selbsterfahrung, wo doch die Inhalte dieser Selbsterfahrung von anderem ontologischem Status seien. Singer selbst erklärt bisweilen die Unzuständigkeit der Neurobiologie in diesen Angelegenheiten.24 Es ist aber gerade die Hauptthese Singers, dass dieses Selbstmodell sich bereits auf der Ebene des individuellen Gehirns – also durchaus auf seinem Forschungsgebiet – als eine Täuschung darstellt und dass darum die intersubjektiven Zuschreibungen von Verantwortung unzulässig seien. Dies zu entlarven kann sich aus Sicht Singers die Hirnforschung anschicken, da er einen Emergentismus25 vertritt, demzufolge aus neuronalen Prozessen individuelle Kognitionsleistungen und aus letzteren weiterhin soziale Verbände entstehen. Dass die Inhalte des einen [sc. soziokulturellen] Bereichs aus den Prozessen des anderen [sc. naturwissenschaftlichen] hervorgehen, muss ein Neurobiologe als gegeben annehmen. Insofern muss, aus der Dritte-Person-Perspektive betrachtet, das, was die Erste-Person-Perspektive als freien Willen beschreibt, als Illusion definiert werden. Aber ,Illusion‘ ist, glaube ich, nicht das richtige Wort, denn wir erfahren uns ja tatsächlich als frei.26 21 22 23 24

Singer, Ende, 31. Singer, Verschaltungen, 49. Damit kommt Singer dem von ihm bekämpften Dualismus gefährlich nahe. „Nach meinem Dafürhalten läßt sich diese Frage nicht mehr allein innerhalb neurobiologischer Beschreibungssysteme behandeln, da diese sich ausschließlich an der naturwissenschaftlichen Analyse einzelner Gehirne orientieren“, und da Ich-Erfahrung ein kulturelles Konstrukt ist, ist sie „aus der Betrachtung einzelner Gehirne nicht erklärbar“ (Singer, Bewußtsein, 73). Es „entstehen offenbar aus der Wechselwirkung der auf die Weise [sc. durch Evolution] entstandenen komplexen Organismen Phänomene, die nicht mehr in dem Beschreibungssystem vorkommen, das erklärt, wie sich diese Organismen entwickelt haben.“ (Singer, Ende, 27). 25 „[W]ir sagen, Verhaltensleistungen [gemeint sind hier kognitive Leistungen] seien emergente Eigenschaften neuronaler Vorgänge. Damit soll ausgedrückt werden, daß die kognitiven Funktionen mit den physiko-chemischen Interaktionen in den Nervennetzen nicht gleichzusetzen sind, aber dennoch kausal aus diesen hervorgehen.“ (Singer, Verschaltungen, 35). Dass die Emergenztheorie gerade eine Irreduzibilität der emergenten Eigenschaften beinhaltet, lässt Singer nicht zurückschrecken vor rein physikalistischen Erklärungen. 26 Singer, Ende, 32.

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Jene neurobiologischen Thesen, nach denen aus objektiv-naturwissenschaftlicher Perspektive die Freiheit des Willens als Illusion entlarvt wird, sollen nun mit einer kurzen Beschreibung der beinahe legendären Libet-Experimente und der Erläuterung von Singers Ablehnung des Freiheitsbegriffs eingehender dargestellt werden. Anschließend folgen einige kritische Überlegungen zu den Thesen Singers, für die ich mich auf verschiedene philosophische Ansätze stütze.

Exkurs: Die Libet-Versuche Eines der meistzitierten Forschungsunternehmen, wenn es um die Frage der Willensfreiheit geht, ist die Versuchsreihe Benjamin Libets und seiner Kollegen in den 1980er Jahren.27 Probanden wurden dabei gebeten, eine Bewegung der rechten Hand zu vollziehen, wann immer sie den Wunsch dazu spontan in sich aufkommen spürten. Zugleich wurde das für eine motorische Ausführung wichtige Bereitschaftspotential (BP; readiness potential = RP) von einer Elektrode auf der Kopfspitze oder auf der linken Kopfseite – also über dem motorischen oder prämotorischen Cortex – gemessen. Mit Hilfe einer beschleunigt laufenden Uhr sollten die Versuchsteilnehmer nach jeder Bewegung den „Zeitpunkt“ angeben, zu dem ihnen der Wunsch zur Handlung bewusst wurde. Da die Uhr nicht in 60 Sekunden, sondern in 2,56 Sekunden rotierte, entsprach eine Sekundenmarkierung 43 ms, sodass eine relativ hohe Genauigkeit erreicht werden konnte. Libet und Kollegen stellten anhand dieses Versuchsaufbaus fest, dass das BP im Schnitt 550 ms vor der eigentlichen Handbewegung auftrat, und immerhin noch 350 – 400 ms vor dem Bewusstwerden des Handlungswunsches. Auftreten der bewussten Handlungsintention und Ausführung der Handbewegung lagen also etwa 150 ms auseinander.28 Das entscheidende Ergebnis war aber – und ist für deterministische Hirnforscher zum Fundament ihrer Theorien geworden –, dass das Gehirn durch das BP eine Handlung einleitet, noch bevor die Versuchsperson einen bewussten Handlungswunsch wahrnimmt. Wenn 27 Dargestellt sind die Versuche z. B. in: Libet, Willen, 268 – 289. Umfassender ist der Artikel: Benjamin Libet u. a., Time of conscious intention to act in relation to onset of cerebral activity (readiness-potential): The unconscious initiation of a freely voluntary act, Brain 106 (1983), 623 – 642. Im Folgenden als „Time“ angegeben. 28 Die zu Protokoll gegebene „Uhrzeit“ des Handlungswunsches lag ca. 200 ms vor der Handlung. Dieser Wert konnte rechnerisch „korrigiert“ werden, da die Probanden in jeder Versuchsreihe außerdem den Zeitpunkt eines zufällig verabreichten Hautreizes angeben mussten. Hierbei lag der berichtete Zeitpunkt der Reizwahrnehmung bei -50 ms bezogen auf den tatsächlichen Zeitpunkt der Reizverabreichung. Dies ergibt eine „korrigierte“ Dauer von 150 ms zwischen Handlungswunsch und Handlung.

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die Probanden nicht vom spontanen Auftreten des Wunsches, sondern von einer vorhergehenden Handlungsplanung berichteten, trat das BP sogar ca. 1050 ms vor der Handlung selbst auf. Damit schien bewiesen, dass als willentlich wahrgenommene Handlungen unbewusst vom Gehirn eingeleitet werden, da ja das BP der Bewusstwerdung eines Handlungswunsches vorausging. Dies gilt umso mehr, als das gemessene BP aller Wahrscheinlichkeit nach weitere vorhergehende neuronale Prozesse voraussetzt. Da den Probanden keinerlei Vorgaben gemacht wurden, etwa innerhalb eines bestimmten Zeitraums eine Bewegung auszuführen, galt den Wissenschaftlern um Benjamin Libet der auftretende Handlungswunsch als selbst-initiiert und endogen.29 Eine Extrapolation der Befunde auf Willenshandlungen im Allgemeinen hielt Libet allerdings nur dann für zulässig, wenn man unterscheide zwischen der Überlegung, etwas zu tun und dem Entschluss, jetzt zu handeln. Für letzteres gelte stets der Ablauf, dass ein BP vor der Handlung auftrete.30 Für solche Handlungen, denen eine bewusste Deliberation vorangehe, gelte indes, dass „the possibilities for conscious initiation and control would not be excluded by the present evidence.“31 Allerdings war Libet, der seine Versuche zunächst mit dem Ziel, den freien Willen zu belegen, begann, nicht bereit, den bewussten Willen gänzlich ins Abseits zu stellen. Da zwischen Bewusstwerdung des Handlungswunsches und Aktivierung der Muskulatur etwa 150 ms liegen, ging Libet davon aus, dass der bewusste Wille eine Art Veto-Recht besitze. Ziehe man nämlich die 50 ms, die ein motorisches Signal für den Weg vom Gehirn zum Muskel benötigt, ab, so blieben dem Willen noch 100 ms zur Blockade der Willenshandlung. Libet beruft sich hierzu auf Berichte seiner Probanden, nach denen diese das Aufkommen einer Handlungsintention zwar erlebten, die Handlung selbst aber unterdrückten.32 Ob eine solche Veto-Entscheidung ihrerseits unbewusste neuronale Vorläufer hat, bleibt fraglich. In diesem Falle wäre sie selbst kein 29 Der Einsatz des Bereitschaftspotentials bei -550 ms (bezogen auf die Aktivierung des Muskels) „was postulated to reflect the cerebral volitional process uniquely involved in initiating a freely voluntary, fully endogenous act“ (Libet u. a., Time, 636). Genau dies, dass es sich bei dem spontanen Willensruck, den Finger zu beugen, um einen „freiwillentlichen“ Akt handele, wurde immer wieder bestritten. Die eigentliche freie Entscheidung, so die Kritik, werde doch wohl lange vor dem eigentlichen Versuch getroffen (vgl. etwa Helmrich, Kritik, 94). Der Umstand, dass die Testperson während des Versuchsablaufs überhaupt keinen Grund hat, den Finger zu beugen, sondern diesen Wunsch grundlos in sich „hochsprudeln“ fühlt, ist ein weiterer Punkt dieser Kritik (Vgl. Kröber, Verantwortlichkeit, 108, sowie Habermas, Freiheit, 159.), der außerdem mit Libets eigener Einschätzung im Hinblick auf langfristige Deliberationen kompatibel erscheint. 30 Libet u. a., Time, 641: „It thus invites the extrapolation that other relatively ,spontaneous‘ voluntary acts, performed without conscious deliberation or planning, may also be initiated by cerebral activities proceeding unconsciously.“ 31 Libet u. a., Time, 641. 32 Gemessene Ergebnisse gibt es für diese Fälle einer Handlungsunterdrückung nicht, da im vorliegenden Versuch nur Aufzeichnungen gemacht wurden, sofern die Muskulatur der Hand aktiviert wurde.

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„bewußtes kausales Ereignis“33, sondern wiederum das Ergebnis eines unkontrollierbaren Prozesses. Libet hingegen nimmt an, dass das bewusste Veto als Kontrollfunktion, die sich vom bloßen Bewusstsein eines Wunsches unterscheidet, nicht notwendig vorangehende neuronale Prozesse erfordert. Seine Argumentation beruht auf einer Unterscheidung von Bewusstsein und Bewusstseinsinhalten. So könnten beim Bewusstwerden des Handlungswunsches auch solche Inhalte mit umfasst werden, die als Faktoren für eine VetoEntscheidung zu gelten haben. Dass das Bewusstwerden ebendieser Faktoren auf unbewussten Prozessen beruhe, ist durchaus möglich, was aber nicht ausschließen müsste, „daß […] der Inhalt dieses Bewußtseins (der tatsächlichen [sc. die tatsächliche] Veto-Entscheidung) ein gesondertes Merkmal ist, das nichts dergleichen erfordert.“34 Für Libet scheint für die ethische Relevanz des freien Willens mit der Möglichkeit einer solchen Veto-Entscheidung aber alles gewonnen. Denn nach Libet ist ausschließlich die hinausgeführte Handlung von Bedeutung für ethische Systeme, nicht etwa das „Hochsprudeln“35 von Intentionen oder Impulsen. Scharfsinnig bemerkt Libet: „In der Tat würde ein Bestehen darauf, daß ein inakzeptabler Handlungsdrang als sündig angesehen werden soll, so gut wie alle Personen zu Sündern machen.“36 Da aber das Aufkommen einer Handlungsabsicht nach Libet bewusst unter Kontrolle gebracht werden kann, wäre zu folgern, dass – Bereitschaftspotentiale hin oder her – Menschen für ihre Taten ethisch verantwortlich seien. Wohlgemerkt: Im Falle eines plötzlich auftretenden Handlungswunsches wäre der ,Zeitraum der Veto-Freiheit‘ damit auf 150 ms reduziert! Nun zeichnen sich die wichtigen Entscheidungen, v. a. die ethisch relevanten, in der Regel dadurch aus, dass ihnen eine längere Phase der Abwägung vorangeht. Eine Deliberation von Gründen war aber nicht Thema der Libet-Versuche, weshalb eine bewusste Handlungskontrolle durch längerfristige Überlegungen von Libet ausdrücklich nicht ausgeschlossen wurde. Diese Ansicht wird in Singers Determinismus so nicht geteilt. Ihm zufolge sind Handlungen stets die Ergebnisse eines Entscheidungsprozesses, der seinerseits immer neuronal determiniert ist.

33 Libet, Willen, 278. 34 Libet, Willen, 281. Zur Klarstellung: Der Inhalt des Bewusstseins ist nach Libet die Veto-Entscheidung selbst. Der Genitiv in den Klammern der deutschen Übersetzung scheint sich auf „Inhalt“ zu beziehen, was aber dem englischen Original widerspricht. Dort heißt es: „The awareness of the decision to veto could be thought to require preceding unconscious processes, but the content of that awareness (the actual decision to veto) is a separate feature that need not have the same requirement.“ (Benjamin Libet, Do we have a free will?, Journal of Consciousness Studies 6 (1999), 47 – 57, 53.) 35 Libet, Willen, 282. 36 Libet, Willen, 283.

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2.1.3 Entscheidungen als distributiver Wettkampf ohne zentrale Entscheidungsinstanz Nachdem Singer die Trennung von unbewussten und bewussten Prozessen für seine Behauptung herangezogen hat, dass womöglich die unbewusste Verhandlung von verhaltensbestimmenden Variablen größeren Einfluss auf das menschliche Verhalten hat, als wir bisher meinten, überbietet er diese Aussage, indem er auch bewusste Verhandlungen in einen deterministischen Rahmen stellt. Die Unterscheidung von Handlungen, deren Auslöser unbewusst bleiben und solchen Handlungen, für die es nach reiflicher Überlegung bewusste Gründe gibt, wird im Hinblick auf die implizierte Handlungskontrolle von Wolf Singer eingeebnet. Der Grad der Bewusstheit von Abwägungen ändert seiner Meinung nach nichts daran, dass eine Entscheidung in jedem Fall auf neuronalen Prozessen beruht und „in beiden Szenarien deterministischen Naturgesetzen“37 unterliegt. Daran ändert für Singer auch der Umstand nichts, dass bei bewussten Deliberationsprozessen die „Variablen (…) abstrakterer Natur sind und vermutlich auch nach komplexeren Regeln miteinander verknüpft werden können“38, wenn sie in Symbolen kodiert und syntaktisch kombiniert werden können. Mit der Sprachfähigkeit habe sich der Mensch keineswegs dem Determinismus enthoben, denn auch das bewusste Verhandeln von Argumenten basiere eben auf neuronalen Grundlagen.39 In Singers Bild unterliegt die bewusste Deliberation vor einer Entscheidung – auch dann, wenn sie gedanklich-sprachlich stattfindet – den deterministischen Prozessen des Gehirns. „Wenn eingeräumt wird, daß das bewußte Verhandeln von Argumenten auf neuronalen Prozessen beruht, dann muß es neuronalem Determinismus in gleicher Weise unterliegen wie das unbewußte Entscheiden.“40 Es gilt nach Singer insgesamt also für Handlungsentscheidungen dasselbe wie schon für die Frage, wie das Gehirn Aufmerksamkeit derart auf Wahrnehmungsinhalte lenkt, dass diese ins Bewusstsein treten: Auch Entscheidungen – unbewusste wie bewusste – sind nach Singer gleichermaßen die Ergebnisse eines distributiven Wettkampfes von Erregungsmustern, der ohne „Richterinstanz“ ausgetragen wird und der – je nach „Aufmerksamkeit“ des Gehirns – einem Beobachter (dem inneren Auge) vorgeführt wird oder nicht. Grundsätzlich werden alle Entscheidungen „durch die spezifische [sc. durch sozio-kulturelle Prägung erworbene, individuelle] Verschaltung und den je37 Singer, Verschaltungen, 52. Vgl. auch: Wolf Singer, Entscheidungen, 188. 38 Singer, Verschaltungen, 52. 39 Und dennoch sieht Singer den evolutionären Vorteil bewusster Deliberation in der höheren Differenziertheit des Abwägungsprozesses. (Vgl. Singer, Verschaltungen, 62). Die neuronale Grundlegung sprachlicher Kodierung soll hier die Regeln der Sprache unter das Diktat der Naturgesetze zwingen. 40 Singer, Verschaltungen, 57 f.

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weils unmittelbar vorausgehenden dynamischen Gesamtzustand des Gehirns“41 bestimmt, wobei Singer außerdem zufällige Signalschwankungen einräumt. Die Konsequenzen liegen für Singer offensichtlich zutage: „Keiner kann anders, als er ist.“ Oder mit dem Untertitel seines Artikels: „Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen.“

2.2 Einige Überlegungen zu Hirnforschung und Determinismus Der Sturm der Erwiderungen, den Singer und andere Hirnforscher mit ihren Thesen hervorgerufen haben, ist derart komplex und vielfältig, dass ich mich auf einen groben Überblick derjenigen Ansätze beschränken muss, die eine Diskussion im theologischen Kontext am besten ermöglichen. Anders als Christine Zunke in ihrer „Kritik der Hirnforschung“ werde ich mich an einige der gängigen kompatibilistischen Entwürfe halten. Zunke kritisiert in grundsätzlicher Weise von einem kantischen Standpunkt aus die Hirnforschung ebenso wie weite Teile des kompatibilistischen Stroms der Philosophie, da sie die Idee der Freiheit als Bedingung jeder empirischen Forschung postuliert.42 Die Bezugnahme auf das empirische Subjekt sowie auf eine bedingte Freiheit desselben sind ihr gleichermaßen ungenügend für die Rettung der Freiheitsidee. Ein Dialog mit der Position Luthers allerdings erscheint weitaus einfacher, wenn eben jene Entwürfe ins Gespräch gebracht werden, die bei der konkreten Vorfindlichkeit des Menschen einsetzen und seine Freiheit und Verantwortlichkeit an Bedingungen knüpfen, die gegenüber der Determinismusfrage keine zwingende Entscheidung fordern. Denn wie sich noch zeigen wird, vertritt Luther einen schöpfungstheologischen Determinismus, der auf dem unhintergehbaren Verhältnis von Schöpfer und Schöpfung beruht, behauptet gegenüber dem ,inkompatibilistischen Libertarismus‘ des Erasmus von Rotterdam aber zugleich eine Verantwortlichkeit des Menschen. Ich frage im Folgenden zunächst, ob ein naturalistischer Monismus notwendig zur Aufgabe des Personbegriffs zwingt (2.2.1.1). Lässt sich hierbei zeigen, dass er dazu nicht nur nicht zwingt, sondern sich im Gegenteil der Personbegriff einer Auflösung – auch bei Behauptung eines Monismus – hartnäckig widersetzt, so zeigt sich an der Frage der Verantwortungszuschreibung (2.2.1.2) weiterhin das Grundproblem des neuronal begründeten Determinismus: Er bleibt einer dualistischen Intuition verhaftet, die – sobald man das Gehirn zum entscheidenden Faktor unserer Handlungen erklärt – in 41 Singer, Verschaltungen, 57. 42 Ähnlich argumentiert auch Eberhard Schockenhoff, dass in der reduktionistischen Erklärung des Bewusstseins eine petitio principii vorliegt, da das Explanandum dem Vorgang seiner Erklärung vorgängig ist. Vgl. Schockenhoff, Phantomwesen, 168 f.

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eine Subjektverdoppelung (Gehirn und bewusste Person) führt. Des Weiteren stellt sich angesichts des Phänomens bewusster Handlungsabwägung die Frage, welche Anforderungen die Naturgesetze erfüllen müssten, um auch noch jene bewussten Prozesse in einen naturgesetzlichen Determinismus zu zwingen (2.2.1.3). Schließlich diskutiere ich kurz einige philosophische Positionen, die unter Rekurs auf die handelnde Person Freiheit mit Determinismus vereinen wollen. 2.2.1 Determinismus und Verantwortlichkeit Um die Frage, wie sich die Behauptung des Determinismus zum Problem der Verantwortlichkeit verhält, zu skizzieren, setze ich ein mit einer – von Arthur Schopenhauer entlehnten – Situation: Ein Mann steht auf dem Göttinger Marktplatz und denkt über seine Abendgestaltung nach. „Es ist 6 Uhr abends, die Tagesarbeit ist beendigt. Ich kann jetzt einen Spaziergang machen; oder ich kann in den Klub gehn; ich kann auch auf den Turm steigen, die Sonne untergehn zu sehn; ich kann auch ins Theater gehn; ich kann auch diesen oder aber jenen Freund besuchen; ja ich kann auch zum Tor hinauslaufen, in die weite Welt, und nie wiederkommen. Das alles steht allein bei mir, ich habe völlige Freiheit dazu; tue jedoch davon jetzt nichts, sondern gehe ebenso freiwillig nach Hause, zu meiner Frau.“43 Schopenhauers psychologischer Determinismus zielt seinerseits darauf ab, dass der Mensch durchaus verschiedene Möglichkeiten seiner Handlung abwägen könne, indem er verschiedene Motive in seinem Geist vorstellig mache, dass er aber am Ende seiner Überlegungen nur eine einzige Handlungsoption ergreifen werde, weshalb er sich eben über seine Freiheit täusche. Denn nach Schopenhauer nezessiert das jeweils stärkste Motiv den Willen und darum sind Motive ebensolche Ursachen wie man sie auch in den Naturwissenschaften findet.44 Und so geht der Mann schließlich nach Hause zu seiner Frau. Diese Entscheidung gegen den Weg in den Klub und für den Heimweg wird – so hofft man – tatsächlich Gründe oder Ursachen haben. Man könnte also mit einigem Recht annehmen, dass seine Entscheidung durchaus kausal festgelegt ist. Schreiben wir dem Mann seine Handlung dann womöglich zu Unrecht zu? Wenn es Ursachen für seine Handlung gibt, loben wir ihn noch zu Recht? Und weiter : Sind aufgrund kausaler Festlegung der einen alle anderen Handlungsoptionen überhaupt keine realen Alternativen? Verschwendet der arme hin- und hergerissene Mann auf dem Marktplatz seine Zeit mit Abwägungen 43 Vgl. Schopenhauer, Freiheit, 561. 44 „Es ist durchaus weder Metapher noch Hyperbel, sondern ganz trockene und buchstäbliche Wahrheit, daß, sowenig eine Kugel auf dem Billard in Bewegung geraten kann, ehe sie einen Stoß erhält, ebensowenig ein Mensch von seinem Stuhle aufstehn kann, ehe ein Motiv ihn wegzieht oder treibt: dann aber ist sein Aufstehn so notwendig und unausbleiblich wie das Rollen der Kugel nach dem Stoß.“ (Schopenhauer, Freiheit, 564).

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zwischen einer einzigen „echten“ – nämlich der faktisch werdenden – und verschiedener „unechter“ Möglichkeiten? Mit diesen Fragen steht man direkt in der Thematik um das Prinzip alternativer Möglichkeiten. Das Prinzip alternativer Möglichkeiten (Principle of alternative Possibilities = PAP) – in der Freiheitsdebatte durch Harry G. Frankfurt kanonisch gemacht – besagt, dass eine Person nur dann für ihre Handlung verantwortlich ist, wenn sie auch anders hätte handeln können. Intuitiv sind wir dann bereit, einem Menschen Verantwortung für seine Handlung zuzumuten, wenn wir alternative Handlungen im Rahmen seiner Möglichkeiten zu erkennen meinen, wenn wir also ein libertarisches Freiheitsverständnis gegeben sehen. Man muss folglich fragen: Wenn die kausale Festlegung von Entscheidungen und der aus ihnen resultierenden Handlungen durch bestimmte Faktoren innerhalb einer Zeitspanne alternative Möglichkeiten generell ausschließt, muss dann die Zuschreibung von Verantwortung notwendig aufgegeben werden? Gegenüber Schopenhauers psychologischem Determinismus tritt nun in der neurobiologischen Position ein grundlegenderes Problem zutage. Denn während Schopenhauer problemlos auf das menschliche Bewusstsein und den menschlichen Charakter rekurrieren konnte – was ihm letztlich zur Wahrung der Verantwortlichkeit gereicht –, liegt in der Bewusstseinsproblematik gerade die große Anfrage der Hirnforschung: Singers Argument lautet ja, dass das, was wir als „unsere“ bewusste Entscheidung erleben, die Aktivität natürlicher Hirnprozesse zur notwendigen Grundlage hat und also auch nur innerhalb des naturgesetzlich vorgegebenen Rahmens stattfinden kann.45 Gehen Entscheidungen aber auf Naturereignisse zurück, dann gilt dies letztlich auch für Handlungen und darum sind menschliche Entscheidungen und Handlungen durch Naturgesetze determiniert. Wie steht es demnach um die moralische Verantwortlichkeit für unsere Entscheidungen und Taten? Weil die aktuellen Freiheitsdebatten vor allem eine Entscheidung dieser maßgeblichen Frage zu erfordern scheinen, wodurch menschliche Entscheidungen determiniert sind – durch Motive und Gründe oder durch naturgesetzlich-kausale Prozesse? –, wäre offensichtlich eine vorherige Positionierung in der Brain-Mind-Debatte vonnöten. Die Diskussion des Leib-SeeleProblems ist allerdings durch die Hirnforschung, v. a. aber durch die Philosophie des Geistes der vergangenen Jahrzehnte in eine Phase eingetreten, deren Diskussionsbreite und -vielfalt eine auch nur annähernd umfassende Darstellung schlicht unmöglich machen. Da ich zudem in einer breit ange45 Daher auch die Gleichsetzung unbewusster und bewusster „Entscheidungen“: „Im Bezug auf die zugrundeliegenden neuronalen Prozesse erscheint diese Dichotomie [sc. zwischen unbewussten und bewussten Handlungsmotiven] wenig plausibel. Denn in beiden Fällen werden die Entscheidungen und Handlungen durch neuronale Prozesse vorbereitet, nur daß in einem Fall der Scheinwerfer der Aufmerksamkeit auf den Motiven liegt und diese ins Bewußtsein hebt und im anderen nicht. Aber der Abwägungsprozeß selbst beruht natürlich in beiden Fällen auf neuronalen Prozessen und folgt somit in beiden Szenarien deterministischen Naturgesetzen.“ (Singer, Verschaltungen, 52).

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legten Diskussion der Philosophie des Geistes keinen sonderlichen Ertrag für eine theologische Rezeption erkennen kann, werde ich mich stark beschränken und gehe zunächst allein der Frage nach, ob die Ergebnisse der Hirnforschung überhaupt zur Preisgabe des Personenbegriffs zwingen, oder ob nicht eine Reduktion der Person auf ihre Hirnfunktionen nur unter der konzeptionellen Unterschätzung bewusster und sozialer Interaktionen möglich ist. Wenn die Neurowissenschaften nicht zur Aufgabe personalistischer Konzepte zwingen, dann steht es m. E. nicht schlecht für die soziale Praxis von Verantwortungszuschreibungen, ohne dass Freiheit im Sinne alternativer Handlungsmöglichkeiten eine Zusatzbedingung für Verantwortlichkeit darstellte. Auch wenn man PAP ablehnt, sollte m. E. unter Bezugnahme auf „Personen“ – also auf endliche Subjekte – außerdem auf einen epistemischen Indeterminismus rekurriert werden, der die Zukunftsausrichtung personaler Handlungen in die Notwendigkeit bewusster Übernahme von Verantwortung stellt.46 2.2.1.1 Verneint die Hirnforschung den Personenbegriff ? – Zur Frage des angewandten Vokabulars Die Ergebnisse der Hirnforschung in der grundsätzlichen Art und Weise anzuzweifeln, dass man die wie auch immer geartete Gehirn- oder Körpergebundenheit des menschlichen Bewusstseins schlechtweg infrage zöge, halte ich insgesamt für abwegig. Klassisch substanzdualistische oder streng idealistische Positionen werden in der aktuellen Debatte dementsprechend auch nur noch am Rande vertreten. Andererseits scheint es den meisten Diskussionsteilnehmenden ebenfalls zu widerstreben, eine radikal monistisch-reduktionistische Position einzunehmen in dem Sinne, dass man die Rede von mentalen Eigenschaften und im Weiteren auch die Begriffe der „Person“ und ihrer „Handlungen“ gänzlich aufgäbe zugunsten neuronaler oder physikalischer Prozessbeschreibungen. Jürgen Habermas hat angesichts dieser Situation die Frage nach der richtigen Weise der „Naturalisierung des Geistes“ gestellt.47 Eine Antwort hierauf müsste demnach einerseits der Überzeugung Rechnung tragen, nach welcher Menschen sich als Naturwesen verstehen, andererseits aber eine Verteidigung der personalistischen und handlungstheoretischen Beschreibungsperspektive unserer lebensweltlichen Anthropologie gegenüber reduktionistischen Tendenzen leisten.48 46 Hiermit soll kein Krypto-Alternativismus eingeführt werden in dem Sinne, dass Verantwortung nun doch auf – subjektive erlebte – Alternativen angewiesen sei. Ich meine vielmehr, dass in der Antizipation zukünftiger Handlungskonsequenzen die Person zum Bewusstsein gelangt, dass sie mit ihrer Handlung Fakten schafft, also nicht unbeteiligt am Weltablauf ist. 47 Vgl. Habermas, Freiheit, 156. 48 Habermas selbst verknüpft mit der personalistischen Beschreibungsperspektive eine stete Freiheitserfahrung: „Einerseits möchten wir der intuitiv unbestreitbaren Evidenz eines in allen

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Insgesamt sehe ich in Singers Theorien weniger Grund zu Widerspruch, als sie faktisch bei vielen ausgelöst haben. Wenn ich recht sehe, dann ließen sich einige seiner Bemerkungen problemlos zugunsten einer Personentheorie der sozialen Vermittlung deuten. Dass Singer selbst hierauf keine besondere Betonung legt, sondern sich dem isolierten einzelnen Gehirn zuwendet, ist – was im Folgenden gezeigt wird – hingegen zu Recht kritisierbar. Singer veranschlagt – wie bereits dargestellt – zusätzlich zur Gesamtheit der bewussten und unbewussten neuronalen Prozesse innerhalb eines einzelnen Individuums (phenomenal awareness) für „die Konstitution eines Selbst, das sich frei wähnt, […] die soziale Interaktion.“49 Nach Singer konstituiert sich das Selbst demnach nicht allein aufgrund seiner Hirnfunktionen, sondern dadurch, dass das Individuum in einen sozialen Rahmen gestellt ist, in dem es aufwächst und dessen vornehmlicher Modus offensichtlich die sprachliche Kommunikation ist. „Die Gehirne müssen in der Lage sein, abstrakte Relationen symbolisch zu kodieren und syntaktisch zu verknüpfen.“50 Singer stellt für das Gelingen sozialer Kommunikation – seiner Meinung nach gelangen wir zu einem Selbstmodell durch iterative Spiegelungsdialoge – neben der Sprachfähigkeit außerdem die Anforderung einer Theorie des Geistes.51 Theory of mind und die Fähigkeit zu Sprache ermöglichen es nach Singer gemeinsam, dass ein Individuum sich im anderen spiegelt, sich mit den Augen des anderen sieht.52 Es erscheint zwar als eine zirkuläre Argumentation, für die Entstehung eines Selbstmodells bereits die geistige Fähigkeit zu einer Theoriebildung über mentale Inhalte anderer Menschen vorauszusetzen. Gleichwohl grenzt Singer das anerzogene Selbstmodell von phänomenalem Bewusstsein in der Weise ab, dass letzteres ein individuelles Phänomen und Voraussetzung für Geistestheorien in der Weise sei, sich erst aufgrund der eigenen Empfindungen vorstellen zu können, „was ein anderer empfindet, der sich in einer ganz bestimmten Situation befindet.“53 Der Mensch braucht Bewusstsein, um mit anderen Menschen in Dialoge zu treten, die ihm wiederum ein Bild von sich selbst spiegeln. Im Übrigen wird man allerdings

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unseren Handlungen performativ mitlaufenden Freiheitsbewusstseins gerecht werden, andererseits wollen wir auch das Bedürfnis nach einem kohärenten Bild des Universums, das den Menschen als Naturwesen einschließt, befriedigen.“ (Habermas, Freiheit, 156). Singer, Verschaltungen, 47 f. Singer, Verschaltungen, 48. „Dies bezeichnet die Möglichkeit, sich vorzustellen, was im anderen vorgeht, wenn dieser sich in einer bestimmten Situation befindet. Mit Ausnahme der großen Menschenaffen fehlt Tieren diese Fähigkeit. Lediglich bei Schimpansen wurden bislang Ansätze dafür gefunden. Der Grund ist, daß für diese Leistung Hirnstrukturen erforderlich sind, die erst beim Menschen ihre volle Ausprägung erfahren. Diese evolutionsgeschichtlich jungen Strukturen reifen erst im Laufe der ersten Lebensjahre aus, weshalb auch kleine Kinder keine Theorie des Geistes aufbauen können.“ (Singer, Verschaltungen, 48). „Gehirne können sich dann in der Wahrnehmung des Gegenübers spiegeln […].“(Singer, Verschaltungen, 48). Singer, Hoffnung, 48.

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annehmen müssen, dass die Fähigkeit zu einer Theorie des Geistes nicht allein Voraussetzung für gelingende soziale Interaktion ist, sondern sich ihrerseits überhaupt nur in einem gegebenen zwischenmenschlichen Rahmen ontogenetisch entwickeln kann bzw. phylogenetisch im Laufe der menschlichen Evolution entwickelt hat. Das hieße, dass es zu einem reflexiven Selbstverhältnis oder der Bewusstwerdung der eigenen Identität – einem „Selbstmodell“ – immer schon die Anderen braucht.54 Singer selbst betont also – darin mit Habermas eigentlich einig55 –, dass es sich bei der Erfahrung des eigenen Selbst als eines freien und selbstbestimmten „um ein Phänomen handelt, das nur durch soziale Interaktion in die Welt tritt“, weshalb „die Inhalte dieser Erfahrung einen anderen ontologischen Status als die Inhalte der Wahrnehmung der dinglichen Welt“ hätten, nämlich „den Status von sozialen Realitäten, von kulturellen Konstrukten und Zuschreibungen, die ihre Existenz zwischenmenschlichen Interaktionen verdanken.“56 Nun wäre mit dieser Erkenntnis der Personwerdung am Gegenüber schon viel gewonnen, wenn man sie ernster nähme, als Singer selbst das anscheinend tut. Singer befindet sich damit offensichtlich ganz auf der Linie George Herbert Meads57 oder Thomas Luckmanns.58 Gegen diese Theorie der sozialen Vermittlung des Selbst dürfte auch Jürgen Habermas wenig einzuwenden haben. Bedauerlicherweise spielt der sozio-kulturelle Rahmen der Personwerdung bei Singer aber nicht die Rolle, die ihm durchaus zukommen könnte. Singers Terminologie des „Selbstmodells“, des „kulturellen Konstrukts“ und der „Zuschreibung“ weist bereits darauf hin, dass er diese Vorstellung der menschlichen Entwicklung in sozialen Bezügen nur darum anführt, weil er hierin eine Ursache der Täuschung über unsere Freiheit ausmacht. Sozial vermittelt wird Singer zufolge anscheinend vor allem die irrtümliche Vorstellung eines starken Leib-Seele-Dualismus, demzufolge ein körperloser Geist die Kontrolle über die eigenen Handlungen besitzt und den Singer freilich in dieser Form als Illusion entlarven will. Hier stellt sich nun die Frage, ob das sozial entstandene Selbstmodell notwendig die Entstehung stark dualistischer Vorstellungen implizieren muss, wie Singer es darstellt, oder ob man nicht unter Berufung auf die zwischenmenschliche Interaktion auch 54 Das „Selbstmodell“ Singers, das Bild also, das ich mir von mir selbst mache, bleibt in bedeutsamer Weise hinter einem Selbstverhältnis, also einer lebendigen Bezüglichkeit zurück. Nach Singer täuschen wir uns in unseren Selbstbildern, ohne dass es in Betracht kommt, dass wir zu unseren Handlungen Stellung nehmen in Form einer zu vollziehenden – um nicht zu sagen: „aktiven“ – Selbstpositionierung. 55 „Im performativ mitlaufenden Freiheitsbewusstsein spiegelt sich die bewusste Teilhabe an jenem symbolisch strukturierten ,Raum der Gründe‘, worin sich sprachlich sozialisierte Geister gemeinsam bewegen.“ (Habermas, Freiheit, 178). 56 Singer, Verschaltungen, 49. 57 Vgl. insgesamt: Mead, Sozialbehaviorismus. 58 Vgl. Luckmann, Religion, 80 – 86.

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einen Personenbegriff entwickeln könnte, der keine immateriellen ,Selbste‘ postulieren muss und trotzdem nicht reduktionistisch auftritt. Um dies zu bewerkstelligen, muss zunächst auf eine andere Schwierigkeit verwiesen werden. Fragwürdig erscheint nämlich außerdem die konzeptionelle Priorität bzw. Isolation des Individuums gegenüber der sozialen Beziehung, durch welche Singer bisweilen seinen Zuständigkeitsanspruch abzusichern versucht.59 Denn in der fehlerhaften kulturellen Zuschreibung von Freiheit und Urheberschaft setzt sich nach Singer lediglich auf höherer Stufe die falsche Selbstwahrnehmung des Einzelnen fort, der sich aufgrund der Parallelität von bewussten und unbewussten Hirnprozessen widerspruchsfrei als freier Urheber erlebt.60 So wird das sozial vermittelte Selbstmodell fehlerhaft, weil in der Bildung von Theorien des Geistes bereits die Saat derjenigen Illusion aufgeht, bewusste Inhalte würden gleichsam ,den Ausschlag geben‘. Die Überbetonung des Organischen gegenüber dem Sozialen zeigt sich auch daran, dass die Feststellung, das menschliche Gehirn weise eine relativ zu anderen Säugern höhere Anzahl von Großhirn-Neuronen auf, den Hirnforscher zu der Schlussfolgerung bringt, daß offenbar alles das, was uns ausmacht und uns von den Tieren unterscheidet, und damit auch alles das, was unsere kulturelle Evolution ermöglichte, offenbar auf der quantitativen Vermehrung einer bestimmten Hirnstruktur [sc. des Großhirns] beruht. Diese, so muß gefolgert werden, vermag offenbar Verarbeitungsprozesse zu realisieren, deren schiere Vermehrung geeignet ist, die mentalen Eigenschaften hervorzubringen, die uns von den Tieren unterscheiden. Es scheint, als seien all die geistigen Qualitäten, die sich unserer Selbstwahrnehmung erschließen, durch die besondere Leistungsfähigkeit unserer Gehirne in die Welt gekommen.61

Gewiss sollte man Singer nicht unterstellen, dass er eine evolutionsgeschichtliche Priorität des Individuums vor der Gemeinschaft annehme. Und dennoch geht er davon aus, dass „alles, was uns ausmacht“ auf der Veränderung des menschlichen Neocortex beruht und dass diese Hirnentwicklung die konsekutive kulturelle Entwicklung ermöglichte. Soll man annehmen, dass der Mensch mit den geistigen Qualitäten, die ihn vom Tier unterscheiden, in die Gemeinschaft eintritt und daraufhin Kultur und irrtümliche Selbstmodelle 59 So schreibt Singer bspw., sämtliche „immateriellen Phänomene“ – von basalen Empfindungen über moralische Urteile bis zur Wahrnehmung der eigenen mentalen Dimension – seien „uns allen gleichermaßen vertraut, weshalb wir Bezeichnungen für sie erfinden konnten, auf die wir uns einigen können.“ (Singer, Verschaltungen, 33.) Die Frage ist doch aber, ob diese Phänomene schon „da“ sind, bevor wir uns gemeinsam auf Bezeichnungen dafür einigen, oder ob zumindest einige dieser Phänomene erst entstehen aufgrund sozialer Vermittlung. So auch Ders., Verschaltungen, 49. 60 „Diese Parallelität von bewußten und unbewußten Handlungsdeterminanten ist ein wichtiger Grund dafür, daß wir uns aus der Ersten-Person-Perspektive heraus als freie autonome Agenten erfahren können.“ (Singer, Verschaltungen, 47). 61 Singer, Verschaltungen, 40.

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entwirft? Oder muss nicht angenommen werden, dass die Entwicklung des menschlichen Gehirns innerhalb der sozialen Bezüge vonstattenging und -geht?62 Wenn es aber weder phylogenetisch noch ontogenetisch so etwas wie ,fertige Individuen‘ gibt, die sich erst sekundär zu sozialen Verbänden zusammenschließen, dann muss auch die gedankliche Vorordnung des Individuums bedenklich stimmen. Dann stellt des Weiteren die Isolation Einzelner zum Zwecke der neurophysiologischen Untersuchung in der Tat eine Reduktion dar, in der Wesentliches methodisch ausgeschlossen wird, was wir berechtigterweise als konstitutiv für Personen erachten.63 Das heißt nicht, dass die Hirnforschung durch die Operationalisierung kognitiver Leistungen nicht wirklich in der Lage wäre, neuronale Prozesse auszumachen, die tatsächlich für die Realisierung bestimmter mentaler Fähigkeiten vonnöten sind.64 Doch erfüllt ein Großteil dieser Fähigkeiten ihre Funktion überhaupt nicht innerhalb eines gleichsam nach außen verschlossenen Individuums, sondern erst im sozialen Zusammenhang. Etwa das Geben, Nehmen und Verhandeln von Handlungsgründen sollte durchaus neuronale Grundlagen haben können. Dennoch ist die Rezeptivität für Gründe nicht durch die Beschreibung individueller neuronaler Prozesse vollständig verstehbar. Und zwar darum nicht, weil sie nicht unabhängig vom Sozialen entstanden ist oder entsteht. Dass Singer die Angabe von Handlungsgründen bisweilen als nachträgliche Rechtfertigung darstellt65, endet 62 In Bezug auf die Entwicklung der Sprache vertritt der US-amerikanische Anthropologe Terrence W. Deacon in seinem Buch „The Symbolic Species. The co-evolution of brain and language“ genau jene These, dass Sprache nicht entstanden sein kann aufgrund fertiger humaner Gehirne, sondern dass Gehirn und Sprache sich in ihrer Entwicklung über Millionen von Jahren gegenseitig beeinflusst haben. So würde die Vorstellung, die Hirnevolution sei der Sprachentwicklung notwendig vorgängig, bedeuten, die Karre vor das Pferd zu spannen. (Vgl. Deacon, Species, 44.) „The evolutionary dynamic between social and biological processes was the architect of modern human brains, and it is the key to understanding the subsequent evolution of an array of unprecedented adaptations for language.“ (Deacon, Species, 349 f). 63 Ich meine damit nicht einen Reduktionismus, der Mentales einfach auf Organisch-Physisches reduziert. Vielmehr erscheint mir die Vereinzelung von Individuen eine Reduktion zu sein, in der Menschenwesentliches ausgeklammert wird. 64 „Die zunehmende Verfeinerung neurobiologischer Meßverfahren hat nunmehr die Möglichkeit eröffnet, auch die neuronalen Mechanismen zu analysieren, die höheren kognitiven Leistungen komplexer Gehirne zugrunde liegen. Somit werden auch diese, oft als psychische bezeichneten Phänomene zu objektivierbaren Verhaltensleistungen, die aus der Dritten-Person-Perspektive untersucht und beschrieben werden können. Zu diesen mit naturwissenschaftlichen Methoden untersuchbaren Leistungen zählen inzwischen auch solche, die uns bereits aus der ErstenPerson-Perspektive vertraut sind. Darunter fallen Wahrnehmen, Vorstellen, Erinnern und Vergessen, Bewerten, Planen und Entscheiden, und schließlich die Fähigkeit, Emotionen zu haben. Alle diese Verhaltensmanifestationen lassen sich operationalisieren, aus der DrittenPerson-Perspektive heraus objektivieren und im Sinne kausaler Verursachung auf neuronale Prozesse zurückführen. So erweisen sie sich als Phänomene, die in kohärenter Weise in naturwissenschaftlichen Beschreibungssystemen erfaßt werden können.“ (Singer, Verschaltungen, 35). 65 Aus der m. E. eher unnatürlichen Situation, dass Menschen, die man mit einer maskierten

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freilich in einem Zirkel und bestätigt letztlich die These der Priorität vom sozialen Raum der Gründe.66 Im Übrigen hält er andernorts bewusste Gründe – oder deren neuronales Kondensat – durchaus für handlungsbestimmend.67 Wenn letzteres akzeptiert wird, dann ergeben sich daraus zwei Konsequenzen. Erstens: Dass die im Fortgang vergesellschafteter Evolution entstandene Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns die bewusste Bewegung im sozialen Raum sowie das Verhandeln von Handlungsgründen ermöglicht, lässt ein evolutionskontinuierliches Menschenbild zu, ohne ein isoliert individualistisches Menschenbild zu kolportieren oder gar im Konstruktivismus zu enden. Zweitens mag es noch so richtig sein, dass im einzelnen Gehirn unbewusste Neuronenprozesse in der gleichen Weise ablaufen wie bewusste Prozesse; wenn indes im sozialen Raum Gründe ,existieren‘, die das Individuum zu bestimmtem Verhalten bewegen, dann macht die bewusste Abwägung und Kommunikation von Gründen den Unterschied ums Ganze aus. Es geht dann nicht mehr an, die bewusste Verhandlung von Entscheidungsvariablen einerseits für komplexer als die unbewusste ,Handlungsplanung‘ zu erklären68 und andererseits das Bewusstsein generell zu einem wirkungslosen Epiphänomen abwerten zu wollen.69 Wenn ein Mensch etwas tut, wofür – oder wogegen! – er sich bestimmter Gründe bewusst ist, die er sich seinerseits dem ihm stets vorgängigen sozialen Raum entliehen hat, dann ist der Vollzug dieser Tat deutlich unterscheidbar von unbewusst ausgelösten ,Körperereignissen‘. Die Frage der Freiheit ist damit zwar noch nicht völlig beantwortet und es besteht nach wie vor die Möglichkeit, bewusste Handlungen für determiniert zu halten. Indem Singer allerdings bewusste und unbewusste Hirnprozesse in ihrer Wirkung einebnet, erklärt er das Bewusstsein insgesamt zum Epiphänomen – zum über den Hirnprozessen leerlaufenden Rädchen. Die sprachliche Verfasstheit der menschlichen Interaktion und die ebenso

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Anweisung zu einer Handlung gebracht hat, nachträglich Gründe für diese Handlung erfinden, schließt Singer: Wenn „im Bewußtsein gerade nicht die passenden Argumente aufscheinen, dann werden sie um der Kohärenz willen ad hoc erfunden. Und niemand weiß anzugeben, wie hoch bei den alltäglichen, selbst ,verantworteten‘ Entscheidungen dieser fiktive Anteil ist.“ (Singer, Verschaltungen, 61). Vgl. hierzu Zunke, Kritik, 52 f. Wie sonst sollte sich die Fähigkeit zu „internal deliberations“ in einer höheren Reaktionsflexibilität auswirken und damit als Selektionsvorteil gelten? Vgl. Singer, Consciousness, 1829. Vgl. Singer, Verschaltungen, 52. „Wenn Gründe und die logische Verarbeitung von Gründen aus neurobiologischer Sicht keine kausale Rolle spielen, bleibt aus evolutionstheoretischer Sicht rätselhaft, warum sich die Natur den Luxus eines ,Raums von Gründen‘ (Wilfried Sellars) überhaupt leistet. Gründe schwimmen nicht wie Fettaugen auf der Suppe des bewussten Lebens. Vielmehr sind die Prozesse des Urteilens und Handelns für die beteiligten Subjekte selbst stets mit Gründen verknüpft. Wenn das ,Geben und Nehmen von Gründen‘ als Epiphänomen abgetan werden müsste, bliebe von den biologischen Funktionen des Selbstverständnisses sprach- und handlungsfähiger Subjekte nicht mehr viel übrig.“ (Habermas, Freiheit, 168 f).

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sprachlich-denkerisch vollzogene Handlungsabwägung eines Individuums scheint mir auch das Interaktionsproblem des Substanzdualismus zu beseitigen, da überhaupt kein immaterieller Geist mehr postuliert werden muss, weil nämlich die worthafte Verhandlung von Gründen – im Dialog und dann auch im denkenden Selbstgespräch70 – ,ganz natürlich‘ stattfindet.71 Tatsächlich ,existiert‘ […] der Geist nur dank seiner Verkörperung in akustisch oder optisch wahrnehmbaren materiellen Zeichensubstraten, also in beobachtbaren Handlungen und kommunikativen Äußerungen, in symbolischen Gegenständen oder Artefakten. Neben der propositional ausdifferenzierten Sprache, dem Herzstück kultureller Lebensformen, gibt es viele andere symbolische Formen, Medien und Regelsysteme, deren Bedeutungsgehalte intersubjektiv geteilt und reproduziert werden. Diese Symbolsysteme können wir als emergente Eigenschaften verstehen, die sich mit jenem evolutionären Schub zur ,Vergesellschaftung der Kognition‘ herausgebildet haben. […] Der objektive Geist ist einerseits aus der Interaktion der Gehirne von intelligenten Tieren hervorgegangen, die die Fähigkeit zur gegenseitigen Perspektivenübernahme entwickelt hatten; und er reproduziert sich wiederum über die kommunikativen und gesellschaftlichen Praktiken der nun in neuer Weise interagierenden ,Gehirne‘ und ihrer Organismen. Andererseits behauptet der ,objektive Geist‘ diesen Einzelnen gegenüber eine relative Selbständigkeit, weil der nach eigenen Regeln organisierte Haushalt intersubjektiv geteilter Bedeutungen symbolische Gestalt angenommen hat. Über die grammatisch fixierte Regelung des Symbolgebrauchs können diese Bedeutungssysteme auf die Gehirne der Beteiligten ihrerseits Einfluss nehmen. Im Zuge der Vergesellschaftung ihrer Kognition bildet sich erst der ,subjektive Geist‘ der in gemeinsame Praktiken eingeübten und zugleich individuierten Teilnehmer aus.72 70 Terrence W. Deacon unter Bezugnahme auf den russischen Psychologen Lew S. Vygotsky : „He gave language a central role to play […] because its fundamentally social nature provides a mental tool for gaining a kind of subjective distance from the contents of thought, that is, from our own subjective experience. By importing, as it were, an implicit speaker-listener relationship into cognition, we create a tool for self-reflection by a sort of virtual social distancing from our own thought process.“ (Deacon, Species, 450). 71 Die materielle Verkörperung des Geistes in Habermas’ Konzept scheint von Flohr, Raum, 167, unbeachtet zu bleiben, so dass Flohr meint, Habermas drücke sich um eine Entscheidung des Interaktionsproblems. Vgl. jedoch Habermas, Sprachspiel, 278: „Diese Fähigkeit [sc. zur Stellungnahme zu Gründen] muss natürlich organisch ermöglicht werden; die handlungssteuernden Operationen müssen über Gehirnzustände realisiert werden. Aber sobald wir die Annahme von möglichen Interaktionen zwischen diesem Substrat und der Ebene der semantisch verfassten, symbolisch verkörperten, nach grammatischen Regeln kommunizierten Gedanken, Intentionen und Erlebnisse zugunsten einer einseitigen Determination des ,Geistes‘ durchs ,Gehirn‘ preisgeben, zerfällt der begriffliche Rahmen für entsprechende, sozial erzeugte Referenzen. Gedanken, Intentionen und Erlebnisse lassen sich nur Personen zuschreiben, die sich als solche in Zusammenhängen sozialer Interaktion erst bilden. Erst im Laufe der Ontogenese lernen Kinder, die pragmatischen Rollen von Sprechern, Hörern und Beobachtern einzunehmen und die korrespondierenden Selbstverhältnisse aufzunehmen.“ 72 Habermas, Freiheit, 179 f.

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So könnte auch eine naturwissenschaftliche Beschreibung des Menschen die spezifisch menschliche Interaktion im Modus der Sprache berücksichtigen – was freilich den Alleindeutungsanspruch der Hirnforschung negierte. Immaterielle Geistvorstellungen werden in der Tat entbehrlich. Denn einerseits vollzieht sich sprachliche Kommunikation freilich innerhalb natürlicher Zusammenhänge, andererseits erklimmt mit dem Erwerb der Sprachfähigkeit auch das Individuum eine neue Stufe: Gedanken in sprachlicher Form werden in anderer Komplexität ermöglicht. Was nun die Frage der Perspektive angeht, so geht Singer davon aus, dass mentale Phänomene aber auch „soziale Realitäten“ wie etwa Freiheitszuschreibungen oder Wertesysteme allein der Perspektive der Ersten Person zugänglich seien, während aus der „Beobachterperspektive“ der Dritten Person eines Gehirnforschers dieselben mentalen Phänomene auf neuronale Ereignisse im Gehirn zurückzuverfolgen seien, soziale Realitäten hingegen in der „Dritte-Person-Perspektive der naturwissenschaftlichen Beschreibungsweise“73 überhaupt nicht existierten. Singer meint, so zwei Beschreibungsperspektiven vorzufinden, die unvereinbar nebeneinanderstehen, und deren Inkompatibilität nach allem, was die Hirnforschung uns lehrt, zugunsten ihrer Beobachterperspektive als der „objektiveren“ aufzulösen ist. Auf die Frage etwa, ob er denn nun „den freien Willen“ als Illusion ansehe, antwortet Singer : Ich würde mich auf die Position zurückziehen, dass es zwei voneinander getrennte Erfahrungsbereiche gibt, in denen Wirklichkeiten dieser Welt zur Abbildung kommen. Wir kennen den naturwissenschaftlichen Bereich, der aus der Dritte-PersonPerspektive erschlossen wird, und den soziokulturellen, in dem sinnhafte Zuschreibungen diskutiert werden: Wertesysteme, soziale Realitäten, die nur in der Erste-Person-Perspektive erfahrbar und darstellbar sind. Dass die Inhalte des einen Bereichs aus den Prozessen des anderen hervorgehen, muss ein Neurobiologe als gegeben annehmen. Insofern muss, aus der Dritte-Person-Perspektive betrachtet, das, was die Erste-Person-Perspektive als freien Willen beschreibt, als Illusion definiert werden. Aber ,Illusion‘ ist, glaube ich, nicht das richtige Wort, denn wir erfahren uns ja tatsächlich als frei.74

Es ist – wie bereits gesagt – ein Problem der Hirnforschung, dass sie soziale Phänomene, deren Emergenz aus neuronalen Prozessen sie voraussetzt, in ihrem Forschungsgebiet nicht darstellen kann, und dass Singer darum meint, sie existierten in der naturwissenschaftlichen Beschreibungsweise überhaupt nicht.75 Doch heißt das wirklich, dass mentale und soziale Phänomene überhaupt keiner Beschreibung aus der Beobachterperspektive zugänglich sind? Etwa für die Korrelation kognitiver Leistungen mit neuronalen Abläufen ist 73 Singer, Ende, 25. 74 Singer, Ende, 32. 75 Das ist einem Physiker ähnlich, der nach der Analyse des reflektierten Lichtspektrums eines Gemäldes davon überzeugt ist, das Gemälde stelle überhaupt keine Landschaft dar.

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ein Hirnforscher ja notwendig auf einen Bericht des Probanden angewiesen76 oder er selbst legt an sein Forschungsobjekt eine Theorie des Geistes an.77 Beides stellt sich dann aber durchaus als Beschreibung aus der Perspektive der Dritten Person dar – in mentalistischem Vokabular. Nach Jürgen Habermas ließe sich aus der These der evolutionär vergesellschafteten Kognition intelligenter Tiere die Unhintergehbarkeit eines epistemischen Dualismus folgern, welcher eine Beschreibung in mentalistischer Terminologie rechtfertigt bzw. sogar unumgänglich macht. Habermas zufolge wäre der Umstand, dass Menschen nur in der Kommunikation mit anderen – also im Sprachgebrauch von erster und zweiter Person – einen beobachtenden Blick auf die in Distanz zu sich gebrachte Welt einnehmen können, eine mögliche Ursache dafür, dass wir die Welt notwendig in der komplementären Verschränkung von Beobachterperspektive und der Perspektive eines „Teilnehmers an kommunikativen und gesellschaftlichen Praktiken“78 betrachten. Wir erlernen mit dem System der Personalpronomina die Beobachterrolle der ,dritten‘ Person nur in Verbindung mit den Sprecher- und Hörerrollen einer ,ersten‘ und ,zweiten‘ Person. Nicht zufällig greifen die beiden Grundfunktionen der Sprache – Tatsachendarstellung und Kommunikation – gleichursprünglich ineinander. Dieser sprachphilosophische Blick auf Sprecher und Adressaten, die sich, indem sie die Rollen von erster und zweiter Person austauschen, vor dem Hintergrund einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt miteinander über etwas in der objektiven Welt verständigen, lässt sich erkenntnistheoretisch umkehren: die Objektivität der Welt konstituiert sich für einen Beobachter nur zugleich mit der Intersubjektivität der möglichen Verständigung über das, was er vom innerweltlichen Geschehen kognitiv erfasst.79

Damit geht Habermas insofern über Singers Theorie des sich soziokulturell entwickelnden Selbstmodells hinaus, als hier nicht nur das distanzierte Selbstverhältnis, sondern auch das beobachtende Weltverhältnis – also ein Weltmodell – in die Abhängigkeit von sozialer Interaktion gestellt wird – und damit letztlich auch die objektivierenden Aussagen eines Neurobiologen in den intersubjektiven Rahmen von Kommunikationsteilnehmern gestellt blei76 Dass eine Person, die in der zwischenmenschlichen Interaktion zu einem Selbstverhältnis gelangt ist, für die Kommunikation ihrer Selbstwahrnehmung die grammatikalische Form der Ersten Person Singular verwendet, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Selbstmitteilung dennoch eine Beschreibung aus der „Beobachterperspektive“ darstellt. Die Operationalisierung von kognitiven Leistungen meint ausdrücklich, subjektive Kognition gleichsam in „inneres Verhalten“ zu verwandeln, so dass aus Kognitionsleistungen beobachtbare Verhaltensweisen werden. 77 Zumindest geht Singer davon aus, dass man kognitive Leistungen durchaus verobjektivieren kann, um sie anschließend zu untersuchen. Vgl. Singer, Verschaltungen, 35. 78 Habermas, Freiheit, 173. 79 Habermas, Freiheit, 173 f.

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ben. Habermas schließt sich in seiner Folgerung Lutz Wingert darin an, dass die „Verständigungsverhältnisse, die nur performativ, aus der Sicht von Teilnehmern an Praktiken der Lebenswelt zugänglich sind, mit naturwissenschaftlichen Mitteln kognitiv nicht eingeholt, d. h. nicht erschöpfend objektiviert werden können“80. Beschreibungen, die rationale Erklärungen heranzögen, seien nicht auf solche Beschreibungen in ereigniskausaler Diktion zurückführbar, ohne dass ein semantischer Rest als irreduzibel übrigbliebe.81 Daher ist die Konsequenz der evolutionären Vergesellschaftung der menschlichen Kognition für Habermas die notwendige Beibehaltung eines epistemischen Dualismus. Doch wenn ich recht sehe, muss hier der Gefahr eines Missverständnisses vorgebeugt werden, dass der Habermas’sche „weiche Naturalismus“ durch die implizierte Unhintergehbarkeit eines epistemischen Dualismus in einen weichen ontologischen Dualismus führe.82 Habermas macht in detranszendentalisierter Form das subjektive Bewusstsein zur Voraussetzung jeder objektivierenden Untersuchung – so auch des Erklärungsversuchs, wie es zu „subjektivem Geist“ kommt. Doch legt Habermas mit der „Detranszendentalisierung der kantischen Erkenntnisvoraussetzungen“83 eine Theorie der naturgeschichtlichen Entstehung des Geistes aus der Interaktion von Artgenossen vor – eine mögliche Versöhnung Kants mit Darwin –, d. h. er macht den Versuch einer beobachtenden Erklärung. Wenn Habermas den epistemischen Dualismus mit einer monistischen Auffassung, wonach wir uns als Naturwesen in einem kohärenten Universum verstehen, zu vereinbaren sucht, warum sollten Versuche einer naturalistischen Weltbeschreibung grundsätzlich scheitern müssen? Wird der epistemische Dualismus hier womöglich doch ersetzt durch einen naturgeschichtlich erklärbaren Substanzdualismus? Und wird nicht auch das „Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft“ erst dann zu einer Deutung freien Selbstvollzugs geführt, wenn der komplementär verschränkte Perspektivendualismus von Natur und Geist doch verstanden wird als ein Dualismus sich exklusiv zueinander verhaltender Größen? So wäre womöglich im Sinne Habermas’ einerseits zu sagen, dass mentalistisches Vokabular in den erweiterten Begriffskanon der Naturwissen80 Habermas, Freiheit, 175. Vgl. auch: Habermas, Sprachspiel, 279 f. 81 „Dass wir hinter den epistemischen Dualismus der Wissensperspektiven [sc. der auf kausale bzw. rationale Erklärungen spezialisierten Sprachspiele] ,nicht zurückgehen‘ können, heißt zunächst, dass die korrespondierenden Sprachspiele und Erklärungsmuster nicht aufeinander reduziert werden können. Gedanken, die wir im mentalistischen Vokabular ausdrücken können, lassen sich nicht ohne semantischen Rest in ein empiristisches, auf Dinge und Ereignisse zugeschnittenes Vokabular übersetzen.“ (Habermas, Freiheit, 172). 82 So könnte man Habermas’ Bemerkung verstehen, die Irreduzibilität der Sprachspiele sei dadurch zu erklären, „dass in die Grammatik der beiden Sprachspiele“ – der rationalen und der kausalen Erklärungsansätze – „unvereinbare Ontologien eingebaut sind.“ (Habermas, Freiheit, 172). 83 Habermas, Freiheit, 171.

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schaften gehört.84 Man könnte also sagen: Biologische Organismen, die Bewusstsein entwickeln, in sozialen Verbänden leben und in diesen zu einem Selbstverhältnis gelangen, sind Personen, die „Gründe teilen“ und „Überzeugungen hegen“.85 Hierbei wäre keineswegs notwendig auf die Reduzierbarkeit innerhalb der Naturwissenschaften abzuheben – so wenig wie das Herdenverhalten von Elefanten in einfachen physikalischen Begriffen beschrieben werden kann. Auf der anderen Seite schließt m. E. Habermas’ Naturalisierung des Geistes, wonach „der Geist nur dank seiner Verkörperung in akustisch oder optisch wahrnehmbaren materiellen Zeichensubstraten“86 existiert, die Suche nach auf mentalistisches Vokabular verzichtenden Beschreibungssystemen nach wie vor nicht endgültig aus. Ohne diesem Gedanken weiter nachzugehen – ich zeige mich in der Frage des Reduktionismus agnostisch –, muss für Habermas festgehalten werden, dass die Perspektiven des Teilnehmers und des Beobachters tatsächlich nur dann als komplementär verschränkt gedacht sind, wenn nicht allein die Beobachter- mit der Teilnehmerperspektive durchsetzt ist, sondern auch der umgekehrte Fall gilt. Was rationale Motivation durch Gründe heißt, können wir nur aus der Perspektive des Teilnehmers am öffentlichen Prozess des ,Gebens und Nehmens von Gründen‘ (Robert Brandom) erklären. Deshalb muss ein Beobachter das Diskursgeschehen in einer mentalistischen Sprache beschreiben, d. h. in einer Sprache, die Prädikate wie ,meinen‘ und ,überzeugen‘, ,bejahen‘ und ,verneinen‘ enthält. In einer empiristischen Sprache müsste er, aus grammatischen Gründen, alle Bezüge auf die propositionalen Einstellungen von Subjekten, die etwas für wahr oder falsch halten, eliminieren.87

Dass Habermas eine rein „empiristische Sprache“ aufgrund der Verschränkung der Perspektiven für unmöglich hält, dass er vielmehr die Durchsetzung der beobachtenden Beschreibung mit mentalistischem Vokabular für unverzichtbar hält, zeigt er im nachfolgenden Satz: „Aus dieser [sc. empiristischen] Sicht verwandelte sich das Diskursgeschehen in ein gleichsam hinter dem Rücken der Subjekte ablaufendes Naturgeschehen.“88 Einmal abgesehen davon, dass es aus der Sicht einer rein empiristischen Beschreibung keine Subjekte gäbe, hinter deren Rücken ein Naturgeschehen abliefe, muss bedacht 84 Ein weiteres Argument hierfür könnte Beckermann, Gründe, 45 – 149, mit der Auffassung liefern, dass intentionale Handlungserklärungen durchaus Kausalerklärungen sind, dass also Gründe Ursachen sind. 85 „Die erkenntnistheoretische Wendung darf nicht den starken transzendentalen Sinn haben, die intersubjektiven Bedingungen des Zugangs zur objektiven Welt gegen weitere, empirisch informierte Nachforschungen zu immunisieren. Sie könnte vielleicht das Tor zu einer detranszendentalisierten Naturgeschichte öffnen, deren ,Natur‘ aus dem Korsett einer physikalistischen Ontologie befreit worden ist.“ (Habermas, Sprachspiel, 296). 86 Habermas, Freiheit, 179. 87 Habermas, Freiheit, 162. 88 Habermas, Freiheit, 162.

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werden, dass wir als Diskursteilnehmer wiederum nicht von der monistischen Auffassung lassen können. Habermas teilt diesen Monismus, legt das Gewicht seiner Argumentation aber darauf, die Natur „aus dem Korsett einer pysikalistischen Ontologie“89 zu befreien. Selbst wenn die rein szientistische Weltbeschreibung nach Habermas der Okkupation eines „fiktiven Nirgendwo“90 gleichkommt, darf die umgekehrte Sichtweise nicht vernachlässigt werden, nach der wir Teile einer Welt sind, deren Regelhaftigkeit wir ansonsten problemlos anerkennen. So muss die komplementäre Verschränkung der Perspektiven, derentwegen eine vollständige Beschreibung einerseits nicht auf mentalistisches Vokabular verzichten kann91, anderseits keineswegs das eigene Selbstverständnis zwingend über einen naturhaften Determinismus hinausheben. Einerseits erhält die detranszendentalisierte Vernunft bei Habermas ihre Selbständigkeit gegenüber der sonstigen Natur und bemächtigt so die Person zur Autorschaft selbständiger Urteile und zum Ergreifen begründeter Handlungsinitiativen.92 Dies klingt vordergründig, als mache sich Habermas doch zum Advokaten eines – naturgeschichtlich hergeleiteten – ontologischen Dualismus. Doch Habermas’ Kritik an einem „voreiligen ontologischen Monismus, wonach Gründe und Ursachen zwei Aspekte derselben Sache sind“93 bleibt andererseits umschlossen von der monistischen Grundannahme seiner Naturalisierung des Geistes. Darum interpretiert er die Leiblichkeit einer Person nicht etwa als bestimmende Einschränkung, sondern als ermöglichende Bedingung: Der Handelnde kann sich von einem organischen Substrat, das als Leib erfahren wird, ohne Beeinträchtigung seiner Freiheit ,bestimmen‘ lassen, weil er seine subjektive Natur als Quelle des Könnens erfährt. Aus der Perspektive dieser Leiberfahrung verwandeln sich für den Handelnden die vom limbischen System gesteuerten vegetativen Prozesse – wie auch alle anderen aus der neurologischen Beobachterperspektive ,unbewusst‘ ablaufenden Prozesse des Gehirns – aus kausalen Determinanten in ermöglichende Bedingungen.94

89 Habermas, Sprachspiel, 296. 90 Habermas, Sprachspiel, 281. 91 „Die Teilnehmer an einer solchen Verständigungspraxis verstehen sich als Personen, die einander für ihre Äußerungen Gründe schulden. Diese aus performativen Zusammenhängen bekannten Eigenschaften werden Personen auch dann zugeschrieben, wenn sie selber, zusammen mit ihren Praktiken und lebensweltlichen Kontexten, als ,etwas in der Welt Vorkommendes‘ beobachtet und beschrieben werden. Das erklärt, warum die intentionalistischen Ausdrücke, um die ein zur Beschreibung von Personen und deren Ausdrücke geeignetes Vokabular angereichert werden muss, nur im Gebrauch von Interaktionsteilnehmern, die sich gegenseitig als Zweite Person aufeinander einstellen, eingeübt und auf diesem performativen Wege erlernt werden können.“ (Habermas, Sprachspiel, 293). 92 Vgl. Habermas, Freiheit, 161 – 167. 93 Habermas, Freiheit, 163. 94 Habermas, Freiheit, 165.

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Habermas stellt die organische Bedingtheit – wie auch andere kontextuelle Abhängigkeiten – neben die rationale Fähigkeit, sich durch Gründe bestimmen zu lassen. Insofern ist sein naturalistischer Ansatz verglichen mit der monistischen Gleichsetzung von Gründen und Ursachen in der Tat sehr viel „weicher“. Doch auch ein weicher Naturalismus stellt, wenn ich recht sehe, ein grundsätzlich determinismuskompatibles Konzept dar, wenn auch kein einfach physikalistisch-deterministisches Konzept: Die Naturhaftigkeit des Geistes enteignet eine Person nicht ihrer mentalen Vorgänge, wenn und insofern die Möglichkeit besteht, dass die Person sich ein Ereignis retrospektiv zu eigen machen kann.95 Die Kritik an einem wirkungslosen Epiphänomenalismus des Bewusstseins fußt bei Habermas ja gerade nicht auf einem schlichten Dualismus, der das Verursachungsproblem einfach ignorierte. Auf dem Boden eines solchen Dualismus gedeiht der naturalistische Monismus in der Tat zu einer Infragestellung der Freiheit. Vielmehr läuft die Verschränkung der Perspektiven auf eine Art ,mit dem Monismus versöhnten Dualismus‘ hinaus, insofern externe Determinanten durch bewusste Aneignung ihren freiheitsbeschränkenden Charakter verlieren.96 Müsste ein Neurobiologe seinerseits gegen die Beibehaltung des Personenbegriffs grundsätzlich Protest erheben? Doch auch nur, wenn er das Bewusstsein und Personsein von biologischen Organismen für ein epiphänomenales Abfallprodukt der Gehirnprozesse hielte, welches keinerlei Auswirkungen auf die Verhaltensleistungen des jeweiligen Organismus hat. Es ist diese Unentschiedenheit Singers in Bezug auf die Wirksamkeit von Bewusst95 „Mich stört der bedingte Charakter meiner Entscheidung nur so lange nicht, wie ich dieses ,Geschehen‘ retrospektiv als einen wie immer auch implizit ablaufenden Prozess des Überlegens verstehen kann, an dem ich als Diskursteilnehmer oder als ein in foro interno nachdenkendes Subjekt beteiligt bin. Denn dann ist es meine Einsicht, aus der ich die Entscheidung fälle. Sehr wohl würde mich aber die Determination meiner Entscheidung durch ein neuronales Geschehen stören, an dem ich nicht mehr als Stellung nehmende Person beteiligt bin: Es wäre nicht mehr meine Entscheidung. Nur der unbemerkte Wechsel von der Teilnehmer- zur Beobachterperspektive kann den Eindruck hervorrufen, dass die Handlungsmotivation durch verständliche Gründe eine Brücke zur Handlungsdetermination durch beobachtbare Ursachen baut.“ (Habermas, Freiheit, 162). 96 „Der methodologische Dualismus der Erklärungsperspektiven von Teilnehmern und Beobachtern darf nicht zu einem Dualismus von Geist und Natur ontologisiert werden. Auch rationale Handlungserklärungen gehen davon aus, dass Aktoren bei ihren Entscheidungen in Kontexte eingebettet und in Lebensumstände verwickelt sind. Die Handelnden stehen, wenn sie ihren Willen von dem, was in ihren Kräften steht und was sie für richtig halten, bestimmen lassen, nicht außerhalb der Welt. Sie sind vom organischen Substrat ihres Könnens, von Lebensgeschichte, Charakter und Fähigkeiten, von der gesellschaftlichen und kulturellen Umgebung, nicht zuletzt von aktuellen Gegebenheiten der Handlungssituation abhängig. Aber alle diese Faktoren macht sich der Handelnde gewissermaßen so zu Eigen, dass sie nicht länger wie externe Ursachen auf die Willensbildung einwirken und sein Bewusstsein der Freiheit irritieren können. Der Urheber identifiziert sich mit dem eigenen Organismus, der eigenen verhaltensprägenden Lebensgeschichte und Kultur, den eigenen Motiven und Fähigkeiten.“ (Habermas, Freiheit, 166).

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sein und damit die Frage nach der Personalität individueller Organismen, in der ich die Hauptursache für das Auftreten des Verantwortungsproblems sehe. Wie sich zeigen wird, ist diese Unsicherheit in der Prämisse eines verdeckt vorausgesetzten Dualismus verankert.

2.2.1.2 Wer trägt Verantwortung? – Zur Subjektverdoppelung Wäre das Ergebnis einer sich gesellschaftlich durchsetzenden Anerkennung der neurobiologischen Forschungsergebnisse notwendigerweise ein „neues Menschenbild“ – wie es Singer im Titel einer Aufsatzsammlung noch mit Fragezeichen versehen andeutet?97 Zumindest die gesellschaftliche Beurteilungspraxis der Menschen untereinander ließe sich humaner und weniger diskriminierend gestalten, so Singer, wenn man den neurophysiologischen Determinismus – „Keiner kann anders, als er ist“98 – akzeptierte. Diese Einsicht könnte zu einer humaneren, weniger diskriminierenden Beurteilung von Mitmenschen führen, die das Pech hatten, mit einem Organ volljährig geworden zu sein, dessen funktionelle Architektur ihnen kein angepaßtes Verhalten erlaubt.99

Das ist auf den ersten Blick ein sympathischer Gedanke; denn Singer fordert, dass wir mit der Schuld anderer verständnisvoller umgehen. Solidarität mit den Delinquenten dieser Gesellschaft und Vergebungsbereitschaft gegenüber unsern Schuldigern erscheinen prima facie als Schlussfolgerung der neurobiologischen Forschung und verleihen ihr einen liberal-humanistischen Anstrich. Doch Singers Überlegungen zur Frage von Schuld und Verantwortung geraten in eine Schieflage, wo sich zur bewusst handelnden Person ,das Gehirn‘ als gleichsam zweites Handlungssubjekt gesellt. Singer zeigt sich offensichtlich bemüht, den Begriff der Freiheit zu tilgen, die Praxis der Verantwortlichmachung aber zu retten. Dabei kombiniert er mit dem Versprechen eines möglichen humaneren Umgangs der Menschen untereinander einen gewissen Konservatismus bei der Zuschreibung von Verantwortung und in Sachen Strafvollzug.100 Hier bliebe alles möglichst beim Alten. Die Gesellschaft darf nicht davon ablassen, Verhalten zu bewerten. Sie muß natürlich weiterhin versuchen, durch Erziehung, Belohnung und Sanktionen Entscheidungs97 Vgl. die grundsätzliche Kritik an der Formulierung eines Menschenbildes bei Zunke, Kritik, 56: „Denn schon dem Begriff des Menschenbildes entspricht die Vorstellung, der Mensch sei von Natur aus oder von Gott zu ganz bestimmten, in einem Bild positiv fixierbaren Verhaltensund Lebensweisen bestimmt. Darum ist schon der Begriff des Menschenbildes ein ideologischer.“ 98 Singer, Verschaltungen, 63. 99 Singer, Verschaltungen, 63. Vgl. auch: Singer, Ende, 33. 100 Vgl. Buchheim, Wer kann, 164.

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prozesse so zu beeinflussen, daß unerwünschte Entscheidungen unwahrscheinlicher werden, sie muß Deliquenten die Chance einräumen, durch Lernen zu angepaßteren Entscheidungen zu finden, und – wenn all dies erfolglos bleibt, sich durch Freiheitsentzug schützen.101

Jedoch geraten bei Singer „humanere Sichtweise“ einerseits und Beibehaltung der gängigen Lob- und Strafpraxis andererseits in einen Konflikt, der das allgemeine Rechtsempfinden auf eine recht harte Probe stellt. Denn entweder bin ich bereit, etwa einem Kriminellen nachsichtig zu begegnen – Du konntest nicht anders! – oder aber ich bin gewillt, seine Handlungen – nicht etwa die seines Gehirns – mit Sanktionen zu quittieren.102 Selbst wenn Belohnungen und Sanktionen allein der präventiven Beeinflussung dienen sollten, um „unerwünschte Entscheidungen unwahrscheinlicher“ zu machen: Würde dann nicht die Tatsache, dass eine Person „das Pech hatte“103, von ihrem Gehirn von angepasstem Verhalten abgehalten worden zu sein, doch auf der Seite des Beurteilenden zu dem selbstkritischen Eingeständnis zwingen, dass die gewählten Erziehungsmethoden nun einmal wirkungslos geblieben sind und dass der Delinquent eben nicht anders konnte, weil sein Gehirn ihm keine Wahl ließ. Mit welchem Recht wäre er dann noch zur Rechenschaft zu ziehen? Ohne insgesamt anzweifeln zu müssen, dass Handlungsabwägungen tatsächlich eine neuronale Grundlage haben, muss man bei Singer also genauer hinsehen, wie das Subjekt der Entscheidung verdoppelt wird. Offensichtlich entstehen bei Singer durch den ständigen Wechsel zwischen biologischem Bericht über das Gehirn und Bericht über die bewusste Person beiderseits unzulässige Intuitionen, die ich als „latenten Cartesianismus“ oder „GehirnHomunculus-Theorie“ bezeichne. Unter der steten Beteuerung, man lehne jene cartesianische Vorstellung etwa einer zentralen Schnittstelle zwischen res cogitans und res extensa im Gehirn ab, wird der Gedanke an ein immaterielles Subjekt auf dem Boden der neurobiologischen Ergebnisse scheinbar gänzlich verworfen: Es gibt weder eine neuronale Schnittstelle für das Eingreifen eines immateriellen Ichs noch ein neuronales Ich-Zentrum, beteuert die Hirnforschung. Doch auch ohne neuronales Ich-Zentrum oder dergleichen will es ihr nicht gelingen, das Immaterielle gänzlich aus der neurobiologischen Anthropologie zu verbannen. Denn da auch der Hirnforscher nicht leugnet, dass wir uns nun einmal mit einem einheitlichen Bewusstsein erleben und im sozialen Rahmen zu subjekthaften Teilnehmern der Interaktion werden, schleicht sich die res cogitans wieder ein. Nur ist sie in Singers Theorie degradiert zum epiphänomenalen Protokollanten verschiedener neuronaler Wettkämpfe, sofern sie überhaupt das Glück hat, vom Gehirn – dem zusätz101 Singer, Verschaltungen, 64. 102 Der Fall lobenswerten Handelns profiliert die Karikatur noch eingängiger: Bin ich bereit, meinem Wohltäter auf den Kopf zuzusagen, er habe nicht anders gekonnt, oder statte ich ihm doch lieber Dank ab? 103 Vgl. o. Anm. 99.

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lichen Subjekt – involviert zu werden.104 So entsteht dort, wo eigentlich die Vereinheitlichung der Person – ich bin ein biologischer Organismus, der zu mentalen Operationen fähig ist und darum „Person“ – wünschenswert wäre, die folgenreiche Verdoppelung des Subjekts: die Intuition, ,wir‘ hätten in ,unserem‘ Kopf ein Gehirn, das ,an uns vorbei‘ Entscheidungen fälle. Auf der einen Seite wird das Gehirn zu einem eigenständigen personalen Homunculus mit Urheberqualitäten erhöht, auf der anderen Seite wird man aber das Postulat eines Selbstbewusstseins als eines möglichst immateriellen Phänomens nicht los, das – wenn wir ihm Freiheit zugestehen wollten – tunlichst unabhängig von neuronalen Prozessen sein soll.105 Nur so kann auch die Idee aufkommen, neuronaler Determinismus beinhalte eine Form von verdecktem Zwang.106 Will man aber auf diejenige Erlebens- und Beschreibungsperspektive, in der wir uns als bewusste Personen vollziehen, nicht verzichten – denn ,wer‘ könnte das? – und scheut man sich außerdem, als handelnden Akteur das (man ist versucht zu sagen: „eigene“) Gehirn zu benennen, so wird man wohl auch um das Erleben eigener kausaler Einflussnahme auf Handlungen als Bestandteil dieser Perspektive nicht umhin kommen. Wenn man so will, ließe sich hierfür der Begriff „Freiheit“ verwenden.107 Noch einmal: Man muss m. E. kein Substanzdualist sein, um am Bewusstseinsphänomen festzuhalten. Es gibt in meinen Augen gute Gründe, Bewusstsein für ein gehirnabhängiges Phänomen zu halten. Und es sind doch eher stark dualistische Intuitionen, die zu der Schlussfolgerung führen, wir stünden unter Zwang oder wären auf die Zuschauerränge am Seitenrand des Entscheidungsspiels verbannt, während unser Gehirn seine Aufgabe erfüllt. Wenn Singer in der Fähigkeit zu internal deliberations eine Erhöhung der Verhaltensflexibilität und darin einen evolutionären Selektionsvorteil erkennt, so räumt er dem Bewusstsein durchaus eine verhaltensbestimmende Funktion ein. Auch mit der gemeinschaftskonsolidierenden Wirkung von Verhaltensvorhersagen wäre es nicht weit her, 104 Vgl. auch: Zunke, Kritik, 51. 105 Gegen diesen hartnäckigen Cartesianismus wendet sich auch: Beckermann, Determiniertheit, 28 ff. 106 Am Beispiel Gerhard Roths: „Das bewusste, denkende und wollende Ich ist nicht im moralischen Sinne verantwortlich für dasjenige, was das Gehirn tut, auch wenn dieses Gehirn ,perfiderweise‘ dem Ich die entsprechende Illusion verleiht. Nach allem, was wir über das Ich gehört haben, kann es auch gar nicht zum großen Steuermann werden, denn es entsteht in der kindlichen Entwicklung relativ spät, nämlich dann, wenn Motorik, Wahrnehmungssysteme und limbisches System schon weitgehend ausgereift sind. Das Ich ist unerlässlich für komplexe Handlungsplanung, es wägt ab, erteilt Ratschläge, aber es entscheidet nichts […].“ (Roth, Sicht, 180.) Ähnlich sieht Kröber, Verantwortlichkeit, 104, in der Beseelung einzelner Hirnstrukturen ein solches Sprachspiel, demzufolge diese Hirnstrukturen „in die Position eines Homunculus hineinwachsen, eines kleinen Menschen im Menschen, der mit anderen zerebralen Homunculi im Widerstreit oder Austausch steht und schließlich auch Regierungsmacht über die ganze Person oder das ganze Gehirn gewinnt.“ 107 Vgl. Abschnitt 2.2.1.1, Anm. 55.

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wenn das Verhalten in überhaupt keinem Kausalverhältnis zur bewussten Planung stünde. Nur wenn man also ein Problem damit hat, dass die eigenen – nämlich mir bewussten – Überlegungen in einem Organ stattfinden, muss man sich vor Zwang oder Kontrollverlust fürchten.108 Es ist also die gleichermaßen naturgesetzliche Festgelegtheit von unbewussten und bewussten Prozessen, mit der Singer das Bewusstsein für unbedeutend erklärt. Ich meine durchaus, dass Argumente irgendwie im Gehirn repräsentiert sein müssen. Wenn aber die Argumente meiner Mitmenschen mich nicht anders bestimmen als mein Blutdruck, dann darf auf dieser Beschreibungsebene kein Unterschied mehr bestehen zwischen organischen Ereignissen wie der Erhöhung meiner Pulsfrequenz und gewollten Handlungen, für die ich mehr oder weniger gute Gründe habe.109 Man kann, wenn man die bewusste Handlungsplanung für bedeutsam hält, immer noch Determinist sein und das Prinzip alternativer Möglichkeiten verneinen – auch wenn es höchst fraglich erscheint, ob man diese Position allein aufgrund neurophysiologischer Ergebnisse vertreten kann. Neben dieser Argumentationslinie, nach der man das Postulat eines materie-unabhängigen Bewusstseins aufstellt und es dann als wirkungsloses Epiphänomen deklariert, scheitert m. E. auch die andere Argumentation, nach der wir keine bewusste Kontrolle über unbewusste Prozesse unseres Gehirns haben, an demselben Problem der Subjektverdoppelung. Es ist nicht ganz leicht zu deuten, was genau Singer meint, wenn er als Vorteil der neuen Argumentation für die alte Bewertungspraxis festhält, sie „trüge den hirnphysiologischen Erkenntnissen Rechnung, ersetzte die konfliktträchtige Zuschreibung graduierter ,Freiheit‘ und Verantwortlichkeit durch bewußte und unbewußte Prozesse und eröffnete damit einen vorurteilsloseren Raum zur Beurteilung und Bewertung von ,normalem‘ und ,abweichendem‘ Verhalten.“110 Angenommen, wir unterließen die Zuschreibung von Freiheit, was mag es bedeuten, jemandem unbewusste und bewusste Prozesse zuzuschreiben – und was wäre dadurch gewonnen? Singer schreibt: „Die Person als ganze würde nach wie vor für all das zur Rechenschaft gezogen, was sie fühlt, denkt, und tut, und diese Beurteilung umfaßte unbewußte und bewußte Faktoren gleichermaßen.“111 Dass es überhaupt zu einer Beurteilung unbewusster Faktoren kommen kann, sehe ich eigentlich nicht. Singer meint wohl, dass wir bei der Beurteilung 108 Vgl. die Habermas-Zitate in Anm. 95 und Anm. 71. 109 Vgl. Buchheim, Wer kann, 162 f. Buchheim zielt darauf ab, dass Freiheit nicht die grundsätzliche Leugnung jeglicher Determination beansprucht, sondern die Art der Determination für Freiheit entscheidend sei, so dass „eine Entscheidung nicht deshalb frei genannt werden wird, weil sie nicht durch gewisse Faktoren so und nicht anders zustande kam, sondern weil die Art der beteiligten Faktoren von besonderer (nämlich genuin intellektueller) Qualität ist.“ (A.a.O., 163). 110 Singer, Verschaltungen, 64. 111 Singer, Verschaltungen, 64.

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einer Handlung bedenken sollten, dass unter anderem auch unbewusste Faktoren zu einer Tat geführt haben könnten. Das ist sicher konsensfähig, trägt aber m. E. nichts aus für die Frage der Verantwortlichmachung. Dass eine Person das Pech gehabt haben soll, dass ihr Gehirn ihr kein angepasstes Verhalten erlaubte, klingt eben nach Zwang: „Du konntest nicht anders.“ Das provoziert die Vorstellung, jemand hätte nicht anders gekonnt, selbst wenn er anders gewollt hätte oder gute Gründe für andere Taten gehabt hätte. Wenn es wirklich so wäre, dass unsere Gehirne uns zu Taten oder Unterlassungshandlungen zwängen – nämlich gegen unseren Willen – oder führten – nämlich weil ,wir‘ nur das marionettenhafte Nebenprodukt der Gehirnaktivität seien –, dann müsste man mit Thomas Buchheim ausrufen: „Haltet euch also an mein Gehirn, aber verschont mich! Wenn es jedoch nicht möglich ist, den Schuldigen zu bestrafen, ohne Unschuldige in Mitleidenschaft zu ziehen, muß von einer Bestrafung abgesehen werden.“112 So gerät Singer durch die beschriebene Subjektverdoppelung in die Inkonsequenz, dass wir uns endlich als machtlos gegenüber unseren Gehirnen verstehen mögen – unser Erleben von Freiheit sei schließlich Illusion –, ohne daraus gesellschaftliche Konsequenzen zu ziehen. Es ist indes m. E. durchaus möglich, ein bestimmtes deterministisches Weltbild – nicht Menschenbild – zu vertreten, und mit Singer „die Person als ganze“ dennoch zur Rechenschaft zu ziehen für alles, „was sie fühlt, denkt und tut“113. So ließen sich Singers Statements zur Praxis von Belohnung und Strafe grundsätzlich ertragen – jedoch nur unter Korrektur besagten Kategorienfehlers. Dies würde erfordern, die neuronale Aktivität des individuellen Gehirns als das zu sehen, was sie womöglich wirklich ist: die Aktivität eines Organs, das seinerseits keinen Zwang über die Person ausüben kann. Nach Ansgar Beckermann hat uns die Natur – oder wer immer – mit einem Gehirn versorgt, in dem neuronale Prozesse ablaufen, die Prozesse rationalen Überlegens implementieren: Prozesse, die auf Gründe reagieren, und alles in allem zu abgewogenen Urteilen führen. Und die Natur hat auch dafür gesorgt, dass diese Urteile entscheidenden Einfluss auf unsere Handlungen haben. Warum sollten wir uns durch diese Tatsache bedroht fühlen? Warum sollte diese Tatsache unsere Freiheit und Verantwortlichkeit beeinträchtigen? So wenig wie wir durch jemanden manipuliert werden, der uns die Gründe, die für eine Handlung sprechen, in so bestechender Klarheit präsentiert, dass wir gar nicht anderes können, als uns ihnen anzuschließen, so wenig werden wir dadurch manipuliert, dass in uns ein Prozess rationalen Überlegens abläuft.114

Daran zeigt sich des Weiteren deutlich, dass man jene deterministische Überzeugung, nach welcher bewusste und unbewusste Faktoren das Verhalten eines Menschen gleichermaßen festlegen, nicht allein auf neurobiologische 112 Buchheim, Wer kann, 164. 113 Singer, Verschaltungen, 64. 114 Beckermann, Determiniertheit, 30.

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Erkenntnisse stützt, sondern auf die metaphysische Vorstellung eines Universaldeterminismus. Durchaus wird es richtig sein, dass das Abwägen von Argumenten im Gehirn in materiellen Prozessen abläuft. Niemand wird behaupten, dass ein menschlicher Organismus ohne dieses Organ zu bewusster Deliberation fähig sei. Doch wenn nach Singer die rationalen Diskursregeln oder die Regeln der Argumentationslogik die Abstraktheit der Verhandlung signifikant erhöhen, dann bedarf es einiger Zusatzannahmen, diese Abwägungen noch in die Grenzen etwa determinierender Naturgesetze zu zwingen. Ich kann andernfalls keinen evolutionären Vorteil bewusstseinsfähiger gegenüber unbewussten und sprachunfähigen Organismen erkennen. Im Gegenteil: Wenn die argumentativ-logische Behandlung der Variablen im Gehirn ihrerseits eher einfachen Naturgesetzen unterworfen bliebe, wozu dann der aufwendige und zeitraubende Aufwand der bewussten Abwägung nach Regeln der Logik?115 M.E. zeigt sich daran: Mit der ontologischen Identifikation von personalen, begründbaren Handlungen und naturgesetzlich verlaufenden Ereignissen – die ich nicht unbedingt anzweifle – vertritt man letztlich einen metaphysischen Determinismus, den man in die angebliche Objektivität der Naturwissenschaften kleidet. Denn ein naturgesetzlicher Determinismus erfordert letztlich die Vorstellung omnipotenter und allumfassender Naturgesetze. 2.2.1.3 Allmächtige Naturgesetze? – Zu den Anforderungen an die Naturgesetze Thomas Buchheim zerlegt in seinem Aufsatz „Libertarischer Kompatibilismus“ den Begriff der kausalen Determination in seine beiden Bestandteile und argumentiert, dass die Festlegung eines Sachverhalts durch kausale oder durch logische Verknüpfung zweierlei sei.116 In ein zeitlich voranschreitendes Kausalverhältnis ließe sich, so Buchheim, eine personale Handlung aufgrund einer Entscheidung als Glied der Kausalkette von Weltzustand zu Weltzustand integrieren, ohne ihr von vornherein Notwendigkeit zuschreiben zu müssen. Die Kombination von kausaler Ereignisverknüpfung und notwendiger Verknüpfung zweier Weltzustände – nach Buchheim: „kausale Determination“ – 115 Vgl. Anm. 69. 116 „Dass ein Sachverhalt ,determiniert‘ ist, bedeutet, dass er durch getroffene Annahmen oder bestehende Gegebenheiten eindeutig und in allen Stücken festgelegt sei. Wenn also die Annahmen oder Gegebenheiten alle so sind, wie das Verhältnis der Determination es behauptet, dann folgt logisch, dass auch der dadurch determinierte Sachverhalt besteht. […] Die Notwendigkeit einer logischen Folge besteht dabei immer und nur darin, dass sich ein Widerspruch ergäbe, wollte man zwar die determinierenden Annahmen, aber nicht die dadurch determinierte Folge bejahen. Auf kausale Verknüpfung zurückzugehen, bedeutet im Unterschied dazu, das Resultat der Wirkung von Ursachen im Verlauf von Geschehnissen innerhalb der Welt zu sein. Die Folge ist hier keine logische, sondern eine faktische, d. h. eine des ,gemacht‘-Seins oder ,zustande Gekommenseins‘ durch jene Ursachen in der Zeit.“ (Buchheim, Kompatibilismus, 38).

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und damit eine Übertragung von Notwendigkeit auf ein zeitlich-kausales Verhältnis erreiche man indes nur durch Gesetze: Erst die Gesetze stellen sicher, dass zu irgendeinem Zeitpunkt aus allen bis dato gegebenen Annahmen oder Prämissen das zeitliche Eintreten des verursachten Geschehens gefolgert werden kann und damit in diesem Zusammenhang notwendig oder durch sie ,nezessiert‘ wird. Nicht der Determinismus an sich, sondern ein nomischer, d. h. ein Determinismus nach Kausalgesetzen kann Handlungen im ursächlichen Verbund mit anderen Geschehnissen innerhalb der Zeitfolge notwendig machen.117

Während Buchheim im Fortgang seiner Argumentation darauf abhebt, dass ein nomischer Determinismus den Begriff der Notwendigkeit doch nicht mit sich führe, und dass darum auch alternative Möglichkeiten trotz Wahrheit des Determinismus bestehen könnten, will ich mich darauf beschränken, in Anlehnung an Buchheims Überlegungen die Anforderungen an das Naturgesetzverständnis zu verdeutlichen, die erforderlich wären, wenn man einen naturgesetzlichen Determinismus aufrechterhalten wollte.118 Zunächst müsste sich ein solcher Determinismus nach Naturgesetzen durch seine Allumfassendheit auszeichnen: Dass die Welt gleichsam nach Naturgesetzen in einer einzigen logisch möglichen – also notwendigen – Weise ablaufe, macht es unabdingbar, das Gesamtsystem gegen jedwede Variation abzuschließen. Denn nomisch determinierte Prozesse schließen sowohl Variationen der jeweiligen Ausgangszustände als auch Veränderungen der Abläufe etwa durch neue Faktoren aus. Ein solcher Determinismus kann sich darum nur auf die Welt als Ganze – sowohl in ihrer räumlichen als auch zeitlichen Erstreckung – beziehen. Nach Buchheim muss ein Determinismus, der ursächliches Geschehen als notwendig darstellen soll, stets für alles Geschehen oder die gesamte Welt als ein geschlossenes System formuliert werden. Denn Gesetze müssen (jedenfalls in ihrer Standardinterpretation) für alle gleichen Fälle einer ursächlichen Beziehung innerhalb der Welt gleich gelten und sie müssen zudem alle Geschehensumstände abdecken, unter denen das betreffende Ereignis eintritt. Jedoch ist davon auszugehen, dass die genau gleiche Konstellation von Umständen eines Geschehens nur einmal in der Welt auftritt, so dass der jeweils betrachtete Fall wie eine Momentaufnahme der Welt insgesamt fungiert, die in lauter gesetzlichen oder eindeutigen Beziehungen zu jeder anderen Momentaufnahme derselben Welt steht. Die Standardformulierungen des Determi117 Buchheim, Kompatibilismus, 39 f. 118 Noch einmal betont: Buchheim setzt für die Diskussion einer kausalen Determination Gesetze überhaupt, nicht notwendig Naturgesetze an, während ich meine Ausführungen auf die Rolle der Naturgesetze begrenze. Des Weiteren will Buchheim zeigen, dass Determinismus nach Gesetzen keine Notwendigkeit mit sich führen muss. Ich drehe sozusagen die Argumentation um und frage: Was müssten Naturgesetze leisten, damit alles Geschehen mit Notwendigkeit eintritt?

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nismus, insofern er im Widerstreit mit Freiheit eine durchgängige Notwendigkeit des Geschehens begründen soll, beziehen sich deshalb immer auf das Gesamtsystem der Welt oder ein abgeschlossenes Teilsystem von ihr, niemals aber auf offene Teilsysteme. Denn diese blieben anfällig für nicht notwendig auftretende Effekte.119

Räumlich etwa wäre dann überhaupt nicht mehr zu unterscheiden, was kausalen Einfluss auf ein Ereignis hat oder wie ein bestimmtes Ereignis vom Weltganzen zu unterscheiden wäre. Sind es – im Fall etwa meines Verhaltens – nur meine Hirnprozesse, oder auch die Lichtverhältnisse, die Umgebungstemperatur, oder gar plötzlich von einem Freund vorgebrachte Argumente für oder gegen mein Verhalten, die das Ereignis meines Verhaltens determinieren? „All das!“, ruft der Determinist, „Die Umwelt beeinflusst das Gehirn ständig – ob du willst oder nicht.“ „Und wie“, frage ich zurück, „wird mein Gehirn beeinflusst von den Wetterverhältnissen in Brasilien? Ich sehe nämlich nicht ein, wo Du die Grenze um einen Ausschnitt der Welt ziehen willst, wenn der Determinismus nur für die Welt als Ganze gilt.“ In der zeitlichen Erstreckung behauptet der Determinismus nach Kausalgesetzen eine gleichsam eschatologisch-ewige Perspektive, aus der trivialerweise gilt, dass alles in der Welt in bestimmter Weise so gekommen ist, wie es nun einmal gekommen ist. Dass ein Weltzustand durch die Zeit hindurch notwendig jeden nachfolgenden Weltzustand eindeutig festlegt, soll ausgesagt werden. Der Determinismus nach Naturgesetzen umgreift aber den Faktor Zeit. Das bestimmte Eintreten zukünftiger Ereignisse wird aus dieser Perspektive scheinbar vergegenwärtigt oder eben: verewigt. Was in Zukunft passiert – wie ich in Zukunft ,handele‘ – steht nach diesem Determinismusverständnis jetzt schon logisch fest aufgrund der Naturgesetze. Dabei kommt die Zukunft jedoch überhaupt nicht mehr als Werdendes ins Spiel, sondern als Seiendes. Der Gedanke, dass die Zukunft noch nicht real ist, dass ihr vielmehr immer ein Irrealis anhaftet, wird aufgegeben.120 Weder dass ,ich etwas kann‘, noch dass ,sich etwas ereignen kann‘, sind dann noch sinnvolle Aussagen. Denn nicht einmal die eine Handlung, die ich dem Deterministen zufolge ausführen werde, läge dann in meinem Können.121 Alles wäre reine Tatsächlichkeit – tote Ewigkeit.122 119 Buchheim, Kompatibilismus, 40. 120 Vgl. z. B. Klein, Willensfreiheit, 132 f für die Kritik an der Möglichkeit von auf die Zukunft gerichteten wahren Propositionen. 121 „Wäre eine Entscheidung dagegen nichts als ein Bündel von tatsächlich auftretenden neuronalen Erregungszuständen, dann könnte von einem Können – auch von dem So-Können, wie man tatsächlich handelt, strenggenommen gar nicht mehr die Rede sein.“ (Buchheim, Wer kann, 160). 122 Darum verneint Buchheim, dass Determinismus überhaupt Notwendigkeit mit sich bringt: „Ein spezifischer Begriff von Notwendigkeit setzt Variabilität des Systems voraus, in dem die Notwendigkeit bestimmten Sachverhalten zugesprochen werden kann und anderen nicht. Diese Bedingung setzt der Determinismus jedoch gerade außer Kraft. Das übrig bleibende logische Folgerungsverhältnis zwischen herausgegriffenen Weltzuständen bezieht sich nur auf

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Noch etwas anderes verdeutlicht den Hang des nomischen Determinismus zu Ewigkeitsvorstellungen: Da logische Notwendigkeit nicht auf eine Richtung der Zeit festgelegt ist, determiniert jeder zukünftige Weltzustand den gegenwärtigen und auch alle vergangenen! Buchheim – freilich als Verteidiger der Freiheit – dazu: Also von vergangenen Weltzuständen würden meine zukünftigen Handlungen durch jene Gesetze ebenso festgelegt, wie von meinen zukünftigen Handlungsresultaten gemäß derselben Gesetze die gesamte vergangene Welt determiniert wäre. Es ist nicht zu erkennen, wie man die logischen Beziehungen, die der Determinismus allein aufbietet, auf eine zeitliche Richtung festlegen kann. Denn es gibt im deterministischen System keine Zeit, in der das eine nicht mehr der Fall, das andere aber noch nicht ist, sondern alles ist zu seiner Zeit so, wie es ist, immer der Fall. […] So könnte man gewissermaßen teleologisch argumentieren, dass die fernste Zukunft unseres Daseins oder gar die weitgreifendste Absicht eines Weltlenkers über geeignete Naturgesetze die Vergangenheit des Universums festlege, und man würde mit gleichem Recht dieser Meinung sein wie der anderen, dass wir die nächste, uns frei vorkommende Tat nur deshalb unternehmen, weil wir aus tiefster Vergangenheit auf sie festgelegt waren. Dass wir sie und keine andere unternehmen, steht zwar fest für einen Deterministen jeder Art, aber nicht, dass wir sie, wenn wir sie tun, mit einer die Freiheit ausschließenden Notwendigkeit tun, so dass sie unausweichlich gewesen wäre, bevor sie begonnen war.123

Neben den ,Ewigkeitsanforderungen‘ an die Naturgesetze, die in Luthers De servo arbitrio wohl mit dem Begriff der göttlichen Allwissenheit korrelieren müssten, verweist Buchheim noch auf ein weiteres Implikat für jenes Verständnis der Gesetze, das ich als Machtanforderung bezeichnen will. Buchheim macht bei den physiko-kausalen Deterministen die besondere Naturgesetzauffassung aus, „dass Naturgesetze reale Größen oder Universalien innerhalb des zeitlichen Verlaufs der Geschehnisse selbst seien, so dass sie diesen Verlauf als solchen regieren oder alternativlos in nur eine bestimmte Richtung lenken können.“124 Dieser „gouvernementalen Interpretation“ hält er dann seinerseits die eher vorherrschende „nominalistische“ oder „empirische“ Auffassung entgegen.125 „Die Naturgesetze beschreiben, gruppieren und erklären die Dinge wissenschaftlich, aber sie lenken, regieren oder schränken sie nicht ein.“126 Demnach beinhaltet die Überzeugung, Naturgesetze lenkten den Weltverlauf durch die Zeit hindurch, die implizite Überzeugung, die Naturgesetze seien mehr als eine wissenschaftliche Beschrei-

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das vorausgesetzte Gesamtsystem, von dem jeder Teilsachverhalt trivialer Weise impliziert wird, niemals aber auf die Statur des einzelnen Verlaufs, in Bezug auf den Notwendigkeit behauptet werden sollte.“ (Buchheim, Kompatibilismus, 42). Buchheim, Kompatibilismus, 48. Buchheim, Kompatibilismus, 46. Vgl. auch Klein, Willensfreiheit, 147 f. Buchheim, Kompatibilismus, 46.

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bung, hätten nämlich die Macht, Ereignisse von sich aus zu bestimmen. Während Buchheim darauf abhebt, dass die „empiristische Lesart“ von Naturgesetzen überhaupt keine freiheitsbeschränkende Notwendigkeit mit sich führt, wird der sich auf Luther berufende Theologe stärker auf ein differenziertes Notwendigkeitsverständnis hinweisen müssen. Buchheims Argumentation läuft darauf hinaus, dass Naturgesetze den Ereignissen – und den Handlungen – keine Notwendigkeit auferlegen können, weil eventuelle von der Regel abweichende Ereignisse diese Naturgesetze nicht brechen, sondern lediglich falsifizieren würden. Die Ereignisse haben sich nicht an Gesetze zu halten; die Naturgesetze müssen sich an den Ereignissen bewahrheiten. Das ist im Hinblick auf das Verständnis der Naturgesetze ein starkes Argument. Als Theologe, dem ein auf der Handlungsmacht Gottes fußendes Determinismuskonzept vorschwebt, der also eine gouvernmentale Weltlenkung durchaus vertritt, könnte man andererseits betonen: Selbst wenn man eine lenkende Kraft im Weltverlauf annimmt – Gottes Allmacht oder die Lenkungsmacht der Naturgesetze –, sagt man damit keineswegs, dass die dadurch begründete Notwendigkeit eine den Menschen zwingende Notwendigkeit sein muss. Gegenüber Buchheims Ablehnung jeder Unvermeidlichkeit – in der er grundsätzlich einen Anschlag auf die menschliche Selbstbestimmung sehen würde, da sie Möglichkeiten generell ausschließt – könnte man also auch festhalten an der Unterscheidung zwischen einer Notwendigkeit, die sich als Zwang über Handlungssubjekte auswirkt (necessitas coactionis), und einer Notwendigkeit, die sich mit und durch Handlungssubjekte durchsetzt (necessitas immutabilis). Wer also einen naturkausalistischen Determinismus vertreten wollte, könnte auch sagen: Reine naturgesetzliche Faktizität beinhaltet nicht notwendig die Applikation von Zwang. Dass das Ereignis, welches man gängigerweise als Entscheidung beschreiben würde, womöglich auch einer naturgesetzlichen Beschreibung zugänglich ist, heißt hingegen nur, dass es kein ,Wunder‘ ist, dass es also nicht aus dem Rahmen der Naturgesetze fällt. Nun wird der Determinist betonen, dass er den zeitlichen Ablauf nie aus dem Determinationsverhältnis ausschließen wollte. Dass der Weltverlauf zeitlich eindirektional ist, lässt sich auch schlecht bestreiten. Selbst dann, wenn ein naturgesetzlicher Determinismus wahr ist, wenn also die Naturgesetze die genannten Anforderungen erfüllen und die Welt auf einen einzig möglichen Verlauf festlegen, wird der Determinist vielleicht außerdem hinzufügen, dass er nie behauptet habe, die Zukunft sei schon real, geschweige denn wirklich vorhersagbar. Natürlich ist die Zukunft noch nicht real; sie wird es aber und zwar aufgrund einer Gesetzlichkeit, die niemand überblicken kann. Denn niemand ist vollständig über den gegenwärtigen Weltzustand und die in ihr wirkenden Gesetze informiert, so dass eine Vorhersagbarkeit der Zukunft ausgeschlossen bleibt. Vorhersagbarkeit sei aber auch nie, so der Determinist weiter, in der Theorie des Determinismus beinhaltet. Multiple Handlungsmöglichkeiten blieben dann in der Tat ausgeschlossen. Für libertarische Ansprüche, nach denen alternative Handlungsmöglichkei-

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ten als Bedingung menschlicher Freiheit gelten, mag das zu wenig sein. Indes erachte ich den Hinweis auf die grundsätzliche Unvorhersagbarkeit zukünftiger Ereignisse trotz Annahme der Determinismusthese für ausschlaggebend für die Zuschreibung von Verantwortlichkeit. Damit beziehe ich erneut die Position, dass ein epistemischer Indeterminismus die Verantwortlichkeit von Personen für ihre Handlungen begründet.

2.2.1.4 Kompatibilistische Ansätze Wenn man nämlich die Existenz von Personen ins deterministische System aufnimmt, dann steht man erneut hinter dem Mann auf dem Göttinger Marktplatz. Verschwendet er also seine Zeit mit Abwägungen über seine nächste Handlung? Sollte man ihm vielleicht auf die Schulter klopfen und ihm sagen, dass seine Überlegungen am Ende doch nur auf eine einzige Handlung zulaufen? Als wüsste er das nicht selbst! Doch auf welche? „Natürlich auf diejenige, auf die du vom stärksten Motiv festgelegt bist. Hast du nie Schopenhauer gelesen?“ „Aber das zu entscheiden, ist ja das Ziel meiner Abwägungen. Ich spiele verschiedene Zukunftsszenarien in meinem Bewusstsein durch – und eines davon gefällt mir am besten. Das will ich.“ In diesen Überlegungen spielen wahrscheinlich etliche unbewusste Faktoren eine kausale Rolle. Doch das Bewusstsein anderer Faktoren – bestimmte Gefühle, Wünsche, Gründe – und das heißt vor allem: die Möglichkeit eigener Stellungnahme zu diesen Faktoren und zur fraglichen Handlung wird darum nicht unbedeutend. Will oder kann man die Kategorie der Gesamtperson127 inklusive personaler Handlungen nicht aufgeben, dann stellt die Behauptung des Determinismus überhaupt keinen veritablen Anschlag auf unsere Freiheit dar. Das ist kurz gefasst die These der meisten Kompatibilisten. Um geordnete sozietäre Strukturen zu garantieren, halte ich es gegen die gängigen Theorien zur Vereinbarkeit von Determinismus und Freiheit allerdings nicht für nötig, Freiheit und Determinismus überhaupt zu vereinbaren. Während nämlich die Kompatibilismus-Theorien zumeist Modifikationen auf Seiten des Freiheitsbegriffs vornehmen128, will ich lediglich die etwas schwächere These vertreten, dass zumindest die Praxis von Verantwortungszuschreibung haltbar bleibt trotz Gültigkeit des Determinismus. Da diese These weniger anspruchsvoll ist, als die kompatibilistischen Argumentationen zur Rettung der menschlichen Freiheit, könnte man die Verträglichkeitsthese von Determinismus und Ver127 „Wenn Hans spazieren geht und dabei nachdenkt, ist es nicht so, dass der Körper von Hans spazieren geht und sein Geist nachdenkt. Vielmehr ist es dieselbe Person, Hans, die sowohl spazieren geht als auch nachdenkt.“ (Beckermann, Determiniertheit, 21). 128 Anders: Thomas Buchheim, der einen libertarischen Freiheitsbegriff mit einem modifizierten Konzept von Determinismus vereinbart.

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antwortlichkeit „minimalen Kompatibilismus“ nennen. Ich meine dennoch, mit einigem Recht auf die Arbeiten kompatibilistischer Philosophen zurückgreifen zu können, da diese freilich mit der Freiheit auch immer die Verantwortlichkeit menschlicher Handlungen zu sichern bestrebt sind. Als ein gemeinsames Argument der verschiedenen kompatibilistischen Theorien erkenne ich die Auffassung, dass auch unter Behauptung eines deterministischen Weltablaufs, personale Handlungen unterscheidbar sein müssen von Ereignissen oder Prozessen. Dabei muss keineswegs bestritten werden – ja, es ist für die Zurechenbarkeit von Handlungen im Gegenteil unabdingbar –, dass auch Handlungen in bestimmter Weise determiniert sind. Die Kriterien zur Unterscheidung von Handlungen und Ereignissen werden zwar unterschiedlich benannt, laufen aber m. E. grob auf einer Linie zusammen. So hebt Michael Pauen etwa auf „innere Merkmale“129 einer Person, Thomas Buchheim dagegen auf „biographische Zustände“130 von lebendigen Individuen und Harry G. Frankfurt auf das Konzept der Identifikation mit dem eigenen Willen ab. Die Argumentation läuft dabei jeweils darauf hinaus, der Person als ganzer Zustände oder Eigenschaften zuzuschreiben, die durchaus kausal bewirkt und ihrerseits wiederum kausal wirksam im Hinblick auf Handlungen sind, die sich aber von äußeren Umständen oder den Zuständen lebloser Dinge signifikant unterscheiden. Wo mit diesen Begriffen operiert wird, wird die Streitfrage um Determinismus oder Indeterminismus zur unbedeutenden Hintergrundthematik. Denn dass eine Entscheidungssituation darauf hinläuft, dass am Ende eine und nur eine Handlung ausgeführt wird, ist im Grunde trivial.131 Auch, dass es für diese Handlung Gründe oder Ursachen geben muss, leuchtet völlig ein und ist mit einem deterministischen Weltbild durchaus vereinbar. Dass dieses besondere Ereignis im Weltverlauf aber als Handlung zu verstehen ist, erfordert eben, die Ursachen für die Handlung nicht in Teilprozessen von Körperteilen oder äußeren Umständen zu suchen, sondern – gleichsam in gröberer Darstellungsauflösung132 – im Hinblick auf die gesamte Person nach Handlungsursachen zu fragen. So erscheint doch plausibel, dass eine bestimmte Veränderung im Zustand der Welt durchaus 129 S.u. 2.2.1.4.1. 130 S.u. 2.2.1.4.2. Vgl. z. B. Buchheim, Kompatibilismus, 57. 131 „Niemand bestreitet, daß am Ende der Tage alles irgendwie gekommen, also tatsächlich geworden ist. Also muß wohl auch die Entscheidung eines Menschen irgendwie herbeigeführt und zustande gekommen sein. Singer sagt deshalb mit vollem Recht, daß hierfür höchst ,unterschiedliche Variablen und die Art ihrer Verhandlung untrennbar zusammenwirken und das Ergebnis festlegen‘ – d. h. ,determinieren‘. Der Streit geht aber vielmehr darum, aufgrund wovon es zu der Festlegung des Ergebnisses kommt. Wenn aufgrund eines Könnens der betreffenden Person, oder wenn aufgrund des Gedankens, daß es schön wäre, dies oder jenes zu tun, dann offenbar aufgrund von etwas, das nicht in bloßer Tatsächlichkeit besteht.“ (Buchheim, Wer kann, 160). 132 „Die kausale Determination von bestimmten Prozessen ist also stets feiner gekörnt als die Rede von Möglichkeiten und Fähigkeiten des Handelns es jemals sein könnte.“ (Buchheim, Kompatibilismus, 53).

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durch eine entsprechende Handlung einer Person eintreten könnte, sofern der zukünftige Weltzustand nicht überdeterminiert ist. Warum also sollte die Person mit ihren Entscheidungen und Handlungen nicht selbst ein Glied der Kausalkette innerhalb des Weltverlaufs sein? Die Entscheidung für eine Tat hätte in diesem Fall durchaus vorausgehende Faktoren und freilich auch Konsequenzen. Aber sie wäre immer noch als Entscheidung Teil des zeitlichen Ereignisverlaufs. 2.2.1.4.1 Michael Pauens Minimalkonzeption von Freiheit Michael Pauens Minimalkonzeption für freie Handlungen greift – wie bereits erwähnt – auf innere Merkmale von Personen zurück, die er genauer als „personale Präferenzen“ bezeichnet. Nach dieser Konzeption erfüllen Handlungen dann das Postulat der Selbstbestimmung – sind also frei –, wenn sie einerseits das Autonomieprinzip, andererseits das Urheberprinzip erfüllen. D.h., dass Handlungen einerseits nicht erzwungen sein oder sonst irgendwie ausschließlich von externen Faktoren abhängen dürfen, damit sie frei genannt werden können (Autonomieprinzip); und dass sie andererseits außerdem eine robuste explanatorische Verbindung zum Handelnden und etwa dessen Intentionen aufweisen müssen (Urheberprinzip). Das Urheberprinzip verlangt also, dass es sich auf p zurückführen oder mit Bezug auf p erklären lässt, dass p in der Situation s die Handlung x statt der Handlung y vollzogen hat. Wenn ich also p und s kenne, dann verstehe ich, warum p x und nicht y getan hat.133

So wird wiederum deutlich, dass Selbstbestimmung gewisse Mindestanforderungen an das ,Selbst‘ beinhaltet, um beiden Prinzipien gerecht zu werden, nämlich personale Fähigkeiten134 und besagte personale Präferenzen.135 133 Pauen, Freiheit, 85. Vgl. außerdem: Michael Pauen, Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, Frankfurt a.M. 2004. 134 Personale Fähigkeiten müssen unterschiedslos jeder Person, die wir für frei erklären wollen, zukommen. Die Minimalanforderungen einer möglicherweise freien Person sind nach Pauen Rationalität und Willensstärke. „Dies bedeutet erstens, dass sie die Konsequenzen ihres Tuns abschätzen können muss, zum zweiten muss sie in der Lage sein, vor diesem Hintergrund konkurrierende Präferenzen gegeneinander abzuwägen. Hierzu dürfte zumindest eine schwache Form von Rationalität notwendig sein. Drittens muss die Person auch die als optimal beurteilte Handlungsoption realisieren können, hierzu gehört insbesondere Willensstärke.“ (Pauen, Freiheit, 87). Allein rationale Akteure sind demnach potentiell frei. 135 Personale Präferenzen zeichnen jede Person individuell aus. Der kompatibilistische Vorteil von personalen Präferenzen liegt darin, dass ihre Entstehung nicht unter die Urheberschaft der Person fallen muss und darum mit dem Determinismus verträglich sein kann. (Vgl. Pauen, Freiheit, 91). Personale Präferenzen sollten dennoch ihrerseits bestimmte Anforderungen erfüllen: Sie sollen nach Pauen zunächst relativ stabil sein. „Wir würden sicher niemandem eine für seine Persönlichkeit konstitutive Leidenschaft für italienische Opern zuschreiben, wenn er gerade zum ersten Mal eine Oper hört.“ (Pauen, Freiheit, 88). Und sie sollen mögliches Objekt personaler Reflexion sein. Pauen stellt drei denkbare Varianten vor : Demnach könnten

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Pauen kann so Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung (Autonomie und Urheberschaft) mit Determination vereinbaren: Denn einerseits erfordere eine Handlung stets den explanatorischen Rückbezug auf personale Präferenzen – sei also problemlos mit Determination vereinbar – und andererseits sei die Entstehung von personalen Präferenzen ebenfalls mit Determinismus kompatibel.136 Es wäre also unschwer vorstellbar, dass eine Person in einer determinierten Welt personale Präferenzen erlangt, deren Urheber sie dann freilich nicht selbst ist, die aber – da es nun ihre personalen Präferenzen sind – kausal handlungsbestimmend werden. Ich halte Pauens Darlegungen im Blick auf die Frage der Verantwortlichkeit für überaus hilfreich: Um eine Handlung überhaupt als Handlung zu verstehen, muss demnach nach Ursachen auf Seiten des Handelnden gefragt werden. Wenn es sich dann mit Bezug auf den Handelnden erklären lässt, dass er in einer Situation eine bestimmte Handlung vollzogen hat, dann ist die Zurechenbarkeit von Verantwortung m. E. gesichert. Pauen meint allerdings des Weiteren – und hier melde ich Zweifel an –, unter Bezugnahme auf innere Merkmale bei Geltung des Determinismus das Prinzip alternativer Handlungsmöglichkeiten aufrechterhalten zu können. Wie bereits angedeutet halte ich das Bestehen alternativer Möglichkeiten für entbehrlich – und sehe es bei Pauen auch nicht haltbar. Pauen zufolge darf nach dem Bestehen alternativer Möglichkeiten nur gefragt werden unter der Voraussetzung gleichbleibender externer Umstände, nicht aber gleichbleibender interner Umstände oder personaler Merkmale. Da einerseits die Veränderung externer Faktoren ganz offensichtlich neue Handlungsmöglichkeiten eröffne oder bereits bestehende ausschließe, müssten die äußeren Umstände konstant gedacht werden zur Erörterung, ob eine Person alternative Handlungsmöglichkeiten in einer bestimmten Situation hat.137 Da aber anpersonale Präferenzen z. B. auf guten Gründen basieren: die rationale Variante. „Wenn es also gute Gründe für eine Präferenz gibt, die ein Akteur faktisch besitzt, dann muss es sich dieser Auffassung zufolge auch um eine personale Präferenz handeln.“ (Pauen, Freiheit, 88). Oder aber sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie mögliche Gegenstände selbstbestimmter Entscheidungen sind: die liberale Variante. Das muss nicht heißen, dass es irgendwann zu einer faktischen Entscheidung gegen eine personale Präferenz kommen muss, sondern lediglich, dass „die fragliche Präferenz überhaupt willentlich korrigiert werden kann.“ (Pauen, Freiheit, 92). Dass Pauen hierbei innerhalb des personalen Selbstverhältnisses von Möglichkeiten ausgeht, spielt später eine nicht unwichtige Rolle für die Frage alternativer Handlungsmöglichkeiten. Drittens ist schließlich die identifikatorische Variante denkbar, nach der eine Person sich mit einer Präferenz identifizieren würde, wenn sie sie zum Gegenstand ihrer Überlegungen machte. „Gemessen an diesem Kriterium würde meine Leidenschaft für italienische Opern also auch dann als ein personales Merkmal zählen, wenn ich im Zweifelsfall keine Möglichkeit hätte, mich gegen das Merkmal zu entscheiden. Gefordert wird lediglich, dass ich dieses Merkmal bewusst akzeptieren würde, sofern ich mich zu einer Stellungnahme veranlasst sähe.“ (Pauen, Freiheit, 94). Pauen selbst optiert aus Gründen, die ich hier nicht näher darstellen will, für die liberale Variante. 136 Vgl. Pauen, Freiheit, 95. 137 „Diese Faktoren dürfen sich aus dem einfachen Grund nicht ändern, weil durch eine Verän-

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dererseits bei unveränderten inneren Umständen eine andere als die faktische Handlung gar nicht mehr der Person als Handlung zurechenbar sei, weil dadurch das Urheberprinzip verletzt werde, dürften eben nicht externe und interne Umstände gleichermaßen unveränderlich gedacht werden, wenn man nach alternativen Möglichkeiten frage.138 Die Frage nach alternativen Möglichkeiten erhält also ihre Emphase darauf, dass nach alternativen Handlungsmöglichkeiten gefragt wird und durch die Unterscheidung von inneren und äußeren Umständen wird das Prinzip alternativer Handlungsmöglichkeiten gleichbedeutend mit dem Autonomieprinzip. Das Autonomieprinzip wiederum ist zugleich rückgebunden an das Urheberprinzip. Denn eine Verletzung des Autonomieprinzips – eine Handlung ist vollständig von außen bestimmt – erfolgt nur bei gleichzeitiger Verletzung des Urheberprinzips – die Handlung steht in keiner Erklärungsbeziehung zu ihrem Urheber. So hängen alternative Handlungsmöglichkeiten in einer determinierten Welt an der Existenz innerer Merkmale oder personaler Präferenzen. Die Frage, ob eine Person in einer bestimmten Situation auch anders handeln kann, als sie es faktisch tut, stellt sich also derart, ob ihr verschiedene Möglichkeiten offen stehen abhängig von veränderten personalen Präferenzen. Wenn wir ernst nehmen, dass dieses Prinzip die Existenz alternativer Handlungen und nicht irgendwelcher zufällig zustande gekommener Ereignisse betrifft, dann muss die Handlung in der faktischen wie in der kontrafaktischen Bedingung mit Bezug auf die personalen Merkmale des Urhebers zu erklären sein. Es verbietet sich aber, das Prinzip so zu interpretieren, als müssten unter identischen internen und externen Bedingungen unterschiedliche Geschehnisse möglich sein. […] Da aber von unterschiedlichen Handlungen unter identischen externen Bedingungen nur die Rede sein kann, wenn sich die Präferenzen des Urhebers unterscheiden, kann das Prinzip nur so verstanden werden, dass es die Möglichkeit einer anderen Handlung fordert, vorausgesetzt, die personalen Merkmale des Urhebers hätten diese Handlung anstelle der faktisch vollzogenen motiviert.139

Pauen sieht darum in einer determinierten Welt das Prinzip alternativer Handlungsmöglichkeiten keineswegs bedroht. Das Problem, das ich an Pauens Minimalkonzeption ausmache, fußt nun allerdings auf ebenjener Unterscheidung von inneren und äußeren Faktoren. Denn eine Handlung in eine vollständig determinierte Welt einzustellen, ohne derung der externen Bedingungen alternative Möglichkeiten geschaffen oder ausgeschlossen werden, die völlig irrelevant für die Frage nach der Freiheit einer Handlung sind.“ (Pauen, Freiheit, 97). 138 „[W]enn wir es im faktischen Szenario mit einer Handlung zu tun haben, die dem Urheberprinzip entspricht, dann kann bei unveränderten internen Bedingungen, d. h. bei identischen personalen Präferenzen das Geschehen im kontrafaktischen Szenario nicht ebenfalls eine zuschreibungsfähige Handlung sein, die dem Urheberprinzip entspricht.“ (Pauen, Freiheit, 99 f). 139 Pauen, Freiheit, 100.

