Überwindung der Essstörung als Weg ins Gleichgewicht: Ein Modell zu persönlichen Entwicklungsprozessen aus Anorexie und Bulimie [1. Aufl.] 978-3-658-25970-9;978-3-658-25971-6

Astrid Kathrein entwirft auf Basis von Gesprächen mit Frauen, die die Anorexie und/oder Bulimie überwunden haben, ein Mo

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Überwindung der Essstörung als Weg ins Gleichgewicht: Ein Modell zu persönlichen Entwicklungsprozessen aus Anorexie und Bulimie [1. Aufl.]
 978-3-658-25970-9;978-3-658-25971-6

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XVI
Front Matter ....Pages 1-1
Einleitung (Astrid Kathrein)....Pages 3-10
Essstörungen ‒ Anorexie und Bulimie (Astrid Kathrein)....Pages 11-73
Persönliche Entwicklung (Astrid Kathrein)....Pages 75-128
Methodische Vorgehensweise (Astrid Kathrein)....Pages 129-146
Front Matter ....Pages 147-147
Modellüberblick (Astrid Kathrein)....Pages 149-152
Begriff der Essstörung und Kriterien für Überwindung (Astrid Kathrein)....Pages 153-165
Wegetappen (Astrid Kathrein)....Pages 167-319
Wegverläufe (Astrid Kathrein)....Pages 321-362
Front Matter ....Pages 363-363
Zusammenfassung und Diskussion der Forschungsergebnisse (Astrid Kathrein)....Pages 365-390
Wegbegleitung in Alltag und Therapie ‒ Gemeinsam Gleichgewicht finden (Astrid Kathrein)....Pages 391-398
Back Matter ....Pages 399-431

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Astrid Kathrein

Überwindung der Essstörung als Weg ins Gleichgewicht Ein Modell zu persönlichen Entwicklungsprozessen aus Anorexie und Bulimie

Überwindung der Essstörung als Weg ins Gleichgewicht

Astrid Kathrein

Überwindung der Essstörung als Weg ins Gleichgewicht Ein Modell zu persönlichen ­Entwicklungsprozessen aus Anorexie und Bulimie

Astrid Kathrein Klagenfurt am Wörthersee, Österreich Leicht abgeänderte Version der Dissertation, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt/2018, eingereicht u. d. T.: „Ins Gleichgewicht gehen – ein Modell zu persönlichen Entwicklungswegen aus der Essstörung“

ISBN 978-3-658-25970-9 ISBN 978-3-658-25971-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-25971-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Mein Blick zurück: Ge-Dank-en Es liegt nun schon einige Zeit zurück, dass die Idee für dieses Forschungsprojekt in mir reifte. Bereits im Juli 2013 verfasste ich für den Abschluss des Psychotherapeutischen Propädeutikums an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt eine Arbeit über Essstörungen. Die Grundlage für mein Interesse, mich tiefer damit zu befassen, bilden vergangene Ereignisse und Begegnungen mit (ehemaligen) Betroffenen im persönlichen Umfeld. Die oft hartnäckigen Verläufe warfen bei mir die Frage nach den Bedingungen für die Langwierigkeit auf, zumal ich auch Personen kennenlernte, die von einer vergangenen Essstörungserfahrung erzählten, sich aktuell jedoch nicht mehr davon beeinträchtigt fühlten. Was half diesen Personen bei der Überwindung der Essstörung bzw. woran fehlte es den anderen, für die ein Leben mit der Erkrankung zum Alltag geworden war? Meine damalige Literaturrecherche zum Thema hinterließ bei mir den Eindruck einer eingeschränkt hoffnungsvollen Perspektive. Die Beschreibung der Störungsdynamik steht im Vordergrund, Wege aus der Essstörung zu finden, erfährt wesentlich weniger Erwähnung. Daher wollte ich mein Augenmerk in der Dissertation auf hilfreiche Einflüsse richten und zwar insbesondere auf jene des alltäglichen Lebens, wenngleich eine Therapie wichtige Impulse geben kann. Mein Anliegen war und ist, nicht nur das Wissen über heilsame (therapeutische) Aspekte aufzuzeigen, sondern vor allem den Lebensmöglichkeitsraum der Betroffenen zu vergrößern. Während der Forschungsarbeit legte ich einige Etappen zurück – manche verliefen steil bergauf, andere ließen mich den Durch- und Weitblick bewahren, mitunter die Notwendigkeit eines Richtungswechsels erkennen. Somit entstand nicht nur ein Modell zu persönlichen Entwicklungswegen aus der Essstörung, sondern ich reflektierte begleitend auch meine eigene Entwicklung in dieser Zeit. Unter anderem bemerkte ich, dass ich bei der Transkription und Auswertung der Gespräche immer wieder über die eingebrachten Anmerkungen meinerseits lachen konnte. Entgegen meiner sonst selbstkritischen Haltung erfuhr ich, wie die Gesprächspersonen, eine wachsende Nähe zu mir selbst. Anpassung und Selbst-Entfaltung als wesentliche Aspekte meiner Arbeit waren und sind auch Themen meiner eigenen Geschichte. So wurde mir während des Forschungsprozesses, vor allem beim Schreiben des Textes, bewusst, welche Herausforderung es für mich war, mich von der Idee eines perfekten oder zumindest Begeisterung auslösenden Werkes zu befreien. Ob das Werk gelungen ist, möchte ich an dieser Stelle offenlassen. Sehr wohl gelungen ist mir, es als meinen schöpferischen und wissenschaftlichen Akt zu erleben, der in der vorliegenden Form gut genug ist. Nach den Erkenntnissen im Rahmen meiner Forschungsarbeit weist eine solche Veränderung auf mein eigenes persönliches Wachstum hin. Ich konnte im Laufe der Zeit von einer Wertung Abstand nehmen und damit nicht den richtigen oder guten, sondern meinen Weg finden – und dieser ist gut für mich. Dass der Weg der Dissertation für mich gangbar wurde, ohne dabei aus dem Gleichgewicht zu geraten, habe ich einigen Personen zu verdanken, die ich hier nennen möchte. Mein besonderer Dank gilt den Gesprächspersonen, die sozusagen das Herzstück meiner Arbeit sind, indem sie diese überhaupt erst ermöglichten. Vor allem waren sie nicht

VI

Mein Blick zurück: Ge-Dank-en

nur in der persönlichen Begegnung für mich erlebbar, sondern über die Zeit hinweg präsent. Schon ihre Offenheit und ihr Vertrauen im Gespräch berührten mich, denn immerhin war ich eine fremde Person, mit der sie ihre Geschichte teilten. Der Text wurde für mich durch das Einbeziehen der Zitate lebendig, zudem konnte ich zwischen den Zeilen sowohl ihren Schmerz als auch ihre Freude spüren. Ich fühlte mich von den Erzählungen getragen, besonders in schwierigen Zeiten motiviert und durch manche Wortmeldung aufgeheitert – in jeder Hinsicht reich beschenkt. Finanziellen und damit zeitlichen Freiraum ermöglichte mir die Fakultät für Kulturwissenschaften der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, die mir ein Dissertationsstipendium gewährte. Selbiges gilt für die Literar-Mechana, die der Forschungsarbeit durch das Doktoratsfertigstellungsstipendium zu einem leichteren Abschluss verhalf. Diesen Beitrag wusste und weiß ich sehr zu schätzen. Meiner Betreuerin Univ.-Prof. Mag. Dr. Judith Glück danke ich, neben ihrer Begleitung im Rahmen der Dissertation, für ihre Unterstützung bei der Beantragung der Förderungen. Besonders bestärkend war das von mir so wahrgenommene Zutrauen ihrerseits, mein Forschungsvorhaben umzusetzen. Wie die Gesprächspersonen ein solches Zutrauen für ihren Weg als bedeutsam erlebten, konnte ich dadurch manche Hürde beim Verfassen der Dissertation leichter überwinden. Monika, die mich in einer späteren Schreibphase begleitete, bin ich für ihren Blick auf Punkt und Beistrich dankbar. Vor allem ihre motivierenden Worte weiteten meine (Zuver-)Sicht. Von meiner Familie sowie meinen Freunden und Freundinnen, die abgesehen vom Weg der Dissertation zum Teil schon vorher eine weite Strecke mit mir gegangen sind, erfuhr und erfahre ich täglich Rückhalt. Ich nenne die Personen hier nicht einzeln, denn ich spreche meine Wertschätzung, so glaube ich, ebenso in unseren persönlichen Begegnungen aus. Der Wert der geteilten Zeit geht weit über Worte hinaus, sodass auch jene lieben Menschen, die diese Zeilen nicht lesen, wissen und spüren, wie reich sie mich mit ihrem Dasein beschenken. Von ganzem Herzen danke ich Willi, mit dem ich gemeinsam durchs Leben gehen darf. Er erleichterte mir den Blick aufs Wesentliche, nicht nur im Rahmen dieser Arbeit, sondern überhaupt im Leben. Durch seine Nähe gelang es mir, meinen eigenen Weg, der mich letztlich auch zu ihm geführt hat, nicht aus den Augen zu verlieren. Ich blicke mit Freude auf unseren gemeinsamen, noch unbekannten und zu bahnenden Weg, der vor uns liegt – und zunächst am Schreibtisch, an dem ich unzählige Stunden mit der Dissertation verbrachte, vorbeiführt.

Inhaltsverzeichnis I

VON DER IDEE ZUM FORSCHUNGSPROJEKT ....................................... 1

1 Einleitung........................................................................................... 3 2 Essstörungen ‒ Anorexie und Bulimie .............................................. 11 2.1 Konzepte von Gesundheit und Krankheit ........................................................ 11 2.2 Symptomatik und assoziierte Probleme der Essstörungen ............................. 18 2.2.1 Symptomatik ............................................................................................. 18 2.2.2 Auswirkungen auf Betroffene und ihr Umfeld ......................................... 21 2.2.3 Psychische Begleiterkrankungen und Differenzialdiagnostik .................. 27 2.3 Entstehung und Aufrechterhaltung von Essstörungen ................................... 32 2.3.1 Hinweise aus der Epidemiologie .............................................................. 34 2.3.2 Unsichere Identität ................................................................................... 36 2.3.3 Familiäre Kommunikations- und Beziehungsdynamik ............................. 46 2.3.4 Gesellschaftliche Erwartungen und Ideale ............................................... 49 2.4 Überwindung der Essstörung als Möglichkeit, Wirklichkeit oder Ideal .......... 52 2.4.1 Therapeutische Möglichkeiten ................................................................. 53 2.4.2 Realisierung im sozialen Kontext .............................................................. 64 2.4.3 Überwindung als Wirklichkeit: Merkmale ................................................ 68

3 Persönliche Entwicklung .................................................................. 75 3.1 Begriffsdifferenzierung Identität ‒ Ich ‒ Selbst ‒ Person ................................ 75 3.2 Theorien zur Selbst- bzw. Identitätsentwicklung ............................................ 86 3.2.1 Frühe Jahre ............................................................................................... 87 3.2.2 Jugend ....................................................................................................... 90 3.2.3 Begriffe der Selbstentfaltung ................................................................... 94 3.3 Posttraumatisches Wachstum ....................................................................... 102 3.3.1 Entwicklungsbereiche und -prozesse ..................................................... 102 3.3.2 Beeinflussende und förderliche Aspekte ............................................... 106 3.3.3 Verwandte Konzepte .............................................................................. 112 3.4 Zusammenfassung grundlegender Entwicklungsaspekte ............................. 123

4 Methodische Vorgehensweise ....................................................... 129 4.1 Grounded Theory ........................................................................................... 129

VIII

Inhaltsverzeichnis

4.2 Narration als Datenquelle .............................................................................. 132 4.2.1 Auswahl der Gesprächspersonen ........................................................... 133 4.2.2 Durchführung der Gespräche ................................................................. 136 4.3 Schritte der Modellbildung ............................................................................ 138 4.4 Reflexion der Vorgehensweise ...................................................................... 140

II WEGE INS GLEICHGEWICHT ‒ Modell zu persönlichen Entwicklungswegen aus der Essstörung ... 147 5 Modellüberblick............................................................................. 149 6 Begriff der Essstörung und Kriterien für Überwindung................... 153 6.1 Formulierungen der Gesprächspersonen ...................................................... 153 6.2 Forschungsperspektive und Schreibweisen .................................................. 161

7 Wegetappen .................................................................................. 167 7.1 Anfang(en) und Abrutschen in die Essstörung ‒ Aus dem Gleichgewicht kommen .................................................................. 167 7.1.1 Überforderung und Verunsicherung ...................................................... 168 7.1.2 Maßstäbe des Umfeldes und Anpassungsformen ................................. 181 7.1.3 Essstörung als Ausweg ............................................................................ 196 7.2 Wende ‒ Aus dem Gleichgewicht und Wegorientierung .............................. 217 7.2.1 Leidensdruck und Lebensentscheidung ................................................. 218 7.2.2 Selbst-Zuwenden .................................................................................... 232 7.2.3 Umfeld als Brücke ins Leben................................................................... 239 7.2.4 Therapie als Orientierungshilfe .............................................................. 253 7.2.5 Wirkungszusammenhänge der hilfreichen Aspekte .............................. 264 7.3 Wege aus der Essstörung gehen ‒ Das eigene Gleichgewicht finden ........... 277 7.3.1 Abnehmende Symptomatik .................................................................... 280 7.3.2 Selbst-Beziehung: Annäherung, Achtung und Stabilität ........................ 284 7.3.3 Umfeldbeziehungen: Öffnung, Verbindung und Vertiefung .................. 298 7.3.4 Lebensbeziehung: Lebensgefühl, Momenterleben und Wertschätzung ........................................................................................ 305 7.3.5 Gleichgewicht in den Selbst-Umfeld-Lebensbeziehungen ..................... 309

8 Wegverläufe .................................................................................. 321 8.1 Verlaufsdynamiken ........................................................................................ 321

Inhaltsverzeichnis

IX

8.1.1 Vielheit an Einflüssen und Wirkrichtungen ............................................ 322 8.1.2 Prozesscharakter und Aktivitätsausmaß ................................................ 327 8.1.3 Wendepunkte und Wendeprozesse ....................................................... 334 8.2 Entwicklungen in den Selbst-Umfeld-Lebensbeziehungen ........................... 337 8.2.1 Auffassungen und Formen von Selbst-Entwicklung ............................... 339 8.2.2 Das eigene Maß finden und leben.......................................................... 343 8.2.3 In sich selbst stabil werden .................................................................... 348 8.2.4 Zur Sprache kommen und sichtbar werden ........................................... 355 8.2.5 Wende und Verlust ................................................................................. 360

III RÜCK- UND AUSBLICK .................................................................... 363 9 Zusammenfassung und Diskussion der Forschungsergebnisse ....... 365 10 Wegbegleitung in Alltag und Therapie ‒ Gemeinsam Gleichgewicht finden.................................................. 391 10.1 Betroffene Person: Den eigenen Weg suchen .............................................. 391 10.2 Umfeld: Die Betroffenen ihren Weg finden lassen ....................................... 392 10.3 Therapie: Die Betroffenen auf ihrem Weg begleiten .................................... 394

Literaturverzeichnis ............................................................................ 399 Transkriptionsregeln ........................................................................... 429 Hinweise zur Zitation .......................................................................... 431

Abkürzungsverzeichnis ADHS APA AWMF BED BGBl BMI BPS DIMDI DSM EDDS EDE GT HRQoL ICD

KIP KK NICE OPD PEG PTBS PTG SCID SDT SSRI TDM WHO

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung American Psychiatric Association (Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft) Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. Binge Eating Disorder (Binge Eating-Störung, Essstörung mit Essanfällen) Bundesgesetzblatt Body Mass Index (Körpermasseindex) Borderline-Persönlichkeitsstörung Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen) Eating Disorder Diagnostic Scale (Fragebogen zur Diagnostik von Essstörungen) Eating Disorder Examination (strukturiertes Interview zur Diagnostik von Essstörungen) Grounded Theory (datenbasierte, empirisch fundierte Theorie) health-related quality of life (gesundheitsbezogene Lebensqualität) International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) Katathym Imaginative Psychotherapie Komparative Kasuistik National Institute for Health and Care Excellence (Großbritannien) Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik perkutane endoskopische Gastrostomie Posttraumatische Belastungsstörung posttraumatic growth (posttraumatisches Wachstum) Structured Clinical Interview for DSM (bzw. SKID als deutsche Version: Strukturiertes Klinisches Interview für DSM) Self-Determination Theory (Selbstbestimmungstheorie) Selective Serotonin Reuptake Inhibitors (Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Therapeutic Drug Monitoring (Messung der Medikamentenkonzentration im Blut) World Health Organization (Weltgesundheitsorganisation)

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1

Zusammenhänge im Rahmen der Entstehung und Aufrechterhaltung von Essstörungen (eigene Darstellung) ............................. 33

Abbildung 2

Modell zu persönlichen Entwicklungswegen aus der Essstörung (eigene Darstellung).......................................................................... 151

Abbildung 3

Erste Wegetappe Anfang(en) und Abrutschen in die Essstörung – Aus dem Gleichgewicht kommen (eigene Darstellung) .................... 168

Abbildung 4

Zweite Wegetappe Wende ‒ Aus dem Gleichgewicht und Wegorientierung ............................................................................... 217

Abbildung 5

Wirkungszusammenhänge der hilfreichen Aspekte als körperliche und symbolische Nahrung (eigene Darstellung) .............................. 265

Abbildung 6

Dritte Wegetappe Wege aus der Essstörung gehen ‒ Das eigene Gleichgewicht finden (eigene Darstellung) ....................................... 279

Tabellenverzeichnis Tabelle 1

Auswahl von Merkmalen der 23 Gesprächspersonen (eigene Darstellung).......................................................................... 136

Tabelle 2

Entwicklungen in den Selbst-Umfeld-Lebensbeziehungen im zeitlichen Verlauf (eigene Darstellung) ............................................ 338

Zusammenfassung Anorexie (Magersucht) und Bulimie (Ess-Brech-Sucht) sind Erkrankungen, die Betroffene, wesentlich häufiger Frauen als Männer, in ihrem Alltag stark einschränken. Die Mortalitätsrate ist im Vergleich zu anderen psychischen Erkrankungen sowie zu gleichaltrigen und gleichgeschlechtlichen Personen deutlich erhöht, die Langzeitprognose wird oft als ungünstig beschrieben. Aus diesem Grund steht in dieser Arbeit die Frage im Mittelpunkt, ob und wie die Überwindung der Essstörung dennoch gelingen kann. Da Betroffene häufig zur Anpassung an äußere Erwartungen und zur Leistungsorientierung tendieren, liegt ein besonderes Augenmerk auf Kennzeichen der Selbstentfaltung, womit das Wahrnehmen und Leben der eigenen Potentiale und Wünsche bezeichnet wird. Weitere Aspekte sind das persönliche Wachstum durch die Essstörungserfahrung ‒ mit Veränderungen in der Beziehung zu sich selbst, in den Beziehungen zu anderen, in der Beziehung zum Leben ‒ sowie hilfreiche Einflüsse im Alltag und in der Therapie. Die Auswertung der Narrationen von 23 erwachsenen Frauen, die die Anorexie und/oder Bulimie überwunden haben, richtete sich an der Grounded Theory aus. Es entstand das Modell zu persönlichen Entwicklungswegen aus der Essstörung, in dem das Gleichgewicht als Kernkategorie gilt. Nicht die Abwesenheit von Schwierigkeiten mit Essen, Gewicht und Herausforderungen im Leben, sondern der flexiblere Umgang damit ist ein zentrales Merkmal des Gleichgewichts, das im Rahmen der Überwindung gefunden wird. Dementsprechend besteht Überwindung in einem Transformationsprozess der Person und nicht in einer Rückkehr zu einem früheren, symptomfreien Zustand, wenngleich in der Forschung und in der klinischen Praxis häufig eine Orientierung an (der Abwesenheit von) Symptomen erfolgt. In der Selbst-Beziehung zeigen sich die Annäherung im Sinne einer Freundschaft mit sich selbst und die Stabilität gegenüber belastenden Einflüssen als wesentliche Veränderungen. Die Umsetzung eigener Wünsche und Vorstellungen sowie das Wohlbefinden sind gegenüber dem Erfüllen von Erwartungen wichtiger geworden. Das Entfernen von Maßstäben des näheren Umfeldes und der Gesellschaft, insbesondere von Leistungs- und Körperidealen, und damit das Leben des eigenen Maßes gestalten sich mitunter schwierig. Bewertungen nach diesen Idealen anstelle der Akzeptanz der eigenen Person von Seiten der anderen stellen neben Entwicklungsherausforderungen, belastenden Lebensereignissen und Umfeldbeziehungen einen relevanten Beitrag zur Erkrankung dar. In den Beziehungen zu anderen Menschen können die Personen mehr Tiefe erleben, unter anderem, indem sie sich mit ihrer Essstörungserfahrung, entgegen dem früheren Schweigen, anvertrauen. Die intensivere Lebensbeziehung äußert sich in der Wertschätzung ihres (Über-)Lebens und im freudvolleren Erleben. Hilfreiche Aspekte für den persönlichen Entwicklungsweg ins eigene Gleichgewicht übernehmen die Funktion der Essstörung für diese Person ‒ Stabilisierung, Schutz und/oder nonverbale Sprache ‒ und sind insbesondere: Fürsorge sich selbst gegenüber; Nähe und Wertschätzung, auch Distanzierung in Beziehungen; therapeutische Begleitung der Betroffenen mit Unterstützung ihres Umfeldes.

Abstract Eating disorders such as anorexia nervosa and bulimia nervosa affect women rather than men and come with great restrictions in daily life. The mortality rate of those affected is higher compared to non-afflicted persons of the same age and sex and is generally one of the highest among people with mental disorders. This illness is often chronic and the therapeutic outcome is still poor. Therefore, the main question of this thesis is whether it is possible to overcome an eating disorder and, if so, how. The concept of self-realization will be discussed in this thesis, as will its characteristics, being aware of and deploying one's abilities and wishes, as those affected by the illness often try to fulfill other people's expectations and aim for perfection. Other topics explored are personal growth through experiencing an eating disorder ‒ including changes in the relationship to oneself, in the relationships to others, in the relationship to life ‒ as well as positive influences on the recovery process in everyday life and therapy. To investigate these topics, the narratives of 23 adult women who have overcome an eating disorder were analyzed based on Grounded Theory. This analysis resulted in a model of personal developmental pathways out of eating disorder (Modell zu persönlichen Entwicklungswegen aus der Essstörung) with balance (Gleichgewicht) as the core category. Coping, rather than the absence of difficulties with eating, weight and other concerns, is an essential characteristic of balance and thus of overcoming an eating disorder. Hence, overcoming is a transformation in the person, not the return to an earlier and asymptomatic state, although the absence of symptoms is the central criterion for recovery in research and clinical practice. In the relationship to oneself, transformation includes self-approximation, meaning being a friend to oneself, and stability when it comes to stressful influences. In the context of overcoming an eating disorder, wellbeing and following one's wishes and visions become more important than fulfilling others' expectations. Yet, it can be difficult to distance oneself from ideals prevalent in one's environment and society, especially concerning perfectionism and body image, and therefore to define and live according to one's standard. Being judged by these ideals, instead of being accepted as an individual, contributes to the onset and advance of the disease to a great extent, as do developmental challenges, stressful life events and environmental influences. Transformation also includes greater trust in others, especially in regard to talking about the eating disorder, and building deep relationships. Moreover, the women more strongly appreciate life and their surviving the illness, and they experience their existence as being more enjoyable. Aspects that help to find the personal developmental pathway into balance replace the eating disorder's function for the concerned individual ‒ stabilization, protection, and/or nonverbal language. Some aspects which are considered as particularly helpful are caring for oneself; closeness and appreciation in relationships to others (or distancing oneself when necessary); as well as therapeutic support for the concerned person and for their family and friends.

I

VON DER IDEE ZUM FORSCHUNGSPROJEKT

1 Einleitung „Magersüchtige Mädchen können sich nicht als einheitliche oder selbstbestimmte Individuen erfahren, als Menschen, die das Recht haben, nach ihren eigenen Vorstellungen zu leben“ (Bruch, 1989, S. 75). Mit diesen Worten beschreibt Hilde Bruch, eine aus Deutschland in die USA emigrierte Psychiaterin und Psychoanalytikerin, das Problem der Anpassung von Menschen mit Anorexie (auch als Anorexia nervosa oder Magersucht bezeichnet) an die Wünsche und Anforderungen ihrer Umgebung. Bruch leistete in der Erforschung der Psychodynamik von Essstörungen besonders in den 1970erJahren Pionierarbeit und spricht mit dem Buchtitel Das verhungerte Selbst diese Anpassung an (Bruch, 1990). Meist gelten die Betroffenen in ihrer Kindheit als artig, wie es von den Erwachsenen zwar oft gutgeheißen wird, aber laut Bruch ein Warnsignal ist, da „das Kind, ‚das niemals Ärger macht‘, bereits Probleme hat, [...] [und] das übergewissenhafte, übereifrige und gefügige Verhalten ein Warnzeichen für etwas Fehlgelaufenes ist“ (Bruch, 1989, S. 76). Neben Bruch thematisieren zahlreiche weitere Autoren und Autorinnen die Kluft zwischen dem Selbst und dem tatsächlich gelebten Leben bei Menschen mit Essstörungen, indem sie diese Erkrankung als Identitätsstörung sehen (u. a. Baer, 2007; Franke, 2011; Rettenwander, 2005, 2007; Stein & Corte, 2007). Hierfür spricht auch die meist im Jugendalter liegende Erstmanifestation (u. a. Fichter, 2010; Gerlinghoff & Backmund, 2004; Herpertz et al., 2006; Zipfel & Groß, 2005). In dieser Lebensphase steht laut Erikson (1973) das Definieren der eigenen Identität im Vordergrund der persönlichen Entwicklung, weswegen es bei mangelnder Bewältigung dieser Aufgabe zur Rollendiffusion im Sinne einer Unsicherheit bezüglich eigener Wünsche, Vorstellungen und Werte kommen kann. Aufgrund dieser häufig zu beobachtenden „übergewissenhaften“ (Bruch, 1989, S. 76) Erfüllung äußerer Anforderungen jenseits eigener Wünsche und der ausgeprägten Leistungsorientierung (Gazzillo et al., 2013; Halmi et al., 2000) ist die Selbstentfaltung im Hinblick auf die Überwindung von Essstörungen von besonderem Interesse. Denn, so Bruch: „Echte Vorsorge erfordert, daß ihre angenehme Überperfektion bereits frühzeitig als ein Zeichen inneren Elends erkannt wird“ (Bruch, 1989, S. 76). Dies gilt nicht nur für das Krankheitsbild der Anorexie, sondern auch für die als Bulimia nervosa bzw. Bulimie bezeichnete Ess-Brech-Sucht (Bulik & Kendler, 2000; Ettl, 2013; Köpp, Kiesewetter & Deter, 2007; Stein & Corte, 2007). Aus diesem Grund werden beide Formen in diese Arbeit einbezogen. Selbstentfaltung Der Begriff Selbstentfaltung bezeichnet an dieser Stelle das Finden und Leben des eigenen Selbst, also der eigenen Potentiale, Wünsche und Sehnsüchte, wie es von einigen Autoren und Autorinnen innerhalb der Psychologie bzw. Psychotherapie als wesentlich für die Gesundung erachtet wird. So setzt sich der Begründer des Personenzentrierten Ansatzes bzw. der Gesprächspsychotherapie Carl R. Rogers (1984, 1985, 2009) ausführlich mit dem Prozess und der Förderung der persönlichen Entwicklung © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Kathrein, Überwindung der Essstörung als Weg ins Gleichgewicht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25971-6_1

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1 Einleitung

auseinander, ebenso wie Heinz Kohut (1981) in der von ihm bezeichneten Selbstpsychologie die Heilung des Selbst betont. Dafür bedarf es zunächst der „Suche nach dem Selbst“ (Winnicott, 1973, S. 66) und zwar, so der Psychoanalytiker Winnicott, nach dem „wahren Selbst“ im Unterschied zum „falschen Selbst“ (Winnicott, 2006, S. 182). Auch innerhalb der (Existenz-)Philosophie hat die Frage nach dem Selbstsein eine große Bedeutung. So schreibt Nietzsche etwa: „Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein; er folge seinem Gewissen, welches ihm zuruft: ,sei du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt tust, meinst, begehrst‘ “ (Nietzsche, 1954, S. 287f.). Ein Aufruf, den eigenen Potentialen Ausdruck zu verleihen, lässt sich ebenso den Worten Kierkegaards entnehmen: „Das Große ist nicht, daß einer dies oder jenes ist, sondern daß er es selbst ist; und das kann jeder Mensch sein, wenn er will“ (Kierkegaard, 2007, S. 457). An dieser Stelle wird der Begriff Selbstentfaltung bzw. Selbst-Entfaltung gegenüber anderen Bezeichnungen, beispielsweise jener der Selbstverwirklichung, bevorzugt (s. Kapitel 6.2 zur Erläuterung der Schreibweise mit und ohne Bindestrich im Modell der eigenen Forschungsarbeit). Dadurch kommt besonders gut zum Ausdruck, dass der Mensch bereits Potentiale in sich trägt, die er nur oder vor allem unter förderlichen Umgebungsbedingungen leben kann. Auf die Voraussetzung von passenden Entwicklungsbedingungen für die jeweilige Person wird häufig bei der Thematisierung der Selbstentfremdung hingewiesen. Hierbei entfernt sich die Person von sich selbst und damit von der Selbstverwirklichung bzw. Selbstentfaltung. Die Selbstentfremdung wird sowohl im Zusammenhang mit verschiedenen Merkmalen des familiären Umfeldes (Winnicott, 2006) als auch mit gesellschaftlichen Verhältnissen, wie dem Kapitalismus und prekären Arbeitsbedingungen (Fromm, 2009; Neckel & Wagner, 2013), gesehen. Letztere sind laut Thunman vom „Konflikt zwischen einer standardisierten oder bedingten und einer freien oder unbedingten Selbstverwirklichung“ (Thunman, 2013, S. 75) gekennzeichnet, da gewisse, wenn auch subtile Forderungen den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen zwar Entfaltungsfreiräume suggerieren können, tatsächlich jedoch oft dem (ausschließlichen) Nutzen der Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen dienen. Die Bedeutung der Arbeit an der eigenen Identität in der Therapie von Menschen mit Essstörungen, jenseits einer bloßen Symptombeseitigung, zeigt sich unter anderem bei Möhler (2014), wobei Tan, Hope und Stewart (2003) in diesem Zusammenhang das Erfordernis eines einfühlsamen und schrittweisen Vorgehens betonen. Bulik und Kendler (2000) weisen in dieser Hinsicht auf die Heilkraft der unspezifischen Wirkfaktoren, wie Empathie, Authentizität und wertfreie Haltung, hin. Wie auch Baer (2007) schreibt, ist zunächst der Frage: „Wer bin ich?“, also der Suche nach dem Selbst und dem Erkennen der eigenen Potentiale nachzugehen, bevor diese entfaltet werden können. Dadurch, so Bulik und Kendler sowie Tan et al., kann das wahre Selbst langsam wachsen und die Essstörung allmählich aufgegeben werden. Für diesen Prozess soll in der Therapie ausreichend Zeit zur Verfügung stehen, da die Essstörung einen großen Raum einnimmt und bestimmte Funktionen erfüllt, wie die Aufrechterhaltung von Selbstkontrolle und Sicherheit. Wird dies von den Therapeuten und Therapeutinnen nicht beachtet, stellt sich bei den Betroffenen häufig ein bedrohliches Gefühl der Leere ein. Ein solches hat wiederum ein umso stärkeres Festhalten an der Essstörung zur Folge (Bulik & Kendler, 2000; Tan et al., 2003). Hinzu kommt bei Mädchen bzw. Frauen, so Schigl,

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dass in der Therapie das Finden der weiblichen Identität von großer Bedeutung ist und sich Psychotherapeutinnen daher auch mit ihrer eigenen (un-)gelebten Weiblichkeit auseinandersetzen sollen. Die Autorin hebt dabei den Anti-Diät-Ansatz von Susie Orbach (1986) hervor, den sie in der Arbeit mit betroffenen Mädchen und Frauen als sehr hilfreich erachtet (Schigl, 2013). In den letzten Jahren haben darüber hinaus sowohl in der Therapie von psychischen als auch von physischen Erkrankungen die Salutogenese (Antonovsky, 1997) und die Ressourcenorientierung (u. a. Flückiger, 2009; Grawe & Grawe-Gerber, 1999; Schär, Flückiger & Grosse Holtforth, 2012; Schiepek & Matschi, 2013) an Bedeutung gewonnen. Die genannten Ansätze sind eng mit der Vorstellung von Selbstentfaltung, wie sie in der vorliegenden Arbeit beschrieben wird, verbunden, denn einerseits ist diese bedeutsam für das Aufrechterhalten oder Wiedererlangen von Gesundheit, und andererseits besteht ihr Kern im Leben eigener Potentiale bzw. Ressourcen. Somit kann die Selbstentfaltung als zentraler Aspekt der Salutogenese betrachtet werden (Meller, 2008), bei der sich die Person, über das Wahrnehmen und Aktivieren der persönlichen Ressourcen hinaus, in all ihren Lebensbezügen und ihrem Wesen entsprechend ausdrücken kann. Posttraumatisches bzw. persönliches Wachstum Im Zusammenhang mit Selbstentfaltung ist auch die Forschung zum posttraumatischen Wachstum (posttraumatic growth, PTG) und zu verwandten Konstrukten, beispielsweise Weisheit (u. a. Glück, Bluck, Baron & McAdams, 2005; Weststrate & Glück, 2017) sowie verschiedenen ressourcenorientierten Konzepten wie Resilienz (u. a. Werner, 1993, 2005), relevant. Beim PTG findet durch die Auseinandersetzung mit den belastenden Erfahrungen und deren Bewältigung keine Rückkehr zum prätraumatischen Entwicklungsstand, sondern eine Transformation der Person statt (Zoellner & Maercker, 2006). Die Merkmale von PTG werden je nach Autoren bzw. Autorinnen zum Teil unterschiedlich eingeteilt, woraus in der Dissertation drei Bereiche entstanden sind: Es werden Veränderungen der Beziehung zu sich selbst, der Beziehungen zu anderen und der Beziehung zum Leben im Zusammenhang mit belastenden Einflüssen beschrieben. Posttraumatisches Wachstum und stressbezogenes Wachstum (stress-related growth, growth through adversity) sind in der Literatur Begriffe mit zum Teil gleicher oder sehr ähnlicher Bedeutung. Während Park (2004) eine klare Abgrenzung vornimmt, verwenden Tedeschi und Calhoun (2004) Trauma, Krise und stressvolles Ereignis als synonyme Begriffe. In dieser Arbeit wird jedoch im Hinblick auf Essstörungen allgemein von persönlicher Entwicklung oder Selbst-Entwicklung gesprochen und nur bei Bezug auf bestimmte Studien die Formulierung der jeweiligen Autoren bzw. Autorinnen übernommen. Dies ist damit zu begründen, dass die Bezeichnung posttraumatisch ein vorangegangenes Trauma impliziert, worunter gemäß der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD; DIMDI, 2018, F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung) „ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß [verstanden wird], die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“. Ein solches Trauma kann zwar im Vorfeld einer Erkrankung, so auch

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bei Essstörungen (Frick-Baer, 2007; Mangweth-Matzek et al., 2010; Plassmann, 2010), aufgetreten sein, die Essstörung selbst stellt jedoch nicht ein Trauma in diesem engeren Sinne dar. Da die Forschung zum PTG die persönliche Entwicklung durch verschiedenartige Belastungen, also nicht nur durch Traumata, einbezieht, bildet sie dennoch eine wichtige Basis für die vorliegende Arbeit. Zudem verwenden auch andere Autoren und Autorinnen (u. a. Aldwin & Levenson, 2004; Park, 2004) den allgemeineren Begriff des stressbezogenen Wachstums. Über das PTG hinaus sind weitere Konzepte der Entwicklungspsychologie, wie Entwicklungsaufgaben (Havighurst, 1972; Oerter, 1998, S. 120ff.; Reinders, 2002) und kritische Lebensereignisse (Filipp & Ferring, 2002; Montada, 1998, S. 68ff.), von Interesse, um einen umfassenderen Blick auf die persönliche Entwicklung im Rahmen der Überwindung einer Essstörung zu ermöglichen. Forschungsanliegen: Selbstentfaltung, persönliches Wachstum und Überwindung der Essstörung Forschung zur Überwindung von Essstörungen, wie zu den beschriebenen Aspekten der Selbstentfaltung und des persönlichen Wachstums, ist von großer Relevanz, da diese schwerwiegenden Erkrankungen einen lebensbedrohlichen, chronischen Verlauf nehmen können (u. a. Fichter, 2010; Herzog, Friederich, Wild, Löwe & Zipfel, 2006). Für Mädchen bzw. Frauen zwischen 15 und 35 Jahren liegen die Punkt- und die 12-MonatsPrävalenz jeweils bei ca. 0.4 %, für Bulimie bei 1‒1.5 %. Männer sind im Vergleich zu Frauen mit einem Verhältnis von ungefähr 1:10 wesentlich seltener von Essstörungen betroffen (APA, 2015; Fichter, 2010). Die Mortalitätsrate ist eine der höchsten unter allen psychischen Erkrankungen, insbesondere bei Anorexie und später Erstmanifestation (Arcelus, Mitchell, Wales & Nielsen, 2011; Fichter, 2010; Hoek, 2016; Smink, van Hoeken & Hoek, 2012). Laut Hoek (2016) beträgt die standardisierte Mortalitätsrate für Anorexie 5.35 und für Bulimie 1.49. Das Sterberisiko ist somit gegenüber Personen der gleichen Altersgruppe und des gleichen Geschlechts vor allem bei Anorexie deutlich erhöht. Als häufigste Todesursachen gelten erkrankungsspezifische Komplikationen und Suizid (APA, 2015). Außerdem wird die Prognose, wenngleich die Zahlen in den Studien variieren, insgesamt als ungünstig beschrieben: Nach Giel et al. (2013) erfahren ca. 40 % der Patientinnen mit Anorexie innerhalb des ersten Jahres nach der Entlassung aus dem Krankenhaus einen Rückfall. Zeeck et al. (2010) sprechen bei Anorexie mit Bezug auf eine Analyse von Steinhausen (2002) von einer Heilung bei 50 %, einer teilweisen Verbesserung bei 30 % und einem chronischen Verlauf bei 20 % der Betroffenen. Noch mehr als bei Anorexie unterscheiden sich die Zahlen, die in verschiedenen Studien angegeben werden, bei Bulimie. Eine Verringerung der Symptomatik tritt durch eine Therapie zwar bei 50‒70 % der Personen mit Bulimie ein, allerdings kommt es häufig zu Rückfällen (Jacobi et al., 2010). Die hohe Anzahl von Rückfällen, auch nach längeren Therapieaufenthalten, weist auf eine begrenzte Wirksamkeit therapeutischer Ansätze hin (Giel et al., 2013; Hay, 2013; Herpertz & Herpertz-Dahlmann, 2017). Es ist anzunehmen, dass es für eine dauerhafte Überwindung der Erkrankung umfassender innerpsychischer Veränderungen bedarf, die über therapeutische Interventionen hinausreichen. Die Erforschung dieser Veränderungen erfordert einen qualitativen Zugang, der bisher im Vergleich zu quantitativen

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Studien wesentlich seltener gewählt wurde. Insbesondere über Prozesse außerhalb des therapeutischen Settings liegen noch weniger Ergebnisse vor (u. a. Lamoureux & Bottorff, 2005; Weaver, Wuest & Ciliska, 2005). Aus diesem Grund wurden im Rahmen der vorliegenden Arbeit 24 narrative Interviews (Schütze, 1983) mit Frauen, die eine Anorexie und/oder Bulimie überwunden haben, geführt und in Anlehnung an die Grounded Theory (Strauss & Corbin, 1996) ausgewertet. Dabei steht das Erleben der Personen im Vordergrund, indem die von den Frauen erfahrenen innerpsychischen Veränderungen sowie Einflüsse, die dazu beigetragen haben, beschrieben werden. Folgende Hauptfragestellungen, erweitert durch untergeordnete Detailfragen, bildeten den Ausgangspunkt des Dissertationsprojekts: •



Welche Wege aus der Essstörung beschreiben die ehemaligen Betroffenen? - Welche innerpsychischen Veränderungen erlebten sie subjektiv? - Inwieweit lassen sich die erlebten innerpsychischen Veränderungen Aspekten der Selbstentfaltung (Wahrnehmen und Realisieren der eigenen Potentiale, Wünsche und Vorstellungen) und/oder des persönlichen Wachstums (Veränderungen der Beziehung zu sich, der Beziehungen zu anderen und der Beziehung zum Leben) zuordnen? Wodurch wurden diese innerpsychischen Veränderungen angeregt? - Welche gemeinsamen und individuellen Einflüsse auf die Bewältigung der Essstörung, innerhalb und vor allem außerhalb therapeutischer Kontexte, lassen sich beschreiben?

Ziel des Projekts war nicht, lediglich einzelne hilfreiche Aspekte für die Überwindung der Essstörung aufzugreifen, wie dies in anderen Untersuchungen der Fall ist (z. B. Esherick, 2003; Rettenwander, 2005, 2007). Stattdessen sollten diese Aspekte in einem Gesamtkontext, nämlich der individuellen Lebensgeschichte, betrachtet werden, um anschließend biografieübergreifende Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu beschreiben. Damit wurde ein tieferes Verständnis für das Zusammenwirken von heilsamen Einflüssen auf die Überwindung der Essstörung angestrebt, um so zur Verbesserung der jeweiligen Heilungschancen beizutragen. Über die individuelle Ebene hinaus richtet sich der Blick in dieser Arbeit zudem auf gesellschaftliche Bedingungen und zwar nicht nur auf das verbreitete Schönheitsideal, das häufig im Zusammenhang mit Essstörungen diskutiert wird. Vor allem der im Alltag präsente Einfluss der Leistungsanforderungen und des Wettbewerbes ist hier aufgrund der bereits genannten Leistungsorientierung und Anpassung der Betroffenen an Normen zu erwähnen. Auf Basis der Erforschung von individuellen und gesellschaftlichen heilungsfördernden Bedingungen gilt es zu diskutieren, ob bzw. wie diese Aspekte in die Lebensgestaltung und in die Therapie einfließen könnten. Aufbau der Arbeit Nach dieser Einleitung zum Thema der Forschungsarbeit folgen in Kapitel 2 Ausführungen zu verschiedenen Theorien, aus denen sich die Fragestellungen entwickelt haben und die umgekehrt für die Ergebnisse der eigenen Untersuchung relevant sind. Dazu

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wird zunächst ein Einblick in das allgemeine Verständnis von Krankheit und Gesundheit gegeben, da sich im Laufe des Forschungsprojekts die Komplexität dieses Phänomens zeigte. Wann gilt eine Person als krank bzw. gesund? Welche Vorstellungen bestehen hierzu? Anschließend wird diese Sichtweise konkret im Hinblick auf die Essstörungsformen Anorexie und Bulimie beschrieben. Neben diagnostischen Merkmalen werden Auswirkungen der Essstörung, sowohl unmittelbar auf die Betroffenen als auch auf das Umfeld, thematisiert. Nicht nur körperliche Folgen, sondern auch Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen sind hier zu nennen. Außerdem geht die Essstörung häufig mit anderen psychischen Erkrankungen bzw. Verhaltenstendenzen, beispielsweise mit Substanzmissbrauch oder zwanghaftem Verhalten, einher. Daher werden Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen diesen assoziierten Problemen und der Essstörung ausgeführt. Die Frage nach den Beiträgen zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Essstörung ist im zweiten Kapitel ein weiterer wichtiger Aspekt. Hier dienen epidemiologische Studien insbesondere im Hinblick auf soziokulturelle Einflüsse als Basis. Den Schwerpunkt bilden die Erläuterungen zur unsicheren Identität der Betroffenen sowie zur familiären Kommunikations- und Beziehungsdynamik, um abschließend den Stellenwert von gesellschaftlichen Idealen für die Entstehung von Essstörungen zu beleuchten. Diese sind aufgrund der Anpassung und Leistungsorientierung, die bei Menschen mit Essstörungen häufig zu beobachten sind, von Bedeutung und reichen über das Schönheitsideal hinaus. Die Vermittlung über soziale Medien, aber auch durch das nahe Umfeld, in Form von direkter Aufforderung oder Modelllernen trägt zur Internalisierung dieser Maßstäbe mit entsprechenden Auswirkungen auf das subjektive Verhalten und Empfinden bei. Nach der Beschreibung von Symptomatik und Dynamik stellen verschiedene therapeutische Ansätze und deren Zielsetzungen einen weiteren Unterpunkt zum Thema Essstörungen dar. Hilfreiche Beiträge im Rahmen der Therapie sowie im Alltag sind hier von Interesse. Zum Abschluss des zweiten Kapitels wird der Frage nachgegangen, inwiefern die Überwindung in der Literatur überhaupt als Möglichkeit erachtet wird bzw. welche Kriterien dafür gelten. Somit schließt sich der Kreis zu den Ausführungen am Beginn im Hinblick auf das allgemeine Gesundheits- und Krankheitsverständnis. In Kapitel 3 erfolgen eingangs eine Definition des Selbst-Begriffs, der insbesondere für die thematische Vertiefung der Selbstentfaltung von großer Relevanz ist, und die Abgrenzung von den einander ähnlichen Begriffen Identität, Ich, Person und Persönlichkeit. Ebenso beinhaltet dieses Kapitel die Beschreibung von Aspekten, die mit dem Selbst in Zusammenhang stehen, wie das Selbstkonzept oder das Selbstbild. Im Anschluss stehen Theorien zur Erläuterung der Entwicklung in den frühen Lebensjahren und im Jugendalter im Vordergrund. Die Jugendzeit ist aufgrund des häufigen Beginns der Essstörung in dieser Phase von besonderem Interesse. Hier werden unter anderem das Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung von Erikson, das Identitätsmodell von Marcia und die Entwicklungsaufgaben nach Havighurst einbezogen. Berücksichtigung finden außerdem psychoanalytische Theorien zur Entwicklung des Selbst. Die Selbstentfaltung wird als ein zentraler Aspekt dieser Arbeit in einem weiteren Abschnitt des dritten Kapitels hervorgehoben. Dieser beinhaltet vor allem humanistische, motivationspsychologische und analytische Ansätze, die mit verschiedenen Begriffen,

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wie Selbstverwirklichung oder Individuation, auf die Idee der Selbstentfaltung Bezug nehmen. Entsprechend der Fragestellungen dieser Arbeit schließen Ausführungen zum persönlichen Wachstum als relevante Entwicklungstheorie sowie zu folgenden verwandten Konzepten an: Ressourcenorientierung, Optimismus, Hardiness, Kohärenzgefühl, Resilienz und Weisheit. Angesichts der zahlreichen Ansätze und Forschungsarbeiten zur persönlichen Entwicklung bildet eine Zusammenfassung wichtiger Aspekte das Ende des dritten Kapitels. Nach der theoretischen Vertiefung zentraler Themenbereiche wird in Kapitel 4 die methodische Vorgehensweise im Rahmen des vorliegenden Projekts erläutert. Neben der Begründung der Entscheidung für das narrative Interview und der Auswertung in Anlehnung an die Grounded Theory stehen vor allem die konkreten Ausführungsschritte im Mittelpunkt: von der Auswahl der Gesprächspersonen über die Durchführung der Gespräche bis zum Vorgehen bei der Auswertung. Vor- und Nachteile der angewandten Methodik werden reflektiert, ebenso die Rückmeldungen der Personen nach dem Gespräch und die Veränderung des (methodischen) Blicks im Laufe des Forschungsprozesses. Im zweiten Teil der Arbeit werden die Ergebnisse der Auswertung in Form eines Modells zu persönlichen Entwicklungswegen aus der Essstörung dargestellt. Zunächst erfolgen ein Überblick über das Modell in Kapitel 5 sowie Ausführungen zu den Formulierungen der Gesprächspersonen, die sich auf Gesundheit und Krankheit im Allgemeinen sowie die Essstörung im Konkreten beziehen, in Kapitel 6. Ebenso wird die Sichtweise auf die Essstörung als Forscherin, insbesondere auf die Definition von Überwindung, dargelegt und die Schreibweise in der Ergebnisdarstellung, vor allem die zusammengesetzte bzw. getrennte Form im Fall des Selbst-Begriffs, erklärt. Wie der Titel des Buches und die Überschriften verdeutlichen, ist das Gleichgewicht die Kernkategorie dieses Modells. Das Verständnis von Gleichgewicht im konkreten Fall der Essstörung, insbesondere deren Überwindung, wird in Kapitel 7 erläutert. Dieses Hauptkapitel beinhaltet die Beschreibung der einzelnen Etappen: den Weg in die Essstörung, die Wende und den Weg aus der Essstörung. In der ersten Etappe werden erkrankungsbeitragende Aspekte und das Erleben der Essstörung von Seiten der Gesprächspersonen thematisiert. Zunächst stellt sich die Essstörung noch als Ausweg dar, häufig jedoch spitzt sich die Situation allmählich zu: Der Leidensdruck steigt und trägt mit verschiedenen hilfreichen Einflüssen zur Wende bei. Diese unterstützenden Beiträge auf dem Weg aus der Essstörung werden vertieft, einzeln sowie in Form der Wirkungszusammenhänge. Dabei liegt der Fokus auf außertherapeutischen Aspekten, da diese im Rahmen der vorliegenden Arbeit von besonderem Interesse sind, jedoch wird auch in einem gewissen Ausmaß die Therapie einbezogen. Somit stehen hier die Art und Wirkung der hilfreichen Aspekte im Vordergrund. Das darauffolgende Unterkapitel hingegen thematisiert die Merkmale der Überwindung, nämlich im Hinblick auf die sichtbare Symptomatik sowie ‒ entsprechend den Bereichen des posttraumatischen bzw. persönlichen Wachstums ‒ jeweils auf Ebene der Selbst-Beziehung, der Umfeldbeziehungen und der Lebensbeziehung. Die Beeinflussung der Beziehungsebenen durch Veränderungen auf den jeweils anderen Ebenen, z. B. das Erleben von mehr Of-

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fenheit in den Beziehungen zu anderen (Umfeldbeziehungen) durch vermehrte Wahrnehmung und Äußerung eigener Bedürfnisse (Selbst-Beziehung), wird unter dem Aspekt des Gleichgewichts in den Selbst-Umfeld-Lebensbeziehungen beschrieben. Nach der Darstellung des Modells mit den einzelnen Etappen der persönlichen Entwicklungswege aus der Essstörung steht in Kapitel 8 der Längsverlauf dieser Wege im Mittelpunkt. Aufgrund ihrer Präsenz in den Erzählungen der Gesprächspersonen werden zunächst allgemeine Kennzeichen der Verläufe vertieft. Beispielsweise sind der Prozesscharakter sowie besonders das unterschiedliche Ausmaß an Kontrolle und Aktivität auf den einzelnen Etappen deutlich erkennbar. Danach folgen Auffassungen der Gesprächspersonen in Bezug auf die Selbst-Entwicklung. Sie nennen hierzu verschiedene Formen, die sich in unterschiedlichem Ausmaß als Selbst-Entfaltung definieren lassen. Diese werden anschließend anhand konkreter Entwicklungen, die sich im Laufe der Überwindung in den Selbst-Umfeld-Lebensbeziehungen als bedeutsam erwiesen haben, erläutert. Der dritte und letzte Teil dieser Arbeit beginnt mit Kapitel 9, das die Zusammenfassung der wichtigsten Forschungsergebnisse und deren Diskussion vor dem Hintergrund relevanter Theorien des ersten Teiles beinhaltet. Insbesondere Überlegungen zum Verständnis der Überwindung einer Essstörung sollen eine Anregung für zukünftige Forschungsarbeiten sein. Auf Basis der Ergebnisse und deren Interpretation werden in Kapitel 10 Anregungen für Betroffene, für Menschen im Umfeld sowie für Therapeuten bzw. Therapeutinnen gegeben, die vor allem den Weg aus der Essstörung für alle Beteiligten erleichtern sollen. Ergänzend sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die beschriebenen Kapitel einer Gliederungslogik folgen, insbesondere im Hinblick auf das Modell zu persönlichen Entwicklungswegen aus der Essstörung. So steht die Reihenfolge der Unterkapitel des siebten Kapitels für die Aufeinanderfolge der Wegetappen im Rahmen der Erkrankung und Überwindung. Diese Logik gilt nicht für die in Fettdruck markierten Zwischenüberschriften im Text, die nur die Orientierung und Lesbarkeit erleichtern sollen und dementsprechend nicht im Inhaltsverzeichnis aufscheinen.

2 Essstörungen ‒ Anorexie und Bulimie Am Beginn dieses Kapitels wird zunächst auf die Frage nach der Definition von Gesundheit und Krankheit eingegangen. Dieses allgemeine Verständnis hat auch Einfluss auf die Diagnostik und Therapie der Essstörung als eine konkrete Erkrankung. Aus der Vielzahl an Modellen werden die wichtigsten Aspekte aufgegriffen, wobei hier insbesondere Auffassungen von Gesundheit bzw. Krankheit als Prozess und als mehrdimensionales Phänomen sowie förderliche und einschränkende Aspekte von Bedeutung sind. Anschließend werden die Essstörungsformen Anorexia nervosa (Anorexie) und Bulimia nervosa (Bulimie) näher beschrieben. Hier stehen unter anderem diagnostische Merkmale und mit den Essstörungen einhergehende Probleme im Vordergrund. Zu diesen Problemen gehören körperliche Folgen sowie Einschränkungen in den Beziehungen zum Umfeld. Außerdem werden häufig zu beobachtende Begleiterkrankungen, deren Zusammenhang mit Essstörungen und diagnostische Unterschiede angeführt. Nach einem Einblick in die Symptomatik folgt eine Darstellung ausgewählter Erklärungsansätze zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Anorexie und Bulimie, wofür Erkenntnisse aus kognitiv-behavioristischen, psychodynamischen und systemischen Modellen einbezogen werden. Schwierigkeiten im Hinblick auf die eigene Identitätsdefinition, Merkmale familiärer Beziehungen und der Stellenwert gesellschaftlich vermittelter Ideale stehen hier im Mittelpunkt. Außerdem liefern epidemiologische Daten Hinweise, insbesondere zu kulturellen und geografischen Einflussfaktoren. Inhalt des letzten Unterkapitels ist die Überwindung von Essstörungen als zentraler Aspekt dieser Arbeit. Zunächst wird ein Überblick über therapeutische Zugänge gegeben, wobei, neben verschiedenen anderen Therapieformen mit Setting und Zielsetzungen, systemische Aspekte und Angebote sowie insbesondere die therapeutische Beziehung als hilfreiche Beiträge im Vordergrund stehen. Außerdem sind die Indikation und Handhabung der Zwangsbehandlung ein Thema. Entsprechend dem Beziehungsschwerpunkt in den Ausführungen zur Therapie folgt die Beschreibung von möglichen Formen der sozialen Unterstützung für Betroffene im Alltag. In diesem Kapitel ist außerdem die Frage nach der Möglichkeit, eine Essstörung zu überwinden, von Interesse. Dafür wird abschließend anhand verschiedener Forschungsbeiträge, in denen entsprechende Kriterien formuliert sind, ein Resümee gezogen, ob die Überwindung einer Essstörung nach Ansicht der Forschenden als Ideal gilt oder Wirklichkeit werden kann. 2.1 Konzepte von Gesundheit und Krankheit „Die Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht bloß das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“ (Bundesgesetzblatt [BGBl] Nr. 96/1949, S. 7). Diese Definition von Gesundheit nach WHO (World Health Organization) ist einerseits die Beschreibung eines Zustandes und andererseits eines absoluten Maßes in Form der Vollkommenheit. In verschiedenen Modellen hingegen werden Gesundheit und Krankheit auf einem Kontinuum und nicht als Gegensätze gedacht. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Kathrein, Überwindung der Essstörung als Weg ins Gleichgewicht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25971-6_2

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Gesundheit und Krankheit als Kontinuum In der systemtheoretischen Auffassung gilt Gesundheit als Gleichgewicht bzw. Homöostase (Franke, 2012, S. 45ff.), wobei die dynamische Interaktion zwischen Person und Umfeld die Prozesshaftigkeit, ebenso die Gleichzeitigkeit von Gesundheit und Krankheit ausmacht. So kann sich eine Person auf verschiedenen Ebenen mehr oder weniger gesund fühlen, etwa wenn sie körperlich beeinträchtigt ist, aber zugleich über intakte geistige Fähigkeiten verfügt. Der Umgang mit dieser Beeinträchtigung wiederum kann als ein Merkmal von Gesundheit gelten (Faltermaier, 2005, S. 35f.). Für das Gleichgewicht ist somit die Flexibilität der Person gegenüber Einflüssen von Bedeutung (Noske, 2017). In Bezug auf das Essverhalten heißt das, dass weder die Fixierung noch die Ablehnung, sondern ein auf die jeweilige Situation abgestimmter Umgang mit dem Essen, somit eine Bewegung zwischen diesen Polen, Gesundheit ausmacht. Auf diesem Kontinuum gibt es verschiedene Ernährungsformen, beispielsweise die vegane Ernährung, ohne dass diese als diagnostizierte Störungen gelten. Unklar ist die Einordnung der Orthorexia nervosa, bei der das rigide Verfolgen eines gesunden Essverhaltens zwar als Auffälligkeit gilt, jedoch nicht als Krankheit klassifiziert wird (Barthels & Pietrowsky, 2012). Das Verständnis eines Kontinuums zwischen Gesundheit und Krankheit ist ein zentrales Merkmal des Salutogenesekonzepts von Antonovsky (1997). Damit können alle Menschen ohne Trennung zwischen Gesunden und Kranken beschrieben werden. Dieses Konzept steht den pathogenetischen Sichtweisen des biomedizinischen, aber auch des biopsychosozialen Modells entgegen. Während Antonovsky jedoch ein Maximum an Gesundheit als positiven Pol, ein Maximum an Krankheit als negativen Pol sowie Gesundheit über einschränkende Kriterien beschreibt, schlägt Faltermaier (2005) ein Kontinuum zwischen minimaler und maximaler Gesundheit auf körperlicher, psychischer und sozialer Ebene vor. Gesundheit und Krankheit sind dabei gleichzeitig präsent und stehen, abhängig von ihrer Position auf dem Kontinuum, in einem bestimmten Verhältnis. Anzumerken ist, dass Krankheit in Faltermaiers Modell auch positiv sein kann, wenn diese infolge einer destabilisierenden Einwirkung das Wiedererlangen von Gleichgewicht der Person und damit deren Annäherung an den Pol maximaler Gesundheit fördert (Faltermaier, 2005, S. 49ff., S. 152f.). (Un-)Sichtbarkeit von Krankheit und Gesundheit Viel häufiger als Gesundheit wird Krankheit mit ihren Symptomen beschrieben ‒ so spricht auch Gadamer von der „Verborgenheit der Gesundheit“ (Gadamer, 2010, S. 133). Die Sichtweise auf Gesundheit und Krankheit und damit auch deren Beschreibung sind nicht universell, sondern sozial und kulturell geprägt. Zudem verändert sich der Krankheitsbegriff im zeitlichen Verlauf. Dies zeigt sich an der regelmäßigen Überarbeitung und Erweiterung der Klassifikationssysteme ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), die von der WHO für alle Erkrankungen erstellt wird, und DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) der APA (American Psychiatric Association) für psychische und psychiatrische Er-

2.1 Konzepte von Gesundheit und Krankheit

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krankungen. Insbesondere im biomedizinischen Modell werden die Krankheitssymptome als Störung oder Abweichung von Kriterien, einer Norm, beschrieben und als messbar betrachtet. Unter den Normen sind statistische, ideale, soziale, funktionale von subjektiven Normen zu differenzieren. Das Erfüllen einer statistischen Norm bedeutet, in Bezug auf dieses Merkmal der Mehrheit anzugehören, während eine ideale Norm als, zumindest gesellschaftlich, erstrebenswert, aber unerreichbar gilt. Soziale Normen umfassen gesellschaftliche Erwartungen an eine Person, wie es auch bei funktionalen Normen, jedoch auf einen bestimmten Kontext bezogen, der Fall ist. Das Idealgewicht ist ein Beispiel für eine ideale Norm. Auch wenn dieses Idealgewicht, entgegen der zuvor erwähnten Unerreichbarkeit idealer Normen, real werden kann, ist zu hinterfragen, inwiefern dieses bei der konkreten Person mit Wohlbefinden als einem wichtigen Kennzeichen von Gesundheit einhergeht. Als Beispiel für eine soziale Norm sind geschlechtsspezifische Erwartungen zu nennen. Die Leistungsfähigkeit in Beruf und Familie gilt als eine funktionale Norm. Die genannten Normen beeinflussen die subjektive Norm, also den Maßstab, den die Person an sich selber anlegt (Faltermaier, 2005, S. 30ff.; Franke, 2001a, S. 13ff.). Wenngleich das Fehlen von Krankheitssymptomen mitunter die Vorstellung von Gesundheit prägt, ist diese nicht als Abwesenheit von Störung, sondern durch die Präsenz oder Absenz bestimmter Merkmale auf körperlicher, psychischer und sozialer Ebene zu definieren. Diese Merkmale auf den einzelnen Ebenen sind in unterschiedlichem Ausmaß anhand von individuellen und sozialen Normen objektivierbar und machen Gesundheit einerseits als Zustand, andererseits als Prozess sichtbar. Die Zustandsbeschreibung erfolgt nach Faltermaier anhand der Aspekte: subjektives Wohlbefinden; Aktionspotential im Sinne von Handlungs- und Leistungsfähigkeit; fehlende oder kaum vorhandene Einschränkung auf den drei genannten Ebenen (körperlich, psychisch und sozial). Den Prozesscharakter erhält die Gesundheit einerseits im Sinne einer Schwankungsbreite über eine kurze Zeitspanne, andererseits längerfristig im Lebenslauf. Faltermaier weist hierbei auf die Begriffe von Becker et al. (2000) hin, die von der aktuellen Gesundheit im Sinne von kurzzeitigen Veränderungen und von der habituellen Gesundheit im Hinblick auf längere Zeiträume sprechen. Die Schwankungsbreite bzw. Prozesshaftigkeit besteht in Form einer Bewegung zwischen verschiedenen Ausprägungen der oben erwähnten körperlichen, psychischen und sozialen Merkmale. Eine solche flexible Bewegung anstatt eines gleichbleibenden absoluten Maßes wurde bereits an obiger Stelle als allgemeines Merkmal des Gleichgewichts genannt, das somit nach dieser Auffassung wiederum ein Kennzeichen von Gesundheit ist (Faltermaier, 2005, S. 149ff., S. 196). Objektive Kriterien und Normen können jedenfalls nur einen Teil von Gesundheit bzw. Krankheit erfassen. Wie im eingangs angeführten Zitat der WHO mit dem Begriff Wohlbefinden deutlich wurde, ist Gesundheit ein Phänomen, das über intakte körperliche Abläufe und die Abwesenheit von Krankheit hinausgeht. Von Bedeutung ist die Lebensqualität, die zwar durch objektive Kriterien wie körperliche Unversehrtheit, Wohn- und Berufsbedingungen beeinflusst, aber nicht ausschließlich bestimmt wird. Auch wenn keine körperliche Krankheit besteht, kann beispielsweise Konkurrenz am Arbeitsplatz das Wohlbefinden einschränken. Das subjektive Erleben der eigenen Situation steht somit im Mittelpunkt. Die Auswirkung einer Erkrankung bzw. der Einfluss der Therapie

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auf die körperliche und seelische Verfassung sowie auf die Teilhabe im Alltag und im Sozialleben wird im medizinisch-psychologischen Bereich häufig in Form der gesundheitsbezogenen Lebensqualität erfasst (Renneberg & Lippke, 2006). Verkörperung von Erfahrungen: Körpergedächtnis und Embodiment Eine umfassende Sichtweise auf Gesundheit und Krankheit wird auch mit dem Begriff des Körpergedächtnisses, der die Speicherung der Sinnesinformationen auf neuronaler Ebene meint, vorgeschlagen. Reize bewirken eine entsprechende Verschaltung von Nervenzellen mit synaptischen Verbindungen, wobei im entstehenden neuronalen Netzwerk die gesamte Reizinformation von allen beteiligten Sinnesebenen, auch von frühen Kindheitserfahrungen, enthalten ist. Dadurch werden beispielsweise nicht nur die Worte einer Person erinnert, sondern auch andere Situationscharakteristika und Empfindungen, wie Gerüche und Gefühle. So kann ein Ort, an dem eine Person einen tätlichen Übergriff erlebte, zu einem späteren Zeitpunkt erneut ein Gefühl von Angst auslösen. Ebenso ermöglichen Körpererfahrungen, beispielsweise ein bestimmter Bewegungsablauf oder eine Berührung an einer Körperstelle, die Erinnerung an eine erlebte Situation, an einen Geruch etc. Auf der Annahme dieser Zusammenhänge basieren körperpsychotherapeutische Ansätze, in denen der Körper neben dem verbalen als weiterer therapeutischer Zugang dient (Hüther, 2006, 2010; Künzler, 2010; Maurer, 2010; Sebald, 2016). Embodiment als ein ähnlicher Begriff weist auf das Verständnis eines Ausdrucks von seelischen und kognitiven Prozessen sowie von sozialen Erfahrungen auf körperlicher Ebene hin – diese sind somit verkörpert. Wenngleich es hierzu verschiedene Positionen gibt, betonen Tschacher und Storch die Wechselwirkung zwischen diesen Bereichen und distanzieren sich von der Auffassung, dass sich Seele und Geist auf körperliche, neurobiologische Vorgänge reduzieren ließen (Tschacher & Storch, 2010). Deutlich wird an der Beschreibung der Begriffe Körpergedächtnis und Embodiment, dass das Umfeld Spuren in der Person hinterlässt. Dies ist im Hinblick auf Beiträge des Umfeldes zur Essstörung und zu deren Überwindung von Relevanz. Neben dem näheren Umfeld sind hier soziale Bedingungen im Allgemeinen einzubeziehen. Besonders deutlich wird dieser Einfluss in den Buchtiteln Verkörperung des Sozialen (Gugutzer, 2012) und Der Körper als soziales Gedächtnis (Heinlein, Dimbath, Schindler & Wehling, 2016). Einflüsse auf Gesundheit und Krankheit: Risiko- und Schutzfaktoren Wie die Dimensionen von Gesundheit und Krankheit sind auch die Einflüsse vielfältig, deren Auswirkungen erst Jahre später sichtbar werden können. Schubert und Amberger weisen auf eine amerikanische Untersuchung zu traumatischen Erlebnissen in der Kindheit, die ACE-Studie (adverse childhood experiences), hin. Darin ist eine wesentlich höhere Auftretenswahrscheinlichkeit für Autoimmunerkrankungen durch solche Erfahrungen zu verzeichnen (Schubert & Amberger, 2016, S. 177). Schwierigkeiten und

2.1 Konzepte von Gesundheit und Krankheit

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Konflikte wirken jedoch nur bei unzureichender Bewältigung hemmend und tragen andernfalls zur Entwicklung einer Person bei (Noske, 2017). Im Hinblick auf das Auftreten von Krankheiten werden verschiedene Risikofaktoren beschrieben, die jedoch nicht in einem kausalen, sondern in einem wahrscheinlichkeitserhöhenden Zusammenhang zu verstehen sind. Dieses Risiko wiederum bezieht sich auf eine definierte Population und nicht auf die einzelne Person. Für die Erklärung der Entstehung von Krankheiten existieren heute zahlreiche Modelle, in denen das Zusammenwirken von Faktoren auf verschiedenen Ebenen betrachtet wird: Äußere Stressreize, beispielsweise hohe berufliche Anforderungen, sowie Eigenschaften und Verhalten der Person gehen mit physiologischen Prozessen einher. Eine Krankheit kann sich manifestieren, jedoch durch protektive Faktoren verhindert bzw. die Wahrscheinlichkeit reduziert werden (Faltermaier, 2005, S. 53ff., S. 157). Der Begriff Stress findet im Alltag häufig Verwendung, wobei in verschiedenen Stressmodellen neben objektiven Reizen, den Stressoren, besonders dem subjektiven Erleben Beachtung geschenkt wird. Als bekanntes Beispiel gilt das Transaktionale Stressmodell von Lazarus, in dem die subjektive Bewertung der Person einen wesentlichen Beitrag zur Belastung darstellt (Faltermaier, 2005, S. 77; Folkman, Lazarus, Gruen & DeLongis, 1986; Lazarus, 2001). An dieser Stelle ist außerdem die Forschung zu subjektiven Theorien zu nennen, die in Bezug auf Krankheit bzw. Gesundheit als subjektive Krankheits- bzw. Gesundheitstheorien bezeichnet werden. Subjektive Sichtweisen der Person entstehen aus Informationen zum Thema, mitunter aus eigenen Erfahrungen, und beeinflussen das Handeln sowie das Erleben (Faltermaier, 1991, 2005, S. 226; Flick, 1991). Belastungsreaktionen auf physischer und psychischer Ebene werden häufig durch das Eintreten von Ereignissen ausgelöst. Doch auch deren Ausbleiben, nämlich wenn diese einen Wunsch oder ein Ziel darstellen, kann mit Stresserleben einhergehen. Manche persönliche Merkmale, wie Leistungsorientierung, wirken stressverstärkend, ebenso eine negative subjektive Bewertung des Ereignisses, mangelnde Bewältigungsstrategien und erschwerende soziale Bedingungen (Reimann & Pohl, 2006). Neben Risikofaktoren werden in der Literatur auch Schutzfaktoren beschrieben, wobei diese nach Faltermaier von Gesundheitsressourcen zu unterscheiden sind (s. Kapitel 3.3.3). Während der Fokus bei Schutzfaktoren auf der Krankheitsvermeidung liegt, dienen Gesundheitsressourcen der Förderung von Gesundheit. Eine integrative Sicht, bei der Gesundheit und Krankheit als Kontinuum verstanden werden, legt jedoch nahe, diese Aspekte nicht voneinander zu trennen. Anders als Antonovsky, der den leichteren Umgang mit Belastungen durch die von ihm so bezeichneten allgemeinen Widerstandsressourcen beschreibt, sind für Faltermaier die Gesundheitsressourcen zwar auch in dieser Hinsicht wirksam. Er definiert diese jedoch zusätzlich als Beitrag zur Annäherung an eine maximale Gesundheit und nicht nur zur Verbesserung der Bewältigungsmöglichkeit schwieriger Einflüsse. Hier zeigt sich außerdem die Differenzierung zwischen Prävention und Gesundheitsförderung: Unter Prävention wird die Vermeidung einer Krankheit (primäre Prävention), deren Eindämmung bei bereits vorhandenen Symptomen (sekundäre Prävention) und das Bewahren vor weiteren Folgen (tertiäre Prävention) verstanden. Diese drei Formen sind jedoch nicht strikt voneinander

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abzugrenzen. Gesundheitsförderung hingegen legt den Fokus nicht auf Krankheit, sondern auf Gesundheit, die verbessert bzw. erhalten werden soll (Faltermaier, 2005, S. 157, S. 294ff.). Soziale Unterstützung als Beitrag zur Gesundheit Als Beitrag zur Gesundheit sind einerseits persönliche Ressourcen von Bedeutung, wozu beispielsweise Resilienz oder Hardiness im Sinne von Widerstandsfähigkeit zählen. Hierzu sei auf das Kapitel 3.3.3 verwiesen. Andererseits haben soziale Ressourcen im Sinne von Beziehungen einen großen Einfluss auf die Ausprägung von Gesundheit bzw. Krankheit. Diese Ressourcen sind bei Inanspruchnahme in konkreten Situationen, z. B. Beaufsichtigung des Kindes durch die Nachbarn während des Arztbesuches der Mutter, als soziale Unterstützung zu bezeichnen. Faltermaier unterscheidet mit Bezug zu House (1981) die emotionale, instrumentelle, informationelle und evaluative Unterstützung. Emotionale Unterstützung ist die einfühlsame Anteilnahme des Umfeldes, evaluative Unterstützung hingegen die Rückmeldung, wie die Person wahrgenommen wird. Durch konkrete Handlungen, etwa durch die gemeinsame Organisation eines Umzuges, kann das Umfeld instrumentell hilfreich sein. Die Weitergabe von Informationen, beispielsweise über die Beantragung einer Rehabilitationsmaßnahme, stellt eine informationelle Unterstützung dar. Wenngleich die genauen Wirkungszusammenhänge nur teilweise bekannt sind, zeigt sich die soziale Unterstützung, insbesondere in ihrem emotionalen Aspekt, als bedeutsame Ressource zur Bewältigung von Belastungen (Faltermaier, 2005, S. 103ff.). So wirken sich ein nährendes soziales Netzwerk, der Austausch und die Begegnung mit Gleichgesinnten zusätzlich positiv auf das psychosomatische Regenerationspotential aus, das bereits allein durch das Wegfallen von Belastungen in hohem Ausmaß gegeben ist (Schubert & Amberger, 2016, S. 112f.). Einerseits kann durch die soziale Einbindung das Stresserleben der Person reduziert, andererseits die Veränderung ihres Verhaltens angeregt werden. Allein die wahrgenommene Unterstützung ist hier wirksam, deren Ausprägung wiederum von frühen Beziehungserfahrungen beeinflusst wird (Kienle, Knoll & Renneberg, 2006, S. 110, S. 114; Klauer, 2009; Klauer & Schwarzer, 2001). Die positiven Effekte zeigen sich auch auf körperlicher Ebene. Als Beispiel dafür geben Schubert und Amberger die geringere Konzentration des Entzündungsmarkers Interleukin-6 im Blut bei regelmäßigen Kirchgängern und Kirchgängerinnen an. Hier kann neben der sozialen Einbindung auch der Halt durch den religiösen Glauben wesentlich am wohltuenden Effekt beteiligt sein (Schubert & Amberger, 2016, S. 130). Das dyadische Bewältigen bzw. Coping wird insbesondere im Hinblick auf Partnerbeziehungen beschrieben. Kienle, Knoll und Renneberg nennen mit Bezug zu Bodenmann (2000) drei verschiedene Formen: 1) gemeinsames Coping, wobei Schwierigkeiten im Sinne eines solidarischen Bündnisses gemeinsam gelöst werden; 2) supportives Coping mit gegenseitiger Stärkung durch emotionale oder instrumentelle Unterstützung und 3) delegiertes dyadisches Coping, bei dem eine Entlastung von Aufgaben durch den Partner bzw. die Partnerin stattfindet. Jedoch kann erhaltene Unterstützung das Gefühl von Abhängigkeit hervorrufen und den erlebten Stress der Person sogar erhöhen

2.1 Konzepte von Gesundheit und Krankheit

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(Kienle et al., 2006, S. 112ff., S. 120). Mit dem Begriff social undermining wird außerdem darauf hingewiesen, dass Handlungen des Umfeldes hemmend auf die Bewältigungsmöglichkeiten einer Person wirken können (Cranford, 2004; Kienle et al., 2006, S. 112; McCaskill & Lakey, 2000). Soziale Unterstützung trägt nicht nur zur Gesundheit bei, sondern beeinflusst auch ‒ zusammen mit Merkmalen der Person, unter anderem ihren Bewältigungsformen ‒ den Verlauf einer Krankheit. Bei chronischen Krankheiten sprechen Corbin und Strauss (1993) von Krankheitsverlaufskurven. Hierzu weisen Schubert und Amberger auf die Untersuchung von Lutgendorf et al. (2012) zur Auswirkung bedeutungsvoller Beziehungen bei Frauen mit Ovarialkarzinom hin, mit dem Ergebnis einer höheren Überlebensrate: Nach knapp 7 Jahren lebten noch 59 % der Patientinnen mit subjektiv wichtigen Beziehungen, hingegen nur 38 % der Frauen ohne diesen Rückhalt. Diese verstarben im Durchschnitt nach 3.3 Jahren. Zu betonen ist, dass nur die soziale Unterstützung durch nahestehende Menschen diese Wirkung hatte, nicht jedoch allgemeine Unterstützung, zum Beispiel durch Informationsstellen (Lutgendorf et al., 2012; Schubert & Amberger, 2016, S. 163). Je nach Phase im Rahmen der Erkrankung verändert sich das Erleben der Situation für die Person selbst sowie für das nähere Umfeld. Dementsprechend besteht unterschiedlicher Unterstützungsbedarf (Corbin & Strauss, 1993, S. 29ff.). Krankheit hat somit Auswirkungen auf die Betroffenen selbst sowie auf ihr Umfeld. Mit der Krankheit einhergehende Einschränkungen, etwa in der Berufsausübung oder bereits bei Alltagshandlungen, können das Selbstwertgefühl der Betroffenen senken. Der Verlust jener Lebensaspekte, die bisher Teil ihrer Identität waren, erfordert eine Neudefinition und eine andere Lebensgestaltung. Hinzu kommen die Reaktionen des Umfeldes, die bis zu Stigmatisierung und sozialer Ausgrenzung führen können. Ein solches labeling ist häufig bei psychischen Erkrankungen zu beobachten und wird im Rahmen des Etikettierungsansatzes (Labeling Approach) beschrieben. Diese einschränkenden Zuschreibungen werden für die Betroffenen zu einem „Etikett für eine soziale Abweichung von der Normalität“ (Faltermaier, 2005, S. 225, S. 236ff.; Dellwing, 2008; Goffman, 1986). Fazit Abschließend ist festzuhalten, dass in aktuellen Modellen zu Gesundheit und Krankheit meist drei Dimensionen der Person, nämlich Körper, Seele und sozialer Kontext, einbezogen werden. Einflüsse auf einer Dimension wirken auch auf die anderen beiden Dimensionen in mehr oder weniger großem Ausmaß ein. Neben objektiven Kriterien ist Gesundheit bzw. Krankheit vor allem ein subjektives Erleben, auf das einerseits Persönlichkeitsmerkmale und andererseits die Umgebung Einfluss haben. Gesundheit und Krankheit können weder eindeutig voneinander abgegrenzt noch in Form zweier entgegengesetzter Pole beschrieben werden.

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2.2 Symptomatik und assoziierte Probleme der Essstörungen Nach den Ausführungen zum allgemeinen Verständnis von Gesundheit und Krankheit stehen in den folgenden Kapiteln konkret die Essstörungsformen Anorexie und Bulimie im Mittelpunkt. Zunächst wird auf die diagnostischen Kriterien, basierend auf den Klassifikationssystemen ICD (10. Revision) und DSM (5. Auflage), eingegangen, um damit einen Überblick über die Symptomatik zu geben. Aufgrund des Schweregrades dieser Erkrankungen sind Auswirkungen auf Betroffene in körperlicher Hinsicht, aber auch jene auf die Beziehungen zu Menschen im Umfeld und deren Befinden, ein weiteres Thema dieses Kapitels. Zudem werden häufig begleitende Erkrankungen oder entsprechende Tendenzen, die noch keinen Krankheitswert haben, beobachtet. Diese Zusammenhänge bilden den Abschluss des Kapitels zur Symptomatik der Essstörungen. 2.2.1 Symptomatik Unter den Essstörungen werden nach dem Klassifikationsschema ICD-10 (DIMDI, 2018) mehrere Formen unterschieden: Anorexia nervosa (F50.0) und Bulimia nervosa (F50.2) mit jeweiligen atypischen Formen (F50.1, F50.3), Essattacken (F50.4) und Erbrechen (F50.5) bei anderen psychischen Störungen, sonstige Essstörungen (F50.8) und nicht näher bezeichnete Essstörungen (F50.9). Essstörungen zählen in der ICD-10 zu den Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren (Kapitel V, F50‒F59). Im Rahmen dieser Arbeit liegt der Fokus auf Anorexia nervosa (Anorexie, Magersucht) und Bulimia nervosa (Bulimie, Ess-Brech-Sucht). Die Erkrankung betrifft überwiegend Mädchen bzw. Frauen im Jugend- und jungen Erwachsenenalter, seltener vor der Pubertät oder nach dem 40. Lebensjahr (APA, 2015). Unter Männern ist die Essstörung wesentlich geringer verbreitet. Der etwas spätere Beginn der Essstörung bei Männern wird unter anderem mit der später einsetzenden Pubertät erklärt. Weitere Unterschiede sind die geringere Leistungsorientierung im Vergleich zu Frauen mit Anorexie, die höhere Körperzufriedenheit sowie das Streben nach einer muskulösen anstatt dünnen Körperfigur (Grabhorn, Köpp, Gitzinger, Wietersheim & Kaufhold, 2003; Mangweth-Matzek et al., 2010). Aufgrund der Eingrenzung auf Frauen mit Essstörungen in dieser Arbeit beziehen sich die Ausführungen auf deren Charakteristika. Dynamik des Essverhaltens Bei der Anorexie wird der restriktive Typ ohne purging-Verhalten (non purging) vom aktiven/bulimischen Typ bzw. purging-Typ unterschieden. Im Rahmen des purgingVerhaltens wird mittels „unangemessenen kompensatorischen Maßnahmen“ (APA, 2015, S. 472), wie Erbrechen oder Missbrauch von Abführmitteln, das Gewicht reguliert, während die Restriktion die Einschränkung der Nahrungsaufnahme und/oder exzessive körperliche Bewegung umfasst. Gemäß DSM-5 handelt es sich um eine übermäßige körperliche Bewegung, wenn sie andere Aktivitäten behindert und in einem unpassenden situativen Kontext (Zeitpunkt und Umgebung) stattfindet. Für die Einteilung nach Schweregraden ist bei der Anorexie der nachfolgend erläuterte BMI (Body

2.2 Symptomatik und assoziierte Probleme der Essstörungen

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Mass Index), eine Maßzahl für das Körpergewicht, ausschlaggebend. Bei der Bulimie hingegen erfolgt die Zuordnung nach der wöchentlichen Anzahl jener Maßnahmen, die einer Gewichtszunahme entgegenwirken (APA, 2015, S. 464, S. 472). Nach APA müssen gegenregulierende Maßnahmen sowie Essanfälle für die Diagnose Bulimie mindestens einmal wöchentlich für eine Dauer von drei Monaten auftreten. Hier besteht ein wesentlicher Unterschied zur Binge Eating-Störung (Binge Eating Disorder, BED), bei der den Essanfällen keine derartige Kompensation folgt. Dementsprechend besteht wie bei Menschen mit Bulimie meist ein normales bis höheres Gewicht. Die BED ist in der ICD-10 (DIMDI, 2018) keine eigene Diagnose, ebenso nicht im DSMIV, jedoch in der Folgeversion, dem DSM-5 (APA, 2015). Neben dem bereits genannten Erbrechen und Abführmittelmissbrauch kommen als gewichtsregulierende Maßnahmen außerdem Klistiere (Einläufe), Schilddrüsenhormone zur Erhöhung des Stoffwechselumsatzes sowie die Reduktion der Insulinapplikation und damit der Metabolisierung der Nahrung bei begleitendem Diabetes mellitus zur Anwendung. Wie bei der Anorexie dient auch Restriktion als non purging-Verhalten in Form von Fasten und exzessiver Bewegung der Gewichtsregulation. Die häufigste Maßnahme zur Reduktion des Völlegefühls und damit auch der Angst vor einer Gewichtszunahme ist jedoch das Erbrechen. Es wird manuell oder mit Gegenständen über den Würgereflex ausgelöst, wobei solche Methoden nach mehrmaliger Durchführung im Verlauf nicht mehr erforderlich sein können. Vereinzelt kommt Sirup aus dem Homöopathikum Ipecacuanha (Brechwurzel) zur Erleichterung des Erbrechens zum Einsatz. Das Erbrechen kann außerdem zum Selbstzweck werden, indem damit nicht den Konsequenzen des Essanfalls entgegengewirkt werden soll, sondern dieses umgekehrt im Vordergrund steht. Dementsprechend dient die vorherige Aufnahme meist größerer Nahrungsmengen als Mittel zur Umsetzung des Erbrechens (APA, 2015). Somit geht dem purging-Verhalten meist ein Essanfall voraus, jedoch kann dieses, insbesondere beim entsprechenden Subtyp der Anorexie, auch bei kleineren Nahrungsmengen zur Anwendung kommen. Ein Essanfall ist nach APA definiert als „Verzehr einer bestimmten Nahrungsmenge in einem bestimmten Zeitraum, wobei die Nahrungsmenge erheblich größer ist als die Menge, die die meisten Menschen in einem vergleichbaren Zeitraum unter vergleichbaren Bedingungen essen würden (Kriterium A1)“ (APA, 2015, S. 473). Zur Bestimmung eines Essanfalls sind folgende Aspekte von Bedeutung: 1) Situationszusammenhang; 2) Dauer; 3) Kontrollierbarkeit; 4) Zusammensetzung der Nahrung sowie 5) Einfluss und Auswirkung. Im Hinblick auf den Kontext ist beispielsweise zu unterscheiden, ob die Nahrungsaufnahme auf einer Feier, bei der Menschen häufiger eine größere Menge als im Alltag essen, oder allein zu Hause stattfindet. Als Zeitraum, den ein Essanfall umfasst, werden maximal zwei Stunden angegeben, sodass ein über den Tag verteiltes Essen jeweils kleiner Mengen hier nicht zuzuordnen ist. Ein wichtiges Merkmal ist das Gefühl des Kontrollverlusts, indem die Betroffenen ein großes Verlangen nach Essen spüren und/oder nicht mit dem Essen aufhören können. Dieser Ablauf ereignet sich allerdings nicht zwangsläufig anfallsartig, sondern kann auch geplant sein. In Abhängigkeit von den äußeren Umständen ist eine Verzögerung oder temporäre Unterbrechung möglich. Hierfür ist die Scham der Betroffenen für ihre Essproblematik von großer Relevanz, sodass sie darauf bedacht sind, diese geheim zu halten, und dementsprechend ihr Verlangen zum Teil kontrollieren

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können. So werden beispielsweise Hinweise auf den Essanfall vermieden bzw. beseitigt, wenn der Partner früher als erwartet nach Hause kommt. In Bezug auf die Nahrungszusammensetzung sind es häufiger Lebensmittel, die sich die Betroffenen sonst nicht erlauben. Vor allem sind die Anfälle durch die große Menge gekennzeichnet, die den Magen mitunter schmerzhaft ausdehnt und füllt. Außerdem spielt nicht nur der äußere, sondern auch der emotionale Kontext eine Rolle, indem das übermäßige Essen häufig eine Reaktion auf emotionale Belastungen darstellt. Diese können etwa Beziehungsschwierigkeiten, Erfahrungen der äußeren oder der eigenen negativen Beurteilung des Aussehens bzw. der Person, wie auch Gefühle der Leere in Form von Langeweile sein. Anorexie und Bulimie zeigen somit unterschiedliche, aber auch ähnliche Merkmale. Zudem tritt im Vorfeld einer Bulimie häufig eine Anorexie mit einer Dauer von mehreren Monaten bis Jahren auf, mitunter gibt es Übergänge zwischen dem restriktiven und bulimischen Subtyp der Anorexie. Wesentlich seltener geht eine Bulimie in eine Anorexie über bzw. erfolgt dies meist nur temporär und als mehrfacher Wechsel. Eine Bulimie kann sich außerdem in Richtung BED verändern, indem die Betroffenen bei aufrechten Essanfällen keine gegenregulierenden Maßnahmen einsetzen (APA, 2015). Körpergewicht und Wahrnehmung Sowohl bei Anorexie als auch bei Bulimie steht die Kontrolle von Essen und Körpergewicht mit den oben genannten Maßnahmen im Mittelpunkt. Während bei Anorexie eine Gewichtsabnahme bis zu einem signifikant niedrigeren als dem normalen Körpergewicht auftritt, befinden sich Menschen mit Bulimie häufiger in einem normalen, eventuell übergewichtigen BMI-Bereich zwischen 18.5 und 30 (APA, 2015). Der Normalbereich ist nach WHO (2018) für Erwachsene zwischen 18.5 und 24.9 angegeben, wobei die Zahl als Quotient von Körpergewicht (physikalisch korrekt: Masse) in Kilogramm und dem Quadrat der Körpergröße in Meter definiert ist (kg/m2). Als Beispiel: Eine Person mit 60 kg und 1.70 m hat einen BMI von 60/1.702 = 20.8 und liegt innerhalb des oben angegeben Bereichs. Im DSM-5 gelten „Alter, Geschlecht, Entwicklungsverlauf und körperliche Gesundheit“ (APA, 2015, S. 464) als Kriterien für die Definition von Normalität in Bezug auf das Gewicht. Der Untergewichtsbereich bei einem BMI unter 18.5 wird in verschiedene Schweregrade eingeteilt: leicht (≥ 17 kg/m2), mittel (16‒ 16.99 kg/m2), schwer (15‒15.99 kg/m2), extrem (< 15 kg/m2). Jedoch sind über diese Zahl hinaus die individuelle Schwankungsbreite des Normalgewichtsbereichs, weitere Informationen über die Befindlichkeit der Person und ihre bisherige Entwicklung von großer Relevanz für die Einschätzung (APA, 2015). Wesentliche Merkmale sind außerdem die hohe Bedeutung der Körperform für das Selbstwertgefühl sowie die Angst vor Gewichtszunahme und Übergewicht trotz zu geringen Gewichts. Die Gewichtsreduktion gilt als Leistungserfolg, während die gegenteilige Entwicklung für die Betroffenen ein Versagen darstellt. Die Körperform wird von den Betroffenen sehr kritisch und in einer mitunter großen Differenz zur Sicht von anderen wahrgenommen. Selbst im Untergewichtsbereich erleben sie meist entweder den ganzen Körper oder einzelne Körperbereiche als zu dick und kontrollieren ihr Gewicht daher mit selbstvergewissernden Maßnahmen wie häufigem Abwiegen und Blick

2.2 Symptomatik und assoziierte Probleme der Essstörungen

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in den Spiegel (APA, 2015). In der Studie von Mölbert et al., in der die Einschätzung des eigenen und gewünschten Körperbildes mittels eines 3D-Scans erfolgte, zeigt sich jedoch keine Verzerrung der Körperwahrnehmung bei Menschen mit Anorexie. Stattdessen korreliert der Wunsch nach einem geringen Gewicht mit der Essstörungssymptomatik, weshalb in der Therapie an diesem Wunsch nach einem niedrigen Gewicht anzusetzen sei (Mölbert et al., 2018). Doch auch das Erkennen des unterernährten Zustandes, wie es bei manchen Betroffenen der Fall ist, führt nicht unbedingt zu einer Bewusstwerdung der Gefahr und einer Veränderung des Verhaltens. Selbst wenn keine Angst vor einer Zunahme wahrgenommen und/oder geäußert wird, wie es laut APA mitunter bei jüngeren Personen der Fall ist, kann das Gewicht auf zu niedrigem Niveau bleiben (APA, 2015). 2.2.2 Auswirkungen auf Betroffene und ihr Umfeld Essstörungen werden einerseits durch zahlreiche Aspekte beeinflusst und haben andererseits wiederum Auswirkungen auf verschiedene Ebenen. In diesem Kapitel wird zunächst auf körperliche Einschränkungen eingegangen, wenngleich sich diese auch auf das psychische Befinden und die soziale Teilhabe auswirken. Angesichts der häufigsten Betroffenheit von jungen Frauen sind hier Schwangerschaft und Mutterschaft ein wichtiges Thema. Auf die psychische und soziale Dimension wird anschließend Bezug genommen, insbesondere auf die Schwierigkeiten in der Kommunikation und im Zusammensein mit Menschen im näheren Umfeld, die ihrerseits wiederum vor Herausforderungen durch die Essstörung gestellt werden. Körperliche Auswirkungen Im Hinblick auf körperliche Folgen werden in der Literatur unter anderem kardiovaskuläre Komplikationen wie Bradykardie und Herzinsuffizienz genannt, insbesondere bei Anorexie aufgrund der starken Unterernährung. Bei Bulimie treten Elektrolytverschiebungen und Herzrhythmusstörungen vor allem in Zusammenhang mit dem Erbrechen und dem Gebrauch von Abführmitteln auf. Nicht nur funktionell, sondern auch strukturell kommt es zu Veränderungen, beispielsweise zu einer verringerten Wanddicke des linken Ventrikels (Jáuregui Garrido & Jáuregui Lobera, 2012). Im Fall der Anwendung von Ipecacuanha-Sirup zur Erleichterung des Erbrechens wird von schweren Kardio- und Skelettmyopathien berichtet (APA, 2015). Kardiovaskuläre Probleme sind vermehrt in frühen Erkrankungsstadien zu beobachten, durch Verbesserung des Ernährungszustandes jedoch reversibel (Jáuregui Garrido & Jáuregui Lobera, 2012). Als Todesursache werden kardiale Komplikationen bei ungefähr einem Drittel der an Anorexie Verstorbenen angegeben. Solche Kompliationen können jedoch auch durch eine zu hohe Nahrungszufuhr im Verhältnis zum vorangegangenen Hungerzustand im Rahmen der Therapie hervorgerufen werden. In diesem Fall handelt es sich um das RefeedingSyndrom, das sich in Ödemen, Elektrolyt- und Vitaminmangel, Obstipation bis zum akuten Herzversagen äußert (Jáuregui Garrido & Jáuregui Lobera, 2012). Vorübergehend kann damit eine Wernicke-Korsakoff-Encephalopathie aufgrund eines Mangels

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an Thiamin (Vitamin B1) einhergehen, die sonst vor allem bei chronischer Alkoholerkrankung vorkommt (Zeeck et al., 2010, S. 118). Neben kardiovaskulären Problemen sind weitere körperliche Folgen zu beobachten. Blutbildveränderungen bestehen unter anderem in Form der Anämie, Leukopenie sowie des erhöhten Serumcholesterins. Durch die verringerte Lymphozytenfunktion fallen Symptome bei verbreiteten viralen, aber auch anderen Infektionen weniger stark aus. Das erhöhte Serumcholesterin ist insbesondere mit dem Untergewicht bei Anorexie aufgrund des vermehrten LDL (Low Density Lipoprotein) assoziiert. Bei Erbrechen sind hypertrophe Speicheldrüsen (Glandula parotis, Glandula submandibularis und Glandula sublingualis) charakteristisch, ebenso Refluxbeschwerden und Ösophagitis. Von Plattenepithelkarzinomen aufgrund dieser Beschwerden wird nicht berichtet. Jedoch gehen mit dem Erbrechen Zahnschädigungen durch die Einwirkung der Magensäure einher, sodass bei anhaltender Problematik eine prothetische Versorgung erforderlich sein kann. Die großen Essensmengen können in Extremfällen zu Rupturen der Speiseröhre und des Magens führen. Weitere mögliche Folgen im gastrointestinalen Bereich sind der Rektumprolaps und insbesondere Verdauungsprobleme wie Obstipation. Letztere tritt häufiger bei Anorexie als bei Bulimie auf und ist auf die geringe Essens- und Stuhlmenge, aber auch auf Veränderungen im Stoffwechsel- und Hormonhaushalt zurückzuführen (APA, 2015; Cuntz, 2010). Neuropsychologische Untersuchungen bei Menschen mit Anorexie zeigen außerdem eine eingeschränkte Flexibilität im Denken (Favaro, 2017). In Zusammenhang damit dürfte die Erfahrung von Beye und Wiesbauer-Resch in ihrer physiotherapeutischen Arbeit stehen, dass die Betroffenen die verwendeten Gegenstände (z. B. Bälle, Seile) nur wenig variieren (Beye & Wiesbauer-Resch, 2017). Laut Favaro liegen die kognitiven Fähigkeiten bei Personen, die aktuell nicht mehr von Anorexie betroffen sind, meist zwischen jenen von Anorexie-Patientinnen und Nicht-Betroffenen. Mit der Verbesserung des Gewichtszustandes kann das Gehirn wieder regenerieren und ein reguläres Volumen erreichen, während die neuronalen Netzwerke in der Erkrankungsphase eine geringere Funktionalität haben. Es besteht jedoch Bedarf an Längsschnittstudien im Hinblick auf die Frage, ob die Einschränkungen im Gehirn bereits im frühen, präverbalen Entwicklungsstadium und somit einige Zeit vor der ersten Manifestation der Anorexie, überwiegend in der Pubertät, vorhanden sind (Favaro, 2017). Besonders häufig ist das Problem der Osteopenie bzw. Osteoporose, wobei letztere im Vergleich zur erstgenannten Form eine stärker ausgeprägte Verringerung der Knochendichte bezeichnet. Diese steht zwar auch mit der Mangelernährung und den damit verbundenen neuroendokrinen Veränderungen in Zusammenhang, jedoch stellt hier zudem der häufige Beginn der Essstörung in der Pubertät eine wesentliche Einflussgröße dar. Diese Zeit bis zum frühen Erwachsenenalter ist eine wichtige Phase des Knochenaufbaus. Im Unterschied zur postmenopausalen Osteoporose geht die Resorption von Knochen bei Anorexie nicht mit einem gleichzeitigen Anbau, sondern mit einem zusätzlichen Abbau von Knochensubstanz einher. Der Östrogenmangel, der auch die Amenorrhoe als weitere wesentliche Folgeerscheinung der Anorexie bedingt, ist ein Faktor für die verringerte Knochendichte. Bei Bulimie kann es ebenso zu unregelmäßigem oder ausbleibendem Zyklus kommen, wobei hier zwar auch die Mangelernährung, aber angesichts des meist normalgewichtigen Bereichs vor allem die Instabilität von Gewicht

2.2 Symptomatik und assoziierte Probleme der Essstörungen

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und Stimmung als Einflüsse vermutet werden. Allerdings wird die Hormonzufuhr in Form einer Östrogen-Gestagen-Applikation aufgrund mangelnder Evidenzlage nur bei andauernder Amenorrhoe trotz Erreichen eines Normalgewichtsbereiches empfohlen. Die Gabe von Kalzium und Vitamin D hingegen kann die Folgeerscheinungen abschwächen, vor allem jedoch tragen eine ausgewogene Nährstoffversorgung und ein individuell ausreichendes Gewicht zur Verbesserung bzw. zur Vermeidung einer weiteren Verringerung der Knochendichte bei. Im Unterschied zu anderen physiologischen Veränderungen ist eine Osteopenie bzw. Osteoporose nicht gänzlich reversibel (APA, 2015; Cuntz, 2010). Schwangerschaft und Mutterschaft Essstörungen wirken sich unter anderem durch die genannten hormonellen Veränderungen auf das Eintreten und den Verlauf von Schwangerschaften aus. Ein Zeichen von Anorexie ist die verzögerte Menarche im Rahmen der Pubertät bzw. die Amenorrhoe, wenngleich diese in der DSM-5 kein Kriterium für diese Diagnose mehr darstellt (Hoek, 2016). Bei manchen Betroffenen erfolgt das Ausbleiben der Regelblutung bereits im Vorfeld der Gewichtsabnahme (APA, 2015), ebenso die Verringerung der Libido, die mit den hormonellen Veränderungen in Verbindung gebracht wird (Padrão, Barbosa & Coimbra, 2013). Dennoch kann eine Ovulation vorhanden sein, somit ist eine Schwangerschaft möglich. Auch bei 50‒70 % der Frauen mit Bulimie tritt eine Amenorrhoe für mindestens zwölf Monate auf. Die Schwangerschaftsraten, Anzahl an Schwangerschaften und das Alter bei Erstschwangerschaft unterscheiden sich bei Frauen mit Anorexie nicht von jenen ohne einer solchen Erkrankung, jedoch ist der Eintritt erschwert (Mangweth-Matzek, 2017). Da die Betroffenen hierfür häufig entsprechende Beratungen aufsuchen und mehr medizinische Möglichkeiten zur Realisierung des Kinderwunsches bestehen, dürfte sich die Anzahl an schwangeren Frauen mit Essstörung künftig erhöhen (Mazzeo, Zucker, Gerke, Mitchell & Bulik, 2005). Im Fall von Bulimie kann es durch einen unregelmäßigen Zyklus und die verringerte Wirksamkeit oraler Kontrazeptiva infolge des Erbrechens häufiger zu ungeplanten Schwangerschaften kommen (Cuntz, 2010). Die Essschwierigkeiten tragen zu einer Mangelernährung und damit zu einem geringeren Geburtsgewicht des Kindes bei, insbesondere bei Pregorexia, womit rigides Diätverhalten und exzessive Bewegung während der Schwangerschaft zur Kontrolle der Gewichtszunahme bezeichnet wird (Bjelica, Cetkovic, Trninic-Pjevic & MladenovicSegedi, 2018). Hier haben Gynäkologen und Gynäkologinnen die wichtige Aufgabe, Anzeichen für eine Essstörung, unter anderem am Elektrolythaushalt und der vaginalen Atrophie, zu erkennen (Langer & Wimmer-Puchinger, 2009; Mangweth-Matzek, 2017). Dies ist deswegen zu erwähnen, da auch Frauen ohne diagnostizierte Essstörung Probleme mit dem Essen und eine Fokussierung auf das Gewicht zeigen können. Vor allem BED-Symptome steigen während der Schwangerschaft an (Easter et al., 2013). Außerdem kommt es bei Frauen mit Essstörungen häufiger zu Frühgeburten sowie zu organischen Schäden, Fütter- und Wachstumsstörungen und perinataler Mortalität des Kindes. Diese Risiken sind deutlich geringer, wenn während der Schwangerschaft ein Gewicht im Normalbereich erreicht wird. Die Essstörungssymptomatik kann sich dabei

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reduzieren, insbesondere bei erwünschter Schwangerschaft, Unterstützung durch das Umfeld und keinen/wenigen Komorbiditäten. Der Konsum von psychotropen Substanzen wird meist verringert oder beendet. Jedoch besteht häufig eine große Angst vor starker Gewichtszunahme. Der Wunsch, das Gewicht nach der Geburt zu reduzieren, ist ein Trigger für das Wiederauftreten der Essstörung, auch bei zuvor symptomfreien Jahren. Mazzeo et al. (2005) beziehen sich hier auf die Anorexie, während MangwethMatzek (2017) bei einer remittierten Bulimie zum Zeitpunkt der Empfängnis von keinem höheren Risiko für einen Rückfall spricht. Insgesamt tritt bei 25‒50 % der Frauen eine Verschlechterung oder Rückkehr der Symptomatik auf, unter anderem in Abhängigkeit vom Schweregrad, pränatalen BMI, der erhaltenen Unterstützung durch den Partner und dem Körpererleben während der Schwangerschaft. Außerdem wird bei 35 % eine postpartale Depression beobachtet. Das Stillen des Kindes wird von den Frauen mitunter abgelehnt, einerseits aufgrund der Schwierigkeiten im Umgang mit der Brustveränderung, andererseits weil hierfür eine ausreichende und gesunde Ernährung erforderlich ist. Als Prädiktor für die Durchführung des Stillens gilt die Einstellung zu Körperform und Gewicht (Mangweth-Matzek, 2017; Mazzeo et al., 2005). Für das heranwachsende Kind sind im Hinblick auf die Entwicklung einer Essproblematik folgende erschwerende Aspekte zu nennen: 1) Modellverhalten der Mutter in Bezug auf den Umgang mit Essen, die subjektiv hohe Bedeutung ihres Gewichts und die eigene Geschlechtsrolle (s. Kapitel 2.3.3); 2) Einschränkung des kindlichen Essverhaltens durch die Mutter mit entsprechender Tendenz zur Kritik (im Gegensatz zur Interaktion im Spiel) sowie Fokussierung auf das Gewicht des Kindes; 3) wenig Zeit und emotionale Nähe von Seiten der Mutter, da die Essstörung mitunter viel Raum im Leben der Betroffenen einnimmt. Bindungsschwierigkeiten könnten sich bei Müttern mit Essstörung in der höheren Saugrate des Kindes beim Stillen im Alter von zwei bis vier Wochen zeigen (Mangweth-Matzek, 2017; Mazzeo et al., 2005). Da die Mütter häufig um diese problematischen Einflüsse auf das Kind wissen, erleben sie Gefühle von Unzulänglichkeit und Schuld, die die Essstörung wiederum verstärken. Diese Sorgen können jedoch zu noch mehr Kontrolle gegenüber ihrem Kind führen und bei diesem die Übernahme von Verantwortung für die Mutter bewirken. Hier ist Unterstützung, beispielsweise durch Beratungsstellen, sehr wichtig (Levine, 2017; Mazzeo et al., 2005). Aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen können diese Mütter allerdings auch sensibler für möglicherweise auftretende Essstörungssymptome bei ihren Kindern sein (Mangweth-Matzek, 2017). Lebensqualität und soziale Beziehungen Über die körperliche Ebene hinaus bestehen Einschränkungen auch auf psychischer und sozialer Ebene. Gedanken an Essen und Gewicht sowie entsprechende Verhaltensweisen nehmen viele Ressourcen der Betroffenen in Anspruch. Im Fall von Bulimie sind die Beschaffung von Nahrung, eventuell auch von Abführmitteln, und die Essanfälle mit hohem zeitlichem und finanziellem Aufwand verbunden. Die finanziellen Belastungen können zum Entwenden von Lebensmitteln führen. Abgesehen von körperlichen Folgeerscheinungen führt dies auch zu sozialem Rückzug, der zusammen mit gedämpf-

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ter bzw. instabiler Stimmung, Schlafstörungen und eingeschränktem sexuellem Lustempfinden mitunter als Depression zu diagnostizieren ist. Insbesondere bei Anorexie wird Zurückhaltung nicht nur im sozialen Kontext, beispielsweise indem die Betroffenen nicht vor anderen Menschen essen wollen, sondern auch in der Äußerung von Emotionen beschrieben. Die Kontrolle bezieht sich einerseits auf sich selbst, insbesondere auf das Körpergewicht, andererseits auf das Umfeld. So können rigide Abläufe, beispielsweise das Erfüllen des auferlegten Sportpensums, kaum variiert werden, um stattdessen an sozialen Aktivitäten teilzunehmen. Mitunter kann dieses Verhalten eine berufliche Tätigkeit behindern (APA, 2015). Betroffene fühlen sich durch die Essstörung isoliert, oft bis sie im Rahmen einer Therapie Anschluss an eine Gemeinschaft finden. Weitere Anlaufstellen sind Gruppen im Internet, die besonders von Betroffenen mit ansonsten wenig sozialer Unterstützung aufgesucht werden. Doch können diese Foren nicht nur hilfreich sein, sondern die Essstörung auch verstärken, wenn deren Aufrechterhaltung als Ziel propagiert wird (Levine, 2017). Ágh et al. kommen in ihrem Übersichtsartikel mit Bezug zu Studien in den USA, Deutschland, Canada, Großbritannien und Finnland zum Schluss, dass die gesundheitsbezogene Lebensqualität (health-related quality of life, HRQoL) bei Menschen mit Anorexie, Bulimie und BED im Vergleich zu Nicht-Betroffenen signifikant geringer ist. Es gibt außerdem Hinweise, dass diese unter jener von Menschen mit anderen psychiatrischen Erkrankungen liegt. Zusätzliche psychopathologische Symptome bzw. Erkrankungen, wie Depression und Angstzustände, führen zu einer noch stärkeren Einschränkung (s. Kapitel 2.2.3). Hinzu kommen erhöhte ökonomische Kosten aufgrund der erforderlichen Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen, insbesondere bei Anorexie. Dies ist auf die stationäre Therapie zurückzuführen, die bei dieser Essstörungsform angesichts des öfter bedrohlichen Zustandes am häufigsten durchgeführt wird (Ágh et al., 2016). Doch auch die Lebensqualität von Angehörigen und Betreuenden ist reduziert (Ágh et al., 2016), unter anderem in Form von Depressivität und Ängstlichkeit bzw. Sorge. Der Umgang mit Betroffenen ist besonders durch deren verringerten emotionalen, entgegen dem vermehrten somatischen, Ausdruck schwierig. Menschen im Umfeld nehmen dieses Verhalten häufig als Ablehnung wahr. Da sie dadurch Stress erleben und zum protektiven, auch zum direktiven Verhalten tendieren, wenden sie sich trotz der empfundenen Ablehnung nicht von den Betroffenen ab, sondern reagieren mit einem umso stärkeren emotionalen Ausdruck (expressed emotions; Goddard, Macdonald & Treasure, 2011; Levine, 2017; Treasure, 2017). Anzeichen für eine Verstrickung im Sinne einer zu nahen Beziehung lassen sich beispielsweise in folgenden Aussagen einer Mutter, die an einem Unterstützungsangebot für Eltern teilnahm und auf einer Tagung über ihre Erfahrungen mit der Anorexie ihrer Tochter berichtete, erkennen (Philipp, 2017): „Wie hat es bei uns begonnen? […] Dann sind wir nach Heiligabend im Krankenhaus gelandet.“ Die Hervorhebungen sollen verdeutlichen, dass die Mutter von sich und ihrer Tochter wie von einer untrennbaren Einheit spricht. Ihr Verhalten beschreibt sie so, dass sie zunächst auf die „Vorlieben“ ihrer Tochter in Bezug auf die Auswahl der Lebensmittel eingehen wollte, schließlich jedoch ohne Einkauf das Geschäft verließ. Später versuchte sie, mehr Druck auszuüben, doch letztlich habe die Anorexie die Familie gesteuert und sie selbst in ihrer Mutterrolle verunsichert (Philipp, 2017). Deutlich

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wird die psychische Belastung der Angehörigen, die mit länger andauernder Essstörung ansteigt. Zur Vermeidung von weiterer Erschöpfung und der Hoffnung auf eine zumindest geringe Nahrungsaufnahme findet mitunter eine Anpassung des Verhaltens an die Betroffenen statt. Levine beschreibt ein Beispiel aus ihrer Praxis: Der Freund einer Patientin kaufte Nahrungsmittel für ihre Essanfälle ein, um das Stehlen sowie Konflikte zu vermeiden. Zudem sollte dies eine Belohnung für ihre erreichten Fortschritte sein. Die einseitige Ausrichtung auf Bedürfnisse und Einschränkung eines gegenseitigen Austauschs in der Beziehung wirken sich jedoch nachteilig auf die sozialen Fähigkeiten der Betroffenen aus und führen letztlich zu weiterer Isolation ‒ ein Teufelskreis für alle Beteiligten (Levine, 2017). Schwierigkeiten zeigen sich speziell in der Kommunikation zwischen Betroffenen und Bezugspersonen. Wie in anderen Kontexten ist nicht nur das ausgesprochene Wort auf der einen Seite, sondern auch das Empfangen und Interpretieren auf der anderen Seite von Bedeutung. Zusätzlich zum Inhalt erweist sich die Art des Ausdrucks als wichtiger Aspekt der Kommunikation, sowohl verbal, beispielsweise die Tonlage, als auch nonverbal, in Form von Mimik und Gestik. Die wahrgenommenen, aber nicht ausgesprochenen Botschaften und der spezifische Filter im Sinne eines selbstkritischen Blicks der Betroffenen können mitunter zu großen Kommunikationsproblemen führen. Dies zeigten Untersuchungen, in denen Menschen mit Essstörungen ihre Aufmerksamkeit mehr auf feindliche, ablehnende als auf freundliche Gesten richteten. Dementsprechend nahmen Personen mit Bulimie im Rahmen einer computergestützten Aufgabenstellung vermehrt die Anwesenheit von verbalen Angriffen wahr und nicht das Fehlen einer feindseligen Sprache. Somit standen die negativen Aspekte der Situation im Vordergrund (Waller, Quinton & Watson, 1995). Die Untersuchung von Espeset, Gulliksen, Nordbø, Skårderud und Holte verdeutlicht außerdem die Vorstellung von Menschen mit Anorexie, dass andere Menschen eine negative Sicht auf sie, insbesondere auf ihr Aussehen, haben. Diese Vorstellung wirkt sich einschränkend auf ihr Körperbild aus. Ihr Fokus in sozialen Interaktionen liegt auf dem Essen sowie auf körperlichen Vergleichen und wird durch das essstörungsspezifische Verhalten wiederum aufrechterhalten (Espeset et al., 2012). Erschwerend in der Interaktion ist außerdem die Verringerung des Ausdrucks von vor allem angenehm stimulierenden Emotionen, wie Lächeln, und die Einschränkung des Blickkontakts. Dies wird häufig bei Menschen mit Anorexie beobachtet, die daher auf andere distanziert und uninteressiert wirken können. Eigene Emotionen sowie jene anderer werden nur eingeschränkt wahrgenommen (Dapelo, Hart, Hale, Morris & Lynch, 2015; Davies, Schmidt, Stahl & Tchanturia, 2011). Damit geht ihre Misinterpretation der Mimik von anderen einher: Angst wird als Wut, Wut als Trauer erkannt, wobei Wut und Trauer als bedrohlich gelten. Andere Menschen werden dadurch häufiger als ablehnend empfunden (Dapelo, Surguladze, Morris & Tchanturia, 2016). Die Probleme schaukeln sich weiter auf, wenn die Bezugspersonen diese ausschließlich auf die von ihnen als übermäßig eingestufte Empfindsamkeit der Betroffenen zurückführen (Levine, 2017).