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dass sie vollständig extern determiniert sein müsste (Autonomieprinzip), setzt voraus, dass man objektiv zwischen inneren und äußeren Umständen unterscheiden kann: [W]enn wir ein bestimmtes Merkmal zu den internen Merkmalen einer Person zählen, dann schließen wir damit aus, dass es sich, gemessen an denselben Kriterien, um ein äußerliches Merkmal dieser Person handelt. […] Sollte es sich herausstellen, dass interne Merkmale dafür verantwortlich waren, dass eine Person p in Situation s die Handlung x statt der Handlung y vollzogen hat, dann kann man folglich nicht mehr behaupten, die Handlung sei vollständig extern determiniert – es sei denn, man verändert stillschweigend die Kriterien für die Unterscheidung zwischen internen und externen Kriterien. […] [W]enn man die Möglichkeit interner Kriterien abstreitet, dann streitet man damit auch die Möglichkeit einer Verständigung über das Subjekt freier bzw. unfreier Handlungen ab und damit letztlich auch die Möglichkeit einer Verständigung über den Freiheitsbegriff selbst.140

Das Bestehen alternativer Möglichkeiten hängt demnach ab vom streng exklusiven Verhältnis innerer und äußerer Umstände. Dieses Verhältnis muss aber angesichts möglicher unterschiedlicher Beschreibungsperspektiven nicht unbedingt exklusiv sein. Nur wenn man der Erklärungsbeziehung des Urheberprinzips – eine Handlung lässt sich nur durch innere Merkmale des Handelnden verstehen – ein quasi ontologisches Implikat – eine Handlung lässt sich nur durch innere Merkmale des Handelnden verstehen, weil innere Merkmale innere Merkmale sind und nichts anderes – hinzufügt, nur dann also bestehen in einer determinierten Welt alternative Handlungsmöglichkeiten.141 Wenn aber das Urheberprinzip als rein explanatorische Beziehung zwischen Tat und Täter besteht, dann braucht es ein objektives Kriterium zur Unterscheidung von inneren und äußeren Zuständen, andernfalls hier auch andere Erklärungen ihre Gültigkeit haben könnten, die ihrerseits auf „innere Merkmale“ als Teil der Erklärung verzichten. Die Thesen der Neurobiologie ließen sich etwa auch so verstehen, dass mentale Phänomene immer physische Korrelate haben. Meine Vorliebe für italienisches Essen könnte doch in der Tat ein neuronales Korrelat haben. Damit wäre die Beschreibung innerer Merkmale keineswegs überflüssig oder gar unzulässig; aber es gäbe ebenso gute Argumente, ein Ereignis – ein Mensch geht in ein italienisches Restaurant – als vollständig determiniert aufzufassen und dabei nicht auf innere Merkmale zurückzugreifen. Mit Pauen gilt dann gewiss, dass, wenn man die internen Kriterien in dieser Beschreibung aufgibt, vom personalen Subjekt der 140 Pauen, Freiheit, 102 f. 141 Das soll nicht heißen, dass Pauen innere Merkmale ihrerseits von ihrer Determiniertheit freistellt. Er rechnet sie nur in den Ablauf der Welt als determinierte Determinanten ein. Dann muss der Handelnde allerdings potentiell eigenen Einfluss auf seine faktisch bestehenden Präferenzen haben. Darum optiert Pauen für die liberale Variante des Selbstverhältnisses zu den eigenen Präferenzen.

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Handlung wie auch vom Freiheitsbegriff überhaupt keine Rede mehr sein kann. Eine weitere Überlegung lässt Pauens Vereinbarung von Determinismus und alternativen Möglichkeiten problematisch erscheinen, ohne auf den Wechsel der Beschreibungsebenen zu rekurrieren: Dazu nehme ich an, dass innere Merkmale wie personale Präferenzen objektiv von äußeren Umständen unterscheidbar sind. Sie müssten also nicht allein der fraglichen Person zugänglich sein, sondern können auch von anderen gewusst werden und dabei dennoch eindeutig von äußeren Faktoren unterschieden werden. Wenn aber die Determinismusthese nach Pauen besagt, „dass der Zustand der Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt t den Zustand der Welt zu jedem beliebigen späteren Zeitpunkt t’ vollständig festlegt“142, dann ist nicht einzusehen, wie die inneren Merkmale einer Person aus der Beschreibung des Weltzustands auszuklammern wären. Soll die Kompatibilität von Determinismus und alternativen Möglichkeiten überprüft werden, dann gehören personale Präferenzen zum Weltzustand – und legen den künftigen Weltzustand eindeutig fest. Dass wiederum ein anderer Ausgangszustand – nämlich bei veränderten inneren Umständen – einen anderen Verlauf erzeugt, ist kein Beweis für das Bestehen alternativer Möglichkeiten zum Zeitpunkt t, sondern bestätigt vielmehr die Ablehnung alternativer Möglichkeiten. Pauen könnte darum einen Schritt zurückweichen und die Möglichkeit der Veränderung der personalen Präferenzen auf die Person selbst gründen.143 Doch ist die Veränderung der eigenen Präferenzen nicht wiederum eine Handlung? Dann bestehen alternative Handlungsmöglichkeiten – etwa in ein griechisches anstelle eines italienischen Restaurants zu gehen – in einer determinierten Welt nur unter der Bedingung, dass es in ihr alternative Handlungsmöglichkeiten – etwa meine Vorliebe für italienisches Essen zu ändern144 – gibt.145 142 Pauen, Freiheit, 82. 143 Das leistet die liberale Variante der personalen Präferenzen. Vgl. o. Anm. 135. 144 Womöglich ist neben meiner Vorliebe für die italienische Küche aber auch mein Interesse an abwechslungsreichem Genuss eine weitere personale Präferenz, die in diesem Falle handlungswirksam wird. Ich müsste dann meine Vorliebe für italienisches Essen nicht aufgeben, sondern könnte selbstbestimmt entscheiden, welche meiner Präferenzen in diesem konkreten Fall handlungswirksam werden soll. Doch auch diese Möglichkeit der Abwägung konkurrierender Präferenzen – Pauen fordert daher ein Mindestmaß an Rationalität (Vgl. o. Anm. 134.) – läuft auf eine „Handlung“ an meinen Präferenzen hinaus. 145 Die Regressgefahr angesichts der „liberalen Variante“ (Präferenzen sind personale Präferenzen, sofern sie möglicher Gegenstand selbstbestimmter Entscheidungen sind.) versucht Pauen zu bannen: „Wichtig ist zudem, dass die Feststellung, ob eine bestimmte Präferenz möglicher Gegenstand einer selbstbestimmten Entscheidung ist, keinen Rückgriff auf die übrigen Präferenzen einer Person voraussetzt – dies würde aus nahe liegenden Gründen sofort in einen Regress führen, da sich ja für die übrigen Präferenzen das gleiche Problem stellt. Tatsächlich steht hier jedoch nur zur Diskussion, ob die Person die fragliche Präferenz korrigieren könnte, gesetzt den Fall, sie hätte Präferenzen, die eine solche Korrektur nahe legen würden. Welche Präferenzen das sein mögen, spielt in diesem Zusammenhang überhaupt keine Rolle. Gefragt wird hier also nicht, ob und, wenn ja, unter welchen Umständen die fragliche Person ihre

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Ich bestreite keinesfalls, dass, wenn man die Möglichkeit „innerer Umstände“ verneint, von Handlungen in der Tat keine Rede mehr sein dürfte und dass wir nur noch Ereignisse in der Welt beschreiben könnten. Ich setze hinzu, dass das keineswegs eine wünschenswerte Beschreibung der Welt wäre, und dass wir zur Beschreibung spezifisch menschlichen Verhaltens mit den Kategorien „Person“ und „Handlung“ die bestmögliche Erklärung bereithalten. In dieser Hinsicht sind die von Pauen vorgebrachten Überlegungen unbedingt richtig: Wer von Handlungen und also von bewussten Personen redet, sollte es nicht unterlassen, ebenfalls von personalen Merkmalen oder auch Intentionen zu reden, die eine Handlung ursächlich erklären. Das Urheberprinzip hat in dieser Perspektive Bestand und mit ihm die Zuschreibung von Verantwortung. Worauf ich lediglich hinaus will, ist, dass das Prinzip alternativer Möglichkeiten bei Geltung des Determinismus für Pauen auf tönernen Füßen steht – nämlich entweder auf den Füßen eines objektiv exklusiven Verständnisses von „innen“ und „außen“; oder auf der Ausklammerung bestimmter Merkmale aus der Weltzustandsbeschreibung, was in der vorgebrachten Determinismusformulierung unzulässig erscheint. So scheint mir das Prinzip alternativer Handlungsmöglichkeiten auch bei Pauen vielmehr auf einem epistemischen Indeterminismus zu gründen, der seinerseits auf einem epistemischen Dualismus fußt, weil in der auf handelnde Personen zurückgreifenden Beschreibungsperspektive – und in jeder bisher naturwissenschaftlich möglichen – innere Merkmale (personale Präferenzen) nicht eindeutig einer anderen, nämlich äußerlichen oder gar naturalistischen Beschreibung zugänglich sind.146 Ist es also womöglich der epistemische Indeterminismus, der Autonomie ermöglicht und erfordert? Denn es ist doch die Ungewissheit, was

Präferenz korrigieren wird; entscheidend ist allein, ob die fragliche Präferenz überhaupt willentlich korrigiert werden kann.“ (Pauen, Freiheit, 92). Mein Problem ist aber noch etwas anders gelagert: Alternative Handlungsmöglichkeiten ad extra werden hier nur gestattet bei Bestehen von Möglichkeiten zu willentlichen Korrekturen – also zu Handlungen ad intra. 146 Pauen fordert dagegen zur Rettung der Freiheit umgekehrt die objektive und theoretisch fundierte Unterscheidung von inneren und äußeren Merkmalen. „Weil wir also im Falle freier Handlungen aus der Perspektive der ersten Person keine externen Einschränkungen erfahren, so folgern wir, dass solche Einschränkungen auch aus der Perspektive der dritten Person nicht erkennbar sein dürfen, und weil wir aus der Perspektive der ersten Person vor dem Abschluss des Entscheidungsprozesses nicht erkennen können, wie die endgültige Handlung aussehen wird, nehmen wir an, dass eine derartige Prognose auch aus der Perspektive der dritten Person nicht gemacht werden kann. Wollen wir diesen Fehler vermeiden, dann muss die Unterscheidung zwischen internen und externen Merkmalen, die wir mehr oder minder automatisch machen, solange wir die Perspektive der ersten Person einnehmen, in die Perspektive der dritten Person übertragen und objektiviert werden. Wir müssen also auf der theoretischen Ebene eine Unterscheidung explizit anerkennen, die wir automatisch und unbewusst machen, solange wir die Perspektive der ersten Person einnehmen. Dies bedeutet gleichzeitig, dass eine Person, die eine Kenntnis aller relevanten internen und externen Bedingungen hätte, die Handlung voraussagen könnte, ohne dass sich daraus Einwände gegen die Freiheit der Handlung ergeben müssen.“ (Pauen, Freiheit, 110).

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wir ,am Ende tun werden‘, die uns abverlangt, uns zu unseren – nach unserem Kenntnisstand bestehenden – Möglichkeiten zu verhalten. 2.2.1.4.2 Thomas Buchheim: „Können“ als zukunftsorientierte Eigenschaft identisch bleibender Individuen „Wer kann, der kann auch anders“ überschreibt Thomas Buchheim einen ursprünglich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienenen Artikel und bringt in einem ersten Punkt gegen die Schlussfolgerungen der neurobiologischen Deterministen in Anschlag, dass mit dem Begriff des „Könnens“ immer eine zeitliche Ausdehnung oder durative Strecke im Leben von Personen impliziert ist, die in der neurobiologischen Beschreibung seiner Meinung nach ausgeblendet wird. Da Können stets ein irreales oder zukünftiges Moment beinhalte und außerdem grundsätzlich eine Wurzel im Vergangenen habe, weil wir z. B. nur können, was wir in der Vergangenheit auf irgendeine Weise erlernt haben, darum sei jedes Können „also in doppelter Hinsicht eine virtuelle, weit durch die Zeiten eines Lebens ausgestreckte Größe; etwas uns selbst und gegenseitig nur Zugebilligtes oder Zugeschriebenes, das nicht im Gegenwartscharakter neuronaler Muster allein zu Hause ist.“147 Buchheim zielt im Weiteren darauf ab, dass es nicht die Wahrheit oder Unwahrheit der Determinismusthese sei, wodurch Freiheit entweder bedroht oder gesichert würde, sondern vielmehr die Art der Determination. Ganz ähnlich wie bei Michael Pauen soll menschliche Freiheit mit Determination vereinbar werden, indem auf die besondere Art der wirksamen Determinanten rekurriert wird – bei Buchheim auf die spezifisch intellektuell-rationale Festlegung im Falle von personalen Handlungen.148 Wichtig an dieser Stelle erscheint mir aber der Gedanke, dass mit dem Anhaften eines zukünftigirrealen Momentes am Begriff des Könnens ein Raum für die Zuschreibung von Verantwortlichkeit gehalten wird – und zwar auch dann, wenn man dem Determinismus in der Weise folgt, dass man die Existenz alternativer Möglichkeiten ablehnt. Obwohl Thomas Buchheim dagegen in seinem Aufsatz „Libertarischer Kompatibilismus“ am Bestehen alternativer Möglichkeiten trotz Determinismusthese festhält, um freie Entscheidungen daraus ableiten zu können149 – was aus meiner Sicht überflüssig ist – erscheint mir nichts147 Buchheim, Wer kann, 159. 148 Vgl. Buchheim, Wer kann, 163. 149 Indem Buchheim ein mögliches Determinismusverständnis vorstellt, das keine Notwendigkeit im Sinne eindeutiger Festlegung auf ein einziges Ereignis mit sich führt, kann er einerseits freie Entscheidungen als Glieder innerhalb der Determination sichern und außerdem selbstinitiativspontanes Verhalten als Freiheitskriterium verteidigen. Mir erscheint diese Vereinbarung von Determinismus und PAP bisweilen in scholastischen Bahnen zu verlaufen. So könnte es z. B. „Gesetze geben, die so kompliziert sind, dass sie für jeden Einzelfall eine besondere Anleitung geben, wie er in den kausalen Zusammenhang mit allen anderen Fällen verwoben und gesetzesentsprechend zu bringen sei. Die Weltformel gewissermaßen, die unendlich kompliziert in

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destotrotz sein Hinweis auf die zeitliche Ausdehnung von Handlungsplanung und Handlungsvollzug als beachtenswert. Dazu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach Buchheim ein Lebewesen sich darin etwa von leblosen Gegenständen unterscheidet, dass es Veränderungen in der Zeit durchlaufen kann und dabei dasselbe Individuum bleibt. So grenzt sich diese Gesamtperspektive auf ein lebendiges Gesamtindividuum auch von der Betrachtung seiner einzelnen (Körper-)Teile ab und zielt dabei zugleich auf die bleibende Identität des Individuums. Lebendige Individuen haben nach Buchheim „biographische Zustände“: Biographische Zustände sind also, wie der Ausdruck sagt, Zustände oder charakteristische Phasen des Lebens oder Lebendigseins eines individuellen Dinges, nicht Zustände von bestimmten instantanten Körperteilen in oder an ihm. Durch sie setzt das Individuum seine Existenz als ein solches und ganzes fort (während der Meteorit durch die in ihm verursachten Prozesse seine Identität änderte und kaputt ging). Derartige Fortsetzungen des Lebens kommen aus eben diesem Grund nur dem Individuum insgesamt zu, nicht seinen Teilen […] und sie sind Leistungen oder Operationen von ihm, nicht Prozesse an ihm. Prozessen unterliegt immer genau derjenige individuelle Gegenstand, der durch ihn in aktuelle Mitleidenschaft gezogen wird; während Operationen die eines Individuums sind, das streng dasselbe vor dem Beginn, bei der Ausführung und nach Abschluss der Operation ist.150

Ich will nicht weiter auf Buchheims Konzept von Selbstbestimmung und Freiheit eingehen. Wenn ich recht sehe, hat es einige Ähnlichkeiten zu Pauens Minimalkonzept von Freiheit, auch wenn es insgesamt dieses Konzept im Hinblick auf den Freiheitsbegriff noch zu übertreffen scheint etwa darin, dass die Fortsetzung von biografischem Zustand zu biografischem Zustand eine anfangssetzende Operation des Lebewesens sei.151 Woran mein Interesse an unendlich viele Subformeln zerfällt, die wiederum solche Subformeln besitzen, bis dahin, dass die Geschichte eines jeden Dinges in dem obersten Gesetz berücksichtigt wird, das sie alle unverbrüchlich und ohne Ausnahme regiert.“ (Buchheim, Kompatibilismus, 42 f). – Im Grunde eine moderne Versöhnung von menschlicher Freiheit und Allwirksamkeit. 150 Buchheim, Kompatibilismus, 57. 151 In Buchheims Argumentation steht die Verteidigung alternativer Möglichkeiten zwar konzeptionell am Anfang, während Pauen alternative Handlungsmöglichkeiten als Konsequenz von Autonomie- und Urheberprinzip darstellt. Daraus ergibt sich bei Buchheim freilich, dass initiatives Verhalten und Handlungssteuerung in besonderem Maße dem Handelnden zukommen, weil Buchheim die Modalität der Notwendigkeit aus dem Determinismusbegriff tilgt. Dennoch kann Buchheim mit seinem Blick auf ein identisch bleibendes Individuum und dessen wechselnde biographische Zustände initiatives Verhalten aufgrund von Selbsteinwirkung in Form einer gestuften Kausalität vertreten: Einerseits kann damit das Verhalten dem Individuum als Ganzem ursächlich zugeschrieben werden und andererseits wird diese Gesamtursächlichkeit des handelnden Individuums aus einem ihm eigenen „vorangehenden inneren Zustand“ (Buchheim, Kompatibilismus, 59.) erklärbar. So sichert Buchheim wie Pauen sowohl Urheber- als auch Autonomieprinzip durch die Konzentration auf innere Zustände, die in spezifischer Weise die Zustände eines lebendigen Individuums sind. Beide Autoren streben damit eine Kombination von Ereigniskausalität und Akteurskausalität an: Das Entstehen und

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dieser Stelle hängt, ist, dass sich bewusste Handlungsentscheidungen aus dem Zusammenspiel von in besonderer Weise eigenen gegenwärtigen Zuständen und dem Vorgriff auf Zukunftsszenarien als antizipierte eigene Zustände ergeben.152 So eröffnet erst die bewusst-reflexive Selbstwahrnehmung die Möglichkeit, sich selbst zu einer zukünftigen Tat als einer möglichen zu positionieren und das heißt letztlich: die Tat als eigene zu bejahen.153 Eine solche Selbstpositionierung zu einer noch nicht vollzogenen Handlung müsste dabei Vergangenes und Gegenwärtiges ebenso wie Zukünftiges als autobiographische Daten umfassen: Welche Erfahrungen habe ich bisher gemacht? Wie bin ich derzeitig – welche Möglichkeiten habe ich? Wie werde ich nach der Tat sein? Der Zukunftscharakter bestimmter Vorstellungen wird dagegen von Singer – soweit ich sehe – grundsätzlich ausgeblendet, so dass Entscheidungen ihm zufolge allein beeinflusst werden durch aktuelle Signale und gespeichertes Wissen.154 Freilich sind zum Zeitpunkt der Abwägung auch diese Zukunftsszenarien als Antizipation vergegenwärtigt – und gewiss gibt es dafür auch gegenwärtige neuronale Korrelate.155 Jedoch kann die bewusste Antizipation der Zukunft durch ein endliches Subjekt – und auch die dafür erforderlichen Hirnzustände – niemals eindeutig sein, weil die Zukunft noch nicht ist. Jemand, der über den gesamten Weltzustand vollständig informiert wäre und

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Haben von „biographischen Zuständen“ oder „personalen Präferenzen“ versöhnt Ereigniskausalität mit der Existenz von handelnden Urhebern; das Handeln aufgrund solcher inneren Zustände rechtfertigt die Rede von Akteurskausalität. Gegen einen Perspektivwechsel zwischen Ereignis- und Akteurskausalität wendet sich: Habermas, Sprachspiel, 283. „Der antizipierte mögliche Zustand muss innerhalb einer Bandbreite von Veränderlichkeit desselben Individuums liegen, d. h. kann nur relativ auf dieses und seine kausale Konstitution formuliert werden. Dieselbe Relativität der Möglichkeit ist zudem Element ihres Bestehens; das bedeutet, eine Möglichkeit des Handelns besteht gar nicht unabhängig von dieser Relation.“ (Buchheim, Kompatibilismus, 51). „Etwas bewußt tun heißt, es statt und im Unterschied zu seinem Gegenteil zu tun; etwas bejahter Weise tun darüber hinaus, sich selbst zu diesem Tun zu verstehen.“ (Buchheim, Wer kann, 162). „Um zu entscheiden, stützen sie [sc. Gehirne] sich auf eine ungemein große Zahl von Variablen: auf die aktuell verfügbaren Signale aus der Umwelt und dem Körper sowie auf das gesamte gespeicherte Wissen, zu dem emotionale und motivationale Bewertungen zählen.“ (Singer, Verschaltungen, 56). Übrigens hebt auch Arthur Schopenhauer den futurischen Charakter von Motiven kaum ausdrücklich hervor. Dieser klingt zwar an in Schopenhauers Metaphorik, dass Motive den Willen ziehen. (Vgl. z. B. Schopenhauer, Freiheit, 562). Aber, um Motive als Ursachen darzustellen, bevorzugt auch Schopenhauer eine zeitlich eindeutige Richtung: „Wo nun aber das Bewußtsein ein vernünftiges, also ein der nichtanschauenden Erkenntnis, d. h. der Begriffe und Gedanken fähiges ist, da werden die Motive von der Gegenwart und realen Umgebung ganz unabhängig und bleiben dadurch dem Zuschauer verborgen. Denn sie sind jetzt bloße Gedanken, die der Mensch in seinem Kopfe herumträgt, deren Entstehung jedoch außerhalb desselben, oft sogar weit entfernt liegt, nämlich bald in der eigenen Erfahrung vergangener Jahre, bald in fremder Überlieferung durch Worte und Schrift selbst aus den fernsten Zeiten, jedoch so, daß ihr Ursprung immer real und objektiv ist […].“ (Schopenhauer, Freiheit, 559 f).

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der zusätzlich alle geltenden Gesetze kennte, wäre gewiss in der Lage eine eindeutige Vorhersage zu treffen und wäre damit auch allen Abwägungen überhoben. Das erforderliche umfassende Weltwissen würde dann im Übrigen auch die vollständige Selbstdurchsichtigkeit der handelnden Person beinhalten. Umgekehrt bezieht sich der epistemische Indeterminismus also, wenn er auf der mangelnden Kenntnis einer umfassenden Weltbeschreibung und der in ihr geltenden Gesetze fußt, auch auf ein gewisses Maß an Selbstentzogenheit und begründet gerade so Verantwortlichkeit. Die mangelnde Kenntnis aller Determinanten innerhalb des Weltverlaufs nötigt das endliche Subjekt zu Abwägungen vor Handlungen, denn vor einer Handlung ist sich die Person verschiedener Handlungsoptionen bewusst, von denen ihr jede nach ihrem tatsächlichen Kenntnisstand widerspruchsfrei möglich ist. D.h., dass selbst dann, wenn alternative Möglichkeiten durch den Determinismus ausgeschlossen sind, eine bewusste Entscheidung de facto immer beinhaltet, eine Handlung statt einer anderen zu vollziehen. Die Frage, was man selbst als nächstes tun soll, wird nicht überflüssig allein durch die Überzeugung, ein Laplacescher Dämon – oder Gott – wüsste bereits, was als nächstes getan werde.156 Das Prinzip realer alternativer Möglichkeiten ist darum m. E. für die Verantwortlichkeit einer Person entbehrlich, solange außerdem die determinismusverträgliche Auffassung beibehalten wird, dass bestimmte Ereignisse in der kausalen Verkettung des Weltverlaufs als Handlungen beschrieben werden können. 2.2.1.4.3 Harry G. Frankfurt: „Caring“ und die Bedeutsamkeit der Liebe157 Die wohl bekannteste Verantwortlichkeitstheorie, in der das Prinzip alternativer Möglichkeiten ausdrücklich bestritten wird, ist diejenige des US-amerikanischen Philosophen Harry Gordon Frankfurt, dessen frühe Aufsätze bereits zu modernen Klassikern der Freiheitsphilosophie geworden sind. Seine Bestreitung der Notwendigkeit alternativer Möglichkeiten für das Bestehen moralischer Verantwortlichkeit158 wie auch seine Grundlegung des Personenbegriffs und der Willensfreiheit durch die hierarchisch gestufte Reflexivität von Wünschen sind in einem breiten Rezeptionsstrom umfassend diskutiert worden.

156 Vgl. auch Klein, Willensfreiheit, 250 f und die dort angeführte Literatur. 157 Wichtige Anregungen zu diesem Abschnitt verdanke ich Herrn stud. theol. et phil. Oskar Hoffmann. 158 Vgl. Frankfurt, Possibilities, 829 – 839. Ich verwende für die folgenden Frankfurt-Aufsätze die deutschen Übersetzungen in: Harry G. Frankfurt, Freiheit und Selbstbestimmung. Ausgewählte Texte, hrsg. von Monika Betzler u. Barbara Guckes, Berlin 2001. Hier: Handlungsmöglichkeiten, 53 – 64.

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(a) Verantwortlichkeit und alternative Möglichkeiten

Was die Bestreitung des Prinzips alternativer Möglichkeiten angeht, so kann ich mich kurz fassen159 : Im Großen und Ganzen halte ich es für unmaßgeblich, ob die Beispiele, mit denen Frankfurt die Existenz alternativer Möglichkeiten für gegenstandslos in Verantwortungsfragen erklärt, PAP tatsächlich verneinen, da ich die Pointe von Frankfurts Beiträgen an anderer Stelle ausmache. Eine Schwäche der Frankfurt-Beispiele ist darin zu sehen, dass Frankfurts Szenarien grundsätzlich darauf beruhen, dass es äußere Faktoren sind, die alternative Handlungen ausschließen. Frankfurt entwirft also zunächst Szenarien, in denen eine Nötigung zu einer bestimmten Handlungsweise ausgeübt wird. So ist es in der Regel der skrupellose Neurologe Mr. Black, der dem armen Mr. Jones durch das Ergreifen bestimmter Maßnahmen keine Wahl der Handlungen lässt. Black setzt freilich seine Maßnahmen keineswegs sofort um, denn er zieht es vor, „ein unnötiges Offenlegen seiner Absichten zu vermeiden.“160 Solange Jones dann diejenige Entscheidung fällt, die auch von Black gewollt ist, greift letzterer zwar überhaupt nicht ein und Jones’ gilt als voll verantwortlich für seine Tat, zu der er nie eine Alternative hatte. Der Umstand jedoch, dass Mr. Black und seine Tricks unstrittigerweise Jones äußerlich sind und bleiben, hat verschiedene Konsequenzen. Erstens ist es grundsätzlich fraglich, ob die Handlung, die Jones begehen soll, überhaupt dieselbe ist, wenn er sie „aus sich heraus“ vollzieht, oder wenn das Eingreifen Blacks die Handlung kausal herbeigeführt hätte. Die Identität beider Ereignisse ließe sich also aufgrund ihrer unterschiedenen kausalen Vorgeschichten einfach bestreiten.161 Das hieße folglich, dass zwar der Effekt identisch sein mag, dass Jones aber durchaus alternative Möglichkeiten hatte: nämlich die Tat von sich aus zu begehen, oder zur Begehung der Tat genötigt zu werden. Selbst wenn Black die Erwägungen von Jones schon zu einem derart frühen Zeitpunkt beeinflussen könnte, dass Jones’ Erwägungen zu einer einzigen, nämlich der von Black gewollten Handlung führten, wäre zu konstatieren, dass es in diesem Fall nicht an Jones lag, die fragliche Tat zu begehen. Zweitens macht der Umstand, dass Frankfurts Beispiele alternative Handlungen aufgrund externer Umstände ausschließen, die von Frankfurt behauptete Möglichkeit, Black einfach durch die Naturkräfte ersetzen zu können, problematisch. Denn zumindest ließe sich die eindeutige Determination einer Handlung auch so verstehen, dass die Handlung gleichsam ,durch Jones hindurch‘ eindeutig festgelegt wird, ohne überhaupt einen Fall von Nötigung zu implizieren. Würde man Black einfach durch den Determinismus ersetzen, so liefen die Frankfurt-Beispiele darauf hinaus, dass man unter Determinismus eine externe Zwangsbestimmung versteht, die alternative Handlungen 159 Eine umfängliche Diskussion der PAP-Probleme nach Frankfurt bietet Klein, Willensfreiheit, 226 – 253. 160 Frankfurt, Handlungsmöglichkeiten, 59. 161 Vgl. Klein, Willensfreiheit, 233 und die dort genannte Literatur.

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ausschließt unabhängig von der eigenen Entscheidung des Mr. Jones. Abhängig von der persönlichen Entscheidung ist nach Frankfurts Meinung eben nicht das Handlungsgeschehen selbst, das ja in jedem Falle festgelegt sein soll, sondern die Verantwortlichkeit für die Handlung.162 Das traditionelle Problem wird aber in der Regel nicht zwischen Determinismus und Handlungsfreiheit gesehen – als würde der Determinismus Handlungen unabhängig von menschlichen Entscheidungen festlegen –, sondern zwischen Determinismus und Willensfreiheit. Die Frage könnte also gegen Frankfurts Beispiele in der Tat lauten, ob Jones sich anders entscheiden könne, und ob daran seine Verantwortung hänge. Wenn dem so wäre – und m. E. lassen die Frankfurt-Szenarien diese Meinung zu – wäre PAP nach wie vor behauptet.163 Das Argument läuft dann zurück auf das erstgenannte: Man redet nicht von demselben Ereignis, wenn es aufgrund unterschiedlicher Ursachen stattfindet. Hätte Jones sich anders entschieden, so wäre die Tat im kontrafaktischen Fall nicht seine Handlung im eigentlichen Sinne. Damit ziehe ich mich keineswegs auf die Pauen-Variante zurück, nach der die Existenz innerer Faktoren die Freiheit gegenüber dem Determinismus absichert, weshalb innere Zustände objektiv von äußeren Zuständen getrennt werden müssten. Ich meine vielmehr auch hier, dass es auf die Beschreibungsebenen ankommt. Man kann sagen, dass Jones aus eigener Entscheidung eine Handlung begangen hat; man kann außerdem sagen, dass dies ein determiniertes Ereignis war. Wenn also die deterministische Festlegung auf ein einziges Ereignis in Kausalbegriffen beschrieben werden könnte und außerdem durch Jones’ Entscheidung geschähe, dann wäre das Ereignis tatsächlich dasselbe mit derselben kausalen Vorgeschichte, während die Beschreibungsebenen aber divergierten. Determinismus ist dann anders als Blacks mögliche Maßnahmen kein äußerliches Zwangsmittel. Wenn hingegen Blacks Intervention zu einem Ereignis führt, unterscheidet sich dieses von ersterem in seiner kausalen Vorgeschichte. Während ich also meine, dass Frankfurts Beispiele PAP nicht unbedingt widerlegen, so verfehlt die in der Rezeption vorherrschende Konzentration auf diese Beispiele m. E. insgesamt die Pointe der Frankfurt’schen Argumentation: Der Clou seiner Argumentation besteht vielmehr darin, dass der coun162 „Welche Handlung er [sc. Jones] vollzieht, liegt nicht in seiner Hand. Natürlich liegt es in einer Hinsicht in seiner Hand, ob er selbständig handelt oder als Resultat von Blacks Eingreifen. Das hängt davon ab, welche Handlung er selbst zu tun geneigt ist. Aber ob er letztlich selbständig handelt oder als Resultat von Blacks Eingreifen – er vollzieht dieselbe Handlung. Zu dem, was Black von ihm zu tun verlangt, hat er keine Alternative. Wenn er jedoch selbständig handelt, so ist seine moralische Verantwortung für sein Tun durch die Tatsache nicht beeinträchtigt, daß Black im Hintergrund mit finsteren Absichten auf der Lauer liegt, denn diese Absichten kommen zu keinem Zeitpunkt ins Spiel.“ (Frankfurt, Handlungsmöglichkeiten, 61). 163 Wie sich noch zeigen wird, lehnt Frankfurt auch Willensfreiheit als Bedingung für Verantwortlichkeit ab, solange feststeht, dass eine Person sich mit dem einen Willen, den sie hat, identifiziert. Indem er Verantwortlichkeit sowohl von Handlungs- als auch von Willensfreiheit loskoppelt, wird sein Konzept in der Tat gegenüber der Determinismusfrage neutral.

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terfactual intervener Black wirklich überflüssig ist, sobald festgehalten wird, dass Jones sich selbständig in bestimmter Weise entschieden und vollzogen hat.164 Darauf kommt es mir im Folgenden mit Betonung an: Dass es bei Frankfurt, auch wenn es womöglich bestreitbar ist, dass seine Beispiele PAP widerlegen, am Ende nur darauf ankommt, ob sich eine Handlung ereignet, weil ein Handelnder qua eigener Entscheidung in spezifischer Weise bei seiner Handlung dabei ist.165 Moralische Verantwortlichkeit hängt ihm zufolge daran, ob eine Person sich mit ihrem Willen identifiziert. Ist dies der Fall, so muss zu keinem früheren Zeitpunkt notwendig eine reale Handlungsalternative zur faktischen Handlung bestanden haben. Für Frankfurt könnte sogar massiver äußerer Zwang jedwede Alternative ausgeschlossen haben, ohne Verantwortlichkeit einzuschränken, solange die fragliche Handlung nicht wegen des Zwanges begangen wurde.166 Zwei Dinge scheinen mit der Bindung von moralischer Verantwortlichkeit an eigene Handlungsentscheidungen allerdings doch vorausgesetzt zu sein: Einerseits erfordert das Fällen einer handlungsrelevanten Entscheidung und damit die Übernahme von Verantwortung offensichtlich auch bei Frankfurt zumindest implizit die subjektive Entscheidung zwischen Alternativen.167 164 Vgl. Klein, Willensfreiheit, 230. Klein meint allerdings, dass das Alternativszenario erst dann unbedeutend werde, wenn klargestellt sei, dass PAP keine Bedingung für Verantwortlichkeit ist. Umgekehrt würde ich mit Barbara Guckes sagen, dass PAP als Bedingung verzichtbar wird, sobald Frankfurt eine Verantwortlichkeitstheorie vorlegt, die auch ohne Alternativszenarien befriedigt. Vgl. u. Anm. 165. 165 „Die Tatsache, daß sie [sc. die Person] nicht anders hätte handeln können, liefert offensichtlich keinen Grund für die Annahme, daß sie vielleicht anders gehandelt hätte, falls sie dazu in der Lage gewesen wäre. Wenn eine Tatsache in dieser Weise für das Problem irrelevant ist, Rechenschaft über die Handlung einer Person abzulegen, scheint es völlig grundlos zu sein, ihr irgendein Gewicht bei der Einschätzung ihrer moralischen Verantwortung beizumessen. Warum sollte die Tatsache beim Versuch ihrer moralischen Einschätzung erwogen werden, wenn sie weder zum Verständnis dessen irgend etwas beiträgt, was die Person veranlaßte, so zu handeln, wie sie es getan hat, noch dazu, was sie unter anderen Umständen hätte getan haben können?“ (Frankfurt, Handlungsmöglichkeiten, 62). Auch Barbara Guckes sieht in ihrer Einleitung die Stichhaltigkeit der Frankfurt-Beispiele für nebensächlich an, solange Frankfurt „eine überzeugende Freiheitstheorie entwickelt, die auf diese Bedingung [sc. PAP] verzichtet. Frankfurt hat uns mit seinem hierarchischen Modell des Wünschens eine solche Freiheitstheorie, die ohne die Bedingung alternativer Möglichkeiten auskommt, vorgelegt.“ (Guckes, Willensfreiheit, 7). 166 Der Gedanke soll an dieser Stelle nicht weiter behandelt werden. Ich deute nur an, dass es für den Theologen nicht ganz uninteressant sein könnte, das Verhältnis von Gesetzesobservanz und christlicher Freiheit in der Weise zu verstehen, dass der Christ das Geforderte aus freien Stücken tut, obschon er um die andernfalls nötigende Forderung des Gesetzes weiß. 167 „Für den Beobachter ist die Frage, ob die Person auch anders hätte handeln können, kein Thema. Aber für die handelnde Person war sie sehr wohl relevant. Für sie hätte nämlich die Abwägung zwischen Handlungsalternativen jeden Sinn verloren, wenn sie erwarten musste, dass nur der eine Weg offen stand, den sie ohnehin, in der Folge eines deterministisch festgelegten Abwägungsprozesses eingeschlagen hat. Daher sind Frankfurts Beispiele so konstruiert, dass die handelnde Person von diesem Umstand keine Kenntnis hat. Sie darf sich der Illusion hingeben, auch anders handeln zu können.“ (Habermas, Sprachspiel, 282 f).

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Frankfurts Beispiele sind so konstruiert, dass Jones immer zu einer Entscheidung gelangt, ohne dass ihm zunächst einschränkende Umstände bewusst werden. Entweder kommt er zu einer Entscheidung und wird anschließend mit einer Strafe bedroht.168 Oder Jones trifft eine eigene Entscheidung, ohne dass Black überhaupt Maßnahmen ergreift, die Jones beeinflussen würden.169 In jedem Fall ist die Entscheidung aus eigenem Anlass auf gedachte Alternativen angewiesen. Worüber sollte Jones sonst deliberieren?170 Andererseits ist moralische Verantwortung daran geknüpft, dass eine Person sich sowohl den Wunsch zu handeln als auch die eigentliche Handlung in gewisser Weise zu eigen machen kann. Weil Frankfurt also Verantwortlichkeit davon abhängig macht, ob eine Handlung aufgrund einer eigenen Entscheidung vollzogen wird, kommt es darum im Folgenden vor allem darauf an, ob er eine Subjekttheorie vorstellig machen kann, mit der er ein ,Sein der Person bei den eigenen Handlungen‘ vertritt, durch welches die Zurechenbarkeit von Handlungen gewährleistet ist. Es wird sich zeigen, dass Frankfurt für die Zurechenbarkeit von Handlungen weder Handlungs- noch Willensfreiheit fordert, sondern lediglich die Identifikation mit dem eigenen Willen. Hierbei lässt sich nun im Verlauf der Entwicklung seiner Theorien eine Spannung feststellen, zwischen einem aktivischen Willenskonzept und einer eher affektiv-passivischen Fundierung des Willens und des Personseins. Auf letztere sei im Anschluss an eine kurze Darstellung des Frankfurtklassikers „Willensfreiheit und der Begriff der Person“ in der gebotenen Kürze eingegangen. (b) Identifikation als aktive Willensaneignung

Frankfurt machte in „Freedom of the Will and the Concept of a Person“171 (1971) („Willensfreiheit und der Begriff der Person“) für den Personenbegriff die hierarchische Stufung von Wünschen geltend, wonach eine Person – anders als ein triebgesteuerter „wanton“172 – gegenüber Handlungswünschen

168 Vgl. Frankfurt, Handlungsmöglichkeiten, 55 – 57. 169 Vgl. Frankfurt, Handlungsmöglichkeiten, 59 – 61. 170 Denkbar wäre ein Wesen, das derart identisch mit sich und seiner volitionalen Komplexität ist, dass ihm weder handlungsbezogene noch willensbezogene Konflikte bekannt sind. Diese Person wäre nach Frankfurt weiterhin verantwortlich – denn auf Identifikation, nicht auf Alternativen kommt es an –, ohne Entscheidungen vollziehen zu müssen. 171 Harry G. Frankfurt, Freedom of the Will and the Concept of a Person, JPh 68 (1971), 5 – 20. 172 „Das charakteristische Merkmal eines Triebhaften ist, daß ihm sein Wille gleichgültig ist. Seine Wünsche treiben ihn, bestimmte Dinge zu tun, ohne daß man von ihm sagen könnte, er möchte sich von solchen Wünschen bewegen lassen, oder er zöge es vor, von anderen Wünschen zum Handeln veranlaßt zu werden. Die Klasse der triebhaften Wesen schließt alle Tiere ein, die nicht Menschen sind, aber Wünsche haben, und alle kleinen Kinder. Vielleicht gehören zu ihr auch manche Erwachsene. Auf jeden Fall können Erwachsene mehr oder weniger triebhaft auf

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erster Ordnung eine distanzierte Position in Form von Wünschen zweiter Ordnung einnehmen können müsste, die sich auf die letztlich handlungsrelevanten Wünsche erster Ordnung rückbeziehen.173 Es gehört also auch für Frankfurt wesentlich zum Personsein, in einem distanzierten Selbstverhältnis zu den eigenen Wünschen zu stehen.174 Zugleich verbindet Frankfurt damit die Freiheitsthematik derart, dass eine Person frei genannt zu werden verdient, sofern diejenigen ihrer Wünsche erster Ordnung handlungsrelevant werden, die in Übereinstimmung mit ihren Wünschen höherer Ordnung stehen. Das impliziert ferner, dass überhaupt nur Personen, also Wesen mit der Fähigkeit zu Distanz- und Bezugnahme frei oder unfrei sein können; Unfreiheit ist damit für Frankfurt automatisch als eine Form von – innerem oder äußerem – Zwang gegenüber bestimmten Wünschen bestimmt. Frei im Sinne Frankfurt’scher Willensfreiheit ist, wer seinen Willen von Volitionen zweiter Ordnung bestimmt sein lässt.175 Das Haben von Volitionen zweiter Ordnung beWünsche erster Stufe reagieren, in bezug auf die sie keine Volitionen zweiter Stufe haben.“ (Frankfurt, Willensfreiheit, 72). 173 Frankfurt unterscheidet außerdem – für den hiesigen Zusammenhang eher unbedeutend – zwischen Wünschen zweiter Ordnung, die sich lediglich auf das Haben und nicht auf die Handlungseffektivität von Wünschen erster Ordnung beziehen, und solchen Wünschen zweiter Ordnung, die zum Inhalt haben, dass ein bestimmter Wunsch erster Ordnung tatsächlich handlungswirksam wird. Letztere nennt er Volitionen zweiter Ordnung und macht sie zum Kriterium von Personsein. (Vgl. Frankfurt, Willensfreiheit, 71 f). M.E. muss für die vorliegende Behandlung das Haben von Wünschen erster Ordnung, von denen man auf zweiter Ebene zugleich wünscht, dass sie nicht handlungswirksam werden, nicht weiter beachtet werden. 174 Willensfreiheit ist dagegen weder Konstitutivum für Frankfurts Personenbegriff, noch für die Zurechenbarkeit von Verantwortung. Zwar können ausschließlich Personen Willensfreiheit genießen, sie können aber außerdem ohne willensfrei zu sein, verantwortlich sein. 175 Vgl. Frankfurt, Willensfreiheit, 77. Wie sich weiter unten zeigen wird, kann eine Person einen „eigenen freien Willen“ haben, ohne Willensfreiheit zu haben. Wenn ihr Wille mit ihrer Volition zweiter Stufe koinzidiert, ohne dass sie überhaupt weitere alternative Wünsche erster Ordnung gehabt hätte, so hat eine Person einen eigenen freien Willen. Wenn sie qua Volition zweiter Ordnung aus einem Set von Willensalternativen ihren Willen selbst bestimmt, dann genießt die Person Willensfreiheit. Man hat gegen dieses rein subjektivistische Konzept eingewendet, dass es auch noch in Fällen Freiheit behaupten würde, die man gewöhnlich als freiheitsbeschränkend ansehen würde. Robert Kane etwa will zeigen, dass „covert constraining control“ von Frankfurt nicht als freiheitsbeschränkend bestimmt werden kann. Angenommen, jemand manipuliert mich auf eine mir nicht bewusste Weise, derart, dass ich bestimmte Wünsche zweiter Ordnung ausbilde. Da ich von der Manipulation nichts weiß, könnte ich meine Handlungen über die Wünsche erster Ordnung an meinen Volitionen zweiter Stufe ausrichten – und wäre nach Frankfurt darin frei. (Vgl. Barbara Guckes, Willensfreiheit, 15). Doch, selbst wenn man sagen muss, dass Frankfurt bestimmte Typen von Manipulation nicht ausschließen kann, so muss doch gesagt werden, dass, wo eben keine externe Manipulation vorliegt, Verantwortlichkeit weiterhin ohne PAP auskommt. Was ist denn für unsere alltägliche Praxis gewonnen mit der Annahme, wir könnten auch von üblen Neurochirurgen manipuliert sein? Die Einschränkung der Verantwortlichkeit durch covert constraining control entsteht überhaupt nur dadurch, dass die Kontrolle für einen ,objektiven‘ Beobachter keineswegs verdeckt bleibt.

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zeichnet er weiterhin auch als Identifikation der Person mit ihren Wünschen erster Ordnung176, wobei wiederum Identifikation nicht bedeuten muss, dass die Person ihren Willen frei bestimmen konnte. Dem kritischen Einwand des Regressproblems – denn warum sollte eine Person sich nicht bei Bestehen konfligierender second order desires in Wünschen dritter bis n-ter Ordnung verlieren? – entgegnete Frankfurt weiterhin, dass eine Person innerhalb eines Abwägungsprozesses mit dem Ziel den handlungsrelevanten Wunsch erster Ordnung – den Willen177 – zu bestimmen, dem Regress entgehen könne, indem sie sich entschlossen mit einem Wunsch erster Ordnung identifiziert. Diese Entscheidung „durchhallt“ dann nach Frankfurt im Folgenden den Raum der Wünsche höherer Ordnung.178 Dort also, wo mit dem Vertrauen auf die Richtigkeit der eigenen Überlegungen ein Schlussstrich unter die Deliberationen gezogen wird und eine entschlossene Identifikation vollzogen wird, dort herrscht, ohne im endlosen Abwägungsprozess irre zu werden, nach Frankfurt ein angeeigneter Wille.179 In dem Jahre später erschienenen Aufsatz „Identification and Wholeheartedness“180 (1987) („Identifikation und ungeteilter Wille“) geht Frankfurt ausführlicher darauf ein, dass eine Person durch ihre Identifikation mit bestimmten Wünschen diese sich in besonderer Weise zu eigen macht. So positioniert sich eine Person Frankfurt zufolge innerhalb einer volitionalen Inkohärenz181 derart, dass bestimmte Wünsche ihr innerlich – einverleibt – werden, während die konkurrierenden Wünsche letztlich gar nicht mehr die 176 Vgl. Frankfurt, Willensfreiheit, 74. 177 „Der Wille eines Handelnden ist also identisch mit einem oder mehreren seiner Wünsche erster Stufe. Aber der Begriff des Willens, wie ich ihn gebrauche, ist nicht umfangsgleich mit dem Begriff von etwas, das den Handelnden bloß bis zu einem gewissen Grade geneigt macht, in bestimmter Weise zu handeln. Sondern es ist der Begriff eines effektiven oder handlungswirksamen Wunsches, der eine Person dazu bringt (oder dazu bringen wird oder würde), den ganzen Weg bis zu einer Handlung zu gehen.“ (Frankfurt, Willensfreiheit, 69). 178 Vgl. Frankfurt, Willensfreiheit, 78. 179 Ob Frankfurt dem Regressproblem tatsächlich entgeht, ohne dabei eine willkürliche Entscheidung anzusetzen, lasse ich offen. Auch in „Identifikation und ungeteilter Wille“, wo er sich dieser Frage ausdrücklich widmet, sehe ich die Gefahr der Willkürlichkeit identifikatorischer Entscheidungen nicht gebannt. 180 Harry G. Frankfurt, Identification and Wholeheartedness, in: Ferdinand Schoeman (Hg.), Responsibility, Character, and the Emotions. New Essays in Moral Psychology, Cambridge/ New York u. a. 1987, 27 – 45. 181 Konflikte dieser Art können einerseits darin bestehen, dass Wünsche erster und zweiter Ordnung kollidieren, so dass jemand von etwas tatsächlich motiviert wird, was er auf zweiter Stufe ablehnt. „Hier besteht ein Mangel an Konsistenz oder Harmonie zwischen ihrem Willensakt höherer Ordnung oder ihrer Präferenz die Frage betreffend, welchem ihrer Wünsche sie letztlich Wirksamkeit verschaffen möchte, und dem Wunsch erster Ordnung, der sie in Wirklichkeit effektiv zu handeln veranlaßt. Weil der vorherrschende Wunsch einer ist, dessen Vollzug sie nicht den Vorrang geben möchte, hat die innerliche Entzweiung die Unfähigkeit der Person zur Folge, das zu tun, was sie wirklich zu tun wünscht.“ (Frankfurt, Identifikation, 123). Andererseits kann eine Inkohärenz auch innerhalb einer höheren Ordnung bestehen, so dass nicht klar ist, was die Person wirklich will. Hier droht der Zerfall der Person selbst.

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ihren sind – sie dissoziiert sich von ihnen.182 Dies sei letztlich notwendig für die Person, da sie sich selbst auf diese Weise integriere, bzw. andernfalls zu zerfallen drohe. Die Entscheidung bestimmt, was die Person wirklich wünscht, indem sie den Wunsch, zu dem sie sich entschließt, sich ganz zu eigen macht. In dem Maße, in dem sie sich durch eine Entscheidung mit einem Wunsch identifiziert, konstituiert sich die Person. Der relevante Wunsch ist ihr in keiner Weise mehr äußerlich. Er ist kein Wunsch, den sie nur, wie ein Subjekt, in dessen Geschichte er zufälligerweise vorkommt, ,hat‘, wie eine Person unfreiwillig einen Krampf ,haben‘ mag, der zufälligerweise in der Geschichte ihres Körpers vorkommt. Er wird ein Wunsch, der ihr kraft der Tatsache einverleibt ist, daß sie ihn vermöge ihres eigenen Willens hat. Das heißt nicht, daß der Wunsch durch die Ausübung des Willens geschaffen wird. Es ist gut möglich, daß der Wunsch schon vor der ihn betreffenden Entscheidung besteht. Aber auch wenn die Person für die Tatsache, daß der Wunsch vorkommt, nicht verantwortlich ist, gibt es einen bedeutsamen Sinn, in welchem sie für die Tatsache, daß sie ihn hat, Verantwortung trägt – die Tatsache, daß der Wunsch im vollsten Sinne der ihrige ist, daß er konstituiert, was sie wirklich wünscht –, wenn sie sich mit ihm identifiziert.183

Zu bemerken ist insgesamt, dass Frankfurt sowohl mit der Theorie der Willensausrichtung durch second order volitions als auch mit der Vorstellung einer Identifikation aufgrund beherzter Entscheidung in einem aktivistischen Konzept verbleibt. Denn einerseits bleibt die Frage nach der Freiheit des handlungseffektiven Wunsches letztlich abhängig von einer vorgängigen Handlung: nämlich von der aktiven Bestimmung jenes handlungsbestimmenden Wunsches erster Ordnung. Jemand macht Frankfurt zufolge von Willensfreiheit Gebrauch, wenn er sicherstellt, daß sein Wille und seine Volitionen zweiter Stufe übereinstimmen. Wenn der Wille und Volitionen zweiter Stufe auseinander treten, oder 182 Zumindest gilt dies bei Konflikten, in denen Wünsche nicht in einer Rangordnung integriert werden können – welchem Wunsch soll zuerst entsprochen werden? –, sondern die auf grundsätzliche Ausstoßung eines Wunsches als „legitimer Kandidat der Befriedigung“ (Frankfurt, Identifikation, 130.) abzielen. „Nehmen wir an, daß sich eine Person angesichts zweier konfligierender Wünsche mit dem einen Wunsch statt mit dem anderen identifiziert. Das könnte dazu führen, daß der andere Wunsch – jener, mit dem sich die Person nicht identifiziert – wesentlich schwächer wird, als er ursprünglich war, oder ganz verschwindet. Das muß aber nicht sein. Es ist gut möglich, daß der Konflikt zwischen den zwei Wünschen so virulent bleibt wie vorher. Was die Verpflichtung der Person zu dem einen Wunsch eliminiert, ist nicht der Konflikt zwischen ihm und dem anderen Wunsch. Sie eliminiert den Konflikt innerhalb der Person, welchen der beiden Wünsche die Person als ihren Beweggrund vorziehen soll. So hat sich der Konflikt zwischen den Wünschen in einen Konflikt zwischen einem der Wünsche und der Person transformiert, die sich mit dem konkurrierenden Wunsch identifiziert hat.“ (Frankfurt, Identifikation, 131 f). 183 Frankfurt, Identifikation, 129.

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wenn der Betroffene sich dessen bewußt wird, daß ihre Übereinstimmung nicht sein eigenes Werk, sondern nur ein glücklicher Zufall ist, dann empfindet die Person, die keine Willensfreiheit hat, einen Mangel.184

In gleichem Maße erfolgt andererseits auch die Aneignung eines nicht notwendigerweise freien Willens durch eine aktive Identifikation. „Wholeheartedness“ ist kein Modus der Entscheidung, sondern ihr Ziel. Es ist in diesem Zusammenhang als bedeutsam für die theologische Diskussion zu betonen, dass Frankfurt Verantwortlichkeit weder an Handlungsnoch an Willensfreiheit knüpft. Denn da das aktivistische Konzept der Willensfreiheit eine Handlung ad intra in Bezug auf die Wünsche erster Ordnung meint185, erkennt Frankfurt, dass die Frage, ob eine Person auch anders hätte handeln können, sich auf höherer Stufe wiederholt: Hätte die Person auch einen anderen Willen bilden können als sie es tat? Eben diese Frage spielt seiner Meinung nach keine Rolle für die moralische Verantwortlichkeit. „Denn die Annahme, daß jemand moralisch für das, was er tat, verantwortlich ist, impliziert nicht, daß der Betreffende in der Lage war, zu seinem Willen zu machen, was immer er mochte.“186 Gefordert wird lediglich, dass eine Person im reflexiven Bezug auf ihren Willen denjenigen Willen hat, den sie qua Volition zweiter Ordnung zu haben wünscht – unabhängig davon, ob sie ,Willensalternativen‘ hat. Das Bestehen einer faktischen Übereinstimmung von Volition zweiter Ordnung und Wille nennt Frankfurt „den eigenen freien Willen“. Nehmen wir an, daß jemand tat, was er tun mochte, daß er es tat, weil er es tun mochte, und daß der Wille, der ihn im Handeln leitete, sein Wille war, weil es der Wille war, den er zu haben wünschte. Dann handelte er frei und nach eigenem freien Willen. Auch wenn wir nun annehmen, er hätte anders handeln können, so hätte er doch nicht anders gehandelt. Und wenn wir ebenso annehmen, er hätte einen anderen Willen haben können, so hätte er doch nicht gewollt, daß sein Wille ein anderer gewesen wäre. Weil weiter der Wille, der ihn im Handeln leitete, sein Wille war, denn er wünschte ja, daß es seiner sei, so kann er nicht behaupten, sein Wille sei ihm aufgezwungen worden, oder daß er der Bildung seines Willens als passiver Beobachter gegenübergestanden habe.187 184 Frankfurt, Willensfreiheit, 77. 185 „Der Wille einer Person ist nur dann frei, wenn sie frei ist, den Willen zu haben, den sie möchte. Das heißt, jemand hat in Bezug auf seine Wünsche erster Stufe die Freiheit, diesen oder einen anderen solchen Wunsch zu seinem Willen zu machen. Welcher Wille immer dann dabei herauskommt, der Wille einer Person, die Willensfreiheit hat, hätte auch ein anderer sein können. Wer in seinem Willen frei ist, hätte sich einen anderen Willen bilden können, als er tatsächlich tat.“ (Frankfurt, Willensfreiheit, 81). 186 Frankfurt, Willensfreiheit, 81. 187 Frankfurt, Willensfreiheit, 81. Im Falle eines willigen Drogenabhängigen sieht Frankfurt beides gegeben: Der Wille des Süchtigen ist nicht frei, aber wenn er es wäre, so würde der Drogenabhängige dennoch keinen anderen Willen haben wollen, als den, die Droge zu nehmen. Frankfurt spekuliert, ob es sich hierbei um eine Überbestimmtheit des Willens handele.

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Verantwortlichkeit – so zeigt diese Passage – bleibt daher auch unter Abweisung von Willensfreiheit dennoch abhängig von der aktiven Identifikation der Person mit einem Willen, d. h., dass eine Person einen Willen nach dieser Vorstellung aktiv entscheidend zu dem Ihrigen machen muss, um verantwortlich zu sein. Entscheidungen zu treffen hat nach Frankfurt den reflexiven Sinn, dass wir etwas mit uns selbst tun.188 Gleichwohl lässt sich in Frankfurts Arbeiten ein dem aktiven Moment der Reflexivität gegenläufiger Gedanke ausmachen, der stärker die Passivität der eigenen Wesensgründung betont. Denn hinter der Frage, wie wir uns entscheiden sollen – was wir also mit uns selbst tun sollen –, sieht er diejenige, nach dem, was uns wichtig ist. (c) Identifikation zwischen Aktivität und Passivität: Die volitionale Nötigung

Bereits mit der Einführung des Begriffs „caring“ in „The Importance of What We Care About“189 (1982) („Über die Bedeutsamkeit des Sich-Sorgens“) stellt Frankfurt seine Überlegungen darüber, worum man sich kümmern soll, in die Nähe der Ethik190. Er unterscheidet seinen Forschungsbereich aber genau darin von der klassischen Ethik, dass Ethik ihm zufolge die Beziehungen zu anderen Menschen regele, während uns die Untersuchung des caring in den Fragenkomplex stelle, „wie wir mit uns selbst umgehen sollen und wir deshalb verstehen müssen, was wesentlich [sc. important] oder vielmehr, was uns wesentlich [sc. important to us] ist.“191 Während Frankfurt also den Begriff der Wichtigkeit oder der Bedeutsamkeit auf Seiten ,der Dinge‘ oder Sachverhalte anbringt, ist das caring ihm zufolge auch eine reflexive Tätigkeit. „Es ist eine Angelegenheit des auf bestimmte Weise Tätigseins, und das Tätigsein trägt wesentlich reflexiven Charakter – strenggenommen nicht deshalb, weil der Akteur, indem er sein Verhalten leitet, mit Notwendigkeit etwas für sich selbst tut, sondern eher deshalb, weil er etwas absichtsvoll mit sich unternimmt.“192 Zugleich ist das caring einer Person aber stets ein „caring about something“, erfordert also ein bedeutsames oder wichtiges Objekt. Dass eine Person sich um etwas kümmert, das ihr wichtig ist, kann in volitionalen Konflikten, in denen Frankfurt ansonsten die aktive Entscheidung zur Identifikation einfordert, einen anderen Weg zur Lösung des Dilemmas anbieten.

188 189 190 191 192

Wichtig ist an dieser Stelle, dass Frankfurt in einem solchen Fall davon ausgeht, dass eine Person voll verantwortlich sein kann, ohne allein verantwortlich zu sein. Vgl. Frankfurt, Identifikation, 132. Harry G. Frankfurt, The Importance of What We Care About, in: Synthese 53/2 (1982), 257 – 272. „Es gibt natürlich eine enge Beziehung zwischen dem, worum eine Person sich sorgt, und dem wovon sie, allgemein oder unter bestimmten Bedingungen, glaubt, daß es für sie selbst das Beste wäre, was sie tun kann.“ (Frankfurt, Bedeutsamkeit, 98). Frankfurt, Bedeutsamkeit, 99. Frankfurt, Bedeutsamkeit, 101.

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Denn es könnte ihm zufolge bisweilen womöglich weniger um die aktive Entscheidung gehen, welche Art von Mensch die Person sein will, als vielmehr um das Bewusstwerden, welche Art von Mensch die Person ist – und das heißt: das Bewusstwerden, worum sie sich kümmert.193 Hier wird die aktive Entscheidung – die Identifikation – als mögliche Lösung einer volitionalen Inkohärenz ersetzt oder vielmehr unterfüttert durch die Feststellung der eigenen Vorfindlichkeit in Bezügen des caring. Die Person findet sozusagen über sich heraus, dass sie sich mit etwas identifiziert, sich um etwas sorgt. Frankfurt schließt zwar nicht aus, dass auch das caring bisweilen durch eine eigene Entscheidung herbeigeführt werden könnte; doch fügt er hinzu: „Sicherlich läßt sich nicht annehmen, daß das, worum eine Person sich sorgt, im allgemeinen ihrer unmittelbaren, unabhängigen Kontrolle untersteht.“194 Wie aber bringt Frankfurt das eher passive Moment des vorgängigen Eingestelltseins in unvorgreifliche Bedeutsamkeitsverhältnisse in Einklang mit seiner Vorstellung einer aktiven identifikatorischen Entscheidung? (d) Identifikation aus Liebe

Dass sich das caring einer Person bisweilen der eigenen Kontrolle entzieht, tritt in Fällen der „volitionalen Nötigung“195 besonders ins Bewusstsein der Person. „Es gibt Anlässe, da eine Person bemerkt, daß ihr das, worum sie sich sorgt, nicht nur von großer Bedeutung, sondern auf eine Art und Weise bedeutsam ist, die es dieser Person unmöglich macht, sich einer bestimmten Handlungsweise zu enthalten.“196 Wie Frankfurt am Beispiel der Widerrufsverweigerung Luthers in Worms verdeutlichen will, ist es das Charakteristikum einer volitionalen Nötigung, dass sie nicht unmittelbar auf Handlungen, sondern auf das reflexive Selbstverhältnis bezogen ist. Frankfurt deutet Luthers „Nicht-anders-Können“ nicht als Unfähigkeit anders zu handeln, sondern als Unfähigkeit anders wollen zu wollen.197 Ähnlich wie bei einem 193 Die Lösung des Dilemmas „erfordert, daß er sich wirklich mehr um die eine der Alternativen, denen er sich gegenübersieht, kümmert als um die andere; und sie erfordert ferner, daß er begreift, um welche der beiden Alternativen er sich wirklich mehr sorgt. Die schwierige Lage, in der er sich befindet, ist entweder seinem Nichtwissen zuzuschreiben, um welche der Alternativen er sich mehr sorgt, oder darauf, daß er sich gleichermaßen um beide sorgt. Es ist klar, daß in keinem der beiden Fälle seine Schwierigkeit glaubhaft durch das Treffen einer Entscheidung überwunden werden kann.“ (Frankfurt, Bedeutsamkeit, 104). 194 Frankfurt, Bedeutsamkeit, 104. 195 Das englische „volitional necessity“ wird in der deutschen Übersetzung mit „Nötigung“, „Unvermeidlichkeit“ oder „Notwendigkeit“ wiedergegeben. Ich verwende vornehmlich den Begriff der „Nötigung“, da das Bewusstwerden einer necessitas wohl in der Tat am ehesten als Nötigung erfahren wird. 196 Frankfurt, Bedeutsamkeit, 104 f. 197 „Vielleicht gibt es einen Sinn, in welchem Luther, auch wenn seine Bekundung wahrhaftig erfolgte, stark genug hätte sein können, die Macht zu überwinden, die sein Streben nach einer anderen Handlungsweise als der, die er verfolgte, verhinderte. Aber er konnte sich selbst nicht dazu durchringen, diese Macht zu überwinden.“

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Handlungszwang, aber dennoch davon unterschieden, sieht sich eine Person unter volitional necessity zu einer Handlung alternativlos genötigt; ähnlich wie beim Vorliegen von hinreichenden Handlungsgründen, aber dennoch davon unterschieden, liegt es nicht an der mangelnden Kraft der Person, sich dieser Handlung zu entziehen.198 „Anders als der Süchtige fügt sie sich der nötigenden Kraft nicht deshalb, weil ihr die Willensstärke fehlte, die hinreichend wäre, diese zu bezwingen. Sie fügt sich ihr, weil sie nicht willens ist, sich ihr zu widersetzen, und ferner, weil ihr Unwille selbst etwas ist, das sie zu ändern nicht willens ist.“199 Dieser Doppelaspekt von eigener Nötigung und eigener Nötigung stellt das Phänomen der volitional necessity in die erlebte Spannung von Passivität und Steigerung der eigenen Willensstärke.200 Das liegt daran, dass die Kraft der Nötigung sich aus den eigenen Wünschen speist, mit denen sich eine Person aktiv-vollziehend identifiziert.201 Indem eine volitionale Nötigung die Person das zu tun zwingt, was sie am meisten zu tun wünscht – denn es sind ja ihre Wünsche, die sie nötigen – kann sie Frankfurt zufolge in den Augen der Person befreiend erscheinen. Zugleich aber muss Frankfurt festhalten, dass die Nötigung nicht einfach selbstauferlegt ist. Wie sollte sie sonst überhaupt zwingend sein? „Ein Wesensmerkmal volitionaler Nötigung muß es sein, daß sie einer Person unfreiwillig aufgebürdet wird.“202 Diese Spannung aufzulösen, ist nach Frankfurt darin möglich, dass man erkennt, dass das caring einer Person eine „Tatsache ihres Willens“ ist, weil caring Identifikation bedeutet, was wiederum Willensbestimmtheit heißt. Des Weiteren muss aber der Wille nicht wiederum der eigenen Kontrolle unterliegen und kann dennoch durchaus der 198 „Solche Begegnungen [sc. mit volitionaler Nötigung] unterscheiden sich von Situationen, in welchen eine Person feststellt, daß sie eine Handlung zu unterlassen – egal, ob sie so handeln möchte oder nicht – unfähig ist, weil sie durch irgendeinen Wunsch oder irgendeinen Zwang, der zu machtvoll ist, als daß sie ihn überwinden könnte, so zu handeln getrieben wird. Sie unterscheiden sich auch von Situationen, in denen sich eine Person im klaren darüber ist, daß sie die Möglichkeit der Unterlassung verwerfen muß, weil sie diese Unterlassung zu verwerfen eindeutig gute Gründe hat […]. Sie ähneln denen des zuletzt genannten Typus […], insofern die Unfähigkeit zur Unterlassung nicht einfach eine Sache ungenügender Befähigung seitens des Akteurs ist. Sie ähneln denen der davor genannten Art […] sofern sich der Akteur als jemand erfährt, der nur die Möglichkeit hat, der ihn nötigenden Macht beizupflichten, selbst wenn er glaubt, daß es besser wäre, nicht so zu handeln.“ (Frankfurt, Bedeutsamkeit, 105). 199 Frankfurt, Bedeutsamkeit, 106. 200 „Eine Person, die angesichts einer volitionalen Nötigung handelt, stellt fest, daß sie so, wie sie handelt, handeln muß. Aus diesem Grunde mag es angemessen scheinen, Situationen volitionaler Nötigung als Beispiele von Passivität zu betrachten. Aber die Person, die sich in Situationen dieser Art befindet, deutet die Tatsache, daß sie volitional genötigt wird, überhaupt nicht so, daß aus ihr die eigene Passivität folgt. Im allgemeinen liegt den Menschen der Gedanke ziemlich fern, daß volitionale Nötigung sie zu hilflosen Beobachtern ihres eigenen Verhaltens macht. In der Tat können sie sogar dazu neigen, volitionale Nötigung als wirkliche Steigerung sowohl ihrer Autonomie als auch ihrer Willensstärke zu verstehen.“ (Frankfurt, Bedeutsamkeit, 106). 201 Vgl. Frankfurt, Bedeutsamkeit, 107. 202 Frankfurt, Bedeutsamkeit, 107.

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eigene Wille sein. Volitionale Nötigung ist ein Fall von Willensunfreiheit, die sich aus dem Eingestelltsein in bestimmte Sorge- oder Bedeutsamkeitszusammenhänge ergibt, und die aufgrund dieses Eingestelltseins eine Willensstärke und die Steigerung der eigenen Aktivität mit sich bringt. Folglich kann volitionale Nötigung beides sein, selbst auferlegt vermöge dessen, daß sie durch den eigenen Willen der Person auferlegt wird, und gleichzeitig unfreiwillig aufgebürdet aufgrund dessen, daß ihr Wille nicht durch ihre eigene freiwillige Handlung der Wille ist, der er ist. Entsprechend bedeutet in solchen Fällen Unfreiwilligkeit nicht Passivität. Eine Person ist aktiv, wenn sie vermöge ihres eigenen Willens das tut, was sie tut, auch wenn ihr Wille selbst nicht innerhalb der Reichweite ihrer freiwilligen Kontrolle liegt.“203

Das beantwortet die obige Frage nach dem Verhältnis von aktiver Identifikations-Entscheidung und passiver Gestelltheit des Sich-Kümmerns: Sofern jemand bemerkt, dass ihm etwas wichtig ist, er also feststellt, dass er sich bereits mit etwas identifiziert und identifiziert hat, findet er sich in aktivem Vollzug vor. Diese Aktivität der eigenen Identifikation wird keineswegs gemindert durch die Tatsache, dass er nicht selbst Ursprung dieser Aktivität ist, sondern sich in ihr als einer passiv „aufgebürdeten“ vorfindet. Der Sonderfall der volitionalen Nötigung ließe sich als ein Veranschaulichungsbeispiel verstehen, in dem Grundsätzliches über den menschlichen Willen festgestellt wird: dass es nämlich trotz der aktiven Selbstreflexivität der Person und ihres Willens Bereiche der volitionalen Komplexität gibt, die der Kontrolle der Person entzogen sind und die immer schon als konstitutiv für sie vorgefunden werden. Frankfurt legt zwar in seinen Aufsätzen stets starke Betonung auf die Aktivität des personalen Vollzugs – sogar das Wählen eigener letzter Zwecke überlässt er der aktiven Entscheidung.204 Und dennoch kommt er ebenso stetig auf die Unvorgreiflichkeit der eigenen Bestimmtheit zu sprechen. In der Tat scheint das, was einer Person im Falle einer volitionalen 203 Frankfurt, Bedeutsamkeit, 108. 204 Vgl. Harry G. Frankfurt, On the Usefulness of Final Ends, Iyyun. The Jerusalem Philosophical Quarterly 41 (1992), 3 – 19. „Über die Nützlichkeit letzter Zwecke“ wäre hier gewiss gewinnbringend zu verhandeln. Ich weise nur darauf hin, dass Frankfurt zufolge letzte Zwecke zwar durchaus der eigenen Wahl unterstehen können in dem Sinne, dass ein Mensch die Ziele und Werte identifiziert, „die sein Verhalten auf grundsätzlichste Weise leiten und beschränken werden. Er sucht, mit anderen Worten gesagt, die Fragen zu beantworten, wie er leben sollte.“ (Frankfurt, Nützlichkeit, 152.) Dennoch kann man diese Frage nicht angehen, ohne die faktische Bestimmtheit des eigenen Willens zu akzeptieren. „Ist jemand daran interessiert, einen vernünftigen Beschluß dahingehend zu fassen, wie er leben soll, so kann er nicht so vorgehen, daß er es zu Beginn ablehnt, jede Willensbestimmung als erwiesen anzunehmen. Besteht er auf völliger Unbefangenheit und auf der Bewertung der verfügbaren Optionen ohne Leitung durch irgendeine volitionale Prädisposition, wird seine Nachforschung nichts bringen. Die panrationalistische Forderung nach selbstloser Objektivität ist in diesem Zusammenhang unvernünftig. Es macht keinen Sinn, einen unpersönlichen, von keinem besonderen Bewertungsstandpunkt ausgehenden Zugang für das Problem zu wählen, wie man leben sollte.“ (Frankfurt, Nützlichkeit, 154).

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Nötigung aufgeht, so grundlegend zu sein, dass überhaupt erst mit der Erkenntnis, was jemandem wichtig ist, worum er sich kümmert, oder was er liebt, Ordnung in den gesamten Willenskomplex gebracht wird und so etwas wie „Selbstbestimmung“ möglich wird. Dass diese ordnende Willenskonfiguration – die Fest-Stellung der eigenen Identität – nicht allein selbsterhaltende Aktion der Person sein kann, sondern dass sie außerdem auf dem Verhältnis der Person zu ihr Vorgegebenem fußt, expliziert Frankfurt mit seinem Konzept der Liebe. In der Auffassung, dass Personen in gewisser Hinsicht befreit werden durch ihren Konsens mit Mächten außerhalb ihrer eigenen Kontrolle, sieht Frankfurt „ein ziemlich fundamentales Strukturmerkmal unseres Lebens“205. Insbesondere in den Fähigkeiten zu Vernunft und zu Liebe erkennt er „Tatsachen […], die für unsere Kultur und unser Selbstverständnis von zentraler Bedeutung sind“206, und die jeweils bewirken, dass wir uns an Vorgegebenes hängen ohne das Gefühl der Ohnmacht oder Unfreiheit. Die Bedeutung der Liebe – nach Frankfurt eine besondere Form des caring – soll im Folgenden kurz bedacht werden.207 Frankfurt sieht in ihr wegen ihres grundlegend persönlichen Charakters eine höhere Verbindlichkeit verbürgt, als etwa in Vernunft- oder moralischen Urteilen. Letztlich könnten etwa moralische Überzeugungen an sich gar keine volitionalen Nötigungen begründen.208 In kritischer Auseinandersetzung mit Kant hebt Frankfurt in „Autonomy, Necessity, and Love“ (1993)209 („Autonomie, Nötigung und Liebe“) hervor, 205 Frankfurt, Bedeutsamkeit, 108. 206 Bedeutsamkeit, 108. Vgl. auch: Ders., Gründe, 70 f. 207 Eine klare Definition seines Verständnisses von Liebe liefert Frankfurt freilich nicht. Als Eckpunkte sind festzuhalten (Vgl. hierzu Frankfurt, Gründe, 46 – 49.), dass Liebe nach Frankfurt nicht unbedingt mit starken positiven Gefühlen einhergeht oder auf positiven Urteilen über ein Liebesobjekt basiert. Weder Affektivität noch Kognition seien der Liebe, wie er sie versteht, wesentlich; vielmehr habe Liebe mit einer volitionalen Konfiguration gegenüber dem Geliebten zu tun. Liebe ist nach Frankfurt außerdem dadurch charakterisiert, dass ihre Objekte nicht als Mittel, sondern als Zwecke an sich für wichtig gehalten werden. Als Sonderform des caring zeichnet sich Liebe darin aus, dass sie eine interessefreie Sorge ist, d. h., dass sie sich vom Wohl des Geliebten keinen eigenen Nutzen verspricht. Als interesselose Sorge trägt Liebe zudem das Merkmal, dass sie nicht unpersönlich sein kann. Jemandem, der ohne eigenen Nutzen den Armen und Kranken helfen will, wäre jeder Arme oder Kranke gleich recht. Er mag die Wohltätigkeit als Ideal lieben, aber er liebt nicht die Armen und Kranken. Schließlich liegt nach Frankfurt Liebe außerhalb unserer voluntativen Kontrolle. 208 „Wir unterstehen, insbesondere was die, die wir lieben, und unsere Ideale betrifft, der Bindung durch Notwendigkeiten, die weniger mit unserer Folgebereitschaft den Prinzipien der Moral gegenüber zu tun haben, sondern mehr mit Integrität und Konsistenz von eher persönlicher Natur. Diese Notwendigkeiten hindern uns, die Dinge zu verraten, für die wir am meisten Sorge tragen und mit denen wir uns dementsprechend am stärksten identifizieren. In einem Sinne, den eine strikt ethische Analyse nicht klar zu machen vermag, sind es nicht unsere Pflichten oder Verbindlichkeiten, die uns vom Zuwiderhandeln abhalten, sondern wir selbst.“ (Frankfurt, Bedeutsamkeit, 111). 209 Harry G. Frankfurt, Autonomy, Necessity, and Love, in: Fulda, Hans Friedrich/Horstmann, Rolf-Peter (Hgg.), Vernunftbegriffe in der Moderne, Stuttgart 1994, 433 – 447.

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dass die Handlungserfordernisse der Liebe ähnlich wie diejenigen der moralischen Pflicht eine kategorische Unbedingtheit tragen. Frankfurt argumentiert weiter, dass nicht ausschließlich die Konformität mit dem moralischen Gesetz die menschliche Autonomie sichere, sondern, dass auch Handlungen aus Liebe autonome Handlungen sein könnten – „ob sie nun in Übereinstimmung mit der Pflicht stehen oder nicht.“210 Ausdrücklich gegen Kant positioniert sich Frankfurt mit der Überzeugung, dass persönliche Interessen durchaus zur Wesensnatur des Willens gehörten und sie darum auch nicht, wie Kant meinte, notwendig Heteronomie begründeten. Natürlich ist Liebe in paradigmatischer Weise persönlich. Dennoch sind die unbedingten Forderungen der Liebe nicht, wie Kant meint, zufällige Elemente des Willens einer Person. Sie gehören ihm wesentlich zu, denn was eine Person liebt, ist ein bestimmendes Element der Natur ihres Willens. Wenn sie also aus Liebe handelt, leiten sich ihre Willensakte in der Tat von den grundlegenden Eigenschaften ihres Willens her. Folglich erfüllt die persönliche Nötigung der Liebe die Bedingungen der Autonomie, von denen Kant glaubt, daß ihnen nur die unpersönlichen Beschränkungen des moralischen Gesetzes genügen können.211

Indem Frankfurt Autonomie und Heteronomie auf den Unterschied zwischen Passivität und Aktivität bringt, weil Heteronomie die Beeinflussung der passiv verbleibenden Person von äußeren Faktoren sei, macht er die Frage nach Autonomie zur Frage, wie man „durch die Liebe beherrscht“ sein könne, „ohne dabei Passivität zu erleiden.“212 Autonomie wäre demnach möglich, wenn eine Person durchaus „unfreiwillig“ liebte, diese Liebe als Vollzug aber aktiv wäre. Aktive Liebe wird von Frankfurt dadurch charakterisiert, dass ihre Aktivität an sich dem Liebenden wichtig ist, weil er in ihr den Nutzen allein des Geliebten sucht, nicht seinen eigenen. Die Arten der Liebe, die in eudämonistischer Weise auf die Steigerung des eigenen Wohls zielen, weil sich eine Person vom geliebten Gegenstand etwa Vorteile oder Befriedigung verspricht, sind nach Frankfurt Fälle von passiver Liebe. Das muss freilich nicht bedeuten, dass ein passiv Liebender nicht sehr geschäftig sein könnte. Liebe, egal welcher Art, beinhaltet ein Verhalten, das dazu bestimmt ist, dem geliebten Gegenstand zuträglich zu sein. Bei aktiver Liebe bewertet der Liebende diese Aktivität um ihrer selbst willen statt der Vorteile halber, die er selbst letztlich daraus zu ziehen vermag. Sein vorrangiges Ziel ist es nicht, Nutzen zu erlangen, sondern Nutzen zu stiften. Er ist durch das Interesse motiviert, den Interessen und Absichten des von ihm Geliebten – eher als den eigenen – zu dienen.213

210 211 212 213

Frankfurt, Autonomie, 169. Frankfurt, Autonomie, 171. Frankfurt, Autonomie, 171. Frankfurt, Autonomie, 172.

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Die Uneigennützigkeit oder Selbstlosigkeit aktiver Liebe erlaubt es Frankfurt, dem Kantischen Vorbehalt des Eudämonismus zu begegnen, ohne zugleich persönliche Interessen gänzlich aus der Willensbestimmung ausschließen zu müssen. Nach Frankfurt gibt es also persönliche und dabei selbstlose Interessen.214 Des Weiteren ist aktive Liebe Frankfurt zufolge dadurch charakterisiert, dass die unbedingte Bedeutsamkeit, die das Geliebte für den Liebenden besitzt, keine freiwillige Angelegenheit ist. Der Liebende kann nicht anders als sich selbstlos dem Geliebten zu widmen. Er ist in dieser Hinsicht nicht frei. Er ist im Gegenteil der Natur der Sache nach durch das von ihm Geliebte und seine Liebe eingenommen. Der Wille des Liebenden wird rigoros genötigt. Liebe ist keine Frage der Wahl.215

Das heißt aber nicht, dass Liebe nicht wandelbar wäre. Sie ist es allerdings eben nicht durch willentliche Kontrolle, sondern nur durch Veränderungen außerhalb ihrer selbst. Frankfurt meint zwar auch hier, dass eine Person womöglich Änderungen in ihrer Umwelt herbeiführen könnte, die bewirkten, dass die Liebe der Person sich wandele, aber grundsätzlich hält er fest: Das aber besagt nicht, daß die Liebe für sie eine Frage der freien Wahl ist. Durch einen bloßen Willensakt kann sie, soweit es das von ihr Geliebte betrifft, ihren Willen unmittelbar nicht beeinflussen. Ob sie auf innige Weise für den Gegenstand ihrer Liebe empfänglich ist, hängt nicht von ihr ab. Den Fängen der Liebe begegnet oder entgeht man einfach nicht nach Belieben.216

Da nun, was ein Mensch liebt, zu seiner Wesensnatur gehört, weist Frankfurt auf die Gefahr hin, dass eine Person, die sich aktiv gegen sich selbst – gegen ihren aktiven Liebesvollzug – verhält, zu zersplittern droht. Der Verrat an dem Geliebten ist ein Verrat an sich selbst und führt nach Frankfurt in die Auflösung der eigenen Person. Die Arbeiten Frankfurts zeigen also insgesamt mit ihrer Betonung des caring und der Liebe, dass personale Integrität und damit verbunden auch volitionale Kontinuität – eine Beharrlichkeit im eigenen Willen – nur möglich sind aufgrund einer vorgängigen Struktur der Person: Dass es überhaupt Dinge gibt, die uns wichtig sind, um die wir uns kümmern und die wir lieben, ist von fundamentaler Bedeutung für unser Leben. Denn nur, indem wir eingestellt sind in Beziehungen von Bedeutsamkeit, erhält unser Leben eine Kontinuität und gelangen wir zu einer einheitlichen Persönlichkeit. 214 „Um das liebe Selbst hinter sich zu lassen, ist es aber nicht, wie er [sc. Kant] annimmt, notwendig, auf alle Interessen zu verzichten. Wir brauchen unseren Willen nicht zu purifizieren. Wir können an unseren Interessen festhalten, solange sie uneigennützig sind. Um auf das liebe Selbst zu verzichten, muß der Wille nicht rein oder unpersönlich sein, dafür ist nur wesentlich, daß er selbstlos ist.“ (Frankfurt, Autonomie, 174). 215 Frankfurt, Autonomie, 174 f. 216 Frankfurt, Autonomie, 176.

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Das Sich-Sorgen ist auf eine grundlegende Weise als eine Aktivität unverzichtbar, die uns mit uns selbst in Verbindung bringt und uns an uns selbst bindet. Mit Hilfe des Sich-Sorgens verschaffen wir uns volitionale Kontinuität und konstituieren uns auf diese Weise als Akteure, nehmen auf diese Weise Teil an unserem eigenen Handeln.217

Sofern eine Person also identifiziert ist bzw. findet, dass sie sich mit etwas identifiziert, ermöglicht ihr dieser Umstand ein Dabei-Sein bei ihren Handlungen und eine entschiedene Aneignung ihres Willens, über den dann auch ihre Verantwortlichkeit als gesichert zu gelten hat. Kritisch wäre Frankfurt daraufhin zu befragen, ob die Unfähigkeit zur willentlichen Kontrolle über das eigene caring und die eigene Liebe nicht letztlich impliziert, dass Personen doch nur kompliziertere wantons sind; dass sie nämlich in einem letzten bzw. ersten Sinne nicht partizipieren an der Entscheidung, was zum Gegenstand ihrer Liebe oder Sorge wird.218 Ein volitionaler Konflikt könnte also nicht nur darin bestehen, dass eine Person sich unsicher ist, was zu tun sei; er könnte auch auf der Ebene existieren, dass es ambivalent bleibt, was eine Person lieben soll.219 Hier einfach erneut auf die aktive Entscheidung für oder gegen eine Seite der Liebe zu rekurrieren, bleibt m. E. unbefriedigend. Gleichwohl verweist das menschliche Sich-Sorgen auf ein Wesensmerkmal des Menschen, das zugleich Voraussetzung dafür ist, dass Menschen sich um etwas sorgen können: Da caring eine reflexive Tätigkeit ist, ist die Reflexivität von Personen diese Voraussetzung, die Personen überhaupt von wantons, wie etwa Tiere es sind, zu unterscheiden erlaubt. In diesem Sinne bildet das caring überhaupt erst die Grundlage dafür, dass wir uns kritisch auf uns selbst beziehen können, ohne dass dieser kritische Selbstbezug eine Selbstbestimmungsfreiheit implizieren würde. Vielleicht ähnelt die Frankfurt‘sche Selbstreflexivität vielmehr dem Gewissensbegriff Luthers: Menschen können, weil sie sich sorgen, sich selbst akzeptieren oder auch „einen inneren Widerstand gegen das, was sie sind“220, aufbauen. Ein weiterer Kritikpunkt, der mit dem ersten verwandt ist, hängt ebenfalls zusammen mit der faktischen Vorfindlichkeit der Person im Vollzug des caring: dass nämlich die normative Frage nach einem gelingenden Leben – Wie sollen wir leben? – bei Frankfurt in einen Begründungszirkel führt, in dem die Kriterien zur Beantwortung der Frage ihre Beantwortung bereits voraussetzt. Das Identifizieren der Kriterien, die für die Bewertung verschiedener Lebensweisen herangezogen werden sollen, läuft aber auch darauf hinaus, eine Antwort auf die Frage zu liefern, wie zu leben sei, da die Antwort auf diese Frage schlicht besagt, dass

217 Frankfurt, Gründe, 22. 218 Wohlgemerkt ist das implizite Gegenkonzept dieser Kritik die Forderung nach ultimativer Verantwortlichkeit für das eigene Da- und Sosein. 219 Vgl. Frankfurt, Gründe, 98 ff. 220 Frankfurt, Gründe, 23.

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man auf die Weise leben soll, die jene Kriterien (welche auch immer) am besten erfüllt, die heranzuziehen sind, um Lebeweisen zu bewerten.221

Frankfurt selbst gibt bei, dass die normative Frage nicht die erste und wesentliche Frage in Bezug auf ein gelingendes Leben sei, sondern der faktischen Frage nachfolgt, und dass empirisch festgestellte – weitverbreitete oder gar allgemeine – caring-Objekte überhaupt keine Rechtfertigung der Kriterien liefern können. Doch hält Frankfurt die normative Frage, wie zu leben sei, insgesamt für fehlgeleitet, sofern sie gleichsam durch allgemeine Vernunftwahrheiten beantwortet werden soll.222 Vielmehr seien Gründe für eine bestimmte Lebensweise nur anzugeben aus dem Zusammenhang der Liebe – und diese führt Frankfurt bisweilen auf biologische oder natürliche Grundlagen zurück. Ob er in der Rückführung auf biologische Umstände Liebe letztlich an eine Art appetitus naturalis bindet? Und ob eine derart begründete Liebe tatsächlich Sorge sein kann, die am eigenen Nutzen interesselos ist?223 221 Frankfurt, Gründe, 30. 222 „Wir sollten uns allerdings vor Augen führen, dass das ehrgeizige Projekt, eine erschöpfend rationale Rechtfertigung für die Art zu liefern, wie wir unser Leben führen sollen, fehlgeleitet ist. Die pan-rationalistische Fantasie, man könne – angefangen mit den ersten Grundsätzen – beweisen, wie wir leben sollen, ist inkohärent und muss aufgegeben werden. Nicht die faktische Frage nach der Sorge verfehlt das Ziel, sondern die normative Frage. Wenn wir die Schwierigkeiten und Zweifel auflösen wollen, die mit der Klärung der Frage nach der Art des Lebens zu tun haben, sind nicht Gründe und Beweise das Grundlegendste, was wir brauchen, sondern Klarheit und Vertrauen. Um mit der schwierigen und unruhigen Ungewissheit, wie zu leben sei, umzugehen, müssen wir nicht ausfindig machen, welche Art zu leben mit Hilfe endgültiger Argumente gerechtfertigt werden kann. Vielmehr müssen wir schlicht erkennen, was es ist, worum wir uns wirklich sorgen, um dann mit entschiedenem und unerschütterlichem Vertrauen daranzugehen, uns darum zu sorgen.“ (Frankfurt, Gründe, 34). 223 Freilich ließe sich argumentieren, dass gerade die Selbstlosigkeit echter Liebe im Interesse des Liebenden ist, dass also, weil das Lieben selbst für den Liebenden wichtig ist, diese selbstlose Hingabe ein eigenes Interesse verfolgt. Vgl. hierzu Frankfurt, Gründe, 67. Des Weiteren heißt Liebe für Frankfurt die Übernahme fremder Interessen als die eigenen qua Identifikation. „In dem Maße, in dem er mit dem, was er liebt, verwoben ist und sich damit so identifiziert, sind seine Interessen mit jenen des geliebten Wesens identisch. Und so kann es auch nicht überraschen, dass Selbstlosigkeit und Eigeninteresse beim Liebenden zusammenfallen.“ (Frankfurt, Gründe, 68). Ausführlich diskutiert Frankfurt in „Gründe der Liebe“ das Phänomen der Selbstliebe, das er in ausdrücklicher Abgrenzung von Kant sehr viel positiver bewertet. Selbstliebe heißt für Frankfurt gerade nicht, Spielball der eigenen Impulse und Neigungen zu sein, sondern meint eine beharrliche gewissenhafte Aufmerksamkeit auf die eigenen Interessen. (Vgl. Frankfurt, Gründe, 85 f). Frankfurt meint, in der Selbstliebe die womöglich reinste Form der Liebe vorzufinden, da in ihr die Merkmale der Liebe (vgl. o. Anm. 207.) ohne äußerliche Hemmnisse verwirklicht werden könnten. Bereits daran, dass nach Frankfurt jemand interesselos seine eigenen Interessen verfolgen kann, dass er selbstlos sich selbst lieben kann, oder dass seine Liebe ein besonderes Individuum – nämlich sich selbst – betrifft, zeigt an: Für Frankfurt gilt in Bezug auf die Selbstliebe die Forderung: „Liebe dich selbst, wie einen Nächsten.“ Frankfurts Konzept der Selbstliebe erzeugt ein Vakuum, das nur dann gefüllt werden kann, wenn eine Person zusätzlich Anderes liebt, andere Interessen hat, als sich selbst. Denn nur dann kann jemand interesselos die eigenen Interessen verfolgen, wenn diese ad extra

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Dass bestimmte Dinge wichtig für uns sind, hat seine Wurzel nach Frankfurt also teilweise in den biologischen Notwendigkeiten des Lebens; daraus können Notwendigkeiten der Liebe werden, die wiederum die Quelle der Normativität sind.224 Das mag für Vertreter einer rationalistischen Moralphilosophie zu kurz greifen.225 Phänomenologisch beschreibt Frankfurt zumindest mit der Unhintergehbarkeit des eigenen Liebesvollzugs m. E. ein nachvollziehbares Datum menschlichen Lebens.226 Ein irgendwie transzendentales Sittengesetz – sei es durch die Vernunft oder durch göttliche Setzung – kann und will Frankfurt damit allerdings nicht annehmen. Letztlich müsste diskutiert werden, ob eine rein rational begründete Normativität denkbar ist ohne einen ohnehin vorgängigen affektiv gefärbten Kontext. Als letzte Anfrage an Frankfurt halte ich fest, wie weitreichend der Einfluss der Liebe als handlungs- und willensbestimmender Eigenschaft sei. Einerseits bringt Liebe nach Frankfurt eine grundsätzliche Ordnung in die menschliche Willenskomplexität, hat also durchschlagende Wirkung. Andererseits nimmt Frankfurt anscheinend an, dass es erstens durchaus eine Art von ,Detailhandlungen‘ gibt, die nicht aus Liebe oder Sorge begründbar sein müssen.227 Wie z. B. kann ich mit meinem Willen, ein Schokoladeneis zu

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gerichtet sind. „Die beste Charakterisierung der Natur der Selbstliebe besagt dann schlicht, dass jemand, der sich selbst liebt, diese Liebe zeigt, indem er das liebt, was er liebt. […] Eine Person kann sich nicht selbst lieben, wenn sie nicht auch noch andere Dinge liebt.“ (Frankfurt, Gründe, 92 f). Selbst gesetzt den Fall, dass jemand nichts anderes als sich selbst liebte, so müsste seine Liebe darin bestehen, nach Dingen zu suchen, die er außerdem lieben könnte. (Vgl. Frankfurt, Gründe, 96ff). Vgl. Frankfurt, Gründe, 52 f. So schlägt Monika Betzler eine Revision des Frankfurt-Entwurfs dahingehend vor, dass unsere grundlegenden Einstellungen dennoch von – nicht unbedingt bewussten – Gründen untermauert sein müssten, mit denen wir prinzipiell in der Lage wären, unsere Einstellung zu rechtfertigen. „Selbst wenn wir Einstellungen unreflektiert bilden, können wir Gründe angeben, die sie unterstützen oder ihnen widersprechen. Ihre Verteidigung mit Gründen macht Einstellungen zu ,unseren‘, nicht allein deren Beharrlichkeit. Denn wenn uns eine solche Verteidigung nicht gelingt, sind die unseren Einstellungen zugrundeliegenden Urteile normativ isoliert von den Werten und Urteilen der betreffenden Person.“ (Betzler, Willensfreiheit, 45.) Den normativen Begründungszirkel für die Kriterien unserer Einstellungen aufzulösen, lehnt Frankfurt aber schlicht ab. Andreas Klein bemängelt in ähnlicher Weise wie Monika Betzler die Unterbetonung der Rationalität bei Frankfurt. (Vgl. Klein, Willensfreiheit, 363 – 265). Obwohl Frankfurt mit seinem Liebesbegriff einen relational begründeten Personenbegriff zu implizieren scheint, ist sein Konzept des gelingenden Lebens keineswegs sozietär geprägt. Vielmehr ist die Frage nach dem gelingenden Leben eine jeweils individuell zu beantwortende. „,Caring‘ scheint […] nur in solchen Fällen eine notwendige Bedingung unseres Entscheidens und Handelns zu sein, in denen wir ohne Rekurs auf unsere volitionalen Eigenschaften gar keine Wahl zu treffen vermögen. Dabei handelt es sich um Optionen, in denen ebenso gewählt werden muß, welche Person wir zu sein wünschen. Solche Optionen betreffen in der Regel umfassende Ziele, aber auch Projekte und Bindungen, die ohne unsere affektive Einstellung nicht sinnvoll sind. Hierbei handelt sich allerdings nur um eine Teilklasse der uns betreffenden Entscheidungen.“ (Betzler, Willensfreiheit, 42).

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essen, identifiziert werden, wenn mir Schokoladeneis nicht weiter wichtig ist, ich mich darum nicht kümmere und es schon gar nicht liebe? Die Zurechenbarkeit einer solchen Handlung erfordert nach Frankfurt, dass ich mich mit meinem Wunsch, Eis zu essen, identifiziere. Das aber bedeutet, es muss prinzipiell zurückverfolgbar sein, aus welchem Liebesvollzug einem Endzweck gegenüber mein Detailwunsch nach Eis seine Bestimmtheit erhält. Zumindest bringt Liebe offensichtlich nicht in dem Sinne Ordnung in den volitionalen Komplex, dass sich jedweder Willensakt aus Notwendigkeit ergäbe. Zweitens beschreibt Frankfurt – glücklicherweise seltene – Fälle, in denen Menschen gegen die Forderungen ihrer eigenen Liebe verstoßen. Die Notwendigkeit, die uns die Liebe auferlegt, scheint also in tragischen Fällen durchbrochen werden zu können, auch wenn Frankfurt einschränkt, wir hätten ein natürliches Interesse daran, solchen Selbstverrat zu vermeiden.228 Um das zu Frankfurt Gesagte kurz zu rekapitulieren, kann festgehalten werden, dass – abgesehen von den benannten Problemen – Frankfurt ein Konzept vorstellt, nach dem Verantwortlichkeit und in seiner Sicht sogar Freiheit Bestand haben können, ohne an reale alternative Möglichkeiten geknüpft zu sein. Dabei ist es m. E. weitaus weniger wichtig, ob seine konstruierten Beispiele PAP in der Tat verneinen. Denn solange eine Handlung von einer Person in der Weise vollzogen wird, dass sie selbst sich mit dem entsprechenden Handlungswunsch identifiziert, so lange bleibt die Tat voll zuschreibungsfähig als personale Handlung. Dass aber Personen nicht grundsätzlich frei bestimmen können, womit sie sich identifizieren, dass sie vielmehr immer schon in Identifikation mit bestimmten Gegenständen, Personen oder Sachverhalten existieren, sichert Frankfurt über die Begriffe des caring und der Liebe. Mit den Fällen von volitionaler Nötigung legt er außerdem eine Theorie vor, die in gewisser Weise ein Feststellen und ein Einstimmen der Person in eine bestehende necessitas beschreibt und damit die Steigerung der eigenen Freiheitserfahrung verbindet. Ein Vergleich mit Luther zeigt zwar, dass Frankfurt sehr viel stärker auf die aktive Selbstbestimmung selbstreflexiver Wesen abhebt. Dennoch sind sowohl mit der stets vorgängigen Gestelltheit in affektive Kontexte als auch mit der Modifikation des Freiheitsgedankens weg von libertarischen Überlegungen (PAP) hin zum Vollzug wesensgemäßer Gebundenheit aufgrund von Liebe wichtige Momente lutherischer Lehre in moderner Form wiedergegeben worden.

228 Ausdrücklich räumt Frankfurt ein, volitionale Nötigungen durch Liebe garantierten keine absolute Entschiedenheit, da es stets fraglich bleibe, ob wir andere Dinge oder Wesen stärker lieben als andere. (Vgl. Frankfurt, Gründe, 72, Anm. 12). Ob seine Empfehlung, dieser drohenden Spaltung der Person mit Humor zu begegnen (vgl. Frankfurt, Gründe, 108.), wirklich hilfreich ist?

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2.2.1.5 Zwischenfazit Kompatibilistische Ansätze zeichnen sich im Großen und Ganzen durch das Festhalten an personalen Kategorien aus. Solange der naturalistische Determinismus die Rede von ,Personen‘ nicht ausschließen kann, beeinträchtigt er deren Verantwortlichkeit in keiner Weise. Selbstreflexive endliche Wesen, die durch ihr Bewusstsein in der Lage sind, (1.) ein distanziertes Selbst- und Weltverhältnis einzunehmen, (2.) sich in sozialen Bezügen im Modus der Sprache zu bewegen und so bewusst Handlungsgründe zu ,besitzen‘229, (3.) eine antizipative Orientierung auf Zukunftsszenarien als autobiografische Szenarien vorzunehmen230 und (4.) bewusste Handlungswünsche als die eigenen anzunehmen, diese also als Handlungsoption zu bejahen (Identifikation), werden durch den Determinismus nicht in ihrer Verantwortlichkeit beschnitten. Denn diese Bedingungen sind gegenüber der Frage, ob die Welt deterministisch verfasst ist oder nicht, neutral. Auch eine Person, die vom Determinismus überzeugt ist, wird ihre Handlungen weiterhin als ihre ansehen müssen, sofern ihre Taten als ein Teil des Weltverlaufs zu gelten haben. Insofern müsste sie anerkennen, dass der Welt229 Grundsätzlich kritisch gegenüber der Möglichkeit, gleichsam objektiv von „Personen“ zu reden, zeigt sich Habermas, Sprachspiel, 302: „Unreflektiert ablaufende Bewusstseinsprozesse, die wir bei Tieren als ein Geschehen beschreiben, nehmen, sobald sie sich unter der Bedingung möglichen Selbstbewusstseins vollziehen, als solche eine neue Qualität an. Sie verwandeln sich unter der Bedingung der Selbstreferenz gleichsam mit einem Schlage in die bewussten Leistungen von Personen, die auf Grund ihres Selbstverhältnisses über die jeweilige Lebensgeschichte hinweg eine Identität ausbilden und damit zum Adressaten der Zuschreibung von Verantwortung werden. Um diesen evolutionären Übergang in Kategorien der Bewusstseinsphilosophie beschreiben zu können, muss die Naturphilosophie allerdings die Perspektive eines höherstufigen Subjektes einführen, aus der sie das Wissen, das der subjektive Geist reflexiv von sich gewonnen hat, noch einmal objektiviert und in die Darstellung des Bildungsprozesses dieses Geistes einbringt. Eine Naturphilosophie, die die menschliche Freiheit vor der naturalistischen Reduktion auf diesem Wege bewahren möchte, tritt insofern das Erbe der Bewusstseinsphilosophie an, als sie sich über die nicht-hintergehbare Verschränkung der Beobachter- mit der Teilnehmerperspektive zu Gunsten des Vorrangs einer ins Absolute erweiterten, die Perspektiven aller übrigen Subjekte in sich aufnehmenden Erste-Person-Perspektive hinwegsetzt.“ 230 „Eine Möglichkeit des Handelns (und zwar schon eine einzige) setzt sich also notwendigerweise zusammen aus einer Fähigkeit plus selektiver Antizipation eines möglichen Zustands desselben Handelnden. Sie übergreift damit eine Strecke seiner Existenz und relativiert die Wirklichkeit der Welt, in der dergleichen vorkommt, partiell auf den, der eine solche Möglichkeit besitzen soll. In das so geöffnete Intervall zwischen Fähigkeit und möglichem Zustand muss eine von der Fähigkeit ausgehende Wendung oder Veränderung des Handelnden in den von der Möglichkeit bezeichneten Zustand fallen. Dies gälte […] auch dann, wenn niemand jemals mehr als eine Möglichkeit des Handelns hätte, wie es von den Vertretern einer inkompatibilistischen Position ja behauptet wird.“ (Buchheim, Kompatibilismus, 51). Vgl. auch Habermas, Sprachspiel, 266, wonach freies Handeln „reflektierte und in die Zukunft ausgreifende Handlungsorientierungen“ erfordert.

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verlauf in einer deterministischen Welt nicht ,über sie hinweg‘ festgelegt ist, sondern, dass ihre Handlungen eine Art Mitwirkung (cooperatio) am Weltverlauf darstellen. Da endliche Wesen des Weiteren keine Einsicht in einen umfassenden Determinismus haben können, können bewusste Entscheidungen weiterhin beinhalten, eine Tat anstelle einer anderen zu vollziehen, ohne dass es reale Alternativen dazu bedürfte (epistemischer Indeterminismus). Die Ablehnung von Verantwortung in der Retrospektive – Ich konnte nicht anders! – erscheint unter deterministischen Bedingungen dann ebenfalls unmöglich, sofern ein Handelnder nicht bestreiten kann, dass er selbst den entsprechenden Handlungswillen hatte und ihn sich zu eigen gemacht hat.231 Eine neurobiologische Bewusstseinstheorie, in der ein Großteil der genannten Anforderungen erfüllt zu sein scheint, ist die des US-amerikanischen Hirnforschers Antonio R. Damasio. Wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden soll, legt auch Damasio eine biologistische Theorie vor, nach der menschliches Bewusstsein ein körperbasiertes Phänomen ist. Indem er aber die in seinen Augen fundamentale Rolle der Emotionen – zunächst der rein biologisch-organischen Reaktionen des Körpers auf dessen Umwelt – betont, gelingt es Damasio, sowohl das Bewusstseinsphänomen an sich als auch die ,Beharrlichkeit des Willens‘ in einem gelingenden Leben auf den basalen Emotionen des Menschen zu gründen. So beinhaltet Damasios Konzept nicht nur eine mögliche Erklärung der Entstehung von Bewusstsein, sondern zugleich auch eine Beschreibung des menschlichen Umgangs mit Handlungsoptionen innerhalb eines emotionalen Präferenzsystems; außerdem schließt seine emotionsbasierte Bewusstseinstheorie die antizipative Zukunftsorientierung von Handlungsplanungen ein, ohne die dafür notwendige andauernde Identitätserfahrung des bewussten Subjekts aufzugeben.

231 „Eine Exkulpation mit dem Hinweis, daß die Handlung ja doch determiniert gewesen sei, kann darum gar nicht in Frage kommen, denn eine Handlung findet nicht unabhängig von den eigenen Überlegungen, Gründen usw. statt – dies wäre vielmehr die These des Fatalismus, der aber gerade nicht als die Kehrseite des Determinismus verstanden werden darf.“ (Klein, Willensfreiheit, 153 f).

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Antonio R. Damasios neurobiologische Theorie des Bewusstseins

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2.3 Proto-Selbst, Kernselbst, erweitertes Selbst, Ich: Antonio R. Damasios neurobiologische Theorie des Bewusstseins Antonio R. Damasio differenziert in seinem Buch „Ich fühle, also bin ich“232 das „Problem des Bewußtseins“ in zwei Teilprobleme. Einerseits sei zu beantworten, wie das Gehirn überhaupt mentale Muster von sinnlich wahrgenommenen Objekten – Damasio spricht von Objektvorstellungen – erzeugt. „Dieses erste Problem des Bewusstseins läuft im Prinzip auf die Frage hinaus, wie der ,Film-im-Gehirn‘ entsteht, vorausgesetzt, wir machen uns klar, dass dieser Film ebenso viele sensorische Spuren hat wie unser Nervensystem Sinneseingänge – Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Tasten, innere Sinnesempfindungen und so fort […].“233 Eben dieses Problem, wie es von der sinnlichen Wahrnehmung eines Gegenstandes zu phänomenalem Bewusstsein komme, und auf welche Weise aus neuronalen Mustern Qualia werden, sei derzeit ungelöst.234 Damasio verweist gleich eingangs auf die klaffende Erklärungslücke (explanatory gap)235, zeigt sich aber grundsätzlich zuversicht232 Antonio R. Damasio, Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, München 7 2007. Im Folgenden verwende ich den Kurztitel „Ich fühle“. Damasios Buch ist 1999 unter dem amerikanischen Titel „The Feeling of what Happens. Body and Emotion in the Making of Consciousness“ erschienen, ein Jahr später in deutscher Übersetzung mit vielversprechendem Untertitel aufgelegt. Der Autor selbst bemerkt allerdings gleich zu Beginn seiner Ausführungen: „Ich behaupte indessen nicht, das Problem des Bewusstseins gelöst zu haben.“ (Damasio, Ich fühle, 23). 233 Damasio, Ich fühle, 20. 234 Damasio betont in einem dem Buch angefügten Glossar, dass keineswegs die Frage nach dem Woher von Vorstellungen ungeklärt ist. Dass mentale Muster aus neuronalen Mustern entstünden, sei zweifelsfrei klar. Die Frage aber, wie Vorstellungen aus neuronalen Mustern entstehen könnten, unterliege nach wie vor den neurologischen Forschungsbestrebungen. (Vgl. Damasio, Ich fühle, 387 f). 235 1983 führte der amerikanische Philosoph Joseph Levine in seinem Aufsatz Materialism and Qualia. The Explanatory Gap, Pacific Philosophical Quarterly 64 [1983], 354 – 361.) den Begriff der „Erklärungslücke“ in die Bewusstseinsdebatte ein. Seitdem ist die Erklärungslücke zu einem der Lieblingsprobleme der Philosophie des Geistes geworden. Die verschiedenen Ansätze zum Umgang mit dieser Lücke sind mittlerweile Legion, wobei jeder Ansatz mit eigenen Problemen behaftet bleibt. Eine auch nur annähernd vollumfängliche Darlegung der gesamten Diskussion um die explanatory gap kann daher an dieser Stelle nicht geleistet werden. Levines erkenntnistheoretisches Argument ist, dass materialistische Bewusstseinstheorien, sofern sie die Existenz von Qualia – dem qualitativen Charakter oder den phänomenalen Eigenschaften einer Erfahrung (wie es für mich ist, z. B. Schmerz zu fühlen) – nicht gänzlich bestreiten wollen (Eliminationismus), mit einem Problem behaftet bleiben, das Levine „die Erklärungslücke“ getauft hat: Anders als Identitätsaussagen wie etwa der, dass Wärme die Bewegung von Molekülen ist, lassen psycho-physische Identitätsaussagen – ein mentaler Zustand ist ein physischer Zustand – stets die grundsätzliche Intuition zu, dass diese Aussagen auch falsch sein könnten. (Dass eine argumentative Ausflucht vom Physikalismus zum Funktionalismus – also die Postulierung einer Identität von mentalen und funktionalen Zuständen – ebenfalls nicht trägt, legt Levine, Materialism, 355 f dar. Ich beschränke mich in meiner Darstellung auf die Frage der psycho-physischen Identität.) Genauer : Die Intuition einer Zufälligkeit oder denk-

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lich, diese Lücke zwischen neuronalen Mustern und mentalen Vorstellungen auf dem Wege neurobiologischer Forschung schließen zu können.236 Bewusstsein sei jedoch, so Damasio weiter, nicht zu reduzieren auf die mentale Darstellung von äußeren Objekten, sondern entstehe gerade durch die mentale Zusammenführung eines Wahrnehmungsobjekts und des eigenen Selbst in einer einheitlichen Vorstellung.237 So ergibt sich für Damasio als zweites Problem in der Betrachtung des Bewusstseins die Frage, wie das Gehirn einen „Selbst-Sinn“ erzeugen kann. Dies sei die Frage nach dem Gefühl von Subjektivität – der je individuellen Perspektive von Bewusstsein. Allerdings, so Damasio, sei die Frage nach dem Selbst-Sinn in jener Frage nach dem Entstehen eines phänomenalen Bewusstseins impliziert. Die Fragen verbaren Unwahrheit (felt contingency bzw. conceivable falseness) der Aussage über die Identität von Wärme und Molekülbewegung – dass es also in einer denkbaren Welt Wärme geben könne ohne die Bewegung von Molekülen – lässt sich mit unserem Wissen über Chemie und Physik „forterklären“ (to be explained away), während dies für psycho-physische Identitätsaussagen nicht gelte: Es ist durchaus denkbar, dass z. B. Schmerz existiert ohne etwa das Feuern von CFasern. Levine untermauert den Unterschied im Hinblick auf das Ausmerzen der genannten Intuition – warum es also denkbar bleibt, dass Schmerz auch ohne „C-fiber firing“ sein kann – nun mit dem Argument, dass die letztere Aussage eine genaue Erklärung vermissen lässt, warum überhaupt ein bestimmter physischer Zustand sich so anfühlen sollte, wie er es tut. „[W]hat is left unexplained by the discovery of C-fiber firing is why pain should feel the way it does! For there seems to be nothing about C-fiber firing which makes it naturally ,fit‘ the phenomenal properties of pain, any more than it would fit some other set of phenomenal properties.“ (Levine, Materialism, 357). Solange diese Frage, warum z. B. Schmerz sich anfühlen sollte, wie er es tut, nicht erklärbar sei durch die Beschreibung physischer oder funktionaler Zustände, so lange könne auch nicht mit Bestimmtheit gesagt werden, welche Identitätsaussagen wahr sind, selbst wenn einige dieser Aussagen wahr sind. Im Falle Damasios scheint das Problem der explanatory gap in gewisser Weise anders gelagert zu sein, insofern er keine Identitätstheorie, sondern offensichtlich eher einen Emergentismus vertritt. Darum kann er einerseits die explanatorische Schließung der Lücke zwischen neuronalen und mentalen Mustern einfordern und zugleich an der perspektivischen Differenz von erster und zweiter Person festhalten: „Wenn Sie sich das Aktivitätsmuster in meinem Gehirn anschauen, das meiner Erfahrung der San Francisco Bay zu Grunde liegt, dann haben Sie Ihre eigene persönliche Erfahrung aller dieser neuronalen Daten, aber nicht meine Erfahrung der San Francisco Bay. Sie haben eine Erfahrung von etwas, was in hohem Maße mit meiner Erfahrung korreliert, aber es ist eine Erfahrung von etwas anderem. Wenn Sie meine Gehirnaktivität betrachten, sehen Sie nicht, was ich sehe. Sie sehen einen Teil der Aktivität, die in meinem Gehirn stattfindet, während ich sehe, was ich sehe.“ (Damasio, Ich fühle, 366). 236 Im Folgenden muss dagegen im Sinn behalten werden, dass die Lücke zwischen neuronalen und mentalen Mustern noch nicht geschlossen ist und wo sie überschritten wird, muss dies deutlich werden. Im Vokabular Damasios gehören die Begriffe „neuronale Muster“ und „Karte“ auf die neurologische Seite der Erklärungslücke, während „Vorstellung“ oder „mentales Muster“ sich der neurologischen Erklärung verwehren. Wo beide Begriffsarten gemeinsam auftauchen, da wird die Erklärungslücke übersprungen. Verwendet Damasio den Begriff „Repräsentation“, so ist dem Kontext zu entnehmen, ob hier die neuronale Karte eines Objekts oder eine mentale Vorstellung gemeint ist. 237 Damasio, Ich fühle, 22 f: „Bewusstsein im üblichen Sinn ist von der basalen bis zur kompliziertesten Ebene das vereinheitlichte mentale Muster, durch welches das Objekt und das Selbst zusammengeführt werden.“

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schränken sich also zu der einen, „wie das Auftreten eines Eigentümers und Beobachters des Films innerhalb des Films bewerkstelligt wird.“238 Da Damasio beigibt, die grundlegende Frage des Bewusstseins – die Entstehung von mentalen Mustern eines Wahrnehmungsobjektes aus neuronalen Repräsentationen – sei noch nicht beantwortet, könnte zunächst bezweifelt werden, ob seine Darlegungen zur Entstehung eines Selbst-Sinns überhaupt ertragreich sein werden, wenn doch ungeklärt bleiben muss, wie es überhaupt zur mentalen Vorstellung eines Selbst kommen kann. Damasio entgegnet solchen Zweifeln, dass eine Erklärung des subjektiven Charakters des Bewusstseins auch mehr Klarheit in der Frage nach der Entstehung von mentalen Vorstellungen überhaupt mit sich bringen könnte: Wenn ,Selbst-Bewusstsein‘ verstanden wird als ,Bewusstsein mit einem Selbst-Sinn‘, wird von dem Begriff notwendigerweise jede Form menschlichen Bewusstseins erfasst – denn soweit ich erkennen kann, gibt es keine andere Art von Bewusstsein. Ich würde hinzufügen, dass der biologische Zustand, den wir als Selbst-Sinn beschreiben, und die biologischen Mechanismen, die für seine Hervorbringung verantwortlich sind, sich durchaus vorteilhaft auf die Verarbeitung der zu erkennenden Objekte auswirken können – der Selbst-Sinn ist nicht nur für den Prozess des Erkennens im eigentlichen Sinn erforderlich, sondern er kann auch die Verarbeitung dessen, was erkannt wird, beeinflussen. Mit anderen Worten, die biologischen Prozesse, die das zweite Problem des Bewusstseins aufwerfen, spielen wahrscheinlich auch eine Rolle bei den biologischen Prozessen, die zum ersten Problem führen.239

Mir scheint dies insofern umso erwägenswerter, als die anfängliche Auftrennung des Bewusstseinsproblems, wie Damasio sie vornimmt, nur schlecht durchzuhalten ist. Bewusstsein ist immer subjektives Bewusstsein, vom Erleben eines Beobachters begleitetes Bewusstsein. Mit Damasio ließe sich erwägen, ob nicht der „Film-im-Gehirn“ gerade dadurch entstünde, dass es überhaupt einen „Beobachter“, also gefühlte Subjektivität gibt? Dennoch optiert er für eine Trennung der beiden Grundfragen und widmet sich lediglich der Untersuchung, wie es in menschlichen Organismen zu einem Gefühl von Subjektivität kommt. Welche neurobiologischen Antworten gibt Damasio also auf jene Frage nach der Entstehung des „Selbstbewusstseins“? Bewusstsein entsteht ihm zufolge dann, wenn ein Gehirn registriert, dass sich der eigene Organismus verändert, während im Gehirn zugleich das neuronale Korrelat einer Objektvorstellung gebildet wird.240 Zu einer solchen 238 Damasio, Ich fühle, 23. 239 Damasio, Ich fühle, 32. 240 Damasio, Ich fühle, 33 beschreibt „das Bewusstseinsproblem als Konsequenz aus dem Zusammenspiel zweier Hauptakteure […] – des Organismus und des Objekts –, als Konsequenz der Beziehungen, die diese Akteure im Verlaufe ihrer natürlichen Interaktion knüpfen. Der betreffende Organismus ist derjenige, in dem Bewusstsein stattfindet; als Objekt kommt alles in Frage, was im Zuge des Bewusstseinsprozesses erkannt wird; und die Beziehungen zwischen Organismus und Objekt sind die Inhalte des Wissens, das wir Bewusstsein nennen. So gesehen,

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vereinheitlichten Repräsentation der Körperveränderung und einer Wahrnehmungsrepräsentation bedarf es im Gehirn sogenannter „Drittkraft-Neuronenkomplexe“241 oder „Hirnstrukturen zweiter Ordnung“. Diese Hirnstrukturen leisten Damasio zufolge eben jene neuronale Zusammenführung von Signalen aus dem eigenen Organismus und sensorischen Signalen der Objektwahrnehmung. In wenigen Sätzen zusammengefasst ist Bewusstsein nach dieser Theorie das Ergebnis aufeinander aufbauender neuronaler Mechanismen: Reizverursachte – also wahrnehmungsobjektabhängige – Körperreaktionen (Emotionen) werden vom Gehirn ausgelöst – an den Organismus ,gesendet‘ – und wiederum nach Durchlaufen der ,Körperschleife‘ im Gehirn als Veränderung des Körperzustands registriert (Gefühle), woraufhin Hirnstrukturen höherer Ordnung das reizauslösende Wahrnehmungsobjekt sowie die erfolgte Körperveränderung zugleich verarbeiten: So entsteht zunächst das, was Damasio „Kernbewusstsein“ nennt. Ergänzt durch ein leistungsstarkes autobiografisches Gedächtnis, durch welches „innere“ Erinnerungsvorstellungen als zusätzliche Klasse von Reizen neben die „äußeren“ Umweltreize treten, ergibt sich ihm zufolge das „erweiterte oder autobiografische Bewusstsein“, welches dann auf einer weiteren Stufe durch die sprachliche Kompetenz des Menschen zu einem „Ich-Bewusstsein“ führt. Diese Mechanismen sind nun im Folgenden genauer nachzuzeichnen. Ich halte mich dabei an die von Damasio vorgegebene Systematik zur schrittweisen Entstehung menschlichen Bewusstseins.

2.3.1 Vom Gehirn zum Körper und zurück: Wie aus Emotionen Gefühle werden Unverzichtbares Fundament in Damasios Theorie des Bewusstseins sind die Emotionen. Diese beschreibt er als von bestimmten Hirnregionen – Damasio nennt Kerne des Hirnstamms, des Hypothalamus, des basalen Vorderhirns und der Amygdala242 – an den Körper „im engeren Sinn (,a body proper‘)“243, d. h. an den Körper ohne das zu ihm gehörende Nervensystem, gesandte besteht Bewusstsein aus der Konstruktion von Wissen über zwei Fakten: dass der Organismus damit beschäftigt ist, eine Beziehung zu einem Objekt zu knüpfen und dass das Objekt in der Beziehung eine Veränderung im Organismus hervorruft.“ 241 Damasio, Irrtum, 321. Allerdings scheint Damasio zum Abfassungszeitpunkt von „Descartes’ Irrtum“ noch andere Hirnregionen als „Drittkraft-Neuronenkomplexe“ im Blick zu haben, als diejenigen, die er später „Strukturen zweiter Ordnung“ nennt. In seinem früheren Buch fasst er sie grob zusammen als „sensorische und motorische Assoziationsfelder der Großhirnrinde und subkortikale Kerngebiete (insbesondere Thalamus und Basalganglien)“ (a. a. O., 322.), während er in „Ich fühle, also bin ich“ die Colliculi superiores, den Thalamus, sowie den cingulären Cortex und einige präfrontale Rindenfelder anführt. 242 Vgl. Damasio, Ich fühle, 101. 243 Damasio, Ich fühle, 55.

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Veränderungsreaktionen. Emotionen sind Reaktionen, die nach einem auslösenden Reiz v. a. im Körper244 stattfinden. Zu den vom Gehirn ausgehenden Reaktionen zählen sämtliche Modifikationen im Körperzustand: Erhöhung des Pulses, Zusammenziehen der Muskulatur, Veränderungen in den Viszera und im chemischen Haushalt des Körpers, Veränderungen der Hautleitfähigkeit usw. Ausgelöst werden Emotionen vom Gehirn auf dem Weg der Blutbahn (chemisch) und dem der Nervenzellbahnen (elektrochemisch). Nun gehört es zur besonderen Terminologie Damasios, dass Emotionen in seinem Konzept keineswegs ins Bewusstsein treten. Vielmehr können sie auf dieser Stufe des Prozesses gar nicht ins Bewusstsein treten, sondern bedürfen dazu weiterer neuronaler Verarbeitung. Dass Menschen sich durchaus eines Großteils ihrer Emotionen und Gefühle bewusst werden, heißt nach Damasio ausdrücklich nicht, dass sie sich solcher Körperreaktionen auf bestimmte Objekte bewusst werden müssen oder sich ihrer erinnern müssten, damit diese – auch als dauerhafte Lernleistung – wirksam werden können.245 Emotionen bilden gleichsam das unbewusste Fundament, auf dem Bewusstsein allererst besteht. Die biologische Funktion der Emotionen, unabhängig von ihrer Signifikanz für das Bewusstsein, ist nach Damasio eine zweifache: Emotionen kombinieren spezifische, „automatische“ Verhaltensreaktionen des Organismus auf Reize und eine entsprechende Regulation des inneren Zustands des Organismus, um das erforderliche Verhalten bestmöglich auszuführen. So stellen sich beispielsweise einige Tiere bei einem Bedrohungsreiz tot und dazu wird simultan die Herz- und Atemfrequenz vermindert.246 Die funktionale Dimension von Emotionen wird von Damasio auf einen Satz gebracht: „Emotionen versorgen Organismen automatisch mit überlebensorientierten Verhaltensweisen.“247 „Automatisch“ ist in dieser Verwendung durchaus wörtlich zu verstehen: Die Hirnregionen, von denen emotionale Reaktionen im Körper ausgelöst werden können, enthalten angeborene dispositionale Muster, die bei 244 Ist der Körper im engeren Sinn die Hauptbühne für das Auftreten von Emotionen, so gehört zu diesen allerdings auch die Freisetzung von Neurotransmittern innerhalb des Gehirns. „Bei Emotionen schütten Neuronen im Hypothalamus, basalen Vorderhirn und Hirnstamm diese chemischen Stoffe aus und verändern vorübergehend die Arbeitsweise vieler zerebraler Schaltkreise.“ (Damasio, Ich fühle, 79). Dadurch kommt es zu einer Modifikation der Denkprozesse. Darin, dass sich emotionale Prozesse und die daraus resultierenden Gefühle nicht einzig auf den Körper zurückführen lassen, sondern auch hirninterne Prozesse zu Emotionen und Gefühlen beitragen, liegt eine Erweiterung der Thesen von William James. Vgl. hierzu Damasio, Ich fühle, 345 f. 245 Damasios Belegbeispiel ist sein Patient David, der aufgrund einer massiven Lernstörung – ausgelöst durch eine Hippocampusläsion – nichts Neues mehr in sein Gedächtnis aufnehmen konnte. David vergaß jeden vorherigen Kontakt zu Mitmenschen, erinnerte sich an keine zurückliegenden Treffen und bildete dennoch Präferenzen gegenüber Personen aus, die er bewusst nicht kannte. (Good-Guy-Bad-Guy-Experiment) Vgl. Damasio, Ich fühle, 59 f. 246 Vgl. Damasio, Ich fühle, 71. 247 Damasio, Ich fühle, 74.

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entsprechendem Reiz aktiviert werden. Sie verlaufen ohne Denkprozesse, sind autonom im Sinne der neurobiologischen Verwendung des Begriffs. Wenn Emotionen den fundamentalen Baustein in der Entstehung des Bewusstseins darstellen, so könnte es allerdings als nötige Schlussfolgerung erscheinen, dass nur oder zumindest in besonderem Maße dann Bewusstsein entstünde, wenn durch Außenreize starke Emotionen ausgelöst würden. Blieben solche Körperreaktionen aus, so müsste auch das Bewusstsein ,vermindert‘ werden. Nach Damasio sind Emotionen aber ständig vorhanden. Als kontinuierliche Begleiter des Organismus sind sie somit letztlich auch Garanten für ein stabiles Bewusstsein.248 Der Beständigkeit, mit der das Gehirn im Körper Emotionen verursacht, entspricht die Vielzahl an möglichen Umweltreizen mit emotionsauslösender Wirkung. Da innerhalb der Ontogenese unentwegt Erfahrungen mit der Umwelt gemacht würden, könne nach Damasio nahezu jedes Objekt und jeder Gedanke emotionsauslösend sein, sofern er durch Konditionierung mit einer Emotion belegt wurde. In demselben Maße wie real vorhandene Objekte eine Emotion auslösen, können dies also auch erinnerte Vorstellungen von Objekten. Erinnerungen bestehen Damasio zufolge daraus, dass potentielle Aktivitätsmuster – angeborenes oder erworbenes ,Wissen‘ wird im Gehirn in dispositionalen Repräsentationen abgelegt – in die frühen sensorischen Cortices zurückfeuern, im Grunde auf diese Weise Vorstellungsbilder ganz ähnlich erzeugen, wie Vorstellungen von gegenwärtig real wahrgenommenen Objekten.249 Die Allgegenwart der Emotion in unserer Entwicklung und in unserer Alltagserfahrung verknüpft praktisch jedes Objekt und jede Situation unserer Erfahrung durch Konditionierung mit den fundamentalen Werten der homöostatischen Regulation: Belohnung und Bestrafung, Lust oder Schmerz, Annäherung oder Rückzug, persönlicher Vorteil oder Nachteil und, unvermeidlich, Gut (im Sinne des Überlebens) und Böse (im Sinne des Todes).250 248 Vgl. Damasio, Ich fühle, 67 ff. Damasio fasst die sechs primären oder universellen Emotionen (Freude, Trauer, Furcht, Ärger, Überraschung, Ekel) mit sekundären – sozialen, aber nicht notwendigerweise sozial erworbenen – Emotionen (Verlegenheit, Scham, Schuld etc.) und Hintergrundemotionen wie Wohlbehagen, Anspannung etc. zusammen. Er erreicht durch diesen sehr weit gefassten Emotionsbegriff eine Prämisse für seine Theorie, dass Bewusstsein grundsätzlich ein körperbezogener Mechanismus ist. Zur Kritik am Begriff der Hintergrundemotionen bzw. ihren Folgephänomenen, den Hintergrundgefühlen s. u. Anm. 254. 249 Damasio, Irrtum, 146: „Ich vermute, daß explizit erinnerte Vorstellungsbilder durch eine vorübergehende synchrone Aktivierung weitgehend der gleichen neuronalen Entladungsmuster in den frühen Rindenfeldern entstehen, in denen einst auch die den Wahrnehmungsrepräsentationen entsprechenden Entladungsmuster auftraten.“ Dies könnte als Erklärung dafür gelten, dass bewusste Erinnerungen – und Zukunftsplanungen – ihren eigenartigen Gegenwartscharakter aufrechterhalten, warum also Bewusstsein stets präsentisch ist. 250 Damasio, Ich fühle, 77. An dieser Stelle wirft Damasio doch allzu Unterschiedliches in den einen Topf der homöostatischen Fundamentalwerte. Vieles, was er hier nennt, setzt Selbstbewusstsein bereits voraus. Inwieweit Schmerz – verstanden als Signal einer bedrohten kör-

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Das Fundament von emotionalen Reaktionen ist also die homöostatische Regulation: Wird ein Organismus in seiner Homöostase gestört, ruft das Gehirn eine Körperveränderung (Emotion) hervor, die ein Verhalten zur Homöostasesicherung auslöst. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass für Damasio die homöostatischen Grundwerte Schmerz und Lust ihrerseits noch keine Emotionen darstellen, sondern als emotionsauslösende Reize angesehen werden. Schmerz z. B. sei die einfache Wahrnehmung eines Reizes (bevorstehende oder erfolgte Gewebeschädigung), der zu Reflexen und womöglich zu Emotionen führe. Das Wegziehen der Hand von einer heißen Herdplatte etwa ist ein Reflex auf den Schmerzreiz und bildet in der Summe mit anderen Reaktionen (Verziehen des Gesichtes, Erhöhung des Pulses etc.) eine Emotion. Tatsächlich ließen sich, so Damasio, Schmerzwahrnehmung und Emotion durch chirurgische Eingriffe oder durch Hypnose trennen.251 Wenn eine Emotion vom Gehirn ausgelöst wird, wenn also dispositionale Repräsentationen zu einem expliziten neuronalen Aktivitätsmuster aktiviert werden, dann treten Veränderungen nicht nur im Körper, sondern außerdem im Gehirn selbst ein. Im Gehirn einerseits löst die Ausschüttung von Neuromodulatoren Veränderungen des kognitiven Zustands aus. So könne z. B. die Produktionsrate oder der Fokus von Vorstellungen erhöht oder vermindert werden.252 Auch die Verarbeitung von Körperzuständen im Gehirn kann auf diese Weise moduliert werden, so dass Körpersignale gehemmt oder verstärkt werden. Andererseits werden im Körper im engeren Sinn die oben bereits

perlichen Homöostase – eine Emotion und ein Verhalten zur Homöostasesicherung auslösen kann, erscheint mir einleuchtend. Wird Lust aber tatsächlich eingeleitet „durch die Entdeckung eines Ungleichgewichts […], etwa durch niedrigen Blutzucker“ (Damasio, Ich fühle, 99.) im Falle von Hunger? In diesem Fall wäre Lust verhaltensauslösend. Intuitiv würde ich aber Lust mit der Erfüllung z. B. eines Triebes (Nahrungsaufnahme, Sexualität) verbinden, nicht mit der Entdeckung des vorausgehenden Mangels. Vgl. ebd.: „Der lustvolle Zustand kann schon während der Suche beginnen und steigert sich, wenn das Ziel erreicht wird.“ 251 Damasio, Ich fühle, 95ff beschreibt, wie Schmerzpatienten etwa durch eine Leukotomie oder durch Hypnose die emotionale Reaktion auf die sensorischen Muster der Schmerzwahrnehmung genommen werden kann, ohne dass es zwingend zu einer Reduktion der eigentlichen Nozizeption kommen muss. Die hypnotische ,Abschaltung‘ der Emotion ist dabei mit einer funktionalen Veränderungen im cingulären Cortex verbunden, während eine auf die Schmerzempfindung an sich gerichtete Suggestion Veränderungen in S1 und dem cingulären Cortex hervorrufen. Was bei Damasio leider unklar bleibt, ist, ob Nozizeption und Emotion unterschiedliche Wirkungen „derselben Ursache“ (a. a. O., 92.), nämlich desselben Reizes, sind, oder ob die Emotion durch den Schmerz hervorgerufen wird (Vgl. a. a. O., 95: „Bei einem Patienten war die Trennung zwischen dem Schmerz als solchem und der durch den Schmerz hervorgerufenen Emotion außerordentlich deutlich.“), also eine Konsequenz des Schmerzes ist. Letzteres scheint mir die Meinung Damasios genauer zu treffen, da eine Emotion ausbleibt, wenn das Schmerzempfinden ausgeschaltet wird, man also kaum von einer parallelen Reizverarbeitung (Nozizeption und Emotion) ausgehen kann. 252 Man beachte den Sprung über die Erklärungslücke.

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beschriebenen emotiven Reaktionen humoral und auf dem Wege der Nervenbahnen ausgelöst. Der zweite Schritt auf dem Weg zu Bewusstsein ist nach Damasio derjenige von einer Emotion zu einem Gefühl. Dazu kommt es, wenn diese beiden Aktivierungskonsequenzen (Veränderungen im Gehirn sowie des körperlichen Zustands) wiederum vom Gehirn registriert werden. Eine Emotion durchläuft also in der Regel die „Körperschleife“253, um zu einem Gefühl zu werden. Damasios Definition eines Gefühls lautet daher : „Es ist die Repräsentation der vorübergehenden Veränderungen im Zustand des Organismus in Form neuronaler Muster und der daraus folgenden Vorstellungen.“254 Bei all diesen Ausführungen ist zu bedenken, dass Damasios Theorie zufolge das Auftreten von Emotionen oder Gefühlen nicht notwendig mit dem bewussten Fühlen eines Gefühls einhergehen muss.255 D.h., dass im Gehirn die 253 Damasio, Ich fühle, 102. Die Körperschleife kann auch umgangen werden, was Damasio dann mit „Als-ob-Körperschleife“ bezeichnet. „Bei diesem alternativen Mechanismus wird die Repräsentation von körperbezogenen Veränderungen direkt in sensorischen Karten des Körpers hervorgerufen, die von anderen neuronalen Regionen kontrolliert werden, etwa dem präfrontalen Cortex. Es hat den Anschein, ,als ob‘ der Körper wirklich verändert worden wäre, was tatsächlich aber nicht der Fall ist.“ (Ebd. und beinahe wortgleich a. a. O., 337). 254 Damasio, Ich fühle, 339. Wolfgang Lenzen kritisiert am Begriff des Hintergrundgefühls, dass nach Damasios Beschreibung in Descartes’ Irrtum, 207ff, Hintergrundgefühle gerade darin bestehen, dass der Körper nicht (oder nicht in hohem Maße) von Emotionen verändert würde. Wenn man also wie Lenzen einen körperlichen „Normalzustand“ annimmt und Emotionen als „deutliche Abweichung von diesem Normalzustand“ (Lenzen, Theorie, 281.) definiert, dann lässt sich schlüssig folgern: „Hintergrundgefühle sind Wahrnehmungen von Nicht-Emotionen, d. h. von Körperzuständen, die nicht deutlich vom Normalzustand abweichen.“ (A.a.O., 283). Meines Erachtens legt Lenzen den Finger zu Recht auf den kritischen Punkt, Damasio könnte den Emotions-Begriff überstrapazieren, wenn alles, was im Körper geschieht, eine Emotion sein soll. In der Tat lässt sich Damasios Darstellung des „Stammbaums“ der verschiedenen Ebenen homöostatischer Regulation (vgl. Damasio, Spinoza-Effekt, 42.) so verstehen, dass „eigentliche Emotionen“ lediglich die Krone über etlichen nicht-emotiven Regulationsmechanismen seien (so: Lenzen, Theorie, 284). Jedoch sind nach Damasios Verständnis die „Wurzeln“ der homöostatischen Dynamik Bestandteile der eigentlichen Emotionen. „Emotionen und verwandte Phänomene bilden die Grundlage für Gefühle“ (a. a. O., 38. Hervorhebung von S.S.), schreibt der Neurobiologe. Ich halte es für möglich, dass Wolfgang Lenzen der falschen Vorstellung aufsitzt, einen statischen Normalzustand eines lebenden Organismus anzunehmen. Hintergrundgefühle können aber u. a. daraus bestehen, dass das Gehirn die normalen Veränderungen des Körpers registriert. Die Auflistung der ständig im Gehirn kartierten Parameter des inneren Organismuszustands bei Damasio, Ich fühle, 344 scheinen mir genau diese Position zu treffen. So schreibt Damasio auch an anderer Stelle, dass „[l]ebensnotwendige Regulationsprozesse […] Hintergrundemotionen auslösen“ (a. a. O., 69.) können. 255 Damasio, Ich fühle, 51 unterscheidet „einen emotionalen Zustand, der nichtbewusst ausgelöst werden kann; einen Gefühlszustand, der nichtbewusst repräsentiert werden kann; und einen bewusst gemachten Gefühlszustand, das heißt, einen Zustand, in dem der Organismus weiß, dass er sowohl Emotionen als auch Gefühl hat.“ Wolfgang Lenzen problematisiert diese Dreiteilung aus philosophischer Sicht, da es seiner Meinung nach keine ungefühlten Gefühle geben kann. „Was wäre eine Wut, die nicht als Wut, was ein Ekel, der nicht als Ekel empfunden wird?“ (Lenzen, Theorie, 293). Und umgekehrt stellt sich Lenzen die Frage: „Gibt es sozusagen ,heimatlose‘ Gefühle, Gefühle, die von dem betroffenen Subjekt nicht als ihm zugehörig

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emotiven Veränderungen kartiert werden können, ohne zu einer mentalen Vorstellung werden zu müssen. Zum gefühlten Gefühl, d. h. zum Bewusstsein, dass Emotion und Gefühl vorhanden sind, kommt es dagegen erst, wenn im Gehirn weitere Strukturen angelegt sind, die die Aktivität der emotionsauslösenden Regionen sowie die daraus resultierenden Veränderungen gemeinsam mit einer Objektvorstellung re-repräsentieren können. Es sollte also kurz beschrieben werden, wie das Gehirn die Veränderungen des Körpers registriert, bevor dargestellt werden kann, wie es nach Damasio im nächsten Schritt zum Bewusstsein von Gefühlen – also zu Selbstbewusstsein kommt. Ersteres – die unbewusste Kartierung der Körperveränderungen – geschieht in somatosensorischen Regionen, die das konstituieren, was Damasio das Proto-Selbst nennt.

2.3.2 Innerhalb des Gehirns: Proto-Selbst, Kernselbst, erweitertes Selbst Zum Fühlen einer Emotion – d.h für ein zunächst ,unbewusstes Gefühl‘ – bedarf es also einer globalen Kartierung des Körperzustands und dessen Veränderungen im Gehirn. Diese Kartierung aller Aspekte des gesamten Organismus leistet das somatosensorische System des Gehirns. Damasio unterscheidet drei Subsysteme zur Kartierung des Körperzustandes: „das System des inneren Milieus und der Viszera, das System des Vestibularsystems und des Bewegungsapparates sowie das System des Feintastsinns.“256 Das erstgenannte System arbeitet rein introzeptiv, registriert also Signale z. B. über den chemischen Haushalt des Körpers, ohne dazu auf Nervenbahnen zurückzugreifen. Es verarbeitet außerdem über Nervenbahnen gesandte Reize. Hierzu zählen z. B. Schmerzreize im Inneren des Körpers, Aspekte des inneren Milieus257 und der Zustand der glatten Muskeln. Das System des Bewegungsapparates übermittelt den Zustand der gestreiften Muskulatur an das Gehirn. Zusammen mit dem Vestibularsystem entstehen so etliche Karten propriozeptiv-kinästhetischer Art. Der Feintastsinn informiert schließlich über Veränderungen der Hautsensoren, ist somit auf das Körperäußere ausgerichtet, scheint aber für die Entstehung dessen, was Damasio „Proto-Selbst“ nennt, eher unbedeutend zu sein. empfunden werden?“ (A.a.O., 294). Es scheint mir, als liege hier v. a. eine begriffliche Unklarheit vor: Was der Neurobiologe ein „unbewusstes Gefühl“ getauft hat, nämlich die neuronale Repräsentation einer veränderten Körperlandschaft, kann vom Subjekt nicht als „nicht ihm zugehörig empfunden“ werden, da ein solches neuronales Muster, auch wenn man es missverständlich mit dem Begriff „Gefühl“ benennt, nicht bewusst werden muss. Dass es allerdings Gedanken gebe, denen „der rechtmäßige Besitzer fehlt“ (Damasio, Ich fühle, 160.), halte ich – in Übereinstimmung mit Lenzen – für eine Unmöglichkeit. 256 Damasio, Ich fühle, 182 f. 257 So werden etwa Sauerstoff- und Kohlendioxidkonzentration sowohl über die Blutbahn als auch über Nervenbahnen kartiert.

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„Das Proto-Selbst besteht aus einer zusammenhängenden Sammlung von neuronalen Mustern, die den physischen Zustand des Organismus in seinen vielen Dimensionen fortlaufend abbilden.“258 Das Proto-Selbst ist nicht bewusst, verfügt nicht über Sprache und auch nicht über Wissen. Es stellt lediglich eine notwendige Voraussetzung für das Fühlen einer Emotion und in der Konsequenz für die Entwicklung von Kernbewusstsein und erweitertem Bewusstsein dar, wie später zu zeigen ist. Auch – und darauf legt Damasio Wert – darf es nicht mit einem zentralen Homunkulus verwechselt werden. „Das Proto-Selbst manifestiert sich nicht an einem Ort, sondern entsteht dynamisch und fortlaufend aus vielfältig interagierenden Signalen, die sich über verschiedene Bereiche des Nervensystems erstrecken.“259 Ohne auf die im Detail gut erforschten neuronalen Abläufe bei Sinneswahrnehmungen eingehen zu müssen260, kommt es für Damasios Bewusstseinstheorie besonders darauf an, dass wahrgenommene Objekte sowohl motorische Antworten – „Anpassungsbewegungen, die erforderlich sind, um weitere Signale von dem Objekt zu erhalten“261 – als auch emotionale Reaktionen im Körper hervorrufen. „Mit anderen Worten die Erzeugung des ZuErkennenden ist unvermeidlich begleitet von einer komplexen Wirkung auf das Proto-Selbst“262, welches die neuronale Basis für Wahrnehmungssubjektivität ist. Anpassungsbewegungen und emotionale Reaktion werden nach Damasio als dem Objekt in gewisser Weise zugehörig erfahren, gespeichert und erinnert. Um es noch einmal zu wiederholen: Vorstellungsobjekte können entweder äußerlich vorhanden sein oder aus dem Gedächtnis durch Re-Aktivierung der primären sensorischen Areale abgerufen werden. Zu diesen dispositionalen Erinnerungen an ein Objekt, das einmal real wahrgenommen wurde, gehören nicht nur Aufzeichnungen der sensorischen Aspekte wie Farbe, Form oder Klang, sondern auch Aufzeichnungen der Anpassungsreaktionen, welche die sensorischen Signale notwendig begleiten. Ferner enthalten die Erinne-

258 Damasio, Ich fühle, 187. 259 Damasio, Ich fühle, 188. Damasio benennt als konstitutive Gehirnstrukturen (aufsteigend vom Rückenmark): Kerne des Hirnstamms in der Formatio reticularis, den Hypothalamus, das basale Vorderhirn, den insulären Cortex, die Cortexfelder S2 und den medialen parietalen Cortex. (Vgl. a. a. O., 189 f). 260 Die Erforschung der Sinneswahrnehmung ist an etlichen Orten eingehend beschrieben worden und trägt für meine Ausführungen wenig Relevanz. Sehr umfangreich kompiliert und verständlich dargelegt finden sich die aktuellen Ergebnisse bei: Eugen Drewermann, Das Gehirn: Grundlagen und Erkenntnisse der Hirnforschung, Düsseldorf 32006. 261 Damasio, Ich fühle, 195. „So etwas wie die reine Wahrnehmung eines Objekts in einem Sinneskanal, etwa dem Sehen, gibt es nicht. Die gleichzeitig erfolgenden Veränderungen, die ich eben beschrieben habe, sind keine fakultativen Begleiterscheinungen. Um ein Objekt wahrzunehmen, visuell oder anders, ist der Organismus sowohl auf spezialisierte sensorische Signale angewiesen als auch auf Signale von den Anpassungsmaßnahmen des Körpers, die notwendig sind, damit die Wahrnehmung stattfinden kann.“ (A.a.o., 180). 262 Damasio, Ich fühle, 195.

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rungen auch Aufzeichnungen der unvermeidlichen emotionalen Reaktionen auf das Objekt.263

Bisher lässt sich also zusammenfassen, dass sowohl äußere Sinneswahrnehmungen als auch der eigene Organismus – der Körper im engeren Sinn sowie die emotionsauslösenden Regionen des Gehirns – im Gehirn in neuronalen Mustern kartiert werden. Wie aber kommt es zur Erkenntnis, dass beide Ereignisse kausal aufeinander bezogen sind, in dem Sinne, dass das Objekt den Organismus verändert, während dieser es wahrnimmt? Dies ist in Damasios Terminologie die Frage nach dem „Kernbewusstsein“ und den dafür erforderlichen „Hirnstrukturen zweiter Ordnung“: Kernbewusstsein liegt vor, wenn die Repräsentationsmechanismen des Gehirns einen vorgestellten, nicht sprachlichen Bericht erzeugen, in dem niedergelegt ist, wie der eigene Zustand des Organismus davon beeinflusst wird, dass er ein Objekt verarbeitet, und wenn dieser Prozess die Vorstellung von dem verursachenden Objekt verstärkt, so dass es in einem räumlichen und zeitlichen Kontext hervorgehoben wird.264

Was Damasio mit Erzeugung eines „nicht sprachlichen Berichts“ meint, ist, dass es im Gehirn Strukturen gibt, die neuronale Muster zweiter Ordnung erzeugen, welche ihrerseits – Achtung: explanatory gap! – zu einer mentalen Vorstellung werden. Diese Strukturen müssen gleichermaßen Signale von denjenigen Hirnstrukturen erster Ordnung empfangen können, die entweder Objekt- oder Körperkarten erstellen. Sie müssen aber außerdem Feedbackwege in die Strukturen erster Ordnung haben, damit sie die Objektvorstellungen verstärken können.265 Durch die Verstärkung – Damasio spricht von Hervorhebung in räumlichem und zeitlichem Kontext – passiert es, dass ein Objekt mit höherer Aufmerksamkeit versehen wird.266 Infrage kommen für Damasio als „Bewusstseinsgeneratoren“267 – als solche Gehirnstrukturen zweiter Ordnung – die Colliculi superiores, der Thalamus, der gesamte cinguläre Cortex und einige präfrontale Rindenfelder268. Der Vergleich, inwieweit Damasios Theorien mit denen Singers kompatibel sind, oder sich von ihnen im Detail unterscheiden, ist vom Laien schwer zu beantworten. Auf den ersten Blick erscheint Wolf Singers Theorie des Bewusstseins in gewisser Hinsicht der von Antonio R. Damasio sehr ähnlich. Zumindest in jener Grundthese, für die Entstehung von Bewusstsein die Notwendigkeit einer hirninternen ,Weiterverarbeitung‘ primärer Objektre263 Damasio, Ich fühle, 195. Vgl. auch a. a. O., 223. 264 Damasio, Ich fühle, 205. 265 Nach Damasio, Ich fühle, 220 geschieht dies „unter anderem durch thalamocorticale Modulation und die Aktivierung von cholinergen und monoaminergen Kernen im basalen Vorderhirn und Hirnstamm, die anschließend alle auf die corticale Verarbeitung einwirken.“ 266 Damasio, Ich fühle, 115: „Der Prozess des Kernbewusstseins […] schärft die höhere Aufmerksamkeit.“ 267 Damasio, Ich fühle, 218. 268 Vgl. Damasio, Ich fühle, 219.

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präsentationen – Metarepräsentationen – zu veranschlagen, sind sich die beiden Hirnforscher einig.269 Die neuronalen Grundlagen, die zum Bewusstsein führen könnten, werden aber offensichtlich unterschiedlich identifiziert. Damasios Konzept ist vornehmlich an anatomisch distinkten Strukturen orientiert und streift die Frage der Bindung durch Synchronisation nur nebenbei. So sind es bei Damasio genau benannte Regionen, in denen Karten zweiter Ordnung entstehen, wodurch Bewusstsein generiert wird. Dass es dem Gehirn trotz seiner multiplen und lokal getrennten Kartierungen gelingt, einheitliche Objektkarten aus den verschiedenen Sinnesmodalitäten zu bilden, sowie im weiteren Prozess ein integrales Bewusstsein aus lokal getrennten Karten zweiter Ordnung zu generieren, wird von Damasio in seinen populärwissenschaftlichen Büchern eher beiläufig auf zeitliche Verknüpfung durch synchrone Aktivität in den verschiedenen Karten zurückgeführt. Da diese verschiedenen Regionen ganz offensichtlich ein integrales Kernbewusstsein erzeugen, nimmt Damasio an, „dass unter normalen Umständen mehrere Karten zweiter Ordnung, die verschiedene Aspekte der Objekt-Verarbeitung erfassen, parallel in etwa dem gleichen Zeitintervall erzeugt werden. Danach entstünde das Kernbewusstsein für dieses Objekt aus einer Zusammenfassung mehrerer Karten zweiter Ordnung“, welche sich „aus dem Zusammenspiel von Colliculi superiores und den cingulären Cortexfeldern unter der Koordination des Thalamus ergeben“270 dürfte. Nur so, d. h. durch zeitlich abgestimmte Neuronenaktivität, kann es nach Damasio zu einem einheitlichen überregionalen neuronalen Muster kommen, das als einheitliches Bewusstsein erlebt wird. „Wenn die Aktivität in anatomisch getrennten Hirnregionen abläuft, dies aber annähernd im gleichen zeitlichen Rahmen geschieht, bleibt die Möglichkeit, sie gewissermaßen hinter den Kulissen zu verbinden und den Eindruck zu erwecken, daß alles am gleichen Ort geschieht.“271 Bei der Bindung von Neuronenpopulationen zu einheitlichen Repräsentationen und Metarepräsentationen als neuronale Voraussetzung von Bewusstsein spielt im übrigen die für Damasio so signifikante Körperwahrnehmung – soweit ich sehe – in Singers Theorie keine Sonderrolle. Körperempfindungen scheinen bei Singer nicht anders verarbeitet zu werden als Wahrnehmungen der Außenwelt. Sofern somatosensorische – und in gleicher Weise motorische Signale – auf höherer Hirnebene weiter prozessiert werden, treten sie ihm zufolge vor das „innere Auge“, können reflektiert werden. Wollte man den Prozess des Kernbewusstseins in Einzelakte – Damasio spricht von Pulsen – zerlegen, so würde eine isolierte Sequenz vom Aus269 Zumindest in Bezug auf Karten zweiter Ordnung bemerkt Damasio selbst, dass Singers Konzept der Metarepräsentationen ähnlich sei. Vgl. Damasio, Ich fühle, 233, Anm. 12. 270 Damasio, Ich fühle, 218 f. 271 Damasio, Irrtum, 138. Die Verbindung von anatomischen und zeitlichen Voraussetzungen für einheitliches Bewusstsein und Erinnerungen legt Damasio z. B. da in: Ders., Time-locked multiregional retrocaptivation: A systems-level proposal for the neural substrates of recall and recognition, Cognition 33 (1989), 25 – 62.

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gangszustand des Proto-Selbst (Körperkartierung) über die Wahrnehmung eines Objekts bis hin zu daraus resultierenden Veränderungen des ProtoSelbst reichen, woran der jeweils nächste ,Bewusstseinspuls‘ anschließen müsste. Dass Menschen ihr Bewusstsein nun aber gerade nicht pulsartig erleben, dass Bewusstsein vielmehr stabil und konstant erscheint, begründet Damasio damit, dass schlechterdings alles zu einem Wahrnehmungsobjekt werden und damit emotionsauslösend sein kann und dass zudem mehrere Pulse gleichzeitig erzeugt werden können.272 Es herrscht also kein Mangel an Umweltreizen, die schließlich zu Bewusstsein führen sollen.273 Das Kernbewusstsein erzeugt nach Damasio im Organismus das Gefühl von Subjektivität – das Gefühl dass ich es bin, der ein Objekt wahrnimmt –, und ruft so ein Kernselbst zu Bewusstsein. Das Selbst ist folglich nicht inhaltsleer, sondern ist wesentlich das Wissen um die Beziehung, die der Organismus mit seiner Umwelt eingeht, während er sie wahrnimmt und von ihr verändert wird. „[D]as Erstaunliche daran ist, dass die erkennbare En-tität des Fängers gerade erst durch die Erzählung des Fangens erzeugt worden ist.“274 Als Biologe sieht Damasio freilich genau wie Singer in der Inbeziehungsetzung von Objekt und Organismus – also im neuronal beschriebenen Bewusstseinsprozess – einen evolutionären Selektionsvorteil: Sie ermöglicht dem Organismus komplexere Verhaltensreaktionen auf die Umwelt, ,befreit‘ den Organismus in gewisser Weise von angeborenen Reaktionsschemata, die Damasio mit den „,Ready-mades‘ — la Duchamp“275 vergleicht. So wie das Kernbewusstsein auf den Körperkarten des Proto-Selbst fußt, ist es nun seinerseits Grundlage für das erweiterte oder autobiografische Bewusstsein. Strukturell leistet das Gehirn bei der Hervorbringung dieses erweiterten Bewusstseins wenig Neues. Lediglich die Inhalte der Objektverarbeitung werden um eine Gruppe erweitert: Durch ein beim Menschen hervorragend ausgeprägtes Faktengedächtnis und ein leistungsstarkes Arbeitsgedächtnis sei es dem Gehirn nun möglich, autobiografische Erinnerungen als zweite Klasse von Objekten in den Prozess des Kernbewusstseins einzuspeisen. Die als dispositionale Muster vorliegenden biografischen Fakten würden aktiviert, so dass sie zeitgleich mit der Verarbeitung eines externen Objekts zur Veränderung des Proto-Selbst und damit zur Erzeugung des Kernselbst beitragen.276 Nach Damasio liegen diese impliziten Erinnerungen – wie bereits 272 Vgl. Damasio, Ich fühle, 213 f. Fraglich ist mir, ob sich im Kernselbst emotionsauslösendes Objekt und Emotion vermischen können? Wie ordnen die Karten zweiter Ordnung bei gleichzeitigen Bewusstseinspulsen die richtigen Emotionen dem jeweils entsprechenden Objekt zu? 273 Vgl. außerdem die Überlegungen zu Hintergrundemotionen im Zuge der homöostatischen Regulation in Anm. 23. 274 Damasio, Ich fühle, 207. 275 Damasio, Ich fühle, 221. 276 Damasio, Ich fühle, 267 f: „Das erweiterte Bewusstsein findet statt, wenn das Arbeitsgedächtnis gleichzeitig ein bestimmtes Objekt und das autobiografische Selbst aktiv hält, mit anderen

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erwähnt – in Konvergenzzonen, d. h. in Cortices höherer Ordnung und in subcorticalen Kernen. Von dort können sie Muster in primären sensorischen Cortices, im limbischen Cortex und anderen subcorticalen Kernen hervorrufen und werden so zu expliziten Erinnerungen.277 „Jede dieser autobiografischen Erinnerungen wird dann vom Gehirn wie ein Objekt behandelt, jede wird zu einem Auslöser des Kernbewusstseins, zusammen mit dem besonderen nicht zum Selbst gehörigen Objekt, das gerade verarbeitet wird.“278 Neben relativ stabilen autobiografischen Erinnerungen speichert das Gehirn auch Inhalte, die lange Zeit nicht oder sogar überhaupt nicht mehr explizit abgerufen werden. Da Erinnerungen nicht einfach eine detailgetreue Kopie einer Situation oder eines Objekts im Gehirn darstellen, kann es dazu kommen, „dass die Erinnerungen an einige autobiografische Ereignisse unter Umständen nicht vollständig oder nicht in ihrer ursprünglichen Form rekonstruiert werden oder nie wieder das Licht des Bewusstseins erblicken.“279 So hält Damasio auch für das Reich des Unbewussten eine neurobiologische Erklärung vor. Das erweiterte Bewusstsein ist allerdings nicht ausschließlich auf die Vergangenheit bezogen. Auch Zukunftspläne haben hier ihren Ort. Vorstellungen einer möglichen Zukunft sind nach Damasio nicht viel anders organisiert als Erinnerungen an Vergangenes. In beiden Fällen würden implizite Muster im Dispositionsraum zurück in die frühen sensorischen Cortices expliziert. Bilder von etwas, das noch nicht geschehen ist und möglicherweise nie geschehen wird, sind nicht anders beschaffen als die Bilder, die Sie von tatsächlichen Ereignissen haben. Vorstellungsbilder der ersten Art sind die Erinnerungen an eine mögliche Zukunft und nicht an die Vergangenheit, die war. Diese verschiedenen Spielarten – Wahrnehmungsbilder, Erinnerungsbilder einer realen Vergangenheit und Erinnerungsbilder von Plänen für die Zukunft – sind Konstruktionen, die das Gehirn Ihres Organismus vornimmt.“280

Während das Kernbewusstsein also annähernd in der Gegenwart verankert ist, weil es stetig einen Jetzt-Bericht über die aktuell stattfindenden Verände-

277

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Worten wenn sowohl ein bestimmtes Objekt als auch die Objekte der eigenen Biografie gleichzeitig Kernbewusstsein erzeugen.“ Damasio, Ich fühle, 270: „In zahlreichen Regionen des Schläfen- und des Stirnlappens dienen Konvergenzzonen als Basis von Dispositionen, die in den frühen sensorischen Cortexfeldern ständig aufs Neue die grundlegenden Daten unserer persönlichen und sozialen Identität aktivieren: unsere Verwandtschaftsbeziehungen, unsere Freundschaften, die Orte, die unser Leben bestimmt haben, den Namen, den wir tragen, und vieles mehr.“ Damasio, Ich fühle, 239. M.E. könnte sich aus Damasios Konzept der Verknüpfung von Emotionsauslöser – ob nun ,äußerliches Objekt‘ oder ,vorgestelltes Objekt‘ – und Emotion durchaus so etwas wie Intentionalität von Emotionen ergeben. Vgl. dazu die Überlegungen bei: Lenzen, Theorie, 306 f. Damasio, Ich fühle, 274. Damasio, Irrtum, 140.

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rungen des Proto-Selbst liefert281, kann das erweiterte Bewusstsein beinahe ein ganzes Leben umfassen. Dieses Zusammenspiel des gegenwartsbezogenen Kernselbst mit dem zeitübergreifenden erweiterten Selbst könnte für Damasio eine Erklärung sein für die Erfahrung, dass sich das Selbst scheinbar ständig verändere, während man dennoch das Gefühl von Identität durch die Zeit hindurch hat. 2.3.3 Ein Wort zur Sprachfähigkeit: das Ich Damasio legt großen Wert auf die Feststellung, dass Sprache keine Bedingung für Bewusstsein ist. Das Kernselbst entsteht ihm zufolge durch einen nichtsprachlichen Bericht der Hirnstrukturen zweiter Ordnung, also durch die kontinuierlich zusammengeführte Kartierung von Körper- und Objektwahrnehmungen. Das scheint schnell einzuleuchten; wäre es doch eher beunruhigend, wenn isolierte Regionen im Gehirn einen sprachlichen Bericht abgäben. Welche Rolle Sprachfähigkeit aber für das erweiterte bzw. autobiografische Selbst spielt, bleibt in seinen Darstellungen leider etwas unklar. Einerseits schreibt Damasio manchen Tieren ein autobiografisches Selbst zu282, an anderer Stelle aber zählt er die narrative Kompetenz des Menschen zu den Bedingungen des erweiterten Selbst.283 Dass das Kernselbst des Menschen immer und unablässig von einem sprachlichen Bericht begleitet wird, ist für Damasio kein Beweis, dass nur der sprachbegabte Mensch ein Selbstbewusstsein haben könnte. Vielmehr sei der wortlose Bericht der Hirnstrukturen zweiter Ordnung seinerseits gerade die Voraussetzung für eine sprachliche Erzählung. „Das Kernselbst muss vorhanden sein, damit seine Übersetzung in ein geeignetes Wort stattfinden kann.“284 Es liegt wohl an dieser Auffassung, dass Damasio dem Phänomen der Sprache kaum Beachtung schenkt. Sie ist für seine Sichtweise auf die Entstehung von individuellem Bewusstsein nicht von Bedeutung. Hier könnte insgesamt eine noch stärkere Isolation des individuellen Organismus aus dem sozialen Kontext kritisiert werden, als man sie bei Singer feststellen muss. Singer sieht das Selbstmodell ja durchaus im Umgang mit den Mitmenschen in der Entstehung, während es bei Damasio bisweilen den Anschein macht, er 281 Der gesamte Mechanismus, der zum Kernbewusstsein führt (Reizwahrnehmung, Emotion, Gefühl, Re-Repräsentation in Strukturen zweiter Ordnung) benötigt natürlich Zeit. Der „JetztBericht“ des Kernbewusstseins ist daher immer minimal veraltet. „Wir verspäten uns mit dem Bewusstsein um ungefähr fünfhundert Millisekunden.“ (Damasio, Ich fühle, 156). Diese Erkenntnis ließe sich womöglich gewinnbringend auf die Libet-Experimente anwenden. Sie würde m. E. Libets Ergebnisse bekräftigen und außerdem Libets eigene Skepsis gegenüber der freiheitseinschränkenden Bedeutung seiner Ergebnisse im Hinblick auf langfristige Deliberationen stützen. 282 Vgl. Damasio, Ich fühle, 240. 283 Vgl. Damasio, Ich fühle, 31. 284 Damasio, Ich fühle, 225.

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wolle ,fertige Selbste‘ rein organisch herleiten. Dass ein vorhandenes „Kernselbst“ sich nur noch lediglich in einem geeigneten Wort auszusprechen braucht, scheint doch eine falsche Auffassung sowohl der evolutionären als auch der ontogenetischen Entwicklung von bewussten Personen zu transportieren. Dennoch meine ich, bei aller Unterbelichtung der Bedeutung von Sprache für das menschliche Selbstbewusstsein, dass auch Damasios Konzept mit Singers Theorie der Personwerdung im sozialen Rahmen vereinbar wäre. Denn was leistet die Sprache den wenigen Bezugnahmen zufolge dennoch in Damasios Theorie? Sie nimmt hier die Rolle einer Kompetenz dritter Ordnung ein, durch welche sich das Selbst des Organismus als „Ich“ ausspricht. In einer Nebenbemerkung nennt Damasio die Sprache das Vermögen, das aus einem autobiografischen Selbst eine Person macht.285 Dies wiederum erscheint zunächst als Widerspruch zu seiner Aussage, das autobiografische Selbst entstehe durch die stetige Aktivierung der Grunddaten meiner persönlichen und sozialen Identität.286 Denn auch hier müsste gefragt werden, ob denn ein Mensch die Grunddaten seiner – sozialen! – Identität aktivieren kann unabhängig davon, dass seine Biografie immer schon sprachlich-sozial geprägt ist. Obwohl also Damasio – mehr noch als Singer – sein Interesse stark auf das Individuum konzentriert, sehe ich keinen Grund, warum die Theorie der sozial vermittelten Ich-Identität hier nicht anschlussfähig sein könnte. Damasio stellt beiläufig fest, Sprache ermögliche eine „verfeinerte Form von Subjektivität“ und „Sprache ist vielleicht nicht der Ursprung des Selbst, aber ganz gewiß der des ,Ich‘.“287 Viel mehr findet sich bei Damasio nicht zur Rolle der Sprache. In einem Abschnitt, der mit „Autobiografisches Selbst, Identität und Personalität“ überschrieben ist, wird auf Sprache nicht ein einziges Mal Bezug genommen. Sicher wird man Damasio nicht Unrecht tun, wenn man seine Ausführungen über die Prägung des autobiografischen Selbst durch Erinnerungen an frühere Umweltinteraktionen oder seine knappen Überlegungen zur kulturellen Formung des erweiterten Selbst288 in dem Sinne versteht, dass die spezifisch menschliche Prägung (Erziehung, Erfahrung, Kultur) größtenteils sprachlich vonstattengeht. Ohne das Thema an dieser Stelle erneut aufzugreifen, will ich im Folgenden einige Anmerkungen zu den Stärken und Schwächen der beschriebenen Bewusstseinstheorie machen.

285 286 287 288

Vgl. Damasio, Ich fühle, 240. Vgl. Anm. 277. Dasmasio, Irrtum, 323. Vgl. Damasio, Ich fühle, 276 f.

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2.3.4 Kritische Würdigung der Theorie Damasios Der augenscheinliche Vorteil von Damasios Ausführungen, dass nämlich dem neurobiologisch Ungeschulten eine gewisse Kenntnis von Hirnprozessen in einem essayistisch-eingängigen Stil zugänglich gemacht wird, erscheint zugleich als ein Handicap seiner Darstellungen. So ist es v. a. der recht unverkrampfte Umgang mit dem mentalistischen Vokabular wie etwa den Begriffen „Geist“, „Bewusstsein“ oder „Selbst“, der bisweilen in begrifflichen Ungenauigkeiten endet. Damasio verwendet etwa den Begriff „Geist“ – im Original: „mind“ – regelmäßig, ohne dessen Zusammenhang und Unterscheidung vom Bewusstseinsbegriff genau zu bestimmen. Geist unterscheide sich von Bewusstsein, in dem Sinne, dass Bewusstsein zwar ein Teil des Geistes sei, es jenen aber auch ohne Bewusstsein gebe.289 Bewusstsein sei ein „privates Phänomen, das ganz auf die Perspektive der ersten Person beschränkt bleibt, auf jenen privaten Prozess in der ersten Person, den wir Geist nennen.“290 Im englischen Original unterscheidet Damasio „consciousness“ und „mind“ sprachlich lediglich dadurch, dass ersteres ein „phenomenon“, Geist aber ein „process“ sei und dass weiterhin Bewusstsein einen Teil des Geistes ausmache. Ansonsten gilt für beide: sie sind „privat“ und darum nur in der Perspektive der ersten Person. Wenn Geist aber ein „Prozess in der ersten Person“ ist, dann scheint doch Subjektivität bzw. eben Bewusstsein folglich eine Voraussetzung oder ein konstitutives Element des Geistes darzustellen.291 Oder wer ist in Damasios Konzept jene „erste Person“, wenn nicht die bewusste Person als Träger von Geist? Wie aber gibt es in Damasios Konzept dann „Geist“ ohne „Bewusstsein“? Soll Geist mehr sein als vom Bewusstsein umfasst wird – und dies ist Damasios Auffassung –, so muss es auch geistige Prozesse geben, die nicht „in der ersten Person“ stattfinden, sondern unbewusst – im Grunde herrenlos! – bleiben. Das Mentale umfasst nach Damasio bewusste und unbewusste Ope-

289 Vgl. Damasio, Ich fühle, 42. 290 Damasio, Ich fühle, 24. Im Original: „Consciousness is an entirely private, first person phenomenon, which occurs as part of the private, first person process we call mind.“ (Antonio R. Damasio, The feeling of what happens. Body and emotion in the making of consciousness, New York 1999, 12.) Den Mangel an begrifflicher Klarheit beklagt auch: Lenzen, Theorie, 272. 291 In der Tat könnte folgende Bestimmung derart verstanden werden, dass Bewusstsein nicht ein Teil geistiger Prozesse neben anderen sei, sondern konstitutives Element des Geistes: „Ich bin also der Ansicht, daß ein Organismus dann Geist besitzt, wenn er neuronale Repräsentationen bildet, die zu Vorstellungsbildern werden, sich in einem Prozeß, den wir Denken nennen, manipulieren lassen und schließlich das Verhalten beeinflussen“ (Damasio, Irrtum, 131.). Auch in „Ich fühle, also bin ich“ beschreibt Damasio den „Prozess, den wir als Geist bezeichnen, wenn Vorstellungen infolge des Bewusstseins zu den unseren werden“ als einen „Vorstellungsfluss“ und fügt hinzu: „,Denken‘ ist kein schlechtes Wort zur Bezeichnung eines solchen Vorstellungsflusses.“ (Damasio, Ich fühle, 382 f). Geist = Denken = Bewusstsein?

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rationen292, d. h.: unbewusste Vorstellungen, unbewusste mentale Muster.293 Um in der Terminologie Damasios zu bleiben, gibt es Bereiche des Geistes die derart „privat“ sind, dass sie nicht ins Bewusstsein treten. Woher aber, wenn Vorstellungen – im Gegensatz zu neuronalen Mustern – nicht anders als in der Ersten-Person-Perspektive zugänglich sind, wissen wir von jenem unbewussten Teil des Geistes? Er ist „nicht direkt“294 zugänglich, gibt Damasio bei, ohne zu erklären, worin denn ein indirekter Weg bestehen könnte, unbewusste Vorstellungen zu erkennen.295 Sollte er dabei tatsächlich im Sinn haben, wie Wolfgang Lenzen Damasio an dieser Stelle deutet, dass man durch die Feststellung unbewusster neuronaler Muster (aus der Dritten-Person-Perspektive) auf die Existenz unbewusster mentaler Muster schließen könnte296, so würde er seiner eigenen Bedingung widersprechen, da der Hirnforscher unentwegt betont, dass neuronale und mentale Muster nicht zu verwechseln seien.297 Womöglich scheint Damasio hier ein psychoanalytisches Konzept des Unbewussten zu vertreten. Wenn ich dies recht deute, könnte jener indirekte Weg, unbewusste mentale Phänomene zu erfassen, nur in der externalisierten Entdeckung von Verhaltensdeterminanten bestehen, die man mit einer Theorie des Geistes zu erklären versucht. Will man allerdings vom Verhalten auf geistige Prozesse schließen, legt man also eine Theorie des Geistes an, so befindet man sich wiederum automatisch in der Dritten-Person-Perspektive. Mit dem Themenkomplex „Geist/Bewusstsein“ ist des Weiteren dasjenige verbunden, das bei Damasio in den verschiedenen Spielarten des „Selbst“ zur Sprache kommt. Zunächst einmal bleibt es auch hier unklar, in welchem Verhältnis Damasio zufolge „Selbst“ und „Bewusstsein“ stehen. Sind sie überhaupt unterschieden oder doch identisch? Mal heißt es bei Damasio, das Bewusstsein statte den Organismus mit einem Selbst aus: So führe das Kernbewusstsein zu einem Kernselbst und das erweiterte Bewusstsein vermittele folglich „dem Organismus einen höheren Selbst-Sinn – Identität und Personalität, ein Sie oder Ich“.298 An anderer Stelle aber liest man, das jeweilige (Kern- oder erweiterte) Bewusstsein baue auf dem entsprechenden Selbst auf: Vgl. Damasio, Ich fühle, 24, Anm. 7. Vgl. Damasio, Ich fühle, 382. Damasio, Ich fühle, 382. Bezieht man, wie Wolfgang Lenzen dies in seinem Aufsatz tut, die Konzepte des Englischen Empirismus, wonach Vorstellungen „per Definition untrennbar mit Geist, Denken und Bewusstsein verknüpft“ (Lenzen, Theorie, 286.) sind, auf Damasio, so stellt der Begriff einer „unbewussten Vorstellung“ tatsächlich eine contradictio in adiectio dar : „Die Annahme eines unbewussten Denkens im Allgemeinen oder unbewusster Gefühle im Besonderen wäre schlicht und einfach absurd.“ (Ebd.). 296 Vgl. Lenzen, Theorie, 286. 297 Vgl. Damasio, Ich fühle, 381 f und 387 f. Zu solchen „Prozessen und Inhalten, die nichtbewusst bleiben,“ zählt Damasio Vorstellungen – also mentale Muster –, die keine Beachtung finden, ausdrücklich getrennt von neuronalen Mustern, die überhaupt nicht zu Vorstellungen werden. (Vgl. Damasio, Ich fühle, 275). 298 Damasio, Ich fühle, 29.

292 293 294 295

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[D]ie nicht bewussten neuronalen Signale eines individuellen Organismus erzeugen das Proto-Selbst, das die Voraussetzung für Kernselbst und Kernbewusstsein bildet, die wiederum ein autobiografisches Selbst ermöglichen, auf dem das erweiterte Bewusstsein aufbaut.299

Da das „Proto-Selbst“ völlig unbewusst300 – tatsächlich eine rein neuronale Kartierung im Gehirn – und dennoch seinerseits die Voraussetzung für die Entstehung eines „Kernbewusstseins“ ist, erscheint mir der logische Zusammenhang, wie er leider von Damasio an keiner Stelle explizit dargestellt wird, zu sein, dass das Proto-Selbst ein Bewusstsein ermöglicht, welches von ihm auch als „Gefühl von Subjektivität“ bezeichnet wird – oder „Kernselbst“ genannt wird. Dieses Gefühl der Subjektivität ist die Grundlage für das „erweiterte Bewusstsein“, in dem Sinne, dass Ereignisse als auto-biografische Ereignisse gespeichert und erinnert bzw. antizipiert werden, und jenes Selbst, dessen sich das erweiterte Bewusstsein bewusst wird, wird von Damasio als „autobiografisches Selbst“ bezeichnet. So gehören – abgesehen vom notwendig unbewussten „Proto-Selbst“ – Bewusstsein und Subjektivität bei Damasio unlösbar zusammen.301 Die begriffliche Unterscheidung von Bewusstsein und Selbst scheint bei Damasio der Ahnung geschuldet zu sein, dass Bewusstsein immer auch jemandes Bewusstsein ist, dass also Bewusstsein grundsätzlich von Subjektivität – von einem „Selbst-Sinn“ – geprägt ist.302 Ich sehe in diesen Überlegungen einen Ansatzpunkt für meine obige Annahme, dass der „Film-im-Gehirn“ womöglich keineswegs das erste Problem des Bewusstseins darstellt, sondern sich ergibt aus dem Umstand, dass das Gehirn einen „Beobachter“ konstruiert, für den Wahrnehmungen eine bestimmte Qualität haben. Allerdings widerstreitet diese Annahme Damasios Ansichten, da – und hier schließt das oben behandelte Problem wieder an – 299 Damasio, Ich fühle, 278. 300 Dem Versuch, jedes Selbst mit einem korrespondierenden Bewusstsein zu versehen (Lenzen, Theorie, 290: „Angesichts der Tatsache, dass die ,Wahrnehmung‘ des eigenen Körpers auch unbewusst erfolgen darf, stellt es jedoch eine absolute Überstrapazierung des Begriffs dar, hier von einem Proto-Bewusstsein sprechen zu wollen.“), wird im Hinblick auf das Proto-Selbst von Damasio ausdrücklich widersprochen. Die Wahrnehmung des eigenen Körpers durch Hirnstrukturen zur Kartierung des „Proto-Selbst“ sei vielmehr grundsätzlich ohne Bewusstsein. 301 Damasio, Ich fühle, 32: „Wenn ,Selbst-Bewusstsein‘ verstanden wird als ,Bewusstsein mit einem Selbst-Sinn‘, wird von dem Begriff notwendigerweise jede Form menschlichen Bewusstseins erfasst – denn soweit ich erkennen kann, gibt es keine andere Art von Bewusstsein.“ 302 Es ist deshalb auch nicht richtig, wie Wolfgang Lenzen meint, dass Damasio Fälle anführt, in denen „Patienten zwar das Bewusstsein verblieben, der ,Selbst-Sinn‘ jedoch abhanden gekommen sei.“ (Lenzen, Theorie, 295.) Vielmehr beschreibt Damasio neurophysiologische Begebenheiten, in denen – zumeist zeitlich begrenzt – das Bewusstsein und damit zugleich notwendigerweise jeder Selbst-Sinn aufgehoben sei, ohne jedoch Wachsein, basale Aufmerksamkeit oder arousal zu beenden. (Vgl. hierzu Damasio, Ich fühle, 16 ff. Hier ist ausdrücklich von einem „Bewusstseinsausfall“ die Rede und es wird festgestellt, „dass [der] Selbst-Sinn ein unverzichtbarer Teil des Bewusstseins sei“.) Diese sog. Absence-Fälle zeichnen sich dadurch aus, dass die Patienten während dieser Zeit keine Erfahrungen machen, die sie auf sich beziehen könnten.

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Bewusstsein nur eine Teilmenge aller geistigen Prozesse umfassen soll und da in diesem Zusammenhang von Damasio auch behauptet wird: „Fehlt der Selbst-Sinn im Akt des Erkennens, ist es so, als erhöbe niemand Anspruch auf die Gedanken, die man erzeugt, weil der rechtmäßige Besitzer fehlt. Ohne das Selbst hat der Organismus niemanden, dem diese Gedanken gehören.“303 In der Metapher verweilend müsste man also sagen, dass in einem solchen Falle im Geist eines Organismus durchaus ein Film abliefe – allein, er würde von niemandem betrachtet. Was für auf französische Filme spezialisierte Programmkinos bisweilen gelten mag, soll auch im bewusstseinslosen Geist stattfinden.304 Wer aber ist in dem obigen Satz mit „man“ bezeichnet? Wer erzeugt hier Gedanken? Der Organismus? Ich kann es nicht sein – ich würde Besitzansprüche auf diese Gedanken anmelden.305 Dass es also besitzerlose Gedanken gebe, will mir ebenso wenig einleuchten wie Damasios Bemerkung, dem Akt des Erkennens könne der Selbst-Sinn fehlen. Wie eingangs schon zitiert erachtet Damasio selbst das Gefühl von Subjektivität als erforderlich für den eigentlichen Erkenntnisakt306, und begibt sich so erneut in Widersprüche. Denn entweder erfordert Erkenntnis das Bewusstsein eines „Selbstes“307 in gleichem Maße wie auch Denken eine bewusste, also unter Beteiligung des Selbst statthabende Manipulation geistiger Inhalte ist308, oder Bewusstsein ist für das Erkennen von Gegenständen oder für das Haben geistiger Inhalte entbehrlich. Ungeachtet der benannten begrifflichen Schwierigkeiten will ich für den Fortgang dieser Arbeit einige Punkte benennen, die in Damasios Bewusst303 Damasio, Ich fühle, 160. 304 In der Beschreibung eines stereotypen Absence-Anfalles sagt Damasio genau dies, dass der Patient auch ohne Bewusstsein geistige Prozesse vollziehen könne. „[D]em Patienten wären einige elementare Aspekte des menschlichen Geistes geblieben und sein Geist hätte über einige Inhalte verfügt, die sich auf die Objekte in der Umgebung bezogen hätten“ (Damasio, Ich fühle, 123.) , der Patient wäre aber nicht imstande zu überlegten Handlungen. Aus dem Verhalten eines „abwesenden“ Patienten (z. B. dem Trinken aus einer Tasse oder dem Durchschreiten einer Tür) wird hier auf geistige Prozesse geschlossen. Das Verhalten eines Absence-Patienten unterliegt dabei einer doppelten Beschränkung: Die Objekte des Verhaltens sind zeitlich und räumlich präsent; zudem besteht das Verhalten lediglich aus automatisierten Handlungen. Ob der Patient hierbei Gedanken bildet und ob er die Gegenstände seiner „Handlungen“ im vollen Sinne erkennt, muss aus der Dritten-Person-Perspektive fraglich bleiben. Damasio sieht grundsätzlich die Lösung des methodischen Problems, dass geistige Prozesse nicht in der Dritten-Person-Perspektive beobachtbar sind, darin, dass aus beobachtbarem Verhalten eine Theorie des Geistes entworfen werden kann. (Vgl. Damasio, Ich fühle, 104ff). Bereits die Tatsache aber, dass ich bisweilen über meinen Computer oder den Hund meiner Nachbarn eine Theorie des Geistes entwickle, stellt diese „Lösung“ erheblich infrage. 305 Vgl. die Kritik bei Lenzen, Theorie, 294 f. 306 Vgl. o. Anm. 239. 307 So attestiert er einem Absence-Patienten ausdrücklich: „sein Selbst-Sinn und seine Erkenntnisfähigkeit waren aufgehoben.“ (Damasio, Ich fühle, 17). 308 Damasio scheint durchaus davon auszugehen, dass Denken eine aktive Handlung eines personalen Subjekts sei. (Vgl. o. Anm. 60.) Gerade dies wird von anderen Hirnforschern wie etwa Wolf Singer bestritten.

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seinstheorie herausgestellt werden und die sich m. E. für die theologische Auseinandersetzung um die Willensfreiheit als ertragreich erweisen. Dabei ist zunächst jedoch zu betonen, dass Damasio seinerseits die Fragen von Wille und Freiheit nicht weiter in den Fokus seiner Untersuchung rückt. Er lehnt Willensfreiheit keineswegs ab, scheint sie vielmehr als selbstverständlich vorauszusetzen309. Gleichwohl kommt der Hirnforscher v. a. in „Descartes’ Irrtum“ zumindest implizit zu dem Ergebnis, dass Emotionen in konkreten Entscheidungssituationen die grundlegende Rolle in der Bewertung von alternativen Optionen spielen. Die Hauptthese von „Descartes’ Irrtum“ lautet entsprechend, dass ein gelingendes Leben grundlegend abhängt von der Fähigkeit des Gehirns, Rückmeldungen aus dem Körper – sog. somatische Marker – zu empfangen und auszuwerten.310 Damasio behauptet damit, dass der Körper Entscheidungsoptionen mit emotiven Reaktionen versieht, die vom Gehirn unbewusst in den Entscheidungsprozess involviert werden.311 Er widerspricht also der Vorstellung, menschliche Entscheidungen seien am besten unter Ausschluss jeder Emotion zu fällen; ein kühler Kopf garantiert kein gelingendes Leben. Die Gehirne von Patienten mit Läsionen der somatosensorischen Areale (v. a. des präfrontalen Cortex) können nach Damasio bei unverminderter theoretischer Problemlösungsfähigkeit die „somatischen Marker“ nicht mehr auswerten und daher können diese Patienten ihre praktischen Lebensentscheidungen nicht mehr zum Gelingen des eigenen Lebens treffen.312 Dennoch lehnt Damasio ausdrücklich die Meinung ab, Gefühle allein könnten das bewusste Denken einfach ersetzen.313 Vielmehr lautet seine These, dass bewusstes Denken eine „Erweiterung des automatischen Gefühlssystems“314 sei, wobei dem Bewusstsein die größere Weitsicht und letztgültige Wirksamkeit zugestanden werden müsste. Dies scheint so 309 Damasio, Irrtum, 176 rechnet den freien Willen ganz selbstverständlich zu einer Reihe anderer „löbliche[r] Eigenschaften“ mit dem generellen Argument: Mentale Phänomene wie etwa Liebe, Großzügigkeit oder Mitleid verlören keineswegs an Wahrhaftigkeit, wenn sie neurobiologisch erklärt würden. Damasio wendet sich ausdrücklich gegen eine Reduktion sozialer Realitäten auf neuronale Mechanismen. „Die Wahrhaftigkeit des Gefühls (das Maß der Übereinstimmung dessen, was ich tue und sage, mit dem, was in mir vorgeht), seine Größe und Schönheit werden nicht durch die Erkenntnis gefährdet, daß Überleben, Gehirn und Erziehung viel mit den Gründen zu tun haben, warum wir solche Gefühle empfinden.“ (Ebd.). 310 Dies ist die von Damasio so genannte „Theorie der somatischen Marker“, die ich in der bisherigen Darstellung ausgeblendet habe. 311 Damasio, Ich fühle, 360 hält im Kontext eines Experiments mit Läsionspatienten fest, „dass zahlreiche Entscheidungen, die am Ende durch Rückgriff auf einschlägige Kenntnis und Logik getroffen werden, durch nichtbewusste Einflüsse gebahnt werden können, bevor Wissen und Logik richtig zum Tragen kommen. Es [sc. das Experiment] zeigt weiterhin, dass Emotionen eine wichtige Rolle für die nichtbewussten Signale spielen.“ 312 Über den spektakulären Fall des Phineas P. Gage (vgl. hierzu Damasio, Irrtum, 25 – 46.) schreibt Damasio: „Gage büßte eine spezifisch menschliche Eigenschaft ein, die Fähigkeit, seine Zukunft als soziales Wesen zu planen.“ (A.a.O., 45). 313 Vgl. Damasio, Irrtum, III. 314 Vgl. Damasio, Irrtum, IV.

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gemeint zu sein, dass der Mensch durch das, was Damasio das erweiterte Bewusstsein nennt, in der Lage ist, bei Entscheidungen zusätzlich zu automatischen emotionalen Bewertungen auch die bewusste Antizipation und die Bewertung des Antizipierten einzubeziehen.315 Damit wendet Damasio sich gegen die rationalistische Vorstellung, vernünftiges Denken und Handeln sei möglichst von Emotionen und Gefühlen freizuhalten. Das Gegenteil sei der Fall: Rationalität hänge ab und profitiere in der Regel vom Affektenleben.316 Lebewesen mit Bewusstsein können eine Verbindung herstellen zwischen der Welt der automatischen Regulation (der Welt der basalen Homöostase, die mit dem Proto-Selbst verflochten ist) und der Welt der Vorstellung (der Welt, in der Vorstellungen verschiedener Sinnesmodalitäten zu neuen Vorstellungen von Situationen zusammengefügt werden können, die noch gar nicht eingetreten sind). Die Welt der Vorstellungsprodukte – die Welt des Planens, des Entwurfs von Szenarien und der Vorhersagen über Ereignisse – ist mit der Welt des Proto-Selbst verknüpft.317

In „Descartes’ Irrtum“ bemerkt Damasio: „Sie können sich das Ganze [sc. die Hypothese der somatischen Marker] als ein automatisches System zur Bewertung von Vorhersagen vorstellen, das die außerordentlich verschiedenen Szenarien Ihrer antizipierten Zukunft beurteilt, ob Sie es wünschen oder nicht.“318 So bilden Emotionen in Damasios System auch dann noch, wenn bewusste Zukunftsantizipation in eine „Verbindung“ mit der fundamentalen Homöostase-Regulation gestellt wird, die Basis für menschliche Entscheidungsprozesse. Was nun die Frage der Willensfreiheit angeht, sind zu Damasios Theorien zwei Dinge hevorzuheben: Erstens zielt seine Hypothese der somatischen Marker soweit ich sehe nicht darauf ab, den körpergebundenen Emotionen eine nezessierende Willensbestimmung zuzuschreiben, sondern gesteht ihnen 315 Während Damasio unter bewussten Vorstellungen anscheinend vor allem „Sinnesbilder“ einer antizipierten Zukunft versteht, wobei Sprache keine Sonderrolle zu spielen scheint, betont Terrence W. Deacon, dass es gerade die sprachlich-symbolische Fähigkeit ist, die uns zu elaborierten Zukunftsplanungen befähigt. „The ability to use virtual reference to build up elaborate internal models of possible futures, and to hold these complex visions in mind with the force of the mnemonic glue of symbolic inference and descriptive shorthands, gives us unprecedented capacity to generate independent adaptive behaviors.“ (Deacon, Species, 434). 316 Damasio will in Descartes’ Irrtum darlegen, „daß Gefühle und Empfindungen vielleicht keine Eindringlinge im Reich der Vernunft sind, sondern, zu unserem Nach- und Vorteil, in ihre Netze verflochten sein könnten. Weder im Verlauf der Evolution noch in irgendeinem Individuum dürften sich die Strategien der menschlichen Vernunft unabhängig vom bestimmenden Einfluß der biologischen Regulationsmechanismen entwickelt haben, zu deren Ausdrucksformen Gefühl und Empfindung wesentlich gehören. Mehr noch, sogar wenn sich die Vernunftstrategien in den Entwicklungsjahren ausgebildet haben, hängt ihre wirksame Anwendung wahrscheinlich in beträchtlichem Maße von der steten Fähigkeit ab, Gefühle zu empfinden.“ (Damasio, Irrtum, 12). 317 Damasio, Ich fühle, 363. 318 Damasio, Irrtum, 239.

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lediglich eine inklinierende Wirkung zu. Damasio nennt das System der somatischen Marker einen „Tendenzapparat“319 und sieht dessen Vorteil vor allem in der vorrationalen Verwerfung einzelner als negativ bewerteter Optionen und der daraus resultierenden Verringerung der Wahlmöglichkeiten. „Somatische Marker dürften für normale menschliche Entscheidungsprozesse nicht ausreichen, weil danach in vielen, wenn auch nicht in allen Fällen noch ein logischer Denkprozeß und eine abschließende Selektion stattfindet. Wahrscheinlich erhöhen somatische Marker die Genauigkeit und Nützlichkeit von Entscheidungsprozessen.“320 Damit bleibt er einerseits hinter umfassend nezessaristischen Theorien zurück und es erscheint als eine Inkonsequenz seinerseits, dass er eine rein naturalistische Erklärung mentaler Phänomene anstrebt, diese aber nicht wiederum der reinen Naturbestimmtheit unterstellt. So nimmt Damasio etwa an, dass weder Biologie noch kulturelle Prägung zu einer deterministischen Festlegung des menschlichen Verhaltens führen müssen. Ob es allerdings ein schlüssiges Konzept ist, dass Damasio mentale Operationen einerseits naturalisiert und andererseits mentale Operationen wie etwa Entscheidungen als überlegen gegenüber der natürlichen Bestimmtheit darstellt, bleibt fraglich.321 Worin ich andererseits trotz dieser Inkonsequenz – m. E. müsste Damasios Biologismus deterministisch geprägt sein – eine Stärke seiner Theorie sehe, ist die konstitutive Funktion, die Damasio den Emotionen für das Entstehen von Bewusstsein und Subjektivität zuschreibt. Nicht nur phylogenetisch sieht Damasio Emotionen am Anfang der Bewusstseinsentstehung. Gerade auch für das Individuum versucht er plausibel zu machen, dass Emotionen der Grundstein des Bewusstseins sind. Sie sind somit jedem reflexiven Selbstverhältnis des Menschen vorgängig und begründen es zu allererst. Dass sie außerdem konkrete Entscheidungen in gewisser Weise präjudizieren – oder zumindest inklinieren –, kann er darum nicht als Zwang der Emotionen über den Willen bezeichnen, weil sie keine Macht über bewusste Personen ausüben, sondern die Person inhärent vorreflexiv ausrichten. Anders als etwa in der Theorie von Gerhard Roth, der in der Wirkweise der Emotionen eine Zwangseinwirkung auf menschliche Entscheidungen erkennt, kann Damasio die Funktion von Emotionen gerade für ein gelingendes – und insofern vielleicht auch freies – Leben stark machen. Die Unvorgreiflichkeit der eigenen emotional-bewertenden Bezugnahme auf Objekte und Sachverhalte wird hier zum Garanten, nicht etwa zur Gefahr für ein gutes Leben. Während Roth und 319 Damasio, Irrtum, 239. 320 Damasio, Irrtum, 238. 321 Aussagen wie diese, dass dem Menschen die Freiheit bleibe, „Handlungen zu wollen und auszuführen, die anscheinend dem zuwiderlaufen, was ihm Biologie und Kultur eingepflanzt haben“, oder dass einige „erhabene menschliche Taten […] dem Umstand zu verdanken [seien], daß ihre Urheber sich weigerten, das zu tun, was Biologie und Kultur von ihnen verlangten“ (Damasio, Irrtum, 242.), zeigen doch deutlich, dass der Naturalismus Damasios nicht konsequent auftritt.

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Singer mit der Vorstellung spielen, im Gehirn würden unbewusste Signale gleichsam an der jeweiligen Person vorbei die Herrschaft über deren Handlungen ausüben – eine latente Homunkulustheorie –, gehören Emotionen bei Damasio konstitutiv zum Sein der Person und ermöglichen eben jener Person bestmögliche Handlungsentscheidungen. Dass also bewusste Handlungsplanungen innerhalb eines emotionalen Kontexts ablaufen, stellt nicht unbedingt eine Einschränkung der Freiheit dar, sondern garantiert sowohl die bestmögliche Entscheidung als auch die persönliche Inbeziehungsetzung zu eben dieser Entscheidung. Die Unbewusstheit bestimmter Entscheidungsfaktoren wird so gerade nicht zum Grund von Selbstdistanzierungen gegenüber den eigenen Intentionen, sondern zur tiefgehenden Identifikation mit dem eigenen Willen. Dass Emotionen in Damasios Theorie das Bewusstsein überhaupt begründen, bewahrt ihn vor jener mit einem verdeckten Cartesianismus verbundenen Zwangsvorstellung — la Singer. Selbst wenn Damasio den Emotionen eine nezessierende Funktion zuschriebe, wenn also Emotionen jede Entscheidung einer Person notwendig festlegen würden, ließe sich daraus nicht folgern, dass Entscheidungen und Handlungen der fraglichen Person nicht zurechenbar seien. Warum sollte ein Ziel oder ein Objekt, das ich für erstrebenswert halte, weil es für mich emotional positiv besetzt ist, nicht mein Ziel oder Willensobjekt sein?322 Auch wenn Damasio selbst womöglich die Offenheit der Zukunft im Sinne alternativ bestehender Möglichkeiten nicht bestreiten würde, bin ich der Meinung, dass eine durch Emotionen begründete Willens- und Handlungsbestimmung auch ohne alternative Möglichkeiten die eigene Zurechenbarkeit von Handlungen begründen kann. Darum lässt sich zweitens vermuten, dass Damasio in der gelingenden Lebensgestaltung und in der dafür erforderlichen persönlichen Willensstärke, zukünftige Ziele auch gegen aktuelle Widerstände zu verfolgen, eine Form von Freiheit erkennt. Über Patienten, die etwa auf Grund einer Läsion des Stirnlappens nicht mehr die Fähigkeit besitzen, vorausplanende oder vorteilhafte Entscheidungen zu fällen, die also die nötige Willenskraft entbehren, Aufgaben konzentriert und über eine gewisse Dauer hinweg zu verfolgen, und die letztlich ihre praktischen social skills323 verloren haben, sagt Damasio aus322 „Du glaubst nur, du selber hättest die Entscheidung getroffen. In Wahrheit hat dein limbisches System die Entscheidung getroffen. Warum nicht ich, fragt man zurück? Weil die Entscheidung schon fiel, als sie dir noch nicht bewußt war. Aha, und diese geheimen Werkstätten, in denen die Entscheidung geschmiedet wurde, sind nicht ich? Und wenn tatsächlich eine Entscheidung stärker in meinem emotionalen Vorerfahrungen begründet sein sollte als in rationalen Erwägungen – was besagt dies für die Willensfreiheit? Gar nichts. Es lebt auch dies von dem untergründigen Argument daß Emotion kognitionsfeindlich sei, antirational, obwohl die emotionale Befrachtung repräsentativer Bestände, also psychischer Vorstellungen, ja ganz wesentlich ein Ausdruck der Bewertung und Gewichtung von Sachverhalten ist.“ (Kröber, Verantwortlichkeit, 108.) Kröber selbst veranschlagt für Verantwortlichkeit im strafrechtlichen Sinne dennoch die Fähigkeit, Wünsche kritisch zu bewerten. (Vgl. a. a. O., 109). 323 Dass das erworbene theoretische Wissen um soziale Konventionen und ,korrektes‘ soziales

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drücklich, dass ihr freier Wille „beeinträchtigt“ sei.324 Umgekehrt heißt das, dass ein Wille, der sowohl durch Beharrlichkeit als auch durch eine Perseveranz „im Guten“325 geprägt ist, davon abhängt, dass Emotionen – die Theologie hat dafür traditionell den Begriff der Affekte gewählt – ihre Bewertungsfunktion im Organismus erfüllen. Willenskraft beruht auf der Attraktivität einer antizipierten Zukunft: Willenskraft ist auf die Bewertung eines bevorstehenden Ereignisses angewiesen, und diese Bewertung wird nicht stattfinden, wenn die Aufmerksamkeit nicht entsprechend auf die unmittelbar bevorstehenden Probleme und die späteren Vorteile gelenkt wird – auf das Leiden jetzt und die Entschädigung in der Zukunft. Nehmen Sie letztere fort, und Sie stutzen Ihrer Willenskraft die Flügel.326

Verhalten nicht notwendig beeinträchtigt sein muss, und dass dennoch die praktische Umsetzung ausbleiben kann, beschreibt Damasio, Irrtum, 78 – 85. 324 Vgl. Damasio, Irrtum, 69. 325 Der Biologe denkt bei einem „Gut“ freilich an Überlebenssicherung, an den eigenen Vorteil. Entscheidungen für ein gelingendes Leben sind für den Biologen natürlich solche, die dem Individuum auch im sozialen Leben zum Vorteil gereichen. (Damasio, Irrtum, 173 – 177, sieht in gesellschaftlichen Konventionen und in Moral eine Instinktüberformung, die aber nur wirkt, indem sie auf einfachen Trieben und Instinkten aufbaut.) Dass Philosophie und Theologie unter „dem Guten“ anderes verstehen, ist selbstverständlich, beeinträchtigt aber nicht die Rolle der Emotionen bzw. der Affekte: Wo „das Gute“ affektiv bejaht wird, dort ist auch eine Beharrlichkeit im Guten zu erwarten. Vgl. 3.3.1. 326 Damasio, Irrtum, 240.

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3. Luthers Position Bei der Beschäftigung mit den Erkenntnissen und Interpretationen der Hirnforschung wie auch mit der sich anschließenden Debatte um die Verantwortlichkeit des Menschen erwächst dem lutherischen Theologen die Überzeugung, dass gegenwärtig ein Konflikt ausgetragen wird, der eine strukturelle Analogie zum Streit um das liberum arbitrium zwischen Erasmus von Rotterdam und Martin Luther aufweist. Um eine solche Strukturanalogie tatsächlich nachweisen zu können, soll nun im Folgenden gezeigt werden, dass (1.) auch Luther von einem lückenlos vorherbestimmten Weltablauf ausgeht, der folglich kontingente Handlungen im Sinne von der göttlichen Bestimmung entzogenen Handlungen seitens des Menschen (auch in den sogenannten niederen Dingen – den „inferiora“) ausschließt, und dass (2.) nach Luther die Unfreiheit des Willensvermögens anthropologisch auf der Unverfügbarkeit der eigenen Affekte beruht, worin eine Parallele zur Rolle der Emotionen in den modernen Theorien der Hirnforschung besteht. Sodann wird nachzuweisen sein, dass (3.) Luthers theologischer Determinismus die menschliche Verantwortlichkeit gegenüber Gott – im Sinne einer Heilsverdienstlichkeit – in der Tat ausschließt, dass aber das göttliche Gesetz den Menschen im Gewissen zur Verantwortlichkeit ruft. Dieser theologische Hauptteil soll damit schließen, dass über die aktuelle Freiheitsdebatte hinausgehend im Nachgang (4.) die „Freiheit eines Christenmenschen“ dargestellt wird.

3.1 Theologischer Determinismus in De servo arbitrio 3.1.1 Auslegungstendenzen von De servo arbitrio Das Heer der Interpreten von Luthers De servo arbitrio lässt sich grob in drei Lager unterteilen. Da ist zum einen die Gruppe der Theologen, die Luthers These vom Unvermögen des Menschen, sich dem eigenen Heil zu- oder abzuwenden, aufweichen und dem Menschen letztlich doch eine Entscheidung für oder gegen Gott einräumen. Die Argumentation lautet dann in etwa: Der Mensch muss von außerhalb seiner selbst durch das Wort Gottes zum Glauben gerufen werden. Das kann er nicht von sich aus und darin besteht seine Unfreiheit. Im Glauben aber zur Person geworden, hat der Mensch wiederum die

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Möglichkeit auf zwei Weisen zu antworten: im Glauben oder ungläubig.1 Diese Argumentation zielt darauf ab, den Menschen als Person – und das heißt dann: in Freiheit – am Glaubensgeschehen beteiligt sein zu lassen, wobei anscheinend übersehen wird, dass mit diesem Person und Freiheit verbindenden Verständnis von personaler Beteiligung die erasmianische Position bezogen wird.2 Da diese Sicht der von Luther in Dsa dargelegten entgegensteht und außerdem zur Frage einer durchgängigen Bestimmung der Welt nichts beiträgt, soll sie an dieser Stelle nicht weiter interessieren. Eine zweite Auslegungstendenz erkennt die Unfreiheit des Willensvermögens in Heilsdingen an – schließlich hängt das sola gratia davon ab –, will aber eine durchgängige Determiniertheit allen Weltgeschehens abwehren.3 Dabei 1 So verstehe ich z. B. Friedrich Gogarten: „Als die Person nun, die er [sc. der Mensch] ist im Hoffen, steht der Mensch Gott gegenüber. Er ist im ,Brauche‘ Gottes. Er ist das, solange er im Hoffen bleibt, aus dem ,Nichts‘, in der immer neuen Herkunft daraus. Denn nur in diesen beiden bleibt er im ,Brauche‘ Gottes. Er ist also der Selbständige nicht aus sich, sondern indem er sich dem ,Nichts‘ seiner selbst auszusetzen bereit ist. Er wäre aber nicht in Wahrheit Person und selbständig, Gott meinte ihn nicht als Person, nicht als den, der der Unterwerfung einzig unter die göttliche Majestät vorbehalten ist, auf daß er aus ihrem Wort lebe, wenn diese Selbständigkeit nicht auch die Möglichkeit in sich trüge, sich aus sich selbst zu verstehen und sich für sich selbst zu behalten und sich dem sie aus dem ,Nichts‘ rufenden Worte Gottes zu versagen. […] Diese Freiheit für Gott hat der Mensch nicht aus sich, sondern sie wird ihm von Gott gegeben, der sie ihm eröffnet. In dieser Freiheit wird der Mensch sich selbst erschlossen, wie Gott ihn vor sich sein läßt. Indem er so für Gott da ist, hat er aber auch die Möglichkeit, für sch dazusein, und so kann er sich in dieser Freiheit auch auf sich selbst wenden und – auf sich gewendet bleiben.“ (Gogarten, Theologie, 153). 2 Sofern mit dem Personbegriff eine Indifferenzfreiheit verknüpft wird, erscheint mir hierin ein Konvergenzpunkt des substantialen und des dialogisch-relationalen Personverständnisses zu liegen, dass mit der Erschaffung der Person – ob nun substanzhaft, oder durch den Anspruch des Wortes Gottes – zugleich die Freiheit gesetzt sein soll, sich dem Schöpfer und seinem Anspruch selbständig zu- oder abwenden zu können. Klaus Schwarzwäller attestiert der Lutherauslegung Gogartens, sie sei „in veränderter Nomenklatur also nicht weniger als das, was Luther seinem Kontrahenten in polemischer Zuspitzung als Pelagianismus vorhielt!“ (Schwarzwäller, Sibbolet, 42) Beiden Systemen gelingt dann auch die eindeutige Vermittlung von freiem personalem Entscheid des Menschen und machtvoller Heilstat des Schöpfers nur unzureichend (vgl. zu Gogartens Dsa-Deutung: Beiner, Intentionalität, 213ff). Wenn Luther den Inhalt seiner Schrift als Kampf „contra liberum arbitrium pro gratia Dei“ (WA 18; 661, 28.) umreißt, so hat er genau dieses Problem im Blick. Eine gelungene Vermittlung von Personsein und Passivität im Glaubensgeschehen stellt m. E. Wilfried Joests „Ontologie der Person bei Luther“ dar, wonach der exzentrisch-responsorische Charakter des Personseins coram Deo eben diese Vermittlung leistet. Nach Joest ist Gottes „Wort, das der Antwort ruft, für Luther nicht der Appell an eine eigenständige geistige Reaktion des Menschen […], sondern der Zuspruch des schlechthin tragenden Mit-seins Gottes, der den Menschen gerade aus jener Seinsisolierung befreit, in der er meint, Gott gegenüber ein Zentrum eigenständiger Reaktion sein zu sollen. Auf der anderen Seite gilt es zu sehen, daß Luther das Getragensein im Wirken Gottes […] nicht als ,blinden‘ Trieb, noch weniger als eine leblose Objektexistenz in der Hand Gottes versteht, sondern als Eröffnung einer Existenz im Sich-tragen-lassen-wollen, einer Existenz der Selbstpreisgabe in die Hand Gottes.“ (Joest, Ontologie, 304). 3 Als Vertreter dieser Interpretation nenne ich hier Dietz, Konzeption, der die Unfreiheit des Willens in dessen Unfähigkeit, die eigene Struktur und den eigenen Horizont zu bestimmen,

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wird nicht selten im Hinblick auf Gottes Allmacht dessen uneingeschränkte Weltlenkung bejaht, in der anthropologischen Perspektive aber die Unfreiheit des Menschen allein auf die Dualität ,gerechter oder böser Wille‘ bezogen. Gewiss sei der Wille unfrei – nämlich entweder sündig oder gerecht. Diese Unfreiheit in der Grundstruktur setze aber keine Unfreiheit im Detail der jeweiligen Objektwahl. Hier ist dann von einer „Spielraumfreiheit“4 oder einem „Möglichkeitsraum zum freien Wählen“5 in den niederen Dingen die Rede. Ein streng deterministisches Weltbild wird damit ausgeschlossen. Die Dsa-Deutung dieser zweiten Gruppe erhebt einen Einwand, den es ernst zu nehmen und zu verstehen gilt. Ich werde später (3.1.3) genauer auf jenen Interpretationstypus eingehen. Die umrissene Problematik, ob denn der Mensch nach Dsa in der Angelegenheit des Heils keine, in Angelegenheiten des Alltags aber durchaus eine Wahlfreiheit besitze, stellt das Grundproblem dieses ersten Abschnittes dar. Würde sich die soeben beschriebene Position anhand von Dsa bestätigt zeigen, so wäre in der Tat von einer Parallelisierung der neurobiologischen und der theologischen Freiheitsdebatte Abstand zu nehmen. Ich meine jedoch, dass eine ausnahmslose Bestimmung allen Weltgeschehens von Luther in Dsa vertreten wird. Auf eben dieser Linie befindet sich schließlich eine dritte Gruppe von Interpreten, die in konsequenter Auslegung von Dsa die radikale Unfreiheit des Menschen als Kehrseite der ebenso grundlegend anerkannten Freiheit und Macht Gottes akzeptiert und die sich nicht scheut, den Begriff des ,theologischen Determinismus‘ zu gebrauchen.6 ausmacht, zugleich aber einen „objektiven Determinismus“ (a. a. O., 187, Anm. 19) ablehnt. Zu nennen ist hier außerdem Härle, Wille, demzufolge man Luther nicht gerecht wird, „wenn man ihm einen ontologischen oder theologischen Determinismus unterstellt.“ (a. a. O., 273). Vgl. außerdem den sehr viel detaillierteren und weitgehend zustimmungsfähigen Aufsatz: Härle, Unvereinbarkeit, 1 – 22. Härle führt hier leider als letztes verbleibendes Argument gegen einen Determinismus Luthers die menschliche Fähigkeit zum Bösen an. 4 „Im letzteren Sinn [sc. einer Spielraum- oder Wahlfreiheit] hat Luther ebenso wie Melanchthon ganz unbefangen zugeben können, der Mensch habe ’aliquam (etlichermaß) libertatem’ (nämlich im Blick auf die res rationi subjectae). […] Sofern der Mensch einen freien Willen hat, bezieht sich dieser also nur auf seine Weltgestaltung, nicht auf sein wahrhaftes Selbstseinkönnen. (Dietz, Konzeption, 187). „Die theologische Grundprämisse, daß Freiheit im Vollsinn von Souveränität und Aseität einzig Gott zukomme, verhilft oder verführt Luther zu der These, daß der freie Wille nichts sei, eine leere Fiktion, ein Wahngebilde. Dabei wird eine gewisse Spielraumfreiheit von Luther ebensowenig bestritten wie die von Erasmus herausgestellte Verantwortlichkeit des Menschen.” (a. a. O., 189). 5 Härle, Wille, 279. Vgl. dagegen ders., Unvereinbarkeit, 5: „Der Glaube an die Allwirksamkeit Gottes […] erlaubt es Luther nicht, die inferiora aus dem Bereich des göttlichen Wirkens herauszunehmen.“ 6 So z. B. Hermanni, Streit, 165 – 187. Desweiteren (ohne direkten Bezug auf Dsa): Ders., Überlegungen, 195 – 208. Dennoch meint Hermanni, den theologischen Determinismus mit der menschlichen Wahlfreiheit in inferioris vereinen zu können und befindet sich damit eher im Lager der zweiten Gruppe. Vgl. etwa: Ders, Gott, 32: „[Es] soll keineswegs die Fähigkeit des Menschen bestritten werden, in dem Bereich, der ihm unterstellt ist, Handlungsalterntiven zu

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Bevor nun dargelegt wird, dass Luther in Dsa tatsächlich eine Art theologischen Determinismus vertritt, ist die Verständigung über einige grundlegende Begriffe von Nöten. Der genaue Blick muss nämlich zwischen Erasmus und Luther eine massive Sprachverwirrung feststellen. Es erscheint mir als potentielle Gefahr für die Betrachtung des Willensstreites, schlichtweg davon auszugehen, dass Erasmus und Luther inhaltlich dasselbe meinten, wenn sie vom liberum arbitrium handelten.7 Der Streit um das liberum arbitrium gewinnt hingegen an Klarheit, wenn zuvor verdeutlicht wird, was auf beiden Seiten überhaupt darunter verstanden wurde. Dies soll nicht etwa im Ansinnen geschehen, den Konflikt zu einem Missverständnis umzudeuten und dadurch abzumildern, sondern mit dem Ziel, den tatsächlichen Konflikt besser zu verstehen.

3.1.2 Zur Begriffsbestimmung: arbitrium, libertas, suikausale Willensfreiheit, relationale Freiheit 3.1.2.1 Erasmus Unter freiem Willen verstehen wir in diesem Zusammenhang das Vermögen des menschlichen Willens, mit dem der Mensch sich dem, was ihn zur ewigen Seligkeit führt, zuwenden oder von ihm abwenden kann.8

Ausgehend von dieser Definition, die Erasmus zum Ende seiner Einleitung in De libero arbitrio (Dla) aufstellt, gilt es zu klären, was Erasmus und Luther jeweils unter dem Begriff liberum arbitrium verstanden. Hierbei ist es von primärer Bedeutung, wie man das „Zu- oder Abwenden“ verstehen will. Und hier besteht sogleich unterschiedliche Auffassung zwischen dem Humanisten und dem Reformator. Durch die Übersetzung von liberum arbitrium mit „freier Wille“ erhält der deutsche Satz eine Tautologie9, die verdeckt, dass Erasmus voluntas humana unterscheiden und zwischen ihnen zu wählen.“ Des Weiteren erkenne ich eine klare Option für den Determinismus bei Leonhardt, Verhältnis, 143 – 162. 7 So z. B. Härle, Wille, dem ich in Hinblick auf Erasmus vollkommen zustimme, der aber dieselbe Funktionsbestimmung des arbitrium dann auch für Luther übernimmt. 8 Dla. nach: Schumacher, Willen, 29. „Porro liberum arbitrium hoc loco sentimus vim humanae voluntatis, qua se possit homo applicare ad ea, quae perducunt ad aeternam salutem, aut ab iisdem avertere.“ (Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 19; 7 – 10 [I b 10]). 9 „Unter freiem Willen verstehen wir […] das Vermögen des menschlichen Willens […].“ Johannes v. Walter umgeht in seiner Einleitung zu Dla. diese Tautologie, indem er schreibt: „Die Freiheit ist diejenige Fähigkeit des menschlichen Willens, kraft deren sich der Mensch dem, was zum ewigen Heile führt, anpassen oder sich davon abwenden kann.“ (Dla. hrsg. v. J. v. Walter, XXV) Dies ist insofern treffender, als der Wille sich nach Erasmus durch die Kraft des arbitrium frei (!) in seiner Ausrichtung bestimmt. So erweist sich eigentlich die Formulierung „liberum arbitrium“ als Tautologie.

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und arbitrium (= vis voluntatis) sehr wohl unterscheidet. Er differenziert offensichtlich, wenn auch nirgends explizit10, innerhalb der voluntas humana zwei Vermögen11, nämlich das applicare qua arbitrium einerseits und das velle, das willentliche Streben auf bestimmte Ziele hin andererseits.12 Die Funktion des arbitrium erkennt Erasmus also darin, den Willen in seiner Ausrichtung zu bestimmen (hierhin oder dorthin zu wenden). Die Zu- oder Abwendung selbst ist nun aber nach diesem Verständnis kein objektbezogenes Wollen, sondern ein von jenem Streben unterschiedenes Entscheidungsmoment. So hat der Wille zum einen die Potenz, überhaupt strebend in Aktion zu treten (velle). Zum anderen ist er nicht von vornherein oder von anderer Instanz her inhaltlich eindeutig festgelegt. Kraft des arbitrium bezieht sich folglich der Wille richtungsweisend (applicare) auf sich selbst und gibt sich selbst damit ein zu wollendes Objekt.13 Das arbitrium erfüllt also eine Selbstbestimmungsfunktion14 innerhalb des Willens. 10 Zu erschließen wäre diese Unterscheidung z. B. aus Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 30; 22ff (II a 12), wonach die sententia probabilis dem Menschen zwar ein Bemühen und Streben nach dem Guten belässt – ich deute dies hier als Zuwendung zum oder Wahl des Guten –, zugleich aber verneint, der Mensch könne ohne Gnade das Gute wollen (negant hominem posse velle bonum). 11 Den Begriff der „doppelten Potentialität“ des Willens habe ich Schönberger, Einführung, 146, entnommen. Was dort in Bezug auf Thomas’ Willenslehre gesagt wird, ist auch auf Erasmus anwendbar. Die doppelte Potentialität des Willens erfordert entsprechend eine zweifache Aktuierung: „Der Akt muss zum einen als solcher vollzogen werden (exercitium vel usus actus), und er bedarf des weiteren einer inhaltlichen Bestimmung (determinatio actus). Gewiß kommt das eine nie ohne das andere vor ; doch handelt es sich in der Tat nicht um dieselbe Hinsicht.“ (Ebd.). Dass sich hieraus Konsequenzen für die Frage, ob der Wille sich selbst, oder vielmehr die Vernunft den Willen ausrichte und bewege, ergeben, verweist nun allerdings auf einen Unterschied zwischen Erasmus und Thomas. Für den Aquinaten nämlich ist der Wille in seiner Ausrichtung auf das Gute festgelegt, seine einzelne determinatio empfängt der Wille also von der urteilenden Vernunft. Zugleich bewegt allerdings der Wille auch den Verstand, insofern das Wahre als Gut zu gelten hat. „Der Wille bewegt den Verstand im Hinblick auf dessen Vollzug, weil auch das Wahrsein, welches die Vollkommenheit des Verstandes ist, als ein besonderes Gut im allgemeinen Guten enthalten ist. Im Hinblick auf die Bestimmung des Vollzuges, die auf seiten des Objektes liegt, bewegt jedoch der Verstand den Willen, da auch das Gutsein in einer besonderen Hinsicht unter dem allgemeinen Begriff des Wahren gefasst wird. So erhellt, daß nicht mit Bezug auf dasselbe dasselbe bewegend und bewegt ist.“ (S. Theol. I – II, 9, 1 ad 3, zitiert nach Schönberger, Einführung, 148.) Für Erasmus auf der anderen Seite wird der Wille nicht vom Urteil der Vernunft determiniert. Zwar schreibt Erasmus im Enchiridion der Vernunft im Anschluss an Platons Timaios eine königlich-gebietende Funktion zu (Vgl. Enchiridion hrsg. v. H. Holborn, 42; 31ff), dennoch belässt er dem Willen ansonsten, etwa in Dla., seine Freiheit gegenüber jedwedem Vernunfturteil. Dass der Wille sich qua arbitrium zu- oder abwendend auf das Urteil applizieren kann, macht ja in der Ansicht des Erasmus gerade seine Freiheit aus. 12 Härle, Wille, 257, Anm. 22, macht sowohl auf die eben benannten üblichen Übersetzungsmängel als auch auf die inhaltliche Differenz von voluntas und arbitrium aufmerksam. Härle sieht freilich im Begriff der voluntas bereits das zielgerichtete Streben auf etwas hin ausgedrückt – übersetzt deshalb voluntas entgegen seiner eigenen Ankündigung auch mit „Wollen“ und nicht mit „Wille“ – und trifft damit nicht ganz exakt (aber wohl doch der Sache nach) mein Verständnis der erasmischen Bestimmung, wonach der Wille an sich (voluntas ipse) Träger zweier Vermögen ist: zu wählen (applicare/avertere) und zu wollen (velle). 13 Wenz, Streit, 139, sieht in der Definition des Erasmus beide Potenzen des Willens in der Kraft

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Tut es dies aber als eigenes Vermögen des Willens, so ist es des Weiteren vom Verstandesurteil (iudicium mentis) abzugrenzen. Das arbitrium bezieht sich auf das Verstandesurteil als seine inhaltliche Voraussetzung, d. h. ihm werden durch das Verstandesurteil die alternativen Objekte vorgestellt. Auch wenn Erasmus in Dla sagen kann, der Wille werde aus dem Urteil „geboren“, ja der Verstand sei die eigentliche Quelle alles Guten und Bösen15, so sind Urteil des Verstandes und Entscheidung des arbitrium nicht dasselbe. Denn Wille im vollen Sinne setzt nach Dla sowohl ein Vernunfturteil als auch Entschlossenheit voraus, wohingegen das Urteil für sich eine Frage lediglich der Denkkraft ist.16 Die Vernunft stellt alternative Ziele bereit – sie ist insofern die Quelle des Willens, als sie die Dinge je nach ihrer Nützlichkeit beurteilt.17 Der Wille aber muss sich qua arbitrium eigens zwischen diesen Alternativen entscheiden. Es lässt sich also festhalten, dass ein menschlicher Wille für Erasmus dort besteht, wo (1.) aufgrund eines Vernunfturteils und (2.) einer auf dieses Urteil sich beziehenden Willensentscheidung (3.) ein zielgerichtetes Streben vorliegt.

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des arbitrium vereint. „Als ein willentliches Entscheidungsvermögen steht das liberum arbitrium gewissermaßen jenseits des zu Wählenden bzw. jenseits der Alternative, zwischen welcher der Wahlentscheid zu treffen ist. Sein Status ist demnach der reiner Entscheidungspotentialität bzw. aktuell-faktischer Unentschiedenheit, in welcher die Differenz des zur Wahl Gestellten neutralisiert bzw. noch gar nicht erst hervorgetreten ist. Man kann daher die Freiheit des liberum arbitrium eine Indifferenzfreiheit nennen, welche unmittelbar durch sich selbst bestimmt, mithin die Freiheit puren Willens ist, welche ursprünglich nichts will als sich selbst und als Vermögen spontanen Beginnens von keinem anderen herzukommen, sondern rein mit sich selbst anzufangen beansprucht.“ (Hervorhebung von S.S.). Im erasmischen Sinne ist arbitrium daher als „Entscheidungsvermögen“ zu übersetzen (so auch Pesch, Wille/Willensfreiheit, 87). Dass für die Anthropologie Luthers arbitrium besser mit „Willenskraft“ zu übersetzen ist, wird sich noch zeigen. Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 21; 3 – 5 (II a 2): „[…] ratio sive intellectus, unde scatent fontes omnium bonorum ac malorum.“ So schwächt Erasmus in der Behandlung von Jes 1,19 f seine Meinung, hier müsse ein zum Guten freier Wille gedacht werden, dahingehend ab, dass zumindest eine Überlegung oder Gemütsbewegung zum Guten hin angenommen werden müsse: „Da überdies vieles dieser Art zu Sündern gesagt wird, sehe ich nicht ein, wie man es vermeiden könnte, auch solchen Leuten einen zur Wahl des Guten irgendwie freien Willen zuzuschreiben, wenn man es nicht vorzieht, in diesem Falle [nur] von einer Überlegung oder von einer Gemütsbewegung zu sprechen, da ein Wille Entschlossenheit und Einsicht voraussetze. [oder : entschlossen sei und aus einem Urteil entspringt; S.S.]” (Dla. nach: Schumacher, Willen, 43). „Atque huiusmodi multa cum peccatoribus dicantur, non video, quomodo vitari possit, quin his quoque tribuamus voluntatem aliquo modo liberam ad electionem boni, nisi malumus hanc cogitationem aut animi motum dicere quam voluntatem, quod voluntas certa sit et ex iudicio nascatur.“ (Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 34; 4 – 9 [II a 15]). Luthers Kritik (LDStA 1, 353 = WA 18; 664, 20ff), Erasmus übertreffe noch die Pelagianer und Sophisten, indem er die Kraft des Unterscheidens qua ratio gar nicht beachte, ist so also nicht ganz treffend. Freilich scheint Erasmus die vis discernendi rationis anders als die vis eligendi voluntatis nicht zum Vermögen des arbitrium zu rechnen, sondern gerade von diesem abzutrennen. Luther selbst folgt der engen Zusammenstellung von ratio und voluntas im Begriff der vis liberi arbitrii. Vgl. WA 18; 776, 28 f.

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Fehlt eines dieser drei Teile, so kann nicht in vollem Sinne von Wille die Rede sein; ist eines dieser Teile korrupt, so ist der Wille und folglich die Handlung schlecht. Ist das Willenskonzept des Erasmus bisher dargelegt worden, ohne auf die besondere Frage der Freiheit einzugehen, so hängt diese wesentlich mit eben jener Möglichkeit des arbitrium zusammen, dem Willen seine Richtung zu geben – und zwar indifferent zwischen Alternativen stehend. Freiheit des Willens heißt für Erasmus Wahlfreiheit zwischen Alternativen, und diese Freiheit wird vom Willen durch das Zu- oder Abwenden kraft des arbitrium vollzogen.18 Die Indifferenz des Willens liegt für Erasmus geradezu im Begriff des arbitrium: „Porro voluntas huc aut illo versatilis dicitur arbitrium“19. So erscheint der Begriff eines liberum (!) arbitrium in der Tat als Tautologie. Ferner beinhaltet für Erasmus die Freiheit des posse applicare aut avertere, dass seitens des Willens eine grundsätzliche Unabhängigkeit gegenüber der Vernunft und deshalb auch gegenüber Gut und Böse besteht.20 Denn die dem Willen präsentierten Alternativen werden von der Vernunft hinsichtlich ihres Gutseins bewertet. Nicht nur ist der Wille also frei darin, das jeweils von der Vernunft als gut Erkannte wollen zu können. Er wird nicht von der urteilenden Vernunft spezifiziert, wie etwa Thomas von Aquin die Freiheit des Willens zum Guten beschreibt. Die Unabhängigkeit des Willens gegenüber dem Verstand beinhaltet darüber hinaus, dem weniger Guten, ja ausdrücklich dem als böse Beurteilten zustimmen zu können. So beschreibt Erasmus den Urstand Adams wie folgt: Adam war so beschaffen, „daß er eine unverderbte Vernunft besaß, die unterscheiden konnte, was zu erstreben und was zu meiden ist; doch er hat außerdem einen Willen bekommen, der zwar auch unverderbt gewesen ist, jedoch frei, so daß er, wenn er es wollte, sich vom Guten abwenden und zum Bösen ablenken konnte.21

Der nachadamitische Mensch ist nun davon geprägt, dass sowohl das sichere Urteil der Vernunft als auch die Indifferenz des Willens gegenüber Gut und Böse durch die Sünde vor dem Empfang der gratia praeveniens so sehr geschwächt worden sind, dass sie fehlgehen. 18 „Gott zeigt, was gut und was böse ist; er stellt Lohn und Strafe in Aussicht und er läßt dem Menschen die Freiheit der Wahl. Lächerlich wäre es allerdings, jemanden zur Wahl aufzufordern, der nicht imstande wäre, sich hier[h]in oder dorthin zu wenden […].“ (Dla. nach: Schumacher, Willen, 42). „Deus ostendit, quid bonum, quid malum, ostendit utriusque diversa praemia, mortem et vitam, eligendi libertatem relinquit homini. Ridicule siquidem diceretur : elige, cui non adesset potestas semet huc et illuc apllicandi […].“ (Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 32; 25 – 33; 3 [II a 14]). 19 Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 64; 16 f (III b 4). 20 Er zeigt sich darin Duns Scotus näher als der thomistischen Tradition. 21 Dla. nach: Schumacher, Willen, 33. „[…] ut rationem haberet incorruptam, quae dinosceret, quid expetendum, quid fugiendum; sed addita est voluntas, incorrupta quidem et illa, sed libera tamen, ut, si vellet, posset sese a bono avertere et ad malum deflectere.“ (Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 20; 8 – 12 [II a 2]).

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Unser Urteilsvermögen […] ist durch die Sünde verdunkelt, nicht ausgelöscht worden; unser Wille als ein Vermögen zu wählen und zu meiden ist bis zu dem Grade verderbt worden, daß er durch seine natürlichen Hilfsmittel nicht wieder besser werden kann, sondern seine Freiheit verloren hat und genötigt ist, der Sünde zu dienen, der er sich willentlich einmal verschrieben hat.22

Und dennoch nimmt Erasmus durch die sündenvergebende Gnade eine Wiederherstellung beider Geistesvermögen (Vernunft und Wille) bis zu dem Grade an, bei dem der Mensch seinen eigenen Einsatz im „christlichen Kriegsdienst“ (militia Christiana) leisten kann.23 Doch durch die Gnade Gottes, die ihm die Sünde vergeben hat, ist er [sc. der Mensch] bis zu dem Grade wieder frei geworden, daß er nach Meinung der Pelagianer ohne die Hilfe neuer Gnade das ewige Leben erringen kann, doch so, daß er sein Heil Gott zu verdanken hat, der den freien Willen sowohl geschaffen als auch wiederhergestellt hat, und daß – wie die Rechtgläubigen lehren – infolge der ständig gegenwärtigen Hilfe der göttlichen Gnade der Mensch in rechter Beschaffenheit zu streben fortfahren kann, ohne indessen frei zu sein von einer Geneigtheit zum Bösen, die von den Überresten der einmal eingewurzelten Sünde herrührt.24

So bleiben im Getauften zwar Überbleibsel der Sünde, die ein Fehlgehen des Menschen erklärbar machen. Allerdings kann jene Neigung zum Bösen vom Menschen überwunden werden. Im Enchiridion beschreibt Erasmus die Sünde in zwei Durchgängen: zu22 Dla. nach: Schumacher, Willen, 33 f. „Ea vis animi, qua iudicamus, […] per peccatum obscurata est, non exstincta, voluntas, qua eligimus aut refugimus, hactenus depravata fuit, ut suis naturalibus praesidiis non posset ses revocare ad meliorem frugem, sed amissa libertate cogebatur servire peccato, cui se volens semel addixerat.“ (Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 21; 11 – 17 [II a 3]). 23 Ernst-Wilhelm Kohls stellt in seiner Interpretation heraus, dass für die erasmische Theologie in Fragen der christlichen Lebensführung – der militia Christiana – Wille und Eigenvermögen des Menschen „ausschließlich als ermöglicht durch die vorgegebene Leistung Christi verstanden“ (Kohls, Erasmus 1, 77) werden. Nach Kohls steht die vorrangige Souveränität der göttlichen Gnade gegenüber der menschlichen Verantwortlichkeit für Erasmus unangefochten fest. Die Taufe als gegenseitiger Fahneneid (sacramentum) des christlichen Streiters und des Feldherren Christus ist nach Kohls der theologische Ausgangspunkt des Enchiridions, von dem aus sich etliche Konsequenzen ergeben: Zum einen hat der menschliche Wille in Heilsfragen weniger als freier, mehr als befreiter zu gelten: nach jenem Eid hat der Mensch die freie Wahl zwischen Kriegsdienst und Fahnenflucht. (Vgl. Enchiridion hrsg. v. H. Holborn, 25; 25 f). Weiterhin erhält das Gesetz bei Erasmus einen vornehmlich paränetischen Charakter im usus evangelicus (Kohls, Erasmus 1, 69 u.v.a. 143ff). Und nicht zuletzt wird das kampfreiche Leben des Christen unter das Vertrauen gestellt, lediglich „Nachhutgefechte“ gegen die Welt führen zu müssen: „Die Entscheidungsschlacht hat Christus bereits für seine Anhänger siegreich geschlagen.“ (Kohls, Erasmus 1, 77). 24 Dla. nach: Schumacher, Willen, 34. „Sed per dei gratiam condonato peccato hactenus facta est libera, ut iuxta sententiam Pelagianorum absque praesidio novae gratiae posset adipisci vitam aeternam, sic tamen, ut salutem suam deo ferret acceptam, qui et condidit et restituit liberum arbitrium, secundum orthodoxos sic posset ope divinae gratiae semper adiuvantis conatum hominis perseverare in recto statu, ut tamen non careret proclivitate ad malum ex semel inoliti peccati vestigiis.“ (Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 21; 17 – 22; 6 [II a 3]).

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nächst als die Schwächung der guten Herrschaft des Geistes über den Körper.25 Die Erbsünde hat die schöpfungsgemäße Harmonie von mens/anima/ratio auf der einen und corpus auf der anderen Seite zerstört.26 Die Folge der Sünde ist nun die Übermacht der körperlichen Affekte gegenüber den geistigen Tugenden. Der christliche Streiter könnte und sollte folglich einem Befreiungsoder Unterwerfungskrieg des Geistes gegen die Affekte des Körpers dienen27, was jedoch nach Meinung des Erasmus beinahe alle Christen vermissen lassen: Frieden nennen sie [sc. die meisten Christen] die feste und erbärmliche Knechtschaft, solange die verdunkelte Vernunft ohne Widerstand den Leidenschaften folgt, wohin sie rufen. Das ist jener elende Friede, den hinwegzunehmen Christus gekommen ist, der Urheber des wahren Friedens, der aus beiden eins macht.28

Von jenem platonischen Geist-Leib-Dualismus ausgehend kommt Erasmus dann in Anlehnung an Origenes zu einer trichotomischen Darstellung des Menschen, in der er deutlich zu erkennen gibt, welch optimistischen Grundzug seine Anthropologie trägt.29 Denn die Sünde hat dieser Passage 25 „Vorher nämlich war der Geist auch ohne Kampf Herr des Körpers, und der Körper folgte gern und freiwillig dem Geist [sc. der Seele]. Jetzt dagegen, nachdem die Ordnung der Dinge verkehrt worden ist, wollen die Leidenschaften des Körpers die Vernunft in ihre Gewalt bekommen und sie zwingen, sich dem Willen [sc. der Meinung] des Körpers unterzuordnen.“ „Antea enim et mens corpori sine negotio imperabat, et corpus animo lubens volensque parebat; nunc contra pertubato rerum ordine affectus corporis rationi praeire certant, cogiturque illa in corporis sententiam pedibus discedere.“ (Enchiridion nach: Welzig, Handbüchlein, 38; 2 – 6 = Enchiridion hrsg. v. H. Holborn, 42; 9 – 13). 26 „Diese zwei untereinander so verschiedenen Naturen hatte jener oberste Schöpfer in glücklicher Eintracht verbunden, doch die Schlange, der Feind des Friedens, hat sie auseinandergerissen, in unselige Zwietracht, so daß sie sich weder ohne größte Qual voneinander trennen, noch ohne fortwährenden Kampf gemeinsam leben können […].“ „Has duas naturas tam inter se diversas summus ille opifex felici concordia colligarant, at serpens pacis inimicus infelici rursus discordia dissecuit, ut iam neque dirimi queant sine maximo cruciatu neque coniunctum vivere sine assidui bello“ (Enchiridion nach: Welzig, Handbüchlein, 37; 12 – 17 = Enchiridion hrsg. v. H. Holborn, 41; 24 – 27). 27 „Wir gelangen zu ihm [sc. zum wahren Frieden] nur auf einem einzigen Weg, indem wir nämlich mit uns selbst Krieg führen, wenn wir unerbittlich mit unseren Lastern ringen.“ „Ad hanc [sc. pacem] perveniendi una ratio est, si cum nobis ipsis bellum geramus, si cum vitiis nostris acriter depugnemus.“ (Enchiridion nach: Welzig, Handbüchlein, 34; 12 – 14 = Enchiridion hrsg. v. H. Holborn, 38; 10 f). „Der Miles christianus kämpft seinen Glaubenskampf um die Paradoxie des Kreuzes als der entscheidenden Heilsaussage des Evangeliums nicht gegen fremde Gegner, sondern in seinem eigenen Zweifel und seiner persönlichen Verfallenheit an die widergöttlichen Mächte der Welt vor allem gegen sich selbst.“ (Kohls, Erasmus 1, 86). 28 Enchiridion nach: Welzig, Handbüchlein, 42; 38 – 43; 1. „Pacem appellant certam comploratque servitutem, dum obruta ratio quocumque vocat affectus nihil renitens sequitur. Haec pax est illa misera, quam Christus, verae pacis auctor, qui fecit utraque unum, venit dirimere“ (Enchiridion hrsg. v. H. Holborn, 47; 21 – 24). 29 „Der Körper oder das Fleisch, der unterste Teil, dem durch die Erbsünde jene alte Schlange das Gesetz einschrieb, wodurch wir zu Schändlichem gereizt und als Besiegte mit dem Teufel verbunden werden. Sodann der Geist, in dem sich die Ähnlichkeit mit der göttlichen Natur zeigt, in

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zufolge ihren Ort allein in der körperlichen Verfasstheit (corpus/caro) – im Animalum –, während der Geist des Menschen (spiritus) seine Gottebenbildlichkeit (similitudo) nicht preisgibt.30 Die Seele (anima) – Ort der Vernunft oder des Hegemonikon und damit das wesentlich Menschliche – ist grundsätzlich indifferent zwischen Geist und Fleisch gestellt;31 sie hat die Freiheit, sich den Tugenden des Geistes oder den Leidenschaften des Fleisches anzuschließen.32 Dass zum einen der Geist hier von Erasmus als Empfänger dem der gütige Schöpfer nach dem Urbild seiner Art mit dem Finger jenes Gesetz der Tugend eingeprägt hat, das von seinem Geiste ist. […] Als das Dritte und Mittlere zwischen diesen beiden hat er die Seele gesetzt, die der Empfindungen und natürlichen Regungen fähig ist. Diese kann sich, wie in einem aufrührerischen Staat, jedem von beiden Teilen anschließen. [Oder : Diese muss sich einem von beiden Teilen anschließen. S.S.] Sie wird hierher und dorthin gezogen. Es steht ihr frei, wem sie sich zuneigt.“ „Corpus sive carnem infimam nostri, cui per genitalem culpam legem inscripsit peccati serpens ille veterator, quaque ad tupia provocamur ac victi diabolo connectimus. Spiritum vero, qua divinae naturae similitudinem exprimimus, in qua conditor optimus de suae mentis archetypo aeternam illam honesti legem insculpsit digito, hoc est spirito suo […]. Porro tertiam et inter ista mediam animam constituit, quae sensuum ac motuum naturalium sit capax. Ea velut in fractiosa re publica non potest non alterutri partium accedere; hinc atque hinc sollicitatur, liberum habet, utro inclinare.“ (Enchiridion nach: Welzig, Handbüchlein, 47; 17 – 23.23 – 27 = Enchiridion hrsg. v. H. Holborn, 52; 25 – 53, 1). 30 Kohls, Erasmus 1, 91ff, bringt die anthropologische Größe des spiritus in einen engen Zusammenhang mit der Gnadengabe des heiligen Geistes; so als würde Erasmus aus der platonisch dichotomischen Anthropologie durch die Zugabe des göttlichen Geistes zu einem trichotomischen Menschenbild voranschreiten, wobei dann ja der mit spiritus begabte Mensch nur der bereits begnadete, getaufte Mensch sein könnte. „In der von Gott geschenkten und hervorgerufenen Cooperatio mit der Gnade gipfelt die erasmische Anthropologie in einer dritten, von Gott gesetzten Schicht im Menschen: der Schicht des Geistes (spiritus).“ (Kohls, Erasmus 1, 91). Diese Interpretation scheint vorauszusetzen, dass Erasmus hier eine besondere Anthropologie des Christenmenschen vortrüge. Andernfalls hat Kohls Deutung nur Sinn unter der Prämisse, dass die Gnade Gottes in der erasmischen Theologie den absoluten Vorrang behält – letztlich vor der Schöpfung. Womöglich hätte Kohls hierfür aufgrund des erasmischen Begriff der „gratia insita“ Anhalt. Nur so könnte die Trichotomie des Menschen (spiritus, anima, caro) als gnadenhaft geschenkte und schöpfungsbedingte gelten. Dass Erasmus im Enchiridion aber eine allgemeingültige – selbstverständlich theologische! – Anthropologie liefern will, geht m. E. deutlich aus den betreffenden Passagen (Vgl. Enchiridion hrsg. v. H. Holborn, 52; 14 ff.) hervor. Dies wird zudem gestützt dadurch, dass auch Origenes’ Römerbriefkommentar, auf den Erasmus sich ausdrücklich beruft, vom Menschen allgemein spricht. Die folgende Feststellung Kohls’ kann ich denn auch nicht mit den Aussagen des Erasmus vereinbaren: „Durch die Gabe des Geistes, die Gott dem Menschen gnädig verleiht, ist die Anima vor und nach dieser Gnadengabe nicht mehr die gleiche: Sie ist zuvor gänzlich neutral; sie ist nach der Geistverleihung fromm und geistlich – nicht im Sinne einer habituellen Heiligkeit, sondern einer im Leben existentiell zu vollziehenden Heiligung.“ (Kohls, Erasmus 2, 97, Anm. 133.) Vgl. hierzu das Erasmus-Zitat in Anm. 29. 31 „Der Geist läßt uns also zu Göttern werden, das Fleisch zu Tieren. Die Seele macht uns zu Menschen, der Geist zu frommen, das Fleisch zu bösen; die Seele allein zu keinem von beiden.“ „Ergo spiritus deos nos reddit, caro pecora. Anima constituit homines, spiritus pios, caro impios, anima neutros.“ (Enchiridion nach: Welzig, Handbüchlein, 48; 18 – 20 = Enchiridion hrsg. v. H. Holborn, 53; 32 – 34). 32 Bei Erasmus schlägt sich – mit der Tradition durchaus gemein – ein Mangel an Unterscheidung zwischen der Frage der anthropologischen Konstitution [spiritus – anima (ratio) – caro (af-

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des göttlichen Gesetzes und als Träger der similitudo Dei beschrieben wird, dass zum anderen der anima eine prinzipielle Neutralität zukommt, verdeutlicht, wie wenig radikal das erasmische Sündenverständnis ist: Sowohl das Wissen um das Gute als auch die Fähigkeit der freien Wahl zwischen Gut (Geist) und Böse (Fleisch) gelten dem Humanisten als unverlierbar33, weil mit der Geschöpflichkeit gegeben.34 Freilich kommt der Seele durch die Auswirkungen der Erbsünde eine gewisse Neigung zum Bösen zu.35 Diese Wirkungen der Sünde auf die Seele beschreibt Erasmus in der Trias Blindheit (caecitas), Fleisch (caro) und Schwäche (infirmitas) und vertieft damit seine vorherige dualistische Beschreibung der Erbsünde als Geist-LeibZwietracht. Aufgrund der Verdunkelung seiner Vernunft (caecitas) ist der Mensch unsicher, überhaupt das rechte Urteil zu fällen, was denn das Gute sei. Durch die Leidenschaften des Körpers (caro) wird der Wille verkehrt und die Schwäche (infirmitas) erklärt eine Unstetigkeit der Seele in der Tugend. Die Blindheit (um damit zu beginnen) läßt uns bei Entscheidungen unsicher werden und dem Bösen statt dem Guten folgen, das Wichtigere dem weniger Nützlichen nachstellen. Das Fleisch stachelt die Leidenschaft auf, so dass wir, auch wenn wir erkennen, was das Beste ist, doch etwas anderes lieben. Die Schwäche macht, dass wir, vom Widerwillen oder von der Versuchung besiegt, die Tugend verlassen, die wir uns bereits angeeignet haben. Die Blindheit schadet dem Urteil, das Fleisch verkehrt den Willen, die Schwäche bricht die Beständigkeit. Zuerst mußt du also unterscheiden, fectus)] und der paulinischen Bestimmung pneuma/sarx nieder. „Quod philosophi rationem, id Paulus modo spiritum, modo interiorem hominem, modo legem mentis vocat. Quod illi affectum, hic interim carnem, interim corpus, interim exteriorem hominem, interim legem membrorum appellat.“ (Enchiridion hrsg. v. H. Holborn, 47, 28 – 32.) Nach Joest, Ontologie, ist diese Unterscheidung in Luthers Denken spätestens in der Galatervorlesung (1516/17) vollends ausgeprägt. „Die Disjunktion des Gegensatzes geistlich-fleischlich von der Polarität des Sinnlichen und Geistigen wird nun bewußt vollzogen. Zugleich wird sich Luther über den Unterschied der Auffassung von Origenes und Hieronymus zu der eigentlichen Meinung der biblischen Begriffe klar, so wie er selbst sie jetzt versteht.“ (Joest, Ontologie, 199). Vgl. hierzu auch: Hirsch, Lutherstudien I, 119ff, sowie: WA 18; 735, 27 – 736, 5. 33 Vgl. Bayer, Freiheit, 138. 34 „Gott habe jedem Menschen den Begriff von Gut und Böse eingepflanzt, ein Bewußtsein, das auch durch die Sünde nicht verlorengegangen sei. Der Mensch wisse in seinem Geist, was gut und was böse ist, und dadurch komme es in ihm ganz selbstverständlich zu dem Kampf zwischen Geist und Fleisch.“ (Augustijn, Erasmus, 50). 35 So auch in Dla.: „Trotzdem ist nicht die ganze Beschaffenheit des Menschen Fleisch, sondern es gibt eine, die man Seele nennt, und es gibt eine, die man Geist nennt, vermöge dessen wir zum sittlich Guten emporstreben, einen Teil unseres inneren Vermögens [sc. unserer Seele], den man Vernunft oder das Hegemonikon, d. h. den führenden Teil nennt; oder soll man vielleicht annehmen, daß des Strebens zum sittlich Guten bar gewesen seien die Philosophen […]? Oftmals allerdings urteilt die verderbte Natur [sc. Vernunft] verkehrt.“ „Nec tamen omnis affectus hominis est caro, sed est, qui dicitur anima, est, qui dicitur spiritus, quo nitimur ad honesta, quam partem animi rationem vocant aut h‘‘gemoniko,n, id est principalem, nisi forte in philosophis nullus fuit ad honesta nixus, […] quamquam saepe corrupta ratio male iudicat.“ (Dla. nach: Schumacher, Willen, 73 f = Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 63; 14 – 16.19 – 20 [III b 4]).

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was zu fliehen und was anzustreben ist. Deshalb müssen wir die Blindheit beheben, um bei der Wahl der Dinge nicht getäuscht zu werden. Das Nächste ist, daß du das haßt, was du als Übel erkannt hast, und daß du das Gute liebst. Darin ist das Fleisch zu besiegen, dass wir nicht gegen das Urteil der Vernunft das Angenehme statt des Heilsamen lieben.36

Bei aller Bedrohung der Freiheit durch die Sünde ist für Erasmus ganz eindeutig festzuhalten, dass die Fesseln der Sünde eine gewisse Elastizität aufweisen. Zwar betont Erasmus die Rolle der traditionell unterschiedenen Gnadenwirkungen für die Seligwerdung des Menschen, doch zugleich gesteht er dem Menschen grundsätzlich Reste von Vernunft- und Willenstätigkeiten zu, die ihm einen gewissen Grad an sittlicher Freiheit sichern. Auch der natürliche Mensch ist frei zu einem gewissen Grad der Sittlichkeit37, obschon Erasmus bereits in der Geschöpflichkeit eine Gnadenwirkung erkennt. Diese natürliche Gnade (gratia insita) wird zwar aufgrund ihrer Allgemeinheit von der Tradition nicht als Gnade bezeichnet und es ist nach Erasmus fraglich, ob der Mensch sich durch sie bereits zum Empfang der ersten Gnade vorbereiten könne.38 Doch sind die Seelenkräfte des Menschen auch vor dem Empfang der ersten Gnade lediglich schwach, nicht aber ausgelöscht.39 36 Enchiridion nach: Welzig, Handbüchlein, 50; 29 – 41. „Ergo (ut coepam) caecitas facit, ut in delectu rerum fere caecutiamus pro optimis pessima sequentes, potiora minus utilibus posthabentes. Caro sollicitat affectum, ut, etiam si quid sit optimum intelligamus, diversa tamen amemus. Infirmitas facit, ut virtutem semel arreptam vel taedio vel tentatione victi deseramus. Caecitas officit iudicio, caro depravat voluntatem; infirmitas frangit constantiam. Primum igitur est, ut fugienda dignoscas ab expetendis, atque ideo tollenda caecitas, ne in rerum delectu hallucinemur. Proximum, ut malum cognitum oderis, bonum ames, et in hoc vincenda caro, ne contra mentis iudicium dulcia pro salutaribus amemus.“ (Enchiridion hrsg. v. H. Holborn, 56; 10 – 20). 37 So will Erasmus sich der Meinung der Kirchenväter anschließen, „die lehren, daß gewisse Keime des sittlich Guten von Natur im Menschen liegen und daß er infolgedessen irgendwie das sittlich Gute erkennt und erstrebt, obwohl gröbere Neigungen hinzukommen, die zum Gegenteil verlocken.“ „Interim abutar veterum auctoritate, qui semina quaedam honesti tradunt insita mentibus hominum, quibus aliquo modo vident et expetunt honesta, sed additos affectus crassiores, qui sollicitant ad diversa.“ (Dla. nach: Schumacher, Willen, 74 = Dla. hrsg v. J. v. Walter, 64; 12 – 16 [III b 4]). 38 Es erscheint als Fluch der erasmischen collatio, dass durch ihren Sammlungscharakter eine einheitliche Systematisierung des Verhältnisses „sittliche Freiheit/Gnade“ kaum möglich erscheint. Johnannes v. Walter dazu: „Fragt man nun, in welcher Weise die Anschauungen des E. sich diesen [sc. zuvor dargelegten] scholastischen Theorien einfügen, so steht man einer schwierigen Aufgabe gegenüber, schwierig nicht deswegen, als stände E. hier auf prinzipiell anderem Boden als die Scholastik, sondern deswegen, weil bei E. die vorhin charakterisierten Ansichten so ziemlich allesamt zu finden sind. Wir sahen, daß nach E. die guten Werke vor der Bekehrung die Seligkeit nicht verdienen können. Durch die bekehrende Gnade erhalten sie nun die efficacia (30, 16): das ist die skotistische Lehre. Andererseits hilft die eingegossene (infundere, 29, 19) bekehrende Gnade durch Mitteilung von Glauben und Liebe dem Intellekt und dem Willen auf (24, 6ff) – das ist die Anschauung des Thomas.“ (Dla. hrsg. v. J. v. Walter, XXIX). 39 „Obwohl nämlich die Willensfreiheit durch die Sünde eine Wunde empfangen hat, ist sie nicht tot; obwohl sie sich eine Lähmung zugezogen hat, so daß wir vor dem Empfang der Gnade

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In einem Stufenmodell erläutert Erasmus, wie jede „weitere“ Gnade den Menschen ein wenig freier und besser macht, ohne dass der Mensch jedoch bei diesem Fortschritt unbeteiligt wäre.40 Er leistet jeweils das ihm nach Kräften Mögliche. Bevor nun im Folgenden in den Blick genommen wird, wie Luther Erasmus’ Definition verstanden hat und welche Differenzen schon allein auf der begrifflichen Ebene herrschen, sind zusammenfassend drei Punkte festzuhalten: Erstens betrachtet Erasmus den menschlichen Willen in jener doppelten Potentialität, sowohl wählen zu können, was gewollt wird, als auch wirklich strebend zu wollen, wobei die Freiheit des Willens die Freiheit der Wahl zwischen von der Vernunft dargebotenen Alternativen ist. Zweitens ist nach Erasmus die libertas eligendi bonum aut malum im sündigen Menschen lediglich geschwächt, aber nie gänzlich vernichtet, so dass der Mensch aus eigener Entscheidungskraft entweder den Weg des Guten oder den Weg des Bösen gehen kann. – Diese Feststellung bleibt zunächst unberührt von der Frage, wie sich sittliche Werke und Gnade in Bezug auf die Seligkeit verhalten, ob also sittlich gute Werke an sich oder vielmehr erst gute Werke unter der Gnade das ewige Heil erlangen. Freiheit ist für Erasmus geradezu derart mit der Geschöpflichkeit des Menschen verknüpft, dass sie – wenn auch geschwächt und zur Seligkeit untüchtig – grundsätzlich als unverlierbar zu gelten hat. Erasmus sagt dies ausdrücklich auch von der nachadamitischen Menschheit: „Im übrigen läßt Gott dem Willen jener Menschen [sc. Adams und Evas und des Volkes Israel] die Möglichkeit der Wahl, eben die Freiheit und die Beweglichkeit nach beiden Seiten, die er schon durch die Schöpfung hat.“41 Drittens ist noch einmal deutlich zu sagen, dass „Gut und Böse“ für Erasmus sittliche und zugleich theologische Größen sind. Dies zeigt sich z. B. daran, dass die Sittlichkeit der Philosophen von Erasmus als Beweis für die Freiheit geneigter zum Bösen als zum Guten sind, ist sie nicht vernichtet; nur trüben ungeheuerliche Verbrechen oder zur zweiten Natur gewordene Gewohnheitssünden gelegentlich dermaßen das Urteil des Verstandes und verschütten dermaßen die Freiheit des Willens, daß jenes vernichtet und diese tot zu sein scheint.“ „Quamquam enim arbitrii libertas per peccatum vulnus accepit, non tamen exstincta est, et quamquam contraxit claudicationem, ut ante gratiam propensiores simus ad malum quam ad bonum, tamen excisa non est, nisi quod enormitas criminum et assetudo peccandi velut in naturam versa sic offuscat nonnumquam mentis iudicium, sic obruit arbitrii libertatem, ut illud exstinctum, haec penitus adempta videatur.“ (Dla. nach: Schumacher, Willen, 26 f. Hervorhebung von S.S. = Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 25; 23 – 26; 2 [II a 8]). 40 Vgl. Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 28 – 30 (II a 11). 41 O. Schumacher, Willen, 36. „Ceterum eligendi potestam illorum relinquit voluntati, quam illis condidit liberam et utroque volubilem.“ (Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 25; 8 f [II a 7]). Deshalb meine ich auch, dass die Frage, ob Erasmus bei seiner anfänglichen Definition des liberum arbitrium den Menschen in statu integrationis oder in statu corruptionis im Blick habe (So etwa McSorley, Lehre, 263 f und Klein, Willensfreiheit, 362. Vgl. allerdings a. a. O., 365.), als geklärt betrachtet werden kann. Erasmus macht hier keinen Unterschied zwischen Adam im Paradies und dem gegenwärtigen Menschen.