2.2 Symptomatik und assoziierte Probleme der Essstörungen

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2.2.3 Psychische Begleiterkrankungen und Differenzialdiagnostik Im Hinblick auf psychische Begleiterkrankungen bei Anorexie werden in der Literatur Depression, Angststörungen, Zwangsstörungen und Persönlichkeitsstörungen beschrieben. Vor allem die Bedeutung der Angst als beitragender und aufrechterhaltender Aspekt der Anorexie sowie die Nähe der Symptomatik zur zwanghaften Persönlichkeitsstörung sind in der Forschung wichtige Fragestellungen. Außerdem zeigen Menschen mit Anorexie in Untersuchungen eine höhere Ausprägung von Perfektionismus, Konfliktvermeidung und Beharrlichkeit, hingegen ein geringeres exploratives Verhalten (Zeeck et al., 2010). Auch bei Kindern und Jugendlichen mit Essstörungen sind Komorbiditäten zu beobachten. Nach Jacobi et al. (2010) tritt Bulimie häufig gemeinsam mit Depression, sozialer Phobie, Missbrauch und Abhängigkeit von Alkohol und Drogen sowie mit einfacher Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (Aufmerksamkeitsdefizit bei Hyperaktivitätsstörung, ADHS) auf. Formen von Komorbiditäten Unter anderem die Tendenz zu Perfektionismus erklärt den engen Zusammenhang zwischen Zwangsstörungen einerseits und Essstörungen andererseits, die mit einer Rigidität in der Regulation von Essen, Gewicht und exzessiver Sportausübung sowie einer diesbezüglichen gedanklichen Fokussierung einhergehen. Diese meist spezifisch ausgeprägte Zwanghaftigkeit unterscheidet sich zu jener bei Zwangsstörungen, bei denen sich die rigide Kontrolle auf ein größeres Verhaltensspektrum bezieht (APA, 2015; Gaudio & Dakanalis, 2018). Außerdem übernehme das zwanghafte Verhalten bei Essstörungen, so Hocaoglu, die Funktion einer Emotionsregulation, bei Zwangsstörungen hingegen mehr einer Angstreduktion. Festgestellt wurde bisher der signifikante Zusammenhang zwischen den beiden Erkrankungen, doch bleibt unklar, ob die Zwanghaftigkeit einen Risikofaktor für Essstörungen, wie es in Bezug auf Zwangsstörungen der Fall ist, oder ein sekundäres Symptom derselben darstellt. So ist der perfektionistische Persönlichkeitszug bei Menschen mit Essstörungen bereits im Vorfeld und über die Dauer der Essstörung hinaus sehr ausgeprägt (Hocaoglu, 2017). Bei Menschen mit restriktiver Anorexie sind diese Tendenz sowie jene zur Angst vor Kritik besonders hoch, während das purging-Verhalten bei Anorexie und Bulimie mehr mit emotionaler Instabilität und Dysregulation sowie Impulsivität einhergeht (Gaudio & Dakanalis, 2018). Bei Bulimie steht die begleitende Zwangsstörung weniger im Vordergrund, stattdessen sind vermehrt Angststörungen, insbesondere die soziale Phobie, und affektive Störungen zu beobachten. Laut Jacobi et al. zeigt sich Depression bei Menschen mit Bulimie, die sich in Therapie begeben, häufiger. Dies könnte entweder darauf hinweisen, dass jene ohne Therapie weniger stark betroffen sind, oder die Diagnose im Rahmen der Therapie mit höherer Wahrscheinlichkeit gestellt wird. Weitere Begleiterkrankungen bei Bulimie sind die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), Substanzabhängigkeit sowie die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) und die ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörung (Jacobi et al., 2010). Die PTBS kommt im Zusammenhang mit Bulimie ungefähr dreimal so oft wie bei der restriktiven Form von Anorexie vor (Hocaoglu, 2017). Im Hinblick auf die Persönlichkeitsstörung sind bei restriktiver Anorexie die drei

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Ausprägungen vermeidend, abhängig und zwanghaft häufiger, hingegen bei Anorexie mit purging-Verhalten und Bulimie neben der vermeidenden Form insbesondere der Borderline-Typ. Auch von histrionischer, antisozialer und narzisstischer Persönlichkeitsstörung wird bei letztgenannten berichtet (Gaudio & Dakanalis, 2018). Ohmann und Popow berichten von einem höheren Suizidrisiko bei Menschen mit Essstörungen als bei anderen psychiatrischen Erkrankungen. Ein Zusammenhang wird in verschiedenen Studien mit dem Erleben von Schmerz durch Erbrechen, Selbstverletzung und Hunger sowie mit dem Gefühl von Unzulänglichkeit und Verzweiflung gesehen. Insbesondere das purging-Verhalten im Rahmen der Bulimie und der Anorexie geht mit einer höheren Anzahl an Suizidversuchen einher, doch auch bei Anorexie des restriktiven Typs liegt das Risiko über jenem der Allgemeinbevölkerung. Im Hinblick auf die Persönlichkeit von Menschen mit Anorexie, die einen Suizidversuch begehen, zeigen sich unter anderem Impulsivität, Neurotizismus, geringe Selbstregulation bei hoher Selbsttranszendenz sowie externale Kontrollüberzeugung (Ohmann & Popow, 2012). Zeitlicher Zusammenhang und Prognose Die genannten Erkrankungen treten im zeitlichen Verlauf in unterschiedlichen Phasen auf. Bei Bulimie werden impulsives Verhalten als Merkmal der BPS sowie soziale Phobie und Zwangsstörung häufiger bereits im Vorfeld beobachtet. Depression, weitere Angststörungen wie die Panikstörung, PTBS und Substanzabhängigkeit zeigen sich meist erst bei bereits bestehender Bulimie (Jacobi et al., 2010). Nach der Übersicht von Hocaoglu über mehrere Studien sind Essstörungssymptome jedoch eher nach erlebten Traumen zu beobachten. Hierfür gelten schwierige frühere Erfahrungen, wie sexuelle Missbrauchserfahrungen, als Risikofaktor (Hocaoglu, 2017). Im Hinblick auf Depression konnten auch Presnell, Stice, Seidel und Madeley (2009) in ihrer Untersuchung an 11bis 15-jährigen Mädchen einen reziproken Zusammenhang belegen: Bulimische Symptome gingen vermehrt mit folgenden depressiven Symptomen einher sowie umgekehrt, also eine depressive mit einer bulimischen Symptomatik, weshalb spezifische Maßnahmen für eine Erkrankung beide Problematiken beeinflussen dürften. So beschreibt auch die APA (2015) eine Reduktion von affektiven Störungen, ebenso von Angststörungen, durch die Therapie von Bulimie. Presnell et al. begründen den Unterschied zu den Resultaten anderer Untersuchungen, in denen sich die Depression erst bei bereits vorhandener Essstörung zeigt, einerseits mit der Eingrenzung auf Bulimie und andererseits mit dem kürzeren Zeitraum zwischen den Erhebungen in ihrer eigenen Studie. Depression könnte demnach nur kurzzeitig ein Verhalten im Sinne einer Essstörung bewirken. Umgekehrt trägt die Nahrungsrestriktion, unter anderem durch die geringere Aufnahme des Eiweißes Tryptophan, einer Vorstufe des stimmungsaufhellenden Neurotransmitters Serotonin, zur Depression bei (Presnell et al., 2009), wofür das Auftreten von depressiven Symptomen bei mangelernährten Menschen ohne einer diagnostizierten Essstörung spricht (APA, 2015). Darüber hinaus wird von einer Prädisposition für diese beiden Erkrankungen ausgegangen. So nehmen Presnell et al. an, dass Bulimie und Depression folgende gemeinsame Einflüsse teilen: eingeschränkte

2.2 Symptomatik und assoziierte Probleme der Essstörungen

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Stresstoleranz und Emotionsregulation, ruminativer Reaktionsstil, geringe Körperzufriedenheit und Mangel an sozialer Unterstützung (Presnell et al., 2009). Angststörungen bzw. Anzeichen von Ängstlichkeit fallen meist bereits in der Kindheit auf und werden als Risikofaktoren für die Entwicklung von Essstörungen gesehen. Zu beiden Erkrankungen bzw. Verhaltenstendenzen tragen schwierige Kindheitserfahrungen, Einschränkung der Emotionsregulation, Unsicherheitstoleranz sowie die hohe Bedeutung einer negativen Beurteilung bei. Die Angst im Rahmen der Essstörung unterscheidet sich von jener bei Angststörungen durch ihre Spezifität auf das (hochkalorische) Essen und die Gewichtszunahme, verbunden mit der Vermeidung, sich anderen (körperlich) zu zeigen. Die zurückhaltende Tendenz erschwert die therapeutische Arbeit, zumal diese eine intensive Beziehungsarbeit darstellt, und verschlechtert die Prognose (Aimé, Guitard & Grousseaud, 2017; Hocaoglu, 2017). In Bezug auf Alkoholabhängigkeit fanden Franko et al., dass Essstörungen häufiger vor der Alkoholproblematik auftraten und weniger, dass sich diese erst infolge einer Alkoholproblematik manifestierten. Eine solche nicht seltene Komorbidität kann sich im Verlauf wiederholt verstärken und geht mit der höchsten Mortalitätsrate unter psychischen Erkrankungen einher, weshalb hier besondere Vorsicht geboten ist. Meist wird in Studien allgemein von Substanzmissbrauch gesprochen oder häufiger der Zusammenhang mit Alkohol als mit anderen Substanzen untersucht. Während das Risiko für Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit bei Menschen mit Bulimie durch ein niedriges psychosoziales Funktionsniveau und einen früheren bzw. aktuellen Alkohol- und/oder Drogenkonsum erhöht ist, gibt es bei Betroffenen von Anorexie in der Untersuchung von Franko et al. mehrere Einflussvariablen. Hier nennen die Autoren und Autorinnen das Ausmaß der Fokussierung auf das Körpergewicht und die Anwendung des Erbrechens als Regulationsmaßnahme (Franko et al., 2005). Somit betrifft diese Komorbidität vor allem Menschen mit Bulimie und Anorexie vom purging-Typ (APA, 2015). Weniger Korrelation besteht hingegen mit der Binge Eating-Störung und keine signifikante Erhöhung bei restriktiver Anorexie. Dies stimmt mit dem Ergebnis überein, dass eine zwanghafte Tendenz, wie sie bei Menschen mit restriktiver Anorexie zu beobachten ist, mit weniger Substanzmissbrauch einhergeht (Vaz-Leal, Ramos-Fuentes, RodríguezSantos & Álvarez-Mateos, 2017). Eine gemeinsame impulsive Komponente von Erbrechen und Alkoholmissbrauch ist somit anzunehmen und bestätigt sich durch die Verringerung der Substanzabhängigkeit mittels körperlicher Bewegung bei BulimieBetroffenen in der Untersuchung von Franko et al. (2005). Damit kann eine andere Form der Emotionsregulation gefunden werden. Franko et al. kamen außerdem zum Ergebnis, dass für Personen, die im Rahmen der Anorexie auch das Erbrechen anwendeten (purging-Typ), die Bewältigung der Alkoholproblematik erschwert war. Jedoch behinderte umgekehrt eine bestehende Alkoholproblematik nicht die Überwindung der Essstörung. Einschränkender auf den Verlauf der Essstörung wirkte sich nach Franko et al. (2005) der Drogenmissbrauch aus, wobei insbesondere Stimulanzien zur Gewichtsreduktion bei Menschen mit Bulimie Verwendung finden (APA, 2015). VazLeal et al. beschreiben jedoch auch den Zusammenhang in die andere Richtung: Personen mit Substanzabhängigkeit zeigen ein höheres Risiko für Essstörungen und setzen die Substanz unter anderem zur Gewichtsregulation ein. Besonders übergewichtige junge Frauen in der Adoleszenz tendieren mehr zum Substanzmissbrauch und zwar

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vermehrt in einem schwierigen familiären Umfeld. Stationäre Therapie erweist sich als besonders hilfreich, jedoch ist auch das ambulante Setting unterstützend (Franko et al., 2005; Vaz-Leal et al., 2017). Aufgrund der schlechteren Prognose durch psychische Begleiterkrankungen, bei Anorexie sowie bei Bulimie, wird in der Literatur deren Berücksichtigung im Rahmen der Therapie betont. Persönlichkeitsstörungen gelten als ein ungünstiger Faktor, allerdings sind die Ergebnisse nicht eindeutig. Wie Jacobi et al. (2010) zusammenfassen, bestätigte sich die in früheren Untersuchungen gefundene negative Auswirkung der Borderline-Persönlichkeitsstörung auf die Bulimie-Symptomatik nicht, allerdings wurden mitunter höhere Rückfallraten beobachtet. Als erschwerende Einflüsse im Hinblick auf den Verlauf werden primär Essanfälle, purging-Verhalten und Substanzmissbrauch, ein geringer BMI bei Anorexie bzw. Übergewicht im Vorfeld der Bulimie sowie eine hohe Bedeutung von Gewicht und äußerem Erscheinen genannt. Begleiterkrankungen schränken zudem das psychosoziale Funktionsniveau ein, das wiederum zu einer schlechteren Prognose beiträgt. Ein früher Krankheitsbeginn wird als günstiger für den Verlauf angenommen (Giel et al., 2013; Jacobi et al., 2010; Zeeck et al., 2010). Diagnostische Unterschiede Bei Komorbiditäten zeigt sich deren Ähnlichkeit zu verschiedenen Essstörungssymptomen, weshalb die Differenzierung zwischen den Erkrankungen mitunter schwierig ist. Als wesentliche Kriterien zur Unterscheidung gibt die APA zum einen die für Essstörungen charakteristische Nahrungs- und Gewichtsfokussierung der Angst mit entsprechenden zwanghaften Gedanken und Handlungen an. Außerdem besteht eine Körperbildstörung, die sich auf die Körperfigur und nicht auf einzelne Körperteile, wie bei der Zwangsstörung, bezieht. Beispielsweise kann die Gewichtsregulation bei Konsum von appetitzügelnden Substanzen ein erwünschter Effekt, jedoch eine Gewichtszunahme nicht mit Angst verbunden sein (APA, 2015). Wenngleich die Adipositas nicht als Krankheit klassifiziert wird, ist zu erwähnen, dass diese sich neben dem Fehlen der Nahrungsrestriktion ebenso durch die Abwesenheit einer solchen Angst auszeichnet (Mangweth-Matzek, 2017). Außerdem ist die Art der Kompensation nach einer Nahrungsaufnahme, wie Erbrechen und Einnahme von Laxantien und Diuretika, bei Bulimie und Anorexie vom purging-Typ ein Unterscheidungsmerkmal von anderen psychischen Erkrankungen (APA, 2015). An dieser Stelle ist angesichts der deutschen Bezeichnungen Magersucht für Anorexie und Ess-Brech-Sucht für Bulimie die Differenzierung von (substanzgebundenen) Süchten von Bedeutung. Dafür wird auf relevante Kriterien für die Substanzgebrauchsstörung nach DSM-5 Bezug genommen (Heinz & Friedel, 2014). Das starke Verlangen nach Nahrung bei Bulimie kann mit dem craving verglichen, der Umgang mit Nahrung außerdem als schädlicher Gebrauch bei Substanzgebrauchsstörung nach DSM-5 eingeordnet werden. Weitere Ähnlichkeiten bestehen im Kontrollverlust, zumindest teilweise aufgrund der Vereinnahmung von der Essstörung, und in der Einschränkung im Sozialleben.

2.2 Symptomatik und assoziierte Probleme der Essstörungen

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Zwei wichtige Kriterien der Abhängigkeit, die Toleranzentwicklung und Entzugssymptomatik nach Abstinenz, wurden laut Vaz-Leal et al. (2017) bislang im Hinblick auf Nahrung zu wenig untersucht. Es bestehen jedoch Hinweise, dass folgende Merkmale von Abhängigkeitsverhalten auch bei Essanfällen zutreffen: 1) Kontrollverlust und übermäßiger Konsum; 2) Konsum trotz negativer Konsequenzen und damit 3) ein unflexibles, nicht auf die situativen Gegebenheiten abgestimmtes Verhalten sowie 4) Entzugssymptome und Rückfall nach Abstinenz. Tierexperimente zeigen, dass manche Nahrungsmittel, insbesondere mit hohem Zucker- und Fettgehalt, über die Freisetzung des Neurotransmitters Dopamin auch auf den Belohnungskreislauf im Gehirn einwirken. Sowohl bei Personen mit einer Abhängigkeit von Kokain, Methamphetaminen, Alkohol, Heroin und Nikotin als auch bei Personen mit Bulimie und Binge Eating-Störung wurden Veränderungen im Dopamin-Metabolismus gefunden. Vaz-Leal et al. (2017) weisen auf eine Studie von Avena, Rada und Hoebel hin, wonach sich die Wirkungen von Zucker und Fett unterscheiden: Während eine hohe Zuckerzufuhr und anschließende Abstinenz bei Tieren mit Entzugssymptomen, ähnlich wie bei Opiaten, jedoch ohne Gewichtsveränderung einherging, war es bei Fett eine Gewichtszunahme ohne Entzugssymptome. Die Kombination beider Stoffe könnte somit eine Abhängigkeit mit erhöhter Ängstlichkeit und psychomotorischer Erregbarkeit nach Entzug sowie eine Gewichtsveränderung zur Folge haben. Während das Suchtpotential in den vorigen Ausführungen in Nahrungsbestandteilen selbst gesehen wurde, stehen in anderen Modellen die Bedingungen für die Nahrungsaufnahme, insbesondere Stresssituationen, im Mittelpunkt. Dementsprechend bezieht sich die Abhängigkeit auf die Nahrungsaufnahme (addiction to eat) und nicht auf die Nahrungsmittel selbst (food addiction). In den von Vaz-Leal et al. (2017) analysierten Untersuchungen an Tieren löste erhöhter Stress signifikant mehr Essanfälle aus, wobei die Essensmenge selbst bei Einwirkung negativer Stimuli gleich blieb. Tiere ohne Binge Eating-Verhalten hingegen nahmen dadurch weniger Nahrung auf. Die zeitlich begrenzte Verfügbarkeit von schmackhaften Lebensmitteln trug außerdem zu einer übermäßigen Nahrungsaufnahme bei, worauf auch das vermehrte Auftreten von Essanfällen durch Verbot bestimmter Nahrungsmittel bei Menschen mit Essstörungen hinweist. Ebensolche Auswirkungen hatte eine lange Hungerperiode, die bei Bulimie eine Form der Kompensation von Essanfällen darstellt. Trotz dieser vielversprechenden Ergebnisse ist jedoch deren Übertragbarkeit auf Menschen aufgrund des zusätzlichen Einflusses von psychosozialen Aspekten eingeschränkt (Vaz-Leal et al., 2017). Im Fall der Nahrungsrestriktion bei Anorexie sind im Vergleich zum Bulimie- und Binge Eating-Verhalten außerdem weniger Hinweise auf eine Form von Abhängigkeit zu finden. Hier könnte allenfalls ein Gewöhnungseffekt im Hinblick auf das Hungergefühl gesehen werden. Ein Unterschied besteht darüber hinaus in der rigiden Kontrolle der Abstinenz entgegen dem Kontrollverlust bei Abhängigkeit. Festzuhalten ist, dass Essstörungen in den Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-5 nicht als Suchterkrankungen eingeordnet sind. Diese beziehen sich auf psychotrope Substanzen, wozu Nahrung nicht zählt: „Psychotrope Substanzen sind natürliche, chemisch aufbereitete oder synthetische Stoffe, die zentralnervös auf den Organismus einwirken und Wahrnehmung, Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen“ (Bühringer &

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2 Essstörungen ‒ Anorexie und Bulimie

Behrendt, 2011, S. 698). Somit modifizieren psychotrope Substanzen nicht nur das Verhalten, sondern auch Gehirnprozesse. Es kann nun argumentiert werden, dass auch Nahrung einerseits chemisch verändert sein kann und sich andererseits auf das zentrale Nervensystem in der zuvor beschriebenen Weise auswirkt. Beispielsweise wurde Koffein im DSM-5 als derartige Substanz aufgenommen, wofür es jedoch laut Vaz-Leal et al. zu wenig Evidenz gebe (Vaz-Leal et al., 2017). Eine weitere Überlegung ist, dass auch durch andere, nichtmaterielle Reize eine neuronale Wirkung erzielt werden kann, etwa akustisch durch den Klang einer Melodie oder optisch durch die Betrachtung eines Bildes, wie dies auf jede Form von Wahrnehmung zutrifft. Allerdings kommt es hierbei nicht wie bei der Aufnahme von Nahrung und anderen Substanzen zur Inkorporation. Ausschlaggebender ist der Unterschied, dass psychotrope Substanzen keine Lebensgrundlage darstellen und somit Abstinenz möglich ist, während es bei Essstörungen eines anderen Umgangs mit der Nahrung bedarf. Wenngleich Essstörungen nicht als Suchterkrankungen gelten, ist der starke Zusammenhang für Vaz-Leal et al. (2017) dennoch evident. Wie bei den anderen beschriebenen Begleiterkrankungen sind keine Aussagen über Kausalitäten zu treffen, da weitere Einflüsse beteiligt sein können. Außerdem variieren die Zahlen in den Studien zu Komorbiditäten mitunter stark, wofür einerseits Unterschiede in der Methodik, andererseits in der Diagnosestellung verantwortlich sein dürften (Zeeck et al., 2010). Langzeituntersuchungen bringen möglicherweise weitere Erkenntnisse, jedoch liegt nahe, über Kausalitäten und Klassifikationen hinaus immer die Äußerung der jeweiligen Person und ihr Umfeld in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen. 2.3 Entstehung und Aufrechterhaltung von Essstörungen Zur Erklärung der Entstehung und Aufrechterhaltung von Essstörungen gibt es einerseits Ansätze, in denen der Fokus auf der Person liegt, z. B. im kognitiven Verhaltensmodell und in psychodynamischen Konzepten. Andererseits haben das nähere Umfeld, vor allem die Familie, und gesellschaftliche Zusammenhänge Einfluss auf die Person, worauf systemische Modelle vordergründig ausgerichtet sind. In den Erklärungsansätzen kristallisieren sich im Wesentlichen folgende Funktionen der Essstörung heraus: Bewältigung von Belastungen und nonverbaler Ausdruck. So gehen der Bulimie mitunter mehrere belastende Lebensereignisse voraus, wobei hier vor allem Missbrauch in sexueller und in umfassender körperlicher Hinsicht von Bedeutung ist (APA, 2015). Doch auch im Alltag können Äußerungen und Verhaltensweisen von anderen Menschen eine Verletzung darstellen. Wie Levine (2017) schreibt, zeigen Untersuchungen mit der Vorgabe von sozialen Dilemmata, dass Menschen mit Essstörungen die Kommentare von anderen häufiger als Kränkungen empfinden und diese Kränkungen wiederum nicht aussprechen. Dadurch vermeiden sie solche Situationen bzw. die Konfrontation, mitunter dient die Essstörung als Ersatz. Belastende Emotionen werden unterdrückt, anstatt die Situation in einen anderen Rahmen zu setzen und differenziert zu betrachten. Diese Vermeidungsstrategie ist bei gemeinsamem Auftreten von Bulimie und Depression noch häufiger zu beobachten (Tobin & Griffing,

2.3 Entstehung und Aufrechterhaltung von Essstörungen

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1995). Eine Mitteilungsfunktion hat die Essstörung außerdem oft in schwierigen Familienbeziehungen. So kann die Distanz zwischen Eltern verringert werden, wenn sie sich durch die Erkrankung des Kindes in ihrer Sorge annähern (Levine, 2017). In diesem Fall ist die Essstörung einerseits ein Hinweis auf die familiären Konflikte, andererseits ein Ausdruck des (unbewussten) Wunsches nach einer gemeinsamen elterlichen Fürsorge und einer intakten Elternbeziehung.

GESELLSCHAFT Erwartungen und Ideale  Ideal der Selbstkontrolle (schlanker Körper, perfekte Leistung)  verzerrte Darstellung der Essstörung  kultureller Einfluss und historischer Wandel (Rollenbilder, Individualisierung) Verbreitung über (soziale) Medien

ESSSTÖRUNG Teil der Identität

Verbreitung über (soziale) Medien

Bewältigungsform Ausdrucksfunktion (Körper- statt Wortsprache) PERSON unsichere Identität

UMFELD Kommunikations- und Beziehungsdynamik  Kommentieren von Gewicht und Aussehen  Kontrolle und Erwartungen  Nähe-DistanzUngleichgewicht  Modellverhalten (Essen, Beziehung zum eigenen Körper)

indirekter Einfluss gesellschaftlicher Ideale

Auswirkungen der Essstörung auf die Beziehungen

 hohe Bedeutung von Körper und Gewicht für den Selbstwert  emotionale Instabilität  Perfektionismus und Anpassung an äußere Erwartungen  Ablehnen einer spezifischen Weiblichkeit  Schamerleben

traumatische bzw. belastende Erfahrungen Entwicklungsübergänge, Entwicklungsaufgaben Abbildung 1

Zusammenhänge im Rahmen der Entstehung und Aufrechterhaltung von Essstörungen (eigene Darstellung)

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2 Essstörungen ‒ Anorexie und Bulimie

Diese Funktionen der Essstörung sollen in den folgenden Ausführungen zu verschiedenen Erklärungsansätzen deutlich werden (s. Abbildung 1). Nach einem Überblick über die Verbreitung von Essstörungen in verschiedenen Regionen der Welt, woraus sich kulturelle und regionale Einflussfaktoren ableiten lassen, werden relevante Aspekte zur Beschreibung der Entstehung und Aufrechterhaltung von Essstörungen ausgewählt. Dafür dienen Erkenntnisse aus verschiedenen therapeutischen Richtungen (verhaltenstherapeutisch, psychodynamisch und systemisch), in denen der Schwerpunkt mehr auf der Person oder auf dem Umfeld liegt. Dementsprechend erfolgt die Einteilung der Kapitel nach Problemstellungen auf persönlicher, familiärer und schließlich auf gesellschaftlicher Ebene. Die Einflüsse auf den jeweiligen Ebenen sind jedoch als zusammenwirkend zu verstehen, da sich diese einzeln betrachtet nur eingeschränkt als Prädiktoren erweisen und somit lediglich Risikofaktoren darstellen (Jacobi & Zwaan, 2011). 2.3.1 Hinweise aus der Epidemiologie Die Verbreitung von Essstörungen ist weltweit unterschiedlich hoch, wobei die Prävalenz von der Inzidenz einer Erkrankung unterschieden wird: Prävalenz ist die Häufigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt (Punktprävalenz) oder über einen Zeitraum (Periodenprävalenz) in einer definierten Population. Unter Inzidenz wird die Anzahl der Neuerkrankungen pro Jahr verstanden, weshalb sich diese Angabe für epidemiologische Entwicklungen besser eignet als die Prävalenz. Die Vergleichbarkeit ist jedoch unter anderem aufgrund der zum Teil geringen Studienanzahl in manchen Ländern schwierig (Hoek, 2016). Die epidemiologischen Zahlen werden zudem durch das Studiendesign und insbesondere durch die Definition von Essstörungen beeinflusst (Mangweth-Matzek & Hoek, 2017). So ist für die Diagnosestellung die angewandte Klassifikation von Relevanz. Hoek gibt hier ein Beispiel, indem er sich auf Studien zu Anorexie bei afrikanischen Frauen bezieht. Im DSM-5, das kulturübergreifender als die vorherige Version, das DSM-IV, ausgerichtet ist, gilt das Vorliegen einer Amenorrhoe nicht mehr als notwendiges Kriterium für die Diagnose Anorexie. Demnach wäre in den genannten Studien eine höhere Anzahl an Frauen als betroffen einzustufen gewesen. Epidemiologische Daten zur Verbreitung von Essstörungen werden außerdem durch Veränderungen der diagnostischen Praxis im Laufe der Zeit beeinflusst. Einerseits dürfte die diagnostische Sensibilität und andererseits die Anzahl spezieller Beratungs- bzw. Therapieeinrichtungen angestiegen sein (Hoek, 2016). Zu bedenken ist auch, dass meist nur jene Menschen erfasst werden, die aufgrund ihrer Problematik medizinische bzw. therapeutische Einrichtungen aufsuchen. Darauf ist laut APA beispielsweise die geringe Prävalenz von Anorexie bei der lateinamerikanischen, afroamerikanischen und asiatischen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten zurückzuführen (APA, 2015). Als Hochrisikogruppe für Essstörungen gelten junge Frauen in westlichen Ländern, aber auch Frauen über 40 Jahren. Männer sowie Personen in anderen Regionen der Welt sind ebenso, wenngleich seltener, davon betroffen. Bei Frauen mittleren und höheren Alters überwiegen Other Specified Feeding and Eating Disorders (OSFED) nach DSM-5,

2.3 Entstehung und Aufrechterhaltung von Essstörungen

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die nicht der Anorexie, Bulimie oder BED zuzuordnen sind, gefolgt von der BED. Essstörungen werden bei diesen Frauen oft nicht erkannt, da Symptome mit altersassoziierten Veränderungen, wie der Menopause, erklärt werden. Ähnlich versteckt sich die Essstörung bei Männern häufig hinter exzessiver Sportausübung, bevor die starke Restriktion auffällt (Mangweth-Matzek & Hoek, 2017). Mit zunehmender Industrialisierung, Urbanisierung und Globalisierung steigt auch die Zahl der Betroffenen, etwa in asiatischen und arabischen Ländern. Unter jungen Frauen in China werden abweichendes Ernährungsverhalten und Sorgen um das Gewicht häufiger und sind möglicherweise sogar noch weiter verbreitet als in westlichen Ländern. Im Vergleich dazu ist die Anorexie in Lateinamerika sehr selten, nicht hingegen Bulimie und BED. Auch in den USA lebende Lateinamerikaner und Lateinamerikanerinnen zeigen weniger Diät- und Bewegungsverhalten und machen sich weniger Gedanken um ihr Gewicht als andere US-Bürger und US-Bürgerinnen (Hoek, 2016). Dies kann die geringere Häufigkeit von Anorexie und die stärkere Tendenz zu Bulimie und BED, wofür Kolar, Rodriguez, Chams und Hoek eine höhere Prävalenz als in westlichen Ländern annehmen, erklären. Es könnten sich darin die hohe emotionale Bedeutung von Essen und die höhere Verbreitung von Übergewicht, womit BED häufiger einhergeht, zeigen (Kolar et al., 2016). Dafür spricht außerdem die geringere Ausprägung der Angst vor einer Gewichtszunahme im Rahmen der Anorexie bei der asiatischen und lateinamerikanischen Bevölkerung. Allerdings könnte sich diese Angst hinter somatischen Beschwerden verbergen, da beispielsweise gastrointestinale Gründe für eine Nahrungseinschränkung angegeben werden (APA, 2015). Ebenso ist in Afrika, verglichen mit westlichen Ländern, China und Japan, die Prävalenz von Anorexie sehr gering. Gewisse kulturelle Aspekte, wie ein fülligeres Körperideal, können protektive Faktoren zumindest in Bezug auf Anorexie sein. Kulturelle Spezifika haben außerdem Einfluss auf die therapeutische Herangehensweise in den jeweiligen Ländern und sind in der Therapie insbesondere bei zu bewältigender Akkulturation nach Migration zu berücksichtigen (Hoek, 2016). Der damit verbundene individuelle Stress könnte neben der fremden Lebensumgebung die sich angleichenden Inzidenzraten an jene von Einheimischen erklären, die bei Personen nach ihrer Emigration aus Curaçao in die Niederlande gefunden wurden (Hoek, 2017). Während manche Studien einen Anstieg der Anorexie im Laufe der Zeit zeigen, weisen andere Ergebnisse darauf hin, dass dieser nur bis in die 1970er-Jahre erfolgte, mit nachfolgend stabiler Inzidenz. Die rapide Zunahme von Betroffenen in den 1960er- und 1970er-Jahren wird unter anderem mit dem damaligen Ideal durch das Model Twiggy in Zusammenhang gebracht. Die Inzidenzrate von Bulimie sank hingegen in den Niederlanden im Laufe der letzten drei Jahrzehnte (Hoek, 2016; Smink et al., 2016). Als mögliche Erklärung des Rückgangs von Bulimie seit Ende der 1990er-Jahre nennt Hoek die stärkere Verbreitung von Übergewicht, womit eine geringere Aufforderung zu gegenregulierenden Maßnahmen einhergeht. Dadurch könnte das Risiko für Bulimie verringert, für BED hingegen erhöht sein, wofür die gegenläufigen Zahlen, ein Rückgang der Bulimie und ein Anstieg der BED, sprechen (Hoek, 2017). An dieser Veränderung wird der bereits erwähnte Einfluss der diagnostischen Zuordnung auf die Statistik deutlich.

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2 Essstörungen ‒ Anorexie und Bulimie

2.3.2 Unsichere Identität Der Einfluss von Persönlichkeitsmerkmalen der Betroffenen wurde bereits im Rahmen der Ausführungen zu psychischen Begleiterkrankungen deutlich. Gaudio und Dakanalis nennen unter anderem Narzissmus, emotionale Instabilität und Perfektionismus als Beitrag zu Essstörungen (Gaudio & Dakanalis, 2018). Während bei Menschen mit Anorexie laut Noske narzisstische Gratifikation zu beobachten ist, indem sie nach Besonderheit streben, sei für Betroffene von Bulimie das Aushalten mit sich selbst schwieriger und die Tendenz zur Anpassung größer (Noske, 2017). Demnach könnte der häufige Übergang von der Anorexie in die Bulimie ein Weg in die Anpassung sein, wenn die Anerkennung für die Besonderheit als Person ausbleibt. Die Suche nach Anerkennung durch Gewichtsabnahme und das Streben nach einem, mitunter gesellschaftlich suggerierten, Körperideal erwähnt Levine (2017) im Zusammenhang mit geringer Zuwendung durch das Umfeld, das seinerseits wiederum von gesellschaftlichen Idealen beeinflusst ist. Die APA gibt außerdem bei Angststörungen und zwanghaften Tendenzen, die bereits im Kindesalter bestehen, eine höhere Auftretenswahrscheinlichkeit von Anorexie an. Eine stark ausgeprägte Ängstlichkeit erhöht auch das Risiko für Bulimie. Einen ebensolchen Einfluss haben ein geringes Selbstwertgefühl und eine depressive Symptomatik (APA, 2015). In neurobiologischer Hinsicht gibt es Hinweise auf eine erhöhte Serotoninwiederaufnahme bei Menschen, die einerseits perfektionistische Tendenzen aufweisen und andererseits weniger bzw. keine kindlichen Missbrauchserfahrungen gemacht haben. Hingegen korreliert eine eingeschränkte Aufnahme von Serotonin mit einer höheren Missbrauchsrate und dem Auftreten von Borderline-Persönlichkeitsstörungen (Gaudio & Dakanalis, 2018). In Bezug auf Veränderungen im Gehirn, die sich in Magnetresonanzaufnahmen zeigen, ist unklar, inwiefern diese Veränderungen einen beitragenden Faktor oder eine Folgeerscheinung der Mangelernährung darstellen (APA, 2015). Jedenfalls sollen, so Gaudio und Dakanalis (2018), neben Merkmalen der Person immer auch weitere Faktoren im Sinne einer biopsychosozialen Sichtweise berücksichtigt werden. Die verschiedenen Einflüsse auf persönlicher Ebene werden in diesem Kapitel näher beleuchtet. Dabei steht die Frage nach den Beiträgen zu einer unsicheren Identität, die unter anderem in der oben erwähnten Suche nach Anerkennung, in der Anpassung und im geringen Selbstwertgefühl deutlich wird, im Mittelpunkt. Hierfür wird zunächst Bezug zum kognitiven Verhaltensmodell genommen, um die Aufrechterhaltung des Essstörungsverhaltens durch Gedanken, Einstellungen und Prägungen zu beschreiben. Nachfolgend stehen frühe (traumatische) Erfahrungen sowie Herausforderungen in der Jugend im Hinblick auf die Definition der eigenen Identität und die weitere Entwicklung im Vordergrund. Besonders die häufig zu beobachtende Tendenz zur Anpassung bei Menschen mit Essstörungen ist ein weiterer wichtiger Aspekt. Diese sowie das beschriebene Schamgefühl von Betroffenen werden als Ausdruck einer unsicheren Identität erläutert. Inwiefern Essen bzw. Nicht-Essen eine Möglichkeit zur Stabilisierung in der empfundenen Unsicherheit darstellen kann, wird zum Abschluss des Kapitels thematisiert.

2.3 Entstehung und Aufrechterhaltung von Essstörungen

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Im Kreislauf von Kognitionen und Verhalten Im kognitiven Verhaltensmodell bzw. kognitiv-verhaltenstherapeutischen Störungsmodell (Jacobi & Zwaan, 2011) wird die Einschränkung von Nahrung, mit der das Ideal eines niedrigen Körpergewichts erreicht werden soll, als zentraler Aspekt für die Manifestation und Aufrechterhaltung von Essstörungen betrachtet. So treten Essanfälle insbesondere infolge einer rigiden Restriktion auf (APA, 2015). Diese Zusammenhänge werden durch die hohe Bedeutung des Gewichts für das eigene Selbstwertgefühl sowie durch das Streben nach Perfektionismus verstärkt. Weitere Einflüsse, wie belastende Lebensereignisse, Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen und genetische Vorbelastung, erhöhen das Erkrankungsrisiko. Hier wirkt sich außerdem der soziokulturelle Kontext aus, unter anderem durch vermittelte (Körper-)Ideale, Rollenbilder und (Leistungs-)Erwartungen (Gugutzer, 2012; s. Kapitel 2.3.4). Das ausbleibende Erreichen eines unrealistischen Zielgewichts mit (zu) strengen Maßnahmen verringert das Selbstwertgefühl und verstärkt die innere Anspannung, insbesondere wenn Essanfälle auftreten und als Versagen erlebt werden. Als Reaktion folgt die neuerliche Nahrungsrestriktion, wodurch der Kreislauf aufrechterhalten bleibt (Jacobi & Zwaan, 2011). Deutlich wird in diesem Erklärungsansatz die Unsicherheit in der Identität, wie sie in der Literatur in Bezug auf Menschen mit Essstörungen beschrieben wird. Hierzu können mehrere Aspekte beitragen, unter anderem schwierige (frühe) Erfahrungen, die sich auf die Persönlichkeit auswirken, sowie Entwicklungsaufgaben mit ihren Herausforderungen in der jeweiligen Lebensphase. Essstörungen und Trauma Bei Frauen mit Essstörungen konnten Mangweth-Matzek et al. in ihrer Untersuchung vier- bis fünfmal häufiger sexuellen Missbrauch in der Anamnese finden als bei betroffenen Männern, während sich die Zahlen für körperliche Gewalt nicht unterschieden. Hierin könnte ein Grund für die wesentlich höhere Verbreitung von Essstörungen unter Frauen liegen (Mangweth-Matzek et al., 2010). Weiteren Studien zufolge sind auch andere körperliche Übergriffe bei Menschen mit Anorexie und Bulimie öfter als bei Nicht-Betroffenen zu verzeichnen, allerdings differieren laut Wietersheim die Auffassungen von Gewalt und Missbrauch (Köhle, Subic-Wrana, Albus & Simons, 2003; Wietersheim, 2003). In diesem Zusammenhang sind außerdem unsichere Bindungserfahrungen als Beitrag zu Essstörungen zu nennen (Gaudio & Dakanalis, 2018), wobei dies ebenso für andere psychische, psychosomatische und somatische Erkrankungen gilt (u. a. Brisch, 2014; Brisch, Grossmann, Grossmann & Köhler, 2017; Schubert, 2014). Auch prä- und perinatale Einflüsse, wie Ängstlichkeit der Mutter und Geburtskomplikationen, sind als Risikofaktoren zu nennen (Treasure, Corfield & Cardi, 2012). Traumatische Erfahrungen werden von Plassmann einerseits als Beitrag zu Essstörungen beschrieben, andererseits fasst er die Essstörung selbst als psychisches Trauma auf. In seinem Vortrag nennt er die „Erfahrung überstarker negativer Affekte von Hilfund Hoffnungslosigkeit“ (Plassmann, 2010), deren psychische Repräsentation verändert und fragmentiert ist. Diese fehlende Integration betrifft auch die Erzählung der

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Betroffenen, sodass die Essstörung, wie andere Erkrankungen, als eine alternative Form von Sprache fungieren kann. Neben einzelnen Makrotraumata sind es laut Plassmann oft wiederkehrende Mikrotraumata, die zu Essstörungen beitragen können. Er beschreibt bei Anorexie die Erfahrung von Grenzüberschreitung, die „emotionale Penetration“ (Plassmann, 2010), wodurch fremde Emotionen in das Selbst gelangen und dieses zu einem falschen Selbst werden lassen (s. Kapitel 3.2.1). Damit kann die Ablehnung, etwa in Form eines Ekelgefühls, das Menschen mit Essstörungen häufig gegenüber dem eigenen Körper empfinden, erklärt werden: Es wird die unbekömmliche Nahrung im Körper abgelehnt, schließlich der Körper selbst. Insbesondere bei traumatischen Erfahrungen kann die Abwehr gegenüber dem Körper außerdem für eine Abwehr des damit verbundenen Körpererlebens stehen (Baer & Frick-Baer, 2007; Frick-Baer, 2007). In beiden Fällen handelt es sich nicht um einen Wunsch nach Distanz zu sich selbst, sondern zu den Erfahrungen mit den Menschen im Umfeld. Die Anorexie kann nun zur „Hilfspersönlichkeit“ (Plassmann, 2010) werden, die dem wahren Selbst jenseits der fremden Intrusionen Schutz gibt. Allerdings ist dadurch der Zugang zum wahren Selbst behindert, wodurch die Anorexie selbst zum Trauma wird. Ihr anfänglicher Schutz stellt sich schließlich als Mauer heraus, deren Durchdringen bedeutet, sich selbst (wieder) zu spüren, auch in Beziehungen. Aufgrund eingeschränkter oder schwieriger Beziehungserfahrungen ist damit jedoch Angst verbunden und eine behutsame Annäherung in der Therapie erforderlich (Plassmann, 2010). Während Plassmann die Anorexie mit dem Eindringen von fremden Emotionen verbindet, sieht er bei der Bulimie ein „emotionales Verhungern“ bzw. eine „emotionale Deprivation“: „Sie [die Betroffenen] wurden zwar gefüttert, aber nie gestillt“ (Plassmann, 2010). Es gebe zwei Persönlichkeitsanteile: das innere, bedürftige Kind einerseits und die angepasste Erwachsene, die sich nach außen darstellt, andererseits. Zwischen diesen Anteilen besteht keine liebevolle Beziehung, sondern sie bekämpfen sich gegenseitig. Die fehlende Verbindung zeigt sich im Essanfall, in dem sich die Bedürfnisse des verhungerten inneren Kindes impulshaft ausdrücken. Aus Schuld- und Schamgefühl des erwachsenen Teils wird dem Kind erneut die Nahrung versagt. Dieser Überschwang der Bedürfnisbefriedigung ist insofern nachvollziehbar, da die Anpassung bei den Betroffenen sehr präsent ist. Mit dieser Ausrichtung auf die Erwartungen anderer soll gerade in einer Zeit der Veränderung, wie in der Pubertät, eine weitere Verunsicherung vermieden werden. Zudem beobachtet Plassmann bei Menschen mit Bulimie, dass von ihnen viel Eigenverantwortung erwartet wurde und sich dadurch deren Anpassung verstärkte, um gewisse Bindungen aufrechtzuerhalten. Die persönliche Entwicklung wurde dadurch eingeschränkt, die beiden Persönlichkeitsanteile konnten sich nicht verbinden. Die Bulimie kann letztlich jedoch keinen Teil sättigen, sondern bewirkt stattdessen emotionale Leere und körperliche Erschöpfung. Nach Plassmann sind somit sowohl bei Menschen mit Anorexie als auch mit Bulimie zwei persönliche Anteile zu nennen: die Anorexie als dominante Hilfspersönlichkeit, die sich vor das wahre Selbst stellt; die Bulimie als „das ewig einsame innere Kind“, das dem „angepassten chronisch depressiven Alltags-Ich“ (Plassmann, 2010) gegenübersteht.

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Störung der Selbstentwicklung In Bezug auf die Psychodynamik von Essstörungen werden in der Literatur frühe Konflikte und deren Reaktivierung in der Adoleszenz beschrieben (Köhle et al., 2003; Noske, 2017; Wietersheim, 2003). Es handelt sich dabei meist um AbhängigkeitsAutonomie-Konflikte: einerseits die Angst vor dem Verlust von Bindungen beim Verfolgen eigener Wünsche und Ziele, andererseits der Selbstverlust in der Nähe zu anderen (Köhle et al., 2003). Wietersheim führt im Hinblick auf die Bulimie die eingeschränkte Entwicklung des Selbst infolge einer unzureichenden Subjekt-ObjektDifferenzierung an. Erkennbar ist diese im geringen Selbstwertgefühl der Betroffenen sowie in der Unsicherheit mit dem eigenen Körper und im Ausdruck des Selbst. Unangenehme Selbstanteile überwiegen und können sich nicht mit angenehmen Anteilen verbinden. Allerdings sind bei den Betroffenen nicht nur Störungen auf einem frühen, sondern auch auf dem höheren neurotischen Entwicklungsniveau zu beobachten, wobei bei beiden eine orale Fixierung besteht. Die Oralität zeigt sich in den Essanfällen, im Zuge derer eine Leere in eine übermäßige Fülle übergeht und sich nach dem Erbrechen wieder eine Leere einstellt. Lust und Entwertung stehen hier nebeneinander bzw. zeitlich nacheinander, ohne dass eine Verbindung und eine Position dazwischen gefunden werden kann. Als Kennzeichen der frühen Störungen gibt Wietersheim die Körperbildstörung an (Wietersheim, 2003), da das Erleben des Kindes zu Beginn seiner Entwicklung in einem engen psychosomatischen Zusammenhang steht. Erst im Laufe der weiteren Entwicklung können körperliche und seelische Erfahrungen durch die Interaktion mit Bezugspersonen differenziert werden (Küchenhoff & Agarwalla, 2013, S. 13, S. 17f.). Daher zeigen sich, wenngleich die Verbindung zwischen körperlichen und seelischen Prozessen darüber hinaus bestehen bleibt, Störungen der frühen Entwicklung verstärkt auf der körperlichen Ebene (Wietersheim, 2003). Mit Konflikten auf dem reiferen neurotischen Entwicklungsniveau geht hingegen zwar auch eine eingeschränkte, dennoch differenziertere Selbstwahrnehmung einher. Frühere Bewältigungsmuster von Konflikten wiederholen sich in Beziehungen, die ebenso wie Misserfolge das Selbstwertgefühl beeinflussen (Arbeitskreis OPD, 2009). Im Hinblick auf den Beginn von Essstörungen gelten Entwicklungsübergänge, beispielsweise ein Umfeldwechsel bei Studienbeginn, als vulnerable Phasen (APA, 2015; Jacobi et al., 2010, S. 198). Außerdem wird die Jugend in der Entwicklungspsychologie als Zeit der Identitätsdefinition beschrieben (s. Kapitel 3.2.2). Köhle et al. sprechen in Bezug auf die Anorexie von einer „existentiellen Verunsicherung“, auf die mit einer „Eigenheit in Negation“ (Köhle et al., 2003, S. 694) reagiert wird. Durch die Restriktion bzw. Abstinenz und die Gewichtsabnahme sind die Aufgaben, die der Weg des Erwachsenwerdens mit sich bringt, zunächst zu vermeiden. So zeigt sich in der retrospektiven Untersuchung von Mangweth-Matzek, Rupp, Hausmann, Kemmler und Biebl, in der Frauen mit Essstörungen zu ihrer Pubertät befragt wurden, eine Ablehnung des eigenen (weiblichen) Körpers bzw. eine negative Einstellung diesem gegenüber. Personen mit Essstörungen unterschieden sich im Hinblick auf das Alter bei der Menarche und ersten sexuellen Erfahrung nicht signifikant von Nicht-Betroffenen. Allerdings wies die negativere Selbstbewertung der körperlichen und sexuellen Entwicklung in der Pubertät auf

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eine distanziertere Beziehung zum eigenen Körper hin, die bereits vor Auftreten der Essstörung vorhanden gewesen sein könnte (Mangweth-Matzek et al., 2007). Im Hinblick auf die weibliche Identität wird bei Menschen mit Esstörungen ebenso eine Ablehnung gesehen. Ein Hinweis dafür ist der Widerspruch zwischen Essstörung, insbesondere Anorexie, und Schwangerschaft: Amenorrhoe ist ein Zeichen für eine (körperliche) Minderversorgung der Frau, sodass auch zu wenige Ressourcen für das Heranwachsen eines Kindes zur Verfügung stehen. Die Ablehnung der körperlichen Weiblichkeit zeigt sich nicht nur in der ausbleibenden Menstruation, sondern insgesamt in der Regression auf den präpubertären körperlichen Zustand (Mangweth-Matzek, 2017). Eine solche ist auch in der Lanugobehaarung, dem Haarflaum an der Hautoberfläche, zu sehen. Diese tritt bei Föten entwicklungsbedingt, bei Anorexie hingegen als Folge der Mangelernährung auf. Bei der Geburt ist die Lanugobehaarung überwiegend zurückgebildet und stellt damit ein Reifekriterium dar (APA, 2015). Aus dem Blickwinkel der abgelehnten Weiblichkeit kann auch die Schwierigkeit der Betroffenen mit der Gewichtszunahme in der Schwangerschaft eingeordnet werden. Außerdem leben sie ihre Sexualität kaum bzw. in vorhandenen Partnerbeziehungen wenig lustvoll. Die kognitive Einengung auf Essen und die Zwanghaftigkeit sind mit Schwangerschaft und besonders mit der Mutterschaft wenig kompatibel, da die Hingabe an das Kind und das Zurückstellen eigener Bedürfnisse erforderlich sind (Mangweth-Matzek, 2017). Wenngleich die Ablehnung aufgrund des meist normalen bis höheren Gewichts bei Bulimie weniger körperlich sichtbar ist, lässt sich die Schwierigkeit, die eigene Weiblichkeit zu leben, auch hier erkennen. So gibt die APA (2015) bei frühem Pubertätseintritt, wodurch Mädchen bereits in jüngerem Alter mit dem Heranreifen zur Frau konfrontiert werden, ein erhöhtes Risiko für Bulimie an. Doch gilt es die Sichtweise, in der Essstörung zeige sich die Ablehnung von Weiblichkeit, differenzierter zu betrachten. Nicht die Weiblichkeit im Allgemeinen, so Seidler über Frauen mit Anorexie, sondern vielmehr eine bestimmte Form der Weiblichkeit will nicht gelebt werden. Mit der Essstörung kann sich die Betroffene in der Beziehung vor einem bestimmten, sie verunsichernden Gegenüber sowie vor den damit einhergehenden Ängsten bewahren: einerseits den Partner bzw. die Partnerin zu verlieren, andererseits im Gegenüber aufzugehen und dabei sich selbst zu verlieren. In der Erläuterung von Seidler wird zunächst die Ambivalenz zwischen Nähe und Distanz deutlich bzw. die Schwierigkeit, eine Position zwischen zwei Polen zu finden (Seidler, 2013). So sehen auch Padrão et al. (2013) im Rahmen ihrer therapeutischen Arbeit mehr die ambivalente als die ablehnende Haltung ihrer Patientinnen gegenüber ihrer Weiblichkeit und einem sinnlichen Ausdruck, mit individuell unterschiedlicher Tendenz. Vor allem aber ist diese Unterscheidung von Seidler deswegen als wesentlich zu erachten, weil der Blick damit nicht nur auf die Betroffene als Verweigernde fällt, sondern auch auf die Zusammensetzung der Nahrung im übertragenen Sinn, die ihr vom Umfeld angeboten wird. Dies wird insbesondere durch die Häufigkeit von grenzüberschreitenden Kommentaren zur körperlichen Veränderung, die die Betroffenen in der Pubertät erfahren, unterstrichen, womit keine entwicklungsfördernde Nahrung zur Verfügung steht (Plassmann, 2010).

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Scham, Anpassung und Perfektion als Ausdruck von Unsicherheit Scham zeigt sich in verschiedenen klinischen, aber auch nicht-klinischen Lebenskontexten und wurde bei verschiedenen Erkrankungen, ebenso bei Essstörungen, untersucht (u. a. Goss & Allan, 2009). Das Gefühl der Scham steht in Zusammenhang mit negativer Selbstbewertung und unbewusster Angst vor sozialem Beziehungsverlust. Dadurch trägt es zur Anpassung an äußere Erwartungen bei (Blumenthal & Ganterer, 2016) und schützt das Selbst. Schuldgefühle, die die Betroffenen im Hinblick auf das Umfeld äußern können, gelten hingegen dem Schutz des Gegenübers (Reich, 2008). Hinter der Scham und dem heimlichen Verhalten von Menschen mit Essstörungen ist demnach eine unbewusste Angst vor dem Verlust sozialer Beziehungen zu sehen. Jedoch besteht eine Ambivalenz, da sich die Betroffenen in den Beziehungen, insbesondere im Fall der Anorexie, bei gleichzeitig deutlicher Sichtbarkeit mit ihrer Problematik zurückziehen. Mit der Anpassung wird somit die Diskrepanz zwischen realem Selbst und dem „Blick des Anderen“ (Reich, 2008, S. 366) verringert. Dieser Blick wird internalisiert und erhält dadurch auch unabhängig von der Anwesenheit einer anderen Person einen beurteilenden Charakter. Besonders hohe Erwartungen an sich selbst gehen wahrscheinlicher mit deren Verfehlen und dieses wiederum mit einem Schamgefühl einher. Dadurch verringert sich das ohnehin oft schon niedrige Selbstwertgefühl dieser Personen noch weiter. Auch Schamgefühl für andere Familienmitglieder kann durch die Identifikation mit diesen Bezugspersonen zum Teil des Selbst werden und somit wirksam sein (Reich, 2008). Anlässe für Scham können verschiedene persönliche Merkmale sein, unter anderem die eigene Körperfigur, wodurch die Wahrscheinlichkeit für Essstörungen erhöht ist. Die Essstörung selbst, insbesondere Bulimie aufgrund der Impulsivität in den Essanfällen, kann wiederum mit vermehrtem Schamempfinden einhergehen, besonders dann, wenn festgelegte (Gewichts-)Ziele nicht erreicht werden (Frost et al., 2014). Scham wirkt sich einerseits direkt auf die Ausprägung und den Schweregrad der Essstörung aus (Troop, Allan, Serpell & Treasure, 2008). Andererseits wurde in Untersuchungen auch ein teilweise verstärkender Effekt von Scham auf den Zusammenhang zwischen dysfunktionalen Familienbeziehungen und Essstörungssymptomatik gefunden. Dabei führten ein schwieriges Familienklima und Konflikte bei Menschen ohne klinische Diagnose ebenso zu einem ausgeprägteren Schamerleben. Dieses wiederum erschwert Beziehungen zu anderen Menschen, unter anderem durch Verringerung der Empathie aufgrund erhöhter Selbstaufmerksamkeit (Frost et al., 2014). Bei Menschen mit Anorexie ist vermehrt die externale Scham präsent, die in der Untersuchung von Troop et al. vor allem mit dem Ausmaß des Untergewichts einherging. Unter externaler Scham ist die Erfahrung von Beschämung zu verstehen, wobei sich die Betroffenen anderen Personen gegenüber als untergeordnet empfinden. Einfluss dürfte hier nach Troop et al. nicht nur die Wahrnehmung dieser sozial untergeordneten Position, sondern auch deren Zuschreibung durch andere haben. Die Restriktion und Gewichtsabnahme können die externale sowie die ebenso vorhandene internale Scham, das Schamgefühl, verringern und zum Erleben von Stolz führen (Scham-StolzZyklus). Mehr als die externale Scham, die sich auf das Umfeld bezieht, wird mit der

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internalen Scham das innere Erleben der Person beschrieben. Letztere steht bei Bulimie im Vordergrund, insbesondere im Hinblick auf das Gewicht und die Körperfigur sowie das Verfehlen internalisierter Normen. Diese Zusammenhänge könnten jenes Ergebnis von Troop et al. erklären, dass die Personen während der Überwindungsphase im Vergleich zu einer nicht-klinischen Gruppe mehr externale Scham zeigen, sich jedoch die internale Scham nicht verstärkt. Denn der Kontrollverlust bei der Gewichtszunahme und die damit einhergehende Körperveränderung erhöhen die Befürchtung einer Beschämung und Ablehnung durch andere, somit die externale Scham. Bei Personen mit bereits überwundener Essstörung hingegen ist die Ausprägung von externaler und internaler Scham deutlich geringer. Im Unterschied zur Anorexie, bei der vom oben beschriebenen Scham-Stolz-Zyklus gesprochen wird, handelt es sich bei Bulimie um einen Scham-Scham-Zyklus, da die Maßnahmen gegen die Scham, das Essen und Erbrechen, wiederum Scham bewirken. Der Ekel aufgrund des Erbrechens ist letztlich der Ekel vor sich selbst im Sinne einer Selbstablehnung und einer sich wiederholenden Selbsterniedrigung (Noske, 2017; Troop et al., 2008). Crisp spricht hier von einer Selbststigmatisierung, während bei Anorexie die Zuschreibung von außen aufgrund der sichtbaren Veränderung und der Schwierigkeiten im sozialen Kontakt im Vordergrund stehe (Crisp, 2005). Deutlich wird, dass Schamerleben zur Anpassung an äußere Erwartungen beiträgt. Eine solche Anpassung beschreiben zahlreiche Autoren und Autorinnen bei Menschen mit Essstörungen, so wie in der Einführung beispielsweise auf Hilde Bruch (1989, 1990) hingewiesen wurde. Bruch sieht bei Menschen mit Anorexie eine „perfekte Kindheit“ (Bruch, 1989, S. 57), in der die Betroffenen den Erwartungen der Eltern entsprechen, sich weiters auch in Freundschaften nach den Wünschen der anderen ausrichten und Leistungsforderungen übermäßig erfüllen. Dadurch erhalten sie zwar Anerkennung, lernen jedoch nicht sich selbst mit ihren eigenen Fähigkeiten kennen: „Während ihrer ganzen Kindheit sind sie ,nach den Klängen eines anderen Trommlers marschiert‘, eines Trommlers, der sie später an die Wertvorstellungen und Überzeugungen früheren Denkens kettete“ (Bruch, 1989, S. 65). Perfektionismus als Streben nach Anerkennung durch Erfüllen von Erwartungen stellt somit eine Form von Anpassung dar. Dabei zeigt sich häufig eine Rigidität in Form des dichotomen Denkens, des Schwarz-WeißDenkens, indem der perfekten Leistung das Versagen gegenübersteht (Hewitt, Flett & Ediger, 1995). Ein stärker ausgeprägter Perfektionismus geht in der Studie von Halmi et al. mit einer schwerwiegenderen Essstörungssymptomatik und geringerer Motivation zur Überwindung einher. Dabei weisen Personen mit Anorexie vom purging-Typ ein höheres Ausmaß an Perfektionismus auf, das die Autoren und Autorinnen mit noch verzweifelteren Versuchen, ein dünnes Körperideal zu erreichen, erklären. Doch auch in der nichtklinischen Gruppe zeigt sich eine Korrelation von perfektionistischer Tendenz mit diesem Ideal (Halmi et al., 2000). Gazzillo et al. (2013) unterscheiden in ihrer Untersuchung an adoleszenten Frauen mit Anorexie drei Subtypen des Perfektionismus: 1) den Subtyp auf hohem Funktionsniveau (high-functioning/perfectionist subtype); 2) den emotional dysregulierten bzw. instabilen Subtyp (emotionally dysregulated subtype) und 3) den überkontrollierten, verschlossenen Subtyp (overcontrolled/constricted subtype). Am häufigsten im Zusammenhang mit Anorexie ist der erstgenannte Subtyp mit dem Vermögen, angenehme

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und unangenehme Emotionen wahrzunehmen, mit hoher Selbstkritik und Angst vor Ablehnung oder Kritik durch wichtige Bezugspersonen. Es bestehen mehr Bewältigungsmöglichkeiten als bei den anderen Subtypen, sodass Gazzillo et al. hier keine Identitätsstörung sehen. Der emotional dysregulierte Subtyp ist tendenziell bei Menschen mit purging-Verhalten und Dysphorie häufiger (Gazzillo et al., 2013). Darauf weisen auch Cruzat-Mandich, Díaz-Castrillón, Escobar-Koch und Simpson mit Bezug auf mehrere Studien hin, in denen Menschen mit Bulimie vermehrt zur Unsicherheit im Hinblick auf ihre Identität und ihre Beziehungen tendieren (Cruzat-Mandich et al., 2017). Belastende Emotionen werden vermieden und die Betroffenen von der Essstörung umso stärker vereinnahmt. Der überkontrollierte, verschlossene Subtyp ist emotional gehemmt und hat daher Schwierigkeiten, sich in sich selbst und in andere einzufühlen. Dieser ist in der Untersuchung von Gazzillo et al. jedoch am seltensten (Gazzillo et al., 2013). Durch Anpassung sind die Betroffenen somit zurückhaltend in ihrer Präsenz, worauf die Beobachtung von Beye und Wiesbauer-Resch hinweist: Die Physiotherapeutinnen sprechen von wenig Körpertonus, wenn Menschen mit Anorexie Überkopfbewegungen ausführen. Das Erfüllen von Vorgaben zeige sich außerdem in der Ernsthaftigkeit und im Leistungsdruck bei Bewegungsaufgaben (Beye & Wiesbauer-Resch, 2017). Durch die Ausrichtung an den Erwartungen anderer haben die Betroffenen keine oder kaum Kenntnis von ihren eigenen Wünschen und Zielen sowie einen eingeschränkten Zugang zu den eigenen Gefühlen. Eine solche Einschränkung ist für Franke kein Resultat der Essstörung, sondern geht dieser voraus. Durch die Ausrichtung nach vorgegebenen Maßen rücken die Betroffenen in den Bereich der Normalität und werden unauffällig. Dies stehe der „Angst vor dem Mittelmaß“ (Franke, 2011, S. 78), die sie bei Menschen mit Anorexie beobachtet, entgegen. Denn der Wunsch sei, sich selbst zu spüren und sich als Person mit dem eigenen Maß nach außen zu zeigen. Dafür ist der Körper als „Ort des Selbst“, als „Träger der Person“ (Franke, 2011, S. 79) eine Möglichkeit, allerdings auf eine selbstdestruktive Weise: Es wird der ausgehungerte Körper, der in der Differenz zum Aussehen anderer Menschen steht, als das Eigene empfunden und verteidigt. Unter anderem damit lässt sich der soziale Rückzug der Betroffenen erklären, da dadurch dieses Eigene leichter bewahrt werden kann (Köhle et al., 2003). Der Körper bzw. dessen Verlust dient hier somit als Sprachrohr sowie der Abgrenzung des Selbst vom Umfeld: um sich die anderen „vom Leibe zu halten“ (Hirsch, 2010, S. 27). Bedeutung von (Nicht-)Essen für die Identität Entgegen der Bezeichnung Essstörung und der sichtbaren Symptome stehen für die Betroffenen von Bulimie laut Ettl nicht die Nahrungsmittel an sich im Mittelpunkt, sondern deren Funktion, insbesondere die Projektion und Regulation von Emotionen. Daher können auch andere Objekte oder Maßnahmen anstelle von Nahrung eingesetzt werden, wie der eigene Körper im Rahmen des selbstverletzenden Verhaltens oder der exzessiven Sportausübung (Ettl, 2006a, S. 39f.). Als eine Bedingung dafür, dass Nahrung eine andere Funktion als die der Aufrechterhaltung von Körperprozessen erhalten kann, ist ein vorhandener Nahrungsmittelüberfluss zu sehen. Dafür spricht die stärkere Verbreitung von Essstörungen in Ländern mit einem solchen Überangebot (Gugutzer,

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2012, S. 165). Jedoch kann die Konsumorientierung, insbesondere die leichte Verfügbarkeit von Nahrung, lediglich ein begünstigender, kein ursächlicher Faktor sein (Ettl, 2006b). Unangenehme, schmerzhafte Emotionen können mit Essen gedämpft oder unterdrückt sowie Beziehungen, in denen diese auftreten, vermieden werden. Insbesondere Aggression wie Wut wird nicht an auslösende Personen adressiert, sondern auf die Nahrung verschoben. Dadurch kann zumindest in dieser Hinsicht den Schuldgefühlen entgegengewirkt werden und sich vorübergehend ein psychisches Gleichgewicht einstellen. Allerdings treten stattdessen nach dem Essanfall und dem Erbrechen Schuld- und Schamgefühle aufgrund des Kontrollverlustes auf (Ettl, 2013, S. 85f.). Vor allem erfolgt die Verschiebung der Wut auf selbstdestruktive Weise, wie Köpp et al. eine Patientin zitieren: „Wenn mir meine Mutter nicht gibt, was ich will, dann möchte ich ihr schaden, indem ich mich selber verletze“ (Köpp et al., 2007, S. 271). Aufgrund dieser Funktion der Nahrung bezeichnet Ettl die Essstörung als Beziehungsstörung, die bereits in der Kindheit, also vor Auftreten der Bulimie bestehe. Außerdem sei die Essstörung vielmehr eine Verdauungsstörung, da Emotionen mit dem Essen reguliert anstatt verarbeitet werden. Doch als Ziel sieht Ettl nicht den Essanfall, sondern das Erbrechen: Dadurch soll der emotionale Ausbruch rückgängig gemacht werden, wofür symbolisch die retrograde Bewegungsrichtung der Nahrung zu sehen ist. Zudem wirke das Erbrechen nach Aufnahme der großen, wahllosen Nahrungsmenge reinigend und einer körperlichen Entgrenzung, der Gewichtszunahme, entgegen (Ettl, 2006b). Gleichzeitig ermöglicht die Nahrung eine Grenzerfahrung, sowohl durch die Leere in Form des Hungers, als auch durch das Völlegefühl im Essanfall. Durch das Spüren dieser Grenzen vermittelt der Körper mitunter, wenngleich auf destruktive Weise, ein Gefühl von Sicherheit. Außerdem kann das Erbrechen laut Gugutzer mit Hinweis auf die Ausführungen von Nardone (2003) einen, dem sexuellen ähnlichen, Lustgewinn bringen (Gugutzer, 2012, S. 182f.). Die Ablehnung des Essens wird von Köhle et al. im Hinblick auf den AbhängigkeitsAutonomie-Konflikt als Ausdruck des Strebens nach Autonomie beschrieben. Das Gefühl, unabhängig von der Natur und den Bezugspersonen zu sein, vermittelt Sicherheit und einen höheren Selbstwert. Gerade in der analen Phase ist die Regulation eigener körperlicher Bedürfnisse anerkannter bzw. wird im Rahmen der Sauberkeitserziehung erwartet (Köhle et al., 2003). Das Bedürfnis nach Sicherheit weist auf die Erfahrung von Instabilität in früheren Entwicklungsphasen hin. Für Köhle et al. handelt es sich jedoch mehr um Autarkie statt um Autonomie, womit die Autoren und Autorinnen nicht nur auf die für alle Menschen bestehende Abhängigkeit von der Natur und den Bezugspersonen, sondern auch auf die Einschränkung durch das Diktat des Hungers in der Anorexie hinweisen dürften. Denn so sehr die Unabhängigkeit von den Betroffenen angestrebt wird, so ist diese doch nur scheinbar und kann letztlich in den Tod führen (Ettl, 2006b). Deutlich wird hier eine weitere Funktion der Essensabwehr: die Abgrenzung bzw. Aufrechterhaltung von Distanz in Beziehungen. Hier handelt es sich um einen oralen Konflikt, nämlich zwischen der Nähe, die der Säugling bei der Nahrungsaufnahme erfährt bzw. erfahren sollte, und der Angst vor Auflösung im Gegenüber. Diese Angst wird mit fehlenden/mangelnden frühen Erfahrungen von gleichzeitiger Verbundenheit und Autonomie in Zusammenhang gebracht. Mit Bezug zu Boothe erläutern Köhle et al. die

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Vereinbarkeit dieser beiden Aspekte in der Anorexie: Während Nahrungsrestriktion die Zuwendung von anderen bewirkt, bleibt durch ebendiese Restriktion die Selbstbestimmung und damit Abgrenzung aufrecht (Köhle et al., 2003). Vor allem kann die Ablehnung bestimmten Personen und deren Nahrung gelten, wie den Eltern im familiären Kontext. So erhalten übergewichtige Personen, aber auch Menschen mit Essstörungen, in ihrer Kindheit häufig Nahrung als Ersatz für Liebe und Fürsorge: Körperliche Nahrung soll emotionale Wärme geben (Gugutzer, 2012, S. 176). Dabei werden Grenzen von anderen oft überschritten, und die Betroffenen erhalten zu wenig Freiraum für die eigene Entwicklung. Damit bleibt nur mehr „der Körper, der von der eigenen Grenze träumen kann“, indem „die Abgrenzung […] ins Innere des Körpers verlegt“ (Küchenhoff, 2012, S. 320) wird. Das Verhalten, das nach außen wie Rebellion wirkt, ist letztlich ein Versuch, sich selbst zu retten. An den Ausführungen zur Bedeutung von Nahrung bzw. deren Verweigerung wird deutlich, welches Ausmaß diese im Leben der Betroffenen einnimmt. Die Beziehung zum Essen steht im Vordergrund, soziale Beziehungen hingegen sind stark eingeschränkt. Während Essen durch die gemeinsame Zeit und den Austausch verbindend wirken kann (Nunes, 2012), behindert das kontrollierte Verhalten im Rahmen der Essstörung das Erleben von Gemeinschaft. Dementsprechend beschreiben zehn adoleszente Frauen, die zusammen mit ihren Eltern, überwiegend mit der Mutter, an der Untersuchung von Tan et al. teilnahmen, die Anorexie als einen Teil von sich. Dieser habe eine hemmende Wirkung auf ihren Körper, ihre Seele und ihren Geist: „It's this really evil thing that steps into you and take over. […] It's someone else pulling the strings“ (Tan et al., 2003, S. 539). Die Essstörung ist somit einerseits ein Teil ihrer Person, andererseits ein eigenes „teuflisches Ding“ bzw. „wie jemand anderer, der die Zügel in die Hand nimmt“. Die Betroffenen in der Studie von Tan et al. empfinden die Essstörung außerdem als Persönlichkeitsmerkmal oder Verhaltensstrategie, worauf unter anderem ihre Aussagen hinweisen, dass andere Menschen insbesondere durch die äußerlich sichtbaren, körperlichen Symptome auf sie aufmerksam werden. Allerdings geht die Anorexie aus der Sicht der Befragten über die Symptome hinaus und kann selbst bei Verschwinden dieser Symptome noch vorhanden sein bzw. von den Betroffenen festgehalten werden. Jedenfalls drücken sie sich diesbezüglich in der ersten Person aus, während ihre Eltern die Anorexie als eine externe Entität, die ihre Töchter als Person und ihre Beziehung zu ihnen beeinflusst, auffassen (Tan et al., 2003). Diese identitätsbildende Funktion des Essens bzw. der Essstörung wird mit der Einschränkung in der Entwicklung, unter anderem durch Traumata und kontrollierende Beziehungserfahrungen, begründet (Stein & Corte, 2007). Mitunter ist ein Leben ohne Essstörung für die Betroffenen zunächst nicht vorstellbar, zumal ein früher Erkrankungsbeginn mit einer noch weniger ausgereiften prämorbiden Persönlichkeit einhergeht (Tan et al., 2003). Treffend drücken dies Bulik und Kendler (2000) mit Bezug zur Aussage einer Patientin aus: „I am what I (don't) eat.“

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2.3.3 Familiäre Kommunikations- und Beziehungsdynamik Um Erkenntnisse über Einflussfaktoren auf die Entstehung von Essstörungen zu gewinnen, wurden Untersuchungen zur Atmosphäre in Familien von Betroffenen durchgeführt. Dabei stellten sich einige Gemeinsamkeiten heraus, allerdings ist nicht immer eindeutig zu differenzieren, inwiefern manche Charakteristika bereits im Vorfeld bestanden oder sich erst durch die Auseinandersetzung mit der Essstörung entwickelt haben (u. a. Holtom-Viesel & Allan, 2014; Treasure et al., 2008). Genetische und transgenerationale Weitergabe Neben dem Einfluss der familiären Umgebung wird in Bezug auf Essstörungen auch eine genetische Komponente diskutiert. Die Schätzungen der Heritabilität liegen bei der Anorexie zwischen 0.48 und 0.74, bei der Bulimie zwischen 0.55 und 0.62 und bei der BED zwischen 0.39 und 0.45 (Hoek, 2016). In dieses Maß für die Erblichkeit von Eigenschaften fließen Gene und Umweltbedingungen ein, wobei höhere Werte darauf hinweisen, dass die Varianz eines Merkmals in der untersuchten Population zu einem größeren Anteil genetisch bedingt ist als bei niedrigeren Werten. Aus dem angegebenen Erblichkeitskoeffizienten lässt sich jedoch nicht das Ausmaß der genetischen Bedingtheit der Merkmalsausprägung bei der einzelnen Person ableiten (Asendorpf, 2012, S. 85ff.; Montada, Lindenberger & Schneider, 2012, S. 42ff.). Im Hinblick auf Anorexie besteht bei eineiigen Zwillingen ein wesentlich größeres Risiko, dass beide erkranken, als bei zweieiigen Geschwistern (APA, 2015). Außerdem ist die Erkrankungswahrscheinlichkeit von Mädchen bzw. Frauen, deren Mütter an einer Essstörung leiden, erhöht. Bei einer Betroffenheit von Mutter und Tochter handelt es sich um eine so bezeichnete Anorexie à deux (Mangweth-Matzek, 2017). Besonders bei Anorexie vom purging-Typ wird von einem höheren genetischen Risiko ausgegangen (APA, 2015). Eine Betrachtung unter dem genetischen Gesichtspunkt erfolgt ebenso bei psychiatrischen Begleiterkrankungen von Essstörungen, wie bei bipolaren Störungen und Depressionen. In einer Studie in Schweden konnte eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit für Suizidversuche beobachtet werden, sowohl bei Personen, die unmittelbar von einer Essstörung betroffen waren, als auch bei deren Angehörigen (APA, 2015; Hoek, 2016). Bei Bulimie nennt die APA (2015) außerdem die familiäre Transmission im Sinne eines Modellverhaltens (Lieb & Knappe, 2011) als beitragenden Aspekt, darüber hinaus ist eine solche Weitergabe auch bei Anorexie anzunehmen. Das Risiko für die Entwicklung einer Essstörung erhöht sich vor allem durch das Zusammenwirken von mehreren Einflüssen: von Genen und Umfeld; von Modellverhalten und direkter Kontrolle bzw. Kritik, die dem Kind gegenüber im Hinblick auf das Essverhalten und das Körpergewicht ausgesprochen wird. Die Internalisierung einer solchen äußeren Restriktion zeigte sich in der Untersuchung von Mazzeo et al. (2005) darin, dass Kinder auch in Abwesenheit ihrer Mutter die Nahrungsaufnahme einschränkten, indem sie beispielsweise ihre Schuljause entsorgten. Ebenso beschreibt Ettl die Essstörung als „transgenerationelle Erkrankung“ (Ettl, 2006b, o. S.), bezieht sich dabei jedoch nicht auf das Essverhalten, sondern auf die Unerwünschtheit als Kind. Diese werde im Rahmen der Interaktion von

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Generation zu Generation in Form der „Selbstrepräsentanz ,lästiges Kind‘ “ (Ettl, 2006b, o. S.) weitergegeben. Mit dieser gehe die frühe Autonomieforderung, die bei Eltern von Menschen mit Bulimie häufig zu beobachten ist, einher (Ettl, 2006b). Familiäre Merkmale Im Hinblick auf die Familie von Menschen mit Anorexie und Bulimie werden in der Literatur verschiedene gemeinsame Merkmale beschrieben. Nach der Übersicht von Levine ist vor allem eine schwierige innerfamiliäre Kommunikation ein Prädiktor für Essstörungen, während umgekehrt eine als positiv wahrgenommene Atmosphäre Wohlbefinden bewirkt (Levine, 2017). In Untersuchungen wird die familiäre Kommunikation von den Betroffenen negativer bewertet als von der restlichen Familie (Ciccolo, 2008; Holtom-Viesel & Allan, 2014), mit besonders großer Differenz zur Sichtweise der Mütter. Dieses Ergebnis könnte einerseits die Fokussierung auf schwierige Aspekte, wie sie bei Betroffenen zu beobachten ist, widerspiegeln (s. Kapitel 2.2.2), andererseits aber auch als Verdrängung von Seiten der Familie zu interpretieren sein. Durch eine solche Differenz fühlen sich die Betroffenen isoliert und nicht verstanden (Emanuelli et al., 2004). Es besteht kaum oder nur ein geringes Familienselbstbild mit wenigen gemeinsamen Vorstellungen oder mit einer scheinbaren Übereinstimmung im Sinne einer Pseudo-Gemeinschaft (Reich, 2008). Für die familiäre Atmosphäre sind folgende Kennzeichen zu nennen: wenig Fürsorge und Wärme, Konfliktvermeidung und wenig Offenheit, mütterliche Kritik (insbesondere bei BED), Bevormundung und Kontrolle, wenige gemeinsame Mahlzeiten mit konfliktreicher Atmosphäre (Levine, 2017). Bei Menschen mit Bulimie sind häufiger als bei jenen mit Anorexie ein Defizit in der Problemlösung innerhalb der Familie (Kluck, 2008; Waller, 1994) und eine größere Tendenz zur Unterdrückung negativer Emotionen zu beobachten (Davies, Swan, Schmidt & Tchanturia, 2012). Essen und Erbrechen dienen der Reduktion von Stress und Frustration. Bei Betroffenen von Anorexie hingegen besteht oft zu viel Nähe und Kontrolle, sodass das Essen bzw. Nicht-Essen das einzig Kontrollierbare bleibt (Waller, 1994). Hohe, oft unerreichbare Erwartungen fördern die Anpassung des Kindes, wobei der Vater außerdem als distanziert beschrieben wird. Kontrolle und Kritik, denen nicht entgegengewirkt werden kann, lösen ein Gefühl von Ohnmacht aus (Levine, 2017). Die Erfahrung von Unkontrollierbarkeit bezeichnet Seligman (1999) als erlernte Hilflosigkeit. Während Mädchen eher mit ihrer Ohnmacht in der schwierigen Atmosphäre bleiben, suchen männliche Jugendliche vermehrt Kontakte nach außen (Levine, 2017). Neben solchen kontrollierenden Tendenzen liegt in der Ängstlichkeit der Familie ein weiterer Grund für deren Fokussierung auf die Symptome der Essstörung, die dadurch noch hartnäckiger werden können. Dies ist unter anderem damit zu erklären, dass die Betroffenen dadurch weiter in eine Verteidigungsposition kommen und noch mehr an der Essstörung festhalten (Treasure et al., 2008). Da die Mutter insbesondere für die Tochter ein Modell darstellt, wirkt sich ihr Verhalten in Bezug auf Essen und Gewicht entsprechend aus (Lewis, Katsikitis & Mulgrew, 2015). Allerdings sind diese Themen und vor allem Diäten in der Gesellschaft allgemein

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sehr verbreitet, sodass der Einfluss auf mehreren Ebenen stattfindet. Dennoch empfinden Betroffene ein restriktives Verhalten ihrer Mutter als erschwerend für die Überwindung ihrer Essstörung (Levine, 2017). Ebenso sind Gespräche von Gleichaltrigen im Jugendalter über Aussehen und Diät (fat talk), vor allem bei jüngeren Frauen, ein negativer Einfluss (Cruwys, Leverington & Sheldon, 2016). Mehr als das Modellverhalten stellten sich in einer retrospektiven Studie Kommentare zum Aussehen und Gewicht in der Kindheit, nicht hingegen zum Essverhalten, als relevant für die Unzufriedenheit mit dem Körpergewicht im Erwachsenenalter dar (Wansink, Latimer & Pope, 2017). Be- oder abwertende Kommentare zum Gewicht haben einen negativen Einfluss im Hinblick auf die Ausprägung einer Essstörung, innerhalb der Familie mehr als von anderen Personen und über Medien vermittelt. Hier besteht ein starker Zusammenhang zwischen solchen Bemerkungen und Körperunzufriedenheit sowie Essproblemen (Menzel et al., 2010). In der Untersuchung von Rodgers, Paxton und Chabrol bewirkten bei jungen Frauen sowohl negative Bemerkungen der Eltern zu ihrer Körperfigur als auch positive Bemerkungen infolge einer Gewichtsabnahme eine Körperunzufriedenheit, bei jungen Männern hingegen nur negative Kommentare. Außerdem stehen bei Frauen die Internalisierung von Idealen und der soziale Vergleich in einem stärkeren Zusammenhang mit der Körperunzufriedenheit als bei Männern (Rodgers et al., 2009). Unsichere Bindungserfahrungen und Ängstlichkeit der Person erhöhen die Verletzlichkeit für Kränkungen in Bezug auf den Körper und das Aussehen (Treasure et al., 2012), die häufig einer Diät vorausgehen und damit zum Beginn der Essstörung beitragen (Wietersheim, 2003). Nach Blumenthal und Ganterer (2016) hat das Aussehen eine höhere Bedeutung bei kürzerem, oberflächlichem sozialen Austausch. Eine derartige Fokussierung des Umfeldes von Menschen mit Essstörungen könnte demnach auf eine geringe Beziehungstiefe hinweisen, zumal mitunter wenig Zeit, die eine Vertiefung der Beziehung fördert, miteinander verbracht wird. Familiäre Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei Anorexie und Bulimie Abschließend lassen sich nach Reich somit einige zentrale Merkmale der Familien von Menschen mit Essstörungen zusammenfassen, wobei sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen jenen mit Anorexie und jenen mit Bulimie herausstellen. Beide sind auf äußere Werte, wie Aussehen, Leistung und finanziellen Erfolg, ausgerichtet. Damit kann die emotionsarme Atmosphäre in Familien von Bulimie-Betroffenen erklärt werden. In diesen Familien prägen Konflikte und Impulshandlungen die Beziehungsdynamik, worin sich die Symptomatik der Bulimie widerspiegelt: Emotionen werden durch impulshafte Phänomene in Form von Essanfällen und Erbrechen reguliert. Damit soll dem geringen Selbstwert entgegengewirkt und nach außen ein makelloses Bild aufrechterhalten werden, obwohl innerfamiliäre Spannungen, häufig zwischen den Eltern, bestehen (Reich, 2005). Das Bemühen, einen guten Eindruck auf die Umgebung, wie Freunde und Nachbarn, zu hinterlassen, wird auch als öffentliche Selbst-Bewusstheit oder publikumsbezogene Form der Privatheit bezeichnet und stellt ein Mittel zur Vermeidung von Schamempfinden dar. Es handelt sich um eine „doppelte Wirklichkeit“ (Reich, 2008). Nähe und Distanz in den Beziehungen sind nicht ausgewogen, da einerseits eine starke emotionale Zurückhaltung besteht, andererseits mitunter zu weit in

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den persönlichen Raum des Kindes vorgedrungen wird (Reich, 2005). Gleichzeitig erwarten besonders Eltern von Menschen mit Bulimie häufig schon früh ein hohes Maß an Selbstständigkeit von ihren Kindern, die dadurch ihrem Alter entsprechend zu viel Verantwortung übernehmen. Im Unterschied dazu müssen Menschen mit Anorexie mehr um ihre Autonomie kämpfen bzw. sie glauben, darum kämpfen zu müssen (Gugutzer, 2012, S. 177f.). Daher sehen Köpp et al. diese in einer stärkeren Regression bei geringerer Loslösung als es bei Betroffenen von Bulimie der Fall ist (Köpp et al., 2007). Eine Grenzüberschreitung kann in Form von körperlichen und sexuellen Übergriffen, jedoch beispielsweise auch durch fehlendes Zugestehen von Rückzugsmöglichkeiten und übermäßiges Kontrollieren des Kindes erfolgen. Neben der Emotionsregulation und der Bewältigung von innerer Anspannung, die die (Leistungs-)Anforderungen der Familie mit sich bringt, bietet die Bulimie eine scheinbare Lösung, um eigene Bedürfnisse im Geheimen zu befriedigen (Reich, 2005). Damit können Autonomie und Regression vereint werden (Gugutzer, 2012, S. 178). Konflikte, die ein Abweichen von der Familiendynamik mit sich brächten, werden so vermieden, wodurch sich das Muster der äußeren Fassade aufrechterhält (Reich, 2005). In Familien von Menschen mit Anorexie sind nicht impulsive, sondern sehr enge Beziehungen ein Merkmal, wobei Grenzen oft auch zwischen den Generationen fehlen (Reich, 2005). Grenzüberschreitungen können hier sowohl auf körperlicher als auch auf emotionaler Ebene erfolgen (Plassmann, 2010). Passend zur bereits genannten Orientierung nach äußeren Werten, sind Harmonie und Beständigkeit anstatt Veränderung und Entwicklung von großer Bedeutung. Verzicht und Anpassung zugunsten anderer wird von den Familienmitgliedern erwartet, eigene Interessen stehen im Hintergrund. Diese Forderung wird durch mehr oder weniger direkt vermittelte Schuldgefühle verstärkt. Selvini Palazzoli spricht bei diesen Familien von der „Ehe zu dritt“ (Selvini Palazzoli, 1995, S. 245), worunter das Einbeziehen des Kindes in die elterliche Beziehung zu verstehen ist. Dadurch sei jede Person „mit zwei Personen verheiratet“ (Selvini Palazzoli, 1995, S. 245), doch das Kind bleibt mit den eigenen Bedürfnissen im Hintergrund, da es für beide Eltern zur Verfügung stehen soll. Dabei kann sich ein Bündnis mit einem Elternteil bilden und eine schwierige Position für das Kind ergeben (Selvini Palazzoli, 1995). Reich sieht die Funktion der Anorexie in der Möglichkeit der Abgrenzung von der Familie und ihren Forderungen sowie in der Vermeidung von Konflikten, die durch das Ausbrechen aus der Enge entstehen würden (Reich, 2005). Das Verhalten der Betroffenen ist jedoch nicht als Machtspiel gegenüber den Eltern zu verstehen, um bei diesen Ohnmacht zu bewirken, sondern als verzweifelte Selbstsuche (Gugutzer, 2012, S. 176). 2.3.4 Gesellschaftliche Erwartungen und Ideale Menschen, die sich in einem Umfeld bewegen, in denen ein geringes Körpergewicht erwartet oder zumindest anerkannt wird, sind nach APA häufiger von Anorexie betroffen. Dadurch rückt das dünne Körperideal in den Mittelpunkt ihrer Bestrebungen, insbesondere bei Übergewicht, dessen Vorhandensein in der Kindheit als ein Risikofaktor für Bulimie gilt (APA, 2015). Damit wird deutlich, dass solche indirekt transportierten Vorstellungen, deren Erfüllung Selbstoptimierung und Anerkennung bringen soll, zur

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Essstörung beitragen können. Die Gleichzeitigkeit von Erwartungen bezüglich Aussehen und der ständigen Präsenz von Essen in sozialen Zusammenkünften verstärkt die Schwierigkeit der Erfüllung äußerer Ansprüche (Levine, 2017). Soziale Medien Einfluss auf Menschen mit Essstörungen haben außerdem Internet-Foren, in denen die Reduktion der Nahrungsaufnahme und des Gewichts bestärkt wird. Solche Foren, wie Pro-Ana (im Sinne von: für Anorexie) und Pro-Mia (im Sinne von: für Bulimie), werden häufiger besucht als jene, die sich für die Überwindung aussprechen (Teufel et al., 2013). Dabei lehnen Teilnehmende der erstgenannten Netzwerke eine solche Überwindung nicht explizit ab, jedoch indirekt, indem sie Anleitungen zur Aufrechterhaltung bzw. Verstärkung ihres Essstörungsverhaltens weitergeben (Rouleau & Ranson, 2011). Eine Untersuchung von Hummel und Smith zeigt außerdem, dass Personen, die negative Reaktionen auf ihr Facebook-Profil erhalten, mehr Probleme mit Essen, Gewicht und ihrem Aussehen haben. Dies kann sich gegenseitig bedingen: Kritische Kommentare verstärken die Fokussierung auf diese Probleme, umgekehrt können diese von solchen Personen, entsprechend der beschriebenen Kommunikationsschwierigkeiten (s. Kapitel 2.2.2), vermehrt wahrgenommen und unter einem abwertenden Gesichtspunkt interpretiert werden (Hummel & Smith, 2015). Einfluss haben somit nicht nur Netzwerke, die thematisch auf Essstörungen ausgerichtet sind, sondern jegliche digitale Kommunikationsformen. Mit wenig Aufwand wird ein Bild von sich selbst, ein sogenanntes Selfie, angefertigt und durch dessen Versenden an der Verbreitung erwarteter Körperbilder mitgewirkt. Doch nicht nur das eigene Aussehen, sondern auch jenes von anderen, insbesondere die Attraktivität der Partnerin bzw. des Partners, geben Personen in einer Umfrage der Apotheken Umschau als wichtig an. Gleichzeitig erkennen sie die Problematik der vorherrschenden Ideale und spüren vor allem den damit verbundenen Druck (Borkenhagen, Rusch & Brähler, 2016). Denn je mehr das aktuelle vom idealen Erscheinungsbild abweicht, desto wahrscheinlicher sind negative Selbstbewertungen und damit einhergehende Schamgefühle (Blumenthal & Ganterer, 2016). Problematisch ist nicht nur das Suggerieren eines Körperideals, sondern auch die verzerrte Darstellung von Essstörungen in den Medien. Nur die stark sichtbare Untergewichtigkeit wird als Essstörung erkannt, nicht jedoch die Betroffenheit jenseits einer körperlichen Auffälligkeit bei weniger stark untergewichtigen Personen, wie bei Bulimie (Levine, 2017). Mitunter wird das geringe Gewicht sogar als erstrebenswert kommentiert und damit die Überwindung der Essstörung erschwert (Lamoureux & Bottorff, 2005). Eine Bagatellisierung des Schweregrades der Erkrankung trägt zu Unverständnis bei Nicht-Betroffenen und damit zur Weitergabe wenig hilfreicher Empfehlungen bei. So kann der Hinweis, doch einfach mehr essen zu müssen, zu einem Gefühl von Unzulänglichkeit auf Seiten der Betroffenen führen, da es ihnen nicht möglich ist, das Ziel der Überwindung mit jener Leichtigkeit zu erreichen, wie sie vermittelt wird (Levine, 2017).

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Ideale Identität Angesichts der für alle Menschen präsenten gesellschaftlichen Ideale ist die Frage zu stellen, in welchem Ausmaß diese eine Person beeinflussen können. Hier ist die bereits beschriebene Identitätsunsicherheit als wichtiger Aspekt zu nennen. Gugutzer beschreibt Essstörungen als „sozio-psycho-somatisches Phänomen“ bzw. als „vergesellschaftete Formen devianter Selbstverkörperung“ (Gugutzer, 2012, S. 164). Gesellschaftlich vermittelte Ideale und Anforderungen tragen zu einem Identitätsproblem bei, das mit Hilfe des Körpers zu bewältigen versucht wird. Hervorzuheben ist an Gugutzers Sichtweise, dass Essstörungen nicht als Defizit der Einzelperson zu verstehen sind. Stattdessen werden diese durch den sozialen, kulturellen und historischen Kontext beeinflusst und sind damit ein „kollektives Phänomen“ (Gugutzer, 2012, S. 166). Ein Beispiel für den historischen Wandel ist der heutige Krankheitswert, während die Essstörung früher ein schicksalhaftes Ereignis darstellte (Gugutzer, 2012, S. 165, S. 167). Essstörungen spiegeln die gesellschaftlich vermittelten Ideale wider, wobei hierzu nicht nur das Schönheitsideal, sondern vor allem auch das Leistungsideal zählt. Viel mehr als um das Erreichen eines niedrigen Körpergewichts, geht es um die Bedeutung dieses Gewichts: Es wird das Vermögen zur Selbstkontrolle, die für das Erreichen von Anerkennung, Stärke und Erfolg erstrebenswert ist, sichtbar. Der flächendeckend mediale Zugang trägt dazu bei, die Essstörung als Mittel zu diesem Zweck bekannt zu machen. Der Übergang von der Fremd- zur Selbstkontrolle bzw. der „gesellschaftliche Zwang zum Selbstzwang“ (Elias, 1978, S. 312) ist ein Merkmal des Zivilisationsprozesses, den Norbert Elias ausführlich beschreibt. Im Hinblick auf Essstörungen ist dieser Aspekt so zu verstehen, dass die von außen vermittelten Werte, wie Schlanksein und Leistungserfolg, als eigene wahrgenommen und als solche in einem überhöhten Ausmaß verfolgt werden. Gugutzer nimmt hier Bezug auf Foucault und erklärt, dass ursprünglich äußere Forderungen durch die nun empfundene Freiwilligkeit, solche disziplinierenden Körperpraktiken umzusetzen, besonders wirksam sind (Gugutzer, 2012, S. 186). Die Möglichkeit und schließlich die Erwartung von Individualisierung und Selbstverantwortung sowie die Verunsicherung in der Geschlechterrolle in den letzten Jahren bewirken fehlenden Halt in bisher bestehenden, beispielsweise religiösen, Gemeinschaften. Diese Veränderungen und die damit einhergehenden Unsicherheiten tragen zu einem gesellschaftlich und kulturell bedingten Identitätsproblem bei, wofür die „deviante Körperpraxis“ (Gugutzer, 2012, S. 169) als Lösung erscheint. Für Gugutzer stellt somit nicht das Essen oder das Gewicht den Kern der Essstörung dar, sondern die Identitätsunsicherheit (s. Kapitel 2.3.2). Ein schlanker Körper wird durch die äußere Vermittlung mit Halt und Anerkennung assoziiert und verspricht die Lösung für verschiedenste Probleme: Der Körper bzw. dessen Modifikation scheint die letztverbliebene Sicherheit zu sein. Dies wird zudem durch demütigende Kommentare zum Körper bzw. Körpergewicht, wie sie häufig von Betroffenen am Beginn ihrer Essstörung erinnert werden, verstärkt. So wird von anderen gerade das Zuviel an Gewicht mit Disziplinlosigkeit assoziiert und dementsprechend abgewertet (Gugutzer, 2012, S. 171ff.). Denn: „Schönheit [ist] längst nicht mehr Schicksal, sondern machbar“ (Borkenhagen et al., 2016, S. 59).

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Solche Ideale wirken auf die Familie und darüber wiederum auf die Betroffenen ein, indem die Eltern und andere Familienangehörige die Körperfigur und das Essverhalten der Kinder kommentieren und kritisieren (Rodgers et al., 2009). Nicht nur durch diese Vermittlung, sondern selbst beim Wunsch nach Distanzierung von den Idealen bleiben selbige wirksam, da sie als Bezugspunkt dienen. Gugutzer spricht im Hinblick auf Körperbilder sogar von einer „Infiltration“ (Gugutzer, 2012, S. 170). Die Weitergabe von Werten durch signifikante Andere, also wichtige Bezugspersonen, trägt in besonderem Maße zur Internalisierung derselben bei. Dadurch wirken solche Werte handlungsleitend, indem die Erwartungen erfüllt werden. Jedoch können diese durch die Verweigerung der Nahrung, die die Bezugspersonen anbieten, und letztlich auch durch die Abweichung vom Körperideal im Rahmen der fortschreitenden Anorexie abgelehnt werden (Gugutzer, 2012, S. 173ff.). Das Erreichen von gesellschaftlichen Idealen ist außerdem als Versuch zu sehen, eine Differenz zwischen dem von Mead (1973) so bezeichneten I, dem individuellen Anteil der Identität (self), einerseits und dem me, dem objektiven, durch Normen und Werte der Gesellschaft geprägten Teil, andererseits zu verringern. Doch geschieht dies nicht in Form einer Verbindung und eines Ausgleichs, sondern als Anpassung des I an das me mit Einschränkung des ersteren. Gugutzer nennt als Beispiel das Erleben von Schuld und Scham nach dem Erbrechen, das als Schwäche angesehen wird. Außerdem ist die Ausrichtung an Perfektion und Leistung, die über die Bezugspersonen durch die Gesellschaft vermittelt werden, eine Ausrichtung am Mead'schen me. Krankheit kann hier eine einzige Möglichkeit sein, diesem Druck zu entkommen (Gugutzer, 2012, S. 179ff.). Perfektion im Hinblick auf Körper und Leistung kann außerdem den Zugang zu einer sozialen Gruppe ebnen. Gerade in der Adoleszenz, einer Zeit der Identitätssuche bzw. Identitätsdefinition, spielt dieser Aspekt eine Rolle und unterstreicht den häufigen Beginn der Essstörung in diesem Alter. Jedoch kann die „perfekte Fassade“ (vgl. Gugutzer, 2012, S. 182) in großem Gegensatz zum inneren Empfinden stehen. 2.4 Überwindung der Essstörung als Möglichkeit, Wirklichkeit oder Ideal Essstörungen werden in Studien meist mit einer ungünstigen Prognose im Sinne einer hohen Rückfallrate nach Therapie und einer deutlich erhöhten Mortalität beschrieben (u. a. Arcelus et al., 2011; Hoek, 2016; Smink et al., 2012). Laut Bergh et al. (2013) gelten zehn Jahre nach Beginn der Anorexie bzw. Bulimie nur zwischen 10 und 11 % der Betroffenen als geheilt. Im Hinblick auf den Verlauf der Essstörung kann es sich um eine einzige Episode, einen Wechsel zwischen geringerer Ausprägung und Rückfällen oder um ein chronisches Auftreten handeln. Ältere Personen mit Anorexie tendieren zu einer längeren Erkrankungsdauer. Ebenso zeigt sich eine große Variation im Hinblick auf die Prognose. Für die Anorexie wird von der APA eine Remission innerhalb von fünf Jahren nach der ersten Manifestation „bei den meisten Betroffenen“ (APA, 2015, S. 467) angegeben, ohne den Anteil konkret zu beziffern. Allerdings ist die Remissionsrate bei Personen, die sich in stationäre Therapie begeben, geringer (APA, 2015). Dies könnte mit der schwerwiegenderen Ausprägung der Essstörung bei den stationär aufgenommenen Betroffenen zusammenhängen, da die Heilungswahrscheinlichkeit mit

2.4 Überwindung der Essstörung als Möglichkeit, Wirklichkeit oder Ideal

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längerer Dauer und niedrigerem BMI sinkt (Favaro, 2017). Gleichzeitig weist dies auf ein begrenztes Ausmaß an Therapieerfolg hin. Dennoch fällt die Prognose mit therapeutischer Begleitung besser aus, auch wenn sich die Symptomatik in ihrer Ausprägung mit und ohne Therapie verringern kann. Bleibt die Symptomatik länger aus, wie im Fall von Bulimie über ein Jahr, wird der Verlauf von der APA als günstiger beschrieben (APA, 2015). Die Inhalte dieses Kapitels richten sich an der Frage aus, inwiefern in der Literatur die Überwindung von Essstörungen als möglich angesehen wird. Die angewandten therapeutischen Ansätze, die an dieser Stelle beschrieben werden, stellen Wege oder zumindest Versuche der Realisierung einer solchen Überwindung von Seiten der Beteiligten dar. Aufgrund des Umfangs dieses Themenbereichs und der Schwerpunktsetzung in dieser Arbeit wird hier auf eine umfassende Beschreibung verzichtet. Stattdessen erfolgt ein Überblick über die Elemente des meist multimodalen Therapiekonzepts in verschiedenen Settings und die therapeutischen Zielsetzungen, mit Berücksichtigung der Zwangsbehandlung. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der in der Literatur ebenso betont wird wie von den Gesprächspersonen in der vorliegenden Untersuchung, sind Beziehungen. Im Rahmen der Therapie betrifft dies die therapeutische Beziehung sowie systemische Angebote, die nicht nur die Betroffenen, sondern auch wichtige Bezugspersonen integrieren. Darüber hinaus spielen unterstützende Beziehungen im Alltag eine große Rolle für die Überwindung der Essstörung. Merkmale einer solchen sozialen Unterstützung werden in einem weiteren Kapitel ausgeführt. Abschließend folgt ein Resümee darüber, ob die Überwindung für die Therapeuten und Therapeutinnen sowie für die Betroffenen letztlich doch ein Ideal bleibt, das sie zwar anstreben, aber zugleich als unerreichbar betrachten. Im Falle einer Sichtweise auf die Überwindung als Realität ist von Interesse, welche Merkmale und Kriterien hierfür in der Literatur gelten. 2.4.1 Therapeutische Möglichkeiten Laut Jäger und Herpertz zeigte sich bei der Erstellung der S3-Leitlinien für die Therapie von Menschen mit Essstörungen, dass für Anorexie, auch wenn dieses Krankheitsbild bereits länger bekannt ist, weniger randomisiert kontrollierte Studien vorliegen als für Bulimie. Empfehlungen beruhen daher vor allem auf einem klinischen Konsens. Psychotherapie ist die Methode der Wahl und sollte störungsorientiert sowie multimodal erfolgen. Am meisten verbreitet sind psychodynamische Ansätze und die Kognitive Verhaltenstherapie; letztere ist jedoch nur bei Bulimie, nicht bei Anorexie, anderen Therapieformen überlegen (Jäger & Herpertz, 2013). Allerdings ist ein Wirksamkeitsvergleich insofern schwierig, da die Studienlage vor allem für die Anwendung der psychodynamischen Psychotherapie unzureichend ist (Abbate-Daga, Marzola, Amianto & Fassino, 2016). Insbesondere bei jüngeren Betroffenen soll zudem das familiäre Umfeld einbezogen werden (Jacobi et al., 2010; Jäger & Herpertz, 2013). Die Therapieerfolge sind mit einer Heilungsquote von 50 % und einer hohen Anzahl an Rückfällen jedoch begrenzt (Herpertz & Herpertz-Dahlmann, 2017; s. Kapitel 1).

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Menschen mit Essstörungen sehen oft lange nicht den Bedarf einer (therapeutischen) Unterstützung. Im Falle der Anorexie werden häufig familiäre Angehörige aktiv, wenn sie einen starken Gewichtsverlust beobachten bzw. keine Gewichtszunahme eintritt. Anlass für die Betroffenen selbst ist vor allem ihre Befürchtung von Folgeerscheinungen auf körperlicher und seelischer Ebene, nicht hingegen der kritische Gewichtszustand (APA, 2015). Ein äußerer Anstoß zur Therapie kann Angst vor Kontrollverlust auslösen und soll daher behutsam erfolgen (Levine, 2017). Personen des Vertrauens, betreuende Ärzte bzw. Ärztinnen und Beratungsstellen können die Betroffenen zur Inanspruchnahme einer therapeutischen Unterstützung motivieren. Nicht nur bis zum Therapiebeginn vergeht meist einige Zeit, sondern auch der Überwindungsprozess an sich umfasst in der Regel Monate bis Jahre (Zeeck et al., 2010). Setting Die Therapie für Menschen mit Essstörungen kann in unterschiedlichen Settings stattfinden: stationär, in betreuten Wohneinrichtungen oder ambulant. Hinzu kommen Beratungseinrichtungen, Selbsthilfegruppen und internetbasierte Unterstützungsprogramme, sowohl für Betroffene als auch für Angehörige (Levine, 2017). Vor allem der Wechsel zwischen diesen Settings ist behutsam zu begleiten, da sich hierbei vermehrt Rückfälle ereignen. Dies kann in Form von Nachbetreuungsterminen in der Therapieeinrichtung und/oder einer Zusammenarbeit mit geeigneten Anlaufstellen und Berufsgruppen erfolgen und ist dementsprechend anzustreben. Das Setting sollte in Abhängigkeit der Essstörungsform (Anorexie oder Bulimie), deren Schweregrad, Dauer und Verlauf sowie mit Berücksichtigung von Komorbiditäten ausgewählt werden. Außerdem ist die jeweilige individuelle Situation, beispielsweise in Bezug auf die soziale Einbindung, von Bedeutung. Insbesondere wenn der Rückzug bereits über einen ausgedehnten Zeitraum bestanden hat, kann eine therapeutische Wohngruppe den Schritt in die Alltagsbewältigung erleichtern. Bei längerem stationärem Therapiebedarf sind Intervallaufenthalte eine Möglichkeit, einer Entfremdung vom sozialen Kontext entgegenzuwirken (Zeeck et al., 2010). Für Menschen mit Anorexie ist meist ein stationäres Setting erforderlich, während für jene mit Bulimie und BED häufig auch eine tagesklinische und ambulante Betreuung, mitunter ein angeleitetes Selbsthilfeprogramm, ausreichen (Karwautz, 2017). Eine stationäre Aufnahme kann bei Bulimie zur Distanzierung von einem problematischen Umfeld und zur Durchbrechung des Kreislaufes von Essen und Erbrechen sowie bei Begleiterkrankungen, beispielsweise Suchterkrankung, sinnvoll sein (Jacobi et al., 2010). Ein Aufenthalt in einem Krankenhaus oder einer Therapieeinrichtung ermöglicht Betroffenen, oft nach langer sozialer Isolation durch die Essstörung, Anschluss an andere Betroffene zu finden. Einerseits kann dies hilfreich sein, andererseits aber das Aufgeben eines Teils ihrer Identität, den die Essstörung beanspruchte, bedeuten (Levine, 2017). Außerdem erleichtert das stationäre Setting die Umsetzung einer Mahlzeitenstruktur, die Plassmann insbesondere für Menschen mit Bulimie als wichtigen Bestandteil der Therapie sieht. Dadurch wird der Kreislauf von Hungerperiode und Essanfällen durchbrochen, und es öffnen sich „im Denken […] Freiräume für Inhalte, die nichts mit

2.4 Überwindung der Essstörung als Möglichkeit, Wirklichkeit oder Ideal

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dem Essen zu tun haben“ (Plassmann, 2010). Allerdings, so Padrão et al. über die Anorexie, sei von einer starken Kontrolle und Rigidität im Zuge der Therapie Abstand zu nehmen, da sich dadurch die Essstörung verfestige und die Überwindung eher behindert werde. Die ohnehin schon vorhandene Kontrolltendenz der Betroffenen werde nur verstärkt und Verhaltensweisen, die das Erreichen der Vorgaben vortäuschen sollen, bewirkt. So kann das Trinken großer Wassermengen vor dem Abwiegen ein Versuch sein, den Konsequenzen, die eine zu geringe Gewichtszunahme mit sich bringt, zu entkommen. Stattdessen soll gerade das Lockern dieser Kontrolle erlernt werden, wodurch Essen nach eigenem Ermessen möglich wird und das Körpergewicht nicht mehr über das Wohlgefühl bestimmt. Für diesen schrittweisen Prozess ist zunächst noch eine Orientierungslinie erforderlich bzw. hilfreich. Es sei das Augenmerk auf das Spüren des eigenen Körpers und das Wiedergewinnen von Vertrauen in dessen Gleichgewicht zu fördern. Nicht äußere Kriterien wie Gewicht und Kalorien, sondern die eigene Balance soll erreicht und anerkannt werden (Padrão et al., 2013). Zielsetzungen Je nach Therapieeinrichtung werden meist mehrere Zugänge angeboten, vor allem Psychotherapie mit verhaltenstherapeutischer und tiefenpsychologisch-psychodynamischer Orientierung. Ebenso von Bedeutung sind körperorientierte Therapien, die Systemische Therapie, Bewegungstherapie und Kreativtherapie sowie bei Bedarf eine begleitende Psychopharmakotherapie. Die Regulierung des Essverhaltens und die Gewichtszunahme werden in der Fachliteratur als vorrangige Ziele der Therapie angeführt, vor allem bei Anorexie und in der Anfangsphase. Dafür kann bei gastrointestinalen Beschwerden aufgrund der vorherigen Nahrungsrestriktion ergänzend oder ausschließlich Trinknahrung zum Einsatz kommen, die aufgrund der Nährstoffdichte und somit des geringeren Volumens von den Betroffenen mitunter leichter aufzunehmen ist. Parenterale Ernährung hingegen ist nur in akuten medizinischen Fällen, nicht jedoch zur Gewichtszunahme indiziert (Jäger & Herpertz, 2013; Zeeck et al., 2010). Während in der Fachliteratur die Veränderung des Essverhaltens und des Gewichts betont wird, stehen an dieser Stelle weitere wichtige Zielsetzungen im Vordergrund. So ist laut Levine die Stärkung des Selbstbewusstseins und der Ausdruck des eigenen Empfindens der Betroffenen ein wichtiges Ziel in der Psychotherapie, um andere Bewältigungsformen abseits der Essstörung zu finden (Levine, 2017). Außerdem trägt der schrittweise Aufbau einer Verbindung zu früheren Interessen dazu bei, die Funktion der Essstörung durch andere Mittel und Wege zu ersetzen (Lindgren, Enmark, Bohman & Lundström, 2015). Angesichts der identitätsbildenden Funktion der Essstörung ist vor allem die Arbeit an der persönlichen Entwicklung ein wichtiger Aspekt (Cruzat-Mandich et al., 2017; Möhler, 2014). Diese Entwicklung wird unter anderem durch traumatische Erfahrungen eingeschränkt, worin laut Plassmann ein Grund für die geringen Heilungserfolge in der Therapie zu sehen ist. Daher spricht sich Plassmann für die Traumatherapie aus, damit Menschen mit Essstörungen wieder zu ihrer Lebendigkeit finden können (Plassmann, 2010). Der Anteil der Essstörung an der eigenen Person beeinflusst die Therapieentscheidung im Hinblick darauf, inwiefern die Betroffene bereit ist, diesen Teil Schritt für

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Schritt aufzugeben (Tan et al., 2003). Cruzat-Mandich et al. konnten in ihrer qualitativen Studie mit zwanzig jungen erwachsenen Frauen in Chile folgende wesentliche Veränderungen, die sich im Rahmen ihrer Identitätsentwicklung im therapeutischen Prozess ereigneten, aufzeigen: 1) vom idealen zum realen Selbstbild mit Anerkennung der eigenen Bedürfnisse und mehr (körperlicher) Präsenz gegenüber anderen; 2) differenziertere Wahrnehmung eigener Emotionen und körperlicher Empfindungen sowie das Vermögen, diese (verbal) auszudrücken und sich selbst mehr zu akzeptieren; 3) Einblick in die Dynamik der Essstörung, während früher der Schweregrad der Erkrankung und die Notwendigkeit einer Therapie nicht erkannt wurden; 4) Verringerung der Kontrolle über sich selbst und andere sowie das Erkennen der früheren zerstörerischen Kontrolle durch die Essstörung sowie 5) von der Fokussierung auf Essen und Gewicht zur Entwicklung subjektiv bedeutsamer Lebensziele durch Verwirklichung eigener Potentiale. In dieser Entwicklung sehen Cruzat-Mandich et al. jene Aspekte, die auch Erikson in seiner Identitätstheorie beschreibt (Cruzat-Mandich et al., 2017; Erikson, 1973; s. Kapitel 3.2.2). Insbesondere in psychodynamischen Ansätzen hat die Auseinandersetzung mit (frühen) Konflikten und dem Sinn der Essstörung einen hohen Stellenwert (Lindgren et al., 2015). Die Symptome werden als Ausdruck einer Störung in der Selbstentwicklung verstanden, worauf auch die Komorbidität mit Persönlichkeitsstörungen, wie der Borderline-Form, hinweist. So kann die therapeutische Beziehung für Betroffene laut Köpp et al. zunächst einen symbiotischen Charakter haben, indem der Therapeut bzw. die Therapeutin unbewusst ‒ wie die Essstörung ‒ zum Teil ihres Selbst wird (Köpp et al., 2007). Durch Verknüpfung mit neuen Eindrücken in der Beziehung zu anderen Betroffenen sowie zum Therapeuten bzw. zur Therapeutin kann eine Veränderung der früheren Erfahrungen stattfinden, die sich wiederum auf der emotionalen Ebene und im Verhalten zeigt (Künzler, 2010). Im Rahmen der Psychotherapie wird hier auch von korrigierenden emotionalen Erfahrungen gesprochen (Alexander & French, 1946; Pfammatter, Junghan & Tschacher, 2012). Systemische Angebote In systemischen Ansätzen ist der Blick mehr als in anderen Therapierichtungen auf das Umfeld der Betroffenen gerichtet. Bereits die Aufklärung über die Dynamik der Essstörung, allgemein und insbesondere bei der Betroffenen, bewirken eine Entlastung des Umfeldes. Zudem sollen Bezugspersonen zur Reflexion ihres eigenen Verhaltens, mit dem sie mitunter die Aufrechterhaltung der Essstörung unterstützen, angeregt werden. Oft haben sie selbst ein geringes Selbstwertgefühl, das durch die Erkrankung der Tochter verstärkt wird. Daher können sie auch diesbezüglich von Unterstützung profitieren. Darüber hinaus wirkt sich vorgelebte Sorge für sich selbst, indem Angehörige auf ihre eigenen Bedürfnisse achten, im Sinne einer positiven Vorbildwirkung auf die Betroffenen aus. Da sie eine solche Selbstfürsorge als Vernachlässigung der Betroffenen und daher mit Schuldgefühlen erleben können, bedarf es hierfür häufig einer Ermutigung von Seiten der Therapeuten bzw. Therapeutinnen. Die Entlastung von solchen Schuldgefühlen ist von besonderer Bedeutung, um so gemeinsam mit den Betroffenen und ihrem Umfeld den Weg aus der Essstörung zu finden (Levine, 2017).