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des Willens angeführt wird, zwischen Gut und Böse zu wählen, was aber am theologischen Anliegen der Diatribe vorbeizulaufen scheint. Es besteht also bei Erasmus wie bei Luther neben der Frage nach der Freiheit in Heilsdingen auch die Perspektive auf den natürlichen Menschen und die Frage nach dessen Freiheit in der Welt. Bei Erasmus allerdings vermischen sich beide Fragerichtungen: In der Frage des Heils sind es nämlich an sich gute, freilich durch Gottes Gesetz geforderte und durch seine Gnade geförderte Werke42, die als zur Seligkeit verdienstvolle betrachtet werden. Christliche Lehre und christliches Leben sind für Erasmus gar nichts anderes als Lehre und Leben der Sittlichkeit.43 Letztlich spiegelt sich auch in einem weiteren theologischen Anliegen der Diatribe, in der Absicherung der Gerechtigkeit Gottes gegen den Anschein seiner ungerechten Willkür44, der Primat eines Gerechtigkeitsbegriffes, dem selbst das göttliche Wollen und Wirken zu unterwerfen seien – ein „rational maßgeschneiderte[s] moralische[s] Gottesbild“45. Alle drei benannten Punkte haben Luthers Widerspruch bewirkt. Luther nämlich bezieht (1.) die Freiheit des Willens – wie sich zeigen wird – in einer Weise auf das Phänomen des Selbstantriebs des Willens, dass in der Konsequenz gerade (2.) die stete Unfreiheit des Willens mit der Geschöpflichkeit des Menschen einhergeht, wobei (3.) die Frage der sittlichen Qualität einer Handlung in Heilsangelegenheiten gänzlich ausgeschlossen bleibt.

3.1.2.2 Luther Wie die Behandlung der erasmischen Definition in Dsa deutlich zeigt, hat Luther Erasmus bezüglich des arbitrium in einem signifikanten Punkt anders 42 Die Betonung der Gnade für das gute Leben soll dem Erasmus hier in keiner Weise abgesprochen werden, wie McSorley, Lehre, 266 f, dies als ungerechtfertigten Moralismusvorwurf moniert. Mag Luther und in unkritischer Folge ein ganzer Strom der Erasmus-Interpretation die erasmische Gnadenfrömmigkeit unbeachtet gelassen haben, so ändert sich m. E. nichts an der Tatsache, dass Erasmus zwischen Moral/Sittlichkeit und Glaube/Gnadengabe keinen Unterschied sah. 43 „Anderes soll uns genau bekannt sein, z. B. die Anweisungen zu einem sittlich guten Leben. Dies ist offenbar das Wort Gottes, das man nicht erst vom hohen Himmel herabzuholen noch über das weite Meer herbeizuschaffen braucht, das vielmehr nahe ist, nämlich in unserem Munde und in unserem Herzen.“ „Quaedam voluit nobis esse notissima, quod genus sunt bene vivendi praecepta. Videlicet: hic est sermo die, qui neque petendus est e sublimi consenso caelo neque e longinquo importandus transmisso mari, sed prope adest in ore nostro et in corde nostro.“ (Dla. nach: Schumacher, Willen, 19 = Dla. hrsg v. J. v. Walter, 7; 17 – 21 [I a 9]). 44 „Wer könnte sich überwinden, von ganzem Herzen einen Gott zu lieben, der die Hölle heizte mit ewiger Pein, um dort für seine eigenen Missetaten armselige Menschen zu bestrafen, als freute er sich an ihren Foltern“ „Quis inducere poterit animum, ut deum illum amet ex toto corde, qui tartarum fecerit aeternis cruciatibus ferventem, ut illic sua malefacta puniat in miseris, quasi suppliciis hominum delectetur?“ (Dla. nach: Schumacher, Willen, 21 = Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 10; 11 – 14 [I a 10]). 45 Ebeling, Lutherstudien III, 69.

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verstanden. So zeigt Luthers Kritik der Definition, dass ein zweifaches Vermögen des Willens (applicare/velle) in seinem Willenskonzept keinen Platz hat. „Kraft des menschlichen Willens“ deutet Luther als „Möglichkeit oder Fähigkeit […] oder eine Eignung zu wollen, nicht zu wollen, zu wählen, zu verachten, zuzustimmen, abzulehnen und was immer sonst Handlungen des Willens sind“46. Offensichtlich liegt in der unterschiedlichen Interpretation des „Zu- oder Abwenden“ der Dissens zwischen Luther und Erasmus.47 Luther denkt hierbei nämlich nicht an eine Richtungsentscheidung (Wahl, applicatio), die vom wirklichen Wollen (velle) unterschieden wäre; darauf verweist schon die Art seiner asyndetischen Aufzählung von „wollen/nicht wollen“ und „wählen“. Wenn die Kraft des Willens nach Luther die Fähigkeit zu wollen oder nicht zu wollen bezeichnet, dann stellt das „Ab- oder Zuwenden“ schon einen Akt des Wollens dar – und zwar nicht einen Akt des Willens als Verwirklichung seines Ausrichtungsvermögens (applicatio) in Abgrenzung zu einem weiteren Akt des Willens, der als Wollen zu bezeichnen wäre (velle). Luther reduziert das Vermögen zur Spezifikation des Willens (Ab-/Zuwendung) auf eine singuläre Willenspotenz, nämlich überhaupt aus eigener Kraft zu wollen. Was das nun soll, dass eben diese Kraft sich zuwendet und abwendet, das sehe ich nicht, sondern nur das Wollen und Nichtwollen, das Wählen, Verachten, Billigen, Abweisen, also die Handlung des Willens selbst.48

Wenn nach Luthers Auffassung die inhaltliche Willensspezifikation zugleich im Akt des Wollens vollzogen wird, dann musste er die Definition des Erasmus dahingehend (miss)verstehen, dass das arbitrium die eigene (und einzige!) Kraft des Willens sei, die den Willen allererst zu seiner eigenen Tätigkeit befähigt. Er folgt der erasmischen Definition durchaus darin, dass er Erasmus eine Unterscheidung zwischen voluntas ipsa, arbitrium und velle bzw. actio voluntatis konzediert. Zugleich schreibt er dem arbitrium aber eine signifikant andere Funktion zu als Erasmus dies tat. 46 Für den deutschen Dsa-Text habe ich dankbar Athina Lexutts Übersetzung übernommen, die sich in der lateinisch-deutschen Studienausgabe findet. LDStA 1, 349. „Vim igitur voluntatis dici […] potentiam vel facultatem vel habilitatem vel aptitudinem volendi, nolendi, eligendi, contemnendi, approbandi, refutandi et si quae sunt aliae voluntatis actiones“. (WA 18; 663, 40 – 663,1). Wichtig erscheint mir an dieser Stelle der Hinweis, dass die actiones voluntatis nicht etwa von einer Person gewollte und ausgeführte Handlungen ,nach außen‘ bezeichnen, so wie das Ausstrecken der Hand eine Handlung wäre, sofern es vom Urheber gewollt war. Mit actiones meint Luther das Aktivsein des Willens, das Wollen. Außer „Streben“ will mir keine passende Bezeichnung neben Wollen einfallen. 47 Dass sich eben die Bedeutung des Hin- und Abwendens für Luther nicht erschließt, gibt er ja bei. Das liegt letztlich schon an seinem Verständnis der vis voluntatis humanae. Vgl. LDStA 1, 349 = WA 18; 662, 30 ff. 48 LDStA 1, 349. „Iam quid sit eandem vim sese applicare et avertere, non video, nisi ipsum velle et nolle, eligere, contemnere, probare, refutare, ipsam scilicet actionem voluntatis“. (WA 18; 663, 2 – 4).

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Wir wollen uns also vorstellen, jene Kraft [sc. liberum arbitrium] sei in gewisser Hinsicht ein Mittelding zwischen dem Willen selbst und seiner Handlung, durch die der Wille selbst die Handlung des Wollens und Nichtwollens hervorbringt und durch die also die Handlung des Wollens und Nichtwollens hervorgebracht wird.49

Mit der unterschiedlichen Bestimmung der Funktion, die das arbitrium innerhalb des Willens erfüllt, ändert sich auch die Frage nach der Freiheit des Willens. Was sich Erasmus als die Frage nach der unbedingt freien Wahl (applicatio) vorgegebener – erkannter! – Ziele präsentierte – unterschieden von jener Hinsicht, dass der Wille sein selbstgewähltes Objekt zugleich auch erstrebt (velle) –, drängt sich dem Reformator als die schlichte Frage auf, ob der Wille seine Tätigkeit überhaupt aus sich selbst empfange.50 Damit ist eine Bestimmung von Willensfreiheit getroffen, wonach das arbitrium eine Funktion des Willens ist, die dem Begriff der voluntas inhäriert und durch die der Wille selbst sein eigenes Wollen evoziert. Die Frage nach Willensfreiheit wird in Dsa also gestellt als Frage nach der Kraft des Willens (arbitrium = vis voluntatis), seine Tätigkeit selbst hervorzubringen.51 Was sich anhand von Dsa im Detail zeigen lassen wird, fasse ich vorausgreifend als den fundamentalen Unterschied der Willenskonzepte Luthers und Erasmus’ wie folgt zusammen: Nach Luther fällt im menschlichen Willen eine Wahl, indem er etwas will oder nicht will. Nicht etwa ist vom wirklichen willentlichen Streben (velle) eine vorgängige willentliche Entscheidung (applicatio) zu differenzieren (so Erasmus), sondern dass der Wille etwas anstrebt (sich zuwendet), ist die Entscheidung. Ausrichtung und Antrieb des Willens fallen nach dieser Vorstellung folglich in eins.52 Als unfrei in diesem Sinn muss also jeder Wille bezeichnet werden, der andere Voraussetzungen hat als sich selbst.53 Dass aber der geschöpfliche Wille seine Kraft nicht aus 49 LDStA 1, 349. „[F]ingamus, Vim illam esse medium quiddam inter voluntatem ipsam et actionem suam, ut qua voluntas ipsa actionem volendi et nolendi elicit, et qua ipsa actio volendi et nolendi elicitur.“ (WA 18; 663, 4 – 7). 50 Karl Zickendraht hat Luthers Umgang mit der erasmischen Definition bezeichnet als „Methode, die Saat des E.[rasmus] von ihrem heimischen Boden weg auf sein eigenes Ackerfeld zu verpflanzen und dann über ihre Wucherung zu klagen“ (Zickendraht, Streit, 79). Wenn hierin nicht mehr anklingt als die Feststellung gegenseitigen Missverständnisses, ist Zickendraht durchaus zuzustimmen. Mutmaßungen, als ob zwischen Erasmus und Luther Einigkeiten hätte bestehen können, wenn sie sich denn nur verstanden hätten, halte ich derweil für unbegründet. Der Widerspruch Luthers hätte auch dem rechten Verständnis des Erasmus gegolten. 51 Aus diesem Grunde wäre arbitrium im Sinne Luthers besser als „Willenskraft“ zu übersetzen, weil darin eher zum Ausdruck kommt, was der Begriff „Entscheidungsvermögen“ verschleiert: dass Entscheiden und Wollen für Luther eines sind. 52 Vgl. LDStA 1, 353 = WA 18; 664, 25ff, wonach Luther Erasmus vorwirft, bei ihm bewege sich das arbitrium aus eigener Kraft. Hier versteht Luther außerdem das applicare als efficacia des Willens. D.h.: Das Hinwenden ist in den Augen Luthers bereits ein Wollen. 53 Nach Friedrich Hermanni „bezieht sich der Begriff der Willensfreiheit auf die Gründe des Willensaktes und macht einen solchen Willen vorstellig, dessen Äußerungen schlechthin aus ihm selbst hervorgehen, ohne durch vorhergehende Bedingungen notwendig herbeigeführt worden zu sein“. (Hermanni, Überlegungen, 195).

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sich, sondern aus dem allmächtigen Wirken Gottes hat, ist die Kernthese dieser Lutherschrift. So gilt, dass nach Luther ein Wille, der nie in Potentialität verweilen und darin Entscheidungsfreiheit genießen kann, sondern stets von der Allmacht getrieben in actu sich befindet, eben ein unfreier Wille ist. [V]ielleicht mag einer in sophistischer Manier zu sagen wagen: Wenn auch [faktisch] der Wille abweicht und die Vernunft unkundig ist, kann dennoch der Wille sich um irgendetwas bemühen und die Vernunft irgendetwas wissen aus eigenen Kräften; denn wir können viel, was wir gleichwohl nicht tun. Über die potentielle Kraft nämlich, nicht über die Tat disputieren wir. Meine Antwort: Die Worte des Propheten schließen sowohl die Tat als auch die Fähigkeit ein. […] Angenommen, es gäbe im Menschen eine Fähigkeit oder Kraft, das Gute zu wollen; weil die göttliche Allmachtswirkung diese nicht ruhen oder müßig gehen ließe, […] könnte es nicht geschehen, dass sie sich nicht in einigen oder wenigstens in einem einzigen [Menschen] regte und irgendwie zeigte.54

Dieses Verständnis eines stetig getriebenen, immer schon im Vollzug seienden Willens impliziert nun weiterhin, dass der bewusste Wille des Menschen durchaus als frei empfunden wird, sofern er keinem Zwang unterliegt. Dies stellt eine Kerneinsicht der Dsa-Interpretation dar. Luther zeigt in seiner Streitschrift nämlich ein differenzierteres Freiheitsverständnis, als man es bei Erasmus vorfindet. Weithin anerkannter Schlüssel zu etlichen Passagen in Dsa ist die Unterscheidung zwischen der Notwendigkeit der Unveränderlichkeit und der Notwendigkeit des Zwanges. Diese Arten der Notwendigkeit haben als entsprechendes Pendant je einen Begriff von Freiheit, nämlich jenen Begriff der Willensfreiheit, wie er soeben als Hervorrufung des Willens durch sich selbst beschrieben wurde, und jener offensichtlichen Freiheit, die sich in der Abwesenheit von Zwang erschöpft. Korrelieren aber diese Spielarten von libertas und necessitas eindeutig, so wird auch einsichtig, dass die Abwesenheit von Zwangsnotwendigkeit gar keine Aussage über die Selbstursprünglichkeit des Willens zulässt. Als Konsequenz aus Luthers arbitrium-Verständnis auf der einen und seinem Allmachtsverständnis auf der anderen Seite kann man schließen: Der Wille des Menschen ist als bewegter immer auch ein bereits entschiedener Wille. Die Rede von Zwang setzt ihrerseits den Bezug auf einen bestimmten Willen voraus, ohne dass überhaupt danach zu fragen wäre, ob der Wille sich seinerseits selbst bestimmt oder angetrieben hat. Freiheit von Zwang wird von Luther für den natürlichen Willen des Menschen zweifellos 54 LDStA 1, 593. „Sophisticari forte quis audeat: licet voluntas declinet et ratio ignoret actu, potest tamen voluntas aliquid conari et ratio aliquid nosse suis viribus, cum multa possimus, quae tamen non facimus. De vi potentiae scilicet, non de actu disputamus. Respondeo: Verba Prophetae includunt et actum et potentiam. […] Quia, si esset potentia aut vis in homine boni volendi, cum per omnipotentiae divinae motum non sinatur quiescere aut feriari, […] fieri non posset, quin in aliquot vel saltem in uno aliquo moveretur, et usu aliquo ostenderetur.“ (WA 18; 762, 15 – 19.20 – 23).

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behauptet. Dabei ist der Wille zwar in dem, dass und wie er sich vollzieht, nicht durch sich selbst. Ist der Wille aber außerdem in eben diesem seinem Vollzug nicht von externen Umständen gehindert, steht er also nicht unter Zwang, so ist er als frei anzusehen. Umgekehrt ist eine Person, deren Wille nicht die Macht hat, sich zu Handlungen durchzusetzen, folglich in diesem Sinne unfrei. Sie unterliegt einem Zwang von außen, was aber logisch impliziert, dass ihr Wille aktiv ist – wenn auch unvermögend, sich selbst zu verwirklichen in der intendierten Handlung. Wenn man mit Luther die Vorstellung eines suspendierten, auf eine Entscheidung noch ,wartenden‘ Willens ablehnt – und dies wurde oben gezeigt –, ist diese Art der Freiheit, nämlich Ungezwungenheit, die einzig denkbare. Gerhard Ebeling hat in seiner Einführung in Luthers Denken hierfür den Begriff der „Willensmacht“ gewählt. Luther erkennt es als eine völlig abstrakte Denkweise, von einem ,absoluten‘, das heißt von jeder Bestimmung losgelösten Willen zu reden. Wille ist der immer schon entschiedene, engagierte, in Anspruch genommene Wille, nicht der neutrale Wille in der Situation absoluter Wahlfreiheit, der völlig ungeschichtliche Wille. Darum […] ist die Frage nach der Freiheit des Willens eigentlich die Frage nach der Macht des Willens. Der Wille ist nur in dem Maße freier Wille, als er vermag, was er will.55

Mit der Unterscheidung dieser beiden Freiheitsbegriffe – sich selbst begründender Wille oder ungezwungener Wille – verbindet sich sodann eine weitere nötige Abgrenzung, nämlich die Feststellung, dass Willensunfreiheit nicht zu verwechseln ist mit Willenlosigkeit! Dass der Mensch kein lebloser Klotz sei, ist durch die Behauptung seiner grundsätzlichen Willensunfreiheit gar nicht infrage gestellt. Nur wer wie Erasmus mit dem faktischen Dasein eines doppelt potenten Willens sogleich dessen Freiheit bewiesen sieht56, läuft auch Gefahr, den Umkehrschluss zu ziehen, Unfreiheit heiße notwendigerweise entweder Zwang oder Willenlosigkeit. Die bisweilen geführte Kritik, Luther würde mit der Bestreitung der Willensfreiheit die Menschen zu Marionetten in den Händen eines Strippenzieher-Gottes erklären, rührt aber gar nicht an Luthers Position.57 Denn wo der Mensch einen notwendig so oder so gearteten Willen hat, besteht nach Luther zwar durchaus die Notwendigkeit der Unveränder55 Ebeling, Luther, 252 f. Dass Ebeling eine „Fraglichkeit des Begriffs ,freier Wille‘“ feststellt und diesen Begriff einerseits als Tautologie, andererseits als Widerspruch deutet, erscheint mir dem Umstand geschuldet zu sein, dass hier erneut die Übersetzung von liberum arbitrium fehlgeht. Was sich Ebeling als Widerspruch darstellt, trifft genau die Bestimmung der arbitrium-Funktion nach Erasmus: „Wille aber ist immer engagierter, von etwas bestimmter Wille. Darum ist der Begriff ,freier Wille‘ […] ein Widerspruch in sich, insofern er einen noch nicht entschiedenen, einen noch vor der Entscheidung stehenden Willen meint, also gewissermaßen einen Noch-nicht-Willen.“ (Ebeling, Luther, 252. Hervorhebung von S.S.). Unterscheidet man aber arbitrium und voluntas, so löst sich auch der Widerspruch. 56 Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 36; 9 f (II a 17): „Cum audis: qui vult, audis liberam voluntatem.“ 57 Freilich sind die von Luther angeführten Metaphern zur Verdeutlichung seiner Position kaum dienlich. Das Bild des Menschen als Werkzeug oder als Tongefäß beinhaltet ja gerade keine Willentlichkeit.

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lichkeit, eben darum auch keine Freiheit. Anders als die Marionette aber wird der Mensch bewegt durch diesen seinen Willen und wird weder willenlos ferngesteuert noch gegen seinen Willen gezwungen – er handelt (!) sponte et libenti voluntate. Auf diese zwei alternativen Deutungsmöglichkeiten von Unfreiheit – Willenlosigkeit oder Zwang – beschränkt Erasmus sich allerdings beinahe zur Gänze in Dla. So schildert er in seinen zahlreichen Bildern zumeist Umstände, die willentlich nicht zu beeinflussen sind (etwa die Fesselung eines Sklaven), die also einen Zwang beschreiben und die zu tadeln oder zu bestrafen tatsächlich ungerecht wäre. Hierzu gehört auch Erasmus’ Meinung, Notwendigkeit impliziere eine Untätigkeit oder reine Passivität – reines Erleiden – des Willens.58 Nur in einer Passage zeigt Erasmus, dass er Notwendigkeit von Zwang unterscheiden kann. Und dort läuft seine Unterscheidung auf diejenige von necessitas consequentis und necessitas consequentiae hinaus.59 An dieser zweifachen Feststellung, dass Willensunfreiheit weder Willenlosigkeit noch Zwang bedeuten muss, hängt Luthers Rede vom Menschen als cooperator Dei. An ihr muss sich auch die Frage der Verantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln entscheiden.60 Die Distinktion beider vorgestellten Freiheitsbegriffe firmiert gewöhnlich – unter Rückgriff auf David Hume und Arthur Schopenhauer61 – in der aktuellen Debatte als jene Unterscheidung von Willensfreiheit und Handlungsfreiheit.62 Allerdings bezeichnet Luther – sehr zum Leidwesen einer stringenten Interpretation – beide Arten von Freiheit bisweilen mit dem Begriff liberum arbitrium.63 Aus diesem Grunde erachte ich die Begriffe „Willensfreiheit“ und 58 Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 43;12 – 15 (II b 4): „Mihi difficile videtur certamen, coronam, iustum iudicem, reddendi, certandi verbum coniungere cum omnium rerum mera necessitate, cum voluntate nihil agente, sed tantum patiente.“ „Die Worte ,Kampf‘, ,Siegespreis‘, ,gerechter Richter‘, ,als Anerkennung überreichen‘ und ,kämpfen‘ scheinen mir schwer vereinbar mit einer reinen Notwendigkeit allen Geschehens, wobei der Wille nichts täte, sondern nur litte.“ (Dla. nach: Schumacher, Willen, 52). 59 Vgl. Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 52 – 53 (III a 9). 60 Nach Leonhadt, Verhältnis, 154 f, erweist sich Luther in der neueren Terminologie als deterministischer Kompatibilist, weil er Handlungsfreiheit und Determinismus vereint. Viele Kompatibilisten würden allerdings über Handlungsfreiheit im Luther’schen Gepräge weit hinausgehen und einen stärkeren Freiheitsbegriff einfordern. 61 Vgl. etwa Hermanni, Überlegungen, 195. Des Weiteren: Dietz, Konzeption, 182. 62 So auch Leonhardt, Verhältnis, 155; Hermanni, Streit, 170ff; Iwand, Studien, 60. 63 Dies ist aus Sicht Luthers insofern keine begriffliche Inkonsequenz, als für ihn das arbitrium die Kraft des Willens meint, überhaupt zu wollen. Da Zwang den Willen von außen einschränkt, also dessen Kraft entgegenwirkt, kann durchaus ein arbitrium non coactum frei genannt werden, ohne dass dem Willen zugleich die Freiheit zukommen muss, qua arbitrium sein eigener Ursprung zu sein. Grundsätzlich scheint mir die Unterscheidung von Willens- und Handlungsfreiheit eine contraintuitive Zäsur zwischen Intention und intendierte Handlung zu setzen. „Denn es ist unmöglich, dass du, wenn du etwas willst oder nicht willst, nicht durch diesen Willen irgendetwas ausrichten kannst, selbst wenn du, durch jemand anderen gehindert, es nicht vollenden kannst.“ „Quia impossibile est, si aliquid velis aut nolis, ut non aliquid operis ea voluntate possis, etiam si prohibente alio perficere non possis.“ (LDStA 1, 351 = WA 18; 664,

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„Handlungsfreiheit“ für die Behandlung der Lutherschrift als unpassend oder zumindest irreführend.64 Im Sinne einer Begriffsverständigung schlage ich folgende Terminologie vor: Freiheit im Sinne der Ausrichtung des Willens durch sich selbst werde ich als ,suikausale Freiheit‘ bezeichnen, während ich die Abwesenheit von Zwang als ,relationale Freiheit‘ oder auf Ebeling bezugnehmend als ,Willensmacht‘ bezeichne. Es wird sich zeigen, dass relationale Freiheit (Freiheit des Willens zur Durchsetzung) in Dsa durch Formulierungen zur Sprache kommt, die zwei Unteraspekte benennen: Sie bestehen im „Recht haben“ und in der „Wirksamkeit des Willens“, was ich als ,iuridische‘ und als ,effektive Freiheit‘ bezeichnen werde.

3.1.3 Die Freiheit des Schöpfers in Beziehung zu seiner Schöpfung als Grund für einen theologischen Determinismus Eine Dsa-Interpretation, die im theologischen Determinismus die Pointe der Lutherschrift erkennt, hat sich der eingangs erwähnten breiten Tradition freiheitsapologetischer Dsa-Deutungen zu stellen. In zwei Varianten – einer ,skeptischen‘ und einer ,assertorischen‘ – könnte die deterministische Lesart bezweifelt werden: Zunächst könnte grundsätzlich die Möglichkeit bestritten werden, überhaupt eine Antwort auf die Freiheitsfrage ad inferioris in Dsa zu finden. Wenn es nicht Luthers Hauptinteresse war, die Frage nach der Freiheit in den niederen Dingen überhaupt zu klären, wenn vielmehr die soteriologi5 – 7). Sollte nicht vielmehr das eine Phänomen als Freiheit des Willens in seiner Hervorbringung betrachtet werden und das andere als Freiheit des Willens in seiner Durchsetzung/der Perfektion? In diesem Sinne ist Handlungsfreiheit die Freiheit des Willens, sich zu äußern. 64 Damit soll nicht gesagt sein, dass ich die sachliche Unterscheidung beider Freiheitsbegriffe nicht für außerordentlich wichtig erachte. Ich meine im Gegenteil, dass sich an ihr nicht nur die Frage nach der cooperatio sowie der Verantwortlichkeit des Menschen entscheidet. An ihr muss auch die grundlegende Unterscheidung der „zwei Reiche“ einer Klärung zugeführt werden. Wo nämlich die Dsa-Interpretation im Schema „Unfreiheit gegenüber Gott, Freiheit gegenüber der Welt“ geführt wird, dort heißt es zumeist, der Mensch sei unfrei coram Deo, weil er hier durch Werke (wie auch durch einen werkhaften Glaubensentscheid) nicht sein Heil erwirken könne; in der Welt aber, wo er ja ganz offensichtlich wirken kann, da sei der Mensch auch frei und gerade deshalb ein cooperator Dei. Dabei ergibt die Auftrennung von Gottes- und Weltverhältnis allein dann Sinn, wenn jener Freiheitsbegriff in Anschlag gebracht wird, der lediglich dadurch bestimmt ist, dass der Wille ungehindert zum Erfolg führt, also perfectio erlangt. Die Frage, ob der Wille an sich einer Selbstsetzung entspringe, bleibt davon unberührt. Aber eben diese Frage wird doch für den Menschen in jeder Beziehung verneint werden müssen. Mir scheinen daher der Glaube oder das Ausstrecken der Hand – um das polemische Beispiel des Humanistenfürsten zu gebrauchen – gleichermaßen durchaus willentliche – und in diesem Sinne auch „freie“ – Vollzüge in der Welt („Handlungen“) zu sein. (Im Fall des Glaubens bestätigt die Gegenprobe meine Auffassung: Was sollte ein erzwungener Glaube sein?) Dabei muss jedoch der jeweilige Wille noch nicht selbstursprünglich sein.

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sche Fragestellung seine prioritäre, ja womöglich seine einzige war, muss dann nicht jenen Interpreten zugestimmt werden, die den Umgang des Menschen mit der Welt scheiden von seinem Gottesverhältnis? Ist dies nicht lutherisches Allgemeingut: Dass Luther Unfreiheit nur im Gottesverhältnis verortete, weil dies sein genuines und einziges Thema war? Lässt Dsa in der Frage, ob der Mensch sich in der Welt frei selbst bestimme, womöglich Raum für Unentschiedenheit? Quid infra nos, nihil ad theologicos? Der assertorische Einwand gegen eine deterministische Deutung rekurriert ebenfalls auf das Argument der ,zwei Reiche‘, ist aber zugleich davon überzeugt, Luther habe eine Wahlfreiheit in den niederen Dingen stets vertreten. Diese Interpretation hat prima facie nicht nur die menschliche Erfahrung eigener Entscheidungen als freie hinter sich, sondern beruft sich außerdem auf Passagen von Dsa, in denen Luther dem Menschen ein freies Willensvermögen respectu inferioris einräumt. Mir scheint der Preis für diese freiheitsaffirmative Interpretation hingegen sehr hoch zu sein: Man zahlt sie nämlich letztlich mit einer unvermittelbaren Diskrepanz innerhalb der Lutherschrift. Denn andere Dsa-Passagen betonen ausdrücklich die Unmöglichkeit, der Mensch könne irgendetwas wollen oder tun, was Gottes Wissen und Wille widerspräche. So will denn auch nicht recht einleuchten, wie eine menschliche Freiheit (der starken/libertarischen Lesart) in den niederen Dingen vereinbar sein könnte mit der Wirksamkeit Gottes „in allen Dingen“, mithin einer Notwendigkeit allen Geschehens. Zudem ergibt sich auf anthropologischer Ebene das Dilemma, dass das Gottes- und das Weltverhältnis des Menschen vollständig getrennt werden müssten, um die Aufspaltung: Unfreiheit in Heilsdingen, Freiheit in weltlichen Dingen aufrecht erhalten zu können.65 Ich stelle an diese Interpretation die Anfrage, ob denn die Struktur des Menschseins coram mundo und coram Deo derart einfach getrennt werden kann (hier : Freiheit, Selbststand, „Substanz“; dort: Unfrei65 „Die Schwierigkeit dieser Konzeption besteht darin, die fundamentale Abhängigkeit des Menschen Gott gegenüber und seine Selbständigkeit in innerweltlichen Lebensvollzügen kohärent miteinander zu vermitteln. Das gelingt nur, wenn anthropologisch einsichtig gemacht werden kann, warum Abhängigkeit von Gott und Selbsttätigkeit in der Welt sich nicht ausschließen und wie genau das Gottes- und Weltverhältnis des Menschen aufeinander zu beziehen sind. Zu Problemen kommt es dann, wenn dabei zur Beschreibung des Weltverhältnisses (wenn auch meist implizit) ein Menschenbild vorausgesetzt wird, aus dem ein Verständnis von Freiheit im Sinne von Autonomie resultiert. Dann besteht nämlich die Gefahr, daß die beiden Lebensbereiche des Menschen auseinanderbrechen und die Wirkmächtigkeit göttlichen Handelns in der Welt nicht mehr plausibel gemacht werden kann. Das führt in der Konsequenz zu einer problematischen und theologisch nicht haltbaren Spaltung der Wirklichkeit: Es gibt den glaubenden Menschen, dessen Existenz sich dem Handeln Gottes verdankt, und es gibt den handelnden Menschen, der – unabhängig von diesem Handeln Gottes – sein Leben nach eigenen Prinzipien einrichtet.“ (Beiner, Intentionalität, 4 f). Beiner kritisiert denn auch ganz zu meiner Zustimmung die „soteriologische Reduktion“ des Willensproblems, bleibt aber in ihren eigenen Ausführungen bei der Frage stehen, ob der Mensch in seinem Selbstverständnis seiner Bestimmung als Geschöpf entspreche oder nicht. Was Beiner hier als Frage an den geschöpflichen Willen versteht, erscheint mir nun doch gerade als soteriologische Frage.

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heit, Ekstase, „Relation“) und ob dann überhaupt im Nachsatz die Qualität des Menschseins vor Gott (Gerechtigkeit oder Sünde?) doch wieder in ,beiden Reichen‘ Bedeutung haben kann.66 Wo soll jene Grenze für den Menschen verlaufen, zwischen einem heilsrelevanten Lebensbereich und einem heilsunbedeutsamen Freiheitsraum? Pointierter wäre zu fragen: Gibt es denn für des Menschen Gottesbeziehung ein Habitat außerhalb der Welt?67 Und vom Allmachtsgedanken her : Wo im Menschen verläuft die Linie, an der Gottes Allmacht ihre Grenze findet?68 Den Einwand, man würde die Aussagen Luthers arg zu verbiegen haben, wollte man ihnen eine Entscheidung über eine angebliche Unfreiheit des Menschen ad inferiora entnehmen, gilt es zu verstehen – und zu entkräften. Äußerlich ergibt sich diese Aufgabe aus dem Anliegen meiner Arbeit. Soll nämlich eine Analogie der neurobiologischen Freiheitsdebatte zum Theologenstreit des 16. Jahrhunderts Bestand haben, so muss das Augenmerk gerade hierauf liegen, ob es dem Menschen nach Dsa in irgendeinem Falle möglich sei, den Objektgehalt seines Willens von sich aus zu bestimmen (eine freie Entscheidung zu treffen). Andererseits wäre eben jene Analogie freilich aufzugeben, wenn nicht anhand von Dsa entwickelte Erwägungen zur Willensstruktur eine Determiniertheit des menschlichen Willens bekräftigen könnten. Die folgenden Abschnitte sollen eben dies leisten. Hierzu muss allerdings, um dem theologischen Reflex, das Freiheitsthema sofort auf Sünde und Gerechtigkeit zu beziehen, zu entgehen, das Problemfeld des unfrei entweder böse oder gut seienden Willens (das sittlich-soteriologische Problem69) von jener Frage nach der Bestimmtheit jeder einzelnen Willensregung differenziert werden.70 Denn dass der Wille darin unfrei ist, seine strukturelle Ver66 Diese Aufspaltung des Menschen in „Weltperson“ und „Person vor Gott“ kann durchaus einhergehen mit der Feststellung, dass Luther freilich nicht allein vom homo credens als Person spricht, sondern dass auch der Gottlose (auf verkehrte Weise) Person sei – also strukturell durchaus identisch. Eben hierdurch wird es möglich, die Sünde der Glaubensstruktur parallel beizustellen – nur eben als Perversion. So etwa bei Wilfried Joest, Ontologie. Wie aber, wenn es denn bei Luther einen allgemein-anthropologischen Personbegriff (eine „Ontologie der Person“) gibt, kann dann „eine fundamentale ontologische Verschiedenheit im Sein des Menschen als Person coram mundo und coram Deo“ (a. a. O., 117) bestehen? 67 Vgl. Bernhardt, Vorsehung, 66. 68 Sollte nicht allein die Beobachtung, dass sowohl Erasmus als auch Luther mit ihrer je eigenen Haltung zum liberum arbitrium sogleich die Theodizeefrage auf dem Tableau vorfinden, Argument genug sein, sich die freiheitsapologetischen Anstrengungen zu sparen? 69 Sittlich-soteriologisch ist das Problem des guten oder bösen Willens vor allem aus Sicht des Erasmus. Wie sich noch zeigen soll, zieht Luther eben hier die notwendige Grenze zwischen Werken und Glaube, ohne dabei aber die Allwirksamkeit Gottes an dieser Grenze zu beschränken. 70 Diese Differenzierung vermisse ich auch noch bei jenen Arbeiten, die durchaus einen „Determinismus“ in Luthers Rede von der Allmacht erkennen. So zielt etwa Melanie Beiners Argument der Selbstbestimmung aufgrund eines (heteronom strukturierten) Selbstverständnisses ebenso wie Andreas Kleins „bestimmte Selbstbestimmung“, wenn ich recht verstehe, letztlich auf die

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kehrtheit und Selbstverkrümmtheit eigenkräftig zu wandeln, mithin ,das Gute‘ nicht wollen kann, gehört zum common sense des Luthertums. Strittig bleibt jedoch, was (Un-)Freiheit in den niederen Dingen bei Luther heißen mag. Erst wo die gedankliche Unterscheidung beider Problemfelder gelingt, tritt die Determinismusfrage voll konturiert zutage und darf eine klare Antwort darauf erwartet werden. Erst dann wird sich außerdem zeigen, dass beide Fragen zwar unterschieden aber aufeinander bezogen gehören und worin der innere Grund liegt, warum Luther die gnadentheologische Kontroverse zu einem gleichsam naturhaften Determinismus erweitern konnte und musste.71 Der Mensch, der für Luther als Sünder und Gerechter, also nur in seiner Situation coram Deo überhaupt von Interesse ist, wird sich unter eben jener Perspektive auch als der in Weltdingen Unfreie darstellen. Eine letzte methodische Vorbemerkung erscheint mir an dieser Stelle unerlässlich: Die angekündigte Unterscheidung der oben beschriebenen Themengebiete sowie die versprochene Zusammenführung selbiger bringt eine Veränderung des Freiheitsbegriffs im Prozess selbst mit sich: Beginnt man mit jenen Dsa-Stellen, die eine inferiora-Freiheit behaupten, so kann das Gottesvom Weltverhältnis nämlich nur unterschieden werden anhand der Frage, ob Frage des gläubig oder ungläubig konstituierten Willens. Das Problem, das sich mir hierbei aufdrängt ist, dass es zu unterscheiden gilt: 1) Die Frage, ob meine Entscheidung, hier und jetzt eine Kaffeepause zu machen, allein von mir abhängt oder zugleich von Gottes Allwirksamkeit umschlossen bleibt, und 2) Die Frage, ob ich diese Entscheidung, wie sie auch ausfallen mag, als Sünder oder als Gerechter treffe. Wenn 2) nicht eindeutig 1) festlegt – und nach meinem Verständnis tut Frage 2) dies eben nicht –, dann bleibt auch unter der Möglichkeit „bestimmter Selbstbestimmung“ Raum, um einem Determinismus zu entschlüpfen. 71 Dass in Luthers Denken über das liberum arbitrium tatsächlich eine Entwicklung festzumachen ist, hat bereits Zickendraht, Streit, festgestellt. Demnach lässt sich zwischen These XIII der Heidelberger Disputation (1518) und Luthers Assertio omnium articulorum die Erweiterung der Freiheitsproblematik auf das naturhafte Gebiet ausmachen. Zickendraht hierzu: „Die Hauptsache und der Hauptanstoß an der ,Assertio‘ liegt nun aber darin, daß L.[uther] die ethische Willensbetätigung vermöge ihrer natürlichen Grundlage in das Naturgeschehen einschließt und mit demselben als direkte Wirkung Gottes auffaßt, damit aber fast unmerklich vom Gnadenmonergismus zum Determinismus mit der Konsequenz der Bewirkung des Bösen durch Gott fortschreitet und bei dem […] Bekenntnis zur in Konstanz verurteilten wyklifitischen necessitas absoluta anlangt.“ (Zickendraht, Streit, 7). Ausführlicher hierzu: McSorley, Lehre, 206 – 255. Freilich scheint mir McSorley zu stark zwischen Luther und der katholischen Position zu harmonisieren. So unterscheidet er auf der einen Seite Luthers deterministischen Sprachgebrauch von dessen theologischer Intention, den menschlichen Willen aus dem göttlichen Gnadenshandeln auszuschließen. („So muß man die Frage, ob Luther eine Lehre des absoluten Necessitarismus gelehrt hat, folgendermaßen beantworten: nach dem allgemeinen anerkannten Sinn der Worte, die er gebraucht, ja; nach seiner Intention, nein.“ [A.a.O., 244]) Auf der anderen Seite trennt McSorley den vulgärkatholischen Semipelagianismus von der offiziellen Lehre der „absoluten Souveränität der göttlichen Gnade“ (A.a.O., 251), worin er wiederum „Luthers völlig katholisches Anliegen“ (A.a.O., 253 und 280) wiedererkennt. Letztlich wird Luthers Ablehnung des liberum arbitrium (ad salutem) zugunsten des sola gratia ein „tragische[s] Mißverständnis der authentischen katholischen Lehre“, da Luther nie wahrgenommen habe, „daß der Papst genau dieses lehrt.“ (A.a.O., 255). Vgl. hierzu auch: Schwarzwäller, Sibbolet, 99 ff.

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der Wille des Menschen ungehindert sei, also die Macht zur Durchsetzung habe. Hier wird sogleich einleuchten, dass Freiheit dieser Couleur gegenüber Gott nicht, in der Beherrschung der Welt aber durchaus zugesprochen werden kann. Dieser Freiheitsbegriff ist nun aber der relative. Er bezeichnet die Perfektion des Willens im Erreichen des Gewollten. Wenn dies Zustimmung erreicht, so sollte im Verlauf meiner Darlegungen auch Billigung erfahren, dass relative Unfreiheit im Gottesverhältnis (begründet in der Macht des Schöpfers über seine Schöpfung) den starken Freiheitsbegriff im Sinne der Willensselbstursprünglichkeit (suikausale Freiheit, vgl. 1.2) ausschließen muss. Die Anerkennung des Schöpfer-Geschöpf-Verhältnisses geht mit der Ablehnung jener Selbstursprünglichkeit des Willens schließlich einher. Daher meine ich, im Folgenden zeigen zu können, wie durch Anwendung des einen Freiheitsbegriffs die ,Lebensreiche‘ des Menschen unterschieden werden, was gedanklich aber zum anderen – freilich verneinten – Freiheitsverständnis überführt: Bei der Frage der suikausalen Freiheit bleibt nämlich die Differenz von menschlichem Gottes- und Weltverhältnis umrahmt von Luthers monistischem Allmachtsbegriff. Eben darum weiß der Theologe Luther, indem er die Macht Gottes anerkennt, von der menschlichen Unfreiheit auch in der Welt. Hierin fließen beide Gebiete (das Heil und die Welt) zusammen. Akzeptiert man die vorgestellten Freiheitsbegriffe, so vermeidet man eine uneinheitliche Lesart der Lutherschrift, da Luthers Freiheitsaussagen (ad inferioribus) nicht mehr in einem Gegensatz zu seinem unmissverständlichen Allmachtsbegriff zu stehen kommen. Einen weiteren Vorteil dieses Vorgehens sehe ich darin, dass an seinem Ende die soteriologische Frage als die unstrittigerweise prioritäre bestehen bleibt, die Determinismusfrage aber gerade als deren Implikat erwiesen wird.

3.1.3.1 Heilsprädestination und allgemeine Weltlenkung liegen in Gottes Vorherwissen und -wollen Luther selbst unternimmt noch in der Einleitung seiner Schrift eine Unterscheidung und Verbindung beider Fragestellungen. Dort benennt er unter dem ihm von Erasmus vorgegebenen Streitpunkt, was ein Christ notwendig zu wissen habe und was nicht72, zwei Glaubensaussagen, die gemeinsam die „Summe des Christlichen“ (tota summa Christianarum rerum) ausmachen. Der erste Teil jener Summe besteht im Wissen darum, ob Gott irgendetwas zufällig vorherweiß; ob unser Wille irgendetwas ausrichtet bei dem, was sich auf das ewige Heil bezieht, oder ob er nur eine wirkende Gnade an sich

72 Vgl. Dla. nach: Schumacher, Willen, 18 f = Dla. hrsg v. J. v. Walter, 6 f (I a 8).

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geschehen lässt; ob wir, was auch immer Gutes oder Böses wir tun, dies aus reiner Notwendigkeit tun oder vielmehr erleiden73.

Hier stellt Luther Gottes Vorherwissen in Gegensatz zu einem in Heilsdingen wirksamen Willen des Menschen. Dass Gott keineswegs nur zufällig vorhersieht, ob ein Mensch sich kraft seines eigenen Willens zum Heil wenden wird oder nicht, liegt für Luther am Antagonismus von gratia agens (Dei) und voluntas agens (humana). Und eben dieser Antagonismus ist in seiner radikalen Einseitigkeit zugunsten der wirkenden Gnade notwendig von einem Christen zu wissen. Denn „daran hängen und damit stehen die Selbsterkenntnis sowie die Kenntnis und die Ehre Gottes auf dem Spiel“74. Dieser erste Teil der „christlichen Dinge“ umfasst also den auf Gut und Böse, auf Heil und Unheil bezogenen (sittlich-)soteriologischen Streitpunkt, den Luther ausdrücklich als Herz der gesamten Disputation mit Erasmus kennzeichnet.75 In diesem Problemfeld korreliert Gottes unfehlbares, notwendiges Vorherwissen mit der im Willen Gottes begründeten doppelten Heilsprädestination der Menschen. Der andere Teil der notwendig zu wissenden Glaubensaussagen ist nach Luther die Entscheidung darüber, „ob Gott etwas zufällig vorherweiß und ob wir alles mit Notwendigkeit tun“76. Luther folgert also ebenso die Notwendigkeit aller menschlichen Handlungen aus Gottes Praescienz. Erst mit dem Wissen, dass Gottes untäuschbares Vorherwissen nicht allein die Heilsfrage prädestiniert, sondern allem Geschehen, mithin allen menschlichen Handlungen Notwendigkeit (necessitas in rebus et hominibus77) auferlegt, ist die summa Christiana vollständig. Freilich verficht Luther die Notwendigkeit in allem Geschehen nicht aus Belieben. Vielmehr ist diese Aussage zweckmäßig der ersteren unterstellt, da sie allein die fides promissionis begründen kann, woran dann seinerseits das Heil des Menschen hängt.78

73 LDStA 1, 241. „An Deus contingenter praesciat aliquid, An voluntas nostra aliquid agat in his quae pertinet ad aeternam salutem, vel tantum patiatur ab agente gratia, An quicquid boni vel mali facimus, mera necessitate faciamus, vel patiamur potius“. (WA 18; 610, 1 – 4). 74 LDStA 1, 249. „[I]n hoc [sc. problema] pendet et periclitatur cognitio suiipsius, cognitio et gloria Dei.“ (WA 18; 614, 17 – 18). 75 Vgl. LDStA 1, 247. „Imo ut scias, hic est cardo nostrae disputationis, hic versatur status causae huius.“ (WA 18; 614, 3 – 4). 76 LDStA 1, 249. „[…] an Deus aliquid praesciat, et an omnia faciamus necessitate“. (WA 18; 614, 27 – 28). 77 Vgl. WA 18; 619, 24. 78 „Wenn du nämlich zweifelst oder ablehnst zu wissen, dass Gott alles nicht zufällig, sondern notwendigerweise und unveränderlich vorherweiß und will – wie kannst du dann seinen Zusagen glauben, gewiss darauf vertrauen und dich darauf stützen?“ (LDStA 1, 257) „Si enim dubitas aut contemnis nosse, quod Deus omnia non contingenter sed necessario et immutabiliter praesciat et velit, quomodo poteris eius promissionibus credere, certo fidere et niti?“ (WA 18; 619, 1 – 3).

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Daher wäre der christliche Glaube vollständig dahin, die Zusagen Gottes und das gesamte Evangelium brächen gänzlich zusammen, wenn wir gelehrt würden und glaubten, wir müssten nicht das notwendige Vorherwissen Gottes kennen und die Notwendigkeit dessen, was geschehen soll.79

Dass beide Teile tatsächlich zusammenzuhalten sind und in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen, lässt sich z. B. in Luthers Auslegung von Jer 10,23 erkennen. Erasmus hatte versucht, die Freiheit des arbitrium in Heilsdingen zu behaupten, indem er die Jeremiastelle lediglich auf weltliche Dinge bezog. Luther greift dies auf und argumentiert a minori ad maius: Wenn daher der Ausgang der Dinge nicht in unserer Hand liegt, die zeitlich sind und über die der Mensch als Herr eingesetzt ist nach Gen 1 – bitte, wie wird in unserer Hand jene himmlische Sache sein, die Gnade Gottes, die allein von dem Willensvermögen Gottes abhängt? Kann denn das Bemühen des freien Willensvermögen das ewige Heil erlangen, das nicht einen Heller, ja, auch kein Haar auf dem Kopf halten kann?80

Dass Luther weltliche Vorherbestimmung und Heilsprädestination nicht allein aus argumentativ-strategischen Gründen zusammenzieht, wie es bei der Jeremiastelle scheinen mag, sondern dass er in der Behauptung der göttlichen Weltlenkung stets das übergeordnete gnadentheologische Interesse seiner Schrift verfolgt, wird am Ende von Dsa sehr deutlich: dort nämlich, wo Luther das Ärgernis der doppelten Prädestination mit seiner Lehre vom dreifachen Licht angeht. Dass Gottes Praescienz den Menschen zum Heil oder Unheil bestimme, ist der menschlichen Vernunft ein furchtbarer Gedanke, dessen Auflösung Luther in die Eschatologie verschiebt, wenn unter dem Licht der Herrlichkeit Gottes auch dessen bislang verborgene Erwählungsgerechtigkeit ersichtlich sein wird. Die Hoffnung auf die Erkenntnis der Gerechtigkeit im lumen gloriae begründet Luther nun aber – und hier treten beide Teile zusammen – mit dem Beispiel, wie schon die klassische Theodizee-Frage sich ganz leicht im Licht der Gnade auflöse. Siehe, so lenkt Gott diese körperliche Welt in den äußerlichen Dingen, dass du, wenn du das Urteil der menschlichen Vernunft ansiehst und ihm folgst, gezwungen wärst zu sagen: Entweder es gibt keinen Gott oder Gott ist ungerecht, wie jener [sc. Ovid] sagt: ,Oft werde ich verführt anzunehmen, es gebe keine Götter.‘ […] Und dennoch wird diese Ungerechtigkeit Gottes – außerordentlich wahrscheinlich und mit solchen 79 LDStA 1, 257. „Itaque fides Christiana prorsus extinguitur, promissiones Dei et universum Evangelion penitus corruit, si doceamur et credimus, non esse nobis sciendam praescientiam Dei necessariam necessitatemque faciendorum.“ (WA 18; 618, 16 – 18). 80 LDStA 1, 551 – 553. „Si itaque eventus rerum istarum non est in manu nostra, quae sunt temporales et quibus homo dominus constituitur, Gen. 1., Obsecro, quomodo erit in manu nostra res illa coelestis, gratia Dei, quae in solius arbitrio Dei pendet? An liberi arbitrii conatus potest salutem aeternam obtinere, qui non potest obulum, imo nec pilum capitis retinere?“ (WA 18; 745, 39 – 746, 4).

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Argumenten vorgeführt, denen keine Vernunft oder das Licht der Natur widerstehen kann – ganz leicht aufgehoben durch das Licht des Evangeliums und die Erkenntnis der Gnade.81

Wie nun dieser Zweifel an Gottes Gerechtigkeit zwar nicht im Licht der Natur, wohl aber im Licht der Gnade aufgehoben wird, so wird es im Licht der offenbaren Herrlichkeit auch keinen Zweifel an Gottes Erwählungsgerechtigkeit geben. Gottes Lenkung der Welt wie auch Gottes Heilsprädestination zweifachen Ausgangs haben gemein, dass sie im Licht der Vernunft ein Skandal sind und bleiben. In beiden Aussagen steht Gottes Gerechtigkeit auf dem Spiel und in beiden muss diese gegen den Anschein geglaubt werden. So löst sich die Theodizee-Frage für den Christen bereits im Glauben, während die Einsicht in Gottes Prädestinationsgerechtigkeit vom Glaubenden noch erhofft wird. Ist es aber die materiale (vernünftige?) Einsicht des Menschen in die Gerechtigkeit Gottes, die noch als zu hoffende aussteht, so gilt selbiges nicht für das Wissen um das bloße Faktum, dass Gott dem Weltenlauf Notwendigkeit auferlegt. Wie seine [sc. Gottes] Natur sich in Ewigkeit nicht wandelt, so auch nicht seine Gerechtigkeit und Güte. Was aber von seiner Gerechtigkeit und Güte gesagt wird, muss auch von dem Wissen, der Weisheit, der Güte, dem Willen und anderen göttlichen Eigenschaften gesagt werden. […] Wenn er willentlich vorherweiß, ist sein Wille ewig und unerschütterlich; denn er ist Teil seiner Natur. Wenn er vorherwissend will, ist sein Wissen ewig und unerschütterlich, denn es ist Teil seiner Natur.82

Das fundamentale Argument Luthers in Dsa ist, dass sich aus dem Wesen Gottes eine umfassende Bestimmung des Weltverlaufs ergeben muss. Weil nämlich ewiges Vorherwissen und Vorherwollen des Schöpfers wesentlich konvergieren, kann in der Welt nichts geschehen, was nicht dem Willen Gottes entspringt, was er gleichsam zufällig vorherwüsste. Darin, dass sie der Praescienz Gottes unterliegen, unterscheiden sich die menschlichen Willensregungen und Handlungen keineswegs von der übrigen Kreatur. Wenn anhand von Dsa einsichtig gemacht würde, dass das Schöpfersein Gottes seine Freiheit gegenüber der Schöpfung begründet und dass die göttliche Weltlenkung zu81 LDStA 1, 653 – 655. „Ecce sic Deus administrat mundum istum corporalem in rebus externis, ut si rationis humanae iudicium spectes et sequaris, cogaris dicere, aut nullum esse Deum, aut iniquum esse Deum, ut ille ait: Sollicitor nullos saepe putare Deos. […] Et tamen haec iniquitas Dei vehementer probabilis et argumentis talibus traducta, quibus nulla ratio aut lumen naturae potest resistere, tollitur facillime per lucem Euangelii et cognitionem gratiae“. (WA 18; 784, 36 – 39. 785,12 – 15). 82 LDStA 1, 251. „[U]t quemadmodum natura eius non mutatur inaeternam, ita nec eius iustitia at clementia. Quod autem de iustitia et clementia dicitur, etiam de scientia, sapientia, bonitate, voluntate et aliis divinis rebus dici oportet. […] Si volens praescit, aeterna est et immobilis (quia natura) voluntas, si praesciens vult, aeterna est et immobilis (quia natura) scientia.“ (WA 18; 615, 21 – 30).

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gleich ein Ausdruck der bleibenden Schöpfungswirksamkeit in Ausübung seiner Freiheit darstellt, so wäre deutlich: Luther kann Einschränkungen der Weltlenkung um der Freiheit – letztlich: um der Gottheit – Gottes willen nicht zulassen. Die folgenden Abschnitte (3.1.3.2 und 3.1.3.3) sollen die Thesen belegen: Das Schöpfersein Gottes ist der Grund seiner Freiheit gegenüber der Welt. Die Unerschütterlichkeit der göttlichen Weltlenkung liegt folglich begründet in Gottes erstem und andauerndem Schöpfungswerk. Es wird sich außerdem erweisen, dass die creatio prima in besonderer Weise mit der iuridischen Freiheit Gottes verknüpft ist, während der Gedanke der creatio continua mit dem Begriff der effektiven Freiheit Gottes gegenüber der Welt korreliert. 3.1.3.2 Der Wille des Schöpfers hat weder Ursache noch Maßstab: creatio prima als Grund der ,iuridischen Freiheit‘ Gottes in Beziehung zur Welt In besonderer Weise unterscheiden sich schöpferischer und geschöpflicher Wille durch eine formale Bestimmung der Freiheit Gottes de iure, die von Luther dahingehend expliziert wird, dass dem Schöpfergott – anders als dem Menschen – keine externen Vorschriften vorgegeben sind, die zu halten er gebunden – und folglich nicht frei – wäre. Dem Einwand des Erasmus, ein verstockender, das Böse wirkender Gott entspräche keinem denkbaren Gerechtigkeitsbegriff, hält Luther entgegen: Gott ist der, dessen Wille keine Ursache noch Grund hat, die ihm als Richtschnur und Maß vorgeschrieben würden. Ihm ist nichts gleich oder überlegen; vielmehr ist er eben die Richtschnur für alles. Wenn es nämlich für ihn irgendeine Richtschnur gäbe oder eine Ursache oder einen Grund, so könnte es nicht mehr der Wille Gottes sein. Denn nicht daher, weil er wollen muss oder musste, ist richtig, was er will. Sondern im Gegenteil: Weil er so will, daher muss richtig sein, was geschieht. Dem Willen des Geschöpfes wird Ursache und Grund vorgeschrieben, aber nicht dem Willen des Schöpfers, es sei denn, du wolltest ihm einen anderen Schöpfer vorsetzen.83

Was hier als fundamentale Differenz von Schöpfer und Geschöpf aufscheint, ist die Voraussetzungslosigkeit des göttlichen Willens. Da Gottes Wille keinen anderen Ursprung hat als sich selbst, sich folglich rein durch sich selbst bestimmt, ist er in dieser besonderen Weise und als einziger frei.84 An dieser 83 LDStA 1, 473. „Deus est, cuius voluntatis nulla est caussa nec ratio, quae illi ceu regula et mensura praescribatur, cum nihil sit illi aequale aut superius, sed ipsa est regula omnium. Si enim esset illi aliqua regula vel mensura, aut caussa aut ratio, iam nec Dei voluntas esse posset, Non enim quia sic debet vel dubit velle, ideo rectum est, quod vult, Sed contra, Quia ipse sic vult, ideo debet rectum esse quod fit. Creaturae voluntati caussa et ratio praescibitur, sed non Creatoris voluntati, nisi alium illi praefeceris creatorem.“ (WA 18; 712, 32 – 38). 84 „Nach Luther besitzt allein Gott einen freien Willen im strikten Sinn; denn nur er ist in jeder

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Stelle gilt es jedoch zunächst zu betrachten, wie Luther diesen selbstbegründeten Willen Gottes in Beziehung zu seiner Schöpfung näherhin als frei definiert. Wir setzen damit zunächst die suikausale Freiheit Gottes als ,selbstverständlich‘ beiseite und konzentrieren uns auf Gottes relationale Freiheit. Frei ist er nämlich darin, selbst Richtschnur dessen zu sein, was recht ist – auch wenn er dem Menschen als ungerecht erscheint.85 Gottes Handeln menschlichen Maßstäben zu unterwerfen, hieße hingegen, seine Göttlichkeit infrage zu stellen. Eben dies verdeutlicht Luther in seiner Behandlung von Röm 9: Hier fordern sie, dass Gott nach menschlichem Recht handele und das tue, was ihnen selbst richtig erscheint. Oder er solle aufhören, Gott zu sein. Nichts nützen ihm die Geheimnisse der Majestät, er soll Rechenschaft ablegen, warum er Gott ist oder warum er will oder tut, was keinen Anschein von Gerechtigkeit hat.86

Göttliche Gerechtigkeit muss für Luther geradezu die menschlichen Maßstäbe sprengen, oder sie wäre gar nicht göttlich, würde sich in keiner Weise von der menschlichen unterscheiden.87 Aus der Voraussetzungslosigkeit des Schöpfers resultiert also zunächst die Freiheit von externen Vorschriften. Dies schließt – und damit ist sogleich ein weiterer Aspekt der göttlichen Freiheit benannt – jegliche Rechtsansprüche seitens des Menschen gegenüber Gott aus. Die Schöpfung begründet nach Luther ein Rechtsverhältnis, das durch radikale Einseitigkeit charakterisiert ist. Denn weil Gott dem Menschen nichts schuldet, sondern im Gegenteil der Mensch Gott zum Dank verpflichtet ist, weil er alles von ihm empfängt, kann der Mensch keine Klage führen. So entfaltet Luther die Antwort an jene Murrenden (Röm 9), die es beklagen, dass Gott sie beschuldige, obwohl er ihnen durch seinen Willen Notwendigkeit auferlege, wie folgt: Hinsicht durch sich selbst bestimmt und weder in seinem Sein durch andere Mächte bedingt noch in seinem Wollen und Handeln durch sie beschränkt.“ (Hermanni, Gott, 32). 85 „Denn weil er allein gerecht und weise ist, tut er niemandem Unrecht und kann nichts töricht oder leichtsinnig tun, auch wenn es uns bei weitem anders erscheint.“ (LDStA 1, 285). „[Q]uod cum sit iustus et sapiens solus nulli faciat iniuram, nec stulteaut temere quippiam agere possit, licet nobis longe secus appareat“. (WA 18, 632, 24 – 26). Damit ist bereits an dieser Stelle implizit die Frage nach dem Deus absconditus berührt. 86 LDStA 1, 513. „Hic expostulant, ut Deus agat iure humano et faciat quod ipsis rectum videtur, aut Deus esse desinat. Nihil illi profuerint secreta maiestatis, rationem reddat, quare sit Deus, aut quare velit aut faciat, quod nullam speciem iustitiae habeat“. (WA 18; 729, 15 – 18). 87 „Wenn seine Gerechtigkeit nämlich so beschaffen wäre, dass sie nach menschlichem Fassungsvermögen als gerecht beurteilt werden könnte, wäre sie überhaupt nicht göttlich und unterschiede sich in nichts von menschlicher Gerechtigkeit.“ (LDStA 1, 653). „Si enim talis esset eius iustitia, quae humano caput posset iudicari esse iusta, plane non esset divina, et nihilo differret ab humana iustitia.“ (WA 18; 784, 9 – 11). Kritisch hierzu McSorley, Lehre, 317: Kein christlicher Theologe seit Augustin habe „behauptet, daß die Urteile Gottes den Urteilen der Menschen widersprechen oder daß Gott gerecht sein kann, wenn er Menschen verdammt, die die Verdammung nicht verdienen. Es gibt einen Unterschied zwischen Unbegreiflichkeit und Vernunftwidrigkeit.“

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[Paulus] weist [sie] aber so in die Schranken, dass er ihnen befiehlt zu schweigen und die Majestät der göttlichen Macht und des göttlichen Willens zu verehren, gegen die wir kein Recht haben, die aber gegen uns volles Recht hat zu tun, was immer sie will. Und dass uns kein Unrecht geschieht, weil er uns nichts schuldet, nichts von uns empfangen, nichts zugesagt hat, außer was er wollte und ihm gefallen hat88.

Es wird deutlich, dass obwohl Gott überhaupt keinem externen Gesetz unterliegt, in der Beziehung Gottes zum Menschen wiederum auch kein Unrecht geschehen kann, eben weil Gott das volle Recht zusteht (habet plenum ius). Die Überlegenheit gegenüber fremden Gesetzen, zugleich das habere ius in nos sind Explikationen jener Macht Gottes, die ich als die iuridische Seite der relationalen Freiheit Gottes bezeichnen möchte. Sie liegt, wie gezeigt wurde, begründet im Schöpfersein Gottes. Eine solche Freiheit als ,Macht über etwas‘ kommt im Bild des Töpfers (Röm 9), sowie im Gleichnis der Weinbergarbeiter (Mt 20) pointiert zum Ausdruck: Wo bleibt die Macht des Töpfers zu tun, was er will, wenn er Verdiensten und Gesetzen unterworfen ist und ihm nicht überlassen wird zu tun, was er will, sondern von ihm gefordert wird zu tun, was er soll. Denn die Rücksicht auf Verdienste streitet mit der Macht und der Freiheit zu tun, was er will, wie jener Hausvater beweist, der den Arbeitern, die murrten und ihr Recht verlang[t]en, die Freiheit des Willens, über seine Güter zu verfügen, vorhielt.89

Wie deutlich zu sehen ist, setzt die Freiheit de iure einen jeweils bestimmten Willen innerhalb eines Rechtsverhältnisses voraus. Für diesen Zusammenhang finden sich in Dsa die Begriffe ,potestas‘, ,ius‘ oder ,libertas‘, die von Luther jeweils ergänzt werden durch ,faciendi quicquid voluerit‘ oder ,quod vult‘. Daneben findet sich außerdem die ,libertas voluntatis in suis bonis‘ als gleichbedeutende Formulierung. Wer ,das Recht hat‘, darf tun, was er will, gerade weil das Handeln dann frei vom externen Sollen ist. Das facere quod vult stellt Luther ja ganz ausdrücklich gegen das facere quod debet. So könnte pointiert formuliert werden: Die potestas verknüpft sich mit dem velle zur libertas und widerstreitet dem äußerlichen debere. Bisher – so mag ein ungeduldiger Einwand lauten – wurden keine Textstellen benannt, die eine Determiniertheit des gesamten Weltgeschehens bekräftigten. Dennoch musste die iuridische Freiheit Gottes von äußerlichen Gesetzen hier zuerst aufgezeigt werden. Der Protest des Erasmus gegen einen 88 LDStA 1, 485. „Compescit autem sic, ut iubeat eos tacere, et revereri maiestatem potentiae et voluntatis divinae, in quam nos nullum ius, ipsa vero in nos habet plenum ius faciendi quicquid voluerit. Neque fieri nobis iniuriam, cum nihil nobis debeat, nihil a nobis acceperit, nihil promiserit, nisi quantum voluit et placuit.“ (WA 18; 717, 35 – 39). 89 LDStA 1, 513 f. „[U]bi manet potestas figuli faciendi quod vult, si meritis et legibus subiectus non sinitur facere quod vult, sed exigitur facere quod debet, Pugnat enim respectus meritorum, cum potestate ac libertate faciendi quod vult, ut ille probat pater familias, qui operariis murmurantibus et ius postulantibus, opposuit libertatem voluntatis in suis bonis.“ (WA 18; 730, 10 – 14).

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theologischen Nezessarismus entbrannte nämlich unter anderem am Zweifel an Gottes Gerechtigkeit. Ein alles nezessierender Gott könne nicht als gerecht gedacht werden, so das Bedenken des Humanisten. Nun hat Luthers Argumentation gezeigt: Gott kann in keinem Falle anders als gerecht gedacht werden, weil er keinem externen Gerechtigkeitsbegriff unterliegt. Die iuridische Macht Gottes ist aber tatsächlich nicht ausreichend für die umfassende Bestimmung seiner Freiheit gegenüber der Welt. Denn zur Frage, ob Gott denn dürfe, was er wolle, kommt jene Frage hinzu, ob er wohl auch könne, was er wolle. Diese notwendige Konvergenz von Wille und Werk liegt nach Luther wiederum im Wesen Gottes begründet. Gott ist auch darin frei, dass seinem Willen die ungehinderte Durchsetzungsmacht eignet, wofür Luther den Begriff der Allmacht Gottes setzt. Zur rechtmäßigen Macht (potestas) tritt in Dsa die omnipotentia hinzu. Diese Seite der relationalen Freiheit nenne ich die effektive. Denn der Wille Gottes ist wirksam [efficax], er kann nicht gehindert werden, weil er Gottes natürliche Macht [potentia] selbst ist.90

3.1.3.3 Die Allwirksamkeit des Schöpfers negiert die Möglichkeit kontingenter Ereignisse: creatio continua als Grund der ,effektiven Freiheit‘ Gottes in Beziehung zur Welt Die uneingeschränkte Macht, den Willen ohne jedes Hindernis ins Werk setzen zu können, hat im Hinblick auf das Gott-Welt-Verhältnis die Konsequenz – diese Formulierung findet sich zwölfmal in Dsa91 –, dass Gott alles in allem wirkt. Allmacht Gottes aber nenne ich nicht die Macht, mit der er vieles nicht tut, was er kann, sondern jene wirksame, mit der er machtvoll alles in allem tut.92

Gottes Allmacht ist für Luther also keine Frage der Möglichkeit. Sie ist aktuale Wirksamkeit. So sei es jedem Menschen ins Herz geschrieben, „dass Gott allmächtig ist, nicht nur dem Vermögen, sondern auch dem Wirken nach“93. Weil untäuschbares Vorherwissen und allwirksamer Wille Gottes in eins fallen, darum gilt unverrückbar : 90 LDStA 1, 253. „Voluntas enim Dei efficax est, quae impediri non potest, cum sit naturalis ipsa potentia Dei.“ (WA 18; 615, 33 – 34). 91 In den Variationen „facere/agere/operari/movere omnia (in omnibus)/in omnibus creaturis suis“: WA 18; 614, 12/615, 13 – 14/619, 20/672, 11/685, 20/709,10/709, 21/711, 1/718, 30/732, 19/ 732, 26/753, 29. 92 LDStA 1, 487. „Omnipotentiam vero Dei voco non illam potentiam, qua multa non facit quae potest, sed actualem illam, qua potenter omnia facit in omnibus”. (WA 18; 718, 28 – 30). 93 LDStA 1, 489. „[…] Deum esse omnipotentem, non solum potentia, sed etiam actione“. (WA 18; 719, 24 – 25. Hervorhebung von S.S.).

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Alles, was wir tun, alles, was geschieht, geschieht – auch dann, wenn es uns veränderlich und zufällig zu geschehen scheint – in Wirklichkeit notwendig und unveränderlich, wenn du Gottes Willen betrachtest. Denn der Wille Gottes ist wirksam, er kann nicht gehindert werden, weil er Gottes natürliche Macht selbst ist.94

Welche Bedeutung es hat, dass uns die notwendigen Ereignisse als zufällige erscheinen, wird später (3.) zu betrachten sein. Zunächst gilt es festzustellen: Dass Gottes Wille nach Dsa seine Macht selbst ist, heißt nicht nur, dass er von anderen Größen nicht begrenzt werden kann. Es hat außerdem zur Konsequenz, dass Gott selbst seinen Willen und dessen Wirksamkeit nicht suspendieren kann – so wenig er seine Gottheit, seine Natur aufgeben kann. Um der Gottheit Gottes willen hält Luther schließlich so unumstößlich an jener Allwirksamkeit fest. Freilich differenziert er dabei innerhalb der Welt zwei unterschiedliche Bereiche der Wirksamkeit Gottes. So lenkt Gott im ,Reich des Satans‘ durch seine ,allgemeine Allmacht‘ (generalis omnipotentia) alles nach seinem Willen, während er in seinem eigensten Reich außerdem durch den Heiligen Geist regiert, was aber in der Frage, ob der Mensch seinen Willen selbst bestimme, keinen Unterschied macht. Der soteriologische Dualismus, innerhalb dessen dem Menschen ganz unstrittig jedwede eigene Entscheidung abgesprochen wird, erscheint bei Luther umfangen von einem deterministischen Monismus, der sich aus Luthers Allmachtsverständnis speist. Sünder und Gerechte sind Gottes Wirksamkeit gleichermaßen unterworfen, weil sie gleichermaßen seine Geschöpfe sind. Wenn man von der theologischen Fragestellung, ob der Glaube das Weltverhältnis verändere und womöglich in bestimmter Hinsicht freier mache, jene Fragestellung abhebt, ob der Mensch in der Welt eigenmächtige, suikausale Entscheidungen fällen könne, so wird man auf der soteriologischen Ebene eine Unterscheidung von Gläubigen und Ungläubigen treffen müssen, auf der kreatürlichen Ebene aber gerade nicht. Die pneumatologische Differenz zwischen Gerechten und Sündern besagt ausdrücklich nicht, dass diese oder jene dem schöpferischen Antrieb Gottes entkämen. Es wird später noch zu betrachten sein, worin genau dann überhaupt noch ein Unterschied zwischen gläubigem und ungläubigem Menschen besteht. Hier gilt es zunächst festzuhalten, dass Gottes Erhaltung seiner Schöpfung niemanden aus seiner Lenkung und Wirksamkeit entlassen kann: Wenn Gott jenseits der Gnade des Geistes wirkt, wirkt er alles in allen, auch in den Gottlosen, indem er alles, was er allein geschaffen hat, auch allein bewegt, treibt und fortreißt durch die Bewegung seiner Allmacht; diese Bewegung kann [all] dieses weder vermeiden noch verändern, sondern es folgt und gehorcht notwendigerweise, 94 LDStA 1, 253. „[O]mnia quae facimus, omnia quae fiunt, et si nobis videntur mutabiliter et contingenter fieri, revera tamen, fiunt necessario et immutabiliter, si Dei voluntatem spectes. Voluntas enim Dei efficax est, quae impediri non potest, cum sit naturalis ipsa potentia Dei.” (WA 18; 615, 31 – 34).

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jedes nach dem Maß seiner Tüchtigkeit, die ihm von Gott gegeben ist. So wirkt mit ihm auch alles Gottlose zusammen. Dann: Wo er mit dem Geist der Gnade in denen regiert, die er gerechtfertigt hat, das heißt: in seinem Reich, treibt und mahnt er diese in ähnlicher Weise. Und sie, wie sie eine neue Kreatur sind, folgen und wirken mit ihm zusammen, oder vielmehr, wie Paulus sagt, sie werden getrieben.95

Luther stellt an diesem Punkt das Vermögen des Menschen, der unter der Wirkung Gottes steht, gegen das Vermögen aus eigener Kraft96 und begründet seine Absage an das selbstkräftige Können schöpfungstheologisch. Der Mensch vor seiner Erschaffung zum Menschen tut oder unternimmt nichts, wodurch er ein Geschöpf wird; ferner : Auch der gewordene und geschaffene Mensch tut oder unternimmt nichts, um Geschöpf zu bleiben. Sondern beides geschieht einzig durch den Willen der allmächtigen Kraft und Güte Gottes, der uns ohne uns erschafft und erhält, aber nicht in uns wirkt ohne uns, der er uns dazu geschaffen und errettet hat, dass er in uns wirke und wir mit ihm zusammenwirken. Dabei ist es gleich, ob dies außerhalb seines Reiches durch allgemeine Allmacht geschieht oder innerhalb seines Reiches durch die einzigartige Kraft seines Geistes.97

Der Mensch ist in allen seinen Werken insofern unfrei, als dass sein Wille zu diesen Werken stetig von der allgemeinen Allmacht getrieben und fortgerissen wird. Darin besteht ausdrücklich nach Luther auch eine Kooperation des Gottlosen mit Gott!98 Darin, dass sie cooperatores Dei sind, unterscheiden sich 95 LDStA 1, 571. „Deus, cum citra gratiam spiritus operatur omnia in omnibus, etiam in impiis operatur, Dum omnia, quae condidit solus, solus quoque movet, agit et rapit omnipotentiae suae motu, quem illa non possunt vitare nec mutare, sed necessario sequuntur et parent, quodlibet pro modo suae virtutis sibi a Deo datae, sic omnia etiam impia illi cooperantur. Deinde ubi spiritu gratiae agit in illis, quos iustificavit, hoc est in regno suo, similiter eos agit et movet, et illi, ut sunt nova creatura, sequuntur et cooperantur, vel potius, ut Paulus ait, aguntur.“ (WA 18; 753, 28 – 35). 96 „Non disputamus, quid operante Deo possimus, sed quid nos possimus […].“ (WA 18; 753, 36 – 37). 97 LDStA 1, 573. „Sicut homo, antequam creatur, ut sit homo, nihil facit aut conatur, quo fiat creatura. Deinde factus et creatus nihil facit aut conatur, quo perseveret creatura, Sed utrunque fit sola voluntate omnipotentis virtutis et bonitatis Dei nos sine nobis creantis et conservantis, sed non operatur in nobis sine nobis, ut quos ad hoc creavit et servavit, ut in nobis operaretur et nos ei cooperaremur, sive hoc fiat extra regnum suum generali omnipotentia, sive intra regnum suum singulari virtute spiritus sui.” (WA 18; 754, 1 – 7). 98 Anders Härle, Wille, 272 f, der eine cooperatio cum Deo allein durch die Gnadengabe ermöglicht sieht, wobei er den letzten Satz des obigen Zitates („sive…sive…“) durch Auslassung ausspart. Härle versteht die cooperatio durchaus als wirksam „in beiden Regimenten“ (ebd.), sieht in ihr aber „so etwas […] wie eine Selbstbegrenzung des Schöpfers“, der dem Menschen „einen eigenen Raum und eigene Aufgaben zuweist.“ (ebd.) Diese Meinung korrigiert Härle später unter Bezugnahme auf eben jenen wichtigen Satz: „[D]as Kooperationsmodell, das Luther hierbei voraussetzt, ist nicht das zweier unabhängiger Partner, die jeweils etwas Eigenständiges beitragen, sondern auch in seiner cooperatio ist und wird der Mensch durch Gottes allmächtiges Wirken bestimmt. […] Der Gedanke, daß sich das Geschöpf dieser göttlichen Einwirkung und diesem Bewegtwerden durch Gott auch widersetzen und verweigern könnte, taucht in De servo arbitrio jedenfalls nicht auf.“ (Härle, Unvereinbarkeit, 6 f).

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Gottlose und Gerechte also nicht. Die Differenz ist vielmehr jene gnadentheologische, die unter dem Aspekt der Freiheit eines Christenmenschen noch zu betrachten sein wird. Im Zusammenwirken mit den Gottlosen jedenfalls kommt die Uneingeschränktheit der göttlichen Weltregierung, die mit der divinitas Dei einhergeht, pointiert zum Ausdruck. Luther erörtert dies an der Verstockung des Pharao: Es bleibt also noch, dass jemand fragen mag, warum Gott nicht von eben diesem Antrieb der Allmacht ablässt, mit dem der Wille der Gottlosen angetrieben wird und der folglich fortwährt, böse zu sein und noch schlimmer zu werden. Die Antwort darauf ist: Das wäre gleichbedeutend mit dem Wunsch, Gott möge wegen der Gottlosen aufhören, Gott zu sein.99

Und wenige Absätze später schreibt Luther unmissverständlich: Gott war gewiss, dass er das allgemeine Wirken seiner Allmacht nicht bei dem Pharao oder wegen des Pharao aufgeben würde, weil er es nicht aufgeben kann.100

Wollte man die allgemeine Wirksamkeit Gottes so deuten, dass durch sie lediglich die Bewegung des menschlichen Willens gewährt würde, während die Ausrichtung, das Steuern im Detail dem Menschen überlassen wäre, so wäre die Freiheit der Entscheidung, eine Spielraumfreiheit gesichert. Dass der Mensch – in diesem Falle strukturell verkehrt – wollen muss, wäre damit behauptet, ohne festzulegen, was er im Einzelnen will. Dagegen ist aber deutlich geworden, dass theologisch betrachtet Gottes freies Wirken in allem Geschehen kontingente Ereignisse und Handlungen ausschließen muss. Dass Gott durch seine universale Wirksamkeit dennoch kein Unrecht wirken kann, ist ebenfalls einsichtig geworden. Iuridische und effektive Freiheit – potestas und omnipotentia – bilden so gemeinsam den Gesamtausdruck für das Verhältnis des Schöpfers zu seiner Schöpfung. Die obigen Überlegungen stellen damit sogleich eine Vergleichsfolie dar, um Luthers Freiheitsaussagen über den Menschen recht zu verstehen. Ich werde in einem ersten Unterabschnitt (3.1.4.1) im Hinblick auf den Menschen nach dem relationalen Freiheitsbegriff und vor allem nach der Freiheit ,in den Dingen‘ fragen. Ein zweiter Teil (3.1.4.2) wird dann die Unfreiheit des Menschen als die Unhintergehbarkeit des eigenen Getriebenseins explizieren.

99 LDStA 1, 471. „Reliqua igitur sunt, ut quaerat quispiam, cur Deus non cesset ab ipso motu omnipotentiae, quo voluntas impiorum movetur, ut pergat mala esse et peior fieri? Respondetur : hoc est optare, ut Deus propter impios desinat esse Deus“ (WA 18; 712, 19 – 23). 100 LDStA 1, 477. „Deus certus erat, sese operationem omnipotentiae generalem non omissurum in Pharaone aut propter Pharaonem, cum nec possit eam omittere.“ (WA 18; 714, 22 – 23. Hervorhebung von S.S.).

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3.1.4 Der Mensch unter der Allwirksamkeit Gottes Ein Perspektivwechsel von der Gotteslehre hin zur anthropologischen Betrachtung der Determinismusfrage geht nicht ganz ohne Widerstände vonstatten, wenn man, wie von mir vorgeschlagen, die Determinismusfrage fürs Erste von der Heilsfrage trennt. Der reformatorische Blick auf den Menschen ist schließlich stets soteriologischer Art. Der homo theologicus ist nach Luther in aller Kürze definiert als homo iustificandus.101 Auch die Diatribe und Dsa verfolgen zunächst keine andere Fragestellung als diejenige, ob der sündige Mensch Kraft seines Willensvermögens sein Heil erwirken könne. Die Frage nach einer Freiheit in den inferiora scheint deshalb vordergründig in der Debatte um das liberum arbitrium keine exponierte Rolle zu spielen, da die theologische Anthropologie den Menschen nicht anders in den Blick bekommen will als coram Deo. Hierin kommt der eingangs formulierte grundsätzliche Vorbehalt gegenüber meiner Fragestellung erneut zu Worte: Man habe es schließlich mit verschiedenen Fragerichtungen zu tun. Zum einen: Ist der Mensch frei gegenüber Gott? Und zum anderen: Ist der Mensch frei in der Welt? Ist diese Unterscheidung vielleicht sogar die entscheidende Pointe Luthers gegen den Humanisten Erasmus, der in der grundsätzlichen Freiheit des arbitrium die Voraussetzung der Freiheit ad ea, quae perducunt ad aeternam salutem sah? Geht es Luther womöglich in der Unterscheidung von superiora und inferiora um die Trennung des Glaubens von den Werken, mit der er die erasmische Verquickung von sittlicher Gerechtigkeit und Heilsgerechtigkeit bekämpft? Zweifelsohne liegt hierin der genuin reformatorische Protest gegen Erasmus, dass sittlich gute Werke nichts zur Gerechtigkeit vor Gott beitragen können. Der Mensch ist also in diesem Sinne in besonderer Weise unfrei gegenüber Gott und es gilt, wie Hans Joachim Iwand schreibt, dass die Lehre von der Unfreiheit des Willens das Korrelat des reformatorischen sola gratia ist.102 Erlaubt aber die differenzierte Beschreibung der menschlichen Lebensbezüge (inferiora/superiora) die Zuschreibung suikausaler (Wahl-)Freiheit im menschlichen Weltverhältnis? Zunächst werden daher einige Passagen in den Fokus gelangen, in denen Luther einen Unterschied erklärt zwischen dem menschlichen Vermögen in Heilsdingen einerseits und in weltlichen Belangen andererseits. Hier wird zu erheben sein, was genau Luther meint, wenn er von der Freiheit des Menschen gegenüber den niederen Dingen spricht. Dabei wird sich der Zusammenhang der allgemeinen Behauptung der Unfreiheit mit der unstrittigen Unfreiheit in

101 So die 32. These der Disputatio de homine: „Homo iustificari fide.“ (WA 39/1; 176, 33 f). Vgl. hierzu Ebeling, Lutherstudien II, 404 ff. 102 Vgl. Iwand, Bedeutung, 22.

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Heilsdingen erweisen.103 Sodann soll betrachtet werden, in welchem Sinne genau eine Auftrennung des menschlichen Daseins in Gottes- und Weltverhältnis anhand von Dsa überhaupt statthaft und gefordert ist. Als These möchte ich voranstellen: Der Mensch hat nach Dsa im relationalen Sinne – also in dem Sinne, dass er an der Hinausführung seines Willens von den inferiora nicht gehindert wird – eine natürliche Freiheit in weltlichen Belangen. ,Liberum arbitrium respectu inferioris‘ ist für Luther in diesem Sinn Ausdruck des Herrschaftsauftrags über die Welt und keineswegs identisch mit der Selbstvoraussetzung und Selbstmächtigkeit des Willens.

3.1.4.1 Luthers Rede vom liberum arbitrium respectu inferioris Fangt einen einzigen Floh oder ein Läuschen (weil ihr ja unseren Gott versucht und verlacht mit der Heiligung eines lahmen Gauls)! Und wenn ihr alle Kräfte vereinigt und alle Mühe angewandt habt – die eures Gottes [sc. des freien Willensvermögens] wie die von euch – und wenn ihr den [sc. den Floh, das Läuschen] dann werdet töten können im Namen und in der Kraft des freien Willensvermögens –, dann sollt ihr die Sieger sein und eure Sache sei verteidigt!104

Luther spart nicht an Spott über die Verfechter der freien Willenskraft. Freiheit in weltlichen Dingen erscheint mit diesem Dsa-Zitat bereits gänzlich verneint, wenn nicht das Fangen und Töten eines Flohs den Dingen über dem Menschen zugerechnet werden sollte. Und trotzdem verweist Luther auf den seiner Ansicht nach götzenhaften Charakter des liberum arbitrium („Deus vester“). Er gibt also klar zu erkennen, dass es ihm im Streit mit Erasmus um Wohl und Wehe der Gottesbeziehung geht und deshalb auch um die Frage, in wessen Kraft und Namen der Mensch handelt. Denn wer wie Erasmus der eigenen Willenskraft ein Können zutraut – und wenn sie auch nur einen einzigen Floh fangen könnte –, der, so meint Luther, erhofft sich am Ende das Heil vom eigenen Vermögen. Einerseits zeigt der Reformator also, dass das liberum arbitrium für ihn den anthropologischen Widerpart Gottes und dessen Gnade bildet. Das liegt nun wiederum daran, dass Luther klar erkennt: Wo ein liberum arbitrium behauptet wird, dort tragen die weltlichen Werke des Men103 „Erst wenn das Wesen menschlicher Intentionalität im Zusammenhang der geschöpflichen Wirklichkeit des Menschen erfaßt ist, kann die Aussage, daß dem Menschen im Geschehen der Heilszueignung keine Wahlfreiheit zugestanden werden kann, sinnvoll begründet werden.“ (Beiner, Intentionalität, 36). 104 LDStA 1, 305. „[C]apite vel unum pulicem vel pediculum (quando nostrum Deum tentatis et ridetis in sanando equo claudo) et coniunctis omnibus viribus conflatisque omnibus studiis tam Dei vestri quam vestrorum omnium, si poteritis illum occidere in nomine et virtute liberi arbitrii, victores estote et defensa sit causa vestra.“ (WA 18; 643, 5 – 9).

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schen Heilsrelevanz und das heißt, dort werden des Menschen Welt- und Gottesverhältnis unstatthaft verquickt. Umso virulenter bleibt die Frage, ob Luthers Widerspruch nicht gerade dieser Vermischung gilt und ob er nicht andererseits bei rechter Unterscheidung dem Menschen durchaus eine Selbstbestimmungsfreiheit in weltlichen Angelegenheiten einräumt. Tatsächlich finden sich in Dsa Passagen, die von einer Freiheit in den niederen Dingen sprechen. Am sichersten und frömmsten wäre es, dieses Wort [sc. liberum arbitrium] ganz aufzugeben. Wollen wir das nicht tun, sollten wir es doch nach bestem Wissen so zu verwenden lehren, dass dem Menschen ein freies Willensvermögen nicht im Blick auf eine ihm übergeordnete, sondern nur im Blick auf eine ihm untergeordnete Sache zugestanden werde. Das heißt, dass er wisse, er habe im Blick auf sein Vermögen und seinen Besitz ein Recht, [Dinge] nach seinem freien Willensvermögen zu gebrauchen, zu tun, zu lassen.105

Denkt Luther an dieser Stelle an eine Selbstbestimmungsfreiheit des Menschen, in dem Sinne, dass der Mensch aus eigener Kraft Entscheidungen treffen könnte? Die Verwendung des Begriffs ,liberum arbitrium‘ im Hinblick auf weltliche Belange ist für Luther offensichtlich eher eine Konzession denn eine sachliche Notwendigkeit. Führt er doch explizit aus, dass die Freiheit des Menschen über dessen Fähigkeiten und Besitz allein darin besteht, dass er das Recht habe (habet ius), über sie zu verfügen.106 Iuridische und effektive Freiheit kommen also in gewissen Belangen durchaus auch dem Menschen zu – nämlich immer dort, wo der Mensch ungehindert von Gesetzen oder anderen Mächten seinen bestimmten Willen zur Tat durchsetzen kann. Dies gilt natürlich im Bereich der inferiora.107 Seine Willensmacht über die Dinge macht ihn zum Herrscher über die Welt. Allerdings muss sogleich festgestellt werden, dass Luther damit keineswegs meint, der Mensch sei in seinem Wollen und Handeln der präzisen Wirksamkeit Gottes entzogen, fügt er doch sofort hinzu:

105 LDStA 1, 297. „Quod si omnino vocem eam omittere nolumus, quod esset tutissimum et religiosissimum, bona fide tamen eatenus uti doceamus, ut homini arbitrium liberum non respectu superioris, sed tantum inferioris se rei concedatur, hoc est, ut sciat sese in suis facultatibus et possessionibus habere ius utendi, faciendi, omittendi pro libero arbitrio“. (WA 18; 638,4 – 8). 106 So auch Klein, Willensfreiheit, 383 f: „Die Rede ist lediglich davon, daß der Mensch die Dinge seinem Willen gemäß gebrauchen könne, und eben dieser Wille ist seinerseits extern konstituiert und ,getrieben‘ […]. Die externe Konstituiertheit des ,natürlichen‘ oder ,geschöpflichen‘ freien Willens ändert sich somit auch hinsichtlich der Inferiora nicht.“ 107 Das angeführte Zitat benennt nicht ausdrücklich die efficacia des Willens. Vgl. aber WA 18; 781, 8 – 10, wonach das unter dem Menschen Liegende ihm gehorcht und tut, was er will („[I] nferioribus […] obediant et faciant, quae ipse vult et cogitat“).

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Obwohl selbst hier durch das freie Willensvermögen Gottes alles allein dahin gelenkt wird, wohin immer es ihm gefällt.108

Dieselbe Argumentation – Zugeständnis von Freiheit in den niederen Dingen und anschließende Abwehr einer Missdeutung der Freiheit – findet sich an anderer Stelle in Dsa in sehr viel breiterer Ausführung: Luthers Auslegung von Sir 15 zeigt deutlich, dass ,liberum arbitrium‘, wo es dem Menschen zuerkannt wird, für Luther eine Bezeichnung des dominium terrae darstellt. Die Passage bestätigt außerdem, dass Luther mit der Freiheit des Menschen über die Erde keineswegs selbstbestimmte Willensakte im Blick hatte. Erasmus hatte Sir 15 dahingehend interpretiert, dass Gott den Menschen in dessen Rat belassen habe, so dass er die Gebote Gottes aus eigener Kraft halten könne, die ihn im Falle eines solchen Gehorsams bewahren würden. Ja, das Gesetz Gottes gilt Erasmus geradezu als Begründungsargument für die menschliche Freiheit.109 Die Wahlfreiheit des menschlichen Willens einerseits und die Kenntnis des Gesetzes andererseits sind für Erasmus notwendige Postulate, um überhaupt von Verantwortlichkeit und Sünde reden zu können.110 Man wird für die erasmische Meinung dann erneut folgern müssen, dass die Freiheit in Heilsdingen nicht primär und exklusiv die Frage nach der gläubig oder ungläubig qualifizierten Willensstruktur betrifft, sondern auf dem Gebiet der sittlichen – freilich zugleich durch das Gesetz theologisch aufgeladenen – Gerechtigkeit zu finden ist. Insofern wäre es ganz im Sinne des Erasmus zu sagen: Das Gesetz Gottes enthüllt dem Menschen die Freiheit in Heilsdingen.111 Luther hingegen zieht zur Auslegung der Stelle bei Sirach die Genesiserzählungen hinzu und betont die Abfolge von vorausgehendem Herrschaftsauftrag und anschließendem Gebotserlass. Dass der Mensch nach Sir 15 „in seinem Rat belassen“ sei, ist für Luther einfach ein anderer Ausdruck für die Herrschaft des Menschen über die Dinge.112 Das Gesetz Gottes ist hierbei noch 108 LDStA 1, 297. „[L]icet et idipsum regatur solius Dei libero arbitrio, quocunque illi placuerit.“ (WA 18; 638, 8 – 9). 109 So auch Johannes v. Walter in seiner Einleitung der Diatribe: „Aus der Existenz des Gesetzes folgt sowohl für die Protoplasten, (II a 8) als auch für die nachadamitische Menschheit die Tatsache der Freiheit des Willens, (II a 9) dessen Wirkungsfeld die einen als ein großes, (II a 10) die anderen als ein beschränktes beurteilen, bei welch letzterer Ansicht die Sittlichkeit der Heiden zwar zu schlecht wegkommt, aber andererseits die Gnade zu ihrem Rechte gelangt.“ (Dla. hrsg. v. J. v. Walter, XIX). 110 „Das ist dieselbe Logik, die später bei Kant sinngemäß in dem Satz Ausdruck findet: ,Du kannst, denn du sollst‘.“ (Härle, Wille, 260). 111 Luther grenzt Paulus und Erasmus genau an diesem Punkte – in der Frage nach dem Amt des Gesetzes – voneinander ab: „,Was soll also das Gesetz?‘ Er [sc. Paulus] antwortet aber nicht in der Weise der ,Diatribe‘ und argumentiert, es gebe ein freies Willensvermögen.“ „Quid igitur lex? Respondet [sc. Paulus] vero non Diatribes modo, quod arguat esse liberum arbitrium.“ (LDStA 1, 605 = WA 18; 766, 35 – 36). 112 „Wenn also irgendetwas unter ,Hand seines Rates‘ verstanden wird, dann eher, dass nach Gen 1 und 2 der Mensch eingesetzt ist als Herr über die Dinge, in ihnen frei zu herrschen […]. Nichts

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gar nicht auf dem Plan, sondern tritt sekundär zur Herrschaft hinzu – und schränkt sie ein. Mit diesen Vorschriften hat er [sc. Gott] teilweise dem Menschen den Herrschaftsauftrag über die Geschöpfe genommen (etwa über den Baum des Wissens von Gut und Böse) und wollte ihn lieber nicht frei haben.113

Die göttlichen Vorschriften sind für Luther gerade nicht die Grundlage einer freien Entscheidung, sondern schränken die Freiheit des Menschen ein, indem sie ihm das Recht absprechen, zu tun, was er will.114 Denn mit seinen Geboten stellt Gott den Menschen in die höhere Verantwortung.115 Dies muss aber für Luther gar nicht implizieren, dass der Mensch durch das Gesetz vor die Wahl gestellt sei. Das Gesetz besagt erst einmal, dass es nicht egal, nicht indifferent, nicht frei ist, was der Objektgehalt des menschlichen Willens ist. Es stellt damit die einzelne Objektbezogenheit des Willens unter göttliches Verdikt, aber nicht so, als könne der Mensch letzteres zur Grundlage einer wie auch immer gearteten Entscheidung machen. Weil der Mensch also in der Welt seinen Willen gegenüber den inferiora duchsetzen kann und insofern frei ist, gegenüber Gott aber in die Verantwortung genommen ist, darum ergibt sich für Luther die folgende Deutung der Stelle: So sehen wir also durch Sirach ein, dass der Mensch in zwei Reiche eingegliedert wird. In dem einen bewegt er sich nach seinem Willensvermögen und Rat ohne die Vorschriften und Gebote Gottes, nämlich in den unter ihm liegenden Dingen. Hier anderes kann man aus diesen Worten herausfinden. Dort nämlich konnte der Mensch in den Dingen nach seinem Willensvermögen handeln, denn sie waren ihm unterworfen.“ „Si igitur aliquid per manum consilii intelligitur, id potius intelligitur, quod, Gene. 1. et. 2. homo constitutes est dominus rerum, ut in illis libere dominaretur […]. Nec aliud ex istis verbis evince potest, Ibi enim homo potuit in rebus suo arbitrio agere, ut sibi subiectis.“ (LDStA 1, 369 = WA 18; 671, 33 – 38). 113 LDStA 1, 371. „Quibus praeceptis ademit homini dominium, una parte creaturarum (puta arboris scientiae boni et mali) ac potius non liberum voluit“. (WA 18; 672, 2 – 4). 114 Karl Zickendraht hat an der Auslegung von Sir 15 herausgestellt, dass Luther hier einen anderen Freiheitsbegriff bekämpft, als er von Erasmus intendiert war. Während für Erasmus liberum arbitrium hier die Entscheidungsfreiheit für oder gegen Gottes Gebot meine, habe Luther das arbitrium als Gesetzgeber neben Gott im Blick. Zickendraht scheint den klassischen Autonomiebegriff im Sinn zu haben, berührt damit aber zugleich, was ich mit ,iuridischer Freiheit‘ meine, wenn er schreibt: „Nur unter Voraussetzung dieses Freiheitsbegriffs erklärt es sich, daß er [sc. Luther] es für unmöglich hält, an die Entscheidung für oder gegen das Gebot Gottes zu denken, wenn der Mensch in manu consilii sui gelassen wird, und darum in dem unter ihm stehenden Reiche der Kreatur, wo er doch auch ganz von der Allmacht geleitet wird, ihm ein liberum arbitrium zuspricht, weil er hier Gesetzgeber ist.“ (Zickendraht, Streit, 87). 115 „Nachdem aber die Vorschriften hinzugekommen sind, kommt er [sc. Sirach] dann zum Willensvermögen des Menschen gegen Gott und gegen das, was Gottes ist; ,Wenn du die Gebote halten wolltest, werden sie dich bewahren‘ usw.“ „Adiectis autem praeceptis, tum venit ad arbitrium hominis erga Deum et ea quae Dei sunt, Si volueris mandata conservare, conservabunt te etc.“ (LDStA 1, 371 = WA 18; 672, 4 – 6).

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herrscht er und ist Herr, wie er in der Hand seines Rates gelassen ist. Nicht dass Gott ihn so im Stich ließe, dass er nicht in allem mit ihm zusammenwirkte. Sondern dass er den Gebrauch der Dinge jenem frei nach dem Willensvermögen zugestanden hat und ihn nicht durch irgendwelche Gesetze oder Vorschriften hinderte. […] In dem andern Reich aber ist er nicht in der Hand seines Rates gelassen, sondern bewegt sich nach dem Willensvermögen und Rat Gottes und wird danach geführt. Wie er sich aber in seinem Reich nach seinem Willensvermögen ohne die Vorschriften eines andern bewegt, so bewegt er sich im Reich Gottes nach den Vorschriften eines andern ohne sein eigenes Willensvermögen.116

Es bleibt dabei, dass die Freiheit des Menschen in der Welt allein darin besteht, in der Ausübung eines bestimmten Willens oder Ratschlusses ungehindert zu sein. Erneut erscheint mir Gerhard Ebelings Begriff der Willensmacht als beste Beschreibung dessen, was Freiheit des Willens hier nur heißen kann. Und wie zuvor legt Luther auch hier Wert auf den Zusatz, dass die cooperatio Dei „in allen Dingen“ von jener menschlichen Willensmacht gar nicht berührt wird. Dass der Mensch frei von Geboten und äußerem Zwang sei, ist eben noch keine Aussage darüber, ob sein Wille aus eigener Kraft auch ein anderer sein könnte. Um noch genauer zu verstehen, in welchem Sinne Luther von Freiheit in der Welt redet und warum diese Freiheit, die keineswegs mit Selbstbestimmung identisch ist, von den Geboten Gottes begrenzt wird, halte ich weitere Überlegungen zur Rolle des Gesetzes für unerlässlich: 3.1.4.1.1 Das Gesetz verhaftet den Menschen in der Welt – Erst der Glaube lehrt die Unterscheidung von Welt und Gott Im Grunde zeigt sich in Luthers Sirach-Auslegung gegenüber der erasmischen Deutung keimhaft die lutherische Zwei-Reiche-Lehre. Zunächst gilt es deshalb zu betonen, dass die Aufteilung des Menschen ,in rebus sese inferioribus‘ und ,in regno Dei‘ keineswegs identisch sein muss mit der ebenfalls in Dsa vorfindlichen Dualität von Reich Gottes und Reich des Satans, wenngleich beide Unterscheidungen zusammenhängen. Denn während der Mensch sowohl bezüglich seiner natürlichen Beschaffenheit als auch bezüglich seiner Beschaffenheit vor Gott betrachtet werden kann117, ist er als Ganzer nach der letzteren 116 LDStA 1, 371. „[U]t per Ecclesiasticum intelligamus hominem in duo regna distribui. Uno, quo fertur suo arbitrio et consilio, absque praeceptis et mandatis Dei, puta in rebus sese inferioribus. Hic regnat et est dominus, ut in manu consilii sui relictus. Non quod Deus illum sic deserat, ut non in omnibus cooperetur. Sed quod usum rerum illi liberum pro arbitrio concesserit nec ullis legibus aut praescriptis inhibuerit. […] Altero vero regno non relinquitur in manu consilii sui, sed arbitrio et consilio Dei fertur et ducitur, ut sicut in suo regno fertur suo arbitrio absque praeceptis alterius, ita in regno Dei fertur alterius praeceptis absque suo arbitrio.“ (WA 18; 672, 7 – 19. Hervorhebung von S.S.). 117 „Nos non de natura, sed de gratia disputamus, nec quales simus super terram, sed quales simus in coelo coram Deo, quaerimus.“ (WA 18; 781, 6 – 8) Dass Luther selbst mit dieser Unterscheidung von Natur und Gnade womöglich nicht ganz einverstanden ist, könnte sich daran

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Qualität (De gratia disputamus!) entweder dem Reich Gottes oder dem Reich des Teufels zuzuzählen. ,Super terram‘ und ,in coelo coram Deo‘ sind komplementäre theologisch-anthropologische Perspektiven; Reich Gottes und Reich des Satans hingegen sind disjunkte, sogar widerstreitende soteriologische Zuordnungen.118 Der Wirrwarr dieser Unterscheidungen liegt darin begründet, dass der Konflikt der soteriologisch-eschatologischen Zuordnungen (Reich des Teufels/Reich Gottes) erst dann zutage tritt, wenn zuvor die perspektivische Alternative (coram Deo/coram mundo) überhaupt erkannt ist. Allein aus der theologischen Betrachtung des Menschen coram Deo wird nämlich der Widerspruch innerhalb der Welt sichtbar, den Luther auf das Begriffspaar der zwei eschatologisch qualifizierten Reiche bringt. Der Widerspruch in der Welt ist dem glaubenden Blick erkennbar (Christiani sciunt duo regna esse in mundo).119 In Luthers Redeweise schlägt sich offensichtlich eine begriffliche Unschärfe nieder, die darin begründet ist, dass Natur und Gnade zweichfach unterschieden sind. Es gilt folglich, beide Unterscheidungen zu unterscheiden: Einerseits treten bei Luther Natur und Gnade im Sinne verschiedener aber nicht exklusiver Betrachtungsweisen nebeneinander. In diesem ersteren Sinne gilt vom Menschen, dass er sowohl ein weltliches Dasein (de natura) hat als auch im Hinblick auf sein Gottesverhältnis beschrieben werden kann. Andererseits kommen Natur und Gnade, wo er beide Begriffe im Kontext der Heilsfrage verwendet, als Gegensätze zu stehen.120 In diesem zweiten Sinne zeigen, dass er sie WA 18; 752, 6 – 14 (= LDStA 1, 567) mit einem in Klammern gesetzten „ut vocant“ der Scholastik zuschreibt. Freilich scheint er der Unterscheidung zunächst zu folgen, wenn er an dieser Stelle konzediert, „liberum arbitrium natura aliquid facere“, schränkt jedoch sogleich ein, „hominem extra gratiam Dei manere nihilominus sub generali omnipotentia Dei“. 118 „Sciunt [sc. Christiani] (inquam) duo esse regna in mundo, mutuo pugnantissima, in altero Satanam regnare […]. In altero regnat Christus, quod assidue resistit et pugnat cum Satanae regno, in quod transferimur, non nostra vi, sed gratia Dei“. (WA 18; 783, 30 – 37). 119 Ebeling, Notwendigkeit, 407 – 428, zeigt auf, dass als Gegenüber zum regnum Christi das regnum mundi stets nur in einer ambivalenten Bedeutung in Betracht kommt: „Das regnum mundi als Anspruch der Welt steht zum regnum Christi als Anspruch Christi auf die Welt in einer doppelten Relation, einer kontradiktorischen (der Ausschließlichkeit) und einer konträren (des Nebeneinanders), oder, wie wir lieber sagen wollen: einem Verhältnis des Widersprechens und einem Verhältnis des Entsprechens. […] Auf der einen Seite geht es um die eschatologische Auseinandersetzung zwischen dem Göttlichen und dem Widergöttlichen, so daß der Sieg des einen die Vernichtung des andern ist. Auf der andern Seite geht es um die Wahrung bzw. Wiederherstellung des Verhältnisses von Schöpfer und Schöpfung, so daß das Zur-Geltung-Kommen des einen die Ehre des andern ist.“ (A.a.O., 416 – 419). 120 Diese doppelte Relation erscheint mir darum so beachtenswert, weil man ohne sie das Wirken Gottes außerhalb seines Gnadenreiches problemlos auf sein „Regiment zur Linken“ im Sinne der Zwei-Reiche-Lehre beziehen kann (vgl. Härle, Unvereinbarkeit, 5 – 7), ohne dabei gezwungen zu sein, eine cooperatio Gottes auch mit den Gottlosen im Reich des Satans anzuerkennen.

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gehört immer der ganze Mensch entweder zum Reich der Gnade oder zum Reich des Teufels. Da es Luther unstrittigerweise im Disput mit Erasmus um die Heilsfrage geht, in der es nur ein Entweder-Oder geben kann, gerät bisweilen die Unterscheidung der Regimente, wo für jeden Menschen ,sowohl – als auch‘ gilt, unter die Räder des Ausschließlichkeitsverhältnisses von Reich Christi und Reich des Teufels. So erscheint ihm der Mensch de natura oft gleichsam automatisch als Mensch im Reich des Teufels. Eben weil im Hinblick auf die gnadentheologische Einordnung des Menschen ein Ausschließlichkeitsverhältnis besteht und im Hinblick auf die anthropologischen Relationsgefüge coram Deo/coram mundo ein strenges Zugleich gilt, finden sich solche Passagen in Dsa, in denen Luther auf so eigentümliche Weise der natürlichen Willenskraft mancherlei Tun in niederen Dingen (essen, trinken, zeugen, regieren) zuschreibt, nur um dieses Tun aber sogleich als Sünde zu bezeichnen; und weder hier noch dort entlässt er die Willenskraft aus der Lenkung durch die Allwirksamkeit Gottes.121 Nur aus der theologischen Betrachtung der Welt coram Deo ergibt die Unterscheidung in ein Reich des Satans und das Reich Gottes überhaupt Sinn. Hier aber muss sie getroffen werden und hierhin gehört sachlich das Bild vom menschlichen Willen als Reittier, das je und je von Gott oder vom Teufel geritten und gelenkt wird. Bedenkt man aber, dass dieses Bild allein in der Situation des Menschen coram Deo – und zwar coram Deo omnipotente! – seinen Platz hat, so bleibt eine dualistische Deutung des Bildes vom monistischen Allmachtsgedanken umfangen. Der Anschein des Dualismus, der durch das Neben- und Gegeneinander von Gott und Satan entsteht, verschwindet – obwohl die Sache selbst dann nur um so erregender und bedrängender wird –, wenn wir uns klarmachen, daß der Satan nichts anderes als die Maske der Abwesenheit Gottes ist und so in bezug auf Gott selbst das Ge121 „Denn wir sprechen nicht über das Sein der Natur, sondern über das Sein der Gnade, wie sie sagen. Wir wissen, dass das freie Willensvermögen seiner Natur nach etwas tut, wie essen, trinken, zeugen, regieren. Es soll keiner über uns lachen, als ob wir wahnsinnig wären und so spitzfindig zu behaupten, nicht einmal Sündigen sei ohne Christus möglich, wenn wir auf jenem Wort ’nichts’ beharren; wo doch Luther zugegeben hat, das freie Willensvermögen sei zu nichts im Stande außer zum Sündigen. […] Denn wir sagen, der Mensch außerhalb der Gnade bleibe nichtsdestoweniger unter der allgemeinen Allmacht des Gottes, der alles tut, bewegt und fortreißt, in notwendigem und unfehlbarem Lauf. Aber das, was der so fortgerissene Mensch tut, sei nichts, das heißt, gelte nichts vor Gott und sei für nichts anderes zu halten als Sünde.“ „Non enim de esse naturae loquimur, sed de esse gratiae (ut vocant) Scimus liberum arbitrium natura aliquid facere, ut comedere, bibere, gignere, regere, ne nos delirio illo velut argutulo rideat, quod nec peccare quidem liceret sine Christo, si vocem illam, nihil, urgeamus, cum tamen Lutherus donarit liberum arbitrium valere nihil, nisi ad peccandum […]. Dicimus enim, hominem extra gratiam Dei manere nihilominus sub generali omnipotentia Dei facientis, moventis, rapientis omnia necessario et infallibili cursu, Sed hoc quod sic raptus homo facit, esse nihil, id est nihil valere coram Deo, nec aliud reputari quam peccatum. (LDStA 1, 567 = WA 18; 752, 6 – 15).

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heimnis des Entweder-Oder seiner Abwesenheit und seiner Anwesenheit aufbricht; oder noch schärfer, um der Allmacht Gottes gerecht zu werden: daß Gott entweder als abwesender oder als anwesender anwest.122

Eine Anthropologie im Sinne Luthers wird von eben diesem Monismus her das stete und pausenlose Gerittensein des menschlichen Willens betonen. Dass also zwei Sichtweisen den Menschen beschreiben können, ist unter der Prämisse der Allwirksamkeit Gottes für die Frage, ob der Mensch seinen Willen selbst ausrichte, im Grunde belanglos. Denn da Gottes Allwirksamkeit nicht suspendiert werden kann, muss sie auch in der Welt – in rebus inferioribus – Bestand haben. Dass zwei Sichtweisen den Menschen beschreiben können, ist aber von großer Bedeutung, um Luthers Rede von der Freiheit in den niederen Dingen recht verstehen zu können. Für Aussagen über den Menschen coram mundo wäre – im Grunde gegen die Stoßrichtung von Dsa – zu folgern: Wollte man über den Menschen in Bezug auf seine natürliche Beschaffenheit unter Abblendung der göttlichen Allmacht, wie auch des göttlichen Gesetzes reden, so erschiene der Mensch als frei in der Welt.123 Was aber ist dann angesichts dieser perspektivischen Möglichkeiten der Anthropologie die Rolle des Gesetzes? Inwiefern lässt sich sagen, dass das Gesetz Gottes den Bereich der inferiora weiter einschränkt, wenn es stimmt, dass Luther damit eigentlich eine Betrachtungsweise bezeichnet, die gerade die Kategorie des Gesetzes ausblendet? Und im Hinblick auf Erasmus ist zu fragen: Wie gelingt Luther die Unterscheidung von Glaube und Werken, ohne jedoch das eine oder das andere aus der Lenkung Gottes zu entlassen? Um dies zu beantworten, muss zunächst eingehender bedacht sein, wie genau das Weltund Gottesverhältnis des Menschen sich gestalten, bevor schließlich die Wirkung des Gesetzes bestimmt werden kann. Gerhard Ebeling hat die von mir bereits mehrfach verwendete Präposition coram geradezu als „Schlüsselwort für Luthers Seinsverständnis“124 bezeichnet, in welchem nach Ebeling eine Ortsbestimmung anklingt, die zugleich eine Zeitbestimmung ist, insofern „,im Angesicht von‘ soviel heißt wie ,in Ge122 Ebeling, Luther, 256. Vgl. dagegen Härle, Wille, 284, demzufolge das Bild gerade einen „dualistischen und deterministischen Zug“ enthält, „durch den nicht mehr hinreichend klar zum Ausdruck kommt, dass das menschliche Wahlvermögen an der Entscheidung für das Böse – nicht für das Gute! – ursächlich beteiligt ist.“ 123 Gegen diese „Patentlösung“ der Trennung von Gottes- und Weltverhältnis wendet Hans Joachim Iwand ein: „Der Mensch ist je nachdem, ob wir religiös oder philosophisch von ihm reden, unfrei oder frei. Da wir beide Standpunkte einnehmen können, ist er unfrei und frei zugleich. Daß man dabei ein Weltverhältnis ohne Gott und ein Gottesverhältnis ohne Welt statuiert, daß nicht jeder Mensch, der über ein gewisses Maß logischer Gewissenhaftigkeit verfügt, den Standpunkt wechseln kann, ohne sich über das Recht des Wechsels Rechenschaft zu geben, daß es nicht angängig ist, Gott zu einem Standpunkt zu nehmen, den man wie einen Gesichtspunkt handhabt, – das sind nur einige, beliebig zu mehrende Einwendungen gegen einen solchen Sophismus.“ (Iwand, Studien, 54). 124 Ebeling, Luther, 220.

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genwart von‘“125. Durch die Präposition coram „wird etwas als etwas nicht in sich selbst bestimmt, sondern in seiner Relation nach außen zu einem andern hin oder richtiger : von einem andern her“126. In coram-Relationen, die von Ebeling als fundamental-anthropologisches Geschehen herausgestellt werden, in Beziehungen also von Person zu Person, von Angesicht zu Angesicht geschieht ein Dreifaches: der Mensch begegnet anderen, andere begegnen ihm und er begegnet sich selbst.127 Hierdurch wird nun offenbar, dass der Mensch immer schon – dies ist die menschliche Grundsituation! – vor einem Forum steht und darum stets einem Urteil ausgesetzt ist.128 Erst darin wird er eigentlich zur Person. Die Foren freilich, vor denen der Mensch sich vorfindet, sind verschiedene: neben der coram-Relation des Menschen zu Gott macht Ebeling in Luthers Sprachgebrauch das Sein-vor-mir-selbst, das Sein-vor-derWelt und das Sein-vor-den-Menschen aus.129 Grundlegend für das Sein des Menschen und als seine übergreifende Struktur gelten die beiden Relationen coram Deo und coram mundo.130 Gegenüber meiner vorherigen Darlegung, es handele sich bei den verschiedenen coram-Relationen lediglich um eine perspektivische Differenz, wäre also mit Ebeling anzumerken, dass hier mehr ausgesagt wird: Es geht hier nicht nur um Sichtweisen auf den Menschen, sondern um Seinsweisen des Menschen. Dies verdeutlicht noch einmal, worin Luthers Rede von den dua regna, in die der Mensch aufgeteilt sei, ihr Recht behält: Der Mensch existiert in verschiedenen Gegenwarten, vor verschiedenen Fora. Dies ist aber weder im Sinne eines Entweder-Oder zu verstehen noch im Sinne einer Spaltung des Menschen in Weltperson und Christperson. Es ist daher m. E. auch keineswegs zulässig, strukturell unterschiedliche Anthropologien zu entwerfen. Vielmehr existiert der Mensch in seiner eigenen inneren Forum-Struktur coram mundo und coram Deo zugleich. Allein das Urteil, welches über den Menschen durch das jeweilige Forum ergeht, fügt sich einem Entweder-Oder-Schema und nur von hier aus können die verschiede125 Ebeling, Luther, 221. 126 Ebeling, Luther, 221. 127 „In dieser coram-Relation, in der sich der Mensch immer schon befindet, je geradezu sich selbst vorfindet, so daß er ohne sie überhaupt nicht Mensch wäre, greift also ineinander, wie er anderen begegnet, andere ihm begegnen und er sich selbst begegnet.“ (Ebeling, Luther, 224) 128 „In dem Sehen und Gesehenwerden [sc. innerhalb der coram-Situation], in dem sich Gegenwart ereignet, ereignet sich das Menschsein als ein dem Urteil Ausgesetztsein. Die coramRelation offenbart als Grundsituation des Menschen, daß er vor einem Forum steht. Daß er auf Urteil angewiesen ist und sich ebenso danach sehnt wie davor fürchtet, zeigt, daß er in sich selbst Forum-Struktur hat, so jedoch, daß er in dem, wie er sich selbst versteht und ansieht, bestimmt ist von dem, was ihm als Urteil widerfährt, und von dem, was ihm als Urteil widerfährt, eben deshalb so betroffen ist, weil es ihn als sich selbst Fraglichen trifft.” (Ebeling, Luther, 224). 129 Vgl. Ebeling, Luther, 227. 130 „Die Grundsituation des Menschen als Sein in zwei Fora (coram Deo – coram mundo) bestimmt das Wirklichkeitsverständnis, das der Zweireichelehre zugrunde liegt (so daß diese mit gewissem Recht besser Zweiforalehre hieße)“ (Ebeling, Zweireichelehre, 580, These 20).

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nen Seinsweisen in einen Gegensatz zueinander treten.131 Darin behält letztlich die Rede von einer perspektivischen Differenz doch ihr Recht. Es wird hieran deutlich, dass die perspektivische Option, den Menschen entweder in seinem Weltverhältnis oder in seinem Gottesverhältnis zu erblicken, besteht, ohne aber Aussagen zu legitimieren, wonach außerdem die ontologische Struktur menschlichen Daseins uneinheitlich sei. Würde eine solche Bestimmung nicht letztlich doch eine Persönlichkeitsspaltung in Welt- und Christperson bedeuten? Was tut nun aber das Gesetz Gottes und welche Rückschlüsse auf die Freiheitsaussagen über den Menschen erfordert seine Funktion?132 Das Gesetz bricht, indem Gott sich darin in die Welt ruft, den Blick des Menschen auf die Welt und auf sich selbst. Es reißt gleichsam aus dem Erleben von weltlicher Freiheit in die höhere Verantwortung; es wendet den Blick ,nach oben‘. Besser : Es blickt von oben auf den Menschen133 und erklärt das an sich heilsirrelevante 131 „Das Sein vor Gott und das Sein vor der Welt gelten nicht etwa als wahlweise Möglichkeiten oder als getrennte Wirklichkeiten, sondern im strengen Zugleich einer Wechselbeziehung. Wer sein Sein vor Gott hat, hört damit nicht auf, vor der Welt zu existieren. Und wer sein Sein vor der Welt hat, ist damit nicht das Sein vor Gott los. Aber das Sein im einen Forum wird zum Gegensatz des Seins im andern Forum, da in der Strittigkeit beider Fora strittig ist, woher der Mensch sich empfängt, von welchem Urteil, welchem Wort er lebt, aus welchem Forum er sich versteht, welches Angesicht ihn letztlich in Anspruch nimmt und wohin letztlich sein Gesicht gerichtet und wem sein Rücken zugekehrt ist, was also seine Gegenwart ausmacht und bestimmt.“ (Ebeling, Luther, 229). 132 Ich will betonen, dass ich in Dsa ein anderes Verständnis des Gesetzes ausmache als dasjenige, das Ebeling in seiner Einführung in Luthers Denken darstellt. Ebeling deutet das Gesetz als „Menschenwort“ im qualifizierten Sinne, weil es nicht mehr sagt, als was der Mensch sich selbst und anderen Menschen sagen könnte. Wort Gottes ist das Gesetz nach Ebeling nur im weiteren Sinne insofern, als in ihm Gott als der Verborgene anwesend ist, während als Wort Gottes im engeren Sinne nur das Evangelium zu gelten habe (vgl. hierzu: Ebeling, Luther, 131). Ferner entfaltet nach Ebeling das Gesetz als Forderung an den Menschen v. a. seine Wirkung als nicht befolgte Forderung, ohne aber explizit als bestehende Forderung Gottes erkennbar sein zu müssen. Vielmehr begegne dem Menschen in aller ihm begegnenden Wirklichkeit das Gesetz (vgl. a. a. O., 151). Das hat freilich dahingehend Auswirkungen auf Ebelings Darlegungen der coram-Relationen, dass das Sein vor Gott als Getroffen-Sein vom Wort Gottes im strengen Sinne nur den Glauben, nicht etwa ein Sein vor Gott unter dem Gesetz meinen kann. Nach Dsa ist das Gesetz aber zum einen kein Modus der Anwesenheit des Deus absconditus, sondern zählt in gleicher Weise zu den verba Dei wie das Evangelium: „,Worte Gottes‘ aber nenne ich das Gesetz so gut wie das Evangelium. Im Gesetz werden Werke gefordert, im Evangelium der Glaube.“ „Verba autem Dei dico, tam legem quam Euangelion, Lege extiguntur opera, Evangelio fides“ (LDStA 1, 349 = WA 18; 663, 14 – 15.) Weiterhin betont Luther in der gesamten Schrift zwar die Unfähigkeit des Menschen zur Einhaltung des Gesetzes, entfaltet aber durchgehend den Charakter des Gesetzes als Forderung Gottes. Vgl. auch Iwand, Studien, 43: „Als imperativische Rede weist das Gesetz den Menschen in das Gebiet des noch zu Leistenden, hier ist es Aufgabe, Norm, Postulat. Es redet den Menschen nicht auf das an, was er ist, sondern auf das, was er sein soll. Und andererseits kettet es denselben Menschen an seine Tat, ruft damit die Erfahrung, die Geschichte, das erlebte Leben wider den Menschen zum Zeugen auf. Hier bezieht es sich durchaus auf das Gegebene, erweckt die Vergangenheit und macht so die Endlichkeit menschlicher Geschichte zur Stätte endgültiger Entscheidung.“ 133 Nach Gerhard Ebeling „wird das ,vor-mir-selbst‘-Sein aufgehoben in das Sein vor Gott, wenn

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und darum iuridisch freie Weltverhältnis zu dem Ort, an dem der Mensch nun nicht mehr seinem eigenen Rate überlassen, sondern dem Gesetzeswillen Gottes unterworfen ist; zu dem Ort, an dem es folglich keine neutrale Beschaffenheit vor Gott gibt.134 Ich stimme also in gewisser Weise vorläufig der Meinung Härles zu, man müsse die Unterscheidung zwischen superiora und inferiora wohl so verstehen, daß es für den Umgang mit den inferiora (im Unterschied zu den superiora) kein Gebot oder Verbot Gottes gibt. […] Frei ist der Mensch in dem Sinne, daß Gott ihm im Blick auf die inferiora (Essen, Trinken, Zeugen, Regieren, Verfügung über sein Vermögen und seinen Besitz) keine Gebote oder Verbote gegeben hat. Die Entscheidung kann nach menschlichem Gutdünken so oder so gefällt werden. Insofern handelt es sich um freie Entscheidungen135.