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Die Veränderung der Kommunikation in der Familie ist ein wichtiges Ziel, um Verletzungen und Frustrationen durch das offene Gespräch anstatt mit der Essstörung bewältigen zu können. Außerdem bedarf es der Sensibilisierung dafür, dass Schweigen über die Essstörung von Seiten der Betroffenen, meist aufgrund ihres Schuld- und Schamgefühls, nicht unbedingt ein Hinweis ist, der familiären Unterstützung nicht zu bedürfen. Stattdessen steht dieses Verhalten mitunter vor dem Hintergrund, die Angehörigen nicht belasten zu wollen (Papathomas, Smith & Lavallee, 2015). Die Essstörung sei, so Levine, wie eine Fassade, hinter der sich die Betroffenen mit ihren eigentlichen Problemen befinden. Gleichzeitig soll jedoch das Augenmerk auf die Reduktion von Überprotektion durch die Eltern gelegt werden, um den Betroffenen das Gefühl von Kontrolle und Autonomie anstatt Bevormundung zu vermitteln. Außerdem liegt der Fokus hiermit auf dem Potential, weniger auf der Erkrankung der Betroffenen. Durch das Wahren von Grenzen bei gleichzeitiger Nähe kann die Essstörung leichter gemeinsam bewältigt werden, insbesondere weil Angehörige dadurch, anstatt in eine Verstrickung mit den Betroffenen zu gelangen, ihre Kraft für deren Unterstützung bewahren können (Levine, 2017). Aufgrund der Schwierigkeiten und Überforderung von Angehörigen im Umgang mit Betroffenen entwickelte Treasure das ECHO-Programm (Experienced Carers Helping Others), das mitunter Wortformulierungen für bestimmte Situationen (coaching phrases) und Handlungsanleitungen (if-then-Pläne) enthält. Durch die Anwendung der erlernten Strategien reduzierten sich die Zeit für die Auseinandersetzung mit den Betroffenen aufgrund der Essstörung und die emotionale Belastung der Angehörigen (Goddard et al., 2011; Treasure, 2017). In einer Untersuchung zu diesem Programm von Goddard et al. zeigte sich, dass auch die Betroffenen die Kommunikationsatmosphäre ruhiger und angenehmer empfanden. Mitunter war es für sie jedoch schwierig, mit den veränderten Verhaltensweisen des Umfeldes und dessen Grenzsetzung umzugehen. Insgesamt wurden das gewonnene Wissen und die Fähigkeiten der Angehörigen jedoch positiv aufgenommen. Zusätzliche gemeinsame Angebote für beide Seiten könnten noch weiter zur Erleichterung der Kommunikation beitragen (Goddard et al., 2011). Ein weiteres Programm zur Unterstützung des Umfeldes wird an der Medizinischen Universität Wien (2018) als SUCCEAT (SUpporting Carers of Children and adolescents with EATing disorders in Austria, Unterstützung Angehöriger von Kindern und Jugendlichen mit einer Essstörung in Österreich) angeboten. Eine daran teilnehmende Mutter einer Jugendlichen mit Anorexie spricht auf einer Tagung über ihre Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Anregungen (Philipp, 2017): „Die Tochter stand auf der Bremse, wir [Eltern] auf dem Gaspedal.“ Damit wird deutlich, dass die Inhalte des Programms auf die individuelle Situation der Betroffenen abzustimmen sind. Als Eltern müsse man lernen auszuhalten, abzuwarten und „bei verletzenden Aussagen zu differenzieren, was kommt von der Tochter als Person, wie man sie als Mutter bzw. Vater kennt, und was kommt von der Anorexieseite“. Dafür gibt sie folgendes Beispiel: Die Tochter drückt aus, dass sie die Mutter hasse. Die Mutter nimmt deren Empfinden an, aber gibt ihr auch zu verstehen, dass ihr die Tochter nicht verbieten könne, sie als Mutter zu lieben. Für die Zeit nach der Entlassung äußert sie die Anregung, nicht kontrollierend zu begegnen, sondern den Kindern ihren Weg zuzutrauen. Außerdem sei es wichtig, sich als

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Eltern den eigenen Ängsten zu stellen. Hier spricht sie einen bedeutsamen systemischen Gedanken an: Es ist nicht nur die Tochter als krank zu betrachten, sondern auf Schwierigkeiten im Familiensystem und darüber hinaus zu achten. Unterstützung erfuhr ihre Tochter außerdem dadurch, dass ihre Psychotherapeutin die Mitschüler und Mitschülerinnen über die Essstörung aufklärte. Dadurch konnte sie vor überhäufenden und damit überfordernden Fragen nach ihrem Krankenhausaufenthalt bewahrt werden (Philipp, 2017). Dies ist insofern zu betonen, als (die Gefahr von) Ausgrenzung die ohnehin schon vorhandene Scham der Betroffenen verstärkt und einen beitragenden bzw. verstärkenden Aspekt für Essstörungen darstellt (s. Kapitel 2.3.2). Weitere Therapieangebote Körperorientierte Therapieformen bieten den Betroffenen angesichts der Ablehnung ihres Körpers einen wichtigen Zugang zu einem anderen Körperbild und Körpererleben. Hier sind Psychotherapierichtungen, insbesondere die Konzentrative Bewegungstherapie, und verschiedene Bewegungstherapien, wie Tanztherapie und Physiotherapie, zu nennen (Köpp et al., 2007). Die Arbeit am Körperbild ist angesichts der angstbesetzten Gewichtszunahme und der damit einhergehenden Körperveränderung von besonders großer Bedeutung. Die Einzigartigkeit des eigenen Körpers anzunehmen, anstatt einem stereotypen Ideal nachzueifern, ist ein erstrebenswertes Ziel (Probst, Diedens & Van Damme, 2018). Padrão et al. sehen im Einbezug des Körpers, beispielsweise im Ausdruckstanz, zudem das Potential, über jenes Medium, das die Not der Betroffenen zum Ausdruck bringt, einen Zugang zu ihrem inneren Erleben zu finden (Padrão et al., 2013). Aufgrund der häufig übermäßigen körperlichen Aktivität, vor allem bei Menschen mit Anorexie, wird ein begrenztes Bewegungsausmaß, angepasst an die individuelle Situation, empfohlen. Dies bringe für die Betroffenen mehr Lebensqualität als ein gänzliches Verbot, ohne damit einer Gewichtszunahme entgegenzuwirken (Zeeck et al., 2010, S. 123). Außerdem geht es nach Probst et al. gerade darum, ein adäquates Maß zu finden, mit dem auch zu einer besseren körperlichen Verfassung beigetragen werden kann (Probst et al., 2018). Neben diesen direkten Körperzugängen werden auch gestaltende und imaginative Verfahren angewandt, um eine Annäherung der Betroffenen an ihren Körper bzw. an sich selbst zu ermöglichen. Beispiele hierfür sind die Kunsttherapie und die Katathym Imaginative Psychotherapie (KIP) als verbreitete Therapieansätze (Köpp et al., 2007). Der künstlerische Ausdruck kann eine Form von Sprache sein, wenn noch keine Worte für das Erlebte zur Verfügung stehen (Menzen, 2001, S. 23, S. 25; Plassmann, 2010). Neben der unmittelbaren Körperwahrnehmung in Form von Bewegung, Auseinandersetzung mit Gegenständen und Sensibilitätsübungen bietet auch das Pferd in der pferdegestützten Bewegungstherapie eine Möglichkeit der Körper- und Beziehungserfahrung. Therapie mit Pferden wird als Teil des multimodalen Therapiekonzepts, meist im stationären Setting, angeboten und enthält sowohl physio- bzw. bewegungstherapeutische als auch psychotherapeutische Elemente. Über den Kontakt zum Pferdekörper kann der nächste Schritt, nämlich eine liebevollere Berührung des eigenen Körpers, und überhaupt ein fürsorglicher Umgang mit sich selbst erleichtert werden. Cumella, Lutter, Smith-Osborne und Kally (2014) fanden in ihrer Untersuchung außerdem eine

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realistischere Einschätzung der eigenen Körperdimension durch die Relation zu jener des Pferdes. Dies dürfte unter anderem mit der Erfahrung der eigenen Körpergrenzen in der Berührung mit dem Pferd zu erklären sein. Es handelt sich hier somit nicht um das Erlernen des Reitsports, sondern um einen erlebensorientierten Ansatz mit Schwerpunkt in der Kommunikations- und Beziehungsgestaltung. Die Interaktion bedarf einer Präsenz im Hier und Jetzt, womit der gedankliche Fokus von Essen und Gewicht auf das Zusammensein mit dem Pferd verlagert werden kann. Außerdem erfordert die Beziehung zum Tier eine feinfühlige Abstimmung beiderseitiger Bedürfnisse und damit des Verhaltens. Ein solches Wechselspiel steht dem rigiden Handlungsablauf und dem Anspruch nach Perfektionismus, die bei Menschen mit Essstörungen häufig zu beobachten sind, entgegen und ermöglicht den Aufbau eines Bündnisses mit gegenseitigem Vertrauen. Dieses Vertrauen kann schließlich auch Menschen, wie dem Therapeuten bzw. der Therapeutin, eher entgegengebracht werden. Für eine Verständigung mit dem Pferd müssen klare Zeichen gegeben werden, wodurch die Betroffenen zu einem bewussten Selbstausdruck aufgefordert sind. Damit gehen die Erfahrung von Selbstwirksamkeit sowie die Stärkung des Selbstvertrauens einher, und neue Herausforderungen, wie auch jene der Überwindung der Essstörung, erscheinen leichter bewältigbar. Schwierigkeiten in der Interaktion mit dem Pferd wirken auf sie weniger verletzend als jene in der zwischenmenschlichen Kommunikation und lösen keinen oder kaum inneren Widerstand aus. Eigene Emotionen werden für die Betroffenen deutlicher spür- und regulierbar. Das Zusammensein mit Pferden bewirkt außerdem eine Reduktion der Ängstlichkeit und eine Stimmungsaufhellung, unter anderem aufgrund der wiederentdeckten Freude und der Erfahrung, mit neuen Eindrücken jenseits des rigiden Alltags umgehen zu können (Alexandridis, 2009; Cumella et al., 2014; Selby & Smith-Osborne, 2013). Noch weniger verbreitet sind neuro- bzw. verhaltensbiologisch orientierte Therapien. Ein Beispiel hierfür ist die Mandometer-Therapie von Bergh et al. (2013), die im stationären Setting durchgeführt wird. Ein Ansatzpunkt ist das computerunterstützte Wiedererlernen des Sättigungsgefühls und einer adäquaten Essgeschwindigkeit. Außerdem erfolgt eine Begrenzung der körperlichen Bewegung, die vor dem Hintergrund der gesteigerten Aktivität im Rahmen der Nahrungssuche bei Hungerzuständen verstanden wird. Damit sowie durch spezielle wärmespendende Kleidung und warme Raumtemperatur wird eine Senkung des Energieverbrauchs erreicht. Wärme soll außerdem ein Wohlgefühl vermitteln. Anzumerken ist hier, dass diese Form von Wärme jedoch nicht jene im übertragenen, nämlich zwischenmenschlichen, Sinn zu ersetzen vermag. Das Bemühen um letztere kann darin gesehen werden, dass Betroffene im Rahmen dieser Therapie Anregungen zur (Wieder-)Aufnahme der sozialen Teilhabe erhalten. Darüber hinaus sind psychoaktive Substanzen bei vorheriger Einnahme sukzessive zu reduzieren. Als Resultat ihrer Studie berichten Bergh et al. eine wesentlich höhere Heilungsrate und eine geringere Rückfallrate (Berger, U., 2014; Bergh et al., 2013). Im Hinblick auf die Psychopharmakotherapie spricht sich Karwautz mit Bezug zu den Leitlinien des NICE (National Institute for Health and Care Excellence), der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF; S3-Leitlinie) sowie der APA für einen multimodalen Ansatz mit der Psychotherapie als erstes

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Mittel der Wahl aus. Die Anwendung von Psychopharmaka habe besonders bei Anorexie geringen Erfolg (Karwautz, 2017) und ist nach Zeeck et al. nicht zur Erhöhung des Gewichts indiziert. Neuroleptika können vereinzelt zur Reduktion von stark ausgeprägten Ängsten und gedanklicher Fokussierung auf das Essen eingesetzt werden (Zeeck et al., 2010). Bei Bulimie und der BED haben Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (Selective Serotonin Reuptake Inhibitors, SSRI) wie Fluoxetin die beste Evidenz, jedoch vor dem Hintergrund mangelnder Alternativen mit höherer Wirksamkeit. Aufgrund geringer Erfolgserwartung werden derzeit von Seiten der Pharmaindustrie keine bzw. kaum diesbezügliche Studien bei Bulimie durchgeführt. Auch für die kombinierte Anwendung von Psychotherapie und Psychopharmaka gebe es bisher wenige Studien. Jedenfalls soll die Gabe von Psychopharmaka regelmäßig überprüft werden. Hierfür dient das Therapeutic Drug Monitoring (TDM), wobei die Plasmakonzentration des Medikaments im Blut gemessen wird (Gründer, Baumann, Conca, Zernig & Hiemke, 2014). Diese Qualitätssicherungsmaßnahme ist unter anderem aufgrund der off label-Anwendung wichtig, das heißt, dass die Medikamente nicht für diese Diagnose zugelassen sind. Außerdem ist die Entscheidung individuell und subgruppenspezifisch, also in Abhängigkeit von der Form der Essstörung, zu treffen. Eine neue Hypothese ist der Zusammenhang zwischen ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) und Essstörungen, vor allem im Fall der Bulimie, weswegen es medikamentöse Versuche in diese Richtung gebe (Karwautz, 2017). Festzuhalten ist, dass in der Praxis mehr Medikamente als empfohlen und trotz fehlender Evidenz verabreicht werden. Möglicherweise gibt es bereits für einige Substanzen gute Erfahrungswerte, jedoch noch keine Studien. Dennoch sind Psychopharmaka nur als Ergänzung zu empfehlen, mit dem Primärziel, die Therapie zu erleichtern und nicht, um die Gewichtszunahme zu beschleunigen (Karwautz, 2017; Padrão et al., 2013). Therapeutische Beziehung Die Bedeutung der therapeutischen Beziehung wird nicht nur im Hinblick auf Menschen mit Essstörungen betont und von Köpp et al. (2007) sogar als vordergründig gegenüber der Deutungsarbeit in der Psychoanalyse angenommen. Ron Kurtz, der Hakomi als eine Form der körperorientierten Psychotherapie entwickelte, erläutert das Potential einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung folgendermaßen: Eine heilende Beziehung ist etwas Besonderes. Wenn Sie eine solche Beziehung aus eigener Erfahrung kennen, wissen Sie das. Sie hat etwas unglaublich Empfindsames, das Sie nicht zu stören wagen. Sie sind so tief in Verbindung mit sich, daß sie sich entspannen, neugierig sind und warten können. Sie haben leicht Zugang zu intuitiven Erkenntnissen, die tiefgreifend zur Arbeit beitragen. Eine solche Beziehung ist geprägt von einer grundsätzlichen Herzenswärme und Freundlichkeit, einer Wachheit, die sowohl den Therapeuten als auch den Klienten informiert. Man fragt nicht, wer der Heiler und wer der Geheilte ist. Beide sind Teil eines größeren Geschehens. Beide fühlen das. Und beide werden geheilt. (Kurtz, 1994, S. 109)

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Im Hinblick auf Menschen mit Essstörungen ist der Aufbau eines solchen Vertrauens insbesondere aufgrund der oft vorhandenen Ambivalenz gegenüber der Therapie wesentlich. Dies kommt bei Kindern und Jugendlichen, die meist nicht freiwillig zur Therapie erscheinen, noch mehr zum Tragen. Hier gilt es außerdem, die Eltern ins Boot zu holen, ohne ein Bündnis mit einzelnen Beteiligten zu bilden (Jäger, Herpertz, SalbachAndrae, Hagenah & Tuschen-Caffier, 2010). Als Herausforderung in der Therapie führt Plassmann bei Menschen mit Anorexie die anfänglich gering ausgeprägte Emotionalität an, die auch zu ihrem eigenen Schutz dient. Um das psychische Trauma, das er im Zusammenhang mit Essstörungen sieht, nicht zu wiederholen, bedarf es einer behutsamen Vorgehensweise, bis eine Verbindung von Seiten des Therapeuten bzw. der Therapeutin zu den Betroffenen gefunden werden kann. Ihnen die Anorexie als Mittel der Selbsttraumatisierung, jenseits der früheren schützenden Funktion, bewusst zu machen, ist für Plassmann ein wesentlicher Bestandteil der Therapie. Auch bei Bulimie sei das Erkennen der Einschränkung, worin häufig der Grund für das Aufsuchen von therapeutischer Unterstützung liegt, zentral: „Die Patientinnen fühlen sich auf dem Tiefpunkt der Bulimie vollkommen leer, ohne Bindung zu sich selbst und was sie von sich selbst fühlen, ist negativ“ (Plassmann, 2010). Aus der Sicht der Betroffenen besteht laut Levine das Bedürfnis nach einer sicheren Umgebung, in der das offene Sprechen möglich ist und sich das Schamgefühl verringern kann. Die Atmosphäre wird auch durch die Beziehungen innerhalb des Therapieteams beeinflusst, indem sich Konflikte auf die Betroffenen und deren Familie negativ übertragen. Verständnis zu erfahren, ernst genommen und gehört zu werden, ohne Bewertung und Drängen, sind von großer Bedeutung. Dabei werden Aufmerksamkeit und Interesse an der Person nicht nur verbal, sondern auch nonverbal vermittelt. Von einer Fokussierung auf Essen und Gewicht sowie einer Bewertung des Verhaltens bzw. der Person ist hingegen Abstand zu nehmen (Jäger et al., 2010; Levine, 2017; Linville, Brown, Sturm & McDougal, 2012). Beispielsweise soll vermieden werden, den Betroffenen angesichts der oft langwierigen Überwindungsphase das Gefühl zu vermitteln, sie seien willensschwach (Levine, 2017). Ebenso gilt es, anstatt einer allgemeinen Anwendung von Fachwissen den Blick auf die Potentiale der Betroffenen und ihre individuelle Geschichte zu richten (Bulik & Kendler, 2000). Hierbei wird in der Psychotherapie von Ressourcenorientierung gesprochen (u. a. Flückiger, 2009; Grawe & Grawe-Gerber, 1999; Schär, Flückiger & Grosse Holtforth, 2012; Schiepek & Matschi, 2013), die insbesondere aufgrund des niedrigen Selbstwertgefühls vieler Betroffener von Bedeutung ist (Jäger et al., 2010). Die Zuschreibung von Krankheitsbegriffen und -symptomen hingegen kann sich im Sprechen der Betroffenen über sich selbst im Sinne einer Selbstzuschreibung widerspiegeln (Padrão et al., 2013). Dennoch sind auch Informationen über die Essstörung, im Zuge derer zu Erklärungsansätzen Bezug genommen wird, hilfreich, nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Bezugspersonen (Jäger et al., 2010). Ein solches Wissen, insbesondere um die Möglichkeit von Rückfällen und den Umgang mit diesen, bewirkt Sicherheit bei allen Beteiligten (Zeeck et al., 2010, S. 103). Vanderlinden et al. betonen außerdem die Bestärkung und das Zutrauen von Seiten der Therapeuten und

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der Therapeutinnen als wichtiges Element der Therapie, während bei negativen Kommentaren Zurückhaltung angebracht ist. In ihrer Untersuchung reagierten Menschen mit Essstörungen im Vergleich zur Kontrollgruppe sensibler auf positive und negative Verstärkung. Sie erklären dieses Ergebnis mit dem geringen Selbstwertgefühl, das sich in ihrer eigenen wie auch in anderen Studien bei Betroffenen zeigt. Dadurch wirken sich Rückmeldungen insgesamt stärker auf das eigene Empfinden und die Selbstsicht aus (Vanderlinden et al., 2009). Ein weiterer Grund dürfte ihre Schwierigkeit, Entscheidungen zu treffen, sein. Diese Ambivalenz ist im Zusammenhang mit ihrer unsicheren Identität zu sehen und macht empfänglicher für äußere Einflüsse. Therapeuten und Therapeutinnen können hier die Funktion eines Hilfs-Ich einnehmen. Ebenso sind strukturierende Elemente als wesentlich zu erachten, beispielsweise in Form eines Behandlungsvertrages, der weder zu starr noch zu flexibel gehandhabt werden soll (Jäger et al., 2010). Die Bedeutung einer solchen achtsamen Haltung betrifft alle Angehörigen der medizinischen Versorgung ‒ von Therapeuten bzw. Therapeutinnen bis zu Zahnärzten bzw. Zahnärztinnen, die vor allem mit Zahnschäden von Menschen mit Bulimie und der damit verbundenen Scham konfrontiert werden (Willumsen & Graugaard, 2005). Laut Schubert und Amberger kann die Therapie durch eine tragfähige ärztliche Beziehung eine höhere subjektive Bedeutung für die Patienten und Patientinnen erhalten. Sie verwenden dafür den Begriff meaning response des medizinischen Anthropologen Daniel Moerman anstatt des oft vorurteilsbehafteten Placebo-Begriffs. Die Bedeutung einer Therapie und die Erwartungen beeinflussen wiederum deren Wirksamkeit (Schubert & Amberger, 2016, S. 225, S. 232, S. 237f.). Wirksam ist jedoch nicht nur das gesprochene Wort, sondern auch das sichtbare Verhalten des Therapeuten bzw. der Therapeutin. Noch viel mehr ist es die Haltung sich selbst gegenüber, insbesondere die verkörperte Weiblichkeit von Therapeutinnen angesichts des hohen Frauenanteils unter den Betroffenen (Schigl, 2013). Im Folgenden zitiert Kurtz den tibetischen Buddhisten Chögyam Trungpa, wobei die Bedeutung der Vorbildwirkung als wohltuende Nahrung deutlich wird: Die grundlegende Arbeit von Menschen, die im Gesundheitswesen tätig sind und speziell die von Psychotherapeuten, besteht darin, selbst ein ganzes menschliches Wesen zu werden und andere Menschen, die sich im Leben wie ausgehungert fühlen, zu dieser Ganzheit zu inspirieren. (Kurtz, 1994, S. 91; Hervorhebung A. K.)

Von der Möglichkeit zum Zwang Wenngleich die Vorgehensweise prinzipiell auf einem gemeinsamen Konsens beruhen soll und die Selbstverantwortung ein wichtiges Element darstellt, kann in seltenen Fällen ein Zwang zur Therapie erforderlich sein. Dies trifft laut Jäger et al. vor allem bei schwerwiegender Anorexie aufgrund einer eingeschränkten Entscheidungsfähigkeit der Betroffenen zu (Jäger et al., 2010). Häufig gehen mehrere erfolglose stationäre Aufenthalte voraus, außerdem spielt hier die zunehmende Ohnmacht des Umfeldes im Verlauf der Erkrankung eine Rolle. Das Ergebnis in ihrer Untersuchung, dass einige Per-

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sonen die erfolgte Zwangsbehandlung bei ihrer Entlassung als notwendig angaben, sehen Watson, Bowers und Andersen als einen Hinweis auf eine krankheitsbedingte Fehleinschätzung. Allerdings weisen sie auch auf negative Rückmeldungen zu einem solchen Vorgehen in anderen Studien hin (Watson et al., 2000; Zeeck et al., 2010, S. 86). Wenngleich der unterernährte Zustand mit körperlichen Auswirkungen einhergeht, ist eine vorschnelle Zuschreibung von kognitiver Beeinträchtigung, mit der zwangsweises Vorgehen zu begründen sei, zu vermeiden. So besteht eine große körperliche Anpassungsfähigkeit an die Mangelernährung, insbesondere bei längerer Dauer der Essstörung (Jäger et al., 2010). Nichtsdestotrotz kann sich durch das späte Erkennen der Betroffenheit eine lebensbedrohliche Situation entwickeln. Ein Grund für die ambivalente Haltung gegenüber der Therapie liegt nach Zeeck et al. (2010) in der massiven Angst vor der Gewichtszunahme. Allerdings könnte hier eine weitere Angst beteiligt sein, nämlich jene davor, wie mit der Erkrankung und vor allem mit der eigenen Person in der Therapieeinrichtung umgegangen wird. Eine Fokussierung auf Essen und Gewicht, die häufig zu beobachten ist, und ein rigides Vorgehen dürften hier nicht angstmindernd wirken. Eine Zwangsbehandlung ist eine Freiheitseinschränkung und bedarf daher einer genauen Prüfung alternativer Möglichkeiten. Zunächst kann durch eine juristische Betreuung eine vorübergehende Übernahme der Gesundheitsfürsorge für die Betroffene erfolgen, wobei für eine Stabilisierung eine Dauer von mindestens drei bis sechs Monaten anzuberaumen ist. Diese Betreuung kann durch eine fachlich geschulte externe Person oder durch Familiengehörige erfolgen. Letztgenannte Möglichkeit ist jedoch aufgrund der meist ohnehin schon bestehenden Überforderung und mitunter schwierigen Beziehung sorgfältig zu überdenken. Bei Zuspitzen der Situation bis zur Lebensgefahr kann eine Zwangseinweisung, nach Prüfung der gesetzlichen Voraussetzungen, der letzte Ausweg sein (Zeeck et al., 2010). Für eine solche Unterbringung ohne Verlangen müssen laut Unterbringungsgesetz § 3 folgende Kriterien erfüllt sein (BGBl Nr. 155/1990): In einer psychiatrischen Abteilung darf nur untergebracht werden, wer 1. an einer psychischen Krankheit leidet und im Zusammenhang damit sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben oder die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet und 2. nicht in anderer Weise, insbesondere außerhalb einer psychiatrischen Abteilung, ausreichend ärztlich behandelt oder betreut werden kann.

Neben der Zwangseinweisung in eine stationäre Einrichtung thematisieren Zeeck et al. außerdem die Zwangsernährung als „Ultima Ratio“, die bei lebensbedrohlicher Situation und fehlendem Erkennen derselben von Seiten der Betroffenen „im Sinne einer Fürsorge für die Patientin zu betrachten“ (Zeeck et al., 2010, S. 87) sei. Es kann eine Verabreichung mittels Magensonde oder perkutaner endoskopischer Gastrostomie (PEG), mit oder ohne Fixierung zu bestimmten Tages- oder Nachtzeiten, erfolgen. Dieses Vorgehen soll nicht dem Erreichen eines Zielgewichts, sondern der zwangfreien Fortführung der Therapie dienen (Zeeck et al., 2010). Im Hinblick auf den Verlauf der weiteren Therapie konnten Watson et al. in ihrer Untersuchung im Beobachtungszeit-

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raum von sieben Jahren keine signifikanten Unterschiede im Vergleich zu freiwillig teilnehmenden Betroffenen finden. Allerdings weisen die Autorin und die Autoren auf divergierende Befunde in anderen Studien hin, in denen sich bei zwangsbehandelten Personen eine höhere längerfristige Betroffenheit von der Essstörung zeigte (Watson et al., 2000). Zu erwähnen ist an dieser Stelle der von Zeeck et al. (2010, S. 87) angeführte Punkt, dass im Rahmen dieses Vorgehens „Essen und Gewicht nicht über[zu]betonen“ seien. Eine Veränderung derselben spielt jedoch in Therapieprogrammen, jenseits der Zwangsbehandlung, eine zentrale Rolle. Möglicherweise steigert sich das Bewusstsein um die Problematik einer solchen Fokussierung bei den Therapeuten und Therapeutinnen besonders erst in Anbetracht der lebensgefährlichen Situation. Hervorzuheben ist jedenfalls, dass solche Zwangsmaßnahmen nur bei absoluter Notwendigkeit und „mit dem größtmöglichen Respekt gegenüber der Würde der Betroffenen“ (Zeeck et al., 2010. S. 88) durchzuführen sind. Letztlich dürfte dies nicht gänzlich ohne Verletzung der Würde dieser Person möglich sein, zumal auch die Essstörung eine solche in Form der Selbstverletzung durch die Betroffene darstellt. 2.4.2 Realisierung im sozialen Kontext In der Literatur über Essstörungen erweisen sich soziale Beziehungen als wichtiger Beitrag zu deren Überwindung. Dies ist vor dem Hintergrund des Rückzugs der Betroffenen sowie der starken Fokussierung auf Essen und Gewicht naheliegend. Eine vermehrte soziale Teilhabe bildet eine Art Gegengewicht zum Leben mit der Essstörung, die ein hohes Ausmaß an Ressourcen beansprucht. Es ist jedoch zwischen förderlichen und hemmenden Beziehungsaspekten zu unterscheiden, wobei hier erstere im Vordergrund stehen. Gesundheitsfördernde Wirkung von sozialen Beziehungen Nach Esherick (2003) sind die bedingungslose Liebe, Akzeptanz und Aufmerksamkeit von anderen Menschen ein wichtiger Beitrag für den Weg aus der Essstörung. Auch wenn die Existenz von Bedingungslosigkeit angesichts der vielen Einflüsse und der eigenen Geschichte, die jede Person mit sich bringt, ein hoher Wert ist, zeichnen sich die genannten Aspekte jedenfalls durch den wertschätzenden Umgang aus. Ein solcher wird auch in anderen Studien, nicht nur im Hinblick auf Menschen mit Essstörungen, als wesentlich erachtet. So sehen Lamoureux und Bottorff die Akzeptanz als Person von Seiten der anderen als wichtigen Beitrag zur Selbstakzeptanz. In ihren Gesprächen mit Frauen, die von Anorexie betroffen waren, zeigte sich, dass die Offenheit anderer Menschen gegenüber der Person anstatt feststehender Erwartungen das Vertrauen in diese Menschen fördert. Dadurch erfahren sie ihren Wert als Person und verbinden Anerkennung nicht mehr mit dem Erreichen gewisser (körperlicher) Ideale oder mit Anpassung an äußere Forderungen (Lamoureux & Bottorff, 2005). Treffend ist hierfür die Beschreibung des Neurobiologen Gerald Hüther: Menschen leben eine SubjektSubjekt-Beziehung, wenn sie sich als Subjekte begegnen und nicht als Objekte behan-

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deln. Letzteres erfolgt, wenn das Gegenüber bestimmten eigenen Vorstellungen entsprechen soll und nicht als Person in ihrem Sein angenommen wird. Als Subjekt gesehen zu werden heißt hingegen, die eigenen Potentiale entfalten zu dürfen. Eine solche, auch von Hüther als bedingungslos betrachtete, liebevolle Begegnung kann wieder erfahren und gelernt werden – in der Therapie, in einer Partnerschaft, im Zusammensein mit einem Kind oder auch mit einem Tier (Hüther, 2015; Maaz, 2018). Dies könnte ein Grund für eine mitunter auftretende Verbesserung der Essstörungssymptomatik in der Schwangerschaft sein (Mangweth-Matzek, 2017; Mazzeo et al., 2005). Auch das hilfreiche Potential einer Therapie mit Pferden weist auf den Wirkaspekt einer solchen Subjekt-Subjekt-Beziehung hin (Alexandridis, 2009; Cumella et al., 2014; Selby & SmithOsborne, 2013). Stärkung gegenüber gesellschaftlichen Idealen Stützende soziale Beziehungen können wesentlich zur Verringerung des Einflusses von verbreiteten Idealen, die einen Risikofaktor für Essstörungen darstellen, beitragen. Das Einbeziehen der sozialen Ebene im Sinne einer systemischen Sichtweise betont die Psychologin Niva Piran (2017a) in ihrer Developmental Theory of Embodiment (Piran, 2017b) nicht nur für die Überwindung, sondern bereits für die Prävention von Essstörungen. Das Embodiment, die Verkörperung sozialer Einflüsse, wird durch entsprechende soziale Erfahrungen geformt (s. Kapitel 2.1), die Piran drei Bereichen zuordnet. 1) körperlicher Bereich (physical domain): Körperliche Aktivität ist dann protektiv, wenn diese aus Freude und nicht zur Erfüllung bestimmter Vorgaben ausgeführt wird. Zudem ist die Förderung verschiedener körperlicher Fähigkeiten und vor allem der Beziehung zum eigenen Körper in den Mittelpunkt zu stellen. Die körperliche Bewegung sollte nicht auf einer strikten Gewichtsregulierung basieren, wie es beispielsweise im Ballett der Fall ist. Negativ wirken sich außerdem damit einhergehende demütigende Bemerkungen und Sexualisierung, etwa durch körperbetonte Kleidung, aus. 2) mentaler Bereich (mental domain/social stereotypes): Während das kritische Hinterfragen von (weiblichen) Stereotypen stärkt, sind das Erfüllen von Erwartungen, beispielsweise als Mutter bedürfnislos sein zu sollen, sowie das defizitäre Erleben des Körpers Risikofaktoren für Essstörungen. Diese Aspekte, die Anpassung und der negative Bezug zum eigenen Körper, gelten als wesentliche Merkmale von Betroffenen. Eine selbstbewusste weibliche Identität hingegen wirkt sich positiv auf das Körperbild aus und geht mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit, an einer Essstörung zu erkranken, einher. 3) soziale Beziehungen (social power/relational connections): Laut Piran werden in Untersuchungen mittels Experience of Embodiment Scale 37 % der Varianz in der Erfahrung von Embodiment durch soziale Beziehungen erklärt. Dieses Ergebnis weist auf den wichtigen Beitrag sozialer Beziehungen einerseits für die Prävention, andererseits für den Weg aus der Essstörung hin (Piran, 2017a).

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An Pirans Theorie zum Embodiment wird somit der Einfluss von Stereotypen, die über verschiedene Medien Verbreitung finden, deutlich. Das nähere Umfeld kann dazu beitragen, diese Botschaften zumindest teilweise zu vermeiden. Levine schlägt Eltern vor, zu Hause auf die Auswahl verfügbarer Zeitschriften und Fernsehsendungen zu achten, wenngleich die allgegenwärtige Präsenz der Medien hier gewiss eine große Herausforderung darstellt. Eine Stärkung gegenüber solchen Stereotypen ist die Erfahrung, mit den eigenen Potentialen gesehen und nicht anhand des Aussehens bewertet zu werden. Kommentare zum Gewicht können sich negativ auswirken und sind insbesondere bei Gewichtszunahme und Übergewicht häufig. Auch im Falle von Übergewicht ist eine gesundheitsorientierte anstatt einer gewichts- bzw. diätfokussierten Sicht von großer Bedeutung, beispielsweise durch die Ausrichtung auf freudvolle Aktivitäten. Dies gilt es von Seiten des Umfeldes sowie in sozialen Medien zu vermitteln (Levine, 2017). Merkmale einer sozialen Unterstützung für Betroffene Soziale Unterstützung bzw. die diesbezügliche Zufriedenheit der Betroffenen ist ein wichtiger hilfreicher Aspekt für die Überwindung der Essstörung. Geller, Iyar, Srikameswaran, Zelichowska und Dunn (2017) fanden in ihrer Studie zu diesem Thema jedoch keine Assoziation mit der Veränderungsbereitschaft. Daraus lässt sich ableiten, dass die soziale Unterstützung zusammen mit anderen Aspekten und nicht für sich alleine motivierend auf die Betroffenen wirkt. Umgekehrt beeinflusst diese Bereitschaft zur Überwindung auch die Tendenz, die Zuwendung anderer anzunehmen. Besonders direktive Anregungen werden von Betroffenen mit geringerer Motivation eher abgelehnt (Geller, Brown, Zaitsoff, Goodrich & Hastings, 2003), während empathische Worte das Vertrauen fördern (Lamoureux & Bottorff, 2005). Geller et al. sehen neben einer gemeinschaftlichen Haltung bzw. Zusammenarbeit anstatt eines direktiven Vorgehens vor allem die Abstimmung auf das Alter der Betroffenen als relevant an: Die jüngeren Personen unter den 17- bis 59-Jährigen fühlten sich vor allem durch eine fürsorgliche Haltung mit einer Zuwendung, die über das Essen hinausreicht, gut unterstützt. Für ältere Personen hingegen war die Erfahrung von Selbstbestimmung anstatt Bevormundung wichtiger (Geller et al., 2017). Hier spiegeln sich somit die unterschiedlichen Bedürfnisse in Abhängigkeit des Zeitpunktes in der persönlichen Entwicklung wider (s. Kapitel 3.2). Eine empathische Begegnung trägt zur Förderung des Ausdrucks eigener Emotionen und Sichtweisen bei. Dies ist aufgrund der Tendenz der Betroffenen zur Anpassung an (unerfüllbare) Erwartungen und Ideale ein wichtiger Aspekt. Innerhalb ihrer Familien besteht jedoch häufig Zurückhaltung oder Impulsivität, wodurch der (vermehrte) Selbstausdruck schwierig ist (s. Kapitel 2.3.3). Daher können andere Kontakte, therapeutischer oder alltäglicher Natur, in denen die Betroffenen zum Zeigen ihrer Emotionen ermutigt werden, den Selbstausdruck unterstützen. Ansonsten, so Levine, dient weiterhin die massive Körpersprache als Ersatz für das gesprochene Wort. Außerdem soll Überforderung zunächst vermieden bzw. die Betroffene bei einer für sie zunächst zu hohen Anforderung begleitet werden, um sie vor einer Rückkehr zur „Sicherheit der Essstörung“ (vgl. Levine, 2017, S. 251) zu bewahren. Dies kann im Hinblick auf das Essen beispielsweise ein Buffet auf einer feierlichen Veranstaltung sein,

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da hier die Auswahl und Dosierung zur Gänze durch die Person selbst erfolgen muss. Dafür bedarf es der Aufklärung des Umfeldes über die Schwierigkeit, die eine solche Situation mit sich bringen kann. Hier kommt den Therapeuten und Therapeutinnen eine wichtige Aufgabe zu, ebenso bei der Unterstützung des Umfeldes im Umgang mit der Betroffenen, der mitunter eine Herausforderung darstellt. Doch nicht nur im familiären Kontext, sondern auch in der Schule sollen Lehrende aufmerksam gegenüber (frühen) Anzeichen von Essstörungen sein und ihre Hilfestellung anbieten. Dazu kann eine entsprechende Sensibilisierung und Schulung in der Ausbildung der Lehrenden einen wesentlichen Beitrag leisten (Levine, 2017). Übermäßige Sorge des Umfeldes vor einem Wiederauftreten bei überwundener Essstörung wirkt sich jedoch einschränkend auf die ehemals Betroffenen aus und kann in den Beziehungen zu Konflikten führen (Bardone-Cone at al., 2010). Als Kennzeichen einer für Betroffene hilfreichen Beziehung nennen Linville et al. Aufmerksamkeit, Nähe und Stabilität. Dazu gehört auch, dass die Essstörung vom Umfeld wahrgenommen und nicht ignoriert, sogar thematisiert wird. Sofern der Fokus nicht ausschließlich auf dem Essverhalten liegt, verringert dies das Gefühl, der Essstörung alleine ausgeliefert zu sein. Einige der von Linville et al. interviewten Frauen betonen, dass sie sich ein offenes Gespräch mit ihrer Familie gewünscht hätten. Offenheit und Ehrlichkeit sind auch von Seiten der Freunde und Freundinnen ein hilfreicher Aspekt. Zuwendung sollte jedoch nicht gewichtsabhängig sein, indem diese den Personen nur bei Untergewicht zuteilwird. Dies gilt ebenso für therapeutische Ansätze. Dadurch wird die Essstörung verstärkt, anstatt die Betroffene zur Überwindung motiviert. Wichtig ist außerdem, sich gewahr zu sein, dass Aussehen und Empfinden differieren können (Jenkins & Ogden, 2012; Linville et al., 2012). Dies drückt eine Frau im Interview in der Studie von Linville et al. folgendermaßen aus: „People were being … ,oh you've gained weight, you look great,‘ you know, that whole kind of thing. But even then it was all still based on how you look, it wasn't how are you feeling or what are you going through or what's going on“ (Linville et al., 2012, S. 226). Nahe Beziehungen hingegen, in denen die Betroffenen keine Bewertung und Kritik aufgrund der Essstörung, sondern Bestärkung und damit Hoffnung erfahren, tragen wesentlich zu deren Überwindung bei. Diese Hoffnung und das Verständnis sind insbesondere durch den direkten Austausch mit (ehemaligen) Betroffenen größer (Linville et al., 2012), ebenso durch das Lesen von Lebensgeschichten solcher Personen. Dabei kann die eigene Situation mit den Erzählenden geteilt und eine andere Perspektive gewonnen werden (Lamoureux & Bottorff, 2005). Außerdem wird das Erkennen der Beeinträchtigung von Beziehungen zu nahen Menschen als Anstoß für die Überwindung genannt. Bedeutsam sind darüber hinaus das Verantwortungsgefühl gegenüber den eigenen Kindern und der Wunsch, für diese ein Vorbild zu sein. Zusätzlich zum Beziehungsangebot des Umfeldes ist das Vermögen auf Seiten der Betroffenen, mit anderen in Kontakt zu kommen und sich mit ihnen zu verbinden, zentral. Dies gilt auch für die Verbindung mit sich selbst, wofür beispielsweise körperliche Selbsterfahrung, wie Yoga, und (schriftliche) Selbstreflexion, als hilfreich genannt werden (Linville et al., 2012). Somit sind sowohl intrapersonale als auch interpersonale Aspekte im Rahmen der Überwindung von Bedeutung (Dawson, Rhodes & Touyz, 2014).

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2 Essstörungen ‒ Anorexie und Bulimie

2.4.3 Überwindung als Wirklichkeit: Merkmale In vielen Studien zur Überwindung der Essstörung ist Heilung, in englischen Publikationen als recovery bezeichnet, als Fehlen von diagnostischen Kriterien definiert. Dafür wird meist Bezug zum DSM der APA und zu darauf basierenden Skalen genommen. So umfassen die 22 Items der Eating Disorder Diagnostic Scale (EDDS) von Stice, Telch und Rizvi (2000) die Symptome von Anorexie, Bulimie und BED, die im DSM-IV festgehalten sind. Außerdem wurden für die Erstellung dieses Fragebogens die strukturierten Interviews Eating Disorder Examination (EDE) von Fairburn und Cooper (1993) und das Structured Clinical Interview for DSM-IV (SCID) von Spitzer, Williams, Gibbon und First (1990) hinzugezogen. Im Gegensatz zu letztgenannten ist das EDDS ein Fragebogen zur Selbsteinschätzung (Stice et al., 2000; Stice, Fisher & Martinez, 2004). Überwindung ist demnach als Abwesenheit der Essstörungssymptomatik definiert. Symptomatisch orientierte Definition der Überwindung Nach APA gilt eine Reduktion, aber noch teilweise Erfüllung von diagnostischen Kriterien über einen „längeren Zeitraum“ (APA, 2015, S. 463) als Teilremission, der vollständige Rückgang der Symptome als Vollremission. Unklar bleibt die Begrenzung dieses Zeitraumes. Diesbezüglich schlägt die Internistin und Psychotherapeutin WünschLeiteritz vor, im Falle der Essstörung wie bei somatischen Krankheiten nach einem Intervall von fünf bis zehn Jahren ohne Essstörungssymptome bzw. -kriterien von Heilung zu sprechen (Wünsch-Leiteritz, 2016). Wenngleich sich Rosenvinge und Pettersen auf die Prognose von Essstörungen beziehen, lässt sich aus ihren Ausführungen auch eine Alternative zum zeitlichen Kriterium für die Definition von Überwindung ableiten. Anstatt der Dauer der anhaltenden Symptomatik als prognostischen Faktor zu betrachten, könne das Ausmaß der Selbstentfremdung herangezogen werden. Sie argumentieren, dass aus einem erwarteten Zusammenhang zwischen längerer Dauer und geringerer Heilungsrate nicht der Schluss abzuleiten sei, eine kurze Erkrankung gehe notwendigerweise mit einer besseren Prognose einher (Rosenvinge & Pettersen, 2012). Ebenso ist die Dauer des symptomfreien Intervalls nur ein Ausschnitt der Essstörungsdynamik und dementsprechend die Definition der Teil- und Vollremission der APA als nicht ausreichend zu betrachten. Im Hinblick auf Heilungskriterien liegt der Schwerpunkt auch in der Studie von Bergh et al. auf dem körperlichen Befund, während psychische und soziale Aspekte nur in Ansätzen zur Anwendung kommen. Es sollte bei den Personen eine Normalisierung in folgenden Aspekten vorliegen: 1) Körpergewicht (BMI bei Frauen 19‒24 kg/m2, bei Männern 20‒25 kg/m2); 2) Essverhalten (Zusatzkriterium bei Bulimie: kein Essanfall und kein Erbrechen seit mindestens drei Monaten); 3) Sättigungsgefühl; 4) körperlicher Allgemeinzustand; 5) Depression, Ängstlichkeit und gedankliche Fokussierung (gemessen anhand der Comprehensive Psychopathological Self-Rating Scale); 6) subjektives Empfinden bezüglich Essverhalten und Gewicht (Aussage der Personen, dass Essen und Gewicht kein Problem mehr sind) sowie 7) Ausbildung und Beruf (Wiederaufnahme des Schulbesuchs, der Ausbildung oder Berufstätigkeit). Fünf dieser Kriterien galten in der durchgeführten Studie als Teilremission (Bergh et al., 2013). Deutlich

2.4 Überwindung der Essstörung als Möglichkeit, Wirklichkeit oder Ideal

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wird hierbei, dass das Wohlbefinden der Person kein Kriterium für Überwindung darstellt, allenfalls indirekt durch die Verringerung von Symptomen. Versuche einer umfassenderen Definition der Überwindung Noordenbos und Seubring (2006) strebten in ihrer Studie eine umfassendere Definition der Überwindung an und berücksichtigten besonders jene Unteraspekte, die für ehemalige Patientinnen und Therapeuten bzw. Therapeutinnen relevante Überwindungskriterien darstellten. Dazu formulierten sie folgende Bereiche: 1) Essverhalten (z. B. Menge, kompensierende Maßnahmen wie Erbrechen); 2) Körperbild und Körpererleben; 3) physiologische Parameter (z. B. Gewicht, Menstruation, Verdauung); 4) psychologische Aspekte (z. B. Selbstwertgefühl, Perfektionismus); 5) Emotionen (z. B. Stimmung, verbaler und nonverbaler Ausdruck) und 6) soziale Aspekte (z. B. soziale Kontakte, Paarbeziehung). Die körperliche Verfassung, vor allem das Gewicht, wird als wichtiger Einflussfaktor auf psychosoziale Veränderungen erachtet, jedoch sei die Angabe eines Gewichtsbereichs, der für eine fortschreitende bzw. anhaltende Überwindung erforderlich ist, schwierig bzw. nicht eindeutig. Außerdem ereignet sich die Entwicklung auf psychischer und sozialer Ebene langsamer. So vertieft sich insbesondere die Beziehung zum eigenen Körper erst allmählich, während sich die Beziehungen zu anderen bei Bardone-Cone et al. bereits früher verbesserten. Daher könnte die Qualität der Beziehung, die zum eigenen Körper besteht, auf den Grad der Überwindung der Essstörung hinweisen (BardoneCone et al., 2010; Noordenbos & Seubring, 2006). Rosenvinge und Pettersen (2012) führen in ihrem Comprehensive Model of Recovery ebenso mehrere Bereiche zur Beurteilung von Überwindung an. Neben Veränderungen der Kernsymptomatik (Gewicht, Essverhalten, Gedanken an Essen und Gewicht) sind folgende Aspekte relevant: 1) psychologische Aspekte (z. B. Emotionen, Bewältigungsstrategien); 2) soziale Aspekte (z. B. Teilhabe an sozialen Aktivitäten; 3) existentielle Aspekte (z. B. persönliche Ziele, Sinnerleben, Umsetzung eigener Potentiale) und 4) interpersonale Aspekte (z. B. Leben von wohltuenden Beziehungen). Wesentlicher Unterschied zwischen Menschen mit überwundener und aktueller Essstörung sei, dass Schwierigkeiten und Probleme in diesen Bereichen bei erstgenannten zwar ebenso auftreten können, allerdings nicht in Zusammenhang mit der Essstörung stehen. Daher sind diese Schwierigkeiten, so die Autorinnen, vielmehr als Herausforderungen des Lebens, wie sie sich jedem Menschen stellen, zu bezeichnen (Rosenvinge & Pettersen, 2012). Erlebensbasierte Kriterien Entgegen den meist angewandten objektiven Kriterien für Überwindung, auch bei umfassenderen Definitionen, liegt das Interesse in qualitativen Studien auf dem Erleben der (ehemaligen) Betroffenen. Dabei wird weniger der Zustand der überwundenen Essstörung beschrieben, sondern es stehen Merkmale des Überwindungsprozesses im Vordergrund. Jenkins und Ogden (2012) geben auf Basis der Aussagen von Frauen, die

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2 Essstörungen ‒ Anorexie und Bulimie

die Anorexie als überwunden oder sich im Überwindungsprozess betrachten, die Kontrolle über die anorektische Stimme als ein solches Merkmal an. Das Körpergewicht ist zwar ein Indikator, allerdings umfasst Überwindung neben der Änderung des Essverhaltens vor allem das Empfinden als Person. Dafür können das Erreichen des errechneten Zielgewichts und die Symptomreduktion ein, wenngleich wichtiger, Ausgangspunkt, jedoch nicht das Ziel sein. Diese sind vielmehr Mittel zu weiteren Veränderungen, etwa der Beziehungsgestaltung und Problembewältigung, die jedoch nicht notwendigerweise der Verbesserung des körperlichen Zustandes folgen. Einige Frauen in der Studie von Jenkins und Ogden verstanden unter Überwindung, die Essstörung, die zuvor einen Teil ihrer Identität eingenommen hatte, gänzlich aufzugeben. Andere Personen hingegen betrachteten die Essstörung als weiterhin inkorporierten jedoch nicht mehr über sie bestimmenden Teil ihres Lebens. Als zentrales Ergebnis geben die Autorinnen den Ausgleich zwischen Dichotomien im Überwindungsprozess an: zwischen Körper und Seele, zwischen Verhalten und Gedanken, zwischen Rationalität und Irrationalität. Eine Fokussierung auf einen Pol, beispielsweise auf Essen und Gewicht in der Therapie, erhält die Dichotomie aufrecht. Durch die Verbindung hingegen kann die Person „ganz werden“ (vgl. Jenkins & Ogden, 2012) und sich dementsprechend nicht mehr nur oder überwiegend mittels Körpersprache in Form der Essstörung ausdrücken: Emotionen können mit Worten formuliert und Beziehungen aktiv gestaltet werden. Dazu sind unterstützende Beziehungen ein wesentlicher Beitrag (Jenkins & Ogden, 2012). Eine ausführliche Prozessdarstellung geben Weaver, Wuest und Ciliska (2005) mit ihrem Selbstentwicklungsmodell für die Überwindung der Anorexie in Form einer dynamischen Helix. Die Autorinnen beabsichtigten, nicht isolierte Aspekte wie in anderen Studien, sondern den Heilungsprozess in seiner Gesamtheit zu untersuchen. Neben der individuellen Erfahrung sollte außerdem der soziale Kontext beschrieben werden. Dafür führten sie mehrmalige Interviews mit zwölf Frauen, die sich als von der Anorexie geheilt bzw. auf dem Weg der Heilung betrachteten. Diese Gespräche werteten sie mittels Grounded Theory und mit Blick „durch eine feministische Linse“ (Weaver et al., 2005, S. 190) aus. Heilung definierten die Autorinnen primär nach der Einschätzung der Personen und nicht nach der klinischen Diagnosestellung. Die Autorinnen weisen darauf hin, dass es in der Literatur keine eindeutige Definition von Heilung gibt, sich jedoch die Selbstannäherung und das persönliche Reifen als zentrale Aspekte zeigen. Zur Selbstannäherung gehören hier unter anderem Selbstvertrauen und das Infragestellen von äußeren Erwartungen. Für das Wachsen von Selbstvertrauen beschreiben Lamoureux und Bottorff (2005, S. 180) das Empfinden, „good enough“, also gut genug, zu sein, als wichtige Basis. Nicht nur sich selbst als gut genug zu sehen, sondern auch zu wissen bzw. zu vertrauen, von anderen so gesehen zu werden, fördert die Selbstakzeptanz und das Selbstvertrauen. Dadurch tritt das Erfüllen der Erwartungen anderer Menschen in den Hintergrund, während eigene Gedanken und Gefühle vermehrt geäußert werden (Lamoureux und Bottorff, 2005). Diese Merkmale sind der Beziehung zu sich selbst als Bereich des persönlichen Wachstums zuzuordnen. Außerdem werden laut Weaver et al. (2005) ein größeres Vertrauen in andere und die Verbindung mit der Natur in mehreren Studien genannt. Hierbei handelt es sich um Veränderungen in den beiden anderen Bereichen des persönlichen Wachstums: in der Beziehung zu anderen und in der Beziehung zum Leben (s. Kapitel 3.3.1).

2.4 Überwindung der Essstörung als Möglichkeit, Wirklichkeit oder Ideal

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Das zentrale Problem im Rahmen der Essstörung besteht für Weaver et al. (2005) in der Selbstberuhigung/Selbstentspannung durch gesundheitsschädliche Verhaltensweisen (perilous self-soothing). Dazu gehören die beiden Aspekte Selbstfremdheit (not knowing myself) und Vereinnahmung von der Anorexie (losing myself to an obsession). Die Merkmale dieser beiden Subkategorien beinhalten den Selbstverlust: durch Anpassung an äußere Erwartungen, durch Kontrolle und Kontrolliertwerden mit Einschränkung des Selbstausdrucks, durch Identifikation bis zur Symbiose mit der Anorexie. Weaver et al. vergleichen das Anfangsstadium der Erkrankung mit einer Blase (shortterm bubble), die die Betroffenen zunächst aufgrund der Anerkennung durch den Gewichtsverlust, der erlebten Kontrolle und des hungerbedingten Hochgefühls als positiv wahrnehmen. Den Wendepunkt bezeichnen die Autorinnen als Selbstfindung (finding me), wobei dem Erkennen der Problematik ein längerer Selbsterforschungsprozess folgt. Dafür ist es unter anderem hilfreich, wenn Betroffene von anderen Menschen auf ihre persönliche Vielfalt aufmerksam gemacht werden. Dadurch können sie sich allmählich (wieder) mit all ihren Facetten kennenlernen, die zuvor hinter der Essstörung verborgen waren. Die Betroffenen kommen zunehmend in eine aktivere Rolle und übernehmen die Selbstverantwortung für ihr Leben. Im weiteren Verlauf zeigte sich bei den befragten Personen das Stadium der aufgeklärten bzw. bewussten Selbstsorge (informed self-care). Dabei geht es um die Gestaltung des Lebensalltags ohne Anorexie, beispielsweise die Aufrechterhaltung einer regelmäßigen Essstruktur auch in stressigen Zeiten und den Umgang mit Zuschreibungen von anderen aufgrund ihrer Erkrankung. Bei Wiederauftreten bzw. Verstärkung des früheren Verhaltens bedarf es einer noch genaueren Einhaltung entsprechender Maßnahmen. Hinzu kommt die vermehrte Selbstwahrnehmung und Selbstanerkennung, um so den eigenen Platz im Leben zu finden. Als sehr bedeutend erachten Weaver et al. die soziale Unterstützung und das Öffnen gegenüber anderen Menschen. Die Anorexie bekommt weniger, die (ehemals) betroffene Person hingegen mehr Raum. Schließlich kann die Person gut für sich sorgen, auch in Beziehungen, indem sie sich beispielsweise mit wohltuenden Menschen umgibt. Mit überwundener Anorexie verbinden Weaver et al. außerdem, sich selbst eigenständig und nicht nach äußeren Erwartungen zu definieren. Dadurch gelingt es, das unperfekte Sein zu würdigen, sich Dingen und Tätigkeiten aus Freude hinzugeben sowie die Schönheit des Lebens und der Welt (wieder) zu erleben. Die Frauen in der Untersuchung der Autorinnen sahen rückblickend Sinn im Erleben der Essstörung und wollten eigene Erfahrungen an andere Menschen weitergeben. Dieser Weg der Selbstentwicklung erfolgt durch Bewusstwerdung und Wahrnehmung der eigenen Gefühle, durch Selbstdifferenzierung im Sinne von Abgrenzung in Beziehungen und durch Selbstregulation beim Erleben unangenehmer Gefühle (Weaver et al., 2005). Zu ähnlichen Ergebnissen kam Esherick in ihrer Dissertation, für die sie vierzehn Frauen kontaktierte, um über ihre ehemalige Anorexie zu sprechen. Die Autorin beschreibt drei Phasen der Überwindung: 1) Selbstentdeckung; 2) Selbstakzeptanz und 3) Selbstausdruck (Esherick, 2003). Lamoureux und Bottorff nennen diesen Prozess becoming the real me oder mit den Worten zweier Frauen in ihrer Studie: „coming out of that darkness into … the light“ (Lamoureux und Bottorff, 2005, S. 174). Nicht nur als Körper(gewicht), sondern als vielfältige Person zu existieren, ist eine wichtige Erkenntnis der Betroffenen. Dafür ist die Verlagerung des Fokus auf andere Aspekte als auf Essen

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2 Essstörungen ‒ Anorexie und Bulimie

und Gewicht erforderlich (Lamoureux und Bottorff, 2005). Als Zeichen der Überwindung werden hier einige Aspekte von Selbstentfaltung im Sinne von Leben des Eigenen deutlich, worauf im folgenden dritten Kapitel und insbesondere in der Darstellung der eigenen Forschungsergebnisse näher eingegangen wird. Überwindung als Ideal? Abschließend ist somit festzuhalten, dass symptomatische Kriterien in den Studien am häufigsten zur Beurteilung des Verlaufs einer Essstörung herangezogen werden. In unterschiedlichem Ausmaß fließen psychische und soziale Aspekte ein, jedoch gibt es keine einheitliche Definition von Überwindung. Untersuchungsergebnisse zu Heilungsraten fallen dementsprechend unterschiedlich aus und werden unter anderem von folgenden Festlegungen für Überwindungskriterien beeinflusst: 1) BMI-Bereich; 2) Anzahl und Art der Kriterien; 3) Intervall der Abwesenheit von Symptomen; 4) objektive und/oder subjektive Kriterien von 5) aktuell betroffenen und/oder als geheilt definierten Personen. Der letzte Punkt verdeutlicht, dass die Definition wiederum das Ergebnis beeinflusst. Dementsprechend ist der Begriff des Rückfalls in Frage zu stellen, da dafür ein Ausgangspunkt zu beschreiben wäre, von dem aus sich die Person wieder in den Symptombzw. Erkrankungsbereich bewegt. Allerdings ist der Anfangspunkt nicht zu konkretisieren, wenn keine klaren Kriterien für Überwindung vorliegen und daher deren Erfüllen nicht festzustellen ist. Selbst eine Auflistung solcher Kriterien, wie dies Noordenbos und Seubring (2006) in ihrer Studie durchführten, ist nie vollständig und erfasst die individuelle Situation der Betroffenen nur ungenau bzw. nur mehr oder weniger zutreffend. Hinzu kommen die häufig auftretenden Komorbiditäten, die der Essstörung vorausgehen, dieser folgen oder zeitgleich auftreten können. Hier ist die Überwindung der Essstörung noch schwieriger zu definieren, da unklar ist, inwiefern die Entstehung von einer gemeinsamen (biologischen) Basis ausgeht, wie dies laut Bardone-Cone et al. (2010) beispielsweise bei Angsterkrankungen angenommen werde. Insbesondere in solchen Fällen wird deutlich, dass die Beurteilung von Essverhalten und Gewicht keineswegs ausreichend ist. Die Pariser Fachärztin für Psychiatrie Brigitte Remy geht noch weiter und spricht im Dokumentarfilm Liebe Magersucht … weder von Heilung noch von Krankheit. Heilung impliziere bereits das Vorhandensein einer Krankheit, daher bevorzugt sie den Begriff der flexiblen Störung. Darunter versteht sie ein Verhaltensmuster, das aufgeweicht bzw. aufgegeben werden soll. Durch das Loslassen des anorektischen Ideals sollen sich die Betroffenen wieder „auf ihr Ich stützen“ (Du Pasquier, 2015). Eine ehemalige Patientin, die in diesem Beitrag zu Wort kommt, sieht ebenfalls keine Heilung, denn wie ein Alkoholiker, der nicht mehr trinkt, gelte es, mit der Essstörung zu leben. Sie spricht von bleibenden tiefen Schichten, auch wenn ein bestimmtes Gewicht, das nicht mit Gesundheit gleichzusetzen sei, erreicht wird. Aus ihren Aussagen gehen die im Kapitel 2.3.2 beschriebene identitätsbildende Funktion der Essstörung sowie die diskutierte Nähe zu Suchterkrankungen hervor (s. Kapitel 2.2.3).

2.4 Überwindung der Essstörung als Möglichkeit, Wirklichkeit oder Ideal

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Besonders in qualitativen Studien, in denen Menschen mit Essstörungserfahrung erzählen, werden deren Zweifel im Hinblick auf die Möglichkeit der Überwindung deutlich. Dies trifft vermehrt auf jene Personen zu, die sich nach ihrer eigenen Ansicht inmitten des Überwindungsprozesses befinden, und ist aufgrund der damit einhergehenden Ambivalenzen und Schwierigkeiten nachvollziehbar. Mitunter wird von einem offenen Prozess ohne Endpunkt gesprochen (Jenkins & Ogden, 2012). Die Frage, ob die Überwindung einer Essstörung ein unerreichbares Ideal ist, kann auf Basis der Literatur somit nicht eindeutig beantwortet werden. Daher wird diese im empirischen Teil dieser Arbeit vertieft sowie in der abschließenden Diskussion wieder aufgenommen. Bei allen Schwierigkeiten der Definition betonen einige Forschende dennoch die Möglichkeit der Überwindung. Damit setzen sie den Betroffenen ein Zeichen der Hoffnung und bestärken diese in: „Doing the impossible“ (Dawson et al., 2014, S. 494).

3 Persönliche Entwicklung Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen entwicklungspsychologische Aspekte, beginnend mit der Differenzierung der Begriffe Identität, Ich, Selbst und Person, da diese in Entwicklungstheorien von zentraler Bedeutung sind, jedoch keine einheitliche Verwendung finden. Aufgrund des Umfangs der Thematik können nur einzelne Sichtweisen einbezogen werden. Die Auswahl von Literatur mit unterschiedlichem fachlichem Hintergrund, vor allem aus diversen Psychotherapierichtungen, ermöglicht dennoch eine Beleuchtung des Themas aus mehreren Blickwinkeln. Auf dieser Basis wird das Verständnis von Identität, Selbst und Person in dieser Arbeit definiert. Nach der Begriffsdifferenzierung folgt die Erläuterung von entwicklungspsychologischen Theorien mit Bezug zu verschiedenen Phasen der Lebensspanne. Besondere Beachtung finden in dieser Arbeit die Jugendzeit, in der die Essstörung häufig beginnt, sowie Begriffe der Selbstentfaltung. Thema des daran anschließenden Kapitels ist das posttraumatische Wachstum, das als persönliche Entwicklung durch das Erleben von Traumata untersucht wurde. Erklärungsansätze zu beobachteten Veränderungen sowie beeinflussenden und förderlichen Bedingungen werden hier dargestellt und in Zusammenhang mit verwandten Konzepten, unter anderem mit Ressourcenorientierung, Resilienz und Weisheit, gebracht. Angesichts des Umfangs der Entwicklungstheorien bildet eine Zusammenfassung ihrer zentralen Aspekte den Abschluss des Kapitels. 3.1 Begriffsdifferenzierung Identität ‒ Ich ‒ Selbst ‒ Person Im Kapitel über Essstörungen wurde bereits von Identität, auch vom Selbst, gesprochen. Dabei kamen die Begriffe der jeweiligen Autoren und Autorinnen zur Anwendung, jedoch gibt es keine einheitliche Definition. Mit der folgenden Differenzierung sollen Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich werden, um daraufhin die Bevorzugung der Begriffe Selbst und Person in der eigenen Untersuchung zu begründen. Identität Identität konstituiert sich an der Schnittstelle zwischen Selbst und Umfeld, indem die Selbstwahrnehmung und die Rückmeldungen des Umfeldes aufeinander abgestimmt werden. Somit ist Identität einerseits aufgrund der erforderlichen Anpassung an Situationen und Bedingungen flexibel, andererseits auch über die Lebensspanne hinweg relativ stabil. Manche Aspekte des Umfeldes werden angenommen, doch soll gleichzeitig die Einzigartigkeit erhalten bleiben. Relevant für Identität sind insbesondere Geschlecht, Beruf, Nationalität, soziale Zugehörigkeit sowie Eigenschaften und Fähigkeiten der Person (Lucius-Hoene, 2014). Es ist jedoch festzuhalten, dass die Identitätsdefinition kulturell unterschiedlich ist. Beispielsweise hat die Verschiedenheit bzw. Einzigartigkeit der Person in Kulturen mit stärkerer Betonung der Independenz eine große Bedeutung, bei vordergründiger Interdependenz hingegen die Einbindung in den sozi-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Kathrein, Überwindung der Essstörung als Weg ins Gleichgewicht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25971-6_3

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3 Persönliche Entwicklung

alen Kontext. Dementsprechend sind andere äußere Erwartungen und eigene Wertvorstellungen präsent, jedoch besteht auch innerhalb einer Kultur eine große situative und individuelle Variabilität (Tesch-Römer & Albert, 2012, S. 137f.). Außerdem werden im Hinblick auf die soziale Einbindung mehrere Formen von Identitäten unterschieden. So beschreibt Erving Goffman die Ich-Identität, persönliche Identität und soziale Identität. Unter Ich-Identität versteht Goffman das subjektive Erleben der persönlichen Eigenschaften und Lebenssituation, während die persönliche Identität auf Daten beruht. Hierzu gehören körperliche Merkmale (Körpergröße, Gewicht etc.), Name, Beruf und weitere Angaben, die unter anderem in Formularen festgehalten sind. Darin spiegelt sich die soziale Einbettung wider, die in der sozialen Identität noch deutlicher wird. Als solche bezeichnet Goffman die Zuschreibungen des Umfeldes, die bei der Stigmatisierung in negativer Hinsicht erfolgen (Goffman, 1986, S. 105f.; Knoblauch, 2004). Auch George Herbert Mead betont den Einfluss des sozialen Umfeldes und spricht von verschiedenen Anteilen der Identität bzw. des Selbst. Er unterscheidet zwischen einem subjektiven biologischen sowie einem kreativen, spontanen I einerseits und dem nach außen sichtbaren me andererseits. Das me ist „das sich selbst als Objekt erfahrende Ich“ (Mead, 1973, S. 216) und umfasst generalisierte gesellschaftliche Erwartungen sowie Normen, auf die das I reagiert. Das I gestaltet das me dem sozialen Kontext entsprechend mit, sodass es mehrere Formen des me gibt. Eine gelungene Verbindung zwischen I und me bezeichnet Mead als self (Selbst). Dieses Selbst ist demnach als umfassender sowie als dynamischer Begriff zu verstehen (Mead, 1973, S. 216ff.). Ich Wenngleich der Begriff in dieser Arbeit weniger im Vordergrund steht als Identität, Selbst und Person, sind vor allem die Funktionen des Ich für die Wahrnehmung des Selbst und des Umfeldes sowie deren Interaktion von großer Bedeutung. Weniger Verwendung findet er aus Gründen der umfassenden und nicht funktionsorientierten Sicht auf die Person im Rahmen dieses Projekts. In den nachfolgenden Ausführungen wird Bezug zu Freud und vor allem zu Jung genommen. Im Dreiinstanzenmodell von Freud (Es ‒ Ich ‒ Über-Ich) umfasst das Ich Funktionen, die das Es als Triebinstanz anschlussfähig an die Umwelt machen. Dabei werden die verinnerlichten Normen berücksichtigt. Dies erfolgt vor allem mittels Wahrnehmungs- und Kognitionsleistungen. Die Normen sind im Über-Ich, das laut Mentzos eine Unterstruktur des Ich bildet, enthalten und haben eine regulierende Wirkung (Mentzos, 2010, S. 40f.). Die Vermittlung zwischen Es, Über-Ich und der umgebenden Realität kann zu Konflikten und entsprechenden Abwehrmechanismen führen (Bayer, 2014). Nach Peichl schränkte Freud den Ich-Begriff nicht nur auf die psychische Ebene ein, sondern er bezog sich damit auf die umfassende subjektive Erfahrung, folglich auch auf körperliche Empfindungen. Die Reduktion auf das Ich als psychische Funktionsinstanz sei auf die Verwendung des englischen Begriffs Ego im Rahmen der Übersetzung von Freuds Schriften zurückzuführen (Peichl, 2007, S. 84f.).

3.1 Begriffsdifferenzierung Identität ‒ Ich ‒ Selbst ‒ Person

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Ebenso verortet Jung das Ich im Bewusstsein, ohne es mit diesem gleichzusetzen: „Das Bewusstsein ist wie ein Raum, der die psychischen Inhalte, die ihn vorübergehend füllen, umgibt. Es geht dem Ich voraus, das schließlich zu seinem Mittelpunkt wird“ (Stein, 2011, S. 28). Das Ich steht somit im Zentrum des Bewusstseins, das Jung auch ausgedehnt als Bewusstseinsfeld sieht. Das Bewusstsein wiederum ist, so Stein (2011, S. 26), „ein Zustand des Wachseins, des Beobachtens und Registrierens, was in der Welt um uns herum und in uns vorgeht“. Auch von der Person unterscheidet sich das Ich, wenngleich diese mit dem Wort Ich sich selbst meint. Die Person umfasst jedoch, wie an unterer Stelle noch deutlich wird, viel mehr: Das Verhalten, die emotionale Reaktion, die von anderen wahrgenommene Ausstrahlung sind einige dieser Aspekte. Jung sieht das Ich außerdem wie einen Spiegel, an den psychische Inhalte herantreten und je nach Ausmaß an Reflexion mehr oder weniger bewusst werden. Wie bei Freud hat das Ich eine Verwaltungs- und Entscheidungsfunktion gegenüber (un-)bewussten Inhalten und ist Ort des Wünschens und Wollens. Während sich das Ich bei Jung überwiegend auf das Bewusstsein beschränkt, wenngleich mit Zugang zum Unbewussten, umfasst die Psyche das Bewusste und das Unbewusste. Allerdings definiert er für die Psyche keine klare Grenze, sondern einen Übergangsbereich zwischen Psyche und Körper sowie zwischen Psyche und Umwelt. Zu diesen „Grauzonen“ (Stein, 2011, S. 38) zählt nach Stein unter anderem die Psychosomatik. Das Ich hat eine Verbindung zum Körper, jedoch „der Körper, den das Ich spürt, ist psychischer Natur, es ist ein Körperbild und nicht der Körper selbst“ (Stein, 2011, S. 35). Für Jung ist das Ich somit eine rein psychische Instanz, ohne materiellen Anteil. Der Kern des Ich ist nach Jung angeboren und bildet durch den Einfluss des nahen und kulturellen Umfeldes eine weitere Schicht aus. Diese erworbene Schicht nennt Jung laut Stein die „Persönlichkeit Nr. 2“, den Kern bezeichnet er als „Persönlichkeit Nr. 1“ (Stein, 2011, S. 34). Die Zusammensetzung des Ich macht die Individualität des Menschen aus. Es entwickelt sich durch die von Jung so formulierten Zusammenstöße mit äußeren Einflüssen und inneren Zuständen, die in adäquatem Ausmaß förderlich sind. Die Anpassungs- und Reaktionsformen hängen vom psychologischen Typus ab, der eine Kombination aus Einstellung (Introversion oder Extraversion) und Funktion (Denken, Fühlen, Empfinden oder Intuition) darstellt. Neben einem angeborenen Haupttypus, der sich primär in der Organisation des Ich zeigt, verfügt es über einen ausgleichenden Typus und einen dritten sowie vierten weniger bedeutsamen Typus. Traumatische Erfahrungen können das Ich schwächen, wenn seine Anpassungsleistungen nicht ausreichen, und hinter Abwehrmechanismen zurückdrängen (Stein, 2011, S. 23ff.). An der Auswirkung solcher Erfahrungen setzt die Theorie des posttraumatischen bzw. stressbezogenen Wachstums an, worauf in Kapitel 3.3 eingegangen wird. Das Ich als Mittelpunkt des Bewusstseins zeigt sich jedoch nicht mit all seinen Aspekten, sondern es hat auch eine „Kehrseite“ (Stein, 2011, S. 129), den von Jung so bezeichneten Schatten. Vergleichbar mit dem Es-Begriff von Freud befinden sich darin jene unterdrückten Anteile des Ich, die von diesem meist aufgrund sozial unerwünschter Eigenschaften abgelehnt werden. Entsprechend der Abwehrfunktion des Ich verändert sich die Zusammensetzung des Schattens. Hier ist der in der Alltagssprache so bezeichnete Egoismus, wenn nur das eigene (Macht-)Interesse zählt, anzusiedeln, mitunter das Böse. Doch ist es häufig weniger die schlechte Eigenschaft an sich, sondern die

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3 Persönliche Entwicklung

Angst vor einer solchen, denn: „Oft ist der Schatten, hat man ihm erst einmal ins Gesicht gesehen, gar nicht so schlimm, wie man ihn sich vorgestellt hat“ (Stein, 2011, S. 131). Selbst Köpp et al. weisen auf die Komplexität hin, den Selbst-Begriff zu definieren. Das Selbst sei primär mit seinen Funktionen sicht- und spürbar. Dazu gehören die Funktionen des Ich, die Wahrnehmung der belebten und unbelebten Umwelt sowie der „eigenen psychosozialen Existenz“ (Köpp et al., 2007, S. 274). Zu den weiteren Komponenten zählen das Wissen um eigene Ziele, Fertigkeiten und Fähigkeiten sowie das Vermögen, den Körper in seiner Gestalt und mit seinen Abläufen zu erleben. Das Selbst und dessen Wahrnehmung sind keine Konstanten, sondern verändern sich fortlaufend (Köpp et al., 2007), sowohl situationsabhängig als auch im Lebenslauf (Mößle & Loepthien, 2014). Es zeichnet sich demnach einerseits durch inhaltliche Aspekte, wie Merkmale und Fähigkeiten, andererseits durch Prozesse, wie Wahrnehmung und Regulation des Erlebens, aus (Leipold & Greve, 2015). Die Beschreibung von Köpp et al. ist eine sehr umfassende, während andere Autoren und Autorinnen beispielsweise die Ich-Funktionen nicht inkludieren. So sieht Hartmann das Selbst laut Mentzos nur als innerpsychische Repräsentanz und nicht als Struktur im Sinne eines Systems mit selbstwertregulierender Funktion (Mentzos, 2010, S. 41). Mit den unbewussten seelischen Prozessen, die das Selbstwertgefühl, die narzisstische Homöostase, aufrechterhalten, befasste sich Heinz Kohut in seiner Selbstpsychologie als einer Richtung der Psychoanalyse (Kohut, 1981; Kutter & Müller, 2008, S. 46). Für Allport wiederum ist das Selbst der zentrale Teil der Persönlichkeit (Asendorpf, 2014e), während es nach Jung den psychischen Bereich transzendiert. Jung lokalisiert das Selbst somit außerhalb der Psyche, von wo es jedoch auf diese einwirkt und die einzelnen Elemente als „unsichtbarer Wirkfaktor“ (Stein, 2011, S. 199) zusammenhält. Darüber hinaus beeinflusst das Selbst die physische und geistige Ebene des Menschen und ist ebenso fortlaufend im Wandel. Es ist für Jung die höchste Instanz der Individuation, der Ganzwerdung eines Menschen (s. Kapitel 3.2.3), und schließt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein (Kast, 2009, S. 20), ohne dass die Grenzen bestimmt werden können. Ganzheit ist bei Jung ein äquivalenter Begriff zum Selbst und wäre dessen vollkommene Bewusstwerdung, die allerdings unerreichbar ist. Somit ist das Selbst für Jung eine viel umfassendere Instanz als das Ich, es wird jedoch mit der Entwicklung des Ich nur mehr in Ausschnitten sichtbar, während andere ins Unbewusste gelangen. Seine Auffassung ist eine der weitesten und unterscheidet sich damit von anderen, da für ihn das Selbst zusätzlich zum Subjekt auch dessen Beziehungen zum Umfeld und letztlich zur Welt umfasst (Stein, 2011, S. 181ff.). Vom Selbst als „Kern der Persönlichkeit“ (Maaz, 2017, S. 20) spricht auch der Psychiater und Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz. Er differenziert zwischen Selbst und Ich, wenngleich für ihn beide Instanzen zusammenwirken. Das Selbst beschreibt er als angeborene „Grundmatrix“ (Maaz, 2017, S.18), die sich über seelische Prozesse hinaus auch aus einem „unbestimmten Existenzerleben“ (Maaz, 2017, S. 18) zusammensetze. Diese grundlegende Eigenschaft drücken Kutter und Müller noch mit anderen Worten

3.1 Begriffsdifferenzierung Identität ‒ Ich ‒ Selbst ‒ Person

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aus: „Das Selbst ist der primäre Organisator des Menschen, gekennzeichnet durch ein bestimmtes Gefühl von sich selbst, das Gefühl, bei sich zu sein, sich selbst zu suchen, aus sich heraus zu leben, mit sich im Einklang zu sein“ (Kutter & Müller, 2008, S. 48). Für Maaz ist es „die zur Struktur ,geronnene‘ Persönlichkeit“ (Maaz, 2017, S. 19), die vom Umfeld förderlich oder hemmend beeinflusst wird und mit diesen Prägungen überdauert. Auch Maaz sieht das Ich als Vermittler zwischen den Gegebenheiten des Selbst und den äußeren Einwirkungen. Entsprechende Anpassungsleistungen und Veränderungen sind zwar einerseits erforderlich und hilfreich, andererseits aber in mehr oder weniger großem Ausmaß entfremdend von der ursprünglichen Struktur des Selbst. Die dadurch gehemmte Selbstentfaltung beschreibt Maaz folgendermaßen: „Das vom Ich getragene Ersatzleben findet auf der Bühne statt, die eigentliche SelbstNot meldet sich im Privaten, in den Träumen, im Ausgebrannt-Sein und den späteren Erkrankungen, wenn die Scheinwerfer erloschen und der Beifall verklungen sind“ (Maaz, 2017, S. 20). Neben ihrer mehr oder weniger starken Eingrenzung auf bestimmte Aspekte unterscheiden sich die Definitionen des Selbst auch darin, ob dieses einerseits als Objekt betrachtet wird und damit Einstellungen und Empfindungen sich selbst gegenüber umfasst oder andererseits als Gesamtheit von psychischen Prozessen zur Verhaltenssteuerung gilt (Mößle & Loepthien, 2014). Letzteres stellt eine stärkere Subjektorientierung dar. Erstgenannter Aspekt zeigt sich im Hinblick auf den Begriff Selbstbewusstsein: Sich des Selbst bewusst zu sein, bedarf einer zumindest temporären Objektivierung. Das erkennende Subjekt stellte auch James, auf den der Begriff Selbst in der Psychologie zurückgeführt wird, als I (Ich) dem erkannten Objekt me (mich) gegenüber (Oerter & Dreher, 1998, S. 347). Diese Unterscheidung ist im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit vor allem in Bezug auf die Frage von Relevanz, auf welche Weise das Bewusstwerden bzw. Bewusstsein um das Selbst, die Objektperspektive, im Laufe der Überwindung einer Essstörung zum Leben des eigenen Selbst, im Sinne eines vermehrten subjektiven Erlebens der Gesamtheit des Selbst, beitragen kann. Die Differenzierung zwischen Subjekt- und Objektperspektive wird sich in der Darstellung der Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung als wichtig erweisen und im Kapitel 6.2 näher erläutert. Selbst: Begriffserweiterungen Im Hinblick auf das Selbst gibt es verschiedene zusammengesetzte Begriffe, die an dieser Stelle kurz erläutert werden. Von Bedeutung ist die Unterscheidung zwischen RealSelbst bzw. Aktual-Selbst und Ideal-Selbst. Während ersteres das aktuelle und gewordene Selbst bezeichnet, ist das Ideal-Selbst von verinnerlichten Normen und Wünschen geprägt. Der soziale Aspekt im Sinne von Erwartungen und Verpflichtungen ist noch mehr im Soll-Selbst enthalten. Selbstdiskrepanz besteht bei eingeschränkter bis fehlender Übereinstimmung zwischen Real-Selbst einerseits sowie Ideal- und/oder SollSelbst andererseits. Eine solche Diskrepanz, die durch höhere Selbstfokussierung vermehrt wahrgenommen wird, kann zur Veränderungsmotivation anregen und/oder mit unangenehmen Emotionen einhergehen, mitunter bis zur Depression führen. Außer-

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dem beeinflussen Eigenschaften der Person das Ausmaß der wahrgenommenen Differenz. In Zusammenhang mit diesen beiden Aspekten wiederum, mit den Eigenschaften der Person und ihrer Wahrnehmung, steht ihr Bestreben, die genannte Differenz möglichst gering zu halten, also das subjektiv erlebte Real-Selbst dem Ideal- bzw. Soll-Selbst anzunähern, um ihr Selbstwertgefühl zu regulieren (Herner & Bierhoff, 2014a, 2014b). Das zukünftig zu erreichende mögliche Selbst gilt als wichtige motivationale Grundlage für die Veränderung des Real-Selbst (Mößle & Loepthien, 2014). Es handelt sich dabei um mehrere bereichsspezifische und sich zeitlich verändernde mögliche Selbste. Dabei soll eine Balance zwischen der Annäherung an positive und einer Vermeidung von negativen Ausprägungen gefunden werden. Für eine solche Selbstregulation sind umsetzbare Ziele und Handlungsweisen erforderlich (Gawrilow, Oettingen & Sevincer, 2014). Die „nach Idealen hungernden Persönlichkeiten“ (Mentzos, 2010, S. 202) projizieren ihre Ideale auch auf andere, die dann das Ideal-Selbst darstellen. Dies ist etwa bei Bindungsunsicherheit und Bindungsangst der Fall (Herner & Bierhoff, 2014a). Die dadurch erlangte Stabilität kann jedoch nur vorübergehend gehalten und der zugrundeliegende strukturelle Mangel, der durch die Störung der Selbstentwicklung bedingt ist, nicht behoben werden (Mentzos, 2010, S. 202). Unter Selbstkonzept oder Selbstbild wird „das Gesamtsystem der Überzeugungen bzw. kognitiven […] und affektiven […] Einstellungen […] zur eigenen Person“ (Rakoczy, 2014) verstanden. Eine Komponente ist somit die Selbstbewertung, die besonders in Leistungsbereichen sichtbar wird, aber auch andere Bereiche, wie körperliche Merkmale und persönliche Beziehungen, betrifft. Dieses selbstbezogene Wissen baut bei Kindern zunächst noch ausschließlich auf physischen Merkmalen, wie Größe, auf, allmählich auch auf psychischen und bereichsspezifischen Aspekten. Aus zunächst noch groben Kategorien entsteht ein übergeordnetes mehrdimensionales Selbstkonzept (Mößle & Loepthien, 2014). Dafür ist auch das diachrone Selbstkonzept von Relevanz, das heißt, dass das Selbst nicht nur zum aktuellen Zeitpunkt (synchrones Selbstkonzept), sondern als überdauernd wahrgenommen wird (Rakoczy, 2014). Die Stabilisierung des Selbstkonzepts im Laufe der Entwicklung wird damit erklärt, dass neue Informationen im Sinne des bereits vorhandenen Selbstwissens interpretiert werden. Eine solche Stabilisierung kann jedoch bei Menschen mit Essstörungen auch in problematischer Form erfolgen. Oft suchen sie, sich selbst als zu dick fühlend, nach Hinweisen, z. B. im Spiegel, auf noch überzählige Kilos, obwohl sie von außen betrachtet ohnehin bereits stark untergewichtig sind. Trotz der offensichtlichen Abweichung von der Einschätzung der anderen nehmen sie vordergründig Informationen auf, die ihr (Körper-) Selbstbild bestätigen. Das Selbstkonzept ist somit die Sicht auf sich selbst, die jedoch durch jene der anderen und deren Verhalten beeinflusst wird. Ebenso wirksam sind die perzipierten Fremdbilder, das sind Überzeugungen bezüglich der Sichtweisen anderer Menschen auf die eigene Person. Je nach Ausprägung, können diese das Selbstkonzept positiv oder negativ färben (Hannover & Greve, 2012). Nach Leipold und Greve bildet das Selbstbild die Basis für Identität, die jedoch mehr als die Vorstellungen von sich selbst, nämlich das diesbezügliche Empfinden, beinhaltet: inwieweit Personen in der Lage sind, ihre Merkmale anzunehmen und diese als zu sich selbst gehörig zu erleben. So kann die Körperfigur zufriedenstellend oder Anlass für Modifikationsversuche sein (Leipold & Greve, 2015).

3.1 Begriffsdifferenzierung Identität ‒ Ich ‒ Selbst ‒ Person

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Der Begriff Selbstsicherheit wird häufig in der Kognitiven Verhaltenstherapie angewandt und bezeichnet die Fähigkeit einer Person, sich in bestimmten Situationen ohne Angst flexibel zu verhalten. Diese flexible Abstimmung bezieht sich auf die Situation, auf eigene Bedürfnisse sowie auf jene anderer Menschen (Zimmer, 2014). Selbstvertrauen ist ein ähnlicher Begriff und wird als Gefühl verstanden, insbesondere mit schwierigen Situationen umgehen zu können (Bergius, 2014a). Hierfür spielt außerdem das Selbstwertgefühl eine wichtige Rolle: Sich selbst als wertvoll anstatt als minderwertig zu sehen und zu erleben, trägt zu einem Handeln mit Selbstsicherheit und Selbstvertrauen bei. Die Grundlage dafür bilden wiederum Erfahrungen von Wertschätzung und Achtung durch andere (Bergius, 2014b). Menschen, deren Selbstwert stark von der Erfüllung der Vorgaben in relevanten Bereichen beeinflusst wird, weisen eine hohe Selbstwertkontingenz auf. So können hohe Leistungsziele zwar motivierend wirken, aber auch, vor allem bei Nichterreichen, durch die Selbstwertgefährdung zu Erkrankungen führen (Schöne, 2014). Eine stärker ausgeprägte Selbstwertkontingenz ist für Menschen mit Essstörungen anzunehmen, ebenso ein Zusammenhang zwischen negativen Bewertungen anderer und Leistungsstreben im Sinne einer Selbstwertregulation (Tandler, 2014). Durch abwertende Bemerkungen zum Aussehen, das für die Betroffenen im Vorfeld der Essstörung meist selbstwertrelevant ist, wird der Fokus zum Schutz des Selbstwertes auf eine andere Domäne, vor allem den Leistungsbereich, gerichtet. Regulierend wirken außerdem externale Attributionen, die jedoch bei Menschen mit Essstörungen weniger im Vordergrund stehen dürften, da sich bei ihnen vielmehr ein instabiler Selbstwert zeigt (s. Kapitel 2.3.2). Die Bedeutung des Körpers in Selbst- bzw. Identitätsdefinitionen In den Erläuterungen zu Selbst und Identität wird der Körper häufig nicht explizit erwähnt, mit Ausnahme der Verwendung bestimmter Begriffe. So wird unter Körperbild die körperbezogene Sichtweise auf das Selbst verstanden, wobei auch dieses wie das Selbstbild frühe (körperliche) Beziehungserfahrungen beinhaltet. Im Unterschied zu anderen Autoren und Autorinnen reduzieren Küchenhoff und Agarwalla das Körperbild jedoch nicht auf die kognitive und sprachliche Komponente. Stattdessen sehen sie das Körperbild als „eine integrative psychische Struktur, die sich inhaltlich wandelt, aber in jeder Entwicklungsperiode die Aufgabe hat, die Erfahrungsebenen körperlicher Reifung, körperlicher Interaktion und emotionaler Zustände zu integrieren und mit Fantasien, Wünschen und Gedanken zu verbinden“ (Küchenhoff & Agarwalla, 2013, S. 8f.). Dementsprechend ist es „eine dynamische psychische Struktur, die die Teilaspekte des Körpererlebens immer neu zu einer Struktur des Erlebens verdichtet. Das Körperbild hat diese Funktion nicht nur auf der Stufe der sprachlichen und kognitiven Entwicklung, sondern auf jeder Stufe“ (Küchenhoff & Agarwalla, 2013, S. 8). Das Körperschema umfasst die Wahrnehmung und das Wissen, während das Körpererleben für Küchenhoff und Agarwalla „den umfassendsten Ausdruck für all das, was sich unter dem subjektiven Zugang zum eigenen Körper verstehen lässt“ (Küchenhoff & Agarwalla, 2013, S. 8), darstellt.

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Auch den Selbst-Begriff sieht Küchenhoff umfassender, indem er vom verkörperten Selbst spricht und dieses in einen Zusammenhang mit Intersubjektivität setzt. Er versteht den Leib ‒ das ist der belebte, lebendige Körper (Gugutzer, 2002, S. 124) ‒ wie den Geist als „Erkenntnisorgan“ (Küchenhoff, 2016, S. 125). Beide gehören zum Selbst, doch sind das leibliche und reflektierende Selbst nicht ident. Außerdem entsteht das leibliche Selbst nicht für sich, sondern aus der frühen, sogenannten zwischenleiblichen Interaktion mit Bezugspersonen. Die Zwischenleiblichkeit ist als leibliche Verbundenheit von Menschen zu verstehen, bei der Kommunikation nicht nur durch das Wort, sondern auch nonverbal stattfindet. Aufgrund dieser Gegebenheiten spricht er von zwei Spannungsfeldern: jenem zwischen dem Leibsein und der reflexiven Komponente bzw. Mentalisierung sowie jenem zwischen der Zwischenleiblichkeit und der Mentalisierung. Es gehe nun darum, sich in diesen Feldern bewegen, aber auch anhalten zu können. Diese von Küchenhoff so bezeichnete Oszillation soll möglich sein, ohne dabei an einem Pol zu verharren oder gerade nicht an einem der Pole bleiben zu können. Somit beschreibt er ein Pendeln zwischen Erleben und Reflektieren, indem sich der Schwerpunkt entweder mehr auf der leiblichen bzw. zwischenleiblichen oder auf der geistigen Ebene befindet (Küchenhoff, 2016). Wie Küchenhoff den Körper bzw. den Leib in sein Verständnis von Selbst integriert, betont Gugutzer (2002) die Bedeutung des Leibes für die Identität. Der Körper ist für ihn nicht bloß Mittel zur Identitätsformung, sondern er stellt die verschiedenen, von ihm beschriebenen Leib-Körper-Dimensionen auf eine Ebene mit der entsprechenden Identitäts- bzw. Selbst-Dimension. Für insgesamt vier Ebenen definiert er folgende Leib-Körper-Dimensionen personaler Identität (Gugutzer, 2002, S. 195ff.): 1) kognitivevaluative Ebene: Körperbild ‒ Selbstbild; 2) leiblich-affektive Ebene: leiblich-körperliche Grenzerfahrung ‒ Selbsterfahrung; 3) normativ-praktische Ebene: Leib-KörperKontrolle ‒ Selbstkontrolle und 4) narrativ-praktische Ebene: Körperbiografie ‒ Selbstbiografie. Zu Punkt 1) erläutert Gugutzer, dass das Selbstbild auch das Körperbild umfasst. Dies zeigt sich an der Beschreibung der eigenen Person, die unter anderem physische Merkmale beinhaltet. Erwachsene können zwar zur Selbstbeschreibung im Gegensatz zu jüngeren Kindern Aspekte darüber hinaus heranziehen, die Bedeutung des Körpers werde jedoch besonders an der Präsenz von Diäten und Fitnesstrends deutlich. Das Erreichen eines Körperideals ist dabei in unterschiedlichem Ausmaß identitätsstiftend. Vor allem, wenn das Ideal als realisierbares Ziel gilt, kann das Scheitern, das mit dem Versuch, es zu erreichen, notwendigerweise einhergeht, das Selbstbild beeinträchtigen. Als Beispiel hierfür sind Menschen mit Essstörungen anzuführen, bei denen laut Gugutzer außerdem die an und für sich vorhandene „positive Korrelation“ (Gugutzer, 2002, S. 270) zwischen Körper- und Selbstbild nicht bestehe. Als Grund für seine Annahme gibt er die Trennung zwischen Körper und Selbst an. Jedoch ist anzumerken, dass der Körper, wenngleich dieser instrumentalisiert wird und dem dominanten Geist gegenübersteht, gerade dadurch von großer Bedeutung für das Selbstbild der Betroffenen ist. So verleiht ihnen erfolgreiche Körperkontrolle in Form der Gewichtsabnahme ein Gefühl von Stärke und zumindest vorübergehend ein positiveres Selbstbild. Die Abweichung ist bei den Betroffenen vielmehr in der Schwerpunktverlagerung vom Leibsein zum Körperhaben zu sehen, indem sie ihren Körper nicht leben, sondern haben

3.1 Begriffsdifferenzierung Identität ‒ Ich ‒ Selbst ‒ Person

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(Gugutzer, 2002, S. 125). Mit den oben genannten Begriffen von Küchenhoff ausgedrückt, steht das reflektierende bzw. mentalisierende Selbst gegenüber dem verkörperten Selbst im Vordergrund. Auch in Bezug auf die Grenzerfahrung (Punkt 2) lässt sich eine Verbindung zu Küchenhoffs Ausführungen finden, indem diese die Bewusstwerdung der Zweiheit von einerseits verkörpertem bzw. leiblichem und andererseits mentalisierendem Selbst bewirkt. Gugutzer beschreibt hier, dass körperliche Grenzerfahrung gleichzeitig eine Erfahrung des Selbst ist. Es handelt sich dabei primär um erlebte Einschränkungen durch körperliche Belastungsgrenzen. Dementsprechend erfordert insbesondere eine überdauernde Begrenzung, beispielsweise nach einem Unfall, eine Anpassung des Selbstbildes. Kann der bisherigen beruflichen Tätigkeit, wenn diese einen hohen Stellenwert im Leben der Betroffenen einnimmt, aufgrund der aktuellen körperlichen Verfassung nicht mehr nachgegangen werden, ist der Selbstwert gefährdet (Gugutzer, 2002, S. 270f.). In der Essstörung erleben die Betroffenen sowohl im Hungern als auch im Wechsel zwischen Leere und Fülle beim Erbrechen massive Grenzerfahrungen. An die körperlichen Grenzen zu gehen, ist demnach eine Erfahrung des Selbst, wenn dieses anders nicht spürbar ist. Ebenso setzt Gugutzer die Kontrolle des Körpers mit Selbstkontrolle gleich (Punkt 3). Dies zeigt sich nicht nur in der Essstörung, sondern in alltäglichen Körperpraktiken. Mit regelmäßigem körperlichem Training wird nicht nur der Körper geformt, sondern auch das Selbst konstruiert (Gugutzer, 2002, S. 134). Dementsprechend wird von Selbstdisziplin gesprochen, die bei Menschen mit Anorexie besonders deutlich und zudem positiv verstärkt wird: Häufig erhalten sie für ihr Durchhaltevermögen bei der Gewichtsabnahme zunächst Bewunderung von der Umgebung. Außerdem führt Gugutzer die Bedeutung der Körperkontrolle in der Interaktion an. Diese dient nicht nur der Vermeidung oder dem Erreichen sozialer Konsequenzen (z. B. Anerkennung statt Ablehnung), sondern es wird den anderen ein gewisses Bild des Selbst, nicht nur des Körpers, gezeigt: welche (Körper-)Haltung wird gegenüber anderen eingenommen; besteht Blickkontakt als Ausdruck der Selbstsicherheit etc. Es handelt sich hierbei um die oben genannte Zwischenleiblichkeit (Küchenhoff, 2016). Körperkontrolle sieht Gugutzer außerdem als Möglichkeit, Sicherheit zu gewinnen, „da es subjektiv gesehen nichts Wirklicheres (weil Unmittelbareres) als den eigenen Körper gibt. Der Körper als Bezugspunkt von Erfahrungen und Handlungen ist in besonderer Weise dazu geeignet, Sicherheit zu konkretisieren“ (Gugutzer, 2002, S. 134). Diese Aussage unterstreicht die Thematisierung der unsicheren Identität als Beitrag zu Essstörungen (s. Kapitel 2.3.2 und Kapitel 7.1.1). Gleichzeitig trägt die Instrumentalisierung des Körpers jedoch zur Entzweiung des verkörperten Selbst nach Küchenhoff (2016) und damit zur erneuten Verunsicherung bzw. Instabilität bei (Gugutzer, 2002, S. 135). Nichtsdestotrotz ist die Körperkontrolle im Rahmen der Essstörung ein, zumindest bei Anorexie, unübersehbares Zeichen der zwischenleiblichen Kommunikation. Schließlich sieht Gugutzer eine Verwobenheit von Körper- und Selbstbiografie (Punkt 4). Eine Erzählung über sich selbst umfasst auch die Geschichte des Körpers. Der Zusammenhang wird im Beispiel des vorhin genannten Unfalls mit körperlich dauerhafter Einschränkung und dementsprechenden beruflichen Konsequenzen deutlich: Dieses (körperliche) Erlebnis gibt der Selbstbiografie eine Struktur, indem es auf kognitiver

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und affektiver Ebene einen Umgang mit der neuen Situation zu finden sowie die Körperpraxis anzupassen gilt. Jedoch kann eine solche Integration auch misslingen. Doch nicht nur den Körper als Teil der Lebensgeschichte zu sehen und zu erzählen, sondern die Narration auch zu empfinden, ist hier gemeint. Dieses Empfinden erfolgt auf körperlicher Ebene, Gugutzer spricht auch von einer „spürbaren Stützung“ (Gugutzer, 2002, S. 129) der narrativ konstruierten biografischen Identität. Dieser Zusammenhang besteht umgekehrt im Versprachlichen des Spürens, indem „die spürende Gewissheit einer sprachlichen Stützung“ (Gugutzer, 2002, S. 131) bedürfe. Wie in der Narration sind Körper- und Selbstbiografie auch in der Lebenspraxis verschränkt. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass der Körper ein Selbstgestaltungmedium, etwa mittels Tätowierung und Piercing, darstellt. Hierin wird die Bedeutung des Körpers als Teil der Biografie jenseits einer bloßen biologischen Grundlage für das Selbst deutlich, jedoch nicht nur an der Oberfläche. Vielmehr sind Erfahrungen und Fertigkeiten im Körpergedächtnis gespeichert (s. Kapitel 2.1), wodurch der Körper „Aufbewahrungsort der eigenen Lebensgeschichte“ (Gugutzer, 2002, S. 129) und dementsprechend Ort der Identität ist (Gugutzer, 2002, S. 268ff.). Im Hinblick auf Menschen mit Essstörungen ist die Körperbiografie von zwei Seiten zu beleuchten: Einerseits wird ihr Körper vom Umfeld in Form von mitunter abwertenden Bemerkungen im Vorfeld und von Kommentaren auch während der Erkrankung betont; andererseits erfolgt dies von Seiten der Betroffenen durch die kontrollierenden Maßnahmen. In beiden Fällen prägt diese Körperbiografie die Selbstbiografie, wobei sich die Betroffenen im letztgenannten Fall zumindest (temporär) als selbstgestaltend erleben können. Jedoch fehlt die Verbindung im Sinne eines „Mit-sich-selber-eins-Seins“ (Alsaker, Loepthien & Mößle, 2014, S. 760), denn „erst die spürbare Gewissheit, dieses oder jenes zu sein, zu wollen, zu können oder zu mögen, ist […] Ausdruck dafür, wirklich mit sich selbst identisch zu sein“ (Gugutzer, 2002, S. 131). Person und Persönlichkeit Wie bei Asendorpf und Gadenne nachzulesen ist, wurde der Begriff Person über die Jahrhunderte hinweg auf unterschiedliche Weise verwendet. Heute gibt es unter anderem im Bereich der Ethik Diskussionen darüber, welcher Bewusstseinszustand die Grenze zwischen Person und Nicht-Person markiert. Neben Bewusstsein sind außerdem Merkmale wie Vernunft, Willensfreiheit, Verantwortung, Wertorientierung und Interaktion mit der Umwelt zu nennen. Auch wenn sich dieser Begriff vom lateinischen Wort persona ableitet, trifft diese Bedeutung hier nicht zu (Asendorpf & Gadenne, 2014). Damit wurde im römischen Theater die Maske, also etwas an der Oberfläche Gelegenes, bezeichnet. Demgegenüber beschreiben die oben genannten Merkmale das Reichhaltige und Tiefgehende der Person. Der Begriff Persona findet besonders in der Analytischen Psychologie nach C. G. Jung Verwendung und bezeichnet jene Seite eines Menschen, die durch den Einfluss der Umwelt entstanden ist. Jung verstehe darunter, so Stein, „die Person, wie sie sich darstellt, nicht wie sie wirklich ist“ (Stein, 2011, S. 135). Anders als der Schatten des Ich, der im Verborgenen bleibt bzw. bleiben soll, darf die Persona in den Vordergrund treten, da sie den Normen entspricht. Es handelt sich somit um ein Gegensatz-Paar, weshalb Stein den Schatten auch als „Gegen-

3.1 Begriffsdifferenzierung Identität ‒ Ich ‒ Selbst ‒ Person

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Persona“ (Stein, 2011, S. 133) bezeichnet. Es ist die sichtbare Seite der Person ähnlich einem „eng anliegenden Überzug“ (Stein, 2011, S. 138), wenngleich diese wie der Schatten nicht dem Ich angehört. Diese Maske verbirgt Teilaspekte der Person, ihre Gedanken und Gefühle bzw. trägt zu deren Unsichtbarkeit bei. Wie im Hinblick auf den Schatten kann das Ich auch die Persona nicht gänzlich kontrollieren und sich dieser nur mehr oder weniger annähern, mit mehr oder weniger Bewusstheit der Differenz. Eine enge Verbindung besteht beispielweise zwischen Persona und eigenem Namen. Deutlich wird hierbei, dass Jung den Ursprung der Persona nicht nur in den Erwartungen des Umfeldes sieht, sondern auch in der Bereitschaft der Person, eine bestimmte Rolle zu übernehmen (Stein, 2011, S. 134ff.). Unter Persönlichkeit als von der Person abgeleiteter Begriff versteht Allport nach Asendorpf „die dynamische Organisation derjenigen Systeme im Individuum, die sein charakteristisches Verhalten und Denken determinieren“ (Asendorpf, 2014e, S. 1254). In heutigen Theorien werden damit Merkmale beschrieben, die einerseits nach der psychischen Funktionalität (z. B. Intelligenz, Bewältigungsformen bzw. Coping), andererseits nach alltagsnahen Eigenschaften eingeordnet werden können. Letztere sind am besten als folgende fünf Hauptfaktoren oder Big Five bekannt: Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrung, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit. Anhand der Ausprägung dieser Persönlichkeitsdimensionen können verschiedene Persönlichkeitstypen beschrieben werden, die jedoch Verhaltenstendenzen nahelegen und nicht als starr voneinander abgegrenzt zu verstehen sind. Hier spielt die konkrete Situation eine wichtige Rolle, sodass Reaktionen der Person dementsprechend sehr unterschiedlich sein können (Asendorpf, 2014a). Dennoch lässt sich die Persönlichkeit mit einer relativ überdauernden Stabilität beschreiben. Im Vergleich zum Selbst, das mehr das Wissen und die Sicht der Person sowie die damit verbundenen Empfindungen umfasst, bezeichnet der Begriff Persönlichkeit somit ihre Eigenschaften und Verhaltensweisen (Hannover & Greve, 2012). Begriffswahl in der vorliegenden Arbeit Anhand der vorangegangenen Definitionen der Begriffe Identität, Ich, Selbst und Person werden deren Vielfalt und die mitunter unterschiedlichen Auffassungen deutlich. Gleichzeitig vermischen sich insbesondere die Bezeichnungen Identität und Selbst miteinander. Außerdem besteht wenig Einbezug des Körpers ‒ das Leib-Körper-fundierte Identitätsmodell von Gugutzer (2002) und das verkörperte Selbst von Küchenhoff (2016) sind wenige beispielhafte Ausnahmen. Aufgrund der unterschiedlichen Definitionen ist hier über die Verwendung der konkreten Begriffe hinaus deren Bedeutung innerhalb der Dissertation offenzulegen. Der Begriff Identität findet vor allem im zweiten Kapitel bei der Darstellung der Forschungsergebnisse zur Essstörung sowie im dritten Kapitel bei der Beschreibung der Identitätstheorien Verwendung, weil dabei die Formulierung der Autoren und Autorinnen übernommen wurde. Da das theoretische Verständnis des Selbst häufig umfassender ist als Konzepte der Identität, in denen beispielsweise auch von Teilidentitäten gesprochen wird (z. B. von persönlicher Identität und sozialer Identität bei Goffman, 1986), steht der Begriff Selbst in der vorliegenden Arbeit im Vordergrund. Vor allem

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richtet sich die Forschungsfrage auf die Selbstentfaltung bei Menschen mit Essstörungen. In dieser Bezeichnung bildet Selbst einen Teil des Begriffs. Das Selbst wird hier als wandelbarer Kern der Person aufgefasst, der Potentiale, Wünsche, Sehnsüchte enthält, die mehr oder weniger bewusst sind, mehr oder weniger gezeigt und gelebt werden. Der universale Aspekt des Selbst besteht darin, dass jeder Mensch aus einem solchen in einer ihm eigenen Form besteht und dieses Selbst durch förderliche Bedingungen entfalten kann – unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe oder anderen Zugehörigkeiten. Es ist kein starrer, sondern ein flexibler Kern, der sich im Laufe der persönlichen Entwicklung, unter anderem altersentsprechend und durch Interaktion mit dem Umfeld, in seiner Ausprägung verändert. Beständig bleibt hingegen das Potential an sich ‒ die Fähigkeit und damit die Möglichkeit zur Entfaltung. Auch der Begriff Person wird in der vorliegenden Arbeit bevorzugt angewendet. Die Person gilt hier nicht wie C. G. Jungs Persona als Darstellung nach außen, sondern als Mensch in seiner Gesamtheit: Körper, Seele, Geist und Verhalten zählen hier ebenso dazu wie die Beziehungen zu anderen, auch in einem religiösen bzw. spirituellen Sinn. Zur Betonung der Sicht auf all die genannten Aspekte wird in dieser Arbeit die Bezeichnung Gesprächspersonen bzw. Personen verwendet, während in anderen Studien häufig von Interviewten, Interviewpartnern bzw. Interviewpartnerinnen, in der experimentellen Forschung auch von Probanden bzw. Probandinnen die Rede ist. Wenngleich der Begriff Versuchsperson für Teilnehmende an Experimenten ebenso den Wortteil -person enthält, ist diese Wortbedeutung hier nicht beabsichtigt. Aufgrund der eben erläuterten Sichtweise wird in der Ergebnisdarstellung durch die Bevorzugung der Begriffe Selbst und Person einem umfassenden Verständnis Ausdruck verliehen. Manche Aspekte des Menschen werden immer im Verborgenen bleiben, vor anderen und vor sich selbst, sodass seine Konkretisierung und damit die Messbarkeit begrenzt bleiben. Dies mag eine Begrenzung für Messverfahren, nicht jedoch für die Entfaltung des einzelnen Menschen sein. 3.2 Theorien zur Selbst- bzw. Identitätsentwicklung Wie die Ausführungen zur Begriffsdifferenzierung im vorigen Kapitel verdeutlichen, gibt es Überschneidungen sowie unterschiedliche Auffassungen bei der Verwendung desselben Begriffs. Außerdem beeinflusst mitunter die Übersetzung aus der (meist) englischen Sprache die genaue Bezeichnung. Nachfolgend werden Theorien vorgestellt, in denen entweder von der Entwicklung der Identität oder des Selbst gesprochen wird. Jedoch werden grundlegende Annahmen über diese Differenzen hinweg geteilt, worauf der Titel des dritten Kapitels Persönliche Entwicklung hinweisen soll. Aufgrund des häufigen Beginns der Essstörung in der Jugendzeit liegt ein besonderes Augenmerk auf der Identitätsdefinition als Entwicklungsaufgabe in dieser Phase. Da hierfür auch die Entwicklung in den frühen Jahren von Relevanz ist, stehen Erläuterungen dazu am Beginn des Kapitels. Ausführungen zu Begriffen der Selbstentfaltung bilden entsprechend der Fragestellung der vorliegenden Arbeit einen weiteren Schwerpunkt und schließen das Kapitel ab.

3.2 Theorien zur Selbst- bzw. Identitätsentwicklung

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3.2.1 Frühe Jahre In der Objektbeziehungstheorie, die eine Weiterentwicklung der frühen Psychoanalyse nach Freud darstellt und unter anderem die nachfolgend beschriebenen Ansätze von Kohut und Winnicott umfasst, werden Einflüsse früher Beziehungserfahrungen für die Ausbildung des Selbst und seiner Funktionen betont. Darüber hinaus sind diese in der Bindungstheorie zentral. Nach Asendorpf habe sich jedoch eine Beeinflussung der Persönlichkeit durch frühe Erfahrungen in Längsschnittstudien nicht bestätigt (Asendorpf, 2014f; Köpp et al., 2007). Diese Unterschiede in den Auffassungen dürften mit den jeweiligen methodischen Zugängen zum Selbst bzw. zur Persönlichkeit in der Psychoanalyse und empirischen Psychologie zusammenhängen. Somit ist aufgrund der fehlenden Bestätigung in Studien nicht die Abwesenheit dieser Einflüsse, sondern lediglich deren limitierte Messbarkeit mit den verwendeten Methoden festzuhalten. Vom Größen-Selbst zum Ideal-Selbst Im Rahmen der Selbstpsychologie beschreibt Kohut die Entwicklung des Selbst in der frühen Kindheit und die Regulation des Selbstwertgefühls, der narzisstischen Homöostase. Diese ist durch sogenannte narzisstische Kränkungen, die jeder Mensch in mehr oder weniger großem Ausmaß erfährt, wie Enttäuschungen und eine fehlende narzisstische Befriedigung in Beziehungen, gefährdet. Das Vermögen, mit diesen Kränkungen umzugehen, steht in Zusammenhang mit den Selbstobjekten, den Bezugspersonen in der frühen Kindheit. Aufgrund des noch schwachen, nicht entwickelten Selbst bedarf es hier einer einfühlsamen und bestärkenden Interaktion, um die kindlichen narzisstischen Bedürfnisse zu erfüllen und die narzisstische Homöostase herzustellen. Dafür entwickelt das Kind zunächst Größenphantasien, indem es von den Bezugspersonen in seiner Größe bestätigt werden will. Kohut spricht hier vom Größen-Selbst. Dadurch kann das Kind das Gefühl seiner Abhängigkeit und Schwäche kompensieren. Während dieser Prozess für das Kind eine Grundlage für die Selbstentwicklung ist, stellt der Größenwahn beim Erwachsenen die pathologische Form dar. Im Alltag erfährt das Kind jedoch allmählich seine Begrenzung und idealisiert stattdessen seine Bezugspersonen. Die Aufwertung des Selbst erfolgt durch die Identifikation mit diesen idealisierten Objekten, indem es sich als Teil derselben erlebt. Bei Erwachsenen ist dies beispielsweise in mehr oder weniger übersteigerter Form als Bewunderung von Menschen mit Macht und Prestige der Fall. Diese unbewusste Suche nach Selbstobjekten dient der Stützung ihres instabilen Selbst. Im Rahmen einer positiven Entwicklung des Kindes schwächt sich dieses idealisierte Bild allmählich ab, und es entsteht das Ideal-Selbst. Anders als der Begriff nahelegt und es in Kapitel 3.1 im Hinblick auf zu erreichende Normen angesprochen wurde, ist dieses hier als realitätsnahe und reife Form von positiver Selbstachtung und Selbstvertrauen zu verstehen. Die Person hat Unabhängigkeit von (übermäßiger) Bestätigung durch andere und ein stabiles Selbstwertgefühl aufgrund der Verinnerlichung des guten Elternbildes entwickelt. Somit stehen die Bezugspersonen dem zunächst noch schwachen Selbst unterstützend zur Verfügung, bis es Stabilität in sich selbst erlangt hat (Kutter & Müller, 2008, S. 46ff.; Mentzos, 2010, S. 56ff.).

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Wahres und falsches Selbst Wie Kohut beschreibt Winnicott die Entwicklung des Selbst im Zusammenhang mit der Bezugsperson, die eine „fördernde Umwelt“ für die „Reifungsprozesse“ (Winnicott, 2006) des Kindes zur Verfügung stellen kann. Nachdem sich das Kind zunächst noch in der Verschmelzung mit der Bezugsperson erlebt, gelangt es schrittweise zur Unterscheidung zwischen Selbst und Nicht-Selbst. Ein Zwischenschritt erfolgt über das von Winnicott so bezeichnete Übergangsobjekt, das ein Stofftier oder ein anderes Objekt sein kann. Einerseits gilt es als Teil des Selbst, andererseits als getrenntes Objekt. Das Übergangsobjekt wird zwar als ein Gegenstand erkannt, jedoch auch selbst gestaltet, indem ihm das Kind je nach Bedarf bestimmte Merkmale zuschreibt. Es ist somit ein Bindeglied zwischen Selbst und Umfeld und füllt den intermediären Raum. Dieser Bereich „bleibt das Leben lang für außergewöhnliche Erfahrungen im Bereich der Kunst, der Religion, der Imagination und der schöpferischen wissenschaftlichen Arbeit erhalten“ (Winnicott, 1973, S. 25). Noch vorher, im Kindesalter, ist der Umgang mit dem Übergangsobjekt für das Spiel von Bedeutung, denn: „Gerade im Spielen und nur im Spielen kann [sic] das Kind und der Erwachsene sich kreativ entfalten und seine ganze Persönlichkeit einsetzen, und nur in der kreativen Entfaltung kann das Individuum sich selbst entdecken“ (Winnicott, 1973, S. 66). Durch den Halt der Bezugsperson und die Begleitung bei der Selbst-Objekt-Differenzierung, ohne diese zu forcieren, vermag das Kind, sein „wahres Selbst“ (Winnicott, 2006, S. 182) zu entwickeln (Kutter & Müller, 2008, S. 45f.). Nur dieses könne sich „real fühlen“ (Winnicott, 2006, S. 193), während „die Existenz eines falschen Selbst zu einem Gefühl des Unwirklichen oder einem Gefühl der Nichtigkeit“ (Winnicott, 2006, S. 193) führe. Das falsche Selbst entsteht als Reaktion auf die Forderungen der Umwelt und „verbirgt […] das wahre Selbst oder findet eine Möglichkeit, das wahre Selbst zum Beginnen eines Lebens zu befähigen“ (Winnicott, 2006, S. 193). Demnach kann das falsche Selbst auch nur vorübergehend präsent sein und dem wahren Selbst dazu verhelfen, allmählich zum Vorschein zu kommen. Zur Entwicklung des wahren Selbst bedarf es vor allem einer Beziehung mit „Hingabe“ der Bezugsperson, „so daß das Kind anfängt zu existieren und nicht zu reagieren“ (Winnicott, 2006, S. 193). Durch die Verinnerlichung der Interaktion mit der Bezugsperson erhält das Kind ein Bild von sich selbst, eine sogenannte Selbstrepräsentanz (Asendorpf, 2014f; Köpp et al., 2007). Repräsentanzen, die aus der Summe und Verdichtung von symbolisierten Erfahrungen entstehen, sind somit immer das Ergebnis der Interaktion von Säugling und Bezugsperson. Dabei werden Affekte durch die Bezugsperson gespiegelt, markiert und dementsprechend bereits modifiziert. Aufgrund dieser Modifikation, wie Gaedt mit Bezug zu Dornes (2000) hinweist, gebe es das wahre Selbst nach Winnicott nicht (Gaedt, 2002). Jedoch versteht Winnicott das wahre Selbst nur am Beginn des Lebens als primär und nicht-reaktiv gegenüber äußeren Reizen, während es sich durch die folgende Interaktion mit der Umwelt zunehmend differenziere. Somit sieht auch er das wahre Selbst nicht als getrennt von den Bezugspersonen, sondern betont gerade die „fördernde Umwelt“ (Winnicott, 2006). Daher, so Winnicott, beziehe sich das Konzept vom wahren Selbst auf ein frühes Entwicklungsstadium, während später, aufgrund der Beziehungserfahrungen, von einer „individuellen inneren Realität von Objekten“ (Winnicott, 2006, S. 194) zu sprechen sei. Zudem habe

3.2 Theorien zur Selbst- bzw. Identitätsentwicklung

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es „wenig Sinn, eine Idee vom wahren Selbst zu formulieren, es sei denn, um zu versuchen, das falsche Selbst zu verstehen, denn eine solche Formulierung tut nichts weiter, als die Details der Erfahrung des Lebendigseins zusammenzusammeln“ (Winnicott, 2006, S. 194). Den Begriff des wahren Selbst verwendet Winnicott somit insbesondere zur Abgrenzung vom falschen Selbst sowie zur Betonung der Lebendigkeit und Kreativität, wie sie einer Person eigen sind. Gleichzeitig erkennt er die Bedeutung der Wechselseitigkeit von Kind und Bezugsperson an. Die Unterscheidung Winnicotts zwischen wahrem und falschem Selbst wendet Ettl auch im Hinblick auf die Bulimie an. Aufgrund der mangelnden Befriedigung des wahren Selbst, beispielsweise durch fehlende oder emotionsarme familiäre Kommunikation, entstehe ein falsches Selbst, etwa in Form einer „Vorzeigetochter“ (Ettl, 2013, S. 141). „Das wahre Selbst, Zentrum der emotionalen Selbstidentifikation und des Selbsterlebens, kann nicht leben. Es wird zum dissoziierten Selbstanteil und zieht sich zurück“ (Ettl, 2013, S. 141). Dadurch kann es sich nicht entwickeln und nur im Essanfall schließlich unaufhaltsam sichtbar werden, denn „es darf ja nur hinter der Heimlichkeit verborgen, also in Abwesenheit anderer, zum Zuge kommen, in ,Schwarzarbeit‘ eben“ (Ettl, 2013, S. 143f.). Ettl spricht hier daher vom bulimischen wahren Selbst, das aus dem wahren Selbst durch Abspaltung und die damit einhergehende narzisstische Wut entstehe. Diese Wut lässt das wahre Selbst in der Impulsivität des Anfalls hinter dem falschen Selbst hervortreten. Allerdings ist dies nur ein kurzfristiger, wiederkehrender Wechsel zwischen zwei gegensätzlichen Selbstanteilen. Mit dieser Dissoziation bringt Ettl auch die Ablehnung des Körpers bei Menschen mit Essstörungen in Zusammenhang, da sich das wahre Selbst in den frühen Jahren und damit auf körperlicher Grundlage entwickelt (Ettl, 2013, S. 146). Vom auftauchenden zum narrativen Selbst Der Psychoanalytiker und Säuglingsforscher Daniel Stern bezeichnet die erste Stufe der Selbstentwicklung als auftauchendes Selbst. Dieses ist noch vage, wird jedoch in Form des Kernselbst zunehmend deutlicher. Auf der nächsten Stufe, dem subjektiven Selbst, hat das Kind bereits ein Gefühl von Subjektivität erlangt. Im folgenden Stadium des verbalen Selbst ist die Fähigkeit zur Symbolisierung des Selbstempfindens vorhanden, sodass sich Kinder nun mit Worten ausdrücken können. Dabei benützen sie zwar Worte, jedoch vermögen sie noch keine Geschichte zu erzählen. Letzteres ist erst durch die Entwicklung des narrativen Selbst ab dem dritten Lebensjahr möglich, indem die von Stern so bezeichnete nonverbale Tiefenstruktur mit der expliziten Oberflächenstruktur verbunden wird. Die Tiefenstruktur ist die Wahrnehmung der Interaktion und Ereignisse, die dann in der erzählten Geschichte, der Oberflächenstruktur, sichtbar wird. „Wörter sind der Pinsel, mit dem man Bilder in dem Kopf eines anderen malt“ (Stern, 1998, S. 7) ‒ es wird also vom Wort ausgehend ein Zusammenhang konstruiert, verbalisiert und als solcher erinnert. Die Konstruktion eines Narrativs sieht Stern immer als einen gemeinsamen Akt zwischen mindestens zwei Beteiligten (Stern, 1998). Die Intersubjektivität in Form der Interaktion mit der Bezugsperson spielt für Stern schon bei der Entwicklung des Selbstempfindens eine große Rolle. Entsprechend den oben genannten Stadien spricht er von auftauchender Bezogenheit, Kernbezogenheit,

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subjektiver und verbaler Bezogenheit. Die unbewussten und präverbalen Interaktionsmuster werden im Kind als sogenannte RIGs (Representations of Interactions that have been Generalized, generalisierte Interaktionsrepräsentanzen) und als Serien in Form von inneren Arbeitsmodellen gespeichert, die auch in späteren Jahren noch wirksam sind. Diese psychischen Repräsentanzen erweitern sich laufend um neue Lebenserfahrungen und bestehen somit ebenso auf Seiten der Bezugsperson (Kutter & Müller, 2008, S. 86ff.; Stern, 1992). Auf Basis solcher Interaktionsmuster bildet sich außerdem das Körperselbst aus. Diese Entwicklung beginnt mit dem von Damasio so bezeichneten Proto-Selbst, das erste neuronale Verbindungsmuster, die vom Körper selbst geprägt werden und nicht bewusst sind, umfasst. Durch Reizeinwirkung, somit auch durch die Interaktion mit Bezugspersonen, entstehen neue neuronale Muster, die er Kernselbst nennt. Dieses ist somit im kontinuierlichen Wandel und dementsprechend „die Repräsentation in einer Karte zweiter Ordnung vom Proto-Selbst im Zustand der Veränderung“ (Damasio, 2002, S. 212). Damasio spricht vom gefühlten Kernselbst, das als „Geflüster einer nachfolgenden sprachlichen Übersetzung“ (Damasio, 2002, S. 209) kurzzeitig bewusst werden kann. Diese Bewusstwerdung zeigt sich in Momenten des Erkennens und in Form eines Körpergefühls, das nicht nur durch den Reiz selbst, sondern auch durch die Vorstellungsbilder hervorgerufen werden kann. Nach Hüther bildet das gefühlte Selbst zusammen mit dem Proto-Selbst das Körperselbst, das aufgrund bereits gemachter Erfahrungen eine Art Referenzsystem für neue Reize darstellt. Durch das Aussenden von Körpersignalen, die Damasio somatische Marker nennt und die in der Situation oder bereits bei der Vorstellung eines zukünftigen Ereignisses auftreten, wird dementsprechend eine Handlung ausgeführt oder vermieden (Damasio, 1997, S. 237ff.; Hüther, 2006, S. 86). So kann zum Beispiel ein mulmiges Bauchgefühl ein Zeichen dafür sein, dass das momentane Umfeld für diese Person unpassend ist und sie daher neue Kontexte aufsuchen sollte. 3.2.2 Jugend Die Jugend umfasst den Entwicklungsabschnitt von der Pubertät bis zum Alter von circa zwanzig Jahren. Mit gleicher Bedeutung, jedoch mit Betonung der gesellschaftlichen sowie kulturellen Einflüsse und Bedingungen in diesem Alter, wird auch von Adoleszenz gesprochen. Der Begriff Pubertät wiederum bezeichnet die körperlichen Veränderungen in dieser Zeit (Silbereisen & Weichold, 2012, S. 236, S. 238). Erikson hat in seinem Phasenmodell der Identitätsentwicklung spezifische Herausforderungen für verschiedene Lebensabschnitte formuliert, durch deren Bewältigung spätere Persönlichkeitsstörungen vermieden werden können (Erikson, 1973, S. 150f.; Montada et al., 2012, S. 53). Er spricht hier von Krisen, die im Gegensatz zu kritischen Lebensereignissen (s. Kapitel 3.3.2) altersnormiert und somit bei mehr oder weniger allen Menschen in den jeweiligen Phasen auftreten (Alsaker, 2014a). Eine damit einhergehende Instabilität im Sinne einer Rollen- oder Identitätsdiffusion, die zeitlich und im Ausmaß begrenzt ist, sieht er als wichtig für die Bildung der Identität in der Jugendzeit an (Alsaker, 2014b). Auf ähnliche Weise werden in Theorien zum posttraumati-

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schen bzw. persönlichen Wachstum schwierige Erfahrungen als Beitrag zur Entwicklung und, beispielsweise durch eine plötzliche Lebensveränderung, zur Neuorientierung im Hinblick auf die Identitätsdefinition aufgefasst (s. Kapitel 3.3). Eine längere Dauer einer solchen Diffusion deutet jedoch auf eine ungelöste Identitätskrise hin. Eigene Einstellungen, Haltungen und Werte bleiben unklar, sodass die betroffenen Personen zur Suche nach Stabilität im Außen, etwa im Substanzkonsum oder in ideologischen Gruppen, tendieren. Die Exploration soll jedoch auch in Abstimmung mit den Verpflichtungen gegenüber dem Umfeld bzw. mit den Bindungen zu diesem vereinbar sein. Ein „existentielles Erlebnis des Mit-sich-selber-eins-Seins“ (Alsaker et al., 2014, S. 760) wird durch das gelungene Zusammenspiel von Körper und Seele eines Menschen mit seinem sozialen und kulturellen Umfeld bewirkt. Dieses Gefühl der Identität geht nach Erikson mit persönlichem Wohlbefinden einher (Alsaker et al., 2014; Erikson, 1973, S. 137f., S. 147f.; Montada et al., 2012). Mit Bezug zu Eriksons Modell beschreibt Marcia (1966) vier Identitätszustände von Jugendlichen in Abhängigkeit des Verhältnisses, in dem ihre kritische Auseinandersetzung mit Werten (Exploration, exploration) und ihre Anerkennung dieser Werte (Bindung, commitment) zueinander stehen. Zu den Identitätszuständen gehören: 1) übernommene Identität (foreclosure): Bindung ohne Exploration; 2) kritische Identität (moratorium): Exploration (noch) ohne Bindung; 3) diffuse Identität (diffusion): geringe Exploration bei geringer Bindung und 4) erarbeitete Identität (achievement): Bindung nach vorangegangener Exploration mit Bereitschaft für weitere Exploration. Letztgenannte ist nach der Bindungstheorie als sichere Bindung zu bezeichnen. Der Umgang mit Stresssituationen gelingt leichter, außerdem ist die Beeinflussbarkeit durch Autoritäten gering. Personen mit erarbeiteter Identität sind in ihren Wertvorstellungen gefestigt, während die übernommene Identität dem Verständnis von Anpassung einer Person an äußere Erwartungen in dieser Arbeit entspricht. Anstatt eigene Interessen zu finden und diesen zu folgen sowie das Umfeld entsprechend auszuwählen, werden Werte von anderen, etwa von den Eltern, zu den eigenen. Wenngleich die Ausrichtung nach Vorgaben und die geringe Exploration einer Person ihre Ängste und Unsicherheit verringern können, sind das Selbstwertgefühl und die Belastbarkeit gering. Eine kritische Identität zeigt sich in Ambivalenzen, sowohl in Form von Bindungsschwierigkeiten als auch in beruflicher Hinsicht. Diese Jugendlichen sind offen für neue Kontexte und Erfahrungen, gleichzeitig jedoch, aufgrund der geringen Bindungsstabilität, ängstlich. Auch Jugendliche mit diffuser Identität können sich in Beziehungen wenig öffnen, wobei sie gleichzeitig eingeschränktes Interesse, Unentschiedenheit, mitunter Aggression zeigen. In der Forschung gelten die kritische und vor allem die erarbeitete Identität als bevorzugte bzw. reifere Formen. Jedoch stellt sich das Erreichen einer erarbeiteten Identität in heutigen Zeiten trotz oder gerade wegen der vielen Gestaltungsmöglichkeiten mitunter als schwierig dar. Diese Möglichkeiten sind vielmehr eine Anforderung, die eigene Identität zu definieren, und können dadurch zur Verunsicherung führen. Dementsprechend sind bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen häufiger eine kritische oder diffuse Identität sowie eine übernommene Identität zu finden, da Anpassung Stabilität verspricht (Alsaker, 2014c, 2014d, 2014e; Marcia, 1966). Ähnlichkeiten zum Modell von Marcia zeigen sich in den von Berzonsky beschriebenen Identitätsstilen, wobei der Umgang mit und die Verarbeitung von identitätsrelevanten

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Informationen im Fokus stehen. Der informationsorientierte Identitätsstil ist Jugendlichen mit erarbeiteter oder kritischer Identität zuzuordnen, da sie entsprechend der Bezeichnung offen für identitätsrelevante Informationen sind sowie gewissenhaft und problemorientiert vorgehen. Ein normativer Identitätsstil zeichnet sich zwar auch durch Gewissenhaftigkeit aus, jedoch nehmen die Jugendlichen dabei keine neuen, vor allem keine zu den eigenen Werten differierenden Informationen auf. Diese Merkmale beschreibt Marcia als übernommene Identität, während der diffuse/vermeidende Identitätsstil bei Berzonsky der diffusen Identität entspricht (Alsaker, 2014g). Entwicklungsaufgaben Wie im vorigen Abschnitt dargestellt wurde, nehmen Erikson und Marcia in ihren Modellen altersphasenspezifische Entwicklungsherausforderungen an, deren Bewältigung mehr oder weniger gut gelingen kann. Hierfür führte Havighurst in seinem 1948 erstmals veröffentlichten Buch Developmental tasks and education den heute nach wie vor verbreiteten Begriff der Entwicklungsaufgabe ein (Havighurst, 1972; Montada et al., 2012; Reinders, 2002). Diese Aufgaben beschreibt er für folgende Entwicklungsperioden (Oerter, 1998, S. 124): frühe Kindheit (0‒2 Jahre); Kindheit (2‒4 Jahre); Schulübergang und frühes Schulalter (5‒7 Jahre); mittleres Schulalter (6‒12 Jahre); Adoleszenz (13‒17 Jahre); Jugend (18‒22 Jahre); frühes Erwachsenenalter (23‒30 Jahre); mittleres Erwachsenenalter (31‒50 Jahre) und spätes Erwachsenenalter (≥ 51 Jahre). Die spezifischen Entwicklungsaufgaben ergeben sich einerseits aus der Ontogenese und andererseits aus der Sozialisation. Zu differenzieren sind somit universelle Aufgaben, die mit der körperlichen Reifung einhergehen, von kulturabhängigen Aufgaben. Als Beispiel für letztere nennen Fleischer und Grebe (2014) die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und Indien, wodurch Kinder jeweils unter anderen Bedingungen aufwachsen und mit dementsprechenden Erwartungen konfrontiert werden. Außerdem sind die Entwicklungsaufgaben nicht strikt auf die einzelnen Lebensphasen beschränkt. Die Identitätsdefinition steht zwar in der Adoleszenz im Vordergrund, ist jedoch darüber hinaus von Relevanz. Allerdings verlagert sich der Schwerpunkt im Erwachsenenalter auf andere Bereiche wie Beruf und Familiengründung. Die Präsenz dieser Aufgabe im Jugendalter ist insbesondere auf die mit dieser Entwicklungsphase einhergehenden physischen und psychischen Veränderungen zurückzuführen, die es nun erlauben, bis dahin auf- und angenommene Identitätsaspekte für die weitere eigene Entwicklung zu behalten oder sich von diesen abzugrenzen (Alsaker, 2014f). Jugendliche können zunehmend auch die Frage nach dem Sinn von Erfahrungen, die bereits im Selbstkonzept integriert und/oder zu integrieren sind, stellen (Filipp & Ferring, 2002). Wie Erikson sieht Havighurst die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben als förderliche Bedingung für das Vermögen, nachfolgende Aufgaben ebenso zu bewältigen. Jedoch haben sich seit der Veröffentlichung seines Konzepts in den 1950er-Jahren gesellschaftliche Strukturen, wie die vermehrte Berufstätigkeit der Frauen, längere Ausbildungszeiten, und damit auch Entwicklungsaufgaben verändert. Zusammenhänge zwischen Aufgaben innerhalb einer Phase und zwischen jenen von aufeinanderfolgenden Phasen wurden laut Quenzel (2015) noch zu wenig untersucht. Außerdem handelt es sich hierbei nicht um einen vorgezeichneten Ablauf, denn das Individuum setzt sich

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auch eigene Ziele und kann normative Erwartungen für sich persönlich als weniger wichtig einstufen. Der Mensch wird somit als Gestalter seines Lebens und dieses nicht als schicksalhaft verstanden (Fleischer & Grebe, 2014). Für eine solche selbstbestimmte Lebensweise bedarf es gewisser personaler Ressourcen, wozu kognitive Fähigkeiten, Handlungskompetenzen zur Verfolgung von Zielen, Selbstwirksamkeitserwartung, emotionale Stabilität und das Aufsuchen hilfreicher sozialer Unterstützung zählen (Reinders, 2002). Im Hinblick auf die Entwicklungsaufgaben der Jugendzeit kritisiert Reinders, dass Normen überwiegend von (älteren) Erwachsenen festgesetzt werden und diese deren Erfüllen in einer ebenso klar definierten Zeitperiode erwarten: „Pointiert liesse [sic] sich sagen, dass Erwachsene den Kontext für die Zukunftsvorbereitung und Gleichaltrige das Setting für die Gegenwartsgestaltung darstellen“ (Reinders, 2002, S. 32). Er spricht sich für mehr Toleranz gegenüber der Varianz um einen Mittelwert aus, die aus dem Zusammenwirken von Ressourcen des Individuums und der Norm resultiert. Außerdem können die Vorstellungen inhaltlich differieren ‒ Reinders weist hier auf ein Ergebnis der Shell-Jugendstudie hin, in der Teilnehmende nicht das Finden ihrer Identität, sondern einer Arbeitsstelle als bedeutender angaben. Doch selbst festgelegte Normen sind aufgrund gesellschaftlicher Strukturen mitunter schwierig zu erreichen, wofür als Beispiel unsichere Arbeitsbedingungen für die erwartete berufliche Karriere zu nennen sind. Diese (eingeschränkten) Möglichkeiten wiederum wirken sich auf die eigene Definition von Entwicklungsaufgaben von Seiten der Jugendlichen aus. Ressourcen im näheren Umfeld, sowohl materiell, psychisch als auch sozial, können hier unterstützenden Einfluss haben, beispielsweise durch Vermittlung von Wissen über Bildungsmöglichkeiten (Quenzel, 2015; Reinders, 2002). Darüber hinaus sieht Reinders in der Forschung zu Entwicklungsaufgaben im Jugendalter keine ausreichende Verknüpfung zwischen Individuum und näherem Umfeld bzw. Gesellschaft. Er plädiert daher einerseits dafür, diese Aufgaben mehr aus der Perspektive von Jugendlichen zu definieren und andererseits, die spezifische Referenzgruppe für die verschiedenen Entwicklungsbereiche zu berücksichtigen. So sind in beruflichen Fragen besonders die Eltern, auch Lehrende, relevant für die Normsetzung. Im Hinblick auf die Ablösung vom Elternhaus hingegen haben vor allem Gleichaltrige eine handlungsleitende Funktion (Reinders, 2002). Unterschiedliche Erwartungen der jeweiligen Gruppen stellen die Jugendlichen wiederum vor die Herausforderung, sich ihrer Präferenz bewusst zu werden oder zu versuchen, diese Differenzen zu vereinen. Dadurch sowie durch die Entwicklungsaufgabe selbst können sich die Jugendlichen jedoch überfordert fühlen und als mögliche Folge oder von vornherein deren Erfüllung verweigern (Quenzel, 2015). Mediale Identitätsgestaltung Die Identitätsentwicklung ist somit nicht nur eine Aufgabe der Jugendzeit, sondern des gesamten Lebens, wenngleich mit Veränderung des Fokus und des Ausmaßes. Eine wichtige Prägung erfolgt durch das nahe, aber auch durch das weite soziale Umfeld. Während dies früher laut Schorb (2014) primär Familie, Schule bzw. Arbeit, Gleichalt-

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rige, Kirche und Politik waren, stehen für Jugendliche heute die Peers, die Gleichaltrigen, im Vordergrund, möglicherweise noch mehr als vor einigen Jahrzehnten. Die Veränderung gesellschaftlicher Strukturen, wodurch Institutionen wie Schule und Kirche als entwicklungsleitende Instanzen an Bedeutung verloren haben, lässt die Identitätsentwicklung zu einem kreativen Prozess werden. Dieser ist einerseits mit mehr Gestaltungsmöglichkeiten, andererseits jedoch mit Pflichten und Unsicherheiten verbunden. Wie Schorb (2014) schreibt, ist nun mehr von Teilidentitäten in verschiedenen Lebensbereichen die Rede: in der Schule bzw. Arbeit, in der Familie, im Freundeskreis. In dieser Hinsicht spielen soziale Medien, die in den letzten Jahren weite Verbreitung erfahren haben, eine große Rolle, da diese zur Offenheit der Identitätsgestaltung beitragen. Medien bieten einen Orientierungsraum für die Identitätsfindung und für das Probehandeln mit verschiedenen Formen eines virtuellen Selbst. Dieses Experimentierfeld sowie die spezifische, für Eltern bzw. Erwachsene teilweise unverständliche Sprache ermöglichen in der Phase der Loslösung vom Elternhaus eine entsprechende Abgrenzung. Die Entscheidung, wer am Austausch innerhalb eines medialen Netzwerkes teilhaben darf, verleiht den Jugendlichen zudem ein Gefühl von Stärke. Medien bieten jedoch nicht nur Orientierungs- und Gestaltungsmöglichkeiten, sondern bewirken mitunter Verunsicherung, gerade weil Jugendliche in ihrer Identität noch nicht gefestigt sind und sie daher eine große Anzahl an Möglichkeiten überfordern kann. Daher bedarf es neben der Gestaltungsfreiheit in der Identitätsentwicklung auch eines gewissen äußeren Halts, der jenseits des medialen Raumes, beispielsweise durch ritualisierte familiäre Abläufe, zur Verfügung gestellt werden kann (Schorb, 2014). Die Schwierigkeit besteht darin, dass ein kritischer Umgang mit Medien eine gewisse Selbstsicherheit erfordert, die aber in der Jugendzeit als Phase der Orientierung erst begrenzt vorhanden ist. Medien als Bühne für soziale Vergleiche können das Selbstwertgefühl beeinträchtigen und das Verfolgen präsentierter Ideale ins Zentrum der Identitätsentwicklung rücken lassen. Jedoch bieten solche Kommunikationsformen auch Unterstützung, beispielsweise bei Konflikten durch den Austausch mit anderen Personen, die von ähnlichen Erfahrungen berichten. Wie sich der mediale Einfluss auswirkt, hängt stark von der (familiären) Sozialisation ab: Besteht im Umfeld die Tendenz zur Übernahme (medialer) Vorgaben, werden Jugendliche eine ebensolche wahrscheinlicher zeigen (Schorb, 2014). Medien können zwar die Orientierungen von Kindern und Jugendlichen verändern, aber auch bisherige Erfahrungen beeinflussen die Interpretation neuer Informationen. Somit werden keine vorgefertigten Muster von den Medien introjiziert, sondern von den Rezipierenden angeeignet (Fleischer & Grebe, 2014). Metaphorisch und passend zur Essstörungsthematik ausgedrückt, geht es hier um das Vermögen, jene Nahrung auszuwählen, die für die eigene Identitätsentwicklung bekömmlich ist. 3.2.3 Begriffe der Selbstentfaltung Über die Kindheit und Jugendzeit hinaus dauert die Selbstentwicklung als „sukzessives, prozesshaftes Bewusstwerden und Verstehen des eigenen Selbst“ (Neumann, 2014, S. 1493) an, indem „eigene und fremde Anteile des Selbst“ (Neumann, 2014, S. 1494) erkannt und verändert werden. Voraussetzung dafür ist der Selbstzugang, um jene

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Denk-, Verhaltens- und Erlebensformen zu finden, die dem Selbst entsprechen oder zumindest näherstehen und zu Selbstkongruenz führen (Neumann, 2014; Quirin & Kuhl, 2014). Diese Fähigkeit entwickelt sich zunehmend im Jugend- und frühen Erwachsenenalter, wodurch Vorstellungen von einem möglichen zukünftigen Selbst und damit auch die Einflussnahme auf die Selbstentwicklung an Bedeutung gewinnen (Greve & Leipold, 2012). Für das Erlangen dieses Bewusstseins um das eigene Selbst, des Selbst-Bewusstseins, bedarf es gleichzeitig einer Betrachtung des Selbst als Objekt. So schreibt Suhr in seiner Einführung zu Jean-Paul Sartres Werk: „Das Selbst muss eine bestimmte Distanz zu sich selbst haben, um sich selbst anschauen zu können“ (Suhr, 2007, S. 129). Für diese Selbst-Anschauung wiederum ist der „Blick des Anderen“ (Sartre, 1991; zitiert nach Suhr, 2007, S. 145) erforderlich: „Der Blick hat das Eigentümliche, mich auf mich selbst als Objekt zu verweisen, er ist das Mittelglied zwischen mir als Subjekt und mir als Objekt“ (Suhr, 2007, S. 138f.). Mit den Begriffen von Jung ausgedrückt, trägt die Spiegelung durch andere zur Erforschung des Schattens bei, da die aufrechte Abwehrfunktion des Ich den Zugang zum Selbst erschwert (s. Kapitel 3.1). Insbesondere, wenn Verhaltensweisen von anderen Menschen Irritationen bei einer Person auslösen, kann dies ein Hinweis darauf sein, dass es sich dabei um Schattenaspekte dieser Person handelt, die sie auf die anderen projiziert. In einer derartigen Verlagerung von eigenen Anteilen nach außen liegt nun aber die Möglichkeit, sich mit diesen bewusst auseinanderzusetzen. Die meist unliebsamen Aspekte müssen dadurch kein Schattendasein mehr führen, sondern es kann ihre Integration in die eigene Geschichte erfolgen. Ansonsten besteht die Gefahr, den auf andere Menschen projizierten Schatten in den anderen zu bekämpfen, indem sie beispielsweise zu Sündenböcken gemacht werden. Jedoch bleibt dadurch der Schatten bzw. der „Fremde in uns“ (Gruen, 2002; Stein, 2011, S. 130ff.). Durch eine Auseinandersetzung mit sich selbst kann somit Selbsterkenntnis erlangt werden. Dieser Begriff ist vor allem auch in der Philosophie von großer Bedeutung. Selbsterkenntnis und der Weg zur Selbsterkenntnis ‒ ebenso als Selbstexploration oder Selbstentdeckung (May, 1990) zu bezeichnen ‒ sind wie das Selbst ein individuelles Phänomen. Zu einem sozialen Phänomen werden die Selbsterkenntnis und deren Erlangen durch die begleitende oder sogar dafür erforderliche Rückmeldung der anderen (Petermann & Asendorpf, 2014). Der Ausdruck Selbsttäuschung hingegen legt nahe, dass von einer Differenz zwischen dem Selbstbild eines Menschen und einem Referenzwert bzw. -bereich ausgegangen wird. Dieser Referenzbereich kann die Sicht von anderen bzw. eine gesellschaftliche Norm sein und soll, mitunter durch therapeutische Unterstützung, (wieder) erreicht werden. Hier ist allerdings zu beachten, dass eine identifizierte Abweichung mehr eine Vorstellung des Umfeldes, der dieser Mensch nicht entspricht, sein kann und weniger eine Entfernung vom Selbst ist. Mit den Begriffen von Winnicott würde in einem solchen Fall das eigene wahre Selbst von den anderen verkannt werden.

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Ähnliche Begriffe im Zusammenhang mit Selbstentfaltung In der Literatur finden sich verschiedene weitere Begriffe, die jenem der Selbstentfaltung ähnlich sind bzw. gewisse Aspekte der Selbstentfaltung bezeichnen und die in der vorliegenden Arbeit keine zentrale Rolle spielen, aber dennoch nicht ignoriert werden können. Daher erfolgt nun eine Darstellung in kurzer und vereinfachter Form. Im Rahmen der humanistischen Psychologie wurde in den 1950er-Jahren das Ziel verfolgt, nicht die Triebdynamik wie in der Psychoanalyse oder Lernprozesse wie in der Lerntheorie, sondern das Wachstumsvermögen des Menschen vermehrt in den Mittelpunkt zu stellen. Dieses beschrieb Maslow als Wachstumsbedürfnis in Form der Selbstverwirklichung entgegen den vier Mangelbedürfnissen, die er in seiner Bedürfnispyramide hierarchisch niedriger einstufte (Maslow, 1943, 1994). Diese Pyramide unterteilt er in folgende fünf Ebenen: 1) physiologische Bedürfnisse (physiological needs); 2) Sicherheit (safety needs); 3) soziale Zugehörigkeit (love needs); 4) Anerkennung und Wertschätzung (esteem needs) sowie 5) Selbstverwirklichung (need for self-actualization). Im Rahmen der Selbstverwirklichung erfolgt nicht die Beseitigung eines Mangels, sondern die Umsetzung eigener Potentiale in Form eines offenen Prozesses. Aufgrund dieser Offenheit und einer nie gänzlich zu erreichenden Befriedigung ist dieses Wachstumsbedürfnis nach Maslow über längere Dauer verhaltensleitend (Asendorpf, 2014d). Carl Rogers als ein weiterer wichtiger Vertreter der humanistischen Psychologie und Begründer der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie spricht von der Aktualisierungstendenz, die in anderen (motivationspsychologischen) Theorien als Motiv bezeichnet wird und eine Verhaltensgrundlage darstellt. Rogers geht davon aus, dass die Selbstaktualisierungstendenz „in jedem Einzelnen existiert und nur auf die richtigen Bedingungen wartet, um sich freizusetzen und sich auszudrücken“ (Rogers, 2009, S. 49). Diese Tendenz trägt zur Selbstverwirklichung bei, da sie die Person dazu bringt, Kontexte aufzusuchen, die positive Erfahrungen wie Selbstachtung und Wertschätzung von anderen begünstigen (Rogers, 1985, S. 270). Dadurch wird das Selbstkonzept oder Real-Selbst, also wie eine Person sich selbst sieht und erlebt, positiv geprägt (Asendorpf, 2014d). Maaz drückt dies so aus: „Eine gesunde Selbstentfaltung wird ermöglicht durch Selbst-Erkenntnis im Spiegel des Du, durch bestätigende Resonanz und abgrenzende Auseinandersetzung, um Identität und Andersartigkeit zu erleben“ (Maaz, 2017, S. 70). Nach Asendorpf (2014d) ist eine hohe Überstimmung zwischen Real-Selbst und Ideal-Selbst, dem gewünschten Selbst, für Rogers ein wichtiger Aspekt der psychischen Gesundheit. Der von Rogers so bezeichnete dissoziierte Mensch, „der sich bewußt von verinnerlichten statischen, starren Konstruktionen leiten läßt, unbewußt hingegen von der Aktualisierungstendenz“ (Rogers, 1985, S. 276), lebt in einer Entfremdung von sich selbst und trägt damit ein höheres Risiko für eine psychische Erkrankung in sich. Im Zusammenhang mit Selbstentfaltung ist auch der Begriff Selbstbestimmung zu nennen. Dieser kommt unter anderem in der Selbstbestimmungstheorie (Self-Determination Theory, SDT) von Deci und Ryan (2000), die motivationspsychologische und humanistische Aspekte beinhaltet, zur Anwendung. Im Vergleich zu humanistischen Theorien wird die Verhaltenssteuerung hierbei mehr auf kognitiver Ebene betrachtet. Für die Befriedigung von Bedürfnissen bedarf es eines zielgerichteten Verhaltens, das in

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mehr oder weniger großem Ausmaß an Selbstbestimmung ausgeführt wird. Eine Ausrichtung an eigenen Wünschen und Vorstellungen ist autonomieorientiert, an äußeren Vorgaben hingegen kontrollorientiert (Hagemeyer, 2014). Intrinsische Motivation bewirkt ein Verhalten aus eigenem Interesse und eigener Freude, wird jedoch durch äußere Beschränkung verringert. Extrinsisch, also durch äußere Anreize, motiviertes Handeln kann mit Wohlbefinden einhergehen, wenn es zumindest überwiegend selbstbestimmt erfolgt (Deci & Ryan, 2000; Schneider, 2014). Ausschlaggebend für das Verhalten ist auch, in welchem Ausmaß die Handlung bzw. das Ziel als zum Selbst gehörig erlebt wird und somit eine Internalisierung stattgefunden hat. Hierfür spielen wichtige Bezugspersonen eine große Rolle, unter anderem in Form des Modelllernens (Bandura, 1979): Welches Verhalten wird von den Bezugspersonen selbst gezeigt, erwartet bzw. wertgeschätzt? Ebenso wirken sich das Bedürfnis nach Zugehörigkeit einerseits und nach Autonomie andererseits auf den Internalisierungsprozess aus. Bei geringer Internalisierung ist ein Handeln eher extrinsisch motiviert und fremdbestimmt. Die Person kann dabei mehr inneren Druck spüren, als dass dieser im Außen sichtbar ist. Das Handeln erfolgt aus Angst oder Scham, es findet eine so genannte introjizierte Regulation statt (Deci & Ryan, 2000; Schneider, 2014). Eine solche Anpassung kann dem Bedürfnis nach sozialem Anschluss dienen. Im Fall der Vermeidung von negativen Folgen durch ein wenig selbstbestimmtes und äußerlich angestoßenes Handeln wird von ängstlicher Selbstmotivierung gesprochen (Baumann & Kuhl, 2014). Diese ist bei Menschen mit Essstörungen im Hinblick auf stationäre Therapiekonzepte zu sehen, wenn eine Gewichtszunahme dem Entgehen von ansonsten drohenden persönlichen Einschränkungen dienen soll. Die Übernahme von fremden Erwartungen und Zielen mit geringer intrinsischer Motivation wird laut Quirin, Kuhl und Lindemann auch als Selbstinfiltration bezeichnet. Im Rahmen der Identifikation und Integration werden diese Ziele jedoch als Teil des Selbst erlebt, sodass das Handeln mit hoher Motivation einhergeht (Quirin, Kuhl & Lindemann, 2014). Eine Selbstinfiltration ist bei emotional instabileren Personen mit stärkerer Lage- statt Handlungsorientierung häufiger. Bei Lageorientierung erfolgt eine Fokussierung auf das misslungene Ereignis und nicht auf die Möglichkeit alternativer Handlungsmuster (Quirin, Kuhl & Lindemann, 2014). Da bei Menschen mit Essstörungen die Tendenz zur Übernahme äußerer Forderungen, die schließlich zu einem Teil des Selbst werden können, und emotionale Instabilität zu beobachten sind (s. Kapitel 1, Kapitel 2.2 und Kapitel 2.3), ist bei ihnen der Vorgang einer Selbstinfiltration anzunehmen. Demgegenüber steht die Selbstwirksamkeitserwartung, die Bandura (1979) in seiner sozialkognitiven Theorie beschrieb. Darunter wird die Erwartung verstanden, eine Situation mit den eigenen Fähigkeiten bewältigen zu können und somit nicht umgekehrt von der Umwelt bestimmt zu werden. Eine höher ausgeprägte Selbstwirksamkeitserwartung trägt insbesondere im Hinblick auf große Herausforderungen im Leben zu geringerer Stressreaktion und zur Aufrechterhaltung bzw. zu rascherem Wiedererreichen des Wohlbefindens bei (Warner, 2014).

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Selbstentfaltung als Füllen des leeren Selbst Auf den sozialen Aspekt in Zusammenhang mit der Anpassung einerseits und der Selbstentfaltung bzw. dem Selbstsein andererseits geht Greco in ihren Ausführungen zur Alexithymie ein. Unter Alexithymie wird die Schwierigkeit des differenzierten nonverbalen und verbalen Gefühlsausdrucks verstanden, wobei sich diese unter anderem in der funktionalen Sprache und im rationalen Handeln zeigt. Zudem besteht die Tendenz zur Anpassung an Vorgaben und Normen, wie es auch auf Menschen mit Essstörungen zutrifft. Aufgrund dieser Parallele wird in diesem Abschnitt auf Grecos Überlegungen zum Aspekt der Anpassung bzw. Selbstentfaltung hingewiesen. Das Selbst beschreibt die Autorin mit Bezug auf Marty und De M'Uzan, die im Jahr 1963 zu den ersten Publizierenden über Alexithymie zählten, als einen leeren Behälter (Greco, 2000). Es ist nach dieser Vorstellung als leeres Selbst zu bezeichnen. Greco setzt die Beschreibung des Phänomens Alexithymie in einen Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Erwartung der Äußerung innerer Zustände. Dadurch konnte auch die Psychotherapie eine breitere Akzeptanz finden. Selbstentfaltung oder das Leben des „authentischen Selbst“ (Greco, 2000, S. 278) könne mitunter zur Pflicht oder gar zum Zwang werden, da das Agieren heute weniger auf Basis einer Rolle oder Funktion, beispielsweise als Eltern oder Lehrer, erfolgt, sondern aus eigener Überzeugung und eigenem Gefühl, also aus dem Selbst. Gleichzeitig kommt die Alexithymie durch die damit verbundene Anpassung den gesellschaftlichen Erwartungen entgegen. Die enge Bindung an Normen entleert jedoch das Selbst, während die Abweichung davon Fülle bedeutet: „Das Selbst erscheint als ein Behälter mit einer Fülle psychischer Inhalte, und es ist diese Form, die es als ein Selbst, als eine Individualität, definieren [sic]. Wenn der Behälter ,leer‘ ist, verschwindet die Differenz zwischen Selbst und Anderem“ (Greco, 2000, S. 271). Eine Angleichung ist außerdem in der Kommunikation von Menschen mit Alexithymie zu sehen: Deren emotionale Unnahbarkeit bewirke beim Gegenüber wiederum, sich „wie ein Gegenstand ohne Inneres behandelt“ (Greco, 2000, S. 270) zu fühlen. Dementsprechend geht Selbstentfaltung mit der „Freiheit als Möglichkeit zum Dissens“ (Greco, 2000, S. 265) einher, wodurch der Rückzug aus der sozialen Rolle auf das Selbst erfolgen kann. Die damit einhergehende Distanz habe gesundheitsfördernde Wirkung. Das unhinterfragte Annehmen von sozialen Normen hingegen macht diese zu den eigenen, womit Greco auf das von Winnicott (2006) beschriebene falsche Selbst hinweist. Es fehle dadurch der Spielraum für die Auseinandersetzung mit Normen, weil ein leeres Selbst keine „häusliche Basis“ (Greco, 2000, S. 273) und zu wenig Gegenhalt gegenüber sozialen Anforderungen biete. Dadurch wird der Mensch zum „Homo Vacuus“ (Greco, 2000, S. 278). Oerter und Dreher weisen bezüglich der Vorstellung eines intraindividuellen Vakuums auf die Existentialphilosophen Heidegger und Sartre hin, die darauf die Übernahme verschiedener Identitäten zurückführen (Oerter & Dreher, 1998). Frankl wiederum beschreibt in seiner Logotherapie das „existentielle Vakuum“ (Frankl, 1987, S. 31) und drückt damit die innere Leere als „Leiden am sinnlosen Leben“ (Frankl, 2013) aus.

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Individuation nach C. G. Jung Wie Bandura (1979) das Modell- oder Beobachtungslernen beschreibt, sind für C. G. Jung, zusätzlich zum Ich-Bewusstsein, die Verhaltensweisen im Umfeld prägend für die Persona, die äußere Darstellung der Person (s. Kapitel 3.1). Ebenso relevant ist das Ausmaß, in dem ein Mensch diese Prägungen annimmt, sich mit diesen identifiziert. Identifikation ist in der psychoanalytischen Theorie eine reifere Form der Internalisierung von Objektbeziehungen mit erfolgter Subjekt-Objekt-Differenzierung. Es bestehen weniger Ambivalenzen als auf niedrigeren Reifungsniveaus, dementsprechend gibt es eine geringere Tendenz zu Abwehrmechanismen (Mentzos, 2010, S. 44f.). Die Überidentifikation ist eine übermäßige Anpassung, während das Gegenteil eine Abwendung von der Umwelt und überwiegende Identifikation mit inneren Impulsen darstellt. Der Aufbau einer Persona gestaltet sich für extravertierte Menschen leichter als für introvertierte und ist ein lebenslanger Veränderungsprozess. Frühe Erfahrungen haben hier insofern einen Einfluss, da sie in die Persona „eingewoben“ (Stein, 2011, S. 145) sind und zunächst als Projektion über die folgende Introjektion zurückwirken können. Besonders an Entwicklungsübergängen in der Kindheit, Jugend und in verschiedenen Erwachsenenphasen kommt es zu größeren Wandlungen der Persona. Doch kann sich eine Persona so vertraut anfühlen, dass diese mit dem Menschen identisch zu sein scheint. Daher gestaltet sich deren Veränderung als schwierig, insbesondere dann, wenn die Persona einen Schutz vor erlebter Scham und Beschämung bietet. Die Scham steht in engem Zusammenhang mit dem Schatten des Ich, also den verdrängten Eigenschaften. In diesem Fall würde ein Blick hinter die Maske einen Gesichtsverlust bedeuten: Die Persona ist das Gesicht, das wir aufsetzen, um den anderen Gesichtern begegnen zu können, um wie sie zu sein und von ihnen gemocht zu werden. Wir möchten nicht zu sehr anders sein, denn die Stellen, an denen wir uns unterscheiden, da, wo die Persona endet und der Schatten beginnt, erfüllen uns mit Scham. (Stein, 2011, S. 148)

Eine gelungene Anpassung ermöglicht die Integration eigener Wünsche und die Aufrechterhaltung der Interaktion mit der Umwelt unter Berücksichtigung der Grenzen, die sich durch das Vereinen beider Aspekte ergeben (Petermann, 2014). Die Persona kann dadurch sowohl verbergen als auch das Innere zum Ausdruck bringen. Es ist die Verbindung zwischen dem Autonomie- und Abgrenzungsstreben des Ich einerseits und dessen Bedürfnis nach Zugehörigkeit, wozu die Persona verhilft, andererseits (Stein, 2011, S. 141, S. 145). Diese Themen, das Verbinden und Trennen, begleiten den Menschen nicht nur in den frühen Jahren, sondern im Laufe seines gesamten Lebens (Kast, 2009, S. 21). Die Integration von Schatten und Persona ist ein wichtiger Aspekt der von Jung so bezeichneten Individuation, der psychischen Entwicklung zu einer ganzen, einzigartigen Person: die „Gesamterfahrung der Ganzheit über ein ganzes Leben hinweg, das Auftauchen des Selbst in der psychischen Struktur und im Bewußtsein“ (Stein, 2011, S. 201). Wie in anderen Theorien ist Entwicklung somit auch für Jung ein lebenslanger Prozess, wenngleich in der ersten Lebenshälfte zunächst die Entwicklung des Ich und

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der Persona im Vordergrund stehen, um Aufgaben wie Familiengründung und Eingliederung in Kultur und Gesellschaft zu bewältigen. In der zweiten Lebenshälfte hingegen liegt der Schwerpunkt auf der Integration von bewussten und unbewussten Inhalten, von gelebtem und ungelebtem Leben ‒ das Selbst kommt mehr zum Vorschein. Vor allem in dieser Phase divergieren physische und psychische Entwicklung zunehmend, da vermehrt biologische Abbauprozesse stattfinden (Stein, 2011, S. 203ff.). Die Gegensätzlich- und damit Konflikthaftigkeit von Bewusstem und Unbewusstem, von Persona und Schatten, stellt eine potentielle Anregung für die Entwicklung in Form einer Individuationskrise dar. An der Auseinandersetzung mit Konflikten kann der Mensch die Krise überwinden und so über sich hinauswachsen, wodurch er wiederum in einem „neuen Verhältnis zur Welt“ (Stein, 2011, S. 150) steht. Verwirklicht wird diese Entfaltung des Selbst, also die Individuation, durch die Kompensation. Damit bezeichnet Jung Ausgleichsprozesse zwischen Bewusstem und Unbewusstem, die sich in Form von zufälligen Ereignissen, Vergessen, Versprechern etc. zeigen. Anders als die Entscheidung über das Bewusstsein kontrolliert das Ich den Prozess der Individuation nicht, ist jedoch im Fall der Bewusstwerdung seiner selbst ein Teil davon (Stein, 2011, S. 206f., S. 227). Merkmal der gelingenden Integration ist die überwiegende Akzeptanz, sowohl der Persona als auch des Schattens, vor allem der eigenen unliebsamen Aspekte. Es erfolgt ein Verbinden und kein „Hin- und Herschwanken zwischen den Gegensätzen“ (Stein, 2011, S. 150). Neben dieser Verbindung ist Individuation durch das Annehmen und Leben der Einzigartigkeit gleichzeitig mit Differenzierung verbunden (Kast, 2009, S. 17f.). Anstatt sich dem Unbewussten einerseits und den gesellschaftlichen Normen als Teil der Persona andererseits zu unterwerfen, gehe es darum, mit diesen Bereichen „bewußt in Beziehung zu treten“ (Kast, 2009, S. 20). Nicht nur diese Form von Beziehung, sondern auch jene zu anderen Menschen und überdies zur Welt ist ein wichtiger Aspekt des Individuationsprozesses ‒ demnach ist Individuation ein Werden des Selbst in Beziehung. Das Selbst bzw. die Ganzheit, die im Rahmen der Individuation erreicht wird, trägt der Mensch unbewusst in sich ‒ sie ist die „treibende Kraft“ (Stein, 2011, S. 207) für die Individuation. Aus diesem Grund meint Kast: „Da wir unbewußt wissen, wohin wir gehen, können wir im Grunde genommen auch hoffen“ (Kast, 2009, S. 20). Autogenese Im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Selbst- und Fremdbestimmung, insbesondere mit deren Auswirkungen, prägte Jüttemann den Begriff Autogenese. Er übersetzt den Begriff als „eigenverantwortliche Lebens- und Selbstgestaltung“ (Jüttemann, 2002, S. 289) und schlägt diesen als Alternative bzw. Erweiterung zum Biografiebegriff vor, um nicht nur die zeitliche Dimension der Vergangenheit, sondern die Selbstgestaltung des gegenwärtigen und zukünftigen Lebens zu betonen. Dementsprechend ist von retrospektiver, aktueller und vor allem prospektiver Autogenese zu sprechen. Letztere umfasse nicht nur konkrete Lebensplanungen, sondern auch die damit einhergehenden Emotionen und Gedanken, wie Wünsche, Hoffnungen, Erwartungen und Überzeugungen. Anders als der Begriff Ontogenese, der sich insbesondere auf die biologische Entwicklung des Individuums bezieht, berücksichtige der Begriff Autogenese mehr die

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Einzigartigkeit und Tiefe der Person und ihrer Geschichte (Jüttemann, 2002, S. 322ff., S. 333). Der Vorteil liege darin, dass Personen „als die Urheber(innen) jenes Geschehens in Betracht gezogen werden, über das sie autobiografisch lediglich rückblickend ‒ als Erzählende ‒ zu berichten haben“ (Jüttemann, 2002, S. 290). Jüttemanns ausführliche Definition lautet folgendermaßen: „Autogenese ist die sowohl ihrem Verlauf als auch ihrem Ergebnis nach in einer großen Vielfalt von intra- und interindividuell differierenden und prinzipiell divergent bewertbaren Formen in Erscheinung tretende eigenverantwortliche Lebens- und Selbstgestaltung des Menschen“ (Jüttemann, 2002, S. 294). Demnach ist die Persönlichkeit eines Menschen die „permanente Autogenese und deren individualhistorisches Produkt“ (Jüttemann, 2002, S. 295). Selbstgestaltung impliziert die bewusste Wahl, Planung und Durchführung von Handlungen im Sinne der eigenen Entwicklung, wofür zunächst die Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion erforderlich sind (Greve & Leipold, 2012). Doch ist die Selbstbestimmung und damit die Autogenese im kulturellen und historischen Kontext zu verstehen und dementsprechend in unterschiedlichem Ausmaß zu verwirklichen. So besteht für Frauen in manchen Kulturen keine Wahlmöglichkeit im Hinblick auf den Partner bzw. die Partnerin, und der Weg des Kindes ist in den frühen Jahren durch die Eltern vorgezeichnet. Politische Strukturen können ebenso mehr oder weniger gewährend oder einschränkend sein, so wie die Bedeutung, den eigenen Weg zu gehen, angesichts der größeren Entscheidungsmöglichkeiten in letzter Zeit gestiegen ist (Jüttemann, 2002, S. 301ff.). Dies zeigt sich beispielsweise in der größeren Richtungsvielfalt in Schulen, die einerseits eine größere Gestaltungsfreiheit bietet, andererseits aber auch vermehrt Entscheidungen verlangt. Wenngleich hier vor allem die Eltern gefordert sind, können Kinder zumindest ihrem Wunsch Ausdruck verleihen ‒ in der Hoffnung, dass die Wahl ihrer Eltern im Sinne ihrer Autogenese fallen möge. Fazit Wie die Ausführungen zur Selbstentfaltung verdeutlichen, handelt es sich dabei um ein Entwicklungsphänomen, das zahlreiche Aspekte umfasst. Wesentlich für die vorliegende Arbeit ist die Sichtweise, dass der Mensch das Potential in sich trägt, „das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist“ (Rogers, 2009, S. 164). Auf welche Weise sein Selbst ausgeprägt ist, in welcher Form es gelebt wird und wie dies gelingt, kann jeder Mensch nur für sich selbst finden. Vor allem das Konzept der Individuation von C. G. Jung und das Konzept der Selbstaktualisierungstendenz von Rogers stehen der Auffassung von Selbstentfaltung in der vorliegenden Arbeit sehr nahe. Neben den Fähigkeiten, die jede Person in sich trägt, sind die Bedingungen des Umfeldes von großer Bedeutung für die Möglichkeit, sich selbst zu entfalten. In einer Beziehung, in der einem Menschen Wertschätzung und Akzeptanz entgegengebracht wird, kann dieser „die Fähigkeit in sich selbst entdecken, diese Beziehung zu seiner Entfaltung zu nutzen, und Veränderung und persönliche Entwicklung finden statt“ (Rogers, 2009, S. 47). Merkmale der Selbstentfaltung und konkrete hilfreiche Bedingungen dafür, nicht nur in Beziehungen, sind zentrale Aspekte der Forschungsfrage und werden im Rahmen der Ergebnisdarstellung in den Kapiteln 7.2, 7.3 und 8.2 vertieft.

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3.3 Posttraumatisches Wachstum Ereignisse haben einen wesentlichen Einfluss auf die persönliche Entwicklung, sowohl auf förderliche als auch auf hemmende Art und Weise. An dieser Stelle ist das Konzept der kritischen Lebensereignisse zu nennen, die traumatisches Ausmaß annehmen können und daher im Rahmen des zweiten Unterkapitels erläutert werden. Außerdem fließen hier Ausführungen zu weiteren situativen sowie persönlichen und sozialen Aspekten, die zum posttraumatischen Wachstum beitragen, ein. Die Arbeit mit dem inneren Kind wird als Beispiel für einen traumatherapeutischen Ansatz vorgestellt. Doch zunächst stehen Merkmale und Erklärungen der Prozesse, die dem posttraumatischen Wachstum zugrunde liegen, im Mittelpunkt. Dabei zeigen sich Ähnlichkeiten mit anderen Ansätzen, die das Entwicklungspotential des Menschen thematisieren, allerdings unterscheiden sich diese mitunter in ihrem Fokus. Ein Überblick über solche Konzepte bildet den Abschluss des Kapitels und umfasst Ressourcenorientierung, Optimismus, Hardiness, Kohärenzgefühl, Resilienz und Weisheit. 3.3.1 Entwicklungsbereiche und -prozesse I knew I reached an emotional bottom that year ... but I began making a stable life again, as a more stable, independent person ... It was a period full of pain, experimentation, and growth, but in retrospect it was necessary for me to become anything like the woman I am today. (Pals & McAdams, 2004, S. 65)

Bereiche des posttraumatischen Wachstums Mit den eingangs zitierten Worten, die von Pals und McAdams wiedergegeben werden, beschreibt eine Frau im mittleren Erwachsenenalter das subjektive Erleben ihrer positiven psychischen Veränderungen nach einem erlittenen Trauma und weist damit auf das so bezeichnete posttraumatische Wachstum (posttraumatic growth, PTG) hin. Die Merkmale des PTG werden je nach Autoren bzw. Autorinnen in eine unterschiedliche Anzahl von Dimensionen eingeteilt, wenngleich mit großen Übereinstimmungen (Park, 2004). So beschreiben Schaefer und Moos in ihrem Modell laut Popa und Podea Veränderungen in drei großen, oft miteinander korrelierenden Bereichen: soziale Ressourcen (z. B. Vertiefung von Freundschaften), persönliche Ressourcen (positiveres Selbstkonzept) und Bewältigungsmöglichkeiten (Popa & Podea, 2013). Tedeschi und Calhoun wiederum definieren folgende fünf Kategorien: 1) höhere Wertschätzung gegenüber dem Leben sowie Veränderung von Werten und Prioritäten; 2) Intensivierung sozialer Beziehungen; 3) Erleben eigener Stärke; 4) Erkennen neuer Wege und Möglichkeiten im Leben und 5) Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen, unter anderem durch Zuwendung zu Spiritualität und Religion (Calhoun, Tedeschi, Cann & Hanks, 2010; Tedeschi & Calhoun, 2004). Diese Dimensionen sind in der Dissertation drei übergeordneten Bereichen zugeordnet, die auch von Joseph und Linley (2005) ähnlich formuliert und als wesentlich für Wachstum erachtet werden: Beziehung zu sich selbst (z. B. Erkennen eigener Stärken, Wünsche und Grenzen); Beziehungen zu anderen (z. B. Wertschätzung und Vertiefung von Freundschaften); Beziehung zum Leben

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(z. B. Vertrauen, Veränderung von Lebenswerten, Wahrnehmung von Sinn im eigenen Leben). Diese Bereiche wurden im Rahmen der Gesprächsauswertung im vorliegenden Forschungsprojekt vertieft und prägen dementsprechend den Aufbau der Ergebnisdarstellung im zweiten Teil dieser Arbeit. Kognitive und emotionale Prozesse Wie im obigen Zitat deutlich wird, erlebte die Betroffene eine Veränderung („the woman I am today“) und nicht das Wiedererreichen eines früheren Zustandes (Zoellner & Maercker, 2006). Im Gegensatz zu anderen Modellen (z. B. Park & Folkman, 1997) ist das PTG bei Tedeschi und Calhoun nicht als Bewältigungsstrategie, sondern als Entwicklungsprozess und gleichzeitig als indirektes Ergebnis zu verstehen ‒ indirekt deshalb, weil das Wachstum über kognitive und emotionale Prozesse vermittelt wird und nicht unmittelbar einem belastenden Ereignis folgt (Tedeschi & Calhoun, 2004). Insbesondere die emotionale Komponente der Offenheit gegenüber Erfahrungen ist mit PTG assoziiert, weniger der kognitive und der behaviorale Aspekt. Durch die Auseinandersetzung mit der Belastung anstatt der Vermeidung kann die traumatische Erfahrung integriert und dadurch ein besserer Umgang mit künftigen Herausforderungen möglich werden. Daher ist von einer Anleitung der Betroffenen zum sogenannten positiven Denken abzusehen, da dies lediglich einer Verdrängung der Belastung gleichkäme. Stattdessen dienen die zunächst noch wiederkehrenden und automatisch ablaufenden Gedanken insbesondere der Stressreduktion und Emotionsregulation. Indem diese allmählich eine konstruktive Form annehmen, begünstigen sie das Finden von neuen Zielen, Bewertungen und Sinnperspektiven (Zoellner & Maercker, 2006). Dabei wird der empfundene Schmerz nicht zwangsläufig reduziert oder eliminiert und ein höheres Wohlbefinden erreicht, wenngleich neue Perspektiven längerfristig zur Lebenszufriedenheit beitragen. Auch das Trauma selbst wird nicht als positiv bewertet ‒ sehr wohl aber die persönliche Veränderung, die daraus resultiert (Park & Helgeson, 2006; Tedeschi & Calhoun, 2004; Tedeschi & Kilmer, 2005). Neben Tedeschi und Calhoun sieht Janoff-Bulman das PTG ebenso nicht als bloße Form der erfolgreichen Bewältigung, sondern beschreibt drei Arten von psychischen Prozessen, die den Entwicklungen, wie Wertschätzung gegenüber dem Leben und vertiefte soziale Beziehungen, zugrunde liegen: 1) Erlangen persönlicher Stärke infolge des Leides (strength through suffering): Erkennen eigener vorhandener und gewonnener Ressourcen; 2) Neuorganisation der psychischen Struktur (psychological preparedness): veränderte Sicht auf die Welt und 3) existentielle Neubewertung (existential reevaluation): Veränderung der Prioritäten im Leben. Diese Prozesse können durchaus alle bei einer Person auftreten und ereignen sich insbesondere in zwei der eingangs beschriebenen Bereiche, nämlich in der Beziehung zu sich selbst und in der Beziehung zum Leben. Doch wirken sich die Veränderungen auch auf den dritten Bereich, auf die Beziehungen zu anderen, aus. Eine Gegenüberstellung mit den Dimensionen von Tedeschi und Calhoun sowie die eigenen Hinweise von Janoff-Bulman lassen erkennen, dass einige Gemeinsamkeiten zwischen den Modellen bestehen (Janoff-Bulman, 2004; Tedeschi & Calhoun, 2004).

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Speziell mit dem kognitiv-emotionalen Entwicklungsprozess im Rahmen des PTG setzen sich Joseph und Linley (2005) in der Organismic Valuing Theory auseinander. Mit der Theorie versuchen sie zu erklären, warum manche Betroffene an ihrem Leid wachsen, während andere daran zerbrechen. Diese Theorie fokussiert auf die Person im Hinblick auf Informationsverarbeitungsprozesse sowie sozial-kognitive Aspekte und bezieht die Forschung zur Selbstbestimmungstheorie ein (Joseph, 2012). Joseph und Linley gehen von einer intrinsischen Motivation des Menschen aus, seine Vorstellungswelt Schritt für Schritt an die traumabezogene Wahrnehmung anzupassen. Dadurch stellt sich, unter der Voraussetzung einer unterstützenden Umgebung, die gleichzeitig Autonomie und Verbundenheit gewährt, ein höheres Maß an psychischem Wohlbefinden ein, worunter die Autoren im Allgemeinen die persönliche Reife und Stärke verstehen. Wie bereits an obiger Stelle auf die Ausführungen von Park und Helgeson (2006) sowie Tedeschi und Kilmer (2005) hingewiesen wurde, betonen auch Joseph und Linley, dass im Zuge der Wachstumsprozesse nicht ein höheres subjektives Wohlbefinden im Sinne einer allgemeinen Zufriedenheit und emotionalen Ausgeglichenheit einhergehen muss. Als weitere zentrale Aspekte, die wesentlich für posttraumatisches bzw. persönliches Wachstum sind, umfasst die Organismic Valuing Theory folgende: die Aktualisierungs- oder Selbstverwirklichungstendenz, die auch von Maslow (1973) und Rogers (1984, 1985, 2009) beschrieben werden; die Notwendigkeit von Akkommodation statt Assimilation; die Verlagerung vom Verstehen zum Finden eines Sinnes in den Ereignissen. Mit Assimilation bezeichnen Joseph und Linley die Rückkehr zum prätraumatischen Zustand, indem die traumatische Erfahrung an das ursprüngliche Weltbild angepasst wird. Bei der Akkommodation hingegen kommt es im Hinblick auf die neue Situation zu einer Veränderung der Persönlichkeit, die sich entweder als Erkrankung, beispielsweise als Psychopathologie, auf der einen Seite oder aber als persönliches Wachstum auf der anderen Seite äußern kann (Joseph & Linley, 2005). Die beiden Entwicklungen ereignen sich möglicherweise auch gleichzeitig, aber werden erst nacheinander sichtbar. Eine Psychopathologie, die zunächst nach einem belastenden Ereignis auftritt, könnte wiederum eine Anregung für das persönliche Wachstum einer Person sein, das sich erst in weiterer Folge zeigt. Joseph und Linley halten jedenfalls fest, dass auch bei schwierigen Kindheitserfahrungen, die zu verschiedenen Problemen führen können, durch entsprechende Bedingungen, wie unterstützende soziale Beziehungen, eine positive persönliche Entwicklung möglich ist (Joseph & Linley, 2005). Jedenfalls, so Tedeschi und Calhoun, bedarf es für persönliches Wachstum einer intensiven kognitiven sowie emotionalen Auseinandersetzung mit dem auslösenden Reiz und dessen Folgen über einen gewissen Zeitraum. Persönlichkeitsentwicklung ist kein schicksalhaftes Ereignis, sondern ein gradueller und aktiver, wenn auch zum großen Teil unbewusster Prozess der Betroffenen (Tedeschi & Calhoun, 2004). Für den zeitlichen Verlauf zeigte sich in der Studie von Butler et al. ein direkter Zusammenhang von PTG und Symptomreduktion, doch können insbesondere in der Anfangsphase Symptomatik und PTG zeitgleich präsent sein. Außerdem erwies sich das PTG zu Beginn als wesentlicher Prädiktor für das Ausmaß an PTG zu einem späteren Zeitpunkt (Butler et al., 2005; Joseph, 2012; Kunst, 2010). Das PTG kann jedoch durch eine wiederholte

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oder neu auftretende Belastung verzögert oder unterbrochen werden (Harvey, Barnett & Overstreet, 2004). Wahrgenommenes oder reales Wachstum? Wie die positive Bewertung der Erkrankung kann auch die subjektive Wahrnehmung von persönlichem Wachstum als emotionale Bewältigungsstrategie und weniger als Indikator für das tatsächliche Vorhandensein desselben interpretiert werden (Antoni et al., 2001; Siegel, Schrimshaw & Pretter, 2005). Dafür spricht das Ergebnis von Gunty et al. (2011), die eine geringere Übereinstimmung zwischen aktuellem und wahrgenommenem PTG bei Personen mit höherem Gefühl von Belastung und geringerer Lebenszufriedenheit fanden. Mit der häufig eingesetzten Skala für die Erfassung des PTG, der Posttraumatic Growth Inventory (PTGI) von Tedeschi und Calhoun (1996), fragten Gunty et al. das wahrgenommene PTG als positive Veränderung im Hinblick auf das Trauma ab. Für das aktuelle PTG, das sie als Empfinden in den vergangenen zwei Wochen definierten, wurde diese Skala modifiziert. Neurotizismus und Selbstwertgefühl im Vorfeld des Traumas erklärten den Unterschied zwischen den beiden Formen von PTG nicht. Lediglich für Neurotizismus zeigte sich ein Interaktionseffekt, indem eine höhere Ausprägung mit einer geringeren Korrelation zwischen wahrgenommenem und aktuellem PTG einherging. Dass das wahrgenommene PTG in der nicht-traumatisierten Gruppe bei größerem Ausmaß an Belastung und niedrigerer Lebenszufriedenheit nicht signifikant vom aktuell berichteten PTG abwich, unterstreicht die Interpretation, das Empfinden eines persönlichen Wachstums als Möglichkeit der Traumabewältigung anzunehmen. Persönliche Veränderungen können somit als wesentlich positiver bewertet werden, als es die Aussagen über das aktuelle Befinden nahelegen (Gunty et al., 2011). Maercker und Zoellner beziehen sich in ihrem Januskopf-Modell vor allem auf kognitive Prozesse und unterscheiden dabei die konstruktiven, selbsttranszendierenden Kognitionen als die eine Seite des Januskopfes von den Illusionen bzw. der verzerrten Wahrnehmung auf der anderen Seite. Letztere sehen sie aber nicht von vornherein als maladaptiv, sondern nur wenn diese zusammen mit Vermeidungsstrategien auftreten, d. h. wenn die Betroffenen damit die Auseinandersetzung mit ihrem Leid abwehren (Maercker & Zoellner, 2004). Park und Helgeson nennen in ihrem Übersichtsartikel ein Kennzeichen, das ein objektiv beobachtbares Wachstum von einem rein subjektiv wahrgenommenen Wachstum unterscheidet: Während ersteres immer negative und positive Aspekte, also persönliche Kosten und Nutzen, umfasst, sei bei einer ausschließlichen Schilderung von Positivem ein Verdrängungsprozess zu vermuten (Park & Helgeson, 2006). Vereinnahmende, unkontrollierbare Gedanken über die anfängliche posttraumatische Phase hinaus sind ein weiterer Hinweis für eine mangelnde Verarbeitung der Belastung (Calhoun et al., 2010). Im Laufe einer erfolgreichen Bewältigung jedoch nehmen die konstruktiven Gedanken einen immer größeren Raum ein und überwiegen letztlich (Maercker & Zoellner, 2004). Außerdem kann sich selbst die bloße Vorstellung einer eigenen Weiterentwicklung, anstatt dass diese (bereits) stattgefun-

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den hat, förderlich auswirken. Daher werde eine solche gedankliche Unterstützung unter anderem in der Kognitiven Verhaltenstherapie als gezielte Intervention angewendet (Antoni et al., 2001; Siegel et al., 2005). 3.3.2 Beeinflussende und förderliche Aspekte Laut Siegel et al. (2005) liegt der Fokus in der Forschung überwiegend auf Veränderungsmerkmalen des persönlichen Wachstums und weniger auf beeinflussenden Variablen. Jene, die beschrieben werden, lassen sich nach ihrer Ansicht den vier Kategorien im Modell von Schaefer und Moos (1992) zuordnen: 1) Situationsbedingungen (z. B. Eintreten einer Erkrankung); 2) persönliche Merkmale (z. B. Extraversion, Kontrollwahrnehmung); 3) Kontextfaktoren (emotionale Unterstützung des Umfeldes) und 4) Bewertungs- und Bewältigungsprozesse, die in Zusammenhang mit der Emotionsregulation stehen (Siegel et al., 2005). Situation Eine mögliche Situationsbedingung für persönliches Wachstum ist die Diagnostizierung einer mitunter lebensbedrohlichen Erkrankung. Entgegen den Hypothesen einiger Forscher und Forscherinnen, dass eine schwerere Erkrankung mit mehr persönlichem Wachstum einhergehe, gibt es diesbezüglich sowie im Hinblick auf die Dauer und die Schmerzintensität, unterschiedliche Ergebnisse. So beschreiben Lechner, Carver, Antoni, Weaver und Phillips das höchste Ausmaß an persönlichem Wachstum bei Brustkrebspatientinnen im mittleren Stadium, im Vergleich mit jenen in einer frühen oder späten Phase (Lechner et al., 2006). Darin zeigt sich der kurvilineare Zusammenhang zwischen Belastungsausmaß und PTG: Am höchsten ist das PTG in einem mittleren Belastungsbereich, dessen Überschreiten dann die Anpassungsmöglichkeiten der Person übersteigt. Butler et al. beschreiben diese Grenze als Übergang vom Symptom zum Syndrom, da dabei die Beeinträchtigung größere Ausmaße annimmt (Butler et al., 2005). In ihrer Studie an Patientinnen mit AIDS (Acquired Immune Deficiency Syndrome) fanden Siegel et al. (2005) hingegen keinen Einfluss einer Situationsvariable: Das Krankheitsstadium, die Anzahl der Symptome und die Erkrankungsdauer waren hier nicht ausschlaggebend. Ein Grund für diese Differenz zur oben genannten Studie von Lechner et al. (2006) ist in den verschiedenen Diagnosen (AIDS vs. Brustkrebs) der in den Studien untersuchten Patientinnen zu sehen, da die Erkrankungen unterschiedliche Herausforderungen für die Betroffenen mit sich bringen. So gehen Siegel et al. davon aus, dass bei AIDS bereits die Diagnosestellung an sich eine große Erschütterung darstellt. Wenngleich dies auch bei Brustkrebs der Fall sein kann, geht mit einer AIDSErkrankung möglicherweise mehr Schamempfinden einher. Als einen weiteren Grund geben Siegel et al. die lange Dauer seit der Diagnosestellung bei den Frauen in ihrer Studie an, die im Durchschnitt sieben Jahre betrug. Damit stand bereits viel Zeit für persönliches Wachstum zur Verfügung, sodass sich dessen Ausmaß unter den Frauen angeglichen haben könnte. Somit ist festzuhalten, dass die Unterschiede in den Ergeb-

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nissen einerseits von der Art der Belastung, andererseits aber auch von den verwendeten Messverfahren und der Zusammensetzung der untersuchten Personengruppe abhängen (Park, 2004; Siegel et al., 2005). Wesentliche Aspekte der Situationsbedingung sind das Ausmaß an Erschütterung des eigenen Weltbildes durch ein Ereignis und insbesondere das Gelingen, dieses wieder bzw. neu aufzubauen. So bietet gerade die Verunsicherung in bestehenden Überzeugungen, etwa bei Unvorhersehbarkeit des eintretenden Ereignisses, die Möglichkeit, durch eine intensive Auseinandersetzung daran zu wachsen. Jedoch geht eine positive Entwicklung nicht nur mit belastenden Erfahrungen einher (Calhoun et al., 2010). Auf weitere Situationsaspekte, im Zusammenhang mit persönlichen Merkmalen, wird an späterer Stelle dieses Kapitels im Rahmen der kritischen Lebensereignisse eingegangen. Person Bezüglich der Rolle des Selbstwertgefühls und der Kontrollwahrnehmung als persönliche Merkmale gibt es laut Siegel et al. trotz der noch geringen Anzahl an entsprechenden empirischen Untersuchungen Hinweise für einen positiven Zusammenhang mit persönlichem Wachstum. Einen ebensolchen beobachteten Tedeschi und Calhoun bei extravertierten und für neue Erfahrungen offenen Menschen (Siegel et al., 2005; Tedeschi & Calhoun, 2004). Calhoun et al. weisen außerdem auf den Einfluss von Resilienz auf das PTG hin (s. Kapitel 3.3.3), wodurch tendenziell weniger Trauerbewältigung nach einem Verlusterlebnis erforderlich sein kann. Demnach erfahren Personen mit einem höheren Ausmaß an Resilienz eine geringere persönliche Veränderung durch dieses konkrete Ereignis (Calhoun et al., 2010). In Bezug auf die oben genannte vierte Kategorie im Modell von Schaefer und Moos, die Bewertungs- und Bewältigungsprozesse, vermuten Siegel et al. aufgrund ihrer eigenen Untersuchung und weiterer Forschung, dass die positive Bewertung der Erkrankung weniger unmittelbar das PTG fördert. Stattdessen gehen sie davon aus, dass eine positive Sicht eine Form der Emotionsregulation darstellt, um die Situation leichter ertragen zu können. Dies wurde bereits an obiger Stelle im Rahmen der Erläuterung kognitiver und emotionaler Prozesse sowie bei der Unterscheidung zwischen wahrgenommenem und aktuellem bzw. realem PTG deutlich. Im Hinblick auf den Einfluss der Stimmung kamen sie bei den HIV-Patientinnen im Gegensatz zu manchen anderen Studien zum Ergebnis, dass nur eine negative Färbung im Sinne einer Depression die persönliche Entwicklung hemmt. Jedoch zeigen sich umgekehrt keine positiven Auswirkungen auf die Person bei Abwesenheit einer Depression bzw. bei vorhandener positiver Stimmung. Diese Variable trug zusammen mit positiven Bewertungsstrategien und emotionaler Unterstützung am meisten zur Varianz bei. An dieser Stelle ist allerdings zu differenzieren, inwiefern depressive Menschen tatsächlich in ihrem persönlichen Wachstum eingeschränkt sind oder sie vielmehr entsprechende Veränderungen nicht erkennen. Außerdem könnte ein geringeres Ausmaß an Wachstum einer depressiven Stimmung vorausgehen, weshalb Siegel et al. Längsschnittuntersuchungen zur Vertiefung dieses Aspekts vorschlagen (Siegel et al., 2005).

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Sozialer Kontext Zum Einfluss von sozialen Ressourcen und Kontextfaktoren werden in den Studien unterschiedliche Ergebnisse berichtet, wozu unter anderem die zum Teil differierende methodische Vorgehensweise beitragen dürfte. So konnten Volgin und Bates keinen Zusammenhang zwischen emotionaler und instrumenteller sozialer Unterstützung sowie Bindungsstil einerseits und PTG andererseits finden. Dieses Ergebnis führen sie unter anderem auf den Untersuchungsaufbau sowie auf die Heterogenität der Teilnehmenden im Hinblick auf Persönlichkeitsmerkmale und die Art des erlebten Traumas zurück. Jedoch erhöhte eine mangelnde soziale Unterstützung die erlebte Belastung. Dies kommt insbesondere bei Personen mit vermeidendem Bindungsstil zur Geltung, da sie sich im Gegensatz zu jenen mit ängstlichem Bindungsstil nicht von sich aus an ihr Umfeld wenden (Volgin & Bates, 2016). In der Studie von Siegel et al. zeigt sich besonders die emotionale Unterstützung von nahestehenden Menschen als wesentliche Komponente für das persönliche Wachstum, wie es auch Tedeschi und Calhoun (2004) bestätigen. Die Möglichkeit, Emotionen, insbesondere Ängste, zu äußern, entlastet die Betroffenen, stärkt die Beziehungen zu nahestehenden Menschen und fördert die Sinnfindung, wobei zu letzterer auch die Hinwendung zu Religion und Spiritualität beiträgt (Siegel et al., 2005; Tedeschi & Calhoun, 2004). Pals und McAdams sehen im Erzählen der belastenden Erlebnisse einen wichtigen Beitrag zum PTG der Betroffenen, da die Erfahrungen dadurch zunächst kognitiv und emotional bewusst gemacht und infolge durchgearbeitet werden. Dabei sind kulturelle Unterschiede in der Art und Weise der Narration zu beobachten. In einem weiteren Schritt gilt es, ein positives Ende für die traumatische Geschichte zu finden, indem es gelingt, das Ereignis als wichtig für die eigene Entwicklung zu sehen und in die Lebensgeschichte zu integrieren (Pals & McAdams, 2004). All diese Veränderungen können sich laut Tedeschi und Calhoun jedoch nicht nur auf individueller, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene vollziehen. Eine Auseinandersetzung, beispielsweise mit einer politischen Krise, innerhalb der Gruppe und das Aussprechen der subjektiven Perspektive ermöglichen eine Integration in ein gemeinsames soziales Narrativ (Tedeschi & Calhoun, 2004). Kritische Lebensereignisse Anders als es die Bezeichnung vermuten lässt, muss dem PTG nicht immer ein Trauma im engeren Sinn vorausgegangen sein. Auch Lebenskrisen, wie sie für verschiedene Entwicklungsphasen charakteristisch sind, oder außergewöhnlich gute Erfahrungen können hierzu beitragen (Tedeschi & Calhoun, 2004). Aldwin und Levenson nennen außerdem nichttraumatische Verluste als Auslöser für persönliches Wachstum, etwa den Verlust der Rolle als Ehefrau oder Ehemann durch den Tod des Partners bzw. der Partnerin. Ebenso können laut Harvey et al. langsam voranschreitende Einschränkungen aufgrund einer Erkrankung ein solches Wachstum bewirken (Aldwin & Levenson, 2004; Harvey et al., 2004). Aufgrund dieses umfassenden Verständnisses von situativen Einflüssen über das Trauma im engeren Sinne hinaus, ist an dieser Stelle die Forschung zu kritischen Lebensereignissen anzuführen, die sehr wohl auch die Kriterien eines Traumas erfüllen

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können. Neben Situationsaspekten werden hierfür, wie beim PTG, Merkmale der Person sowie insbesondere deren Zusammenwirken als wesentlich erachtet. Ein kritisches Ereignis führt zu einer starken Veränderung im Leben und tritt, anders als Entwicklungsaufgaben, nicht normativ auf. Dies schließt aber nicht aus, dass auch normative Ereignisse, z. B. der Eintritt in den Beruf, ein kritisches Ausmaß erreichen können. Jedoch spielt hierfür die Vorhersehbarkeit eines Ereignisses eine wichtige Rolle, ebenso der Zeitpunkt in Bezug auf die Lebensphase. Eine starke Erschütterung stellt beispielsweise die unerwartete Diagnostizierung einer lebensbedrohenden Erkrankung im jungen Erwachsenenalter dar (Filipp & Ferring, 2002). Auf Seiten der Person ist von Bedeutung, inwiefern das Ereignis ihren Selbstwert bedroht und wichtigen Zielen entgegensteht. Besonders das Gefühl von Unkontrollierbarkeit trägt zum kritischen Potenzial bei, ebenso erlebte Angst, Trauer, Schuld oder Scham. Oft handelt es sich um Verlusterlebnisse: der Tod von Personen, Veränderung sozialer Beziehungen durch Ortswechsel, unerwartete Kündigung des Arbeitsplatzes. Besonders wenn die Person bzw., allgemein formuliert, das verlorene Objekt ein wichtiger Teil des Selbstkonzepts war, kann der Verlust eine große Belastung darstellen. Hier ist das Vermögen der Selbstregulation bedeutsam (Filipp & Ferring, 2002; Greve & Leipold, 2012). Nicht nur der Umgang, sondern auch die Wahrscheinlichkeit des Eintretens gewisser Ereignisse wird von persönlichen Eigenschaften beeinflusst. So weisen Filipp und Ferring auf Ergebnisse mehrerer Studien hin, wonach extravertierte Personen durch ihre offensiveren Verhaltensweisen eher von existentiellen Verlusten, beispielsweise des Arbeitsplatzes, betroffen sind. Doch können Merkmale der Person in beide Richtungen wirken: Beispielsweise ist ein hohes Selbstwertgefühl einerseits ein Schutzfaktor gegenüber Auswirkungen von kritischen Lebensereignissen, unter anderem aufgrund der positiveren Wahrnehmung, andererseits ein Risikofaktor aufgrund des vermehrten Risikoverhaltens. Ebenso verhält es sich mit erhöhter Selbstaufmerksamkeit, die mit einschneidenden Ereignissen einhergeht und das Routinehandeln unterbricht. Selbstaufmerksamkeit bewirkt einerseits eine vermehrte (Selbst-)Reflexion der Person und dient der Neuorientierung mit der Suche und Umsetzung von Handlungsalternativen. Das Selbstkonzept als selbstbezogenes Wissen kann dadurch verändert oder erst recht stabilisiert werden, wobei eine Anpassung besonders bei großen Einschnitten erforderlich ist: changing the self anstatt changing the world, wie es Rothbaum, Weisz und Snyder (1982) formulieren. Andererseits stellt die erhöhte Selbstaufmerksamkeit insbesondere bei negativen Ereignissen ‒ auch positive Ereignisse, beispielsweise die Heirat, beeinflussen das Selbstkonzept ‒ einen Vulnerabilitätsfaktor dar, da hier häufiger eine internale Attribution erfolgt. Als negativ wahrgenommene Veränderungen wirken sich zudem stärker, nämlich negativ, aus als positive Veränderungen. Hierzu beziehen sich Filipp und Ferring auf eine Untersuchung von Klauer, Ferring und Filipp (1998) an Menschen mit einer lebensbedrohenden Krebserkrankung: Die Hoffnungslosigkeit konnte vor allem durch die Leugnung der negativen Veränderungen und nicht durch erlebte positive Aspekte verringert werden (Filipp & Ferring, 2002). Dieses Ergebnis steht in Übereinstimmung mit oben genannter Untersuchung von Siegel et al. (2005), in der

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nur das Vorhandensein einer Depression einschränkende Auswirkungen, deren Abwesenheit jedoch keine positiven Effekte hatte. Neben Krisen haben auch freudvolle Ereignisse einen Einfluss auf die persönliche Entwicklung (Lehr, 1999). Solche positiven kritischen Lebensereignisse, beispielsweise Verliebtheit, erhöhen das Selbstwert- und Selbstwirksamkeitsgefühl. Ein positives Selbstkonzept sowie Selbstwirksamkeitserwartung wiederum sind Ressourcen für die Bewältigung von kritischen Lebensereignissen und gleichzeitig eine Form der Bewältigung, da mit einer positiven Selbstsicht das Selbstwertgefühl aufrechterhalten bzw. gestärkt werden kann. Die Auswirkung und der Umgang sind bei an und für sich erfreulichen Ereignissen, wie erwünschte Elternschaft, besonders auch vom Ausmaß der Differenz zwischen aktuellem Selbst einerseits und dem Ideal- sowie Soll-Selbst andererseits abhängig. Filipp und Ferring weisen hier auf eine Studie von Alexander und Higgins (1993) hin, in der eine diesbezüglich größere Differenz mit vermehrter Belastung im Rahmen der ersten Elternschaft einherging (Filipp & Ferring, 2002). Ereignisse und die damit verbundenen Veränderungen können somit in einem unterschiedlichen Ausmaß persönliches Wachstum anregen, zudem alleine oder mit sozialer Unterstützung bewältigt werden. Mitunter bedarf es jedoch einer Therapie bzw. erweist sich eine solche als förderliche Begleitung. Ein beispielhafter Ansatz wird im folgenden Abschnitt erläutert, da dieser zu den Erfahrungen der Gesprächspersonen in der vorliegenden Forschungsarbeit zählt. Therapeutischer Ansatz: Arbeit mit dem inneren Kind Wenngleich ein Trauma mit persönlichem Wachstum einhergehen kann, sind die Schwierigkeiten und Einschränkungen, insbesondere bei pathologischem Verlauf wie einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS oder Posttraumatic Stress Disorder, PTSD; DIMDI, 2018, F43.1) zu beachten (Joseph & Linley, 2005). Umgekehrt ist mangelndes oder fehlendes PTG nicht mit einer misslungenen Bewältigung eines Traumas gleichzusetzen. Stattdessen gilt es in der therapeutischen Arbeit, die Betroffenen in ihrer Art der Verarbeitung zu unterstützen und nicht eine bestimmte Entwicklungslinie vorzugeben (Zoellner & Maercker, 2006). Eine Möglichkeit der therapeutischen Herangehensweise ist die Arbeit mit dem inneren Kind, wodurch die Beziehung zu sich selbst, damit auch zum Umfeld, vertieft werden kann. Diese wird unter anderem in der Traumatherapie angewandt und daher an dieser Stelle beschrieben. Dahinter steht der Gedanke, die Entwicklung einer Person durch das Verbinden verschiedener eigener Anteile anzuregen, worauf der Ego StateAnsatz basiert. Dieser ist unter anderem ein Bestandteil der Transaktionsanalyse von Eric Berne und hat seine Wurzeln in der hypnoanalytischen Therapie von John und Helen Watkins (Peichl, 2007, S. 66). Nach Peichl verstehen sie das Ego bzw. Ich als „einen Zustand, der aus mehreren Ego-Zuständen besteht, die voneinander durch mehr oder weniger durchlässige Grenzen getrennt werden“ (Peichl, 2007, S. 80). Diese Zustände sind jedoch dynamisch und interagierend, wobei es verschiedene Ausmaße an Dysfunktion bis zur Pathologie geben kann. Hier ist insbesondere die Dissoziation nach traumatischen Erfahrungen zu nennen. In Abhängigkeit des Zeitpunktes des Gesche-

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hens und damit der Entwicklung sind (meist) kindliche Anteile mitunter „wie eingefroren“ (Reddemann, 2011, S. 166) und wachsen nicht gemeinsam mit anderen Teilen der Person. Aus Schutz vor Ohnmacht gegenüber der äußeren Überwältigung können Täterintrojekte bzw. traumatische, von Reddemann auch maligne genannte, Introjekte entstehen (Reddemann, 2011, S. 180f.). Erfahrungen, die Teil des Selbst sind, erscheinen weniger bedrohlich als ein „Fremdkörper im Selbst“ (Peichl, 2007, S. 224) durch die Spuren des Täters bzw. der Täterin (Reddemann, 2011, S. 180). Das Ziel der Ego State-Therapie besteht in der Integration der einzelnen Zustände, womit ein Zustand der Ausgewogenheit zwischen den Ego States durch harmonische Kommunikation und Kooperation untereinander gemeint ist (Peichl, 2007, S. 80). Um die Anteile einer Person entsprechend der verschiedenen Entwicklungsstufen und nicht das Getrennte zu betonen, spricht Reddemann bevorzugt vom kindlichen Anteil und nicht vom inneren Kind. Hinzu kommt der erwachsene Teil, somit lässt sich die innere Familie oder Selbstfamilie definieren. Die einzelnen Teile oder Zustände haben ihre spezifische Ausprägung und adaptive Funktion. Ein guter Dialog dieser inneren Familie und eine Zusammenarbeit ersetzen „innere Kämpfe“ (Reddemann, 2011, S. 167), wodurch sich die Person ganz und erfüllt anstatt leer fühlen kann (Chopich & Paul, 2009, S. 19). Auch durch die therapeutische Sicht, die sich über den kindlichen Anteil hinaus auf die anderen Teile, vor allem jenseits der Einschränkungen, richtet, wird diese Ganzheit vermittelt. Daher kommuniziert der Therapeut bzw. die Therapeutin sowohl mit dem kindlichen als auch mit dem erwachsenen Teil der Person, um schließlich ihren inneren Dialog zu ermöglichen (Reddemann, 2011, S. 165, S. 167f.). So können sich Wünsche und Bedürfnisse anstatt verinnerlichter Normen und Pflichten, mit Formulierungen wie „ich sollte“ oder „ich müsste“ (Chopich & Paul, 2009, S. 153), zeigen. Manchen Personen fällt es jedoch schwer, sich der Vorstellung eines inneren Kindes zu öffnen. Als Grund dafür nennen Chopich und Paul die zu geringe Wertschätzung des Kindes in einigen Kulturkreisen. Häufig werde kindliche Spontanität und Lebendigkeit als kindisch im Sinne von Unreife und Naivität verstanden und damit als nicht erstrebenswert angesehen. Die beiden Psychotherapeutinnen entwickelten die Therapieform des Inner Bonding, bei der es um die Verbindung zwischen dem von ihnen so bezeichneten inneren Kind und dem Erwachsenen gehe. Ersteres stehe für den emotionalen, sinnlichen, intuitiven Anteil, den sie als das Sein oder die innere Erfahrung dem erwachsenen rationalen Handeln als äußere Erfahrung gegenüberstellen. Im Fall der aufrechten Verbindung nimmt die erwachsene Person die Bedürfnisse des inneren Kindes wahr und geht auf diese ein. Dadurch, so Chopich und Paul, erlange die Person Stabilität, die sich darin zeigt, dass sie selbstbestimmt handelt und sich weniger von anderen kontrollieren lässt. Erst durch diese Verbindung sei Nähe in Beziehungen möglich. Eine Ausgeglichenheit des inneren Kindes wird durch liebevolle frühe Beziehungserfahrungen sowie durch die einfühlsame Kontaktaufnahme und Fürsorge der erwachsenen Person bewirkt. Eine Trennung vom inneren Kind erfolgt hingegen als Schutz vor erlebtem Schmerz. Die Ablehnung und Einsamkeit des inneren Kindes zeigt sich in der Projektion von Gefühlen auf andere, anstatt diese zu spüren, sowie in weiteren Reaktionsweisen: Angst vor (weiterer) Ablehnung mit Tendenz zu Perfektionismus und Anpassung, um geliebt zu

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werden; Schuld- und Schamgefühl aufgrund erlebter Minderwertigkeit; Stabilisierung durch Süchte und Ablenkung (z. B. Konsum, Beziehungsabhängigkeiten). Die gleichzeitige Angst vor dem Verlassenwerden und vor Nähe äußert sich besonders in Beziehungen, die über die Phase der ersten Verliebtheit hinausgehen. Durch die Vertiefung entsteht mehr Nähe, deren befürchteter Verlust wiederum umso schmerzhafter sein kann. Nur in der ersten Zeit des Kennenlernens darf sich das innere Kind kurz mit Lebensfreude und Ausgelassenheit zeigen, bis es der erwachsene Teil mit seiner Rationalität und seinem Verantwortungsbewusstsein wieder in die Schranken weist (Chopich & Paul, 2009, S. 20ff.). 3.3.3 Verwandte Konzepte Tedeschi und Calhoun sowie Tedeschi und Kilmer unterscheiden das posttraumatische Wachstum von ähnlichen Konzepten wie Optimismus (Scheier & Carver, 1985; Scheier, Weintraub & Carver, 1986), Hardiness (Kobasa, 1979), Kohärenzgefühl (Antonovsky, 1997) und Resilienz (Werner, 1993). Während es sich bei diesen um Persönlichkeitsmerkmale oder Fähigkeiten handelt, die den Umgang mit schwierigen Situationen erleichtern, wird das PTG erst nach einem belastenden Ereignis angeregt und geht über eine Adaptation hinaus in Richtung einer tiefgreifenden Veränderung der eigenen Person (Tedeschi & Calhoun, 2004; Tedeschi & Kilmer, 2005). Der Aspekt einer solchen umfassenden persönlichen Veränderung wiederum ist eine von mehreren Gemeinsamkeiten mit anderen Konzepten. Beispielsweise wird das Erkennen von Sinn in den Ereignissen sowohl als Merkmal des PTG als auch des Kohärenzgefühls beschrieben. Außerdem sehen Tedeschi und Calhoun einen wechselseitigen Einfluss von PTG und Entwicklung von allgemeiner, lebensbezogener Weisheit (u. a. Baltes & Smith, 1990; Glück, Bluck, Baron & McAdams, 2005; Staudinger & Glück, 2011). In der Forschung zum PTG wie auch zur Entwicklung von Weisheit werden bestimmte Entwicklungsprozesse beschrieben, die durch die reflektierende Bewältigung schwieriger Lebenserfahrungen ausgelöst werden. Diese Prozesse sind Kennzeichen positiver persönlicher Entwicklung und wirken sich ihrerseits positiv auf die Fähigkeit aus, weitere Herausforderungen gut zu bewältigen (Tedeschi & Calhoun, 2004). Staudinger und Glück nennen beispielsweise Offenheit für neue Erfahrungen, soziale Kompetenz, Fähigkeit zur Emotionsregulation und eine ethische Werthaltung als wesentliche Elemente von bzw. Bedingungen für Weisheit, so wie laut Aldwin und Levenson ein höheres Selbstwissen und Empathie Charakteristika von PTG als auch Komponenten von Weisheit sind (Aldwin & Levenson, 2004; Staudinger & Glück, 2011). Im Folgenden wird nun ein Überblick über Konzepte gegeben, die Parallelen zu jenem des posttraumatischen Wachstums aufweisen. Dazu gehören ressourcenorientierte Ansätze, Optimismus, Hardiness, Kohärenzgefühl, Resilienz und das Weisheitskonzept, das den Abschluss des Kapitels bildet.

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Ressourcenorientierte Ansätze Faltermaier (2005) beschreibt interne und externe Gesundheitsressourcen und nimmt dabei Bezug zum Verständnis von Optimismus, Hardiness und insbesondere zum Modell der Salutogenese von Antonovsky. Er unterteilt die Gesundheitsressourcen in: 1) personal-psychische Ressourcen; 2) sozial-interpersonale Ressourcen; 3) körperlichkonstitutionelle Ressourcen; 4) sozio-kulturelle Ressourcen und 5) materielle Ressourcen. Als intern versteht er die körperlich-konstitutionellen und personal-psychischen Ressourcen. Wie eingangs erwähnt, ist der Unterschied zum posttraumatischen Wachstum darin zu sehen, dass diese Ressourcen günstige Voraussetzungen für den Umgang mit Belastungen und nicht Entwicklungen durch diese Belastungen darstellen. Außerdem tragen sie zu gesundheitsförderndem Verhalten bei. Zu den personal-psychischen Ressourcen zählt Faltermaier Persönlichkeitsmerkmale und Handlungskompetenzen. Die Persönlichkeitsmerkmale können sich mehr auf die kognitive Ebene, wie Kontrollüberzeugungen und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, oder auf die emotionale Ebene, wie Selbstwertgefühl, beziehen. Als Ressource ist ebenso die Beziehungsfähigkeit von Relevanz. Diese soziale Komponente beschreibt Faltermaier insbesondere im Rahmen der sozial-interpersonalen Ressourcen. Hierzu zählt er die Einbindung in ein soziales Netzwerk, wobei er vor allem auf die Forschungsergebnisse zur Bedeutung von vertrauensvollen Beziehungen als Unterstützung und Rückhalt hinweist. Körperlich-konstitutionelle Ressourcen umfassen die Immunkompetenz, Stabilität des vegetativen und kardiovaskulären Systems, körperliche Fitness und das Körpergefühl. Wenngleich hier genetische Faktoren eine Rolle spielen, trägt das Verhalten wesentlich zur Ausprägung dieser Ressourcen bei. In einem größeren Kontext sind sozio-kulturelle Ressourcen einzuordnen, worunter Faltermaier die Prägung von Sichtweisen auf das Leben durch den kulturellen und religiösen Hintergrund versteht. Als fünfte Form nennt er materielle Ressourcen, die Bewältigungs- und Gesundheitsverhalten erleichtern oder überhaupt erst ermöglichen (Faltermaier, 2005, S. 157ff.). Die am Beginn des Kapitels genannten Konzepte Optimismus, Hardiness, Kohärenzgefühl und Resilienz sind nach der Einteilung von Faltermaier primär den personalpsychischen Ressourcen zuzuordnen, werden jedoch von den anderen beeinflusst. Außerdem gibt es Überschneidungen zwischen den Konstrukten. Optimismus Unter Optimismus (u. a. Scheier & Carver, 1985; Scheier et al., 1986) wird die selbstberichtete generelle Erwartung von mehr angenehmen als unangenehmen Ereignissen verstanden. Doch ist zwischen naivem oder defensivem Optimismus einerseits und aktivem bzw. funktionalem Optimismus andererseits zu unterscheiden: Während in erstem Fall der Glaube aufrecht ist, dass es keines eigenen Zutuns bedarf, führen aktiv optimistische Menschen die gute Fügung von Geschehnissen auf ihre eigenen Ressourcen und Kompetenzen zurück (Maercker & Zoellner, 2004, S. 46). Hier besteht somit eine Nähe zur Kompetenz- und Selbstwirksamkeitserwartung. Ebenso gibt es laut Egger (2010) eine große, von ihm nicht näher spezifizierte Ähnlichkeit zu den Konstrukten

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negative Affektivität und Neurotizismus. Dabei ist aufgrund der Merkmale der jeweiligen Konstrukte von einem inversen Zusammenhang auszugehen. Außerdem korreliert Optimismus mit PTG, jedoch gilt nur der aktive Optimismus als positive Anpassung (Maercker & Zoellner, 2004, S. 46). Dies wurde bereits im Rahmen der Ausführungen zu kognitiven Prozessen, die mit dem PTG einhergehen, deutlich (s. Kapitel 3.3.1). Unrealistischer Optimismus im Sinne eines optimistischen Fehlschlusses hingegen ist mehr ein Hinweis auf einen Verdrängungsmechanismus (Hammelstein, Pohl, Reimann & Roth, 2006; Maercker & Zoellner, 2004, S. 46). Allerdings können positive Illusionen als Aspekt des Optimismus auch förderlich für die körperliche und psychische Gesundheit sein. Dies erfolgt einerseits über die Angstminderung, andererseits über die Wahl konstruktiver Bewältigungsstrategien. Solche Strategien entwickeln sich vor allem infolge erfahrener Belastungen und gehören zu den Handlungskompetenzen, die auch Maßnahmen zur Prävention umfassen (Egger, 2010; Taylor, Kemeny, Reed, Bower & Gruenewald, 2000). Negative Auswirkungen von Optimismus können aufgrund der verringerten Risikowahrnehmung und des dementsprechend riskanteren Verhaltens eintreten (Hammelstein et al., 2006). Jedenfalls, wie Peterson (2000) betont, ist Optimismus kein ausschließlich kognitives Merkmal, sondern umfasst auch motivationale und emotionale Aspekte. Hardiness Nach Kobasa, Maddi und Kahn (1982) umfasst Hardiness als Form von Widerstandsfähigkeit drei Komponenten: 1) Engagement (commitment); 2) Kontrolle (control) und 3) Herausforderung (challenge). Unter Engagement verstehen die Autorin und die Autoren, in eine Aufgabe mit Überzeugung involviert und dabei auch sozial integriert zu sein. Die Person sieht einen Sinn in ihrem Handeln und lebt somit entgegen einer Entfremdung. Der zweite Aspekt, die Kontrolle, bezeichnet ein Gefühl von Einfluss auf die Ereignisse in realistischem Ausmaß. Es handelt sich hierbei weder um ein Allmachtserleben noch um Hilflosigkeit, sondern um das Wissen über die eigenen Entscheidungsund Handlungsmöglichkeiten. Ereignisse können in den eigenen Lebenslauf integriert und als Potential zur persönlichen Weiterentwicklung gesehen werden. Das Gefühl von Kontrolle trägt zur höheren Belastbarkeit bei und erleichtert damit den Umgang mit Stresseinwirkung. Mit dem dritten Merkmal beschreiben Kobasa et al. das Vermögen, Veränderung als Herausforderung und Teil des Lebens wahrzunehmen. Aufgrund dieser Offenheit und Flexibilität kann ein Ereignis auch bei starker Abweichung von eigenen Lebenszielen als Möglichkeit, etwas daraus zu lernen, bewertet werden. Diese Eigenschaft steht dem Festhalten an Stagnation und der Angst vor Unsicherheit entgegen (Kobasa et al., 1982). Kohärenzgefühl Der von Kobasa et al. beschriebenen Widerstandsfähigkeit ähnlich sind die generellen oder allgemeinen Widerstandsressourcen (generalized resistance resources) im Modell

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der Salutogenese von Antonovsky (1997). Faltermaier hat diese zum Begriff der Gesundheitsressourcen, die im Rahmen der ressourcenorientierten Ansätze genannt wurden, erweitert (Faltermaier, 2005, S. 157ff.). Diese Ressourcen versteht Antonovsky als hilfreich im Umgang mit Belastungen und dementsprechend als gesundheitsfördernd. Dazu gehören genetisch-konstitutionelle sowie psychosoziale Ressourcen, wobei letztere einerseits auf gesellschaftlicher und andererseits auf individueller Ebene bestehen. So stellt beispielsweise das Aufwachsen in einem Land, in dem Frieden herrscht, umfassend eine Ressource dar, während eine unterstützende familiäre Atmosphäre spezifisch die einzelne Person betrifft. Als genetisch-konstitutionelle Aspekte sind unter anderem Wissen, Intelligenz und konstruktive Bewältigungsstrategien zu nennen. Menschen mit allgemeinen Widerstandsressourcen nehmen am Leben mit anderen teil und machen Erfahrungen, die konsistent mit ihrem Lebensentwurf sowie ausgeglichen im Hinblick auf das Belastungspotential sind. Dadurch, so Antonovsky (1997), entsteht im Laufe ihrer Kindheit bis zum Erwachsenenalter ein von ihm so bezeichnetes Kohärenzgefühl (sense of coherence). Dieses ist ein überdauerndes und gleichzeitig dynamisches Persönlichkeitsmerkmal, das in der Literatur laut Faltermaier nicht übereinstimmend als Eigenschaft und/oder Lebenseinstellung interpretiert wird. Das Kohärenzgefühl, der empfundene Zusammenhang im Leben, basiert auf folgenden drei Aspekten (Antonovsky, 1997): 1) Gefühl der Verstehbarkeit und Erklärbarkeit von Ereignissen und Abläufen im eigenen Leben sowie im Umfeld, obwohl auch Unsicherheiten und Risiken bestehen (sense of comprehensibility); 2) Gefühl der Handhabbarkeit bzw. Bewältigbarkeit von Herausforderungen mit den zur Verfügung stehenden Mitteln (sense of manageability) und 3) Gefühl der Bedeutsamkeit bzw. Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens (sense of meaningfulness). Der letztgenannte Punkt wird von Viktor Frankl in seinem Konzept der Logotherapie und Existenzanalyse aufgegriffen, in dem er die Frage nach dem Sinn des Lebens angesichts seines Überlebens im Konzentrationslager in den Mittelpunkt stellt (u. a. Frankl, 1987, 2013). Antonovsky beschreibt die drei Aspekte zwar als Gefühl, jedoch handelt es sich nach Faltermaier (2005) bei den beiden ersten um kognitive Komponenten, während er im dritten Punkt einen motivationalen Beitrag zum Kohärenzgefühl sieht. Faltermaier ordnet das Gefühl der Sinnhaftigkeit, wie Frankl, an der obersten Stelle ein, denn nur subjektiv sinnvolle Lebensereignisse sind bedeutend genug, um sie auch verstehen und bewältigen zu können bzw. zu wollen. Darüber hinaus bildet die Verstehbarkeit seiner Ansicht nach die Grundlage der Bewältigbarkeit, da Strategien erst mit einem entsprechenden Überblick über die Situation und die Bedingungen zielführend eingesetzt werden können (Faltermaier, 2005, S. 166). Wie in anderen Ansätzen sind somit auch in Antonovskys Modell die empfundene Kontrollierbarkeit und die Möglichkeit der Bewältigung von Ereignissen wesentliche Aspekte. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass Personen mit einem stärkeren Kohärenzgefühl dazu tendieren, einen Stressor als weniger subjektiv bedrohlich einzustufen. Zusätzlich bedarf es einer entsprechenden Handlungskompetenz, um das Leben nicht nur als gestaltbar zu empfinden, sondern auch konkret mit Belastungen umgehen zu können. Dies wirkt bestärkend und dadurch für sich als Ressource. Ein solcher Rückkoppelungsprozess besteht auch insgesamt für das Kohärenzgefühl: Während dafür

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Ressourcen eine Grundlage darstellen, werden diese wiederum durch das Kohärenzgefühl, das deren adäquaten Einsatz und damit eine erfolgreiche Bewältigung von Stressoren begünstigt, intensiviert. Das Kohärenzgefühl selbst sei jedoch, so Faltermaier, keine Ressource an sich, sondern trägt zur flexiblen Mobilisierung von Ressourcen bei. Zudem zähle es auch nicht zu den Bewältigungsstrategien, da es ein globales Gefühl sei, solche Strategien hingegen gezielt eingesetzt werden (Faltermaier, 2005, S. 63ff., S. 163ff.). Die Bedeutung der Problembewältigung wird somit in mehreren ressourcenorientierten Ansätzen bzw. in der Beschreibung einer günstigen Entwicklung im Allgemeinen deutlich. Dies trifft auch auf das nachfolgend erläuterte Konzept der Resilienz zu. Resilienz Resilienz kann, wie Hardiness, als Widerstandsfähigkeit übersetzt werden und ist ein umfassender Begriff. Dieser wurde im Rahmen der Untersuchung von Risiko- und Schutzfaktoren geprägt und ist demnach in Zusammenhang mit erschwerenden Bedingungen zu verstehen (Masten, 2001; Reimann & Hammelstein, 2006). Hierin zeigt sich eine Parallele zum posttraumatischen Wachstum. Weitere Gemeinsamkeiten bestehen mit anderen Konstrukten, etwa mit Hardiness und dem Kohärenzgefühl von Antonovsky, unter anderem im Hinblick auf die Beschreibung als Persönlichkeitsmerkmal. Jedoch werde dabei, so Leipold und Greve, der soziale und situative Kontext vernachlässigt. Zudem sei Resilienz keine stabile, sondern dynamische Ressource, durch die die weitere Entwicklung trotz erschwerender Bedingungen nicht beeinträchtigt wird (Greve & Leipold, 2012; Leipold & Greve, 2009). Auf diesen Prozessaspekt weist auch Jüttemann hin: So zeigten sich in der Kauai-Längsschnittstudie von Werner (1993) unterschiedliche Formen von Resilienz in den einzelnen Lebensphasen (Jüttemann, 2002, S. 325). Werner (2005) differenziert dabei persönliche, familiäre und soziale Schutzfaktoren. Folgende Kennzeichen von resilienten Personen lassen sich zusammenfassen: 1) Aktivität und Offenheit für Anregungen und soziale Interaktion, unter anderem für die Suche nach stützenden Bezugspersonen; 2) tendenziell hohe motorische und sprachliche Entwicklung; 3) emotionale Ausgeglichenheit und 4) ein Gefühl von Selbstwirksamkeit. Der letztgenannte Punkt ist in Antonovskys Modell der Salutogenese als Handhabbarkeit sowie im Hardiness-Ansatz in Form der Kontrolle enthalten. Am Umfeld dieser Personen waren zu beobachten: 1) mindestens eine nahe Bezugsperson, die sensitiv für die Bedürfnisse des Kindes war; 2) Förderung des emotionalen Ausdrucks; 3) positives Rollenmodell für Knaben, Beitrag zur Selbstständigkeit von Mädchen mit gleichzeitig zuverlässigem Rückhalt sowie 4) Halt und Sinn im religiösen Glauben. Als soziale Schutzfaktoren für die Kinder bot die Gemeinschaft auf der Hawaii-Insel Kauai vor allem emotionale Unterstützung, unter anderem durch Weitergabe von Anregungen in Krisen, sowie Vorbilder an. Letztere wurden von Lehrenden, Nachbarn, Eltern im Freundeskreis und von führenden Personen in Gruppen oder in der Politik verkörpert. Doch nicht nur im Kindesalter, sondern auch als Erwachsene, konkret im vierten Lebensjahrzehnt, konnten Personen mit einer vorherigen problematischen Entwicklung

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in der Adoleszenz eine positive Richtung finden. Zentrale Aspekte der hilfreichen Einflüsse sind Struktur, Halt, Nähe in Beziehungen, auch Entlastung von Schuld im Rahmen religiöser Zuwendung. Neben oben genannten persönlichen Merkmalen und sozialen Ressourcen wurden diese Veränderungen durch Möglichkeiten gefördert, die sich im Erwachsenenalter eröffneten. Dazu gehören vor allem Bildungschancen, wodurch die Personen Unabhängigkeit von öffentlicher sozialer Unterstützung erlangen konnten. Außerdem trugen stabile Beziehungen, in der Partnerschaft sowie in religiösen Gemeinschaften, dazu bei. Dass mehr Frauen als Männer schwierige Erfahrungen bewältigen konnten, hängt möglicherweise auch mit der häufigeren Inanspruchnahme von sozialer Unterstützung zusammen. Psychotherapie spielte eine eher untergeordnete Rolle, während die Überwindung einer schweren Erkrankung oder die Rehabilitation nach einem Unfall wesentlich zur Resilienz beitrugen (Werner, 2005). Hier wird wiederum die Nähe zur Auffassung von PTG deutlich, indem eine starke Erschütterung zu persönlichem Wachstum beitragen kann. Die Bewältigung von Schwierigkeiten ist somit ein zentraler Aspekt von Resilienz und nach Leipold und Greve (2009) mit der prozessualen Eigenschaft von Resilienz erklärbar. Diese begreifen sie als Entwicklungsphänomen und gleichzeitig als Ergebnis von Bewältigungsstrategien. Ebenso sind die Bewältigungsstrategien, insbesondere deren flexible und selektive Auswahl in der jeweiligen Situation, einerseits eine Form der Entwicklungsregulation, andererseits das Ergebnis einer vorherigen Entwicklung. Resilienz kann durch diese Prozesse als Stabilität oder als Veränderung im Sinne einer Weiterentwicklung sichtbar werden (Leipold & Greve, 2009). Diese beiden Aspekte, Prozesshaftigkeit und Prozessergebnis, beschreiben Tedeschi und Calhoun (2004) auch im Hinblick auf das PTG (s. Kapitel 3.3.1). Erkennbar ist Resilienz, wenn trotz schwieriger Bedingungen keine größere Einschränkung, sondern unter anderem subjektives Wohlbefinden vorhanden ist. Probleme sind nach Leipold und Greve somit allgemeine Entwicklungsherausforderungen und der flexible Umgang mit diesen, auch bei Unvorhersehbarkeit, ein wichtiges Entwicklungsziel (Leipold & Greve, 2009). Im Rahmen der Ego State-Therapie beispielsweise drückt sich für Reddemann Resilienz dadurch aus, dass Personen ihre verschiedenen Anteile annehmen und benennen können, anstatt diese abzulehnen oder abzuspalten (Reddemann, 2011, S. 166). Es handelt sich hier somit um eine Form bzw. ein Kennzeichen der Bewältigung des erlebten Traumas. Bewältigungsstrategien und Resilienz sind für Leipold und Greve Teile eines Konzepts auf unterschiedlichen hierarchischen Ebenen. Sie verstehen Resilienz als Bindeglied zwischen Bewältigungsstrategien und Entwicklung, jedoch weniger als moderierende oder kausale Variable, sondern als Erklärung der komplexen Zusammenhänge des Phänomens (Leipold & Greve, 2009). Dieses Phänomen sieht Masten nicht als außergewöhnlichen Prozess, sondern vielmehr als Potential des Menschen an, wodurch sie die Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen aus einem ressourcenorientierten Blickwinkel betrachtet (Masten, 2001).