Diese Deutung ergibt sich m. E. klar aus Luthers Sirach-Auslegung. Man wird dann allerdings darüber hinaus folgern müssen, dass durch das Gesetz Gottes der Bereich der inferiora stark minimiert wird, ja letztlich das menschliche Leben in der Welt seinen adiaphorischen Charakter136 zur Gänze verliert. Der Mensch unter dem Gesetz würde sich demnach dadurch auszeichnen, dass ihm schlechterdings nichts mehr als inferiorum gilt.137 Insofern meine ich gegen Härle feststellen zu müssen, dass Gottes Gesetz, indem es den Menschen vor ein höheres Forum zitiert, gerade kein eindeutiges Kriterium dafür abgibt, was zu den inferiora, was zu den superiora gehöre. Eindeutigkeit könnte das Gesetz hier nur in der Form eines fixen Kodexes herstellen. Im Gegenteil lässt das Gesetz den gesamten Bereich der eigentlich niederen Dinge zweideutig erscheinen.138 Darum – dies wird sich noch genauer zeigen lassen – ist die Unterscheidung superiora/inferiora für Luther weder eine an der ohnehin

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der Mensch sich eben in diesem seinem Sein vor Gott wahrnimmt, damit freilich gerade nicht dem eigenen Forum, dem eigenen Urteil überlassen ist, vielmehr aus sich selbst heraus versetzt ist und so, weil vor Gott, sein Sein außerhalb seiner selbst, extra se hat.“ (Ebeling, Luther, 228). „Der Bruch mit der Immanenz, der im Anspruch des göttlichen Gebotes liegt, zerstört zugleich die sittliche Autonomie.“ (Elert, Morphologie, 22). Härle, Unvereinbarkeit, 4 f. „Sie [sc. die Lebenssphäre der inferiora] gehört – so würden wir in der Fachterminologie sagen – zu den Adiaphora.“ (Härle, Unvereinbarkeit, 4). Bernd Wannenwetsch zufolge ist letztlich jedes Gebot, weil es den rechten Affekt des Herzensgrundes fordert, „ein Sonderfall des ersten Gebotes“. (Wannenwetsch, Affekt, 212). Nach Günter Jacob zeigt sich dem vom Gesetz angefochtenen Menschen die Kreatur als larva Irae Dei, bleibt darin aber zweideutig: „Die Anfechtungsmächte enthüllen der conscientia nicht in dem Sinne die Ira Dei, daß sie an sich selbst vorbei auf den sie transzendierenden Zorn Gottes verweisen. Eine solche Auffassung der Enthüllung würde die die Anfechtung auszeichnenden entscheidenden Momente der unheimlich nahen Be-gegnung verkennen, in der die Mächte gerade in ihrer Undurchdringlichkeit den Menschen ,vor den Kopf stoßen‘. Vielmehr ist das rauschende Blatt wie die Anfechtungsmächte überhaupt in der Situation der Begegnung so von der Ira Dei erfüllt und gesättigt, daß dieses rauschende Blatt eben ,unser zorniger Gott‘ selbst in der Undurchdringlichkeit des das Gewissen ,erschreckenden‘ konkreten Phänomens ist.“ (Jacob, Gewissensbegriff, 28).

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abgelehnten Größe des liberum arbitrium noch eine am Gesetzesverständnis entwickelte Differenzierung, sondern eine glaubensgelehrte Aussage. Wenn es stimmt, dass nach Luther das Gesetz Gottes das scheinbar iuridisch freie Weltverhältnis des Menschen bricht, indem es den Menschen in die Verantwortung vor Gott und so zu einer neuen Sichtweise auf sich selbst ruft, während es ihn bei sich selbst belässt und ihn in keinster Weise über diese neue Selbstsicht hinaustreibt, dann gilt weiter – und hier treffen die Überlegungen ins Herz der erasmischen Vermischung von Sittlichkeit und Heilsgerechtigkeit: Der Gebrauch des Gesetzes durch den Menschen hat zur Folge, dass dem Menschen beide Relationen – Welt- und Gottesbeziehung – misslingen139 ; er stellt sich also als stetiger Missbrauch des Gesetzes dar. Ja, der Gebrauch des Gesetzes zeugt von einem grundlegenden Missverständnis desselben. Denn der Umgang des Menschen mit der Welt unterliegt dem Urteil Gottes, welches der Mensch aber gerade nicht durch seinen praktischen Lebenswandel zu ändern vermag.140 So bleibt der Mensch in jedem Fall sowohl der Welt als auch Gott das je Ihre schuldig. Nicht allein der Missbrauch der Schöpfung durch den Menschen in der egozentrischen Manier des Unglaubens stellt ein solches Misslingen des Gottes- und Weltverhältnisses dar. Gewiss raubt der Mensch hierbei Gott die Ehre und wird gesetzesbrüchig. Aber auch der Weg des Gesetzes erweist sich gerade im größten Eifer der Frömmigkeit als Irrweg, weil er gleichsam die Machtverhältnisse umzukehren versucht: Dadurch, dass die Werke in der Welt einen religiösen Zusatz141, eine fromme Berechnung erhalten, will der Mensch

139 Ebeling, Notwendigkeit, 425, stellt es nicht explizit als Wirkung des Gesetzes, sondern vielmehr als das „normale“ Problem des vor verschiedenen Foren (coram mundo/coram Deo) existierenden Menschen dar, „daß der Mensch das ,coram mundo‘ und das ,coram Deo‘ heillos durcheinanderbringt, nämlich vor das eine forum bringt, was vor das andere gehört, die opera Gott präsentiert und sich selbst als Person, als Gewissen der Welt ausliefert.“ 140 Die Dsa-Stellen, an denen Luther das Amt des Gesetzes beschreibt, sind zu zahlreich, um hier angeführt zu werden. Vielleicht nur soviel: „Wenn wir nichts können, was sollen dann so viele Gesetze, so viele Gebote, so viele Drohungen, so viele Zusagen? Hier antwortet Paulus: Durch das Gesetz geschieht Erkenntnis der Sünde. […] Denn durch das Gesetz geschieht nicht Gerechtigkeit, sondern Erkenntnis der Sünde. Das nämlich ist die Frucht, dies das Werk, dies das Amt des Gesetzes, dass es den Unkundigen und Blinden ein Licht ist, aber ein solches Licht, das Krankheit, Sünde, Böses, Tod, Hölle und Zorn Gottes zeigt. Aber es hilft nicht noch befreit es von ihnen. Es ist zufrieden damit, sie gezeigt zu haben. Dann wird der Mensch, der die Krankheit der Sünde erkannt hat, traurig, angeschlagen, ja, er verzweifelt. Das Gesetz hilft [ihm] nicht, noch viel weniger kann er sich selbst helfen.“ „Si nihil possumus, quid faciunt tot leges, tot praecepta, tot minae, tot promissiones? Respondet hic Paulus: per legem cognitio peccati. […] Non enim per legem iustitia, sed cognitio peccati. Is enim est fructus, id opus, id officium legis, quod ignaris et caecis lux est, sed talis lux, quae ostendat morbum, peccatum, malum, mortem, infernum, iram Dei, Sed non iuvat, nec liberat ab istis, Ostendisse contenta est. Tum homo cognito morbo peccati tristatur, affligitur, imo desperat. Lex non iuvat, multo minus ipse se iuvare potest.“ (LDStA 1, 603 – 605 = WA 18; 766, 20 – 22.24 – 29). 141 Dieser religiöse Mehrwert, der den Werken unter dem Gesetz zukommt, wird in Luthers Wortwahl als „perversus Leviathan“ oder als „impium additamentum“ (WA 7; 63,10.18) bezeichnet.

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Macht über Gottes Urteil erlangen.142 Hier verkehrt sich, indem das vermeintlich selbstgestaltete Weltverhältnis zur Leistung vor Gott überhöht wird, der Glaube zur Gesetzlichkeit. Hier verkehrt sich am Ende das Gottesverhältnis dermaßen, dass es gar kein Gottesverhältnis mehr ist, sondern zum frommen Aberglauben verkommt. Luther formuliert in seinem Traktat Über die Freiheit eines Christenmenschen für das verkehrte Beieinander von Glauben und Werken: „[D]as nämlich hieße in zwei Richtungen zu wanken: Baal anzubeten und sich selbst die Hand zu küssen.“143 Das Gesetz also eröffnet dem Menschen eine neue Selbstsicht, ohne dabei eine neue Qualität seines Daseins zu ermöglichen. Letzteres nicht zu verstehen, ist der Irrtum jeder Gesetzesfrömmigkeit. Worauf der Mensch angewiesen ist, ist die Möglichkeit, sein eigenes Leben weiterhin in der Dualität von Welt- und Gottesverhältnis zu verstehen, ohne jedoch im Weltdas Gottesverhältnis gestalten zu wollen. Es geht also um eine gelingende Verschränkung der anthropologischen Perspektiven unter Vermeidung einer Perspektivenverwirrung. Noch einmal deutlich die Differenzen zwischen dem Humanisten und dem Reformator : Nach Erasmus trifft das Gesetz einen grundsätzlich zur Entscheidung fähigen (freien!) Menschen144 und vereint sich mit eben dieser Fähigkeit zur Verantwortlichkeit. Damit ist nach Erasmus eine Freiheit auch in Heilsdingen ausgesagt. So vermischen sich aber durch das Missverständnis bezüglich der Funktion des Gesetzes Welt- und Gottesbezug in unzulässiger Weise. Denn im erasmischen System bleiben es die weltlichen Werke, für die nur ein freier Mensch vor Gott Verantwortung tragen kann. Nach Luther ergeht das Gesetz über einem zu eigenmächtigen Entscheidungen ganz und gar unfreien Menschen. Es kann daher dem Menschen auch nicht die Freiheit eröffnen, durch Gesetzeswerke vor Gott zu bestehen; vielmehr schränkt es die Macht des Menschen weiter ein, indem es dessen Perspektive auf sich selbst bestimmt – sein „böses Gewissen weckt“!145 Wo sich der Mensch nun im 142 „Und tatsächlich kann sich auch kein Mensch Gott gegenüber für frei halten, ohne daß er damit notwendig und gerade darum unbewußt Gott von seinem Verhalten abhängig denkt. […] Damit kehrt der Mensch die Schöpfungsordnung um, denn er muß jetzt in der Zeit die Ewigkeit zu gestalten suchen.“ (Iwand, Studien, 46 f). 143 LDStA 2, 127. „[H]oc enim esset in duas partes claudicare, Baal adorare, et manum osculari“ (WA 7; 51, 26 – 27). 144 Bezeichnenderweise betrifft in den Darlegungen des Erasmus das göttliche Verbot im Paradies den Baum des Lebens und nicht etwa den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Vgl. Dla. nach: Schumacher, Willen, 33 = Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 21 (II a 2). 145 Emanuel Hirsch zufolge ist das Gewissen als natürliches Wissen um Gott und sein Gesetz im Menschen zwar stets vorhanden, kann aber in den „Sicheren“ und „Gottlosen“ unerkannt und machtlos bleiben. „Das noch nicht erschütterte Gewissen des Gott nicht Kennenden ist nach Luther ein nur noch nicht zu seiner Macht und Wahrheit aufgestandnes böses Gewissen. Von da aus tritt die Erschütterung des Gewissens durch die es treffende Verkündigung des Gesetzes oder Gerichtes Gottes in ein eignes Licht. Man kann sagen: sie ,erinnert‘ den Menschen an das, was er im Herzen schon weiß. Oder auch: sie schließt die Wahrheit der Selbsterkenntnis in ihm auf. Das tut sie aber, indem sie den Menschen vor Gott gegenwärtig macht, d. h. das Sein coram deo, welches das letzte, verborgenste Schicksal seiner Seele ist, in seiner Innerlichkeit

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Gesetzeseifer betätigt, da kooperiert er nicht etwa, wie Erasmus meint, mit Gott zu seiner Seligkeit. Vielmehr ist der Gesetzeseifer in Luthers Augen frommer Unglaube. Die Frage liegt natürlich nahe, worin Luther den Sinn des Gesetzes erkennt. Mit Erasmus muss man doch fragen, ob das Gesetz über einem unfreien Menschen nicht allein göttlicher Hohn und Sadismus ist. Darum komme ich an anderer Stelle (3.3) auf die Funktion des Gesetzes zurück. Dort wird sich zeigen, dass sich in Luthers Denken die Frage der menschlichen Verantwortlichkeit am Gesetz entscheidet und dass der Weg zum Gnadenglauben notwendigerweise über dieses Gesetz führt. Es bedarf außerdem noch weiterer Ausführung an späterer Stelle (4. Die Freiheit eines Christenmenschen), dass allein der Glaube, indem er vom Zwangscharakter des Gesetzes befreit – Gewissensfreiheit schafft146, sowohl das Welt- als auch das Gottesverhältnis voll gelingen lässt.147 Hier sei nur so viel gesagt: Erst durch den Glauben erhält die Welt ihre ursprüngliche Bedeutung als inferiorum zurück! Die Ausgangsfrage, welchen Sinn Luthers Differenzierung von superiora und inferiora genau habe, ist also wie folgt zu beantworten: Die Unterscheidung der verschiedenen Beziehungen des Menschen wird von Luther gar nicht primär am Begriff des liberum arbitrium vorgenommen, als sei es eine eigene Potenz des Menschen, die er hier (coram mundo) hätte, dort (coram Deo) aber entbehrte. Die gelungene Unterscheidung ist vielmehr eine Möglichkeit der gläubigen Betrachtung. Die Bedeutung des Glaubens für die Weltperson besteht gerade darin, daß sie in Gewißheit und Wahrheit Weltperson ist, was ohne den Glauben nicht sein kann. Diese Gewißheit gibt die Freiheit zu einem Dienst am Nächsten ohne fromme Berechnung. Gerade so kommen Früchte des Heiligen Geistes zustande in der Unscheinbarkeit weltlicher Verrichtungen im Dienst am Nächsten.148

durchsetzt gegen diese Innerlichkeit selbst.“ (Hirsch, Lutherstudien I, 144 f). Zum Verhältnis von Gewissen und Gesetz vgl. auch: Jacob, Gewissensbegriff, 8 – 11. 146 „Gewissensfreiheit ist Freiheit des Gewissens von der Notwendigkeit, im Vollbringen des ihm vom Gesetz Gebotnen das Gottesverhältnis zu gründen, und damit auch von der Notwendigkeit, sich vom Gesetz als Sünder ängstigen und quälen zu lassen.“ (Hirsch, Lutherstudien I, 156). 147 „Durch das Sein vor Gott verliert also das Sein vor der Welt nicht sein Recht; es gewinnt es vielmehr erst überhaupt in Wahrheit, so nämlich, daß nun erst wirklich unterschieden wird zwischen beiden coram-Relationen und sie dadurch in ihr sachgemäßes Verhältnis kommen. Denn wer Gott gerecht wird durch den Glauben, kann nun auch der Welt gerecht werden durch die Liebe.“ (Ebeling, Luther, 230). 148 Gerhard Ebeling, Luther, 238. Ähnlich: Ders., Lutherstudien I, 278: „Der Glaube selbst säkularisiert das gute Werk und nimmt ihm seine Abzielung auf Gott. Allein so gibt es gute Werke.“

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Dies ist die Freiheit eines Christenmenschen. Im Wortlaut Luthers: Durch den Glauben wird er [sc. der Christenmensch] über sich hinaus nach oben zu Gott gezogen, umgekehrt fällt er durch die Liebe unter sich herab [infra se! S.S.] auf den Nächsten, doch bleibt er stets in Gott und seiner Liebe.149

Es sollte bis hierher deutlich geworden sein, dass weder eine völlige Trennung des Welt- vom Gottesverhältnis (wie sie in mancher Dsa-Interpretation mit dem Ziele einer Trennung der Werke vom Glauben vorgenommen wird) noch deren unterschiedslose Vermischung (wie sie bei Erasmus vorliegt) von Luther intendiert war. Sofern sich in einer berührungslosen Trennung beider Reiche nichts anderes darstellt als die ebenso unzulässige Vermischung von Weltreich und Gottesreich150, ereignet sich darin – dies kann hier nur angedeutet werden – die beziehungslose Isolation oder eben die Vermischung von Gesetz und Evangelium. Noetisch wäre demnach festzustellen, dass zuallererst die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium sowie der Glaube die Differenz von Welt und Gott ins rechte Licht zu rücken vermögen – verbunden gerade mit der Erfahrung christlicher Freiheit über die Welt, die sich dem Glaubenden als ein inferiorum darstellt.151 Die Freiheit eines Christenmenschen wäre demnach beschreibbar als die gelingende Verschränkung beider Perspektiven. Wodurch aber wird die Unterscheidung und rechte Bezogenheit der verschiedenen coram-Relationen garantiert? Seitens des Menschen hat sich gezeigt, dass der Glaube dies leistet, dass er die Beziehungen unterscheiden und recht aufeinander zu beziehen lehrt. Dies kann aber nicht bedeuten, dass das Beieinander der menschlichen Seinsweisen begründet wäre in der selbständigen (substantialen) Einheit der gläubigen Person. Damit bliebe unverstanden, dass der Mensch ja erst durch sein Sein in eben jenen unterschiedlichen Beziehungen überhaupt Person ist. Vielmehr hat als Garant für die unverbrüchliche Bezogenheit bei aller Unterschiedenheit von Welt- und Gottesreich, von Weltperson und Christperson die Allmacht Gottes zu gelten. Glaube an den Allmächtigen impliziert schließlich das monistische Bekenntnis, es 149 LDStA 2, 175. „[P]er fidem sursum rapitur supra se in deum, rursum per charitatem labitur infra se in proximum, manens tamen semper in deo“ (WA 7; 69, 14 – 15). 150 Ebeling, Luther, 201 f, konstatiert, dass die als Trennung verstandene Zwei-Reiche-Lehre, unabhängig davon, ob sie eine religiöse Weltflucht oder eine säkularistische Gottesflucht legitimieren soll, „nur eine Modifikation des Grundfehlers der Vermischung der beiden Reiche [darstellt]. Denn dem Wahn einer solchen Trennung kann man nur verfallen, wenn man zwischen Gott und Welt nicht wirklich zu unterscheiden vermag und eben deshalb nicht um ihre untrennbare Bezogenheit weiß“. 151 Nach Ferdinand E. Cranz ist für Luther eine rechte Säkularisation allein durch das Christentum möglich: „Indeed, from Luther’s standpoint, we never find any true secularization apart from Christianity, for only Christianity teaches us not to ,mix‘ the two realms, which the natural man cannot even distinguish. Apart from Christianity, what ought to be the world or reason or polity will always falsely claim to be more than the world, to be in some way a means of salvation, or a stage on the way to heaven, or a ,church‘.“ (Cranz, Development, 177).

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auch in der Welt mit Gott zu tun zu haben, ohne die Welt mit Gott zu verwechseln.152 Noch einmal in aller Deutlichkeit: Es wurde eingangs festgehalten, dass eine Dsa-Interpretation zwei Fragen zu beantworten hat: 1. Hat der Mensch einen freien Willen in Bezug auf sein Heil? Dies ist die Frage, ob der Mensch Macht über Gott habe. Und 2. Hat der Mensch einen freien Willen in der Welt? Dies ist nicht die Frage, ob der Mensch Macht über die Welt habe – solches wird auch von Luther in der Regel nicht bestritten –, sondern, ob er Macht über sich selbst habe. Nun ist offensichtlich, dass, wer die eine Frage verneint, die andere nicht bejahen kann. Wenn der Mensch über Gott keine Macht hat, wenn vielmehr das Machtgefälle genau umgekehrt verläuft, dann ist der Mensch seiner selbst nicht mächtig und folglich weder in Heilsdingen noch in weltlichen Dingen frei. Dies anzuerkennen ist Glaube. Der Weg zu dieser Anerkennung führt über die Erfahrung des Gesetzes und der eigenen Unfähigkeit zu seiner Erfüllung. Die Freiheit des Menschen vor der Welt kann Luther deshalb innerhalb eines Gedankengangs bejahen, wenn er dabei die Macht über die Dinge (effektive Freiheit) im Blick hat, und zugleich aufgrund der Macht Gottes über den Menschen verneinen, dass der Mensch selbstbestimmt wollen (suikausale Freiheit) könne. Wir wissen, dass der Mensch als Herr über das unter ihm Liegende gesetzt ist; dem gegenüber hat er ein Recht und freies Willensvermögen, und es gehorcht folglich und tut, was er will und sich vorstellt. Wir fragen vielmehr danach, ob er gegen Gott ein freies Willensvermögen habe, so dass er gehorcht und tut, was der Mensch will – oder vielmehr, ob Gott ein freies Willensvermögen gegen den Menschen habe, so dass dieser will und tut, was Gott will, und nur das vermag, was jener [sc. Gott] will und tut.153

Die Unfreiheit des Menschen gegenüber Gott meint zum einen, dass alles, was der Mensch in der Welt will und tut, entweder heilvoll oder unheilvoll ist. Sie begründet darin unstrittigerweise die soteriologische Angewiesenheit des Menschen auf Gott. Wenn weiterhin die Wahl zwischen Glaube und Unglaube 152 Zickendraht, Streit, 132: „Indem nun aber diese Unabhängigkeit [sc. Gottes in dessen Gnadenurteil] für L.[uther] keine andere ist, wie diese, als deren Ausdruck ihm auch die natürliche Wirklichkeit gegenübertritt, verknüpft sich sein Erlebnis des Einflusses der Gnadenmacht auf sein sittliches Handeln mit seiner Erkenntnis des Verhältnisses seiner physischen Lebensbetätigung zu der in der Welt wirkenden Allmacht. So liegt gerade an dem Punkte, wo eine neue umwandelnde Kundgebung der göttlichen Wirklichkeit den Willen über die Schwierigkeit, gut sein zu müssen, um gut werden zu können, hinaushebt, der geistige Übergang vom Erlösungsbewußtsein zum Determinismus, der L.[uther]s Grundauffassung ihre Eigentümlichkeit gibt.“ 153 LDStA 1, 645. „Scimus, quod homo dominus est inferioribus se constitutus, in quae habet ius et liberum arbitrium, ut illa obediant et faciant, quae ipse vult et cogitat. Sed hoc quaerimus, an erga Deum habeat liberum arbitrium, ut ille obediat et faciat, quae homo voluerit, vel potius an Deus in hominem habeat liberum arbitrium, ut is velit et faciat, quod Deus vult, et nihil possit, nisi quod ille voluerit et fecerit.“ (WA 18; 781, 8 – 13. Hervorhebung von S.S.).

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nicht in der Macht des Menschen, sondern in Gottes Entscheid liegt, so trägt des Menschen Weltverhältnis die jeweilige Prägung seines Gottesverhältnisses. Seine Werke sind – hier Hauptanliegen Luthers gegen Erasmus –, wie frei auch immer, zu seinem Heil völlig ineffektiv. In diesem Sinne steht die Wirksamkeit des Willens im Gegensatz zur Gnade Gottes. Wenn es nicht gerecht vor Gott ist, ist es notwendig Sünde. Denn bei Gott bleibt nichts Mittleres übrig zwischen Gerechtigkeit und Sünde, was gleichsam keines von beidem wäre, gleichsam weder Gerechtigkeit noch Sünde. Sonst würde die gesamte Erörterung des Paulus, die aus jener Einteilung [sc. der Menschen in Gerechte und Sünder] hervorgeht, nichts bewirken: dass, was auch immer bei den Menschen geschieht oder getan wird, entweder Gerechtigkeit oder Sünde bei Gott ist. Gerechtigkeit liegt vor, wenn der Glaube da ist; Sünde, wenn der Glaube fehlt. Bei den Menschen freilich verhält sich die Sache so, dass es Mittleres gibt, was keines von beidem ist, worin die Menschen sich gegenseitig weder irgendetwas schulden noch irgendetwas leisten. Gegen Gott sündigt der Gottlose, gleich, ob er isst oder trinkt oder was immer er tut, weil er die Schöpfung Gottes missbraucht mit ständiger Gottlosigkeit und nicht einen Augenblick von Herzen Gott die Ehre gibt.154

Zugleich ist mit der Ohnmacht des Menschen vor Gott über seine Unfreiheit in Heilsdingen hinausgehend begründet, dass der Mensch – gleichgültig, ob Gerechter oder Sünder – um Gottes Willen nicht der Wirksamkeit Gottes entkommen kann.155 Ja, gerade weil die Macht des menschlichen Willens gegenüber Gott null und nichtig ist, kann sie sich gegenüber der Welt nur vollziehen unter der präzisen Lenkung des All-Mächtigen.156 Je nach Stand154 LDStA 1, 609. „Si iustum non fuerit coram Deo, peccatum esse necesse est. Neque enim apud Deum relinquitur medium inter iustitiam et peccatum, quod velut neutrum sit, quasi nec iustitia nec peccatum. Alioqui disputatio tota Pauli nihil efficeret, quae procedit ex partitione illa, aut iustitiam, aut peccatum esse apud Deum, quicquid in hominibus fit et geritur. Iustitiam, si fides assit, Peccatum, si fides desit. Apud homines sane ita habet res, ut media et neutralia sint, in quibus homines invicem neque debent quicquam, neque praestant quicquam. In Deum peccat impius, sive edat sive bibat, aut quicquid fecerit, quia abutitur creatura Dei cum impietate et ingratitudine perpetua, nec ex animo dat gloriam Deo ullo momento.“ (WA 18; 768, 16 – 26). 155 „Auch das natürliche Sein des Menschen ist, coram Deo betrachtet, letztlich in keiner anderen Lage wie im Blick auf Heil und Unheil.“ (Klein, Willensfreiheit, 384). 156 Ebeling, Luther, 250, bemerkt zu dieser Dsa-Passage: „Hier werden also nicht etwa zwei Bereiche völlig voneinander getrennt. Zwar ist es allerdings gewissermaßen so: In der Welt, in bezug auf die Dinge, die dem Menschen unterworfen sind, und dazu gehört cum grano salis der Bereich des Moralischen, sagen wir also kurz: auf dem Betätigungsfeld der bürgerlichen Gerechtigkeit, im Horizont der Werke kann der Mensch Willensmacht ausüben. Sobald dagegen der Mensch Gott gegenüber in Betracht kommt, wird es sinnlos, von freiem Willen zu reden. Denn Gott gegenüber kann der Mensch unmöglich als Handelnder in Aktion treten, hier kommt er allein als Empfangender, als Gewirkter, als dem Urteil Ausgesetzter, als bejaht oder verworfen in Betracht. Aber dieses Sein des Menschen vor Gott ist nicht etwas neben und zusätzlich zu dem Sein des Menschen in und vor der Welt, sondern dasjenige, was das In-derWelt-Sein des Menschen bestimmt, ob er es wahrhaben will oder nicht.“ Bei Karl Zickendrahts Deutung liegen die Dinge insofern etwas anders, als er die Frage der

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punkt des Betrachters erscheint dann Gottes Heilswirken als Sonderfall seines allumfassenden Wirkens in der Welt157 oder umgekehrt die Notwendigkeit allen Geschehens als Implikat der menschlichen Unfreiheit zum Heil.158 Allein dieses Ineinander von Unfreiheit zum Guten und Unfreiheit überhaupt kann einsichtig machen, warum Luther die drei von Erasmus vorgetragenen Meinungen zum liberum arbitrium als eine einzige verstehen konnte. Während Erasmus einen Unterschied ausmachte zwischen der Auffassung, das Willensvermögen könne ohne Gnade das Gute nicht wollen (so in Varianten die Meinung 1 und 2) und jener Meinung, das liberum arbitrium sei ein gänzlich leerer Titel und alles geschehe mit Notwendigkeit (Meinung 3), musste Luther in allen drei Meinungen denselben Sachverhalt erkennen.159 Hier offenbart sich noch einmal deutlich, dass aus Perspektive des Theologen soteriologische Unfreiheit und Unfreiheit überhaupt unlösbar zusammen gehören.160

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Moral zur religiösen Seite der menschlichen Unfreiheit zählt. Gleichwohl betont auch Zickendraht, dass aus Glaubensperspektive kein Raum für eine Freiheit in den niederen Dingen bleibt, wenn er notiert: „Vollends tritt jene Verbindung [sc. von sittlichem und natürlichem Gebiet] ein, wo sich das religiöse Abhängigkeitsgefühl im Gnadenerlebnis vollendet. Da ist derjenige, dessen Allmacht als eine ethische Kraft verspürt wird, derselbe, von dessen Allmacht auch die physische Kraft gewirkt ist, und so fällt Unfreiheit zum Guten und Unfreiheit überhaupt zusammen.“ (Zickendraht, Streit, 133). „[G]egen das vielfach verbreitete Bemühen, den Eindruck eines ontologischen oder theologischen Determinismus zu zerstreuen, macht Luther selbst eindeutig klar, dass die von ihm gegen Erasmus eingeschärfte Alleinkompetenz Gottes beim Gnadenhandeln lediglich ein Sonderfall seiner universalen Alleinkompetenz ist.“ (Leonhardt, Verhältnis, 149) Gerade weil ich Leonhardt hier voll und ganz zustimme, will mir nicht einleuchten, warum er im Fortgang seines Aufsatzes die gnadentheologische „Freiheits-Illusion“ des Menschen gegenüber Gott für unzulässig, die „Freiheits-Illusion“ (!) in der Welt aber für kultivierungswürdig erklärt. Würde nicht mit der Kultivierung der universalen Illusion auch ihr Sonderfall sich durchsetzen? Luther deutet in der Definition des Erasmus die „Dinge, die zum ewigen Heil führen“ als Wort und Werk Gottes und schließt daraus: „Also ist nach dem Zeugnis des Erasmus das freie Willensvermögen die Kraft, die von sich aus Wort und Werk Gottes wollen und nicht wollen kann. […] Ja, er [sc. der menschliche Wille] kann alles wollen, wenn er Wort und Werk Gottes wollen kann. Denn was kann irgendwo unterhalb, oberhalb, innerhalb, außerhalb von Wort und Werk Gottes sein? Doch nur Gott selbst. Was aber bleibt hier für die Gnade und den Heiligen Geist? Das heißt nichts anderes, als dem freien Willensvermögen Göttlichkeit zuzubilligen.“ „Igitur Erasmo authore Liberum arbitrium est vis voluntatis, quae potest a seipsa velle et nolle verbum et opus Dei […]. Quin omnia velle potest, dum verbum et opus Dei velle potest. Quid enim infra, supra, intra, extra verbum et opus Dei nisi Deus ipse uspiam esse potest? Quid autem hic relinquitur gratiae et spiritui sancto? Hoc plane est divinitatem libero arbitrio tribuere“. (LDStA 1, 351 – 353 = WA 18; 664, 1 – 2.9 – 12). Vgl. WA 18; 667, 15 – 26. Ich bezweifle daher auch Karl Zickendrahts Einschätzung, wonach „L.[uther] sich nicht bewußt war, daß sein absoluter Determinismus nicht von seiner Erkenntnis der natürlichen Unfähigkeit zum Guten und der Monergie der Gnade aus gewonnen ist“ (Zickendraht, Streit, 85 f).

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3.1.4.2 Der getriebene Wille des Menschen unter der Wirksamkeit Gottes Es wurde bisher gezeigt, dass der Mensch relational frei ist, sofern ihm das Recht und die Kraft zukommen, seinen bestimmten Willen zur Durchsetzung zu bringen. Dabei wurde aber auch stets betont, dass das Zusammenwirken von Gott und Mensch von dieser Freiheit unberührt bleibt. Dass der Mensch überhaupt ein operator sei, besagt schließlich, dass er einen irgendwie gearteten Willen habe. Dass aber der Mensch, egal ob Sünder oder Gerechter, mit Gott zusammenwirke, muss seinerseits implizieren, dass sein Wille nicht dem Wirken Gottes widersprechen kann. Dieser Zusammenhang wird von Luther als das Fortgerissen- oder Getriebensein des menschlichen Willens bezeichnet. Wohlgemerkt: Dem Willen des Menschen geschieht dabei keine Gewalt. Wie aber kann Luther das Fortgerissen-Werden und das Getrieben-Sein des Willens – durchaus ja gewaltige Bilder – vereinen mit dem Gedanken, hierbei geschehe kein Zwang? Was unterscheidet den getriebenen Willen vom gezwungenen Willen? Die Scholastik führte, um die Kontingenz der Ereignisse und Verantwortlichkeit des Menschen zu bewahren, die Unterscheidung einer Notwendigkeit des Folgenden von der Notwendigkeit der Folge ein. Luther bestreitet diese Distinktion keineswegs, doch entwickelt er aus seinem Verständnis der Notwendigkeit der Folge die für ihn viel wichtigere Differenzierung zwischen Notwendigkeit des Zwanges und Notwendigkeit der Unveränderlichkeit, wie sich im Folgenden zeigen soll. Zuerst gilt es nachzuvollziehen, dass die necessitas consequentiae letztlich nur auf die Differenz von Schöpfer und Geschöpf hinausläuft. Was aber erreichen sie [sc. die Sophisten] mit solchen Wortspielereien? Doch dies, dass das Ergebnis nicht notwendig ist, das heißt, dass es keine notwendige Wesenheit hat. Und das wiederum heißt nichts anderes, als dass das Ergebnis nicht Gott selbst ist. Nichtsdestoweniger bleibt: Alles geschieht notwendigerweise, wenn die Handlung Gottes notwendig oder eine Notwendigkeit der Folge ist, wenn auch das Ergebnis noch so wenig notwendigerweise existiert, das heißt, wenn es nicht Gott ist oder ihm nicht notwendige Wesenheit eignet. Denn wenn ich notwendigerweise entstehe, dann kümmert es mich wenig, dass mein Sein oder Werden veränderbar ist; nichtsdestoweniger entstehe ich als dieser Zufällige und Veränderbare, da ich nicht wie Gott notwendig existiere. Daher bringt ihre Spielerei […] nur dies: Alles geschieht zwar notwendigerweise; aber das, was so geschieht, ist nicht Gott selbst. War es aber nötig, uns dies zu sagen?161 161 LDStA 1, 254 f. „Quid autem istis ludibriis verborum efficiunt? Id scilicet, facta res non est necessaria, id est, non habet essentiam necessariam, hoc est aliud nihil dicere quam, res facta non est Deus ipse. Nihilominus manet illud, ut omnis res necessario fiat, si actio Dei necessaria vel consequentiae necessitas est, quantumlibet iam facta non sit necessario, id est, non sit Deus, vel non habeat essentiam necessariam. […] Quare illorum ludibrium […] nihil aliud habet

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Für die Rettung des menschlichen Selbststandes taugt die Notwendigkeit der Folge aus Sicht Luthers jedenfalls nicht.162 Im Gegenteil ist sie die implizite Begründung sowohl für die Selbstentzogenheit des menschlichen Willens als auch zugleich für die Unmöglichkeit, der Mensch könne die Ereignisse in der Welt anders als kontingent erleben. Luther folgert aus der Unterscheidung von necessitas consequentis und consequentiae zunächst, dass der Schöpfung keine essentia necessaria eignet. Sie bleibt deshalb auf Gottes andauerndes schöpferisches Wirken angewiesen, welches ihr Sein und damit zugleich ihre Bestimmtheit garantiert.163 Zugleich aber begründet die Unterschiedenheit von Schöpfer und Geschöpf die ungleichen Perspektiven: Was aus der Sicht Gottes notwendig geschieht, geschieht aus Sicht des Menschen zufällig und veränderlich. So lehnt Luther ein ,deistisches‘ Schöpfungsverständnis ab, betont aber die perspektivische Differenz, wenn er schreibt: Wäre der Wille Gottes so beschaffen: Nach Vollendung des Werkes und nachdem dieses so bliebe, hörte er auf (wie ja der Wille der Menschen ist: Wenn das Haus gebaut ist, das sie wollen, hört er auf zu wollen, wie er auch im Tod aufhört) – dann könnte man wahrhaft sagen, irgendetwas geschehe zufällig und wandelbar. Aber hier geschieht das Gegenteil: Das Werk hört auf und der Wille dauert an; weit entfernt, dass das Werk, solange es geschieht und dauert, zufällig geschehen oder dauern kann. […] Weiter kann das Werk nicht zufällig genannt werden, außer es geschieht für uns zufällig und gleichsam unversehens ohne unser Wissen. Denn unser Wille und unsere Hand greifen danach wie nach etwas zufällig Angebotenem, weil wir vorher überhaupt nicht daran gedacht oder es gewollt haben.164 quam hoc, Omnia quidem necessario fiunt, sed sic facta, non sunt ipsemet Deus. Quod vero opus erat hoc nobis dicere?“ (WA 18; 617, 6 – 17). 162 Es ist deshalb auch nicht richtig, wie McSorley, Lehre, 290 meint, dass Luther einfach entgangen sei, welche Funktion die Unterscheidung der beiden Notwendigkeiten in der Scholastik gespielt hat. Ganz deutlich war ihm bewusst, dass die Scholastik hierdurch Notwendigkeit und liberum arbitrium zu vereinen meinte. Dies zeigt der Beginn der entsprechenden Passage. Vielmehr überführt Luther die „Wortspielereien der Sophisten“, indem er zeigt, dass beide Notwendigkeiten Freiheit verneinen. Man muss übrigens schon einen inkompatibilistischen Verantwortlichkeitsbegriff mitführen, wenn man meint, ohne liberum arbitrium könne es „keine moralische Ordnung der Sünde, der wirklichen Tugend, des sinnvollen Verdienstes und der gerechten Strafe geben“ (McSorley, Lehre, 290). Vgl. zu McSorleys Inkompatibilismus auch: A.a.O., 293, Anm. 109 und a. a. O., 315 f. 163 Nachdem er einige Varianten der „Vereinbarkeitsthese“ von Gott und Freiheit diskutiert hat, schließt Friedrich Hermanni: „Käme die Unvereinbarkeit von Schöpfergott und menschlicher Freiheit nur dadurch zustande, daß die göttliche Schöpfertätigkeit im Modus der Vergangenheit gedacht wird, dann wäre in der Tat durch Entzeitlichung (Kant) oder Verendzeitlichung (Pannenberg) des Schöpfungsgedankens Abhilfe möglich. Aber das ist nicht der Fall. Nicht erst eine bestimmte Version des Schöpfungsgedankens, sondern dieser selbst scheint menschliche Willensfreiheit zu verhindern, denn ein Wesen, dessen Dasein und Sosein Produkt eines anderen ist, kann sich nicht von Grund auf selbst bestimmen.“ (Hermanni, Überlegungen, 205). 164 LDStA 1, 253. „Si talis esset voluntas Dei, quae peracto opere eodemque manente, cessaret, qualis est hominum voluntas, ubi aedificia domo, quam volunt, cessat velle, ut in morte desinit,

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Dass sich aus diesen Überlegungen weiterhin die Konsequenz ergibt, dass der Wille des Menschen, weil er nicht notwendig existiert, dem göttlichen Wirken und Willen dergestalt unterliegt, dass die Handlungen des Menschen eben nicht kraft seines liberum arbitrium, sondern aus Notwendigkeit geschehen, hat Luther benannt165 und weiterentwickelt zu seiner Unterscheidung von Zwang und Unveränderlichkeit. Denn wenn der Mensch ohne Zwang handelt, dann sind seine Werke ihm durchaus zuzurechnen, da er ja „aus eigenem Antrieb und freiwillig [sc. bereitwillig]“166 handelt. Wohlgemerkt: Des Menschen Handlungen geschehen aus eigenem Antrieb, nämlich vom Willen bestimmt. Notwendigkeit der Unveränderlichkeit bezieht sich aber auf den Willen, der gerade nicht aus eigenem Antrieb wollen kann, weil er auf Gottes Erhaltung angewiesen ist. Diese Freiwilligkeit [sc. Bereitwilligkeit] oder diesen Willen zu handeln aber kann er [sc. der Mensch] nicht aus eigenen Kräften unterlassen, zügeln oder ändern, sondern er fährt fort zu wollen und bereitwillig zu sein; sogar wenn er äußerlich [sc. nach außen] mit Gewalt gezwungen wird, etwas anderes zu tun, widersetzt sich dennoch drinnen der Wille und ist widerwillig gegen den, der ihn zwingt oder ihm Widerstand entgegen-bringt. Er wäre aber nicht widerwillig, wenn er geändert würde und willig der Gewalt folgte. Auf diese Weise sprechen wir von der Notwendigkeit der Unveränderlichkeit. Das bedeutet, der Wille kann sich nicht ändern und anderswohin wenden.167

Diese Stelle fasst in aller Deutlichkeit den Unterschied von relationaler Freiheit und suikausaler Freiheit in Worte. Der Wille kann in seinen Äußerungen – in Handlungen nach außen – frei oder unfrei sein. Entweder besteht dann eine Entsprechung zwischen Wille und Tat, oder nicht (Zwang). Grundsätzlich gilt aber, dass der Wille sich selbst nicht ändern kann. In einem Satze: Weil dem kreatürlichen Willen kein notwendiges Sein eignet, ist er abhängig vom erhaltenden Wirken des Schöpfers, entsteht deshalb mit der Notwendigkeit der Folge, was wiederum keinen Zwang bedeutet. Ein sich selbst bestimmender Wille müsste sich derart auf sich selbst beziehen können, dass er sein Wollen kraft des eigenen arbitrium hervorbrächte. tum vere posset dici, aliquid contingenter et mutabiliter fieri, At hic contra fit, opus desinit et voluntas permanet, tantum abest, ut ipsum opus dum fit et permanet, contingenter esse aut permanere possit. […] Deinde contingens opus dici non potest, nisi quod nobis contingenter et velut casu imprudentibusque nobis fit, Quia nostra voluntas vel manus illud arripit velut casu oblatum, ut qui nihil de eo cogitavimus aut voluimus antea.“ (WA 18; 616, 2 – 12). 165 „Quicquid fit a nobis, non arbitrio libero, sed mera necessitate fieri“. (WA 18; 634, 14 – 15). 166 LDStA 1, 289. „sponte et libenti voluntate“ (WA 18; 634, 25). 167 LDStA 1, 289. „Verum hanc libentiam seu voluntatem faciendi, non potest suis viribus omittere, cohercere aut mutare, sed pergit volendo et lubendo, etiam si ad extra cogatur aliud facere per vim, tamen voluntas intus manet aversa, et indignatur cogenti aut resistenti, Non autem indignaretur, si mutaretur, ac volens vim sequeretur. Hoc vocamus modo necessitatem immutabilitatis, id est, quod voluntas sese mutare et vertere alio non possit“. (WA 18; 634, 25 – 31. Hervorhebungen von S.S.).

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Solch ein noch unbestimmter ,reiner Wille‘ bestünde noch ohne äußeres Ziel. Ein objektloses purum velle gibt es aber nach Dsa im Menschen nicht, wenn der Wille als von außen, nämlich von Gott, stetig zum Wollen angetrieben vorgestellt wird. Bringt er aber sein Wollen, Nicht-Wollen, Wählen etc. nicht selbst hervor, sondern wird dahingerissen und ist in diesem Gerissensein immer auf ein äußeres Ziel bezogen, dann ist ihm auch die Möglichkeit genommen, zwischen potentiellen intentionalen Objekten selbstmächtig zu wählen. Weil Luther das Wählen zu den actiones voluntatis rechnet, verbleibt jeder intentionale Akt unter der Lenkung Gottes. [Die Notwendigkeit der Unveränderlichkeit] wird bezeichnet durch die Lenkung Gottes, die nicht eine so schnarchende und faule Sache ist, wie die ,Diatribe‘ erfindet. Sondern es ist jenes höchst tätige Wirken Gottes, welches man nicht vermeiden und ändern kann, sondern wodurch man notwendig ein solches Wollen hat, wie Gott gegeben hat und wie er es hinreißt durch seine Bewegung168.

Hier wird der Grund offensichtlich, warum der getriebene Wille keine Wahlfreiheit zwischen potentiellen Objekten genießt: Antrieb und Objektgehalt des Willens haben in der Wirksamkeit Gottes einen gemeinsamen Ursprung. Bewegung und Richtung sind gar keine unterschiedenen Momente des Willens. Denn nur darin, dass der Wille etwas will oder nicht will, fallen Entscheidungen, nicht etwa bevor der Wille etwas will. Bedingten sich Antrieb und Gehalt des Willens nicht, so könnte die erasmische Meinung bestehen, dass das liberum arbitrium zwar das Gute nicht wollen könne, wohl aber sich dem Guten zuwenden, sich bemühen, es wählen könne. In der Bestreitung der erasmischen Auslegung von Dtn 30, 15.19 lehnt Luther eine solche nicht-wollende Wahlfreiheit ausdrücklich ab. Wenn es eine Wahlfreiheit gibt, warum hat die annehmbare Meinung gesagt, das freie Willensvermögen könne das Gute nicht wollen? Oder kann es etwas wählen, ohne zu wollen, oder nicht-wollend [wählen]?169

Dies ist der Grunddissens zwischen Erasmus und Luther. Weil nach Luther der Wille des Geschöpfes Grund und Ursache nicht in sich selbst hat170, kann er nicht gleichsam ,in Leerlauf‘ geschaltet werden, sondern muss etwas wollen. Damit ist aber auch deutlich, dass dieses Etwas als Objekt des Willens nicht willkürlich sein kann, sondern göttlicher Bestimmung unterliegt.171 168 LDStA 1, 556 f. „Ea significatur per inclinationem Dei, quae non est res tam stertens et pigra, ut fingit Diatribe, Sed est actuosissima illa operatio Dei, quam vitare et mutare non possit, sed qua tale velle habet necessario, quale illi Deus dedit et quale rapit suo motu“. (WA 18; 747, 24 – 27). 169 LDStA 1, 383. „Si libertas eligendi adest, cur opinio probabilis dixit liberum arbitrium non posse velle bonum? an eligere potest non volens aut nolens?“ (WA 18; 676, 34 – 36). 170 „Creaturae voluntati caussa et ratio praescibitur“ (WA 18; 712, 37). 171 Zickendraht, Streit, 140, notiert, dass „dort die Trägheit des Willens in seiner Richtung nicht mehr von der in seiner Bewegung liegenden unterschieden, vielmehr die necessitas absoluta

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Allwirksamkeit Gottes und affektives Getriebensein des Menschen

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Luther bringt – zwar im Hinblick auf den gottlosen Menschen, wohl aber durchaus verallgemeinerbar – ganz deutlich zum Ausdruck, dass das Streben des Willens nicht suspendiert werden kann, so wenig das Sein des Menschen in dessen Verfügung steht. Und es ist ihm [sc. dem verstockten Gottlosen] unmöglich, nicht zu begehren, wie es ihm nicht möglich ist, nicht zu sein, weil er ein Geschöpf Gottes ist, wenn auch ein fehlerhaftes.172

So ergibt sich auch aus der anthropologischen Betrachtung, dass ein stetig angetriebener Wille nicht frei genannt zu werden verdient, sofern das Getrieben-Sein das Entschieden-Sein impliziert.173 Dieses Getriebensein des Willens geschieht vorreflexiv, kann also gar nicht als Zwang erlebt werden. Tritt der Wille auf, so nur als entschiedener Wille. Und dabei erlebt das endliche Subjekt das Auftreten eines bestimmten und entschiedenen Willens als nicht festgelegt. Denn unser Wille und unsere Hand greifen danach wie nach etwas zufällig Angebotenem, weil wir vorher überhaupt nicht daran gedacht oder es gewollt haben.174

3.2 Quae supra nos und quae intra nos: Allwirksamkeit Gottes und affektives Getriebensein des Menschen Der vorherige Abschnitt zur Frage des theologischen Determinismus hat in einem zweigeteilten Blick auf die Gotteslehre und die theologische Anthropologie zwei Grundthesen verfolgt: zum einen, dass Luther Einschränkungen der Allmacht Gottes nicht zulässt, weil man mit ihr zugleich die Gottheit Gottes einschränken würde; zum anderen, dass mit Luthers Allmachtsbegriff eine indeterminierte Freiheit des Menschen nicht vereinbar ist. So stellten sich Gottes in seiner schöpferischen Allmacht begründete Freiheit und des Menschen Unfreiheit als Korrelate dar. Pointiert – wenn auch kaum überraschend das eine Mal an der Unmöglichkeit, seine eigene Tendenz zu ändern, und das andere Mal an der Unfähigkeit, den Tatenstrom des göttlichen Wirkens aufzuhalten, illustriert wird“. 172 LDStA 1, 467. „Et tam non potest cupere, quam non potest non esse, cum sit creatura Dei, licet vitiata.“ (WA 18; 710, 17 – 18). 173 Im Blick auf das schöpferische Wirken betont Härle, Unvereinbarkeit, 5, „daß sich dieses (Mit-) Wirken Gottes nicht (nur) als eine unbestimmte Lebensenergie oder Schöpferkraft denken läßt, sondern als Gottes lenkendes Wirken verstanden werden muss.“ Härle scheint das „nur“ in Klammern zu setzen, weil beim Zulassen des Bösen Gott nicht als Lenker des Willens gedacht werden soll, er vielmehr den bösen Willen vorfinde. 174 „Quia nostra voluntas vel manus illud arripit velut casu oblatum, ut qui nihil de eo cogitavimus aut voluimus antea.” (WA 18; 616, 11 – 12).

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– kann man sagen: Es geht Luther um die deutliche Feststellung, dass Gott Gott und der Mensch Mensch ist. Der nun folgende Abschnitt soll die Zweiteilung des ersten widerspiegeln, indem er zunächst danach fragt, was genau nach Dsa dem Bereich supra nos zuzurechnen ist und sodann erhebt, ob Luther neben der Rede von der göttlichen Allwirksamkeit ein korrelierendes anthropologisches Phänomen kennt. Eine sprachliche Beobachtung mag als erster Hinweis darauf gelten, dass es nicht ganz abwegig ist, nach einer anthropologischen Entsprechung zu Luthers Allmachtsbegriff zu fragen. In Dsa wird das rapere – vor allem in den Gottlosen – der Allmacht Gottes zugeschrieben, und es gilt für die Gläubigen nicht minder, dass sie Getriebene bzw. Gerissene sind.175 Was in Dsa der Wirksamkeit Gottes zugeschrieben wird, kann Luther andernorts auch über die Affekte sagen. So erscheint dann das Herz des Menschen als Ort seines Gerissen-Werdens.176 Luther betont in Dsa unermüdlich die Absage an die Vernunft, den in seiner Majestät verborgenen Willen Gottes erkennen zu wollen. Und wie sich zeigen wird, zeichnet sich auch das Affektenleben des Menschen dadurch aus, dem Machtbereich der menschlichen ratio entzogen zu sein. Hat also innerhalb der Gotteslehre die schöpferische Allwirksamkeit als Grund sowohl für die Freiheit Gottes als auch für die Determination des Menschen zu gelten, so müssten innerhalb einer ,Anthropologie Luthers‘ die Affekte als dasjenige Moment erscheinen, das die neutrale Stand-By-Funktion des Willens unmöglich macht, und durch das sein stetes Gerissen-Sein näher zu beschreiben ist. Wenn zwischen den „Dingen über uns“ einerseits und den „Dingen in uns“ andererseits als Gemeinsamkeit aufgezeigt werden kann, dass beide der menschlichen Vernunft unzugänglich und deshalb der menschlichen Einflussnahme entzogen sind, dann wäre auch hiermit erneut gezeigt: Es geht Luther bei der Formel Quae supra nos, nihil ad nos allein um die Freiheit Gottes, während die Bestimmung des Willens durch Affekte eine genauere anthropologische Beschreibung für die Unfreiheit des Menschen darstellt. 3.2.1 Quae supra nos Das Dictum Socraticum177, wonach uns nichts angeht, was über uns ist, wird von Luther in Dsa zunächst in ablehnender Weise angeführt. Erasmus hatte den gesamten Fragenkomplex, ob Gott alles mit Notwendigkeit vorherwisse 175 Vgl. WA 18; 709, 28 – 36/710; 5/711, 4 – 5.16 – 19.37 – 38/714, 31 – 34/747, 25 – 27/752, 12 – 15/ 753, 28 – 33. Davon unterschieden: Das Gerissen-Werden durch den Heiligen Geist: 636, 16 – 18/699, 11 – 13/782, 8 – 11.30 – 35. Sünde als raptum voluntatis: 736, 19. Der Wille aller (Gut und Böse): 747, 32 – 35. 176 Vgl. hierzu im Hinblick auf das Glaubensgeschehen: Joest, Ontologie, 216 – 222. 177 Vgl. zum philosophischen Hintergrund des Diktums: Jüngel, Kurzformel, 207 – 217.

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und -ordne und was in diesem Falle von der Freiheit des Menschen übrigbleibe, unter jenes Verdikt gestellt – zumindest fasst Luther die entsprechenden Dla-Passagen178 unter dieser Kurzformel zusammen.179 Hier freilich erntet sie seine ganze Ablehnung; hier liegt eben für den Reformator die summa Christiana. Positiv kann Luther die Formel gleichwohl in einem anderen Zusammenhang anerkennen, wo nämlich der Mensch übergriffig in die geheimen Ratschlüsse der göttlichen Majestät einzudringen droht. Nun wird man nicht übersehen dürfen, dass die Ablehnung des Diktums an der einen Stelle ihre Bejahung an der anderen sachlich begründet. Denn es ist das für den Christen notwendig zu Wissende, dass nämlich Gott alles Geschehen unveränderlich vorherweiß und vorherwill, was den Christen in der Konsequenz an die Stelle führt, wo sein Nachdenken Halt machen muss. Das meint nicht allein, dass Luther etwa die Grenzen der vernünftigen Glaubenserkenntnis lediglich weiter zöge als Erasmus. Vielmehr scheint die skeptische Haltung des Erasmus auf die Intaktheit des Vernunft-Glaube-Verhältnisses abzuzielen180, wohingegen für Luther an der von ihm bezeichneten Grenze die Vernunft in einen kompromisslosen Konflikt mit dem Glauben gerät. Welche Formulierungen also verwendet Luther für die Dinge jenseits dieser Grenze? Von dem, was in der Regel mit dem Schlagwort deus absconditus benannt wird, kann Luther auch als dem verborgenen und zu fürchtenden Willen Gottes“ reden, der „nicht zu erforschen [ist], sondern mit Ehrfurcht anzubeten als ein in höchstem Grade verehrungswürdiges Geheimnis der göttlichen Majestät, ihm allein vorbehalten und uns verboten […]181.

Ich meine, dass es die präzise Bestimmung ist, wenn man sagt: Über uns und uns nichts angehend ist der unerforschliche Wille Gottes seinem unverständlichen Inhalte nach.182 In zweierlei Weise erscheint der Wille Gottes nach Dsa 178 Vgl. Dla. nach: Schumacher, Willen, 15 – 21 = Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 3 – 10 (I a 4 – I a 10). 179 Vgl. LDStA 1, 233 = WA 18; 605, 20 – 22. 180 „Indem Erasmus diese Fragen ausgeschieden wissen will, sichert er also die Vernunft vor ihrer eigenen Katastrophe, verdeckt mit seinem Veto das, woran sie zuschanden wird. So erhält er gerade mit seinem Respekt vor den Geheimnissen den Traum von der Rationalität des christlichen Glaubens. (Iwand, Bedeutung, 21.). 181 LDStA 1, 404. ”[Ezechiel], qui de praedicata et oblata misericordia Dei loquitur, non de occulta illa et metuenda voluntate Dei ordinantis suo consilio, quos et quales praedicatae et oblatae misericordiae capaces et participes esse velit. Quae voluntas non requirenda, sed cum reverentia adoranda est, ut secretum longe reverendissimum maiestatis divinae soli sibi reservatum ac nobis prohibitum” (WA 18; 684, 34 – 39). 182 „Und daher, wer könnte sich nach jenem gänzlich unerforschlichen und unerkennbaren Willen richten? Es ist genug, nur zu wissen, dass es in Gott einen gewissen unerforschlichen Willen gibt. Was aber, warum und inwiefern er will – danach zu fragen, das zu wünschen, sich darum zu sorgen oder daran zu rühren, ist überhaupt nicht erlaubt, sondern nur zu fürchten und anzubeten.“ „Atque adeo, quis sese dirigere queat ad voluntatem prorsus imperscrutabilem et incognoscibilem? Satis est, nosse tantum, quod sit quaedam in Deo voluntas imperscrutabilis.

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als unerforschlich und nicht hinterfragbar : Zum einen ist es der Heilsratschluss Gottes über den Menschen, den Gott in Freiheit trifft und der darum unergründlich ist. Hier stellt sich Luthers Rede von den Geheimnissen der göttlichen Majestät als Konsequenz des gnadentheologischen Monergismus dar. Denn das sola gratia der Rechtfertigung überliefert den Menschen restlos der freien Erwählung Gottes. Zum anderen ist es aber die menschliche Erfahrung von Leid überhaupt, die das göttliche Wirken als ungerecht erscheinen lässt, wenn man dem „Licht der Natur“ folgt.183 In dieser Weise ist der Anschein von Ungerechtigkeit der göttlichen Weltlenkung eine Folgerung aus dem Wissen um seine Allwirksamkeit. Wohlgemerkt: Die formale Anerkennung sowohl der Allwirksamkeit Gottes als auch der Notwendigkeit auf der Seite des Menschen mutet Luther der Vernunft also durchaus zu.184 Darin besteht ja gerade der Protest gegen die erasmische Zurückhaltung in dieser Angelegenheit, dass Luther meint, ein Christ – und im Grunde jeder Mensch qua natürlicher Vernunft – müsse die Allmacht Gottes und ihre Konsequenzen einsehen. Allein die Einsicht in das Was, Warum und Inwiefern (quid, cur et quantenus) ist der Vernunft nicht zugänglich. Gegen die Feststellung, mit dem supra nos bezeichne Luther den unerklärlichen Willen Gottes, könnte nun allerdings eingewandt werden, dass Luther auch „Gott“185, „Gott in seiner Majestät und Natur“186 oder den „in seiner Majestät verborgenen Gott“187 als das supra nos bezeichnet. Ich sehe

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Quid vero, Cur et quatenus illa velit, hoc prorsus non licet quaerere, optare, curare aut tangere, sed tantum timere et adorare.“ (LDStA 1, 407 = WA 18; 685, 31 – 686, 3). „Siehe, so lenkt Gott diese körperliche Welt in den äußerlichen Dingen, dass du, wenn du das Urteil der menschlichen Vernunft ansiehst und ihm folgst, gezwungen wärst zu sagen: Entweder es gibt keinen Gott oder Gott ist ungerecht, wie jener [sc. Ovid] sagt: ,Oft werde ich verführt anzunehmen, es gebe keine Götter.‘ […] Und dennoch wird diese Ungerechtigkeit Gottes – außerordentlich wahrscheinlich und mit solchen Argumenten vorgeführt, denen keine Vernunft oder das Licht der Natur widerstehen kann – ganz leicht aufgehoben durch das Licht des Evangeliums und die Erkenntnis der Gnade.“ „Ecce sic Deus administrat mundum istum corporalem in rebus externis, ut si rationis humanae iudicium spectes et sequaris, cogaris dicere, aut nullum esse Deum, aut iniquum esse Deum, ut ille ait: Sollicitor nullos saepe putare Deos. […] Et tamen haec iniquitas Dei vehementer probabilis et argumentis talibus traducta, quibus nulla ratio aut lumen naturae potest resistere, tollitur facillime per lucem Euangelii et cognitionem gratiae“. (LDStA 1, 653 – 655 = WA 18; 784, 36 – 39. 785,12 – 15). Vgl. u. Anm. 223. „Zwei Dinge sind Gott und die Schrift Gottes. Und zwar nicht weniger, als auch Schöpfer und Geschöpf zwei Dinge sind. Niemand zweifelt daran, dass in Gott vieles verborgen ist, was wir nicht wissen.“ „Duae res sunt Deus et Scriptura Dei, non minus quam duae res sunt, Creator et creatura Dei. In Deo esse multa abscondita, quae ignoremus, nemo dubitat“ (LDStA 1, 235 = WA 18; 606, 11 – 13). LDStA 1, 405. „Aliter de Deo vel voluntate Dei nobis praedicata, revelata, oblata, culta, Et aliter de Deo non praedicato, non revelato, non oblato, non culto disputandum est. Quatenus igitur Deus sese abscondit et ignorari a nobis vult, nihil ad nos. Hic enim vere valet illud: Quae supra nos, nihil ad nos. […] Relinquendus est igitur Deus in maiestate et natura sua, sic enim nihil nos cum illo habemus agere, nec sic voluit a nobis agi cum eo.“ (WA 18, 685, 3 – 7.14 – 15). LDStA 1, 405. „Deus absconditus in maiestate“ (WA 18; 685, 21).

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Allwirksamkeit Gottes und affektives Getriebensein des Menschen

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hier jedoch keinen Widerspruch. Denn sofern Gottes unhinderbarer, allwirksamer Wille eben Gottes Natur ist188, kann man in gleicher Weise sagen, dass, wo Gott „nicht gepredigt, nicht offenbart, nicht dargeboten, nicht verehrt“189 wird, eben in präzisem Sinne Gottes unhinderbarer, allwirksamer Wille unbekannt und verborgen bleibt; und zwar nach seiner materialen Seite, die dem Menschen ungerecht und unverständlich erscheinen mag. Hier liegt nun der Grund, warum Luthers festes Bestehen darauf, dass es eine wesentliche Frage für den christlichen Glauben sei, „ob Gott etwas zufällig vorherweiß und ob wir alles mit Notwendigkeit tun“190, warum also Luthers Verweigerung, mit Erasmus an dieser Stelle einem ignorabimus das Wort zu reden, direkt zur positiven Aufnahme des Quae supra nos, nihil ad nos führt. Tatsächlich hängt für Luther am Wissen um Gottes Macht der gesamte Glaube. Denn hier geht es um die grundlegende Frage, was Gott tut und was ich tun kann. Mit dem Wissen um das Dass der Allwirksamkeit Gottes nimmt der Glaube wahr, dass Gott Gott ist und dass der Mensch Mensch ist.191 Nun stellt aber der Glaube an Gottes Allmacht den Menschen vor Erfahrungen, die ihm ungerecht erscheinen und in denen er geneigt ist, Gottes Güte anzuzweifeln.192 Hier führt der Glaube in die Hiob’sche Anfechtung. Jedoch ist ein von Gott

188 Vgl. WA 18; 615, 21 – 30.33 – 34. 189 Vgl. o. Anm. 186. 190 LDStA 1, 249. „[…] an Deus aliquid praesciat, et an omnia faciamus necessitate […].“ (WA 18; 614, 27 – 28). 191 „Es geht uns doch um die Frage, was denn nun das freie Willensvermögen kann, was es an sich geschehen lässt, wie es sich zur Gnade Gottes verhält. Wenn wir das nicht wissen, werden wir überhaupt nichts über christliche Angelegenheiten wissen und wir werden schlimmer dran sein als alle Heiden. Wer dafür kein Gespür hat, der soll bekennen, dass er der größte Feind der Christen ist. Denn wenn ich nicht weiß, was, wie weit und wie viel ich vermag und tun kann gegenüber Gott, wird mir genauso unsicher und unbekannt bleiben, was, wie weit und wie viel Gott an mir vermag und tun kann. Denn Gott wirkt alles in allem. Kenne ich aber die Werke und die Macht Gottes nicht, dann kenne ich Gott selbst nicht. Kenne ich Gott nicht, kann ich ihn verehren, loben, ihm Dank sagen und dienen. […] So siehst Du, dass diese Streitfrage der eine Teil von all dem ist, was das Christliche ausmacht; daran hängen und damit stehen die Selbsterkenntnis sowie die Kenntnis und Ehre Gottes auf dem Spiel.“ „Nam hoc agimus, ut disquiramus, quid nam possit liberum arbitrium, quid patiatur, quo modo se habeat ad gratiam Dei. Haec si ignoraverimus, prorsus nihil Christianarum rerum noscemus, erimusque omnibus gentibus peiores. Qui hoc non sentit, fateatur sese non esse Christianum. Qui vero reprehendit vel contemnit, sciat sese esse summum Christianorum hostem. Nam si ignoravero, quid, quatenus et quantum ego possum et faciam erga Deum, pariter incertum et ignotum mihi erit, quid, quatenus et quantum Deus in me potest et faciat, cum Deus operetur omnia in omnibus. Ignoratis vero operibus et potentia Dei, Deum ipsum ignoro. Ignorato Deo, colere, laudare, gratias agere, servire Deo non possum, […]. Ita vides, hoc problema esse partem alteram totius summae Christianarum rerum, in quo pendet et periclitatur cognitio suiipsius, cognitio et gloria Dei.“ (LDStA 1, 248 f = WA 18; 614, 4 – 14.16 – 18). Vgl. WA 18; 618, 19 – 620, 12. 192 Überhaupt lässt sich m. E. die Rede vom Deus absconditus als Ergebnis der Summe von Glauben an den Deus omnipotens und Leiderfahrungen verstehen.

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Luthers Position

Rechenschaft forderndes Eindringen in seinen Ratschluss wiederum die Nicht-Anerkennung des Gottseins Gottes – Unglaube! Das ist es, was die Vernunft weder fassen noch ertragen kann. Das hat bei so vielen an Geist hervorragenden Männern, jahrhundertelang anerkannt, Anstoß erregt. Hier fordern sie, dass Gott nach menschlichem Recht handele und das tue, was ihnen selbst richtig erscheint. Oder er solle aufhören, Gott zu sein. Nichts nützen ihm die Geheimnisse der Majestät, er soll Rechenschaft ablegen, warum er Gott ist oder warum er will und tut, was keinen Anschein von Gerechtigkeit hat. Als ob du einen Flickschuster oder einen Gürtelmacher auffordertest, sich vor Gericht zu verantworten! […] [E]r [sc. Gott] muss zur Ordnung gerufen werden. Ihm müssen Gesetze vorgeschrieben werden, dass er niemanden verdammt, außer, er hätte das nach unserem Urteil verdient.193

Die vertrauenslose Kritik am Willen Gottes will nicht wahrhaben, dass Gott Gott sei, sondern will ihn vor die Instanz der Vernunft zitieren. Der Deus absconditus – man könnte auch sagen: die voluntas Dei abscondita – ist in dieser Weise der Widerspruch gegen das Bestreben der Vernunft, ihn zu einem deus coram hominibus zu machen.194 Darum muss Luthers Rede vom unerkennbaren Willen Gottes angesehen werden als die Linie, an der Gottes Freiheit verteidigt wird. Dieses Reservat der göttlichen Freiheit beinhaltet dieselben Feststellungen, die bereits der erste Abschnitt festgehalten hatte: dass Gottes Wille durch den Menschen weder zu hindern oder zu beeinflussen (effektive Freiheit), noch zu beurteilen (iuridische Freiheit) ist. Doch intuitiv will eine Schwierigkeit mit diesem Verständnis des supra nos sich nach wie vor nicht verabschieden: dass nämlich die dem Menschen Notwendigkeit auferlegende Allmacht Gottes eben keinen Zwang bedeutet. 193 LDStA 1, 513. „Hoc est illud, quod ratio neque capere neque ferre potest, hoc offendit tot viros excellentes ingenio tot soeculis receptos. Hic expostulant, ut Deus agat iure humano et faciat quod ipsis rectum videtur, aut Deus esse desinat. Nihil illi profuerint secreta maiestatis, rationem reddat, quare sit Deus, aut quare velit aut faciat, quod nullam speciem iustitiae habeat, ac si Sutorem aut Zonarium roges iudicio se sistere. […] [R]edigendus est in ordinem et praescribendae illi leges, ut non damnet quenquam, nisi qui nostro iudicio id meruerit.“ (WA 18; 729, 13 – 730, 2). 194 „Der Unterschied [sc. zwischen Erasmus und Luther] liegt darin, daß wir da, wo Luther Halt gebietet, vor den secreta maiestatis Dei d. h. vor dem Willen Gottes stehen, denn Gottes Majestät ist die Unergründlichkeit seines verwerfenden und erwählenden, sich offenbarenden und sich verbergenden verstellenden Willens. Luthers Mahnung zur Reverenz ist nichts anderes als der Hinweis auf den Ort, an dem wir stehen. Diesen Geheimnissen gegenüber muß die Vernunft zuschanden werden, hier wird der unehrerbietige Querulant still, an die Stelle des auf die Gottgleichheit pochenden Warum der Vernunft tritt Reverenz und Adoration. Wo sollte sonst unsere Vernunft lernen, solches Warum zu vergessen, als da, wo sie Wirklichkeiten als von Gottes Güte und Weisheit getragen anerkennen muß – denn das heißt sie anbeten – die doch ihr, der ratio humana, als Grausamkeiten und Sinnlosigkeiten erscheinen.“ (Iwand, Bedeutung, 20).

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Allwirksamkeit Gottes und affektives Getriebensein des Menschen

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Hier regt sich doch immer wieder die inkompatibilistische Intuition gegen Luthers Unterscheidung von Unveränderlichkeit und Zwang. Ist Zwang als ein äußeres Einwirken auf die Person zu verstehen195, so ginge in der Tat die Feststellung, dass der Mensch das Getrieben-Sein seines Willens durch die Wirksamkeit Gottes nicht als Zwang erlebt, für die Erklärung dessen, was Notwendigkeit der Unveränderlichkeit bei Luther meint, nicht weit genug. Eine faktische Festlegung des Willens durch der Person äußerlich bleibende Faktoren würde ja nicht ihren Zwangscharakter verlieren, nur weil die Person diese externe Festlegung nicht wahrnähme. Eben so argumentieren Teile der Neurobiologie: Wir sind von außerhalb determiniert, ohne es zu wissen und darum kann von Freiheit keine Rede sein. Damit wird aber insinuiert, der Gegenbegriff zur Freiheit sei neuronaler oder naturgesetzlicher Zwang. Auch die Schwierigkeit, Luthers Begriff der necessitas immutabilitatis anders zu deuten als als Zwang, könnte darin begründet liegen, dass Gottes Allmacht als externer Bestimmungsfaktor für die menschlichen Willensakte verstanden wird. Denn vordergründig wird in beiden Lagern gesagt, dass etwas außerhalb des Menschen ihn festlege – seien es die unverrückbar in Geltung stehenden Naturgesetze oder die Allmacht Gottes. Es wäre also für eine tiefere Unterscheidung zwischen Notwendigkeit der Unveränderlichkeit und Notwendigkeit des Zwanges viel gewonnen, wenn Gottes allgemeine Wirksamkeit nicht allein als von außen auf den Menschen einwirkend, sondern gerade als in des Menschen Innerstem wirkend begriffen würde. Einen ersten Hinweis darauf, dass Gottes Allwirksamkeit nicht am, sondern im Menschen wirklich wird, hatte bereits Luthers Beschreibung der cooperatio zwischen Geschöpf und Schöpfer (wie auch zwischen neuem Geschöpf und Schöpfer im Reich Gottes) gegeben.196 So bleibt nach Luther das Geschöpf rein passiv (nihil facit aut conatur) in (re-)creatio und conservatio, wohingegen das Zusammenwirken von Gott und Mensch als ein Wirken Gottes im Menschen aber nicht ohne den Menschen beschrieben wird. Wechselt man also erneut den Blickwinkel und nimmt den Menschen unter die Lupe, so stellt sich die Frage, ob es etwas im Menschen gibt, was ihm selbst in ähnlicher Weise wie der allwirksame Wille Gottes verstellt und verborgen ist; etwas, was seinerseits die Unfreiheit des menschlichen Willens begründete. Gibt es so etwas wie einen homo absconditus? Wir betrachten das Affektleben des Menschen.

195 Das psychologische Phänomen eines ,inneren Zwanges‘ scheint mir kein Gegenargument gegen die Definition von Zwang als externe Einwirkung auf die Person. Innerer Zwang wäre vielmehr zu beschreiben als Einwirkung auf das, was die Person von sich aus in ihrem Kern ,wirklich‘ oder ,eigentlich‘ will. Nur darum wird hier Zwang erlebt, weil die Person bestimmte Faktoren sich nicht zurechnet oder sich nicht mit ihnen identifiziert. 196 S.o. 3.1.3.3.

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Luthers Position

3.2.2 Quae intra nos Fragt man nach der Beurteilung der Affekte innerhalb der Anthropologie des Erasmus, so kann diese kaum mehr als neutral bezeichnet werden. Wenn Erasmus auch an einer Stelle des Enchiridions offen lässt, wie die Affekte zu bewerten seien, ob man hier den Stoikern oder den Peripatetikern folgen solle, so betont er dort gleichwohl die übereinstimmende Meinung, „daß man nach der Vernunft und nicht nach den Begierden leben soll“197. Diejenigen Passagen, in denen Erasmus zur Sünde referiert, zeichnen dann auch ein grundsätzlich negatives Bild der Affekte: Der Körper mit seinen sinnlichen Affekten war schöpfungsgemäß in Eintracht mit den geistigen Tugenden und so der Lenkung durch die Vernunft unterworfen. Der status corruptionis zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass das Fleisch – und das heißt für Erasmus: der Leib mit seinen Leidenschaften des appetitus sensitivus – gegen die Königin Vernunft revoltiert, so dass die ursprüngliche Harmonie von Seele und Leib zur discordia verkehrt und die Herrschaft der Vernunftseele über die sinnlichen Affekte gestört ist. Damit ist aber der paulinische Gegensatz von Fleisch und Geist in den anthropologischen Dualismus von Vernunft und Affekt eingefasst.198 Die Sünde tritt folglich allein in den gröberen Affekten (Luther benutzt hierfür : crassiores affectus) bzw. in deren Dominanz über die Vernunft zutage. Wo schließlich dem Enchiridion zufolge die Sündhaftigkeit des Menschen sich in der Trias Blindheit, Fleisch und Schwäche ausdrückt, auch da gelten gerade die Affekte als „Ablenkung“ vom Weg der Tugend. Die Leidenschaften des Fleisches lenken den Willen nämlich vom sittlich Guten zum sinnlich Angenehmen. Und die infirmitas des Menschen muss bei Erasmus ebenfalls als Schwäche gegenüber affektiven Regungen verstanden werden: Das Abweichen von der Tugend geschieht dem Enchiridion zufolge ausdrücklich dann, wenn Ekel oder Widerwille (taedium) oder Versuchung (tentatio) – also die Grundaffekte Lust/Unlust – den Menschen überwältigen. Im Ganzen verdeutlicht Erasmus’ Bestimmung der Affekte, dass diese die Freiheit des Menschen insofern bedrohen, als sie in unstatthafter Weise auf den unverrückbar guten Geist des Menschen einwirken. Es geht also mit jener Eingrenzung des Affektbegriffs auf einen anthropologischen Teilbereich – nämlich den Leib – ein Dualismus einher, nach dem die Affekte als Antagonisten der gleichsam intakt gebliebenen Vernunfttugenden gelten. Darin be197 Enchiridion nach: Welzig, Handbüchlein, 40; 8 – 9. „[…] ratione vivendum, non affectu.“ (Enchiridion hrsg. v. H. Holborn, 44; 24 – 25). 198 „Im Sinne der Polarität bzw. der durch die Sünde bewirkten realen Entgegensetzung von Vernunft und Affekt, partialisiert Erasmus den paulinischen Totalsaspekt des Fleisches, und schränkt dessen sündige Macht auf die sinnlichen Affekte ein bzw. setzt die paulinische Antithese von Fleisch und Geist mit der von Vernunft und Affekt gleich.“ (zur Mühlen, Affektenlehre, 109).

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Allwirksamkeit Gottes und affektives Getriebensein des Menschen

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gründet liegt sodann eine deutlich weniger radikale Harmatiologie, als man sie bei Luther festzustellen gewöhnt ist. Denn hier zeigt sich, dass Sünde für Luther eine den ganzen Menschen inklusive seiner kognitiven Fähigkeiten betreffende Qualität ist, eben weil der Unglaube im Herzen – dem Personkern! – als gottloser Affekt sitzt.199 Wenn im Folgenden der Blick auf die Affektanschauung Luthers gelenkt wird, so ist nicht zu leugnen, dass der statistische Befund für die Wortgruppe „Affekt“ in Dsa als gering angesehen werden muss. Es kann sich daher im Folgenden weniger um eine umfassende Darstellung einer Affektenlehre Luthers, als vielmehr um einige bescheidene Anmerkungen handeln. (1) Affektive Erfahrung ist der Modus der menschlichen Selbsterfahrung in Begegnung mit anderem. In seiner Untersuchung zum Affektbegriff Luthers in dessen erster Psalmenvorlesung beschreibt Günther Metzger zunächst als allgemeine Bestimmung der Affekte ihre Rolle in der Welt- und Selbsterfahrung des Menschen. Affekt ist einmal eine leidenschaftliche Bestimmtheit des Menschen, in welcher Erfahrung stattfindet. Erfahrung des Selbstseins im Unterschied oder Gegensatz zu anderem Seiendem, das in vielfältiger Form begegnen kann: Erfahrung also im Sinne von Erleiden oder Gestimmtwerden. Auf der anderen Seite erfährt der Mensch sich selbst im Affekt unreflektiert als wollendes, vitales Wesen, das leidenschaftlich Antwort gibt auf die Frage, die das außer ihm Seiende in jeder Begegnung an ihn stellt. Der Mensch kommt sich im Affekt so zur Erfahrung, daß er zugleich bestimmter Beziehungen zu einem außer ihm Seienden innewird.200

Dadurch, dass der Mensch die ihn umgebende Wirklichkeit nicht anders wahrnehmen kann als in einer affektiven Reaktion auf sie, kann er sich auch seiner selbst und seines Soseins, insofern er stets in der Wechselwirkung mit der ihn umgebenden Welt steht, nur bewusst werden als immer schon affektiv bestimmt. Sofern der Mensch also gar nicht ohne Affekte sein kann, weil sich in ihnen das Sein des Menschen in und mit der Welt realisiert, ist es auch nicht möglich, die Affekte als einen mehr oder weniger beherrschbaren Teilbereich des Seelenlebens zu verstehen, denn sie sind der Reflex unseres Bestimmtseins durch die Welt. Man mag dieser – übrigens bei Melanie Beiner präfigurierten – Lutherdeutung in kritischer Weise einen „Antirationalismus“ vorwerfen und bemängeln, hier bleibe die menschliche Fähigkeit, die eigenen Wünsche und Präferenzen rational zu reflektieren, unterbelichtet.201 Jedoch scheint mir der 199 Dass diese unterschiedliche Einschätzung der Affekte sich auch im Verständnis der Gesetzeswirkung zeigen muss, sollte oben (3.1.4.1.1) deutlich geworden sein. 200 Metzger, Glaube, 9. 201 So Klein, Willensfreiheit, 432ff: „So ist etwa darauf zu verweisen, daß die selbstreflexive Struktur bestimmter Selbstbestimmung auch auf die eigenen Wünsche, Präferenzen usw. kritisch zurückkommen können muß.“ Weiter schreibt Klein unter Betonung der Bedeutung von Gründen für ein rationales Handeln: „Das, was als persönliches Gut aufgefaßt wird, ist

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Luthers Position

Vorwurf des Antirationalismus nicht zutreffend. Er wäre angebracht, wenn Luthers ,Psychologie‘ weiterhin in scholastischen Bahnen verliefe, Luther somit den affektual-voluntativen Seelenvermögen eine lediglich graduelle Höherbewertung gegenüber den kognitiven zuspräche. Dies ist aber nicht der Fall.202 Ist der Mensch nämlich in seinem Wesenskern gar nichts anderes als ein von Affekten beanspruchtes Herz, so gilt, dass er selbst keinen Einfluss auf diesen Bereich gewinnen kann, und überhaupt nur durch die Affekte der ist, der er ist – also auch der, der mit Vernunft umgeht.203 Damit ist durchaus nicht ausgeschlossen, dass der durch ratio ausgezeichnete Mensch affektiv berührt wird von Inhalten, die er zunächst rational erfasst, allerdings besteht auch dann kein Anlass, die Vernunft als affektfrei-neutral anzusehen.204 Vielmehr jedenfalls nicht unabhängig von den zur Verfügung stehenden Gründen.“ (A.a.O., 434). Ich meine hingegen, dass sowohl die Neurobiologie als auch die Theologie genau umgekehrt formulieren könnten: Die zur Verfügung stehenden Gründe sind jedenfalls nicht unabhängig von dem, was als persönliches Gut aufgefasst wird. Wo etwa für Klein durch rationale Reflexion Gesolltes und Gewolltes auseinander treten, da wäre mit Luther einzuwenden, dass a) der Konflikt von Gewolltem und Gesolltem eine affektive Bejahung des Gesollten im Subjekt vorauszusetzen scheint, und dass b) außerdem das Auseinandertreten von Gesolltem und Gewolltem eine Beschreibung der Erkenntnis der Unfreiheit unter dem Gesetz ist. In ihrer ebenfalls dezidiert rationalistisch orientierten Arbeit schreibt Christine Zunke für den Geltungsbereich des „empirischen Subjekts“: „Menschliche Vernunft ist nicht ohne Fühlen – nicht ohne sinnliche Affektation und nicht jenseits innerer Affekte – möglich, da ihr Ziel und ihr Inhalt an die Sinnlichkeit geknüpft sind. Umgekehrt sind Gefühle beim Menschen (auch) Reaktionen auf die rationale Verarbeitung und Bewertung von Ereignissen“; Zunke fügt aber sofort hinzu: „zudem ist ein Gefühl isoliert davon, dass es ein Bewusstsein dieses Gefühls gibt, gar nicht vorstellbar.“ (Zunke, Kritik, 72). Mit dieser letzten Bemerkung unterstreicht sie einerseits die logische Differenz von Vernunft und Gefühl, bindet andererseits aber – entgegen meinem Verständnis – die Existenz von Gefühlen an die Existenz „vernunftbegabter Sinnenwesen“ (vgl. a. a. O., 73). 202 Gerhard Ebeling im Blick auf das Gottesverhältnis: „Luther bricht […] mit dem [sc. scholastischen] Modellcharakter des rationalen Erkenntnisvorgangs für die Struktur des Gottesbezugs. Um diesen Bruch mit der scholastischen Denkweise zu bestimmen, wäre es unzureichend, auf die durchaus zutreffende Schwerpunktverlagerung vom Kognitiven in den Willen oder den Affekt hinzuweisen. Solange dies nur auf eine Umdisponierung innerhalb der Anthropologie der Seelenvermögen hinausläuft, ist der entscheidende Punkt nicht getroffen.“ (Ebeling, Lutherstudien II, 269). 203 „In dem Versuch, sein Leben einheitlich zu verwirklichen, stößt der Mensch darauf, daß er in der Grundschicht seines Lebens auf ein extra se angelegt ist. Wohl kann es möglich sein, alle Lebensäußerungen: die Empfindungen und Stimmungen, das Wünschen und Begehren, Taten und Verzicht auf Taten, Gedanken, Worte und Entschlüsse usw., zu begreifen als Ausdruck eines persönlichen Lebensgefühls. Aber gerade weil in diesem Innersten und Eigensten sich niemand mehr selbst gegenübertreten kann, bleibt die Faktizität des so oder so beschaffenen Menschseins das Letzte, was ein Mensch über sich erkennen kann.“ (Metzger, Glaube, 184). 204 Vgl. dazu meine Überlegungen zur claritas scriptura duplex (3.2.2.) sowie Joest, Ontologie, 225: „Das Wort ist geradezu ontische Lebensmacht, die den Menschen in dem (seiner eigenen ,gewollten‘ Einwirkung gar nicht zugänglichen) Grundtrieb seines Wesens ergreift und verwandelt. Das ist für Luther natürlich kein magischer Vorgang, als wirke das Wort wie eine Zauberformel Verwandlung. Es ist ihm ja eben um das Hören des Wortes als Anrede zu tun; ein Vorgang also, der durchaus in der Helle des Personbewußtseins geschieht, der den Charakter

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Allwirksamkeit Gottes und affektives Getriebensein des Menschen

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arbeitet sie bereits in einem affektiv bestimmten Kontext. Ja, womöglich ließe sich sogar sagen, dass gerade die Art des Affiziert-Seins in einer Sache über Scharf- und Stumpfsinn des Menschen entscheidet. Denn wer diese Sache [sc. die Frage, was das liberum arbitrium kann und was nicht] nicht ernst nimmt und nicht von dem Gegenstand einigermaßen berührt wird, wer vielmehr im Herzen ganz abgewendet ist, Abscheu davor empfindet, kalt bleibt oder Übelkeit empfindet, wie sollte der nicht allenthalben Absurdes, Hohles und Widerstreitendes sagen? Er behandelt doch den Gegenstand, als wäre er betrunken oder würde schlafen und würde zwischen Schnarchen ,Ja‘, ,Nein‘ rülpsen, während verschiedene Worte durch seine Ohren rauschen. Daher fordern die Rhetoren ein Ergriffensein bei dem, der einen Gegenstand behandelt. Und noch weit mehr fordert die Theologie ein solches Ergriffensein, das wachsam, scharf, eifrig, klug und entschlossen macht.205

In der Grundschicht seines Selbst, in seinem Herzen, also nicht selbstbestimmt sein zu können, macht gerade die Unfreiheit des Menschen nach Luther aus. In dieser Hinsicht konnte Luther „Herz“, „Wille“ und „Affekt“ synonym verwenden, wie Metzger an den Dictata feststellt: Das Herz ist Sitz der affektiven Kräfte. Darum kann cor an einigen Stellen mit affectus bzw. voluntas gleichgesetzt werden. Daneben hat cor die umfassende Bedeutung von Mitte des Menschen, Kern seines Wesen, was übrigens auch an der sachlichen Nähe von cor und conscientia ersichtlich wird.206 einer Begegnung hat. Was aber in dieser Begegnung des Wortes und durch sie hindurch verwirklicht wird, transzendiert das Haben eines geistigen Inhaltes im Bewußtsein (sowenig es dieses ausschließt). Aus der Wortbegegnung heraus geschieht, in der Preisgabe an die Macht des Wortes, die Verwandlung des ,Seins‘ des Menschen in seiner affektiven Grundbewegung.“ 205 LDStA 1, 363. „Qui enim hanc rem non habet seriam neque caussae aliquanto afficitur, sed prorsus animo alienatus tedet vel friget, vel nauseat, quomodo is non passim diceret absurda, inepta, pugnantia, dum velut aebrius vel dormitans caussam agat interque stertendum ructuat Est, Non, dum variae voces auribus eius obstrepunt? Ideo Rhetores exigunt affectum in actore caussarum, multo magis Theologia talem exigit qui vigilem, acrem, intentum, prudentem et strenuum reddat.“ (WA 18; 668, 21 – 669, 6). 206 Metzger, Glaube, 86. Vgl. auch: A.a.O., 178: „Es zeigt sich, daß der Mensch als Wollender immer aus einer Grundschicht lebt, die ihm in eigentümlicher Weise entzogen ist. Alles aktuelle Wollen ist eingebettet in den Strom vitaler Lebendigkeit, in eine Fülle von Gefühlen, Empfindungen, Regungen, Begehrungen, Gebundenheiten. Die Affekte sind Kriterium für die Richtung des Wollens, sie zeigen, wie und woraufhin der Mensch in seinem Lebensvollzug tatsächlich lebt. Daß man über die Affekte zuletzt nicht verfügen kann – hier stellt sich für Luther im Ernst erst das Problem des Willens. Hier geht es nicht mehr um den Akt, sondern um das Sein des Menschen.“ Zur begrifflichen Nähe von cor und conscientia verweise ich außerdem auf die Bemerkung Emanuel Hirschs: „[D]as Gewissen ist bei Luther seinem Grundwesen nach eine Macht, die der Mensch im Vernehmen seiner selbst erleidet. Er hat es nicht in der Gewalt, die Gewissensaffekte zu modulieren: sie nehmen ihn wider Willen dahin und regieren seine Seele. Gewissensreligion im Sinne Luthers stellt das Gottesverhältnis ins Erleiden. So kommt es bei dem Verständnis des wahren Wesens des Menschen als Gewissen bei Luther von selbst dahin, daß er, um den nicht ganz passenden Ausdruck zu brauchen, ethisch-

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Luthers Position

Als zweiter Punkt ist festzustellen: (2) Das willentliche, objektbezogene Streben des Menschen ist affektiv bestimmt. Darin liegt einerseits begründet, dass (a) der Mensch seinen Willen nicht eigenständig ändern kann. Andererseits ist aber in der Bestimmtheit allen Wollens durch Affekte der Grund zu sehen, warum (b) der endliche Wille von außerhalb seiner selbst passiv wandelbar ist. (a) Affektiv determinierte Willensregungen sind nicht aktiv wandelbar. In der „kurzen Betrachtung“ des „Paradox“, dass alle menschlichen Handlungen notwendig und nicht etwa kraft des liberum arbitrium geschehen,207 expliziert Luther die Notwendigkeit der Unveränderlichkeit (necessitas immutabilitatis) und bringt dabei ganz allgemein und keineswegs auf die Gottesrelation beschränkt die affektive Willensstruktur des Menschen zu Wort: Befrage die Erfahrung, wie wenig die zu überzeugen sind, die irgendeiner Sache leidenschaftlich anhängen. Andererseits: Wenn sie davon abgehen, dann gehen sie unter Gewalteinwirkung davon ab oder, weil sie sich von etwas anderem größeren Vorteil versprechen, niemals aber freiwillig. Wenn sie aber nicht berührt sind, lassen sie die Dinge gehen und geschehen, wie immer es geht und geschieht.208

Dass der Wille sich selbst nicht ändern kann (voluntas sese mutare et vertere alio non possit), begründet Luther hier mit dessen affektiver Festlegung auf ein äußeres Objekt. Ein Abweichen von der angestrebten Sache kann daher entweder nur durch Gewalt geschehen, wobei in diesem Fall die Handlung nach außen erzwungen wäre (ad extra cogatur aliud facere per vim), der inwendige Wille aber beständig bliebe bzw. nun als Widerwille (indignatio) bestünde. Im anderen Falle würde der Wille geändert durch ein äußeres Objekt, welches vorzüglicher erscheint als das bisherige (maiore alterius rei com[m]odo), somit größere Attraktion ausübt. Aber auch hierbei handelt es sich nicht um eine aktive Selbstausrichtung des Willens und deshalb auch nicht um Willensfreiheit (nunquam libere caedunt). Überhaupt wäre an eine selbstbestimmte Abkehr von einem Willensobjekt nur dann zu denken, wenn man den Affekt als eine psychologische Potenz verstünde, die zu lenken der Mensch zumindest im Ansatz fähig wäre. Bezieht sich aber der Affekt nicht aktiv auf religiöser Determinist wird: nicht umsonst hat er die göttliche Alleinwirksamkeit als im ursprünglichen Wissen des Menschen von Gott selbstverständlich bejaht verstanden.“ (Hirsch, Lutherstudien I, 134). 207 „Das andere Paradox: Was auch immer von uns aus geschieht, geschieht nicht aus freiem Willensvermögen, sondern aus reiner Notwendigkeit, wollen wir kurz anschauen.“ „Alterum paradoxon, Quicquid fit a nobis, non arbitrio libero, sed mera necessitate fieri, breviter videamus“. (LDStA 1, 289 = WA 18, 634, 14 – 15). 208 LDStA 1, 290 f. „Interroga experientiam, quam sint impersuasibiles, qui affecti aliqua re haerent. Aut si caedunt, vi vel maiore alterius rei comodo caedunt, nunquam libere caedunt. Si autem affecti non sunt, sinunt ire et fieri, quecunque eunt ac fiunt.“ (WA 18; 634, 33 – 36).

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ein Objekt, sondern wird vielmehr vom Objekt beansprucht, so ist auch ersichtlich, dass der Mensch hier keine eigene Wahl hat.209 Das angeführte Luther-Zitat nimmt noch einen weiteren Fall in den Blick, der ebenfalls nicht mit Freiheit zu verwechseln ist. Der Mangel an intentionaler „Beharrlichkeit ist umgekehrt ein Zeichen von fehlendem Willen, und nicht etwa Ausdruck der Freiheit im Sinne der Veränderlichkeit des Willens. […] Luther nimmt damit Bezug auf das Phänomen der Willenlosigkeit, das er empirisch als Haltung der Gleichgültigkeit beschreibt“210. Eine solche Gleichgültigkeit kommt nach Luther gerade denen zu, die gar nicht von einer Sache affiziert sind (Si autem affecti non sunt, sinunt ire et fieri).211 Wohlgemerkt: Luther hat hiermit im Sinn, dass in Bezug auf manche Dinge oder Sachverhalte der Mensch gar keinen Willen entwickelt, weil er gar nicht affektiv beansprucht, angesprochen wird. Nicht also tritt hier ein gleichgültiger Wille – was für Luther ein Widerspruch in sich wäre – auf, sondern eben kein Wille. (b) Affekte sind passiv wandelbar. Obwohl Luther die arbitrium-Definition des Erasmus auch darin kritisiert, dass ihr Freiheitsbegriff genaugenommen lediglich eine Veränderlichkeit oder Wandelbarkeit des Willens meine und Freiheit damit unterbestimmt sei212, bestreitet der Reformator seinerseits keineswegs, dass der Wille nicht doch wandelbar sei – nur eben nicht per se, wie Erasmus meinte, sondern ab extra. Dass der Wille ab extra – nämlich immer dann, wenn eine Affektänderung bewirkt wird – wandelbar ist, gesteht Luther ein. So bezeichnet er das arbitrium mit der scholastischen Tradition als dispositive Qualität oder passive Eignung213, womit er gewiss kein ruhendes Vermögen meint, sondern die 209 Metzger, Glaube, 118, hält dies im Hinblick auf das „theologische Objekt“, also auf das Wort Gottes fest: „Ähnlich wie beim Begriff des intellectus wird also die Eigenart des Affekts vom theologischen Objekt her bestimmt und nicht von der psychologischen Potenz.“ Vgl. Schwarz, Fides, 182. 210 Beiner, Intentionalität, 57. 211 In diesem Sinne, die Affekte als Grund der Berharrlichkeit zu verstehen, nennt Luther den Affekt andernorts „Geisteskraft“ (robur animi) und bezeichnet damit eine tugendhafte Willensstärke. Vgl. WA 18; 643, 30. 212 „Denn die Bezeichnung freies Willensvermögen bezeichnet nach dem Urteil aller, die sie hören, im eigentlichen Sinne das, was es vermag und tut gegenüber Gott, nach Belieben, durch kein Gesetz, durch keinen Befehl gehindert. […] Richtiger aber wäre, von einem wechselhaften oder veränderbaren Willensvermögen zu sprechen. […] Aber damit wir nicht den Eindruck erwecken, wir würden uns am Wortgefecht berauschen: Wir wollen das für den Moment dem Missbrauch durchgehen lassen – einem bedeutenden und gefährlichen allerdings –, dass freies Willensvermögen und wechselhaftes Willensvermögen dasselbe sein sollen.“ „Quod liberi arbitrii vox omnium aurium iudicio proprie id dicitur, quod potest et facit erga Deum quaecunque libuerit, nulla lege, nullo imperio cohibitum. […] Rectius vero Vertibile arbitrium vel mutabile arbitrium diceretur. […] Sed ne verbi pugna delectari videamur, donemus interim id abusui licet magno et periculoso, ut idem sit liberum arbitrium, quod vertibile arbitrium.“ (LDStA 1, 347 = WA 18; 662, 7 – 9.14 – 15.21 – 23). 213 Vgl. LDStA 1, 293 = WA 18; 636, 19 – 20. Hier freilich gemeint als Fähigkeit, vom Heiligen Geist

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Luthers Position

Fähigkeit, bewegt zu werden. Ist der Wille auf ein Objekt hin affektiv festgelegt und darum beharrlich, so tritt eine Willensänderung allein durch Affektänderung ein. Diese Wandelbarkeit der Affekte kennzeichnet den Menschen im Gegensatz zum unwandelbaren Gott. Wir wissen sehr wohl, dass Gott nicht liebt oder hasst wie wir, weil wir ja in veränderlicher Weise sowohl lieben als auch hassen, er aber nach seiner ewigen und unveränderlichen Natur liebt und hasst. In dieser Weise treffen auf ihn Akzidenzien und Affekte nicht zu.214

(3) „Affekt“ hat die Bedeutung einer den ganzen Menschen betreffenden Bestimmung und kann in dieser Weise bei Luther auch zum Ausdruck des menschlichen Gottesverhältnisses werden.215 Diese Feststellung hängt mit Punkt (1) zusammen, nimmt aber ein neues Phänomen zur Betrachtung hinzu. Der Mensch ist in seinem Innersten immer schon affektiv bestimmt. Nun sollte von daher auch einsichtig sein, dass damit keineswegs gemeint ist, das Herz als Ort der Affekte sei eine isolierte Provinz im Menschen. Wenn vielmehr das Herz als Kern oder als Grundschicht des Menschen gilt, dann durchhallt von hier aus die jeweilige Bestimmtheit den ganzen Menschen.216 Dass diese Struktur menschlichen Seins nicht allein auf die Frage der Gottesbeziehung, also auf die Differenz von Glaube und Unglaube zu begrenzen ist, scheint mir insofern einsichtig, als schlechterdings alles Seiende einen affektiven Einfluss auf den Menschen haben kann.217 In-

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hingerissen zu werden. Zum Zusammenhang von Geistwirken und Affekten vgl. etwa Metzger, Glaube, 205: „Luther hat nun den Sachverhalt, daß die fruchtbare Begegnung mit der Schrift mit deren Anredecharakter zusammenhängt, daß also die geforderte affektuale Konformität nicht Werk des Menschen sein kann, in doppelter Hinsicht verdeutlicht. Einmal unterstreicht er die Bedeutung des verbum externum: es ist unabdingbarer Ausgangspunkt für das Ereignis des Verstehens. Zum andern interpretiert er die Potenz und Dynamik des Wortes durch einen konkret gefaßten Begriff des spiritus sanctus. Der von Luther grundsätzlich unterstellte Affektcharakter des biblischen Wortes hängt mit dem Gedanken, daß im Wort der Geist am Werk ist, aufs engste zusammen.“ LDStA 1, „Pulchre scimus, quod Deus non amat aut odit quemadmodum nos, siquidem nos mutabiliter et amamus et odimus, ille aeterna et immutabili natura amat et odit, sic non cadunt in illum accidentia et affectus.“ (WA 18; 724, 32 – 35). Auf die Bedeutung der Affekte für die Gottesrelation beschränkt sich, soweit ich sehe, das Gros der Literatur zu Luthers ,Affektenlehre‘. Ich sehe hierin erneut das fragwürdige Vorgehen, die Wirklichkeit des Menschen zu dualisieren. Denn, dass Affekte auch im alltäglichen Leben eine Rolle spielen, liegt auf der Hand. Sollte man den gläubigen oder ungläubigen Menschen in seiner so oder so gearteten Gottesbeziehung etwa gänzlich scheiden können vom in der Welt handelnden Menschen, so dass man sagen könnte: In seinem Gott-Lieben oder -Hassen ist er bestimmt, in der Welt kann er seine Affekte aber kontrollieren? Vgl. dazu auch: Wannenwetsch, Affekt, 203 – 213. Stock, Tugendlehre, 42, verwendet für das affektive Leben einen Begriff von Gefühl, der „eine Weise des Wirklichkeitsbezugs und der Weltvergegenwärtigung bezeichnet“, was er auch als „eine Weise des menschlichen In-der-Welt-Seins“ benennt. „Das Gefühl als der ,Ort‘ aller konkreten Affekte ist das lebendige und kontinuierliche Geschehen des ,Sich-als-Ich-Fühlens‘

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sofern stellt die präreflexive Bestimmtheit des Menschen und seiner Willensbewegtheit durch Affekte ein allgemein-anthropologisches Phänomen dar. Für die Theologie ist dann die Frage nach dem gläubig oder ungläubig bestimmten Herzen von zentraler Bedeutung. Gegen die erasmische Partialisierung und eine entsprechende Harmatisierung des Affektbegriffs protestiert Luther mehrfach mit Nachdruck. Nicht etwa steckt der Unglaube dem Menschen lediglich in den Gliedern, so dass sein Geist – und also auch Wille und Vernunft – von den gröberen Affekten (crassiores affectus) unberührt bleiben könnte oder nur mittelbar betroffen wäre. Fleischlich oder geistlich bestimmt zu sein, ist für Luther stets eine Angelegenheit des ganzen Menschen218, wofür der Begriff des Affektes bisweilen Verwendung findet: Daher soll der Christ wissen, dass Origenes und Hieronymus mit all den Ihren auf verderbliche Weise irren, wo sie verneinen, dass an diesen [sc. Schrift-]Stellen Fleisch im Sinne eines gottlosen Affektes verstanden wird. […] Wo immer Fleisch gehandelt wird im Gegenüber zum Geist, dort versteht man in der Regel unter ,Fleisch‘ alles, was dem Geist entgegengesetzt ist.219

So wie der Unglaube den gesamten Menschen qualifiziert, so tut dies gleichermaßen der Glaube. Beide haben bestimmenden Einfluss auf den Willen und die Vernunft. Wo Erasmus Glaube und Unglaube anthropologisch unterschiedlich verorten könnte, da protestiert Luther : Weiter ist der Unglaube kein grober Affekt, sondern der höchste, der in der Burg des Willens und der Vernunft sitzt und regiert. Wie auch sein Gegenteil, nämlich der Glaube.220

Dass Luther den Glauben sowie den Unglauben als in rationis arce regnans beschreibt, ist m. E. ein weiterer Hinweis darauf, dass der Vorwurf des Antirationalismus die Position Luthers eigentlich nicht trifft. Gewiss ist es richtig, dass nach Luther nicht die Vernunft allein – diese Vorstellung scheint ihm im Affiziert-Werden von Anderem als Anderem. Es ist der passive Modus der Erfahrung, in dem wir uns für unser selbsttätiges symbolisierendes und organisierendes Handeln gegeben sind. Es hat in diesem Sinne präreflexiven Charakter.“ (A.a.O., 45). 218 Vgl. etwa WA 18; 741, 19 – 22, wo Luther in der Auslegung von Jes 40, 6 f über die Zusammengehörigkeit von „Fleisch“, „Gras“ und „Volk“ sagt: „Zum Volk aber gehören Seele, Körper, Geist, Vernunft, Urteilskraft und was auch immer im Menschen an ganz Hervorragendem genannt oder gefunden werden kann.“ (LDStA 1, 539). „Ad populum autem pertinet, anima, corpus, mens, ratio, iudicium et quicquid etiam in homine potest praestantissimum dici aut inveniri.“ (Ebd.). 219 LDStA 1, 527. „Sciat itaque Christianus, Origenem et Hieronymum cum suis omnibus perniciose errare, ubi negant carnem pro impio affectu accipi in istis locis. […] [U]bicunque de carne agitur per antithesin ad spiritum, ibi fere per carnem intelligas omnia contraria spiritus“. (WA 18; 735, 27 – 28.32 – 33). 220 LDStA 1, 641 f. „Deinde incredulitas non est crassus affectus, sed summus ille in voluntatis et rationis arce sedens et regnans, sicut eius contrarius, nempe fides.“ (WA 18; 780, 18 – 20).

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Luthers Position

überhaupt fremd zu sein – den Wechsel vom Unglauben zum Glauben bewirken kann. Wenn man so will, mag man das antirationalistisch nennen. Aber, dass in Glaubensangelegenheiten Unvernunft und Inkonsequenz Raum hätten, ist doch wohl kaum seine Meinung. Nicht umsonst untermauert Luther die christliche Notwendigkeit assertorischer Rede mit der neutestamentlichen Forderung (1. Petr. 3,15), der Christ habe Rechenschaft abzulegen (rationem reddere).221 Es hat vielmehr den Anschein, als würde Luther den Glauben als eine ,konsequentere‘ Form der Vernunft ansehen. Etwa aus dem Gottesgedanken die Allwirksamkeit Gottes und als deren Konsequenz wiederum auch die Lehre vom servum arbitrium „mit unverbrüchlicher Folgerichtigkeit“ abzuleiten, mutet er der natürlichen Vernunft zu.222 Alle Versuche, mit Vernünfteleien für das liberum arbitrium einzutreten, sieht Luther damit als gescheitert an, so dass die Vernunft durch ihr eigenes Urteil besiegt wird. [S]elbst die natürliche Vernunft wird gezwungen zu bekennen, dass der lebendige und wahre Gott ein solcher sein muss, der uns in seiner Freiheit Notwendigkeit auferlegt. Denn der Gott wäre lächerlich oder vielmehr ein Götze, der in unsicherer Weise das Zukünftige vorhersieht oder sich in den Ereignissen täuscht. […] Wenn aber das Vorherwissen und die Allmacht zugestanden sind, folgt natürlich mit unverbrüchlicher Folgerichtigkeit, dass wir nicht durch uns selbst gemacht sind noch leben noch irgendetwas tun, sondern durch seine Allmacht. […] Freilich, das erregt in höchstem Grade Anstoß bei jenem allgemeinen Empfinden oder der natürlichen Vernunft, dass Gott aus seinem bloßen Willen die Menschen im Stich lässt, verstockt, verdammt. So, als erfreue er sich an den so großen und ewigen Sünden und Qualen der Elenden, wo doch von ihm gepredigt wird, er sei von so großer Barmherzigkeit und Güte usw. Das scheint ungerecht, grausam, unerträglich zu sein, so von Gott zu reden. […] Nichtsdestoweniger bleibt immer jener tief ins Herz eingetriebene Stachel, sowohl bei den Ungelehrten als auch bei den Gelehrten, wenn es einmal ernst geworden ist, dass sie die Notwendigkeit auf unserer Seite spüren, wenn das Vorherwissen und die Allmacht Gottes geglaubt werden. Und die natürliche Vernunft höchstpersönlich, die an jener Notwendigkeit Anstoß nimmt und sich so sehr abmüht, sie aufzuheben, wird gezwungen, sie zuzugestehen, durch ihr eigenes Urteil besiegt, auch wenn es keine Schrift gäbe. Denn alle Menschen finden diesen Gedanken in ihren Herzen geschrieben und erkennen ihn an und billigen ihn (wenn auch unwillig), wenn sie hören, dass er behandelt wird. Zunächst, dass Gott allmächtig ist, nicht nur dem Vermögen, sondern auch dem Wirken nach (wie ich gesagt habe), sonst würde er ein lächerlicher Gott sein. Dann, dass er alles weiß und vorherweiß und nicht irren noch sich täuschen kann. Wenn dies beides in Herz und Sinn aller zugestanden wird, werden sie alsbald mit unvermeidbarer Folgerichtigkeit gezwungen zuzugeben, dass wir nicht aus eigenem Willen werden, sondern aus Notwendigkeit.223 221 Vgl. LDStA 1, 229 = WA 18; 603, 27. 222 Vgl. Lohse, Ratio, 60. 223 LDStA 1, 485 – 489. „At talem oportere esse Deum vivum et verum, qui libertate sua neces-

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Das Interessante an dieser logischen Schlussfolgerung Luthers ist, dass Luther die Vernunft hier keineswegs als affektfreie Instanz vorstellig macht. Einerseits mutet er nämlich der natürlichen Vernunft einen bestimmten Gottesgedanken zu und hält auch die daraus sich ergebenden Konsequenzen für eine allgemein-menschliche Einsicht.224 So ist es nach Luther auch keine Frage z. B. der Bildung (tam rudibus quam eruditis) oder des durch das äußere Wort gewirkten Glaubens (etiam si nulla esset scriptura), dass der tief ins Herz eingetriebene Stachel der Notwendigkeit gespürt wird. Vielmehr sind Gottes Allwirksamkeit und Allwissenheit allen Menschen in Herz und Sinne geschrieben. Zugleich erkennt Luther aber, dass diese Einsicht von der Vernunft als Affront empfunden und bekämpft wird und dass die Vernunft sich darin als selbstwidersprüchlich erweist. Eben deshalb kann die Vernunft an dieser Stelle gezwungen und durch ihr eigenes Urteil besiegt werden. Freilich kann das für Luther nicht heißen, dass die natürliche Vernunft durch rationale Betätigung in Glauben überführt werden könnte. Der Stachel der Notwendigkeit bleibt spitz; die Empörung der Vernunft wird nicht in Zustimmung gewandelt. Vielmehr scheint Luther zu meinen, dass der Sieg über die natürliche Vernunft durch ihr eigenes Urteil eine Aporie der Vernunft aufdeckt. Wenn hier kein gradueller Übergang von der Vernunft in den Glauben gedacht werden soll, so hat diese Aporie Bestand. Sie aufzuzeigen ist eine Funktion des Gesetzes. Tatsächlich zeigt sich hier, dass der Gottesgedanke und seine Konsitatem imponat nobis, ipsa ratio naturalis cogitur confiteri, videlicet quod ridiculus ille Deus fuerit aut idolum verius, qui incerto praevideat futura aut fallatur eventis […].Concessa autem praescientia et omnipotentia sequitur naturaliter irrefragibili consequentia, Nos per nos ipsos non esse factos nec vivere nec agere quicquam sed per illius omnipotentiam. […] Scilicet hoc offendit quam maxime sensum illum communem seu rationem naturalem, quod Deus mera voluntate sua homines deserat, induret, damnet, quasi delectetur peccatis et cruciatibus miserorum tantis et aeternis, qui praedicatur tantae misericordiae et bonitatis etc. Hoc iniquum, hoc crudele, hoc intolerabile visum est de Deo sentire […]. Mansit nihilominus semper aculeus ille alto corde infixus tam rudibus quam eruditis, si quando ad rem seriam ventum est, ut sentirent necessitatem nostram, si credatur praescientia et omnipotentia Dei. Atque ipsamet ratio naturalis, quae necessitate illa offenditur et tanta molitur ad eam tollendam, cogitur eam concaedere, proprio suo iudicio convicta, etiam si nulla esset scriptura. Omnes enim homines inveniunt hanc sententiam in cordibus suis scriptam et agnoscunt eam ac probant (licet inviti), cum audiunt eam tractari. Primo Deum esse omnipotentem, non solum potentia, sed etiam actione (ut dixi), alioqui ridiculus foret Deus. Deinde ipsum omnia nosse et praescire, neque errare neque falli posse. Istis duobus omnium corde et sensu concessis, coguntur mox inevitabili consequentia admittere, Nos non fieri nostra voluntate, sed necessitate“ (WA 18; 718, 15 – 18.20 – 22. 719, 4 – 8.17 – 28). 224 Nach Hirsch, Lutherstudien I, 122, war dieser Sachverhalt für Luther bis etwa 1516 mit dem Begriff der „Syntheresis“ verknüpft und ging mit dem Verschwinden dieses unbiblischen Begriffs eine Verbindung mit dem der „natürlichen Vernunft“ ein: „Luther schreibt späterhin der natürlichen Vernunft genau im gleichen Sinne und gleichen Umfange wie anfänglich der Syntheresis ein ursprüngliches Wissen von Gott zu. Er spricht in diesem Zusammenhang auch vom natürlichen Licht der Vernunft, und er faßt dies Licht als eine dem Herzen eingeschriebne Erkenntnis, die unaustilgliche Macht über das Gewissen hat.“ Vgl. auch Hirschs Bemerkung, die ins Herz geschriebene Erkenntnis Gottes sei „vordiskursiv“ (a. a. O., 123 f, Anm. 4).

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sequenzen – letztlich die Anerkennung des servum arbitrium – dem natürlichen Menschen nur in Gesetzesform ins Herz geschrieben sind, und dass diese vorreflexiv-intuitive Ahnung durch weitere rationale Durchdringung in ihrer Anstößigkeit ans Licht gebracht werden kann und soll. So folgert Luther, wo diese Erkenntnis der Notwendigkeit verdunkelt sei, da liege das an der falschen Lehre der Tradition wie auch alle anderen Gesetze verdunkelt seien durch Irrlehre, dennoch anerkannt würden durch die rechte Behandlung der Sache.225 Das Gesetz hat nun seinerseits einen affektiven Einfluss auf die natürliche Vernunft: Als Gesetz führt die Erkenntnis der eigenen Unfreiheit nämlich zunächst in die Beleidigung (offensa), sodann aber in Verzweiflung, wie Luther von sich selbst bekennt. Denn die Rede von der menschlichen Unfreiheit empört die Vernunft und diese klagt über die scheinbare Unbarmherzigkeit Gottes. Doch ist eben diese Verzweiflung, in welcher die Vernunft an ihre äußerste Grenze geführt ist, als Wirkung des in seiner Funktion zur Erfüllung gelangten Gesetzes der letzte Punkt vor dem Erlangen der Gnade.226 Dass die Vernunft an der logischen Konsequenz des Allmachtsgedankens, nämlich an der unverschuldeten Verdammung des Menschen, überhaupt Anstoß nimmt, ist für Luther nur ein weiterer Beweis dafür, dass die Vernunft ständig in einem affektiv – gläubig oder ungläubig – bestimmten Kontext funktioniert. Denn indem die natürliche Vernunft hieran Anstoß nimmt, offenbart sie, so Luther an einer anderen Stelle, dass sie vom Streben nach dem eigenen Vorteil (affectus sui comodi) getrieben wird und nicht nach Billigkeit (aequitas) urteilt.227 Das regnare in rationis arce sowohl des Glaubens als auch des Unglaubens wird außerdem in deutlicher Weise dadurch unterstrichen, dass der Gedanke an ein servum arbitrium nur für die natürliche Vernunft anstößig und ungerecht erscheint, wohingegen Luther

225 „Daher wird zugleich in den Herzen aller geschrieben gefunden, dass das freie Willensvermögen nichts ist. Auch wenn das verdunkelt wird durch so viele Disputationen und durch die so hohe Autorität so vieler Männer, die jahrhundertelang anders gelehrt haben. So wie auch alles andere Gesetz (nach dem Zeugnis des Paulus), in unsere Herzen geschrieben, dann anerkannt wird, wenn es recht behandelt wird, dann verdunkelt, wenn es von gottlosen Lehrern misshandelt und von anderen Meinungen in Besitz genommen wird.“ „Quare simul in omnium cordibus scriptum invenitur, liberum arbitrium nihil esse, licet obscuretur tot disputationibus contrariis et tanta tot virorum authoritate, tot soeculis aliter docentibus. Sicut et omnis alia lex (teste Paulo) in cordibus nostris scripta, tum agnoscitur, ubi recte tractatur, tum obscuratur, ubi impiis magistris vexatur et aliis opinionibus occupatur.“ (LDStA 1, 489. = WA 18; 719, 30 – 35). 226 „Ich selbst habe nicht nur einmal Anstoß genommen bis hin zum tiefsten Abgrund der Verzweiflung – bis ich sogar wünschte, dass ich niemals als Mensch geschaffen worden wäre. Das war, bevor ich wusste, wie heilsam diese Verzweiflung ist und wie nahe der Gnade.“ „Ego ipse non semel offensus sum usque ad profundum et abyssum desperationis, ut optarem nunquam esse me creatum hominem, antequam scirem, quam salutaris illa esset desperatio et quam gratiae propinqua.“ (LDStA 1, 487 = WA 18; 719, 9 – 12). 227 Vgl. hierzu: 3.3.1, Anm. 268.

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von sich selbst bekennt, aus demselben Gedanken die sicherste Gewissheit des Gewissens zu ziehen.228 Wo das Herz gläubig oder ungläubig qualifiziert ist, wo also die Affekte in ihrer Bedeutung für das Gottesverhältnis – coram Deo – betrachtet werden, dort erscheinen freilich auch die Werke des Menschen in der jeweilig entsprechenden Qualität. Coram Deo gibt es für Luther keine guten Werke, die mit ungläubigem Herzen vollbracht werden könnten. Wollte Erasmus die Werke daran messen, ob sie dem Geist oder der Sinnlichkeit des Menschen entspringen, so wird für Luther die Qualität der Handlung an der den ganzen Menschen betreffenden Seinsweise entschieden. Gut oder böse sind Taten für Luther in dieser Perspektive gar nicht an sich, sondern nur aufgrund des Gutoder Böseseins des Täters.229 Die Sittlichkeit der heidnischen Philosophen konnte von Erasmus als Argument für die Freiheit des Willens angeführt werden. Denn diese konnten ihre sinnlichen Affekte beherrschen. Luther erkennt in vermeintlich guten Werken jedoch nichts Gutes, sofern diese nicht aus Glauben kommen. Ja, sofern sie dem „gottlosen Affekt“ entstammen, sind die Werke in höchstem Maße blasphemisch. Da hast du nun jenen Geist als das Führende und den vornehmen Teil des Menschen, der zum sittlich Guten strebt, das heißt, einen Räuber der göttlichen Ehre und einen Nachahmer seiner Majestät. Dann vor allem, wenn sie die Allerehrenwertesten und die durch ihre höchsten Tugenden Allerglänzendsten sind. Verneine nun, dass diese Fleisch sind und durch einen gottlosen Affekt verdorben!230

Wie aber geschieht jener Wechsel vom gottlosen Affekt des Unglaubens zum Glauben? Weil dieser Wechsel auch in Gottes unverfügbarem Willen begründet liegt, treffen im Glaubensgeschehen supra nos und infra nos in pointierter Weise zusammen, nämlich als Gottes unverfügbares (supra nos), inwendiges (infra nos) Geistwirken. Da hiermit allerdings der Bereich der allgemeinen Bestimmtheit menschlicher Willensakte verlassen ist und nun das besondere Wirken des Heiligen Geistes im Gegensatz zum Wirken der 228 Vgl. LDStA 1, 649 – 651 = WA 18; 783, 17 – 39. 229 „In den Aussagen über das menschliche Handeln geht Luther davon aus, daß die Frage nach Ziel und Gestalt menschlichen Tuns zuerst eine Frage nach der Person ist. Das operari beginnt in corde. Das Handeln ist Exponent des Glaubens oder Unglaubens. Es ist hineingestellt in die Dialektik von Buchstabe und Geist, von Gesetz und Evangelium. Luther erreicht die kritische Norm für die Beurteilung des handelnden Menschen nicht aus Reflexionen über mögliche Wege zur Legalität der Tat, auch nicht durch Aufhellung psychologischer Vorgänge, die zwischen Vermögen und Akt angesichts der Liebesforderung Gottes spielen, sondern indem er davon ausgeht, daß der Mensch seine Wirklichkeit nur durch das Handeln Gottes gewinnt, der die Herzen erforscht. Der Glaube, aus dem alles Handeln fließt, ist sein Werk; so ist letztlich alles, was der Christ tun kann, Werk Gottes. (Metzger, Glaube, 185). 230 LDStA 1, 545. „Habes igitur spiritum illum igemonicum principalem partem hominis ad honesta nitentem, id est latronem gloriae divinae et maiestatis affectatorem, tum maxime, cum sunt honestissimi et summis suis virtutibus illustrissimi. Hos nunc nega esse carnem et impio affectu perditos.“ (WA 18; 743, 11 – 15).

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omnipotentia generalis in den Fokus gelangt, sollen einige wenige Bemerkungen hierzu genügen: (4) Der Mensch kommt zum Glauben durch eine innere Wandlung des Affekts, vermittelt durch das äußere Wort. Niemand redet nämlich recht, hört auch nicht irgendeine Schrift, es sei denn, dass er in konformer Weise einen Affekt habe, so dass er inwendig fühlt, was er äußerlich hört und redet, und spricht: Eia, so ist es wahrlich.231

Was Luther in seiner ersten Psalmenvorlesung Dictata super Psalterium (1513-1516) notiert, wirft ein grundsätzliches Licht auf seinen Begriff von rechtem Hören und Verstehen. Gleich zu Beginn von Dsa stellt er die Entscheidung über den Streitpunkt des liberum arbitrium unter das gewiss machende Wirken des Geistes. Dass Luther sich nach anfänglichem Zögern zu einer Antwort auf die Diatribe durchrang, dass er seinen Widerwillen über die Erasmus-Schrift232 überwand und schließlich doch antwortete, lag nach eigener Darstellung an den Mahnungen Anderer, dass durch Erasmus „die Wahrheit der christlichen Lehre in vieler Herzen in Gefahr sei“233. Nun stellt Luther den Erfolg seiner eigenen Schrift, die Befestigung der Wahrheit im Herzen unter ,pneumatologischen Vorbehalt‘: Unsere Angelegenheit ist eigentlich eine solche, die nicht zufrieden ist mit einem äußeren Lehrer; sie ersehnt außer dem, der äußerlich pflanzt und begießt, auch den Geist Gottes, der das Wachsen gibt und innen als Lebendiger Lebendiges lehrt […]. Dennoch hätte, weil jener Geist frei ist und weht, nicht wo wir wollen, sondern wo er selbst will, jene Regel des Paulus beachtet werden müssen: ,Halte an, es sei zur Zeit oder Unzeit.‘ […] Es mag tatsächlich welche geben, die den Geist als Lehrer in meinen Schriften bisher noch nicht gespürt haben und jetzt durch jene ,Diatribe‘ hingestreckt am Boden liegen. […] Daher ist Gott anzuflehen, dass er mir den Mund, dir und allen aber das Herz öffne. Er selbst sei der Lehrer in unserer Mitte, der in uns spricht und hört.234 231 „Nullus enim loquitur digne nec audit aliquam Scripturam, nisi conformiter ei sit affectus, ut intus sentiat, quod foris audit et loquitur, et dicat: ,Eia, vere sic est‘.“ (WA 3; 549, 33 – 35). 232 „Also, weder die Menge der Arbeit noch die Schwierigkeit der Sache noch die Größe deiner Beredsamkeit noch Furcht vor dir nehmen mir die Lust an einer Entgegnung, sondern reiner Widerwille, Unmut und Verachtung, so – um es beim Namen zu nennen – lautet mein Urteil über deine Untersuchung.“ „Itaque nec multitudine negociorum, nec rei difficultate, nec magnitudine eloquentiae tuae, nec timore tui, sed mero tedio, indignation et contempt, seu (ut dicam) iudicio meo de tua diatribe, impeditus est mihi impetus respondendi“ (LDStA 1, 223 = WA 18; 601, 29 – 32). 233 LDStA 1, 225. „[…] Christianae doctrinae veritas periclitetur in multorum cordibus.“ (WA 18; 602, 6 – 7). 234 LDStA 1, 225. „Quamvis enim res nostra talis est, quae externo doctore non est contenta, sed praeter eum qui plantat et rigat foris, etiam desyderet spiritum Dei, qui incrementum det et vivus viva doceat intus […] tamen cum liber sit ille spiritus, ac spiret, non ubi nos volumus, sed ubi ipse vult, servanda fuerat regula illa Pauli, Insta oportune, importune […].Esto, sint, qui magistrum spiritum hactenus in meis literis nondum senserunt, et per Diatriben illam sint

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Das inwendige Lehren des Geistes ist für Luther keineswegs losgelöst vom äußeren Lehren. Es gehört notwendig zusammen, dass Gott den Mund des äußeren Lehrers und die Herzen der Hörer öffnet, damit die Hörer zum sentire magistrum spiritum gelangen – also wirklich hören und verstehen. Was hier im Kontext der Streitfrage liberum/servum arbitrium von Luther angeführt wird – und es scheint doch einigermaßen zu überraschen, dass Luther auch seinen eigenen Schriften pneumatische Kraft zuschreibt –, das hat seinen originären Abhandlungsort in Luthers Skriptologie. An keinem Punkt der Theologie Luthers ließe sich der Zusammenhang des göttlichen Wirkens mit dem menschlichen Affektleben besser beschreiben, als an der Frage nach der durch das äußere Wort vermittelten claritas scripturae interna.235 Wie Melanie Beiner in ihrer Arbeit darlegt, verweist die doppelte Klarheit der Schrift (extern/intern) auf zwei Erkenntnisweisen des Menschen: So werden durch die äußere Klarheit die Inhalte der Schrift bekannt gemacht und, wofern ihre Aussagen als kohärent einleuchten, von der Vernunft akzeptiert. Die „Erkenntnis des Herzens“, also die Einsicht, dass eben jene gewussten Inhalte der Schrift eine persönliche Bedeutung für die erkennende Person haben, wird hingegen als innere Klarheit bezeichnet. Auf drei Punkte soll hier in gebotener Kürze aufmerksam gemacht werden: Zunächst ist festzuhalten, dass Luther in theologischen Streitfällen wie dem mit Erasmus die äußere Klarheit der Schrift als Richterin allein gelten lässt. Wo also öffentlich über die Lehrsätze der Kirche gestritten wird, da haben die Kontrahenten vernunftgemäß und einleuchtend auf der Basis der Heiligen Schrift zu argumentieren. Gleichwohl fordert Luther darüber hinaus die je individuelle Gewissheit in solchen Angelegenheiten, die für einen Christen notwendig zu wissen sind, wenn anders mit jener Gewissheit der Glaube236 steht und fällt.237 Dieser Zusammenhang von äußerer Klarheit der Schrift und (geisterfüllter) innerer Gewissheit erklärt Luthers vehemente Abweisung jeder prostrati […].Quare orandus est Deus, ut mihi os, tibi vero et omnibus cor aperiat, sitque ipse magister coram in medio nostri, qui in nobis loquatur et audiat.“ (WA 18; 602, 11 – 15.16 – 18.30 – 32). 235 Um hier nicht zu weitab vom eigentlichen Thema zu gelangen, beschränke ich mich auf wenige Anmerkungen zur Skriptologie. 236 „Der Mensch kann sie [sc. die Inhalte des Glaubens] nur dann wirklich verstehen, wenn er sie nicht nur rational nachvollzieht, sondern auch die Bedeutung, die sie für sein Selbst- und demzufolge auch sein Weltverständnis haben, erkennt. Diese Bedeutung erschließt sich ihm allein durch die Erkenntnisform des Glaubens.“ (Beiner, Intentionalität, 67). 237 „Im letzten Betracht ist für Luther die Stellung der Schrift als verbürgender Norm christlicher Lehre darin begründet, daß sie im persönlichen Empfangen des rechten Glaubens dem Gewissen als solche verbürgende Norm bestätigt wird. Ohne den persönlichen Glauben an das Evangelium würde das Schriftprinzip bei ihm des innern Halts entbehren. Das Schriftprinzip ist bei Luther eben dadurch in das Verhältnis des Gewissens zur Wahrheit eingeknüpft, daß mit ihm die wesentliche Zusammengehörigkeit von verbürgender Norm und persönlicher, d. h. in der Tiefe einer Gewissensgeschichte verankerten Gewißheit gesetzt ist.“ (Hirsch, Lutherstudien I, 209).

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Luthers Position

skeptischen Haltung in der Sache und sein Bestehen auf der assertorischen Rede als dem Christen einzig gemäße. Wo der Heilige Geist gegeben wird, ut clarificet Christum238, dort bleibt kein Raum für Skepsis. Während jedoch die äußere Schriftklarheit für Luther – das betont er gegen den papstkirchlichen Umgang mit der Schrift – ein unbestreitbares Faktum ist, gilt für die innere Klarheit, dass „kein Mensch auch nur ein Jota in den Schriften [sieht], es sei denn, er hätte den Geist Gottes“239. Dass aber diese Klarheit so ganz und gar nicht selbstverständlich ist, liegt nun nicht an der Schrift, sondern gerade an der Dunkelheit der Herzen. Alle haben ein verdunkeltes Herz, so dass sie auch dann, wenn sie alles von der Schrift vorzubringen behaupten und verstehen, dennoch für nichts ein Gespür haben oder wahrhaft erkennen.240

Als zweiten Punkt gilt es sodann festzuhalten, dass die Inhalte, die von der Schrift dargeboten werden und die dann auch im Herzen „wahrhaft erkannt“ werden sollen, nicht zweierlei sind, sondern, dass gerade durch die äußere Klarheit der Schrift dem Buchstaben nach ihre innere Klarheit gewonnen wird – wenn durch den Buchstaben der Geist wirkt.241 „Ausgangspunkt der fides ist die Schrift. Der Glaube darf von der Welt der visibilia ausgehen, das liegt in der Konsequenz der Inkarnation.“242 In dieser unlösbaren Bezogenheit von Äußerem und Innerem243 hat Luthers Verständnis der doppelten Klarheit der Schrift abgrenzende Funktion sowohl gegen die Schwärmer als auch gegen die Papstkirche. Denn einen ausreichend harten Kampf habe ich in diesem Jahr gehabt und habe ihn noch mit diesen Fanatikern, welche die Auslegung der Schriften ihrem eigenen Geist unterwerfen. Das war bis jetzt der Grund, warum ich auch den Papst angegriffen habe, in dessen Reich nichts verbreiteter ist und mehr angenommen ist als diese 238 Vgl. LDStA 1, 229 = WA 18; 603, 30. 239 LDStA 1, 239. „[…] nullus homo unum iota in scripturis videt, nisi qui spiritum Dei habet […].“ (WA 18; 609, 6 f). 240 LDStA 1, 239. „[O]mnes habent obscuratum cor, ita, ut si etiam dicant et norint proferre omnia scripturae, nihil tamen horum sentiant aut vere cognoscant […].“ (WA 18; 609, 7 – 9). 241 Insofern zielt der Umgang mit der äußeren Klarheit, also Kirchenleitung und Predigtamt, auf das Heil der Anderen. „Dieses [sc. äußere] Urteil gebrauchen wir, wenn wir die Schwachen im Glauben stärken und die Gegner widerlegen.“ „Hoc iudicium […], Quo utimur, dum infirmos in fide roboramus, et adversarios confutamus.“ (LDStA 1, 327 = WA 18; 653, 24 – 26). 242 Metzger, Glaube, 126. 243 „Es wird weder eine Identifizierung von spiritus und litera proklamiert, noch wird das Verstehen der göttlichen Weisheit durch eine spirituale Gottunmittelbarkeit des Menschen vom Buchstaben der Schrift abgelöst. Der Mensch soll als vivum subiectum den Buchstaben der Schrift in sich aufnehmen (recipere) und lebt in seinem Verstehen doch ganz vom Wirken des Geistes in seinem Innern. Der Mensch wird in seinem Verstehenwollen als erkennendes Subjekt bestätigt und wird zugleich, was den Vollzug des Erkennens angeht, wiederum total negiert, d. h. auf das alleinige Wirken des Geistes gewiesen.“ (Metzger, Glaube, 207).

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Allwirksamkeit Gottes und affektives Getriebensein des Menschen

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Aussage, die Schrift sei dunkel und zweideutig; man müsse den Geist als Ausleger vom Apostolischen Stuhl in Rom erbitten.244

Drittens muss schließlich darauf verwiesen werden, dass für Luther der Ort, an dem die Schrift innerlich klar wird, das Herz ist. „Eia, vere sic est!“ ruft nicht, wer unberührt die Inhalte der Schrift wahrgenommen hat und rational bejaht, sondern, wer von ihnen berührt wird. Melanie Beiner bezeichnet das Klarwerden der Schrift im Herzen als eine Evidenzerfahrung, die „nicht das geistige Erfassen von Sachverhalten, sondern die gefühlsmäßig positive Bezogenheit (so läßt sich die Verwendung des Begriffs des Herzens verstehen) auf diesen Sachverhalt [meint], die diesen bedeutend für die Person werden läßt“245. Man wird Günther Metzgers „Beobachtung, daß für Luther das Verstehen secundum spiritum dasselbe ist wie das Verstehen secundum affectum“246 als anthropologische Beschreibung für das inwendige Wirken des Heiligen Geistes nur bejahen können. Es kann also mit Recht gesagt werden, dass für Luther der Glaube dort entsteht, wo das von außen kommende (gepredigte und gehörte) Wort ins Herz dringt und seine affektive Kraft entfaltet, mithin dadurch der Glaube von jedem Werkcharakter entkleidet wird.247 Der Ertrag dieser Überlegungen zum Affektbegriff Luthers stellt sich zusammenfassend wie folgt dar : Das Gerissen-Werden des menschlichen Willens unter der allgemeinen Wirksamkeit Gottes hat sich aus anthropologischer Warte präsentiert als die unverfügbare Dynamik des Herzens. In besonderer 244 LDStA 1, 325. „Nam satis acre mihi bellum isto anno fuit et adhuc est cum istis Phanaticis, qui scripturas suo spiritui subiiciunt interpretandas, quo nomine et Papam hactenus insectatus sum, in cuius regno hac voce nihil vulgatius aut receptius est, Scripturas esse obscuras et ambiguas, oportere spiritum interpretem ex sede Apostolica Romae petere“ (WA 18; 653, 3 – 7). 245 Beiner, Intentionalität, 67. 246 Metzger, Glaube, 213. Dort auch der Verweis auf WA 3, 90, 35 – 37: „Alle Dinge müssen nach dem Geist oder nach dem Affekt verstanden werden. Nicht dass sie örtlich und fleischlich werden müssen, sondern sie müssen befestigt und in seinem Herzen innerlich vor Gott begriffen werden.“ „Omnia secundum spiritum seu secundum affectum intelligenda. Non quod fieri localiter vel carnaliter debeant. Sed infixe sunt et comprehensi in corde suo intus coram deo.“ 247 „Luther hat nun den Sachverhalt, daß die fruchtbare Begegnung mit der Schrift mit deren Anredecharakter zusammenhängt, daß also die geforderte affektuale Konformität nicht Werk des Menschen sein kann, in doppelter Hinsicht verdeutlicht. Einmal unterstreicht er die Bedeutung des verbum externum: es ist unabdingbarer Ausgangspunkt für das Ereignis des Verstehens. Zum andern interpretiert er die Potenz und Dynamik des Wortes durch einen konkret gefaßten Begriff des spiritus sanctus. Der von Luther grundsätzlich unterstellte Affektcharakter des biblischen Wortes hängt mit dem Gedanken, daß im Wort der Geist am Werk ist, aufs engste zusammen.“ (Metzger, Glaube, 205). „Das intus audire kann nicht abgelöst werden von dem Wort, das gepredigt wird und das man mit den Ohren hören muß. Aber damit in diesem Hören das Werk des Evangeliums am Menschen wahr wird, muß das Gehörte durch den Geist im Innern befestigt werden. So verschafft Gott sich Gehör. […] Intus esse beläßt den ganzen Menschen in der Sichtbarkeit, aber meint ihn als einen, der nicht in manifesto, sondern in abscondito existiert, d. h. coram deo steht, wo Gottes Wirken an ihm durch Wort und Geist die Gleichzeitigkeit mit dem Christusereignis schafft.“ (A.a.O., 146).

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Luthers Position

aber strukturell gleicher Weise248 hat sich die Wandlung des Herzens vom Unglauben zum Glauben als das dem aktiven Zugriff des Menschen entzogene Wirken des Heiligen Geistes dargestellt – nämlich als die affektive Umgestaltung der menschlichen Wesensmitte durch das äußerlich gepredigte Wort. Sofern das Treiben des Heiligen Geistes an das explizite Wort Gottes gebunden ist, unterscheiden sich Geistwirkung und allgemeines Schöpferhandeln aber in signifikanter Weise. Während nämlich die Wirkung des Heiligen Geistes als Glaube sich im Subjekt bewusst macht und explizit zutage tritt, entfaltet Gottes allgemeines Schöpferwort nur eine implizite Wirksamkeit, deren direkte Beziehung auf den menschlichen Willen in der Verborgenheit bleibt, da Gott hierbei über den allgemeinen Weltzusammenhang am Menschen wirkt. Darum ist die cooperatio der Gläubigen mit Gott – etwa im Predigtdienst – eine ihnen bewusste Zusammenarbeit. So hat es Gott gefallen, dass er nicht ohne Wort, sondern durch das Wort den Geist austeilt, damit er uns als seine Mitarbeiter habe. Wir bringen äußerlich zum Klingen, was er selbst allein innerlich einhaucht, wo nur immer er will.249

Hingegen stellt sich die Weltlenkung durch Gottes Schöpferwort nicht als äußerlich vernehmbarer Befehl dar, wenngleich Gott auch so im Regiment bleibt, wie Luther an der Verfluchung Davids durch Schimi (2Sam 16) erörtert: Wie kann Gott befehlen zu fluchen, also ein so giftiges und böses Werk? Eine solche Vorschrift hat es nirgendwo nach außen hin gegeben. David berücksichtigt also dies: dass der allmächtige Gott gesprochen hat und es geschehen ist, das heißt, dass er alles durch das ewige Wort wirkt. So reißen das göttliche Wirken und die göttliche Allmacht den Willen Schimis fort; der war schon vorher böse und mit jedem Glied gegen David entbrannt, da sich David bei dieser Gelegenheit so darstellte, dass er eine solche Lästerung verdient habe. Und selbst der gute Gott befiehlt durch ein böses und lästerliches Werkzeug, das heißt, er sagt und tut durch sein Wort, nämlich durch das Fortreißende seines Wirkens, diese Lästerung.250 248 „Wo er mit dem Geist der Gnade in denen regiert, die er gerechtfertigt hat, das heißt: in seinem Reich, treibt und mahnt er diese in ähnlicher Weise [sc. wie durch seine Allmacht]. Und sie, wie sie eine neue Kreatur sind, folgen und wirken mit ihm zusammen, oder vielmehr, wie Paulus sagt, sie werden getrieben.“ „[U]bi spiritu gratiae agit in illis, quos iustificavit, hoc est in regno suo, similiter eos agit et movet, et illi, ut sunt nova creatura, sequuntur et cooperantur, vel potius, ut Paulus ait, aguntur.“ (LDStA 1, 571 = WA 18; 753, 33 – 35). 249 LDStA 1, 431. „Sic placitum est Deo, ut non sine verbo, sed per verbum tribuat spiritum, ut nos habeat suos cooperatores, dum foris sonamus, quod intus ipse solus spirat, ubi ubi voluerit“ (WA 18; 695, 28 – 30). 250 LDStA 1, 469. „Quomodo praecipiat Deus maledicere, scilicet tam virulentum et malum opus? Externum non erat uspiam tale praeceptum. Respicit igitur David illo, quod Deus omnipotens dixit et facta sunt, hoc est verbo aeterno omnia facit. Itaque voluntatem Simei iam malam cum omnibus membris, contra David antea accensam, oblato oportune David, ut merito talem blasphemiam, rapit divina actio et omnipotentia, et ipse Deus bonus per malum et blasphemum organum praecipit, id est verbo dicit et facit, scilicet raptu actionis suae, hanc blasphemiam.“ (WA 18; 711, 11 – 19).

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Zur Frage der menschlichen Verantwortlichkeit

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Diese wenigen Anmerkungen zum Affektcharakter des Glaubens und zur doppelten Klarheit der Schrift sollen genügen, um die Entzogenheit der eigenen Willensbestimmung im Fundament des menschlichen Herzens zu verorten und zu verankern. Die allgemeine Bestimmtheit menschlicher Willensakte zeugt nun allerdings Folgeprobleme. Wenn menschliche Handlungen der Ausdruck eines aufgrund göttlicher Bestimmung unfreien Willens sind, wenn außerdem das Gut- oder Bösesein einer Tat für Luther eine Frage von Glaube und Unglaube ist, wenn schließlich zum Glauben nur kommt, wer von dem durch das äußere Wort vermittelten unverfügbaren Wirken des Geistes berührt wird, so werden damit zwei neue Fragen virulent, die im Folgenden zu behandeln sind: Zunächst tritt die Frage der Verantwortlichkeit des Menschen für sein Tun in den Blick und hierin implizit das Problem, inwieweit Handlungen auch abgesehen vom Gottesverhältnis als gut oder böse beschreibbar sind (iustitia civilis). Sodann stellt sich die zweite Frage, in welchem Verhältnis Gottes Wirken zum Bösen und zur Sünde in der Welt steht. Etwa im Hinblick auf den verstockten Pharao der Exodus-Erzählung zeigen diese beiden weiterführenden Probleme ihre Verwandtschaft mit den bereits verhandelten, nämlich dem für den Menschen unverständlichen Willen des allwirksamen Gottes einerseits und der inneren Bestimmtheit des menschlichen Willens andererseits. [D]a der allmächtige Treiber ihn [sc. den Pharao] mit unvermeidlichem Antrieb treibt wie die übrigen Geschöpfe, ist es notwendig, dass er irgendetwas will. […] Er [sc. Gott] hält seiner [sc. des Pharaos] Bosheit von außen etwas entgegen, was jener natürlicherweise hasst. Andererseits lässt er innerlich nicht nach, jenen bösen Willen, wie er ihn vorfindet, durch den allmächtigen Antrieb zu bewegen. […] Aber warum ändert er nicht zugleich die bösen Willen, die er antreibt? Das bezieht sich auf die Geheimnisse seiner Majestät, wo seine Urteile unbegreiflich sind.251

3.3 Zur Frage der menschlichen Verantwortlichkeit Hat die kurze Betrachtung des Dictum Socraticum in Luthers (zustimmender) Verwendung ergeben, dass ihm mit dieser Grenzziehung an der Freiheit Gottes gelegen ist und vom Willen Gottes darum gilt, dass er erstens nicht vom Menschen bestimmbar, nicht hinderbar ist (effektive Freiheit) und zweitens nicht beurteilt, auf seine Gerechtigkeit hin befragt werden kann (iuridische Freiheit), so kann nun im Blick auf das Innerste des Menschen gesagt werden: 251 LDStA 1, 469 f. „[O]mnipotens actor, cum illam agat inaevitabili motu, ut reliquas creaturas, necesse est eam aliquid velle. […] [F]oris obiicit maliciae eius, quod ille odit naturaliter, tum intus non cessat movere omnipotente motu malam (ut invenit) voluntatem. […] At cur non simul mutat voluntates malas, quas movet? Hoc pertinet ad secreta maiestatis, ubi incomprehensibilia sunt iudicia eius.“ (WA 18; 711, 28 – 30.33 – 35. 712, 24 – 26).

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Luthers Position

Der Mensch kann seine Affekte nicht bestimmen. Hier liegt des Menschen Passivität begründet, weil er in seinem Wesenskern nicht sich selbst gegenübertreten kann. Gleichwohl tritt dann allerdings der intuitive Einwand auf, dass die so verstandene Unfreiheit des Willens die Konsequenz mit sich zu führen scheint, dass der Mensch aufgrund dieser Unfreiheit von jeder Verantwortung loszusprechen sei. Die inkompatibilistische Intuition besagt ja gerade, dass Willensunfreiheit letztlich von Verantwortlichkeit – im Sinne einer erforderlichen Stellungnahme vor einer äußeren Instanz – befreit. Hier meldet sich aus theologischer Warte freilich Zweifel an. Denn die iuridische Freiheit, keinem externen Urteil unterworfen zu sein, ist ja nach Dsa gerade ein Alleinstellungsmerkmal Gottes. Es muss also bedacht werden, wie Luther mit der – auch bei Erasmus anzutreffenden – inkompatibilistischen Sichtweise umgeht, dass Determination und Verantwortung sich ausschließen.252 Ganz auf der Linie der aktuellen Verantwortungsdebatte kann darum hier eingangs die von Erasmus erdachte Antwort Jerusalems an den über die Stadt weinenden Jesus (Mt 23, 37) zitiert werden: Warum quälst du dich mit vergeblichem Weinen? Wenn es dein Wille war, daß wir auf die Propheten nicht hören sollten, warum hast du sie gesandt? Warum rechnest du uns zu, was du willentlich getan hast, während wir nur aus Notwendigkeit gehandelt haben? Du hast uns zwar sammeln wollen, aber du hast dies nicht auch in uns gewollt, hast vielmehr in uns gerade bewirkt, daß wir nicht gewollt haben.253

Die Frage der menschlichen Verantwortlichkeit hat im Disput zwischen Erasmus und Luther verschiedene Facetten. Zur Debatte steht zuvorderst (3.3.1) der soteriologische Streitpunkt, ob der Mensch für sein Heil, oder – wie Erasmus meint – zumindest für seine Verdammung in dem Sinne verantwortlich sei, dass er das Urteil Gottes aufgrund seiner eigenen Würdigkeit verdiene, also dass seine Leistungen eine personale Würdigkeit erzeugten, die in einem Begründungszusammenhang mit Gottes Urteil stünde. Verantwortlichkeit ist dann verstanden als Verdienstlichkeit durch eigene Leistung. Mit dem eigenen Würdigkeitsverdienst254 des Menschen ist für Erasmus die Frage nach Gottes Gerechtigkeit aufs engste verknüpft, da dem Humanisten 252 „Weder die Natur noch die Notwendigkeit können sich einen Lohn verdienen.“ (Dla. nach Schumacher : Willen, 48). „Neque natura neque necessitas habet meritum.“ (Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 39 f). 253 Dla. nach: Schumacher, Willen, 47 f. „Quid inanibus lacrimis te maceras? Si tu nolebas nos auscultare prophetis, cur eos misisti? Cur nobis imputas, quod tua voluntate, nostra necessitate factum est? Tu volebas congregare et idem in nobis nolebas, cum hoc ipsum operatus sis in nobis, quod noluerimus.“ (Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 39 [II b 1]). 254 Luther benutzt die Begriffe meritum und merces bisweilen synonym, unterscheidet allerdings an anderen Stellen meritum und merces, wenn er auf die Würdigkeit der Person (dignitas) abhebt. Der Einfachheit halber verwende ich im Folgenden „Verdienst“ im Sinne des nach Würdigkeit verliehenen Verdienstes und setze ansonsten „Lohn“.

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Zur Frage der menschlichen Verantwortlichkeit

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nur die verdiente Strafe Gottes gerecht erscheint, woran sich deutlich die gedankliche Verwandtschaft der modernen Inkompatibilisten mit Erasmus zeigt. Schon jetzt lässt sich wegen des von Erasmus angenommenen Zusammenhangs von Würdigkeitsverdienst des Menschen und Gerechtigkeit Gottes vermuten, dass Luthers Ablehnung einer Verdienstlichkeit in Heilsbelangen eine Verbindung mit seiner Rede vom Deus absconditus eingehen muss. Steht darum womöglich der Deus absconditus im Dienste des sola gratia? Tatsächlich ergibt sich eine Anfrage an Gottes Gerechtigkeit nur, wenn man sie als die nach menschlichem Maße Gott zukommende versteht. Folglich muss man dann im Interesse der Gerechtigkeit Gottes auf die menschlichen Verdienste bestehen. Lohn und Strafe Gottes müssen der Gerechtigkeit des Menschen entsprechen. Es zeigt sich daran, dass das rationale Gerechtigkeitsverständnis mit seinen gängigen Begrifflichkeiten von Verdienst und Lohn das Kennzeichen jeder gesetzlichen Frömmigkeit ist. Versteht man die Gerechtigkeit Gottes aber als diejenige, mit der er sola gratia den Menschen gerecht macht, so fallen alle Verdienste.255 So fällt aber am Ende auch der menschliche Gerechtigkeitsbegriff im Hinblick auf Gott, weil Gottes Handeln nicht mehr als nachvollziehbare Entsprechung zur menschlichen Würdigkeit erscheint: man steht vor dem Deus absconditus. Luthers Argumentation in diesem Themengebiet um die Stichworte „Verdienst“ und „gerechte Strafe Gottes“ unter der Voraussetzung, dass alles, was geschieht, notwendig geschieht, erscheint auf den ersten Blick sehr vielschichtig. Alle entsprechenden Passagen haben aber bei genauem Hinsehen die Rechtfertigung allein aus Gnade zum gemeinsamen Fluchtpunkt. Einesteils begegnet Luther der erasmischen Sorge vor einem moralischen Libertinismus mit einer schlichten Absage an jedwede menschliche Bemühung, weil er in der von Erasmus geforderten weltlich-religiösen Moral nichts anderes sieht, als heuchlerische Versuche der Selbstrechtfertigung. Andernorts weist er Erasmus einen logischen Widerspruch nach, wenn dieser zwar die unverschuldete Verdammung einiger Menschen als ungerecht kritisiert, die ebenso unverdiente Rechtfertigung aus Gnade aber nicht ebenso beanstandet. Hier, so Luther, sei doch eigentlich beides gleichermaßen ungerecht, wenn man der Vernunft folgen wolle. Wieder an anderer Stelle bejaht Luther den Gedanken des eschatologischen Lohns (Heil/Verdammung) sehr wohl als natürliche Folge des guten oder bösen Lebens, lehnt ihn aber als Lohn nach Würdigkeit ab. Wenn Luthers Ablehnung einer würdigkeitsbasierten Verantwortlichkeit in 255 „Die umsonst geschenkte Rechtfertigung erträgt es nicht, dass du Täter aufstellst, weil ,umsonst geschenkt werden‘ und ,sich mit irgendeinem Werk verschaffen‘ sich offensichtlich widersprechen. Ferner erträgt das ,durch die Gnade gerechtfertigt werden‘ nicht, dass du die Würde irgendeiner Person hineinbringst.“ „Gratuita iustificatio non fert, ut operarios statuas, quod manifeste pugnent, gratis donari et aliquo opere parari. Deinde per gratiam iustificari non fert, ut personae ullius dignitatem afferas“ (LDStA 1, 617 = WA 18; 771, 5 – 7).

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Heilsbelangen nun dennoch gegen den von Erasmus befürchteten moralischen Libertinismus abgesichert werden soll, will nach genauerer Betrachtung der genannten Passagen erörtert sein, welche Konsequenzen sich für den zwischenmenschlichen Bereich – iustitia civilis – aus Luthers Gedanken ergeben könnten (3.3.2). Verantwortlichkeit kommt dabei sowohl als Möglichkeit der Verantwortungszuschreibung als auch als Notwendigkeit verantwortungsvollen Handelns in den Blick. Eine letzte Überlegung wird in diesem Abschnitt sein, ob Verantwortung nicht vielleicht anders als über den Verdienst-Gedanken gedacht werden kann, nämlich als im Gewissen unweigerlich bewusst werdende Diskrepanz zwischen Sollen und Sein (3.3.3). 3.3.1 Der Mensch verdient sich vor Gott weder Heil noch Verdammung Erasmus hatte in seiner Vorrede die öffentliche Bekanntmachung der Lehre vom unfreien Willen und von der Notwendigkeit alles Geschehens als gefährlich kritisiert, weil er sowohl einen Sittenverfall im gemeinen Volk als auch einen Schaden für den Glauben befürchtete. Denn einerseits würde diese Lehre den Schwachen und Trägen nur allzu leicht als Ausrede dienen, andererseits würde außerdem Gott als ungerecht und sadistisch erscheinen, wenn er denn bestrafe, was er selbst bewirke.256 Dem hält Luther entgegen: Wer, so sagst du, wird sich noch bemühen, sein Leben zu bessern? Darauf antworte ich: Kein Mensch, auch nicht einer wird es können, denn Gott kümmert sich nicht um deine Verbesserer, die ohne Geist, aber gute Heuchler sind. Gebessert aber werden die Auserwählten und Gottesfürchtigen durch den Heiligen Geist. Die Übrigen werden ohne Besserung vergehen. […] Wer wird, so fragst du, glauben, dass er von Gott geliebt wird? Darauf antworte ich: Kein Mensch wird es glauben und keiner wird das vermögen; die Auserwählten aber werden es glauben, die Übrigen werden ohne Glauben vergehen, schmähend und lästernd, wie du es hier tust.257

Was auf den ersten Blick wie Gleichgültigkeit gegenüber der erasmischen Sorge oder gar gegenüber dem Geschick der übrigen Ungläubigen (caeteri non credentes) erscheinen mag, hat doch seinen tieferen Grund darin, dass Luther in genauem Gegensatz zu Erasmus den Glauben gerade dann in Gefahr sieht, wenn vom servum arbitrium geschwiegen würde, nicht etwa, wenn es gelehrt würde. Zum einen würde in diesem Fall kein Mensch vom eigenen Hochmut befreit und demütig die göttliche Gnade annehmen. Denn Luther erkennt in 256 Vgl. Dla. nach: Schumacher, Willen, 21 = Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 9 – 10 (Ia10). 257 LDStA 1, 283. „Quis, inquis, studebit corrigere vitam suam? Respondeo: nullus hominum neque etiam ullus poterit, nam correctores tuos sine spiritu Deus nihil moratur, cum sint hypocritae. Corrigentur autem electi et pii per spiritum sanctum, Caeteri incorrecti peribunt. […] Quis credet (inquis) a Deo se amari? Respondeo: Nullus hominum credet neque poterit, electi vero credent, caeteri non credentes peribunt, indignantes et blasphemantes, sicut tu hic facis.“ (WA 18; 632, 3 – 6.8 – 10).

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der Lehre vom servum arbitrium die höchste Demütigung des menschlichen Selbstvertrauens, dessen Preisgabe die Bedingung rechten Gottvertrauens ist.258 Sofern das Gesetz die Erkenntnis der eigenen Unfreiheit fördert, muss man die Annahme des servum arbitrium tatsächlich als Wirkung des zum Ziel gekommenen Gesetzes verstehen: Hier, wo der Mensch von sich selbst nichts mehr erwartet und erhofft, ist er der Gnade am nächsten. Es kann für Luther darum nur diese Alternative geben: Entweder man vertritt ein liberum arbitrium, oder man vertraut auf die Gnade Gottes. Graduelle Verschiebungen – die Gnade wirkt am meisten, das Willensvermögen wirkt nur ein wenig – oder sophistische Spitzfindigkeiten – ein meritum de congruo ist kein meritum de condigno – laufen für Luther immer auf dasselbe hinaus: einen mehr oder weniger verdeckten Pelagianismus.259 Zum anderen erachtet Luther die öffentliche Lehre von Gottes Allwirksamkeit für unverzichtbar aus Erwägungen über das Wesen des Glaubens selbst. So entsteht nach Luther im Glauben ein Raum für den Glauben, nämlich unter dem Anschein der Ungerechtigkeit Gottes. Der Glaube lebt sozusagen im Raum des sub contrario Verborgenen. An dieser Stelle liegt der höchste Grad des Glaubens: zu glauben, dass derjenige gütig ist, der so wenige rettet und so viele verdammt; zu glauben, dass derjenige gerecht ist, der uns nach seinem Willen notwendigerweise verdammungswürdig macht, so dass es scheint, um Erasmus zu zitieren, dass er die Qualen der Elenden genießt und eher hassens- als liebenswert ist. Wenn ich also auf irgendeine Weise begreifen könnte, wie

258 „Gott hat mit Gewissheit den Gedemütigten, das heißt, den völlig Verzweifelten seine Gnade zugesagt. […] Solange er [sc. der Mensch] sich nun einredet, dass er auch nur ein klein wenig zu seinem Heil beitragen kann, bleibt er im Vertrauen auf sich selbst und verzweifelt nicht vollständig an sich, demütigt er sich nicht vor Gott. […] Wer aber in keiner Weise daran zweifelt, er hänge ganz vom Willen Gottes ab, der verzweifelt gänzlich an sich selbst, der wählt nichts, sondern erwartet den wirkenden Gott. Der ist der Gnade am nächsten, dass er heil wird.“ „Deus certo promisit humiliatis, id est, deploratis et desperatis, gratiam suam. […] Siquidem, quamdiu persuasus fuerit, sese vel tantulum posse pro salute sua, manet in fiducia sui, nec de se penitus desperat, ideo non humiliatur coram Deo […].Qui vero nihil dubitat, totum in voluntate Dei pendere, is prorsus de se desperat, nihil eligit, sed expectat operantem Deum, is proximus est gratiae, ut salvus fiat.“ (LDStA 1, 285) = WA 18; 632, 29 – 30.33 – 35.36 – 633, 1). 259 „Und wenn sie auch mit Zunge und Feder so tun, dass sie nicht mit einem Verdienst im eigentlichen Sinn die Gnade erlangten und es auch nicht ,Verdienst im eigentlichen Sinn‘ nennen, täuschen sie uns dennoch mit der Vokabel und halten nichtsdestoweniger an der Sache fest. Was nämlich entschuldigt es, dass sie es nicht ,Verdienst im eigentlichen Sinn‘ nennen und ihm dennoch alles zuschreiben, was zu einem Verdienst im eigentlichen Sinn gehört? Nämlich, dass der bei Gott Gnade erlangt, der sich bemüht. Jener aber, der sich nicht bemüht, sie nicht erlangt.“ „Et quamvis lingua et calamo praetexant, sese condigno merito gratiam non consequi, nec ipsum appelent meritum condignum, tamen vocabulo nos ludunt et rem nihilominus tenent. Quid enim excuset, quod meritum condignum non appellent et tamen omnia ei tribuant, quae sunt meriti condigni? nempe quod hic apud Deum gratiam consequitur, qui conatur, Ille vero, qui non conatur, non consequitur.“ (LDStA 1, 613 = WA 18; 770, 4 – 10).

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Luthers Position

dieser Gott barmherzig und gerecht sein kann, der so großen Zorn und so große Ungerechtigkeit beweist, wäre der Glaube nicht nötig.260

Dass Luther also die öffentliche Verkündigung der Unfreiheit des Menschen und der Allwirksamkeit Gottes so rigoros einfordert, liegt nicht allein an dem Gehorsam gegenüber dem Worte Gottes – „es wäre wohl schon genug zu sagen: Gott wollte, dass es unters Volk gebracht wird“261 –, sondern an seiner Überzeugung, dass andernfalls Gnade und Glaube in Gefahr gerieten. Eine Verantwortlichkeit des Menschen in dem Sinne, dass der Mensch sein Heil oder Unheil selbst verdienen könne, lehnt Luther daher um des sola gratia willen ab – auch um den Preis, die Rede von der unverschuldeten Verdammung als die Provokation unseres Gerechtigkeitsempfindens bestehen zu lassen, die sie nun einmal darstellt. Hier bleibt auch kein gangbarer Kompromiss: Der Gott, der in seiner allwirksamen Majestät den bösen Willen nicht ändert und diesen Willen als Schuld anrechnet, bleibt unerforschlich.262 Aber wirkt es nicht dennoch befremdlich, wenn Luther die Notwendigkeit der Lehre vom unfreien Willen mit dem Wesen des Glaubens dahingehend begründet, dass die Verborgenheit der göttlichen Barmherzigkeit nötig ist, weil der Glaube wesentlich Glaube an unsichtbare Dinge ist?263 Denn gewiss hat Luther bei seinem Insistieren auf Gottes Erwählungsfreiheit nicht im Sinn, dass Gott durch seine Abscondität gleichsam das Vakuum schaffe, welches der Mensch anschließend eigenständig mit Glauben zu füllen habe. Würde dies nicht die These, dass Gottes Abscondität eine Konsequenz des Wissens um den Gnadenmonergismus darstellt, geradewegs umkehren? Der Anschein von Ungerechtigkeit ist sicher keine Bedingung der Möglichkeit des Vertrauensglaubens. Die Rede vom Deus absconditus ist doch vielmehr bereits eine Glaubensaussage unter dem Vorzeichen gegenwärtiger Anfechtungserfahrung. So besteht dieser Raum – als gefüllter! – dort, wo etwa mit dem Wissen um die Unverfügbarkeit des Glaubens (sola gratia) zugleich die Erfahrung faktischer Glaubensschwäche oder gar Unglaubens gemacht wird. Der feste Glaube akzeptiert hingegen gar nicht den gegenwärtig erfahrbaren Anschein der Un260 LDStA 1, 287. „Hic est fidei summus gradus, credere illum esse clementem, qui tam paucos salvat, tam multos damnat, credere iustum, qui sua voluntate nos necessario damnabiles facit, ut videatur, referente Erasmo, delectari cruciatibus miserorum et odio potius quam amore dignus. Si igitur possem ulla ratione comprehendere, quomodo is Deus sit misericors et iustus, qui tantam iram et iniquitatem ostendit, non esset opus fide.“ (WA 18; 633, 15 – 21). 261 LDStA 1, 285. „[S]atis erat quidem dicere, Deus voluit ea vulgari“ (WA 18; 632, 22 – 23). 262 „Warum jene Majestät diesen Fehler unseres Willens nicht aufhebt oder in allen ändert, weil es ja doch nicht in der Macht des Menschen liegt, oder warum er ihm jenen anrechnet, obwohl sich der Mensch ihm nicht entziehen kann, danach zu fragen ist nicht erlaubt.“ „Verum quare maiestas illa vitium hoc voluntatis nostrae non tollit aut mutat in omnibus, cum non sit in potestate hominis, aut cur illud ei imputet, cum non possit homo eo carere, quaerere non licet“ (LDStA 1, 407 = WA 18; 686, 8 – 11). 263 „Damit also dem Glauben Raum gegeben wird, ist es nötig, dass alles, was geglaubt wird, verborgen wird.“ „Ut ergo fidei locus sit, opus est, ut omnia quae creduntur, abscondantur“ (LDStA 1, 287 = WA 18; 633, 7 – 8).

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barmherzigkeit Gottes, sondern widerspricht ihm. Haben für Luther die res non apparentia, auf die sich der Glaube wesentlich bezieht,264 den Sinn des Zukünftigen (Hebr. 11,1), so muss der Raum des Glaubens als diejenige Differenz verstanden werden, die sich zwischen gläubigem Zukunftsvorgriff und gegenwärtiger Erfahrung ergibt.265 Auch in diesem Sinne ließe sich Luthers Satz verstehen, der Heilige Geist schreibe in die Menschenherzen assertiones, die weit gewisser und fester seien als das Leben selbst und alle Erfahrung.266 Der gläubige Widerspruch gegen den Anschein der Unbarmherzigkeit geschieht allerdings derart, dass er seinerseits keinesfalls Gott auf eine bestimmte menschliche, in der Zukunft sich zu bewähren habende Gerechtigkeitsvorstellung festlegt. Sofern der Glaube auf den eschatologischen Erweis der Gerechtigkeit Gottes vorgreift, hält er in der gegenwärtigen Erfahrung scheinbarer Unbarmherzigkeit vorgreiflich an der Hoffnung auf die Gottesgerechtigkeit fest, ohne sich ein eigenes vom eigenen Gerechtigkeitsbegriff gespeistes Urteil anzumaßen.267 Dieser vorgreifende Charakter des Glaubens 264 Vgl. LDStA 1, 287 = WA 18; 633, 7. 265 Ohne mich auf die gesamte Diskussion um den Bereich „Offenbarung – (Historie/Hl. Geist) – Glaube“ einlassen zu können (vgl. hierzu etwa: Paul Althaus, Offenbarung als Geschichte und Glaube. Bemerkungen zu Wolfhart Pannenbergs Begriff der Offenbarung, ThLZ 87 [1962], Sp. 321 – 330, sowie Wolfhart Pannenberg, Einsicht und Glaube. Antwort an Paul Althaus, ThLZ 88 [1963], Sp. 81 – 92), halte ich es für bedenkenswert, ob nicht der Glaube, wenn er nicht zu einem werkhaften Entscheid des Subjekts werden soll, durchaus Anhalt nehmen muss an Erfahrbarem, an der notitia historica, jedoch in seinem Vollzug dieses Erfahrbare übergreift auf ein Zukünftiges oder Nicht-Erfahrbares. In diesem Sinne muss etwa der Glaube an die Gottessohnschaft Jesu Anhalt an dessen Person und Geschick nehmen, wie auch der Glaube an das künftige Gottesreich Anhalt nimmt am Wort seiner Verheißung (anders: Schwarz, Fides, 317, wonach bei Luther „die christliche Hoffnung im Bereich des Vorfindlichen keinen Anhaltspunkt hat“. Vgl. a. a. O., 156ff). Wie dabei aber das Skandalon der Gottesoffenbarung am Kreuz (sub contrario) durch die Auferweckung Jesu seinen Sinn und also sein Recht erhält, so wird nach Luther auch der eschatologische Erweis der verheißenen Gottesgerechtigkeit die derzeitig gegenteiligen Erfahrungen in ein rechtes Licht rücken. Es ist also tatsächlich allein der Glaube, der den Raum dieser Diskrepanz von Zukünftigem und Erfahrbarem füllen kann. Dass der Glaube darum nicht in pauschaler Weise gegen die Vernunft in Anschlag gebracht werden kann, sondern bei Luther auch der Gedanke einer gläubigen Vernunft auftritt, führt etwa Bernhard Lohse, Ratio, 93 an: Es „wendet sich Gottes Handeln doch auch in gewissem Sinne an die Vernunft, zwar nicht an die selbstherrliche Vernunft des alten sündigen Menschen, wohl aber an die Vernunft, die, indem sie durch den Glauben ertötet und erneuert wird, ,wider Willen‘ von Gottes Urteil überführt wird und sich darunter beugen muß. Denn was dem Menschen als widerspruchsvoll oder ,irrational‘ erscheint, das ist in Gottes Augen klar, gerecht und eines. Einst in der Herrlichkeit wird das allenthalben offenbar sein“. 266 Vgl. LDStA 1, 233 = WA 18; 605, 32 – 33. 267 So schreibt Luther bereits in De libertate Christiana, dass der Glaube, der Gottes Verheißungen für wahr hält, der „summus cultus dei“ (WA 7; 54, 3) sei und setzt dann fort: „Dabei hält sich die Seele allen seinen Willensäußerungen gegenüber bereit, sie heiligt seinen Namen und lässt alles mit sich geschehen, wie es Gott gefällt, da sie seinen Verheißungen anhängt und nicht zweifelt, dass er in seiner Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Weisheit alles aufs Beste wirkt, ordnet und besorgt.“ „Hic paratam sese praebet [sc. anima] in omnes voluntates eius, hic sanctificat nomen eius et secum agi patitur, sicut placitum fuerit deo, quia promissis eius inhaerens non

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ermöglicht es m. E., das gegenwärtige Erleben von Gottes unbegreiflichem, scheinbar ungerechtem Handeln auch als ein tatsächliches Übel für den Menschen zu benennen, es aber zugleich in den Horizont des eschatologischen Erweises der Gottesgerechtigkeit einzustellen. Ein solcher Glaube, der als Wissen um die Alleinwirksamkeit der Gnade vertrauensvoll auf die eigene Zukunft vorgreift, müsste darum ein gegenwärtig erfahrenes Übel nicht entwerten, müsste es aber zugleich im Vertrauen auf die zukünftige Bewährung der Barmherzigkeit Gottes der göttlichen Weltführung überantworten. Dass also dort, wo Gott sich unter dem Anschein seines Zorns und seiner Ungerechtigkeit verbirgt, der Glaube seinen höchsten Grad erlange, nämlich als Widerspruch gegen diesen Schein, zeigt m. E. deutlich an, wie Luthers Rede von Gottes Verborgenheit in der Folge des sola gratia steht und zwar als dessen abgründige Konsequenz. Ein ganz ähnliches Bild zeichnet auch Luthers Beschäftigung mit der Töpfer/Gefäß-Metapher aus Jes 45. Hier gibt er erneut zu verstehen, dass er eher bereit ist, die unverschuldete Verdammung der Ungläubigen anzunehmen, als von der unverdienten Rechtfertigung allein aus Gnade abzurücken, wenn anders beide Phänomene korrelieren. Und auch hier verweist er zunächst auf die Unerforschlichkeit des göttlichen Heilswillens. Doch der Fortgang nimmt eine interessante Wendung: Gerade an der Stelle, an der Luther der menschlichen Vernunft vorwirft, unzulässigerweise in den Heilsratschluss Gottes eindringen zu wollen und seine Gottheit infrage zu stellen, gerade dort, wo er gläubige Demut gegenüber den Geheimnissen der göttlichen Majestät fordert und der Vernunft ihre Zuständigkeit abspricht, da begibt er sich nun doch – als Zugeständnis? – auf das Gebiet der Vernunft und zeigt ihr ihre eigene Irrationalität auf. Er führt die Argumentation also auf zwei Ebenen: zum einen, indem er der Vernunft Einhalt gebietet vor dem Willen Gottes; zum anderen, indem er sie mit ihren eigenen Mitteln bedrängt.268 Denn, wenn es ungerecht erscheint, dass Gott ohne Rücksicht auf Verdienste manche Gottlose verdamme, dann muss die unverdiente Rechtfertigung anderer Gottloser als ebenso ungerecht angesehen werden. Wenn wir der Vernunft folgen wollen, ist es gleich ungerecht, dass Unwürdige gekrönt und [andere] Unwürdige bestraft werden. […] Wenn Gott die Unwürdigen ohne Verdienst selig macht, ja, wenn er sogar trotz vieler Schuld die Gottlosen rechtfertigt, nicht der Ungerechtigkeit anklagt – da beschwert es [sc. das menschliche Herz] sich nicht, warum er das will, wenn es auch ganz ungerecht ist nach seinem eigenen Urteil. […] Denn beiderseits ist die gleiche Ungerechtigkeit, wenn du unser Verständnis berücksichtigst. […] Aber wenn dir der Gott gefällt, der Unwürdige krönt, darf dir dubitat eum, verum, iustum, sapientem, omnia optime facturum, dispositurum, curaturum.“ (LDStA 2, 133 = WA 7; 54, 4 – 7). 268 Der Vorwurf gegenüber der Diatribe lautet hier, sie würde eben nicht – wie sie sollte – nach Gerechtigkeit und Billigkeit (aequitas), sondern nach eigenem Geschmack (affectus sui comodi) urteilen. Vgl. LDStA 1, 515 = WA 18; 730, 28 – 31.

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nicht auch der derjenige missfallen, der [andere], die es nicht verdient haben, verdammt. Wenn er dort gerecht ist, warum wird er hier nicht gerecht sein?269

Diese Passage, in der Luther sich auf eine vernünftige Argumentation einlässt, ist äußerst wertvoll für das Verständnis eines grundsätzlichen Kritikpunktes an der Diatribe, gerade weil Luther hier der Vernunft zumutet, die scheinbare Ungerechtigkeit Gottes formal als Gerechtigkeit anzuerkennen – oder aber im Gegenzug einen gleichartigen Anstoß an der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade zu nehmen. Obwohl nämlich das pauschale Bild nach Dsa eher das einer Diastase von Glaube und Vernunft zu sein scheint, blicken wir hier, wo Luther sich selbst eines Vernunftarguments bedient, etwas tiefer in einen Selbstwiderspruch des Erasmus. Der wollte eigentlich der „annehmbaren Meinung“ zustimmen, dass der Mensch ein freies Wahlvermögen habe, aber zum Guten nur unter der Mitwirkung der göttlichen Gnade fähig sei. Dadurch sollten einerseits die Verantwortung des Menschen und die Gerechtigkeit der göttlichen Strafe als vernünftige Glaubenssätze gesichert und gleichzeitig mit dem Festhalten an Gottes alleinigem Gnadenhandeln andererseits der Frömmigkeit ihr Recht zugestanden werden. Luther zeigt nun aber hierfür eine Inkonsequenz des Erasmus, weil man logischerweise entweder einen Verdienst sowohl zum Heil als auch zum Unheil annehmen muss oder aber keinerlei Verdienst akzeptieren kann. Es bleibt also ein Dilemma dieser Koalition von Vernunft und Glaube, dass, wer die Verdammung nach Verdiensten fordert, auch gleichermaßen an der Erlösung nach Verdiensten festhalten muss – eine Folgerung, die Luther dem Erasmus mehr als einmal als Selbstwiderspruch vorwirft, wollte dieser doch eigentlich ein Vermögen des Menschen zum Guten ausgeschlossen wissen.270 Obwohl es Luther also in der Regel genügt, den Glauben als Glauben – nämlich als das vorgreifende Vertrauen auf die sich zukünftig zu bewähren habende Gerechtigkeit Gottes zu fordern – zeigt er hier außerdem, dass Erasmus sich beim Versuch, Verdienst und Gnade in ein vernünftiges Verhältnis zu setzen, in Inkonsequenzen verstrickt. Daher trifft das Bild einer Diastase von Glaube und Vernunft für Luther nur bedingt zu: 269 LDStA 1, 515. „Si rationem sequi volumus, aeque iniquum est, indignos coronari atque indignos puniri. […] Deum cum indignos sine meritis salvat, imo cum multis demeritis iustificat impios, non accusat iniquitatis, ibi non expostulat, cur hoc velit, cum sit iniquissimum sese iudice […] utrobique enim par iniquitas, si sensum nostrum spectes […]. At si placet tibi Deus indignos coronans, non debet etiam displicere immeritos damnans, Si illuc iustus est, cur non hic iustus erit?“ (WA 18; 730, 18 – 19.23 – 25.33 – 34. 731, 5 – 7). 270 Vgl. etwa LDStA 1, 415 = WA 18; 689, 5 – 9: „Wollen wir auch das einstweilen zugeben, dass diese Folgerung und dieser Beweis [sc. dass Notwendigkeit Schuld ausschließe] der ,Diatribe‘ wahr und gut sei – was, frage ich, wird bewiesen? Etwa die annehmbare Meinung, die besagt, das freie Willensvermögen könne das Gute nicht wollen? Im Gegenteil wird ein freier, gesunder, zu allem, was die Propheten gesagt haben, fähiger Wille bewiesen. Aber einen solchen zu beweisen, hat die ,Diatribe‘ nicht vorgehabt.“ „Et donemus interim veram et bonam esse istam sequelam et probationem Diatribes. Quid rogo probatur? nunquid probabilis opinio, quae dicit liberum arbitrium non posse velle bonum? Imo probatur libera, sana et potens in omnia, quae Prophetae dixerunt, voluntas. At talem non suscepit probandam Diatribe.“

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Seine Glaubensrechenschaft ist selbstverständlich rational-argumentativ, wie er auch hier sehr wohl logisch argumentiert – unter der Prämisse des sola gratia. Die Inkonsequenz des Erasmus tadelt Luther dagegen als Unglaube: Da also [Herrin] Vernunft Gott lobt, wenn er Unwürdige selig macht, ihn aber anklagt, wenn er [andere], die es nicht verdient haben, verdammt, ist sie überführt, dass sie Gott nicht als Gott lobt, sondern nur dann, wenn er ihrem Vorteil dient. Das bedeutet: Sie sucht und lobt in Gott sich selbst und das Ihre, nicht Gott oder, was Gottes ist.271

So zeigt auch diese Stelle deutlich, dass nach Luther der Mensch weder Heil noch Unheil selbst verdienen kann, weil Gott keinen Verdiensten und Gesetzen unterworfen ist. Auch hier erscheint der freie Ratschluss Gottes im Dienste des sola gratia. Der nach Verdiensten urteilende Gott erscheint Luther – man denke an seine Klosterkämpfe – schrecklicher als der in Freiheit erwählende, denn: [W]ehe uns Elenden, bei so einem Gott [sc. der nach Verdiensten urteilt]! Denn wer wird selig werden?272

Indem Erasmus in Luthers Sicht immer wieder bei dem Ergebnis anlangt, dass der Mensch auch an seinem Heil, nicht nur – wie ursprünglich behauptet – allein an seiner Verdammung, aktiv beteiligt sein müsse, legt er Luther zufolge ein Grundproblem der natürlichen Vernunft offen: Sie kann zwar eine Ahnung von Gottes Allmacht und von unserer Unfreiheit erlangen; sie kann weiterhin auch zur formal-hypothetischen Anerkennung von Gottes Gerechtigkeit gezwungen werden; aber sie kann materialiter nicht einsehen, wie das gerecht sein könne, dass Gott nach freiem Ratschluss mit Zorn und Gnade umgeht.273 Darum bleibt die voluntas Dei abscondita für den Menschen unbegreiflich bis die ungetrübte Erkenntnis Gottes einsetzt: im Licht der Herrlichkeit. Inzwi271 LDStA 1, 515. „Cum igitur Ratio Deum laudet indignos salvantem, arguat vero immeritos damnantem, convincitur, non laudare Deum ut Deum, sed ut suo comodo servientem, hoc est, seipsam et quae sua sunt in Deo quaerit et laudat, non Deum aut quae Dei sunt.“ (WA 18; 731, 2 – 5). 272 LDStA 1, 515. „[V]ae nobis tunc miseris, apud illum Deum, Quis enim salvus erit?“ (WA 18; 730, 22). 273 So auch über den verstockenden Gott aus Ex 4: „Dies, so wird die Vernunft diktieren, ist nicht die Art eines guten und milden Gottes. Zu sehr geht dies über ihr Fassungsvermögen, und sie kann sich auch nicht gefangen nehmen lassen zu glauben, Gott sei gut, der solches tut und entscheidet. Sondern unter Ausschluss des Glaubens will sie tasten, sehen und fassen, wie er gut und nicht grausam ist. […] Aber der Glaube und der Geist urteilen anders. Sie glauben, dass Gott gut ist, auch wenn er alle Menschen verdürbe.“ „Haec dictabit ratio non esse boni et clementis Dei. Superant nimio captum illius, nec captivare etiam sese potest, ut credat bonum esse Deum, qui talia faciat et iudicet, sed seclusa fide palpare et videre et comprehendere vult, quomodo sit bonus et non crudelis. […] Sed fides et spiritus aliter iudicant, qui Deum bonum credunt, etiam si omnes homines perderet.“ (LDStA 1, 461 = WA 18; 708, 1 – 4.8 – 9).

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schen bleibt Gottes Erwählungsgerechtigkeit kein Vernunft-, sondern ein Glaubenssatz. In beiden Fällen ist er bei den Menschen übermäßig und ungerecht. Aber gerecht und wahrhaft bei sich selbst. Denn wie das gerecht ist, dass er Unwürdige krönt, ist zwar unbegreiflich; wir werden es aber sehen, wenn wir dahin gekommen sind, wo nicht mehr geglaubt, sondern mit enthülltem Angesicht geschaut wird. So unbegreiflich es ist, wie das gerecht ist, dass er die, die es nicht verdient haben, verdammt – es wird dennoch geglaubt werden, bis der Menschensohn offenbar wird.274

Dass Luther der intuitiv einleuchtenden Forderung nach einem Entsprechungsverhältnis zwischen Belohnung/Strafe und der Würdigkeit des Menschen widerspricht, erscheint nun aber konterkariert durch solche Passagen, in denen er den jeweiligen eschatologischen Lohn als natürliche Folge eines guten oder bösen Lebens bejaht. Ist dies nicht genau die These, die Erasmus vertrat? Scheint nicht im Begriff der Folge das Moment kausaler Wirkung enthalten zu sein? Offensichtlich macht es in Luthers Denken einen Unterschied, ob ein Verdienst nach Würdigkeit der Person oder als Folge eines bestimmten Werkes gewährt wird. Worauf genau hebt also Luthers Unterscheidung ab, wenn er hier Würdigkeit (dignitas) und Folge (sequela) in spezifischer Weise differenziert? Bei Verdienst und Lohn handelt man entweder von der Würdigkeit oder von der Folge. Wenn du die Würdigkeit betrachtest, gibt es kein Verdienst, keinen Lohn. Wenn nämlich das freie Willensvermögen aus sich allein das Gute nicht wollen kann, sondern das Gute allein durch die Gnade will […] – wer sieht nicht, dass jener gute Wille, Verdienst und Lohn allein Sache der Gnade sind? […] Wenn du die Folge betrachtest, gibt es nichts, sei es Gutes, sei es Böses, was nicht seinen Lohn hätte. Und der Irrtum rührt daher, dass wir hinsichtlich Verdienst und Lohn unnütze Gedanken und Fragen aufwenden im Blick auf Würdigkeit, die es nicht gibt, weil über die Folgen allein zu diskutieren ist.275

Demnach ist für Luther die Würdigkeit des Menschen vor Gott auf der Ebene des liberum arbitrium zu verorten und wird folglich gemeinsam mit diesem abgelehnt, während der Lohn als natürliche Folge allein auf einen bestimmten 274 LDStA 1, 517. „[U]trobique nimius et iniquus apud homines, Sed iustus et verax apud seipsum. Nam quomodo hoc iustum sit, ut indignos coronet, incomprehensibile est modo, videbimus autem, cum illuc venerimus, ubi iam non credetur, sed revelata facie videbitur. Ita quomodo hoc iustum sit, ut immeritos damnet, incomprehensibile est modo, creditor tamen, donec revelabitur filius hominis.“ (WA 18; 731, 8 – 11). 275 LDStA 1, 427. „In merito vel mercede agitur vel de dignitate vel sequela. Si dignitatem spectes, nullum est meritum, nulla merces. Si enim liberum arbitrium se solo non potest velle bonum, per solam vero gratiam vult bonum […], quis non videt, solius gratiae esse bonam illam voluntatem, meritum et praemium? […] Si sequelam spectes, nihil est, sive bonum, sive malum, quod non suam mercedem habeat. Atque error inde venit, quod in meritis et praemiis inutiles cogitationes et quaestiones versamus de dignitate, quae nulla est, cum de sola sequela disputandum sit.“ (WA 18; 693, 38 – 694, 1.5 – 8).

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Willen und dessen Ausführung Bezug nimmt. Luther meint offensichtlich, eigene Würdigkeit erlange der Mensch nur, wenn er von sich aus einen Willen zum Guten oder Bösen bilden könnte. Im Grunde stimmt er Erasmus damit zu, verneint nur grundsätzlich das Vermögen des Menschen, seinen Willen selbst zu ändern. Dass also der Mensch seine dignitas selbst erzeuge und dadurch eine entsprechende Reaktion Gottes erzwinge, kommt Luther nicht in den Sinn, weil er Gottes Freiheit gegen das Gesetz der Verdienstlogik verteidigt. Der gute Wille ebenso wie das resultierende Verdienst sind alleinige Sache der Gnade (solius gratiae sunt). Dass es aber einen ewigen Lohn geben wird, der einem so oder so beschaffenen Menschenleben entspricht, ist für Luther eine unbestreitbare Angelegenheit. Eine derartige Abfolge des äußerlichen Geschehens wäre durchaus in der Nähe zum äußerlichen Naturgeschehen denkbar, wie Luther (in Anspielung an das Taufgeschehen?) andeutet.276 Es steht zu vermuten, dass Luther ein Verdienstlichkeitsgesetz, dem auch Gott sich zu unterwerfen hätte, ablehnt, gleichwohl aber keine Bedenken hegt im Hinblick auf die Gesetzmäßigkeit des äußerlichen Abfolgeverlaufs. Was dabei allerdings gedanklich mitgeführt werden muss, ist, dass für Luther der Mensch sich nicht selbstmächtig zu einem guten oder bösen Leben entscheiden kann, sondern dass umgekehrt bereits das gegenwärtige Leben die Wirklichkeit der Gnade oder der allgemeinen Wirksamkeit Gottes spiegelt, die ihrerseits nicht an äußere Gesetzlichkeiten gebunden ist.277 Dass Gutes und Böses ihre notwendige Folge haben, besagt entgegen der Logik des Erasmus nicht, dass wir Gutes oder Böses von uns aus vermögen.278 Dies bestätigt noch einmal den bereits herausgestellten Zusammenhang zwischen der göttlichen Alleinwirksamkeit in Heilsdingen einerseits und der Notwendigkeit allen Weltgeschehens überhaupt.279 Denn die Gewissheit des eschatologischen Heils spiegelt sich gegenwärtig auch in der Gewissheit der göttlichen Weltlenkung überhaupt. Die Differenz von Würdigkeitsverdienst und Lohn der Folge verläuft of276 „Natürlich folgt: Wenn du ins Wasser getaucht wirst, wirst du ersaufen. Wenn du auftauchst, bist du gerettet.“ „Naturaliter sequitur, si in aquam mergaris, suffocaberis, Si enataveris, salvus eris.“ (LDStA 1, 425 = WA 18; 693, 35 – 36). 277 „Der Lohngedanke wurzelt vielmehr darin, daß Gottes allbedingendes und unveränderliches Handeln nicht ein bloßes allgemeines Gesetz, sondern tatsächliches und wirkliches Handeln ist und ein Ziel hat, das es erreichen wird. Deshalb ist der Lohn- und Verdienstbegriff wohl abzulehnen, sobald er Würdigkeit bedeuten will, dagegen ist er beizubehalten, sobald er von nichts anderem als von den Folgen (sequela) dessen spricht, was Gott jetzt bereits an den Menschen tut.“ (Hermann, Theologie, 151 f). 278 „Verdienst oder vor Augen gestellter Lohn, was ist das anderes als eine bestimmte Zusage? Aber dadurch wird nicht bewiesen, dass wir irgendetwas vermögen. Denn das zeigt nur an, dass einer, wenn er dieses oder jenes getan hat, dann Lohn dafür haben wird.“ „Meritum vero seu merces proposita quid est aliud nisi promissio quaedam? sed ea non probatur aliquid nos posse, cum nihil ea significetur aliud quam: si quis hoc vel hoc fecerit, tum mercedem habiturus sit.“ (LDStA 1, 425 = WA 18; 693, 19 – 21). 279 Vgl. 3.1.4.1.1.

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fensichtlich an exakt derselben Grenze, ohne deren Erkenntnis die gesamte Lutherschrift unverständlich bleiben muss: an der unabdingbaren Unterscheidung der Willensfreiheit im Sinne der Hervorrufung des Willens durch sich selbst von Freiheit im Sinne von Ungezwungenheit. Dies lässt sich am korrelierenden Begriff der Notwendigkeit unzweifelhaft zeigen. Vor dem Hintergrund des erasmischen Satzes, dass Notwendigkeit keinen Verdienst trage, verweist Luther erneut auf die altbekannte Unterscheidung von necessitas coactionis und necessitas immutabilitatis. Darüber wollen wir vielmehr reden, dass die Notwendigkeit weder Verdienst noch Lohn hat. Wenn wir von der Notwendigkeit des Zwanges reden, ist es wahr. Wenn wir von der Notwendigkeit der Unveränderlichkeit reden, ist es falsch. Wer nämlich würde einem Arbeiter gegen dessen Willen Lohn geben oder ihm Verdienst anrechnen? Aber für diejenigen, die willentlich das Gute oder das Böse tun, auch wenn sie diesen Willen mit ihren eigenen Kräften nicht ändern können, folgen natürlich und mit Notwendigkeit Lohn oder Strafe.280

Für die erasmische Position, die eine Verantwortlichkeit des Menschen nur anerkennt, sofern seine Handlungen auf einem selbst-bestimmten Willen beruhen, mag diese Auskunft sicher unzureichend sein. Dem Reformator scheint es dagegen zu genügen, die Notwendigkeit und Berechtigung von Entlohnung in willentlichen Handlungen zu verorten – nicht als Verdienst nach Würdigkeit, sondern als selbstverständliche Folge. Dass einer erzwungenen Tat kein Lohn entspricht, will darum schnell einleuchten, weil sie unbzw. widerwillig geschieht, also gar nicht in Beziehung zum Willen einer Person steht. Darin sind sich Erasmus und Luther völlig einig. Nur ist eben Zwang nicht, wie Erasmus meint, der einzig mögliche Begriff von Notwendigkeit. Wenn wir des Weiteren unter der Notwendigkeit der Unveränderlichkeit verstehen, dass hier ein Gerissen-Werden des Willens durch die Affekte des Herzens geschieht, dass also der Mensch an seinem bestimmten Willen ganz und gar beteiligt ist, dann sollte auch einsichtig werden, wie dem Tun des Menschen ein entsprechender Lohn folgen kann, dessen Berechtigung gar nicht fraglich ist, eben weil er als Folge des eigenen Wollens und Tuns erscheint.281 Das ist ja die Pointe von Luthers Notwendigkeitsverständnis, dass 280 LDStA 1, 425. „De hoc potius dicemus, Quod necessitas neque meritum neque mercedem habet. Si de necessitate coactionis loquimur, verum est, Si de necessitate immutabilitatis loquimur, falsum est. Quis enim invito operario mercedem daret aut meritum reputet? Verum iis qui volenter faciunt bonum vel malum, etiam si hanc voluntatem suis viribus mutare non possunt, sequitur naturaliter et necessario praemium vel poena“ (WA 18, 693, 30 – 34). 281 Es ist daher keine unerhebliche Beobachtung, dass zwischen Dignitätsverdienst – auf der Ebene des liberum arbitrium – und Lohn der Folge – auf der Ebene der voluntas – die Grenze verläuft, die auch den allwirksamen Deus absconditus vom Deus revelatus trennt. So etwa zu Ez 18 und Mt 23 (zur Antwort Jerusalems an den weinenden Jesus): „Also wird richtig gesagt ,Wenn Gott nicht den Tod will, ist es unserem Willen anzurechnen, dass wir zugrunde gehen‘. Richtig, sage ich, wenn du von dem gepredigten Gott sprichst! Denn der will, dass alle Menschen selig werden, denn im Wort des Heils kommt er zu ihnen allen, und es ist die Schuld des

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sowohl das böse als auch das geistgewirkte gute Leben willentlich vollzogen (sponte et libenti voluntate) und bejaht werden.282 Die Forderung nach indeterminierter Willensfreiheit als Voraussetzung von Verantwortlichkeit stellt sich im lutherischen Denken als Überforderung des Menschen dar : einerseits, weil sie dem Menschen die Unmöglichkeit abverlangt, sein Innerstes zu kontrollieren; andererseits, weil sie überhaupt der Illusion aufsitzt, der Mensch könne sich gegenüber seinem Schöpfer verselbständigen. Denn wie sich gezeigt hat, ist die Notwendigkeit der Unveränderlichkeit eine Aussage über das Verhältnis des Geschöpfes zum Schöpfer. Wenn Verantwortlichkeit eine Eigenschaft von Personen ist, so kann der Mensch nur verantwortlich gemacht werden für Handlungen, die er bewusst und willentlich vollzieht. Die Ausbildung eines bestimmten Willens kann ihrerseits aber keine bewusste und willentliche Handlung sein, denn an ihr ist der Mensch als Person nicht beteiligt, sondern unterliegt hierin gleichsam subpersonal der schöpferischen Allwirksamkeit Gottes.283 Darum kann es Luther zufolge im Verhältnis von Geschöpf und Schöpfer gar nicht nach der Logik des Erasmus gehen: dass nur diejenigen Werke als die unseren gelten dürften, die wir ohne jede Notwendigkeit von uns aus vollbrächten. Müsste nicht vielmehr, so fragt Luther, alles, was uns vom Schöpfer geschenkt sei, dankbar als das unsere betrachtet werden? Was von Augen, Händen und Füßen gelte, müsse doch auch von unseren Werken gelten, die wir von Gott durch den Geist empfingen. Wo aber das Selbst-Können zur Bedingung von Belohnung und Bestrafung erhoben wird, wird letztlich die Bedeutung des Heiligen Geistes und der Gnade geschmälert. Deutlich erkennt Luther, dass die Logik des Erasmus – die Werke sind nur unsere, sofern wir sie erschaffen – Geist und Gnade ausschließt. Deutlich wird zudem, dass für Luther bereits die

Willens, der ihn nicht zulässt, so wie Mt 23 sagt: ,Wie oft wollte ich deine Söhne versammeln, und du hast nicht gewollt?‘“ „Igitur recte dicitur : Si Deus non vult mortem, nostrae voluntati imputandum est, quod perimus. Recte, inquam, si de Deo praedicato dixeris. Nam ille vult omnes homines salvos fieri, dum verbo salutis ad omnes venit, vitiumque est voluntatis, quae non admittit eum, sicut dicit Matth. 23: Quoties volui congregare filios tuos et noluisti?“ (LDStA 1, 407 = WA 18; 686, 4 – 8). Und später : „Der fleischgewordene Gott also spricht hier ,Ich habe gewollt und du hast nicht gewollt‘. Der, sage ich, fleischgewordene Gott ist dazu gesandt, dass er will, spricht, tut, leidet, allen alles anbietet, was zum Heil notwendig ist, wenn er auch bei den meisten Anstoß erregt, die – von jenem geheimen Willen der Majestät entweder sich überlassen oder verstockt – den Wollenden, Sprechenden, Handelnden Anbietenden nicht annehmen […].“ „Deus igitur incarnates hic loquitur: Volui et tu noluisti, Deus, inquam, incarnatus in hoc missus est, ut velit, loquatur, faciat, patiatur, offerat omnibus omnia, quae sunt ad salutem necessaria, licet plurimos offendat, qui secreta illa voluntate maiestatis vel relicti vel indurati non suscipiunt volentem, loquentem, facientem, offerentem“ (LDStA 1, 415 – 417 = WA 18; 689, 25 – 29). 282 Vgl. WA 18; 14 – 39. 283 Wollte man die Ausrichtung des Willens als Handlung verstehen, dann bliebe sie als Handlung immer noch gebunden an einen vorgängigen Willen. Hier droht das Regressproblem. In jedem Falle entgeht man damit nicht dem Determinismus in Luthers Konzept.

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Verhältnisbestimmung zwischen Geschöpf und Schöpfer in die Diskrepanz von Würdigkeitsverdienst und Gnade stellt.284 Eine weitere Überlegung muss hier anschließen, die ersichtlich macht, warum bei aller Notwendigkeit der Willensakte die Ankündigung des eschatologischen Lohns – sowohl der Prämie als auch der Strafe – für Luther nicht überflüssig wird. Man könnte ja vermuten, dass ein ohnehin durchgehend bestimmtes Weltgeschehen die Verheißung des endgültigen Ausgangs entbehrlich machte. Weil nun aber nach Luther die Bestimmtheit und die Beharrlichkeit des Willens affektiv begründet sind, lässt sich vermuten, dass er im Hinblick auf die neutestamentlichen Lohnverheißungen das Verhältnis von Wille und Lohn für die erwählten Gottesfürchtigen geradezu umkehrt. Zunächst ist zu bemerken: Luther unterscheidet zwischen den zum Glauben Gekommenen, die durch das Gesetz bereits ihrer eigenen Unfähigkeit überführt wurden, und jenen „Gottlosen“, an denen das Gesetz seine sündenaufdeckende Wirkung noch nicht entfaltet hat. Denn anders als das den Sünder überführende Gesetz, dessen Amt sich in der Erkenntnis der eigenen Unfähigkeit zum Guten erschöpft, haben nach Luther die Schriftaussagen vom zukünftigen Lohn – sowohl die Verheißungen (promissiones) als auch die Drohungen (minae) – motivierende und tröstende Funktion für das gegenwärtige Leben der Christen.285

284 Zu Mt 7,16 („An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“): „Ich bitte dich, ob nicht ganz richtig das ,unser‘ genannt wird, was wir zwar nicht getan, aber von anderen empfangen haben? Warum also sollten die Werke nicht unsere genannt werden, die uns Gott durch den Geist geschenkt hat? Werden wir Christus nicht unser nennen, weil wir ihn ja nicht gemacht, sondern nur empfangen haben? Wiederum, wenn wir das selbst machen, was unser genannt wird, haben wir dann also auch die Augen uns selbst gemacht, die Hände uns selbst gemacht und die Füße uns selbst gemacht? […] Nun nimm an, die Früchte würden ,unsere‘ genannt, weil wir sie gemacht haben – wo bleiben Gnade und Geist?“ „Obsecro te, an non nostra dicuntur quam rectissime, quae non fecimus quidem nos, recepimus vero ab aliis? Cur igitur opera non dicerentur nostra, quae donavit nobis Deus per spiritum? An Christum non dicemus nostrum, quia non fecimus eum, sed tantum accepimus? Rursus si facimus ea, quae nostra dicuntur, ergo oculos nobis ipsi fecimus, manus nobis ipsi fecimus et pedes nobis ipsi fecimus […]? […] Iam finge, fructus nostros dici, quia nos fecimus, ubi manet gratia et spiritus? (LDStA 1, 433 = WA 18; 696, 22 – 28.30 – 31). 285 Stößt man hier in der Sache auf einen tertius usus legis bei Luther? Wenn Wilfried Joest zwar darin irrt, dass Luther die minae grundsätzlich auf die Seite der lex und damit in Gegensatz zu den exhortationes und promissiones stellt, so ist seiner folgenden Feststellung rundweg zuzustimmen: „Dem Erasmus wird vorgeworfen, er sehe auch da, wo promissio und exhortatio ist, nur ,leges et preacepta, quibus formentur homines ad bonos mores‘. Dieser Nachsatz bezeichnet offenbar den spezifischen Unterschied: Die evangelische und apostolische exhortatio ist eben kein Instrument, quo formentur homines ad bonos moros. Sie zielt nicht dahin, daß der Mensch sich nach ihrer Anleitung durch eigene ethische Aktivität zu etwas mache, was er vorher nicht war ; sondern sie will das gleichsam aktualisieren, was er kraft der Rechtfertigung schon ist, indem sie die fructus donatae iustitiae et spiritus in ihm weckt.“ (Joest, Gesetz, 73).

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Es wird aber in den Schriften angekündigt, dass das [sc. die jeweilige Entlohnung] geschehen und folgen werde nach einem guten oder bösen Leben, damit die Menschen erzogen, bewegt, erweckt und erschreckt werden. Denn wie durch das Gesetz Erkenntnis der Sünde geschieht und Erinnerung an unsere Unfähigkeit – woraus nicht folgt, dass wir irgendetwas vermögen –, so geschieht durch diese Zusagen und Drohungen eine Ermahnung. Mit der werden wir belehrt, was auf die Sünde und jene unsere Unfähigkeit, die im Gesetz gezeigt ist, folgt. Nicht aber wird durch ebendiese unserem Verdienst irgendeine Würdigkeit zugeschrieben. Wie daher die Worte des Gesetzes zur Belehrung und zur Erleuchtung da sind, um zu unterweisen, was wir sollen und was wir nicht können, so spielen die Worte des Lohnes, indem sie zeigen, was geschehen wird, die Rolle von Ermahnung und Drohung. Dadurch werden die Gottesfürchtigen angeregt, getröstet und aufgerichtet, damit sie fortfahren, durchhalten und siegen im Tun des Guten und Ertragen des Bösen und nicht müde oder gebrochen werden.286

Hier genügt kein flüchtiger Blick, um das scheinbare Durcheinander von Gesetz und Zusage zu entwirren. Auf Erasmus’ Folgerung, durch die imperativischen sowie die konjunktivischen (konditional verstandenen) Sätze der Schrift müsse gleichermaßen das liberum arbitrium bewiesen sein, da es absurd sei, zu fordern, was der Mensch nicht könne, antwortet Luther stets: Hier wird eine Forderung Gottes, aber kein Vermögen des Menschen angezeigt. Was du sollst, wird mit solchen Sätzen bewiesen, nicht aber, was du kannst.287 An der hiesigen Stelle geht Luther ebenfalls auf beide Satzarten ein. Allerdings führt er gegen Erasmus eine weitere Unterscheidung ein, die noch innerhalb solcher imperativischen oder konjunktivischen Redeweise zu treffen ist. Erasmus erkenne gar keinen Unterschied zwischen der Redeweise des Gesetzes und jener der Verheißungen an die Gerechtfertigten. Wenn aber diese nicht unterschieden würden, so fände man in der gesamten Schrift nur Gesetze. Luther parallelisiert nun zunächst im obigen Zitat Gesetz und Lohnverheißung (Sicut verba legis… ita verba mercedis) und schreibt beiden eine ermahnende, erinnernde Funktion (admonitio) zu, ohne dass dadurch ein Vermögen oder eine Würdigkeit der Person angezeigt würde. Während jedoch das Gesetz seine Funktion am Sünder erfüllt, sind nach Luther die Lohnver-

286 LDStA 1, 429. „Denunciantur autem in scripturis ea futura esse et secutura post bonam vel malam vitam, ut erudiantur, moveantur, excitentur, terreantur homines. Nam ut per legem fit cognitio peccati et admonitio impotentiae nostrae, ex qua non infertur, quod nos aliquid possimus, Ita per istas promissiones et minas fit admonitio, qua docemur, quid sequatur peccatum et impotentiam illam nostram lege monstratam, non autem tribuitur per ipsas aliquid dignitatis merito nostro. Proinde, sicut verba legis sunt vice instructionis et illuminationis ad docendum quid debeamus, tum quid non possimus, ita verba mercedis, dum significant quid futurum sit, sunt vice exhortationis et comminationis, quibus pii excitantur, consolantur et eriguntur ad pergendum, perseverandum et vincendum in bonis faciendis et malis ferendis, ne fatigentur aut frangantur“ (WA 18; 695, 39 – 696, 11). 287 Vgl. LDStA 1, 413 = WA 18; 688, 11 – 17.

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heißungen an diejenigen gerichtet, die bereits im Glauben stehen288 – und hierbei spielt die zeitliche Ausrichtung beider Satzarten (imperativisch/konjunktivisch) eine entscheidende Rolle: Die Worte des Gesetzes bleiben insofern ausschließlich in Vergangenheit und Gegenwart verhaftet, als sie den Menschen auf sein Sollen und Nicht-Können verweisen, ohne darüber hinauszuweisen, wohingegen die konditionalen Sätze der Folge zukunftsweisend sind. Die admonitio des Gesetzes erinnert den Sünder lediglich an sein Unvermögen, die admonitio der Lohnverheißungen erinnert den Gottesfürchtigen an das sichere Eintreten einer zukünftigen Entlohnung seines Lebens. Aber gerade als feste Ankündigung der künftigen Folge entwickeln sie ihre erschreckende, motivierende oder tröstende Wirkung auf die Gottesfürchtigen im Hier und Jetzt.289 Diese ihre Gegenwartsrelevanz für den Menschen ist eine ganz andere als die des Gesetzes, weil sie als Ankündigung der Zukunft affektiv gegen das Nicht-Können des Menschen zum Zug gebracht werden. Nur darum können Zusagen und Drohungen auch anregend und bewegend wirken. Luther hat dabei nicht im Sinn, dass die gewisse Zusage des Lohns ein selbsttätiges Wirken des Willensvermögens und damit eine Würdigkeit der Person vor Gott impliziere. Ein eigenes Können bleibt hier generell ausgeschlossen. Allerdings meint Luther, dass der angekündigte Lohn seinerseits motivierend und tröstend auf den Christenmenschen wirkt.290 Der Wirkzusammenhang von Willensbewegung und intentionaler Beharrlichkeit einerseits und in Aussicht gestelltem Lohn (merces proposita) andererseits wird hier also in der Tat umgekehrt: Nicht der Mensch bewirkt durch seine so oder so geartete Würdigkeit eine entsprechende Reaktion Gottes, sondern Gottes feste Zusage bewirkt in den bereits der Sünde Überführten und begnadeten Gottesfürchtigen eine entsprechende Haltung, indem die gewisse Folge als Gut bejaht und affektiv erstrebt wird – oder als Übel vermieden.291 In einer sehr 288 Vgl. LDStA 1, 423 = WA 18; 692, 17 – 693, 16. 289 Ein Einwand gegen dieses Verständnis könnte lauten, dass nach WA 18; 694, 9 – 14 die Gottlosen ihr notwendiges Ende in Hölle und Gericht natürlich nicht wünschen noch daran denken (neque cupiant neque cogitent), wie auch die Gottesfürchtigen das Reich Gottes nicht suchen noch daran denken (neque quaerant nec cogitent), dass also ihr jeweiliges Tun gerade nicht von der Aussicht auf den entsprechenden Lohn motiviert sei. Gleichwohl bestätigt diese Dsa-Stelle meine Deutung eher als sie zu widerlegen, da ja das Ende schon bereitet ist „non solum antequam essent ipsi, sed etiam ante constitutionem mundi“. Der springende Punkt scheint doch darin zu liegen, dass Luther zwar das Wissen um den doppelten Ausgang einfordert, zugleich aber als unmöglich ausschließt, der Mensch könne mit eigenmächtigem Tun und Streben einen kausalen Einfluss darauf ausüben. Ob nämlich die Verkündigung von Hölle und Reich Gottes im Einzelnen Wirkung zeitigt, wen sie in der Zeit zum Glauben treibt und wen nicht, verbleibt unter pneumatologischem Vorbehalt. Vgl. Anm. 297. Eben darum gilt die von mir behauptete Umkehrung des Kausalzusammenhangs von Lohn und Werken ausschließlich für die Gottesfürchtigen, die vom äußeren Wort erschreckt, bewegt, getröstet werden. 290 Vgl. zum Zusammenhang von Verheißung – Hoffnung – Trost bereits in Luthers erster Psalmenvorlesung: Schwarz, Fides, 232 f. 291 „Aus allen bona, die Gott dem Menschen schenkt, sollen Hoffnung und Liebe, aber aus allen mala, mit denen Gott den Menschen heimsucht, sollen Furcht und Haß entstehen. Der Haß

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pointierten Formulierung zum Reich Gottes als Folge des guten Lebens kehrt Luther die gängigen Begrifflichkeiten von Verdienst (meritum) und Belohnung (praemium) einfach um: Wie sollten sie [sc. die Gesegneten] das verdienen, was ihnen schon gehört und ihnen bereitet ist, bevor sie wurden? So dass wir richtiger sagen könnten, das Reich Gottes verdient vielmehr uns, seine Besitzer. Und Verdienst wollen wir dahin setzen, wo diese Lohn setzen, und Lohn dorthin, wo jene Verdienst setzen. Denn das Reich wird nicht bereitet, sondern ist bereitet worden. Aber die Kinder des Reiches werden bereitet, nicht sie bereiten das Reich; das heißt, das Reich verdient die Kinder, nicht die Kinder das Reich. So verdient und bereitet auch vielmehr die Hölle ihre Kinder […].292

Die Umkehrung des Verdienstzusammenhangs ist in gewisser Weise die Vorbedingung des guten Lebens, indem nämlich der Mensch von jener Verdienstlogik befreit ist, wegen der die vorgeblich guten Werke immer das Merkmal der Selbstliebe tragen.293 Das Tun des Guten mit „gewinnsüchtigem Auge“ ist gar kein Tun des Guten.294 Was Luther also abweist, ist keineswegs das Wissen um die notwendige Folge des Lohns für bestimmte Werke, sondern diejenige Gesinnung, nach der die Werke zum Zweck des Lohnerwerbs (propter richtet sich dabei zwar auf die mala und deren Ursache in der Sünde, die Furcht bezieht sich jedoch über die mala hinweg auch auf Gott, deren Urheber, der zugleich wegen der bona Gegenstand der Hoffnung und Liebe ist. Hier bekommt also der timor den gleichen Objektbezug wie die spes und der amor; das timere deum tritt neben das amare deum und das sperare in deum.“ (Schwarz, Fides, 176). Vgl. zu Luthers Unterscheidung von timor servilis und timor sanctus weiterhin: A.a.O., 204 ff. 292 LDStA 1, 427. „Quomodo merentur id, quod iam ipsorum est et ipsis paratum, antequam fiant? ut rectius dicere possimus, regnum Dei potius meretur nos suos possessores, et meritum illic collocemus, ubi isti praemium, et praemium illic, ubi illi meritum collocant. Regnum enim non paratur, sed paratum est; filii vero regni parantur, non parant regnum; hoc est, regnum meretur filios, non filii regnum. Sic et infernus suos potius filios meretur et parat“ (WA 18; 694, 22 – 28). 293 „Ja, wenn sie nämlich Gutes täten, um das Reich zu erlangen, würden sie es niemals erlangen. Sie würden vielmehr zu den Gottlosen gehören, die mit nichtsnutzigem und gewinnsüchtigem Auge das Ihre suchen, auch bei Gott. […] Weil nämlich diejenigen, die Gutes tun, das nicht in knechtischer und gewinnsüchtiger Gesinnung um des ewigen Lebens willen tun. Sondern sie suchen das ewige Leben, das heißt, sie sind auf dem Weg, auf dem sie das ewige Leben erreichen und finden werden. ,Suchen‘ meint also: eifrig bedacht sein und mit unablässigem Werk sich um das bemühen, das auf ein gutes Leben zu folgen pflegt.“ „Quin si bonum operarentur propter regnum obtinendum, nunquam obtinerent et ad impios potius petinerent, qui oculo nequam et mercenario ea quae sua sunt quaerunt etiam in Deo. […] Scilicet quod ii qui bona faciunt, non servili et mercennario affectu propter vitam aeternam faciunt, quaerunt autem vitam aeternam, id est, sunt in ea via, qua pervenient et invenient vitam aeternam, ut quaerere sit: studio niti et instanti opera eo conari, quod sequi solet ad bonam vitam.“ (LDStA 1, 427 – 429 = WA 18, 694, 15 – 17.35 – 39). 294 „Gewiß, treuer Dienst findet bei Gott seinen Lohn. Aber der Lohn muß ,von selbst‘ kommen. Nur der erlangt ihn, der ihn nicht sucht. Wo diese Aussicht zum Bestimmungsgrund wird, da ist der Gehorsam gegen Gott verfälscht.“ (Holl, Religion, 56).

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obtinendum) getan werden. Wie schon in der Frage der auf zukünftige Bewährung abgestellten Gerechtigkeit Gottes, so zeigt sich auch an dieser Stelle der vorgreifende Charakter des Glaubens. Die Gewissheit, zum zukünftigen Reich Gottes jetzt schon zu gehören, also der an die Verheißung sich hängende Vorgriff des Glaubens, bewirkt und ermöglicht überhaupt im Glaubenden die Tätigkeit (Motivation) ebenso wie die Beharrlichkeit (Perseveranz) im Guten.295 Gleichwohl ist damit noch nicht beschrieben, wie es im Menschen zu dieser Gewissheit der Gotteskindschaft kommt. Dass durch die Verheißung des Gottesreiches etwa eine dem Menschen eigene Kraft in Anspruch genommen werde, schließt Luther rundweg aus. So entgegnet er an anderer Stelle dem Erasmus: Es nützt dem freien Willensvermögen auch nicht, was die ,Diatribe‘ aus Augustinus, um diese sehr klare und sehr mächtige Stelle in Misskredit zu bringen, heranzieht: Gott zöge wie wir ein Schaf mit einem vorgehaltenen Zweig. Mit diesem Gleichnis will sie beweisen, in uns sei eine Kraft, dem Ziehen Gottes zu folgen. […] Auf die Gottesfürchtigen, die schon Schafe sind und Gott als ihren Hirten erkennen, passt dieses Gleichnis gut; diese folgen, im Geist lebend und von ihm bewegt, wohin immer Gott will und was immer er zeigt. Der Gottlose aber kommt nicht, auch dann nicht, wenn er das Wort hört, es sei denn, der Vater zieht und lehrt inwendig, und das tut er, indem er den Geist schenkt.296

Dass also das Gesetz wie auch die Zusagen der Schrift ihre Wirkung überhaupt entfalten, dass sie im Herzen und somit recht verstanden werden, bleibt unter dem pneumatologischen Vorbehalt, unter dem das Wirken der Schrift und der Verkündigung grundsätzlich steht. Das ist der Grund, warum das gute Leben der Gottesfürchtigen eine Frage der gegenwärtig wirkenden Gnade und keine des eigenen Vermögens ist und warum es dabei bleibt: Gott allein wirkt aber durch seinen Geist in uns sowohl Verdienst als auch Lohn. Beides aber zeigt er durch sein äußerliches Wort der ganzen Welt an und erklärt es, damit auch bei den Gottlosen und Ungläubigen und Unwissenden seine Macht und Herrlichkeit und unsere Unfähigkeit und Schande verkündet werden. Wenn auch nur die Gottesfürchtigen das in ihrem Herzen erfassen und die Gläubigen es bewahren; die Übrigen aber verachten es.297 295 „Der Mensch, der wahrhaft gute Werke tun will, muß zuvor kraft des Evangeliums die Heilsfrage im Rücken haben.“ (Joest, Gesetz, 34). 296 LDStA 1, 647. „Nec prodest libero arbitrio, quod Diatribe ex Augustino affert ad calumniandum clarissimum hunc et potentissimum locum, scilicet quod Deus trahat, quemadmodum ovem ostenso ramo trahimus. Hac similitudine vult probari, vim inesse nobis sequendi tractum Dei. […] Ad pios belle quadrat ea similitudo, qui iam sunt oves et cognoscunt pastorem Deum; hi spiritu viventes et moti sequuntur, quorsumcunque Deus voluerit et quicquid ostenderit. Impius vero non venit etiam audito verbo, nisi intus trahat doceatque pater, quod facit largiendo spiritum.“ (WA 18; 781, 36 – 782, 1. 4 – 8). 297 LDStA 1, 431. „Deus vero solus per spiritum suum operatur in nobis tam meritum quam praemium, utrumque autem per verbum suum externum toti mundo significat et declarat, ut

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3.3.2 Verantwortung im zwischenmenschlichen Bereich – iustitia civilis Für die Frage nach der Verantwortlichkeit des Menschen im Bereich des Zwischenmenschlichen finden sich in Dsa nur wenige direkte Bezüge. Und doch erscheint diese Frage gerade vor dem Hintergrund von Dsa zunächst als überaus problematisch, wenn man der Interpretation auf der Linie einer allumfassenden Determination folgt. Das Grundproblem bleibt dann nämlich strukturell sehr ähnlich: Wenn alles, was in der Welt geschieht, notwendig geschieht, steht dann nicht auch die Verantwortlichkeit des Menschen vor seinen Mitmenschen und vor dem weltlichen Strafrecht auf tönernen Füßen? Wenn alles mit Notwendigkeit nach Gottes Willen geschieht, so wird man zu Recht einwenden, dann bleibt auch die bürgerliche Gerechtigkeit des Menschen in der Hand Gottes. Mit Erasmus ist noch einmal zu fragen: Wer wird sich noch bemühen um ein ehrbares Leben? Eine Dsa-Interpretation, nach der dem Menschen in den inferiora seine indeterminierte Freiheit belassen wird, könnte hier sehr viel leichter antworten, mit gegebener Freiheit in der Welt trage der Mensch natürlich auch Verantwortung. Es stellt sich also vordergründig als ein Grundproblem der Determinismus-These dar, dass die klare Trennung des Theologischen vom Bereich der Moral oder der iustitia civilis durch sie aufgehoben zu sein scheint. Wird nicht Luthers Protest gegen die Vermischung von Heilsgerechtigkeit und weltlicher Gerechtigkeit gleichsam von höherer Warte – nämlich vom Allmachtsgedanken her – nivelliert, nur jetzt unter dem negativen Vorzeichen einer grundsätzlichen Unfreiheit des Menschen? Steht der strenge Allmachtsgedanke Luthers in Widerspruch zur Zwei-Reiche-Lehre? Ich meine jedoch, dass Verantwortlichkeit im zwischenmenschlichen Bereich des Moralisch-Sittlichen sowie dem des weltlichen Strafrechts deutlich weniger problematisch erscheint als im Verhältnis des Menschen zu Gott, weil die erkenntnistheoretische Differenz zwischen endlichem Geschöpf einerseits und der göttlichen Allwissenheit andererseits hier voll zum Tragen kommt. Die Praxis endlicher Verantwortungszuschreibung legitimiert sich insofern aus der Akzeptanz der eigenen Wissensbeschränktheit. Es sollte grundsätzlich nicht übersehen werden, dass Luther, wenn auch sein Hauptaugenmerk in Dsa auf der allumfassenden Lenkung der Welt durch Gottes Willen liegt, durchaus positiv auf die Zwei-Reiche-Lehre zurückgreifen kann: etwa dort, wo er gegen die Forderung des Erasmus nach Aufrechterhaltung des Beichtzwanges einwendet, das Volk dürfe nicht durch kirchliche Gesetze belastet werden, sondern müsse vom Schwert äußerlich erzogen werden, weil die Gewissen allein von Gottes Gebot, nicht vom äußerlichen annuncietur etiam apud impios et incredulos et ignaros potentia et gloria sua et nostra impotentia atque ignominia, licet soli pii id corde percipiant teneantque fideles, caeteri vero contemnunt.“ (WA 18, 696. 6 – 11).

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Zwang gebunden werden dürften;298 oder dort, wo er eine doppelte Gerechtigkeit Abrahams anführt, wonach Abraham auch nach den äußeren Werken ein Gerechter war.299 Wie bereits ausgeführt300 verläuft Luthers Rede von Gottes Allmacht orthogonal zu seiner Bezugnahme auf die Zwei-Reiche-Lehre. Hier kann deshalb kein Konflikt entstehen, weil sich gezeigt hat, dass Luthers Rede von den dua regna, in denen der Mensch sich vollzieht, eine Unterscheidung trifft, die durch Gottes Allwirksamkeit keineswegs aufgehoben wird, genauso wenig wie umgekehrt Gottes Allwirksamkeit durch jene Unterscheidung beeinträchtigt werden könnte.301 Aufgehoben wird durch den Allmachtsgedanken nur die irrtümliche Interpretation, wonach der Mensch in rebus sese inferioribus der Lenkung Gottes in indeterminierter Weise entzogen sei. Für Luther hingegen ist die Christperson natürlicherweise auch Weltperson – aber eben so, dass man die beiden Relationsgefüge nicht verwechseln darf. Wenn nach Gerhard Ebeling die coram-Relationen des Menschen zwar „im strengen Zugleich einer Wechselbeziehung“ bestehen, allerdings „in der Strittigkeit beider Fora strittig ist, woher der Mensch sich empfängt, von welchem Urteil, welchem Wort er lebt, aus welchem Forum er sich versteht“302, so darf man folgern, dass die Perspektive auf den Menschen, oder seine jeweilige Erscheinungsweise die ausschlaggebende Variable ist, um Verantwortlichkeit im zwischenmenschlichen Bereich zu bewahren, ohne die Determinismusthese aufgeben zu müssen. „Denn der Mensch tritt coram mundo in Erscheinung im opus und ist coram Deo offenbar als persona im Sinne des vor der Welt und auch vor dem Menschen selbst verborgenen Selbstseins, das 298 „Das gewöhnliche Volk muss gebändigt werden durch die äußere Gewalt des Schwertes, wenn es übel handelt, wie Paulus Röm 13 lehrt. Ihre Gewissen dürfen aber nicht in falsche Gesetze verstrickt werden, so dass sie von Sünden geplagt werden, wo Gott keine Sünden hatte haben wollen. Denn die Gewissen werden allein durch das Gebot Gottes gebunden.“ „Vulgus coercendum est externa vi gladii, ubi male egerit, sicut Paulus docet Roma. 13. non autem conscientiae eorum falsibus legibus irretiendae sunt, ut peccatis divexentur, ubi peccata non esse Deus voluit Solius enim Dei praecepto conscientiae ligantur“ (LDStA 1, 265 = WA 18; 624, 13 – 16). 299 „Beachte bitte auch hier [sc. bei Röm 4,2 f] die Einteilung des Paulus, der eine doppelte Gerechtigkeit Abrahams nennt. Die eine ist die der Werke, das heißt, die sittliche und bürgerliche, aber er verneint, dass er durch diese gerechtfertigt wird vor Gott, auch wenn er vor den Menschen durch sie gerecht ist.“ „Observa quaeso et hic partitionem Pauli duplicem Abrahae iustitiam recitantis. Una est operum, id est, moralis et civilis; sed hac negat eum iustificari coram Deo, etiam si coram hominibus per illam iustus sit. (LDStA 1, 619 = WA 18; 771, 37 – 40). 300 Vgl. 3.1.3.3. 301 Ferdinand E. Cranz notiert zur unsichtbaren Weltherrschaft des Allmächtigen: „This [sc. die unsichtbare Herrschaft] is an aspect of the God of majesty, and it does not immediately concern the Christian who lives under the two governments which we have already noticed as God’s spiritual government and His world-government. […] God’s invisible kingdom is seen to be a characteristic of the God of majesty, and it is thus not involved in the two governments.“ (Cranz, Development, 167). 302 Ebeling, Luther, 229.

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allen opera als deren Wurzelgrund vorausliegt und sie letztlich bestimmt.“303 Besteht die Strittigkeit der Relationen in der Strittigkeit ihrer jeweiligen Urteile, so lässt sich außerdem die Frage nach menschlicher Verantwortlichkeit in der Welt genauerhin als Frage nach der Berechtigung von Verantwortungszuschreibung formulieren. Haben Menschen das Recht, sich selbst oder andere zur Verantwortung zu ziehen unter der Prämisse eines umfassenden göttlichen Wirkzusammenhangs? Auch hier wird das Phänomen der Perspektivdifferenz in Anschlag gebracht werden müssen. Zweierlei gilt nämlich ausschließlich für die Gottessicht auf den Menschen, nicht aber für die geschöpfliche Weltwahrnehmung: Allein Gott eignet ein unfehlbares Vorherwissen allen Weltgeschehens und allein Gott durchschaut und durchwirkt das Herz des Menschen. Weil Menschen sich weder gegenseitig noch sich selbst in einer solchen Weise durchsichtig sind, dass sie die Gewirktheit und die Bestimmtheit ihres Willens als etwas ihnen Fremdes sehen könnten, ist ihre Praxis von Verantwortlichmachung auf eine – wenn man so will – oberflächlichere Sichtweise begrenzt. Weder weiß der Mensch im Voraus, was geschehen wird, noch kann er seinen Willen oder seine Werke – und auch nicht den Willen und die Werke seiner Mitmenschen – als heteronom erzwungen begreifen, sofern jemand „mit dem Herzen“ bei der Sache ist. Deshalb geht es in der Welt zu nach den Werken, nach dem Äußeren, nach dem Sichtbaren. Deshalb ist die Gerechtigkeit vor der Welt eine äußere. Sofern sich in Handlungen der eigene Wille des Menschen äußert, lässt sich diese iustitia operum als iustitia activa beschreiben, wodurch aber der Passivität und der Bestimmtheit des menschlichen Herzens kein Abbruch getan wird. „Die beiden Arten von iustitia sind nicht graduell, sondern qualitativ unterschieden. Die eine ist iustitia legis, iustita operum, iustitia activa, iustitia terrena; die andere ist iustitia Euangelii, iustitia fidei, iustitia passiva, iustitia coelestis.“304 Es kann aufgrund der qualitativen Differenz der Erscheinungsweisen des Menschen einiges vom vorher Gesagten mit besonderer Berechtigung auch in der Frage der iustitia civilis angeführt werden: dass etwa die Notwendigkeit der Unveränderlichkeit nach Luther ihre Pointe darin hat, dass die Werke des Menschen wirklich auch seine Werke sind, weil Handlungen in corde ihren Anfang nehmen; dass weiterhin diese Werke mit dem gleichen Recht als unsere Werke betrachtet werden wie andere Gaben des Schöpfers auch, dass also gerade der Schöpfungsglaube hier keine Ausflüchte aus der Verantwortung erstrebt, sondern die Zuschreibung von Verantwortung bejaht; dass außerdem diesen unseren Werken für Luther ganz selbstverständlich Lob und Tadel folgen. Schließlich muss über das bisher Gesagte hinaus bemerkt werden: Wenn man unter Verantwortung verantwortungsvolles Handeln begreifen will, so zeugt das dem Geschöpf wesentlich zu eigene Unwissen in Bezug auf die 303 Ebeling, Notwendigkeit, 424. 304 Ebeling, Notwendigkeit, 423.

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Zukunft einen epistemischen Indeterminismus, der eine fatalistische Kapitulation vor dem Faktischen geradezu unmöglich macht. Von verantwortlichem Handeln ist der Mensch durch die necessitas immutabilitatis keineswegs entbunden, weil seine Handlungen allein aus der Gottesperspektive notwendig und unveränderlich sind, aus der menschlichen Perspektive allerdings kontingent erscheinen. Alles, was wir tun, alles, was geschieht, geschieht – auch dann, wenn es uns veränderlich und zufällig zu geschehen scheint – in Wirklichkeit notwendig und unveränderlich, wenn du Gottes Willen betrachtest.305

Von der Frage, was er tun soll, ist der Mensch darum nicht entbunden, weil er nicht wissen kann, was er tun wird. Es entspräche völlig Luthers Unterscheidung zwischen Geschöpf und Schöpfer, wenn man gegen die Meinung, Notwendigkeit und verantwortliches Handeln seien unvereinbar, ins Feld führte, dass ein epistemischer Indeterminismus geradezu das Schicksal menschlichen Lebensvollzuges ist. Der Mensch hat gar keine andere Möglichkeit, als sich tätig zu vollziehen, auch dann nicht, wenn er die Allwirksamkeit des Schöpfers glaubt. Seinem geschöpflichen Sein in der Welt wird er nämlich erst dadurch gerecht, dass er handelt in der unvermeidlichen Ungewissheit des Zukünftigen aber in der Gewissheit, dass der Ausgang der Dinge in Gottes praescientia beschlossen liegt. Zu Spr 16,1 führt Luther aus: Ja, deswegen vor allem muss gewirkt werden, weil uns alles Zukünftige ungewiss ist, wie der Prediger sagt: ,Am Morgen säe deinen Samen und am Abend höre nicht auf, weil du nicht weißt, ob dieses oder jenes aufgehen wird.‘ Für uns, sage ich, ist es ungewiss, was die Erkenntnis betrifft, aber notwendig im Blick auf den Ausgang. Die Notwendigkeit stachelt uns zur Furcht gegen Gott an, damit wir nicht überheblich und sicher werden. Die Ungewissheit aber bringt Zuversicht hervor, damit wir nicht verzweifeln.306

„[D]ie Überzeugung, Sein und Bewegung allein am schaffenden und führenden Gotteswillen zu haben, gibt sich nicht in Zerstörung des menschlichen Tuns, sondern in Umwandlung der dasselbe begleitenden Gesinnung in Demut und Zuversicht kund.“307 Diese perspektivische Differenz ist m. E. anders gelagert als das Auseinandertreten von illusorischem Freiheitsbewusstsein (omnia futura incerta 305 LDStA 1, 253. „[O]mnia quae facimus, omnia quae fiunt, et si nobis videntur mutabiliter et contingenter fieri, revera tamen, fiunt necessario et immutabiliter, si Dei voluntatem spectes.“ 306 LDStA 1, 555. „Imo ideo maxime operandum est, quia incerta nobis sunt omnia futura, ut Ecclesiastes ait: Mane semina semen tuum et vespere non cesses, quia nescis, an hoc vel illud sit oriturum. Nobis inquam sunt incerta cognitione, sed necessaria eventu. Necessitas nobis timorem Dei incutit, ne praesumamus et securi simus. Incertitudo vero fiduciam parit, ne desperemus.“ (WA 18; 747, 2 – 7). 307 Zickendraht, Streit, 142 f.

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cognitione) und faktischer Determination (omnia futura necessaria eventu).308 Der Begriff einer – gegen ,besseres‘ Wissen kultivierungswürdigen – Freiheitsillusion beinhaltet doch die Vorstellung, der Mensch täusche sich oder werde getäuscht über die faktische Determination allen Geschehens. Richtiger scheint mir dagegen der Verweis auf die „notorische Unerschwinglichkeit“ der Ewigkeitsperspektive Gottes.309 Da es im Kontext des Zitats um den Ausgang und Erfolg der menschlichen Handlungen geht, beschreibt Luther mit der Ungewissheit der Zukunftserkenntnis eine allgemein menschliche Erfahrung: dass nämlich die Zukunft als offene erscheint. Eben diese Unzugänglichkeit unfehlbaren Vorherwissens ,verdammt‘ den Menschen, wenn nicht zur Freiheit, so doch zu verantwortungsvollem Handeln. Er muss aufgrund einer ungewissen Zukunft so handeln, dass ein erwünschter und erstrebter Sachverhalt qua Handlung eintreten kann. Man wird in diesem Kontext dem Missverstand vorbeugen müssen, die Handlungen des Menschen oder die Konsequenzen seiner Handlungen seien aus menschlicher Sicht derart zufällig, dass sie grundsätzlich in keiner Beziehung zu seinem Willen stünden. Zufall begründet bekanntermaßen keine Verantwortlichkeit. Gewiss gibt es Fälle, in denen eine Tat nicht ihr intendiertes Ziel erreicht oder eine Handlung ein nicht-intendiertes Ergebnis hervorbringt. Hierfür sieht unsere alltägliche Praxis von Verantwortungszuschreibung allerdings Milde vor. Luthers Rede von der Ungewissheit der zukünftigen Dinge stellt nicht darauf ab, dass die futura in gar keinem Zusammenhang mit dem Willen und den Werken des Menschen stehen. Dass dieser Zusammenhang in der Regel durchaus besteht, darin liegt m. E. eine Pointe des cooperatio-Gedankens. Die Ungewissheit der Zukunftserkenntnis und die damit verbundene Erfahrung der Zukunftsoffenheit machen das Handeln nötig (operandum est), nicht überflüssig. Zugleich aber bewahrt das Wissen um Gottes Wirksamkeit in allen Dingen vor der Überheblichkeit der Selbst-Ermächtigung, so wie die Offenheit der Zukunft nicht etwa fatalistisch, sondern vertrauensvoll stimmt (Incertitudo fiduciam parit). Ein weiterer Gedanke, der sich im Anschluss an Dsa ergeben könnte, unterstützt dieses Festhalten an der menschlichen Verantwortung im Hinblick auf zukünftige Handlungen und kann geeignet sein, das eben Gesagte weiter zu bestärken: Der Mensch muss sich als verantwortlich für die Folgen seines Tuns begreifen, nicht nur weil er ins Ungewisse hinein handeln muss, sondern auch weil den Ereignissen und Dingen in der Welt – im Gegensatz zu Gott – kein notwendiges, ewiges Sein eignet. Hatte Luther die scholastische Unterscheidung von „Notwendigkeit des Folgenden“ und „Notwendigkeit der Folge“ auf die Aussage reduziert, dass alles, was geschieht, zwar notwendig geschieht (Notwendigkeit der Folge), dieses Geschehende (Folgende) dabei aber an sich kein notwendiges Sein habe (non habeat essentiam necessariam), 308 So Leonhardt, Verhältnis, 150. 309 So Leonhardt, Verhältnis, 161.

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so wird diese Erkenntnis für die Frage der Verantwortlichkeit insofern virulent, als dass für den Menschen in der Zeit die zukünftigen Dinge noch gar nicht existieren. Sie haben, weil sie nicht ewig sind oder notwendiges Sein haben, noch keine Realität und werden erst wirklich durch die jeweilige cooperatio des Menschen mit Gott.310 Nun mag man einwenden: Obgleich der Mensch nicht anders als im Verantwortungsbewusstsein handeln kann, ist doch die Zuschreibung und die persönliche Übernahme von Verantwortlichkeit zumeist eine Angelegenheit der retrospektiven Betrachtung. Reicht aber dann nicht der Verweis auf Gottes Allwirksamkeit doch aus, um sich oder andere aus der Zuschreibung von Verantwortung zu stehlen? M.E. gelten die benannten Konsequenzen aus der Begrenztheit der menschlichen Perspektive auch in der Retrospektive: Erstens zeichnen sich derartige Versuche, eine Exkulpation auf dem Determinismusargument aufzubauen, stets durch eine Umkehrung der Rechtfertigungsnot aus. Im zwischenmenschlichen Bereich mag es zulässig erscheinen, dass sich auch der Urteilende befragen lassen muss, ob er zu Recht urteile. Hier soll der Beurteilende sich rechtfertigen, warum er urteilt, wo doch der Beurteilte ganz offensichtlich das, was er tat, notwendig tat und darum nicht verantwortlich ist. Allerdings ist die Frage, ob der Urteilende recht handelt, ihrerseits gebunden an Normen. Wenn nun der faktische Determinismus normative Regeln entkräften könnte, wäre einer Umkehrung der Rechtfertigungsnot der Weg verstellt. Warum nämlich sollte die eine determinierte Handlung aus der Beurteilung nach bestimmten Normen herausfallen, eine andere determinierte Handlung aber weiterhin normativ befragbar bleiben? Das Determinismusargument führt in eine Pattsituation, die nur vermieden werden kann, indem man die Unmöglichkeit allumfassenden Wissens akzeptiert. Meint man nämlich, durch die Usurpation des viewpoint of god, durch den angemaßten Einblick in Gottes Weltlenkung, eine in der Vergangenheit liegende Handlung von ihrer Verantwortbarkeit zu entbinden, so verlässt man das jeweils gültige normative System – und zwar nicht nur im Hinblick auf diese einzelne Tat, sondern zur Gänze: man entledigt sich der eigenen Verantwortung um den Preis eines umfassenden Rechtsverlustes. Unter Menschen kann, ja muss daher die Ewigkeitsperspektive Gottes getrost gemieden werden und es reicht, wenn man zur Bewertung einer Handlung dieselbe mit den eigenen Normen oder dem bestehenden Recht abgleicht.311 310 Damit wäre das Konzept einer nur scheinbar ontologisch offenen Sphäre der irdischen Lebensbedingungen (vgl. Leonhardt, Verhältnis, 161) überboten. 311 „Die Erfahrung von Schuld als dem Bewußtsein dessen, eine anerkannte ethische Verpflichtung nicht erfüllt zu haben, ist somit nicht abhängig von der Frage nach der letzten Ursache, durch die die Pflichterfüllung verhindert wurde. Denn Verantwortung kann auch dann übernommen werden, wenn zwar die letztendliche Ursache einer Handlung nicht dem Handelnden zuzuschreiben ist, dieser aber gleichwohl sein Handeln vor dem Hintergrund einer bestimmten Gestalt dessen, was ethisch geboten ist, beurteilt.“ (Beiner, Intentionalität, 156).

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Dies würde heißen – um diese Unterscheidung erneut zu verwenden –, den Menschen coram mundo ernst zu nehmen. Gerade von Luther her ermöglicht sich diese Perspektive auf den Menschen, weil sie den politischen Gebrauch des Gesetzes in Funktion setzt. Lob und Tadel können einfach darauf beruhen, dass eine Handlung in einer Beziehung zu einem bestimmten ungezwungenen Willen einer bestimmten Person steht.312 Zweitens dürfte auch und gerade die retrospektive Sicht auf die eigene Tat kaum dienlich sein, sich aus der Verantwortung zu stehlen, sofern an der Willentlichkeit und Ungezwungenheit der fraglichen Handlung kein Zweifel besteht. Aus diesem Grund ist m. E. die einzig mögliche Haltung des Menschen gegenüber seinen Handlungen die der Übernahme von Verantwortung. 3.3.3 Verantwortlichkeit als übernommene Verantwortung – Das Gewissen Dass Luther sich in dem Themenkomplex „Gerechtigkeit des göttlichen Vergeltens und würdigkeitserzeugende Leistung der Person“ völlig uneins mit Erasmus zeigt, lässt sich, wenn ich recht sehe, erneut an dem beiderseits unterschiedlichen Gesetzesverständnis aufzeigen. Dass das Gesetz in der erasmischen Anwendung Heilsgerechtigkeit und weltlich-sittliche Gerechtigkeit vermischt, indem es dem Menschen ein Können vor Gott vorgaukelt und so die alleinige Wirksamkeit der Gnade verneint, wurde bereits eingehend dargelegt. Auch Luthers Widerspruch an eben dieser Stelle hatten wir nachvollzogen.313 Dass aber nach Luther die Forderung des Gesetzes kein Vermögen zu seiner Erfüllung impliziert, erlaubt keineswegs die umgekehrte Schlussfolgerung, die menschliche Unfähigkeit zur Gesetzeserfüllung schwäche ihrerseits das Sollen ab oder hebe es gar auf. So zu denken, hieße wiederum der erasmischen – und 312 Wenn man sich der begrifflichen Unterscheidung von Willens- und Handlungsfreiheit bedienen will, so ist es richtig, dass Luther damit einer „typisch kompatibilistischen Reduktion das [sic!] Freiheitsbegriffs auf die Dimension der Handlungsfreiheit“ (Leonhardt, Verhältnis, 160) das Wort redet. Gleichwohl liegt m. E. bei Luther keine Reduktion vor, sofern das, was in den modernen Debatten „Willensfreiheit“ genannt wird, für Luther nie als Möglichkeit bestand und außerdem die Freiheit des Willens, sich in Handlungen zu äußern (modern: „Handlungsfreiheit“), eben auch als Form von Willensfreiheit gelten kann. 313 S.o. 3.1.4.1.1. Vgl. auch noch einmal: „Wenn ja ohne das Gesetz und ohne die Werke des Gesetzes die Gerechtigkeit Gottes feststeht, wie steht sie [dann] nicht um soviel mehr fest ohne das freie Willensvermögen? Wenn doch das der höchste Eifer des freien Willensvermögens ist, wenn es sich in der sittlichen Gerechtigkeit oder den Werken des Gesetzes übt, wodurch seine Blindheit und Machtlosigkeit unterstützt werden. Dieses Wort ,ohne‘ hebt die sittlich guten Werke auf, es hebt die sittliche Gerechtigkeit auf, es hebt die Bereitungen zur Gnade auf.“ „Quia si sine lege et sine operibus legis iustitia Dei constat, quomodo non multo magis sine libero arbitrio constet? Cum id sit summum studium liberi arbitrii, si iustitia morali seu operibus legis exerceatur, qua ipsius caecitas et impotentia iuvatur. Tollit haec vox: Sine, opera moraliter bona, tollit iustitiam moralem, tollit praeparationes ad gratiam;“ (LDStA 1, 607 = WA 18; 767, 34 – 38).

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der kantischen – Logik zu folgen. Der folgende Abschnitt strengt daher die Betrachtung an, ob die Verantwortlichkeit des Menschen, wenn sie denn nicht mit einem eigenmächtigen Können seitens des Menschen begründet werden kann, für Luther sicheren Bestand erhalten konnte allein aus dem andauernden Imperativ des Gesetzes. Hierzu müsste ein Weg beschritten werden, auf dem der Imperativ des Gesetzes von der Fähigkeit zu seiner Erfüllung gelöst würde, ohne als bestehender Anspruch aufgegeben werden zu müssen. In der Tat beginnt dieser Weg bei der Verknüpfung von Sollen und Können und führt von dort ausgehend zur Aufhebung des Könnens, an dessen Stelle – dies wird kaum verwundern – die Gnade Gottes tritt. Die Ernsthaftigkeit, mit der Luther an der Gesetzesforderung und ihrer Wirkung auf den Menschen festhält, ist im 20. Jh. zum Ausgangspunkt einer Konzentration auf den Gewissensbegriff in Luthers Theologie geworden.314 Den verschiedenen Ansätzen solcher ,Gewissenstheologien‘ gemein ist die Annahme einer unmittelbaren Einwirkung des Gesetzes auf den Menschen in der Gestalt seines Gewissens. Nach Karl Holl etwa ruht Luthers Religion als Ganzes auf der Ueberzeugung, daß im Bewußtsein des Sollens, in der Unwiderstehlichkeit, mit der die an den Willen gerichtete Forderung den Menschen ergreift, das Göttliche sich am bestimmtesten offenbart. […] Bei ihm [sc. Luther] führte Gott selbst ganz unmittelbar im Gewissen den Beweis für sein Dasein315.

Emanuel Hirsch macht die Vorstellung einer ursprünglichen Macht des Gesetzes im Gewissen in Luthers Sprachgebrauch am – unbiblischen – Begriff der Syntheresis deutlich, dessen Verwendung bei Luther zwar ab etwa 1516 aufhöre, wodurch die Sache selbst aber keineswegs preisgegeben werde, sondern vielmehr im Begriff der conscientia aufgehoben sei.316 Laut Hirsch ist weiterhin für Luther die natürliche vordiskursive Gotteserkenntnis des menschlichen Herzens untrennbar mit einer gleichartigen Gesetzeserfahrung verknüpft: Auch das ins Herz geschriebne natürliche Gesetz gehört ihm dazu, und er ist sich sogar des engen Zusammenhangs dieses Gesetzes mit dem ursprünglichen not314 Zu nennen sind hier besonders: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Günter Jacob und für das spätere 20. Jh. Gerhard Ebeling. 315 Holl, Religion, 35 – 37. Beiner, Intentionalität, 72 f, geht davon aus, dass es allgemeinanthropologisch ein Gewissen „auch vor einer oder ohne eine Offenbarung Gottes“ gibt. Ihre Kritik an Karl Holl, dass bei ihm „durch den Gewissensanspruch Gottes im Menschen Moral erst begründet wird“, stimme ich insofern zu, als Holls Religionsbegriff in Sittlichkeit aufgeht. (Vgl. Holl, Religion, 41). Allerdings trifft ihre von Luther aus geführte Kritik an Holl, dass nicht etwa „das Rechtfertigungshandeln Gottes in erster Linie auf die Entstehung von normativen oder moralischen Geboten im Sinne von Pflichten im Menschen“ ziele, gar nicht Holls Meinung. In der Tat: „Sündhaftigkeit wird von Luther nicht durch das Fehlen eines ethischen Bewußtseins charakterisiert“. Auch bei Holl nicht. Sündhaftigkeit wird gerade vom ethischen Bewußtsein, in welchem Gottes Gesetz unmittelbar wirksam ist, erfasst. 316 Vgl. Hirsch, Lutherstudien I, 122.

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wendigen Wissen von Gott bewußt. Das ursprüngliche, notwendige Wissen von Gott ist als Grund und Ursprung aller Gebote von dem dem Herzen eingeschriebnen Gesetze überhaupt nicht zu trennen.317

Auch nach Werner Elerts Morphologie des Luthertums offenbart sich Gott durch sein Gesetz im Gewissen, welches seine Stimme bereits im „Urerlebnis“ des Menschen erhebt, so dass die explizite Gesetzgebung in Schrift und Predigt mit dem dem Gewissen eingepflanzten Gesetz korrespondiert.318 Gleichwohl muss jene ursprüngliche Gesetzeserfahrung hier noch nicht zwingend als das Vernehmen einer explizit göttlichen Gesetzesnorm verstanden werden. Einerseits muss dabei nicht notwendig auf das Bewusstsein des göttlichen Ursprungs des Gesetzes abgehoben werden319, andererseits ist seine unmittelbare Wirkung auf das Gewissen bisweilen überhaupt nicht als kodifizierte Norm gedacht.320 Von Hirsch etwa wird die Gesetzeserfahrung im Gewissen vielmehr als eine rein formale, der eigenen Gestaltung anheimgestellte beschrieben.321 Dabei verbleibt das menschliche Pflichtbewusstsein stets in der Ambivalenz zwischen seiner profanen oder christlichen Deutung, wobei freilich das profane Selbstverständnis des Menschen als unwahr bzw. als 317 Hirsch, Lutherstudien I, 124. 318 Vgl. Elert, Morphologie, 32 ff. Dass bei Elert allerdings bereits im menschlichen Urerlebnis – im „Verhältnis des ,natürlichen Menschen‘ zu Gott“ (a. a. O., 25) – das Bewusstsein der eigenen Verantwortlichkeit und das Bewusstsein der eigenen Unfähigkeit, also Schuld und Schicksal, Gottes Forderung und Gottes Schicksalsmacht über den Menschen zusammenfallen (a. a. O., 18ff), scheint mir im Vergleich mit Luther das Ziel des Gesetzes, nämlich die Anerkennung des servum arbitirium, vorzuverlagern ins „Urgrauen“. Bei Elert ist die Verzweiflung – der Tod der sittlichen Persönlichkeit – eben schon im Urerlebnis da. Bei Luther tritt vor die Verzweiflung der Versuch der Werkgerechtigkeit. 319 Zumindest für Emanuel Hirschs Rechenschaft gilt dies, dass die Deutung der Gesetzeserfahrung ambivalent bleibt. Anders freilich: Karl Holl, Werner Elert und Günter Jacob, bei denen der Mensch ganz „unmittelbar von Gott angerufen wird“ (Elert, Morphologie, 18). 320 Vgl. Ebeling, Erwägungen, 433. 321 „Es gibt eine in den Gemeinschaftsbeziehungen aufbrechende Heiligkeit, die der Lebens- und der Ordnungsmächte, die wohl verletzt werden kann, aber nicht verletzt werden darf. […] Sie setzt nicht bestimmte Gestalt, bestimmtes Gesetz als unveränderlich voraus, sondern ein Tieferes, das das Gestalt und Gesetz der Gemeinschaft in je ihrer wandelbaren Gestalt Bedingende ist. Wir gestalten selbst, fassen das Gesetz selbst, in geschichtlicher Bedingtheit, aber wir ehren darin ein Bindendes, Nichtverfügbares. […] [H]ier geht Gottesbewußtsein auf; als das Verborgene, nicht selbst Erscheinende, das doch getroffen und verwirklicht werden will, steht der Wille des Heiligen vor uns.“ (Hirsch, Rechenschaft I, 185 f). So ist bei Hirsch anders als bei Holl die ursprüngliche Gesetzeserfahrung des Menschen zunächst auf das „Gesetz des Lebens“ im Sinne einer schicksalhaften Fügung und Aufgabe bezogen: „Verfügtheit des Daseins, im Gewissen als heilige Notwendigkeit erlebt.“ (Hirsch, Rechenschaft I, 275). Erst von hier aus ergibt sich für den Glauben die Möglichkeit, Gott als den Fügenden und Rufenden zu erkennen, so dass Fügung und Ruf (= Gesetz des Lebens) als Bestimmung erfahrbar werden. Nur, wenn Gesetz des Lebens und Bestimmung zusammengedacht werden, erhält man nach Hirsch einen religiösen Begriff von Pflicht, mit dem wiederum das bewusst religiöse Gewissen zusammengehört, weil ein Gewissen haben heißt, seine Pflicht wahrzunehmen (vgl. Hirsch, Rechenschaft I, 275).

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Missverständnis dargestellt wird.322 Zweifelsohne ist ein sich selbst noch nicht coram Deo verstehendes Gewissen eben darum unwahr, weil sich der Mensch darin nicht in Wahrheit (als Sünder vor Gott) versteht – zunächst unabhängig davon, ob sich ein solches Gewissen als vorgeblich gutes oder als böses darstellt. So könnten Luther zufolge „die Gottlosen“ sich zwar bis zu einem Grade sicher fühlen und ein scheinbar gutes Gewissen haben; dies aber nur, weil sie sich über ihr Gottesverhältnis täuschten. Trotzdem könnten auch „die Sicheren“ das Gefühl nicht leugnen, dass sie vom eigenen Gewissen angeklagt würden.323 Verkündigung des Gesetzes als Gottes Gesetz – theologische Ingebrauchnahme des Gesetzes – ist in dieser Situation der erste notwendige Ruf zur Wahrheit. Während das von der natürlichen Vernunft vernommene Gesetz seinen göttlichen Ursprung verbirgt, wird es in der expliziten Verkündigung als Gotteswille auf seinen Urheber hin durchsichtig. Oder vom Menschen her gesprochen: Die Verkündigung des Gesetzes „schließt die Wahrheit der Selbsterkenntnis auf. Das tut sie aber, indem sie den Menschen vor Gott gegenwärtig macht, d. h. das Sein coram Deo, welches das letzte, verborgene Schicksal seiner Seele ist, in seiner Innerlichkeit durchsetzt gegen diese Innerlichkeit selbst“324. Nun ist jedoch nicht zu übersehen, dass für das seiner Gottesbeziehung bewusste Gewissen – also für den sich als Sünder wahrnehmenden Menschen – eben diese Gottesbeziehung einer anderen Unwahrheit verfallen muss, wo ein göttliches Gesetz abgetrennt vom Evangelium gehört wird. Das sich coram Deo verstehende Gewissen als noch nicht vom Evangelium befreites steht zwar nicht mehr in der Unwahrheit seiner natürlichen Gestalt. Wo aber das Gesetz Gottes noch verstanden ist als Anspruch an die menschliche Fähigkeit zu gerecht machenden Werken, wo also nicht allein die Aufdeckung der eigenen Unfähigkeit als seine Funktion gesehen wird, dort liegt nichts näher als die werkgerechte Eigenleistung des Menschen vor Gott zur Beruhigung des Gewissens. Anders als in der natürlichen Gestalt eines profanen Pflichtbewusstseins, dem seine göttliche Provenienz schlechterdings unbekannt bleibt, verschwimmen dem vor Gott gestellten Gewissen daher die 322 Vgl. Hirsch, Rechenschaft I, 190, wonach die Gemeinschaftsbedingtheit der Gewissensinhalte sowohl „idealistisch-religiös“ als auch „positivistisch-nihilistisch“ aufgefasst werden kann, und dadurch Gewissenswahrheit entweder in Sinnwahrheit aufgelöst würde, oder aber die Sinnwahrheit ins Naturalistische, Relativistische „entartet“. Vgl. weiter a. a. O., 192 f, den Abschnitt „IV. Die Antinomie der Gewissenswahrheit“, sowie Hirschs erste Folgerung daraus: „Jede nichtreligiöse Interpretation versagt.“ 323 „Die Gottlosen wandeln aber sicher, als ob Gott sie wegen seiner verschlossenen Augen nicht sähe. […] Wenn auch Gott vor den Gottlosen nicht zu sehen scheint, können sie dennoch nicht leugnen, dass sie spüren, dass sie sich selbst mit dem Gewissen anklagen und von der Syntheresis befragt werden, warum sie böse handeln.“ „Impii autem secure ambulant, quasi deus clausis palbebris eos non videat. […] [E]t si coram impiis deus videatur non videre, non tamen possunt negare, quin sentiant se argui conscientia et quaeri a syntheresi, cur male faciant.“ (WA 3; 94, 14 – 15.21 – 23). 324 Hirsch, Lutherstudien I, 144 f.