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Weisheit Wie in den vorher genannten Ansätzen lassen sich auch in der Weisheitsforschung Gemeinsamkeiten mit dem Konzept des posttraumatischen Wachstums finden. Eine Differenzierung besteht hier zwischen personenbezogener Weisheit (personal wisdom) und allgemeiner Weisheit (general wisdom). Die personenbezogene Form entwickelt sich durch persönliche Lebenserfahrungen und bezieht sich auf die eigene Lebensweise. Hingegen wird unter allgemeiner Weisheit die generelle Auffassung im Hinblick auf Lebensfragen, über die persönliche Situation hinaus, verstanden (Staudinger & Glück, 2011). Eine weitere Unterscheidung in der Weisheitsforschung ist jene zwischen impliziten Theorien von Laien, die sich nicht wissenschaftlich mit der Thematik beschäftigen, und expliziten Theorien von Forschenden. Auffassungen und Vorstellungen von Laien beziehen sich primär auf die Wahrnehmung von Weisheit. Forschende hingegen formulieren explizite Theorien auf der Basis von philosophischen Theorien und psychologischen Konstrukten. Diese Unterscheidung ist somit eine andere als jene in der Lerntheorie im Hinblick auf implizites vs. explizites Wissen. In beiden Fällen, in der Erforschung von impliziten sowie expliziten Theorien, wird der Frage nach einer allgemeinen Definition von Weisheit nachgegangen, lediglich unter einem anderen Gesichtspunkt. Zudem fließen Auffassungen von Laien in die Formulierungen der Forschenden ein, da eine Weisheitsforschung, die diese nicht berücksichtigt, im Erkenntnisgewinn limitiert wäre (Bluck & Glück, 2005). Der Zugang zum Phänomen Weisheit erfolgt mittels Selbstbericht-Skalen und/oder konkreten Aufgabenstellungen, in denen beispielsweise nach einer Entscheidung in einer schwierigen Lebenssituation gefragt wird (Glück, 2015). Glück, Bluck, Baron und McAdams (2005) beschreiben anhand von autobiografischen Narrativen drei Formen von personenbezogener Weisheit: 1) Empathie und Unterstützung (empathy and support): Einfühlungsvermögen und Hilfestellung für andere; 2) Selbstbestimmung und Behauptung (self-determination and assertion): Kontrolle über Situationen und Vertreten eigener Werte sowie 3) Wissen und Flexibilität (knowledge and flexibility): eigene Erfahrungen, Kompromissbereitschaft und Umgang mit Unsicherheit. Diese Formen wurden von den Befragten in Abhängigkeit ihres Alters unterschiedlich gewichtet. In einer deutschen Stichprobe erzählten Adoleszente häufiger von Situationen, in denen sie Empathie und Unterstützung zeigten. Für junge Erwachsene hingegen waren Selbstbestimmung und Behauptung, für ältere Personen Wissen und Flexibilität von größter Bedeutung. Diese Schwerpunkte sind in Zusammenhang mit entsprechenden Entwicklungsaufgaben in den Altersphasen zu sehen. Es gibt hier jedoch kulturelle Unterschiede: So standen Empathie und Unterstützung für amerikanische Personen verschiedenen Alters auf die Frage nach Erfahrung von Weisheit im eigenen Leben im Vordergrund (Glück et al., 2005). Auch das allgemeine Weisheitsverständnis ist in verschiedenen Kulturen und in den Altersgruppen unterschiedlich. Für Personen mittleren und höheren Alters sind neben Wissen und Reflexion als kognitive Aspekte zusätzlich Empathie und Wohlwollen als emotionale Komponenten zentrale Kriterien von Weisheit. Diese integrative Sicht führen Glück und Bluck, wie zuvor bei der personenbezogenen Form erwähnt, auf die jeweiligen Entwicklungsaufgaben sowie auf den aktuellen Lebenskontext zurück. Häufig

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eintretende Veränderungen ab dem jungen Erwachsenenalter im Hinblick auf Partnerschaft, Familiengründung etc. bringen neben kognitiven auch emotionale Herausforderungen mit sich. Im Hinblick auf den kulturellen Hintergrund liegt der Schwerpunkt in westlichen Ländern auf kognitiven Aspekten, in östlichen Kulturen hingegen auf Empathie, Emotionsregulation und Demut. Personen mit einer kognitiven Konzeption von Weisheit sehen deren Entwicklung in Zusammenhang mit umfangreichen Erfahrungen sowie mit dem Lernen von weisen Menschen. Vor dem Hintergrund eines integrativen Verständnisses hingegen werden mehr Unsicherheiten im Leben, existentielle Erfahrungen, wie Tod, und spirituelle Erlebnisse als Beitrag zur Entstehung von Weisheit genannt. Wenngleich manche Aspekte durch die kumulative Erfahrung mit höherem Alter wahrscheinlicher werden, sind die Lebensjahre allein nicht ausreichend für den Weg zu Weisheit (Glück & Bluck, 2011). Im Alltag wird Weisheit zwar oft mit höherem Alter assoziiert, jedoch können sowohl junge Personen Kriterien von Weisheit erfüllen als auch ältere Personen nicht als weise gelten (Staudinger & Glück, 2011). Befragte bringen Weisheit zudem umso weniger mit höherem Alter in Verbindung, je älter sie selbst sind (Bluck & Glück, 2005). Es lassen sich auch keine konkreten weisheitsfördernden Erfahrungen festhalten, sondern es ist vielmehr der Umgang damit und das Vermögen, diese in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren, ausschlaggebend (Glück, 2015). So hatte die Bewältigung von schwierigen, negativ bewerteten Lebenssituationen bei den Teilnehmern und Teilnehmerinnen der Studie von Bluck und Glück Auswirkungen auf ihr späteres Leben, ihre persönliche Entwicklung und ihre Lebenseinstellung. Vor allem konnte die Schwierigkeit in einen persönlichen Gewinn transformiert werden (Bluck & Glück, 2005). Neben den bisher beschriebenen impliziten Theorien von Laien existieren in der Weisheitsforschung verschiedene explizite Theorien. Im Wesentlichen unterscheiden sie sich einerseits in der Auffassung von Weisheit als Wissen oder als Persönlichkeitseigenschaft, andererseits im Einbeziehen von überwiegend kognitiven Aspekten, wie Flexibilität im Denken und Wissen, oder einer zusätzlichen emotionalen Komponente. So ist Weisheit im Berliner Weisheitsmodell von Paul Baltes und seinem Forschungsteam als Expertise und somit als Wissen über die grundlegenden Fragen des Lebens definiert: „an expert knowledge system concerning the fundamental pragmatics of life“ (Baltes & Staudinger, 2000, S. 122; Baltes & Smith, 1990). Ardelt hingegen integriert in ihrem dreidimensionalen Weisheitsmodell neben einer kognitiven und reflektiven auch eine affektive Komponente von Weisheit, die für sie ein Persönlichkeitsmerkmal darstellt (Ardelt, 2003, 2004). Levenson, Jennings, Aldwin und Shiraishi wiederum sehen die Selbsttranszendenz als zentrales Element von Weisheit an, wobei die Vertiefung der Selbstbeziehung ein wesentlicher Bestandteil ist. Damit geht Offenheit für andere und die Welt einher, da die Person nicht bzw. kaum der äußeren Bestätigung bedarf (Levenson et al., 2005). Hier ist eine große Nähe zum posttraumatischen Wachstum im Hinblick auf die Vertiefung der Beziehung zu sich selbst als einen der drei Entwicklungsbereiche zu finden. Diese wiederum wirkt sich auf die Beziehung zu anderen aus, die einen weiteren Bereich des PTG darstellt. Die Modelle von Ardelt und Levenson et al. beziehen sich somit mehr auf die umfassende persönliche Entwicklung als das Berliner Weisheitsmodell von Baltes et al. mit der Fokussierung auf Wissen und Denkprozesse (Glück, 2015). Wenngleich Hannover und Greve die Selbstregulation im

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Hinblick auf Emotionen anführen, findet sich auch bei ihnen ein kognitiver Schwerpunkt in der Beschreibung der von ihnen so bezeichneten selbstbezogenen Weisheit. Hierzu zählen sie folgende Facetten: 1) zunehmende Integration von (auch widersprüchlichen) Lebenserfahrungen; 2) umfangreiches Wissen über das Selbst; 3) Repertoire von Selbstregulationsstrategien und 4) Annehmen von sowie Umgang mit Unsicherheiten im Leben (Hannover & Greve, 2012). Eine integrative Auffassung vertreten Glück und Bluck im MORE Life Experience Model, in dem sie neben Wissen auch Persönlichkeitseigenschaften als Element von Weisheit beschreiben. Dieses spezifische Wissen ist teilweise bewusst und entwickelt sich durch die Bewältigung von Herausforderungen, insbesondere durch die tiefe Auseinandersetzung mit Lebensfragen, die sich dabei stellen. Solchen Herausforderungen im Leben zu begegnen, diese in die eigene Geschichte zu integrieren und entsprechendes Wissen zu erlangen, wird nach dem Modell durch fünf Ressourcen gefördert. Die Bezeichnung MORE des Modells weist auf die Anfangsbuchstaben der englischen Begriffe hin, wobei das E zwei derselben umfasst. Diese Ressourcen lauten folgendermaßen (Glück, 2015, 2016; Weststrate & Glück, 2017): 1) Akzeptanz der Unkontrollierbarkeit und der Begrenzung von Möglichkeiten (mastery); 2) Offenheit für neue Erfahrungen und Veränderungsbereitschaft (openness); 3) Reflexivität sowohl auf sich selbst als auch auf die Welt und das Leben im Allgemeinen bezogen (reflectivity); 4) Emotionsregulation durch Wahrnehmung eigener Gefühle und flexiblen, auf die Situation abgestimmten Umgang damit (emotion regulation) sowie 5) Einfühlungsvermögen im Hinblick auf die Bedürfnisse und Probleme anderer Menschen (empathy). In Bezug auf die Reflexivität als Ressource fanden Weststrate und Glück in ihrer Untersuchung einen weisheitsfördernden Beitrag der Exploration von eigenen schwierigen Lebenserfahrungen. Dieser Beitrag war bei positivem reframing und emotionaler Distanzierung vom Ereignis weniger stark ausgeprägt. Weise Menschen unterscheiden sich demnach nicht in der Häufigkeit des Explorierens, sondern in der Art der Auseinandersetzung und dem diesbezüglichen Grund. Bloßes Grübeln stellt sich nicht als weisheitsfördernd heraus, während das Streben nach Erkennen der Komplexität und Bedeutung der Erlebnisse die Entwicklung positiv beeinflusst. Jedoch kann anhand einer Querschnittuntersuchung keine Aussage über die Richtung des Zusammenhanges erfolgen: Selbstreflexion als Beitrag zur Weisheit oder vermehrte Selbstreflexion durch Weisheit oder beides ist hier denkbar (Weststrate & Glück, 2017). Laut Grossmann stellt sich Weisheit in jüngeren Untersuchungen als wesentlich variabler und spezifischer dar als bisher angenommen. Sowohl in verschiedenen Erfahrungskontexten im Laufe des Lebens als auch in einzelnen Situationen kann weises Denken unterschiedlich stark ausgeprägt sein (Grossmann, 2017). Hierfür ist unter anderem ausschlaggebend, wie sehr die Person in eine Situation emotional involviert ist. Zum Beispiel bewirkt eine höhere emotionale Beteiligung weniger weises Handeln (Glück, 2015). Dieses Ergebnis kann mit einer Einengung des Fokus auf sich selbst erklärt werden. So stellte sich eine starke gedankliche Selbstzentrierung in Untersuchungen als hemmend auf die Anwendung von weisheitsbezogenem Wissen heraus. Da das Ausmaß der Selbstfokussierung und damit des weisen Denkens und Handelns auch von Kontextbedingungen abhängt, wird hier außerdem der Einfluss des Umfeldes auf die Person deutlich. Weisheitsbezogenes Wissen ist jedoch keineswegs in jeder Situation

3.3 Posttraumatisches Wachstum

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erforderlich. Zum Beispiel erweist sich Routinehandeln beim Erledigen von Formalitäten oder Alltagsaktivitäten als zielführender. Somit zeichnet sich Weisheit gerade durch den differenzierten Einsatz dieses Wissens im Leben aus (Grossmann, 2017). Höheres weisheitsbezogenes Wissen zeigen Personen in Untersuchungen durch den Austausch über konkrete Aufgabenstellungen mit anderen und/oder einen Blick von außen auf die Problematik. Dies spricht einerseits für das Potential von Gruppen, beispielsweise im Rahmen von Projektarbeiten, sowie für die Psychotherapie, in der eine tiefe Auseinandersetzung mit eigenen Erfahrungen erfolgen und dadurch eine andere Perspektive möglich werden kann. Neben solchen kognitiven Veränderungen sind auch die Wahrnehmung und Regulation eigener Emotionen Elemente einer Therapie, womit ein weiterer Aspekt von Weisheit gefördert wird. Einen Beitrag auf kognitiver Ebene, etwa in Form einer differenzierten Beschäftigung mit Lebensfragen, können außerdem Bildungseinrichtungen leisten (Glück, 2015). Jedoch ist hinzuzufügen, dass weise Gedanken nicht unmittelbar in weisen Handlungen münden (Grossmann, 2017). Im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Weisheit und Wohlbefinden gibt es kontroversielle Standpunkte. Einerseits wird bei weisen Menschen von mehr Lebenszufriedenheit ausgegangen, andererseits könnte diese gerade auch durch die Auseinandersetzung mit schwierigen Seiten des Lebens eingeschränkt sein (Glück, 2015). Jedoch ist durch eine solche Auseinandersetzung und damit bei weisen Menschen längerfristig ein höheres Wohlbefinden anzunehmen (Weststrate & Glück, 2017). Mehr Übereinstimmung besteht in der Forschung bezüglich der Art des Wohlbefindens, mit der Weisheit korreliert: keine hedonistische Lebensgestaltung mit ausschließlichem Streben nach Lust, sondern eine eudaimonische Lebensführung mit der Fähigkeit zur Emotionsregulation und entsprechender Ausgeglichenheit. Kennzeichen für ein gelungenes, weises Leben ist die Frage nach dem tiefen Sinn anstatt des oberflächlichen Genusses (Glück, 2015; Grossmann, 2017). Diese Sichtweise basiert auf Aristoteles' Eudaimoniekonzept, das er in der Nikomachischen Ethik beschreibt (Aristoteles, 1978; Ryff, 2014a). Die Psychologin Carol Ryff definiert folgende sechs Schlüsseldimensionen von eudaimonischem Wohlbefinden (Ryff, 1995, 2014a, 2014b; Ryff & Singer, 2008): 1) Sinnhaftigkeit des Lebens (purpose in life): Sinnperspektiven und persönliche Ziele; 2) Autonomie (autonomy): überwiegende Unabhängigkeit von äußeren Meinungen und Bewertungen; 3) persönliches Wachstum (personal growth): Offenheit für neue Erfahrungen und Entfaltung eigener Potentiale; 4) Kontrollierbarkeit der Umwelt (environmental mastery): Gestaltung nach eigenen Bedürfnissen und Werten; 5) positive Beziehungen zu anderen (positive relationships): Vertrauen und Empathie sowie 6) Selbstakzeptanz (self-acceptance): Annehmen der eigenen Person mit allen Facetten. In diese Dimensionen fließen Sichtweisen der humanistischen Psychologie (z. B. Selbstaktualisierung bei Maslow), Existentialpsychologie (z. B. Wille zum Sinn bei Frankl), Entwicklungspsychologie (z. B. psychosoziale Entwicklung bei Erikson) und der Klinischen Psychologie (z. B. Individuation bei Jung) ein. Außerdem lassen sich Parallelen zum Weisheitsverständnis finden, ebenso zum posttraumatischen Wachstum, das unter anderem in Form des persönlichen Wachstums als dritte Dimension genannt wird. Das persönliche Wachstum ist im Eudaimoniekonzept von Ryff jedoch ein engerer Begriff und umfasst primär die Offenheit für neue Erfahrungen und für die eigene Entwicklung. Eine solche Offenheit gilt auch in anderen Konzepten als förderlicher Beitrag,

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3 Persönliche Entwicklung

beispielsweise für das PTG oder als Ressource für Weisheit, wie es an obiger Stelle beschrieben wurde. Nach der Einteilung des PTG in dieser Arbeit sind die Dimensionen 2 und 6 dem Bereich Beziehung zu sich selbst, die Dimension 5 dem Bereich Beziehungen zu anderen zuzuordnen. Die Dimension 4 umfasst beide Bereiche, da Kontrollierbarkeit einerseits zum Erleben von Selbstwirksamkeit beiträgt und andererseits die Beziehungen zum Umfeld beeinflusst. Die Beziehung zum Leben als dritter Teilbereich ist hier vor allem in der Dimension 1 enthalten. Anhand dieses Konzeptes kann im Hinblick auf Menschen mit Essstörungen erklärt werden, wie deren Kontroll- und Autonomiebestreben zu Lasten der anderen Dimensionen geht. Denn, so Ryff und Singer (2008), es gehe um eine konstruktive Spannung (constructive tension) innerhalb der einzelnen Dimension und zwischen den Dimensionen – um das Finden einer Balance. Deutlich wird, dass Weisheit nach dem beschriebenen Verständnis kein passives Geschehen und nur für wenige Menschen erreichbar ist. Es bedarf gewisser kognitiver, emotionaler und motivationaler Voraussetzungen der Person und entsprechender Kontexte für Erfahrungen, um dadurch persönlich wachsen zu können (Glück, 2015). Hier ist mitunter eine Parallele zur Gesundheit zu ziehen, denn auch diese ist, wenngleich oft als zu selbstverständlich angesehen, nicht einfach herstellbar – jedoch, zum Glück, ein nicht so seltenes Phänomen wie Weisheit. Fazit Die dargestellten Konzepte, die dem Verständnis von posttraumatischem Wachstum nahekommen, weisen mehrere Überschneidungen auf. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass einerseits die Frage nach den Bedingungen, die den Umgang mit schwierigen Einflüssen im Sinne von vorhandenen Ressourcen erleichtern, zentral ist. Ereignisse werden dadurch nicht als unüberwindbares Schicksal, demgegenüber gänzliche Ohnmacht zu empfinden sei, gesehen (Greve & Leipold, 2012). Andererseits ist in den Konzepten von Interesse, welche Entwicklungen sich durch solche Einflüsse ereignen und wie sich diese zeigen, z. B. als Erwerb von (weiteren) Ressourcen für künftige Belastungen. Die Kriterien für eine sogenannte erfolgreiche Entwicklung sind dabei nicht allgemein zu festzulegen, sondern im gesamten Lebenskontext der Person zu definieren (Leipold & Greve, 2009; Masten, 2001). Zur Frage, welche Entwicklung nun als positiv bzw. gelungen einzustufen ist, werden abschließend Greve und Leipold zitiert. Es sei die „Fähigkeit, Entwicklungsziele auszuwählen, kompetente Entscheidungen zu treffen, sie in die Tat umzusetzen und dabei Widerstände zu überwinden, aber auch Ziele und Strategien im Lichte neuer Erfahrungen zu revidieren“ (Greve & Leipold, 2012, S. 577). Aus diesem Zitat geht hervor, dass ein positiver Verlauf nicht allgemein, sondern nur spezifisch für die Person zu definieren ist, da Ziele, Entscheidungen und Handlungen interindividuell variieren (können). Diese sind zudem auf die jeweiligen Gegebenheiten abzustimmen, womit die Prozesshaftigkeit der positiven Entwicklung, wie der Entwicklung insgesamt, deutlich wird: Das Gelingen selbst ist ein Prozess. Wie sich das Gelingen im Zusammenhang mit der Überwindung einer Essstörung zeigen kann, wird ab Kapitel 5 anhand des Modells zu persönlichen Entwicklungswegen aus der Essstörung, das im Rahmen der Forschungsarbeit entstanden ist, beschrieben.

3.4 Zusammenfassung grundlegender Entwicklungsaspekte

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3.4 Zusammenfassung grundlegender Entwicklungsaspekte Angesichts der zahlreichen Aspekte in den angeführten Entwicklungstheorien werden zum Abschluss des dritten Kapitels einige zentrale Punkte zusammengefasst. Deutlich wird, dass über allgemeine Beobachtungen und die Definition von Normen hinaus auch die individuellen Entwicklungsverläufe Berücksichtigung finden. Folgender Leitsatz dient als Orientierung für die Beschreibung dieser Punkte: Entwicklung ist als (aktiver) Prozess der Person in ihrem Umfeld zu verstehen, wobei sich phasenspezifische Entwicklungsaufgaben und (kritische) Lebensereignisse als situative Herausforderungen stellen. Entwicklung als Prozess: Veränderung und Stabilität Über die verschiedenen Theorien hinweg wird Entwicklung heute als lebenslanger Prozess verstanden. Auch das Selbst stellt ein prozesshaftes System dar: Verhaltensweisen basieren auf dessen Ausprägung und beeinflussen wiederum diese Ausprägung durch Veränderungsprozesse. Anders ausgedrückt: Das Selbst ist „nicht nur Entwicklungsprodukt, sondern im individuellen Lebenslauf zunehmend auch Entwicklungsbedingung“ (Greve, 2007, S. 321). Daher, so Leipold und Greve, sei „die Entwicklung des Selbst nur als ein rückgekoppelter Prozess rekonstruierbar“ (Leipold & Greve, 2015, S. 670). Thomae bezeichnet dies im Hinblick auf die Persönlichkeit als „Verschränkung von Persönlichkeit und Entwicklung“ (Thomae, 2002, S. 39). In Längsschnittstudien zeigt sich eine eher stetige als sprunghafte persönliche Entwicklung (Lehr, 1999). So sind die von Erikson (1973) beschriebenen Stufen nicht als eine strikte Aneinanderreihung zu verstehen, da sich die Entwicklung in verschiedenen Bereichen bei einer Person unterschiedlich vollziehen kann. Die Beschreibung solcher Stufen oder auch Phasen, wie von Havighurst (1972) im Hinblick auf Entwicklungsaufgaben, schließt außerdem eine gleichzeitige Kontinuität von Entwicklung nicht aus. Stattdessen handelt es sich um unterschiedliche Blickwinkel auf die Biografie: Während sich manche Merkmale kontinuierlich verändern, beispielsweise Umgangsformen mit Konflikten, können bestimmte Erlebnisse eine größere Einstellungs- und Verhaltensänderung im Leben mit sich bringen (Kruse & Schmitt, 2002). Wenngleich Entwicklung mit kontinuierlicher Veränderung einhergeht, besteht gleichzeitig eine gewisse Stabilität im Lebenslauf (Leipold & Greve, 2015). Persönlichkeitsmerkmale sind als Dispositionen bzw. traits eine relativ überdauernde Tendenz für bestimmtes Verhalten in konkreten Situationen, entgegen der als state bezeichneten kürzer anhaltenden Befindlichkeit (Hossiep, 2014). Im Erwachsenenalter nimmt die Stabilität der Persönlichkeitseigenschaften zu, bei sich verringerndem Neurotizismus und Steigerung von Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit. Es wird auch von Reife gesprochen (Asendorpf, 2014b), wobei dieser Begriff mehr für erworbene biologische Entwicklungen, beispielsweise für die Gehfähigkeit des Kindes, zur Anwendung kommt. In der Entwicklungspsychologie hingegen werde Reifung, so Montada, „negativ definiert: nämlich als jener Prozeß, der anzunehmen ist, wenn Erwerbungen nicht auf Erfahrung, Übung, Erziehung, Sozialisation oder gedankliche Erkenntnisgewinnung zurückgeführt

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3 Persönliche Entwicklung

werden können“ (Montada, 1998, S. 51). Jedoch ist anzumerken, dass im Rahmen biologischer Entwicklungen ebenso Erfahrungen und Lernen stattfinden. Gegen eine solche Trennung zwischen Reifung und Erfahrung spricht sich auch Asendorpf aus, indem er betont, dass „die traditionelle Trennung von Entwicklung durch Reifung (genetisch determinierte, umweltunabhängige Entwicklung) und Entwicklung durch Erfahrung (genetisch unbeeinflusste, rein umweltabhängige Entwicklung) wenig sinnvoll“ sei (Asendorpf, 2012, S. 84). Zur zunehmenden Beständigkeit der Persönlichkeitseigenschaften trägt die kumulative Stabilität bei, womit die Suche nach einer passenden Umwelt zur eigenen Person sowie deren aktive Gestaltung bezeichnet werden. Dieses Vermögen steigt mit dem Alter und ist in Zeiten der Unsicherheit, wie an Entwicklungsübergängen, von besonderer Bedeutung. Durch biologische Prozesse werden die Eigenschaften im höheren Alter wieder instabiler. Außerdem können Erschütterungen im Leben eine stärkere Veränderung in den Persönlichkeitsmerkmalen mit sich bringen (Asendorpf, 2014b, 2014c). Darauf wird unter anderem in persönlichen Wachstumstheorien Bezug genommen (s. Kapitel 3.3). Anzumerken ist, dass der Entwicklungsprozess nicht als Veränderung sichtbar sein muss. So bedarf insbesondere die persönliche Stabilisierung bei belastender Einwirkung einer Vielzahl an zugrunde liegender Prozessaktivität. Dies zeigt sich außerdem in der relativ überdauernden Persönlichkeit über die Lebensspanne hinweg (Greve & Leipold, 2012). Entwicklungsaufgaben Im Rahmen des Entwicklungsprozesses stellen sich den Personen Entwicklungsaufgaben, die jedoch nicht als ontogenetische Determinanten zu verstehen sind. Stattdessen werden diese von gesellschaftlichen Normen beeinflusst (Reinders, 2002) und auch durch das Individuum auf Basis seiner Ziele definiert (Fleischer & Grebe, 2014). Dabei kann die einzelne Person auf die gesellschaftlichen Anforderungen im Sinne einer Anpassung oder mit der Suche der für sie passenden Verhaltensweise reagieren. Die Entwicklung wird nach dem Distanz-Modell von Oerter durch eine sogenannte positive Distanz zwischen Entwicklungsnorm und individueller Leistungsfähigkeit angeregt. Letztere ist die Voraussetzung für die Erreichung dieser Norm (Reinders, 2002). Einschränkungen in der Bewältigung weisen auf ein Passungsproblem hin, womit eine fehlende oder mangelnde Abstimmung zwischen dem Individuum mit seinen Zielen und Potentialen einerseits und den Anforderungen sowie Angeboten des Umfeldes andererseits gemeint ist (Montada et al., 2012, S. 35). Anders als in früheren Konzepten, wie jenem von Havighurst (1972), wird das Individuum mit mehr Selbstgestaltung und Selbstbestimmung sowie die Umwelt als aktiv beteiligt verstanden. Jedoch, so Reinders, seien Normen noch mehr zu differenzieren, indem diese im Hinblick auf verschiedene Bezugsgruppen, wie Gleichaltrige oder Eltern, definiert werden (Reinders, 2002).

3.4 Zusammenfassung grundlegender Entwicklungsaspekte

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(Kritische) Lebensereignisse Laut Lehr nehmen Personen eine höhere Anzahl von Wendepunkten im eigenen Leben wahr als in der entwicklungspsychologischen Forschung genannt werden (Lehr, 1999). Sie erinnern bedeutsame Ereignisse meist als „Knoten“ (Kruse & Schmitt, 2002, S. 125), mit denen sie andere, subjektiv weniger vordergründige Entwicklungen zu einer Art Erfahrungsnetz verbinden. Im Rahmen der Bonner und späteren Heidelberger Lebenslaufforschung zeigte sich, dass fast 40 % der positiven wie negativen einschneidenden Erlebnisse biografiespezifisch und nicht normativ auf den jeweiligen Lebensabschnitt bezogen waren: wichtige Begegnungen mit Menschen, Konflikte, aber auch erste selbst erworbene materielle Güter als Ausdruck eigener Unabhängigkeit (Thomae, 2002). Besonders kritische Lebensereignisse, die nur wenige Menschen in derselben Altersgruppe betreffen, können die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben beeinträchtigen. Es handelt sich hierbei häufig um unerwartete Ereignisse, doch auch bei vorhersehbarem Eintritt, wie Pensionierung, können diese eine Belastung darstellen (Greve & Leipold, 2012). Das kritische Potential ergibt sich aus den situativen Bedingungen (z. B. Dauer des Ereignisses), der individuellen Biografie (z. B. Vorerkrankung) und dem Umfeld (z. B. Rückhalt der Familie) sowie aus den persönlichen Eigenschaften (z. B. Ausmaß an Selbstvertrauen; Filipp & Ferring, 2002). Ausschlaggebend für die Entwicklung ist, wie die Person in ihrer Lebenssituation das Ereignis wahrnimmt und bewältigen kann. Lehr weist auf die kognitive Repräsentanz hin, die hierfür von Bedeutung ist: Diese ist durch vergangene Erfahrungen, die gegenwärtige Situation und Zukunftserwartungen inklusive sozialer und historischer Gegebenheiten beeinflusst und wirkt sich ihrerseits auf das Erleben und den Umgang mit Belastungen aus (Lehr, 1999). Wie die Forschung zum posttraumatischen Wachstum deutlich macht, können Belastungen Herausforderungen darstellen und die persönliche Entwicklung positiv beeinflussen. Doch die persönlichen Fähigkeiten hängen auch wesentlich vom sozialen Umfeld ab und sind daher im Zusammenhang damit zu betrachten (Greve & Leipold, 2012). Wechselseitigkeit von Person und Umfeld Neben der genetischen Ausstattung einer Person ist die Umwelt als besonders prägender Einfluss für die Entwicklung hervorzuheben. Hierzu gehören unter anderem Beziehungen zu anderen Menschen: „Denn“, so Martin Buber, „das innerste Wachstum des Selbst vollzieht sich nicht, wie man heute gerne meint, aus dem Verhältnis des Menschen zu sich selber, sondern aus dem zwischen dem Einen und dem Anderen“ (Buber, 1965, S. 36; zitiert nach Mentzos, 2010, S. 42). Darauf weist auch der Begriff des Modell- oder Beobachtungslernens, den Bandura in seiner sozial-kognitiven Lerntheorie beschreibt, hin (Bandura, 1979). Er versteht darunter das Vermögen des Menschen, sich durch stellvertretende Erfahrungen, wie die Verhaltensbeobachtung einer anderen Person, zu entwickeln (Hagemeyer, 2014). Daher, so Battegay über das Potential der Einbindung in eine Gruppe: „Nicht nur die Grundpersönlichkeit eines Menschen bestimmt seinen Werdegang, sondern auch die Struktur einer Gruppe, einer Gesellschaft, in die er hineinwächst“ (Battegay, 1999, S. 204).

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3 Persönliche Entwicklung

Damit wird der in transaktionalen Modellen beschriebene wechselseitige Einfluss, des Individuums auf die Umwelt und der Umwelt auf das Individuum, deutlich. Informationen werden von der Person aufgenommen und darüber hinaus von ihr verarbeitet, weshalb sich diese interindividuell sehr unterschiedlich auswirken können. Auf Basis des Zusammenwirkens von objektiv sichtbaren sowie zugeschriebenen Merkmalen einerseits und Selbstwahrnehmung andererseits entsteht nach Leipold und Greve (2015) Identität. Nicht nur äußere Reize bedingen einen aktiven Prozess, sondern die Person beeinflusst auch umgekehrt ihre Umwelt. Diese ist wiederum auf die Entwicklung der Person abgestimmt, wenngleich die Umwelt für die Person mehr oder weniger passend sein kann. Als Beispiel sind Bildungseinrichtungen zu nennen, deren Organisation einerseits der jeweiligen Entwicklungsphase entspricht, wie der Kindergarten oder später die verschiedenen Schulstufen. Andererseits soll die Umwelt die weitere Entwicklung unterstützen (Montada et al., 2012, S. 34; Thomae, 2002, S. 31f.). Auch eine stationäre Therapieeinrichtung für Menschen mit Essstörungen kann so betrachtet werden: Diese soll auf die Belastungen und Bedürfnisse der Betroffenen, also auf ihren eigenen Entwicklungsprozess zum gegebenen Zeitpunkt, ausgerichtet sein und gleichzeitig Raum für die weitere Selbstentwicklung zur Verfügung stellen. Menschen erhalten somit zwar eine genetische Grundlage und wachsen unter gewissen Umfeldbedingungen auf, können jedoch deren Auswirkungen selbst beeinflussen. Wenngleich dies in unterschiedlichem Ausmaß der Fall ist, soll dadurch betont werden, dass Gene nicht determinieren, sondern aufgrund der epigenetischen Zellinformation durch weitere (Umwelt-)Faktoren in ihrer Aktivität reguliert werden. Auch hierbei handelt es sich um einen lebenslangen Prozess. Dem Menschen kommt somit eine aktive Rolle in seiner eigenen Entwicklung zu, jedoch mit begrenzter Verantwortlichkeit für Geschehnisse im Lebenslauf (Asendorpf, 2012). Anpassung und Selbstgestaltung Menschen verfügen über ein hohes Potential an Anpassungsfähigkeit, die eine Grundlage für Entwicklung ist und sich insbesondere im Rahmen von kritischen oder traumatischen Erlebnissen zeigt. Frühe (Bindungs-)Erfahrungen beeinflussen die Ausprägung dieses Potentials zwar wesentlich, aber nicht in einem unveränderbaren deterministischen Sinn. In diesem Fall wäre das spätere Verhalten vorhersagbar, jedoch tragen nachfolgende Erfahrungen ebenso in einem großen Ausmaß zur Entwicklung der Anpassungsfähigkeit bei (Jüttemann, 2002, S. 325). Im Rahmen von Bewältigungsprozessen, wie diese im Zwei-Prozess-Modell der Entwicklungsregulation von Brandtstädter und Rothermund (2002) beschrieben werden, kann eine Anpassung mit einer Veränderung von Zielen erfolgen, wenn diese unerreichbar erscheinen. Diese so bezeichnete Akkommodation besteht somit in einem flexiblen Umgang mit der Situation, der sich unter anderem in einer emotional höheren Ausgeglichenheit zeigt. Anpassung ist jedoch nicht nur positiv einzustufen, sondern kann die Person letztlich in ihrer weiteren Entwicklung einschränken (Leipold & Greve, 2015). Intentionale Selbstentwicklungsstrategien hingegen dienen der Erreichung von Zielen, die in einer persönlichen Veränderung liegen. Hierbei handelt es sich um Assi-

3.4 Zusammenfassung grundlegender Entwicklungsaspekte

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milationsprozesse. Diese beiden Formen, Assimilation und Akkommodation, stehen einer defensiven Verarbeitung gegenüber, bei der die Person weder bewusst ihre eigene Entwicklung beeinflusst noch das Ziel verändert, sondern eine Problemstellung verdrängt ‒ möglicherweise bis sich daraus ergebende Konsequenzen, beispielsweise (Fortschreiten der) Erkrankung, ins Bewusstsein drängen (Greve & Leipold, 2012). Fazit Bevor anschließend die Methodik des Forschungsprojektes beschrieben wird, erfolgt nun ein Resümee der erläuterten Aspekte im Hinblick auf die Relevanz für die Forschungsfragen. Für das Thema der Essstörung und deren Überwindung sind die im dritten Kapitel ausgeführten Entwicklungstheorien in mehrererlei Hinsicht von großer Bedeutung. Unter anderem sind folgende Zusammenhänge festzuhalten: Inwiefern stellt die schwerwiegende Erkrankung, die oft mit großem Leidensdruck einhergeht, eine Anregung zum persönlichen Wachstum dar (vgl. Theorien zum PTG)? Welche persönlichen und sozialen Ressourcen, die in ressourcenorientierten Ansätzen als wesentlich für Gesundheit bzw. Gesundung gelten, tragen zur Überwindung der Essstörung bei? Zeigen sich im Rahmen der Überwindung der Essstörung Aspekte, die auch in den erwähnten Entwicklungskonzepten, z. B. Weisheit oder PTG, als Kennzeichen für (positive) Entwicklung beschrieben werden? Beispiele sind das Erkennen von Sinn in den Ereignissen und die Auseinandersetzung mit Herausforderungen im Leben, die unter anderem in den Konzepten Weisheit, PTG und Kohärenzgefühl wichtige Gesichtspunkte darstellen. Ein besonderes Augenmerk sollte auf die Selbstentfaltung als Leben der eigenen Wünsche und Potentiale gelegt werden, da bei Menschen mit Essstörungen häufig eine eingeschränkte Wahrnehmung der eigenen Wünsche und eine starke Tendenz zur Anpassung an die Erwartungen der anderen zu beobachten sind. Im Rahmen der Überwindung, so die Forschungsannahme, könnte sich dementsprechend eine vermehrte Umsetzung eigener Potentiale, Wünsche und Ziele zeigen: die Entfaltung des Selbst. Dafür wiederum war die Differenzierung des Selbst-Begriffs von anderen, oft nicht eindeutig abgegrenzten und mitunter synonym verwendeten Begriffen von Relevanz. Dabei sollte das Verständnis im Rahmen des Forschungsprojektes deutlich werden, nämlich, dass das Selbst und die Person, ein weiterer wichtiger Begriff in der vorliegenden Arbeit, für eine umfassende Sichtweise stehen. Nicht nur die Eigenschaften des Individuums im engeren Sinn, sondern auch die Beziehungen zum näheren Umfeld und zur Gesellschaft sowie die Beziehung zum Leben werden betont: das In-der-Welt-Sein. Die wechselseitige Beeinflussung von Individuum und Umwelt ist ebenso in aktuellen Entwicklungstheorien ein wichtiger Aspekt, womit das Individuum als das eigene Leben aktiv gestaltend betrachtet wird. Vor allem liegt der Fokus auf dem Überwindungsprozess. Die Prozesshaftigkeit ist einerseits im Hinblick auf den Verlauf vom Beginn der Essstörung bis zum Stattfinden des Forschungsgesprächs, andererseits im Phänomen selbst, das über die Essstörungssymptomatik hinausreicht, zu sehen. Entwicklung als Prozess und weniger als diskontinuierliches, stufenhaftes Phänomen aufzufassen, steht auch in den Entwicklungstheo-

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3 Persönliche Entwicklung

rien im Vordergrund. Dass sich die Überwindung der Essstörung als ein Aktivität erfordernder, mühsamer Prozess darstellt, der durch Ressourcenmobilisierung erleichert wird und wiederum zum Aufbau von Ressourcen beitragen kann, war auf Basis der Literatur über die Erkrankungsverläufe eine Annahme im Vorfeld des Projektes. Diesbezüglich geben die Resultate der Gesprächsauswertung ab Kapitel 5 einen detaillierten Einblick. Jedenfalls, so viel sei bereits an dieser Stelle erwähnt, kann die Essstörung als belastende Erfahrung auch zu positiven Veränderungen im Leben der Betroffenen, wie zum persönlichen Wachstum, beitragen.

4 Methodische Vorgehensweise In diesem vierten Kapitel wird der Forschungsprozess, der an der Grounded Theory (Strauss & Corbin, 1996) ausgerichtet ist, beschrieben. Dabei steht nach einem kurzen Überblick über die Grundsätze der Grounded Theory das konkrete Vorgehen im Rahmen des durchgeführten Projektes im Vordergrund: die Entscheidung für narrative Interviews in Anlehnung an Schütze (1983) als Datenmaterial, die Auswahl der Gesprächspersonen und die Durchführung der Gespräche sowie die einzelnen Auswertungsschritte. Den Abschluss dieses Kapitels bildet die kritische Reflexion des Vorgehens. Außerdem werden hier Rückmeldungen der Personen zum Erleben des Forschungsgespräches und eigene Eindrücke aus der Perspektive als Forscherin thematisiert. 4.1 Grounded Theory Zur Erforschung des subjektiven Erlebens von Menschen mit überwundener Essstörung ist ein methodischer Zugang zu bevorzugen, bei dem keine vorherige Formulierung von Hypothesen oder Kategorien erfolgt, sondern diese erst aus dem Material entstehen. So können subjektive Sichtweisen und ihre Zusammenhänge mit einer Offenheit erfasst werden, ohne nur auf ausgewählte Aspekte zu fokussieren. Für diese Zielsetzung erweist sich die Grounded Theory (GT), eine gegenstandsverankerte (grounded) Theoriebildung, als adäquate Methodik. Nachfolgend werden die Grundlagen der GT ausgeführt, während die konkreten Schritte im Rahmen dieses Forschungsprojektes Inhalt der weiteren Unterkapitel zum methodischen Vorgehen sind. Kreativer Forschungsstil Die GT geht auf die Soziologen Barney Glaser und Anselm Strauss zurück, die im Jahr 1967 das Buch The discovery of Grounded Theory publizierten (Glaser & Strauss, 2006). Es handelt sich nicht nur um die Anwendung eines qualitativen Auswertungsverfahrens, sondern um eine Methodologie oder einen „Forschungsstil“ (Mey & Mruck, 2007, S. 17), also eine umfassende wissenschaftliche Heran- und Vorgehensweise mit entsprechendem Wissen um die einzelnen Schritte im Forschungsprozess. Die Ergänzung der Regelgeleitetheit um Kreativität kommt bei Böhm, der von der GT als „Kunstlehre“ (Böhm, 2013, S. 476) spricht, zum Ausdruck (Mey & Mruck, 2007; Strauss & Corbin, 1996, S. 8ff.). Inzwischen haben sich verschiedene Richtungen entwickelt, beispielsweise die Reflexive Grounded Theory von Franz Breuer (2010; Breuer, Muckel & Dieris, 2018) und die sozialkonstruktivistisch basierte Herangehensweise von Kathy Charmaz (2006). Das Ziel der GT besteht darin, eine „Theorie mittlerer Reichweite“ (Mey & Mruck, 2010, S. 624) aus den Daten zu entwickeln, um damit ein Phänomen von gesellschaftlicher Relevanz sowie dessen Zusammenhänge zu erfassen. Häufig handelt es sich bei den Daten um Beobachtungen oder Interviews, die als Text vorliegen. Erst auf Basis der gefundenen Informationen werden im Verlauf Eingrenzungen vorgenommen. Somit © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Kathrein, Überwindung der Essstörung als Weg ins Gleichgewicht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25971-6_4

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4 Methodische Vorgehensweise

steht die Formulierung einer neuen Theorie und nicht die Überprüfung einer bereits bestehenden im Zentrum (Reichertz & Wilz, 2016). Theoretisches Sampling Dass die GT nicht nur die Auswertung, sondern bereits die Sammlung der Daten umfasst, zeigt sich am Vorgehen des theoretischen Samplings (Theoretical Sampling). Dabei erfolgt die kontinuierliche Auswahl der zu untersuchenden Fälle entsprechend dem aktuellen Erkenntnisstand. Theoretische Sensibilität, das aufmerksame Erkennen relevanter Hinweise im Feld und in den Daten, erleichtert diese Auswahl. Durch den Austausch mit anderen Forschenden, eigene Erfahrungen im Laufe des Forschungsprozesses sowie Auseinandersetzung mit entsprechender Literatur erhöht sich die Sensibilität üblicherweise. Je nach Kodierverfahren ‒ offen, axial oder selektiv ‒ unterscheidet sich die Sampling-Strategie (Strauss & Corbin, 1996, S. 56ff., S. 148ff., S. 152ff.). Alle drei Verfahren wiederholen sich mehrmals im Laufe des Forschungsprozesses mit jeweils anderem Erkenntnishintergrund (Breuer, 2010, S. 76). Offenes, axiales und selektives Kodieren Die Begriffe Kode (oder auch Konzept) und Kategorie werden in der Literatur zur GT nicht einheitlich verwendet (Breuer, 2010, S. 80f.; Muckel, 2011; Muckel & Breuer, 2016; Strauss & Corbin, 1996, S. 43). In dieser Dissertation ist unter einem Kode die Beschreibung und Bezeichnung eines konkreten Aspekts eines Phänomens zu verstehen, wofür sogenannte In-vivo-Kodes oder natürliche Kodes, also möglichst datennahe anstatt abstrakte oder theoretische Begriffe, gewählt wurden (Muckel & Breuer, 2016). Durch eigens geschaffene, spezifische Formulierungen können vorhandene Prägungen aus anderen theoretischen Bezügen vermieden werden (Breuer, 2010, S. 77f.). Kodes, zwischen denen im Hinblick auf die Forschungsfrage bzw. das Phänomen ein Zusammenhang zu erkennen war, bildeten eine Kategorie, die im Laufe der Auswertung und Auseinandersetzung mit bereits bestehenden Theorien zunehmend abstrahiert wurden. Eine Kategorie entstand somit durch eine Klassifikation von Kodes, die sich auf ein ähnliches oder dasselbe Phänomen bezogen. Beim offenen Kodieren sollen viele verschiedene Aspekte des Phänomens gefunden werden, weswegen die Sampling-Auswahl von dieser Offenheit geleitet wird (Strauss & Corbin, 1996, S. 152ff.). Die Fälle, häufig Gesprächspersonen, werden zwar im Hinblick auf das Forschungsinteresse, aber noch relativ unsystematisch ausgewählt. Das Stellen von Fragen an das Material, das oft als Niederschrift der Gespräche vorliegt, soll die Ordnung der Daten erleichtern (Böhm, 2013). Außerdem sind Memonotizen Bestandteil des gesamten Forschungsprozesses, worin, in Abhängigkeit ihrer Gestaltung und Zielsetzung, Beschreibungen von Kategorien, Theorieentwürfe bis zu Assoziationen und Ideen festgehalten werden. Diese bestehen zwar getrennt von den Daten, fließen jedoch ebenso in die Auswertung ein (Strauss & Corbin, 1996, S. 169ff.). Hierfür eignet sich auch ein Forschungstagebuch (Breuer, 2010, S. 131). Neben der Formulie-

4.1 Grounded Theory

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rung von Fragen und Memos trägt unter anderem die von Strauss und Corbin so bezeichnete Flip-Flop-Technik zur Erhöhung der theoretischen Sensibilität bei. Dabei soll gedanklich ein Vergleich zwischen extremen Ausprägungen von Daten, Kodes, Kategorien gezogen werden, um die Analyse zu vertiefen und das Phänomen in seinen Dimensionen möglichst breit zu erfassen (Muckel & Breuer, 2016; Strauss & Corbin, 1996, S. 64ff.). Erst mit dem axialen Kodieren, wobei Beziehungen zwischen den Kategorien herausgearbeitet werden, erfolgt die Auswahl der Fälle im Hinblick auf diese Zusammenhänge (Strauss & Corbin, 1996, S. 156ff.). Diese Beziehungen können auf verschiedene Weise geordnet werden. Hierzu beschreibt Strauss das Kodierparadigma, während Glaser von Kodierfamilien spricht. Das Kodierparadigma verbindet die Daten nach ursächlichen Bedingungen, Kontextbedingungen und intervenierenden Bedingungen, die wiederum mit Handlungsstrategien und Interaktionen zu bestimmten Konsequenzen führen können. Glaser hingegen formuliert mehrere Möglichkeiten der Ordnung von Daten im Rahmen der Kodierfamilien, von denen in der vorliegenden Arbeit unter anderem die Prozess-Familie zur Beschreibung von Verläufen zur Anwendung kommt. Dem zuvor genannten Kodierparadigma entspricht die C-Familie als weiteres Beispiel von Glasers Kodierfamilien, die Zusammenhänge zwischen den Kategorien nach Ursachen (causes), Konsequenzen (consequences), Korrelationen (contexts) und Bedingungen (conditions) herstellt (Böhm, 2013; Mey & Mruck, 2007). Eine stärkere Differenzierung erfolgt mit dem diskriminierenden Sampling im Rahmen des selektiven Kodierens. Dabei werden die Kernkategorie, das zentrale Phänomen, sowie deren Beziehungen zu den anderen Kategorien expliziert. Dafür bedarf es einer gezielten Suche nach Fällen, mit denen die Kategorien bestätigt bzw. verändert, vertieft und erweitert werden können. Ein wichtiger Bestandteil dabei ist das kontinuierliche Überprüfen der Kategorien mittels Datenvergleich, bei Bedarf mit entsprechenden Modifikationen. Dieses Vorgehen soll bis zur theoretischen Sättigung wiederholt werden. Als Kennzeichen dafür gilt, dass sich bei Berücksichtigung des Ablaufs der GT mit Variation der Fälle keine neuen, kategorienspezifischen Daten sowie Beziehungen zwischen den Kategorien mehr zeigen und die vorhandenen ausreichend validiert sind. Allerdings lassen sich Bedingungen sozialer Phänomene aufgrund ihrer Komplexität nur eingeschränkt reproduzieren (Böhm, 2013), so wie auch Erkenntnisse nicht mit einer Endgültigkeit verifizierbar sind (Breuer et al., 2018, S. 362). Im Hinblick auf das theoretische Sampling und die theoretische Sättigung stellen darüber hinaus oft institutionelle und formale Gegebenheiten, insbesondere im Rahmen von Qualifikationsarbeiten, eine Begrenzung dar (Truschkat, Kaiser-Belz & Volkmann, 2011). Nicht zuletzt ist die Theoriebildung an sich ein kontinuierlicher Prozess, wie es auch Glaser formuliert: „These [emergent] perspectives can easily occur even on the final day of study or when the manuscript is reviewed in page proof: so the published word is not the final one, but only a pause in the never-ending process of generating theory“ (Glaser & Strauss, 2006, S. 40).

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4 Methodische Vorgehensweise

Fazit Abschließend ist festzuhalten, dass die GT einerseits Entdeckerfreude weckt und großes Erkenntnispotenzial mit sich bringen kann, indem sie über die Regeln hinaus Raum für Kreativität bei der Theoriebildung zulässt. Andererseits stellt dies jedoch insbesondere für Novizen und Novizinnen eine Herausforderung dar (Böhm, 2013). Zur Verringerung von Unsicherheiten ist daher der Austausch mit anderen Forschenden von großer Bedeutung (Breuer, 2010, S. 134ff.), ebenso die genaue Dokumentation der einzelnen Schritte im Forschungsprozess. Diese werden in den folgenden Kapiteln erläutert. 4.2 Narration als Datenquelle Für die Datenerhebung wurden in diesem Dissertationsprojekt narrative Interviews in Anlehnung an Schütze (1983) mit ehemals von Anorexie und/oder Bulimie betroffenen Personen gewählt. Als Erweiterung dienten themenspezifische Leitfadenfragen. Ein solcher qualitativer, idiografischer Ansatz ist für die Untersuchung des subjektiven Erlebens der ehemaligen Betroffenen, im Speziellen der Selbstentfaltung und des persönlichen Wachstums, einer standardisierten Gesprächsführung vorzuziehen. Zu begründen ist dies damit, dass die subjektive Perspektive der Gesprächspersonen und ihre spontanen Äußerungen im Vordergrund stehen sollen (Küsters, 2009, S. 20). So zeigt sich in der Biografieforschung, dass die Individualität des Lebenslaufes über allgemeine Beobachtungen hinaus für das Verständnis von Entwicklungsphänomenen von großer Bedeutung ist (Lehr, 1999). Für das Sprechen über sehr persönliche Lebensbereiche ist außerdem eine freie Erzählform, die einer alltäglichen Kommunikation nahekommt, von Vorteil, um eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen (Küsters, 2009, S. 22). Erst das Erzählen ermöglicht eine Annäherung an die Geschichte eines Menschen, wie es Schubert und Amberger in Bezug auf Patienten und Patientinnen schildern: Bei einer Krankengeschichte geht es im Kern um persönliche Erlebnisse und Erfahrungen des Patienten, das heißt, wie das Wort bereits besagt, um seine Geschichte. Eine Geschichte muss jedoch erzählt werden und braucht ein Gegenüber, das zuhört. Der Patient ist der Experte für das, was ihm widerfahren ist und was er spürt. (Schubert & Amberger, 2016, S. 20)

Diese Herangehensweise von Schubert und seinem Forschungsteam zeigt sich auch in der Bezeichnung ihrer Einzelfallstudien als Life As It Is Lived, nach dem Vorbild von Gordon Allport (Schubert & Amberger, 2016, S. 24, S. 27). „Jeder Patient ist eine Geschichte“ (Schubert & Amberger, 2016, S. 240), so ihr Leitsatz. Dementsprechend wurden die Untersuchungsaspekte im Rahmen der Dissertation nicht isoliert abgefragt, sondern im Zusammenhang mit der persönlichen Geschichte betrachtet. Darüber hinaus ist zu betonen, dass die Gesprächspersonen mit ihren Erfahrungen, wie bei Schubert und Amberger, als Expertinnen gelten und nicht als Forschungsobjekte, von denen Daten gewonnen werden. Der gewählte Zugang ermöglicht einerseits, einzelne Aspekte, ebenso das Zusammenwirken mit anderen Einflüssen, im Lebenskontext zu interpretieren und damit besser

4.2 Narration als Datenquelle

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zu verstehen. Andererseits lässt sich aus spontanen Äußerungen zu einem Thema dessen subjektive Bedeutung für den Weg aus der Essstörung ableiten. Spezifische Leitfadenfragen kamen zum Einsatz, wenn sich diesbezüglich keine Hinweise in der Erzählung ergaben oder entsprechende Aussagen vertieft werden sollten (Küsters, 2009, S. 61ff.). 4.2.1 Auswahl der Gesprächspersonen Menschen, die eine Essstörung überwunden haben, sind schwieriger zu finden als aktuell in Therapie stehende Betroffene. Daher wurden einerseits Therapeutinnen gebeten, mit Personen aus einer früheren Therapie Kontakt aufzunehmen. Andererseits erfolgten Ausschreibungen in Praxen mit verschiedener fachlicher Ausrichtung (Physiotherapie, Osteopathie, Shiatsu, Gynäkologie), in privaten Kontexten, öffentlichen Einrichtungen (Vereinen, Fortbildungszentren) sowie an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. An einem Gespräch Interessierte sollten sich aus eigener Initiative melden, um das Vertrauensverhältnis zu wahren. Adaptation des theoretischen Samplings Die Vorgehensweise bei der Auswahl der Personen war am theoretischen Sampling der GT orientiert, wurde jedoch an die konkreten Gegebenheiten adaptiert. So fanden die Gespräche nicht parallel zur Auswertung, sondern unmittelbar nach Kontaktaufnahme von Seiten der Personen statt, um deren Interesse und Bereitschaft für ein Gespräch nicht zu verlieren. Allerdings wurde die Zusammensetzung der Personengruppe während der Durchführungsphase kontinuierlich auf Variabilität bezüglich verschiedener Merkmale überprüft. Dies wurde durch die alleinige Durchführung und Transkription der Gespräche erleichtert, da dadurch bereits vor der Auswertung eine detaillierte Kenntnis der Lebensgeschichten vorhanden war. Zu diesen Merkmalen zählten zunächst jene, die bereits im Vorfeld als wichtig in Bezug auf die Fragestellung erachtet wurden. Das sind unter anderem: Diagnose Anorexie bzw. Bulimie; Alter; zeitliches Zurückliegen der Essstörung; Inanspruchnahme von Therapie; persönliche Eigenschaften, insbesondere Tendenz zur Anpassung. Während der Sammlung des Datenmaterials wurde die Heterogenität der Personengruppe zudem nach Aspekten beurteilt, die sich in den Gesprächen als sehr präsent und bedeutsam herausgestellt hatten, beispielsweise nach der Bedeutung von Beziehungen für den Weg aus der Essstörung. Auswahlkriterien Die Auswahl der Gesprächspersonen wurde auf Frauen beschränkt, da diese, mit variierenden Zahlen in den einzelnen Studien, wesentlich häufiger von Anorexie und Bulimie betroffen sind als Männer (DIMDI, 2018, F50 Essstörungen; Fichter, 2010; Jacobi et al., 2014; Núñez-Navarro et al., 2012). Daher war nur eine sehr geringe Beteiligung von Männern mit Essstörungen zu erwarten und ein Geschlechtervergleich hinsichtlich der Entwicklungspfade fraglich, zumal es zumindest teilweise Unterschiede bezüglich

134

4 Methodische Vorgehensweise

Symptomatik und Verlauf gibt. Außerdem ist die Betroffenheit bei Männern mit noch mehr Scham behaftet als bei Frauen, da Essstörungen in der Gesellschaft als Erkrankungen von Frauen thematisiert werden. Dementsprechend befürchten sie häufig, mit Unverständnis von anderen konfrontiert zu werden (Dechene, 2008; Grabhorn et al., 2003; Krenn, 2004; Núñez-Navarro et al., 2012). Diese Erwartung bestätigte sich, da Kontaktaufnahmen von Männern trotz offen formulierter Ausschreibung, in der Menschen mit überwundener Essstörung gesucht wurden, ausblieben. Außerdem fand eine Eingrenzung auf Erwachsene statt. Dies ist einerseits mit den unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben in der Kindheit, Jugend und im Erwachsenenalter zu begründen. Andererseits beginnt die Essstörung häufig erst mit der Pubertät, sodass die Überwindung eher ab oder nach der späteren Adoleszenz wahrscheinlicher ist. Wichtigstes Auswahlkriterium war gemäß der Fragestellung das Vorliegen einer überwundenen Essstörung. Es wurden sowohl Personen mit ehemaliger Anorexie als auch Bulimie einbezogen, da es zwar Unterschiede in der Psychodynamik gibt, aber das Problem der Anpassung bei beiden Erkrankungen zu beobachten ist (u. a. Bruch, 1989, 1990; Bulik & Kendler, 2000; Ettl, 2013; Stein & Corte, 2007; Tan et al., 2003). Somit kann eine persönliche Entwicklung durch die Auseinandersetzung mit der Essstörung unabhängig von der konkreten Ausprägung angenommen werden. Zudem kommt es häufig zu Übergängen von Anorexie zu Bulimie oder zu Mischformen (Arcelus et al., 2011; Gerlinghoff & Backmund, 2004; Herzog et al., 2006; Zipfel & Groß, 2005). Für die Überwindung der Essstörung wurden folgende Kriterien festgelegt:  

die subjektive Einschätzung der Gesprächspersonen, die Essstörung überwunden zu haben; keine aktuelle stationäre und/oder ambulante Therapie aufgrund der Essstörung;

sowie in Anlehnung an die ICD-10 (F50 Essstörungen; DIMDI, 2018) auf Ebene  



der Kognitionen: keine gedankliche Fokussierung auf Essen; des Verhaltens: keine starke Einschränkung der Nahrungszufuhr; keine Essanfälle; keine rigide Kontrolle des Körpergewichts durch Nahrungsrestriktion, körperliche Aktivität, Erbrechen und/oder Einnahme von Abführmitteln; des Erlebens: keine (große) Angst vor einer Gewichtszunahme; keine übermäßige Bedeutung des Körpergewichts für die eigene Körperwahrnehmung.

Zugunsten einer vertrauensvollen Gesprächssituation wurde weder der BMI noch das Erfüllen der oben genannten Kriterien im Vorfeld bzw. im Rahmen des Gesprächs abgefragt. Lediglich die subjektive Einschätzung sollte mitgeteilt werden, wobei sich die meisten Personen bereits bei der Kontaktaufnahme kurz über die Themen, auf die sich die Kriterien beziehen (z. B. Gewichtssituation, Essverhalten), äußerten. Details stellten sich erst im Gespräch heraus. Bei Personen mit sichtbarem Untergewicht wären konkrete Nachfragen erforderlich gewesen, um über die Teilnahme zu entscheiden. Dieser Fall trat jedoch nicht ein. Aufgrund der in der Literatur angegebenen unterschiedlichen Verläufe und Prognosen ist es schwierig, ein konkretes symptom- bzw. problemfreies Intervall anzugeben, das als Merkmal einer überwundenen Essstörung gelten kann. Daher stand die Erfüllung

4.2 Narration als Datenquelle

135

der oben erwähnten Kriterien im Vordergrund, jedoch wurde die Dauer der Beschwerdefreiheit im Gespräch erfragt und in die Auswertung einbezogen. Die erste Ausschreibung war auch an Personen im fortgeschrittenen Therapieprozess adressiert, unter anderem, um erste Erfahrungen zu sammeln, ob bzw. in welchem Ausmaß Rückmeldungen zu erwarten sind. Besonders aber sollten damit Personen in unterschiedlichen Stadien auf dem Weg aus der Essstörung gefunden werden. Im Laufe des Projektes wurde die Ausschreibung verändert und der Fokus auf jene gelegt, die sich als Menschen mit überwundener Essstörung angesprochen fühlten. Die Erzählungen der Personen im fortgeschrittenen Therapieprozess dienten als Kontrastierung zur Differenzierung und Vertiefung des Modells. Nur eine Person wurde nicht in die Stichprobe aufgenommen, da ihre emotionale Stabilität zum Zeitpunkt des Gesprächs, insbesondere wegen einer, wenngleich sich verringernden, Alkoholproblematik eingeschränkt zu sein schien. Aufgrund eines Alkoholexzesses kam es fünf Jahre vor dem Gespräch zu einem Entzug des Sorgerechts für ihre Tochter, die daraufhin nur mehr die Wochenenden bei ihr verbringen durfte. Laut ihrer Aussage sei sie mit einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung diagnostiziert worden. Dieser Wissenshintergrund war jedoch nicht ausschlaggebend für den Ausschluss, da in dieser Forschungsarbeit die Person und nicht die Diagnose im Mittelpunkt steht. Vielmehr waren es Irritationen auf Seiten der Forscherin vor und im Gespräch, die reflektiert wurden. Außerdem galten deutliche Hinweise nicht nur auf die Essstörung, sondern auch auf andere psychische Beeinträchtigungen als Ausschlussgrund. Letztlich lag diese Person trotz Erweiterung der Auswahlkriterien im Hinblick auf die Überwindung der Essstörung außerhalb des Definitionsbereiches. Darüber hinaus waren für die Kontrastierung als Person in einem fortgeschrittenen Überwindungs- und Therapieprozess bereits ausreichend Frauen, die diese Kriterien eindeutiger erfüllten, ausgewählt worden. Merkmale der Gesprächspersonen Insgesamt fanden Gespräche mit 24 Frauen statt, von denen 23 in die Auswertung einbezogen wurden. Sie lebten in den fünf österreichischen Bundesländern Wien, Niederösterreich, Tirol, Kärnten und Steiermark. Zwölf von ihnen verbrachten ihre Kindheit an einem anderen Ort bzw. in einem anderen Bundesland, darunter sind zwei Personen in Deutschland geboren und aufgewachsen. Neun Frauen hatten keine bzw. kaum Therapieerfahrung mit maximal einzelnen Stunden zu Beginn der Essstörung. Dementsprechend erfolgte die diagnostische Zuordnung im Rahmen dieser Arbeit auf Basis des Gesprächs mit ihnen. Eine Person war inzwischen als Psychotherapeutin tätig, eine weitere befand sich zum Zeitpunkt des Gesprächs in einer solchen Ausbildung. Die beiden sowie die anderen Frauen, die einen medizinischen oder psychosozialen Hintergrund im Beruf bzw. Studium hatten ‒ insgesamt vierzehn, also knapp zwei Drittel aller Gesprächspersonen ‒, unterschieden sich in Bezug auf subjektive Krankheitstheorien und verwendete Begriffe jedoch nicht von jenen aus anderen beruflichen Kontexten. Dies weist darauf hin, dass die Essstörung und vor allem auch die Therapie zu einer intensiven Auseinandersetzung mit sich selbst beigetragen hatten. Weitere Details zu ausgewählten Merkmalen der 23 Frauen sind in Tabelle 1 ersichtlich. Im Hinblick auf das zeitliche Zurückliegen der Essstörung („Überwindung seit“) ist

136

4 Methodische Vorgehensweise

anzumerken, dass es sich dabei nur um eine ungefähre Angabe handeln kann. Dies wird in der Darstellung des Modells zu persönlichen Entwicklungswegen aus der Essstörung ab Kapitel 5 deutlich, wenn es unter anderem um das Verständnis von Überwindung geht. Tabelle 1

Auswahl von Merkmalen der 23 Gesprächspersonen (eigene Darstellung)

Diagnose

nur Anorexie: 7 nur Bulimie: 10 (7 purging, 3 non purging) Anorexie und Bulimie: 6

Therapieerfahrung

keine/kaum (einzelne Stunden): 9 ambulant und/oder stationär: 14

Überwindungsprozess

Überwindung seit ≤ 1 Jahr: 8 > 1‒5 Jahre: 7 ≥ 10‒15 Jahre: 5 ≥ 20 Jahre: 3

Alter

20‒29 Jahre: 10 30‒39 Jahre: 7 40‒53 Jahre: 6

Beziehungsstatus

ohne Beziehung: 13 (2 mit Kindern aus geschiedener Ehe) in Beziehung: 10 (3 verheiratet und Kinder mit diesem Partner; eine Person mit Kindern aus geschiedener Ehe)

Ausbildung/Beruf

in Ausbildung/Studium: 11 (z. T. einzelne Stunden erwerbstätig) berufstätig: 11 (3 Ausbildung/Studium berufsbegleitend, eine Person wegen Mutterschaft geringfügig) Arbeitssuche: eine Person

4.2.2 Durchführung der Gespräche Die Gespräche wurden zeitnah zur jeweiligen Kontaktaufnahme zwischen Sommer 2015 und Frühjahr 2016 durchgeführt. Nach einigem zeitlichen Abstand meldete sich noch eine Person im September 2016, mit der das letzte, das 24. Gespräch, erfolgte. Die Aufklärung über den Ablauf (Dauer, Aufnahme auf Diktiergerät, Einwilligungserklärung, Anonymisierung) fand beim ersten schriftlichen oder telefonischen Austausch sowie vor Ort statt. Das Informationsblatt wurde im Fall einer Mailkonversation bereits vorab zugesandt und allen Personen beim Gespräch ausgehändigt. Dieses enthielt Informationen über die ungefähre Dauer, die Aufnahme auf Diktiergerät, das Einholen einer Einwilligungserklärung sowie die Anonymisierung persönlicher Daten. Für Rückfragen waren darauf außerdem die Kontaktdaten der Forscherin angegeben. Es wurde die Möglichkeit zugesichert, das Gespräch bei Bedarf bzw. Wunsch jederzeit unterbrechen oder abbrechen sowie sich auch im Nachhinein an die Forscherin wenden zu können, falls Belastungen auftreten sollten. Zur Einleitung des ersten offenen Erzählteiles im Rahmen der Narration diente eine erzählgenerierende Frage (Küsters, 2009, S. 55), die folgendermaßen lautete:

4.2 Narration als Datenquelle

137

In meiner Untersuchung interessiere ich mich für die Lebensgeschichten von Menschen, die von Anorexie und/oder Bulimie betroffen waren. Ich möchte Sie bitten, mir über den Beginn und das Erleben der Erkrankung und über den Weg aus der Essstörung zu erzählen, aber auch über andere, für Sie wichtige Erlebnisse, die Ihnen heute einfallen.

Durch diese Formulierung wird der Anfangspunkt der Erzählung vor das zentrale Thema dieser Untersuchung, den Weg aus der Essstörung, gesetzt und dieses wiederum im Kontext der ganzen Lebensgeschichte betrachtet. Die narrative Form lässt den Personen außerdem den Freiraum, jene Aspekte ihres Lebens zu schildern, die ihnen rückblickend als wichtig erscheinen, auch wenn sie über das zentrale Forschungsthema im engeren Sinn, die Essstörung sowie deren Überwindung, hinausreichen. Außerdem kann die Person durch diese Vorgehensweise die Reihenfolge des Erzählens in einer für sie stimmigen Weise selbst gestalten (Fischer-Rosenthal & Rosenthal, 1997, S. 141ff.). Nachfragen beschränkten sich zu diesem Zeitpunkt auf das Verständnis von Aussagen. Der zweite Gesprächsabschnitt hingegen beinhaltete konkrete Nachfragen (Küsters, 2009, S. 61ff.), die sich vor allem auf Veränderungen im Denken, Fühlen und Handeln während des Überwindungsprozesses bezogen. Damit sollten mögliche Hinweise auf eine Weiterentwicklung des Selbst und auf persönliches Wachstum gefunden werden. Weitere Fragen adressierten hilfreiche Erfahrungen in der Therapie und im Alltag sowie Veränderungsvorschläge, die die Personen als wesentlich für ihren Weg aus der Essstörung sehen:   

 



Inwiefern konnten Sie im Laufe der Überwindung mehr zu sich, also den eigenen Wünschen, Gefühlen und Vorstellungen, finden? Wie haben Sie sich als Person durch die Essstörung verändert? Was haben Sie in Ihrer Therapie (z. B. an der therapeutischen Beziehung, den therapeutischen Rahmenbedingungen) und insbesondere im Alltag als hilfreich erlebt? Welche Vorschläge haben Sie für die Therapie von Menschen mit einer Essstörung, damit diese ihren eigenen Weg aus der Erkrankung finden und gehen können? Was ist nach Ihren Erfahrungen außerhalb des therapeutischen Rahmens wichtig, damit die Betroffenen ihren eigenen Weg aus der Essstörung finden und gehen können? Was können bzw. möchten Sie (noch) Betroffenen für ihren Weg aus der Essstörung mitgeben?

Die Atmosphäre war bei allen Personen bereits in der Kontaktaufnahme, ebenso im Gespräch, angenehm und offen. Nur zwei Personen hielten die höfliche Anrede aufrecht, jedoch ohne Anzeichen eines eingeschränkten Vertrauens. Trotz der zum Teil belastenden Themen gab es immer wieder heitere Momente, wodurch diese vertrauensvolle Verbindung zwischen der Forscherin und den Gesprächspersonen deutlich wurde. Die meisten von ihnen wünschten eine Unterbrechung des Gesprächs, entweder für eine Rauchpause oder aufgrund des Läutens ihres Telefons, auf dessen Ausschalten sie vergessen hatten. Die Gespräche dauerten insgesamt zwischen 78 und 232

138

4 Methodische Vorgehensweise

Minuten. Bei der Verabschiedung erhielten alle Personen als Ausdruck der Wertschätzung ihrer Bereitschaft und ihrer Zeit ein selbst gestaltetes Präsent, bestehend aus einem kleinen Notizbuch und einer Teemischung, worüber sie sich sehr freuten. 4.3 Schritte der Modellbildung Forschungsmaterial Im Anschluss an die Durchführung der Gespräche erfolgte die Transkription der Audioaufnahmen nach den im Teil IV (Verzeichnisse und Hinweise) angegebenen Regeln. Die Texte wurden in Anlehnung an die GT ausgewertet und interpretiert, dementsprechend entstanden die Kategorien direkt aus den Daten (Muckel, 2011). Nur im Hinblick auf das persönliche Wachstum bildeten die drei in Kapitel 3.3.1 angeführten Entwicklungsbereiche (Beziehung zu sich selbst, Beziehungen zu anderen, Beziehung zum Leben) den strukturierenden Rahmen. Da die schriftlichen Kontaktaufnahmen via Mail und SMS Hinweise auf subjektive Auffassungen von Essstörungen und deren Überwindung bzw. von Gesundheit und Krankheit im Allgemeinen enthalten, umfasst die Auswertung auch diese Textformen. Außerdem wurden Forschungsergebnisse zur Psychodynamik und Therapie von Essstörungen sowie zum posttraumatischen Wachstum herangezogen, um eine Theorie zu Wegen aus der Essstörung, insbesondere zu hilfreichen Aspekten, zum persönlichen Wachstum und zur Bedeutung der Selbstentfaltung, zu entwickeln. Als ergänzendes Material dienten Forschungstagebuchnotizen, vor allem zur Beschreibung der Gesprächssituation (Gesamteindruck in Bezug auf Atmosphäre und Person, Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene etc.), aber auch zur Reflexion der eigenen Rolle im Forschungsprozess. Diese Herangehensweise, bei der die forschende Person als Subjekt im Forschungs- und Erkenntnisprozess explizit gemacht wird, folgt dem Ansatz der Reflexive Grounded Theory nach Breuer (2010; Breuer et al., 2018). Reihenfolge der Gesprächsauswertungen Die bereits beschriebenen Merkmale, anhand derer in der Phase der Gesprächsdurchführung die Variabilität der ausgewählten Personengruppe beurteilt wurde, bildeten die Kontrastierungskriterien für die Reihenfolge der Auswertungen. Folgendes Beispiel soll dies verdeutlichen: Für die erste Auswertung wurde das letzte durchgeführte Gespräch, jenes mit Tamina, gewählt, unter anderem aufgrund der noch präsenten Eindrücke. Bei Tamina lag die Essstörungserfahrung außerdem bereits länger zurück, und es zeigten sich Merkmale, wie Anpassung und Leistungsorientierung bzw. Selbstentfaltung und persönliches Wachstum, die im Forschungsprojekt von Interesse sind. Anika, deren Erzählung für die zweite Auswertung herangezogen wurde, unterschied sich von Tamina in folgender Hinsicht: Sie war mit zwanzig Jahren wesentlich jünger, noch Studentin, hatte an Anorexie statt an Bulimie gelitten, wie auch ihre Mutter und ihre Tante. Außerdem zeigte sich bei ihr im Gegensatz zu Tamina eher Rebellion als Anpassung. Während sowohl Anika als auch Tamina Therapieerfahrung hatten, war dies bei

4.3 Schritte der Modellbildung

139

Marlies nicht der Fall. Zudem stand in ihrer, der dritten ausgewerteten, Narration das hilfreiche Potential von Beziehungen, wie es bei den ersten zwei Personen zutraf, weniger im Vordergrund. Mit ihrer gleichzeitig angepassten und rebellischen Tendenz war sie hingegen Anika ähnlich, wodurch diesbezügliche Einflüsse miteinander verglichen werden konnten. Kodierung und Entstehung des Modells In einem ersten Auswertungsdurchgang erfolgte für jedes Gespräch die offene Kodierung. Dafür kam bei den ersten zwölf Gesprächstexten das Computerprogramm MAXQDA zur Anwendung, während bei den weiteren elf Texten aufgrund der persönlichen Präferenz der Forscherin und des bereits fortgeschrittenen Auswertungsprozesses händisch gearbeitet wurde. Daran schloss sich unter Einbeziehung der laufend verfassten Interpretationstexte Schritt für Schritt die Bildung von Kategorien an. Grundlagen für die Interpretationen waren Memonotizen in MAXQDA, auf dem Protokollbogen notierte Informationen über die Person und Beobachtungen in den Gesprächen sowie Literatur. Außerdem wurden die Zwischenergebnisse mit Forschenden verschiedener Disziplinen, insbesondere Erziehungswissenschaften, Psychologie und Philosophie, in Gruppen sowie einzeln diskutiert. Im Rahmen der axialen Kodierung wurden neue Zusammenhänge zwischen Daten hergestellt und die Kategorien entsprechend geordnet. Die händische Variante ergänzte dabei je nach Arbeitsschritt die computerunterstützte Auswertung mit MAXQDA und ermöglichte einen anderen Blick auf die Daten. Jede Gesprächsauswertung brachte eine Vertiefung und/oder Erweiterung der bereits vorhandenen Kodes und Kategorien sowie ihrer Beziehungen zueinander. Die Art der Zusammenhänge lässt sich folgenden von Glaser beschriebenen Kodierfamilien zuordnen (Böhm, 2013): der Prozess-Familie (Verlauf der Essstörung und deren Überwindung); der Strategie-Familie (Umgang mit der Essstörung sowie anderen Herausforderungen im Leben, z. B. im familiären Kontext); der Interaktions-Familie (Bedeutung von Beziehungen für die Erkrankung bzw. Überwindung; Berg & Milmeister, 2011, S. 322); der Identitäts-Familie (Anpassung vs. Selbst-Entfaltung). Diese Ordnungsvorschläge von Glaser gaben eine Orientierung für die Modellierung, wobei die Angemessenheit im Hinblick auf die Daten als vordergründiges Prinzip galt (Muckel & Breuer, 2016). Die Annäherung an die Daten fand zwar vor dem Hintergrund der Forschungsfrage statt, jedoch bei gleichzeitiger Offenheit für weitere daraus emergierende wichtige Aspekte. Im Laufe des axialen Kodierens erfolgte eine Selektion auf Basis des Forschungsinteresses und der gefundenen empirischen Informationen (Strübing, 2014, S. 18). Diese erst allmählich vorgenommene inhaltliche Fokussierung entspricht der Idee des datenbasierten, empiriegeleiteten Vorgehens im Rahmen der GT (Breuer & Muckel, 2016). Beispielsweise zeigten sich die Frage nach der Definition von Überwindung und damit das allgemeine Verständnis von Gesundheit und Krankheit als zu vertiefende Themen. Auf Basis der Kodes, Kategorien und Memos sowie des Gesprächsprotokollbogens wurden für die ersten sechs Personen ausführliche, thematisch geordnete Fallgeschichten,

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4 Methodische Vorgehensweise

unter anderem zum Erkrankungs- und Überwindungsprozess sowie zur Person im Hinblick auf ihre Merkmale und Entwicklung, verfasst. Für die siebte bis zwölfte Auswertung erfolgten kürzere Falldarstellungen, bei der 13. bis 23. Auswertung wurde auf eine solche schriftliche Ausarbeitung verzichtet, da die Notizen auf dem Protokollbogen ausreichend waren. Die Niederschrift erleichterte das Erkennen weiterer Zusammenhänge zwischen Kodes und Kategorien sowie das Vertiefen der bereits bestehenden. Die Erkenntnisse aus den ersten zwölf Gesprächsauswertungen wurden wiederum als Text über die Essstörung und deren Überwindung dargestellt. Aufgrund der Erzählweise der Personen sowie ihrer Formulierungen erwies sich schließlich die Darstellungsform der Verläufe als Weg mit den Etappen des Erkrankens, der Wende und der Überwindung in Form eines Prozessmodells als adäquat. Hierfür kristallisierte sich im Rahmen der selektiven Kodierung die Kernkategorie Gleichgewicht mit spezifischer Ausprägung, je nach Stadium der Essstörung bzw. Überwindung, heraus. Diese ermöglicht eine umfassende Beschreibung der persönlichen Entwicklungen, wobei hier mit Gleichgewicht der Ausgleich in Form einer Bewegung zwischen gegenläufigen Aspekten, beispielsweise Anpassung und Rebellion, bezeichnet wird. Es entstand das Modell zu persönlichen Entwicklungswegen aus der Essstörung, das anhand der weiteren elf Gespräche ausdifferenziert wurde und somit auf insgesamt 23 Lebensgeschichten basiert. 4.4 Reflexion der Vorgehensweise Entscheidung für die Grounded Theory Als Alternative zur GT wurde im Vorfeld die Komparative Kasuistik (KK), wie sie unter anderem Jüttemann (2009) beschreibt, in Betracht gezogen, da zwischen den beiden Methoden einige Ähnlichkeiten bestehen. So sind die Ausarbeitung einer empiriebasierten Theorie und das Vergleichen von Fällen Bestandteile beider Zugänge (Breuer, 2009), wenngleich der Theoriebegriff in der KK mit mehr Zurückhaltung angewandt wird (Mey & Mruck, 2009). Die KK findet außerdem vor allem bei (entwicklungs-)psychologischen Fragestellungen, die GT hingegen in verschiedenen (sozial-)wissenschaftlichen Bereichen Anwendung. Wenngleich in dieser Arbeit ein entwicklungspsychologischer Schwerpunkt besteht, richtet sich der Blick auch auf soziale Einflüsse. Außerdem war das Ziel, fallübergreifende Aussagen zu treffen, wie es in der GT mehr der Fall ist als in der KK. Insbesondere lässt das Regelwerk der GT mehr Offenheit und damit Spielraum für eine Anpassung des Vorgehens im Forschungsprozess zu, unter anderem deshalb, weil die Kategorien im Gegensatz zur KK nicht an das Material herangetragen, sondern erst aus diesem gebildet werden. Ein Unterschied besteht außerdem darin, dass die KK mehr als die GT quantitative Methoden integriert, wenngleich letztere offen für eine Methodenkombination ist. Entgegen den GT-spezifischen Gütekriterien orientiert sich die KK auch an jenen der quantitativen Forschung (Mey & Mruck, 2009; Wiedemann, 1990). Aus dieser Gegenüberstellung folgte letztlich die Entscheidung für die GT als angemessenere Zugangsweise für die Fragestellung dieser Arbeit.

4.4 Reflexion der Vorgehensweise

141

Ein Methoden-Mix durch Ergänzung des qualitativen Zugangs mit quantitativen Verfahren, wie eine Fragebogenerhebung, wurde für die Fragestellung des Projekts nicht als erkenntniserweiternd erachtet. Das subjektive Erleben von Menschen mit überwundener Essstörung kann in seiner Komplexität nicht mit statistischen Verfahren erfasst und quantifiziert werden. Gütekriterien Aufgrund des gewählten qualitativen Zuganges wird an dieser Stelle, wie von einigen anderen Forschenden, die Position vertreten, dass die Anwendung von quantitativen Gütekriterien hierfür nicht adäquat ist (Steinke, 2013). Für die Forschung mit der GT fassen Mey und Mruck folgende Gütekriterien, die Strauss und Glaser formulieren, zusammen: 1) Passung (fit) zwischen Theorie und Forschungsgegenstand; 2) Relevanz (relevance) der Theorie für konkrete Handlungsabläufe, die untersucht werden; 3) Brauchbarkeit (workability) der Kernkategorie und der gesamten Theorie für die Erklärung des Phänomens sowie 4) Veränderbarkeit (modifiability) der Theorie bei Hinzukommen neuer Daten und Rahmenbedingungen. Zur Sicherung der Qualität des Vorgehens gehören außerdem die Reflexion und Dokumentation der einzelnen Schritte in der Forschungspraxis, unter anderem der Fallauswahl sowie der Bildung, Verknüpfung und Überprüfung der Kategorien (Mey & Mruck, 2011, S. 30f.). Die Vorgehensweise im Rahmen dieses Projekts ist nach der Unterscheidung von Ploder und Stadlbauer (2017) als schwache Reflexivität einzuordnen. Der Einfluss als Forscherin auf den Untersuchungsgegenstand wurde zwar reflektiert, aber nicht als eigenständige Materialquelle für den Erkenntnisgewinn, wie dies bei starker Reflexivität der Fall ist, genützt. Eine stärkere Betonung der Subjektivität von Seiten der Forschenden gemäß der Reflexive Grounded Theory (Breuer, 2010; Breuer et al., 2018) kann, sofern diese nachvollziehbar bleibt und expliziert wird, weitere wichtige Erkenntnisse und Perspektiven auf das zu erforschende Phänomen bringen. Dementsprechend hätte die Subjektivität der Forscherin stärker einfließen können. Eine Qualitätssicherung wurde nicht nur durch die genaue Dokumentation für intersubjektive Nachvollziehbarkeit, sondern auch durch Diskussion in Gruppen im Rahmen einer regelmäßigen Forschungswerkstatt sowie in Workshops und mit Einzelpersonen über das Thema angestrebt. Jedoch hätte eine stärkere Einbindung in eine Forschungsgruppe weitere Perspektiven auf das Material und eine Elaborierung der Theorie ermöglicht. Teilnahmen an Workshops und die Vertiefung in methodische Fachliteratur erlaubten dennoch, die Schritte im Forschungsprozess nach bestem Wissen und Gewissen zu setzen. Einschränkend ist die einmalige Begegnung mit den Personen, einerseits im Hinblick auf die Rückkoppelung der Ergebnisse an die Gesprächspersonen, andererseits in Bezug auf den weiteren Entwicklungsprozess. Hierfür waren die Ressourcen im Rahmen der Qualifikationsarbeit ein limitierender Faktor. Eine solche Rückkoppelung würde dem Projekt einen stärker partizipativen Charakter verleihen. Ebenso ist ein Langzeitprojekt, in dem Betroffene auf ihrem Weg aus der Essstörung begleitet werden, als Prozessforschung anzustreben.

142

4 Methodische Vorgehensweise

Auswahl der Gesprächspersonen In Bezug auf die Auswahl der Gesprächspersonen besteht insofern eine Selektivität, da sich auf die Ausschreibung jene Personen melden, die bereit sind, über ihre Geschichte zu sprechen. Dadurch könnte naheliegen, dass diese einen weniger schwierigen Erkrankungsverlauf erfahren haben, jedoch bestätigte sich dies nicht. Zudem steht in solchen qualitativen Zugängen nicht die statistische, sondern die inhaltliche Repräsentativität der ausgewählten Personengruppe im Hinblick auf das zu erforschende Phänomen im Vordergrund. Die Ergebnisse sollen Zusammenhänge erklären, beschreiben und auf andere Phänomene übertragbar sein, erfassen hingegen nicht, wie quantitative Untersuchungen, die Verteilung eines Merkmals (Merkens, 2013). Der Grad der Generalisierbarkeit der Theorie wird hier durch das Ausmaß der Abstraktion der Kategorien, vor allem der Kernkategorie, beeinflusst (Böhm, 2013). Die anfangs festgelegten Auswahlkriterien nach ICD-10 für die Überwindung einer Essstörung erwiesen sich im Laufe der Auswertung zwar als Basis, jedoch nicht als ausreichend zur Erfassung des Phänomens. Diese Erfahrung ist weniger als Defizit des methodischen Vorgehens, sondern vielmehr als Erkenntnisgewinn zu sehen. Ebenso wird das Abweichen vom theoretischen Sampling, wie es in der GT vorgesehen ist, nicht als Einschränkung für die Theoriebildung erachtet. Die Gespräche schlossen zwar, ohne Vorliegen von detaillierten Ergebnissen vorangegangener Auswertungen, zeitnah an die Kontaktaufnahme der Personen an. Allerdings wurden die Transkripte für die Auswertung nach dem Prinzip der Variabilität ausgesucht, wofür die Erkenntnisse aus der Gesprächsdurchführung und Verschriftlichung sowie die Forschungsfrage die Basis bildeten. Narrativer Zugang Weitere Anmerkungen sind im Hinblick auf Möglichkeiten und Grenzen von Narrationen anzuführen. Diese eignen sich für prozesshafte Phänomene und damit für die Erforschung von Wegen aus der Essstörung, nicht hingegen für gleichbleibende Gewohnheitshandlungen. Wie bei der Beschreibung der Umsetzung erwähnt wurde, liegt der Vorteil der offenen Form gegenüber dem Leitfadeninterview darin, dass die Gesprächspersonen die Themen und deren Reihenfolge freier wählen können. Allerdings gibt es mehrere Kritikpunkte zur Retrospektion von Erzählungen. Hierzu fasst Küsters (2009) verschiedene Positionen zusammen, die für das vorliegende Projekt von Relevanz sind. Wesentliche Aspekte in dieser Hinsicht sind der Einfluss von Interpretationen der Biografien durch Therapeuten bzw. Therapeutinnen auf die Erzählungen sowie die Differenzierung zwischen aktueller Erzählung und dem vergangenen Erlebten (Küsters, 2009, S. 29ff.). Ersteres zeigt sich beispielsweise bei zwei Personen, die sich in derselben Einrichtung, allerdings nicht zur selben Zeit, in stationärer Therapie befanden. Beide beschreiben mit gleichem Wortlaut und ähnlich großer Begeisterung das „Geben und Nehmen“ als angenehmes Erlebnis im Kontakt zu Pferden. Personen mit Therapieerfahrung unterscheiden sich jedoch wiederum nicht von jenen ohne Therapieerfahrung im Hinblick auf ihre subjektiven Krankheitstheorien. Bezüglich des zweiten ange-

4.4 Reflexion der Vorgehensweise

143

sprochenen Punktes, der Reproduzierbarkeit des Erlebten, gibt es verschiedene Sichtweisen: Das Erleben in der Vergangenheit, so Küsters mit Bezug zu Welzer (2000), sei mit der Erzählung nicht erreichbar bzw. diese ermögliche nur eine Aussage über die aktuelle Perspektive auf die Vergangenheit (Küsters, 2009, S. 35). Schütze hingegen vertritt die Position, in der Erzählung zwischen früherem Erleben und nachträglicher Reflexion differenzieren zu können (Schütze, 1983). Eine derartige Trennung nehmen auch Fischer-Rosenthal und Rosenthal vor, sie richten den Fokus jedoch mehr als Schütze auf das aktuelle Leben mit den vergangenen Erfahrungen als auf das frühere Erleben (Fischer-Rosenthal & Rosenthal, 1997, S. 148ff.; Küsters, 2009, S. 34f.). Fazit zur Methodik Für die vorliegende Arbeit ist festzuhalten, dass die Entscheidung, nicht zwischen erzähltem und erlebtem Leben zu unterscheiden (Rosenthal & Fischer-Rosenthal, 2013), bewusst getroffen und reflektiert wurde. Auch wenn die Narration eine sprachliche Konstruktion und von selektiven Erinnerungen der Person sowie von der aktuellen Situation beeinflusst ist (Fischer-Rosenthal & Rosenthal, 1997, S. 148), wird hier die Position vertreten, dass der Rückblick auf Erfahrungen relevant für das aktuelle Empfinden und Handeln, somit für die weitere Entwicklung, ist. Diesbezüglich ist die Forschung zum posttraumatischen Wachstum anzuführen, die unter anderem die Veränderung der Perspektive auf Ereignisse untersucht (s. Kapitel 3.3). Ebenso schreibt Lehr über die größere Bedeutung des subjektiven Erlebens von Ereignissen in der eigenen Biografie im Vergleich zu objektiven Situationscharakteristika (Lehr, 1999). Deutlich wird dies auch bei Dressel und Langreiter, mit Bezug zu Dausien (1994): Der handlungstheoretisch fundierte Ansatz, biographische Selbstdarstellungen […] als ‚Konstruktionen‘ zu betrachten, vermeidet im übrigen [sic] die ‒ unangemessene und unbeantwortbare ‒ Frage, wie ein Leben ‚wirklich‘ war […]. Eine Lebensgeschichte, die von einem konkreten Subjekt in einer konkreten biographischen und sozialen Situation ‚konstruiert‘ wird, ist keineswegs ‚frei erfunden‘, sondern bezieht sich auf ein gelebtes und erlebtes Leben und hat für das Subjekt eine Gültigkeit, die in hohem Maße handlungsorientierend ist. (Dausien, 1994, S. 145; zitiert nach Dressel & Langreiter, 2008, Abs. 6)

Mit dem biografischen Erzählen werden die eigenen Erfahrungen sowie gesellschaftliche Strukturen und Prozesse zu einem kohärenten Bild zusammengefügt (Dressel & Langreiter, 2008, Abs. 22). Somit steht nicht die Frage nach dem tatsächlichen Geschehen im Vordergrund, sondern dass die Erinnerung an das Erlebte handlungsleitend für die Person ist und damit auch ihr Befinden beeinflusst. Anstatt die Eignung von narrativen Verfahren anzuzweifeln, erscheint hier, wie an obiger Stelle erwähnt, eine Langzeituntersuchung mit wiederholten, prozessbegleitenden Narrationen das anzustrebende Mittel der Wahl für eine Erkenntniserweiterung zu sein. Aufgrund der genannten methodischen Einschränkungen dieses Projektes ist in Betracht zu ziehen, das vorgeschlagene Modell zu persönlichen Entwicklungswegen aus der Essstörung als Theorieskizze und nicht als Theorie zu bezeichnen. Diesen Begriff schlägt Breuer laut Mey und Mruck unter anderem für Qualifikationsarbeiten vor, da

144

4 Methodische Vorgehensweise

es sich hierbei mehr um Zwischenergebnisse handelt (Mey & Mruck, 2009). Außerdem dürfte er damit auf die Beschränkungen durch persönliche Ressourcen und institutionelle Vorgaben hinweisen. Angesichts der intensiven Auseinandersetzung mit der Thematik und des Umfangs an Datenmaterial wird an dieser Stelle dennoch von Theorie bzw. deren Repräsentation in Form des genannten Modells gesprochen ‒ im Bewusstsein um die Kontinuität von Erkenntnisprozessen, die in allen Forschungsarbeiten zu sehen ist. Rückmeldungen der Personen und Veränderung des Blicks als Forscherin Nach einer kritischen Betrachtung der Methodik folgen abschließende Anmerkungen zum Erleben der Gespräche von Seiten der Personen und als Forscherin. So gaben mehrere Personen die Rückmeldung, gerne zur Erforschung von Essstörungen und deren Überwindung beitragen zu wollen. Eigene Erfahrungen mit dem Ablauf einer Qualifikationsarbeit im Rahmen des Studiums ließen sie die Erleichterung, Kontakt zu Gesprächspersonen zu erhalten, nachvollziehen. Die Personen empfanden das Sprechen über ihre Geschichte als sehr wohltuend, nicht mit Scham behaftet (vgl. Rebecca, T1771‒T1775), sondern befreiend. Ich habe noch nie in so komprimierter Zeit so viel von mir erzählt. Noch nie. Da war ja jetzt der Beginn der Essstörung, da war meine Kindheit dabei, meine familiäre Situation, meine Beziehung, meine berufliche Ausbildung, meine Freundschaften, mein Umgang mit mir selber, meine aktuelle Wohnsituation, meine Wünsche, die ich noch habe, die Funktionen, die ich mir vorgestellt habe, die Masken, die ich gerne aufgesetzt habe und das, was sich auch wirklich in mir abgespielt hat. Das in so kurzer Form zu sagen, da sage ich einfach Danke, dass ich jetzt die Zeit und den Raum gehabt habe, dass ich das Ihnen dalassen habe dürfen. (Grete, T2994‒T3004)

Durch die Narration wurde die Forscherin somit eine wissende Zeugin für die Personen mit ihrer Lebensgeschichte (Miller, 2009, S. 8.). Emotionen, beispielsweise Wut auf therapeutisches Personal aufgrund der Erfahrung von mangelndem Verständnis, konnten im Gespräch ausgedrückt werden (u. a. Jasmin, T2583‒T2596). Dementsprechend war die Erzählung für die Personen emotional bewegend, erleichternd, zum Teil auch schmerzhaft (u. a. Anja, T2445‒T2558). Zudem zeigten sich in den Rückmeldungen am Ende des Gespräches Ambivalenzen. Karin äußert beispielsweise ihre Unsicherheit, ob sie hörenswert sei, da sie sich als „schwafelnd“ (vgl. Karin, T3540f.) empfinde und möglicherweise nicht die Vorstellungen der Forscherin erfülle. Unsicherheit spiegelte sich auch bei Grete wider: Sie setzte beim Sprechen vor der Benennung von Personen- und Ortsnamen ab und vergewisserte sich der Anonymisierung. Auffallend in mehreren Gesprächen war außerdem ein inhaltlich unpassendes Lächeln oder Lachen in dem Sinn, dass es das Aussprechen bedrückender Inhalte begleitete. Dieses kann einerseits als Unsicherheit gegenüber der Forscherin als fremde Person interpretiert werden, auch als eine Form von Schutz vor emotionaler Überwältigung. Andererseits wird durch Lächeln die Beziehung, hier zwischen der Forscherin und den Gesprächspersonen, gestärkt (Benecke, 2009). Das Aussprechen von bereits bestehenden Kenntnissen über

4.4 Reflexion der Vorgehensweise

145

Essstörungen bewirkte weniger Befangenheit auf Seiten der Personen, wie sie zu verstehen gaben. Manche von ihnen meinten sogar, dass sie ohne diesen Wissenshintergrund möglicherweise gar nicht bereit gewesen wären, über ihre Geschichte zu sprechen. Von einer solchen Beobachtung, wenngleich in einem anderen Kontext, schreiben auch Dressel und Langreiter. Sie beziehen sich dabei auf das offenere Sprechen unter Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, wenn beiderseits Erfahrungen mit freiberuflicher Tätigkeit und den damit verbundenen Schwierigkeiten bestehen (Dressel & Langreiter, 2008, Abs. 25). Aus Perspektive der Forscherin war es während der Erzählung zum Teil schwierig, Nachfragen zurückhaltend einzusetzen und den Erzählfluss nicht zu unterbrechen. In manchen Fällen zeigten sich bei der Auswertung der Transkripte thematische Sprünge, sowohl von Seiten der Gesprächspersonen als auch der Forscherin. Außerdem empfanden manche Personen die Einstiegsfrage als zu lang (s. Kapitel 4.2.2), wie aus ihrer unmittelbaren Rückmeldung hervorgeht. Daraufhin wurde diese in den jeweiligen Gesprächen in gekürzter Form wiederholt. Durch die Begegnung mit den Personen und die anschließende Auseinandersetzung mit ihren Lebensgeschichten veränderte sich der Blick als Forscherin auf einzelne Schritte des Forschungsprozesses und damit auf die Personen selbst. So wurde zu Beginn noch von Interviews gesprochen und eine Nummerierung entsprechend der Reihenfolge der Durchführung vorgenommen. Im Laufe der Auswertung traten jedoch zunehmend Irritationen aufgrund dieser Form von Anonymisierung auf. Der Widerspruch zwischen dem geplanten methodischen Vorgehen und dem eigenen Anliegen, die Personen und ihre Bereitschaft zum Gespräch wertzuschätzen, verstärkte sich zunehmend, zumal von diesen eine solche respektvolle Haltung als wichtiger hilfreicher Aspekt für die Bewältigung ihrer Essstörung betont wurde. Angeregt durch einen Workshop zur Reflexive Grounded Theory bei Prof. Dr. Franz Breuer, löste außerdem der Begriff Interview ab diesem Zeitpunkt die Assoziation eines Ausfragens anstatt einer Würdigung der Erzählung aus. Daher wird in dieser Arbeit von Gesprächspersonen bzw. Personen und nicht von Interviewpersonen oder Interviewpartnerinnen gesprochen, um die Atmosphäre eines Sprechens in einer Subjekt-Subjekt-Beziehung anstatt eines Aus- oder Befragens zwischen Subjekt und Objekt zu betonen. Ebenso erwies sich durch diese Bewusstwerdung im Laufe des Forschungsprozesses der Begriff Behandlung bzw. Behandelnde für Angehörige des therapeutischen Kontextes (Therapeuten und Therapeutinnen, Ärzte und Ärztinnen, Pflegepersonen etc.) als inadäquat. Dieser verband sich mit der Vorstellung von aufgedrängten Maßnahmen, des Be-Handelns, und steht dem Wunsch der Personen nach Selbstbestimmung entgegen. Daher wurde dieser Begriff im Laufe der Auswertung und bei der Niederschrift der Dissertation, außer zur Verdeutlichung eingeschränkter Selbstbestimmung, vermieden. Außerdem kommen die Bezeichnungen Anorektikerin und Bulimikerin, die in therapeutischen, aber auch anderen Kontexten öfter Gebrauch finden, nicht zur Anwendung. Hier blieben die Personen hinter der Essstörung verborgen ‒ eine Erfahrung, von der sie häufig in einschränkender Hinsicht erzählen und die sich mit dieser Arbeit nicht wiederholen soll. Um die Personen somit nicht als „Patient Nummer irgendwas“ (Alena, 921) zu sehen, aber dennoch die Anonymität in der Niederschrift der Dissertation zu wahren, sind die

146

4 Methodische Vorgehensweise

Gesprächsausschnitte mit geänderten Namen anstatt mit Interviewnummern sowie mit der entsprechenden Transkriptionszeile gekennzeichnet. Mit der Auswahl von Namen, die im Bekanntenkreis der Forscherin nicht vorhanden sind, sollten Assoziationen aufgrund von Vorerfahrungen vermieden werden. Rückblickend wäre eine Namenwahl von Seiten der Personen zu bevorzugen, um diese als Mitforschende im Sinne von Partizipation zu begreifen und damit einen weiteren Schritt in Richtung einer Forschung auf Augenhöhe zu setzen.

II WEGE INS GLEICHGEWICHT ‒ Modell zu persönlichen Entwicklungswegen aus der Essstörung

5 Modellüberblick In den Erzählungen der Gesprächspersonen über ihren Erkrankungs- und Überwindungsprozess sind häufig Wegmetaphern erkennbar. Um möglichst nahe an dieser Erzählfigur zu bleiben, werden die Ergebnisse in Form eines Weges dargestellt. Wie auch die Personen ihren Weg durch die Essstörung gingen und sie in den Gesprächen darauf zurückblickten, werden im Rahmen dieser Arbeit gemeinsam mit den Personen verschiedene Etappen durchwandert: vom Erkranken über die Wende bis zur Überwindung. Dabei zeigt sich, entsprechend der Einzigartigkeit jeder Lebensgeschichte, eine Vielfalt an Wegen und dementsprechend eine große Bandbreite an unterschiedlichen Erfahrungen innerhalb der einzelnen Etappen. Kernkategorie Gleichgewicht Im vorliegenden Modell zu persönlichen Entwicklungswegen aus der Essstörung gilt als Kernkategorie das Gleichgewicht, das in den Wegetappen unterschiedlich ausgeprägt ist und in den Gesprächen entweder konkret angesprochen wurde oder indirekt aus den Beschreibungen hervorging. Die Personen gebrauchen zwar auch das Wort Balance für die Veränderung im Laufe der Überwindung, dennoch wird in diesem Zusammenhang der Begriff Gleichgewicht bevorzugt. Diese Bezeichnung soll angesichts der hohen Bedeutung des Körpergewichts, also des materiellen Gewichts, für die Betroffenen und in der Therapie, auch auf sprachlicher Ebene ein Gegengewicht bringen. Dementsprechend schließt das Gleichgewicht hier alle Dimensionen der Person, die als körperliche, seelische und geistige verstanden werden, ein. Die unterschiedliche Ausprägung des Gleichgewichts zeigt sich auf dem Weg in die Essstörung dadurch, dass die Personen aus dem Gleichgewicht kommen und sich von außen, vor allem durch die Essstörung, aber auch durch Beziehungsabhängigkeiten, temporär stabilisieren können. Zunächst ereignet sich eine allmähliche Zuspitzung und Destabilisierung, die beinahe bzw. kurzzeitig zum Verlust des Gleichgewichts führt: Kurzzeitig ist dies beispielsweise beim Herzstillstand der Fall, als völliger bzw. dauerhafter Verlust gilt im Hinblick auf die menschliche Existenz der Tod. Der Weg aus der Essstörung hingegen ist vom (Wieder-)Finden des eigenen Gleichgewichts gekennzeichnet. Es kann ein Wiederfinden sein, wenn das Gleichgewicht vor der Erkrankung gelebt wurde. Anhand der Erzählungen ist dies in Frage zu stellen, letztlich aber nicht zu beantworten. Vielmehr gibt es in den Gesprächen Hinweise darauf, dass der eigene Weg, der keine bzw. wenig äußere Stabilisierung erfordert, erst gegangen wird. Dies ist nicht als spezifisch für den Weg aus der Essstörung, sondern aufgrund der Einzigartigkeit der persönlichen Biografie als Kennzeichen des gesamten Lebensweges anzunehmen. Das Gleichgewicht zu finden und zu bewahren ist ein Pendeln zwischen Stabilität und Flexibilität, zwischen Standhaftigkeit und Nachgiebigkeit, zwischen Konstanz und Veränderung, zwischen Ruhe und Bewegung. Passend dazu ist Kants Unterscheidung zwischen Seiltänzer und Taschenspieler, zu der Certeau schreibt: Auf einem Seil zu tanzen bedeutet, in jedem Moment das Gleichgewicht zu bewahren, indem man es bei jedem Schritt durch neue Korrekturen wiederherstellt; es bedeutet,

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5 Modellüberblick

an einem Verhältnis festzuhalten, das niemals erworben worden ist und das durch eine unaufhörliche Erfindung ständig wiederhergestellt wird. (Certeau, 1988, S. 150; zitiert nach W. Berger, 2014, S. 215)

Wie anhand dieser Beschreibung deutlich wird, kann dieses Gleichgewicht immer nur das eigene sein und von jeder Person für sich gefunden werden. Wegetappen und Wegverläufe Nach einer Einführung in verwendete Begriffe der Gesprächspersonen sowie in die Auffassung von Essstörungen und deren Überwindung in dieser Forschungsarbeit (Kapitel 6) werden nachfolgend Merkmale der einzelnen Etappen (Kapitel 7) und anschließend Entwicklungen über die Phasen hinweg inklusive ihrer Verlaufsdynamik (Kapitel 8) beschrieben (s. Abbildung 2). Diese Darstellungsweise folgt einerseits den Erzählungen, andererseits auch dem Vorgehen im Rahmen des Forschungsprozesses, wobei zunächst detailliert die einzelnen Abschnitte und in der Folge der Längsverlauf der Entwicklungswege ausgewertet wurden. Die erste Etappe Anfang(en) und Abrutschen in die Essstörung ‒ Aus dem Gleichgewicht kommen ist von Überforderung und Verunsicherung geprägt. Hierzu tragen die Identitätsdefinition als bedeutsame Entwicklungsaufgabe der Jugendzeit sowie Erwartungen und Forderungen von anderen, die vorgelebten und vermittelten Maßstäbe des Umfeldes, bei. Schwierige Familienbeziehungen bewirken oft eine weitere Überforderung, beispielsweise durch das Übernehmen von zu viel Verantwortung in bereits jungen Jahren. Angesichts der Belastungen und deren eingeschränkter Bewältigbarkeit kann die Essstörung ein Ausweg aus der Überforderung und Verunsicherung sein, der einerseits Stabilität verspricht, sich andererseits jedoch als rutschig, gefährlich, auf einen Tiefpunkt zustrebend herausstellt. Die Destabilisierung verstärkt sich, die Personen verlieren allmählich ihr Gleichgewicht. Die zunehmenden Einschränkungen durch die Essstörung lassen den Leidensdruck der Betroffenen sowie den des Umfeldes steigen und sie diese Weg(variante) als lebensentfernend erkennen. Über die Zuwendung zu sich selbst, zum und vom Umfeld kann ein anderer Weg gesucht werden. Die Therapie ist hierzu ein weiterer Beitrag. Diese Etappe wird als Wende ‒ Aus dem Gleichgewicht und Wegorientierung bezeichnet. Aus dem Gleichgewicht befinden sich die Personen vor allem durch die Vereinnahmung von Seiten der Essstörung, sodass es einer neuen Orientierung bedarf. Dadurch kann eine Richtungsänderung, eine Wende, erfolgen. Schritt für Schritt gehen die Personen ihren Weg aus der Essstörung und finden (mehr) zu ihrem eigenen Gleichgewicht. Dieses zeigt sich zunehmend, den Bereichen des persönlichen Wachstums entsprechend (s. Kapitel 3.3.1), in der Selbst-Beziehung, in den Umfeldbeziehungen und in der Lebensbeziehung. Die Veränderung der Essstörungssymptomatik, z. B. die ausreichende Nahrungsversorgung, ist sowohl ein hilfreicher Aspekt für die Überwindung als auch Merkmal derselben, indem sich im fürsorglichen Umgang mit sich selbst vor allem die vertiefte Selbst-Beziehung zeigt. Dieser Wegabschnitt trägt im Modell die Bezeichnung Wege aus der Essstörung gehen – Das eigene Gleichgewicht finden.

5 Modellüberblick

151

Wege aus der Essstörung gehen ‒ Das eigene Gleichgewicht finden Anfang(en) und Abrutschen in die Essstörung ‒ Aus dem Gleichgewicht kommen  



  

Überforderung und Verunsicherung Maßstäbe des Umfeldes und Anpassungsformen





Essstörung als Ausweg

abnehmende Symptomatik Selbst-Beziehung: Annäherung, Achtung, Stabilität Umfeldbeziehungen: Öffnung, Verbindung, Vertiefung Lebensbeziehung: Lebensgefühl, Momenterleben, Wertschätzung Gleichgewicht in den Selbst-Umfeld-Lebensbeziehungen

Wende ‒ Aus dem Gleichgewicht und Wegorientierung    

Leidensdruck und Lebensentscheidung Selbst-Zuwenden Umfeld als Brücke ins Leben Therapie als Orientierungshilfe

Entwicklungen des Entfaltens in den Selbst-Umfeld-Lebensbeziehungen Das eigene Maß finden und leben In sich selbst stabil werden Zur Sprache kommen und sichtbar werden

Selbst-Entwicklungen, die nicht/nur bedingt dem Entfalten zuzuordnen sind Wende Verlust Abbildung 2

Modell zu persönlichen Entwicklungswegen aus der Essstörung (eigene Darstellung)

152

5 Modellüberblick

Während der Blick bei der Beschreibung der drei Etappen auf einen kürzeren Entwicklungsabschnitt gerichtet ist, lassen sich relevante Entwicklungen über die von den Personen geschilderte Lebenszeit formulieren. Die Benennung dieser Veränderungen im Laufe der Überwindung basiert einerseits auf der Gesamterzählung, andererseits auf den Formen der Selbst-Entwicklung, die die Personen aus ihrer Sicht erfahren haben. Das eigene Maß finden und leben weist auf das Entfernen von äußeren Maßstäben hin, indem eigene Wünsche vermehrt wahrgenommen und umgesetzt werden. Es handelt sich dabei nicht um rücksichtsloses Durchsetzen eigener Interessen, sondern um die Präsenz als Person: mit den individuellen Eigenschaften, dem emotionalen Erleben, den eigenen Gedanken und Zielen. Damit wird eine weitere Entwicklung deutlich: zur Sprache kommen und sichtbar werden. Nicht nur eigene Wünsche zu spüren, sondern diese auch auszudrücken und umzusetzen, ist eine wichtige Veränderung auf dem Weg aus der Essstörung. Der Verunsicherung in der Erkrankungszeit steht das Finden einer Stabilität in sich selbst entgegen. Durch dieses In-sich-selbst-stabil-Werden bedarf es nicht mehr der Essstörung als äußere Stütze, die letztlich gleichzeitig zur Destabilisierung beitrug. Manche Einschränkungen können noch präsent sein, worauf mit der Entwicklung Wende und Verlust Bezug genommen wird. Vor allem die von den Personen so bezeichneten Kosten an Lebenszeit sind ihnen trotz der positiven Entwicklungen bewusst und lösen mitunter Wehmut aus.

6 Begriff der Essstörung und Kriterien für Überwindung Vor der detaillierten Darstellung der Wegetappen in Kapitel 7 sowie der Wegverläufe mit einhergehenden persönlichen Entwicklungen in Kapitel 8 werden an dieser Stelle die von den Gesprächspersonen verwendeten Begriffe für die Essstörung sowie für deren Überwindung beleuchtet. Hierin und im Sprechen über die Normalität spiegelt sich das diesbezügliche Verständnis wider. Aufgrund der Bedeutung für die vorliegende Arbeit wird ausgeführt, inwiefern die Personen von der Möglichkeit der Überwindung einer Essstörung ausgehen. Die Formulierungen der Gesprächspersonen führten zur Reflexion als Forscherin über die Begriffswahl in der Arbeit und der angelegten Kriterien für Überwindung im Vorfeld der Untersuchung. Die daraus resultierenden Überlegungen und Schlussfolgerungen werden im zweiten Unterkapitel dargestellt. 6.1 Formulierungen der Gesprächspersonen Bezeichnung der Essstörung In den verschiedenen Ausdrücken der Gesprächspersonen für die Essstörung zeigen sich die verschiedenen Seiten der Erkrankung, die ab Kapitel 7 vertieft werden. Sie benennen die Essstörung und deren Ausprägung als Anorexie oder Bulimie oft nicht mit ebendiesen konkreten Begriffen, sondern sprechen in neutraler Form von „es“ oder „das“: „Er hat das dann immer Essstörung genannt" (Lia, 579; Hervorhebung A. K.). In diesem Beispiel wird außerdem deutlich, dass der damalige Partner von Lia („er“) die Problematik im Gegensatz zu ihr sehr wohl spezifizierte, diese jedoch zu sehr zum Thema machte, wie sie meint. Marina beschreibt an einer Stelle, wie sich „das“ (Marina, 103), nämlich die Verhaltensweisen im Rahmen der Bulimie, allmählich ausweitete. Die Verwendung einer solchen neutralen Form kann ein Hinweis auf eine noch immer vorhandene Scham sein, die bei den Personen während der Erkrankungszeit sehr ausgeprägt war (s. Kapitel 2.3.2). Essstörungen werden auch in unspezifischer Weise als Problem oder neutral als Thema beschrieben. Alena spricht in ihrer Mail (29.01.2016) zudem von einem „Gebiet“, in das sie mit ihrer überwundenen Anorexie und Bulimie „hineinpasst“, wobei sie damit wohl auch das Dissertationsgebiet meint. Als Thema wird die Essstörung vor allem, jedoch nicht nur, im Zusammenhang mit ihrer Abwesenheit bezeichnet: Diese und das Essen in Form von Verhaltensweisen, die die Personen von ihrer Erkrankungszeit kennen, seien „kein Thema“ (Marina, 436; Melina, 51) mehr. Das kann jedoch abgeschwächt zum Ausdruck kommen, etwa durch Verwendung des Konjunktivs oder die Einfügung „eigentlich“, wie es bei Melina der Fall ist: „Ich würde behaupten, so mit Ende 19, Anfang 20 ungefähr, dass ich da echt kein Problem mehr habe […], dass es für mich jetzt eigentlich echt kein Thema mehr ist“ (Melina, 45, 51).

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6 Begriff der Essstörung und Kriterien für Überwindung

Bezeichnung der Überwindung Für die Beschreibung von Wegen aus der Essstörung verwenden die Gesprächspersonen vor allem die Begriffe Überwindung, Heilung sowie das Adjektiv gesund in verschiedenen Zusammensetzungen. Dabei kommen sowohl Prozess- als auch Situationsaspekte zum Ausdruck. Nur vereinzelt erwähnen sie die Genesung (Alena, 81), deren Bedeutung deswegen interessant ist, weil der Begriff des Genesens im Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (1999a, Sp. 3385) als „heil und unversehrt davon kommen“ erläutert wird. Der Begriff steht nach dieser, ursprünglich aus dem 19. Jahrhundert stammenden, Beschreibung für das Entgehen einer Gefahr, als solche die Gesprächspersonen auch die Essstörung darstellen (s. Kapitel 7.2.1). Wenngleich in diesem Zitat Genesung mit Heil einhergeht, definieren Grimm und Grimm die Heilung weniger als Entfernung von einer Gefahr oder einem Feind, sondern als Befreiung von Leiden. Diese Wegbewegung von einem leidvollen Zustand ermöglicht eine Annäherung an Gesundheit und Wohlbefinden. Ein weiterer Unterschied zur Genesung besteht darin, dass Grimm und Grimm die Heilung auch als passives Heilwerden benennen (Grimm & Grimm, 1999b). Eine solche passive Komponente auf dem Weg aus der Essstörung kommt bei den Gesprächspersonen wesentlich seltener vor als im Hinblick auf das Erkranken (s. Kapitel 8.1.2). Von Überwindung schreiben die Personen häufig in den schriftlichen Kontaktaufnahmen. Eine Erklärung hierfür ist, dass dieser Begriff in der Ausschreibung Verwendung fand, in der Menschen mit überwundener Essstörung gesucht wurden. Im Gespräch erzählt Marina, „es geschafft zu haben, die Essstörung und diese Probleme zu überwinden“ (Marina, 791). Mit „diesen Problemen“ dürfte sie auch auf ihre Kontrolltendenz in der Partnerschaft, die sie im Zusammenhang mit der Essstörung sieht, hinweisen. Anita gebraucht das Wort überwinden außerdem in Bezug auf das Verarbeiten der Trennung ihrer Eltern (Anita, 1419). Der von den Personen angesprochene eigene aktive Anteil geht aus dem Eintrag im Deutschen Wörterbuch von Grimm und Grimm zur Überwindung bzw. zum Überwinden besonders deutlich hervor. Zentral ist darin das Besiegen und Siegen, sodass der Überwinder als Sieger gilt (Grimm & Grimm, 1999c, 1999d, 1999e). Es ist damit das Zugehen auf eine Gefahr und deren Bewältigung anstatt des Entgehens, wie zuvor bei der Genesung beschrieben. Allerdings können auch umgekehrt Bedürfnisse, wie Hunger und Durst, oder Schmerz und Krankheit die Person überwinden (Grimm & Grimm, 1999d, Sp. 657). Hierbei steht nicht die Person über der Krankheit, sondern die Krankheit über der Person. Während diese Bedeutung in den Formulierungen der Gesprächspersonen weniger zu finden ist, zeigt sich sehr wohl das Verständnis von Überwinden als Mühe zu einem Entschluss (Grimm & Grimm, 1999d, Sp. 658). So ist der Weg aus der Essstörung mitunter beschwerlich und mancher Schritt ein Schritt der Überwindung. Wenngleich einige Personen die Frage in den Raum stellen, ob Essstörungen „ganz überwunden“ (Anita, 388) werden können (s. letzten Abschnitt dieses Kapitels: Verständnis von Überwindung und Überwindbarkeit), kommen auch Beschreibungen eines Zustandes nach der Essstörung durch verschiedene Wortverbindungen von heil vor: von der Essstörung „geheilt“ (Alena, 1561) oder „davon weg“ (Mail Melina, 14.01.2016) zu sein. Um eine Person „als geheilt einstufen“ (Alena, 1561) zu können,

6.1 Formulierungen der Gesprächspersonen

155

muss sie „es geschafft“ (Alena, 1561; Marina, 791) und somit zu einem Abschluss gebracht, hinter sich gelassen haben. Förderliche Einflüsse, um Heilung erfahren zu können, werden unter anderem als „Heilungsaspekt“ (Marina, 777) und „das Heilende“ (Alena, 1027) verbalisiert. Ein Beispiel ist hier das Erleben von Gemeinschaft in einem kleineren, familiären Kontext, nicht jedoch die „heile Familie“ (Frauke, 129), also die nur nach außen hin intakte, aber im Inneren zerrüttete Familie. Eine solche Erfahrung des Miteinanders bei einem längeren Auslandsaufenthalt in Afrika war sehr prägend für Tamina und hat sie „geheilt“ (Tamina, 753) zurückkehren lassen. Außerdem verbindet sie das Heilen mit dem christlichen Glauben: „Eben, das Heilen: Der beste Arzt ist Jesus“ (Tamina, 667). Von heil spricht Marina im Kontext der Bewusstwerdung der eigenen Endlichkeit. Es sei wichtig, den dabei empfundenen Schmerz, durch den „jeder von uns mal ordentlich durch muss, […] heil überstanden“ (Marina, 783) zu haben. Die Begriffe Gesundsein und Gesundheit verwenden die Personen häufiger für situative Beschreibungen, seltener hingegen sprechen sie von der „Gesundung“ (Tamina, 191) als Prozess. Zu unterscheiden ist, dass das Gesundsein einen Zustand, die Gesundheit hingegen ein von der Person getrenntes Abstraktum bezeichnet. Anders ausgedrückt: Während das Gesundsein von der Person verkörpert wird, ist Gesundheit etwas, das der Person anhaftet, wie ein Besitz. Dieser kann durch die Essstörung, die eine „Gesundheitsgefährdung" (Anita, 193) darstellt, abhandenkommen. Stattdessen, so Grimm und Grimm in ihrer Definition von Gesundheit, hefte sich nun die Krankheit, als Gegensatz zur Gesundheit, an die Person: die negative abgrenzung gegen die krankheit scheint beim substantiv noch mehr als beim adjektiv die älteren belege zu beherrschen. denn die krankheit tritt dem volksbewusztsein viel früher in anschaulicher verkörperung entgegen und formt sich von hier aus dem persönlichen gegensatz: dem volke gilt die krankheit nicht als die störung der funktionen des körpers, nicht als das pathologische produkt regelwidriger vorgänge im organismus. ihm erscheint vielmehr die krankheit als ein fremdes, persönliches, als etwas zu dem übrigen leben hinzugekommenes, als ein feindliches, ja dämonisches. (Grimm & Grimm, 1999g, Sp. 4322)

Beispiele für Formulierungen der Gesprächspersonen sind: „wirklich gesund sein“ (Alena, 107) wollen; „ganz gesund zu sein“ (Marianne, 7), ist in Frage zu stellen; „wieder ‚gesund‘ “ (Mail Frauke, 02.02.2016) unter Anführungszeichen sein; sich „für gesund erachtet“ (Anita, 372) haben; wissen, gesund zu sein (Marlies, 658); sich gesund fühlen (Alena, 115). Die Personen drücken hier ihre eigene Sichtweise und ihr eigenes Empfinden bezüglich des Gesundseins aus, während dieses in Form der ärztlichen Bescheinigung von außen als Zustand erfasst wird (Anita, 175). Das Gesundsein war für Grimm und Grimm (1999h, Sp. 4349) am Ende des 19. Jahrhunderts, ein wesentlich seltenerer Begriff als das Gesundmachen, worin sich die noch passivere Haltung des Patienten bzw. der Patientin gegenüber dem (damals meist männlichen) Arzt zeigen dürfte. Ebenso habe sich der Begriff Gesundung erst zu dieser Zeit herausgebildet (Grimm & Grimm, 1999i, Sp. 4349). Die Gesundheit kann allerdings auch nur scheinbar vorliegen: „Ich hab einfach so getan, als ob ich völlig gesund wäre“ (Tamina, 1867), meint Tamina, während Bianca zu

156

6 Begriff der Essstörung und Kriterien für Überwindung

einem früheren Zeitpunkt nur in Bezug auf ihre Symptome „gesundet“ (Bianca, 35) gewesen sei, aber nicht „geheilt“ (Bianca, 35). Im Gegensatz zur Gesundung versteht sie Heilung als tiefergehenden Erkenntnisprozess. Für Anita heißt, „wirklich gesund“ (Anita, 590) in Bezug auf die Essstörung zu sein, „dass man einfach nicht mehr dran denkt“ (Anita, 600). Gesunde sind für Tamina Menschen, „denen das Leben gelungen“ (Tamina, 2153) ist, und daher Vorbilder, unter anderem im Hinblick auf das Essverhalten. Das Zusammensein mit solchen Menschen kann deshalb für jene, die von Essstörungen betroffen sind, hilfreich sein. Ob Tamina unter Gesunde auch ehemalige Betroffene oder nur Menschen ohne Essstörungserfahrung versteht, bleibt offen. Das Wort gesund gebrauchen die Personen in den Gesprächen häufig adjektivisch, unter anderem mit Bezug zum Körper und zum Gewicht. So liegt ein „gesundes Gewicht“ (Anita, 197, 628, 630) in einem bestimmten Zahlenbereich, und der Körper kann unter anderem durch Sportausübung gesund erhalten werden: „Mir ist es einfach wichtig, dass mein Körper gesund ist, dass ich auch Sport mache“ (Marianne, 393). Vielmehr werden jedoch bestimmte Verhaltensweisen als gesund bezeichnet: „gesund essen“ (Marina, 320); „gesundes Essverhalten“ (Marianne, 74); „gesunder Umgang mit dem Essen“ (Irina, 1385). Ebenso können die Mittel und Wege, die dafür verwendet werden, gesund sein: „gesunde Lösungswege“ (Alena, 119) suchen; etwas „Gesundes“ (Marlies, 628) essen, „gesundes Essen“ (Irina, 1773); „gesund“ (Marianne, 628) in Bezug auf das Sportausmaß. Tamina beschreibt außerdem an mehreren Stellen die Nähe in Beziehungen mit dem Wort gesund und zwar als gegenteilige Ausprägung: „Ich hab immer noch eine ungesunde Beziehung zu meiner Mutter. Es ist sicher noch viel zu viel Beziehung da“ (Tamina, 161). Es ist dieses Zuviel, diese zu große Nähe, die ihre Gesundheit einschränkt und in ihrer Lebensgeschichte eine große Rolle spielt. Verständnis von Normalität Im Hinblick auf die Essstörung und deren Überwindung wird häufig die Normalität thematisiert: im Zusammenhang mit dem Essverhalten, dem Gewichtsbereich, aber auch im Sinne von Alltagsnähe. An einer Stelle spricht Karin davon, dass ihr Gewicht zu einem konkreten früheren Zeitpunkt „rein vom Wissenschaftlichen her so im Normalgebiet“ (Karin, T1523) lag. Rebecca beschreibt die Gewichtsnorm in Bezug auf den sozialen Kontext: Sie habe einen „sozialen Druck“ (Rebecca, T155) verspürt, da sie mit ihrem geringen Gewicht aufgefallen sei. Daher sei sie motiviert gewesen, „schnell wieder zuzunehmen und quasi normal zu werden“ (Rebecca, T161f.). Die Normalität kann hier übersetzt werden als: wie die anderen zu sein und daher nicht als abweichend aufzufallen. Diesem Verständnis von Normalität folgt die Alltagsnähe in Form von Kontakt zu „normalen Leuten“ (Frauke, 1531), die während eines stationären Krankenhausaufenthalts hilfreich sein kann: „Ich glaube, wenn man zu lang in einer Einrichtung ist, dann verliert man vielleicht ein bisschen den Bezug. So: Wie läuft denn das Leben wirklich ab oder was ist denn normal“ (Frauke, 1537). Eine zentrale Rolle beim Sprechen der Personen über Normalität spielt das Maß, besonders das Über- oder Unterschreiten eines Bereichs, nicht nur bezüglich der Essensmenge. Irina spricht auch vom „Schwerpunkt“, der für sie maßgeblich im Hinblick auf die Definition von Normalität ist:

6.1 Formulierungen der Gesprächspersonen

157

Für mich ist es so: Wenn der Schwerpunkt auf Leben liegt, und zum Leben gehört Essen ‒ einmal mehr, einmal weniger, einmal da, einmal dort, einmal das, einmal dies ‒, dann ist das für mich normal. Persönlich. Wenn sich das Ganze umdreht, also ich hab Essen, und das Leben organisiert sich um das Essen, dann ist es für mich nicht mehr normal. (Irina, 2600‒2606)

Bezüglich des Essens meint Melina, sich in einer Phase der Essstörung an zwei Extremen befunden zu haben: „extrem so oder extrem so“ (Melina, 45). Entweder aß sie große Mengen und nahm dementsprechend an Gewicht zu oder sie kontrollierte sich sehr und verlor viel Gewicht. Sich in einem Bereich des Mittelmaßes zu bewegen, wäre hingegen ein „normales Verhältnis zum Essen“ (Melina, 45) gewesen. Während sich Melina auf die quantitative Norm des Essens bezieht, äußert sich Frauke über die qualitative Norm, wenn sie über die Veränderung ihrer Essensbeziehung im Laufe der Überwindung spricht. Da nun der Essensgeschmack im Vordergrund stehe, habe sie sich „ziemlich normalisiert“ (Frauke, 847). Frauke bezieht die Annäherung an die Norm bzw. deren Erreichen somit auf ihre Person und nicht auf ihren Umgang mit Essen. Für einige Personen bedeutet normal im Hinblick auf die Essstörung, wenn Essen und Gewicht „kein Thema“ (u. a. Melina, 51) mehr sind bzw. nicht zum Thema gemacht werden. Das heißt, dass die früheren Problembereiche Essen und Gewicht weder von den ehemaligen Betroffenen selbst noch vom Umfeld in den Mittelpunkt gerückt werden. Die strikte Kontrolle und Fixierung auf Maßzahlen sind nun nicht mehr präsent: „Krank ist, dass man für jedes Lebensmittel die Kalorien nachschlägt“ (Rebecca, T105f.). Diesen kranken Zugang zum Essen stellt Rebecca dem „normalen“ (vgl. Rebecca, T108) gegenüber, der von Flexibilität gekennzeichnet ist. Es treten nun „normale Probleme“ (Frauke, 1119) auf, womit Frauke alltägliche, also den meisten Menschen bekannte, Probleme meinen dürfte. Auch eine „Sinnkrise“ (Frauke, 1123) komme hin und wieder vor. Eine solche ist ebenso weniger ein Spezifikum von Menschen mit (überwundener) Essstörung als vielmehr Teil der sogenannten Normalität. Das rechte oder normale Maß wird somit im Hinblick auf Essen, Gewicht und Stimmung thematisiert, außerdem im Zusammenhang mit sportlicher Aktivität und allgemeinen Gewohnheiten. Gerade die Tendenz zur körperlichen Aktivität ist bei Menschen mit Essstörungen stark ausgeprägt und oft schwer einzugrenzen. Dementsprechend dienen andere Menschen als Vergleich, so wie spürbare Schmerzen an das (überschrittene) Maß erinnern können (u. a. Marianne, 393‒397). Dass die Frage nach der Normalität nicht einfach und eindeutig zu klären ist, zeigt sich am Setzen von Anführungszeichen in den schriftlichen Konversationen, wie bei Irina (Mail, 05.12.2015): „Ich hab jetzt meiner Meinung nach einen ,nomalen‘ [sic] Umgang mit dem Essen.“ Dennoch wird die Essstörung von den Personen anhand bestimmter Merkmale, die von einem Normalitätsmaß (z. B. Normalgewicht) abweichen, charakterisiert. Darin spiegelt sich der Einfluss äußerer Maßstäbe wider, die im Kapitel 7.1.2 ausgeführt werden.

158

6 Begriff der Essstörung und Kriterien für Überwindung

Verständnis von Überwindung und Überwindbarkeit Wenngleich die Überwindung der Essstörung das zentrale Thema in den Gesprächen ist, äußern einige Personen, oft bereits zu Beginn ihrer Erzählung, Unsicherheiten, inwiefern eine solche einer Idealvorstellung entspricht. Außerdem sei es schwierig, Kriterien dafür festzulegen. Hierin könnten sich einerseits die häufig bei Betroffenen beobachtete Tendenz zur Leistungsorientierung, das Streben nach einem Ideal, und andererseits eine strenge Selbstbeurteilung zeigen. Wie die näheren Ausführungen zu Wegen aus der Essstörung verdeutlichen, sehen die Personen die Essstörung und deren Überwindung jedoch nicht als Dichotomie, sondern wesentlich differenzierter. Sie stellen die Überwindung als subjektives Phänomen dar, indem die eigenen Erfahrungen nicht verallgemeinert werden, weder in Bezug auf hilfreiche Aspekte noch auch auf die Überwindbarkeit. Deutlich wird das an Formulierungen wie: „Ich kann eben nur aus meiner Perspektive sagen“ (Lia, 951), oder: „Das ist nur mein Zeugnis“ (Tamina, 2403). Die Betonung der Subjektivität erfolgt von Seiten Biancas, die inzwischen als Psychotherapeutin tätig ist, im Hinblick auf die Beurteilung von Überwindung: Natürlich, eine Essstörung ist heilbar. Aber wer Heilung definiert, das ist die Betroffene. Also ich finde, das wäre eine totale Anmaßung zu sagen, ich als Therapeutin sage, dass du, meine Klientin, geheilt bist. So wie oft die Arztbriefe sind: „Therapieziel erreicht“, oder keine Ahnung: „Patient geheilt“. Ich kann dann einfach sagen: symptomfrei. So was kann ich sehr wohl sagen. Aber Heilung ist ja so viel mehr als Symptomfreiheit, und das kann nur die Betroffene sagen. Und Essstörungen sind natürlich überwindbar. (Bianca, 765‒769)

Bianca drückt hier ihre Überzeugung aus, dass Essstörungen überwunden werden können und spricht daher von „ehemaligen Klientinnen“ (Mail Bianca, 27.07.2015). Dass es sich dabei um einen schrittweisen Prozess handelt, wird in der Formulierung, die „Essstörung weitgehend überwunden zu haben“ (Mail Lia, 11.01.2016) deutlich. Die Angabe eines konkreten Zeitpunktes, „ab wann man wirklich aus der Erkrankung raus ist“ (Anika, 9), sei jedoch schwierig. Die subjektive Einschätzung von Alena ist weniger optimistisch, jedoch ohne die Möglichkeit der Überwindung auszuschließen: „Ich kenne wenige, die ich persönlich als geheilt einstufen würde. Oder geheilt, also als: Die haben es geschafft“ (Alena, 1561). Aufgrund ihrer nachträglichen Relativierung im Zitat scheint für Alena diese Stufe des Schaffens unterhalb jener des Geheiltseins zu liegen. Sie könne die geheilten Personen „auf einer Hand abzählen“ und glaube, „viele schaffen einfach einen Umgang mit der Essstörung, mit der sie leben können“ (Alena, 1561). Das habe ihr jedoch nicht gereicht. Daher sind hoffnungsvolle Beispiele wichtig und motivierend: „Anscheinend gibt es teilweise schon Hoffnung. Aber ich weiß nicht, auch nicht für alle“ (Anika, 909‒911). Zurückhaltung in Bezug auf die Beurteilung der Überwindbarkeit von Essstörungen wird bei den Personen außerdem durch das Setzen von Anführungszeichen, sowohl bei der Essstörungsbezeichnung als auch bei der Beschreibung des aktuellen Befindens, deutlich. Unsicherheiten begründen sie unter anderem damit, dass die Überwindung ein temporäres Phänomen sein könnte. Anita nimmt überzeugt Abstand davon, sich als gesund zu bezeichnen: „Ich würde mir jetzt nie anmaßen zu sagen: ,Ich bin gesund.‘

6.1 Formulierungen der Gesprächspersonen

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Es kann irgendetwas passieren, das mir gar nicht in den Kram passt, wodurch ich eben anfange mit dem, was ich kann: hungern“ (Anita, 608; vgl. Alena, 115). Aus diesem Grund taucht die Überlegung auf, ob der Weg aus der Essstörung nicht überhaupt ein offenes Ende habe: „Weißt du, ich glaube, das hört nie auf. Aber jeder Tag bringt neue Erfahrungen“ (Alena, 1373). Ebenso ist das Essen alltäglich und gehört zum Leben, worauf Irina mit ihrer Aussage hinweist: „Das liegt in der Natur der Sache, dass wir Menschen essen müssen“ (Mail Irina, 05.12.2015). Daher kann Essen, auch wenn es mit Angst verbunden ist, nicht, wie der Alkohol bei Alkoholabhängigkeit, vermieden werden, sondern es gilt, einen anderen Umgang damit zu finden (Karin, T1179‒ T1181). Jedoch, so Irina, verändere sich im Laufe der Überwindung „die Intensität der Beschäftigung“ (Mail Irina, 05.12.2015) mit dem Essen (vgl. Rebecca, T166f.). Aber nicht nur der Umgang mit Essen ist nun ein anderer, sondern vor allem fühlt sich Irina „komplett frei und zufrieden“ (Irina, 2163) mit ihrer Ernährung und ihrer gesamten Lebenssituation. Diese Gesamtveränderung ist für sie ein Zeichen der Überwindung ihrer Essstörung. Daran wird deutlich, dass die veränderte Beziehung zum Essen nur ein Kriterium für Überwindung und auch die allgemeine Befindlichkeit im Lebenskontext einzubeziehen ist. Möglicherweise, so äußern sich manche Personen, kann sich die subjektive Problematik zwar nicht mehr in Form der Essstörung, jedoch beispielsweise als Kontrollverhalten und Eifersucht in Partnerschaften äußern. Auf eine andere Weise wird eine solche lebenslange Dauer der Essstörung in Fraukes Äußerung deutlich: Der Körper merke sich die Essstörung (Frauke, 623). Hiermit spricht sie die Theorie des Körpergedächtnisses an, wonach Erfahrungen durch entsprechende neuronale Verknüpfungen körperlich verinnerlicht werden (Hüther, 2006; Küchenhoff, 2016; Künzler, 2010; Maurer, 2010; s. Kapitel 2.1). Claudia äußert eine solche körperliche Abspeicherung von Erfahrungen in Bezug auf ihre früheren Panikattacken: Es ist so, dass du das auch nicht mehr loswirst. Das ist gespeichert, glaube ich, im Körper. Ich weiß nicht, was man tun müsste. Also ich weiß, wie sie sich anspüren, und ich habe so Anflüge davon. Selten. Vor allem, wenn ich im Stress bin, wenn ich extrem im Stress bin. Und was mir auch geblieben ist, seit den Panikattacken, so Extrasystolen. Ich meine, die habe ich scheinbar immer schon gehabt, aber ich spüre sie halt jetzt. (Claudia, T1661‒T1669)

Dass ein solches lebenslanges Andauern nicht als Spezifikum der Essstörung angesehen wird, zeigt sich bei Charlotte im Hinblick auf den Brustkrebs ihrer inzwischen verstorbenen Mutter. Während Charlotte an einer Stelle meint: „Die Diagnose hast du dann ja immer“ (Charlotte, T337), erzählt sie später, dass der Brustkrebs „dann irgendwie weg“ (Charlotte, T407f.) war, allerdings die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) „dazugekommen“ (Charlotte, T409) sei. Die zunächst erscheinende Widersprüchlichkeit ‒ eine immerwährende Diagnose bei eliminiertem Krebs ‒ weist auf die überdauernde Zuschreibung von Krankheit hin, auch wenn diese nicht mehr sicht- und nachweisbar ist. Solche Zuschreibungen erweisen sich in den Gesprächen als wichtiges Thema, das in den nachfolgenden Kapiteln aufgegriffen wird. Allerdings werden diese körperlichen Speicherungen durch neue (Körper-)Erfahrungen als veränderbar betrachtet, worin das große Potential der Körpertherapie liegt (Claudia, T1692‒T1695, T2430f.).

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6 Begriff der Essstörung und Kriterien für Überwindung

Irina stellt am Ende des Gesprächs außerdem die Frage, wie ehemalige Betroffene bezeichnet werden, etwa als „Ex-Essgestörte“ (Irina, 2544). „Das lässt aber das Gefühl, dass man immer eine ist, wenn es keinen Ausdruck für etwas gibt“ (Irina, 2550‒2552). Durch die Grenzen der Sprache im Sinne von nicht vorhandenen Sprachbegriffen empfindet Irina somit eine äußere Zuschreibung der für sie bereits überwundenen Essstörung. Allerdings könnte gerade die Abwesenheit eines spezifischen Begriffs vor (weiteren) Zuschreibungen bewahren. Ein Beispiel ist, auch wenn sich die Essstörung von der Alkoholerkrankung als einer substanzgebundenen Sucht unterscheidet (s. Kapitel 2.2.3), der Ausdruck des trockenen Alkoholikers/der trockenen Alkoholikerin. Damit werden die Betroffenen weiterhin durch ihre Suchterkrankung charakterisiert, und andere Merkmale ihrer Person rücken zumindest für jene Menschen, die mit dem Gebrauch des Begriffs in erster Linie die Alkoholproblematik ansprechen, in den Hintergrund. Eine solche Fokussierung des Umfeldes auf die Erkrankung kann die Hoffnung, einen Weg aus der Essstörung zu finden, schmälern. Möglicherweise hängen eingeschränkte Heilungserwartungen von umgebenden Menschen, auch im therapeutischen Kontext (Alena, 255), damit zusammen, dass einzelne Personen eine Essstörung als „nie ganz überwunden“ (Anita, 388) betrachten. Dafür spricht auch Claudias Aussage, in der sie auf ein verbreitetes Wissen über eingeschränkte Überwindungschancen hinweist: „Aber wir wissen, da gibt's auch ganz viele, die es nie überwinden“ (Claudia, T2524f.; Hervorhebung A. K.). Daher wird umgekehrt das Zutrauen als sehr bedeutsam für die Überwindung der Essstörung erwähnt, wobei sich ein solches wiederum positiv auf die Überwindbarkeit auswirken dürfte. Festzuhalten ist somit, dass sich die Personen ambivalent über die Überwindbarkeit einer Essstörung äußern, entweder unmittelbar, wie bereits beschrieben, oder indirekt in zum Teil widersprüchlichen Aussagen. So stellt Karin an einer Stelle zwar die Möglichkeit des Abschlusses einer Essstörung in Frage (Karin, T1179‒T1181), meint jedoch in einer späteren Passage, dass für sie nun „das Gesundbleiben im Vordergrund“ (Karin, T1924; Hervorhebung A. K.) stehe. Außerdem richtet sie die Anregung, an der sie selbst Gefallen fand, an Betroffene, dass es „ein Leben nach der Essstörung“ (Karin, T3525) gibt. Eine ähnlich ausgedrückte Ambivalenz bezüglich Überwindbarkeit der Essstörung wird bei Nina deutlich: Am Ende des Gesprächs gibt sie Betroffenen auf ihren Weg mit, dass eine Überwindung möglich ist, während sie an anderer Stelle erzählt, das „Raushändeln“ (Nina, T1323) aus der Essstörung habe länger als das „Reinschlittern“ (vgl. Nina, T1317) gedauert „beziehungsweise ist nie, glaube ich, ganz abgeschlossen“ (Nina, T1324). Die Formulierung, dies zu glauben, weist jedoch darauf hin, dass sie die Möglichkeit dennoch nicht ausschließt. So meint sie am Schluss: Überwindung ist möglich, aber nicht damit gleichzusetzen, dass Essen und Gewicht kein Thema mehr sind. Es gebe für sie nach wie vor eine obere Gewichtsgrenze, die sie nicht überschreiten möchte. Auch die Gedanken an Kalorien von Nahrungsmitteln, die Nina immer wieder habe, sehe sie als Hinweis dafür, dass Essen und Gewicht noch einen hohen Stellenwert in ihrem Leben haben (Nina, T268‒T273). Anzumerken ist, dass es sich hier nicht unbedingt um spezifische Merkmale von Menschen mit ehemaligen Essstörungserfahrungen handelt, da auch andere Personen beispielsweise einen nach oben, ebenso nach unten, abgegrenzten Gewichtsbereich angeben können, in dem sie sich wohlfühlen.

6.2 Forschungsperspektive und Schreibweisen

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Daher ist die Veränderung im Laufe der Überwindung nach Ninas Aussage an einem anderen Kriterium festzumachen: Nicht die Abwesenheit der Thematisierung von Essen und Gewicht, sondern des damit verbundenen Leidens sei ausschlaggebend (Nina, T1990‒T1997). Damit weist Nina auf den Leidensdruck hin, der mit der Essstörung einhergeht und in Kapitel 7.2.1 beschrieben wird. 6.2 Forschungsperspektive und Schreibweisen Die Auseinandersetzung mit den Formulierungen der Gesprächspersonen erweiterte die Forschungsperspektive im Hinblick auf die Verwendung von Begriffen in der vorliegenden Dissertation. Es wird vom Weg/von den Wegen aus der Essstörung, von Überwindung/vom Überwinden und von Heilung anstatt von Gesundsein, Heilsein, Gesundheit gesprochen, ebenso von Erkranken anstatt von Kranksein und Krankheit. Damit wird die Essstörung als Prozess verstanden, ohne Endpunkte, die als Heilsein/Gesundsein bzw. Kranksein zu bezeichnen wären, anzunehmen bzw. zu bestimmen. Stattdessen besteht hier die Auffassung einer Bewegung zwischen zwei imaginären Polen, einem Gesundheitspol auf der einen Seite und einem Krankheitspol auf der anderen Seite, und nicht eines überdauernden Zustandes, der durch die Endungen -heit und -sein zum Ausdruck kommt. Ein Mensch kann sich zu verschiedenen Zeitpunkten entweder näher am einen oder dem anderen Pol befinden und gilt demnach nicht als entweder krank oder gesund (s. Kapitel 2.1). Überlegungen zum Begriff Essstörung Die Präsenz von neutralen Bezeichnungen für die Essstörung in den Gesprächen legt nahe, solche auch in der Dissertation zu verwenden. Dies bietet die Möglichkeit, sich von einer defizitorientierten, pathologisierenden Sichtweise, wie sie durch die Begriffe Essstörung und Krankheit zum Ausdruck kommen, zu distanzieren. Als Alternative könnte von einem Ereignis gesprochen werden, das sich jedoch hinsichtlich des zeitlichen Aspekts von der länger andauernden Essstörung wesentlich unterscheidet. Das englische Wort disease ist einerseits passend, da darin die Belastung, die fehlende Leichtigkeit (dis-ease) zum Ausdruck kommt und die Personen ebendiese in Form des Leidensdruckes als wichtigen Anstoß für den Weg aus der Essstörung angeben (s. Kapitel 7.2.1). Andererseits fokussiert das Wort wiederum auf die Einschränkung. Eine weitere Möglichkeit ist, die Essstörung, gemäß den Themen Selbstentfaltung und persönliches Wachstum bzw. persönliche Entwicklung in der Dissertation, als Entwicklungsaufgabe zu betrachten. Damit wird eine Bewertung der Essstörung als positiv oder negativ vermieden. Diese Wertfreiheit gilt auch, wenn von Betroffenheit die Rede ist. Das Bestreben, vom Störungsbegriff Abstand zu nehmen, ist einerseits ein persönliches Anliegen als Forscherin und andererseits darin begründet, dass die Personen derartige Zuschreibungen als einschränkend empfanden und empfinden (u. a. Alena, 251, 253, 1535). Daher konnte Alena erst allmählich das Gefühl, die „Gestörte“ (Alena, 251, 1535) zu sein, relativieren: „Ganz lang habe ich eben diesen Vogel gehabt: Ich bin so

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6 Begriff der Essstörung und Kriterien für Überwindung

gestört und die Einzige und so. Da habe ich angefangen, mal rundherum zu schauen: Es hat jeder einen Knall“ (Alena, 1569). Abgesehen von der meist negativen Konnotation des Begriffs Störung wird damit außerdem die Symptomebene, nämlich die Störung des (Ess-)Verhaltens, fokussiert, während den spezifischen Bezeichnungen Anorexie und Bulimie mehr Differenzierung im Hinblick auf die Psychodynamik zugrunde liegt. Aufgrund des zentralen Merkmals in den Gesprächen, nicht die Balance bzw. das Gleichgewicht im Sinne einer flexiblen Bewegung zwischen zwei Polen im Leben zu finden, trat die Idee auf, anstatt von Essstörung von einer Dysbalance oder von Ungleichgewicht zu sprechen. Ein solches Ungleichgewicht zeigt sich nicht nur im Hinblick auf Essen und Gewicht, sondern in verschiedenen Lebensbereichen: unter anderem zwischen Verantwortung für andere und Sorge um sich selbst; zwischen Abhängigkeit und Rückzug; zwischen Kontrolle und Loslassen. Zudem verwenden manche Gesprächspersonen den Begriff Balance in Bezug auf die Überwindung, ebenso wie immer wieder von Gleichgewicht in verschiedenen Aspekten gesprochen wird. Dysbalance bzw. Ungleichgewicht bezeichnet außerdem ein tieferliegendes Problem, anstatt nur das sichtbare Phänomen der Essstörung zu betonen. Da das Konzept des Verlustes und (Wieder-)Findens von Gleichgewicht erst im Rahmen der Dissertation entstand, stellte es sich als wenig praktikabel heraus, bereits von Beginn an die Dissertation darauf aufzubauen. Daher wird in dieser Arbeit überwiegend von Essstörungen gesprochen, wenn sich die Ausführungen auf keine spezifische Form beziehen, ansonsten von Anorexie bzw. Bulimie. Aus der Perspektive der Person ist es die Betroffenheit von einer Essstörung, die Person selbst somit Betroffene. Wenngleich der Essstörungsbegriff hier Verwendung findet, sollen diese Überlegungen die Suche nach alternativen Formulierungen anregen. Denn, wie Wittgenstein (1963, S. 89) schreibt: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.” Sprachbegriffe wirken sich somit auf das Denken über die Essstörung und dementsprechend auch auf die zwischenmenschliche Begegnung aus. Die vorliegende Forschungsarbeit unterscheidet sich zwar nicht im Hinblick auf eine neue Bezeichnung, dennoch von der verbreiteten Beschreibung der Essstörung als Erkrankung, da diese aufgrund der Darstellung in den Gesprächen als Teil des Beziehungskontextes, in dem sich die Betroffenen befinden, gesehen wird. In diesem Beziehungskontext erfüllt die Essstörung verschiedene Funktionen, sowohl für die Betroffenen als auch für das Umfeld: Sie kann stabilisieren, schützen und/oder ausdrücken, wenn dies in anderer Form, vor allem mit Worten, nicht möglich ist. Aufgrund dessen stellte sich im Forschungsprozess folgende Frage: Was führt dazu, dass es der Stabilisierung, des Schutzes und des körpersprachlichen Ausdrucks durch die Essstörung bedarf? Je nachdem, welche Aufgabe und welche Position die Essstörung im Kontext Betroffene-Umfeld einnimmt, kann sie eine mehr oder weniger tragende Rolle spielen. Der Begriff tragend ist besonders im Hinblick auf ihre Stabilisierungsfunktion zutreffend. Umgekehrt kann das Zusammenwirken von Umfeld und Betroffene ermöglichen, die Essstörung im Beziehungskontext an den Rand und schließlich darüber hinaus zu bewegen. Im Vordergrund steht somit nicht die Klärung der Schuldfrage, die zu stellen weder hilfreich noch zielführend ist und dem heilsamen Zusammenwirken entgegenstünde. Stattdessen sind die Bedingungen, durch die die Essstörung ihre Ausdehnung

6.2 Forschungsperspektive und Schreibweisen

163

erreichen kann, sowie Veränderungsmöglichkeiten von zentralem Interesse. Die Betroffenen und ihr Umfeld werden in dieser Arbeit deswegen gemeinsam beschrieben, da sich Beziehungen über den gesamten Erkrankungs- und Überwindungsverlauf als bedeutsam herausstellten und die in dieser Arbeit fokussierten Aspekte nur im Beziehungskontext erklärbar sind. Beispielsweise stellen Anpassung und Rebellion Reaktionsweisen auf äußere Einflüsse dar, gleichzeitig sind diese, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, nach außen gerichtet. Kriterien für Überwindung Die Definition der Überwindung einer Essstörung erwies sich im Laufe der Gespräche und der Auswertung als schwieriger und komplexer als zu Beginn angenommen. Es zeigte sich, dass diese nicht auf die Abwesenheit der diagnostischen ICD- und DSMKriterien für Anorexie und Bulimie, die der Auswahl der Gesprächspersonen dienten, zu beschränken ist. Diese Schwierigkeit äußerten die Personen einerseits direkt, andererseits indirekt, beispielsweise anhand der Formulierung „Genesung unter Anführungszeichen“ (Alena, 81). Sie stellten von sich aus entsprechende Fragen in den Raum, sodass aufgrund der sich zeigenden Relevanz eine Vertiefung dieses Themas erfolgte. Die Unklarheiten betreffen vor allem die Grenzsetzung zwischen Gesundheit und Krankheit sowie entsprechende Merkmale. Zu bedenken ist hier, dass 14 der 23 Personen zum Zeitpunkt des Gesprächs in einem sozialen Bereich (Pädagogik, Psychologie, Psychotherapie, Soziale Arbeit, Biomedizinische Analytik, Physiotherapie, Krankenpflege) entweder bereits berufstätig oder zumindest in Ausbildung waren. Dies dürfte das Verständnis von Gesundheit, Krankheit und Überwindung beeinflussen. Gleichzeitig ist von einem Zusammenhang in die andere Richtung auszugehen, nämlich dass Menschen mit einer bestimmten Sichtweise auf Gesundheit und Krankheit häufiger solche Berufe wählen. Dafür spricht, dass diese vierzehn Gesprächspersonen sehr ähnliche subjektive Gesundheits- und Krankheitstheorien formulieren. Jedoch unterscheiden sie sich in dieser Hinsicht nicht wesentlich von den weiteren neun Personen mit einem anderen beruflichen Hintergrund, womit deutlich wird, dass verschiedene Aspekte das subjektive Verständnis von Gesundheit und Krankheit prägen. Abgesehen von der Thematisierung der Definition von Überwindung ihrerseits trat auch durch die Begegnungen mit einzelnen Gesprächspersonen in Bezug auf die festgelegten Auswahlkriterien für ehemalige Betroffenheit Verunsicherung auf. Folgender Auszug aus den begleitenden Forschungsnotizen während der Auswertung des Gesprächs mit Anita soll dies veranschaulichen: Anita erwähnt weitere Problematiken, von denen vor allem die Depression nicht überwunden zu sein scheint, da die letzte schwierigere Phase in etwa einen Monat vor dem Gespräch zurücklag. Auch von zwanghaften oder -ähnlichen Verhaltensweisen berichtet sie, wobei sie diese als „Spleens“ bzw. „Tics“ (Anita, 644) und als nicht einschränkend beschreibt. Sie fühlt sich beispielsweise nur wohl, wenn sich der Lichtschalter in einer bestimmten Stellung befindet:

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6 Begriff der Essstörung und Kriterien für Überwindung

Das Licht muss immer richtig ausgeschaltet sein (lächelt etwas verlegen). Also es muss immer so schief sein, wenn man ausschaltet. Nicht so, nach oben (zeigt dies mit den Händen). Weil in manchen Räumen sind zwei Lichtschalter, und da kann man es nach oben oder nach unten [einstellen] Das ertrage ich nicht, das macht mich krank (lächelt verlegen). Das kann ich überhaupt nicht. (Anita, 650‒ 664)

Anita spricht zwar selbst von einer Krankheitsverlagerung in der Vergangenheit, es wird allerdings nicht deutlich, ob sie diese aktuell auch so einschätzt. Bezüglich des Essens und des Gewichts gibt es jedoch kaum Anzeichen einer Essstörung, außer dass sie Hunger und Sättigung nur wenig spüre und noch gewisse Gewohnheiten, z. B. Kochen ohne Salz aufgrund dessen wasserbindender Wirkung, habe. Essen sei für sie mittlerweile wieder ein Genuss. Eingeschränkt sind ihre Körperzufriedenheit und Selbstakzeptanz, aber sie möge sich inzwischen, wenngleich sie sich nicht liebe. Das sei für sie bereits eine große Veränderung. Irritierend ist ihre Beschreibung ihrer Tendenz zu radikalen Beziehungsabbrüchen mit folgenden Ausdrücken: „aus meinem Leben radieren“ (Anita, 1008); „aus meinem Leben schmeißen“ (Anita, 1206); „mein Facebook geräumt, zusammengeräumt“ (Anita, 1208). Somit stellten sich folgende Fragen im Laufe der Auseinandersetzung mit den Transkripten und Gesprächsprotokollen: Wann gilt eine Essstörung als überwunden? Inwiefern hängen Verhaltensweisen, z. B. bestimmte Gewohnheiten, oder Schwierigkeiten in der Beziehung zum eigenen Körper oder zu anderen, wie in obigem Beispiel dargestellt, (noch) mit der Essstörung zusammen? Wo liegt die Grenze zwischen individueller Seinsweise und krankhaften Merkmalen, zwischen Normalität und Abweichung bzw. Störung? Zum Verständnis von Überwindung in dieser Arbeit ist abschließend festzuhalten, dass die subjektiven Sichtweisen der Personen, ihre Essstörung überwunden zu haben, im Vordergrund standen und stehen. Ein Hinweis auf ihre Einschätzung ist ‒ trotz aller Zweifel, die sie in den Gesprächen anführen ‒ ihre Kontaktaufnahme infolge der Ausschreibung, in der Menschen mit überwundener Essstörung gesucht wurden. Lediglich als Ergänzung wurde das Nichtzutreffen der diagnostischen ICD- und DSM-Kriterien für Anorexie und Bulimie hinzugezogen, mit dem Bestreben, äußere Zuschreibungen und Beurteilungen, die sie früher häufig als einschränkend erfuhren, zu vermeiden. Damit sollte eine Vertrauensbasis für die Gespräche geschaffen und eine Begegnung mit der Person und ihrer Lebensgeschichte anstatt einer Fokussierung auf die Essstörung ermöglicht werden. Auftretende Unsicherheiten und Irritationen im Rahmen der Gespräche und der Auswertung sowie die Tendenz, Personen aufgrund von objektiven Kriterien und Vorstellungen von Überwindung nicht in die Untersuchung aufzunehmen, wurden reflektiert und vertieft. Daraus ergaben sich wertvolle Anregungen für das Verständnis und die Beschreibung des Überwindungsprozesses.

6.2 Forschungsperspektive und Schreibweisen

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Schreibweisen Die im Laufe der Auswertung gewonnenen Erkenntnisse über die Essstörung und deren Überwindung führten zur Entscheidung, diese primär mittels Beschreibung der Phänomene, jedoch auch durch die Schreibweise darzustellen. So werden Verbalformen zur Betonung des Prozesscharakters, Substantive hingegen zur Benennung des Phänomens verwendet. Während beispielsweise unter Zuwenden die konkrete Aktivität, die Aufmerksamkeit auf sich selbst oder auf eine andere Person, ein Objekt zu richten, verstanden wird, ist mit Zuwendung der Blick auf die Gesamtheit der dabei ablaufenden Prozesse gemeint. Mit der Verbalform wird somit mehr Nähe zum Subjekt, mit dem Substantiv eine Beobachtungsperspektive ausgedrückt. Eine ähnliche wie die zuvor angesprochene und ebenso wichtige Unterscheidung ist die Schreibweise mit und ohne Bindestrich, die insbesondere im Zusammenhang mit dem Begriff des Selbst Verwendung findet. Diese Differenzierung trifft nur auf die Darstellung der Ergebnisse der vorliegenden Forschungsarbeit, nicht auf die theoretischen Ausführungen in den Kapiteln 1, 2 und 3 zu. Ebenso ausgenommen sind die wörtlichen Zitate der Personen, da es sich bei dieser Schreibweise bereits um einen weiterführenden Interpretationsschritt des Erzähltextes handelt. In Form des zusammengesetzten Wortes besteht mehr Subjektnähe, und der Schwerpunkt wird auf eine vom Subjekt ausgehende Intention, meist in Form einer Handlung, gesetzt, während durch den Bindestrich das Selbst als Objekt hervorgehoben werden soll. Selbstentfaltung bezeichnet somit die vom Subjekt umgesetzte Realisierung eigener Potentiale und Wünsche, Selbst-Entfaltung den Ausdruck des Selbst als psychische Struktur. Der Prozesscharakter der Realisierung, das Realisieren, wird durch die Verbalform Selbstentfalten und jener des Ausdrucks, das Ausdrücken, durch Selbst-Entfalten betont. Die unterschiedliche Bedeutung durch das Setzen bzw. Weglassen des Bindestrichs sei an einem weiteren Beispiel erläutert (s. Kapitel 7.3.5): Selbst-Bewusstsein bezeichnet die Objektivierung des Selbst, in diesem Fall ist es das auf das Selbst gerichtete Bewusstsein. Selbstbewusst-Sein hingegen betont das stabile Sein in Beziehungen aufgrund einer Bewusstheit um eigene Fähigkeiten, Stärken und auch Schwierigkeiten. Die Setzung des Bindestrichs soll lediglich den Schwerpunkt in der Perspektive verdeutlichen und keine Trennung zwischen Subjekt- und Objektsichtweise darstellen, denn auch die im Beispiel angesprochene Bewusstheit im Rahmen des Selbstbewusst-Seins ist auf das Selbst gerichtet.

7 Wegetappen Die in Kapitel 5 dargestellten drei Wegetappen des Modells zu persönlichen Entwicklungswegen aus der Essstörung werden nun in diesem Kapitel detailliert beschrieben. Ausgangspunkt war die Frage, welche Hinweise auf Überwindung zu finden sind. Wie bereits im Modellüberblick angesprochen, erwies sich das Gleichgewicht, das in den einzelnen Etappen in Ausmaß und Form unterschiedlich ausgeprägt ist, als Kernkategorie des Modells. Während die Personen am Beginn und bis zur Zuspitzung der Essstörung allmählich aus dem Gleichgewicht gekommen sind, kennzeichnet das Finden des eigenen Gleichgewichts den Weg aus der Essstörung. Diese beiden Etappen sind die Inhalte des ersten bzw. dritten Unterkapitels. Jene hilfreichen Aspekte, die die Betroffenen das eigene Gleichgewicht finden lassen, sowie Merkmale dieser Wende werden im zweiten Unterkapitel ausgeführt. Wenngleich der Fokus in der Dissertation auf der Überwindung der Essstörung liegt, wird auch die Anfangsphase einbezogen, um einen Zusammenhang zwischen den Einflüssen, die die Personen aus dem Gleichgewicht bringen, und dem Erkrankungsprozess einerseits sowie den hilfreichen Aspekten für die Überwindung und den sich dabei ereignenden Veränderungen andererseits herzustellen. 7.1 Anfang(en) und Abrutschen in die Essstörung ‒ Aus dem Gleichgewicht kommen In diesem Kapitel steht die erste Etappe des Erkrankens mit folgender Gegenläufigkeit im Mittelpunkt: aus dem Gleichgewicht kommen – (unbewusste) Versuche, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Der Begriff Versuch soll deutlich machen, dass das Gleichgewicht einerseits temporär und andererseits mit Mitteln, die die Person einschränken, erreicht wird. Diese sind außerdem vielmehr unbewusste Reaktionsmuster als intendierte Handlungen und können erst später durch die intensive Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Geschichte bewusst betrachtet und verstanden werden. Den Anfang beschreiben die Personen als Ereignis und gleichzeitig als Prozess. Der Prozess kann wiederum aus Sicht der Betroffenen als aktives Anfangen bzw. als „Einstieg“ (Marina, 53) oder als passiv erlebt werden: Die Essstörung ‒ und nicht die Betroffene als Person ‒ habe angefangen. Am erinnerten Beginn der Essstörung werden somit die Gegenläufigkeiten Ereignis versus Prozess und Aktivität versus Passivität deutlich (s. Kapitel 8.1.2). Wie die Personen diesen Anfang und die Folgedynamik des Abrutschens in die Essstörung darstellen und welche Aspekte sich im Beziehungskontext zwischen Betroffenen, Umfeld und Essstörung erkennen lassen, wird nachfolgend erläutert. Dazu gehören die Lebenssituation, Eigenschaften, Verhaltens- und Reaktionsweisen der Betroffenen sowie Merkmale des Umfeldes vor Beginn und während der Essstörung. Besonders die Überforderung und die Bedeutung von äußeren Maßstäben in Form von Bewertungen, mitunter Abwertungen, des Umfeldes sind wesentliche Bei-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Kathrein, Überwindung der Essstörung als Weg ins Gleichgewicht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25971-6_7

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7 Wegetappen

träge zur Erkrankung. Welche Bedeutung und Funktion die Essstörung in diesen Zusammenhängen hat, wird zum Schluss des Kapitels ausgeführt. Diese nachfolgend beschriebenen Aspekte der ersten Wegetappe sind als Überblick in Abbildung 3 ersichtlich.

Überforderung und Verunsicherung

 Lebensaspekte (z. B. Entwicklungsaufgaben)  Umfeld (z. B. Konflikte)  Person (z. B. Empfindsamkeit)

Maßstäbe des Umfeldes direkte und indirekte Einwirkung  Bewertungen des Körpers  (Leistungs-)Erwartungen

Anpassungsformen Anerkennung Halt Unauffälligkeit

Anfang(en) und Abrutschen in die Essstörung ‒ Aus dem Gleichgewicht kommen

Abbildung 3

Gefühl des Anders-Seins

 Leistungsstreben  Anpassung als Person  Kontrolle

Essstörung als Ausweg verschiedene Ausprägungen und Schweregrade, weitere Betroffenheiten  Stabilisierung der Betroffenen und des Umfeldes  Schutz der Betroffenen und des Umfeldes  nonverbale Sprache: Ausdruck von Bedürfnissen, Abgrenzung, Essstörung als Geheimnis, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Person und der Essstörung

Erste Wegetappe Anfang(en) und Abrutschen in die Essstörung – Aus dem Gleichgewicht kommen (eigene Darstellung)

7.1.1 Überforderung und Verunsicherung Aus den Erzählungen geht deutlich hervor, dass in der Zeit vor der Essstörung eine Überforderung mit der Lebenssituation sowie eine Verunsicherung präsent waren. Während mit Überforderung eine Überbelastung durch Anforderungen, die über das bewältigbare Maß dieser Person hinausreichen, assoziiert wird, bezieht sich die Verunsicherung auf den fehlenden Halt der Person, etwa in Form von Orientierungslosigkeit,

7.1 Anfang(en) und Abrutschen in die Essstörung ‒ Aus dem Gleichgewicht kommen

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Empfinden einer Leere oder Ohnmacht. Die Überforderung beschreibt Alice beispielsweise mit: „wenn ich zu viel Druck gehabt habe“ (Alice, T30), oder dass ihr „einiges im Leben zu viel geworden“ (Alice, T39) sei. Dieses Zuviel ist unter anderem im Hinblick auf das Alter, aber auch auf die eigene Person definiert: „Das habe ich einfach nicht gepackt. […] Für eine Dreizehnjährige, […] also es war für mich nicht altersgerecht“ (Claudia, T973f., T977f., T984). Da die beiden Erlebensaspekte Überforderung und Verunsicherung in engem Zusammenhang miteinander stehen, werden sie an dieser Stelle gemeinsam im Hinblick auf verschiedene Einflussfaktoren und Kontexte beschrieben. So kann Verunsicherung durch mangelnde Unterstützung in einer Situation zur Überforderung führen, wenn gleichzeitig zu viel Verantwortung übernommen werden muss. Zur Überforderung tragen Selbst-, Umfeld- sowie allgemeine Lebensaspekte und vor allem deren Zusammenwirken bei. Das können (kritische) Lebensereignisse sein, besonders aber sind es die Herausforderungen, die Entwicklungsübergänge mit sich bringen, und die Atmosphäre im Umfeld. Hinzu kommt die Empfindsamkeit der Personen bei gleichzeitig angestrebtem und/oder erforderlichem Anspruch der alleinigen Bewältigung von Schwierigkeiten. Hierin zeigt sich die Tendenz zu starker Aktivität bis hin zur Selbstüberforderung, die zusätzlich zur Belastung, die bereits aufgrund äußerer Stressfaktoren vorhanden ist, beiträgt. Dahinter kann ein ausgeprägtes Leistungsstreben stehen und/oder die Schwierigkeit, bewusst mit eigenen Ressourcen umzugehen (u. a. Tamina, 1482‒1484). Lebensereignisse, Entwicklungsübergänge und Entwicklungsaufgaben Eine Herausforderung im Hinblick auf Lebensereignisse und Entwicklungsübergänge ist die zu einem großen Teil damit einhergehende Unkontrollierbarkeit. So war der rasch eintretende Tod ihres Vaters für die damals zwölfjährige Marlies ein belastendes Ereignis, da sie eine sehr nahe Beziehung zu ihm hatte und vor allem sportliche Interessen mit ihm teilte. Ungefähr zwei Jahre später veränderte sich aufgrund des Eintritts in eine neue Schule auch das örtliche Umfeld. Doch weniger der Ortswechsel an sich, der ihre „freie Entscheidung“ (Marlies, 14) war, überforderte Marlies, sondern vielmehr, dass „alles weggebrochen“ (Marlies, 14) sei: das Musizieren und vor allem der gemeinsame Sport mit ihrem Vater. Die Trauer um ihn und ihre Gemeinsamkeiten wurde ihr durch den Umzug vermehrt bewusst: Es habe sich ihre „ganze Welt“, ihr „ganzes Umfeld eigentlich geändert“ (Marlies, 10). Zudem lebte Marlies, wenngleich die Wohnung im Besitz der Eltern war, am neuen Ort alleine, sodass sich die Essstörung dementsprechend ausbreiten konnte. Die Leukämie-Diagnose ihrer Mutter war auch für Anika eine belastende Erfahrung im Vorfeld der Essstörung: Ich glaube, dass das nochmal so ein bisschen mein Weltbild durcheinandergebracht hat. Also dass mich das dann verunsichert hat, gerade in dem Prozess der Ablösung, des Abiturs ‒ aus der Schule raus und diese ganzen Veränderungen. Ich glaube, dass mich das ziemlich schwer getroffen hat, so der Gedanke: ‚Eigentlich kannst du jetzt gar nicht weg‘, oder: ‚Du hast jetzt irgendwie eine Verantwortung für deine Mutter.‘ Und

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dass mich das dann nochmal mehr aus der Rolle des Kindes rausgeschickt hat. Das fiel mir sehr schwer. (Anika, 471‒475)

Deutlich wird hier, dass sich Anika für ihre Mutter verantwortlich fühlte, wie sich umgekehrt eine Mutter um ihr Kind sorgt. Dadurch verlor sie ihre eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Ziele aus den Augen. Hinzu kam, dass bei ihr kurzzeitig der Verdacht auf ebendiese Diagnose bestand, der sich jedoch nicht bestätigte. Außerdem befand sich Anika mit dem Übertritt in einen neuen Lebensabschnitt nach dem Abitur in einem Entwicklungsübergang. Solche Entwicklungsübergänge erfordern Orientierung und können daher mit einem Gefühl der Orientierungslosigkeit einhergehen. So erzählt Irina von der schwierigen „Übergangszeit“ (Irina, 913) vor dem Beginn ihrer Ausbildung im Alter von circa zwanzig Jahren, dem sie zwar mit Freude entgegensah, jedoch die Leere bis dahin mit Essen und Erbrechen füllte. Rebecca spricht von „Langeweile“ (Rebecca, T24, vgl. T88) in einer ähnlichen Situation nach ihrem Abitur, weswegen sie den Sportumfang erhöht und gleichzeitig die Nahrungsaufnahme reduziert habe. Die Herausforderungen, die solche Entwicklungsübergänge mit sich bringen, können daher eine Essstörung begünstigen, vor allem wenn kein/zu wenig Halt in anderen Lebensbereichen vorhanden ist. So war Ina nach Abbruch ihres Studiums meist alleine in ihrer Wohnung, zumal sie durch das hohe Lernpensum zuvor auch ihre Freizeitaktivitäten aufgegeben hatte (Ina, T134‒T153). Bei Alice wird ein Einfluss ihrer tendenziell ängstlichen Persönlichkeit auf das Erleben der Entwicklungsübergänge Kindergarteneintritt und Schulwechsel deutlich. Aufgrund ihrer Angst vor Unbekanntem bereiten ihr Veränderungen zum Teil auch heute noch Schwierigkeiten (Alice, T975, T1312). Auf den Beginn des Kindergartenbesuchs reagierte sie bezeichnenderweise mit Erbrechen (Alice, T1341), wobei sie später nicht an Bulimie, sondern an Anorexie litt. Durch den Schulwechsel sei sie nicht mehr so „behütet“ (Alice, T1320) und daher „belastet“ (Alice, T1321) gewesen. Allerdings bleibt offen, wodurch sie zuvor Schutz erfahren hatte, da sie das häusliche Umfeld als schwierig beschreibt. Die Volksschule erinnert sie nicht als problematisch, ebenso nicht die Einschulung, sodass sie hier eine solche behütende Atmosphäre erlebt haben dürfte (Alice, T1333‒T1336). Bei Lia, die von sozialen Ängsten in ihrer Kindheit erzählt, geht hingegen nicht deutlich hervor, inwiefern diese an Entwicklungsübergängen verstärkt auftraten. Jedenfalls könne sie sich deren Auftreten nicht erklären und sehe in diesen Ängsten den „Hauptgrund“ (Lia, 733) für die Essstörung. Ein solcher Zusammenhang wird auch in der Literatur beschrieben (s. Kapitel 2.2.3). Umgekehrt könnte die Essstörung sie vor diesen Ängsten geschützt haben, indem sie ihren Fokus auf andere Themen richten und sich dadurch zurückziehen konnte. Besonders mit der Pubertät beginnt eine „Phase der Orientierung“ (Claudia, T2591), wodurch diese Zeit „natürlich ein schwieriges Alter“ (Ina, T43) ist und die Vulnerabilität im Hinblick auf das Auftreten einer Essstörung erhöht (s. Kapitel 2.3.2 und 3.2.2). Claudia beschreibt die zu bewältigende Entwicklungsaufgabe so: „Wie positioniere ich mich, wo positioniere ich mich“ (Claudia, T2593). Mehr als die körperlichen Veränderungen in der Pubertät an sich, kann die Unkontrollierbarkeit dieser Veränderungen überfordernd sein. Bei Bianca wurde dies durch das Ausüben des Leistungssports bis zur Pubertät zusätzlich verstärkt: Während Bianca den Körper im Sport unter Kontrolle hatte, veränderte sich ihr Körper nicht nur aufgrund der Pubertät, sondern auch durch

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die Gewichtszunahme infolge des geringeren Sportpensums nach Beenden des Leistungssports. Dies kann ein Gefühl der Ohnmacht auslösen, wofür Biancas Aussage, sich heute hingegen sicher in ihrem Körper zu fühlen, spricht. Mit der Pubertät werden außerdem das Finden der eigenen Geschlechtsidentität und das Leben von intimen, anders- oder gleichgeschlechtlichen, Beziehungen ein Thema (Erikson, 1973, S. 151; Havighurst, 1972). Durch ihre Probleme mit solchen „Liebessachen“ (Marianne, 180), die im Zusammenhang mit ihrer Erfahrung eines sexuellen Übergriffs zu sehen sind, unterschied sich Marianne von anderen Gleichaltrigen. Dieses Gefühl der Differenz war für sie belastend, weshalb sie Essen als Kompensation gebraucht habe. Weitere Einflüsse können die Verunsicherung in der Pubertät verstärken, beispielsweise eine zweisprachige Herkunft, die Tamina, in Österreich aufgewachsen, im Hinblick auf ihre slowenischen Wurzeln erwähnt (Tamina, 25‒29). Doch auch innerhalb von Lebensabschnitten, also nicht an Entwicklungsübergängen, kann eine eingeschränkte Orientierung als belastend empfunden werden und im Zusammenhang mit dem Auftreten bzw. Ausdehnen der Essstörung stehen. Eine solche erfuhr Anja in ihrem Berufsleben durch unregelmäßige Arbeitszeiten und stark wechselnde Anforderungen. Die zusätzliche Verfügbarkeit von Essen in ihrer Tätigkeit im Gastgewerbe trug außerdem zu ihrer Essstörung bei. Somit kann die Essstörung als Verkörperung von Verunsicherung interpretiert werden: Die Verunsicherung manifestiert sich auf körperlicher Ebene und wird damit sichtbar sowie kontrollierbar. Dafür sprechen jene Äußerungen, in denen die Personen die Essstörung als Lebensinhalt und haltgebend beschreiben (s. Kapitel 7.1.3). Nähe und Distanz in familiären Beziehungen Insbesondere im Fall von mehreren zusammentreffenden belastenden Aspekten ist eine stützende Begleitung von Seiten des Umfeldes hilfreich, die jedoch bei den Personen oft nicht vorhanden war. Hingegen hatten sie selbst oft eine stabilisierende Funktion für ihr Umfeld. Zum Teil ist eine Parentifizierung erkennbar, das ist eine Rollenumkehr, bei der das Kind Aufgaben der Eltern übernimmt (Schier et al., 2011). So fühlte sich Karin in einer „Mutterrolle“ (Karin, T2235) als Kind und Jugendliche, während ihre Mutter gegenüber dem Vater eine „Opferrolle“ (Karin, T2239) einnahm: Bei meiner Mama war's nicht so das Problem, was sie gemacht hat, sondern eher immer, was sie nicht gemacht hat. Das war einfach, dass sie im Prinzip zu passiv war und auch nicht Verantwortung übernommen hat, die ihr zugestanden ist. […] Das Schwierige war für mich, dass Aufgaben, die sie eigentlich aufgehabt hätte, ich sehr bald übernommen habe. (Karin, T2230‒T2234, T2247‒T2250)

Eine solche Stützfunktion kann auch in einer Partnerschaft vorhanden sein. Ina erzählt von ihrem früheren Partner, der wie sie Medizin studierte und sich durch sein konkurrierendes Verhalten ihr gegenüber selbst aufwerten konnte: „Ich bin immer weiter runtergekommen, und er ist immer weiter raufgekommen. Also vom Studienerfolg wie auch vom ganzen Selbstwertgefühl her ist es bei mir wirklich rasant bergab gegangen“ (Ina, T87‒T91). Den Halt, den ihr Freund in seiner eigenen Familie nicht fand, habe er unbewusst bei Ina und ihrer Familie gesucht (Ina, T80‒T83).

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Insbesondere in der Mutterbeziehung zeigt sich die stabilisierende Rolle der Personen deutlich, wobei diese Beziehung häufig als zu nahe empfunden wird: Meine Mutter hat eine eineiige Zwillingsschwester. Das ist noch ganz wichtig, weil ich glaube, das hat große Auswirkungen auf das Verhältnis, das sie zu uns [Kindern] aufbaut. Also eine sehr, sehr innige Beziehung. Manchmal habe ich das Gefühl, sie sucht ein bisschen die Symbiose in ihren Beziehungen zu den Kindern beziehungsweise zu mir vorher und jetzt zu meiner Schwester. Sehr, sehr innig, weil sie es auch irgendwie braucht. (Anika, 347‒349; Hervorhebung A. K.)

Ina benennt hingegen nicht nur die Suche der Mutter nach Nähe, sondern umgekehrt auch ihre eigene „emotionale Abhängigkeit“ (Ina, T236) und somit das beiderseitige Zusammenwirken in der Situation. Ihre Mutter habe sich, nachdem die älteren Geschwister ausgezogen waren, auf sie „gestürzt“ (Ina, T243). Sie sei „sicher ein gutes Opfer gewesen“ und habe das „zuerst dankend angenommen“ (Ina, T245f.), da sie sich die Aufmerksamkeit ihrer Mutter wünschte. Einerseits wollte sie versorgt und umsorgt werden, andererseits erkannte sie allmählich die damit verbundenen Einschränkungen in ihrer eigenen Entwicklung (Ina, T248‒T250). Eine solche enge Bindung kann darin begründet sein, dass die Mutter, beispielsweise aufgrund von Konflikten in der Familie, mit ihrer eigenen Situation überfordert ist und unbewusst Halt in ihren Kindern sucht. Grete erzählt von einer solchen Überforderung beider Elternteile bereits im Vorfeld ihrer Bulimie: Der Vater war alkoholabhängig, die Mutter litt an einer Autoimmunerkrankung. Während es früher häufig Konflikte zwischen den Eltern gab, entspannte sich die familiäre Atmosphäre seit dem Herzinfarkt des Vaters mit erforderlicher Reanimation deutlich. Auch die Mutter konnte mit der Verbesserung ihres Gesundheitszustandes durch eine adäquate Schmerztherapie wieder mehr Freude und Gelassenheit im Alltag erleben (Grete, T820). Die frühere Überforderung der Eltern dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass sich Grete von ihren Eltern „verlassen“ (Grete, T461) und ihrerseits überfordert fühlte. Halt erfuhr sie in der Kindheit nur durch die Verbindung mit ihrem um drei Jahre jüngeren Bruder und durch ihre Großmutter. Heute hingegen besteht ein ausgewogenes Nähe-Distanz-Verhältnis zwischen Grete und ihren Eltern. Ihre Mutter habe heute „Gewissensbisse“ (Grete, T920) aufgrund der früheren Situation und mit Grete offen über ihre Ausweglosigkeit gesprochen, die sie damals angesichts der Alkoholerkrankung des Vaters und ihrer eigenen Schmerzen erlebte (Grete, T922‒T928). Die empfundene oder gewünschte Nähe wurde im Umfeld der Gesprächspersonen mitunter symbolisch durch Essen bzw. die Essensversorgung ausgedrückt, vor allem von Seiten der Mutter. Allerdings erweist sich diese Nahrung häufig als Ersatz für einen eingeschränkten emotionalen Ausdruck im Umfeld, zumal keine differenzierte Abstimmung auf die Emotionen der Personen erfolgte (u. a. Rebecca, T690, T699; Gugutzer, 2012, S. 176; s. Kapitel 2.3.3). Charlotte erzählt von ihrer Mutter, für die das Kochen, vor allem die Anerkennung dafür, von großer Bedeutung war. Sie sei „überbehütend“ (Charlotte, T151, T269f.) und mit Nahrung überversorgend gewesen (Charlotte, T456‒ T459), wie auch ihre Großmutter, bei der Charlotte dieses Verhalten auf die Kriegserlebnisse zurückführt (Charlotte, T619‒T644). Ähnlich war für Anjas Großmutter väter-

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licherseits das üppige Essen sehr wichtig, doch stand dies den strikt geregelten Mahlzeiten und Essensmengen von Seiten ihrer Mutter und ihres Stiefvaters entgegen. Zwar mit körperlicher Nahrung gut versorgt, erlebte sie auf emotionaler Ebene wenig Nähe, nur einzelne „Flunkel Wärme“ (Anja, T1114). Diese emotionale Unterversorgung sowie der gegensätzliche Umgang mit Essen ‒ opulente Mahlzeiten bei der Großmutter vs. Kontrolle der Mutter und des Stiefvaters ‒ dürften zu Anjas Verunsicherung beigetragen haben. Jedenfalls sieht sie selbst darin einen wesentlichen Einfluss auf die Essstörung (Anja, T29, T40). Rebeccas Mutter hingegen legte nicht auf eine große Essensmenge Wert, sondern sei sehr auf „extrem gesundes Kochen“ (vgl. Rebecca, T19) bedacht gewesen. Darauf führt Rebecca ihre immer schon schlanke Figur zurück (Rebecca, T18f., T35f.). Die „Familienzusammengehörigkeit“ (Rebecca, T42), wofür das gemeinsame Essen stand, war für ihre Mutter sehr wichtig (Rebecca, T53‒T55). Sie habe „ihre Liebe durch Essen gezeigt“ (Rebecca, T67f.), weswegen Rebeccas Verweigerung des Essens als ein Zurückweisen dieser Liebe gesehen werden kann. So beschreibt auch Silvia, dass sie der Überversorgung mit Nahrungsmitteln von mütterlicher Seite „gegensteuern“ (Silvia, T177) wollte. Zudem sei sie ein „dickes Kind“ (Silvia, T11) gewesen. Ihre Mutter habe mit Emotionen nicht umgehen und mit Aussagen im Sinne von „Mach, wie du glaubst!“ (Silvia, T280) nicht unterstützend sein können. Dass sich Silvia als Kind sieht, das „immer am Rockzipfel gehängt“ (Silvia, T294; T290) sei, könnte darauf hinweisen, dass sie, gerade weil es wenig emotionale Nähe gab, diese Nähe von sich aus umso mehr suchte. Dies wäre nach der Bindungstheorie als unsichere Bindung einzustufen (Brisch, 2011; s. Kapitel 2.3.3). Nicht nur in emotionaler Hinsicht, sondern auch von wenig körperlicher Nähe zu und zwischen den Eltern wird gesprochen: Ich muss sagen, ich hab ein körperlich distanziertes Verhältnis zu meinen Eltern. Also da gibt's jetzt keine großen Umarmungen oder so. Ich hab auch meine Eltern nie gesehen, dass sie Hände gehalten hätten oder dass der Papa die Mama zu sich genommen hätte. Also Körperlichkeit hat's nicht gegeben. (Irina, 1155)

Während die Mutterbeziehung als sehr bzw. zu eng empfunden wird, erwähnen die meisten Personen ihren Vater wenig oder erst spät in den Gesprächen. Diesbezügliche Aussagen sind mitunter weniger flüssig (u. a. Ina, T1314‒T1362). Die physische und/ oder emotionale Abwesenheit bzw. Unerreichbarkeit des Vaters in ihrem Leben spiegelt sich somit in den Erzählungen wider. Karin hingegen spricht ausführlicher über ihren Vater, den sie als distanziert und dominant erlebte. Er sei „jähzornig“ (Karin, T2287), „cholerisch“ (Karin, T2289) und handgreiflich gewesen. Auch in Bezug auf die Nahrungsaufnahme konnte ihr Vater kein Nein tolerieren (Karin, T1289f.). Er habe sie und ihre Geschwister dazu gedrängt (Karin, T2149), jedoch gleichzeitig das damit einhergehende Zuviel an Gewicht kritisiert. Sie bezeichnet diese double bind-Situation als „Mischding“ (Karin, T2121; T2213‒T2220). Besonders schmerzhaft waren die seelischen Verletzungen des Vaters, noch mehr als die körperlichen Folgen: „Es waren meistens nicht die Schmerzen, sondern einfach diese Demütigung und dieses Sich-so-machtlos-Fühlen und Sich-so-eingesperrt-Fühlen in dem Haus“ (Karin, T2404‒T2410). Dennoch stellte sich Karin vor ihre jüngere

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Schwester, um sie vor den Handgreiflichkeiten des Vaters zu „beschützen“ (Karin, T2358). Dadurch habe sie viel von ihr „abgefangen“ (Karin, T2359) und auch stellvertretend für die anderen beiden Geschwister manche Ereignisse gänzlich von ihm ferngehalten oder allenfalls eine „gepufferte Variante“ (Karin, T2270) weitergegeben. Auch heute sei sie noch „die große Schwester für alle“ (Karin, T2257). Die Auswirkung der geringschätzenden Erfahrung durch ihren Vater auf ihre damalige Selbst-Beziehung beschreibt Karin so: „Sehr viel von dem Selbstzerstörerischen in mir hat eigentlich er ausgelöst. Sehr viel von dem Selbsthass, also viel von dieser Stimme, die mir immer wieder gesagt hat, dass ich nichts wert bin und so weiter“ (Karin, T2458‒T2462). Wie Karin nicht nur über die damaligen unmittelbaren, sondern auch über die überdauernden Auswirkungen früher Erfahrungen spricht, werden solche Zusammenhänge ebenso bei Alice deutlich. Sie erzählt von der emotionalen Distanz und gleichzeitigen körperlichen Übergriffigkeit ihres Vaters: „Für mich hat es sich als Kind einfach so falsch angefühlt, wenn er sich betrunken zu mir ins Bett gelegt hat“ (Alice, T603f.). Er habe „nie böse Gedanken gehabt“ (Alice, T602), aber sie „kriege das Gefühl irgendwie auch nicht weg“ (Alice, T610). Dabei spricht sie von Scham- und Schuldgefühlen, die zum Teil heute noch aufrecht sind. Konflikte und Schweigen im Umfeld In den Geschichten zeigt sich somit ein Nähe-Distanz-Ungleichgewicht zwischen den Gesprächspersonen und ihren Bezugspersonen. Dieses ist besonders durch die eingeschränkte physische und/oder emotionale Präsenz dieser Bezugspersonen, auch im Hinblick auf die eigene Lebensfreude und Zufriedenheit, bedingt. Letzteres wird häufig in Zusammenhang mit elterlichen Konflikten oder auch als Unzufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation deutlich, beispielsweise als nicht berufstätige, den Haushalt und die Kinder versorgende Frau, wenn diese Lebensform nicht dem eigenen Wunsch entspricht (Silvia, T311, T346‒T352). Konflikte waren einerseits im größeren familiären Kreis, besonders zwischen (getrennt lebenden) Eltern und Groß- oder Schwiegereltern, andererseits in der engeren Familie aufgrund von Beziehungsschwierigkeiten, hohem Arbeitspensum oder Erkrankungen, wie Alkoholabhängigkeit, vorhanden. Konkrete familiäre Ereignisse werden zwar auch als schwierig geschildert, aber es ist mehr die allgemeine Atmosphäre, die wenig Halt gibt. Gleichzeitig sind Tendenzen erkennbar, die eigene Familie, insbesondere die Eltern, zu verteidigen: „Also ich bin weder vergewaltigt worden noch habe ich eine überfürsorgliche Mutter, ich bin auch nicht vernachlässigt worden. Wir sind einfach eine ganz normale Familie“ (Lia, 41). In dieser fast vehementen Aussage von Lia wird deutlich, dass sie entweder Schuldzuweisungen an die Familie selbst erfahren oder zumindest Kenntnis von der Thematisierung familiärer Einflüsse auf Essstörungen hat. Hier ist hinzuzufügen, dass sie zum Zeitpunkt des Gesprächs Soziale Arbeit studierte und dadurch mit psychologischen Theorien schon zum Teil vertraut war. Die „schöne Kindheit“ (Ina, T28) wird jedoch auch von anderen Personen betont. Weniger das Vorhandensein von Konflikten, sondern vielmehr der Umgang damit in Form von Schweigen, fehlendem Zuhören(wollen) oder lautem Austragen als überdauerndes Verhaltensmuster ist belastend, vor allem da dieses zu keiner Konfliktlösung

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führt. Die eingeschränkte oder fehlende Thematisierung von Problemen ist ein häufiges Merkmal der familiären Kommunikation. So wurde der Tod von Marlies' Vater und die Erkrankung von Anikas Mutter jeweils nicht von der Familie gemeinsam bewältigt. Dies kann auch bei einem empfundenen guten Verhältnis zwischen Familienmitgliedern der Fall sein, wie es Marlies über den Umgang mit dem Tod ihres Vaters beschreibt: Ich weiß nicht, in unserer Familie, wir haben zwar alle ein super Verhältnis, aber es ist erst viel später alles [der Tod ihres Vaters] aufgearbeitet worden. Wir haben immer so quasi die Starken sein müssen und, ja, es ist halt passiert. Irgendwie wurde nie darüber gesprochen. (Marlies, 12)

Ihre Kindheit und Jugend mit der fehlenden Möglichkeit des Mitteilens bezeichnet Claudia auch als „zeugenlose Zeit“ (Claudia, T1159; s. Kapitel 7.3.3). Gerade bei vorherrschendem Schweigen kann das Niederschreiben eigener Gedanken und Empfindungen hilfreich sein. Aber: „Ich habe ganz viel in die Tagebücher geschrieben, das schon. Aber das spricht halt nicht zurück“ (Claudia, T1224‒T1227). Schweigen ist in Ninas Familie ein großes Thema, nicht nur in Bezug auf die Essstörung. Nina selbst habe eine Tendenz zur Anpassung und Konfliktvermeidung, weshalb sie ihre Anliegen nicht direkt äußere: „Bevor ich sage: ,Ich will aber!‘, probiere ich, 10 000mal rundherum zu reden um den Brei“ (Nina, T1103f.). Es sei jedoch ein „Familiensyndrom“ (Nina, T1122), da „die ganze Familie eigentlich dem Schema folgt, dass man nicht sagt, was man will, sondern immer durch die Blume, und der andere muss es erraten“ (Nina, T1105‒T1107). „Man sagt nichts, wenn es einem schlecht geht, man spricht nichts an, es geht immer alles hinterrücks. Also irgendwie probiert man, es immer allen recht zu machen und nur ja nicht laut aufzustampfen und zu sagen: ,Ich will aber!‘ “ (Nina, T1122‒T1125). Besonders ihr Vater sei ein „Schweigemeister“ (Nina, T775), ein „Schweigekünstler“ (Nina, T770), mit dem sie „ewig lang reden kann, aber über nichts, was wirklich von Belang ist“ (Nina, T776f.). „Da muss schon wirklich der Schuh drücken, bis wir einmal reden“ (Nina, T785‒T788). Nur in seinen depressiven Phasen „bricht halt alles hervor“ (Nina, T771), auch Vorwürfe für Ereignisse und Handlungen, die schon lange zurückliegen. Einerseits ist es eine Form des Schweigens, wenn die Themen nicht direkt angesprochen werden ‒ Nina drückt dies mit dem Begriff „Totschweigefamilie“ (Nina, T762) aus. Andererseits haben ihre Eltern, ihr Bruder und Nina eine eigene Sprache: „Wenn man in dem Gefüge ist, geht's eh, weil wir alle unsere 10 000 Codewörter und Handlungen kennen und dann gegenseitig wissen oder meistens hoffentlich wissen, was erforderlich ist“ (Nina, T1108‒T1111). Nina spricht das Modelllernen an, da sie und ihr Bruder dieses Verhalten ihrer Ansicht nach von ihren Eltern übernommen haben (Nina, T1132). Diese eigene Familiensprache ist jedoch für Personen außerhalb dieses „Gefüges“ (vgl. Nina, T1108) nicht oder nur eingeschränkt verständlich, sodass sie in der Familientherapie kaum zugänglich waren und wie eine „heile Familie“ (Nina, T745) wirkten. Sie und ihr Bruder seien im Alltag jedoch „öfter mal damit angestanden“ (Nina, T1132f.). Bezeichnenderweise schlug Nina später den Weg des Dolmetsch-Studiums ein.

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In Rebeccas Familie ist neben dem verbalen Schweigen der Eltern eine ausgeprägte nonverbale Sprache der Mutter präsent. Dieser Ausdruck auf „indirekter Ebene“ (Rebecca, T59f.) sei für sie sehr belastend gewesen (Rebecca, T51). Mitunter galt Essen als Träger der Botschaft: Dass sie zum Beispiel, wenn sie beim nächsten Mal beim Essen eingedeckt hat, dann für mich kein Teller mitgedeckt hat, und das hat mich irgendwie noch mehr in dieses Ich-esse-jetzt-nicht-mit-euch-mit reingetrieben. Ich habe dann immer mehr Familienessen ausgelassen, hab dann auch überhaupt nichts mehr gegessen. […] Wir haben immer mehr so einen Konflikt bekommen, weil sie mich quasi einschränken und kontrollieren wollte, und dadurch habe ich dann immer weniger gegessen und von ihrem Essen angenommen. (Rebecca, T61‒T67, T70‒T73)

Auch wenn die Erwartungen der Mutter nicht erfüllt wurden, habe diese dennoch „nie was gesagt, weil sie das eigentlich nicht konnte“ (Rebecca, T45f.). Ihr Vater hielt sich im Hintergrund, sowohl physisch im Rahmen seiner beruflichen Abwesenheit als auch verbal (Rebecca, T359). Diese Zurückhaltung des Vaters empfand Rebecca als angenehmer im Vergleich zum Druck, den sie von Seiten ihrer Mutter wahrnahm. In Jasmins familiärem Umfeld waren einerseits Konflikte aufgrund der Streitigkeiten und Scheidung der Eltern präsent, andererseits erfolgte wenig Austausch. Sie habe daher oft „keinen Schimmer“ (Jasmin, T71) gehabt. Frauke hingegen erlebte als Kind nicht die Unwissenheit, sondern die offen ausgetragenen Streitigkeiten als belastend: Meine Eltern sind nur zusammengeblieben, damit wir Kinder die heile Familie erleben dürfen oder so. Aber als Kind merkt man das eh sofort. […] Ich glaube, das war für mich einfach das Schlimmste. Also ich wüsste jetzt nicht, was sonst so schlimm war, dass ich so krank werde. Ich glaube, es war einfach immer die Streiterei und dass meine Mutter unter den Aggressionen von meinem Vater schon sehr gelitten hat. (Frauke, 129‒131, 147‒149)

Wie ein konfliktreiches Umfeld zur Essstörung beitragen kann, ist dies auch umgekehrt der Fall: Die Essstörung wird häufig zum Anlass für Streitigkeiten, die die Überforderung auf Seiten der Betroffenen und der Bezugspersonen verstärken. Hinzu kommt das Leugnen der eigenen Betroffenheit am Beginn der Essstörung und die damit noch nicht vorhandene Bereitschaft, darüber zu sprechen (s. Kapitel 7.1.3). Gefühl von Verlassenheit und Leere Anstatt eines Lebens im Miteinander mit gemeinsamer bzw. begleitender Bewältigung von Schwierigkeiten besteht durch das Schweigen ein Nebeneinander, indem sich die Personen mit ihren Sorgen und Ängsten allein fühlen. Marianne erzählt beispielsweise, dass sie im Zusammenleben mit ihrem Vater, nachdem sie in der Jugendzeit von ihrer Mutter zu ihm gezogen war, „isoliert gewesen“ (Marianne, 220) sei. Damals begann auch ihre Bulimie. Im Fall von Alice ist die Mutter, die selbst mit ihrem Mann überfordert war, „einfach weggefahren“ (Alice, T29) und ließ Alice mit ihm, ihrem Vater, allein zurück. Zudem erkrankte die Mutter selbst, als Alice inmitten ihrer Maturavorbereitung stand, sodass sie nicht oder nur wenig stützend sein konnte. Bei Claudia drückt

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sich die Verlassenheit in einem Gefühl der Leere aus. Außerdem könnten ihre geringen und bruchstückhaften Erinnerungen an die Mutter mit dem damit verbundenen Schmerz sowie dem bereits damals präsenten Schweigen zusammenhängen (Claudia, T867‒T870): Sie hat sich nicht wirklich um irgendwas gekümmert. Sie ist zwar arbeiten gegangen, soweit ich mich erinnern kann, weil da waren auch die zwei Männer da, aber sonst hat sie, glaube ich, mit dem Leben mehr oder weniger abgeschlossen gehabt. Ganz oft hat sie auch gesagt: „Ich lebe nur mehr wegen dir.“ Und ich habe mir dann oft gedacht: ‚Naja, ist eigentlich auch nicht notwendig, weil ich habe nichts von dir.‘ (Claudia, T828‒ T834)

Den Zusammenhang zwischen diesem Gefühl der Leere und der Mutterbeziehung beschreibt Ettl mit der Projektion eigener Bedürfnisse, Spannungen und Konflikte auf das Kind und der Parentifizierung: Das Kind wird zum Container und übernimmt die Mutterrolle (Ettl, 2013, S. 299). Dazu dürfte bei Claudia beigetragen haben, dass ihre Mutter vom Vater getrennt lebte und an Depression litt, es gab auch keine Geschwister. Claudia blieb häufig sich selbst überlassen: „Die Mama ist zum Arzt gegangen und nicht mehr gekommen ‒ und mich haben sie scheinbar vergessen“ (Claudia, T874‒T877). Die Verlassenheit und damit einhergehende Orientierungslosigkeit sowie die fehlenden sozialen Beziehungen in ihrer Jugendzeit beschreibt sie in folgender Passage: Das war nie so, dass ich da irgendjemandem so viel Platz gegeben hätte. Aber ich glaube einfach, weil ich so beschäftigt war, mich selbst irgendwie zusammenzuhalten, dass sich das alles ausgeht. Ich glaube, das war echt meine Hauptbeschäftigung. […] Schule habe ich gewusst, ist wichtig, das muss sich irgendwie ausgehen, ich war immer eine gute Schülerin ‒ und dann von der Schule bis zum nächsten Tag in der Schule halt überleben. (Claudia, T1179‒T1185, T1190‒T1192; Hervorhebung A. K.)

Die hervorgehobene Stelle im Zitat weist darauf hin, welche Anstrengung es für Claudia erforderte, sich selbst zu stabilisieren, „zusammenzuhalten“ (Claudia, T1182). Daher war die Aufmerksamkeit einzelner Personen, wie jene der Familie eines Schulkollegen, wohltuend für sie. Die dortige Atmosphäre ließ sie erfahren, „dass man auch anders leben kann“ (Claudia, T1153). Für Karin war der Tod ihrer Großmutter ein schmerzhafter Verlust, da diese für sie als „Anhaltepunkt“ (Karin, T107, T123) galt. Sie habe von ihr Aufmerksamkeit bekommen, während ihr Bruder in der Familie, wenn auch nicht immer im positiven Sinne, im Fokus stand (Karin, T112‒T119, T2531‒T2556). Mit ihrer Großmutter verstand sie sich wortlos, daher habe sie sich nach ihrem Tod „extrem alleingelassen“ (Karin, T2997) gefühlt. Halt erfuhr Karin sonst vor allem durch die nahe Verbindung zu ihrer jüngeren und ihrer älteren Schwester. Sie konnten vieles miteinander teilen, auch Probleme wie die Schwierigkeiten mit dem Übergewicht (Karin, T2027‒T2036). Verlusterfahrungen können die Angst, nicht geliebt und (erneut) verlassen zu werden, sowie ein Gefühl von Ohnmacht verstärken (u. a. Anja, T1839‒T1841). Diese Angst fällt besonders ins Gewicht, wenn der Fokus einer Person auf der Anerkennung und Wahrnehmung von anderen liegt (u. a. Anja, T93‒T96). Gleichzeitig ist aufgrund der früheren

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schwierigen Erfahrungen die Angst vor neuerlichen Verletzungen präsent. Dementsprechend besteht die Tendenz, sich gegenüber dem Umfeld zu verschließen (u. a. Anja, T2170‒T2180). Das Alleinsein kann jedoch auch im Rahmen einer Partnerschaft als belastend erlebt werden und zur (Verstärkung der) Essstörung beitragen. So waren für Anja jene Zeiten schwierig, in denen sie aufgrund der beruflichen Abwesenheit ihres Mannes alleine war: „Irgendwann ist er dann für mich als Person nicht mehr greifbar gewesen, weil er seinen Beruf übergeordnet hat“ (Anja, T140‒T142). Seine Aufmerksamkeit glaubte sie durch eine Gewichtsabnahme zu erlangen, da sie dafür bereits früher von anderen Menschen Anerkennung erhielt (Anja, T93‒T99). Ähnlich erging es Ina, wenn ihr Mann im Ausland war: „Das waren immer sehr instabile Zeiten“ (Ina, T319). Die Essstörung gab ihr in diesen Phasen jene Stabilität, die ihr Mann sonst zur Verfügung stellte und sie sich selbst noch nicht geben konnte. Außerdem suchte sie dabei mehr Nähe zu ihren Eltern als Ausdruck ihrer Suche nach Stabilität: „Da habe ich dann eher wieder den Kontakt zu meinen Eltern gesucht, dass ich sozusagen in der Beziehung nicht so die Unsichere bin, die klammert und den Freund nicht auslässt. Das wollte ich halt auch nie“ (Ina, T314‒T317). Empfindsamkeit und Stärke der Person Von außen einwirkende, wie die bisher beschriebenen, Belastungen werden einerseits durch die mangelnde Unterstützung des Umfeldes, andererseits durch den eigenen Anspruch der Person, Stärke zeigen zu wollen, vergrößert. Hierzu trägt zudem die gleichzeitig vorhandene Empfindsamkeit der Personen bei, wobei sie auch von Hochsensibilität sprechen (Aron & Aron, 1997; Aron, Aron & Davies, 2005; Blach & Egger, 2014). Jasmin beschreibt diese im Hinblick auf das Befinden ihres Vaters: Für mich war immer schon klar, dass ich [nach der Scheidung] beim Papa bleibe, weil ich immer ein Papakind war. Es war mir wichtig, dass ich auch auf ihn ein bisschen aufpassen kann, weil ich Angst gehabt hab um ihn. Er ist nicht immer ganz stabil, und das habe ich als Kind schon ganz gut herausgefiltert. (Jasmin, T25‒T30; Hervorhebung A. K.)

Alena meint über sich, „ein extrem sensibler Mensch“ (Alena, 1357), „mehr der emotionale Typ“ (Alena, 669) zu sein und „immer gleich plärren“ (Alena, 669) zu müssen. Diese Empfindsamkeit erhöht die Verletzlichkeit gegenüber Bewertungen, abwertenden Bemerkungen sowie Ablehnung von anderen (s. Kapitel 7.1.2) und kann die Verarbeitung von schmerzhaften Erfahrungen erschweren: Das war für mich ein absolutes Unverständnis, irgendwie eine Katastrophe für mich, dass jemand sagt, er hat sich in mich verliebt und stößt mich ganz offensichtlich weg, weil er Angst hat, dass er verletzt wird. Den Schmerz habe ich für mich selbst über Jahre mitgenommen: das Zurückweisen. (Irina, 829‒831)

Stark zu sein bzw. „Kampfgeist“ (Karin, T3108, T3114) zu zeigen, war bei einigen Personen auch mit dem Anspruch verbunden, den Weg aus der Essstörung allein gehen zu wollen oder zu müssen, zumal die eigene Betroffenheit als Schwäche empfunden

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wurde. Hierzu dürfte die Vermittlung von Idealen durch die Gesellschaft und das nähere Umfeld eine Rolle spielen, insbesondere der hohe Wert von Leistungsfähigkeit (u. a. Gugutzer, 2012). Dementsprechend kann Krankheit ein Schamanlass für die Betroffenen sein (s. Kapitel 2.3.2). Außerdem sind in manchen Gesprächen noch ansatzweise Schuldgefühle präsent, die sich auf die frühere Betroffenheit und die körperlichen Folgen sowie auf die Familie und den Freundeskreis, die dadurch belastet waren, beziehen. Auch wenn der Wunsch nach einem Gleichgewicht zwischen Selbst-Verantwortung bzw. Selbstverantwortung und Annehmen von Unterstützung, zwischen Versorgen und Versorgtwerden bzw. dem „Kindlichen“ (Silvia, T1521) bestand, war ein dafür erforderliches temporäres Aufgeben bzw. Nachlassen der Kontrolle schwierig. Dass dieser Wunsch weniger im Bewusstsein präsent war als der Anspruch der alleinigen Bewältigung von Belastungen, zeigt sich unter anderem an den etwas zögerlichen Aussagen zum Vorhandensein dieses Wunsches in der Zeit der Essstörung. Auf die Frage, was sie daran gehindert habe, nach Unterstützung zu fragen, antwortet Marlies: „Ich weiß nicht, mein eigener Stolz vielleicht? Dass ich nicht gebrechlich ausschauen will, sondern dass ich trotzdem immer so über den Dingen drüberstehe ‒ ich glaube, das ist das Maßgebliche“ (Marlies, 225; Hervorhebung A. K.). Handlungsleitend war also das äußere Maß und nicht ihr eigenes Wohlbefinden, daher erschütterte sie dementsprechend das Erkennen ihrer eigenen Betroffenheit circa vier bis fünf Jahre nach dem Beginn der Essstörung. Im Streben nach alleiniger Bewältigung der Essstörung wird die Leistungsorientierung der Personen erkennbar, die außerdem überfordern kann, wenn diese auf hohe äußere Leistungsanforderungen trifft (s. Kapitel 7.1.2). Nicht nur der eigene Anspruch, sondern auch die erlebten Erwartungen und Erfordernisse in ihrem Umfeld bewirkten bei den Personen ein Verantwortungsgefühl für andere, insbesondere für Eltern und Geschwister (s. Kapitel 2.3.3). Die Übernahme von Verantwortung bereits im Kindesalter führt jedoch häufig zu Überforderung, in der die Essstörung stabilisierend wirkt. Das Kind kann einerseits mit konkreten Alltagsaufgaben, andererseits im Hinblick auf den Umgang mit Projektionen von Seiten der Bezugspersonen überfordert sein. Anstatt die differenzierte Wahrnehmung eigener Empfindungen und den Umgang damit in der Interaktion mit der Bezugsperson zu erlernen, wird das Kind selbst zum Container, wie Bion diese Funktion nennt. Abgewehrte Anteile der Erwachsenen werden auf das Kind projiziert, womit dieses überfordert ist (Ettl, 2013, S. 298; Lawrence, 2006, S. 170). Für eine solche Überforderung spricht, dass die teilweise Abgabe von Verantwortung als hilfreicher Aspekt für den Weg aus der Essstörung genannt wird. Die Tendenz zur Fürsorge für andere wird außerdem daran deutlich, dass einige Gesprächspersonen heute im psychosozialen Bereich tätig sind bzw. sich in einer entsprechenden Ausbildung befinden. Dafür ist die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme von Bedeutung, ebenso die Fähigkeit zur Empathie. So ist nicht nur das Aufnehmen von Stimmungen in der Umgebung ein Merkmal der Personen, sondern auch die Zuwendung nach außen, beispielsweise in Form von Hilfsbereitschaft.

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Empfindsamkeit trägt zwar durch das vermehrte Wahrnehmen der Umgebungsatmosphäre zur Überforderung bei, ist aber gleichzeitig eine Ressource für die Überwindung, da dabei das (Wieder-)Erlernen des Spürens im Hinblick auf das Selbst und die anderen von großer Bedeutung ist. Ebenso verhält es sich mit dem von den Personen beschriebenen Anspruch, stark sein zu wollen und stark zu sein: Er bahnt den Weg in die Essstörung in Form von Disziplin und dem Übergehen eigener Bedürfnisse, aber auch den Weg aus der Essstörung heraus, da dafür kontinuierliche Arbeit an sich selbst erforderlich ist. Dieses Streben nach Selbstständigkeit bzw. Selbst-Ständigkeit und Unabhängigkeit wird in den Lebensgeschichten über alle Wegetappen hinweg deutlich. Aus dem Gleichgewicht kommen ‒ ein Beispiel Zum Abschluss dieses Kapitels wird anhand eines Auszugs aus dem Gespräch mit Jasmin das Zusammenwirken zwischen Persönlichkeit, Überforderung mehrerer Beteiligter und der Verunsicherung durch das Alleinsein demonstriert. Damit soll die Komplexität des Phänomens jenseits einer einseitigen Ursachenzuschreibung hervorgehoben werden. Bei Jasmin wird zunächst der Zusammenhang zwischen Alleinsein und Überforderung deutlich. Überforderung erlebte sie aufgrund ihrer Zuständigkeit für die Haushaltsführung bei ihrem Vater neben ihrem Schulbesuch im Alter von fünfzehn Jahren. Sie sei bei ihrem Vater „ganz vergessen“ (Jasmin, T143), auf sich selbst gestellt gewesen (Jasmin, T88f.) und habe allein die Verantwortung für sich übernehmen müssen (Jasmin, T41f.). Es sei ihr alles zu viel gewesen, sodass es zum frühen Alkoholmissbrauch sowie zu psychosomatischen Beschwerden, wie Kopfschmerzen und Erschöpfungszuständen, kam. In Jasmins Familie wird außerdem die beiderseitige Überforderung sichtbar: Der Vater sei „unberechenbar“ (Jasmin, T995) in Belastungssituationen und ihre Mutter mit ihr als „schwieriges Kind“ (Jasmin, T1005) nicht zurechtgekommen (Jasmin, T1009‒ T1020). Jasmins Schwester und ihre Mutter hingegen „stecken zusammen unter einer Decke“ (vgl. Jasmin, T1931). Zu ihrer Schwester hat Jasmin den Kontakt inzwischen abgebrochen. Ich war ein schwieriges Kind. Ich habe viel Aufmerksamkeit gebraucht, ich war sehr fordernd und habe viel meine Gefühle ausgelebt. Und da hat sie [die Mutter] mich eben öfter einmal in der Ecke zusammengeschlagen, weil sie es nicht mehr gepackt hat. Der Papa hat hingeschaut, hat gesagt, sie soll es lassen. Sie ist nicht mehr abgegangen. Dann hat er seinen Schlüssel genommen und ist mit dem Auto weggefahren, weil er es nicht mehr anschauen hat können. Sie hat es nicht mehr gepackt mit mir, die war überfordert. Sie hat alles probiert mit mir, ich bin anscheinend nicht darauf eingestiegen. Es war immer schwierig. Sie hat sich mit meiner Schwester immer schon besser verstanden, ich bin immer eher die Einzelgängerin gewesen. Der Papa war tagsüber beim Arbeiten, bis abends habe ich eigentlich niemanden gehabt. Abends sind wir dann meistens, also ganz lang haben wir das immer gehabt, dass wir spazieren gegangen sind, der Papa und ich. Das war so toll, als Kind habe ich mich immer so gefreut! Wir sind in den Wald gegangen, und das war echt super. (Jasmin, T1005‒T1032)

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Nach der Scheidung, weswegen sie sich ein „Scheidungskind“ (Jasmin, T17) nennt, ließ ihr Vater sie, unter anderem durch den Einfluss seiner jetzigen Frau, wiederholt alleine und verhielt sich wenig wertschätzend ihr gegenüber. Sie musste daher mehrmals umziehen: zu ihrer Mutter, bei der sie nicht willkommen war; zu Freunden oder Freundinnen. Besonders da sie zu ihrem Vater ein näheres Verhältnis als zu ihrer Mutter hatte ‒ sie sei vor allem in der Kindheit ein „Papakind“ (Jasmin, T26) gewesen ‒, ist das Verlassenwerden von ihm besonders schmerzhaft für Jasmin: „Das waren so viele Enttäuschungen, so viele Verletzungen auch. So oft, wie der mir den Boden unter den Füßen weggezogen hat, hätte ich mir nie gedacht, dass jemand so etwas bloß zulässt“ (Jasmin, T1039‒T1045). Für die Suche nach Halt, nicht zuletzt auch für die Suche nach einer Wohnmöglichkeit, stehen ihre damaligen sexuellen Kontakte zu Männern. Rückhalt gaben ihr in dieser Zeit ein langjähriger Freund und seine Mutter, wodurch sie sich angesichts der sonst vorhandenen Bodenlosigkeit ein wenig aufgefangen fühlen konnte (Jasmin, T155‒T160, T196‒T198). 7.1.2 Maßstäbe des Umfeldes und Anpassungsformen Von großer Bedeutung sind in den Gesprächen äußere Maßstäbe, die hier von jenen unterschieden werden, die überwiegend von der Person selbst ausgehen. Überwiegend deswegen, da die Person nicht ohne Einfluss von äußeren Maßstäben zu verstehen ist. Dies wurde bereits in den Ausführungen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Essstörungen deutlich (s. Kapitel 2.3.2 bis Kapitel 2.3.4) und zeigt sich ebenso in den Gesprächen. Die Einwirkung äußerer Maßstäbe wird hier als direkt oder indirekt bezeichnet. Eine direkte Vermittlung erfolgt beispielsweise durch Adressierung der Bewertung an die Person, etwa in Form von Leistungsbeurteilung oder Kommentieren der äußeren Erscheinung (s. Kapitel 2.3.3). Allgemeine Bewertungskriterien, die sowohl im näheren Umfeld als auch im größeren gesellschaftlichen Kontext verbreitet sind, wirken hingegen indirekt auf die Person ein. Auch die Bezugspersonen im näheren Umfeld erfahren eine Beeinflussung durch gesellschaftliche Maßstäbe (s. Kapitel 2.3.4). Indirekt wirksame Maßstäbe werden nicht an die einzelne Person gerichtet, jedoch als erstrebenswert dargestellt bzw. von dieser Person so empfunden. Besonders das Modellverhalten und der Vergleich mit anderen erweisen sich in den Gesprächen für das Erkranken sowie für den Weg aus der Essstörung als sehr bedeutsam und sind daher Themen dieser Arbeit. Von indirekt wirksam kann außerdem bei Hinweisen auf eine Internalisierung solcher von außen angelegter Maßstäbe gesprochen werden. Erkennbar ist dies unter anderem an der Formulierung, wie etwas sein sollte, oder auch in den Äußerungen über zu erfüllende hohe Erwartungen, ohne diese bestimmten Personen zuzuordnen (u. a. Ina, T41, T1069‒T1077). Als Formen der Anpassung an äußere Maßstäbe werden hier das Leistungsstreben, die Anpassung als Person und die Kontrolle erläutert. Letztere ist in der Essstörung besonders als Essens- und Gewichtskontrolle ausgeprägt, umfasst jedoch auch andere Lebensbereiche. Diesbezüglich ist vor allem ein Zusammenhang mit der erfahrenen Verunsicherung zu sehen (s. Kapitel 7.1.1).