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Grenzen zwischen Welt- und Gottesbeziehung. Denn hier wird der weltliche Lebensvollzug überhöht zur vermeintlich eigenmächtigen Gestaltung der Gottesbeziehung. Wie sich im Folgenden zeigen wird, ist dies der notwendige Weg der gesetzlichen Existenz zu ihrer Verzweiflung. Dieser Weg ist nun weiter nachzuvollziehen. Seinen Anfang soll er bei der Betrachtung des Gewissensbegriffs selbst nehmen. Das Gewissen lässt sich dabei erstens vom Begriff des Herzens abgrenzen, weil mit ihm ein Selbstverhältnis ausgedrückt ist, das von der unmittelbaren Selbstvertrautheit des Herzens unterschieden ist. Zweitens besteht eben dieses Selbstverhältnis m. E. nicht in einem gleichsam ,im Selbst‘ isolierten Verhältnis zu sich selbst, sondern in der Weise eines beurteilenden Verhältnisses zu den eigenen Handlungen als Äußerungen der Person. Die ,Gewissenstheologien‘ des 20. Jh. zeichnen sich durch eine Deutung des lutherischen Gewissensbegriffs aus, der zufolge das Gewissen als „Ganzheitsurteil des Menschen über sich selbst die Grundlage des Gerichts ist“325. Es geht bei dieser Gewissenstheorie also letztlich immer ,ums Ganze‘ des Menschseins, weil die im Gewissen laut werdende Forderung des Gesetzes keine Beschränkung der Gewissensfunktion auf einzelne Taten dulde. Darum, so etwa Karl Holl, dehne sich die vom Menschen im Gewissen akzeptierte Verantwortung über die einzelne Tat hinaus auf das gesamte Dasein des Menschen aus.326 Die je einzelne Handlung des Menschen als vom Gewissen zu Beurteilendes genießt hierbei nur untergeordnetes Interesse, weil man dem Missverstand vorbeugen will, die Gewissensfunktion in Bezug auf die individuelle Tat als sittliche Handlungsanweisung zu bestimmen.327 Von dieser scholastischen Vorstellung hat Luther in der Tat Abschied genommen. Im Zuge der Ausdehnung der Gewissensfunktion auf das gesamte Wesen des Menschen scheint sich eine sachliche Nähe des Gewissensbegriffs zum Begriff des Herzens zu ergeben, so dass man meint, wechselweise vom Herz oder vom Gewissen als dem anthropologischen Ort der unverfügbaren Gottesbeziehung reden zu können.328 325 Hirsch, Lutherstudien I, 136. 326 „Entweder ist der Mensch für nichts, oder ist er für sich als Ganzes verantwortlich. Für jede einzelne Tat kann der Mensch die Verantwortung ablehnen; sie läßt sich immer als Ergebnis unwillkürlicher Kräfte in ihm darstellen. Aber lehnt er sie ab, so verzichtet er auch auf die große Gabe, die ihm Gott im Bewußtsein des Sollens geschenkt hat, und auf die Befreiung aus dem Zwang, die ihm in ihr verheißen ist. Wählt er hingegen die andere Seite, so muß er auch wissen, wie weit sich seine Verantwortung erstreckt. Sie dehnt sich notwendig über die einzelne, bestimmte Tat hinaus auf alle inneren Bedingungen dieser Tat, ja auf das Ganze des eigenen Wesens mit aus.“ (Holl, Religion, 66). 327 Das hängt schon mit dem oben benannten Gesetzesverständnis als formaler und nicht kodifizierter Größe zusammen. So Ebeling, Erwägungen, 433. Vgl. auch: Ders., Gewissen, 112, These 19. 328 „[D]as Gewissen ist bei Luther seinem Grundwesen nach eine Macht, die der Mensch im Vernehmen seiner selbst erleidet. Er hat es nicht in der Gewalt, die Gewissensaffekte zu modulieren: sie nehmen ihn wider Willen dahin und regieren seine Seele. Gewissensreligion im Sinne Luthers stellt das Gottesverhältnis ins Erleiden.“ (Hirsch, Lutherstudien I, 134). Hirsch

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Gleichwohl meine ich, bei aller terminologischen Nähe in Luthers Sprachgebrauch Unterschiede zwischen beiden Begriffen festzustellen: Das Herz als Ort der affektiven Bestimmtheit ermöglicht zwar eine Erfahrung des eigenen Selbst als immer schon affektiv bestimmtes Selbst. Eine reflexive Struktur der Selbstwahrnehmung ist mit dem Herzensbegriff allein bei Luther jedoch noch nicht angesprochen. Diese Selbstreflexivität wird wesentlich erst für den Begriff des Gewissens, wie etwa Emmanuel Hirsch anzeigt, dem zufolge das Gewissen eine Macht darstellt, die der Mensch im Vernehmen seiner selbst erleidet.329 Wenn es die Funktion des Gewissens ist, dass der Mensch zu einer Selbstbeurteilung kommt, so beinhaltet dies doch notwendig eine Distanz des Menschen zu sich330, die mit dem Herzensbegriff allein noch nicht getroffen ist, weil das Herz als Personkern zwar von anderem Seienden affiziert wird, in dieser Unmittelbarkeit des Herzens aber der Mensch sich selbst nicht gegenübertritt. Die Frage muss also zuvorderst lauten: Wie tritt der Mensch sich selbst gegenüber so ans Licht, dass es zu einem beurteilenden Vernehmen seiner selbst kommen kann? Es ist doch fraglich, ob mit einem Gesetzesverständnis, das direkt aufs gesamte Dasein des Menschen abzielt, nicht der Weg übersprungen wird, wie es denn dazu kommt, dass der Mensch ein Ganzheitsurteil fällen muss. Jenes erforderliche Distanzverhältnis, in dem der Mensch letztlich ein weiter: „[C]onscientia und coram deo fallen ihm [sc. Luther], je mehr er seine Einsichten frei aussprechen lernt, desto mehr ineinander.“ (A.a.O., 140). Vgl. auch Joest, Ontologie, 212 – 215. 329 Eine Unterscheidung von „Herz“ und „Gewissen“ macht sich auch bei Joest, Ontologie, 214 u. 223, bemerkbar, obwohl er beide Begriffe synonym verwenden möchte. Joest schreibt dem Gewissen zunächst eine bewußt-reflexive Aktivität in Bezug auf das Hören des Gotteswortes zu und stellt es so in einen scheinbaren Gegensatz zum passiven rapi des Herzens. Gleichwohl sucht Joest diese Differenz sodann aufzulösen durch den Hinweis, dass affektives Getriebensein und bewußt-reflexives Hören des Gotteswortes zusammengehören. „Darum ist aber auch das audire, das solchem verbum entspricht, nicht geistiger Aneignungsakt im Gegensatz zu affektivem Eingenommen-werden, vielmehr eben das Angezogen-werden und Sich-anziehenlassen zu jenem liebenden Hängen an dem Mit-Seienden, das Luther in oft geradezu überschwenglichen Worten als ein ,rapi‘ bezeichnen kann. Wenn dieser Zusammenhang gesehen wird, hat auch die Zusammenstellung von cor und conscientia nichts Befremdliches mehr. Denn ,conscientia‘ meint hier offenbar nicht das Organ einer über den eigenen Weg entscheidenden Selbständigkeit und Selbstbestimmungsmacht sittlichen Bewußtseins – welche Bedeutung allerdings in starkem Kontrast stehen würde zu einer Anschauung, die die Verhaltensganzheit des Selbst durch ein Eingenommen-werden von übermächtiger Gewalt bestimmt sieht. ,Conscientia‘ bedeutet vielmehr das Wissen des Herzens um das Mit-sein dieser Gewalt und sein Einstimmen in ihre Bestimmungsmacht.“ (A.a.O., 227). Obwohl ich Joests Ansatz darin völlig zustimme, dass ihm die Verbindung von passivischem Glaubensgeschehen und gelebter Glaubensaktivität gelingt, meine ich doch, dass eine „Zusammenstellung“ von cor und conscientia nicht zur Identifizierung und Synonymisierung führen kann. Joest selbst hält die Unterscheidung m. E. durch, wenn er das Gewissen als „Wissen des Herzens“ bezeichnet. 330 „In Explikation des Gewissensbegriffs ist […] die Unterscheidung von Subjekt und Objekt nicht anwendbar, da hier das Selbstsein des Menschen als Identität von Subjekt und Objekt in Frage steht. […] Statt von einer Instanz wäre es darum angebrachter, von der mit dem Gewissen im Menschsein selbst gesetzten ,Distanz‘ zu sprechen.“ (Ebeling, Erwägungen, 440).

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Luthers Position

Ganzheitsurteil über sein Wesen zu fällen genötigt ist, gestaltet sich im Gewissen – und ich meine hierbei nicht in Widerspruch zu den benannten Konzepten zu treten, sondern vielmehr anders zu betonen – zunächst doch als Urteilsverhältnis zu den eigenen Werken. Damit soll nicht gesagt sein, dass für Luther das Gewissen nun doch eine Bestimmungskraft über die Werke im Sinne einer sittlichen Potenz sei. Lediglich die Bewertung der Werke ist seine Funktion. Wenn Luther in seiner Schrift De votis monasticis tatsächlich seine „schulmäßige Definition des Gewissens“331 vorgelegt hat, so erscheint mir dieser Aspekt besonders hervorhebenswert, dass nach Luther das Gewissen zur Selbstbeurteilung nur gelangt, indem es über die Werke urteilt. Das Gewissen ist nämlich nicht eine Kraft des Handelns, sondern eine Kraft des Urteilens, die über die Werke urteilt. Sein eigentliches Werk ist, wie Paulus Röm. 2 sagt, anzuklagen oder zu entschuldigen, schuldig oder freigesprochen, furchtsam oder sicher zu machen. Darum ist sein Amt, nicht zu tun, sondern über die Taten und die zu tuenden Dinge zu diktieren, die es schuldig oder selig vor Gott machen.332

In zweierlei Hinsicht ist diese Feststellung, dass Luther zufolge das Gewissen seiner Selbstbeurteilungsfunktion nachkommt, indem es über die Werke urteilt, von Bedeutung. Erstens weist sie nämlich darauf hin, dass durch das Gewissen der Mensch in unabweisbarer Notwendigkeit steht, für seine Taten Verantwortung zu übernehmen. Das Gewissen ist, um Gerhard Ebelings Begriff zu verwenden „Verantwortlichsein im Vollzug“333. Dies gilt nicht erst für den in bewusster Gottesbeziehung stehenden Menschen, sondern auch für das Gewissen „der Gottlosen“, da auch sie erstens nicht unabhängig und isoliert von personalen Beziehungen leben, in denen ein beurteilendes Selbstverhältnis notwendig entsteht, und da zweitens auch sie sich selbst in ihren Handlungen gegenübertreten. Insofern ist die Berufung auf das unabweisbare Verantwortungsgefühl ebenfalls dort angebracht, wo von Gott nicht notwendig geredet werden muss, auch wenn dem lutherischen Blick dabei die Unwahrheit erscheint, dass dabei das Gesetz in seinem weltlichen Verständnis und Gebrauch das Gewissen affiziert, also erster und zweiter usus ineinander fallen. Sofern aber der Mensch seine Handlungen als eigene und willentliche Handlungen wahr331 Hirsch, Lutherstudien I, 128. 332 Für die deutsche Übersetzung habe ich die in Martin Luther, Freiheit und Lebensgestaltung. Ausgewählte Texte, im Auftrage der Luther-Gesellschaft hrsg. u. teilw. neu übers. von KarlHeinz zur Mühlen (KVR 1493), Göttingen 1983, abgedruckte deutsche Fassung nach Otto Scheel, hier : 78 – 217, zu Rate gezogen, im Detail allerdings stark verändert. Ich zitiere daher im Folgenden allein nach WA. „Conscientia enim non est virtus operandi, sed virtus iudicandi, quae iudicat de operibus. Opus eius proprium est (ut Paulus Roma. ii. dicit) accusare vel excusare, reum vel absolutum, pavidum vel securum constituere. Quare officium eius est, non facere, sed de factis et faciendis dictare, quae vel ream vel salvam faciant coram deo.“ (WA 8; 606, 32 – 37). 333 Ebeling, Erwägungen, 436. Auf den dortigen Bezug zum Wortgeschehen soll hier nicht weiter eingegangen werden.

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nimmt, kommt er aufgrund des gewissensmäßig-reflexiven Selbstverhältnisses auch nicht umhin, sich selbst als verantwortlichen Urheber seiner Werke zu betrachten.334 Ein böses Gewissen – etwa mit dem Rekurs auf Gottes Allmacht oder auf die Wirkung der Naturgesetze – zum Schweigen bringen zu wollen, wäre der unsinnige Versuch, der selbstreflexiven Struktur des Gewissens ihren eigenen Ursprung zu entziehen, indem man nicht sich, sondern die Allmacht Gottes zum Subjekt einer Handlung erklärte. Man denke an die oben genannte Stelle der Diatribe: Warum rechnest du uns zu, was du willentlich getan hast, während wir nur aus Notwendigkeit gehandelt haben?335

Diese Unabweisbarkeit des Verantwortungsgefühls muss darum gegenüber jenen Argumentationen zur Geltung gebracht werden, nach denen ein deterministischer Weltzusammenhang moralische Verantwortung ausschließen soll. Mit der prinzipiellen Intuition eigener Urheberschaft könnte das Determinismusargument nur brechen um den Preis des Gefühls eigener Subjektivität überhaupt, oder aber unter Preisgabe jedes normativen Systems. Hält man aber weder Subjektivität (Ichgefühl) noch moralische Koordinaten für Illusionen, so wird das daraus resultierende Verantwortungsgefühl auch unter deterministischen Bedingungen Bestand haben müssen. Zweitens – und hiermit ist der Wirkkreis des usus theologicus legis betreten – kann der Umstand, dass Luther das Gewissen als eine virtus iudicandi de operibus vorstellt, durchsichtig machen, in welcher Weise das (unerlöste) Gewissen den Menschen notwendigerweise in Verzweiflung stürzen muss. Es wirft den Menschen stetig auf die eigenen Werke zurück. Sofern sich im Gewissen also das göttliche Gesetz kundtut, perpetuiert es die incurvatio des Menschen, da dieser meint, der Gewissenanklage allein durch neue Werke aus eigener – natürlicher – Kraft entkommen zu können.336 Auf diesem Wege jedoch nie zur Gewissensruhe zu kommen, ist Schicksal und Kennzeichen des gesetzlichen Daseins. 334 So bemerkt Holl, Religion, 60, zu Luthers Auseinandersetzung mit den Schwärmern: „Ihm [sc. Luther] war es unbegreiflich, wie man so rasch über sein Gewissen hinwegkommen, wie man die Frage der Schuld nicht als die allerwichtigste empfinden konnte. Er vermochte nicht hinter sein Ich zurückzugehen, weil sein Verantwortungsbewußtsein das Ichgefühl immer festhielt. Was er getan hatte, hatte eben er, dieser Martin Luther getan. Dieses Einfachste und Gewisseste auslösen oder abschwächen hätte für ihn soviel geheißen, wie aus der Wirklichkeit sich in eine Traumwelt flüchten.“ 335 Dla. nach: Schumacher, Willen, 48. „Cur nobis imputas, quod tua voluntate, nostra necessitate factum est?“ (Dla. ed. J. v. Walter, 39 [II b 1]). 336 „Gott hat dem Menschen das Gesetz, das sittliche Bewußtsein gegeben. Darnach erscheint es als das Natürliche, ja als das Geforderte, daß der Mensch versucht, auf dieser Grundlage, durch sittliches Handeln, sein Ansehen bei Gott zu gewinnen. Aber je ernsthafter einer dies unternimmt, desto sicherer ist das Ende, daß er an sich verzweifelt. Und dies eben will Gott. Daß er es will, bestätigt er selbst, indem er vergibt.“ (Holl, Religion, 31).

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Wer aber befreit uns von diesem gottlosen, gegen sich selbst sündigenden Gewissen? Die Natur kann es nicht; denn wie viel Gutes du auch tätest, wenn du auch dein Blut vergössest, immer bleibt das Gewissen, das zuckt unruhig und sagt: Wer weiß, ob dies Gott gefällt? […] Also ist die Natur nicht im Besitz [sc. eines guten und sicheren Gewissens], und erlangen Werke nicht ein gutes und sicheres Gewissen.337

Luther hat dem die lex vernehmenden Gewissen nie die Möglichkeit zuerkannt, von sich aus den Menschen vor Gott zu entschuldigen oder heilsgewiss zu machen.338 Wo der Mensch an der Urheberschaft seiner Werke vor Gott keinen Zweifel hat, dort wirkt das Gewissen stets in anklagender Weise. Das obige Zitat aus De votis monasticis wäre missverstanden, wenn man meinte, das Gewissen könne über die eigenen Werke auch ein positives Urteil (salvam coram Deo) fällen. Als Urteil über das eigene Werk ist dem Gewissen nie diejenige Sicherheit gegeben, die es dennoch verzweifelt im guten Werk sucht: die Gewissheit des göttlichen Wohlgefallens.339 Hierin liegt ein rechter circulus vitiosus vor, dass das unter Gewissensskrupeln getane Werk des Menschen ohnehin Sünde ist, gerade weil ein sicheres Gewissen das gute Werk überhaupt erst bedingt; darum aber kann das Werk von sich aus auch nie diese Sicherheit schaffen.340 Wenn aber dieser Ruhm [sc. Gottes] fehlt, so dass das Gewissen nicht wagt, gewiss zu wissen oder darauf zu vertrauen, dies gefalle Gott, ist gewiss, dass es Gott nicht gefällt. Denn wie es glaubt, so hat es. Denn es glaubt nicht, dass es gewiss gefällt. Das aber ist doch notwendig, weil eben dies das Verbrechen des Unglaubens ist, an der Gunst Gottes zu zweifeln, der will, dass man ihm mit ganz gewissem Glauben vertraue, dass er gnädig sei.341 337 „Quis vero liberat nos ab ista impia contra seipsam peccante conscientia? Natura id non potest, quantumlibet enim opereris bona, si et sanguinem fuderis, semper manet conscientia palpitans et dicens: Quis scit, an hoc deo placeat? […] Non ergo habet natura, nec impetrant opera bonam et certam conscientiam.“ (WA 8; 593, 36 – 40.594, 1 – 2). 338 Hirsch, Lutherstudien I, 146 f verweist für Luther auf die „Unmöglichkeit, auf das gute Zeugnis des eignen Gewissens irgend etwas vor Gott zu bauen. Das Wort, durch das Gott uns Sünder heißt, hat Vollmacht und Recht auch gegen den, der sich im Gewissen nichts vorzuwerfen hat: die Wahrhaftigkeit Gottes faßt ihn durch dies Wort und dringt ihn zum Glauben daran, daß er ein Sünder ist.“ Vgl. auch Ebeling, Gewissen, 113, These 24, sowie WA 18; 773, 3 – 5. 339 Beiner, Intentionalität, 75, meint, dass die Bezugnahme auf eine solche Ungewissheit „hinsichtlich der Frage, ob die Handlungen des Menschen zur Heilszueignung ausreichen“, wieder auf einen Gewissensbegriff im Sinne einer moralischen Instanz zurückläuft. M.E. ist es aber ein Unterschied, ob das Gewissen handlungsbestimmend – als virtus operandi – oder handlungsbewertend – als virtus iudicandi – begriffen ist. Als Gewissheit der Gunst Gottes wirkt ja auch der Glaube nicht unmittelbar handlungsnormierend. 340 „Die wohl alarmierendste Differenz zwischen Luther und der Scholastik besteht darin, daß das gute Gewissen nicht auf das gute Werk folgt, vielmehr ihm vorausgehen muß und allein so auch den rechten Umgang mit dem guten Werk ermöglicht.“ (Ebeling, Gewissen, 114, These 30). 341 LDStA 1, 611. „Si autem defuerit haec gloria, ut conscientia non audeat certo scire aut confidere, hoc placere Deo, certum est, quod non placet Deo. Quia sicut credit, sic habet, non enim credit sese certo placere, quod tamen necessarium est, cum hoc ipsum sit incredulitatis crimen,

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Diesen Zirkel vom Werk her zu lösen, hieße letztlich, den Glauben aus den Werken entspringen zu lassen, was unmöglich ist. So kommt es, dass für Luther ein Handeln, welchem die Gewissheit des göttlichen Wohlgefallens fehlt, in jedem Falle ein Tun gegen das eigene Gewissen ist. Wenn du ein Werk tust, von dem du nicht fest glaubst, dass es Gott gefalle, oder so du zweifelst, dass es Gott gefalle, handelst du da nicht wider das Gewissen? Du tust es nämlich, und glaubst nicht, Gott zu gefallen; wenn du aber nicht glaubst, ihm zu gefallen, so hast du das Gewissen, dass das Werk nicht wohlgefällig sei. Und so tust du wider das Gewissen dasjenige, von dem du urteilst, dass es Gott nicht wohlgefällig sei.342

Dass die Werke des Gesetzes nicht allein gegen das eigene Gewissen getan werden – wofern eben das Gewissen seinerseits noch nicht gut ist –, sondern außerdem von Luther als Heuchelei gekennzeichnet werden, liegt am Wesen der gesetzlichen Forderung: Gerade im Bewusstsein eigener Handlungsurheberschaft tritt die Forderung des Gesetzes so an den Menschen heran, dass dessen Erfüllung nie ganz „frei“ sein kann. Denn dem nach außen gewirkten Werk widerspricht im Falle des Gesetzesgehorsams doch innerlich – vielleicht auch nur schwach und überwindbar, aber eben doch – der Wille des Subjekts; und diese Diskrepanz von Innen und Außen ist Heuchelei. Wird auf die inkurvierte Selbstfixierung äußerer Zwang ausgeübt, auch wenn das Selbst durch und im Gehorsam gerade seine eigene Sicherheit sucht, so geht den Taten letztlich das lebendige Selbst als Urheber gerade verloren und an dessen Stelle tritt die Forderung.343 Um die Verzweiflung der gesetzlichen Existenz nicht nur in ihrem Selbstbezug kenntlich zu machen, sondern außerdem auf ihre Bedeutung für das menschliche Außenverhältnis hinzuweisen, muss hier auf ein weiteres Kennzeichen des durch das Gesetz im Gewissen auf seine Werke fixierten Menschen aufmerksam gemacht werden: Nicht nur wird nämlich des Menschen incurvatio verfestigt, sondern sein böses Gewissen, seine Sünde treten ihm selbst als fremde Mächte in personifizierter Weise gegenüber. So erlebt der Mensch die je eigene Konstitution im äußeren Gegenüber. dubitare de favore Dei, qui sibi vult quam certissima fide credi, quod faveat.“ (WA 18; 769, 16 – 20). 342 „Si aliquod opus facias, quod non credas firmiter deo placere, aut dubitas placere, nonne contra conscientiam facis? facis enim et non credis deo placere, si autem non credis placere, conscientiam habes, opus non esse placitum. Et sic contra conscientiam operaris id, quod non esse placitum deo dictas.“ (WA 8; 593, 21 – 25). 343 „Dem vom Gesetz befohlenen und abgedrungenen Werk fehlt die lebendige Mitte, ihm fehlt gewissermaßen das Subjekt – vielmehr: sein wahres Subjekt ist nicht der gehorchende Täter, sondern das befehlende Gesetz. Ja noch mehr: wo ich auf Nötigung handle, da bin ich meinem eigenen Tun heimlich entgegen. Dem ,Du sollst‘ des Gesetzes entspricht auf der Seite des Menschen ein ,Ich muß‘; das ,Ich muß‘ aber ist nie ohne ein heimliches ,Ich will nicht‘.“ (Joest, Gesetz, 22).

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Die Sünde als dieses Gegenüber wird […] nicht zur kosmischen Macht, sondern sie bleibt die eigene Sünde des einzelnen Daseins. Dieses Gesetz der Hypostasierung, nach dem das, was ich je bin, mir von außen be-gegnet, zeigt sich nun gleichermaßen bei der conscientia selbst, die ebenso wie die Sünde in der Kette von lex, mors, diabolus von außen dem Dasein be-gegnen kann. […] So kann die conscientia als Gegenüber be-gegnen und das Dasein durch diese Be-gegnung im Umkreise von lex und peccatum vor sich selbst rücken, d. h. in die Verzweiflung treiben.344

Das Gewissen als die dem Menschen von außen begegnende Anklagestimme wird hier selbst zur Personifizierung des Satans – obwohl es doch in ihr eine göttliche Autorität zu vernehmen meint. Dass die vox Dei legis im Gewissen zur diabolisch-anklagenden Macht hypostasieren kann, dass so weiterhin das werkgerechte Streben des Menschen durchsichtig wird auf seinen Grund in der ursprünglichen Erfahrung des Gesetzes, und dass schließlich die Verzweiflung am Gesetz Gottes als Ängstigung vor Tod345 und Teufel346 sich verwirklicht, wirft ein eigenes Licht zurück auf die Frage, wie Luthers dualistisch anmutende Rede von Gott und Satan umschlossen bleiben kann von der klar monistischen Sichtweise eines allwirksamen Gottes. Wenn nach Luther das Gewissen aber außerdem die Funktion hat, den Menschen vor Gott sicher zu machen und freizusprechen, so nur aufgrund der Befreiung von den eigenen Werken. Dazu bedarf es zunächst der Einsicht, dass die Fixierung auf die eigene Leistung aussichtslos ist und bleibt.347 Man wird Luthers Notiz, er selbst sei sehr lange in Verzweiflung über seine eigene Unfreiheit und Gottes scheinbare Grausamkeit gewesen, und habe erkennen müssen, dass diese Verzweiflung der Gnade sehr nahe sei348, als einen Hinweis lesen müssen, dass von diesem tiefsten Punkt der Verzweiflung aus keine Linie mehr weiterführt. Sofern sich Gott selbst hier nicht mit anderem Angesicht

344 Jacob, Gewissensbegriff, 11. 345 „Der Tod macht in seinem An-gehen gegen den Einzelnen und indem er den durch die lex als Sünder konstituierten Menschen zu Leibe rückt, dem Menschen nicht etwa eine Mitteilung über die Ira Dei, sondern er ist die Ira Dei. […] In dieser den Einzelnen in der Unheimlichkeit seiner Vereinzelung treffenden Anfechtung [sc. des Todeskampfes] gipfeln alle Anfechtungen. Es ist die ultima tentatio, der ausgezeichnete Moment für das grauenvoll reale und gegenwärtige Wirken des diabolus.“ (Jacob, Gewissensbegriff, 13.16). 346 „Indem er [sc. Satan] den Menschen auf den Weg des Strebens nach Vollkommenheit weist, sagt er ihm das, was die durch die lex erschütterte conscientia sich zunächst selbst sagt. Die Anfechtung enthüllt dem Gewissen gerade, daß es nicht genug getan hat. […] Diese Umwendung zu einem neuen Streben nach Vollkommenheit zeigt sich bald in ihrer Bodenlosigkeit. So wird die conscientia in die letzten Tiefen der Verzweiflung hineingetrieben. Satan ist es, der den Sünder mit aller Macht auf diesen Weg hoffnungsloser Bemühungen treibt und ihm so die consolatio entzieht“ (Jacob, Gewissensbegriff, 119 f). 347 „Dem servum arbitrium entspricht als Gegenbegriff das befreite Gewissen.“ (Ebeling, Dogmatik III, 190). 348 Vgl. LDStA 1, 487 = WA 18; 719, 9 – 12.

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zeigte, würde dieser Punkt der Verzweiflung ein Endpunkt sein.349 Zeigt Gott sich in diesem Übergang zum Ergreifen der Gnade aus Verzweiflung mit anderem Angesicht, oder womöglich überhaupt erst mit Angesicht? Anders formuliert: Ist das Gesetz eine Anwesenheits- und Wirkungsweise des Deus absconditus, so dass der Mensch genau genommen erst im Glauben an das Evangelium vor das Forum coram Deo gestellt ist?350 Ich sehe nicht, dass es Luthers Sicht nach Dsa entspräche, das Gesetz ausschließlich auf die Seite des Deus absconditus zu rechnen. Gewiss mag einerseits gelten, dass die Rede von der Verborgenheit Gottes Gesetzescharakter trägt, insofern sie sich aus dem Allmachtsgedanken ergibt und in ihr eine Anfechtungserfahrung zum Ausdruck kommt: Wo der Allmächtige sich nicht eindeutig als der zu meinem Wohl Handelnde zeigt, dort ist Verzweiflung auf dem Plan. Des Weiteren könnte das Gesetz in seiner das gesamte Dasein (Selbst-, Welt-, und Gottesverhältnis) bestimmenden Form, in der dem Menschen von allen Seiten Anklage widerfährt, und durch die das Selbst-, Welt- und Gottesverhältnis ununterscheidbar werden351, mit Günter Jacob als „Gegenständigkeit des Deus absconditus“352 bezeichnet werden. Doch ist die Verborgenheit Gottes hier doch wohl eher eine Verblendung des gesetzlichen Daseins gegenüber Gottes Gesetz.353 349 Ich meine, dass eine anthropologische Beschreibung des Übergangs von der tiefsten Verzweiflung hin zum Ergreifen der Gnade unbedingt unterbleiben muss, um den passivischen Charakter des Glaubensentscheids nicht zu gefährden. Bei Karl Holl etwa bleibt die Anerkennung des göttlichen Gnadenwillens wie zuvor auch die Bejahung des Gerichtswillens ein menschlicher Gehorsamsakt. Der Glaube sei „immer ein Ernstnehmen Gottes, ein Anerkennen seiner Wahrhaftigkeit, sowohl wenn es sich um das Verwerfungsurteil Gottes, als wenn es sich um das Evangelium handelt. Aber solches Anerkennen ist nicht denkbar ohne einen Willensakt, der Selbstüberwindung in sich schließt. Im einen Fall, beim Gericht, heißt es den ,Hochmut‘, im andern die ,Blödigkeit‘ niederkämpfen.“ (Holl, Religion, 33 f). Hier wird noch die Anerkennung des Evangeliums zu einem vom Gebot geforderten Akt – und damit zum Werk. Luther dagegen macht die Preisgabe der eigenen Kräfte, Absichten, Bemühungen und Werke zur Bedingung des Wirkens Gottes: „Der Mensch kann aber erst dann vollständig gedemütigt werden, wenn er weiß, dass sein Heil gänzlich außerhalb seiner eigenen Kräfte, Absichten, Bemühungen und seines eigenen Willens, seiner Werke liegt und ganz und gar von der Entscheidung, der Absicht, vom Willen und Werk eines anderen abhängt, nämlich Gottes allein. […] Wer aber in keiner Weise daran zweifelt, er hänge ganz vom Willen Gottes ab, der verzweifelt gänzlich an sich selbst, der wählt nicht, sondern erwartet den wirkenden Gott. Der ist der Gnade am nächsten, dass er heil wird.“ „Humiliari vero penitus non potest homo, donec sciat, prorsus extra suas vires, consilia, studia, voluntatem, opera, omnino ex alterius arbitrio, consilio, voluntate, opere suam pendere salutem, nempe Dei solius. […] Qui vero nihil dubitat, totum in voluntate Dei pendere, is prorsus de se desperat, nihil eligit, sed expectat operantem Deum, is proximus est gratiae, ut salvus fiat.“ (LDStA 1, 285 = WA 18; 632, 30 – 32.37 – 633,1). 350 So Ebeling, Luther, 131. 351 „Gewissensangst ist notwendig Weltangst, Angst vor allen Kreaturen.“ (Hirsch, Lutherstudien I, 131 f). 352 Jacob, Gewissensbegriff, 47. 353 Damit soll wiederum nicht gesagt sein, dass das Gesetz Gottes überhaupt nicht fordere und zwänge; so als wäre der menschliche Verstand des Gesetzes ein Missverständnis und als müsse

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Luther selbst zählt dagegen die lex ganz klar ebenso zu Gottes verba wie das Evangelium. Insofern gehört das Gesetz gemeinsam mit dem Evangelium in die Predigt des Deus revelatus/predicatus. Wo nun das Gesetz derart in klarer Unterscheidung aber Zusammengehörigkeit neben das Evangelium gestellt – also theologisch recht begriffen – ist, dort wird es nunmehr erst richtig unterscheidbar von anderen, menschlich-weltlichen Vorschriften. Erst vom Evangelium her gelingt die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und erst von dieser Unterscheidung hängt die weitere Distinktion des göttlichen Gesetzes von menschlichen Gesetzen ab.354 Was weder dem sich profan verstehenden Gewissen, noch der gesetzlichen Existenz gelingt, das vermisst Luther auch bei Erasmus und fordert es vehement ein als Kennzeichen guter theologischer Lehre: Ein guter Theologe lehrt folgendermaßen: Das gewöhnliche Volk muss gebändigt werden durch die äußere Gewalt des Schwertes, wenn es übel handelt, wie Paulus Röm 13 lehrt. Ihre Gewissen dürfen aber nicht in falsche Gesetze verstrickt werden, so dass sie von Sünden geplagt werden, wo Gott gar keine Sünden hatte haben wollen. Denn die Gewissen werden allein durch das Gebot Gottes gebunden. Jene sich dazwischendrängende Tyrannei der Päpste, die fälschlich Schrecken verbreitet, die Seelen inwendig tötet und äußerlich vergeblich den Körper ermüdet, muss gänzlich aus dieser Stellung entfernt werden.355

Ohne diesen exklusiven Anspruch Gottes auf die Gewissen und ohne die dazugehörige Unterscheidbarkeit von Gottesgebot und Menschensatzung, bliebe darum auch die Welt und alle Kreatur einer Zweideutigkeit und QuasiDivinität verhaftet. Darum hat eine theologische Rede, die vom Deus revelatus ausgeht – also jede rechte theologische Rede –, nun klar und deutlich zu unterscheiden zwischen den Geboten Gottes und weltlichen Vorschriften. Erst vom offenbaren Gott her tritt diese Differenz überhaupt in ihrer Klarheit ans Licht. Darum aber ist die Bindung des Gewissens für Luther allein dann noch rechtens, wenn sie durch die Gebote Gottes, nicht etwa durch Menschensatzungen geschieht: „Solius enim Dei praecepto conscientiae ligantur“356. Wohlgemerkt: Auch das göttliche Gebot bindet die Gewissen! Auch hier bleibt das „Du sollst!“ als Forderung bestehen. Auch hier lauert noch die Gefahr des die Rede von Gesetz und Evangelium nun doch umgekehrt werden in „Evangelium und Gesetz“. Vgl. Joest, Gesetz, 36 ff. 354 „[D]a sich das Gesetz nur vom Evangelium her theologisch definieren läßt, bildet die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium den Schlüssel zu einer differenzierten Zweireichelehre.“ (Ebeling, Usus, 139). 355 LDStA 1, 265 – 267. „Bonus Theologus sic docet: Vulgus coercendum est externa vi gladii, ubi male egerit, sicut Paulus docet Roma. 13. non autem conscientiae eorum falsibus legibus irretiendae sunt, ut peccatis divexentur, ubi peccata non esse Deus voluit, Solius enim Dei praecepto conscientiae ligantur, ut media illa tyrannis Pontificum, quae falso terret et occidit animas intus et foris frustra fatigat corpus, e medio prorsus tollatur.“ (WA 18; 624, 12 – 18). 356 WA 18; 624, 16.

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Rückfalls in ein rein gesetzliches Selbstverständnis – und dann auch wieder eine Verblendung gegenüber dem offenbaren Gotteswillen. Zugleich bedingt aber diese unausgesetzte Forderung das Leben des Christen in ständiger Buße und erklärt das unentwegte Oszillieren des christlichen Selbstverständnisses zwischen Gesetz und Evangelium.357 Wenn es nun stimmt, dass allein dem von Gott gebundenen Gewissen auch die Befreiung von den eigenen Werken widerfährt, so ist damit in gewisser Weise erneut festgestellt, dass eigene Würdigkeit und Verantwortlichkeit im Sinne von verdienstlich erworbenem Anrecht auf Lohn vom Evangelium her ausgeschlossen sind. Allerdings wird das Bewusstsein eines von den eigenen Werken befreiten Gewissens, wenn es durch die Erfahrung des Gesetzes gegangen ist, sich keineswegs in Verantwortungslosigkeit ausleben, sondern es wird die Gestalt des Vergebungsbewusstseins gegenüber der eigenen Verantwortlichkeit tragen.358 Menschengesetz hingegen bindet die Gewissen mit seinem Anspruch an die opera propria in einer Weise, die ein Hinaustreten über eben diesen Anspruch nicht beinhaltet – hier, so Luther, stirbt inwendig die Seele und ermüdet äußerlich der Körper.359 Die Fesselung der Gewissen durch menschliche Vorschriften erscheint ihm darum wiederum als satanisches Werk.360 So treten an mehreren Stellen in Dsa das befreiende Wort Gottes und päpstliches Kirchengesetz in einen Kampf um die Gewissen, in dem sich der Kampf Gottes mit dem Satan widerspiegelt. Der Fürst der Welt lässt es dem Papst und seinen Bischöfen nicht zu, dass ihre Gesetze frei eingehalten werden, sondern er hat im Sinn, die Gewissen zu fangen und zu binden. Das kann der wahre Gott nicht ertragen. So kämpfen das Wort Gottes und die Traditionen der Menschen in unversöhnlicher Zwietracht miteinander, nicht anders als Gott selbst und Satan sich feindlich gegenüberstehen, und einer vernichtet die 357 „In dem Zusammenspiel von timor iudicii und spes misericordiae spiegelt sich im Selbstverständnis des Glaubens die dem Christsein eigene Dialektik des ,simul iustus et peccator‘, der Gleichzeitigkeit von altem und neuem Menschen“ (Schwarz, Fides, 284). 358 „Die entscheidende Wendung, die das Gewissen unter eine andre, neue, es befreiende Macht stellt, ist danach die, daß es im Glauben an das Evangelium Gottes Handeln mit ihm wahrer und tiefer verstehen lernt, als es das zuvor unter dem Gesetze tat. Aber in diesem Glauben ist Gottes Handeln unter dem Gesetz nicht verneint, sondern mitumfaßt als Wegbereitung des Evangeliums. Daher stellt sich im Glauben eine Einheit des Gewissens unter beiden Erfahrungen her, die Einheit des Erleidens des Umgangs mit einem wunderlichen und geheimnisvollen, aber gütigen lebendigen Herrn, der sich dem Gewissen nur durch eine spannungsschwere Geschichte hindurch nach seinem wahren Wesen und Wollen erschließen kann und will. Damit kommt erst ganz heraus, was das Zusammenfallen von Gewissen und Sein vor Gott bei Luther eigentlich bedeutet. Das Gewissen verliert in der Tiefenschicht ganz den Charakter eines Urmaßes, einer Norm: es ist das sich Vernehmen des Menschen in der sein Leben bestimmenden schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott. Kurz gesprochen: zum Gewissen gehört ein Herr, der es regiert.“ (Hirsch, Lutherstudien I, 160 f). 359 Vgl. LDStA 1, 265 – 267 = WA 18; 624, 12 – 18. 360 „Der Kampf gegen den Antichrist ist […] der Kampf gegen die Macht, die die Gewissen an das innerweltliche System der traditiones humanae binden will. Es ist der Kampf um die Freiheit der Gewissen als Bindung an das Wort Gottes.“ (Jacob, Gewissensbegriff, 55).

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Luthers Position

Werke des anderen und zerstört seine Lehrsätze, gleich als ob zwei Könige gegenseitig ihr Reich verwüsten.361

Wie aber gestaltet sich die Befreiung des Gewissens vom Zustand der tiefsten Verzweiflung aus? Sie ist, wie schon gesagt, nicht anders zu denken als die Lösung des Gewissens von den eigenen Werken und als seine Bindung an Christi Werke. Die eigenen Werke gibt aber nach Luther nur auf, wer an ihnen ganz verzweifelt ist. Genau darin liegt, wenn man den Kontext der oben zitierten Passage aus De votis monasticis beachtet, die Pointe des Luther’schen Gewissensbegriffs: Nach Luther kann und muss das christliche Gewissen zur Beurteilung seiner selbst den ,Umweg‘ über fremde, nämlich Christi Werke nehmen. Christliche Freiheit erlangt der Mensch, wenn er von der in sich gekehrten Konzentration auf die eigenen Werke entlastet wird zugunsten des Vertrauens auf die Barmherzigkeit Christi. Barmherzigkeit Christi aber ist nichts anderes als die in seinen Heilstaten vollbrachte Sündenvergebung.362 Darum herrscht christliche Freiheit dann, wenn das menschliche Gewissen zu unterscheiden lernt zwischen den eigenen und Christi Werken und sein Vertrauen auf letztere setzt. Also ist die Christliche oder Evangelische Freiheit eine Freiheit des Gewissens, durch die das Gewissen von den Werken befreit wird, nicht damit keine geschehen, sondern damit man sich auf keine verlasse. […] Dieses [sc. Gewissen] nun hat Christus von den Werken befreit, indem er es durch das Evangelium lehrt, auf keine Werke zu vertrauen, sondern allein auf seine Barmherzigkeit zu hoffen. Und daher hängt ein gläubiges Gewissen in freiester Weise allein an den Werken Christi, und ist jene Taube in den Felsklüften und Verstecken der Felswand, da es ganz gewiss weiß, dass es nicht sicher und ruhig sein kann außer in Christus allein, in allen eigenen Werken aber nur schuldig und furchtsam und verdammt bleiben kann. So also unterscheidet und urteilt es zwischen den Werken Christi und den seinen. Christi Werke ergreift es und urteilt folgendermaßen: Durch diese werde ich gerechtfertigt, gerettet und befreit werden von allen Sünden und Übeln, woran ich nicht zweifle, weil sie genau zu diesem Zwecke durch ihn geschehen sind und in der Taufe über mich ausgeschüttet wurden, ohne sie gibt es kein Heil, gibt es keinen Frieden in meinen Gebeinen, gibt es keine Genugtuung der Sünden. Aber seine bösen Werke sieht und verurteilt es, doch in Christi Werken überwindet es und verachtet es sie, dass sie es nicht beißen können. Mächtiger sind die Werke Christi, 361 LDStA 1, 273. „Princeps mundi Papam et Pontifices suos non sinit eorum leges libere servari, sed conscientias captare et ligare in animo habet. Hoc Deus verus ferre non potest. Ita implacabili discordia verbum Dei et traditiones hominum pugnant, non aliter atque Deus ipse et Satan sibi invicem adversantur et alter alterius opera dissolvit et dogmata subruit, tanquam si duo reges alter alterius regnum populetur.“ (WA 18; 627, 32 – 37). Vgl. auch: LDStA 1, 279 = WA 18; 630, 7 – 14. 362 Streng genommen handelt es sich also, wenn man LDStA 1, 635 = WA 18; 777 so verstehen will, gar nicht so sehr um einen Umweg, als vielmehr um das Empfangen der Gnade am Orte extra nos. Damit würde die bleibende Fremdheit der Gnade umso mehr betont.

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Die Freiheit eines Christenmenschen

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uns zu befreien und Frieden zu geben, als es unsere sind, uns zu fangen und zu schrecken, wenn du denn dies glaubtest.363

Den auf die Zukunft vorgreifenden Charakter des Glaubens stellt auch dieses Zitat deutlich heraus, indem der Mensch zur praesumptio misericordiae (!) an den geschehenen (facta sunt) Werken Christi Anhalt nimmt, und indem diese Vorwegnahme der Barmherzigkeit sich in gegenwärtiger Gewissheit der zukünftigen Rettung und Befreiung ausdrückt: Per haec ego iustificabor et servabor et liberabor ab omnibus peccatis et malis, de quo non dubito.364 Ganz klar ist dabei, dass diese Zukunftshoffnung nicht wirkungslos in der Gegenwart bleibt – so gehört es schließlich zum common sense des Luthertums, dass gute Werke im Glauben nicht ausbleiben können (non ut nulla fiant, sed ut in nulla confidat). Der folgende Abschnitt soll darum eingehender betrachten, in welchem Verhältnis Luther zufolge Person und Werk, Urheber und Handlung zueinander stehen unter den Bedingungen der Freiheit eines Christenmenschen. Die Konzentration wird also zunächst auf der Beschreibung des von der Gewissensanklage befreiten Glaubenssubjekts liegen. Von da her darf auch eine Antwort auf die Frage nach der neuen Qualität der Glaubenswerke erwartet werden.

3.4. Die Freiheit eines Christenmenschen 3.4.1 Die „zwei Naturen“ des Menschen: innerer und äußerer Mensch Begibt man sich an die Klärung der anstehenden Frage, wie sich die Handlungen des Menschen in ein christlich-freies Leben einstellen, so wird man sich mit einigem Recht vor allen anderen Schriften auf Luthers Tractatus de libertate Christiana konzentrieren. Denn obwohl dabei von Dsa herkommend ein chronologischer Rückschritt von etwa fünf Jahren gemacht ist, scheint der 363 „Est itaque libertas Christiana seu Euangelica libertas conscientiae, qua solvitur conscientia ab operibus, non ut nulla fiant, sed ut in nulla confidat. […] Hanc [sc. conscientiam] igitur Christus liberavit ab operibus, dum per Euangelium eam docet nullis operibus fidere, sed in solius sua misericordia praesumere. Atque ita heret fidelis conscientia in solis operibus Christi absolutissime, et est columba illa in foraminibus petrae et in cavernis maceriae, sciens certissime, se non posse securam et quietam esse nisi in solo Christo, in omnibus vero operibus propriis non posse nisi ream et pavidam damnatamque manere. Sic ergo discernit et iudicat inter opera Christi et sua. Christi opera apprehendit et dictat in hunc modum: Per haec ego iustificabor et servabor et liberabor ab omnibus peccatis et malis, de quo non dubito, quia in hoc ipsum sunt per eum facta et in baptismo super me effusa, sine his non est salus, non est pax ossibus meis, non est satisfactio peccatorum. Sua vero opera mala videt et damnat, sed in Christi operibus vincit et contemnit, ne sese mordere possint. Potentiora sunt opera Christi ad nos liberandos et pacificandos, quam nostra sunt ad captivandos et terrendos, si tamen hoc credideris. (WA 8; 606, 30 – 32.37 – 607, 12). 364 Vgl. o. Anm. 363.

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inhaltliche Übergang gemacht von der auf einen pointierten dogmatischen Angriff reagierenden Schrift De servo arbitrio hin zu der stärker ethisch orientierten und auf umfassende Darstellung seiner Theologie bedachten Freiheitsschrift. Keineswegs soll damit eine Gewichtung der Schriften hinsichtlich ihrer theologischen Raffinesse zum Ausdruck kommen. 1525 zeugen die Emphase und Unnachgiebigkeit, mit denen Luther das servum arbitrium im Disput mit Erasmus vertritt, von seiner Ansicht, in der Frage des menschlichen Willens gehe es um nicht weniger als um die tota summa Christianarum rerum365. Entsprechend lautet Luthers Urteil bereits 1520 in dem dem Freiheitstraktat beigesandten Brief an Papst Leo X., sein tractatulum enthalte die summa vitae christianae – wenn man seinen Inhalt begreife.366 Inhaltliche Widersprüche sind darum zwischen der Unfreiheits- und der Freiheitsschrift Luthers nicht zu erwarten, wenngleich die Schärfe, mit der Luther gegen Erasmus in dieser speziellen Frage auftritt, Dsa einen gänzlich anderen Charakter verleiht als dem Tractatus de libertate Christiana, dem auch in der lateinischen Fassung der erbauliche Stil der ursprünglich deutschen Version abzuspüren ist. Bei der Frage, wie der Glaube nach Luthers Verständnis das Selbst des Menschen verändere und was es um die Werke des Glaubens sei, wird sich, wenn man von Luthers berühmter Doppelbeschreibung des Christenmenschen ausgeht – der zufolge der Christ sowohl freiester Herr als auch dienstbarster Knecht ist – die Intuition aufdrängen, die im Glauben befreite Person des Christen im Begriff seiner Herrschaft, wie sodann „die Werke im Glauben“ im Begriff der christlichen Knechtschaft festzumachen. Man ist dann schnell bei der Feststellung, der Glaube verändere das Handlungssubjekt in befreiender Weise derart, dass die von ihm vollbrachten Werke dem Nächsten zu Diensten – also in freier Knechtschaft – getan werden könnten. Das ist zweifellos richtig, dennoch birgt diese Form das potentielle Missverständnis, der Christ habe im Glauben die Möglichkeit, seinem Nächsten zu dienen, was dann auch heißen müsste: er kann diesen Dienst ebenso unterlassen.367 Luthers Sätze von der Freiheit und Dienstbarkeit stehen nicht im Verhältnis von Ermöglichung und Verwirklichung, sondern bilden zusammen die einzig mögliche Beschreibung der christlichen Existenz in Glaube und Liebe. Luthers 365 Vgl. LDStA 1, 247 = WA 18; 614, 17. Auf diese Stelle verweist auch Rieger, Freiheit, 39, Anm. 5. 366 Vgl. LDStA 2, 119 = WA 7; 48, 32 – 36. Vgl. auch Ringleben, Freiheit, 3. 367 Auch wenn Preul, Wurzel, 254 f, mit seinem handlungstheoretischen Ansatz, sofern in ihm menschliches Handeln unter vorgegebenen Bedingungen und göttliches voraussetzungsloses Handeln zusammengebracht seien, eine „kategorial vollständige[] Ontologie aus der Perspektive des sich selbst erfahrenden Handlungssubjekts“ anstrebt und damit im menschlichen Handeln einen universal-anthropologischen Sachverhalt als Datum der Selbsterfahrung erkennt, bleiben die folgenden Formulierungen aus meiner Sicht problematisch: „Die christliche Freiheit, so wie Luther sie versteht, ist nichts anderes als die Antwort des christlichen Glaubens auf die Frage nach Grund, Grenzen, Motiv und Richtungssinn menschlichen Handelns. […] Und der Glaube erweist sich in dieser Perspektive als das Vermögen, die Möglichkeit und die Kraft, wirklich gute Werke zu tun, Gott zur Ehre und dem Nächsten zu Nutz.“ (A.a.O., 256).

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Freiheitsschrift verlangt eine eingehende Interpretation, um die prima-facieDeutung detailliert zu bestätigen und von möglichen Missverständnissen abzuheben. Nun greift Luther in seinem Freiheits-Traktat zur Erläuterung seiner Doppelbestimmung christlicher Existenz zu einer Art anthropologischer Zwei-Naturen-Lehre, durch die die Sache zunächst eher verkompliziert als vereinfacht erscheint. Der Mensch besteht aus zwei Naturen, einer geistlichen und einer leiblichen. Gemäß seiner geistlichen Natur, die man Seele nennt, spricht man vom geistlichen, inneren und neuen Menschen, gemäß seiner leiblichen Natur spricht man vom fleischlichen, äußeren und alten Menschen.368

Die Unterscheidung und Verhältnisbestimmung von innerem und äußerem Menschen ist für Luther der weitere und gröbere Darstellungsrahmen, um die Doppelbestimmung des Christen, „Herr und Knecht“, zu verstehen. Ich folge daher in der Interpretation dem von Luther gewählten Aufbau und damit dem Ablauf vom „inneren“ zum „äußeren“ Menschen. Ganz offensichtlich sperrt sich die „doppelte Natur“ des Menschen zunächst gegen eine allzu voreilige Aufteilung auf die beiden Aussagen über den Christen in Herrschaft und in Knechtschaft, obwohl doch Luther beansprucht, mit ihr den widersprüchlichen Anschein von Freiheit und Dienstbarkeit als widerspruchslose Zusammengehörigkeit darzulegen.369 Denn im Falle einer einfachen Aufteilung bliebe unbeachtet, dass nach Luther Freiheit und Knechtschaft des Christenmenschen konveniente Bestimmungen sind370 und beide gemeinsam als geistliche Prädikationen benannt werden371, wohingegen der innere Mensch, sofern er als geistlicher gemeint ist, mit dem äußeren und insofern auch fleischlichen Menschen im Widerstreit liegen kann. Die Unterscheidung bringt es mit sich, dass in der Heiligen Schrift Widersprüchliches über den Menschen gesagt wird, da ja auch eben diese beiden Menschen in ein

368 Für die deutsche Übersetzung des Tractatus de libertate Christiana habe ich auf Fidel Radles Übersetzung zurückgegriffen, die sich im zweiten Band der lateinisch-deutschen Studienausgabe findet. LDStA 2, 121. „Homo enim duplici constat natura, spirituali et corporali: iuxta spiritualem, quam dicunt animam, vocatur spiritualis, interior, novus homo, iuxta corporalem, quam carnem dicunt, vocatur carnalis, exterior, vetus homo“ (WA 7; 50, 5 – 8). 369 „Obwohl diese Sätze sich zu widersprechen scheinen, werden sie sich, sobald erwiesen ist, dass sie miteinander vereinbar sind, unserem Vorhaben auf passende Weise fügen.“ „Haec quanquam pugnare videantur, tamen ubi convenire inventa fuerint, pulchre facient ad institutum nostrum.“ (LDStA 2, 121 = WA 7; 49, 26 f). Vgl. auch Jüngel, Freiheit, 57. Ringleben, Freiheit, 4 – 6, betont dagegen die widerspruchsvolle Einheit von Freiheit und Knechtschaft als wahres Wesen der Freiheit, wobei die Unterscheidung innerer-äußerer Mensch auch nach Ringleben eben dem besseren Verständnis der Einheit beider Aussagen dient (vgl. a. a. O., 7). 370 Vgl. LDStA 2, 121 = WA 7; 49, 26. 371 Vgl. LDStA 2, 121 = WA 7; 49, 27.

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und demselben Menschen miteinander in Widerstreit liegen, denn es gelüstet das Fleisch gegen den Geist und den Geist gegen das Fleisch.372

Man könnte daher zwar geneigt sein aufzuteilen: Freier Herr ist der Mensch als inwendiger Mensch; dienstbarer Knecht ist er qua Leiblichkeit. „Wir hätten es dann mit einer Variante platonisch-augustinischer Anthropologie zu tun.“373 In diesem Sinne Freiheit und Knechtschaft des Christen auf inneren (Seele) und äußeren (Körper) Menschen zu distribuieren, hieße in der Tat, Freiheit und Knechtschaft zu einem Nebeneinander zu erklären und ihre Konvenienz zu verkennen.374 Der Christ ist für Luther eben nicht auf Grund seiner leiblichen Verfasstheit ein Knecht aller Dinge, sondern mit seiner und durch seine Leiblichkeit. Die Komplikation beim Versuch einer stringenten Interpretation des Freiheits-Traktats tritt also durch die vordringliche Frage auf: Stößt man hier bei Luther auf einen überkommenen substanzhaften Leib-Seele-Dualismus?375 Und ferner : Bezieht Luther in noch traditioneller Weise den paulinischen Gegensatz von Geist und Fleisch auf jenen Leib-Seele-Dualismus? Dies wäre dann der Fall, wenn Luther meinte, der innere Mensch sei gleichsam per se auf Gott oder Christus bezogen und somit geistlich, während der äußere Mensch auf Grund seiner leiblichen Verfasstheit per se gottabgewandt und also fleischlich wäre. Sieht man Luther hier also tatsächlich in eine Simplifizierung der Anthropologie und Verflachung der Harmatiologie zurückfallen, die er doch spätestens seit der Galatervorlesung abgelegt zu haben scheint?376 Diese Fragen lassen sich auf das gesamte Freiheitstraktat besehen nicht rundweg und in einem einheitlichen Schema beantworten. Luthers argumentativer Durchgang lässt die Begrifflichkeiten und Gedanken hier changieren.377 Ich meine, dass Luther von einem – wohl nicht substanzontologischen, aber doch epistemisch unabweisbaren – dualistischen Menschenbild nie völlig Abstand nimmt378, dass er selbiges aber im Verlauf der Schrift immer wieder von einem Standpunkt außerhalb des Menschen durchbricht. Was also leistet für Luther diese Unterscheidung in einen inneren und einen äußeren Menschen und worin ergibt sich letztlich doch eine stimmige Einordnung der doppelten Natur in die Doppelbestimmung christlicher Existenz: freier Herr und dienstbarer Knecht? 372 LDStA 1, 123. „Haec diversitas facit, ut in scripturis pugnantia de eodem homine dicantur, cum et ipsi duo homines in eodem homine sibi pugnent, dum caro concupiscit adversus spiritum et spiritus adversus carnem“ (WA 7; 50, 10 – 12). 373 Jüngel, Freiheit, 70. 374 Vgl. Ringleben, Freiheit, 7. 375 Ringleben, Freiheit, 7, wehrt eine dualistische Deutung ab. Korsch, Freiheit, 143 u.150, sieht in der gelingenden „Gestaltung der widersprüchlichen Einheit von Leib und Seele“ (a. a. O., 150) den beobachtbaren Ausdruck christlicher Freiheit. Vgl. auch: Maurer, Freiheit, 49. 376 Vgl. 3.1.2.1, Anm. 32. 377 Vgl. Ebeling, Lutherstudien II/2, 254. 378 Vgl. Rieger, Freiheit, 65 ff.

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3.4.1.1 Der innere Mensch: eschatologische Existenz im Vorgriff des Glaubens Der unmittelbare Fortgang des Traktats zeigt, dass Luther in der Tat zunächst einen dualistischen Personenbegriff zum Zuge bringt379, um die Freiheit des Christen in ihrer Reinheit darstellen zu können. Mit dem „inneren Menschen“ ist zu Beginn des Traktats nichts anderes gemeint als „die Seele“; das Subjekt nach seiner geistigen Verfasstheit. Durchaus bringt Luther in der Freiheitsschrift den Seelenbegriff mehrfach mit den Begriffen des Gewissens und des Herzens als anthropologischen Ort des Glaubens und der Freiheit in Verbindung.380 Dass der Begriff des „inneren Menschen“ dabei nicht vom Anfang der Schrift an im Sinne der intakten Christusbezogenheit gedacht ist, dass also umgekehrt nicht die christologische Konstitution extra se den inwendigen Menschen überhaupt erst sein lässt381, erhellt bereits daraus, dass Luther in der lateinischen Fassung einsetzt, er wolle den inneren Menschen betrachten, um zu sehen, wie dieser ein „wahrer Christ, das heißt, ein geistlicher, neuer, innerer Mensch wird“382. Der innere Mensch wird – ein innerer Mensch! Das zeigt auch: „Die Seele“ im Sinne des subjektiven Geistes – und diese Bedeutung bleibt hier noch die vordringliche – kann für Luther sowohl in Gerechtigkeit und christlicher Freiheit als auch in Ungerechtigkeit und unchristlicher Knechtschaft sein383 und äußerliche Werke können diese ,Entscheidung‘ über die Person niemals herbeiführen – weder zur Freiheit noch zur Unfreiheit hin.384 Es ist also die argumentative Erstfunktion von Luthers anthropologischer Zwei-Naturen-Lehre, dass dem Menschen jeder eigenmächtig-handelnde Einfluss auf die Qualität seiner Person – ob sie gerecht und frei oder ungläubig und geknechtet sei – verwehrt wird.385 Mit dieser Aussage findet 379 Vgl. Korsch, Freiheit, 143. 380 Vgl. etwa WA 7; 51, 15 – 19.35 – 52, 4. 381 „Der innere Mensch ist es nämlich nur, indem er von außen her konstituiert wird. Es gibt ihn erst als Sein von Christus her im Glauben. […] Das nach außen auf Christus Bezogensein ist die Konstitution des ,Inwendigen‘. Darum heißt diese wahre und freie Identität des Menschen auch ,neu‘. Der innere Mensch ist der neue Mensch des Glaubens.“ (Ringleben, Freiheit, 7). Das gilt gewiss für den im Glauben neu gewordenen „inneren Menschen“, und Luther setzt in der deutschen Fassung seines Traktats in der Tat damit ein, „das eyn yglich Christen mensch ist zweyerley natur, geystlicher und leyplicher.“ (WA 7, 21, 12 – 13. Vgl. hierzu auch: Rieger, Freiheit, 64). Gleichwohl findet sich auch im deutschen Text der Gedanke, dass der inwendige Mensch in „boeßheit und gefenckniß“ (WA 7; 21, 22) sein kann. 382 LDStA 2, 123. „Pimum autem interiorem hominem apprehendimus visuri, qua nam ratione, iustus, liber, vereque Christianus, hoc est, spiritualis, novus, interior homo fiat“ (WA 7; 50, 13 – 15). 383 Vgl. LDStA 2, 123 = WA 7; 50, 15 – 17. 384 Diese servitus ist streng zu unterscheiden von der servitus spiritus des Christenmenschen. An dieser Stelle geht es ausdrücklich um eine Knechtschaft, die zugleich Ungerechtigkeit und darum Knechtschaft in allen Freveln (omnium scelerum) ist (vgl. LDStA 2, 123 = WA 7; 50, 20). Vgl. auch Jüngel, Freiheit, 98. 385 Vgl. Anm 387.

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sich also zu Beginn des Freiheitstraktats die soteriologische Kernthese von Dsa, dass der Mensch eben darin gänzlich unfrei sei, keine Handlungsmacht über sich selbst zu besitzen. Ob die Seele gläubig und frei oder ungläubig und geknechtet ist, steht nicht in der Macht der Person; der innere Mensch bleibt sich selbst entzogen. So ist denn auch an keiner Stelle der Schrift davon die Rede, der Mensch könne sich zum Glauben durchringen. Deshalb gilt natürlich, dass, wer sich hier in Übungen verausgabt, um sich selbst – seine Person – zu befreien und zu rechtfertigen, noch ganz der Alte ist: Luther nennt solche Menschen Heuchler.386 Doch sodann gerät Luthers anthropologischer Dualismus zusammen mit dem paulinischen Antagonismus von pneuma und sarx in Bewegung. Einerseits ist es nach Luther nämlich durchaus so, dass der Umgang mit dem eigenen Körper – man kleide ihn in heilige Gewänder oder vollbringe irgendwelche Werke durch ihn387 – zum Zwecke der eigenen inneren Gerechtigkeit ein Merkmal des alten, fleischlichen Menschen ist. Insofern ist auch der äußerlich körperliche Mensch der paulinisch fleischliche, weil „irgendein Werk […], das durch den Leib und im Leib verrichtet werden kann“388 der Seele nichts zur Freiheit nützt. Andererseits bekommt die drohende Missdeutung, ausschließlich die „Leibesübungen“ würden von Luther zurückgewiesen, als mache nun doch eindeutig allein der Körper die sündhaft-fleischlich alte Konstitution des Menschen aus, eine Abfuhr.389 Luther setzt sogleich nach: [A]uch Spekulationen, Meditationen und was sonst noch durch Seeleneifer [animae studiae] unternommen werden kann; all das nützt nichts.390

Der innere Mensch: ganz alt und äußerlich. Nach diesen kurzen abwehrenden Passagen kommt Luther zur positiven Beschreibung, wie denn nun der innere Mensch ein wahrhaft innerer, d. h. freier Mensch werde: Eines nur und allein dies ist notwendig zum Leben, zur Gerechtigkeit und Freiheit eines Christenmenschen. Und das ist das hochheilige Wort Gottes, das Evangelium Christi […]. Die Seele kann alle Dinge entbehren außer dem Wort Gottes, ohne welches ihr ganz und gar nicht geholfen ist. Wenn sie aber dieses Wort hat, ist sie reich 386 Vgl. LDStA 2, 123 = WA 7; 50, 29. 387 „So dürfte es ihr [sc. der Seele] gar nichts nützen, wenn der Leib mit heiligen Gewändern wie bei den Geistlichen geschmückt wird oder an heiligen Stätten verweilt oder mit Gottesdienst beschäftigt ist oder betet und fastet und sich bestimmter Speisen enthält und irgendein Werk tut, das durch den Leib und im Leib verrichtet werden kann.“ „Ita nihil profuerit [sc. animae], si corpus sacris vestibus more sacrorum ornetur aut locis sacris versetur aut officiis sacris occupetur aut oret, ieiunet, abstineat certis cibis et faciat opus quodcunque per corpus et in corpore fieri potest“ (LDStA 2, 123 = WA 7; 50, 24 – 27). 388 LDStA 2, 123. „opus quodcunque per corpus et in corpora fieri potest“ (WA 7; 50, 26 – 27). 389 Vgl. Ebeling, Lutherstudien II/2, 251. 390 LDStA 2, 123. „[E]tiam speculationes meditationes et quicquid per animae studia geri potest nihil prodest“ (WA 7; 50, 32 – 33).

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und keiner anderen Sache bedürftig, da es auf unausdenkbare Weise das Wort des Lebens, der Wahrheit, des Lichtes, des Friedens, der Gerechtigkeit, des Heiles, der Freude, der Freiheit, der Weisheit, der Kraft, der Gnade, der Herrlichkeit und alles Guten ist.391

Es liegt also am worthaften Wirken Gottes, dass seine Wirksamkeit sich allein am inneren Menschen im Sinne der geistigen Sphäre entfaltet. Das muss keineswegs zwingend für einen substanzhaften Dualismus bei Luther sprechen. Andererseits liegen ihm Erwägungen über einen anthropologischen Monismus – wie er etwa beim strengen Naturalismus vorzufinden ist – freilich fern. So scheint es an der Sprachlichkeit des göttlichen Wirkens zu liegen, dass es die geistige Dimension des Subjekts anspricht. Nun gerät gerade am Wort Gottes der innere Mensch in die Krise zwischen seinem Neusein und seinem Altsein. Denn wenn es mit dem Wort beim „geistige[n] Erfassen von Sachverhalten“392 bliebe, dann wäre noch bei aller Ausrichtung auf den inneren Menschen eine Äußerlichkeit zu behaupten: die Äußerlichkeit der claritas externa, des Buchstabens, der Historie.393 Hier bliebe es beim – zwar notwendigen, aber nicht hinreichenden394 – Menschenwort und bei Menschenpredigt. Denn obschon dieses Wort ja als äußeres in Schrift und Predigt ergeht, muss es inwendig zur Klarheit gelangen, wenn es wirklich angeeignet, d. h. Glauben bewirkend – eben Wort Gottes – sein soll. „Dieser Glaube kann ausschließlich im inneren Menschen herrschen.“395 Darum bleibt das Wort auf den inneren Menschen bezogen und entfaltet hier seine die Person befreiende und erneuernde Wirkung. Das muss keineswegs heißen, dass im menschlichen Herzen nicht auch Anderes herrschen kann als der Glaube an das Wort Gottes. Der Affekt des Herzens – das hat der obige Abschnitt (3.2.2) gezeigt – 391 LDStA 2, 123 ff. „Una re eaque sola opus est ad vitam, iustitiam et libertatem Christianam. Ea est sacrosanctum verbum dei, Euangelium Christi […]. Animam posse omnibus rebus carere excepto verbo dei, sine quo nullis prorsus rebus est illi consultum. Habens autem verbum dives est, nullius egens, cum sit verbum vitae, veritatis, lucis, pacis, iustitiae, salutis, gaudii, libertatis, sapientiae, virtutis, gratiae, gloriae et omnis boni inaestimabiliter.“ (WA 7; 50, 33 – 35.39 – 51, 1 – 3). 392 Beiner, Intentionalität, 67. 393 Luther schließt seine Ausführungen zum inneren Menschen wie folgt: „Es ist nicht genug und auch nicht angemessen christlich, wenn wir Christi Werke, Leben und Worte auf historische Weise, als wirkliche Ereignisse, verkünden, die als ein Muster für die Gestaltung des Lebens zu kennen hinreichen würde. Auf solche Weise predigen diejenigen, die zurzeit noch die besten christlichen Lehrer sind. […] Es ist jedoch notwendig, zu dem Zweck zu predigen, dass der Glaube an Christus befördert wird, dass es nicht Christus ist, sondern Christus für dich und für mich, und dass er in uns das wirkt, was von ihm gesagt wird und was sein Name sagt.“ „Non esse satis nec Christianum, si Christi opera, vitam et verba praedicemus historico more, ceu res quasdam gestas, quas nosse satis sit ad vitae formandae exemplum, quo modo ii, qui nunc optimi sunt, praedicant, […] Oportet autem, ut eo fine praedicetur, quo fides in eum promoveatur, ut non tantum sit Christus, sed tibi et mihi sit Christus, et id in nobis operetur, quod de eo dicitur et quod ipse vocatur.“ (LDStA 2, 145 – 147 = WA 7; 58, 31 – 34.38 – 59, 1). 394 Vgl. Preul, Wurzel, 252. 395 „[H]aec fides non nisi in homine interiore regnare possit“ (WA 7; 51, 35).

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ist als Bezogensein auf ein ihm Fremdes geradezu das konstitutive Fundament für Luthers Personbegriff. Darum ist es für Luther der immer schon gegebene Vollzug des Menschen, dass er sich affektiv-liebend auf ein Anderes bezieht – und das bedeutet für ihn, sofern dieses Andere nicht das Wort Gottes ist: Gefängnis und falsche Knechtschaft.396 Gerechtigkeit und Freiheit hängen hingegen ausschließlich am Wort Gottes, das geglaubt sein will. Der in der Seele herrschende Glaube macht aber in der Terminologie der Freiheitsschrift aus dem inwendigen Menschen einen inneren und geistlichen. So kommt es, dass durch die Wirkung des Wortes am inneren Menschen neben die anthropologische Unterscheidung in „äußerlich“ und „inwendig“ die andere Unterscheidung in „alt“ und „neu“ tritt.397 Christus gepredigt zu haben, das bedeutet: seine Seele genährt, gerechtfertigt, befreit und gerettet zu haben, sofern sie der Predigt geglaubt hat. Denn allein der Glaube ist die heilbringende und wirksame Anwendung des Wortes Gottes.398

Sola fides est usus verbi Dei! Die alle Werke ausschließende Exklusivität des Glaubens ist begründet im Wort des Evangeliums, weil sich das Wort eben nicht in Werken annehmen lässt399 – was schon in der Formulierung eine Absurdität wäre. Das ist die neue Konstitution der Person durch das geglaubte Wort Gottes. Dadurch erhält – Luthers Aufbau der Schrift ist der konsequente Ausdruck davon – der innere Mensch eine Priorität gegenüber dem äußeren.400 Hier gilt nun wirklich, dass das „nach außen auf Christus Bezogensein […] die Konstitution des ,Inwendigen‘“401 im Sinne des neuen Menschen ist. Dieser Außenbezug auf Christus als konstitutives Ereignis für den inneren – 396 „Luther geht […] davon aus, daß der innere Mensch schon immer unfrei ist, also faktisch schon als Doppelgänger des äußeren Menschen existiert und damit auch den äußeren Menschen daran hindert, ein der wahren Bestimmung des inneren Menschen entsprechender äußerer Mensch zu sein. Insofern ist Luthers Anthropologie zutiefst bestimmt von der Gewißheit, daß der innere Mensch theologisch durch einen unfreien Willen (servum arbitrium) charakterisiert ist. Ein freier Herr über alle Dinge kann der als Doppelgänger des äußeren Menschen existierende innere Mensch gar nicht sein.“ (Jüngel, Freiheit, 81). 397 „Der Bezug zwischen der anthropologischen Unterscheidung des inneren vom äußeren Menschen und dem christologischen Ursprung der Differenz von alt und neu ist nach Luther im Evangelium als dem Wort Gottes gegeben.“ (Jüngel, Freiheit, 75 f). 398 LDStA 2, 125. „Praedicasse enim Christum, hoc est, animam pavisse, iustificasse, liberasse et salvam fecisse, si crediderit praedicationi. Fides enim sola est salutaris et efficax usus verbi dei“ (WA 7; 51, 15 – 17). 399 „Denn das Wort Gottes kann nicht durch irgendwelche Werke, sondern allein durch den Glauben angenommen und heilig gehalten werden. Deshalb ist klar: So wie die Seele zu ihrem Leben und zu ihrer Gerechtigkeit allein des Wortes Gottes bedarf, so wird sie auch nur durch den Glauben und nicht durch irgendwelche Werke gerechtfertigt.“ „Neque enim verbum dei operibus ullis, sed sola fide suscipi et coli potest. Ideo clarum est, ut solo verbo anima opus habet ad vitam et iustitiam, ita sola fide et nullis operibus iustificatur.“ (LDStA 2, 125 = WA 7; 51, 20 – 23). 400 Vgl. Ringleben, Freiheit, 8. 401 Vgl. o. Anm. 381.

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und das heißt jetzt: neuen und freien – Menschen habe ich zuvor als den „Umweg des Gewissens“ beschrieben, über den selbiges zu einer neuen Selbstbeurteilung coram Deo gelangt.402 Mit dem zuvor Gesagten kann dann auch noch einmal festgehalten werden, dass der innere Mensch, der noch nicht von der Selbstfixierung des eigenen Gewissens befreit ist, der alte und äußere Mensch bleibt. Denn als innerlich Unfreier bleibt er gezwungen, die Richtung der Werke umzukehren: statt von innen nach außen und auf den Nächsten hin sollen die Werke von außen nach innen auf sein eigenes Gewissen einwirken.403 Hier soll der gute Baum an der guten Frucht wachsen. Das heißt aber auch, wie oben bereits angemerkt, dass die Freiheit des inneren Menschen für Luther eben nicht darin begründet ist, dass die Seele als geistige von äußerlichen Dingen – letztlich von der eigenen Leiblichkeit – unberührt bliebe.404 Diese Vorstellung ist doch eher in der klassischen Erasmus-Meinung vertreten, wonach die anima neutral zwischen spiritus und caro gestellt ist.405 Luther scheint hingegen gar nicht leugnen zu wollen, dass Äußeres den inneren Menschen durchaus affektiv berühren kann, nur dass er zugleich feststellt, dass über Freiheit und Unfreiheit des inneren Menschen allein das Christusverhältnis entscheide. Und selbstverständlich ist diese ,Entscheidung‘, wie Dsa deutlich zeigt, keine eigenmächtige Handlung der Person, sondern kann nur Werk Gottes sein, weil der innere Mensch sich selbst entzogen bleibt.406 Vereinfacht ließe sich nun sagen, dass auf Grund des Christusbezuges des Menschen die göttliche Gerechterklärung eine Befreiung für den inneren Menschen bedeute, indem sie ihn vom gesetzlichen Heilsweg entlaste. Diese Argumentation ist gleichsam die Essenz der Freiheitsschrift.407 Sie wäre al402 Vgl. Luthers Zusammenstellung: „die Frömmsten und wegen ihres reinen Gewissens Freiesten“; „piissimi puraque conscientia liberrimi“ (LDStA 2, 123 = WA 7; 50, 22 – 23). 403 „Fremdherrschaft, Versklavung bedeutet für das Gewissen alles, was dem Menschen einflüstert, er könne mit irgend etwas, was in seiner Macht liegt und was darum Gegenstand seines Handelns ist, über sich selbst, über das, was er letztlich ist und gilt, verfügen.“ (Ebeling, Lutherstudien I, 321). 404 Vgl. Maurer, Freiheit, 50. 405 „Die Seele macht uns zu Menschen, der Geist zu frommen, das Fleisch zu bösen; die Seele allein zu keinem von beiden.“ „Anima constituit homines, spiritus pios, caro impios, anima neutros.“ (Enchiridion nach: Welzig, Handbüchlein, 48; 18 – 20 = Enchiridion hrsg.v. H. Holborn, 53; 32 – 34). 406 Jüngel, Freiheit, 76 f, schreibt dagegen dem Menschen die Möglichkeit einer Reaktion auf Gottes Wort zu, „sei es, daß er dem Wort Gottes glaubt, sei es, daß er ihm nicht glaubt.“ Vgl. auch a. a. O., 101. 407 „Der Glaube, der die kurze und vollendete Erfüllung des Gesetzes ist, wird die Glaubenden mit so mächtiger Gerechtigkeit erfüllen, dass sie zur Gerechtigkeit keiner anderen Sache mehr bedürfen.“ „Fides, quae est brevis et consummata plenitudo legis, tanta iustitia credentes replebit, ut nulla alia re ad iustitiam opus habeant.“ (LDStA 2, 129 = WA 7; 52, 17 – 19). „Wenn nämlich die Werke durch eine verkehrte Zugabe erworben werden zum Zwecke der Gerechtigkeit und wenn sie auf Grund irre führender Überredung zu Stande kommen, so dass du darauf vertraust, durch sie gerechtfertigt zu werden, entfalten sie sofort ihren Zwang und löschen die Freiheit zusammen mit dem Glauben aus, und durch eben diese zusätzliche Zweckbestimmung sind sie nun nicht mehr gute, vielmehr wahrhaft verdammenswerte

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lerdings missverstanden und man nähme dem Freiheitstraktat die gedankliche Tiefe, wenn jene Befreiung als rein forensischer Akt der Gerechtsprechung ohne Effekt im Glaubenssubjekt gedacht würde. Denn Luther ist hier deutlich: Der Glaube ist der heilbringende und wirksame (efficax) Gebrauch des Wortes Gottes.408 Was nun die Frage betrifft, welche Veränderung des inneren Menschen sich durch den Glauben vollzieht409, worin genau also die Erneuerung des Christenmenschen sich ausdrückt, so beschreibt Luther die Wirkungen oder „Leistungen“ (virtutes) des Glaubens in vier voneinander abgehobenen Durchgängen, die im Folgenden näher zu beschreiben sind.410 Diese vier Abschnitte des ersten Hauptteils könnten jeweils für sich stehen, insofern Luther am Ende eines jeden zu der gleichen Konklusion kommt: Also machen nicht die Werke, sondern allein der Glaube gerecht. Gleichzeitig entfaltet er aber im schrittweisen Fortgang die Wirkung des Glaubens mehr und mehr, so dass der Leser immer tiefere Einsicht in das Wesen des Glaubens erhält, bis am Ende mit der Übertragung des königlichen und des priesterlichen Amtes Christi auf die Christen die im Glauben gründende Freiheit zur vollen Beschreibung gelangt ist. Als erste Glaubenswirkung führt Luther die Verbindung der Seele mit den Verheißungen Gottes an. Zu einer Aufnahme der Verheißungen kommt es aber erst – dies schickt Luther vorweg –, wenn der innere Mensch von den Geboten Gottes geängstigt wird (anxius factus).411 Insgesamt bestätigt die Freiheitsschrift vieles des zuvor oben Gesagten: Es findet sich die bereits beschriebene Abfolge, nach der das unerfüllbare Gesetz in die verzweifelte Sündenerkenntnis führt und die Verheißungen Gottes ein Vertrauen hervorrufen, durch

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Werke.“ „Si enim opera comparentur ad iustitiam et perverso leviathan eaque falsa persuasione fiant, ut per ipsa iustificari praesumas, iam necessitatem imponunt et libertatem cum fide extinguunt, et hoc ipso additamento bona iam non sunt vereque damnabilia.“ (LDStA 2, 157 = WA 7; 63, 10 – 13). Vgl. Anm. 398. „Du fragst aber, wie es geschehen könne, dass allein der Glaube rechtfertigt und ohne Werke einen Schatz von so reichen Gütern bietet […].“ „Queris autem, qua ratione fiat, ut sola fides iustificet et sine operibus tantorum bonorum thesaurum praebeat“ (LDStA 2, 129 = WA 7; 52, 20 – 21). Entgegen Maurers, Freiheit, 67, Zählung von drei Abschnitten (1. „Seele und Wort“; 2. „Glaube und Wahrheit“; 3. „Ehe zwischen Seele und Christus“) zähle ich Luthers Passage zum „Königund Priestertum der Christen“ als vierten Abschnitt hinzu (mit Maurers Gliederung dagegen übereinstimmend: Reinhold Rieger, Freiheit, 12 – 14). Zwar nummeriert Luther die virtutes bzw. gratiae fidei von prima bis tertia (vgl. LDStA 2, 133 u. 139 = WA 7; 53, 34 u. 54, 31). Gleichwohl markiert er danach einen Anschluss zur weiteren Betrachtung, wenn er den Leser leitet: „hanc gratiam […] latius videamus“ (LDStA 2, 139 = WA 7; 56, 15 – 16). Genau genommen setzt Luther daher im Freiheitstraktat die Ängstigung durch das Gesetz als erste Wirkung des anhebenden Glaubens: „Wenn du darum zu glauben beginnst, lernst du gleichzeitig, dass alles, was an dir ist, ganz und gar schuldhaft, Sünde und verdammenswert ist […].“ „Ideo dum credere incipis, simul discis, omnia quae in te sunt esse prorsus culpabilia, peccata, damnanda […].“ (LDStA 2, 127 = WA 7; 51, 27 – 29).

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welches die fremden Verdienste Christi zur eigenen Gerechtigkeit angezogen werden. Einstweilen aber ist noch klarzustellen, dass sich die ganze Schrift Gottes in zwei Teile aufteilt: in Gebote und Verheißungen. Die Gebote lehren zwar das Gute, aber es wird nicht sofort Wirklichkeit, was gelehrt worden ist. Sie führen nämlich vor Augen, was wir tun müssen, doch verleihen sie uns nicht die Kraft, es wirklich zu tun. Sie sind nämlich dazu verordnet, den Menschen sich selbst vor Augen zu führen, wodurch er seine Unfähigkeit zum Guten erkennen und sein Vertrauen in die eigenen Kräfte verlieren soll. […] Wenn einer aber durch die Gebote über seine Schwachheit belehrt und sogleich in die angstvolle Überlegung geraten ist, durch welche Anstrengung er wohl dem Gesetz Genüge tun könnte, da ihm doch Genüge getan werden müsse in der Weise, dass kein Jota oder Strichlein übergangen wird […], dann ist er wahrhaftig gedemütigt und vernichtet in seinen eigenen Augen und findet nichts in sich selbst, wodurch er gerechtfertigt und gerettet würde. Hier nun tritt der andere Teil der Schrift hinzu, die Verheißungen Gottes, die Gottes Herrlichkeit ankündigen und sagen: Wenn du das Gesetz erfüllen willst, […] sieh her : Glaube an Christus, in dem die Gnade, Gerechtigkeit, Friede und Freiheit verheißen werden […].412

Demnach hängt für Luther die Befreiung des inneren Menschen unabdingbar am vorgreifenden Charakter des Glaubens auf Grund der geschehenen Heilstaten Christi. Bereits im zweiten Satz der lateinischen Fassung nennt Luther den Glauben in Aufnahme von Joh 4, 14 einen „lebendige[n] Quell, der in das ewige Leben hinein sprudelt“413. Den Gegenbegriff hierzu bildet Luther im zweiten Hauptteil seiner Schrift mit der häufigen Nennung „dieses Lebens“ oder der „Notwendigkeit dieses Lebens des Leibes“. Der Glaube holt also den inneren Menschen aus sich selbst heraus und macht ihn im ewigen Leben fest. Wenn das Wort Gottes als Verheißung seiner Gnade414 geglaubt wird, so bedeutet das für den inneren Menschen, dass er vorgreiflich an der als zukünftig verheißenen Gnadenwirklichkeit teilnimmt.415 Dieser Vorgriff stellt sich dabei aber gerade nicht als gegenwartsflüchtig dar. Vielmehr zeigt sich Luther in den 412 LDStA 2, 129 – 131. „Interim signandum, Universam scripturam dei in duo partiri, Praecepta et promissa. Praecepta docent quidem bona, sed non statim fiunt quae docta sunt: ostendunt enim, quid facere nos oporteat, sed virtutem faciendi non donant: in hoc autem sunt ordinata, ut hominem sibi ipsi ostendant, per quae suam impotentiam ad bonum cognoscat et de suis viribus desperet. […] Ubi vero per praecepta doctus fuerit impotentiam suam et iam anxius factus, quo studio legi satisfaciat, cum legi satisfieri oporteat, ut ne iota quidem aut apex praetereat […], tum vere humiliatus et in nihilum redactus coram oculis suis non invenit in seipso, quo iustificetur et salvus fiat. Hic altera scripturae pars adest, Promissa dei, quae annunciant gloriam dei et dicunt ‘Si vis legem implere, […] En tibi, Crede in Christum, in quo promittuntur tibi gratia, iustitia, pax, libertas“ (WA 7; 52, 24 – 29.37 – 52, 6). 413 LDStA 2, 121. „Christiana fides […] fons enim vivus est saliens in vitam aeternam […].“ (WA 7; 49, 7.14). 414 Vgl. LDStA 2, 157 = WA 7; 63, 1 – 7. 415 Die Vollkommenheit des inneren und geistlichen Seins wird nach LDStA 2, 149 = WA 7; 59, 29 – 32 am Jüngsten Tag bzw. in der futura vita erreicht.

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folgenden Abschnitten immer wieder bemüht, die gegenwärtige Wirkung jener Verheißungen auf den inneren Menschen zu beschreiben.416 So wird die Seele derart von den Verheißungen absorbiert, dass deren Kraft und Inhalt ihr wiederum mitgeteilt417 werden. Da diese Verheißungen Gottes aber heilige, wahre, gerechte, freie, befriedete und ganz von Güte erfüllte Worte sind, geschieht es, dass die Seele, die ihnen in festem Glauben anhängt, sich mit ihnen so vereinigt, ja, von ihnen ganz und gar aufgesogen wird, dass sie nicht nur an ihnen teilnimmt, sondern von ihrer ganzen Kraft gesättigt und trunken gemacht wird.418

Da also aus dem Wort Gottes, aus den Verheißungen der Glaube entspringt – die Seele gesättigt und trunken wird –, kann Luther in diesem Zusammenhang geradezu die Verheißungen, den Glauben oder Gott selbst zum gegenwärtig handelnden Subjekt erklären, durch welches die Gebote erfüllt werden.419 Die iuridische Freiheit des inneren Menschen als Freiheit vom Gesetz besagt also, dass die Person gegenüber Gott die eigene Handlungsmacht zugunsten der fremden Handlungsmacht Gottes preisgibt: er gebietet und er erfüllt auch. Und das gelingt nach Luther nur im Vertrauen auf die feste Zusage Gottes. Doch wie kommt es zu dieser communicatio zwischen den Verheißungen Gottes und der Seele des Menschen? Hier gilt es, mit Luther voranzuschreiten und die zweite Kraft des Glaubens in den Blick zu nehmen: Der Glaube an Gottes Verheißungen nimmt nämlich, indem er Gott zuschreibt, was diesem ohnehin gebührt, teil an den göttlichen Eigenschaften. So gilt der Seele Gott, wenn sie ihm mit seinen Verheißungen fest glaubt, als wahrhaftig und gerecht, und etwas Kostbareres als eine solche Wertschätzung kann sie Gott nicht erweisen; ist dies doch die höchste Art der Verehrung Gottes: ihm Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit zuzusprechen und dazu alles, was dem zugestanden werden muss, dem man glaubt. […] Der Glaube nämlich bewirkt Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit, indem er Gott das Seine zuteilt, und deshalb zeichnet Gott seinerseits unsere Gerechtigkeit mit Ehre aus. Es ist nämlich wahr und gerecht, dass Gott 416 Vgl. auch das Bild vom Eisen (= Seele) im Feuer (= Wort Gottes): LDStA 2, 131 = WA 7; 53, 26 – 28. 417 „[A]bsorptio verbi, omnia quae verbi sunt, animae communicat.“ (WA 7; 53, 19 – 20). 418 LDStA 2, 131. „Cum autem haec promissa dei sint verba sancta, vera, iusta, libera, pacata et universa bonitate plena, fit, ut anima, quae firma fide illis adheret, sic eis uniatur, immo penitus absorbeatur, ut non modo participet sed saturetur et inebrietur omni virtute eorum.“ (WA 7; 53, 15 – 18). 419 „So schenken die Verheißungen Gottes das, was die Gebote fordern, und sie erfüllen das, was das Gesetz befiehlt, so dass alles nur von Gott kommt, die Gebote und ihre Erfüllung. Er allein gebietet, und er allein erfüllt auch, und deshalb gehören die Verheißungen Gottes zum Neuen Bund, vielmehr sind sie der Neue Bund.“ „Sic promissa dei hoc donant, quod praecepta exigunt, et implent quod lex iubet, ut sint omnia solius dei, tam praecepta et plenitudo eorum. Ipse solus praecipit, solus quoque implet: ideo promissa dei pertinent ad novum testamentum, immo sunt novum testamentum.“ (LDStA 2, 131 = WA 7; 53, 11 – 14).

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wahrhaftig und gerecht ist, und ihm das zuzuschreiben bedeutet, wahrhaftig und gerecht zu sein.420

Als Übereinstimmung von menschlicher Meinung und göttlicher Wahrheit wird der Glaube also an sich wahr – freilich nicht so, dass der Mensch hier in eine Vorleistung ginge, die daraufhin von Gott rückerstattet würde. Was nämlich missverstanden werden könnte, als gebe Gott dem Menschen lediglich zurück (rursus reddit), was dieser ihm zuvor zugestanden hätte, das ist für Luther eine Bewegung, die dem Glauben selbst wesentlich inhäriert: Glauben als das Zusprechen von Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit – das ist Wahrhaftig- und Gerechtsein! An Gottes Zusagen zu zweifeln hieße demnach, ihn einen Lügner zu nennen, was an sich unwahr – also Lüge – ist.421 Doch selbst dabei, dass der Glaube wesentlich gerecht macht, weil er Wahres von Gott meint, bleibt Luther nicht stehen. Es bliebe ja alles verloren, wenn diese wahrmachende Anerkennung der göttlichen Wahrhaftigkeit als Tat des Menschen verstanden würde.422 Vielmehr – und damit geht Luther über zur dritten Glaubenswirkung – wird Gottes zuvorkommende Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit christologisch dargestellt und die communicatio zwischen Gottes Eigenschaften und der menschlichen Seele nun im Bild der Ehegemeinschaft von Christus und menschlicher Seele umschrieben. Es zeigt sich anhand der christologischen Weiterführung erneut, dass für Luther das Vertrauen auf Gottes Zusagen seinen Grund hat und haben muss in den geschehenen Heilstaten Christi.423 Auch hier steht weiterhin, wie bei den beiden vorherigen Durchgängen, der Gedanke im Vordergrund, dass der Glaube per se eine derartige Verbindung des inneren Menschen mit Gott, seinen Verheißungen oder Christus eingeht, dass ihm darin die fremden Eigenschaften übereignet werden. So werden des Menschen Sünde, Tod und Verdammnis per Eherecht von Christus übernommen und vernichtet, während die menschliche Seele von ihrem „Bräutigam Christus“ Gnade, Leben und Heil empfängt.424 Auch das Bild also von der ehelichen Gütergemeinschaft mit Christus hat letztlich das Ziel, die gebotenen

420 LDStA 2, 133 – 135. „Sic anima, dum firmiter credit promittenti deo, veracem et iustum eum habet, qua opinione nihil potest deo praestantius tribuere: hic summus cultus dei est, dedisse ei veritatem, iustitiam et quicquid tribui debet ei, cui creditur. […] Fides enim facit veritatem et iustitiam, reddens deo suum, ideo rursus reddit deus iustitiae nostrae gloriam. Verum est enim et iustum, deum esse veracem et iustum, et hoc ei tribuere et confiteri, hoc est, esse veracem et iustum. (WA 7; 54, 1 – 4.23 – 26). 421 „Die Wahrheit verlangt offensichtlich danach, daß sie als solche wahrgenommen wird und so zu ihrer Ehre kommt. Deshalb kann man Gott keine größere Ehre antun, als ihm zu glauben, während umgekehrt der Unglaube die größte Unehre ist, die man Gott antun kann.“ (Jüngel, Freiheit, 77). 422 Vgl. Jüngel, Freiheit, 88. 423 Vgl. Jüngel, Freiheit, 88. 424 Vgl. LDStA 2, 135 = WA 7; 54, 39 – 55, 1.

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Werke aus dem Rechtfertigungsgeschehen auszuschließen und den Glauben als den alleinigen Erfüller der Gebote zu bekräftigen. Daraus erkennst du erneut, warum dem Glauben solche Bedeutung zukommt, dass er allein das Gesetz erfüllt und ohne alle Werke rechtfertigt. Du erkennst nämlich, dass das erste Gebot, in dem gesagt wird ,Du sollst nur einen Gott ehren‘, allein durch den Glauben erfüllt wird. Wenn du nämlich selbst von der Sohle bis zum Scheitel nichts anderes wärest als lauter gute Werke, wärest du dennoch nicht gerecht und würdest Gott damit nicht ehren und so das erste Gebot nicht erfüllen, da man Gott nicht ehren kann, wenn ihm nicht die Herrlichkeit der Wahrheit und der allumfassenden Güte zuerkannt wird, wie sie ihm wahrlich gebührt; dies aber bringen nicht die Werke, sondern bringt nur der Glaube des Herzens zu Stande.425

Doch damit sind Luthers Ausführungen zum inneren Menschen noch nicht abgeschlossen, als könne er jetzt zum äußeren Menschen voranschreiten. Denn vom Bild der ehelichen Gütergemeinschaft ausgehend stellt er nun diese allein in Christo zu habende Gnade im vierten und letzten Durchgang ausführlicher dar.426 Und was bisher als Freiheit von den Werken des Gesetzes zur Sprache kam, kommt nun positiv in den beiden durch Christus allen Christen mitgeteilten Ämtern des Königtums und der Priesterschaft zum Ausdruck. Was nämlich Christus an ,natürlicher‘ Würde aufgrund seiner göttlichen Erstgeburt hatte, das teilt er nach eben diesem Eherecht allen Gläubigen mit.427 Die Freiheit, die durch die Königswürde der Christen bezeichnet wird, stellt sich demnach als Macht über alle Dinge dar. Das heißt für Luther zwar nicht, dass diese Macht sich unmittelbar als weltliche Macht durchsetzt – wer würde dies nicht in der alltäglichen Erfahrung widerlegt finden?428 Und trotzdem 425 LDStA 2, 137 – 139. „Ex iis iterum intelligis, qua causa tantum tribuatur fidei, ut sola impleat legem et sine ullis operibus iustificet. Vides enim primum praeceptum, quo dicitur ,Unum deum coles‘, sola fide impleri. Si enim etiam ipse aliud non esses a planta pedis ad verticem quam bona opera, non tamen iustus esses nec deum coleres nec primum praeceptum impleres, cum deus coli non possit, nisi tribuatur ei veritatis et universae bonitatis gloria, sicut vere tribuenda est: hoc autem opera non faciunt, sed sola fides cordis.“ (WA 7; 55, 37 – 56, 4). 426 Vgl. LDStA 2, 139 = WA 7; 56, 15 – 16. 427 „Wie aber Christus durch seine Erstgeburt diese beiden Würden [sc. die königliche und die priesterliche] erlangte, so teilt er sie mit jedem seiner Gläubigen und macht sie zu einem gemeinsamen Besitz nach dem Recht der vorher erwähnten Ehe, nach welchem alles Eigentum des Bräutigams auch der Braut gehört.“ „Quemadmodum autem Christus primogenitura sua has duas dignitates obtinuit, ita impartit et comunes easdem facit cuilibet suo fideli matrimonii praedicti iure, quo sponsae sunt quaecunque sponsi sunt.“ (LDStA 2, 141 = WA 7; 56, 35 – 37). 428 Gewiss, Luther ist weit entfernt von politisch-revolutionären Freiheitsbewegungen, wie etwa seine Bezugnahme auf Röm 13 zeigt (vgl. LDStA 2, 171 = WA 7; 67, 29 – 32). Und doch ist das Ziel der gesamten Freiheitsschrift eine sozietäre Struktur des Lebens, in der einer dem anderen zwanglos zum Wohle handelt und in der das eigene Wohlergehen frei von jedem Egoismus in den Wohltaten anderer Menschen gesichert wäre (vgl. LDStA 2, 167 = WA 7; 66, 27 – 28). Vgl. hierzu auch Jüngel, Freiheit, 94 f: „Jede Theologie, die die geistliche Freiheit und Macht des Christen unmittelbar mit dessen weltlichen Lebensbezügen identifiziert, wird sich fragen lassen müssen, ob sie damit nicht paradoxerweise gerade die weltlichen Lebensbezüge

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wird diese Freiheit als allmächtige Herrschaft über alle Dinge benannt, weil sie bedeutet, dass nichts in der Welt: kein Übel, kein Leid, kein Tod, aber auch kein Gut oder Wohlergehen der Christperson letztgültig schaden kann. Was zunächst das Königtum betrifft, so wird jeder Christ durch den Glauben so über alles erhöht, dass er auf Grund seiner geistlichen Macht der Herr über alles ist, so dass ihm überhaupt nichts irgendeinen Schaden zufügen kann, vielmehr alles ihm unterworfen ist und zum Heile dienen muss. […] Es ist eine hohe und herausragende Würde und eine allmächtige Herrschaft, ein geistliches Reich, in welchem keine Sache so gut und keine Sache so schlecht sein kann, dass sie für mich nicht hilfreich zum Guten wirkt, sofern ich nur glaube.429

Hier ist der Grund gelegt, auf dem Luther in Dsa dem Menschen in inferioribus ein liberum arbitrium zuschreiben kann: nicht etwa, weil der Mensch seines eigenen Willens mächtig und dadurch der Lenkung Gottes auch nur im Kleinsten entzogen wäre, sondern weil im Glauben die Welt jede Macht über den Menschen verliert. Der Mensch ist eben nicht schon natürlicherweise frei von den Dingen, weil er als innerer Mensch nicht von den äußeren Dingen tangiert würde. Freiheit ist auch keine Aufgabe des Menschen in dem Sinne, dass er sich die Welt nichts angehen lassen möge. Sondern frei und Herr aller Dinge wird der Mensch nach Luther, indem die Welt jede Heils- oder Unheilsbedeutung verliert, weil in der Verbindung mit Christus das zukünftige Heil garantiert bleibt. Der Glaube gibt der Welt ihren inferioren Charakter zurück. Übertroffen werden kann diese Herrschaft über die Welt (longe regno excellentius) nach Luther nur noch durch die priesterliche Würde der Christen, mit der Luther die unerhörte Aussage verknüpft, der Christ sei auch bei Gott allmächtig, weil dieser tue, was der Mensch erbitte.

christlich irrelevant werden läßt, weil jede unmittelbare Identifikation des geistlichen Anspruchs der libertas christiana mit weltlichen Ansprüchen diesen nur als maßlose Behauptung und hypertrophe Versicherung erscheinen lassen kann. Nur wenn die Behauptung der christlichen Freiheit nicht unmittelbar identisch gesetzt wird mit den gar nicht hoch genug zu schätzenden weltlichen Freiheitsbewegungen in allen Bereichen unseres irdischen Daseins, nur dann gibt es so etwas wie einen christlichen Beitrag zu den Freiheitsbewegungen, in denen sich das menschliche Leben auf allen Ebenen seines Daseins schon immer vorfindet, ohne doch den Fortschritten in ein freieres Leben eine eindeutige Überlegenheit über die schrecklichen Rückschritte in die Unfreiheit attestieren zu können.“ 429 LDStA 2, 141 – 143. „Primum, quod ad regnum pertinet, quilibet Christianus per fidem sic magnificatur super omnia, ut spirituali potentia prorsus omnium dominus sit, ita ut nulla omnino rerum possit ei quicquam nocere, immo omnia ei subiecta coguntur servire ad salutem. […] Haec est enim ardua et insignis dignitas veraque et omnipotens potestas, spirituale imperium, in qua nulla res tam bona, nulla tam mala, quae non in bonum mihi cooperetur, si modo credidero.“ (WA 7; 57, 2 – 6.18 – 20).

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Auf Grund seiner priesterlichen Macht [sc. Ehre] aber vermag er alles bei Gott, weil Gott tut, was er erbittet und wünscht […]430

Dieser Satz widerspricht, obwohl es so scheint, durchaus nicht der Feststellung aus Dsa, der Mensch könne vor Gott nichts bewirken, tue vielmehr stets dasjenige, was Gott wolle und wirke. Denn während Luther in der besagten Dsa-Passage ganz auf der Linie des Freiheitstraktats die Heils- und Glaubensfrage allein an das Wirken Gottes knüpft und damit die Frage des menschlichen Handelns in der Welt – ob es irgendwie der Lenkung Gottes entzogen sein könnte – verbindet, behandelt er hier fide data die geistliche Priesterwürde, die darin besteht, als Gerechter mutig (audens) vor Gott zu treten.431 Die Priesterschaft des Christen begründet also in gewisser Weise seine Königsherrschaft, weil mit ihr zum Ausdruck kommt, dass dem, der auf Grund der Verbindung mit Christus mutig vor Gott erscheinen kann, nichts in der Welt zum Schlechten dienen kann: Ohne die Würde des Priesters fiele auch das Königsamt dahin und der Mensch bliebe ein Knecht aller Dinge, weil er in ihnen jeweils den eigenen Nutzen suchen müsste.432 Schließlich bedeutet Luther zufolge diese Mitpriesterschaft mit Christus keineswegs, dass der Christ zum eigenen Nutzen vor Gott treten könnte, sondern dass er, nachdem sein eigenes Heil in Christus fest steht, für andere beten kann und dass in der Gemeinschaft von Priestern ein gegenseitiges Lehren statthaben kann. Darin übertrifft die christliche Priesterwürde die Königsherrschaft über die Welt tatsächlich, dass sie nicht den Einsatz für den Nächsten allein mit weltlichen Gütern ermöglicht, sondern den Christen zum Eintreten für den Nächsten vor Gott befähigt. Hier setzt sich Freiheit in Befreiung fort; hier werden neue Könige gekrönt.433 Und nur so – im Priestersein für den Anderen – erweist sich die Priesterschaft als consacerdotium mit 430 LDStA 2, 143. „Per sacerdotalem vero gloriam apud deum omnia potest, quia dues facit, quae ipse petit et optat“ (WA 7; 57, 39 – 58, 1). 431 Vgl. Ebeling, Lutherstudien I, 322. 432 „Wer aber nicht glaubt, dem ist nichts zu Diensten und dem wirkt nicht hilfreich zum Guten, sondern er ist selbst der Knecht aller Dinge, und alles gerät ihm zum Schlechtesten, weil er alles auf gottlose Weise zu seinem eigenen Vorteil benutzt, nicht zur Ehre Gottes. So ist er nicht Priester, sondern ein heilloser Weltmensch, dessen Gebet zur Sünde wird, und er tritt niemals vor Gott, weil Gott die Sünder nicht erhört.“ „Qui vero non crediderit, huic nihil servit aut in bonum cooperatur, sed omnium ipse servus est et omnia ei cedunt in malum, quia omnibus impie utitur in sua commoda, non in dei gloriam. Ita nec sacerdos est, sed prophanus, cuius oratio fit in peccatum, nec coram deo unquam apparet, quia deus peccatores non exaudit.“ (LDStA 2, 143 = WA 7; 57, 32 – 36). 433 Luthers Kritik an der Monopolisierung der Priesterwürde durch das katholische Amt zeigt in der Umkehrung genau dies, dass mit der Unterscheidung von Klerus und Laien auch die königliche Herrschaft des Christen durch Gefangenschaft abgelöst werde: „Durch diese verderbliche Entwicklung ist es geschehen, dass das Wissen um die christliche Gnade, den Glauben, die Freiheit und den ganzen Christus gänzlich verloren ging, wobei an seine Stelle die unerträgliche Gefangenschaft der menschlichen Werke und Gesetze trat.“ „[Q]ua perversitate factum est, ut penitus interciderit scientia Christianae gratiae, fidei, libertatis et totius Christi, Succedente in locum eius humanorum operum et legume“ (LDStA 2, 145 = WA 7; 58, 25 – 27).

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Christus.434 Mit dem Einsatz für den Nächsten vor Gott in Versehung des priesterlichen Amtes hat Luther die Freiheit des inneren Menschen zu ihrer höchsten Form geführt – und dabei die Ausrichtung ihres Gebrauchs nach außen auf den Mitmenschen als ganz selbstverständlich eingeholt. Diese Güter sind aus Christus geflossen und fließen in uns hinein, und er hat uns so ausgestattet und für uns gehandelt, als wenn er selbst wäre, was wir sind. Von uns aus fließen sie zu jenen, die ihrer bedürfen, so dass ich meinen Glauben und meine Gerechtigkeit vor Gott einsetzen muss, damit die Sünden des Nächsten zugedeckt und durch das Gebet getilgt werden, die ich auf mich nehme und mit denen ich mich so abmühe und mich knechte, als wenn sie meine eigenen wären: So nämlich ist Christus mit uns verfahren.435

Daran zeigt sich erneut wie die Unterscheidung von innerem und äußerem Menschen überformt wird durch die christologische Analogie in der ZweiNaturen-Lehre. Für beide gilt, dass sie jeweils eine Doppelheit in einer Person aussagen. Dass nämlich – was die Bedingung für das Gelingen des fröhlichen Wechsels zwischen Mensch und Christus ist – Christi Gerechtigkeit die Oberhand gegenüber den menschlichen Sünden behält,436 das liegt an Christi doppelter Natur : Christus sit deus et homo.437 Gleiches gilt für die Übertragung seiner Ämter auf alle seine Christen. Denn auch hier kommt alles darauf an, dass Christus beide Würden durch seine Erstgeburt als Gottes Sohn vere et unice innehat. Kraft der Übertragung seiner Ämter auf den Christen gilt nun von der anthropologischen Unterscheidung von innerem und äußerem Menschen, dass ein quasi natürlich gegebener Dualismus als Deutungsschema hier nicht mehr in Frage kommt, sondern dass es bei der bleibenden Unterscheidung nunmehr um eine notwendige Art der Beschreibung geht, um die Gleichgestaltung des Menschen mit Christus auszuführen.438 Dabei überführt Luther 434 „Nicht nur, dass er für uns betet und für uns eintritt, er unterweist uns innerlich im Geiste durch die lebendigen Lehren seines Geistes. Und das sind die beiden eigentlichen Aufgaben des Priesters, was bei den weltlichen Priestern noch angedeutet wird und sichtbar ist in Gebeten und Predigten.“ „Nec solum pro nobis orat et interpellat, sed et intus in spiritu nos docet vivis doctrinis spiritus sui, quae duo sunt proprie offitia sacerdotis, quod in carnalibus sacerdotibus figuratur precibus et contionibus visibilibus.“ (LDStA 2, 141 = WA 7; 56, 31 – 34). 435 LDStA 2, 173. „E Christo fluxerunt [sc. bona] et fluunt in nos, qui nos sic induit et pro nobis egit, ac si ipse esset quod nos sumus. E nobis fluunt in eos, qui eis opus habent, adeo ut et fidem et iustitiam meam oporteat coram deo poni pro tegendis et deprecandis proximi peccatis, quae super me accipiam, et ita in eis laborem et serviam, ac si mea propria essent: sic enim Christus nobis fecit.“ (WA 7; 69, 3 – 8). 436 Vgl. LDStA 2, 137 = WA 7; 55, 8 – 23. 437 Vgl. auch Jüngel, Freiheit, 89. 438 „Luthers Kombination der christologischen Zwei-Naturen-Lehre mit der Lehre von den Ämtern Jesu Christi legt den tiefsten Grund für die theologische Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Menschen und für die im Horizont dieser Unterscheidung überhaupt erst aus-

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die christologische Zwei-Naturen-Lehre in Aufnahme des Philipper-Hymnus in die Dynamik von Erhöhung und Erniedrigung – hebt dadurch also die traditionelle Auftrennung der Christologie in Person und Werk Christi auf 439 –, um so auch die Bewegung des christlichen Lebens von „innen“ nach „außen“ nachzuzeichnen.440 Es ist daher nur konsequent, dass der Fortgang der Schrift den Begriff der „Seele“ zugunsten des Begriffs „Person“ zurücktreten lässt und dass zugleich der „äußere Mensch“ nicht in derselben Reinheit zur Darstellung gelangen kann wie zuvor der „innere Mensch“, sondern stets in der Bezogenheit von „Innen“ und „Außen“ beschrieben werden muss.441 Denn wie Luther zu Beginn des Traktats über Christus ausführt – So ist ja auch Christus, obwohl Herr aller, dennoch aus dem Weibe geboren und dem Gesetz unterworfen, zugleich, in göttlicher und in menschlicher Gestalt, frei und Knecht.442 –

ebenso wiederholt er Gleiches auch im Hinblick auf den Christenmenschen, der – forma dei per fidem obtenta443 – dem Nächsten gratis dient: Und obwohl er so von allen Werken freigestellt ist, muss er sich in dieser Freiheit doch wiederum entäußern und die Knechtsgestalt annehmen, den Menschen gleich werden und in der äußeren Erscheinung wie ein Mensch sein, diesen, helfen und auf jede Weise mit seinem Nächsten so verfahren, wie nach seiner Erfahrung mit ihm verfahren wurde und wie von Gott durch Christus mit ihm verfahren wird; und er muss ebendies aus freien Stücken tun und ohne Berechnung, außer der Rücksicht auf das Wohlgefallen Gottes.444

Einer quietistischen Innerlichkeit des christlichen Lebens ist damit von Luther selbst eine Absage erteilt. Die Aktivität der vita Christiana in aller Deutlichkeit herauszuarbeiten ist Inhalt des zweiten Hauptteils von De libertate Christiana.

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sagbare These von der Freiheit des Christenmenschen.“ (Jüngel, Freiheit, 92). Vgl. erneut: Maurer, Freiheit, 49. Vgl. Maurer, Freiheit, 57. „Für seinen Nächsten leben, das heißt gerade erst wirklich in Christus sein, und das Leben in Christus ist von sich her angelegt auf ein Dasein dem Nächsten zugute.“ (Ringleben, Freiheit, 15). Vgl. Jüngel, Freiheit, 100 f. LDStA 2, 121. „[S]ic et Christus, quanquam omnium dominus, minus, factus tamen ex muliere, factus est sub lege, simul liber et servus, simul in forma dei et in forma servi.“ (WA 7; 50 2 – 4). Vgl. WA 7; 65, 27. LDStA 2, 165. „Et quanquam sic liber est ab omnibus operibus, debet tamen rursus se exinanire hac in libertate, formam servi accipere, in similitudinem hominum fieri et habitu inveniri ut homo, et servire, adiuvare et omnimodo cum proximo suo agere, sicut videt secum actum et agi a deo per Christum, et hocipsum gratis nulloque respectu nisi divini placiti“ (WA 7; 65, 32 – 36).

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3.4.1.2 Der äußere Mensch: freier Dienst als Wirksamkeit des Glaubens Luther weiß um die Verlockung eines Rückzugs, einer Weltflucht, die sich mit dem eigenen Glauben zufrieden geben und auf ein in der Welt handelndes Leben verzichten will.445 Doch er sieht auch, dass das keine realistische, keine der Wirklichkeit entsprechende Möglichkeit ist.446 Ja, er schilt jene Haltung gottlos. Dass der innere Mensch im Glauben die zukünftige Gerechtigkeit hat – die Person bedarf der Werke ja nicht mehr zum Heil –, heißt eben nicht, dass der Mensch von seinen Werken Abstand nehmen könnte. So verhielte es sich in der Tat, wenn wir gänzlich und vollkommen innere und geistige Wesen wären, was erst am Jüngsten Tag der Auferstehung der Toten der Fall sein wird. Solange wir aber im Fleische leben, beginnen und setzen wir erst in Gang, was im künftigen Leben vollendet werden soll […]. Hierher gehört, was bereits oben festgestellt wurde: dass ein Christenmensch der Diener von allem und allem unterworfen ist. Insofern er nämlich frei ist, verrichtet er kein Werk, insofern er Diener ist, verrichtet er nichts als Werke.447

Nun wäre es allerdings nicht minder naiv, sozusagen im Gegenschlag gegen einen wie auch immer vorstellbaren Rückzug in die eigene Innerlichkeit einfach anzunehmen, der Christenmensch setze, was er inwendig an Gütern empfangen habe, problemlos und gleichsam einem Automatismus folgend nach außen hin zum Wohle seines Nächsten um.448 Luther sieht deutlich, dass die Überformung des äußerlich-leiblich handelnden Menschen durch den inneren nicht ohne eigene Widerstände gelingt.449 Der Dienst am Nächsten ist 445 Vgl. LDStA 2, 147 – 149 = WA 7; 59, 25 – 27. 446 „Der inwendige ist die Wahrheit das äußerlichen; aber diese Wahrheit bleibt nur, wenn sie sich auch am äußerlichen noch darstellt. Diese Wahrheit des Glaubens muß im Werk erscheinen. Man könnte auch sagen: es gibt für Luthers Erkenntnis keinen wirklichkeitslosen Glauben. Er reflektiert daher beständig auch auf den konkreten Ort des Glaubensbezuges, Luther vergißt nicht, daß wir stets auch äußerer Mensch sind, daß es jene Freiheitsbewegung im Glauben faktisch immer nur gibt im Zusammenhang mit bleibender Wirklichkeitserfahrung.“ (Ringleben, Freiheit, 8). 447 LDStA 2, 149. „Vere quidem sic haberet res ista, si penitus et perfecte interni et spirituales essemus, quod non fiet nisi in novissimo die resurrectionis mortuorum: donec in carne vivimus, non nisi incipimus et proficimus, quod in futura vita perficietur […]. Ad hanc partem pertinet, quod supra positum est, Christianum esse omnium servum et omnibus subiectum. Qua enim parte liber est, nihil operatur, qua autem servus est, omnia operatur“ (WA 7; 59, 28 – 31.33 – 35). 448 Vgl. Korsch, Freiheit, 148. 449 „Erst im christlich-freien Umgang mit dieser Unmittelbarkeit [sc. der eigenen Leiberfahrung], die wir immer schon sind, wird der Mensch ganz, d. h. aber wesentlich als – in Luthers Sinn – ,innerer Mensch‘. […] Es gibt Spannungen und Widerstreit zwischen dem Selbst und seiner Leiblichkeit. Die Einheit mit der eigenen Leiblichkeit ist eine Aufgabe; von hier aus sind Luthers Andeutungen zu einer funktional-asketischen Leibes-Erziehung zu verstehen.“ (Ringleben, Freiheit, 12).

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zwar einzig in der Befreiung des inneren Menschen durch den gläubigen Vorgriff auf die vita futura grundgelegt. Er wird aber außerdem von einem durch jene Befreiung ermöglichten Selbstverhältnis innerhalb der vita mortalis bedingt, in welchem der neue Mensch sich gegen den alten kämpferisch durchsetzt. Daher nötigt das Leben auf der Erde in zweierlei Hinsicht zum Handeln: Zunächst zur Selbstkontrolle des äußeren Menschen und sodann zum Gelingen sozialer Beziehungen. Obwohl der Mensch (wie gesagt) innerlich gemäß dem Geist durch den Glauben überreich genug gerechtfertigt wird, dass er hat, was er haben muss, außer dass er eben diesen Glauben und diesen Reichtum täglich vermehren muss bis zum künftigen Leben, so bleibt er doch in diesem sterblichen Leben auf der Erde, wo es nötig ist, dass er das Regiment über seinen eigenen Leib führt und mit Menschen zusammenlebt. Und hier beginnen jetzt die Werke: Hier darf man sich nicht dem Müßiggang hingeben; hier muss man doch dafür sorgen, dass der Leib durch Fasten, Nachtwachen, Arbeiten und andere maßvolle Übungen diszipliniert und dem Geist unterworfen wird, damit er dem inneren Menschen und dem Glauben gehorche und sich ihm anpasse und sich nicht gegen ihn auflehne oder ihn behindere, wie es seine angeborene Art ist, wenn er nicht in seine Schranken gewiesen wird.450

3.4.1.2.1 Das Verhältnis von innerem und äußerem Menschen: Selbstüberwindung Das von Luther als Verhältnis von innerem und äußerem Menschen beschriebene Selbstverhältnis des Christenmenschen ist ein ganz eigenartiges. Dem ersten Anschein nach geht Luther nun doch wieder auf einen Leib-SeeleDualismus zurück, und fordert die Unterwerfung der leiblichen Lüste und Strebungen durch den geläuterten inwendigen Menschen. Doch ist der innere Mensch eben nicht der per se gute, auf Gott hin ausgerichtete, sondern der durch das Wort Gottes veränderte und darum gute und darum auch alle Dinge beherrschende Mensch. Wenn Luther nun die Abtötung oder Zügelung der Begierden des Fleisches verlangt, so fordert er eigentlich nichts anderes, als dass die Königsherrschaft des Christen über alle weltlichen Dinge sich auch auf das eigene Selbstverhältnis erstrecke. Wenn es der Zweck der Herrschaft des Christen über alle Dinge ist, dass diese Dinge, nachdem sie ja nicht mehr zum eigenen Nutzen gebraucht werden, für den Nächsten eingesetzt werden,451 450 LDStA 2, 149. „Quanquam homo (ut dixi) intus secundum spiritum per fidem abunde satis iustificetur, habens quicquid habere debet, nisi quod hanc ipsam fidem et opulentiam oportet de die in diem augescere usque in futuram vitam, tamen manet in hac vita mortali super terram, in qua necesse est, ut corpus suum proprium regat et cum hominibus conversetur. Hic iam incipiunt opera: hic non est ociandum: hic certe curandum, ut corpus ieiuniis, vigiliis, laboribus aliisque disciplinis moderatis exerceatur et spiritui subdatur ut homini interiori et fidei obediat et conformis sit, nec ei rebellet aut ipsum impediat, sicut est ingenium eius, si coercitus non fuerit.” (WA 7; 59, 37 – 60, 6). 451 „Denn der Mensch lebt nicht für sich allein in diesem seinem sterblichen Leib, um in ihm zu

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dann gilt das in erster Linie auch für den eigenen Körper als Teil der Welt.452 Daher ist es in diesem Sinne auch richtig, dass die doppelte Natur des Christen mit dem zweifachen Dasein in Freiheit und Knechtschaft übereingeht: Weil die Freiheit des Christenmenschen sich in der Dienstbarkeit gegenüber dem Nächsten verwirklicht, lässt sich die Freiheit allein durch die Ingebrauchnahme des äußeren Menschen gestalten.453 Denn „mit leuthen umbgahen“ muss der Christ „ynn dißem leyplichen lebenn auff erdenn“.454 Doch während die Dinge der menschlichen Willensmacht zumeist ohnehin unterworfen sind, und die spezifisch christliche Macht über sie dadurch ausgezeichnet ist, dass alle Dinge dem Gläubigen zum Guten dienen, regt sich im Selbstverhältnis dieses neuen Menschen ein eigener und eigenartiger Widerwille: denn der äußere Mensch will der Welt dienen und sucht das Seine.455 Dieser ,Dienstwille‘ gegenüber der Welt, der auch dann noch knechtisch bleibt, wenn er an der Welt Selbstgewinn und Befriedigung der Begierden sucht, muss aber nach Luther seinerseits überwunden werden, um die wahre Königsherrschaft des Christen umzusetzen. Natürlich fügt diese Selbstüberwindung dem Menschen in Heilsfragen nichts zu – auch ihre Unterlassung täte hier keinen Abbruch. Und dennoch beweist Luther seinen realistischen Blick dafür, dass es ganz natürlicherweise Bedürfnisse oder Begierden gibt, deren unkontrollierte Umsetzung allein dem eigenen weltlichen Wohl dienen würden und die in der Konsequenz dem Gemeinwohl – denn allein auf die gelingende sozietäre Struktur des Lebens zielt die Beherrschung der weltlichen Dinge ab –

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wirken, sondern er lebt auch für alle Menschen auf der Erde, ja, er lebt nur für die anderen und nicht für sich. Dazu nämlich unterwirft er sich seinen Leib, dass er wahrhaftiger und freier anderen dienen kann […]. Deshalb darf es nicht vorkommen, dass er in diesem Leben müßig und ohne Werke für seine Nächsten bleibt. Es ist nämlich notwendig, dass er mit den Menschen redet, handelt und lebt, so wie Christus, da er, dem Menschen gleichgemacht, der äußeren Erscheinung nach wie ein Mensch war und mit den Menschen verkehrte […].“ „Non enim homo sibi vivit soli in corpore isto mortali ad operandum in eo, sed et omnibus hominibus in terra, immo solum aliis vivit et non sibi. In hoc enim corpus suum subiectum facit, quo syncerius et liberius queat aliis servire […]. Ideo non potest fieri, ut sit ociosus in hac vita et absque opere erga proximos suos. Necesse est enim, ut loquatur, agat et conversetur cum hominibus, sicut Christus in similitudinem hominum factus habitu inventus est ut homo et conversatus cum hominibus […].“ (LDStA 2, 161 = WA 7; 64, 15 – 18.20 – 23). „Keinem Individualismus des christlichen Lebens, sondern der sozietären Struktur der vita christiana redet Luther das Wort.“ (Jüngel, Freiheit, 108). „Schließlich wird mit der Leibthematik eben die Instanz benannt, durch die ich bzw. als die ich mit der ganzen Welt zusammenhänge. Mein Leib ist das Nicht-Ich an mir selber, die Welt als in mir. Es ist festzuhalten, daß für Luther das Weltengagement beim eigenen Leib des Subjektes anfängt.“ (Ringleben, Freiheit, 12). „Diese Steuerung [sc. des Körpers durch die Seele] aber verlangt, […] tatsächlich vorgenommen, also in leibliches Leben überführt zu werden. Und aus beidem folgt: Freiheit gibt es stets nur leibgebunden, als freies Handeln. Leibgebundenes Handeln aber ist immer raumzeitliches Handeln und folglich Handeln im sozialen Weltzusammenhang.“ (Korsch, Freiheit, 143). WA 7; 30, 14 – 15. Vgl. LDStA 2, 149 = WA 7; 60, 11.