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Bewertung des Körpers Im Hinblick auf den Beginn der Essstörung erzählen die Gesprächspersonen oft von abwertenden Bemerkungen, die sie von Seiten einzelner Menschen bzw. in bestimmten Kontexten erfuhren. Als Beurteilende nennen sie häufiger allgemein die Familie und den Freundeskreis, hingegen nur teilweise konkrete Personen. Möglicherweise war ihnen dieses Thema im Gespräch ebenso unangenehm wie die unmittelbare Erfahrung in der damaligen Situation, sodass sie sich nicht genau daran erinnern konnten bzw. wollten. Die Kommentare bezogen sich vor allem auf das Aussehen, insbesondere bei vorhandenem Übergewicht. Allerdings ist das äußere Erscheinen ebenso in Familien, in denen Essen und Gewicht nicht problematisch sind, von Bedeutung. Auch ohne zusätzlich belastende Lebensereignisse dürften sich solche zum Teil sogar demütigenden Bemerkungen verstärkend auf die Essstörung auswirken (Silvia, T386‒T390), jedoch in Abhängigkeit der Differenz zum eigenen Empfinden wirksam sein. So meint Charlotte auf die Frage, wie sie im Rahmen der Anorexie mit den Kommentaren zu ihrer Gewichtszunahme, die bei Betroffenen häufig angstbesetzt sind, umgehen konnte: „Es [das Kommentieren] war schon angenehm, aber ich denke, wenn ich mich selber nicht wohlgefühlt hätte, wäre es nicht angenehm gewesen“ (Charlotte, T1623‒T1625). Diese Aussage weist darauf hin, dass unangenehmen oder sogar demütigenden äußeren Bemerkungen durch ein Wohlgefühl mit sich selbst bzw. durch eine Selbst-Nähe im umfassenden Sinn leichter begegnet werden kann. In ihrer Kindheit sei sie, so Melina, ein „Moppelchen“ (Melina, 739; 13) gewesen und dafür oft „gehänselt“ (Melina, 739) worden. Umso wohltuender waren die „Komplimente“ (Melina, 17) für ihren ersten Gewichtsverlust, nachdem sie damit begonnen hatte, die Nahrungsmenge einzuschränken. Auch Marina bezeichnet sich als ein „pummeliges Kind“ (Marina, 13), weswegen ihr Vater sie „Dickerchen“ (Marina, 13) genannt habe. Neben solchen Bemerkungen zu einem etwas höheren Gewicht, jedoch nicht Übergewicht, bereits im Kindesalter erfuhren die Personen ebensolche zu ihren körperlichen Veränderungen in der Pubertät, insbesondere im Fall einer Gewichtszunahme. Das Bewusstwerden einer solchen Gewichtszunahme in der Pubertät, wie bei Bianca durch das zu eng gewordene Ballkleid vom Vorjahr, kann ein „Schlüsselerlebnis“ (Bianca, 7) sein und zusammen mit deren Kommentieren von Seiten des Umfeldes zur Essstörung beitragen. Bei Selbst-Unsicherheit ist der Umgang mit den Herausforderungen der Pubertät und den äußeren Bewertungen zusätzlich erschwert (Ina, T70‒T72). Auch nach der Pubertät können solche Beurteilungen verunsichern und Anlass für eine Gewichtsabnahme sein, die hingegen „viel Lob und Anerkennung von außen“ (Bianca, 7) und somit positive Verstärkung bringt. Allerdings stand am Beginn der Essstörung nicht immer ein höheres Gewicht oder eine Gewichtszunahme, sondern die Personen sprechen auch davon, „sehr schlank“ (Ina, T45) oder „ein sehr dünnes Kind“ (Ina, T45f.) gewesen zu sein. Dies war bei Ina der Fall, dennoch erlebte sie eine Diskrepanz zwischen den vermittelten Idealen (Ina, T1936, T1951) und dem selbst wahrgenommenen Aussehen im Alter von circa sechzehn Jahren. Daher begann sie, Gewicht abzunehmen, indem sie „ganz klassisch einmal eine Diät ausprobiert“ (Ina, T55f.; T46‒T56) habe. Insbesondere die Mutter sei sehr auf das körperliche Erscheinen anderer Menschen fokussiert und stolz auf die Attraktivität ihrer Kinder (Ina, T2086‒T2088). Daher meint sie

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an anderer Stelle: „Das habe ich sehr schnell in meinem Kopf drinnen gehabt“ (Ina, T52‒T54). Auch ihr erster Freund habe ihr „sehr oft Geschenke gemacht, die zum Aussehen beitragen. Also nicht das, was ich wirklich will, sondern er hat mich verschönert“ (Ina, T2093‒T2095). Für Alice war und ist der permanente Vergleich mit der um nur fünfzehn Monate jüngeren Schwester sehr belastend (Alice, T195‒T236): Sie stehen in „Konkurrenz“ (Alice, T753), in einem „Konkurrenzkampf“ (Alice, T196, T775) zueinander. Dass der Vergleich nicht nur durch andere, sondern auch untereinander erfolgt, weist auf dessen Internalisierung hin. Die Konkurrenz betrifft vor allem die Körperlichkeit (Alice, T217‒T225, T758): Alice sei übergewichtig gewesen, „von Natur aus“ (Alice, T223) nicht so schlank wie ihre Schwester, sondern nur „erzwungenermaßen“ (Alice, T226). Ihr Vater habe Bemerkungen zu ihrem Gewicht gemacht und zwar sowohl, wenn es in seinen Augen zu viel, als auch, wenn es zu wenig war (Alice, T61f., T642‒T648). Aufgrund ihres Übergewichts erfuhr sie Demütigungen von anderen Kindern und Jugendlichen, aber auch innerhalb der Familie (Alice, T622‒T654). Sie wurde „ins Lächerliche gezogen“ (Alice, T636), also wegen ihres Übergewichts beschämt. Das Schamgefühl wird während des gesamten Gesprächs sichtbar, auch an dieser Stelle: Ihr seien solche Situationen in der Familie „peinlich“ (Alice, T634) (gewesen). Dennoch verteidigt sie immer wieder die (demütigenden) Anderen. Während sie zuvor von Demütigung spricht, meint sie kurze Zeit später: „Es war nicht wirklich demütigend, aber es waren Sachen, die man sich einfach für immer merkt“ (Alice, T650f). Aufgrund dieser Erfahrungen ist umgekehrt das Entfernen von solchen Maßstäben sehr hilfreich für sie: die Abwesenheit der Schwester, mit der sie in ständiger Konkurrenz steht, und das Wahrnehmen ihres Empfindens von Seiten der Therapeutin. Ähnlich wie Alice, jedoch nicht im Zusammenhang mit Abwertung, erzählt Charlotte von einem Selbst-Vergleich mit ihrer um fünfzehn Jahre älteren Schwester, zu der sie eine nahe Beziehung hatte und hat. Darin könnte sich ein indirekt wirksamer äußerer Maßstab, vermittelt über die Kleidung der Schwester, widerspiegeln: Als sie im Alter von fünfzehn Jahren erkannte, dass ihr deren Hose zu eng war, erlebte sie einen Moment der Erschütterung (Charlotte, T23‒T31). Dieses Verhalten und Empfinden sind im Hinblick auf den Altersunterschied auch mit dem Wunsch nach Nachahmung der großen Schwester zu erklären. Allerdings waren auch die Essensmenge und das Sportpensum einer Schulkollegin Referenzwerte für sie (Charlotte, T79‒T85). Es war somit nicht nur ein Selbst-Vergleich im Sinne eines Vergleichs des Selbst, wenngleich ausschließlich anhand äußerer Merkmale, sondern auch ein Selbstvergleich, also ein von ihr ausgehender Vergleich. Bei Alice hingegen erfolgte dieser mehr von Seiten des Umfeldes. Dass es für eine überdauernd schmerzhafte Erinnerung nicht einer Vielzahl an äußeren Bewertungen bedarf, wird bei Claudia deutlich. Nur ihr Vater, mit dem sie aufgrund der elterlichen Scheidung wenig Kontakt hatte, kommentierte ihr zu hohes Gewicht in der Jugendzeit (Claudia, T316‒T322). Auch ihr früherer Mann nahm sie mit ihrer Körperlichkeit an, dennoch war ihr dies selbst damals nicht möglich (Claudia, T791‒T806). Möglicherweise hatten die Aussagen des Vaters wegen seiner Abwesenheit ein besonderes Gewicht. Folgendes Zitat weist auf eine Internalisierung dieser Bewertungen hin:

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An die Mama kann ich mich überhaupt nicht erinnern, dass sie jemals irgendwas zum Gewicht gesagt hat, auch nie irgendein Klassenkamerad oder so. Es war also echt nur meins, glaube ich. Also wirklich. Oder ich verdränge es. Aber ich glaube nicht, dass mir das irgendwer dort [bei der Schularztuntersuchung] suggeriert hätte. (Claudia, T349‒ T354; Hervorhebungen A. K.)

Bei Nina waren es nicht ihre Eltern, sondern ihre Schulkollegen und Schulkolleginnen, die sie als „pummeliges Kind“ (Nina, T29) lächerlich machten: „Meine Eltern waren ein Leben lang davon überzeugt, dass ich ein Genie bin und der schönste Mensch auf Erden und superklasse (lächelnd). Also da ist nie was gekommen“ (Nina, T627‒T629). Anja erfuhr in mehreren Kontexten die Fokussierung auf das Äußere, unter anderem in der Familie ihres früheren Mannes, in der „Dünnsein das Non-plus-ultra“ (Anja, T63) war. Äußerlichkeiten, wie Markenkleidung und Schmuck, spielten eine große Rolle, sodass der Bruder des Mannes diesem gegenüber meinte: „Naja, du hättest dir schon auch eine andere Frau suchen können“ (Anja, T67f.). Aufgrund ihres damaligen Übergewichts begann sie mit Diäten, um diesem „Idealbild“ (Anja, T99) zu entsprechen, wodurch ihr mehr Aufmerksamkeit, auch von ihrer sonst distanzierten Mutter, zuteilwurde (Anja, T93‒T99). Ihr Mann unterlag selbst zwar nicht den genannten Idealen (Anja, T104f.), aber er sei „damals sehr an seiner Familie noch verhaftet“ (Anja, T107) gewesen. Auch im beruflichen Umfeld wurde Anja mit dem „Wie-wirke-ich-nach-außen“ (Anja, T1688) konfrontiert: „Ich war plötzlich auf Veranstaltungen, wo ich als normaler Mensch nicht hineingekommen wäre. Natürlich hast du dann da ein Kleidchen und dort ein Kleidchen“ (Anja, T1692‒T1696). Dadurch wurde ihre Essproblematik getriggert, wobei dies angesichts ihrer früheren problematischen Erfahrungen mit der Bewertung ihres Aussehens besonders nachvollziehbar ist. An einer anderen Arbeitsstelle gab ihr eine Kollegin durch ihre Interaktion zu verstehen, dass eine Gewichtsabnahme für eine bessere Zugehörigkeit zum Team wünschenswert wäre. Sie habe es „nicht so direkt, aber unbewusst gesagt“ (Anja, T1633f.). Es handelte sich somit mehr um eine nonverbal ausgedrückte Bewertung. Eine Beurteilung des Äußeren erfolgt außerdem bei der Feststellung des Vorhandenseins einer Essstörung auf Basis des Essverhaltens und Gewichts. Auch diese Maßstäbe wurden von den Gesprächspersonen mitunter übernommen. Insbesondere die Vorstellung, wie sich eine überwundene Essstörung zeigen sollte, lässt auf eine internalisierte Norm des zu erreichenden Zieles schließen. Eine solche ist in der Aussage von Rebecca zu finden, wofür die hervorgehobene Formulierung als auch die Verwendung der zweiten Person Singular („du“) sprechen: „Aber es geht ja eigentlich auch darum, dass du wieder ein normales Essverhalten bekommst und diese kranken Gedanken loswirst“ (Rebecca, T162‒T165; Hervorhebungen A. K.). Unter diesen „kranken Gedanken“ (Rebecca, T165) oder „kranken Kognitionen“ (Rebecca, T420) versteht sie das Gedankenkreisen um Essen und Gewicht (s. Kapitel 7.1.3).

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Gefühl des Anders-Seins In den Lebensgeschichten ist besonders die erlebte Diskrepanz zwischen Selbst und äußeren Erwartungen von großer Bedeutung. Die Personen sprechen häufig davon, anders gewesen bzw. sich anders in verschiedener Hinsicht gefühlt zu haben. Ein solches Erleben konnte in Zusammenhang mit Eigenschaften, Verhaltensweisen und familiären Verhältnissen stehen, durch die sie sich von ihrem Umfeld unterschieden. Ausschlaggebend ist vor allem, dass sie für diese Andersartigkeit keine bzw. nur eingeschränkt Anerkennung von ihrem Umfeld erfuhren. So konnte extravertiertes Verhalten bei manchen Verwandten, weniger von Seiten der Eltern, nicht gewünscht sein, vor allem wenn es bei diesen nicht als geschlechtsadäquat galt: Bianca sei eine „Revoluzze“, „wild und laut“, „bis an die Grenzen gehend“ (Bianca, 340) gewesen. Irina habe beim Spielen mit ihren Cousins „das Burschikose ausgelebt“ (Irina, 701; vgl. Frauke, 1589). Allerdings stieß diese rebellische Seite auf weniger Akzeptanz als folgsames Verhalten und zwar vielmehr indirekt als offen, beispielsweise durch Bevorzugen der Geschwister. Anika hingegen war ein „Rebell […] mit Leib und Seele“ (Anika, 651, 653) und hat mit dieser von ihr so bezeichneten „Einstellung“ (Anika, 655) zwar „Kämpfe ausgetragen“ (Anika, 15), spricht jedoch weniger von diesbezüglicher Ablehnung im Umfeld. Die Personen äußern, sich als ungewünschtes Kind, als „Störfaktor“ (Tamina, 1783) gefühlt und sich daher angepasst, die „Individualität“ (Tamina, 1380) nicht gelebt zu haben (Tamina, 1757). Demgegenüber steht der Wunsch nach Anerkennung, etwas „Besonderes“ (Bianca, 334) sein zu wollen. Bianca sei dies auch gewesen, da sie und ihre Familie einen „Sonderstatus“ (Bianca, 334) in der Verwandtschaft genossen haben. Ihr Vater war der einzige Akademiker in seiner Familie und zog mit seiner Frau, Biancas Mutter, in die Stadt. Während Bianca diese Sonderstellung als angenehm empfand, kann eine solche jedoch auch einschränkend sein und ein ungewolltes Gefühl von Differenz hervorrufen, etwa aus Scham für die familiären Verhältnisse und einem damit einhergehenden Rückzug von Gleichaltrigen (Marianne, 325‒327). Karin bezieht ihr Anders-Sein vor allem auf ihren „Körperbau“ (Karin, T43), der „immer schon schwerer gewesen“ (Karin, T44) sei. Sie habe „anders ausgeschaut als die anderen“ (Karin, T25f.), wobei anzunehmen, jedoch nicht direkt ausgesprochen ist, dass sie auf Gleichaltrige hinweist. Außerdem sei sie beim Alkoholkonsum „mit Abstand schon die Extremste“ (Karin, T309f.) im Freundeskreis gewesen, während dieser in ihrer Familie zu jedem geselligen Beisammensein gehöre (Karin, T316). Doch auch innerhalb der Familie wurde ihr von ihrem Vater vermittelt, „verkehrt“ (Karin, T2166) zu sein. Im Gegensatz zu ihrem Bruder, der sich als „Mittelpunkt der Welt“ (Karin, T2587) sah, hielt sie sich mehr im Hintergrund und blieb in seinem „Schatten“ (Karin, T2566, T2618). Zum Begriff des Schattens ist anzumerken, dass dieser auch im Hinblick auf die Essstörung, aufgrund der damit verbundenen Zuschreibungen des Umfeldes, Verwendung findet (s. Kapitel 7.1.3): Er [der Bruder] hat einfach einen irrsinnigen Charme, er weiß, wie man mit Leuten umgeht. Das waren immer Sachen, die ich als Kind überhaupt nicht gehabt habe. Ich war die Schüchterne, ich war sehr für mich, ich hab gewusst, wie man lernt, wie man gute Noten schreibt. Aber ich bin eben immer unterm Radar geblieben. Also von alleine haben mich Leute überhaupt nie bemerkt, sagen wir so. Ich bin immer in seinem Schatten

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gestanden. Noch dazu bin ich nicht einmal zwei Jahre nach ihm gekommen, also eineinhalb Jahre sind wir auseinander. Ich bin immer neben ihm übersehen worden. (Karin, T2559‒T2572; Hervorhebungen A. K.)

Der Bruder war für Karin ein Ideal, das sie nicht erreichen konnte, wodurch sie sich wertlos fühlte (Karin, T2615). Er war „diese Figur, die immer so einen Schatten auf mich geworfen hat, sodass ich daneben untergegangen bin“ (Karin, T2618f.). Eine Differenz empfindet Karin auch heute noch, jedoch befindet sie sich nun in einer anderen Position gegenüber ihrem Umfeld: Sie unterscheidet sich von ihrer Familie in einem größeren Ausmaß als früher, da sie im Gegensatz zu anderen Familienangehörigen nicht mehr übergewichtig ist und sich achtsam ernährt. Gleichzeitig hat sie dadurch eine größere Ähnlichkeit zur „Masse“ (Karin, T1412), womit sie die Allgemeinheit der außerfamiliären Menschen meint, die sie früher aufgrund ihres Übergewichts, ihrer Andersartigkeit, „anstarrte“ (vgl. Karin, T1414). Durch einen solchen „sozialen Druck“ (Rebecca, T155) sah sich Rebecca im Rahmen der Essstörung veranlasst, ihr Verhalten zu verändern: Ich hab am Anfang recht kalorische Sachen gegessen, zum Beispiel Erdnussbutter und Nutella. Manchmal einfach pur, weil ich auch so einen äußeren Druck, so einen sozialen Druck verspürt habe von den anderen Menschen, von meinen Freunden und vor allem von den Nachbarn, die meine Eltern wieder unter Druck gesetzt und gemeint haben: „Mit deiner Tochter stimmt was nicht, das weißt du aber schon!“ Meine Eltern haben mir das erzählt, dann habe ich mich wiederum unter Druck gefühlt und am Anfang wirklich eine starke Motivation gehabt, schnell wieder zuzunehmen und quasi normal zu werden. (Rebecca, T152‒T162)

Es kann hier auch vom Druck der Normalität gesprochen werden: Mit Rebecca „stimmt was nicht“ (Rebecca, T158), sie weicht von einer Norm ab, die es zu erreichen gilt. Allerdings ist eine solche Norm schwierig, daher nur „quasi“ (Rebecca, T162), zu definieren (s. Kapitel 6.1). Deutlich wird auch das Weitergeben des Drucks: von außerfamiliären Personen an die Eltern bis zu Rebecca, die mit diesem umzugehen hatte. Die Erfahrung von Zuschreibungen durch andere aufgrund ihres abweichenden Aussehens in der Zeit der Essstörung war für Rebecca schmerzhaft: Ich hatte immer das Gefühl, dass ich extrem stigmatisiert wurde, als ich so dünn rumgerannt bin, weil mich alle Menschen so angekuckt haben. In meiner Familie gab's auch, also grad von meinen Großeltern aus, extrem viel, ja, abschätzendes Verhalten; oder halt so Kommentare, die mir dann wehgetan haben. (Rebecca, T285‒T290)

Rebecca fühlte sich somit aufgrund der Essstörung in einer Differenz zu anderen Menschen. Marianne bezieht ihre Andersartigkeit während der Essstörung weniger auf das Gewicht, sondern auf die Ernährung im Vergleich mit Gleichaltrigen. Außerdem konnte sie sich nicht wie ihre Freundinnen für intime Beziehungen öffnen (Marianne, 9, 180). Irina betont ihr Anders-Sein im Gespräch in großem Ausmaß, unter anderem im Hinblick auf den Drogenkonsum, der die Essstörung begleitete: Selbst in Bezug auf den Drogenkonsum war ich auch immer anders. Ich weiß nicht, ich war immer anders. Es ist egal, wo ich hingekommen bin, es war immer so, dass ich anders war als die, die um mich herum waren. […] Ich bin auch so gewesen, dass ich es

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[die Drogen] sehr überlegt genommen hab. Also eben ganz anders als die anderen. (Irina, 829, 853)

In früheren Zeiten unterstrich sie ihre Andersartigkeit unter anderem durch Piercings an verschiedenen Körperstellen (Irina, 377‒389), die sie, bis auf ein einziges, über die Jahre wieder entfernen ließ. Über ihre soziale Zugehörigkeit in der Jugendzeit, bereits vor der Essstörung, erzählt Irina, „einzelnt“ (Irina, 286) gewesen zu sein. Möglicherweise handelt es sich hierbei um eine Vermischung der Worte einzeln und vereinzelt, in der sich einerseits die selbstgewählte (einzeln) und andererseits die von anderen vermittelte Andersartigkeit (vereinzelt) widerspiegeln könnte. Sie habe keiner festen Gruppe angehört, sondern diese in Abhängigkeit der Situation gewählt und sei „dazwischen“ (Irina, 289) gewesen. Ihre Position war demnach zum Teil ihre eigene Wahl, denn: „Die einen sind fortgegangen, aber da bin ich nicht mitgegangen, sondern ich bin mit meinen eigenen Leuten unterwegs gewesen“ (Irina, 289‒291). Wie Tamina fühlt sie sich außerdem in ihrem Ursprungsort „nicht dazugehörig“ (Irina, 391), denn: „Mir ist die Welt dort zu klein. War sie mir immer“ (Irina, 393). Die Verschiedenheit dürfte sich somit durch äußere Gegebenheiten, aber auch durch ihre eigene Abgrenzung konstituieren. Unter anderem mit dem beschriebenen Gefühl des Anders-Seins lässt sich die Betonung in den Gesprächen erklären, wie wichtig die Akzeptanz als Person sei: von anderen mit den persönlichen Eigenschaften anerkannt und als Person, nicht als Essstörung, gesehen zu werden. Sichtbarkeit ist zwar letztlich auch durch die Essstörung zu erreichen, allerdings stelle sich diese als „Zauber der Individualität“ (Anika, 1125) heraus: Durch die Essstörung etwas Besonderes zu sein, sei eine Illusion angesichts der hohen Zahl anderer Betroffener. Dennoch kann diese für einen unbewussten Versuch stehen, einerseits sichtbar, andererseits unsichtbar werden zu wollen, um dem Schmerz der Ablehnung zu entkommen (Frauke, 1591). Leistungsstreben und Leistungserwartungen Hohe Ansprüche an sich selbst und Perfektionismus werden von den Personen häufig thematisiert (u. a. Marina, 101), wobei sich die Ausprägung und Bedeutung der Strebsamkeit im zeitlichen Verlauf der Essstörung und deren Überwindung verändern. Außerdem gibt es Unterschiede in der Art des Leistungsbereichs, in den Reaktionen auf (Leistungs-)Forderungen sowie im Einfluss des Umfeldes. Hinter dem Erbringen von Leistungen ist vor allem der Wunsch nach Akzeptanz von anderen zu erkennen. Es erfolgt eine Anpassung an äußere Erwartungen, mitunter eine Kompensation von Mängeln, die als Person, beispielsweise auf körperlicher Ebene, empfunden werden. Sich selbst als leistungsorientiert zu beschreiben, ist von den Personen durchaus mit Ambivalenzen verbunden: So bezeichnet sich Tamina zunächst als „keinen ehrgeizigen Menschen“ (Tamina, 205), meint letztlich aber, dass sie vielleicht doch mehr leistungsorientiert sei, als sie es möchte. Ihr Bruder sehe in ihr die Neigung, sich „in eine Sache hineinzuwerfen“ (Tamina, 1999). Dies zeigte sich zumindest früher in ihrem beruflichen Werdegang, den sie mit unmittelbar aufeinanderfolgenden Schritten beschreibt (Tamina, 55). Allerdings stand ihr zügiges Voranstreben nicht nur im Zusammenhang mit

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dem Wunsch nach Anerkennung, sondern besonders mit dem Wunsch nach (finanzieller) Unabhängigkeit von ihren Eltern. Lia hingegen sieht ihre Leistungsorientierung, die sie sich früher auch nicht eingestehen wollte, heute mit mehr Gelassenheit (Lia, 743). Nicht nur in der Schule oder im Studium, sondern auch in anderen Bereichen, etwa im Sport und beim Musizieren, ist bei den Personen ein Leistungsstreben erkennbar. Alice meint, dass sie schon immer ein „sehr zielstrebiger Mensch“ (Alice, T36) war und „viel Leistung bringen“ (Alice, T36f.) wollte. Die Schulleistungen waren für sie eine Möglichkeit, ihren empfundenen und von anderen so bewerteten körperlichen Mangel gegenüber ihrer Schwester zu kompensieren. Darauf weist ihr vermehrtes Wohlgefühl hin, das sich in der neuen Schule einstellte, nachdem sie als „Klassenbeste“ (Alice, T222) Bestätigung erfahren hatte (Alice, T1357). Außerhalb der Schule zeigt sich ihre Leistungsorientierung im Laufsport, den sie am Beginn der Essstörung exzessiv betrieb, bis sie „sportsüchtig“ (Alice, T38) geworden sei. Die Suche nach Anerkennung richtete sich bei Bianca auf ihren Vater (vgl. Tamina, 191‒207), für den sie ‒ passend zu ihrem als Kind ausgeübten Leistungssport im Kunstgeräteturnen ‒ „Kunststücke aufgeführt“ (Bianca, 352) habe, um von ihm gesehen zu werden. Letztlich gelang es ihr nicht bzw. erst Jahrzehnte später, wenige Jahre vor seinem Tod, sich ihm anzunähern. Leistungsstreben kann sich außerdem auf das eigene So-Sein(-Sollen) beziehen, wie bei Lia, die das Bild eines „perfekten Mädchens“ (Lia, 649) erfüllen wollte. Für diese Prägung hat sie selbst keine Erklärung, da sie sehr wohl auch Tätigkeiten nachging, die von dieser Vorstellung abwichen, wie handwerklichen Arbeiten gemeinsam mit ihrem Vater. Es wurden im Umfeld somit auch Eigenschaften und Verhaltensweisen akzeptiert, die nicht ihrem Mädchenbild entsprachen. Merkmale eines Mädchens seien für sie gewesen, Klavier zu spielen, rosarote Kleider zu tragen, klein, zierlich, zurückhaltend und klug zu sein (Lia, 811). An diesem Bild wird das Streben nach Anpassung und Unauffälligkeit deutlich. Wie Lia in Bezug auf die Mädchenvorstellung äußert Ina das Ideal der berufstätigen, gutaussehenden Mutter und die Schwierigkeit, sich davon zu entfernen (Ina, T1049‒T1062). Insgesamt werden Erwartungen an Frauen, mit Ausnahme der Körperideale, jedoch kaum thematisiert. Abgesehen vom übereifrigen Erfüllen der Leistungserwartungen ist bei den Gesprächspersonen auch ein gemäßigtes Leistungsstreben, mitunter eine Verweigerung von an sie gestellten Aufgaben, sichtbar. So gab es für Anika entweder „110 Prozent“ (Anika, 663) oder „gar nicht erst“ (Anika, 665). Dieses gegensätzlich ausgeprägte Leistungsstreben sollte, so erklärt sie es selbst, dem Erhalt des Selbst-Wertes dienen. Würde sie sich nicht in hohem Ausmaß bemühen, könnte sie ein Scheitern möglicherweise nicht verhindern. Bei ihr stand somit nicht das Streben nach Anerkennung im Vordergrund, sondern das Vermeiden einer globalen internalen Attribution (Seligman, 1999, S. 134f.). Diese gefährdet den Selbst-Wert mehr als ein Misserfolg, der in der spezifischen Situation auf zu wenig Lernaufwand zurückzuführen ist, da sich die Person als insgesamt unfähig betrachtet. Marlies hingegen reagierte bei Misserfolg mit Frust und verweigerte in der Folge das Lernen. Dieser Frust wurde jedoch nicht nur durch den Misserfolg, sondern vor allem durch das frühere Studium, das ihren Interessen nicht entsprach, hervorgerufen. Widerstand äußerte sie außerdem gegenüber dem Druck, den ihr Musiklehrer auf sie ausübte (Marlies, 703‒711). Nicht in Form einer Bewegung zwischen Gegensätzen, sondern einer bewussten Mäßigung war das Leistungsstreben bei

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Irina ausgeprägt: Sie habe nie die Beste in ihrer Klasse sein wollen, sondern sei lieber die Zweitbeste gewesen. Im Gegensatz zur Klassenbesten hatte sie sehr wohl Interesse am Ausgehen sowie daran, für Kaffeehausbesuche mit Freundinnen von Schulstunden fernzubleiben. Sie wollte „das eine mit dem anderen kombinieren“ (Irina, 339) können (Irina, 245‒269, 313‒325, 331‒345). Für Melina wiederum hatte die Schule von vornherein nie einen so großen „Stellenwert“ (Melina, 769): „Wenn ich mich entscheiden hätte müssen, daheimzubleiben und zu lernen oder irgendwas zu machen, irgendwo unterwegs zu sein, dann hätte ich gesagt: ,Passt, ich bin irgendwo unterwegs!‘ “ (Melina, 767). Die Personen betonen oft, dass ein vorhandener Leistungsdruck nicht von Seiten der Eltern, sondern selbst auferlegt wurde. Lernen sei freudvoll und nicht im Übermaß nötig gewesen. Rebecca sieht ihr intensives Sportpensum am Beginn der Essstörung, das sie mit ihrer Leistungsorientierung erklärt, als „persönliche Komponente“ (Rebecca, T75), die zusätzlich zum Mutterkonflikt zur Erkrankung beigetragen habe. Trotz des vor allem früheren eigenen Leistungsdrucks ist sie sich ihrer Selbstbestimmungsmöglichkeit im Hinblick auf die Leistungsanforderungen bewusst: „Ich habe gemerkt, dass ich selber entscheiden kann, wie viel Druck ich habe, weil ich mir den Druck ja selber mache“ (Rebecca, T1545f.). Somit sieht sie sowohl die Entscheidung bei sich, hohe Leistungsanforderungen an sich zu stellen, als auch, sich von diesen selbst zu entlasten. Dennoch besteht die Vermutung von Leistungserwartungen der Eltern und des Umfeldes im Allgemeinen, weswegen anzunehmen ist, dass das als intrinsisch motiviert wahrgenommene Leistungsstreben der Personen zum Teil auf eine Internalisierung von äußeren, direkt ausgesprochenen oder indirekt vermittelten, Erwartungen zurückzuführen ist (u. a. Gugutzer 2012, S. 180; s. Kapitel 2.3.3 und 2.3.4). So spricht Karin die „allgemeine Botschaft, dass man ohne Leistung nichts ist“ (Karin, T2490f.) an. Diese wurde nicht durch Worte, sondern durch Blicke, Abwertungen und Verhaltensweisen weitergegeben (Karin, T2490‒T2502). Es könnte außerdem eine Projektion der eigenen Ansprüche nach außen beteiligt sein. Doch selbst ausbleibende Erwartungen in Form von fehlendem Zutrauen, das Marlies von Seiten ihrer Universitätsprofessorin erlebte (Marlies, 476), können das Leistungsstreben verstärken. Die Eltern haben sich sehr wohl über gute Noten gefreut, sodass diese positive Verstärkung das Erbringen guter Leistungen gerade für Personen, die aufgrund ihrer persönlichen Eigenschaften eingeschränkte Akzeptanz erfuhren, erstrebenswert werden kann. So äußert Bianca den Zusammenhang, dass sie durch Leistung, die weniger direkt von ihr gefordert worden sei, einerseits Selbst-Wert erreichen und andererseits das „unangenehme Gefühl“ (Bianca, 551), in ihrem Sein nicht akzeptiert zu sein, eliminieren wollte. Auf die Frage, wie sehr Leistungsorientierung in ihrem Leben eine Rolle spielte, meint sie: Schon viel, weil ich das Gefühl vermittelt habe: Nur wenn ich leiste, wenn ich gut bin, bin ich was wert. Da ist ein bisschen was schon real, aber ganz viel hab ich auch meine eigenen Glaubensgrundsätze gezimmert. Also dieser sogenannte innere Bewerter ist dann übermächtig geworden. So schlimm war das im Außen gar nie. (Bianca, 549; Hervorhebung A. K.)

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Anzumerken ist anhand des Beispiels von Bianca, dass es sich bei der hervorgehobenen Passage zwar um einen Versprecher handeln dürfte, sich darin aber auch die Ambivalenz, von wem die Leistungsforderung ausgeht, von ihrem Umfeld oder vom „inneren Bewerter“ (vgl. Bianca, 549), zeigt. Eine Forderung von außen würde eher mit „weil ich das Gefühl vermittelt bekommen habe“ zu formulieren sein. Für den Ausdruck des eigenen Anspruchs wäre eine andere Wortwahl als „vermittelt“ nachvollziehbarer, beispielsweise: „weil ich das Gefühl hatte“. Deutlich werden das beiderseitige Vorhandensein von Leistungsforderungen und die Tendenz der Betroffenen, diese zu erfüllen (vgl. Grete, T1375). Erwartungen können sich durch das regelmäßige Erbringen von guten Noten bei den Eltern außerdem erst aufbauen und dadurch im Kind ein Gefühl der Verpflichtung entstehen lassen, dieses Leistungsstreben aufrechterhalten zu müssen, nicht zuletzt, um den Eltern eine Freude zu machen (u. a. Lia, 758‒765). Gleichzeitig gibt es sehr wohl das konkrete Aussprechen von Seiten der Eltern, sich gute Leistungen in verschiedenen Bereichen, unter anderem in der Schule und im Sport, zu erwarten. Charlotte beschreibt dieses vor allem im Hinblick auf ihre Mutter (Charlotte, T176‒T183, T1705‒T1709). Sie selbst scheint diesbezüglich gemäßigt zu sein, in dem Sinne, dass gute Noten zwar wichtig für sie waren, jedoch auch andere Aktivitäten in ihrem Alltag Platz hatten (Charlotte, T1724‒T1747). Eltern können diese Forderungen darüber hinaus an sich selbst richten und damit ein Modell für leistungsorientiertes Verhalten sein, wie es Anika bei ihren Eltern und Bianca als „Perfektionismus“ (Bianca, 378) ihrer Mutter in ihrer Mutterrolle erlebten. Damit sind wiederum hohe Erwartungen an ihre Kinder verbunden. Ebensolche schildert Anika von Seiten ihrer Eltern ihr und ihren Geschwistern gegenüber: Meine Eltern sind schon sehr auf Leistung aus. Mein Vater hat uns schon immer mal das Gefühl gegeben, wir würden nichts leisten oder das auch dann so gesagt. So nach dem Motto: Dass wir gut wären, das würde er auch erwarten, quasi von den Anlagen her, also aufgrund der Intelligenz oder so. Ich finde, der sieht das immer recht wenig. Er regt sich eher auf, wenn er meint, das wäre alles nicht genug, und wertschätzt es nicht so, finde ich, wie ich es mir wirklich wünschen würde. Ich meine, es war zum Beispiel von Anfang an klar: Ich wollte auf die Waldorfschule, aber das geht halt gar nicht. Also Gymnasium ist das einzig Wahre. (Anika, 679‒683)

Eine solche hohe Bedeutung von Leistung und Arbeit im Umfeld wird immer wieder in den Lebensgeschichten deutlich. Hingegen bewirkt ein Modell für Leichtigkeit, also eine Person, die von außen keinen Druck auferlegt bzw. diesen verringert, auch eine Mäßigung des eigenen Leistungsstrebens: So war für Marianne ihre Betreuerin, die alles „easy“ (Marianne, 626) sah, sehr wohltuend. Das Umfeld kann jedoch bei gleichzeitigen Forderungen von zu stark leistungsorientierten Verhaltensweisen abhalten: Alena erzählt davon, eine „Einserschülerin“ (Alena, 739) in der Tourismusschule trotz geringen Interesses für die Inhalte gewesen zu sein. Im vorangegangen Jahr an einer Berufsbildenden Höheren Schule habe sie zwei negative Beurteilungen gehabt und sich deswegen vor den Reaktionen ihrer Mutter und ihres Stiefvaters gefürchtet. Es fehlte der Freiraum für (angstfreies) Lernen, da sie „zwischen Mord und Totschlag“ (Alena, 737) lebte. Möglicherweise wäre ansonsten auch

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bei ihr, wie bei einigen anderen Gesprächspersonen, ein verstärktes Leistungsstreben im Rahmen der Essstörung aufgetreten. Leistungsstreben und Essstörung In der Zeit der Essstörung erreichten einige Personen meist (noch) bessere Noten, wobei ein Zusammenhang in beide Richtungen zu sehen ist: Die Leistungsorientierung verstärkt die Essstörung, diese umgekehrt wiederum das Leistungsstreben. Vermehrtes Leisten kann den Druck, der als erkrankungsbeitragender Aspekt eine wichtige Rolle spielt, erhöhen und dieser wiederum insbesondere zu verstärktem bulimischem Verhalten in der Prüfungsvorbereitung führen. Leistungsdruck wird häufig mit dem Beginn der Essstörung assoziiert bzw. besonders bei ohnehin vorhandener Versagens- und Prüfungsangst als Trigger genannt. Ein solcher Druck bewirkt im Überwindungsprozess mitunter ein Wiederauftreten oder Verstärken von früheren Essstörungsverhaltensweisen. Durch den sozialen Rückzug im Rahmen der Essstörung steht außerdem mehr Zeit für Lernen und Trainieren zur Verfügung. Die höhere Bedeutung des Leistens in der Erkrankung verstärkt wiederum den Rückzug. Begründen können einige Personen die besseren Noten während der Essstörung nicht, da sie sich nicht an vermehrtes Lernen erinnern. Rebecca hingegen spricht sehr wohl davon, mehr Zeit mit Lernen verbracht und daher bessere Noten erzielt zu haben. Sie thematisiert außerdem den Effekt der Ablenkung (Rebecca, T609‒T638), worauf auch Mariannes Aussage über das Leistungsstreben als Halt und Ressource hinweist (Marianne, 605‒636). Wenngleich Rebecca dies nicht explizit erwähnt, dürfte sie die Ablenkung von den vereinnahmenden Gedanken an Essen und Gewicht im Rahmen der Essstörung meinen. Eine solche Fokusverlagerung ist außerdem im Hinblick auf die Konflikte mit ihrer Mutter anzunehmen. In einer Phase der Destabilisierung und Verunsicherung kann das Leistungsstreben somit, wie die Essstörung am Beginn der Betroffenheit (s. Kapitel 7.1.3), Halt und Sicherheit für den Umgang mit Belastungen geben. Passend dazu ist der Begriff der Leistungsorientierung und zwar in dem Sinne, dass das Verfolgen von Leistungszielen Orientierung verspricht. Bei Nina zeigt sich einerseits das verstärkte und intrinsisch motivierte Leistungsstreben im Rahmen der Essstörung, andererseits dessen halt- bzw. strukturgebende Funktion. Sie erzählt, dass sich ihr Leistungsstreben erst nach ihrem stationären Aufenthalt intensivierte, sowohl beim Musizieren als auch in der Schule (Nina, T830‒T833). Dies könnte mit folgenden zwei Aspekten zusammenhängen: Erstens hatte sie den Krankenhausaufenthalt in einem Alter, in dem sie sich begleitend zur Schule auf die Aufnahmeprüfung vorbereitete, die sie mit fünfzehn Jahren für das Studium an der Musikuniversität absolvierte. Dafür war intensives Üben erforderlich. Zweitens konnte sich Nina mit dem Musizieren von ihren Gedanken an Essen und Gewicht ablenken: Das Leistungsstreben konkurrierte mit der Essstörung und ging mit einer positiven Verstärkung einher, indem nun das Leistungsziel anstatt der belastenden Gedanken im Fokus der Aufmerksamkeit stand. Den strikten Ablauf beschreibt sie wie einen Automatismus ‒ „dass ich meine Leistung abspule“ (Nina, T812f.) ‒, der ihr Selbstwertgefühl steigerte, sofern sie ihren Plan einhielt. Sie gab sich für das Üben ein „selbst auferlegtes

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Soll, Muss“ (Nina, T888f.) vor, womit die Selbstzuschreibung der Leistungsmotivation deutlich wird. Als „extremes Korsett“ (Nina, T844) engte es zwar einerseits ein, da kaum Zeit für andere Aktivitäten zur Verfügung stand, aber es war gleichzeitig auch eine „Herzensangelegenheit“ (Nina, T869) und „nicht nur der Zwang und nur das Zwingen“ (Nina, T869f.). Vor allem gab es „Halt und Sicherheit“ (Nina, T845f.) und war in dieser Hinsicht hilfreich für Nina. Damit könnte dieses, wenngleich leistungsorientierte, Üben die Stabilisierungsfunktion der Essstörung teilweise übernommen haben (s. Kapitel 7.1.3). Eine Ressource kann das Leistungsstreben auch in anderer Hinsicht sein: Bianca nennt ihre Disziplin zwar als Beitrag zum Erkranken, jedoch war diese ebenso für die Überwindung der Essstörung erforderlich (Bianca, 131). Allerdings werden in diesem Leistungsstreben oft eigene Grenzen überschritten, etwa wenn trotz bereits eingetretener körperlicher Schwäche (zu) anstrengende Arbeiten fortgesetzt werden. Dies kann wiederum mit den (vermuteten) Erwartungen des Umfeldes zusammenhängen: Die Zeit nach dem Abi war ganz schwierig. Ich glaub mitunter, dass deswegen auch der Einbruch kam, weil ich diese Struktur nicht hatte und weil ich das Gefühl hatte, ich hab nichts, ich mach nichts. Als ich so krank war, kurz bevor ich in die Klinik kam, da hatte ich immer im Kopf, meine Eltern denken sich: ‚Pah, die sitzt jetzt nur zu Hause.‘ Wobei ich ja total krank war, aber ich hatte das Gefühl, das kann gar nicht akzeptiert werden von meinem Vater, dass ich hier zu Hause bin. Das war für mich ganz schwierig, das auszuhalten, weil ich irgendwie das Gefühl hatte, die denken sich bestimmt: ‚Hey, die arbeitet jetzt nicht.‘ (Anika, 723‒725)

Auch die Essstörung ist eine Form von Leistungsstreben, das in der Essenskontrolle und im darin gesehenen Erfolg besteht. Außerdem wird das Leistungsstreben wie die Essstörung häufig mit großer Selbst-Nähe beschrieben (s. Kapitel 7.1.3). So bezeichnet Melina nicht die schulische Leistung, sondern das Abnehmen als „meine Disziplin“ (Melina, 743), für die sie anerkannt wurde. Bei Jasmin stand eine Wette mit einer Freundin am Beginn ihrer Essstörung, wenngleich nicht diese allein dazu beitrug: Als Siegerin galt jene, die die geringere Essensmenge zu sich nahm. Sie selbst versteht heute die Motivation dahinter nicht mehr, aber angesichts ihrer Suche nach Anerkennung und Halt ist diese Form des Leistungsstrebens nachvollziehbar (Jasmin, T213‒T215). Die Essstörung kann jedoch auch als „Bestrafung“ (Irina, 1905, 1913) für ein subjektives Versagen erlebt werden, anstatt dass diese selbst als Leistung gilt. Irina sei immer wieder in elterliche Konflikte „zu involviert“ (Irina, 1913) gewesen, habe „die Distanz nicht bekommen“ (Irina, 1911) und sich dafür „wehgetan“ (Irina, 1913). Sie stellt die Nähe-DistanzRegulation wie eine zu erbringende Leistung dar. Außerdem wird hier die Macht der Essstörung deutlich, da sie die Anklage gegen sich selbst richtet. Das Ziel, die Essstörung ohne therapeutische Unterstützung zu überwinden, ist ebenso eine Form von Strebsamkeit. Wenngleich dies Marina und Marlies gelang, äußern sie, so wie auch weitere Personen, die Vermutung, dass der Weg aus der Essstörung mit therapeutischer Begleitung vermutlich ein kürzerer gewesen wäre.

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Unauffälligkeit und Akzeptanz durch Anpassung Bereits im Rahmen der Ausführungen zum Gefühl des Anders-Seins und des Leistungsstrebens wird die Tendenz zur Anpassung an äußere Anforderungen und Erwartungen deutlich. Dementsprechend ist die Anpassung als Einschränkung der Selbst-Abgrenzung zu betrachten, indem die Erwartungen von anderen in das Selbst eindringen und dieses beeinflussen. Eine solche Beeinflussung betrifft die einzelnen Lebensbereiche der Person meist in einem unterschiedlichen Ausmaß: Das kann das Erfüllen von Leistungsvorgaben oder der Erwartungen des Partners bzw. der Partnerin sein. Die Anpassung zeigt sich in den Erzählungen als (Wunsch nach) Bedürfnislosigkeit und Unauffälligkeit. Diese konnten die Personen unter anderem durch gute Leistungen in Schule, Ausbildung, Beruf und Sport erreichen. Sie sprechen auch davon, ein „pflegeleichtes Kind“ (Irina, 283), die „Brave“ (Marianne, 118) gewesen zu sein, da sie keine bzw. wenige Bedürfnisse äußerten. Marianne begründet dies damit, dass sie die ohnehin bestehenden Sorgen in der Familie nicht vergrößern wollte (Marianne, 116). Charlotte bezeichnet sich als „Vorzeigetochter“ (Charlotte, T74), als „brave Tochter“ (Charlotte, T170), die den Eltern „alles recht machen wollte“ (Charlotte, T171). In Paarbeziehungen kann das Ausrichten nach den Wünschen und Bedürfnissen des Partners bis zur Abhängigkeit führen (Alena, 87). Grete beschreibt ihre frühere Anpassung an den damaligen Partner als Prozess: „Als ich mit meinem Ex-Freund acht Jahre zusammen war, da war's mehr so, dass ich meine eigenen Bedürfnisse aufgegeben hab. Ich hab am Ende von der Beziehung gar nicht mehr gewusst, was mein Lieblingsessen ist, so quasi (lächelnd)“ (Grete, T200‒T204). Bianca hat sich in Freundschaften „verbogen“ (Bianca, 631), wodurch diese nur von begrenzter Dauer waren. Die Personen wichen mit den eigenen Wünschen zurück, entweder aufgrund direkter Äußerung der Missbilligung oder einer stillen Zurückweisung. Eine solche indirekte Forderung der Anpassung beschreibt Bianca, wobei der Ausdruck, sich für die Anpassung „entschieden“ (Bianca, 541) zu haben, ein Hinweis auf ein zumindest teilweise bewusstes Verhalten ist: Wenn ich in dem Fordernden, in dem Will-ich, Brauch-ich, Mag-ich war, da habe ich das dann schon oft gekriegt, aber immer das Gefühl vermittelt gekriegt, so: „Ja, wenn du meinst!“ So einfach auch in diesem Unterton. Das habe ich nicht ausgehalten, da ist es mir so schlecht gegangen. Oder: „Tu, wie du meinst!“ Dann habe ich mich einfach ganz oft für die Anpassung entschieden. (Bianca, 541)

Die Anpassungstendenz steht in Zusammenhang mit den bereits beschriebenen Leistungserwartungen bzw. allgemeinen äußeren Erwartungen und mit den Bewertungen, insbesondere bei mangelnder Akzeptanz von anderen und dem (unerfüllten) Wunsch nach Anerkennung. Empfindsamkeit und Leistungsorientierung der Personen einerseits sowie Verunsicherung durch Entwicklungsaufgaben, die Lebenssituation und vor allem instabile und sorgenreiche Bedingungen im Umfeld andererseits begünstigen angepasstes Verhalten. Dieses soll Anerkennung bringen, die wiederum ein Gefühl von Zugehörigkeit und Halt vermittelt. Durch vorauseilenden Gehorsam werden Erwartungen erfüllt, bevor Konflikte überhaupt erst entstehen. So erhielt Karin von ihren Eltern, vor allem von ihrem dominanten Vater, in dieser Hinsicht keinen Tadel, da er dafür keinen Anlass finden konnte: „Ich war ja eh eine Einserschülerin, ich hab ja eh perfekte

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Noten gehabt. Was das angeht, bin ich immer durchgerutscht. Da bin ich einfach gar nicht aufgefallen, weil bei mir immer alles so gut gerannt ist“ (Karin, T2472‒T2480). Nicht nur Anpassung, sondern auch rebellisches Verhalten ist bei den Personen erkennbar, beispielsweise als Konfrontation mit anderen Menschen und Umsetzen von eigenen Wünschen mit wenig Rücksicht auf deren Billigung. Allerdings zeigen die Personen dieses Verhalten tendenziell nur temporär, mit folgendem Rückzug und bei entsprechender Möglichkeit, sich am Gegenüber zu reiben. Eine vorhandene Rebellion kann durch Belastungen des Umfeldes, wie durch die Erkrankung eines Familienmitgliedes, in mehr Zurückhaltung und Anpassung, unter anderem in Form einer Essstörung, übergehen (Anika, 333). Doch auch in der Essstörung selbst ist ein rebellischer Anteil enthalten. Auf das Verständnis der Essstörung als Anpassung bzw. Rebellion wird im Kapitel 7.1.3 detailliert eingegangen. Fremdkontrolle, (verkörperte) Selbst-Kontrolle und Unsicherheit Neben Leistungsstreben und Anpassung, die mit Kontrolle einhergehen, zeigen Menschen mit Essstörungen verschiedene weitere kontrollierte Verhaltensweisen, mitunter bereits in der Kindheit (u. a. Alice, T878‒T907): in der Körperkontrolle mittels Gewichtsabnahme und Sport, im gezügelten Essverhalten, aber auch in anderen zwanghaften oder -ähnlichen Handlungen. Die kontrollierende Persönlichkeitsstruktur kann ein Beitrag zur Erkrankung, eine Parallelität oder ein Symptom der Essstörung sein (Alice, T163f.; s. Kapitel 2.2.3). Wie bei anderen Aspekten ist hier kein kausaler, sondern ein zirkulärer Zusammenhang anzunehmen (s. Kapitel 8.1.1). In der Essstörung besteht die Kontrolle allerdings nur teilweise, denn mit zunehmendem Leidensdruck verstärkt sich die Ohnmacht. Diese Ohnmacht und die allmähliche Destabilisierung wiederum bedingen den Versuch, durch Kontrolle Sicherheit und Halt zu gewinnen (s. Kapitel 7.2.1). Für die Zeit nach der Essstörung wird von den Personen die Kontrolle in Beziehungen als mögliche Problemverlagerung von der Essstörung auf die Eifersucht thematisiert. Den Drogenkonsum im Vorfeld der Essstörung regulierte Anika durch die Einnahme von ausschließlich aktivierenden Drogen. Bei Irina ist die Kontrolle noch stärker erkennbar, da sie darauf bedacht war, ausschließlich die zu ihrer Persönlichkeit passende Substanz zu wählen. Demnach überließ Irina die Selbst-Kontrolle nicht den Substanzen, sondern sie sieht heute ihren damaligen Umgang mit sich als einen Weg der SelbstAchtung (Irina, 1809) sowie des Auslebens ihres wahren, aber unterdrückten, und gewünschten Selbst. Selbst-Kontrolle ist unter anderem im Zusammenhang mit dem Erleben von Kontrolliertwerden durch andere sowie mit der Beobachtung von kontrolliertem Verhalten anderer Menschen, die somit die Selbst-Kontrolle verkörpern, zu verstehen. Marina beispielsweise erfuhr in ihrer Kindheit und Jugend eine starke Kontrolle von Seiten des Vaters, insbesondere in der ersten Zeit ihrer Essstörung, als diese in Form der Anorexie ausgeprägt war. Doch nicht nur das Essen, sondern auch die „Kontakte nach außen“ (Marina, 470), unter anderem zu Freunden und Freundinnen, wurden von ihrem Vater beschränkt. Dieser väterlichen Kontrolle entwich sie durch die Bulimie, womit beides zu vereinbaren war: dem Vater zuliebe ausreichend Nahrung zu sich zu nehmen und

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durch das Erbrechen gleichzeitig das Gewicht zu regulieren. Marinas eigene Kontrolltendenz, unter anderem in Beziehungen, die sich wie ein roter Faden durch ihre Geschichte zieht, heute aber in wesentlich geringerem Ausmaß vorhanden ist, kann als eine Internalisierung der väterlichen Kontrolle interpretiert werden. Neben selbst erlebter Kontrolle kann auch die Verkörperung von Selbst-Kontrolle im Umfeld die eigene Tendenz zur Kontrolle verstärken. Im Sinne des Modelllernens wird die Art und Weise des Umgangs mit sich selbst übernommen. Daher wurde kontrollierendes Verhalten anderer Menschen insbesondere in Bezug auf Essen und Gewicht als schwierig erfahren (u. a. Alice, T676‒T699; Charlotte, T595‒T606). Besonders störend empfand und empfindet Rebecca an ihrer Mutter, zu der sie allgemein eine schwierige Beziehung hat, wenn sie Essen für andere zubereitet, ohne selbst davon zu nehmen. Sie habe zwar keine Anorexie, sei aber in Bezug auf Essen und körperliche Bewegung sehr diszipliniert (Rebecca, T337‒T352). Während andere Personen häufiger Frauen nennen, war es bei Charlotte ein ehemaliger Partner im Alter von fünfzehn Jahren, dessen restriktives Essverhalten und geringes Gewicht nicht förderlich am Beginn der Essstörung gewesen seien (Charlotte, T86‒T89). Auch heute noch fühle sie sich unwohl, wenn sich Männer beim Essen sehr einschränken (Charlotte, T714‒T717). Kontrollierendes Essverhalten kann jedoch auch durch das Weitergeben von Informationen in Zeitschriften oder im Schulunterricht, beispielsweise über Essstörungen oder durch Lehren eines solchen Essverhaltens (Charlotte, T31‒T45, T1509‒T1544), verstärkt werden. Insbesondere Internetforen, wozu unter anderem Pro-Ana und Pro-Mia zählen (Eichenberg, Flümann & Hensges, 2011), bergen eine Gefahr, da sich Betroffene darin gegenseitig über Möglichkeiten der Gewichtsabnahme und -kontrolle austauschen. Zudem bestehen rigide Vorgaben, beispielsweise die regelmäßige Dokumentation und Mitteilung der aufgenommenen Kalorien und des Körpergewichts. Während hier die einzelne Person adressiert wird, ist der Einfluss von Medien im Sinne einer weiten Verbreitung als indirekt wirksam zu verstehen. Rebecca spricht vom „Schlankheitswahn“ (Rebecca, T770) und „Fitnesswahn“ (Rebecca, T772), die ihrer Ansicht nach verstärkt in den letzten zwei Jahren „ziemlich krank geboomt“ (Rebecca, T770f.) hätten. Allerdings entwickelt sich dieser Trend schon länger, möglicherweise ist er ihr in dieser Zeit bewusster geworden, vor allem als Trigger für einschränkendes Essverhalten. Daher meide sie entsprechende Internetseiten (Rebecca, T774‒T780). Nicht nur ein Modell für restriktive Kontrolle von Essen und Gewicht, sondern auch ein Modell für Übergewicht kann am Beginn und während der Essstörung als schwierig erlebt werden. Die Schwierigkeit liegt hier im damit assoziierten Kontrollverlust und nicht im Verkörpern und Vermitteln von Kontrolle. Anika beispielsweise sah in der Berufstätigkeit die Ursache für das Übergewicht ihrer damaligen Kollegen und Kolleginnen im Praktikum und entwickelte die Angst, bei Wahl dieses Berufes ebenso an Gewicht zuzunehmen. In ihren Kollegen und Kolleginnen realisierte sich somit Anikas Angst vor ihrem potentiellen Übergewicht (Anika, 23). Damit dürfte auch die Angst vor einem Verlust der Essstörung als Teil ihres Selbst verbunden gewesen sein (s. Kapitel 2.3.2). Neben der erlebten Kontrolle im Umfeld können unsichere Bedingungen kontrollierende Verhaltensweisen hervorrufen bzw. verstärken, um „die Dinge nicht aus dem Ruder laufen zu lassen“ (Claudia, T34). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die

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Person in sich selbst unsicher ist (u. a. Ina, T38), wobei dies in engem Zusammenhang mit den äußeren Verhältnissen steht. Die Kompensation der äußeren Instabilität und Ohnmacht durch eigene Kontrolle kann sogar als „Überlebensmodus“ (Claudia, T1025) empfunden werden: „Ich habe immer gewusst: Wenn ich nicht die Kontrolle habe, hat sie keiner“ (Claudia, T1030‒T1032). Claudia schränkte ihren Bewegungsradius im Leben einerseits durch die erlebte Unsicherheit im Umfeld, andererseits durch ihre eigene Kontrolle ein: „Als Kind war's definitiv so: Geh lieber auf Nummer sicher und bewege dich in deinem eingeschränkten Kreis“ (Claudia, T1214‒T1216). Kontrolle kann zwar nicht gänzlich vor Ohnmachtserlebnissen, etwa vor Übergriffen durch andere, schützen (Claudia, T1329‒T1332). Ihren Selbst-Schutz jedoch vermochte sich Claudia zu bewahren, wobei das folgende Zitat angesichts ihrer Schwierigkeit, Berührungen von anderen anzunehmen, besonders zutreffend ist: Ich kann mich erinnern, dass ich mir einfach irgendwann einmal gedacht habe: ‚Okay, ich kann nichts dagegen tun. Aber es gibt irgendwas in mir, das ist definitiv unberührbar, und das muss ich noch irgendwie schützen.‘ Das war, glaube ich, einfach dieses Zurückziehen in mich und so unantastbar werden. (Claudia, T1749‒T1756)

Karins Ohnmacht war besonders durch die Unberechenbarkeit der Wutausbrüche und körperlichen Übergriffe ihres Vaters bedingt, da kein Zusammenhang zwischen den eigenen und seinen Handlungen zu erkennen war (Karin, T2307‒T2347). Trotz des Versuchs, sich unsichtbar, unhörbar und unauffällig zu machen: „Man hat sich eh schon auf Zehenspitzen durchs Haus bewegt, […] und ich hab mich natürlich auch viel verzogen“ (Karin, T2372, T2377f.), blieb die Situation für Karin jedoch unkontrollierbar: „Dem war nicht aus dem Weg zu gehen“ (Karin, T2347). Diese Erfahrung dürfte ihr, zum Teil heute noch aufrechtes, starkes Kontrollbedürfnis erklären ‒ bemerkenswerterweise besonders in Form der Ordnung im Kühlschrank (Karin, T1611‒T1628). Im Falle einer solchen Unkontrollierbarkeit kann sich die „Selbstbeherrschung“ (Ina, T58), also die Kontrolle über sich selbst, als letzter Ausweg erweisen ‒ bis sich diese mitunter, wie bei Karin im Rahmen ihrer Bulimie, ins Gegenteil, den Kontrollverlust, verkehrt (Karin, T1603‒T1608, T1810‒T1833; s. Kapitel 7.2.1). 7.1.3 Essstörung als Ausweg Zum Verständnis der Überwindung erwies sich die genauere Auseinandersetzung mit der Essstörung als relevant, da ihr Wesen von den Gesprächspersonen sehr detailliert und bildhaft beschrieben wird. Anhand der Aussagen lässt sich der Sinn der Essstörung vor allem im Versuch der Stabilisierung bei Überforderung und fehlenden Bewältigungsalternativen, in ihrer Schutzfunktion sowie im nonverbalen Ausdruck erkennen. Diese Aspekte sind insbesondere vor dem Hintergrund, die Essstörung als Teil des Beziehungskontextes zu betrachten, gut nachvollziehbar, da sich mit deren Auftreten die Positionen von Person und Umfeld in diesem Kontext und damit auch die Beziehungen zwischen ihnen verändern.

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Leitsymptome Erkennbar ist die Essstörung bei den Personen, in Abhängigkeit von der Form und Ausprägung, unter anderem als Abweichung von äußeren Maßen. Damit sind jene Maße gemeint, die objektiv erfassbar sind sowie zum Teil von außen, nämlich von anderen, festgelegt werden. Hierzu gehört insbesondere die Gewichtsveränderung, also die Gewichtsabnahme oder -zunahme, vor allem das (meist) Unterschreiten des mittels BMI definierten Normalgewichtsbereichs (s. Kapitel 2.2.1). Alice wendet selbst das Gewicht als Maß für die Therapienotwendigkeit an (Alice, T1289‒T1291), so wie für Nina das von ärztlicher Seite vorgegebene „Sollgewicht“ (Nina, T1220, T1228) die Entscheidung zwischen stationärer und ambulanter Therapie markierte. Bei Charlotte war es der Vater, der eine konkrete Gewichtszahl angab, die für ihn ein Maß für einen Handlungsbedarf im Hinblick auf eine stationäre Aufnahme darstellte (Charlotte, T102‒T115). Eine Rolle bezüglich der Gewichtsveränderung spielt nicht nur das Ausmaß, sondern auch der Zeitfaktor: So beschreibt Irina, dass die Gewichtsabnahme bei ihr „relativ rasch“ (Irina, 47) erfolgte und die Essstörung somit auffiel. Im Zusammenhang mit der Gewichtsveränderung steht der spezifische Umgang mit Nahrung: Veränderung der Menge und Aufnahme durch Abstinenz, Überessen, Erbrechen und/oder Abführen sowie bestimmte Verhaltensweisen, beispielsweise heimliches Essen. Deutlich werden die Bewertung der Nahrung, das „Einteilen in gute und schlechte und böse Lebensmittel“ (Marina, 228), und vor allem die Funktion, die das Essen erfüllt. Häufig soll es der Bewältigung von Belastungen und Überforderung dienen sowie unangenehme Empfindungen regulieren, vor allem durch den Abbau von innerem Druck. Neben äußeren Maßen erwähnt Claudia im Hinblick auf ihre Essstörung zudem das Maß der Psyche. Es sei die Essensmenge „natürlich in meiner Psyche schon oft sehr früh zu viel“ (Claudia, T199f.) gewesen, womit sie meint, dass sie „das Gefühl gehabt habe, es [die Essensmenge] ist zu viel“ (Claudia, T778f.). Nach dem Dreiinstanzenmodell bzw. Strukturmodell der Psyche, das Freud formulierte, zeigt sich hierin das ÜberIch, indem auf Basis des internalisierten äußeren Maßes Schuldgefühle ausgelöst werden (Kutter & Müller, 2008, S. 113ff.; Mentzos, 2010, S. 40ff.). Wie das psychische Maß ist auch das Befinden äußerlich schwieriger feststellbar und messbar als das Essverhalten und das Gewicht. Dies gab Anita ihrem Therapeuten zu verstehen: Jedes Mal [in der Therapie] war die Frage: „Wie geht's dir auf einer Skala von eins bis zehn?“ Dann hab ich irgendwann gesagt: „Wie sollte ich das in Worte fassen? Was für mich ein Dreier ist, ist für Sie vielleicht ein Fünfer. Was für mich ein Fünfer ist, ist für Sie vielleicht ein Dreier.“ (Anita, 109)

Wesen der Essstörung Abgesehen von objektivierbaren Merkmalen wurde die Essstörung häufig als Person, jedoch auch als Neutrum („es“ oder „das“), Objekt oder Phänomen und vor allem mit gegenläufigen Eigenschaften charakterisiert: Sie ist gefährlich und schützend, mächtig und bedürftig, stabilisierend und destabilisierend, sichtbar und unsichtbar. Zudem

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kann sie nur indirekt sichtbar sein, nämlich als Schatten: Irina spricht davon, dass „das Thema ,Essstörung‘ noch immer wie ein ,Schatten‘ hinter mir herläuft“ (Mail Irina, 05.12.2015). Auch Anika erwähnt den „Schatten der Krankheit“ (Anika, 921), womit sie sichtbare körperliche Anzeichen meint. Diese Beispiele beinhalten verschiedene Interpretationsmöglichkeiten für die Charakterisierung als Person oder Objekt: Hinter diesem Schatten steht möglicherweise eine Person, da dieser Schatten „läuft“. In Anikas Aussage könnte die Krankheit ein Objekt sein, das einen Schatten wirft. Dieses Schattendasein weist auf eine starke Bindung der Essstörung an die Betroffenen und umgekehrt, der Betroffenen an die Essstörung, hin, ebenso auf die unklare Sicht- bzw. Unsichtbarkeit der Essstörung. Deutlich wird in den Gesprächen, dass die Zuschreibungen des Umfeldes wesentlich zum Empfinden eines Schattens beitragen, wodurch die Essstörung zu einem großen oder noch größeren Thema wird. Zudem erleben sie diese als eine Welt für sich, die die Betroffenen von der Alltagswelt isoliert. Die Beziehung der Betroffenen zur Essstörung stellt sich ambivalent dar, beispielsweise bei Marlies: Einerseits objektiviert und externalisiert sie die Essstörung als „eine komplett andere Person“ (Marlies, 217), andererseits war diese für sie damals etwas, das „nur meins“ (Marlies, 217) ist. Letzteres kann entweder als Teil des eigenen Selbst im Sinne einer Selbst-Ergänzung oder als zwar objektivierter, aber sehr naher Besitz aufgefasst werden. Die Essstörung als Besitz geht außerdem aus Formulierungen wie „meine Essstörung“ (Mail Lia, 11.01.2016; Hervorhebung A. K.) hervor. Dieses nahe Objekt wird häufig so beschrieben, dass es nicht die Person selbst, sondern ihr Leben ausfüllt, also „Lebensinhalt“ (Marianne, 19) ist. Im Hinblick auf die externe Stabilisierung ist das Bild der Krücke passend. Ein Objekt kann als so nahe empfunden werden, dass es sich wie ein Teil des Selbst anfühlt, besonders wenn die Selbst-Abgrenzung eingeschränkt ist, wie es sich bei den Gesprächspersonen auch zeigt. Die Stärkung der Grenzen gegenüber anderen soll durch die Essstörung erreicht werden, die jedoch die Person vereinnahmt. Während hier die Nähe zwischen der Person und der Essstörung deutlich wird, kommt in der Formulierung, in der Betroffenheit eine „komplett andere Person“ (Marlies, 217) gewesen zu sein, eine große Distanz zum Ausdruck. Doch nicht nur die Essstörung empfindet Marlies als fremd, sondern im Rückblick auch sich selbst: „Die Bulimie war bei mir immer so, als wäre ich wer anderer. Wenn ich jetzt darüber rede, ist das irgendwie, als würde ich über eine fremde Person reden“ (Marlies, 299). In den Erzählungen wird bei manchen Personen ein Unverständnis für ihr früheres Verhalten, das sie mitunter als „blöd“ (Silvia, T93) bezeichnen, deutlich. Dieses Fremdheitsgefühl nach der Überwindung kann erklären, weshalb die Problematik der Betroffenen für das Umfeld schwer nachvollziehbar ist. Die Charakterisierung der Essstörung als Teil oder Besitz des Selbst legt jedenfalls nahe, die Überwindung als Befreiung von dieser Selbst-Einschränkung aufzufassen, um sich stattdessen selbst entfalten und persönlich entwickeln zu können (s. Kapitel 7.3 und Kapitel 8.2). Ausprägungen der Essstörung und weitere Betroffenheiten Die Ausprägung der Essstörung wird von den Personen sehr vielfältig dargestellt. Einige von ihnen machten Erfahrungen mit Anorexie und Bulimie, wobei der Übergang meist

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als „fließend“ (Marina, 61) beschrieben wird. Bianca formuliert dies auch als „Switchen“ (vgl. Bianca, 7) zwischen den beiden Essstörungsformen. Der Übergang von der Anorexie in die „Bulimie-Schiene“ (Ina, T172) ist bei Ina deswegen nicht erfolgt, da ihr das Erbrechen „nie gelungen“ (Ina, T169) sei. Dadurch wurde sie zumindest vor der Verselbstständigung, wie es das Wort „Schiene“ ausdrückt, in Richtung Bulimie bewahrt. Ein solches Misslingen trug bei Karin zur ersten Bewusstwerdung ihrer Essproblematik bei (Karin, T1564‒T1566). Anja beendete das Erbrechen nach einem Jahr aufgrund ihres Ekelgefühls und griff stattdessen zu Abführmitteln (Anja, T731‒T769). Ihren Übergang von der Bulimie mit Erbrechen zum regelmäßigen, nicht anfallsartigen Überessen stuft Irina heute so ein, dass die Essstörung nicht überwunden, sondern der Umgang mit Essen für sie nach wie vor schwierig war: „Eigentlich war für mich das Thema abgeschlossen, was es aber nie wirklich war“ (Mail Irina, 05.12.2015). Anorexie auf der einen Seite und Bulimie bzw. Binge Eating-Phasen auf der anderen Seite werden von Melina folgendermaßen bezeichnet: als das „gegenteilige Extrem“ (Melina, 43), das „gegenteilige Phänomen“ (Mail Melina, 14.01.2016); als Übergehen ins „komplett Extreme“ (Melina, 497), ins „andere Extrem“ (Melina, 81); als „extrem so oder extrem so“ (Melina, 45) und als „extrem rauf und wieder extrem runter“ (Melina, 43). Die Gesprächspersonen gehen demnach nicht von einer Parallelität der Ausprägungen aus. Für Anorexie und Bulimie werden auch Unterschiede im Schweregrad, nämlich die Bulimie mit höherem Schweregrad, sowie im Ausmaß der Manifestation beschrieben. Karin vergleicht ihre Betroffenheit in Form der Bulimie vom non purging-Typ mit der Bulimie vom purging-Typ und mit der Anorexie, indem sie die beiden letzteren als schwerwiegender einschätzt (Karin, T1104‒T1109). In Bezug auf die Manifestation sprechen die Personen beispielsweise davon, „ein bisschen anorektisch“ (Bianca, 7) gewesen zu sein, bis die Anorexie „so richtig begonnen“ (Bianca, 7) habe bzw. sie „richtig drinnen gewesen“ (Ina, T155) seien. Alena beschreibt eine erst kurze Dauer der Anorexie, innerhalb derer jedoch eine rapide Abwärtsdynamik stattfand, folgendermaßen: „Ich war eigentlich relativ frisch magersüchtig. Also sagen wir, zwei Monate, dass [es] wirklich akut war. So wirklich ganz dünn war ich da vielleicht drei, vier Monate erst. Ich habe ja radikal abgenommen die zwei Monate“ (Alena, 861). Zu erwähnen ist die Trennung zwischen Magersucht und Essstörung von Seiten Taminas. Während sie die Bulimie als Essstörung einordnet, ist dies im Hinblick auf die Magersucht nicht eindeutig der Fall. Die Bulimie habe sie überwunden, die Magersucht sei hingegen unter anderem auf die Eifersucht verlagert worden und für sie noch ein Thema (Tamina, 1969‒1983). Eine Störung könne man beheben, aber eine Sucht bleibe „ein Leben lang“ (Tamina, 1368). Diese Unterscheidung stiftete im Gespräch Irritation. Möglicherweise basiert ihre Assoziation darauf, dass beide Begriffe, Magersucht und Eifersucht, den Wortteil -sucht beinhalten und sie Sucht mit einer lebenslangen Betroffenheit verbindet (Tamina, 1359‒1371, 1969‒1989). Dass Tamina von Magersucht spricht, ist außerdem insofern interessant, da sie von bulimischem Verhalten betroffen war. Einerseits handelt es sich somit um eine unklare Begriffsabgrenzung zwischen Magersucht, Bulimie und Essstörung. Andererseits dürfte für Tamina der Sucht-

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charakter, den sie sowohl in der Magersucht als auch in der Eifersucht sieht, im Vordergrund stehen. So vergleicht sie die Essstörung außerdem mit der Alkoholabhängigkeit, womit sie deutlich macht, dass die Essstörung zur Gewohnheit werden kann (s. Kapitel 2.2.3). Auswirkungen auf den Körper sieht sie als weniger problematisch im Vergleich zu jenen, die das Erleben betreffen: Es ist das Leben irgendwie auch so eintönig geworden. Zu eintönig. Es war ja immer das Gleiche. Ich meine, wissen Sie eh, so wie ein Spiegeltrinker. Das ist ja dann nicht einmal mehr so schädlich, weil der Körper, der ganze Mechanismus stellt sich einfach darauf ein. Das ist dann, glaube ich, für den Körper nicht einmal mehr so schlimm. Aber es hat mir einfach irgendwas gefehlt. (Tamina, 1070‒1074)

Der Vergleich mit der Alkoholerkrankung und die Annahme eines Suchtcharakters im Hinblick auf die Essstörung wird auch von anderen Personen geäußert (u. a. Alice, T1173‒T1176; Bianca, 427). Darüber hinaus ging Bianca früher von einer transgenerationalen Weitergabe oder sogar einer Determination bezüglich ihres damaligen problematischen Alkoholkonsums aus, indem sie an die Prägung durch die „Süchte meiner Ahnen“ (Bianca, 129) glaubte. Heute distanziert sie sich jedoch von dieser Annahme. Claudia beschreibt das Essen und Erbrechen im Rahmen der Bulimie wiederum als „Zwang“ (Claudia, T149). Deutlich wird jedenfalls die vielseitige und dadurch schwierig abzugrenzende Dynamik der Essstörung. Zur Anorexie oder Bulimie traten bei den Personen verschiedene weitere Betroffenheiten bzw. Probleme auf, entweder zeitgleich oder nacheinander. Genannt werden insbesondere Depression, Alkohol-, Drogen- oder Nikotinkonsum, Migräne, Panikattacken und Schmerzen unbekannter Ursache. Die Art des Übergangs bei einer Aufeinanderfolge, kurzzeitig oder für längere Zeit, benennen sie unterschiedlich, wobei zwei Richtungen angesprochen werden: die Distanzierung von der Essstörung und die Annäherung. Außerdem kann ein mehrfacher Richtungswechsel erfolgen, beispielsweise bei Anita zwischen Anorexie und Depression mit gegenläufigem Ausmaß: Bei geringerer Ausprägung der Anorexie war die Depression umso präsenter und umgekehrt. Folgende Formulierungen beschreiben die Bewegung aus der Essstörung: die „Suchtverschiebung“ (Alena, 89) von der Essstörung zur Eifersucht; sich mit Alkohol „ausschalten“ (vgl. Bianca, 127); „Flucht“ (Anita, 1153) vor der Essstörung, beispielsweise zu Drogen oder in die Depression, aber auch vor schwierigen Lebenssituationen. Ein Übergang in Richtung Essstörung wird unter anderem so beschrieben, dass die Anorexie die stark kontrollierenden bis zwanghaften Verhaltensweisen „abgelöst“ (Alice, T913) habe. Anita meint, dass sie das Ritzen als selbstverletzendes Verhalten gegen die Anorexie „ausgetauscht“ (Anita, 1509) habe. Bei Anika fiel der Beginn der Anorexie, für sie „erstaunlicherweise“ (Anika, 319), mit dem Ende des Drogenkonsums zusammen. Sie habe damals mit Rauschgift „experimentiert“ (Anika, 11) und aufgrund des damit einhergehenden verringerten Hungergefühls, als angenehmen Nebeneffekt, einige Kilo verloren. Ihre Präferenz von aktivierenden Drogen ist mit ihrer Persönlichkeit und ihrem allgemein hohen Aktivitätsniveau erklärbar: Alkohol war auch nie so meins. Meins war halt eher so Apa, also Sachen, die stimulieren. Amphetamine, Ecstasy oder so. Die eher wach machen und nicht so dieses stoned

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und dieses Lethargische, Weggetretene. Da ich damit ja gecuttet habe (lächelt), ist Alkohol jetzt auch nicht so meins. Aber ich hab geraucht bis vor einem Jahr. (Anika, 603‒ 605)

Von Erfahrungen mit Drogen erzählt auch Irina: Für sie war das Wochenende, an dem sie Drogen zu sich nahm, „vom Essen eine absolute Erholung“ (Irina, 971). Anika bewegte sich mit der Anorexie somit von den Drogen weg, Irina hingegen weg von der Bulimie hin zu den Drogen. Bei Jasmin traten im Vorfeld der Essstörung Kopfschmerzen und Erschöpfungssymptome auf, die psychosomatischer Natur gewesen sein dürften (Jasmin, T57; Plab, 2016, S. 107ff.). Sie habe nur eine Schmerztherapie erhalten, denn: „Es ist keine Diagnose herausgekommen, weil körperlich eigentlich alles gesund war. Für so einen jungen Menschen wie mich damals war das einfach unnötig für die Ärzte, da weiterzuschauen, weiterzugehen“ (Jasmin, T60‒T63). Neben aufeinanderfolgenden Betroffenheiten kann häufig eine Parallelität von Erkrankungen, eine Komorbidität, beobachtet werden, wobei von einem Zusammenhang auszugehen ist (s. Kapitel 2.2.3). Zeitgleiches Auftreten kann sich im Hinblick auf die Entwicklung der (Folge-)Probleme wie eine „Spirale“ (Alena, 541) anfühlen – Alena bezieht sich mit diesem Begriff auf das Stehlen, das die Bulimie begleitete. Eine labile Stimmung sowie eine Fokussierung auf negative Aspekte in der Zeit der Essstörung erlebte Marlies: Sie habe das „Leben so gehasst“ (Marlies, 802). Ina erzählt von einer Sinnleere und von „Selbstmordgedanken“ (Ina, T180), insbesondere in Zeiten des Alleinseins. Hier ist eine wechselseitige Beeinflussung, wie diese auch Presnell et al. (2009) beschreiben, anzunehmen: Essen als Form der Regulation von unangenehmen Emotionen einerseits und labile Stimmungslage durch die Essproblematik andererseits. Nur wenige Personen nennen explizit den Nikotinkonsum. Vom Alkohol hielt Anika, die an obiger Stelle zum Drogenkonsum zitiert ist, ihre Angst vor der Gewichtszunahme aufgrund des Kaloriengehalts ab ‒ somit kann diese Angst vor (zu hohem) Alkoholkonsum bewahren. Nicht nur ein hoher Energiegehalt ist damit verbunden, sondern mitunter das Auslösen von Heißhungerattacken, wie es Karin erlebte. Damit wiederum gingen bei ihr depressive Verstimmungen einher (Karin, T437f., T472‒T490, T500‒ T519, T1027f.). Jasmin hatte auch nach ihrem zweiten Klinikaufenthalt, den sie als hilfreich empfand, immer wieder Probleme mit Alkohol und flüchtige sexuelle Kontakte, wofür sie heute Scham empfindet (Jasmin, T685‒T701). Der Alkohol war eine Bewältigungsstrategie, mit der Überforderung umzugehen, und bei den Männern erhoffte sie sich „einfach einmal eine Umarmung, einfach einmal Aufmerksamkeit“ (Jasmin, T701), die sie von Seiten ihrer Eltern nicht erfahren habe. Wie Bianca, die an Bulimie litt und den Umgang mit Alkohol in früheren Zeiten als problematisch schildert, vergleicht Grete ihre „Alkoholexzesse“ (Grete, T1587) mit der Bulimie im Hinblick auf den Kontrollverlust: „Damals hab ich auch die Angst gehabt: Wenn ich einen gewissen Punkt überschreite, ist es gefehlt. Genauso wie beim Essen. Wenn ich einen gewissen Punkt überschritten habe, hab ich gewusst: Jetzt gibt's keinen Weg zurück mehr“ (Grete, T1606‒T1609). In diesen Beispielen zeigt sich das impulsivere Verhalten bei Betroffenen von Bulimie im Vergleich zu jenen mit Anorexie und zwar nicht nur im Essverhalten, sondern auch im Umgang mit Alkohol (s. Kapitel 2.2.3).

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Im Gegensatz zur Essstörung werden andere Betroffenheiten nicht als Teil des Selbst beschrieben. So spricht Claudia „depressive Züge“ (Claudia, T1699) an, da sie zeitenweise eine gedrückte Stimmung habe. Diese Züge sind als Persönlichkeitszüge mehr im Sinne von Eigenschaften und weniger als konstituierender, stabilisierender Teil des Selbst zu verstehen. Durch mehrere Betroffenheiten, eine „Multidiagnose“ (Claudia, T2519f.), ist es aus Claudias Sicht jedenfalls schwieriger, den Weg aus der Essstörung zu gehen und die anderen Erkrankungen zu bewältigen (Claudia, T2519‒T2522). Hiermit bestätigt sie die Studienergebnisse zur Prognose bei vorhandenen Komorbiditäten (s. Kapitel 2.2.3). Stabilisierung bei Überforderung und fehlenden Bewältigungsalternativen Eine von den Personen häufig genannte Funktion der Essstörung ist der Versuch, einen Ausweg aus der überfordernden Situation zu finden, da für sie keine anderen Möglichkeiten zur Verfügung standen. Melina erklärt sich das Essen als Bewältigungsversuch aufgrund ihres mangelnden Selbstwertgefühls, das nötig gewesen wäre, um auf andere Weise mit Belastungen umgehen und eigene Bedürfnisse artikulieren zu können. Ehemals von Bulimie Betroffene erzählen vom „Runterschlucken“ (Melina, 51) der Probleme, „Stressesser“ (Melina, 49) gewesen zu sein und vom „Frustessen“ (Marlies, 15, 319), das „Glücksgefühle“ (Marlies, 16) auslöste. Mehrere Personen sprechen vom „Reinfressen“, allerdings blieben die Probleme dadurch unverdaulich: „Einfach weil so viel war, über das ich nie geredet habe als Kind und das ich wirklich in mich reingefressen habe ‒ wortwörtlich eigentlich“ (Alice, T1079‒T1081; vgl. Karin, T155f.). Druck und Stress, die mit der Essstörung bewältigt werden sollen, werden einerseits als äußere Anforderungen und Belastungen, beispielsweise in Form von Prüfungen oder Trennungen, andererseits vor allem als inneres Erleben beschrieben. Für Irina diente das Essen dem „Druck-Ablassen“ (Mail Irina, 05.12.2015). Die Entstehung eines solchen Drucks formuliert sie häufig als: Druck „aufgebaut“ (Irina, 1585, 1777, 1795, 1833) zu haben. Das Essen sollte ihn hingegen wieder „abbauen“ (Irina, 1905). An einer Stelle verwendet sie den Begriff „Druck anlegen“ (Irina, 2590), der mehr als jener des inneren Druckaufbaus an eine Einengung der Person von außen erinnert. Der innere Druck hingegen ist so vorstellbar, dass das „Runterschlucken“ (Melina, 51) von Emotionen, häufig Wut, eine innere Enge bewirken und damit unangenehmes Empfinden entstehen kann. Trigger für eine Erhöhung dieses Drucks finden sich vor allem in Form von belastenden Beziehungserfahrungen. Melina beschreibt dies als: „was Negatives abgekriegt“ (Melina, 75) zu haben bzw. dass „irgendwas Negatives gekommen ist“ (Melina, 75). Dieses Negative bewirkte eine Verstärkung des bulimischen Verhaltens. Dazu zählt sie auch, „auf meine Störung oder aufs Essen reduziert“ (Melina, 75) worden zu sein. Für Karin war dies eine erfahrene Ablehnung von Seiten ihres Sporttrainers (Karin, T447‒T467). Jasmin erlebte eine massive Verstärkung der Essstörung im Alter von siebzehn Jahren infolge eines verletzenden und anklagenden Verhaltens ihres Vaters, zu dem sie vor allem in der Kindheit eine enge Beziehung hatte. Auch wenn sie bereits im Vorfeld von ihm enttäuscht wurde, kam sie durch diese Kränkung an einen kritischen Punkt in ihrem Leben: „Das war dann eigentlich das, was mir noch komplett den Rest gegeben

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hat. Ich habe nichts mehr gegessen, ich habe mich nur noch schlecht gefühlt, ich wollte eigentlich echt nicht mehr leben. Das habe ich einfach nicht verstanden damals“ (Jasmin, T274‒T278). Irina spricht davon, sich infolge emotionaler Belastung durch elterliche Konflikte mit Essen und Erbrechen „bestraft“ (Irina, 1913) zu haben. Ebenso äußert sie sich im Hinblick auf eine kurzzeitige, wiederauftretende Phase des Erbrechens infolge der Trennung von ihrem Partner. Möglicherweise verursachte die Abgrenzung gegenüber anderen Schuldgefühle und wäre daher zu bestrafen. Dies könnte besonders im Hinblick auf die emotionale Beteiligung an Konflikten der Eltern zutreffen, da Irina früher eine sehr nahe Beziehung zu ihrer Mutter hatte (Irina, 15‒17). Deutlich werden hier die zwei Seiten der Essstörung: Diese soll einerseits der Bewältigung dienen, ist aber andererseits auch Bestrafung. Möglicherweise war für Irina die Bestrafung aber auch gleichzeitig eine Form der Bewältigung ihrer Schuldgefühle. Nicht nur zu Beginn der Erkrankung, sondern auch im Verlauf dient das (Nicht-)Essen dem Umgang mit Druck und Stress, beispielsweise vor Prüfungen (u. a. Marlies, 508). Damit soll dem Gefühl von Ausweglosigkeit ‒ „wenn ich nicht mehr weitergewusst habe“ (Marlies, 309) ‒ begegnet werden. Sind Bewältigungsalternativen, die bereits im Rahmen der Überwindung gefunden wurden, temporär nicht umsetzbar, kann die Essstörung wieder vermehrt auftreten. So löste die Sprunggelenksverletzung in Karin Angst vor einer neuerlichen Gewichtszunahme aus. Sport war inzwischen eine wichtige Ersatzstrategie anstatt des Essens in Situationen inneren Drucks geworden, allerdings konnte sie nun aufgrund der Verletzung nicht bzw. nur eingeschränkt darauf zurückgreifen (Karin, T844‒T849, T1037‒T1040). Bei Grete hingegen wirkten Trennungen und der damit verbundene Mangel, die Leere, verstärkend auf die Bulimie. Nur zu Hause und in Momenten geringerer Aktivität, in denen die Leere vermehrt spürbar gewesen sein dürfte, kam es zu Essanfällen (Grete, T1439). Zwischen dieser Leere und ihrer empfundenen Verlassenheit von Seiten ihrer Eltern, materiell und emotional, ist von einem Zusammenhang auszugehen (Grete, T461). Ein Hinweis dafür ist unter anderem, dass nicht einzelne Ereignisse die EssBrech-Anfälle verstärkten, sondern diese regelmäßig, mit dem überdauernden Gefühl der Leere, auftraten (Grete, T1124‒T1131). Außerdem beschreibt Ettl diese Leere als Element der Container-Funktion des Kindes: Es bedarf dieser Leere, um die Projektionen der Bezugsperson, die von dieser aufgrund ihrer Überforderung mit den eigenen Emotionen und der eigenen Bedürftigkeit ausgehen, wie ein Container aufnehmen zu können (Ettl, 2013, S. 298). Eine solche Leere spürte auch Claudia in ihrer Magengegend (Claudia, T185f.). Sie beschreibt diese als „negative Leere“ (Claudia, T205) infolge des Erbrechens, wobei für die Verdopplung (negativ und leer) folgende Lesarten zutreffen können: 1) Vor dem Füllen mittels Essen gab es eine Leere, die für Claudias Gefühl des Alleinseins aufgrund der erforderlichen frühen Verantwortungsübernahme stehen könnte. So formuliert auch Marianne, dass ihre Mutter etwas von ihr nicht näher Spezifiziertes „herausgenommen“ (Marianne, 114) habe. Nach dem kurzzeitigen Füllen durch das Essen wurde die Leere positiv, durch das anschließende Erbrechen jedoch wieder negativ. Damit fühlte sich Claudia in zweifacher Hinsicht leer: durch

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die bereits zuvor vorhandene seelische Leere und die hinzugekommene körperliche Leere im Magen. 2) Die Verstärkung der Leere könnte auch primär auf seelischer Ebene erfolgen, nämlich durch das Ohnmachtserleben nach dem Erbrechen zusätzlich zum Gefühl des Alleinseins: „Was tust du dir selber an? Aber du kannst es eh nicht ändern“ (Claudia, T206f.). Die beschriebene Leere scheint in Zusammenhang mit der „Enge“ (Claudia, T702) zu stehen, die Claudia sowohl im Außen in Bezug auf ihr früheres Umfeld als auch in ihrem Inneren lokalisiert. Somit dürften die äußeren Umstände von ihr als erdrückend empfunden worden sein, und dieser Druck bewirkte wiederum das Gefühl von Enge: „Ich habe immer gewusst, ich kann dort nicht bleiben ‒ also in dieser Enge, die das Tal ausmacht, und natürlich auch in meiner Enge“ (Claudia, T701‒T705). Das Essen im Rahmen der Bulimie könnte demnach nicht nur als ein Füllen der Leere, sondern auch als ein Versuch des Weitens dieser Enge betrachtet werden. Leere und Enge spiegelten sich außerdem in der kargen Ausstattung ihres Zimmers während ihrer Lehrlingsausbildung wider: Passend zur Essproblematik war unter anderem keine Küche vorhanden (Claudia, T620‒T622). Eine Bewältigung von Problemen erfolgt mit Hilfe der Essstörung jedoch nur scheinbar bzw. für kurze Zeit (u. a. Claudia, T73, T202f.). In der Bulimie wird der emotionale innere Druck zunächst durch die Aufnahme großer Essensmengen reduziert und einer erneuten Erhöhung, die aus einer aufrechtbleibenden Fülle des Magens und den damit einhergehenden Schuldgefühlen resultieren würde, durch Erbrechen entgegengewirkt. Letzten Endes trägt die Essstörung als Versuch der Bewältigung des inneren wie des äußeren Drucks allerdings zu mehr Druck bei, die Bulimie insbesondere durch den zeitlichen und finanziellen Aufwand. Das Verhaltensmuster der Essstörung wird bei Belastungen so lange eingesetzt, bis andere Bewältigungsmöglichkeiten vorhanden sind: „Man ahnt dann vielleicht schon, dass da irgendwas nicht in Ordnung ist. Aber es fühlt sich halt irgendwie richtig an, weil es für einen erst mal auch eine Lösung ist. Das hat ja auch einen Grund“ (Anika, 1093). Im Erleben von Überforderung und eingeschränkten Bewältigungsmöglichkeiten bringt die Essstörung als „Anhaltepunkt“ (Marlies, 14) temporär mehr Stabilität. Die Person erlangt mehr Gleichgewicht, allerdings nicht ihr eigenes (s. Einleitungen zu Kapitel 7.2 und Kapitel 7.3) und mit gleichzeitigen Einschränkungen (s. Kapitel 7.2.1). Den Begriff „Anhaltepunkt“ (Karin, T107, T123) verwendet Karin außerdem für ihre Großmutter. Dementsprechend war deren Tod eine große Erschütterung für sie, worin ihr die Essstörung, die in dieser Zeit begann, Halt gab (vgl. Alice, T1207): Im Nachhinein betrachtet kann ich es nicht anders beschreiben als: Es [die Essstörung] hat mir in dem Moment irgendwie das Leben gerettet. Es war das Einzige, das ich noch hatte: das Essen. Ich hab so oft dran gedacht, was ich machen soll. Also wir haben da so eine Brücke gehabt, ich hab mir gedacht: ‚Irgendwann springe ich da runter, wenn ich mich traue. Ich springe einfach da runter‘, ja? Das Essen war das Letzte, das ich noch hatte. Ich hab mich so an das geklammert. […] Das ist eine ganz dunkle Zeit in meiner Erinnerung, in der ich ganz, ganz wenig, wenig Kraft hatte für irgendwas. Ich hab echt das Gefühl, das Essen hat mich immer grad so über Wasser gehalten. […] Also

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das war einfach, dass ich mich festgehalten habe. (Karin, T158‒T171, T184‒T187, T215f.; Hervorhebungen A. K.)

Anika hingegen spricht die ambivalenten Gefühle gegenüber der Essstörung an: Die Essstörung ist ein „Feind, der einem irgendwie auch was gibt“ (Anika, 1095), somit feindlich gesinnt und gleichzeitig hilfreich (s. Kapitel 7.2.1). Die stabilisierende Funktion der Essstörung stellt Anita bildhaft dar, wenn sie über das Erleben ihrer Gewichtszunahme spricht: Ich weiß noch, dass ich damals einen Text geschrieben hab. Da hab ich dann geschrieben: „Ich lasse die Sterne vom Himmel regnen, werfe sie in deine Suppe, stelle sie in die Mikrowelle und esse Sternensuppe.“ Ich finde das jetzt auch noch ziemlich passend für diese Situation. Du hast eigentlich gar nichts. Du greifst ganz nach oben, und wenn du es dann erreicht hast ‒ in dem Fall war's das Gewicht ‒, dann hast du wirklich gar nichts mehr. Du hast nichts mehr, woran du dich halten kannst. Das Gewicht macht dich im Endeffekt nur krank. (Anita, 398‒400; Hervorhebung A. K.)

Anita bezieht sich dabei auf eine Erfahrung im Rahmen einer gewichtsfokussierten und damit symptomatischen Therapie, wobei sie durch Aufgeben der eigenen Gewichtskontrolle Halt und Sicherheit verlor. Bemerkenswert ist, dass Anita davon spricht, die Sterne nicht in ihre, sondern in die Suppe einer anderen, nicht näher genannten Person zu werfen. Damals dürfte sie, bildlich gesprochen, noch nicht ihre eigene Suppe und ihre eigenen Zutaten im Sinne von ihrem Selbst gefunden haben. Dafür spricht auch Alice' Aussage, die noch mehr Ambivalenzen im Hinblick auf die Essstörung und SelbstUnsicherheiten zeigt: „Das macht mich aus, dass ich dünn bin“ (Alice, T186f.). Wie Anika mit dem „Zauber der Individualität“ (Anika, 1125) drückt Alice hier die Essstörung als Teil der Selbst-Definition aus (Alice, T177‒T186). Ein weiterer Hinweis auf die stabilisierende Funktion ist die Auffassung einer Freundschaft mit der Essstörung, die die Gesprächspersonen mehr bei anderen Betroffenen beobachteten, als dass sie selbst eine solche Form der Nähe zur Essstörung empfanden. Doch: „Wenn du so eine Freundin hast, brauchst du keine Feinde mehr. Dann kannst du dich gleich umbringen“ (Anita, 446‒448). So lange die Essstörung jedenfalls diese stabilisierende Funktion für die Person hat, wird sie überall hin „mitgenommen“ (Irina, 2528). Stabilisierung kann die Essstörung nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für das Umfeld bringen. Tamina sieht den Sinn ihrer Essstörung für ihre Mutter darin, dass sie als Betroffene eine Stütze für sie war. Sie selbst drückt dies so aus, dass sie ihrer Mutter „immer zu Diensten gewesen“ (Tamina, 1042) und ihr eigenes Leben „zu kurz gekommen“ (Tamina, 493) sei. Bei Ina war die enge Verbindung zwischen ihr und ihrer Mutter in der Essstörung einerseits haltgebend, andererseits auch Ausdruck des Wunsches nach Versorgtwerden. Ina nahm damals nur flüssige Nahrung, wie Säfte und Milch, zu sich. Hierin zeigt sich eine Regression in ihre „Kindrolle“ (Ina, T270) und die Essstörung damit als frühe Entwicklungsstörung (Padrão et al., 2013, S. 115; s. Kapitel 2.3.2). In diese kindliche Rolle begab sie sich auch, wenn sie sich nach ihrer Heimkehr aus dem Studienort von ihrer Mutter versorgen ließ. Sie habe dann materiell und emotional viel

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genommen und umgekehrt ihrer Mutter einiges erzählt. Ina bezeichnet diese Beziehung als „starkes Abhängigkeitsverhältnis“ (Ina, T275), sodass sie mit der Essstörung Nähe und keine Abgrenzung, die sie später anstrebte, erreichte. Schutz der Betroffenen vor Belastungen Von großer Bedeutung neben dem Versuch der Problembewältigung und der Stabilisierung durch die Essstörung erweist sich ihre Schutzfunktion, die so lange erforderlich ist, bis andere Mittel des Schutzes gefunden werden und/oder ein solcher nicht mehr erforderlich ist. Somit stellt sich die Frage, weswegen bzw. wovor sich die Person schützen muss bzw. möchte. Angesichts der häufigen Überforderung am Beginn der Essstörung liegt nahe, dass der Schutz einerseits den äußeren Einflüssen im Leben gilt. Dazu zählen Erwartungen anderer Menschen, Schwierigkeiten im Umgang mit Forderungen oder überhaupt in sozialen Kontakten. So wurde Alice durch die Essstörung unter anderem vor Leistungsanforderungen in der Schule bewahrt, da ihre Lehrer dadurch von ihr „den Druck genommen“ (Alice, T1116) haben (Alice, T1099‒T1132). Der Schutz bezieht sich somit andererseits auf das innerlich belastende und schmerzhafte Erleben der Person, das nicht getrennt von äußeren Einflüssen zu verstehen ist. Als innerer Schmerz werden vor allem überfordernde Emotionen, insbesondere Wut, beschrieben, die im Rahmen der Anorexie ausgehungert bzw. in der Bulimie mit Essen erstickt und gegen sich selbst anstatt nach außen gerichtet werden. Ein vorhandenes Übergewicht kann ein „Panzer“ (Karin, T1779), somit ein Schutzpanzer sein. Alice meint, dass sie durch die Essstörung vor der eigenen Vergangenheit bewahrt worden sei, weil ihr dadurch die Kraft für die Auseinandersetzung mit ihren Belastungen fehlte (Alice, T534‒T540). Solche schwierigen vergangenen Erfahrungen liegen dem im nachfolgenden Zitat angesprochenen Schmerz zugrunde. Besonders eine Tendenz zu empfindsamem Spüren kann eine Überwältigung durch, vor allem schmerzhafte, Emotionen mit sich bringen: Ich weiß, ich hätte es nicht überlebt ohne dem. Ich glaube, ich bin auch ein extrem sensibler Mensch, das merke ich schon, ich nehme Sachen voll arg wahr. Das merke ich vor allem jetzt, da ich auch zu rauchen aufgehört habe vor einem Jahr, und das hat es noch einmal intensiviert. Ich glaube, ich kriege viele Sachen vielleicht mehr als andere mit, ich weiß es nicht. Da hat mich die Essstörung schon immer von den Sachen abgeschottet. Ich glaube, ich wäre einfach krepiert. Sie hat mich vor so vielen Sachen, die ich nicht spüren wollte, geschützt. Ich habe so viele Aggressionen, so viel Hass, das habe ich alles über die Essstörung ausgelebt. Also in der Zeit daheim ‒ nein, ich glaube, ich hätte den Schmerz nicht aushalten können (Alena, 1357‒1363; Hervorhebungen A. K.)

Einen ebensolchen Schutz durch die Bulimie beschreibt Grete, da sie sonst „gewisse Sachen nicht ausgehalten hätte“ (Grete, T2526). Damit dürfte sie unter anderem die Verletzungen in der konfliktreichen Beziehung zu ihren Eltern meinen. Ein Hinweis dafür ist eine Textpassage, in der sie über die Trennung von ihrem früheren Freund, der diesen Schritt setzte, erzählt. Damals habe die Kraft gefehlt, „dass ich mir Gedanken mach, wie ich mich vor dem schütze, so quasi; vor meinen Eltern, was darf ich ihnen

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sagen, was darf ich ihnen nicht sagen“ (Grete, T769‒T771). Ähnlich wie Alena schmerzte sie die Selbst-Verletzung durch die Bulimie somit weniger als die Fremdverletzung durch ihre Eltern. Claudia verbindet mit ihrem früheren Übergewicht „so dieses Sich-fast-unattraktivMachen“ (Claudia, T401f.), das angesichts ihrer Erfahrung mit den Übergriffen zweier Männer noch verständlicher wird. Durch mehr Materie kann eine größere Distanz geschaffen werden, die, wenngleich nicht körperlich, zumindest seelisch unangreifbar macht: „Je mehr Schutz du hast, oder mir ist es auch Schutz, umso weniger bist du angreifbar, auch wenn man dich angreift“ (Claudia, T403‒T405). Doch auch wenn die Essstörung als Schutz dienen soll, ist diese letztlich eine Gefahr, vor der die Betroffenen zu schützen sind. Gleichzeitig kann die Essstörung selbst hilfreich für ihre Bewältigung sein, wenn schrittweise versucht wird, ihren Sinn und den Schmerz, vor dem sie schützen soll, zu ergründen: Grundsätzlich wird dir der Grundschmerz mehr bewusst: Was ist es wirklich; was bedingt das, dass du dir selber Schmerz zufügst; was war dieser Schmerz. Wobei das halt schwierig ist, da hinzugehen, weil das willst du nicht wirklich. […] Was mache ich mit mir und vor allem, welchem Schmerz ist das ähnlich. Also welchen Schmerz versuche ich denn da zu überlagern. (Claudia, T2267‒T2271, T2276‒T2278)

Den Sinn der Essstörung schildert Claudia in ihrem Fall als zumindest teilweise bewusst, da der Schutz vor bereits erfahrenen und neuerlichen Verletzungen ein „Gedanke“ (Claudia, T403) gewesen sei. Schutz für das Umfeld: Fokussieren und Bagatellisieren der Essstörung Wie im Hinblick auf die Stabilisierung ausgeführt, kann die Essstörung auch ihre Schutzfunktion für das Umfeld erfüllen. Dies erfolgt entweder durch ihr übermäßiges Thematisieren in Form des Fokussierens oder umgekehrt durch das Bagatellisieren, mitunter durch Schweigen. Durch das Thematisieren steht die Essstörung mit ihren Symptomen im Mittelpunkt und verdeckt andere, tieferliegende Konflikte. Reich spricht hier die Möglichkeit für Eltern an, durch ein solches detouring ihre eigenen Beziehungsprobleme umgehen zu können (Reich, 2005, S. 323). Bianca formuliert dies so, dass alles „auf den Süchten aufgehängt worden“ (Bianca, 427) sei, indem vor allem von Seiten der Mutter das Essen bzw. Nicht-Essen von Bianca und der Alkoholkonsum ihres Vaters als Probleme gesehen wurden, anstatt den Blick auf mögliche zugrunde liegende Einflüsse zu richten. Damit kann sich das Umfeld vor der Auseinandersetzung mit aktuellen Konflikten und mit jenen in ihrer eigenen Geschichte schützen. Außerdem wird hier wiederum Biancas Auffassung der Essstörung als Sucht deutlich. Die Fokussierung des Umfeldes auf Essen, Gewicht und die Essstörung war für die Gesprächspersonen ein besonders erschwerender Faktor in Bezug auf das Erkranken und die Zeit der Essstörung. Bei bereits aufrechter Essstörung sind insbesondere die Beobachtung und Kontrolle der Umgebung einschränkend für die Betroffenen, da sie sich dadurch auf die Erkrankung „reduziert“ (Melina, 67) oder „abgestempelt“ (Alena, 495) fühlten: „Da war ich immer die mit dem Problem mit dem Essen“ (Melina, 45). Alice empfindet auch ohne

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Bemerkungen ihrer Freunde und Freundinnen ein Unwohlsein, wenn diese „voreingenommen“ (Alice, T492) sind, also von ihrer Betroffenheit wissen. Umgekehrt falle ihr das Essen in einem Umfeld, das keine Kenntnis davon hat, leichter (Alice, T490f.). Außerdem gibt es Hinweise auf internalisierte Fachmeinungen, etwa im Hinblick auf kognitive Einbußen als Folgeerscheinung der Essstörung: „Natürlich hab ich auch Defizite durch die Krankheit. Das weiß man ja. Es schrumpft ja sogar das Gehirn und so weiter. Ich hab das alles gelesen in der Literatur“ (Tamina, 495‒497). Deswegen sieht Tamina eingeschränkte Möglichkeiten des Lernens, wobei sie neben diesem mangelnden Selbstzutrauen auch ihr Alter von 44 Jahren damit in Zusammenhang bringt. Ähnlich schreibt Frauke ihre unklare Erinnerung an ihren längeren Aufenthalt in einer Therapieeinrichtung kognitiven Einschränkungen durch die Essstörung zu (Frauke, 1495). Diese kann jedoch auch an der inzwischen großen Distanz, zeitlich sowie im Hinblick auf ihre jetzige Lebensweise, liegen. Bei Melina wird die äußere Zuschreibung als Teil ihrer Selbst-Definition deutlich: Sie sei von Seiten des Freundeskreises ihres früheren Partners immer mit der Essstörung „in Verbindung gebracht“ worden, „was ich in dieser Zeit natürlich auch war“ (Melina, 49). Übernommene Fachmeinungen und eigene Erfahrungen können zudem die Sicht auf andere bzw. noch Betroffene beeinflussen. Rebeccas Aussage beinhaltet möglicherweise jene Haltung mangelnder Einfühlsamkeit, die ihr gegenüber in ihrer damaligen Betroffenheit eingenommen wurde, insbesondere in Form des Drucks von ihrer Mutter. Dies zeigt sich in der strengeren Ausdrucksweise als in der restlichen Erzählung und an anderen, unpersönlichen Begriffen, indem sie von „Essgestörten“ (Rebecca, T1831) anstatt, wie zuvor, von der „erkrankten Person“ (Rebecca, T1232) spricht: „Ich weiß, weil ich das ja auch gemacht habe, dass die Essgestörten schon, wenn sie können, nach Strich und Faden bescheißen“ (Rebecca, T1829‒T1832). Allerdings wünschen sich die Betroffenen, hinter der Essstörung hervortreten zu können: „Ich wollte einfach einmal, keine Ahnung, da raus, dass ich sage: ,Okay, ich bin auch wer anders, und es geht auch um was anderes‘ “ (Melina, 77). Auch nach überwundener Essstörung kann vermehrtes Beobachten von Essverhalten und Gewicht durch Angehörige vorkommen, wobei sich dieses mitunter einschränkend auf die Gesprächspersonen auswirkte und auswirkt. Hintergründe für kontrollierendes und beobachtendes Verhalten des Umfeldes dürften Angst und Sorge sein, die jedoch nicht offen ausgesprochen werden. Mit einer solchen Fokussierung ihrer Umgebung bringt Irina ihr Empfinden, dass die Essstörung wie ein sie verfolgender „Schatten“ (Mail Irina, 05.12.2015) sei, in Zusammenhang. Sie selbst betrachte die Essstörung als überwunden, doch: „Essen wird in meiner Lebensgeschichte immer ein Thema sein, weil meine Umwelt es immer wieder zum Thema macht“ (Mail Irina, 05.12.2015). Auch Anika spricht vom „Schatten der Krankheit“ (Anika, 921), der nun beim Aufnehmen von Freundschaften weniger belastet, da die Essstörung nicht mehr „direkt auffällt“ (Anika, 923). Dadurch habe sie „nicht so einen Stempel auf der Stirn“ (Anika, 925). Selbst die Erwartung einer sorgenvollen Reaktion des Umfeldes, wie sie sie früher erlebte, wirkte sich bei Nina auf ihre Gedanken und Empfindungen auch noch in einer späteren Phase auf dem Weg aus der Essstörung aus. So hatte sie, nachdem die Essstörung kein Problem mehr darstellte, aufgrund einzunehmender Schmerzmittel und Stress im Studium Magenschmerzen, wodurch sie weniger aß und an Gewicht verlor. Daher befürchtete sie, „dass die Leute glauben, jetzt hungere ich wieder“ (Nina, T469f.).