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schadeten.456 Was Luther demnach als den Widerstreit zweier Willen – einem Fleischeswillen und einem Geistwillen – im Menschen anspricht, ist die allgemein zugängliche Erfahrung, dass es im Menschen zu Willenskonflikten kommen kann, die auf Entscheidung im Sinne von ,Austragung des Kampfes‘ drängen. Er scheint auch hier keineswegs primär auf einen Leib-Seele-Konflikt abzuheben, als vielmehr auf den Tatbestand, dass der alte Mensch mit seinem eigennützigen Willen von außen nach innen drängt, also weltlich Vorhandenes für sich konsumieren will, während der neue Mensch umgekehrt die innere Freiheit von der Welt – die ihm keinen Eigennutzen mehr verspricht – nach außen umsetzen will.457 Dabei scheint es m. E. wiederum durchaus angemessen, die Begierden gegenüber der Welt vornehmlich dem eigenen Körper zuzuschreiben, da die Leiblichkeit Luther zufolge quasi der Modus und das Medium „dieses sterblichen Lebens“ ist. Gleichwohl muss dann der Missverstand ausgeschlossen bleiben, als wäre in Luthers Sicht der Körper an sich böse oder als gäbe es keine geistig andrängenden Begierden. Der Kampf des inneren mit dem äußeren Menschen zielt ja auf das rechte Regiment über den Körper, also durchaus auf die Durchsetzung des Guten im und durch den Leib.458 Beachtenswert ist weiterhin, dass Luther diesen Willenskonflikt anthropologisch tiefer ansetzt als es rationalistische Konzepte tun, indem sie das vernünftige Abwägen von Gründen zur eigentlichen Entscheidungsfindung erklären, wobei die Person dann ihre Willensregungen kurzfristig suspendieren müsste, bis einer von beiden der rational begründete Vorrang gewährt 456 „Aber diese Werke dürfen nicht in der Annahme ausgeführt werden, durch sie werde jemand vor Gott gerechtfertigt. Diese irrige Meinung nämlich wird der Glaube nicht zulassen, der ja allein die Gerechtigkeit vor Gott ist, sondern es gilt nur in dem Sinne, dass der Leib durch solche Werke unterworfen und von allen seinen bösen Begierden gereinigt wird, so dass das Augenmerk nur darauf gerichtet ist, die Begierden auszuschalten.“ „Verum ea opera oportet non ea fieri opinione, quo per ipsa coram deo iustificetur quisquam: hanc enim falsam opinionem fides non feret quae sola est iustitia coram deo, sed solum ea opinione, ut corpus in servitutem redigatur et purificetur a concupiscentiis suis malis, ita ut oculum non nisi vertat ad concupiscentias expurgandas.“ (LDStA 2, 151 = WA 7; 60, 19 – 23). 457 Die eigentlich an dieser Stelle angebrachte Diskussion des Zugleich von menschlichem Gerecht- und Sündersein (simul iustus et peccator) muss leider unterbleiben. Im Streit der beiden Willen im Menschen deutet sich m. E. die Totalansicht Luthers auf den Menschen an: Der Mensch ist ganz Gerecht und ganz Sünder, so dass das Zugleich von Sünde und Gerechtigkeit sich in dem einen Christenmenschen als Kampf zeigt. Wenn Luther dennoch anspricht, dass wir in diesem Leben noch nicht gänzlich neugeschaffen seien und auf ein Wachstum des Glaubens und der Liebe abhebt (Vgl. LDStA 2, 153 = WA 7; 61, 12 – 17), dann stellt er neben eine präsentische Heilseschatologie – der Mensch ist durch den Glauben ins Paradies versetzt – die futurische Hoffnung des derzeitigen Lebens: wir sind noch nicht plene recreati, aber wir sind auf dem Weg zur fides et charitas perfecta (vgl. ebd.). 458 „Es zeigt sich dabei, daß der Leib doch mehr ist als ein Kerker der Seele, daß er auch ihr brauchbares Werkzeug im Dienst der Liebe sein kann und sein soll. Ausdrücklich proklamiert Luther als Ziel seiner Ethik, daß der Leib ,dem ynnerlichen menschen und dem glauben gehorsam und gleychformig werde‘. Damit ist dann die Ganzheit der menschlichen Persönlichkeit hergestellt, jeder dualistische Widerstreit von Leib und Seele grundsätzlich überwunden.“ (Maurer, Freiheit, 61). Vgl. auch: Ebeling, Lutherstudien II/2, 252.

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würde. Im Gegenteil wird dem Kampf dieser zweier Menschen in dem einen Menschen459 bei Luther auch noch das Gepräge einer eigenmächtigen Leistung genommen: Den Fall des Konfliktes, ,was jetzt zu tun ist‘, erkennt Luther als einen Affektenkonflikt, bei dem sich als strittig erweist, ,was mehr geliebt wird‘.460 Darauf weist die auf engstem Raum immer wieder auftretende Gegenüberstellung von concupiscentia und amor Dei hin.461 Hier tritt m. E. nicht der Konflikt zwischen Gewolltem und Gesolltem auf, sondern zwischen zunächst gleichermaßen Gewolltem, weshalb der Konflikt eben nicht durch den Rekurs auf Vernunftgründe gelöst werden kann, sondern nur als hilarum studium des Christenmenschen, dessen Gottesdienst – am Nächsten – in libera charitate vonstattengeht. Was aber affektiv als Gut bejaht wird, das steht der Person selbst nicht zur aktiven Wahl, weshalb noch die Austragung des Konflikts – also der Kampf um Selbstkontrolle – im Grunde als göttliches Wirken angesehen werden muss. Der Sieg des inneren Menschen über die Begierden des äußeren stellt sich dabei in der Terminologie von Dsa als das Zum-Guten-Gerissenwerden durch den Heiligen Geist dar.462 Aus diesem Grund wird auch klar ersichtlich, dass ein tertius usus legis bei Luther keinen Raum hat. Obwohl er mit Röm 7,22 auf die paulinische „Freude am Gesetz“ anspielt, kann doch gerade die Durchsetzung der inwendigen Freiheit vom Gesetz nicht wieder unter das äußerliche Diktat des – womöglich zudem rational vernehmbaren – Gesetzes geraten. Daran ändert auch nichts, dass Luther um des Nächsten willen eine freie Unterwerfung unter menschliche Satzungen lobt463 – fordert er doch zugleich gegenüber den Lehrmeistern 459 Vgl. o. Anm. 8. 460 Ich sehe daher auch ein falsches Verständnis der Freiheitsschrift in der Aussage, der Glaube befreie zur Liebe. Die Freiheit des Glaubens befreit doch weniger zur Dienstbarkeit der Liebe, als dass vielmehr die Dienstbarkeit gegenüber dem Nächsten die wesentliche Verwirklichungsform der Freiheit ist. 461 Vgl. LDStA 2, 149 – 151 = WA 7; 60, 2 – 29. 462 „Wenn Gott in uns wirkt, will und handelt der Wille, der durch den Heiligen Geist verändert und uns sanft eingehaucht worden ist. Er handelt aber wiederum aus reinem Belieben, aus Neigung und aus seinem eigenen Antrieb, nicht gezwungen. […] Wenn aber ein Stärkerer über ihn [sc. den Satan] kommt, ihn besiegt und danach uns als seine Beute wegreißt, sind wir wiederum Knechte und Gefangene durch seinen Geist (was allerdings eine königliche Freiheit bedeutet), so dass wir wollen und liebend gern tun, was er will.“ „[S]i Deus in nobis operatur, mutata et blande assibilata per spiritum Dei voluntas iterum mera lubentia et pronitate ac sponte sua vult et facit, non coacte, […]. Si autem fortior superveniat et illo victo nos rapiat in spolium suum, rursus per spiritum eius servi et captivi sumus (quae tamen regia libertas est), ut velimus et faciamus lubentes quae ipse velit.“ (LDStA 1, 291 = WA 18; 634, 37 – 39.635,14 – 17). 463 „Ein freier Christenmensch sollte nämlich so sprechen: ,Ich werde fasten, beten, dies und jenes tun, weil es durch Menschen so geboten ist, nicht weil ich es zur Gerechtigkeit oder zum Heil bräuchte, sondern weil ich damit dem Papst gehorche, dem Bischof, der Gemeinschaft, diesem oder jenem Magistrat oder meinem Nächsten zum Vorbild. Ich will alles tun und auf mich nehmen, so wie Christus für mich viel mehr getan und auf sich genommen hat, was er überhaupt nicht nötig gehabt hätte, als er sich um meinetwillen unter das Gesetz begab, obwohl er gar nicht unter dem Gesetz stand.‘ Und wenn die Tyrannen auch Gewalt anwenden und Unrecht

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der menschlichen Traditionen den entschiedenen Widerstand. So hat eine in Luthers Sinne christliche Handlung als freie Unterwerfung unter das Gesetz ihren Grund in der Liebe zum Nächsten, und nicht im Gesetz selbst.464 Während man jenen Meistern der Überlieferungen kräftig entgegentreten und die Gesetze der Päpste, mit denen sie gegen das Volk Gottes wüten, scharf tadeln muss, sollte man mit der furchtsamen Volksmenge, die diese unchristlichen Tyrannen mit ebenjenen Gesetzen gefangen halten, so lange Nachsicht üben, bis sie aus den Fesseln befreit wird. Kämpfe darum wacker gegen die Wölfe, aber für die Schafe, nicht zugleich auch gegen die Schafe! Das tust du, wenn du die Gesetze und Gesetzgeber bekämpfst und doch die Gesetze zusammen mit den Schwachen beachtest, damit sie keinen Anstoß nehmen, bis auch sie die Tyrannei durchschauen und ihre Freiheit erkennen.465

Es mag als Widerspruch erscheinen, dass ich den Kampf zweier Willen in dem einen Christenmenschen als göttliches Wirken im Menschen und also gerade nicht als menschliche Leistung interpretiere, dass ich zugleich aber dieses Verhältnis des inneren zum äußeren Menschen als von Luther geforderte Selbstüberwindung bezeichne. Doch meine ich, dass Luther mit dieser Form christlicher Selbstkontrolle etwas anderes als eine anthropologische Allgemeinforderung anspricht: Jeder Mensch strebt in gewisser Weise nach der Kontrolle über sich selbst. Diese erstrebte Selbstbeherrschung ist als allgemein-menschliches Phänomen der Versuch, Macht über sich selbst zu erlangen. Dass aber der Mensch Luther zufolge seiner selbst nie mächtig sein kann, dass vielmehr die Anmaßung solcher Eigenmächtigkeit ein menschlicher Grundirrtum ist, das sollte die Interpretation von Dsa deutlich gezeigt haben. Was Luthers Forderung betrifft, die eigenen Begierden auszulöschen, tun, indem sie diese Forderungen erheben, so wird das doch nichts schaden, solange es sich nicht gegen Gott richtet.“ „Christianus enim liber sic dicet ,Ego ieiunabo, orabo, hoc et hoc faciam, quod per homines mandatum est, non quod mihi illo sit opus ad iustitiam aut salutem, sed quod in hoc morem geram Papae, Episcopo, communitati, illi et illi magistratui aut proximo meo ad exemplum, faciam et patiar omnia, Sicut Christus mihi multo plura fecit et passus est, quorum ipse nullo prorsus egebat, factus propter me sub lege, cum non esset sub lege‘. Et quamvis tyranni vim aut iniuriam faciant, hoc exigentes, non tamen nocebit, donec contra deum non fuerit.“ (LDStA 2, 171 = WA 7; 68, 7 – 14). 464 Nach Frankfurt, Konzepte, 84 – 97 kann eine freie Handlung auch dann vollzogen werden, wenn ein Zwang zu dieser Handlung besteht: dann nämlich, wenn es sich nicht aus dem Zwang erklären lässt, dass eine Person die fragliche Handlung vollzieht. Wie ich oben bereits angemerkt habe, ist es dabei nicht unstrittig, ob eine Handlung unter Zwang überhaupt dieselbe Handlung darstellt. Dies könnte auch Luthers Forderung erhellen, gute Werke seien im Glauben secundum substantiam – und nicht secundum conscientiam – zu tun. Vgl. Anm. 475. 465 LDStA 2, 179. „Quare etsi fortiter resistendum est magistris illis traditionum et leges pontificum acriter vituperandae, quibus in populum dei grassantur, turbae tamen pavidae parcendum est, quam captivam tenent eisdem legibus impii illi tyranni, donec explicentur. Ita pugna strenue contra lupos sed pro ovibus, non simul contra oves, quod facies, si in leges et legislatores inveharis, et tamen simul serves eas cum infirmis, ne scandalisentur, donec et ipsi tyrannidem cognoscant et libertatem suam intelligant.“ (WA 7; 71, 15 – 21).

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so zeigt diese doch in ihrem Grunde eine Wirksamkeit des Wortes Gottes an, da das Wort Gottes eine Differenz in den Menschen einträgt, nach der er einerseits in der eschatologischen Gnadenwirklichkeit konstituiert ist, andererseits aber dieses sterbliche Leben zu leben hat. Darum ist der Umgang des Christen mit sich selbst, sofern er selbst Teil dieser Welt ist, deutlich anders gelagert als ein Selbstverhältnis, das auf undifferenzierte Selbstmacht und Identität abzielt. Er kann geforderte Tat des Menschen an sich und dennoch Wirksamkeit Gottes im Menschen sein. Die durch das Wort Gottes aufbrechende Differenz von innerem und äußerem Menschen leistet theologisch genau dies, dass sie aufgrund der theonomen Neukonstitution der Person die Selbstentzogenheit der Person gegen die menschlichen Selbstmachtsansprüche absichert. Vor allem Handeln kommt er [sc. der Mensch] vielmehr als Seiender und als Werdender in Betracht, der gerade nicht durch sein Tun wird, was er ist. Dafür steht die theologische Kategorie des inneren Menschen gut. Mit ihr wird ontologisch darauf insistiert, daß der Mensch sich nicht selber zu dem macht, was er ist, sich also nicht selbst erwerben kann.466

Der eigene Leib als weltliches Dasein des Menschen ist also schlicht der nächstliegende Ort, an dem die Gestaltung der Freiheit ins Werk gesetzt wird. Der Körper soll, wie alle Dinge in der Welt, dem guten Willen des Christen gehorchen – und dies ausdrücklich zum Gotteslob. Wenn die Seele nämlich durch den Glauben gereinigt und zur Liebhaberin Gottes geworden ist, möchte sie gerne, dass alles Übrige gleichfalls gereinigt würde, zumal der eigene Leib, damit alles zusammen mit ihr Gott liebe und lobe.467

Die Herrschaft des Christenmenschen wäre insofern nicht vollständig umgesetzt, wenn sie nicht auch Überwindung der eigenen Begierden wäre. Wiederum wäre des Christen Dienstbarkeit gegenüber dem Nächsten unmöglich, wenn nicht die eigenen Begierden unter Kontrolle gebracht würden, wenn also nicht der äußere Mensch auch ein gehorsamer Diener des inwendigen Menschen würde. Letzteres ist daher auch der dezidiert einzige Zweck der Werke im Hinblick auf die eigene Person, was Luthers Position deutlich von einer generellen Leibfeindlichkeit unterscheidet. Dementsprechend empfiehlt Luther auch ein gesundes Augenmaß, inwieweit man sich – etwa durch Fasten – einschränken müsse: eine Kunst, von der die Werkgerechten nichts wissen, weshalb sie in die Gefahr einer – so Luther wörtlich – selbst zugefügten zerebralen Läsion geraten.468 Werkgerechtigkeit macht schlicht 466 Jüngel, Freiheit, 106 f. 467 LDStA 2, 151. „Cum enim anima per fidem purgata sit et amans dei facta, vellet omnia pariter purgari, praecipue corpus proprium, ut omnia secum amarent et laudarent deum.“ (WA 7; 60, 23 – 25). 468 „Er [sc. jeder Christenmensch] wird nur so viel fasten, wachen und sich abmühen, wie es zur Bändigung der Zügellosigkeit und der Begierde des Leibes hinreichend erscheint. Denjenigen

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wahnsinnig: Potentiell schadet sie der Natur des Menschen eher, als dass sie sie in Gebrauch nähme. Gerade weil auch der Umgang mit sich selbst vom Wahn der Rechtfertigung befreit ist, wird eine maßvolle Kontrolle möglich.469 So wird der Kampf um die Herrschaft über die Begierden eben nicht zu einer Vernichtungsschlacht gegen den eigenen Körper, sondern dient in königlicher Herrschaft letztlich sogar der Selbsterhaltung.470 Er gehört so zu den Notwendigkeiten dieses Lebens wie Essen oder Trinken.471 3.4.1.2.2 Dem Nächsten ein Christus: Selbsthingabe Da sieh einmal, mir, diesem unwürdigen und verdammten Menschlein, hat ohne jedes Verdienst und aus reinem, freiwillig [sc. unentgeltlich] gewährtem Erbarmen aber, die sich kühnerweise darauf verlassen, durch Werke gerechtfertigt zu werden, geht es nicht um die Abtötung der Begierden, sondern nur um die Werke als solche, von denen sie meinen, wenn sie nur möglichst viele und großartige vollbracht hätten, ergehe es ihnen gut und sie seien gerechtfertigt, wobei sie bisweilen ihren Verstand beschädigen und ihre Natur auslöschen oder doch unbrauchbar machen.“ „[T]antum enim ieiunabit, vigilabit, laborabit, quantum satis esse viderit ad corporis lasciviam et concupiscentiam premendam. Qui vero praesumunt operibus iustificari, observant non mortificationem concupiscentiarum, sed ipsa tantum opera, arbitrantes, si modo quam plurima et maxima fecerint, sese bene habere et iustos factos esse, aliquando et cerebrum ledentes et naturam extinguentes aut saltem inutilem reddentes.“ (LDStA 2, 151 = WA 7; 60, 31 – 37). 469 Korsch, Freiheit, 150, scheint, da es ihm beim Selbstverhältnis des Menschen deutlich stärker um die Gestaltung des Leib-Seele-Dualismus geht, in der eröffneten Gegenseitigkeit als einer konstruktiven gegenseitigen Teilhabe von Seele und Körper eine ähnliche Mäßigung zu erblicken. 470 „Denn auch zu diesem Zweck auf seinen Leib zu achten, ist eine christliche Aufgabe, damit wir durch seine Gesundheit und seine günstige Verfassung in der Lage sind, zu arbeiten und Geld zu erwerben und zu bewahren für die Unterstützung der Bedürftigen, so dass auf diese Weise das gesunde Glied dem kranken Glied dient und wir Kinder Gottes sind, indem der eine für den anderen sorgt und sich müht, indem wir die Last des anderen tragen und so das Gesetz Christi erfüllen.“ „Nam et in hoc ipsum corporis curam habere Christianum est, quo per eius salutem et comoditatem laborare, res quaerere et servare possimus in subsidium eorum, qui indigent, ut sic membrum robustum serviat membro infirmo et simus filii dei, alter pro altero sollicitus et laboriosus, invicem onera portantes et sic legem Christi implentes.“ (LDStA 2, 161 – 163 = WA 7; 64, 29 – 34). 471 „Denn wir sind durch den Glauben an Christus nicht freigestellt von Werken, sondern von der falschen Bewertung der Werke, das heißt von der törichten Anmaßung einer Rechtfertigung, die man durch die Werke erwirbt. Der Glaube nämlich erlöst, reinigt und bewahrt unsere Gewissen, und durch ihn erkennen wir, dass die Gerechtigkeit nicht in den Werken begründet ist, auch wenn Werke nicht fehlen können noch sollten, wie wir ja auch nicht ohne Speise und Trank und ohne die ganze Mühe um diesen unseren sterblichen Leib sein können.“ „Non enim liberi sumus per fidem Christi ab operibus, sed ab opinionibus operum, idest a stulta praesumptione iustificationis per opera quaesitae. Fides enim conscientias nostras redimit, rectificat et servat, qua cognoscimus iustitiam esse non in operibus, licet opera abesse neque possint neque debeant, sicut sine cibo et potu et universa corporis istius mortalis opera esse non possumus“ (LDStA 2, 177 = WA 7; 70, 14 – 19).

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mein Gott in Christus alle Reichtümer der Gerechtigkeit und des Heiles geschenkt, so dass ich darüber hinaus gar keiner Sache mehr bedarf außer dem Glauben, der glaubt, dass es sich so verhalte. Warum sollte ich einem solchen Vater zuliebe, der mich mit seinen unvorstellbaren Reichtümern überschüttet, nicht freiwillig [sc. frei], heiter, von ganzem Herzen und mit bereitwilligem Eifer alles tun, von dem ich weiß, dass es vor ihm Gefallen findet und willkommen ist? Also will ich mich meinem Nächsten gegenüber als eine Art Christus verhalten, so wie Christus sich mir gegenüber gezeigt hat, und nichts tun in diesem Leben, als was nach meinem Urteil für meinen Nächsten notwendig, hilfreich und heilsam ist, da mir ja durch den Glauben alle Güter in Christus im Übermaß beschieden sind.472

In wenigen Sätzen stellt Luther die rechte Denkungsart eines Christenmenschen dar. Anhand dieser kurzen Passage ließe sich Schritt für Schritt – beinahe Wort für Wort – die gesamte theologische Argumentation der Freiheitsschrift abhandeln. Luther schreitet von der Unwürdigkeit und Verdienstlosigkeit des Menschen vor Gott zu der in Christus erwirkten Gerechtigkeit; und weiter von dem mit dieser Gerechtigkeit erworbenen Reichtum, keiner anderen Sache darüber hinaus zu bedürfen als des Glaubens, „dass es sich so verhalte“ zum freien und heiteren Dienst gegenüber Gott. Sodann zeigt er an, dass alles, was dem Vater getan wird, dem Mitmenschen gegenüber getan wird, worin sich die christologische Analogie ergibt. Auf die Frage nach der Veränderung des Handlungssubjekts durch den Glauben und den Charakter der Werke im Glauben lässt sich daher abschließend antworten: Im Hinblick auf die Gleichgestaltung des Christen mit Christus zeigt sich, dass das „Übermaß der Güter in Christus“ zu verstehen ist als die externe Sicherung der eigenen Person in Christus, auf Grund derer der Christenmensch frei wird, sein Selbst für den Nächsten hinzugeben.473 Das Selbst des Christen zeichnet sich gerade dadurch aus, dass der Christ überhaupt nicht in sich selbst, sondern in Christus lebt. Wo es sich weiterhin ereignet, dass der äußere Mensch vom inneren, Gott gleichgestalteten Menschen überformt wird, dort tritt die christologische Bewegung vom Stand der Erhöhung und Gottgleichheit hinab zum Stand der Niedrigkeit im Leben des Christenmenschen zutage – doch freilich nicht so, als könne diese Bewegung auch unterbleiben.474 Die Werke im Glauben sind im wörtlichen Sinne Werke des Glaubens. Darum kann Luther in De votis monasticis in derselben Ter472 LDStA 2, 165. „En mihi indigno damnatoque homuntioni citra omne meritum mera gratuitaque misericordia dedit deus meus in Christo omnes divitias iustitiae et salutis, ut amplius nulla re prorsus indigeam, nisi fide, quae credat hoc se sic habere, huic ergo tali patri, qui me suis his inaestimabilibus divitiis obruit, cur non liberaliter, hilariter, toto corde spontaneoque studio omnia faciam, quaecunque sciero placita et grata coram illo esse? Dabo itaque me quendam Christum proximo meo, quemadmodum Christus sese praebuit mihi, nihil facturus in hac vita, nisi quod videro proximo meo necessarium, comodum et salutare fore, quandoquidem per fidem omnium bonorum in Christo abundans sum.“ (WA 7; 65, 36 – 66, 6). 473 Vgl. Ringleben, Freiheit, 13. 474 Vgl. Ringleben, Freiheit, 15.

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Luthers Position

minologie wie hier im Freiheitstraktat Christus als das eigentliche Handlungssubjekt der christlichen Werke anführen: Sie sind nicht zu unterlassen, sondern, dass ich es so sage, ihrem Wesen nach zu tun, aber nicht dem Gewissen nach, d. h. nicht als solche, die da verteidigen und rechtfertigen. Denn das hieße das Gewissen verderben und von Christus, seinem Bräutigam abziehen, mit dem es ein Fleisch ist, an allen seinen Gütern teilnehmend. Sondern frei und umsonst sind sie zu tun, zum Nutzen und Vorteil des Nächsten, gleichwie die Werke Christi für uns frei und umsonst getan sind. Alsdann aber sind sie nicht mehr Gesetzeswerke, sondern Christi, der in uns durch den Glauben wirksam ist und in allem lebt; deswegen können sie ebenso wenig wie der Glaube selbst unterlassen werden und sind nicht weniger notwendig als der Glaube.475

Die Werke, deren Ausführung im Glauben vom gesetzlichen Zwang befreit ist, sind nach Luther secundum substantiam zu tun. Was das heißt, führt er weiterhin so aus, dass sie „frei und umsonst“ durch den Menschen geschehen, obwohl sie doch, weil ja Christus im Menschen ihr eigentlicher Täter ist, gar nicht unterlassen werden können. Sie sind in diesem Sinne notwendig mit dem Glauben verbunden. Notwendig sind die Werke aber ohnehin, weil der Mensch in diesem Leben unter den necessitates huius vitae leben muss: mit sich in seiner Leiblichkeit und mit den Mitmenschen im sozialen Umgang. Darin kommt ja zunächst eine allgemeine Notwendigkeit zum Ausdruck, nicht eine spezifisch christliche. Aus der Dsa-Perspektive der durchgängigen göttlichen Weltlenkung hängt die Freiheit eines Christenmenschen also ausschließlich daran, dass der menschliche Wille vom Geist gerissen wird und nicht allein unter der allgemeinen Allmacht Gottes verbleibt. Es wird an Luthers konkretem Einsatz mit der eigenen Leiblichkeit sichtbar, daß christliche Freiheit nicht in der Erfindung eines völlig neuen, losgelösten Zustandes besteht, sondern vielmehr in einem neuen Sein bei allem, was wir immer schon sind und tun. Das würde prinzipiell heißen, Freiheit wird von Luther gedacht als spezifischer Umgang mit Notwendigkeit. Freiheit ist selbsthafte Durchdringung von Notwendigkeit und in diesem konkreten Sinn ihre Aufhebung476.

Die Werke des Christen zeichnen sich dadurch aus, dass der Christ mit ihnen wiederum nicht in sich selbst fixiert bleibt, sondern durch die Werke der Liebe im Nächsten lebt – „und bleybt doch ymmer ynn gott und gottlicher liebe“.477 475 „Omittenda non sunt, sed facienda (ut sic dicam) secundum substantiam, sed non secundum conscientiam, hoc est, non ut defendentia et iustificantia. Hoc enim esset conscientiam corrumpere et a Christo sponso suo abstrahere, cum quo est una caro, communicans omnibus bonis illius. Sed libere et gratis facienda sunt ad usum et commodum proximi, sicut Christi opera nobis facta sunt libere et gratis. Verum tunc amplius non sunt opera legis, sed Christi in nobis per fidem operantis et viventis per omnia, ideo non possunt magis omitti, quam ipsa fides, nec sunt minus necessaria quam fides.“ (WA 8; 608, 24 – 32). 476 Ringleben, Freiheit, 12. 477 WA 7; 38, 9 – 10.

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Die Freiheit eines Christenmenschen

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Wenn Luther betont, dass der Christ überhaupt nicht „in sich selbst“ lebt, sondern in Christus und im Nächsten478, dann heißt das: Der Glaube als Liebe zu Gott vollzieht sich als Liebe zum Nächsten – wie der Täter sich in der Tat vollzieht.479 Die Liebe zum Nächsten ist Luther zufolge unbedingt abhängig vom Glauben; sie ist nur wahr, wo er wahr ist480 – aber eben nicht im Verhältnis von „Ermöglichung“ und „Verwirklichung“.481 Sie kann darum auch nicht unterbleiben, wo der Glaube wahr ist.482 Sie kann dies nicht, weil sie die dem Glauben wesentliche weltliche Wirksamkeit – nicht Wirkung!483 – ist. ,Mein Reich ist nicht von hier oder von dieser Welt‘, sagt Christus, aber er sagte nicht: ,Mein Reich ist nicht hier oder in dieser Welt.‘484

478 „Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und in seinem Nächsten, oder er ist kein Christenmensch; in Christus aber lebt er durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben wird er über sich hinaus nach oben zu Gott gezogen, umgekehrt fällt er durch die Liebe unter sich herab auf den Nächsten, doch bleibt er stets in Gott und seiner Liebe […].“ „Christianum hominem non vivere in seipso, sed in Christo et proximo suo, aut Christianum non esse, in Christo per fidem, in proximo per charitatem: per fidem sursum rapitur supra se in deum, rursum per charitatem labitur infra se in proximum, manens tamen semper in deo et charitate eius“ (LDStA 2, 175 = WA 7; 69, 12 – 16). 479 Vgl. Wannenwetsch, Caritas, 210. 480 „[H]ier ist der Glaube wahrhaft wirksam in der Liebe, das heißt: Er schreitet mit Freude und Liebe zu einem Werk völlig freien Dienstes, in dem er dem andern umsonst und aus freien Stücken dient und der im Übermaß gesättigt ist von der Fülle und vom Reichtum seines Glaubens.“ „[H]ic vere fides efficax est per dilectionem, hoc est, cum gaudio et dilectione prodit in opus servitutis liberrimae, qua alteri gratis et sponte servit, ipsa abunde satura fidei suae plenitudine et opulentia.“ (LDStA 2, 163 = WA 7; 64, 34 – 37). 481 Vgl. Wannenwetsch, Caritas, 207. 482 Vgl. Ringleben, Freiheit, 14. 483 „,Wirkung‘ ist ja ein Wort, das einer anderen – unpersönlichen – Sphäre entstammt als die Tat; während die Tat immer die Tat des Täters bleibt, gewissermaßen an ihm ,haftet‘, und dieser für sie haftet, ist eine Wirkung schon im Moment ihres Geschehens emanzipiert von ihrer Ursache – entlassen in die Selbständigkeit des Reiches der Fortwirkungen, in dem sie nun ihrerseits zur Ursache von anderen Wirkungen zu werden vermag.“ (Wannenwetsch, Caritas, 207). 484 LDStA 2, 177. „,Regnum meum non est hinc seu de hoc mundo‘, ait Christus, sed non dixit ,Regnum meum non est hic seu in hoc mundo.‘“ (WA 7; 70, 22 – 23).

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4. Fazit Die Frage, ob menschliche Verantwortlichkeit allein unter der Bedingung einer Freiheit im libertarischen Sinne bestehen kann, bildet den Hintergrund des Konfliktes zwischen Erasmus von Rotterdam und Martin Luther. Für Erasmus stand im Streit um das liberum arbitrium humanum die menschliche Verantwortlichkeit und Verdienstlichkeit gegenüber Gott und mit ihr zugleich die Gerechtigkeit Gottes auf dem Spiel. Mit der Frage nach der menschlichen Freiheit und der Verantwortlichkeit des Menschen ins Herz des Konflikts zwischen Wittenberg und Rom getroffen zu haben, bleibt in der Tat das Verdienst des Erasmus.1 In der modernen Debatte ist die Frage nach der menschlichen Verantwortlichkeit vor dem Hintergrund der neurobiologischen Beiträge ebenso virulent. Wer nicht anders kann, ist auch nicht verantwortlich – so die eine Meinung. An den verschiedenen Beiträgen zum Thema zeigt sich jedoch, dass nach Meinung vieler Diskussionsteilnehmer nicht etwa die Alternativitätsfrage an sich ausschlaggebend ist, sondern vielmehr eine Entscheidung darüber, ob Ereignisse in der Welt unter Bezug auf personale Kategorien weiterhin als Handlungen von Personen beschrieben werden können. Wo das bestritten wird, fällt freilich auch der Verantwortungsbegriff; wo hingegen weiterhin das Recht oder gar die Notwendigkeit „mentalistischer Sprache“ vertreten wird, dort bleibt Verantwortlichkeit ein selbstverständlicher Bestandteil des angewandten Vokabulars. Insofern entpuppt sich die Verantwortungsfrage als Frage, ob sich eine monistische Grundüberzeugung berechtigterweise mit dualistischen Intuitionen vereinbaren lässt. Im Falle des Naturalismus etwa war zu fragen, ob die rein naturalistische Beschreibung der Welt Platz lässt für die unabweisbare Erfahrung eigener Subjektivität. Ebenso lässt sich die theologische Debatte verstehen als Auseinandersetzung darüber, wie die monistisch gedeutete Allmacht Gottes sich zum Menschen als Handelndem – als operator – verhält. Luther vertritt im thematischen Spannungsfeld zwischen Determinismus und Verantwortlichkeit eine Art deterministischen ,minimalen Kompatibilismus‘, wonach menschliche Freiheit im Sinne alternativer Möglichkeiten zunächst strikt verneint wird. Luther spricht hier sein deutliches Nein aufgrund seiner Verhältnisbestimmung von allwirksamem Schöpfergott und Geschöpf. Luthers theologischer Determinismus führt ihn in der Konsequenz aber keineswegs zur Ablehnung menschlicher Verantwortlichkeit. Da für ihn Verantwortlichkeit nicht an Freiheit geknüpft ist, kann er das servum arbi1 Vgl. Luthers Lob darüber: LDStA 1, 659 = WA 18; 787, 26 – 31.

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Affekt und Handlung

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trium unbefangen vertreten. Luther muss nicht auf die menschliche Freiheit rekurrieren, um menschliche Verantwortlichkeit zu sichern. Verantwortlichkeit ist für Luther unbestreitbarer Bestandteil menschlichen Daseins, weil er den Menschen dort verortet, wo er zu leben hat: in der Welt als endliche und individuierte Person und zugleich vor Gott als von ihm identifizierte und beanspruchte Person.

4.1 Affekt und Handlung An der Zurechenbarkeit von Handlungen kann bei Geltung des Determinismus nur unter der Bedingung festgehalten werden, dass grundsätzlich einsichtig gemacht werden kann, wie eine Handlung sich auf eine handelnde Person zurückführen lässt, ohne dass die fragliche Person dabei vollständige Kontrolle oder Macht über die gegenwärtig relevanten Faktoren haben muss. Diese Zusammenkunft von kausaler Vorgeschichte von Ereignissen und handlungsorientierter Wirksamkeit der Person kann nur im Menschen selbst verortet werden. Indem Luthers Anthropologie vom phänomenalen Subjekt des vorfindlichen Menschen als Geschöpf Gottes ausgeht, ergeben sich in ihr sowohl die Unfreiheit des menschlichen Willens als auch die Verantwortlichkeit des Menschen für seine Handlungen aus dessen Affektenleben. Die menschlichen Affekte bilden sowohl den Kontext, innerhalb dessen Erfahrungen mit anderem Seienden überhaupt stattfinden können, als auch das Fundament für eine ausschließlich in der Begegnung mit Anderem entstehende Selbsterfahrung. Insofern beinhaltet Luthers relational fundiertes Personenverständnis in seinem Kern immer schon eine Bestimmtheit des menschlichen Willens durch ebendiese Relationen. Welt-, Selbst-, und Gottesverhältnis des Menschen sind allesamt geprägt durch eine nicht-hintergehbare, der eigenen Kontrolle entzogene Bestimmtheit. In Abschnitt III.2.2 wurde gezeigt, dass die affektive Bestimmtheit des menschlichen Willens eine aktive, ,selbstbestimmte‘ Wandlung desselben ausschließt, dass aber der Wille nach Luther wegen seines affektiven Charakters von Äußerem durchaus passiv wandelbar ist. Das ist nicht allein so zu verstehen, als sei der menschliche Wille lediglich in seiner gläubig oder ungläubig qualifizierten Grundbestimmung unfrei und als sei dem Menschen innerhalb dieser Grundbestimmung ein Spielraum an zur Wahl stehenden Alternativen gegeben. Gegen diese gängige Dsa-Interpretation spricht nicht allein Luthers Rede von der Allwirksamkeit Gottes, durch die jener alles in allem wirke. Vielmehr schließt vor allem Luthers striktes Votum, dass es einen unbestimmten Willen oder ein reines Wollen auf Seiten des Menschen nicht gibt, die Deutung aus, der Mensch könne nun doch in inferioribus von seinem stets aktiven Willen zurücktreten und frei zwischen Willensobjekten wählen. Die neurophysiologischen Thesen Singers – und in höherem Maße Damasios – stellen in diesem Zusammenhang eine Parallele zu Luthers Auffas-

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Fazit

sung dar, insofern auch dort die Rede davon ist, dass der Mensch auf bestimmte in Gehirn und Körper gleichsam ,automatisch‘ ablaufende Prozesse keinen Einfluss hat. Vielmehr – so die Behauptung auch hier – seien diese dem Bewusstsein entweder grundsätzlich unzugänglich (Singer) oder in einer Weise vorgängig, die Bewusstsein zuallererst begründe (Damasio). Gerade in Damasios Theorie der Emotionen sind Überlegungen anzutreffen, die dem lutherischen Konzept durchaus nahe stehen. Denn auch bei Damasio hat der Umgang des Menschen mit ihm Äußerlichem eine unvermeidbare unbewusste Reaktion zur Folge, die bereits eine vorreflexive Bewertung des Anderen einschließt. Zum Bewusstsein der Dinge, wie auch zum Bewusstsein seiner selbst gelangt der Mensch nur innerhalb dieser emotional gefärbten Bestimmtheit der vorreflexiven Verarbeitung. Damasio zeigt sich des Weiteren wenig besorgt mit freiheitstheoretischen Bedenken gegenüber dieser affektiv-emotionalen Bestimmtheit. Ihm scheint ähnlich wie Luther die fehlende Kontrolle des Subjekts über seine emotiven Reaktionen keine Infragestellung für den eigenen verantwortlichen Vollzug darzustellen. Vielmehr sieht er in jenen die Ermöglichung eines guten Lebens in Form einer Beharrlichkeit des Willens auch gegenüber gegenwärtigen Hemmnissen. Die in dieser Arbeit vorgestellten philosophischen Ansätze zur Kompatibilität von Determinismus und Freiheit stellen in der Regel in ähnlicher Weise darauf ab, dass für die Zurechenbarkeit von verantwortlichen Handlungen eine umfängliche Kontrolle über die gesamte bisherige Biografie und gegenwärtige Bestimmtheit durch die Person nicht vonnöten ist. Michael Pauens „personale Präferenzen“ zielen ebenso wie Thomas Buchheims „biografische Zustände“ auf die Kombination von Ereignis- und Akteurskausalität ab. In ähnlicher Weise – zumindest im Hinblick auf die partielle Unverfügbarkeit des eigenen Soseins – lässt sich auch Harry G. Frankfurts Konzept der Liebe als Bestimmungsgrund der volitionalen Konfiguration lesen. Liebe hat für Frankfurt die umfassende Funktion, den Menschen in seiner willentlichen Komplexität zu strukturieren, das Fundament eines individuell-normativen Systems bereitzustellen und die Person zugleich mit einer Identität auszustatten, die sie sich zwar wiederum im willentlichen Vollzug reflexiv anzueignen hat – hier besteht womöglich die stärkste Differenz zu Luthers Anthropologie –, die aber ihren Grund nun einmal in der eigenen Liebe als nichthintergehbarer Gegebenheit hat. Diese Ansätze sind sich insofern ähnlich, als sie alle davon ausgehen, dass der Mensch sich jeweils in bestimmter Weise vorfindet und dass davon gerade nicht abgesehen werden darf, wenn man eine Handlung als spezifisch eigene Handlung beschreiben will. Terminologisch findet sich der Handlungsbegriff der gegenwärtigen Diskussion bei Luther im „opus“ des Menschen wieder. Dass der Mensch grundsätzlich als operator – nämlich als cooperator Dei – zu verstehen ist, steht für Luther nicht infrage. Gleichwohl muss er genau diese Position gegenüber Erasmus verteidigen. Die Frage der gegenwärtigen Debatte, ob denn bei Geltung des Determinismus überhaupt noch von Urhebern

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und deren Handlungen die Rede sein dürfe, ist auch zwischen Luther und Erasmus strittig. Denn der Humanist kann in Luthers Betonung der göttlichen Allwirksamkeit keine aktive Handlung auf Seiten des Menschen mehr erkennen: Zwang2 oder Willenlosigkeit sind seine Deutungsalternativen zu einem starken Freiheitsbegriff. Singers Darlegungen begünstigen inhaltlich sehr ähnliche Deutungsmuster zwischen Zwang und Willenslosigkeit, insofern er insinuiert, dass entweder bestimmte Teilprozesse im Gehirn ,entscheidend‘ über unseren Willen bestimmen oder dass wir überhaupt keine Entscheidungen und Handlungsplanungen vornehmen, weil unser Gehirn als Ganzes das ohne uns tut. Dem Reformator wiederum scheint der Umstand, dass ein Werk von einem Willen abhängt – sei dieser auch unfrei – Grund genug zu sein, an der operatio des Menschen festzuhalten. Insofern Luther die Unfreiheit des Willens in dessen Geschöpflichkeit begründet sieht, weshalb er stärkere Freiheitsanforderungen als schlicht unerfüllbare Überforderung ansieht – denn der Mensch kann sich nicht selbst erschaffen und erhalten –, ähnelt sein Argument denjenigen Einwänden, die allenthalben betonen, dass ein Mehr an Freiheit weder schlüssig denkbar noch wünschenswert wäre. Denn die Forderung nach indeterminierter Freiheit – so wird gegenwärtig hervorgehoben – krankt entweder an der mehr und mehr fragwürdigen Voraussetzung eines starken Geist-Leib-Dualismus: Man muss dann einen eigenmächtigen Geist annehmen, der von der leiblichen Bestimmtheit unberührt bleibt. Oder aber es mangelt der Behauptung indeterminierter Freiheit an einem beständigen Zusammenhang zwischen handelndem Individuum und Handlung, wenn die Bestimmtheit auch der geistigen Sphäre angenommen wird: Denn wie lässt sich ein Ereignis überhaupt als Handlung auffassen, wenn es nicht hinreichend aus dem Gesamtzustand des Urhebers erklärt werden kann? Luthers schöpfungstheologisches Argument lautet in ähnlicher Weise erstens, dass ein beziehungsloser Dualismus zwischen eigenmächtigen Geschöpfen und Schöpfergott von seinem Schöpfungsmonismus her präkludiert wird. Zweitens rechnet Luther aber die menschlichen Handlungen zu den Schöpfungsgaben und eignet sie in dieser spezifischen Weise dem Menschen zu. 2 „Nochmals – was die Gebote betrifft: Wenn ein Herr einem Sklaven, der mit Fußfesseln in einer Stampfmühle festgebunden wäre, immer wieder gebieten würde: ,Weg da, tue dies und jenes, laufe und komm her‘, wenn er ihn wegen Ungehorsams hart bedrohte und ihm – ohne ihn indessen loszubinden – wegen seines Ungehorsams sogleich die Peitsche zeigte, - würde dann nicht mit Recht der Sklave seinen Herrn als geisteskrank oder als grausam bezeichnen, der ihn wegen Nichtausführung unausführlicher Befehle zu Tode peitschen ließe?“ (Dla. nach: Schumacher, Willen, 93). „Rursus, quod ad praecepta attinet, si dominus servo compedibus astricto in pistrino multa praesciberet: Abi illuc, fac hoc, curre, recurre, dira minitans, ni pareat, nec interim solveret illum iamque non parenti virgas expediret, nonne videatur servus iure dominum vocare vel insanum vel crudelem, quae non erant in ipsius potestate?“ (Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 80; 29 – 81;5; [IV 5]).

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Fazit

Im Vergleich mit Luther betonen die gegenwärtigen philosophischen Konzepte des Weiteren jedoch stärker die dem Menschen wesentlich zu eigene Reflexivität des Selbstbewusstseins für die Zurechenbarkeit von Handlungen. Michael Pauen etwa bestimmt personale Präferenzen dadurch, dass sie zwar nicht in ihrer Entstehung unter der Kontrolle der handelnden Person gestanden haben müssen, dass sie aber grundsätzlich wiederum das mögliche Objekt einer personalen Entscheidung sein können müssen. Deshalb stellt Pauen etwa auf die Möglichkeit ab, eine Person müsse ihre personalen Präferenzen aufgeben können, wenn sie dies wollte (liberale Variante). Außerdem macht Pauen eine minimale Rationalität handelnder Akteure zur Bedingung von Verantwortlichkeit, da nur rationale Personen Handlungskonsequenzen abschätzen und konkurrierende Präferenzen abwägen könnten. Auch Frankfurt fordert die aktiv-voluntative Identifikation der Person mit ihren eigenen Wünschen, was in seinem Modell nur möglich ist durch die reflexive Struktur des Personseins und die hierarchische Stufung von Wünschen verschiedener Ordnung. Kann gegenüber Frankfurt zwar der Vorwurf erhoben werden, dass er eine allgemeingültige rationale Rechtfertigungsmöglichkeit der individuellen Handlungsgründe nicht vorsieht, so ist doch auch ihm zufolge allein die in sich reflektierte Person, die zur aktiven Identifikation aufgerufen ist, verantwortlich für ihre Handlungen. Obwohl Frankfurt also keine Möglichkeit einer allgemeinen rationalen Verteidigung von Gründen aufrechterhalten kann, ist auch bei ihm die Person verantwortlich, sofern sie sich zu sich selbst verhält. Gefordert wird also allenthalben, der Mensch müsse grundsätzlich aktive Entscheidungshandlungen an sich selbst vornehmen können, um verantwortlich für seine Handlungen zu sein. Dazu gehört auch die Fähigkeit, von einem Handlungswunsch zurückzutreten und eine rationale Abwägung vorzunehmen. In gewisser Weise müssten die Anwürfe gegen Singer, dass nämlich die bewusste Verhandlung von Gründen den Unterschied ums Ganze macht, sofern Gründe nämlich eine andere Wirksamkeit auf zukünftige Handlungen haben als unbewusste Hirnprozesse, zunächst auch gegen Luther geltend gemacht werden. Denn während die aktuellen Beiträge mit der Selbstreflexivität der handelnden Person zumeist darauf beharren, diese trage eine Ansprechbarkeit auf Gründe und damit letztlich auch eine handlungsbezogene Variabilität in die Person ein, scheint Luthers Erklärung der Willensfestlegung einfach vom Affekt zur Handlung ,durchzuschlagen‘ – ohne rational-reflexiven Zwischenschritt. Gilt dann nicht auch für Luther, was sich als Hauptproblem des Singerschen Menschenbildes erwiesen hat: dass er nämlich die sich zu sich selbst verhaltende Person zu einem Epiphänomen, also zu einem ohnmächtigen Protokollanten des eigenen Vollzugs degradiert? Und liegen die Dinge bei Luther nicht noch sehr viel mehr im Argen als bei Singer, weil jenes ohnmächtige Selbstverhältnis bei Luther zunächst ausschließlich durch das Gesetz und also als schlechtes Gewissen in Kraft tritt? Muss nicht auch Luthers Vorstellung der affektiven Willensfestlegung kritisch befragt werden, ob denn

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eine Person Verantwortung tragen kann für eine ihr selbst vorgängige Bestimmtheit, die sich geradewegs in Handlungen durchsetzt? Zumindest auf der Ebene der affektiven Bestimmtheit des Herzens ist der Gedanke des Selbstverhältnisses bei Luther nicht maßgeblich, zielt er doch zunächst allein auf die vorreflexive Ausrichtung des Willens. Es darf aber nicht übersehen werden, dass die Forderung nach einem Zwischenschritt der rationalen Lenkung – der bestimmten Selbstbestimmung – erneut Gefahr läuft, die Chimäre eines zeitweilig in seiner Aktivität ausgesetzten Willens oder eines inhaltlich unbestimmten purum velle zu postulieren, das erst noch der wählenden Entscheidung harrt.3 Die Vorstellung eines vorgängigen Vernunfturteils, auf Grund dessen der zuvor unbestimmte Wille schließlich zu einer Entscheidung geführt wird, findet sich zwar bei Erasmus, wird von Luther hingegen abgelehnt. Wenn man mit Luther daran festhält, dass der Mensch in seinem Innersten affektiv bestimmt ist, und dass darum auch die ratio nur in diesem Kontext ihre Wirkung entfalten kann, dann muss weiterhin auch das Geben und Nehmen von Gründen als von den Affekten bestimmt gedacht werden. Gründe entwickeln dann ihre Wirksamkeit aufgrund ihrer Fähigkeit, die Person zu affizieren. Gegenüber den stärker rationalistisch angelegten Entwürfen wäre dieser Ansatz in der Nähe Harry G. Frankfurts zu sehen. Frankfurt zufolge lassen sich normativ-rationale Fragen nur beantworten, indem man zunächst die faktische Antwort gibt, was jemandem denn überhaupt wichtig ist: Frankfurt sucht Gründe der Liebe. Sie bleiben damit – um zum lutherischen Sprachgebrauch zurückzukehren – auf den Affekt bezogen und ihre Wirkkraft untersteht nicht wiederum der eigenmächtigen Kontrolle der Person. Damit ist im Grunde gesagt, dass die Ausrichtung des Willens durch rationale Deliberation für Luther nicht eine selbständige Handlung sui generis in dem Sinne sein kann, dass die Person hierbei eigenmächtig auf ihren Willen einwirke. Nun ist – wie in III.3.2 gezeigt – zumindest der Gedanke an die subjektive Erfahrung einer offenen Zukunft in Dsa durchaus anzutreffen. Damit verbunden ist für Luther die Notwendigkeit, verantwortlich zu handeln. Ist aber mit dem Verweis auf einen epistemischen Indeterminismus nicht doch gerade ein krypto-libertarisches Konzept von Verantwortlichkeit installiert, weil Verantwortlichkeit dann eben doch an den Umstand geknüpft wird, dass der Mensch sich aktiv zwischen – freilich nur epistemisch bestehenden – Alternativen zu entscheiden habe? Und läuft umgekehrt nicht die Behauptung, was da im Menschen als rationale Handlungsabwägung ablaufe, sei eben keine selbstbestimmte Handlung der Person, darauf hinaus, dass man nach Luther 3 In diese Richtung zielt Klein, Willensfreiheit, 433: „Nichtsdestoweniger müssen aber das jeweilige Wollen oder Wünschen oder auch die jeweiligen Präferenzen nicht nur als etwas passiv oder erratisch Vorgegebenes oder Vorgefundenes betrachtet werden, sondern auch als etwas, zu dem eine gewisse Bewertungsinstanz eingenommen werden kann (Dispensierungskriterium).“

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Fazit

dem Menschen die Illusion einer Selbstbestimmung andichtet, damit er sich verantwortlich fühle? Zwei Dinge sind dazu zu bemerken: Erstens ist nicht einzusehen, warum Alternativerwägungen nur dann als die eigenen zu verstehen sein sollten, wenn sie wiederum als eigenmächtige Handlungen des Subjekts angesehen werden. In seinem Freiheitstraktat stellt Luther die kämpferische Durchsetzung des „neuen“ gegen den „alten Menschen“ als Kampf zweier Willen im Menschen dar, ohne die Person als ganze auf der einen oder anderen Seite dieses Kampfes zu verorten. Der Mensch ist hier weniger selbst Kämpfer als vielmehr Schauplatz der Auseinandersetzung konkurrierender Willen. Dieses Bild von Willenskonflikten hat starke passive Züge, die an Singers distributive Wettkämpfe neuronaler Erregungsmuster erinnern mögen. Dabei steht für Luther aber keineswegs infrage, dass beide konfligierende Willen jeweils der fraglichen Person gehören. Selbst wenn gegenüber Luther also gefordert wird, dass vor Handlungen eine rationale Betrachtung und Bewertung der Alternativen treten soll, müssen diese nicht ihrerseits der aktiven Kontrolle der Person unterliegen, um ihr zugeschrieben zu werden. Auch wenn man die vernünftige Handlungsabwägung ihrerseits wiederum als personale Handlung ansehen wollte, entginge man damit dem Determinismus in Luthers Entwurf nicht. Denn versteht man rationale Deliberation als Handlung, so muss sie auf den Willen der Person zurückzuführen sein, der aber von Luther als immer schon durch die Affekte bestimmter Wille gedacht wird.4 Zweitens findet sich in Dsa der Gedanke, der Mensch müsse handeln, weil ihm die Zukunft ungewiss sei: incerta nobis sunt omnia futura.5 Luther benennt damit die lebensweltliche Erfahrung, dass der Mensch seine Zukunft als nicht festgelegt erlebt. Dass der Mensch sein Leben handelnd zu bewältigen hat und sich vom tätigen Vollzug nicht entpflichten kann, ist für Luther völlig klar. Der Mensch muss handeln in eine offene Zukunft hinein und ist darum auch nicht von der Frage befreit, wie er handeln soll. Dabei entlässt Luther den Menschen aber trotz der mit dem epistemischen Indeterminismus gegebenen Notwendigkeit der Entscheidung nicht aus der Allwirksamkeit Gottes, unter der auch die Entscheidung noch steht. Außerdem ist mit der Offenheit der Zukunft aus menschlicher Perspektive das Bewusstsein gesetzt, dass die eigenen Handlungen Konsequenzen haben. Unter diesem Gesichtspunkt tragen Handlungen Verantwortlichkeit nicht vornehmlich aufgrund von – gedachten oder realen – Handlungsalternativen, sondern weil durch sie in der Zukunft ,Fakten geschaffen‘ werden. Dies gilt umso mehr, insofern nach Luther eine zukünftige Handlung zwar notwendig 4 Im Übrigen verläuft sich die Forderung, Handlungsplanungen hätten an sich selbstbestimmte Handlungen zu sein, im Regress. Eine verantwortliche Person müsste dann grundsätzlich in der Lage sein, zunächst zu überlegen, ob sie überlegen sollte, ob sie so oder anders zu handeln habe. 5 Vgl. WA 18; 747, 2.

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geschehe, ihre Wirkung aber „non habeat essentiam necessariam“. Die futura existieren für den Menschen also noch nicht, sondern werden wirklich durch ihn bzw. seine Handlungen. Für Luther kommt es jedenfalls nicht so sehr darauf an, dass qua ratio eine Variabilität in den eigenen Willen eingetragen wird, sondern letztlich vielmehr darauf, dass eine Person ihren Willen als den eigenen akzeptiert. Dies scheint für Luther grundsätzlich gegeben zu sein, weil der eigene Wille eine Herzensangelegenheit ist. Mit der Übernahme des bestimmten Willens als eigenen sollte die Person zugleich die Verantwortung für ihre Taten übernehmen. Weniger als dies bei Harry G. Frankfurt der Fall ist, scheint Luther dabei im Sinn zu haben, dass die Aneignung des Willens ihrerseits eine aktive Handlung sei. Identifikation mit den eigenen Wünschen ist für ihn keine voluntative Aufgabe, die womöglich sogar unterlassen werden könnte. Der Mensch identifiziert sich nicht so sehr aktiv mit seinen Wünschen, als dass er sich vielmehr als von Gott Identifizierter vorfindet. Dies kann unter dem Gesetz bisweilen die Gestalt haben, dass der Mensch retrospektiv einen solchen Willen als den eigenen zu akzeptieren hat, von dem er sich lieber dissoziieren würde. Auch wenn die Parallele zu Frankfurt durchaus darin besteht, weder die Entstehung von Wünschen, noch überhaupt das Bestehen von Alternativen für die Zuschreibung von Verantwortung einzufordern, sondern auf ein grundsätzlich zustimmendes Dabeisein der Person bei ihren Handlungen abzustellen, sollte folgender Unterschied zwischen Luther und Frankfurt nicht übersehen werden: Luther macht das Dabeisein der Person nicht von einer vorgängigen Aktivität derselben abhängig – ja, vom Gesetz wird der Mensch vielmehr zum gewissenhaften Eingeständnis des willentlichen Vollzugs gebracht. Übernahme von Verantwortung als Identifikation mit dem eigenen Wollen und Handeln ist unter theologischer Perspektive stets als im Gewissen Zur-Verantwortung-Gerufen-Sein zu verstehen. Während moderne Theorien verantwortlicher Urheberschaft also die Selbstreflexion bewusster Personen grundsätzlich voraussetzen, ist Luthers Willenskonzept dagegen stärker darauf konzentriert, dass der menschliche Wille stets auf Äußeres bezogen und von diesem bestimmt ist. Ist damit also zunächst ausgesagt, dass der Mensch aufgrund seiner Bezogenheit auf Äußeres in seinem Innersten festgelegt ist, er in seinem Kern folglich zu einem distanzierten Selbstverhältnis gerade nicht in der Lage ist, so gerät das Selbstverhältnis des Menschen keineswegs aus dem Blickfeld. Da dieses Selbstverhältnis aber nicht ohne das Verhältnis zu anderen Personen sein kann, kann es auch nur im Spannungsfeld von Fremd- und Selbstverhältnis zur Übernahme eigener Verantwortung gegenüber anderen Personen kommen. Luther hat diesen Punkt, dass Verantwortung allein durch ihre Übernahme auf Seiten des Menschen besteht, deutlich gesehen und an dieser Stelle das Selbstverhältnis der Person im Begriff des Gewissens konzentriert. Mit der Selbstbeurteilung des Menschen im Gewissen ist für Luther zudem das Gesetz

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Fazit

– und damit eine bestimmte Qualität der personalen Externbeziehung – untrennbar verknüpft.

4.2 Gesetz und Gewissen Die rein naturalistische Anthropologie krankt insgesamt am Mangel eines normativen Standpunktes zur Beurteilung von Verhaltensweisen, sofern von einem solchen erwartet werden darf, dass er zumindest in seinem Kern nicht dem evolutionsgeschichtlichen Relativismus preisgegeben sein darf. Obwohl ich in 2.2.1.2 zu zeigen versucht habe, dass etwa Singers Vorstellung von Verantwortungszurechnung unter bestimmten Korrekturen tragbar wäre, weil auch sein Konzept des menschlichen Selbstmodells auf der vermittelten Personalität sozial interagierender Wesen fußt, meine ich doch, dass die Zuschreibung von Verantwortung bei Singer an diesem Punkte scheitern muss : Woher kommt nämlich der Maßstab, nach dem „die Gesellschaft“ berechtigt wäre, individuellen Delinquenten Strafe oder Verhaltensvorbildern Lob zukommen zu lassen ? Dass Singer Begriffe wie „normales“ oder „abweichendes Verhalten“ in Anführungszeichen setzt, mag als Hinweis zu werten sein, dass er sich des Verlustes eines festen moralischen Standpunktes durchaus bewusst ist.6 In dieselbe Richtung weist auch seine Einschätzung, das Gewissen sei ein sozial relevantes – aber neuronal definierbares – Phänomen.7 Wird Moral in der Weise naturalisiert, dass sie in die Evolutionsgeschichte – auch wenn dann von sozialer Evolution die Rede sein mag – rein deskriptiv eingepasst wird, so ergeben sich m. E. zwei Folgen für die Zuschreibung von Verantwortung durch die Gesellschaft. Die Legitimation der geltenden Moral einer lokal und zeitlich begrenzten Gesellschaft und damit die Vertretung für richtig erkannter Maßstäbe nach außen wird damit ebenso unmöglich, wie die Kritik und Veränderung nach innen durch Individuen oder Teilgruppen. Einerseits wird der geltende Maßstab, was als richtig und was als falsch zu bewerten ist, durch ein solches naturalistisches bottom-up-Verständnis moralischer Normen, in dem normative Systeme Teil des evolutionsgeschichtlichen status quo sind, sowohl in zeitlicher als auch in räumlicher Hinsicht relativiert. So wird mit der Behauptung, dass normative Systeme einzig auf kulturell evolvierten Konventionen beruhen, eine allgemein zu vertretende 6 Vgl. Singer, Verschaltungen, 64. 7 „Mentale Akte wie das Mitempfinden des Leids anderer, das Haben eines schlechten Gewissens, das Unterdrücken einer Reaktion, die Mißempfindung sozialen Ausgeschlossenseins oder die Verurteilung einer unfairen Handlung anderer, all diese intrapsychischen Vorgänge, die ihre Relevanz erst in bezug auf andere erfahren, beruhen auf der Aktivierung wohldefinierter neuronaler Strukturen. […] Somit beeinflussen kulturelle Verabredungen und soziale Interaktionen Hirnfunktionen im gleichen Maße wie alle anderen Faktoren, die auf neuronale Verschaltungen und die auf ihnen beruhenden Erregungsmuster einwirken.“ (Singer, Verschaltungen, 55).

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Norm ausgeblendet, weil ebendiese Behauptung ausschließlich deskriptiv zu sein beansprucht und darum selbst keinen normativen Gehalt haben kann. Kritik an abweichenden Vorstellungen anderer Gesellschaften ist dann schlecht möglich. Die Kritik etwa an Menschenrechtsverletzungen in anderen Kulturen könnte sich also entweder lediglich auf eine relativ hohe Zustimmung mancher Gesellschaften zur Erklärung der Menschenrechte berufen oder müsste insgesamt als Kulturimperialismus betrachtet werden. Andererseits ist dieses naturalistische bottom-up-Verständnis zugleich geeignet, das Individuum unter die Herrschaft der geltenden Moral zu zwingen, Kritik am gegenwärtigen eigenen Standpunkt fernerhin zu unterbinden. Wenn nach Singer Lob und Strafe abhängig sind von angepasstem oder unangepasstem Verhalten, dann bleibt das Individuum verpflichtet auf einen gesellschaftlichen Konsens, den es nicht hinterfragen kann, und wird bei gesellschaftlich definiertem Fehlverhalten von einer Gesellschaft sanktioniert, die ihrerseits das Produkt eines Naturprozesses ist. Der Kritikpunkt, das Individuum sei hier ausschließlich Adressat fremder Forderungen, hängt wesentlich an der Vorstellung, gesellschaftliche Normen entstünden im Zuge eines Prozesses, auf den Personen als Interagenten keinen Einfluss hätten. Jürgen Habermas’ Konzept der innerhalb der Naturgeschichte vergesellschafteten Kognition von Artgenossen bietet eine Entstehungsgeschichte des Geistes, infolge derer die individuelle Übernahme von Gründen aus dem sozialen Raum eine Willensbestimmung durch bewusste Gründe erlaubt. Diese soll Habermas zufolge den Menschen über einen einfachen naturgesetzlichen Determinismus hinausheben. Habermas’ Argument läuft darauf hinaus, dass im sozialen Universum der Gründe, in welchem der individuell-subjektive Geist wesentlich verankert ist, eine rein szientistische Beschreibung von Handlungen als Ereignissen unmöglich sei. Verpflichtet nicht auch das Entleihen von Gründen aus dem gemeinschaftlich geteilten Raum der Gründe den Handelnden wiederum zur Darreichung von Gründen für seine Handlung gegenüber der Gemeinschaft? Habermas stellt darauf ab, dass eine Beschreibung von personalen Handlungen nicht vollständig sein kann, sofern in szientistischer Sprache der Aspekt der normativen Rechtfertigung ausgeblendet wird. Wenn man beschreibt, wie eine Person etwas getan hat, was sie nicht gewollt hat und was sie auch nicht hätte tun sollen, dann beschreibt man sie – aber eben nicht so wie ein naturwissenschaftliches Objekt. Denn in die Beschreibung von Personen gehen stillschweigend Momente des vorwissenschaftlichen Selbstverständnisses von sprach- und handlungsfähigen Subjekten ein. Wenn wir einen Vorgang als die Handlung einer Person beschreiben, wissen wir beispielsweise, dass wir etwas beschreiben, das nicht nur wie ein Naturvorgang erklärt, sondern erforderlichenfalls auch gerechtfertigt werden kann. Im Hintergrund steht das Bild von Personen, die voneinander Rechenschaft fordern können, die von Haus aus in normativ geregelte

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Fazit

Interaktionen verwickelt sind und sich in einem Universum öffentlicher Gründe begegnen.8

Dass der Mensch als Person „von Haus aus in normativ geregelte Interaktionen verwickelt“ ist, kommt bei Luther in den Begriffen des Gewissens und des Gesetzes zur Sprache. Nun ist Habermas seinerseits freilich nicht an einer religiösen Deutung der normativen Zusammenhänge, genauer an Gesetz und Gewissen, interessiert, sondern an der säkularen Gestaltung dieser menschlichen Interaktionen im demokratischen Staat. Gegenüber der normativen Identifikation des Geschöpfes – zwar auch in weltlichen Zusammenhängen, vor allem aber : – durch den Schöpfergott postuliert Habermas die Gestaltung der normativen Interaktion allein auf dem Boden detranszendentalisierter Verhältnisse. Er geht dabei vom Faktum einer sprachlich strukturierten öffentlichen Vernunft aus und gründet das Ideal eines liberalen demokratischen Staates auf die Fähigkeit der Staatsbürger, im gemeinsamen Gebrauch der Vernunft zu den Autoren ihrer eigenen Gesetze zu werden. Mit der Rolle als Mitgesetzgeber sind dann natürlich höhere Anforderungen an die Staatsbürger verbunden als es der Fall wäre, wenn dieselben lediglich die Adressaten der zu befolgenden Gesetze wären.9 Obwohl Habermas also ebenfalls ein bottom-up-Prinzip der normativen Vernetzung erkennt, liegen die Dinge hier anders als bei den strengen Naturalisten. Die Staatsbürger sollen hier vernünftige Co-Autoren ihrer Gesetze sein und bleiben nicht Adressaten einer im Naturprozess entstandenen Moral. Obwohl Habermas eine religiös begründete Ausgestaltung der Gemeinschaft völlig fern liegt10, weshalb er innerhalb der staatlichen Institutionen keine religiösen Argumente für zulässig erachtet, wertet er den Beitrag religiöser Vorstellungen zum demokratischen Diskurs insgesamt durchaus positiv, sofern es religiösen wie säkularen Teilnehmern gelingt, religiöse Sprache kooperativ in säkulare Argumente zu übersetzen.11 Der weltanschaulich 8 Habermas, Glauben, 18 f. 9 „Anders als mit dem Gehorsam gegenüber zwingenden Freiheitsgesetzen verhält es sich mit den Motivationen und Einstellungen, die von Staatsbürgern in der Rolle demokratischer Mitgesetzgeber erwartet werden.“ (Habermas, Grundlagen, 109). 10 „Die Mehrheitsherrschaft verwandelt sich in Repression, wenn eine religiös argumentierende Mehrheit im Verfahren der politischen Meinungs- und Willensbildung der unterlegenen säkularen oder andersgläubigen Minderheit den diskursiven Nachvollzug der ihr geschuldeten Rechtfertigungen verweigert. Das demokratische Verfahren verdankt seine legitimitätserzeugende Kraft neben der Inklusion aller Beteiligten seinem deliberativen Charakter; denn darauf stützt sich die begründete Vermutung rationaler Ergebnisse in the long run.“ (Habermas, Öffentlichkeit, 140). 11 „Die Bürger sollen sich, trotz ihres fortdauernden Dissenses in Fragen der Weltanschauung und der religiösen Überzeugung, als gleichberechtigte Mitglieder ihres politischen Gemeinwesens gegenseitig respektieren; und auf dieser Basis staatsbürgerlicher Solidarität sollen sie in Streitfragen eine rational motivierte Verständigung suchen – sie schulden einander gute Gründe.“ (Habermas, Öffentlichkeit, 126). Die Notwendigkeit einer „Übersetzung“ religiöser in säkulare Gründe sieht Habermas nicht für alle religiösen Bürger gegeben, sehr wohl aber für alle

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neutrale Staat einer postsäkularen Gesellschaft ist dabei auf das bottom-upPrinzip einer Gesetzgebung angewiesen, nach dem religiöse und säkulare Bürger gemeinsam um die Richtung ringen. Und hierbei haben religiöse Einstellungen sowohl aufgrund ihrer motivationalen Kraft – denn der Staat kann bestimmte notwendige vorpolitische Einstellungen seiner Bürger nicht erzwingen12 – als auch aufgrund inhaltlicher Potentiale ihre von säkularen Bürgern anzuerkennende Berechtigung.13 Prima facie spiegelt sich im Gewissensbegriff Luthers dagegen vor allem die Adressatenschaft des Menschen gegenüber dem Gesetz wider. Gegenüber der kooperativen Autorschaft staatsbürgerlicher Gesetzgeber scheint die lutherische Deutung des Gewissens und des Gesetzes, wenn sie einen schlichten topdown-Positivismus – das göttliche Gesetz ist dem Menschen ins Herz geschrieben und wird im Gewissen als vox Dei legis hörbar – vermeiden will, auf den ersten Blick eine nur der Form nach mögliche Gesetzeserfahrung zu vertreten: In der Stellung des Individuums zur Gemeinschaft geht dem Einzelnen Gottesbewusstsein in Form der Forderung auf. Dieses Verständnis des Politiker innerhalb staatlicher Institutionen, die aufgrund der weltanschaulichen Neutralität des Staates zur säkularen Sprache verpflichtet sind. (Vgl. Habermas, Öffentlichkeit, 133ff). 12 „Die Bereitschaft, für fremde und anonym bleibende Mitbürger gegebenenfalls einzustehen und für allgemeine Interessen Opfer in Kauf zu nehmen, darf Bürgern eines liberalen Gemeinwesens nur angesonnen werden. Deshalb sind politische Tugenden, auch wenn sie nur in kleiner Münze ,erhoben‘ werden, für den Bestand einer Demokratie wesentlich. […] Der Staatsbürgerstatus ist gewissermaßen in eine Zivilgesellschaft eingebettet, die aus spontanen, wenn man so will ,vorpolitischen‘ Quellen lebt.“ (Habermas, Grundlagen, 110) Habermas meint zwar, der Staat könne grundsätzlich seine motivationalen Voraussetzungen auch aus den nicht-religiösen Beständen gewinnen (vgl. Habermas, Grundlagen, 110), schließt aber andere als säkulare Motivationen nicht aus bzw. ausdrücklich ein: „Eine entgleisende Modernisierung der Gesellschaft im Ganzen könnte sehr wohl das demokratische Band mürbe machen und die Art von Solidarität auszehren, auf die der demokratische Staat, ohne sie rechtlich erzwingen zu können, angewiesen ist.“ (Habermas, Grundlagen, 111 f.) Und schließlich folgert Habermas: „So liegt es auch im eigenen Interesse des Verfassungsstaates, mit allen kulturellen Quellen schonend umzugehen, aus denen sich das Normbewusstsein und die Solidarität von Bürgern speisen. Dieses konservativ gewordene Bewusstsein spiegelt sich in der Rede von der ,postsäkularen Gesellschaft‘.“ (Habermas, Grundlagen, 116). 13 „Im Gegensatz zur ethischen Enthaltsamkeit eines nachmetaphysischen Denkens, dem sich jeder generell verbindliche Begriff vom guten und exemplarischen Leben entzieht, sind in heiligen Schriften und religiösen Überlieferungen Intuitionen von Verfehlung und Erlösung, vom rettenden Ausgang aus einem als heillos erfahrenen Leben artikuliert, über Jahrtausende hinweg subtil ausbuchstabiert und hermeneutisch wach gehalten worden. Deshalb kann im Gemeindeleben der Religionsgemeinschaften, sofern sie nur Dogmatismus und Gewissenszwang vermeiden, etwas intakt bleiben, was andernorts verloren gegangen ist und mit dem professionellen Wissen von Experten allein auch nicht wiederhergestellt werden kann – ich meine hinreichend differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten und Sensibilitäten für verfehltes Leben, für gesellschaftliche Pathologien, für das Misslingen individueller Lebensentwürfe und die Deformation entstellter Lebenszusammenhänge. Aus der Asymmetrie der epistemischen Ansprüche lässt sich eine Lernbereitschaft der Philosophie gegenüber der Religion begründen, und zwar nicht aus funktionalen, sondern […] aus inhaltlichen Gründen.“ (Habermas, Grundlagen, 115).

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Gesetzes kann sich dann – dies zeigt sich etwa bei Emanuel Hirsch – nicht auf einen inhaltlich bestimmten Kodex beziehen, sondern muss sich auf eine formale Struktur der Gesetzeserfahrung im Subjekt beschränken. Trägt es damit nicht einerseits einen ebenso relativistischen Zug wie etwa der evolutionstheoretische Ansatz? Und droht ihm nicht andererseits die theologische Überhöhung einer historisch-konkreten Gestalt des Gesetzes, also der Fehler einer unstatthaften Transzendentalisierung der weltlichen Ordnung? Eine derartige bottom-up-to-the-top-Deutung der gesellschaftlich geltenden Moral wäre zu Recht dem Vorwurf ausgesetzt, die zeitliche Gestalt gegen verändernde Kritik zu immunisieren und das Individuum an die Gemeinschaft gleichsam auszuliefern. Es bedarf anscheinend bei aller erforderlichen Flexibilität der konkreten Ausgestaltung doch eines Gesetzeskerns, der nicht verhandelbar ist, und der einerseits zur Kritik und andererseits zur Legitimation der jeweils gegenwärtigen Gestalt des Rechts befähigt. Bei Jürgen Habermas jedoch ist eine Art vorpolitische Substanz des Politischen aufgegeben, da im Gebrauch der öffentlichen Vernunft das demokratische Verfahren als „Methode zur Erzeugung von Legitimität aus Legalität“14 zu verstehen sei. Er geht also davon aus, „dass die Verfassung des liberalen Staates ihren Legitimationsbedarf selbstgenügsam, also aus den kognitiven Beständen eines von religiösen und metaphysischen Überlieferungen unabhängigen Argumentationshaushaltes bestreiten kann.“15 Gleichwohl meint Habermas offensichtlich, dass eine rationale Gesetzgebung grundsätzlich bestimmte Werte wie Gerechtigkeit oder Solidarität nicht aufgeben kann. Der Staat ist gleichsam zur Selbsterhaltung des demokratischen Verfahrens auf die Gewährleistung von bestimmten Grundrechten angewiesen.16 Mit dem und für den Gebrauch der Vernunft scheint also auch für Habermas ein schwach-inhaltlicher normativer Hintergrundkonsens gegeben zu sein.17 Zudem verweist das historische Argument von komplex vernetzten Erbschaftsverhältnissen zwischen Philosophie und Theologie18 auch auf die Übernahme originär religiöser Vorstellungen in die Philosophie – und vice versa –, so dass die Vernunft aufgrund ihrer Genealogie wohl daran tut, auf die Innovationspotentiale religiöser Überlieferungen nicht von vornherein rationalistisch-abstoßend zu reagieren. Es wäre unvernünftig, a priori den Gedanken von der Hand zu weisen, dass die Weltreligionen – als das einzige überlebende Element aus den fremd gewordenen Kulturen der Alten Reiche – innerhalb des differenzierten Gehäuses der Moderne einen Platz behaupten, weil ihr kognitiver Gehalt noch nicht abgegolten ist. Jedenfalls ist nicht auszuschließen, dass sie semantische Potentiale mit sich führen, die eine 14 15 16 17 18

Habermas, Grundlagen, 109. Habermas, Grundlagen, 109. Vgl. Habermas, Grundlagen, 108. Vgl. u. Anm. 22. Vgl. Habermas, Öffentlichkeit, 148.

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Gesetz und Gewissen

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inspirierende Kraft für die ganze Gesellschaft entfalten, sobald sie ihre profanen Wahrheitsgehalte preisgeben.19

Als historisches Argument lässt sich die genealogische Vernetzung von Religion und Vernunft freilich nur höchst indirekt für einen normativen Kernbestand der politischen Gestaltung verwerten – den Habermas eben auch nicht für nötig erachtet. Auf dem Gebiet der Theologie kann demgegenüber in der Frage eines normativen Nukleus unbefangener aus anderen Quellen geschöpft werden. Für das Luthertum liegt etwa das Doppelgebot der Liebe als solch ein unverrückbarer Kern nahe. Dieser wird dann allerdings sehr wohl von der Theologie als top-down-Setzung göttlichen Gesetzes gedeutet werden müssen. Von hier aus zeigt sich allerdings, dass rein formale Gesetzeserfahrung und göttliche Setzung nicht unbedingt ein Widerspruch sein müssen. Das Doppelgebot als Kern – oder als lex naturae – kann nur in der Konkretheit der jeweiligen Situation einen konkreten Inhalt erzeugen. Das Gewissen hat also keinen positiv regulativen Inhalt, sondern ist nur eine Größe, die durch die Affekte das Vorhandensein und die Wirksamkeit des natürlichen Gesetzes bezeugt und danach urteilt. Die Gesetzesforderung stellt sich also nie isoliert im Inneren des Menschen – das geht schon gar nicht, weil sich im Herzen ja alle auf äußeren Erfahrungen beruhenden Affekte bilden und damit schon Inneres und Äußeres zusammengefaßt ist –, sondern immer durch die Konfrontation mit den Dingen und Einzelvorgängen in Beruf und Stand.20

Weder die Existenz einer rein formalen Notwendigkeit von Regeln, noch eine inhaltlich bestimmte Maßgabe solcher Regeln kann jedoch von einem vorgeblich rein objektiv-deskriptiven Naturalismus begründet werden: Menschen sollen sich demzufolge nicht etwa in sozialen Strukturen organisieren und sich dazu Regeln geben; sie tun es – und zwar in einem Naturprozess. Wie sich diese Regeln dann außerdem im Weiteren darstellen, muss dem Naturalisten konzeptionell egal sein. Habermas notiert hierzu: Diese Art radikaler Naturalismus entwertet alle Typen von Aussagen, die sich nicht auf experimentelle Beobachtungen, Gesetzesaussagen oder kausale Erklärungen zurückführen lassen – also moralische, rechtliche und evaluative Aussagen nicht weniger als religiöse. […] Eine in den Alltag einwandernde naturalistische Selbstobjektivierung sprach- und handlungsfähiger Subjekte ist jedoch mit jeder Idee von politischer Integration unvereinbar, die Bürgern einen normativen Hintergrundkonsens unterstellt.21

Luthers Gewissensbegriff stellt sich, wie gezeigt, darin als mit modernen nicht-religiösen Anthropologien vereinbar dar, dass hier wie dort auf eine mit 19 Habermas, Öffentlichkeit, 149. 20 Schloemann, Gesetz, 78. 21 Habermas, Öffentlichkeit, 148.

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dem Personsein zugleich gesetzte normative Einbindung des Individuums in personale Beziehungen hingewiesen wird. Damit ist des Weiteren die Aufgabe der bewussten Gestaltung sozietärer Strukturen gegeben. In diesem Zusammenhang ist allerdings auf eine Besonderheit des Gewissensbegriffs bei Luther hinzuweisen: Luther hat sich von der traditionellen Vorstellung verabschiedet, das Gewissen habe eine willens- oder handlungssteuernde Funktion für den Menschen. Wenn nach Habermas aus der sprachlichen Interaktion die normative Verwicklung in soziale Zusammenhänge gleichursprünglich mit der Fähigkeit zur Handlungsbestimmung durch Gründe entspringt, so muss für Luther betont werden, dass das Gewissen des Menschen eine ausschließlich beurteilende Funktion des Selbstverhältnisses darstellt. Zwar ist damit gesagt, dass sprachliches Selbstverhältnis und Selbstbeurteilung eines sind: Wo Person ist, ist auch Gewissen und darum auch Gesetz. In diesem Licht ist Luthers Rede von der lex naturae zu sehen.22 Doch ein sich selbst zu Willenshandlungen bestimmendes Selbstverhältnis ist mit dem Gewissensbegriff bei Luther gerade nicht angesprochen. Vielmehr erscheint das Gewissen zeitlich in die Vergangenheit gerichtet: Seine Funktion ist hier nicht verantwortungsvolle Handlungsplanung, sondern Übernahme der Verantwortung für erfolgte Handlungen. Da das Urteil des Gewissens davon bestimmt ist, von welchem äußeren Wort der Mensch angeredet wird, ist des Weiteren auf die eigentlich zentrale Bedeutung des Gewissens bei Luther zu verweisen. Denn das Gewissen soll nach Luthers Verständnis der Ort der Gottesbeziehung sein und geht darum nicht in einer säkular bestimmten Selbstbeurteilung vor gesellschaftlichen Maßstäben auf. Hier darf nun nicht allzu vorschnell das Evangelium in seiner gewissenbefreienden Wirkung einrücken. Das sich coram mundo beurteilende Gewissen bedarf zunächst der besonderen Aufklärung: der Positionierung coram Deo durch die explizite Verkündigung des göttlichen Gesetzes. Insofern verschränken sich im Menschenbild Luthers zwei unterschiedliche Sichtweisen: Der Theologe sieht einen Menschen, der sein weltliches Leben auch coram Deo lebt.

22 Unberührt lasse ich die Frage, ob dann mit dem Gewissen eine natürliche Gottes- und Gesetzeserkenntnis angesprochen ist. Nach Martin Schloemann, der eigentlich eine natürliche Theologie bei Luther ausschließt, „umfaßt die lex naturae nicht etwa nur die zweite, ,ethische‘ Relation, sondern auch die ,religiöse‘. Sie fordert Gottesliebe sowohl als Nächstenliebe. Denn die Gottesvorstellung impliziert ja als solche Totalität und beansprucht somit eo ipso eine Ausweitung auch auf das ganze Weltverhältnis des Menschen. Darum sind es eigentlich auch nicht zwei verschiedene Forderungen, sondern vielmehr ein natürliches Gesetz, welches den Menschen in zwei Relationen fordert und bindet.“ (Schloemann, Gesetz, 73 f.) „Gotteserkenntnis“ kann die natürliche Gesetzeserfahrung im Gewissen freilich nur im uneigentlichen Sinne genannt werden, sofern im Gewissen „höchste Wertvorstellungen“ o. ä. wirken.

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Perspektivwechsel oder Perspektivenverschränkung

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4.3 Perspektivwechsel oder Perspektivenverschränkung Die Zweiheit der Perspektiven innerhalb der theologischen Anthropologie Luthers ist in signifikanter Hinsicht völlig anders gelagert als diejenige der gegenwärtigen Diskussion: Denn während mittels der gegenwärtig erörterten Perspektivfrage das Leib-Seele-Problem verhandelt wird, spielt dieses in der Theologie Luthers zunächst weder für die Sichtweise auf den Menschen in der Welt noch für dessen Sein coram Deo eine Rolle. Sowohl die Begrifflichkeit der Ersten- bzw. Dritten-Person-Perspektive, als auch die Rede von Teilnehmerund Beobachterperspektiven zielen letztlich ab auf eine sprachliche Fassung der Grundproblematik, dass Menschen geistige Personen und außerdem unbestreitbar naturhafte Körperwesen sind. Die Dualismus-Frage soll auf den Menschen bezogen und innerhalb der Welt beantwortet werden. Für Luther kommt es dagegen nicht auf die anthropologische Verhältnisbestimmung von Körper und Geist an. Da der Mensch aber auch nach Luthers Überzeugung zweifach zu beschreiben ist, da er also „super terram“ und „in coelo coram Deo“ zu betrachten ist, könnte man hier in Aufnahme des Habermas’schen Sprachgebrauchs ebenso von einem nicht-hintergehbaren Perspektivendualismus reden – ohne die deutlichen Differenzen zwischen beiden Kontexten übersehen zu dürfen. Denn nach Habermas ergibt sich jene Perspektivenverschränkung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive innerhalb der Naturgeschichte dadurch, dass überhaupt nur mittels der Kommunikation sozialer Wesen die Welt auf Distanz gebracht wird. Dadurch, dass Rede über die Welt stets als Rede endlicher Subjekte miteinander stattfindet, verschränken sich die beiden Perspektiven derart unauflösbar, dass Habermas es für ausgeschlossen erklärt, eine vollständige Selbstobjektivierung, also eine rein beobachtende Selbstsicht unter Ausblendung der Teilnehmerperspektive sei überhaupt möglich. Jenen unvermeidbaren epistemischen Dualismus macht Habermas gegenüber den neurobiologischen Versuchen stark, die Perspektive der Ersten Person vollständig in die objektive Dritte-Person-Perspektive zu überführen: Gegen einen Wechsel der Perspektiven setzt Habermas deren Verschränkung. Er bestreitet dabei zwar nicht die monistische Intuition, der zufolge wir uns als Naturwesen in einem kohärenten Universum verstehen, kritisiert jedoch einen „voreiligen Monismus“ und verneint außerdem die Möglichkeit, einen festen Standpunkt zu finden, von dem aus wir uns selbst völlig objektiv als solche rein deskriptiv erfassbaren Naturwesen erkennen könnten. Wie in Abschnitt 2.2.1.2 gezeigt, liefern Singers Darlegungen einen anschaulichen Beweis für diese These Habermas’. Denn gerade die Schwierigkeit, ,das Selbst‘ gänzlich zugunsten ,des Gehirns‘ aufzugeben, erweist sich als potentieller Stolperstein des strikten Naturalismus. Wenn sich dann aus dieser Schwierigkeit wiederum falsche dualistische Intuitionen speisen, gerät die Körpergebundenheit des Bewusstseins zu einer freiheitseinschränkenden Erkennt-

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nis. Das Problem der Thesen Singers ist also nicht der universale Monismus, sondern ein beharrlich vorausgesetzter latenter Cartesianismus, der anfangs die Perspektiven der Ersten und Dritten Person als unvereinbar nebeneinander stehend behauptet und daraufhin die naturwissenschaftliche Sichtweise für die richtige erklärt. In den Grenzen des endlich dimensionierten Geistes den epistemischen Standpunkt vollständiger Selbstobjektivierung zu bestreiten, hat für Habermas nun gerade nicht zum Ziel, im Nachgang etwa doch mit der monistischen Überzeugung zu brechen, dass wir Naturwesen sind. Habermas will nicht zurück zu einem Transzendentalismus, der die intersubjektiven Bedingungen der objektiven Welterkenntnis gegen empirische Forschung immunisiert. Doch die detranszendentalisierte Vernunft sperrt sich ihm zufolge, gerade weil sie nicht vom Himmel gefallen ist, gegen ihre vollständige Aufhebung in einer rein szientistischen Beschreibung. Der naturalistischen Intuition wird hier insoweit Rechnung getragen, dass die Entwicklung des nunmehr irreduziblen Geistes naturgeschichtlich eingepasst wird. Habermas kritisiert objektivistische Beschreibungstendenzen darum als die Okkupation eines „fiktiven Nirgendwo“. Das Ergebnis ist ein methodologisch notwendiger Dualismus bei gleichzeitiger Behauptung eines ontologischen Monismus. Gegenüber dem postmetaphysischen Denken Habermas’ lässt sich aus theologischer Sicht die Wirklichkeit genau jenes Standpunktes behaupten, dem – wenn man so will – reine Objektivität zukommt. Eine solche theologische Auffassung widerspricht damit freilich dem Immanenzmonismus, indem sie die Wirklichkeit Gottes – und insofern einen Dualismus zwischen Gott und Welt – postuliert. Jedoch darf nicht übersehen werden, dass dadurch nicht etwa die Welt selbst dualisiert würde. Luther stellt der Welt eine andere Wirklichkeit entgegen – und denkt innerhalb dieses Bezugsrahmens monistisch über die Natur. Während Habermas sich also gegen eine „ins Absolute erweiterte[], die Perspektiven aller übrigen Subjekte in sich aufnehmende[] Erste-Person-Perspektive“23 wendet, ergeben sich für die theologische Anthropologie aus dem monistischen Begriff göttlicher Allmacht Konsequenzen, die zumindest im Hinblick auf die Determinismusfrage den Thesen Singers ähneln. Wenn Luther in Dsa konsequent schöpfungstheologisch folgert, dass in der Welt nichts geschehe, was nicht im Willen Gottes seine Ursache habe, so ist damit beansprucht, dass die Schöpfung dem objektiven Blick und der unhinderbaren Wirksamkeit des Schöpfers unterstellt ist; in ähnlicher Weise scheint auch Singer aufgrund seines naturwissenschaftlichen Monismus einen naturgesetzlichen Determinismus zu vertreten. Und so wie sich die Behauptung eines Naturdeterminismus bei Singer auch auf die bewussten Prozesse von Personen ausdehnen soll, so ergibt sich Luthers Rede vom servum arbitrium des Menschen geradewegs aus dem Gedanken der omnipotentia Dei. In der gegenwärtigen Geist-Leib-Debatte eine harte monistische Position 23 Habermas, Sprachspiel, 302.

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Perspektivwechsel oder Perspektivenverschränkung

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zugunsten des Naturalismus zu vertreten, führt aber ganz andere Implikationen mit sich, als Luthers theologischer Monismus. Denn die Sicht auf den Menschen als vor Gott Gestellten bestreitet sein weltliches Dasein weder als Illusion, noch erklärt sie die beiden Bereiche des Welt- und Gottesverhältnisses für unvereinbar nebeneinander stehend. Vielmehr bleibt das Sein des Menschen in der Welt schöpfungstheologisch bewahrt in der Sichtweise des Menschen vor Gott: Die theologische Anthropologie erblickt den Menschen darum in nicht-hintergehbar verschränkten Perspektiven. Denn sie sagt über den Menschen einerseits, dass er zur Welt gehöre. Und sie sagt außerdem, dass er als zur Welt Gehöriger sein Leben vor Gott führt und zu ihm gehört. Sie nimmt dabei im Übrigen trotz der Behauptung eines theologischen Determinismus ganz im Sinne Habermas’ ernst, dass am Orte des endlichen Subjekts keine vollständige Objektivierung – keine Okkupation des göttlichen Standpunktes – stattfinden kann. Der Mensch kann sich nicht selbst völlig objektivieren, so wie Gott dies kann. Anders als Habermas hält sie aber an der Wirklichkeit jener objektivierenden Perspektive fest – und an der Möglichkeit der inhaltlichen Mitteilung jener göttlichen Fremdperspektive an das endliche Subjekt. Denn der von Habermas bestrittene transzendentale Standpunkt wird von der lutherischen Theologie nicht mit einem abstrakten Gottesgedanken besetzt, sondern mit dem durch Gesetz und Evangelium redenden Gott. Was heißt das für den Menschen in seinem subjektiven Verhältnis zu Gott und zur Welt? Dazu ist zunächst erneut zu betonen: Der wesentliche Unterschied zur aktuellen Perspektivdebatte ist, dass eine Theologin dabei nicht in die Not gerät, wie sie mit der mentalen Dimension des Menschseins umgehen soll, wenn sie ihre Anthropologie innerhalb eines theologischen Monismus formuliert. Gerade indem Luther auf das Wort als Medium des Gottesverhältnisses abstellt, ergibt sich eine gewisse Nähe zur gegenwärtig von Habermas vertretenen Position, dass in personaler Beziehung durch Sprache eine Art objektiver und subjektiver Geist bestehe, und dass in diesen Beziehungen ein normativer Anspruch stets mitgesetzt sei. Darum kommt es – anders als bei der Perspektivenverschiebung seitens der Hirnforschung – durch einen theologischen Monismus gerade nicht zum Verlust der normativen Einbindung. Im Gegenteil kann der theologische Ansatz darüber hinaus behaupten, dass der normative Anspruch im Gewissen aus dem säkularen Erleben in eine religiöse Deutung überführt werden kann und soll. Und mehr noch: Er behauptet, dass in einem personalen Verhältnis zwischen Geschöpf und Schöpfer der Mensch bis zu einem gewissen Grad informiert wird über die objektive Gottesperspektive. So gelangt der Mensch durch seine Positionierung vor Gott im Gewissen zu einer theory of mind, mit der er sich selbst aus jener Fremdperspektive zu Gesicht bekommt. Nun ist es gerade charakteristisch für die im Gewissen angeklagte Existenz, dass ihr die Verschränkung der Perspektiven – denn trotz jener Fremdperspektive weiß der Mensch sich ja in der Welt – zum Misslingen beider Beziehungen gereicht.

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Die Perspektivenverschränkung kann sich also auch als Perspektivenverwirrung darstellen. In einer Art unversöhnter Perspektivenverschränkung gerät dem auf die Eigenständigkeit seines weltlichen Daseins fixierten Menschen das Wissen um die Allwirksamkeit Gottes einerseits und um den Anspruch des Gesetzes andererseits zum Verhängnis – zu einem Vernunftdilemma. Denn dass normativer Anspruch und Determinismus gleichermaßen in Gott begründet liegen, erscheint ihm unvereinbar. Entweder sieht er sich in der Not, sein weltliches Dasein auf die Gestaltung seines Gottesverhältnisses auszurichten – dann muss er von Gottes Allmacht Abstriche machen. Oder er hält an der Allmacht fest, ist aber andererseits unfähig, sich diese Determinante derart anzueignen, dass sie ihre Fremdheit für ihn verlöre – dann muss er den Anspruch Gottes als ungerecht von sich weisen. Die Spannung aber zwischen Gesetz und Allwirksamkeit, das Ärgernis, dass das Sollen bleibt, das eigene Können aber verneint wird, führt auf beiden Wegen in die Verzweiflung. Das Gewissen findet vor dem urteilenden und allwirksamen Gott keine Ruhe. Die Argumentation des Erasmus zeugt von eben diesem Protest. Wenn Welt- und Gottesverhältnis beiderseits gelingen sollen, kommt es darauf an, dass die Verschränkung der Perspektiven, die der Mensch nicht einfach zugunsten der einen oder der anderen Perspektive verschieben kann, in Ordnung gebracht wird.

4.4 Freiheit und Evangelium Dass die doppelte Relation des Menschen zur Welt und zu Gott in Ordnung kommt, ist nach Luther eine Frage des Glaubens. Beide Relationen wahrzunehmen und beide zu ihrem jeweiligen Recht kommen zu lassen, ohne sie auseinanderzureißen – das kann mit Luther als die Freiheit eines Christenmenschen bezeichnet werden. Diese Freiheit wäre dann charakterisiert als die gelungene Verschränkung zweier Perspektiven im Lebensvollzug des Christen. Ein Gelingen der Perspektivenverschränkung ist aber nur dann gewährleistet, wenn die beiden Perspektiven zunächst sauber unterschieden und dann in einem zweiten Schritt aufeinander bezogen werden. Der erste Schritt zu einer solchen ,versöhnten‘ Perspektivenverschränkung ist es daher, das menschliche Tun von der Gestaltung des Gottesverhältnisses auszuschließen, es von der Gesetzesforderung zu befreien. Und zugleich muss das Gottesverhältnis ins Gelingen gesetzt werden, ohne nun doch auf ein Können bzw. auf eine Selbstbehauptung des Menschen zu rekurrieren. Das Gewissen des Menschen coram Deo muss also seine Sicherheit von außerhalb seiner selbst erlangen: Es wird losgelöst von der eigenen Leistung und verbunden mit den Werken Christi. So verändert sich durch den Umweg des Gewissens über die fremden Werke das menschliche Selbsturteil, in welchem sich gleichsam eine neue theory of mind Gottes widerspiegelt. Der Mensch

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sieht sich aus dieser Fremdsicht nicht mehr zwanghaft auf das eigene Tun fixiert. Wenn Luther in Dsa schreibt, dass nicht die Menschen das Reich Gottes verdienen, sondern umgekehrt das Reich Gottes die Menschen verdient, dann ist genau dies angesprochen, dass erst der Glaube als Gewissheit des – unverdienten! – eschatologischen Heils die menschliche Fixierung auf die eigene Verdienstlichkeit beendet. Auch Luthers Unterscheidung von innerem und äußerem Menschen zu Beginn seiner Freiheitsschrift dient der Verdeutlichung und Abgrenzung der beiden Daseinsbereiche. Nun darf die reformatorische Unterscheidung von Gnade und Werk nicht dazu verführen, die Ordnung der Beziehungen als eine Aufspaltung der Bereiche zu verstehen und dann am Ende nicht etwa mit verschränkten Perspektiven, sondern doch mit alternativen Sichtweisen dazustehen. Der zweite Schritt belässt es also nicht bei der sauberen Trennung exklusiver Sichtweisen, die dem Menschen ansonsten eine Spaltung der Person abverlangen würde. Vielmehr ist jetzt zu fragen, wie die Perspektiven aufeinander bezogen werden können. Wie lässt sich die sich gänzlich passiv verstehende Christperson mit der handelnden Weltperson vereinbaren? Bleibt etwa die Wirkungslosigkeit der Werke dort unvereinbar mit der Notwendigkeit der Werke hier? Dass der Christ sich in sozialen Strukturen zu arrangieren hat, ändert sich ja nicht durch die proleptische Funktion des Glaubens. Der quietistische Rückzug in die eigene Innerlichkeit ist Luther ein ebensolcher Dorn im Auge wie die hyperaktive Werkfrömmigkeit. Die Freiheit eines Christenmenschen ist ja erst dann in der Gesamtheit dargestellt, wenn ,dieses irdische Leben‘ mit bedacht ist. Es gilt also, dem menschlichen Tun zwar seine Bedeutung für die Gottesbeziehung zu nehmen, seine grundsätzliche Notwendigkeit aber zu betonen – und es bei alledem nicht aus Gottes Lenkung zu entlassen. Es geht also im Lebensvollzug des Menschen nicht länger um ein Müssen des Zwangs; es geht um das schlichte Faktum, dass der Mensch sich notwendig in Handlungen vollzieht. Und diese Handlungen sind nach Luther umfasst von der Wirksamkeit Gottes. Die Verschränkung der Sichtweisen ist nämlich nicht allein durch anthropologische Erwägungen – etwa durch die Einheit der Person – bedingt, sondern wird gerade vom Allmachtsgedanken erfordert. Denn sein weltliches Leben coram Deo zu deuten, heißt, es coram Deo omnipotente zu deuten. Ist aber die Gottesbeziehung ohne menschliche Aktivität zum Positiven gewendet, dann verliert auf der anderen Seite die Allwirksamkeit Gottes ihre Anstößigkeit. Luther hat im Allmachtsgedanken trotz dessen anstößiger Implikationen geradezu die Grundbedingung des sola gratia gesehen. Denn die Gewissheit des allein in Gottes Ratschluss begründeten eschatologischen Heils geht einher mit der Gewissheit seiner gegenwärtigen Wirksamkeit (vgl. 3.1). Heilsmonergismus und theonome Determination gehen für Luther Hand in Hand. Inwiefern ändert sich demnach die Bedeutung der Allwirksamkeit Gottes für die Einschätzung der menschlichen Werke? Jürgen Habermas hat die Aneignung von bestimmenden Faktoren – wie

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Fazit

etwa der eigene Körper, die Lebensgeschichte, der Charakter und die kulturelle Umgebung – zur Bedingung erklärt, damit der Handelnde diese Faktoren nicht länger als externe Ursachen, sondern als ermöglichende Bedingungen verstehen kann. Für Habermas ist dadurch die Berechtigung des subjektiven Freiheitsbewusstseins gesichert: „Der Urheber identifiziert sich mit dem eigenen Organismus, der eigenen verhaltensprägenden Lebensgeschichte und Kultur, den eigenen Motiven und Fähigkeiten.“24 An Luthers ,Affektenlehre‘ wurde bereits gezeigt, dass ihm zufolge die Identifikation mit dem eigenen vorfindlichen Willen und den eigenen Handlungen eine Grundkonstante seiner Anthropologie darstellt. Grundsätzlich gilt: Retrospektiv muss sich der Mensch seinen Willen aneignen; auch wo er sich lieber vom ihm dissoziieren würde, ruft ihn das im Gewissen wirkende Gesetz zur Verantwortung. Der Mensch wird identifiziert. Dabei hat sich jedoch der Gedanke an den sich allmächtig durchsetzenden Willen Gottes als ein störender Fremdkörper für die menschliche Identifikation mit dem eigenen Willen erwiesen. Es zeigt sich hier womöglich, dass die Aneignung von bestimmenden Faktoren keineswegs so reibungslos möglich ist, wie Habermas das postuliert. Bedeutet Gottes Allwirksamkeit nicht weiterhin ein Ärgernis für die Einschätzung der menschlichen Werke? Liegt hier nicht immer noch der Impuls, sich von den eigenen Werken zu dissoziieren und sie Gott anzulasten?25 Wenn es stimmt, dass der Freiheitsschrift zufolge im Kampf des neuen gegen den alten Menschen der Widerspruch zwischen amor sui und amor Dei zur Austragung kommt, dann darf folglich im Hinblick auf das Verhältnis des Menschen zur Allwirksamkeit gesagt werden: Der Glaube als amor Dei nimmt der Determination Gottes ihre Fremdheit. Im Glauben kann der Mensch sich auch mit seinem Bestimmt-Sein durch Gottes Willen identifizieren. Es verliert dadurch in gewisser Weise seinen Charakter als externe Determinante und wird zu einem Ermöglichungsgrund für die menschlichen Handlungen. Das Dabei-Sein der Person bei ihren Handlungen ändert sich in spezifischer Weise dahingehend, dass sie dem Schöpfungsverhältnis bewusst zustimmt. Genau wie die auf Eigenständigkeit beharrende Person ist sie stets der Lenkung Gottes unterworfen. Anders als jene entspricht sie aber ihrer Geschöpflichkeit und bejaht bewusst die göttliche Lenkung. Dass der amor Dei die Allwirksamkeit Gottes als Lenkung akzeptiert, kann wiederum verstehen helfen, wie in Dsa der Charakter der göttlichen Determination allein an der Glaubensbzw. Geistfrage unterschieden wird. 24 Habermas, Freiheit, 166. 25 „Warum rechnest du uns zu, was du willentlich getan hast, während wir nur aus Notwendigkeit gehandelt haben? Du hast uns zwar sammeln wollen, aber du hast dies nicht auch in uns gewollt, hast vielmehr in uns gerade bewirkt, daß wir nicht gewollt haben.“ „Cur nobis imputas, quod tua voluntate, nostra necessitate factum est? Tu volebas congregare et idem in nobis nolebas, cum hoc ipsum operatus sis in nobis, quod noluerimus.“ (Dla. nach: Schumacher, Willen, 47 f = Dla. hrsg. v. J. v. Walter, 39 [II b 1]).

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Wenn Gott jenseits der Gnade des Geistes wirkt, wirkt er alles in allen, auch in den Gottlosen, indem er alles, was er allein geschaffen hat, auch allein bewegt, treibt und fortreißt durch die Bewegung seiner Allmacht; diese Bewegung kann [all] dieses weder vermeiden noch verändern, sondern es folgt und gehorcht notwendigerweise, jedes nach dem Maß seiner Tüchtigkeit, die ihm von Gott gegeben ist. So wirkt mit ihm auch alles Gottlose zusammen. Dann: Wo er mit dem Geist der Gnade in denen regiert, die er gerechtfertigt hat, das heißt: in seinem Reich, treibt und mahnt er diese in ähnlicher Weise. Und sie, wie sie eine neue Kreatur sind, folgen und wirken mit ihm zusammen, oder vielmehr, wie Paulus sagt, sie werden getrieben.26

Gottes allwirksame Lenkung grundsätzlich als Lenkung im Guten zu erkennen ist Wirkung des Geistes im Glauben. D.h., dass im Glauben sowohl die Akzeptanz der Notwendigkeit als auch die Beharrlichkeit des ,neuen Willens‘ im Guten begründet liegen. Denn als Gewissheit des Reiches Gottes bewirkt der Glaube die Befestigung des Willens im Guten. Erst durch die feste Zusage des eschatologischen Ziels im Reich Gottes verlieren die Handlungen die Gesinnung, sich dieses Ziel zu verdienen. Die Gewissheit, zum zukünftigen Reich Gottes jetzt schon zu gehören, also der an die Verheißung sich hängende Vorgriff des Glaubens, bewirkt und ermöglicht überhaupt im Glaubenden die Tätigkeit (Motivation) ebenso wie die Beharrlichkeit (Perseveranz) im Guten (vgl. 3.3.1).27 Wo die omnipotentia generalis Gottes und seine Lenkung zum Heil zusammentreffen, findet eine Revolution der Denkungsart statt. Noch einmal zusammengefasst: Die Freiheit eines Christenmenschen stellt sich dar als die gelingende (kognitive) Verschränkung der Gottesbeziehung mit dem diesseitigen Leben. Indem der Glaube das Heil der vita aeterna antizipiert, gelingt dem Glaubenden einerseits die Akzeptanz der göttlichen Allwirksamkeit als Fundament seines Seins. Er entspricht damit seiner Geschöpflichkeit und nimmt folglich die Notwendigkeit seines Wollens und Handelns wahr, ohne jedoch sein Wollen und Handeln weiterhin gegen Gottes Bestimmung abzugrenzen. Zugleich zeigt sich andererseits Gottes Lenkung dem Glauben als Bestimmung zum Heil und verankert den menschlichen Willen auf diese Weise im Guten. Christliche Existenz in der Welt – gelingende 26 LDStA 1, 571. „Deus, cum citra gratiam spiritus operatur omnia in omnibus, etiam in impiis operatur, Dum omnia, quae condidit solus, solus quoque movet, agit et rapit omnipotentiae suae motu, quem illa non possunt vitare nec mutare, sed necessario sequuntur et parent, quodlibet pro modo suae virtutis sibi a Deo datae, sic omnia etiam impia illi cooperantur. Deinde ubi spiritu gratiae agit in illis, quos iustificavit, hoc est in regno suo, similiter eos agit et movet, et illi, ut sunt nova creatura, sequuntur et cooperantur, vel potius, ut Paulus ait, aguntur.” (WA 18; 753, 28 – 35). 27 Auch Habermas hat ja die motivationale Kraft religiöser Vorstellungen für das gelingende Gemeinwesen im postsäkularen Staat entdeckt. Gerade der Begriff des Gottesreiches drängt sich hier auf. Denn mit seiner eschatologischen Ausrichtung präsentiert sich das Christentum dauerhaft als Religion, deren „kognitiver Gehalt noch nicht abgegolten ist.“ (Habermas, Öffentlichkeit, 149.) Ob Habermas allerdings mehr im Sinn hat, als die Urbarmachung religiöser Vorstellungen neben anderen für die säkulare Gesellschaft?

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Fazit

Verschränkung – ist darum abhängig von der proleptischen Struktur des Glaubens, sich jetzt schon im zukünftigen Reich Gottes zu wissen. Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und in seinem Nächsten, oder er ist kein Christenmensch; in Christus aber lebt er durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben wird er über sich hinaus nach oben zu Gott gezogen, umgekehrt fällt er durch die Liebe unter sich herab auf den Nächsten, doch bleibt er stets in Gott und seiner Liebe […].28

Sofern „christliche Freiheit nicht in der Erfindung eines völlig neuen, losgelösten Zustandes besteht, sondern vielmehr in einem neuen Sein bei allem, was wir immer schon sind und tun“, ist sie in der Tat von Luther gedacht „als spezifischer Umgang mit Notwendigkeit. Freiheit ist selbsthafte Durchdringung von Notwendigkeit und in diesem konkreten Sinn ihre Aufhebung.“29 Unterscheidet sich dann Luthers Freiheitsbegriff noch von modernen Freiheitstheorien? Ungezwungenheit als minimale Freiheitsanforderung ist bei Luther sowohl im Sinne der menschlichen Durchsetzungsmacht gegenüber den Dingen der Welt, als auch im Hinblick auf die wesentliche Verbindung von Handlung und Person fraglos erfüllt. Auch der engere Begriff einer christlichen Freiheit impliziert die Überwindung externer Notwendigkeit, also die Überwindung von Zwang. Und zwar einerseits als Überwindung der Gesetzesforderung: Der im Guten beharrliche Wille ist in der Weise frei vom Gesetz, dass er sich dessen Erfüllung zu eigen macht. Er habet ius, ist also iuridisch frei. Andererseits als Bejahung der göttlichen Lenkung, also in der Aneignung des eigenen unverfügbaren Soseins. Damit ist aber der wichtigste Unterschied bereits angesprochen: Christliche Freiheit ist nach Luther gerade kein allgemeinanthropologisches Faktum, dessen Verständnis lediglich Sache der Vernunft ist. Der Determinismus verliert für Luther seine Anstößigkeit nicht einfach dadurch, dass Philosophen ihn recht verstehen lehren und so den Widerspruch zwischen deterministischer Überzeugung und subjektivem Freiheitsbewusstsein aufheben. Vielmehr ist die gelingende Verbindung von Determinismus und eigenem Freiheitsbewusstsein ein Spezifikum des glaubenden Selbstverständnisses und darum für Luther letztlich eine Geistesgabe. Schließlich nimmt aus diesem Grund die Freiheit einen gänzlich anderen Ort ein, als in anderen Systemen. Christliche Freiheit ist nämlich nicht positiv mit der Frage der Verantwortlichkeit verwoben und schon gar nicht als deren Bedingung gedacht. Sie hat im Grunde keine argumentative Funktion in dem Sinne, dass sie mit der Behauptung des Determinismus verknüpft werden 28 LDStA 2, 175. „Christianum hominem non vivere in seipso, sed in Christo et proximo suo, aut Christianum non esse, in Christo per fidem, in proximo per charitatem: per fidem sursum rapitur supra se in deum, rursum per charitatem labitur infra se in proximum, manens tamen semper in deo et charitate eius“ (WA 7; 69, 12 – 16). 29 Ringleben, Freiheit, 12.

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müsste, um dann im Nachgang von der Verantwortlichkeit des Menschen handeln zu können. Als Wirkung des Evangeliums ist sie ja gerade die Aufhebung des Verantwortlichkeits- und Verdienstlichkeitsdenkens. Christliche Freiheit ist darum als Idealbeschreibung des Lebens aus und im Glauben vielmehr der Ziel- und Höhepunkt lutherischer Anthropologie. Sie hat sämtliche Überlegungen zu theologischem Determinismus und menschlicher Verantwortlichkeit bereits im Rücken. Schöpferallmacht, umfassende Determiniertheit der Welt und Unfreiheit des geschöpflichen Willens bis ins Niedrigste stellen darum für Luther die gedankliche Voraussetzung der christlichen Freiheit dar. Unfreiheit des Willens und Freiheit des Christenmenschen sind ihm derart eng verknüpft, dass er sowohl im Satz vom servum arbitrium als auch in der Abhandlung de libertate Christiana die Summe des Christlichen erkannt hat.

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Literatur Abkürzungen richten sich nach S. M. Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, (IATG2), Berlin 21992.

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Register

Affekte 141 f., 150, 200, 206–223, 224, 235, 293, 297 f., 305 Allmacht (s. auch: omnipotentia) 18, 20, 26 f., 36, 44 f., 144, 158, 163, 172–175, 183 f., 191–194, 202–205, 214, 232, 243, 308, 310, 313 Allwirksamkeit 20 f., 23, 30 f., 172–175, 176, 183 f., 199 f., 202–205, 214 f., 227 f., 236, 243, 245, 293, 295, 298, 310–313 Alternativismus (s. Prinzip alternativer Möglichkeiten) 61 Aneignung 23, 73, 99–103, 111, 299, 311 f., 314 Beobachterperspektive 23, 68 f., 72 f., 307 Bereitschaftspotential (=RP) 54–56 Bewusstsein 16, 22, 25 f., 29, 47–54, 56, 57, 60–62, 66, 70 f., 73–79, 84, 105, 115 f., 117–122, 124–131, 133–140, 208, 257, 294, 296, 307 caring 95, 104–114 Cartesianismus 75 f., 140, 308 claritas scripturae 219–223, 269 cooperatio 116, 151, 161, 174, 181 f., 205, 222, 246 f. coram Deo/coram mundo 23, 26, 27, 33, 45, 162–164, 182–193, 243, 306 f. Determination 15 f., 30, 67, 73, 77, 79 f., 85, 87, 92, 96, 200, 224, 242, 246, 311 f. Determinismus 15 f., 18–24, 31, 33, 36–38, 44, 56 f., 58–60, 72 f., 74, 76, 79–97, 115 f., 142, 144 f., 161–164, 192, 194, 199, 236, 242, 247, 292–294, 298, 301, 308–310, 314 f.

Deus absconditus 186, 201–204, 225, 228, 235, 259 Dualismus 22, 53, 63, 67, 69 f., 72–74, 91, 150, 173, 183, 206, 266, 268 f., 279, 282, 288, 295, 307 f. Emotionen 26, 65, 116, 120–124, 129 f., 137–142, 294 Erweitertes Selbst 117, 125 Evangelium 36 f., 43 f., 150, 167 f., 186, 191, 202, 217, 219, 221, 241, 251, 259–262, 268, 270, 306, 309 f., 315 explanatory gap 49, 117 f., 127 fides (s. auch: Glaube) 43, 166, 193, 213, 220, 232, 269, 270–273, 275 f., 284, 288 Gefühle 29, 47, 84, 108, 120 f., 124 f., 134, 137 f., 208 f. Geist 26, 59–64, 67–73, 84, 115, 133 f., 136, 150–152, 206, 213, 217, 266 f., 269, 271, 279, 282, 295, 301, 307–309 – Heiliger G. 173 f., 190, 194, 200, 211 f., 217–223, 226, 229, 232, 236 f., 241, 285, 290, 312 f. Geschöpflichkeit 17, 28, 31, 152–155, 295, 312 f. Gesetz (theologisch/moralisch/politisch) 17, 22, 27, 34–37, 43 f., 46, 98, 109, 113, 142, 149–152, 155, 171, 179–192, 204, 208, 211, 215–217, 227, 232, 237–243, 248–261, 271–274, 276, 278, 280, 285 f., 290, 296, 299 f., 300–306, 309 f., 312, 314 Gewissen 27, 111, 142, 187–190, 209, 215, 217, 219, 226, 242 f., 248–263, 267, 271, 288, 290, 296, 299, 300–306, 309 f., 312 Glaube (s. auch: fides) 17, 23, 24, 27, 30,

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Register

34–37, 42–45, 53, 142–144, 153, 155, 161, 163, 166–168, 173, 176, 181–184, 186, 188–194, 201, 203, 212–223, 226–232, 237, 239, 241, 244, 250, 256 f., 259, 261, 263 f., 267–279, 281 f., 284–291, 311–315 Gründe 34, 56 f., 59 f., 65–67, 71–73, 76–78, 84 f., 87, 90, 106, 111–113, 115, 207 f., 284 f., 296 f., 301–303, 306

Majestät (Gottes) 143, 170 f., 200–202, 204, 217, 223, 228, 230, 236 Mensch – äußerer 263, 265–270, 276, 279–289 – innerer 263, 265–282, 184–189 meritum (s. auch: Verdienst) 224, 227, 233–235, 240 f., 289 Monismus 22 f., 25, 58, 72 f., 110, 173, 184, 269, 307–309

Handlungsfreiheit 21 f., 30, 32, 34, 97, 160 f., 248 (Heils-)Monergismus 35 f., 38, 164, 194, 202, 228, 311 Herz 8, 121, 155, 166, 172, 188 f., 193, 200, 207–209, 212–221, 230, 241, 244, 249 f., 252 f., 269, 289, 292, 303, 305

Naturgesetze 15 f., 18, 25, 57, 59 f., 79–83, 205, 255 Naturwissenschaft 59, 71, 79 Naturzusammenhang 15 f., 18 necessitas (s. auch: Notwendigkeit) 83, 105, 114, 158, 160, 164, 166, 195 f., 198, 205, 210, 224, 235, 245 neuronale Prozesse 24 f., 53, 55–57, 60, 62, 65, 68, 76, 78 niedere Dinge (s. auch: inferiora) 19 f., 26 f., 46, 142, 144, 161 f., 164, 176, 178 f., 183 f., 187, 194 Nötigung 39, 96, 104–109, 114, 257 Notwendigkeit (s.auch: necessitas) 15, 18 f., 21, 23, 31, 33 f., 42, 44 f., 61, 79–83, 92 f., 95, 104 f., 108, 113 f., 158–160, 162, 166–168, 170, 178, 190, 194–198, 200, 202–205, 210, 214–216, 224, 226, 231, 234–237, 242, 244–246, 250, 255, 273, 288, 290, 311–314

Identifikation 46, 79, 85, 99, 101–107, 112, 114 f., 140, 277, 296, 299, 302, 312 Indeterminismus 38–40, 61, 84 f., 91, 95, 116, 245, 297 f. Inferiora (s. auch: niedere Dinge) 20, 27, 43, 142, 144, 161–165, 176–178, 180 f., 184, 187, 190 f., 242 f., 277, 293 Inkompatibilismus 38, 196 innere Merkmale 85–91 Intentionalität 28–31, 36, 130, 143, 162, 177, 211, 219, 221, 247, 249, 256, 269 Interaktion, soziale 38, 47, 51–53, 61–63, 66–70, 75, 119, 300, 302, 306 Kausalität 16, 93 Kernselbst 117, 125, 129, 131 f., 134 f. Kommunikation 22 f., 48, 52, 62, 66, 68 f., 307 kommunikativ 46, 48, 67, 69 Kompatibilismus 16, 21 f., 38, 79–82, 84 f., 92–94, 115, 292 Libertarismus, libertarisch 19, 21 f., 33, 38, 40, 58 Liebe 75, 95, 105, 108–114, 137, 152 f., 155, 180, 182, 190 f., 212, 239 f., 264, 284–287, 290 f., 294, 297, 299, 305, 312, 314

omnipotentia (s. auch: Allmacht) 27, 158, 172–175, 182 f., 215, 218, 222, 308, 313 opera (s. auch: Werke) 186, 188, 237, 240, 244, 248, 256, 259, 261–263, 269, 272, 276, 282, 284, 288, 290 personale Präferenzen 86–88, 90 f., 94, 294, 296 Perspektivendualismus 22 f., 26, 68, 70, 307, Perspektivenverschränkung 23, 71–73, 191, 307–311 Prinzip alternativer Möglichkeiten (PAP) 39, 60, 77, 91, 95 f.

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Register Proto-Selbst 138

117, 125 f., 129, 131, 135,

rapere 200 Relation 23, 42, 45, 47, 54, 62, 94, 163, 182, 185 f., 188, 190 f., 243 f., 293, 306, 310 Relationalität 29 Repräsentation, neuronale 47–52, 118–120, 122–125, 128, 131, 133 res cogitans 75 Selbstbestimmung 19–21, 28–36, 40, 83, 86 f., 93, 95, 108, 114, 163 f., 181, 207, 297 f. self forming actions (SFA) 39–41 somatische Marker 137–139 Soteriologie 27–29, 36, 42 superiora 43, 46, 176, 178, 187, 190 Teilnehmerperspektive 22 f., 71, 115, 307 Theory of Mind 51 f., 62, 309 f. ultimative Verantwortung (= ultimate responsibility) 38 Ungezwungenheit 21 f., 159, 235, 248, 314 Urheber, Urheberschaft 16, 19, 21, 64, 73, 87 f., 93 f., 139, 150, 156, 240, 251, 255, 257, 263, 294 f., 312 Verantwortlichkeit 15, 18 f., 21–23, 25–28, 30–35, 38, 40, 45 f., 58–61, 77 f., 84 f., 87, 92, 95–100, 103 f., 111, 114 f., 140, 142, 144, 149, 160 f., 179, 189 f.,

325

195, 223–226, 228, 235 f., 242–244, 246–250, 261, 292 f., 296–298, 314 f. Verantwortung 19, 25 f., 32, 38–40, 45 f., 52 f., 60 f., 74, 84, 87, 91, 97–100, 102, 115 f., 180, 186, 188 f., 224, 226, 231, 242, 244, 246–248, 252, 254 f., 297, 299 f., 306, 312 Verdienst (s. auch: meritum) 7, 31, 171, 196, 224–227, 230–235, 238, 240 f., 273, 288, 292 Vernunft 17, 29, 43, 45, 72, 108, 113, 138, 146–154, 158, 167 f., 200–202, 204, 206, 208, 213–216, 219, 225, 229–233, 251, 284 f., 297 f., 302, 304 f., 308, 314 Volition 100, 102 f. Wahrnehmung 25, 47–51, 62–64, 117, 123 f., 126, 128 f., 135 Werke (s. auch: opera) 36 f., 153–155, 161, 163, 174, 176 f., 184, 186, 188–191, 193, 196 f., 203, 217, 233, 236 f., 239–241, 243 f., 246, 248, 251, 254–259, 261–264, 267–272, 276, 278, 280–284, 286–290, 310–312 Würdigkeit (des Menschen vor Gott) 27, 224 f., 233–235, 238 f., 261 Zukunft 41, 45, 81–83, 94, 115, 130, 137 f., 140 f., 229 f., 239, 245 f., 263, 297 f. Zwang 21, 25, 31, 36, 76–78, 83, 96–98, 100, 106, 139, 140, 158–161, 181, 190, 195, 197, 199, 204 f., 235, 243, 252, 257, 271, 286, 290, 295, 311, 314

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525564141 — ISBN E-Book: 9783647564142

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Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Band 144: Marco Hofheinz »Er ist unser Friede« Karl Barths christologische Grundlegung der Friedensethik im Gespräch mit John Howard Yoder

Band 139: Michael Weinrich Die bescheidene Kompromisslosigkeit der Theologie Karl Barths Bleibende Impulse zur Erneuerung der Theologie

2014. 706 Seiten mit einer Abbildung, gebunden ISBN 978-3-525-56410-3 eBook ISBN 978-3-647-56410-4

2013. 464 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56407-3 eBook ISBN 978-3-647-56407-4

Von der Friedensethik Karl Barths und seines mennonitischen Schülers John H. Yoder (1927–1997) geht eine hohe Orientierungskraft für heutige innerkirchliche, ökumenische Diskussionen aus.

Knapp 45 Jahre nach Karl Barths Tod zeigt Michael Weinrich hier die aktuelle Relevanz von Barths Theologie und fokussiert dabei auf die Bescheidenheit und Konzentration, die Barths Theologie prägten.

Band 142: Susanne Hennecke Karl Barth in den Niederlanden Teil 1: Theologische, kulturelle und politische Rezeptionen (1919–1960)

Band 138: Florian Schmitz »Nachfolge«. Zur Theologie Dietrich Bonhoeffers

2014. 412 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56411-0 eBook ISBN 978-3-647-56411-1

2013. 439 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56404-2 eBook ISBN 978-3-647-56404-3

Hennecke stellt zum ersten Mal zusammenhängend die theologischen, kulturellen und politischen Rezeptionen von Karl Barth in den Niederlanden dar.

Florian Schmitz untersucht Dietrich Bonhoeffers »Nachfolge« (1937) in systematisch-theologischer Perspektive, stellt dieses Werk in seiner Entstehungsgeschichte dar.

Band 141: Markus Mühling Liebesgeschichte Gott

Band 137: Traugott Koch Die »Passion-Betrachtungen« der Catharina Regina von Greiffenberg

Systematische Theologie im Konzept 2013. 553 Seiten mit 2 Tab. und 9 Graphiken, gebunden ISBN 978-3-525-56406-6 eBook ISBN 978-3-647-56406-7

Gottes Sein selbst ist ein relationalprozedierendes narratives Sein.

im Rahmen ihres Lebenslaufes und ihrer Frömmigkeit 2013. 205 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56405-9 eBook ISBN 978-3-647-56405-0

Traugott Koch interpretiert zum ersten Mal das erbauliche Werk der Barockdichterin Catharina Regina von Greiffenberg eingehend und korrigiert dabei Fehler in ihrer Biographie.

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© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525564141 — ISBN E-Book: 9783647564142

Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Band 136: Ralf-Thomas Klein Können christliche Glaubensüberzeugungen Wissen sein?

Band 132: Stefan Dienstbeck Transzendentale Strukturtheorie

Der Beitrag Alvin Plantingas zur Bestimmung des epistemischen Status von christlichen Glaubensüberzeugungen

2011. 491 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56364-9 eBook ISBN 978-3-647-56364-0

2012. 320 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56403-5 eBook ISBN 978-3-647-56403-6

Band 131: Gunther Wenz Grundfragen ökumenischer Theologie

Band 135: Wilko Teifke Offenbarung und Gericht Fundamentaltheologie und Eschatologie bei Guardini, Rahner und Ratzinger 2012. 281 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56368-7 eBook ISBN 978-3-647-56368-8

Band 134: Roger Mielke Eschatologische Öffentlichkeit Öffentlichkeit der Kirche und Politische Theologie im Werk von Erik Peterson

Stadien der Systembildung Paul Tillichs

Gesammelte Aufsätze Band 2 2010. 368 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56362-5 eBook ISBN 978-3-647-56362-6

Band 130: Mario Fischer Religiöse Erfahrung in der Phänomenologie des frühen Heidegger mit einem Vorwort von Karl Kardinal Lehmann

2012. 280 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56371-7 eBook ISBN 978-3-647-56371-8

2013. 480 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56408-0 eBook ISBN 978-3-647-56408-1

Band 133: Andreas Losch Jenseits der Konflikte

Band 129: Florian Ihsen Eine Kirche in der Liturgie

Eine konstruktiv-kritische Auseinandersetzung von Theologie und Naturwissenschaft 2011. 285 Seiten mit 2 Abb. und einer Tab., geb. ISBN 978-3-525-56366-3 eBook ISBN 978-3-647-56366-4

Zur ekklesiologischen Relevanz ökumenischer Gottesdienstgemeinschaft 2010. 313 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56360-1 eBook ISBN 978-3-647-56360-2

Band 128: Christian Johannes Neddens Politische Theologie und Theologie des Kreuzes Werner Elert und Hans Joachim Iwand 2010. 917 Seiten mit 6 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-56354-0

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