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Bei Rebecca könnte sich außerdem eine andere, nicht auf Essen oder Gewicht bezogene, Zuschreibung aufgrund der Essstörung widerspiegeln: Sie betont im Gespräch, dass ihr Interesse für ihr Studienfach immer schon bestanden habe und nicht in Zusammenhang mit der „Vorerkrankung“ (Rebecca, T1318) stehe. Möglicherweise wurde in der Vergangenheit ihr gegenüber die Vermutung geäußert, dass sich das Interesse für Psychologie aus eigenen Krankheitserfahrungen entwickelt. Doch nicht nur das Problematisieren des Essverhaltens der (ehemaligen) Betroffenen kann eine Form von Schutz für das Umfeld sein, sondern auch das Bagatellisieren. Hierbei wird die Essstörung zwar thematisiert, gleichzeitig aber verschwiegen, indem sie nicht als mitunter lebensgefährliche Einschränkung erkannt wird. Frauke wurde von ihren Eltern mit ihrer Suiziddrohung zunächst „ignoriert“ (Frauke, 33), schließlich mit Revers aus dem Krankenhaus ins häusliche Umfeld entlassen. Einerseits könnte das als Macht der Betroffenen interpretiert werden, andererseits ist darin jedoch der Ausdruck ihrer Not aufgrund der schlechten Erfahrungen während des damaligen stationären Aufenthalts zu sehen (Frauke, 19‒39). Eine andere Schutzreaktion kann die Ablehnung, sowohl der Essstörung als auch der Betroffenen, sein: „Mit so einer Essstörung kann ich mich schleichen, so in die Richtung“ (Alena, 81) – das habe Alenas damaliger Partner ihr vermittelt. Somit war die Essstörung kurzzeitig Thema, jedoch dann ein Tabu in Form eines Verbots, indem das Unterlassen des Erbrechens die Bedingung für die Paarbeziehung war. Sowohl Bagatellisieren als auch Ablehnen der Essstörung sind somit in Ansätzen als Formen des Schweigens zu betrachten. Essstörung als verbales und nonverbales Geheimnis Das Schweigen und Bewahren der Essstörung als Geheimnis sind präsente Aspekte in den Lebensgeschichten und wesentlich in der Scham aufgrund der eigenen Betroffenheit begründet. Ein verbales Geheimnis ist die Essstörung somit, weil weder die Betroffenen noch das Umfeld diese thematisieren. Zum nonverbalen Geheimnis wird die Essstörung durch das heimliche Verhalten, besonders im Fall der Bulimie: „Man wird da ja schon sehr erfinderisch“ (Claudia, T1088). Schweigen bezieht sich in den Familien oft nicht nur auf die Symptomatik der Essstörung, sondern vor allem auf mögliche der Essstörung zugrunde liegende Probleme, andere Konflikte sowie den Austausch im Allgemeinen (s. Kapitel 2.3.3). Das Verheimlichen der Essstörung ermöglicht die Verdrängung der Problematik vor sich selbst und dem Umfeld (Bianca, 114f.). Dementsprechend werden Menschen, die das Geheimnis und die Verdrängung gefährden, verlassen: „Ich hab immer schnell Freundschaften geschlossen und die dann aber auch sehr schnell wieder ausgetauscht. Immer dann, wenn sie mir draufgekommen sind“ (Bianca, 105). Das Schweigen ist besonders zu Beginn der Erkrankung beidseitig, durch die Betroffenen und das Umfeld, bedingt. Die Personen leugneten zunächst ihre Betroffenheit und wollten nicht darüber sprechen, wenngleich es sehr wohl Ausnahmen gibt. Grete erzählte beispielsweise zwei Freundinnen von ihrer Bulimie, allerdings habe sich die eine danach von ihr „entfernt“ (Grete, T934) und die andere „abgewandt“ (Grete, T942), nachdem diese ihr Mitleid ausgesprochen hatte. Auch Karin erhielt von ihrer Mutter,

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der gegenüber sie ihre Problematik ausdrücken wollte, kein Verständnis. Diese sah die Ursache für Karins Belastung vor allem im Tod der Großmutter: Ich hab zwar versucht, mit meiner Mutter das Thema anzusprechen, aber die hat das überhaupt nicht nachvollziehen können, wie's mir gegangen ist. Ich hab versucht, eben mit Texten und Gedichten und so weiter, mich irgendwie auszudrücken und hab auch viel geschrieben, also sehr, sehr negativ, sehr schwermütig, und hab ihr das einmal vorgelesen. Da ist es eben darum gegangen, dass ich von so einer Last erdrückt werde und aus dem Ganzen nicht mehr herauskomme mehr oder weniger. Sie hat aber überhaupt nicht drauf reagiert, sie hat halt gesagt: „Ja, jetzt schau, die Oma war schon alt und ist gestorben. So geht's halt im Leben.“ Ungefähr so. Also es war für mich mehr oder weniger wie ein Schlag ins Gesicht. (Karin, T219‒T236)

Während Karin von ihrer Mutter nicht gehört wurde und sich auch sonst niemandem mitteilte bzw. mitteilen konnte, wurde das Schreiben zu einem „Sprachrohr“ (Karin, T2962) für sie. Es war eine Form des Selbst-Ausdrucks und eine Unterstützung, mit der Macht der Gedanken, die sie „in Besitz genommen“ (Karin, T2902) hatten, umzugehen (Karin, T2896‒T2931). Dies ist hier insbesondere deswegen zu erwähnen, da sie an anderer Stelle im Hinblick auf die Essstörung von einer damals noch aufrechten „Stimme“ (Karin, T1207) in ihr erzählt, die sie zu einem weiteren Gewichtsverlust antreiben wollte. Karins „Sprachrohr“ (Karin, T2962) könnte demnach ein Versuch der Verbindung mit der Umgebung sein, während die Essstörung über einen anderen Kanal zu ihr spricht und zu einem sich selbst einschränkenden Verhalten drängte. Karin dürfte zwar durch den Verbindungsversuch, das Niederschreiben ihres Leids, zum Teil Entlastung gefunden haben, allerdings wurde ihre Stimme nicht gehört. Besonders Menschen mit Bulimie zeigen sich „nach außen hin so super toll, und alles ist so schön“ (Alena, 1525), also mit einer Fassade, die durch das meist unauffällige Gewicht leichter zu wahren ist. Daher kann die Bulimie ein Ausweg sein, wenn die Umstände eine Abstinenz, die für andere sichtbarer und deren Geheimhaltung somit schwieriger ist, nicht zulassen (u. a. Claudia, T757‒T783). So ist bei Anja ein teilweise offenes und heimliches Verhalten erkennbar: Gegessen habe sie „offensichtlich“ (Anja, T777), auch größere Mengen und vor allem am Wochenende, wenn ihr Mann „so richtig präsent war“ (Anja, T779). Angesichts seiner häufigen Abwesenheit und ihres Gefühls des Alleinseins kann dies als Suche nach Aufmerksamkeit interpretiert werden. Es könnte jedoch auch ein Versuch gewesen sein, der Thematisierung der Essproblematik entgegenzuwirken, die bei Abstinenz zu erwarten gewesen wäre, zumal sie sich damit niemandem anvertraute. Ihr Essverhalten in Gegenwart ihres Mannes war für sie nur aufgrund der Gewissheit möglich, anschließend Abführmittel einnehmen und damit die Nahrung zumindest teilweise wieder heimlich eliminieren zu können. Einen anderen Grund für das leichtere Verheimlichen der Essstörung bei höherem Gewicht äußert Karin. Nach dem Tod ihrer Großmutter sei sie in ein „sehr, sehr, sehr tiefes, schwarzes Loch gefallen“ (Karin, T151f.). Es habe keine „Ausgleichsmaßnahmen“ (Karin, T174) mehr gegeben, womit sie vor allem den Sport meinen dürfte, sodass ihr Gewicht innerhalb kurzer Zeit stark anstieg. Diese Entwicklung konnte sie jedoch als JoJo-Effekt tarnen, da ein solcher vielen Menschen bekannt ist. Dementsprechend habe

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ihr Umfeld einen Jo-Jo-Effekt bereits erwartet und die Zunahme damit „abgetan“ (Karin, T182). Mit diesen Reaktionen des Umfeldes und ihren eigenen Versuchen der Geheimhaltung konnte sich Karin letztlich wiederum vor der Konfrontation mit ihrem eigenen Schmerz schützen. Alena hingegen wurde mehrmals von ihrer Freundin auf den auffälligen Gewichtsverlust angesprochen, habe dies jedoch „als Spinner abgetan“ (Alena, 11). Sehr ähnlich drückt dies Nina aus, die in ihrer Betroffenheit nicht über die Essstörung sprechen wollte, auch nicht mit ihrem Bruder, zu dem sie ein sehr nahes Verhältnis hatte und hat. Sie meint, dass sie bei vorhandenem Bedürfnis jedoch die Möglichkeit gehabt hätte (Nina, T719f., T756). Das Schweigen ihrerseits hing auch damit zusammen, dass sie ihre Betroffenheit anfangs nicht sah und daher von sich aus abwehrte: „Ich hab mir gedacht: ,Die spinnen doch alle um mich herum, ich bin eh ganz normal‘ “ (Nina, T679f.). Wie Karin fand sie als Selbst-Ausdruck das regelmäßige Tagebuchschreiben (Nina, T680‒T684). In einzelnen Fällen wurden Lehrer und Lehrerinnen in der Schule auf die Gewichtsveränderung aufmerksam, wobei zu diesem Zeitpunkt bei den Personen meist noch nicht die Bereitschaft bestand, sich die Problematik einzugestehen, entsprechende Maßnahmen zu setzen und sich vor allem dabei begleiten zu lassen. Selbst im Verlauf der Essstörung, wenn die Problematik allmählich bewusst wird, bleibt das Schweigen der Betroffenen meist noch länger aufrecht. Ein Grund dafür ist in der Scham, Unterstützung anzunehmen, zu sehen, da die Essstörung sowie die Unterstützung als Schwäche empfunden werden. Rebecca beispielsweise war ihren Geschwistern dankbar, dass diese sie in jenem Urlaub, in dem die Familiensituation am Beginn der Essstörung eskalierte, nicht auf das veränderte Essverhalten ansprachen (Rebecca, T119‒T126). Es wäre ihr selbst „extrem unangenehm“ (Rebecca, T126) gewesen, worauf die Thematisierung von Scham an anderen Stellen im Gespräch sowie das erst späte Aussprechen ihrer Essstörungserfahrung hinweist. Dieses Schamempfinden dürfte auch bei Alice beteiligt gewesen sein, als sie selbst bei bereits erfolgter stationärer Aufnahme noch ihre Fassade wahren wollte. Sie habe trotz ihres schlechten Zustandes und erforderlicher Sondenernährung lächelnd in ihrem Krankenhausbett gelegen: „Ich glaube, damit ich irgendwelche Emotionen überspiele“ (Alice, T70). Mit ihrer Fassade dürfte sie sich somit auch vor ihren schmerzhaften Emotionen geschützt haben. Erst mit dem Leidensdruck steigt die Bereitschaft, über die Essstörung zu sprechen, oder überhaupt erst Jahre später, wenn diese nicht mehr präsent ist (u. a. Nina, T691‒ T713). In den Gesprächen werden oft Schuldgefühle oder „Gewissensbisse“ (Grete, T920) gegenüber dem Umfeld, vor allem gegenüber den Eltern, deutlich, die sie rückblickend wegen ihres Verhaltens in der Essstörung empfinden (s. Kapitel 7.2.1). In Bezug auf das Umfeld ist das wissende vom unwissenden Schweigen zu unterscheiden: Das Umfeld kann von der Betroffenheit wissen, aber nicht darüber sprechen und somit wissend schweigen. Anikas Eltern beispielsweise leugneten lange die Betroffenheit ihrer Tochter, obwohl sie schon „eine ganze Ecke schlanker geworden war“ (Anika, 425). Mit der engeren Familie sprach Ina nicht direkt über die Essstörung, sondern

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diese habe es an ihrem Essverhalten „gemerkt“ (Ina, T1033) und daher davon „gewusst“ (Ina, T1031). Somit war hier die Essstörung unter anderem eine Sprache, mit der sich Ina gegenüber ihrer Familie ausdrückte (Ina, T1030‒T1033). Das Umfeld kann aber auch nichts bemerken, wie es vor allem bei der Bulimie aufgrund des häufig unauffälligen Gewichts zutrifft, und daher aus Unwissenheit schweigen. So dürften Ninas Eltern am Anfang der Essstörung unwissend geschwiegen haben: Sie waren erfreut, dass ihre „pummelige“ (vgl. Nina, T29) Tochter vermehrt Sport trieb und weniger Süßigkeiten naschte. Ihr zweieinhalb Jahre älterer Bruder hingegen bemerkte aufmerksam die Veränderung und wies ihre Eltern darauf hin (Nina, T36‒T42). Erst als es diesen „zu steil geworden“ (Nina, T44) sei, erkannten sie den Handlungsbedarf. Nach ihrem stationären Aufenthalt war es die Angst vor einer neuerlichen Hospitalisierung, wodurch die Eltern Ninas tatsächliche Verfassung nicht erkannten: Ich glaube, meine Eltern wollten es nicht sehen. Die waren froh, dass ich wieder daheim bin, dass ich quasi über den Berg bin von: Es ist wirklich ganz gefährlich. Sie wollten nur sehen: Das Kind ist auf dem Weg der Besserung. Also sie hätten es sehen müssen. Es geht gar nicht, dass man das nicht bemerkt hat. (Nina, T1211‒T1216)

Inwiefern andere Menschen wirklich keine Veränderung bemerken oder dies nicht wollen bzw. können, ist von den Gesprächspersonen rückblickend des Öfteren nicht eindeutig zu beurteilen. So vermutet Rebecca, dass in ihrem Freundeskreis „ein bisschen Verdacht geschöpft“ (Rebecca, T657f.), dieser jedoch nicht ausgesprochen wurde. Den Bezugspersonen wird die Problematik unter Umständen erst bei unmittelbarer Beobachtung, beispielsweise des Erbrechens, bewusst (Jasmin, T756‒T759). Gründe für das Schweigen im Umfeld können zwar auch Unwissenheit, Bagatellisieren und Leugnen, mitunter ein zu geringes Interesse an der Person, sein, oft aber handelt es sich um Ohnmacht, Angst und Sorge. Das Schweigen bietet dem Umfeld somit einen gewissen Schutz vor dem Erkennen der eigenen Überforderung. Doch auch in der Therapie erlebte Anja den „Mantel des Schweigens“ (Anja, T1904), der über die Vergangenheit gelegt wurde, indem der Fokus ihrer Ansicht nach zu sehr auf der Gegenwart lag. Jedenfalls wird an diesen Ausführungen das Dilemma des Umfeldes deutlich, solange die Betroffenen selbst die Essstörung nicht als Problem empfinden: Auf das Ansprechen der Problematik werden die Betroffenen möglicherweise mit Abwehr reagieren, durch Schweigen steigen Angst und Sorge. Bianca benennt dieses Dilemma folgendermaßen: „Das ist total schwer. Wie sie's machen, machen sie's eh verkehrt“ (Bianca, 745). Essstörung als nonverbale Sprache An den Ausführungen zum Schweigen wird deutlich, dass die Reaktion mit (Nicht-)Essen als nonverbale Sprache zu verstehen ist, wenn die Worte fehlen, eigene Bedürfnisse zu äußern. Der Körper wird zum Schauplatz von Kontrolle (Gugutzer, 2002, S. 236ff.), wodurch in der häufig erlebten Überforderung und Verunsicherung Halt gewonnen werden soll (s. Kapitel 7.1.1). Die Körperkontrolle kann als Versuch der Kontrolle der „Zwischenleiblichkeit“ (Küchenhoff, 2016, S. 128), der intersubjektiven leib-

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lichen Kommunikation, gesehen werden, wenn andere Formen der Beziehungsgestaltung und Selbst-Äußerung nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung stehen. Der Versuch der Abgrenzung durch die Essstörung wird in den Lebensgeschichten insbesondere im Hinblick auf die Mutter deutlich und soll Nähe und Distanz in der Beziehung regulieren, solange dies nicht anders möglich ist (Küchenhoff, 2012, S. 320; s. Kapitel 2.3.2). Die Essstörung ist damit als Sprache zu verstehen, durch die Konflikte sichtbar werden, deren Bewältigung wiederum durch die Essstörung erfolgen soll. Vor allem der Kampf um eine ideale (körperliche) Identität wird auf körperlicher Ebene deutlich (Küchenhoff, 2012, S. 161). Dass diese Sprache für andere Menschen jedoch schwer zu verstehen ist, zeigt sich einerseits an den Kommunikationsproblemen zwischen Betroffenen und Umfeld (s. Kapitel 2.3.3), andererseits am fremden Empfinden der Gesprächspersonen, das sie im Rückblick gegenüber sich selbst sowie gegenüber dem Leben in der damaligen Welt der Essstörung äußern. Marianne spricht davon, dass sie „andere Probleme“ (Marianne, 710) als ihre Freundinnen hatte, die deswegen nicht mit ihrer Essstörungsproblematik umgehen konnten. Bei Alice waren es neben den Menschen in ihrem Ort auch ihre Eltern, von denen sie Unverständnis vermittelt bekam: „Für die [Eltern] war das einfach: Die isst nichts“ (Alice, T546f.). Folgende Beispiele machen die Essstörung als nonverbale Sprache besonders sichtbar: Biancas Krampfanfall vor ihrem Herzstillstand ereignete sich „zufällig“ (Bianca, 21) zu Hause bei ihrer Mutter, zu der sie ein ambivalentes Verhältnis hatte und immer wieder Abgrenzung suchte. Dieser Anfall könnte ein Hilferuf und ein unbewusster Versuch der Annäherung gewesen sein, wobei sie sich im doppelten Sinn fallen ließ: einerseits körperlich durch die motorische Dekompensation im Krampfanfall und andererseits seelisch in die Arme der Mutter. Ebenso ein Appell an das Umfeld und ein Ausdruck der familiären Probleme ist im Fall von Alice zu sehen: „Er [der Vater] hat eine Therapie [wegen seiner Alkoholerkrankung] begonnen, als ich in T. in der Klinik war. Das war für mich so ein Zeichen: ‚Aha, wenn's mir schlecht geht, ändert er was‘ “ (Alice, T563‒ T565). Bei Anja sollte die Gewichtsreduktion den Wunsch nach Anerkennung von Seiten ihres damaligen Mannes ausdrücken, da dieser Zusammenhang eine frühe „Prägung“ (Anja, T146) gewesen sei: „Wenn ich jetzt wieder ganz dünn werde, dann muss er das doch irgendwann sehen“ (Anja, T146f.), war ihre Erwartung an ihren aus beruflichen Gründen oft abwesenden Mann. Im Fall von Jasmin zeigte sich die Essstörung nicht unmittelbar, sondern über das Symptom Bauchschmerz. Sie erhielt deswegen sogar eine letztlich nicht indizierte Appendektomie und bezeichnet diesen Schmerz als „Nebenerscheinung, da eigentlich schon wieder keine Diagnose oder körperlich nichts sichtbar war“ (Jasmin, T762‒T765). Erst als im Krankenhaus über die Bauchschmerzen hinaus ihr langsamer Herzschlag und ihr einschränkendes Essverhalten bemerkt wurden, „ist es langsam schon auffällig gewesen“ (Jasmin, T736). Doch selbst da sei die Essstörung nicht, weder von den Ärzten und Ärztinnen noch von der Psychologin, erkannt worden. Möglicherweise kann sich die Erkrankung auch deswegen so stark zuspitzen, da es einer nicht mehr übersehbaren Sprache des Körpers bedarf, um im drohenden Verlust der Existenz die Bedeutung derselben zu erkennen ‒ von Seiten der Betroffenen sowie des Umfeldes.

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Diese nonverbale Komponente können jedoch auch andere, die Essstörung begleitende Betroffenheiten innehaben. Claudia litt an Migräne, die heute nach wie vor, aber weniger häufig präsent ist. Es besteht wie bei der Essstörung ein enger Zusammenhang mit der Einwirkung von Stress. Dass der Schmerz anstelle von Claudia spricht, wird in folgendem Zitat deutlich: „Ich könnte auch einmal sagen: ,Ich gehe mal nicht arbeiten, und ich habe Migräne.‘ Das mache ich nicht. Ich gehe arbeiten, und ich sage nichts“ (Claudia, T1128‒T1131). Als Erklärung für ihr verbales Schweigen und den nonverbalen Ausdruck gibt sie ihre frühere Erfahrung an: „Weil es eh keiner hören will. Mein Leid ist nicht hörenswert oder wie auch immer“ (Claudia, T1136f.). Die Migräne ist hier eine stumme Sprache. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit In den bisherigen Ausführungen lassen sich wiederholt Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit als zum Teil gleichzeitig bestehende Aspekte der Essstörung und der Betroffenen erkennen. Zum Abschluss des Kapitels werden daher Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit anhand jener Symptome erläutert, bei denen diese besonders deutlich und relevant sind. Dazu zählen körperliche Veränderungen, Unterdrückung eigener Bedürfnisse, sozialer Rückzug sowie Anpassung und Rebellion der Betroffenen als wichtige Inhalte dieser Arbeit. Sichtbar wird die Essstörung einerseits durch allmähliche Veränderungen des (Ess-) Verhaltens und des Gewichts, wobei sich die kontinuierliche Ausbreitung unter anderem am oft unklar erinnerten Beginn, bis irgendwann die „Krankheit so zugeschlagen“ (Alena, 809) hat, zeigt. Andererseits wiederum entwickelt sich die Essstörung, wie es sich in der Beschreibung der rapiden Anfangsphase widerspiegelt, sehr rasch, sobald sie in den Beziehungskontext der Betroffenen eingetreten ist. Doch auch ihre Unsichtbarkeit wird thematisiert: Es wird von latenten anorektischen Phasen sowie von der Vorsicht vor ihrem Wiederauftreten und der Sorge bei ähnlichen Symptomen gesprochen, da die Essstörung möglicherweise zwar nicht im Vordergrund, aber unsichtbar präsent sein könnte. Ebenso im Hintergrund scheint die Essstörung bei nicht so stark ausgeprägtem Untergewicht, häufig bei der Bulimie, zu sein. Aufgrund dieser Unsichtbarkeit sah niemand im Umfeld von Marina einen Anlass für eine Therapie (Marina, 688), so wie Bianca „nicht so auffällig“ (Bianca, 113) wurde, da sie nicht „wie ein Skelett herumgerannt“ (vgl. Bianca, 111) sei. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit lassen sich somit nicht nur anhand der Essstörung, sondern auch bei den Betroffenen in Bezug auf die Symptomatik als Form des nonverbalen Ausdrucks beschreiben. Die Person wird auf mehreren Ebenen unauffälliger, unter anderem durch Gewichtsabnahme, Missachtung eigener Bedürfnisse, Rückzug und Anpassung im Zusammenhang mit der starken Bindung an die Essstörung. Frauke bezeichnet dies auch als „Verdünnisieren“ (vgl. Frauke, 1591). Dafür sind wiederum die mangelnde Wahrnehmung und Akzeptanz der Person von Seiten des Umfeldes, also das Nicht-gesehen-Werden, ausschlaggebend. Die (körperliche) Abstinenz ist ein Symptom der Essstörung, wurde von den Betroffenen aber auch als eigener Wunsch empfunden. Darin ist die Selbst-Nähe der Essstörung erkennbar: „Ich hab mir dadurch irgendwie den Kick geholt, dass ich mich selbst stark

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kontrolliert habe, Sport getrieben habe, abstinent und bedürfnislos war. Das war ein ganz starker Gedanke: dieses Nichts-Brauchen, Nichts-Wollen“ (Anika, 335). Nicht nur Enthaltsamkeit beim Essen, sondern auch der Schlaf als weiteres Grundbedürfnis kann missachtet werden, wenn er als „vergeudete Zeit“ (Bianca, 511) wahrgenommen wird. Zentral dabei ist das von Anika im Zitat angesprochene Gefühl von Stärke durch die Vorstellung und das Leben von Bedürfnislosigkeit sowie von Unauffälligkeit. Jedoch besteht gleichzeitig Sehnsucht nach (körperlicher) Berührung, insbesondere mit zunehmendem Leidensdruck. Dieser Wunsch wird jedoch, da er mit Schwäche assoziiert und mit Scham besetzt ist, zugleich abgelehnt: Ich war echt am Ende, ganz nahe am Wasser gebaut und hab mir nur noch gewünscht, dass mich irgendwer umarmt und bei mir schläft. Ich konnte aber keinen fragen, weil ich mir gedacht habe: ,Wenn ich meine Mutter oder irgendwen frage, den ich sonst fragen würde, würden die merken, wie fertig und wie dünn du bist.‘ Also konnte ich auf keinen Fall erlauben, dass mich irgendwer anfasst, und deswegen konnte ich diese Umarmung gar nicht einfordern. Das war eigentlich schon ziemlich niederschmetternd in dem Moment. (Anika, 931‒935)

Das Leugnen eigener Bedürfnisse ist einerseits durch deren eingeschränkte oder fehlende Wahrnehmung bedingt und verstärkt andererseits diese Einschränkung wiederum. Allerdings stellt die Wahrnehmung eine wichtige Grundlage für das Bewusstwerden eigener körperlicher Bedürfnisse, Wünsche und Ziele im Leben dar (s. Kapitel 7.2.2): Weißt du, dadurch, dass ich so krank war, habe ich, glaube ich, gar nicht gewusst, was meine Wünsche sind. Ganz lang habe ich einfach nur gelebt, dass ich irgendwie lebe. Ich habe mich irgendwie von einem Tag auf den nächsten hinübergehandelt. (Alena, 1477‒1479)

Anders als in sozialen Kontakten, in denen eine starke Zurückhaltung bis zur Abstinenz besteht, ist es in der Beziehung zum Essen eine „Symbiose mit Lebensmitteln“ (Anika, 833), jedoch bei gleichzeitiger Enthaltsamkeit. Daran werden die starke Bindung an die Essstörung und die damit einhergehenden Einschränkungen der Person deutlich, die zur Unsichtbarkeit dieser Person für andere Menschen beitragen (s. Kapitel 7.2.1). Frauke meint, sie habe in der Zeit mit der Essstörung ihre „Persönlichkeit nicht mehr so ausgelebt“ (Frauke, 1613) und äußert die Vermutung der Fremdbestimmung mit einhergehender Anpassung von Betroffenen (Frauke, 785). Daher ist in der Therapie zu bedenken, dass Kontrolle und Macht eine solche Anpassung fördern und die SelbstEntfaltung behindern können. Während die körperlichen Veränderungen, der Rückzug und die Anpassung der Betroffenen Formen des Unsichtbar-Werdens/-Machens darstellen, kann Rebellion Sichtbarkeit, zumindest die Aufmerksamkeit der anderen, mit sich bringen. Rebellion ist in der Essstörung selbst, ebenso in begleitenden Betroffenheiten der Personen, zu sehen. Zwei Aspekte sind dabei zu beobachten: Rebellion kann mit Überschreitung der (Selbst-)Grenzen einhergehen oder auf das Selbst gerichtet sein. Bei ersterer werden die eigenen Grenzen und jene von anderen bzw. der Gesellschaft durch Missachtung

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von Regeln und Gesetzen überschritten. Marina spricht im Hinblick auf ihre Verweigerung des Essens während der Pubertät von einem „Protest“ (Marina, 17), insbesondere gegen die Mutter. Bianca und Alena erzählen vom Stehlen in Kaufhäusern, das vermehrt in der Bulimie zur Beschaffung von Nahrung auftreten kann. Aber auch (materielle) Entbehrungen im häuslichen Umfeld sind ein Grund für solche Handlungen. In Bezug auf Drogen ist anzumerken, dass diese zwar auch auf das Selbst, somit innerhalb dessen Grenzen, wirken, hier aber als grenzüberschreitend im Sinne einer gesellschaftlichen Unerwünschtheit verstanden werden. Als Grenzüberschreitung ordnet Anika neben dem Einnehmen und Ausprobieren von Drogen ihr früheres „gesellschaftliches Auflehnen“ ein, womit sie das „Rumhängen“ im Einkaufszentrum und „Anlegen“ (vgl. Anika, 751) mit dem Sicherheitsdienst meint. Zum Übergang vom Drogenkonsum zur Anorexie äußert sie, dass ihre Rebellion damit in eine „angepasstere Bahn gelenkt“ (Anika, 333) wurde. Ihr sei im Alter von achtzehn Jahren die Problematik des Drogenkonsums bewusst geworden. Da sie ihre Eltern als „brave, gute Bürger“ (Anika, 501) bezeichnet, kann der Drogenkonsum als Versuch des Ausbrechens interpretiert werden, der schließlich in diese von ihr so formulierte angepasstere Form, die Anorexie, überging. Anpassung ist in diesem Fall als soziale Erwünschtheit zu verstehen, da die Gewichtsabnahme im Gegensatz zum Drogenkonsum meist anerkennend kommentiert wird. Hinzu kommt, dass die Anorexie in ihrer Familie aufgrund der Betroffenheit ihrer Tante bereits bekannt war. Anpassung könnte Anika auch auf die Zurückhaltung beziehen: Die Essstörung ist weniger nach außen gerichtet als der Drogenkonsum, vor allem nicht die Anorexie aufgrund der Nahrungsverweigerung, während bei der Bulimie kurzzeitig Impulsivität in den Essanfällen sichtbar wird. Nach ihrer Aussage ist Abstinenz somit jene Form von Rebellion, die, weil auf bzw. gegen das Selbst gerichtet, für andere weniger unangenehm auffällig und von diesen damit mehr akzeptiert ist als der grenzüberschreitende Drogenkonsum. Jedoch ist auch der Drogenkonsum, wie die Anorexie, letztlich gegen sich selbst gerichtet, da körperliche Folgen und eine mögliche Konfrontation mit dem Gesetz mit Selbst-Einschränkung einhergehen. Dies trifft ebenso auf übermäßigen Alkoholkonsum zu, der bei manchen Gesprächspersonen auftrat. Anders als die Selbst-Entfaltung ist es bei der Rebellion weniger die Sichtbarkeit der Person im Sinne einer dem Selbst entsprechenden Äußerung, sondern vielmehr ein chaotisches, impulsives, auch überschießendes Vorgehen nach außen. Die Rebellion richtet sich gegen etwas bzw. jemanden und ist mehr ausagierend. Es ist eine Form von Widerstand und damit letztlich kein selbstbestimmtes Handeln, sondern eine Reaktion auf eine äußere Bedingung (Chopich & Paul, 2009, S. 26). Selbst-Entfaltung hingegen passiert mit den eigenen Wünschen ‒ im Sinne von: den eigenen Zielen und Wünschen folgend (Anika, 333) ‒ und ist als Gleichgewicht zwischen Anpassung und Rebellion zu verstehen. Ein rebellischer Aufschrei kann jedoch bereits aus der Anpassung führen. So wurde Jasmin dadurch während ihres ersten Klinikaufenthaltes, den sie als sehr schwierig erlebte, als Person mit ihren Bedürfnissen sicht- und hörbar. Sie erhob ihre Stimme gegenüber dem Arzt, ebenso in einer Familientherapiesitzung gegenüber ihrer Mutter und dem therapeutischen Team, und äußerte aus innerer Not die von ihr gewünschte Form der Unterstützung (Jasmin, T378‒T382). Auch der von Anika beschrie-

7.2 Wende ‒ Aus dem Gleichgewicht und Wegorientierung

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bene Regelübertritt in der Klinik kann ein Schritt des Wiederauflebens sein, wenn dieser aus der angepassten Rebellion über die von außen vorgegebenen Grenzen hinweg in Richtung Selbst-Entfaltung führt. 7.2 Wende ‒ Aus dem Gleichgewicht und Wegorientierung Die Ausführungen des vorigen Kapitels zum Sinn der Essstörung legen nahe, dass ein Beitrag zu deren Überwindung darin besteht, diesen Sinn nicht mehr in der Essstörung, sondern auf eine andere Art und Weise zu finden. Ausschlaggebend für das Ereignen einer Wende auf dem Weg der Betroffenen ist das Erkennen des hier so bezeichneten zweiten Gesichts der Essstörung. Im Gegensatz zum zuvor beschriebenen ersten Gesicht, womit die Essstörung bildlich gesprochen ihre gute und zugewandte Seite, insbesondere in Form von Stabilisierung und Schutz, zeigt, wird nun ihre Kehrseite immer deutlicher. Der Begriff Kehrseite erscheint hier passend zur Vorstellung einer Wende auf dem Weg aus der Essstörung. Wenn die Auswirkungen dieser Kehrseite in Form von verschiedenen Einschränkungen spürbar werden und die Betroffenen aus dem Gleichgewicht kommen, ereignet sich häufig eine solche Wende.

Therapie als Orientierungshilfe ambulant und/oder stationär

Leidensdruck  Macht der Essstörung  Ohnmacht und Destabilisierung der Betroffenen und des Umfeldes

Wende ‒ Aus dem Gleichgewicht und Wegorientierung

Lebensentscheidung

Selbst-Zuwenden  körperliche Fürsorge  körperliches Selbst-Erfahren  Entfernen von zu hohen (Leistungs-)Anforderungen  Wissen erfahren und Reflektieren der eigenen Geschichte  Glauben

Abbildung 4

 Leidensdruck als Anstoß zur Therapieentscheidung  Struktur, Freiraum, Gemeinschaft  Selbst- und Beziehungserfahrung  personenzentrierte Begleitung

Umfeld als Brücke ins Leben     

In Verbindung kommen In Begleitung gehen Miteinander sein An Vorbildern orientieren Verändern bzw. Veränderung von Beziehungen  Verändern bzw. Veränderung des Umfeldes

Zweite Wegetappe Wende ‒ Aus dem Gleichgewicht und Wegorientierung

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7 Wegetappen

Der Übergang von der Essstörung zur Phase der Überwindung stellt sich als Punkt bzw. häufiger als Phase der Bewusstwerdung dar. Marlies spricht vom „Tiefpunkt“ (Marlies, 36), der indirekt auch bei Anika deutlich wird. Sie meint, „schon ganz gut über den Berg“ (Anika, 1157) zu sein, da sie bereits einen großen Abschnitt ihres Weges aus der Essstörung bewältigt hat. Marina hingegen beschreibt die Erkrankungszeit und -situation als eine Anhöhe: Die Liebe ihres Mannes und ihre beiden Kinder haben sie „runtergeholt“ (Marina, 452). Beide sind Orte außerhalb des eigenen Gleichgewichts oder überhaupt des Gleichgewichts. In der vorangegangenen Phase erfolgte die Stabilisierung durch die Essstörung, weshalb hier nicht vom eigenen Gleichgewicht gesprochen wird. Unmittelbar vor bzw. im Rahmen der Wende kann jedoch auch die Essstörung nicht mehr ausreichend stabilisieren. Die Positionen außerhalb des Gleichgewichts gehen mit einem Richtungswechsel, einer Um- bzw. Neuorientierung auf dem Weg einher. Alena formuliert dies an anderer Stelle als: „an der Gesundheit orientiert“ (Alena, 865). Mit Wegorientierung ist somit einerseits dieser Richtungswechsel gemeint: sich von der Essstörung weg zu orientieren und Abstand zu nehmen (u. a. Anika, 1095). Andererseits beschreibt dieser Begriff die Orientierung auf dem Weg aus der Essstörung, wozu Karin meint: „Es ist schon in die richtige Richtung gegangen“ (Karin, T371). Die Therapie sei dafür ein „Stoß in die richtige Richtung“ (Karin, T1281) gewesen. Orientierungen geben keine konkreten Ziele vor und sind auch selbst keine Ziele, sondern eine Art Leitlinie für das Treffen von Entscheidungen, Handeln und Fühlen (Fleischer & Grebe, 2014). Merkmale dieses Wendeprozesses und insbesondere hilfreiche Aspekte für die Orientierung auf dem Weg aus der Essstörung werden in den folgenden Unterkapiteln beschrieben und in Abbildung 4 dargestellt. 7.2.1 Leidensdruck und Lebensentscheidung Der Leidensdruck aufgrund der verringerten körperlichen Kraft und der Vereinnahmung von der Essstörung ist ein wichtiger Beitrag zu deren Überwindung. Dabei ist das Bewusstwerden dieser Einschränkungen, die die Personen auch als Lebensversäumnisse sehen, zentral. Da die Essstörung für die Betroffenen zunächst eine Lösungsstrategie ist (s. Kapitel 7.1.3), erkennen sie oft erst spät ihre Selbst-Verletzung und Selbstverletzung (Claudia, T2255‒T2257) sowie ihre Ohnmacht, entgegen der gewünschten Kontrolle. Erfahrenes und beobachtetes Leiden Rebecca thematisiert als körperliche Begleiterscheinung der Essstörung besonders den starken Haarausfall, der für sie als äußerlich sichtbares Zeichen ein Hinweis auf mögliche Schädigungen der inneren Organe war (Rebecca, T236‒T263). Ina benennt ihre damalige Verfassung sogar als „desolaten Zustand“ (Ina, T497) und spricht von der Situation „in meinen schlechten Zeiten“ (Ina, T1465). Für Alice war die Bewusstwerdung des eigenen Zutuns „erschreckend“ (Alice, T47): „Das war so das erste Mal, dass ich mir

7.2 Wende ‒ Aus dem Gleichgewicht und Wegorientierung

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gedacht habe: ,Was man eigentlich schon mit dreizehn Jahren mit seinem Körper anrichten kann‘ “ (Alice, T60‒T62). Während der Leidensdruck in den vorigen Beispielen unmittelbar mit der Essstörung in Zusammenhang steht, kann dieser auch durch andere Einflüsse hervorgerufen und durch die Essstörung verstärkt werden. So war für Grete neben der Bulimie die Trennung von ihrem damaligen Freund sehr schmerzhaft, vor allem, weil die Entscheidung dafür von ihm ausging. Sie habe damals sehr gelitten: „Ich war einfach wie eine Puppe. Ich hab einfach nur in der Gegend gesteuert. Ich war komplett fertig“ (Grete, T700‒ T702). Rückblickend sieht sie diese Erschütterung jedoch als eine „Chance“ (Grete, T134, T942) zur Annäherung an ihre Eltern, zur Selbst-Erforschung (Grete, T145) und damit für die Überwindung ihrer Bulimie. Ähnlich erlebte Anja nach einer Trennung eine Veränderung in Bezug auf die Essstörung, da ihr dadurch ihre Angst vor dem Alleinsein bewusst wurde und sie daher Kontakt zu einem gemeinnützigen Verein aufnahm (s. Kapitel 7.2.3). Nicht nur die eigene Erfahrung, sondern auch die „sehr abschreckenden Beispiele“ (Anika, 813) ‒ das sind für Anika „wesentlich ältere Leute“ (Anika, 813) als sie selbst mit Anfang zwanzig, die „noch immer sehr krank sind“ (Anika, 813) ‒ können das Leid und Leiden sichtbar machen. Für Rebecca war dieses am starken Untergewicht einer Patientin erkennbar: Als ich zu der Therapiestunde gekommen bin, war da auch 'ne Magersüchtige vor mir dran. Die war so dünn, die war noch dünner als ich und bestimmt schon dreißig. Dann habe ich mir gedacht: ‚Wah, so möchte ich echt nicht sein, vor allem nicht mit dreißig! In dem Alter möchte ich nicht mehr so was haben.‘ (Rebecca, T269‒T275)

Außerdem kann der Leidensdruck nicht unmittelbar bei den Betroffenen, sondern im Umfeld bestehen. Nina erzählt davon, dass die Belastung der Eltern ausschlaggebend für die stationäre Aufnahme war. Ihr Zustand sei schon „recht kritisch“ (Nina, T50) gewesen, sie selbst jedoch habe dies nicht erkannt. Sie schildert ihre damalige Fehleinschätzung im Hinblick auf ihren Zustand als eine Form von Siegessicherheit. In diesem Verhalten könnte sich die zunächst von den Eltern ausgehende Bagatellisierung der Essstörung widerspiegeln. Der Leidensdruck kann somit durch verschiedene Einflüsse bedingt sein und mitunter von der Person nicht eindeutig auf eine Ursache zurückgeführt werden, beispielsweise bei fehlendem Wissen über Essstörungen und/oder bei begleitenden Betroffenheiten. Gerade das Unbekannte kann beängstigen, doch letztlich ist das Erfahren von Einschränkungen an sich ausschlaggebend für das Bewusstwerden des Handlungsbedarfs: Für mich hat's mehrere Probleme gegeben: die depressiven Phasen; den Alkohol habe ich selber nicht als Problem empfunden, aber er war ein Problem; und das Gewicht. Mit dem war ich natürlich auch immer unzufrieden, aber von Essstörung war damals für mich keine Rede. Ich hab nur gewusst: ,Irgendwas passt nicht, ich kann so nicht weitermachen‘, und hab mir dann selber eine Therapeutin gesucht. […] Also ich hab damals gar nicht so genau gewusst, was das jetzt bedeuten soll. Das war mir auch, ehrlich gesagt, egal. (Karin, T352‒T359, T539‒T541)

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Befürchtetes und zu vermeidendes Leiden Nicht nur die selbst erfahrenen, vor allem körperlichen, und beobachteten Einschränkungen sind von Bedeutung, sondern auch jene, die daraus folgen (können) und daher befürchtet werden. So war bei Rebecca neben körperlichen Anzeichen, wie Haarausfall, die Angst vor möglichen gesundheitlichen Konsequenzen, die sich in ihrem Inneren ereignen (können), beteiligt (Rebecca, T236‒T263). Zudem erkannte sie ihr damaliges Untergewicht als Behinderung im Verfolgen ihres Zieles, mit dem Studium zu beginnen. Dazu dürften auch die Bedenken ihrer Eltern beigetragen haben. Gleichzeitig wird im nachfolgenden Zitat die Ohnmacht, die sie damals empfand, deutlich: Als es darum ging, dass ich studieren darf, war ich so untergewichtig ‒ ich glaube, ich hatte nur noch 42 Kilo bei einer Größe von eins siebzig, was nicht wirklich viel ist (leicht lächelnd) ‒, dass dann meine Eltern gesagt haben, dass sie sich ehrlich gesagt nicht trauen, mich zum Studieren zu schicken. Hier gab's ja dann Gott sei Dank die Möglichkeit, dass man den Studienplatz nochmal um ein halbes Jahr verschiebt und erst ein halbes Jahr später antritt, und das habe ich dann auch gemacht. Aber es hat mich extrem geärgert. Es war, glaube ich, auch so der Zeitpunkt, als ich gedacht habe, dass ich wirklich was ändern muss. Ich hab eigentlich schon die ganze Zeit, seit ich die Freizeit [nach dem Abitur] hatte, gemerkt, dass irgendwas nicht stimmt; dass es krank ist, wenn man für jedes Lebensmittel die Kalorien nachschlägt; dass es nicht normal ist. Ich habe mir auch gedacht, es kann ja nicht sein ‒ weil ich hatte ja selber die Überzeugung, dass ich nur von ein bisschen Essen wieder zunehme‒, dass alle anderen Menschen normal essen können, nur ich nicht. Das kann doch nicht sein. (Rebecca, T89‒T113; Hervorhebungen A. K.)

Auf die Abweichung von anderen in Bezug auf das Essverhalten, wobei sie die Abweichung als „nicht normal“ (Rebecca, T108) bezeichnet, wurde Rebecca somit schon vor der Bewusstwerdung ihrer Einschränkung aufmerksam. Dies dürfte mit ihrer Angst vor sozialem Ausschluss in Zusammenhang stehen: „Die Person sieht einfach nicht gesund aus, und jeder Mensch sieht sofort: ‚Okay, die hat Probleme, ich halte mich lieber fern von der Person‘ “ (Rebecca, T275‒T277). Allerdings habe sie selbst eine andere Haltung und wollte immer schon, anders als ihre Befürchtung, auf andere Betroffene zugehen, da sie ihr „einfach voll leidgetan“ (Rebecca, T284) haben. Die eingeschränkte Lebensqualität, die auch als „Qual“ (vgl. Nina, T1157) erlebt wurde, kann zudem Anlass für eine Veränderung des (Ess-)Verhaltens sein, um eine stationäre (Wieder-)Aufnahme zu vermeiden (u. a. Charlotte, T1575‒T1583). Dies trifft auf Personen mit sowie ohne vorhandene Therapieerfahrung zu. In diesem Fall ist es mehr das Vermeiden von bereits erfahrenem oder erwartetem Leidensdruck, als dass der Leidensdruck an sich ausschlaggebend für das Handeln ist. Aufgrund der Androhung einer stationären Aufnahme von Seiten ihres Vaters war Charlotte bestrebt, dieser durch eine Gewichtszunahme entgegenzuwirken. Hinzuzufügen ist hier, dass sie, im Gegensatz zu den meisten anderen Personen, aufgrund ihrer schwächer ausgeprägten, kurzandauernden anorektischen Phase geringere Einschränkungen erfuhr. So wird eine geringere Erkrankungsdauer auch in der Literatur mit einer besseren Prognose assoziiert

7.2 Wende ‒ Aus dem Gleichgewicht und Wegorientierung

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(Zeeck et al., 2010, S. 74). Dies dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass es Charlotte gelang, ohne weitere Maßnahmen den Weg aus der Anorexie zu finden (Charlotte, T102‒T121). Eine Antwort auf die Frage, welche konkreten Erlebnisse abgewendet werden sollten, ist in Rebeccas Erläuterung zu finden. Ihre Angst, in der Klinik die Kontrolle über sich und ihr Gewicht abgeben zu müssen, veranlasste sie dazu, den Weg alleine zu gehen, indem sie „wieder Gewicht aufgebaut“ (Rebecca, T167) habe. Angesichts der starken Kontrolltendenz der Betroffenen und der Stabilisierungsfunktion der Essstörung ist diese Erklärung gut nachvollziehbar. Somato-psycho-soziale Einschränkungen Die von den Personen genannten Einschränkungen betreffen, zusätzlich zu sichtbaren äußeren Abweichungen und Veränderungen im Verlauf, das gesamte Selbst und sind als Selbst-Einschränkungen zu bezeichnen. Diese umfassen das psychosomatische Befinden sowie die Selbst-Beziehung. Eine psychosomatische bzw. somatopsychische Auswirkung zeigt sich beispielsweise in der geringen körperlichen Kraft durch die Nahrungs- und Gewichtsreduktion, die wiederum die Stimmung und das (körperliche) Wohlgefühl beeinträchtigen kann (s. Kapitel 2.2.3). Mit der Essstörung geht somit nicht nur der körperliche Hunger, sondern auch der „Seelenhunger“ (Tamina, 2255) einher. Eine (potentielle) Gewichtszunahme löst große Angst aus, die in Form der Angst vor (zu viel) Nahrungsaufnahme auftritt und als eine Angst vor Fülle interpretiert werden kann (u. a. Ina, T288‒T290, T531‒T541, T779‒T784). Außerdem würde eine körperliche Ausdehnung dem dünnen Körperideal und der damit verbundenen Anerkennung für die dafür aufgebrachte Disziplin entgegenstehen (s. Kapitel 2.3.4). Vor allem aber wäre damit, wenn die Essstörung ein (noch) aufrechter Teil des Selbst ist, zumindest ein teilweiser Selbst-Verlust verbunden (s. Kapitel 2.3.2). Die Selbst-Einschränkung durch die Essstörung wirkt sich wiederum auf die Beziehungen zum Umfeld aus. Die Auseinandersetzung mit Essen und Gewicht bindet viel Aufmerksamkeit, womit der soziale Rückzug einhergeht. Umgekehrt können derartige Gedanken und Verhaltensweisen umso präsenter sein, je mehr sich die Betroffenen zurückziehen. „Ich glaube, es ist deswegen aufgefallen, weil ich mich immer mehr aus dem Familienleben zurückgezogen habe. Also ich bin dann einfach viel im Zimmer gewesen“ (Frauke, 15), so Frauke über die Zeit der Essstörung. Ina beschreibt selbiges als: „ein bisschen von zu Hause abgeschottet“ (Ina, T125). Weniger hingegen zog sich Frauke in der Schule zurück. Dies könnte einerseits mit den dafür geringeren Möglichkeiten im Klassenverband, andererseits mit einem größeren Wohlgefühl im Vergleich zu ihrem Elternhaus zusammenhängen. Die Gesprächspersonen erzählten zwar auch von überdauernden Freundschaften, wenngleich durch die Essstörung Spannungen auftreten können, häufiger jedoch bestehen Schwierigkeiten in der Beziehungsgestaltung. Aufgrund der körperlichen Schwäche sowie der Vermeidung von gemeinsamen Mahlzeiten bei gleichzeitiger Fokussierung auf das Essen bestehe wenig Interesse am Kontakt zu anderen Menschen: „Es sind so viele Sachen, auf die du zu der Zeit keinen

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Wert legst“ (Melina, 211). Dementsprechend konnte Melina beispielsweise die Unterstützung ihrer Freunde und Freundinnen nicht wertschätzen (Melina, 671, 677). In der folgenden Aussage von Anika wird der Zusammenhang zwischen Rückzug und Geheimhalten bzw. Leugnen der Essstörung deutlich, ebenso ihr heutiges Unverständnis für ihr damaliges Verhalten: Ich hab sehr, sehr dicht gemacht in der Zeit. Also in der Zeit bis zu einem gewissen Punkt, auch noch als ich so 44 oder 43 Kilo hatte, also als ich da voll drin war, hab ich ziemlich dicht gemacht. Da hab ich's auch noch total geleugnet oder einfach gesagt: „Ja, ist halt so. Hab halt irgendwie abgenommen, hab Stress“, oder weiß ich nicht. Einfach totalen Mist geredet und mich auch total zurückgezogen. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, war das schon echt sehr heftig. Gerade mit meiner Familie oder so, wie ich da gecuttet habe. Später auch, wenn ich laufen war, wollte ich irgendwann die Gesellschaft gar nicht mehr und war dann meistens alleine joggen. Ein paar wenige Freundinnen hatte ich, da hat's echt noch ziemlich gut geklappt trotz allem irgendwie. Also Freundinnen habe ich nicht unbedingt verloren dadurch, das kann ich nicht sagen. (Anika, 27‒29)

Rebecca äußert einen weiteren Grund für ihren Rückzug: Sie beschreibt sich selbst als schüchtern, sodass ihr zwar oberflächliche Gespräche leicht fallen, jedoch tiefe Verbindungen erst langsam entstehen (Rebecca, T533‒T538). Doch auch bei ihr wurde die Zurückhaltung durch die Essstörung verstärkt. Dies erklärt sie damit, dass Essen „etwas extrem Soziales“ (Rebecca, T647) sei und sie daher nach Ausreden gesucht habe, um von den Freundschaftstreffen fernbleiben zu können. Dadurch wiederum wurden die anderen umso weniger auf ihre Problematik aufmerksam, die Essstörung blieb somit geheim (Rebecca, T646‒T664). Den Hauptgrund für den Rückzug sieht sie im Vermeiden von Essen und weniger im fehlenden Interesse an sozialen Kontakten (Rebecca, T646f.). Demnach steht nicht die Ablehnung anderer Menschen im Vordergrund, sondern das Essen hält vom sozialen Leben ab, so wie auch Melina davon spricht, dass die Essstörung „dazwischen“ (Melina, 645) stand. Der Rückzug im Rahmen der Essstörung kann sich auch gegenüber Tieren zeigen: Anika erzählt vom Versorgen ihrer Ratten, die sie sich in der Erkrankungszeit „angeschafft“ (Anika, 941) habe, um Fürsorge für diese übernehmen zu können. Die Anwesenheit ihres Hundes und ihrer Katzen konnte sie in dieser Zeit nicht ertragen, da sie sich aufgrund ihrer fordernden Kontaktaufnahme „bedrängt“ (Anika, 991) fühlte. Besonders der Hund habe „aktiv die Nähe gesucht“ (Anika, 987), womit Anika überfordert war. Die Gegenwart ihres Pferdes hingegen empfand sie immer als sehr wohltuend, allerdings konnte sie sich aufgrund ihrer körperlichen Schwäche nicht ausreichend um dieses kümmern. Das sei für sie sehr schwierig gewesen, was sie damals jedoch verdrängt habe (Anika, 975). Zumindest gegenüber ihren Ratten konnte sie dem Bedürfnis nach Fürsorge nachgehen, während sie sich selbst jedoch vernachlässigte: Ich hab mir dann Ratten angeschafft ‒ hatte ich früher schon mal, aber ein Rattenbaby ‒, hab die dann gefüttert und total umsorgt. Ich glaube, das war auch eine unglaubliche Projektion auf diese Tiere, weil ich unbedingt Kleintiere in dem Moment brauchte. Ich hatte zwar das Pferd, und wir hatten auch einen Hund, aber ich brauchte

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unbedingt irgendwas, worum ich mich kümmern konnte; was meine Fürsorge brauchte. Das war sehr, sehr wichtig in dem Moment. (Anika, 941‒943)

Neben den beschriebenen sozialen Einschränkungen wird von den Personen als Verlust durch die Essstörung vordergründig der zeitliche Aspekt thematisiert. Jene, die an Bulimie erkrankt waren, führen außerdem den finanziellen Aufwand für den Kauf von Lebensmitteln an. Auch Schulzeiten durch die Abwesenheit, vor allem aufgrund von Krankenhausaufenthalten, gingen verloren (u. a. Alice, T144f.). Dieser Aspekt gewichtet gerade bei leistungsorientierten Menschen stark, allerdings wird der Verlust an Lebenszeit stärker thematisiert. Es wird von „verkorksten“ (Marina, 764) Jahren durch die Essstörung gesprochen, denn es sei „so schade um die Zeit“ (Marina, 764). Melina meint, sie habe dadurch „so viel versäumt“ (Melina, 211), das sie sonst in der Pubertät, zusammen mit Freunden und Freundinnen erleben hätte können. Jedoch nahmen die Handlungsabläufe und „ununterbrochenen“ (Marlies, 518) Gedanken ans Essen sehr viel Zeit in Anspruch. Anita ist im Interview spürbar traurig, weil sie „so lange Zeit wirklich verschwendet“ (Anita, 1042) habe: „Es hat mir wirklich Jahre meines Lebens gekostet“ (Anita, 50). Ihre Aussage war im Gespräch sehr berührend und erinnert daran, dass die Essstörung letztlich nicht nur Jahre, sondern überhaupt das Leben kosten kann. Macht der Essstörung Anhand der Darstellung des Leidensdrucks und der Einschränkungen durch die Essstörung werden wesentliche Merkmale der Essstörung deutlich: ihre Macht über die Betroffenen und deren Umfeld; ihre Gewalt; die Gefahr, die von ihr ausgeht. Berger nennt zwei Merkmale zur Differenzierung zwischen Macht und Gewalt: „Erstens: Das Nein der Gewalt ist entweder ein definitiver Akt oder erzwingt ein bestimmtes Verhalten, bedingungslosen Gehorsam oder Flucht. Macht dagegen scheint auf so etwas wie Zustimmung zu beruhen. Und zweitens: Gewalt erschöpft sich im negativen Akt ihrer Ausübung, in einem gewalttätigen Nein, mag dieses Nein auch dauerhaft wirken, etwa in Gestalt einer Mauer. Macht dagegen bringt das Verhalten hervor, um das es ihr geht; sie ist in diesem Sinne schöpferisch“ (Berger, 2009, S. 10). Demnach ist die Macht der Essstörung eher in der frühen Erkrankungsphase zu sehen, da die Betroffenen die Problematik noch nicht erkennen und durch die Fokussierung auf Essen und Gewicht somit im Sinne der Essstörung, also zustimmend, handeln. Mit der Bereitschaft zur Überwindung geht eine verstärkt gewaltsame Vereinnahmung durch die Essstörung, der die Betroffenen nun mit einem stärkeren Nein gegenübertreten, einher. Möglicherweise wird aber auch erst rückblickend, im Laufe des Überwindungsprozesses, dieses Nein als ein solches erkannt und die Essstörung als gewaltsam empfunden. Die Macht der Essstörung zeigt sich aufgrund der Beschreibungen der Gesprächspersonen in folgenden Formen: als Bindungsmacht durch die Vereinnahmung der Betroffenen, ähnlich einer Suchtdynamik (u. a. Vaz-Leal et al., 2017; s. Kapitel 2.2.3); außerdem als Handlungsmacht in Form der Handgreiflichkeit, Gefahr und Feindschaft.

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Bindungsmacht der Essstörung: Von der Stabilisierung zur Vereinnahmung der Betroffenen Die Vereinnahmung von der Essstörung wird in zahlreichen Beispielen der Gesprächspersonen deutlich: Es sei eine „Parallelwelt“ (Alena, 1769), „eigene Welt“ (Anika, 77), „andere Welt“ (Marina, 168) gewesen, in der sie lebten. So wird die Nahrungsaufnahme zwar einerseits in der Anorexie verringert bzw. die Nahrung in der Bulimie entwertet, andererseits besteht eine starke Bindung zum Essen (s. Kapitel 2.3.2). Dies schildert Anika eindrucksvoll: Was mir sehr in der Erinnerung hängengeblieben ist, das war heftig, so diese Symbiose mit Lebensmitteln. Einfach stundenlang durch Lebensmittelläden zu gehen, und am Ende wusste ich auch, dass jeder sieht, mit mir ist was nicht in Ordnung. Aber es war mir irgendwann egal. Stundenlang Lebensmittel anzuschauen oder, was ganz schlimm war, ich hab Lebensmittel gekauft und hab sie unten in den Keller getan, damit sie oben keiner gegessen hat. Weil es war für mich ganz furchtbar, wenn ich gedacht hab: ‚Okay, ich esse dann das und das Lebensmittel‘, und dann hat es zum Beispiel mein Bruder weggegessen. Das war für mich echt ganz furchtbar. Also das stand eigentlich in überhaupt keinem Verhältnis zu dem, was es letztendlich war. Das war dann auch nur meins. Also wenn irgendwer was abhaben wollte oder so, habe ich mir gedacht: ‚Ja hey, jetzt erlaube ich mir das schon, und jetzt willst du auch noch, dass ich dir was abgebe!‘ Weil ich dann nicht in der Lage war, mir irgendwas anderes zu holen, habe ich mir gedacht: ‚Jetzt nimmst du mir auch noch das weg!‘ Also das war ganz schwierig. (Anika, 833‒843; Hervorhebungen A. K.)

In diesem Zitat wird die enge Beziehung zum Essen deutlich, während zwischenmenschliche Beziehungen und Nähe von anderen Menschen kaum zu ertragen sind. Umgekehrt verstärkt sich mit dem Alleinsein wiederum die Vereinnahmung von der Essstörung. Hierzu tragen ebenso das Verheimlichen der Problematik und das Schweigen der Betroffenen sowie des Umfeldes bei. Außerdem zeigt sich in dieser Textpassage die hohe Bedeutung für Anika, das Eigene zu finden und nicht loslassen zu wollen, worin sich die Essstörung bzw. das Essen als Besitz widerspiegelt. Mit der Vereinnahmung von der Essstörung lässt sich die Selbst-Einschränkung der Betroffenen erklären, wodurch sich umgekehrt die Essstörung wiederum weiter ausdehnen kann. Diese Einschränkung kann in ihrem Ausmaß bis zum Gefühl des SelbstVerlustes ausgeprägt sein und auch mit Bindungen zum Umfeld in Zusammenhang stehen. So spricht Tamina davon, „Nahrung für andere“ (Tamina, 2269) gewesen zu sein und dies zum Teil auch heute noch so zu empfinden. Sie bezeichnet ihre Beziehung zur Mutter als „schädliche Symbiose“ (Tamina, 401), dementsprechend als zu nahe, und erinnert damit an Anikas Beschreibung einer symbiotischen Beziehung zu Lebensmitteln. Einerseits bringt die Essstörung die Personen somit in Richtung Selbst-Verlust, andererseits kann sie ein Versuch der Selbst-Abgrenzung sein. Allerdings ist darin ein Widerspruch erkennbar: Es soll das Selbst abgegrenzt werden, während es von der Essstörung vereinnahmt und eingeschränkt wird. Das Ausmaß der Vereinnahmung ist in Abhängigkeit der Essstörungsform unterschiedlich groß und zwar stärker bei der Bulimie als bei der Anorexie: Die Personen haben

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sich „nicht mehr zügeln“ (Anita, 265) können, seien in einen „Essensstrudel“ (Marianne, 371) geraten, „ins Essen verfallen“ (Marlies, 520). Daher sei „die Bulimie schwerer zu besiegen als die Magersucht“ (Alena, 35). Während Alena mit beginnender Anorexie und dann Bulimie von „Rausch“ (Alena, 207) spricht, erlebte Anika durch die Anorexie eine „Trance“ (Anika, 833). Jedenfalls wird bei beiden der starke Einfluss der Essstörung deutlich. Somit gibt die Essstörung zwar Halt, aber gleichzeitig verlieren die Betroffenen ihren Halt im Leben. Eine solche Vereinnahmung kann zudem durch den Austausch mit anderen Betroffenen verstärkt werden, etwa in Internetforen wie ProAna und Pro-Mia (s. Kapitel 2.3.4). Die Impulsivität und Unkontrollierbarkeit der Essanfälle und des Erbrechens rufen ein Gefühl der Ohnmacht hervor, das der vermeintlichen und erwünschten Kontrolle der Betroffenen entgegensteht. Karin beschreibt Kontrolle und Kontrollverlust in Form eines Alles-oder-Nichts-Gesetzes (Karin, T1603‒T1608). Zudem habe sie sich besonders nach dem Tod ihrer Großmutter, der für Karin sehr schmerzhaft war, mit Alkohol „so weggeschossen“ (Karin, T282), wenn sie mit ihren Freunden und Freundinnen am Wochenende ausging. Dies habe sie mit dem „Vorsatz“ (Karin, T296) getan: „Ich will nichts mehr spüren. Ich will einfach nur, dass das [der Schmerz] weggeht“ (Karin, T296f.). Karin spricht hier von einem „sehr starken Wechselspiel“ (vgl. Karin, T1806) jenseits eines Gleichgewichts: „Sehr bipolar in der Richtung. Extrem viel, extrem wenig, extrem viel, extrem wenig“ (Karin, T1808f.). Auch in ihrem Denken spiegelte sich, unter anderem durch die Einteilung in gut und schlecht, diese Dichotomie wider. Das folgende Zitat legt nahe, dass das von Karin beschriebene Wechselspiel mit ihrer damaligen SelbstDistanz, die sich in der strengen Selbst-Kontrolle und dem fehlenden Zugestehen von Ruhephasen zeigte, in Zusammenhang stand (vgl. Anja, T203): Ich persönlich hab immer das Gefühl gehabt, dass die Abnehmphasen, die gesunden Phasen, die Lernphasen, das Straight forward ‒ da ist was weitergegangen. Da hab ich wirklich alles im Griff gehabt. Da ist es gerannt wie am Schnürchen, und da hat's keine Fehler gegeben. Lange Zeit war ich immer überzeugt davon: So sollte das Leben sein, so sollte es rennen. Da habe ich alles im Griff, da habe ich alles unter Kontrolle. Ich hab immer versucht zu verleugnen, dass es diese schlechten Phasen halt auch gibt; in denen ich einfach, ja, nichtsnutzig war und nichts hingekriegt hab mehr oder weniger. In denen ich dieser Versager war, der im Prinzip den ganzen Tag einfach nur auf der Couch gelegen ist und nicht aufstehen hat können. (Karin, T1810‒T1833)

Im Fall der Bulimie verstärkt sich die Ohnmacht noch zusätzlich, da diese aufgrund des meist unauffälligen Gewichts weniger sichtbar und somit leichter zu verheimlichen ist als die Anorexie. Dadurch verringert sich die Wahrscheinlichkeit, dass der Macht der Essstörung eine äußere Kraft als Unterstützung für die Betroffenen, beispielsweise durch vertraute Personen und/oder Therapeuten bzw. Therapeutinnen, entgegenwirken kann. Der meist empfundene Ekel gegenüber der Bulimie könnte zum Teil in dieser erlebten Ohnmacht begründet sein. Hingegen gilt die Anorexie unter den Betroffenen als die „reine“ Form der Essstörung: „Ana ist schön, und Ana ist rein!“ (Anita, 239). Grete erzählt zwar auch von einer engen Bindung an das Essen, meint jedoch, dass „grad das Brechen einen Reiz hat“ (Grete, T1253f.). Es sei befreiend gewesen und „ein unbeschreibliches Gefühl, das mit nichts anderem vergleichbar ist“ (Grete, T28‒T30).

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Dabei wird einerseits die reinigende Funktion des Erbrechens (Ettl, 2006b), andererseits das Lustempfinden deutlich (Nardone, 2003, S. 79; zitiert nach Gugutzer, 2012, S. 183). Ettl spricht auch von einem „hypomanischen Zustand“ (Ettl, 2013, S. 193; s. Kapitel 2.3.2). Die Essstörung kann sich in ihrer Vereinnahmung nicht nur als aggressiv, sondern auch als bedürftig oder verlangend erweisen, wie es bei Alena im folgenden Zitat deutlich wird: „Ich glaube, ich habe einfach irgendwas gemacht, damit ich was mache, weil ich keinen Plan gehabt habe, wohin mein Leben geht. Die [Essstörung] hat irgendwie so viel gebraucht“ (Alena, 75‒81). Sie beschreibt damit die Essstörung als ein bedürftiges Kind, das es zu umsorgen gilt, während sie ihre Orientierung im Leben, hier in beruflicher Hinsicht, verlor. Angesichts des ausgeprägten Verantwortungsgefühls der Betroffenen, auch gegenüber ihren Eltern, übernehmen sie bildlich gesprochen die Mutterrolle für die Essstörung, die sie jedoch letztlich umgekehrt beherrscht. Einen Hinweis auf die Mutter-Kind-Beziehung im Zusammenhang mit der Bedürftigkeit gibt Bianca, wenn sie über sich selbst als Kind erzählt, und meint, viel „gebraucht“ (Bianca, 312, 338) zu haben ‒ ähnlich, wie später die Bulimie sie vereinnahmte. Trotz dieser starken Bindung an die Essstörung blieb bei den Personen mit eigenen Kindern das Verantwortungsbewusstsein als Mutter, wie allgemein gegenüber anderen Menschen, aufrecht. Anja habe für ihre Kinder „immer normal gekocht“ (Anja, T791f.) und nur für sich selbst „selektiert“ (Anja, T791). Allerdings wird gleichzeitig die Selbst-Distanz umso deutlicher, wie in Karins Beschreibung über das Ausmaß ihrer damaligen Ablehnung bis hin zum Hass sich selbst gegenüber: Ich war echt an einem Punkt, an dem ich für mich selber Verachtung [empfunden habe]. Oder noch schlechter. Ich weiß nicht, ob's ein noch schlechteres Wort als Verachtung gibt. Ich hab ja eigentlich gewusst, wie ich's machen möchte, und im Endeffekt habe ich genau das Gegenteil davon gemacht. Also ich war einfach Abschaum in meinen eigenen Augen. Ich meine, damals mit der ersten Abnehmphase, da hab ich mir mehr oder weniger gesagt: „Ich bin jetzt ein neuer Mensch!“ Und dieser alte Mensch, der war faul und schlecht und träge und hat alles falsch gemacht. Es war irgendwie so ein Zwiespalt. Ich hab eigentlich so genau gewusst, wo ich hin will: Ich wollte einfach dünn sein. Ich wollte genau nach diesen Regeln leben, von denen ich geglaubt habe, dass es gut ist, und, ja, mich einfach strikt an einen Plan halten, und ich konnte es einfach nicht. (Karin, T642‒T664)

Der Zwiespalt bestand somit zwischen dem alten Menschen, den Karin ablehnte, und dem neuen Menschen, den sie als Ziel vor Augen hatte oder sich vorgab, sein zu müssen. Letzterer blieb für sie jedoch ein Wunschbild. Durch die „selbstzerstörerische Ader“ (Karin, T728) verlor sie damals den Bezug zu sich selbst: „Der Körper, in dem ich da gelebt habe, war einfach nicht mehr da. Ich habe irgendwie alles abgetötet, jedes Gefühl, das von meinem Körper, das von mir gekommen ist. Es ist nichts mehr durchgedrungen“ (Karin, T747‒T753). Die Essstörung hatte sie gänzlich vereinnahmt ‒ die Macht der Essstörung ging mit ihrer eigenen Ohnmacht einher.

7.2 Wende ‒ Aus dem Gleichgewicht und Wegorientierung

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Handlungsmacht der Essstörung: Vom Schutz zur Gefahr Die Handlungsmacht der Essstörung in Form der Handgreiflichkeit ist eng mit deren Beschreibung als Person verbunden. Es wird vom Kampf und vom Feind gesprochen sowie die Essstörung, insbesondere die Bulimie, immer wieder als bedrohlich und agierend dargestellt: Die Krankheit hat „zugeschlagen“ (Alena, 809); „die Bulimie hat mich echt so in der Hand gehabt“ (Alena, 761); „da war dann schon das Bulimische, die Bulimie eigentlich, die mich so gequält hat“ (Bianca, 119). Dabei wird die Fremdbestimmung als eine befehlende (Anika, 269) oder verführende, manipulierende Stimme gezeichnet: „Ich habe gewusst, okay, gut wäre, [in der Therapieeinrichtung] zu bleiben, meine Krankheit hat aber gesagt: ,Alena, schauen wir, dass wir in die Außenwohnung kommen, da können wir wieder machen, was wir wollen!‘ “ (Alena, 931). Alena stellt hier die Essstörung als eine Person dar, die von einem „wir“ spricht und sich wie eine Verbündete der Betroffenen zeigt. Die betreute Wohnung ist für die Essstörung insofern von Vorteil, da sich diese durch die geringere Präsenz von Betreuern und Betreuerinnen weiter ausbreiten kann. In den zuvor genannten Textpassagen wird die Gefahr, die von der Essstörung besonders aufgrund ihrer Handgreiflichkeit ausgeht, deutlich: Sie schlägt zu, sie quält. So spricht Grete von „Anfällen“ (vgl. Grete, T76), „Attacken“ (Grete, T14, T22), von „Brechattacken“ (Grete, T51, T239) im Rahmen ihrer Bulimie. Auch die früheren emotionalen Ausbrüche ihres alkoholkranken Vaters bezeichnet sie als Attacken, nämlich als „Aggressionsattacken“ (Grete, T138). Auch wenn sie nicht denselben Ausdruck für ihr vergangenes Empfinden von Selbst-Hass verwendet, so beschreibt sie dieses ähnlich einer Attacke: ihre auf sich selbst gerichtete Wut und ihre Beschimpfung als verbale Attacke (Grete, T172‒T175). Die Gefahr zeigt sich außerdem in der Verwendung von Formulierungen, die auf eine Rutschbahn bzw. auf Feuer, vor allem in der Anfangsphase der Essstörung, hinweisen. Das Abrutschen und Entgleiten erinnern an einen glatten Wegabschnitt, während Anita das kurze Wiederauftreten der Essstörung als „hat's wieder aufgeflammt für ein paar Monate“ (Anita, 382) bezeichnet. Hier verwendet sie außerdem die neutrale Formulierung („es“) und die passive Form, wodurch die Gefährlichkeit deutlich wird: Die Essstörung zeigt sich neutral, ohne konkret erkennbar zu sein; die Passivität spiegelt die Ohnmacht der Betroffenen wider. Beide Aspekte lassen die Essstörung in ihrem Auftreten ungewiss und damit mächtig erscheinen. Doch nicht nur mit ihrer Präsenz im Leben der Betroffenen ist die Essstörung eine Gefahr, sondern auch im Hinblick auf spätere körperliche Beschwerden. So führt Alena ihre heutigen Rückenschmerzen auf die Essstörung zurück. Allerdings können hier auch andere Einflüsse beteiligt sein. In Zusammenhang mit der Gefahr wiederum steht das Bild des Feindes, das in den Gesprächen im Hinblick auf die Essstörung, das Essen, die Selbst-Beziehung und Personen im Umfeld vorkommt. So sieht es Anika als wichtig für die Überwindung, in der Essstörung „den Feind zu erkennen“ (Anika, 1093), um sich von ihr bzw. von diesem „verabschieden“ (Anika, 1095) zu können. Ebenso wie die Essstörung wird das Essen als „Feind“ (Marlies, 50) beschrieben, doch auch neutrale Begriffe für das Essverhalten, wie „Zeremonie“ (Tamina, 33) oder „Idee“ (Bianca, 7), kommen in den Gesprächen vor.

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Während mit Bezug zur Phase der Erkrankung vom Kampf mit der Essstörung gesprochen wird, ist es auf dem Weg aus der Essstörung der Kampf gegen sie. Daran wird die Distanzierung von der Essstörung im Rahmen der Überwindung deutlich. Die Gesprächspersonen erwähnen weitere Kampfschauplätze und zwar in Form des Vergleichs zwischen Mitpatientinnen: „Irgendwann war's so mühselig, weil's immer so unterschwellige Kämpfe am Tisch waren“ (Anika, 139). Durch die Macht der Essstörung zeigen die Betroffenen ein Kampfverhalten und damit jenes Verhalten, „um das es ihr [der Macht] geht“ (Berger, 2009, S. 10). In der gegen das Selbst gerichteten Aggression und Verletzung im Rahmen der Essstörung spiegelt sich ebenso eine Feindschaft wider. Außerdem erzählt Anika von einer Situation, die sie kurz vor dem Gespräch während eines mehrtägigen Aufenthalts in ihrem Elternhaus erlebte: Als ich zu Hause war, da haben meine Eltern ein bisschen Druck gemacht, und da habe ich schon gemerkt, dass die Gedanken wieder ziemlich krass wurden, von wegen: Wie komme ich drum herum oder auch auf Ideen zu kommen, Essen zu entsorgen oder so. Das ich dann letztendlich nicht gemacht habe, aber so diese ganzen Spielchen halt irgendwie. Das ist überhaupt so, dass ich meine Eltern schon wieder so als Feind erlebt habe, wo ich dann irgendwie dagegen angehen muss. Wobei ich letztendlich dann nicht so gehandelt habe, wie es mir die Stimme vielleicht irgendwie befohlen hat. Also da ist auf keinen Fall mehr unbedingt die Handlung letztendlich wirklich so extrem, wie vielleicht manchmal die Gedanken aufkommen. Da kann ich dann eigentlich schon ganz gut gegen vorgehen. (Anika, 269‒271; Hervorhebungen A. K.)

In welcher Form ihre Eltern „Druck gemacht“ (Anika, 269) haben, führt Anika nicht näher aus. Jedenfalls rückte die Essstörung dadurch im Beziehungskontext BetroffeneEssstörung-Umfeld näher zu Anika und löste in ihr vermehrt Gedanken ans Essen sowie ein feindliches Empfinden und Verhalten aus, indem sie gegen ihre Eltern „angehen“ (Anika, 269) habe müssen. Während dieses Angehen primär mit einem Kampf gegen einen Widerstand assoziiert werden kann, ist das Vorgehen zwar auch ein Handeln gegen ihre Gedanken, aber mit größerem Vorwärtsimpuls. Dieser war einerseits auf ihre Eltern und andererseits auf die Essstörung ausgerichtet, sodass sie anders als früher zu reagieren vermochte. Dass Anika im Hinblick auf die Essstörung von einer Stimme spricht, ähnlich einer Off-Stimme bei Filmaufnahmen, könnte ein Hinweis auf eine weitere Entfernung zu dieser im Vergleich zur Erkrankungszeit sein. Die Eltern werden von Anika auf die gleiche Ebene mit der Essstörung, auf die Ebene des Feindes, gestellt und als bedrohlich erlebt. Mit ihrem zweiten Gesicht zeigt sich die Essstörung somit als Feind, da sie einschränkt und behindert, mit ihrem ersten Gesicht als Freund, indem sie einen Ausweg aus der schwierigen Situation verspricht (Anika, 1095; s. Kapitel 7.1.3). Macht und Ohnmacht des Umfeldes Wie sich die Essstörung den Betroffenen mit ihren zwei Seiten zeigt, kann sie auch gegenüber dem Umfeld stabilisierend sowie destabilisierend wirken und durch ihre Macht zur Ohnmacht der Bezugspersonen führen. Ein Beispiel hierzu ist Fraukes Vater, der sich trotz seiner Erfahrung als psychiatrischer Krankenpfleger ohnmächtig fühlte.

7.2 Wende ‒ Aus dem Gleichgewicht und Wegorientierung

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So blieb Frauke die Zugfahrt mit ihren Eltern und ihrer Schwester zum Erstgespräch an der stationären Therapieeinrichtung als „Katastrophe“ (Frauke, 47, 51) in Erinnerung. Nachdem eine unmittelbare Aufnahme, die ihr Vater bevorzugt hätte, aus organisatorischen Gründen nicht möglich war, erfolgte diese einen Monat später, am Geburtstag ihres Vaters (Frauke, 51‒53). Nicht nur Eltern, sondern auch Geschwister können überfordert sein, insbesondere wenn sie eine stabilisierende Aufgabe für ihre Eltern übernehmen, um diese in ihrer Sorge um die betroffene Schwester zu entlasten. Ohnmacht von Menschen im Umfeld äußert sich mitunter als Macht gegenüber den Betroffenen, wobei Alena, die im Folgenden zitiert wird, bereits im Vorfeld ähnliche Verletzungen erfahren hatte. Dennoch kommt auch ihr Verständnis für ihren Vater zum Ausdruck: Das habe ich in der Essstörung schon noch einmal so präsentiert gekriegt. Ich weiß, der Papa hat nicht anders können, aber diese Meldung, die sitzt halt auch, dieses: „Ja, wenn du stirbst, bist es eh du, wir leben weiter!“ Sicher, diese Hilflosigkeit, wenn du siehst, deine Tochter isst einfach nichts. Aber das habe ich damals einfach nicht nehmen können. (Alena, 583‒585)

Bestimmendes Verhalten der Eltern erlebten auch Nina und Rebecca. Ninas Vater übte nach ihrem Krankenhausaufenthalt im Hinblick auf das Essen viel Druck auf sie aus, indem er ihr, anders als ihre Mutter und entgegen dem Rat der Therapeuten und Therapeutinnen, wenig Selbst-Verantwortung überließ. Auch wenn er als Sozialarbeiter Erfahrungen im psychosozialen Bereich hatte (Nina, T44‒T49), dürfte er in Bezug auf seine Tochter trotz seines Wissens ohnmächtig gewesen sein: „Mein Papa war halt immer so: Nein, er weiß alles besser! […] Weil er eben gedacht hat, er kann das lösen, das Problem“ (Nina, T599f., T604f.). Diese Schwierigkeiten bringt Nina in Zusammenhang mit dem heute noch distanzierten Verhältnis zwischen ihnen. Nina geht nun von sich aus auf Abstand, entgegen der früheren Einschränkung von Seiten ihres Vaters durch das fehlende Zugestehen von Selbst-Verantwortung (Nina, T585‒T605, T659‒T667). Bei Rebecca nahm hingegen die Mutter bereits im Vorfeld der Essstörung eine bestimmende Position ein, die jedoch während Rebeccas Betroffenheit noch deutlicher wurde. In einem Familienurlaub eskalierte die Situation ‒ es habe ein „Riesentheater“ (Rebecca, T138) gegeben ‒, da die Mutter sie immer wieder mit der Essproblematik konfrontierte. Rebecca spricht davon, „gezwungen“ (Rebecca, T137, T144) worden zu sein, sowohl zum Essen und zur Gewichtszunahme als auch zur Psychotherapie, wenngleich es bei wenigen Stunden blieb. Dabei wandte sie sich in ihrer zuvor erlebten Ohnmacht sogar von sich aus an eine Beratungsstelle, ihre Mutter habe allerdings sogleich „eingegriffen“ (Rebecca, T118). Die Mutter wartete damit nicht auf den stimmigen Zeitpunkt und die Bereitschaft ihrer Tochter, wohl auch aufgrund ihrer eigenen Ohnmacht. Trotz der zum Teil bestimmenden Vorgehensweise der Eltern zeigen sich Schuldgefühle bei den Gesprächspersonen, jedoch auch auf Seiten der Eltern, die daher die „beste Behandlung“ (Bianca, 19) für ihr Kind finden möchten. Neben der Ohnmacht sind diese Schuldgefühle von Menschen im Umfeld ebenso ein Zeichen ihrer Destabilisierung. Marlies' Mutter war erschüttert, als Marlies ihr erst nach der Zeit der Essstörung von ihrer Betroffenheit erzählte, und fühlte sich als „schlechte Mutter“ (Marlies, 58). Marlies ent-schuldigte sie jedoch: „Ich hab ihr gesagt, nein, das hat damit nichts zu tun,

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weil sie mir immer alles ermöglicht hat, was ich wollte“ (Marlies, 60). Bei Frauke wird ihr Mitgefühl für die belasteten Eltern deutlich: „Die waren schon so arm, die waren einfach schon so verzweifelt“ (Frauke, 47). Nicht nur mitfühlend, sondern auch verteidigend zeigen sich die Gesprächspersonen, besonders im Hinblick auf ihre Eltern, selbst bei (früheren) schwierigen Verhältnissen (u. a. Ina, T813‒T867; Jasmin, T393‒T401). Dies könnte in Zusammenhang mit früher erlebten Schuldzuschreibungen stehen, wie es Tamina auf eine manipulative Weise von Seiten ihres Therapeuten gegenüber ihren Eltern erlebte. Ein solches Ent-schuldigen ist auch in Bezug auf andere Personen erkennbar, beispielsweise bei Ina, als sie vom schwierigen Einfluss ihres ersten Freundes erzählt und dazu meint: „Also ich will ihm jetzt nicht die ganze Schuld geben“ (Ina, T69). Über Verhaltensweisen von Menschen im Umfeld, meistens der engeren Familie, die nicht unmittelbar im Zusammenhang mit der Essstörung stehen, äußern sich die Gesprächspersonen entdramatisierend, jedoch ohne diese zu verdrängen. Sie sehen sehr wohl auch die Verantwortung der Beteiligten: „Die Mama hat's sicher nicht leicht gehabt. Heute sage ich: Es rechtfertigt trotzdem nicht alles“ (Claudia, T609f.). Grete drückt sich heute, trotz ihrer früheren schwierigen Erfahrungen mit ihren Eltern, verständnisvoll so aus: „Sie haben mir das gegeben, das sie geben haben können. Mehr haben sie mir, als ich zehn, elf war oder fünfzehn, nicht geben können. Sie haben sicher immer das Beste für mich wollen, und die Überzeugung, die habe ich auf alle Fälle“ (Grete, T841‒T844; vgl. Jasmin, T1923‒T1926). Die Überforderung des Umfeldes wiederum ist ein Beitrag zu dessen Rückzug und schränkt somit das Ausmaß an Unterstützung für die Betroffenen ein, das bereits zuvor und in Lebenssituationen jenseits der Essstörung zu gering gewesen sein kann. Die Essstörung wird dadurch noch mehr als Stabilität gebraucht und der Kreislauf des Stabilisierens und Destabilisierens auf beiden Seiten, nämlich auf Seiten der Betroffenen sowie des Umfeldes, verstärkt. Vom Leugnen zur Veränderungsbereitschaft Lange Zeit, bis zur Zuspitzung, gestehen sich die Betroffenen die Essstörungsproblematik nicht ein ‒ sich selbst sowie anderen Menschen gegenüber nicht (s. Kapitel 7.1.3): Ich glaube, ich habe die Sachen gemacht, die man machen muss: studieren, arbeiten gehen, so ein bisschen soziales Netz, ein bisschen ei, ei machen draußen und so wirken, als täte man es eh im Griff haben. Aber im Endeffekt war ich komplett fertig mit der Welt. (Alena, 155)

Dieses Leugnen kann von Seiten der Betroffenen noch aufrecht sein, während das Umfeld die Problematik bereits erkennt (Silvia, T34‒T37, T1355‒T1365). Auch bei allmählicher Bewusstwerdung des Leidensdrucks sind die Betroffenen zunächst überzeugt, die Essstörung alleine überwinden zu können. Dies stellt sich jedoch oft als schwierig heraus (u. a. Charlotte, T864‒T866). Durch die zunehmend belastende Situation können Hinweise des Umfeldes auf die Problematik leichter angenommen werden und zur Selbst-Reflexion anregen. Dadurch und vor allem durch den Leidensdruck sahen einige Personen die Notwendigkeit der Entscheidung für eine Veränderung gegeben. Diese erinnern sie als einen wichtigen

7.2 Wende ‒ Aus dem Gleichgewicht und Wegorientierung

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Bestandteil der Wende und ihres weiteren Weges aus der Essstörung. Dabei handelt es sich beispielsweise um die Trennung vom Partner, eine berufliche Veränderung, den Auszug aus dem Elternhaus oder den Beginn einer Therapie. Mitunter aus eigener Initiative wird Unterstützung bei Therapeuten bzw. Therapeutinnen (s. Kapitel 7.2.4), vertrauten Menschen, von manchen Gesprächspersonen ebenso im Glauben an ein göttliches Wesen, selbst bei sonst nicht praktizierter Religiosität, gesucht. So sah Jasmin im Alter von siebzehn Jahren die Notwendigkeit eines stationären Aufenthalts, nachdem sie bereits in ambulanter Therapie gewesen war: Ich bin immer zur Therapie geführt worden, bis ich dann gesagt habe: „Ich packe das nicht mehr, ich kann ja nicht mehr einen Schritt gehen!“ Nicht einmal mehr beim Auto aussteigen zur Therapie hinauf ‒ da waren Treppen ‒, und da habe ich gesagt: „Ich muss mir helfen lassen, ich muss stationär aufgenommen werden, weil ich schaffe es nicht mehr!" (Jasmin, T293‒T301)

Auch wenn meist ohnehin schon einige Zeit bis zur Therapieentscheidung vergangen ist bzw. gerade weil sich dadurch die Situation zuspitzt, kann die Wartezeit bis zum Therapiebeginn besonders belastend empfunden werden. So ließen Karin die zusätzlichen depressiven Verstimmungen sich in einer solchen Situation wie ein „Häufchen Elend“ (Karin, T572) fühlen. Ebenso spricht sie an anderer Stelle im Hinblick auf ihre Sorgen von einem „ganzen Haufen“ (Karin, T616), unter dem sie „begraben“ (Karin, T615, T668) war. Bei Grete hingegen war es die Entscheidung gegen eine stationäre Therapie aufgrund ihrer Angst vor den dortigen Maßnahmen, dennoch für eine Veränderung ihrer bisherigen Lebenspraxis (Grete, T1239‒T1247). Bei jenen, die keine äußere Unterstützung in Anspruch nahmen, bewirkte der Leidensdruck eine Intensivierung der Zuwendung zu sich selbst, die bei allen erkennbar ist (s. Kapitel 7.2.2). So spricht Irina ihre Entscheidung zur Mäßigung im Hinblick auf ihr berufliches Leistungsstreben an, wodurch sie den Druck, den sie im Gespräch oft thematisierte, als geringer und stattdessen mehr das freudvolle Tun erlebt. Ein weiterer richtungsweisender Entschluss war für sie, „dass die Trennung von meinem Freund auch eine Trennung von meinem Zuviel-Gewicht sein wird“ (Irina, 1747), nachdem sie mit ihm durch eine Phase des regelmäßigen Überessens ohne Erbrechen, im Gegensatz zum früheren Essen mit Erbrechen, gegangen war. Solche Entscheidungen wurden nicht immer nur von den Personen selbst getroffen, sondern auch vom Umfeld angeregt. Dies konnte in Form der Therapieorganisation durch die Eltern, insbesondere bei Erkrankung im Jugendalter, Unterstützung bei der Therapieplatzsuche oder auch durch Druck von außen erfolgen. Anika beispielsweise wurde von ihrer Praktikumsanleiterin bei der Suche nach einer geeigneten Klinik begleitet und im Praktikum bis zur stationären Aufnahme entlastet (Anika, 29‒31; 793‒ 801). Alena hingegen spricht zwar von einer eigenen Entscheidung für eine Veränderung, allerdings wurde diese von ihrem Partner forciert: Ich habe mich entscheiden müssen. Er war einfach so hart. Er hat auch gesagt: Mit so einer Essstörung kann ich mich schleichen, so in die Richtung. Und das war richtig so ein Entschluss von mir, dass ich mir gedacht habe: ‚Gut, wenn ich den [Mann] haben

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will, dann muss ich aufhören mit dem Blödsinn.‘ Und das war so. Also eigentlich von einem Tag auf den anderen habe ich mir gedacht: ‚Okay, passt.‘ (Alena, 81‒85)

Angesichts Alenas früherer Tendenz zur Abhängigkeit in Beziehungen unterließ sie das Erbrechen nur aufgrund der gestellten Bedingung des Partners, sodass sich zwar die Symptomatik veränderte, allerdings nicht ausreichend Möglichkeiten für ihre eigene Entwicklung vorhanden waren. Dennoch gab ihr diese Beziehung einen Anstoß zur Selbst-Annäherung und damit zur Überwindung der Essstörung, da der Partner deren Stabilisierungsfunktion übernahm (s. Kapitel 7.2.3 und Kapitel 7.2.5). Letztlich ist nicht festzustellen, wann die Wende konkret beginnt. Jedenfalls ist die Entscheidung, den Weg aus der Essstörung gehen zu wollen, eine Lebensentscheidung im Sinne einer Entscheidung für das Leben: Ich war da eigentlich voll auf einem Tiefpunkt angelangt, weil die Speiseröhre, es hat schon alles so gebrannt, es war einfach schon richtig schiach. Dann die Russell's signs, also diese Wunden auf den Händen [vom Kontakt mit den Zähnen beim Erbrechen], das war auch schon richtig unerträglich, dass ich mir gedacht habe: ,So, ich muss jetzt wirklich was ändern in meinem Leben!‘ (Marlies, 36)

7.2.2 Selbst-Zuwenden Die Entscheidung für eine Lebensveränderung wird zwar als wichtiger Teil der Wende genannt, dennoch bedarf es verschiedener weiterer Schritte für den Weg aus der Essstörung. Zudem kann sich eine solche Entscheidung weniger bewusst als vielmehr in der Bereitschaft für das Annehmen und Umsetzen hilfreicher Einflüsse zeigen. Dazu gehört unter anderem das Selbst-Zuwenden, worunter das aktive Auf-sich-selbstZugehen verstanden wird, während die Selbst-Zuwendung den hilfreichen Aspekt an sich bezeichnet. Es umfasst vor allem das bewusste und achtsame Wahrnehmen eigener Bedürfnisse und Gefühle, das entsprechende Versorgen und das Reflektieren über sich selbst. Der Schwerpunkt wird von der gedanklichen Beschäftigung mit Essen und Gewicht auf das Spüren des Selbst und somit des eigenen Maßes verlagert. Jedoch ist nicht das ausschließliche Fokussieren auf sich selbst gemeint, sondern ein Gleichgewicht zwischen Selbst-Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeit für andere. Zu unterscheiden ist das Selbst-Zuwenden außerdem von einer Beschäftigung mit sich selbst, um sich dem Gefallen anderer entsprechend zu verändern. So widmete sich Claudia nach dem Kennenlernen ihres früheren Mannes mehr ihrem Körper(gewicht), jedoch nicht im Sinne einer Sorge um sich, sondern um für ihn attraktiv und liebenswert zu sein. Anstatt einer Begegnung mit sich selbst wird das Selbst hier durch die Distanz zu den eigenen Bedürfnissen zum Objekt. Allerdings führt möglicherweise auch diese Form in einem weiteren Schritt zum Selbst-Zuwenden in oben genanntem Sinne, indem es zunächst gelingt, den Blick überhaupt auf sich selbst zu richten. Unterstützend für den Zugang zu sich selbst können verschiedene Erfahrungsmodalitäten sein, wie Kunst oder verschiedene Bewegungsformen. Jedenfalls soll eine für die Person stimmige Modalität gewählt werden. Als Erinnerung an ihre Selbst-Zuwendung nahm Karin folgendes Bild aus der Therapie mit auf ihren Weg:

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Ich habe mir dann eine Pflanze zugelegt, weil ich hab bis jetzt in meinem Leben schon Pflanzen geschenkt bekommen, aber ich habe sie mir nie behalten. Und ich hab gesagt: „Okay, um diese Pflanze kümmere ich mich jetzt!“ Wir haben der Pflanze mehr oder weniger diese Symbolik gegeben. Wir haben auch viel mit dem Selbstwertgefühl [gearbeitet], also dieses negative Selbstwertgefühl, dass es nicht einfach weggeht. Aber dass eben diese Pflanze für das Positive steht und dass die jetzt wachsen soll, dass ich mich um das kümmern soll. (Karin, T879‒T890)

Karin soll somit über ein Objekt einen leichteren Zugang zu sich selbst finden. Es sei für sie ein „Aufbruch“ (Karin, T783) gewesen mit dem Ziel: „Ich will mich wieder um mich selber kümmern“ (Karin, T783f.). Dazu gehörten unter anderem die Arztbesuche, die sie in den Jahren zuvor vernachlässigt hatte (Karin, T781‒T798). Körperliche Fürsorge: Wahrnehmen und Versorgen Auf der körperlichen Ebene umfasst das Selbst-Zuwenden das Spüren von Hunger und Sättigung, die Aufnahme von ausreichender und wohltuender Nahrung sowie das Achten auf andere körperliche Signale, beispielsweise Schmerz und Müdigkeit. Es handelt sich dabei um das Stillen von Grundbedürfnissen, den physiologischen Bedürfnissen nach Maslow (1943, 1994), und wird hier als Versorgen bezeichnet. Wenngleich das Wahrnehmen eigener Bedürfnisse „jeder in sich drin hat“ (Rebecca, T908), ist bei den Betroffenen dafür ein Lernprozess erforderlich. Da sie die Zeichen ihres Körpers oft lange Zeit zuvor missachtet haben, sind diese für sie nun schwierig zu deuten. Für das Wiedererlernen des Spürens empfand Claudia das Meditieren als sehr hilfreich: Da haben mir die Meditationen ganz viel geholfen, das muss ich schon sagen. Also dieses Auseinandersetzen in der Ruhe mit sich: Wo spüre ich was, wo tut sich was, wie fühlt sich der Magen überhaupt an. Wie fühlt sich der Magen an, wenn er leer ist, wie fühlt er sich an, wenn er voll ist, wo ist der überhaupt. Was macht dieses Gefühl mit mir, wo sitzt das. Das hat schon viel gemacht, so diese Auseinandersetzung mit einem selber. Ich glaube, das ist für mich schon so, ohne dem würde es nicht gehen. (Claudia, T2675‒T2685)

Anja beschreibt ihr gefundenes Gleichgewicht im Hinblick auf die Nahrungsversorgung folgendermaßen: „Ich bin ein Genussmensch, muss ich sagen. Ich esse gern, aber ich schieße nicht mehr übers Ziel hinaus. Ich hungere aber auch nicht“ (Anja, T698‒T703; Hervorhebung A. K.). Im liebevollen Zubereiten von Speisen, wie es Marlies schildert, werden das Versorgen mit Nährstoffen für den Körper und die Selbst-Fürsorge im umfassenden Sinn deutlich. Die beiden Aspekte können, müssen jedoch nicht miteinander einhergehen: Wenn sich eine Person beispielsweise wenig bekömmliche Nahrung auf eine hastige Weise zuführt, versorgt sie sich zwar mit Nahrungsenergie, jedoch wenig liebevoll. Ein bewusstes und achtsames Versorgen mit wohltuender Nahrung ist hingegen ein Merkmal von Selbst-Fürsorge und zeigt sich zunehmend mit der Selbst-Annäherung auf dem Weg aus der Essstörung. Das dabei empfundene Wohlgefühl erhält diesen achtsamen Umgang mit sich selbst wiederum aufrecht (Marlies, 658). Im Unterschied dazu beschreibt

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Rebecca die Selbst-Beobachtung auf dem Weg in die Essstörung: Sie habe die körperliche Veränderung bei der Gewichtsabnahme mit Interesse verfolgt. Dabei betrachtet sich Rebecca von außen wie ein Forschungsobjekt, indem sie Veränderungen mehr beobachtet als spürt (Rebecca, T25‒T30). Für Silvia stellt die liebevolle Selbst-Fürsorge sogar die Grundlage für das Spüren des Hungergefühls dar: „Sich einfach möglichst viel Gutes tun. Ich denke mir, das Ganze mit dem Hungergefühl und so kommt dann eh alles. Das ist eh die Natur“ (Silvia, T1505‒T1508). Um aus dem Kreislauf des Erbrechens auszusteigen, war für Marianne eine angeleitete Fastenwoche in einer Gruppe hilfreich, auch wenn sie diese Maßnahme heute als „Risiko“ (Marianne, 50) sieht. Es könnten dadurch Essanfälle ausgelöst werden. Für sie hingegen bot sich im Rahmen dieser Woche die Möglichkeit, „einfach einmal ganz weg zu sein von diesem ganzen Essensdilemma“ (Marianne, 50). Als besonders wohltuend erlebte Marianne, dass das Fasten in der Gruppe stattfand und Distanz zum häuslichen Umfeld brachte. Somit war die geteilte Gemeinsamkeit ein weiterer förderlicher Aspekt und womöglich von noch größerer Relevanz als das Fasten selbst, da Marianne dadurch nur vorübergehend Erleichterung erfuhr. Körperliches Selbst-Erfahren Für Ina war das Selbst-Zuwenden in Form des körperlichen Selbst-Erfahrens beim Rennradfahren ein bedeutsamer Beitrag zur (körperlichen) Selbst-Annäherung und damit zur Überwindung der Essstörung (Ina, T466‒T474, T1440‒T1461). Es ging ihr dabei jedoch auch um die Beeinflussung der äußeren Erscheinung: „Mir gefällt es natürlich, wenn man dann gewisse Muskelpartien sieht, also dass es den Körper formt. […] Gerade nach drei Schwangerschaften, dass man fit bleibt und dass der Körper straff bleibt. Das ist mir natürlich schon sehr wichtig“ (Ina, T1452‒T1454, T1459‒T1461). Diese Erfahrung förderte Inas Vertrauen in ihren eigenen Körper, da sich die (übermäßige) Gewichtszunahme, die sie aufgrund ihrer damaligen Steigerung der Nahrungsaufnahme befürchtete, nicht realisierte. Jasmin erwähnt hierzu ihr Vorhaben, mit Yoga zu beginnen, um noch mehr in sich „hineinspüren“ (Jasmin, T1419) und ihre „innere Mitte“ (Jasmin, T2418), also Selbst-Stabilität, finden zu können (s. Kapitel 7.3.2). Auch das Sich-Öffnen gegenüber anderen Menschen und das Vertrauen in diese kann durch die körperliche Selbst-Erfahrung gefördert werden (u. a. Anja, T2080‒T2099, T2181‒ T2245; s. Kapitel 7.3.3). Ebenso war für Karin das Wiederaufnehmen der schon in früheren Jahren vorhandenen Sportbegeisterung von großer Bedeutung. Diese körperliche Selbst-Erfahrung stellte für sie einerseits eine Möglichkeit der Selbst-Annäherung dar, andererseits eine Gemeinsamkeit mit ihren beiden Schwestern, die ebenso ihr Gewicht reduzieren und sich körperlich mehr bewegen wollten. Somit handelte es sich um ein gemeinsames Selbst-Zuwenden, indem sie miteinander die Veränderung entschieden sowie organisierten. Während Karin vorher als „der Außenseiter“ (Karin, T2083) in der Familie galt, wenn sie auf ihre Ernährung achtete, konnte sie sich nun im Sport mit ihren Schwestern verbünden und stärker fühlen: „In dem Moment, als wir uns alle drei entschieden haben, waren wir in der Mehrheit, und wir haben dann das Blatt ein bisschen gewendet“ (Karin, T2084‒T2087). Sie erleichterten sich die Umsetzung ihres Vorhabens durch die

7.2 Wende ‒ Aus dem Gleichgewicht und Wegorientierung

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Wahl eines nahegelegenen Fitnessstudios und die Vorausbezahlung der Mitgliedschaft. Die Veränderung war somit an ihre eigenen Bedürfnisse, an ihr eigenes Maß, angepasst: Meine Schwestern haben auch ein Gewichtsproblem, also Übergewicht, und haben gesagt, sie möchten was tun. Wir haben dann entschlossen, zu dritt, wir suchen uns jetzt ein Fitnessstudio. Also wir wollten wieder aktiv werden, und das war für mich so super. Ich war zu dem Zeitpunkt immer noch 120 Kilo schwer (lächelnd), aber ich hab mich auf das Laufband draufgestellt, und ich war so glücklich! Ich hab mich so gefreut, ich hab das so gerne gemacht! Ich hab mich angestrengt, und ich hab geschwitzt, und ich war sehr langsam im Gegensatz zu allen, die laufen gehen (lächelnd), aber es war mir so egal! Ich hab mich so gefreut, und ab dem Zeitpunkt hab ich gewusst: ,Okay, das ist jetzt meine Chance!‘ Und ich hatte kein Problem mehr mit Essanfällen. Also ich weiß dann auch nicht mehr genau, wie es gegangen ist, aber ich hab's dann in den Griff bekommen. Wie gesagt, ich denke einfach, es waren auch die Glücksgefühle und so weiter, also diese Glückshormone, die da frei geworden sind. Aber jedenfalls hab ich dann gesagt: „Okay, und jetzt schaff ich das!“ (Karin, T802‒T824; Hervorhebung A. K.)

Neben der Gemeinsamkeit mit ihren Schwestern war die Freude an der Bewegung, auch mit einem höheren als dem von ihr gewünschten Gewicht, von Bedeutung. Dadurch wurde Karin bewusst, dass ein solches Erleben nicht nur in einem niedrigeren Gewichtsbereich als in jenem, in dem sie sich zum damaligen Zeitpunkt befand, möglich ist. Die Hervorhebung im Text weist darauf hin, dass sie zwar aktiv zur Veränderung beitrug und sich damit als selbstwirksam erfuhr (Bandura, 1977; Schwarzer, 2000, S. 173ff.), aber diese zum Teil auch passierte, ohne sie konkret erklären zu können. Entfernen von zu hohen (Leistungs-)Anforderungen Neben dem Wahrnehmen und Versorgen als Aspekte der körperlichen Selbst-Fürsorge sowie dem körperlichen Selbst-Erfahren ist das Reduzieren von meist zu hohen Anforderungen an sich selbst relevant für den Weg aus der Essstörung. Damit wird das Finden und Verfolgen eigener Ziele und Wünsche erleichtert. Nicht nur die intensive Arbeit an sich selbst trägt somit zur Überwindung (Alena, 1385) bei, sondern gleichzeitig auch das Loslassen, besonders in Leistungskontexten aufgrund der häufig zu beobachtenden Leistungsorientierung der Betroffenen. Dies wird deutlich, wenn Marlies davon spricht, dass das freudvolle und authentische Tun im Beruf anstatt ökonomischer Vorteile zu ihrem Ziel geworden ist. Daher möchte sie Selbst-Achtsamkeit sowie eine gesundheitsförderliche Lebensweise auch in ihrer geplanten zukünftigen Tätigkeit als Lebens- und Energieberaterin verkörpern. Durch das freudvolle Tun wird wiederum Selbst-„Bestätigung“ (Alena, 59) erfahren, so von Alena durch die Kunst. Für Jasmin war das Anpassen der Leistungsanforderungen an ihr damaliges eigenes Maß hilfreich, indem sie mit einer geringfügigen Arbeitstätigkeit wieder ins Berufsleben einstieg. Diese Mäßigung, nämlich „noch nicht den ganzen Tag auf Leistung“ (Jasmin, T798f.) zu sein, fiel ihr jedoch zunächst nicht leicht. Auch die individuell passende Wahl des Studiums kann das Selbstbewusstsein fördern, da eigene Fähigkeiten erfahren und umgesetzt werden (Lia, 1059; Silvia, T593‒T608), und einer zuvor empfundenen Sinnleere

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entgegenwirken (Ina, T185‒T191). Ina entfernte sich durch das neue Studium insofern von Anpassung und Konkurrenzverhalten, da sie sich damit, entgegen ihrer früheren Tendenz des „Nacheiferns“ (Ina, T1711), von ihren Geschwistern unterschied. Einerseits fand sie das Eigene, andererseits erlebte sie ein Miteinander anstatt eines von ihr abgelehnten Wettbewerbs wie im vorherigen Medizinstudium (Ina, T109‒T122). Für Nina allerdings war der Studienwechsel aus gesundheitlichen Gründen erforderlich und daher zunächst ein „extremer Rückschlag“ (Nina, T399). Schließlich jedoch: „Beim anderen Studium habe ich dann doch viel mehr Freiheit für mich selber entdeckt und da langsam angefangen mehr zu schauen: Wo will ich denn hingehen? Was will ich denn machen? Was interessiert mich denn?“ (Nina, T1355‒T1358). Nina begann, sich ihren Interessen zuzuwenden, und das war „befreiend“ (Nina, T1366) für sie. Wesentlich ist hier einerseits das Selbst-Zuwenden in Form der freudvollen Umsetzung eigener Interessen, andererseits wurde sie im neuen Umfeld offener für soziale Kontakte (Nina, T1369‒T1372). Rebecca erzählt, dass sie sich gut mit ihrer Studienrichtung „identifizieren“ (Rebecca, T1318) könne: „Das ist so ein bisschen, also ich würde jetzt nicht sagen, mein Lebensinhalt geworden, aber das ist schon ein ziemlich wichtiger Teil meines Lebens“ (Rebecca, T1320‒T1322). Angesichts der Stabilisierungsfunktion der Essstörung könnte das Studium zum Teil diese Funktion übernommen haben. Zentral ist somit das Gleichgewicht zwischen Aktivität und Loslassen sowie, sich mit den eigenen Wünschen und Bedürfnissen wichtig zu nehmen, also „sich selbst auch treu zu bleiben“ (Marina, 777). Hierbei geht es um jene Bedürfnisse, die entsprechend der Bedürfnispyramide nach Maslow (1943, 1994) über die Grundbedürfnisse hinausgehen und für Betroffene oft nicht klar spürbar sind. Um diesen (wieder) näherzukommen, bedarf es, wie in Bezug auf körperliche Bedürfnisse, eines Lernprozesses durch wiederholtes bewusstes Selbst-Wahrnehmen. Dafür ist zunächst auch hilfreich, sich von Reizen und Kontexten, die Trigger für die Essstörung darstellen, fernzuhalten, beispielsweise von zu hohen Leistungsanforderungen, Medieneinflüssen (u. a. Rebecca, T774‒T780) oder Alkoholkonsum, wenn dieser zu Essanfällen beiträgt (Karin, T1007‒ T1017). Wissen erfahren und Reflektieren der eigenen Geschichte Wissen über die Essstörung kann förderlich für den Weg aus der Essstörung sein, allerdings auch eine vermehrte Zuwendung zur Essstörung begünstigen. Für die Wirkrichtung des Wissens ist unter anderem der Zeitpunkt des Erwerbs von Bedeutung: Befindet sich die Person gerade in einer noch nicht von der Essstörung betroffenen, aber vulnerablen Phase, beispielsweise aufgrund von Überforderung, können störungsspezifische Verhaltensweisen als Ausweg erscheinen und die Funktion einer Problembewältigung übernehmen (s. Kapitel 7.1.3). So erzählen mehrere Personen, dass sie erst durch die Information in einer Zeitschrift oder von anderen Personen über das Erbrechen, mit dem sich das Gewicht auch ohne Nahrungseinschränkung kontrollieren lässt, erfahren haben. Informationen können außerdem inadäquat für sich selbst genützt werden: So übernahm Rebecca auf Basis ihrer Internetrecherche ein Konzept, das Übergewichtige adressiert, obwohl sie selbst damals, noch vor der Gewichtsabnahme,

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„ziemlich schlank“ (Rebecca, T18) war und „an der unteren Grenze von Normalgewicht“ (Rebecca, T35f.) lag. Bereits Betroffene, die unter einem Leidensdruck stehen, können hingegen wertvolle Anregungen aus der Auseinandersetzung mit der Essstörung und deren Konsequenzen für sich mitnehmen. Für Jasmin war die Aufklärung über die körperlichen Folgen von Seiten eines Arztes ein hilfreicher Anstoß, sich körperlich ausreichend zu versorgen (Jasmin, T1823‒T1842). Eine Ernährungsumstellung kann durch den anderen Umgang mit Nahrungsmitteln eine Distanz zur früheren Ernährungsweise schaffen. Bei Marlies brachte eine solche Veränderung beim ersten Mal zwar nur kurzzeitig Erleichterung, durch Präsenz weiterer hilfreicher Einflüsse zu einem späteren Zeitpunkt jedoch längerfristig (Marlies, 36, 44‒46). Bestandteil eines intensiven Selbst-Zuwendens ist nicht nur das Aneignen von Wissen über die Essstörung, sondern insbesondere das Reflektieren über deren Bedeutung in der eigenen Lebensgeschichte. Dadurch wird das Sinnerleben gefördert: „Bei jeder, wie soll ich sagen, Erkenntnis irgendwie, warum ich das kriegen hab können, vielleicht Mutmaßungen, auf die ich draufgekommen bin“, sei Alice „mit einem besseren Gefühl durchs Leben gegangen“ (Alice, T990‒T994). Besonders die Sportverletzung war für Karin ein Anstoß zur Auseinandersetzung mit ihrer Essstörung, da sie den Sport als Bewältigungsstrategie temporär verlor. Das Wissen über die Essstörung eignete sie sich unter anderem durch Literatur, Dokumentationen und Internetrecherche an. Unterstützend wirkte außerdem der Austausch in der Selbsthilfegruppe, woran die Bedeutung des Umfeldes für das Selbst-Zuwenden deutlich wird (Karin, T1053‒T1085; s. Kapitel 7.2.3 und Kapitel 7.2.4). Durch ihre erworbenen Kenntnisse verringerte sich ihr Schamgefühl, da ihr bewusst geworden sei, kein schlechter Mensch zu sein, sondern eine Krankheit zu haben, also die Symptome nicht als Persönlichkeitsmerkmal anzusehen. Diese Differenzierung zwischen Essstörung und ihrer Person war für Karin eine große Entlastung. Hier dürfte sich die Fokussierung auf die Symptome von Seiten des Umfeldes in ihrer damaligen Selbst-Sicht widerspiegeln. Das Benennen der Problematik mit ihren verschiedenen Äußerungen gibt den Betroffenen zudem das Gefühl von Stärke und Kontrolle, das der Ohnmacht, die sie vorher aufgrund der Vereinnahmung von der Essstörung empfunden haben, entgegensteht (vgl. Claudia, T1761‒T1763): Ich glaub, das war dieser Punkt, an dem ich gemerkt hab: Okay, es ist ein Symptom einer Krankheit. Und da ist dieses Schamgefühl ein bisschen abgefallen, weil ich mir selber ja davor immer diese extremen Vorwürfe gemacht hab und mich als schlechten Menschen gesehen habe, weil ich diese Dinge gemacht hab. Mit dem konnte ich dann, durch dieses Wissen, das ich da erlangt hab, einfach besser umgehen. Also mehr das betrachten als: Ich kämpfe jetzt gegen eine Krankheit an, und jede Krankheit hat Symptome, und das sagt nicht unbedingt was über mich als Person aus. Das hat mir auch geholfen, einfach dieses Wissen, dass ein Heißhungeranfall ein Symptom ist wie eben, ob ich esse oder nicht esse. Dass der Grundgedanke der gleiche ist und nur das Symptom sich anders zeigt. […] Also der Gedanke hat mir schon extrem geholfen, weil ich das ein bisschen entkoppeln konnte: Was bin ich und, ja genau, was ist die Krankheit. […] Es ist ja bei vielen Krankheiten so, dass, wenn man nicht weiß, was los ist, sich so machtlos fühlt. So konnte ich zumindest sagen: „Okay, ich weiß, wogegen ich vorgehe

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und wo ich bin und was die Symptome sind und auf was ich aufpassen muss.“ (Karin, T1121‒T1135, T1143‒T1148, T1157‒T1164)

Wie Karin kommen auch andere Personen auf den Kampf gegen die Essstörung zu sprechen. Dabei stellte sich im Rahmen der Auswertung die Frage, inwiefern der Kampf gegen die Essstörung auch ein Kampf gegen sich selbst ist. Das Zuwenden zur Sprache der Essstörung und deren Übersetzen kann stattdessen eine Form des Selbst-Zuwendens mit folgender Selbst-Annäherung sein. So sieht Anja das Hinterfragen dieses Kampfes in der Essstörung sowie gegen die Essstörung als wichtig an: „Was bekämpfst du denn wirklich? […] Warum bekämpfst du dich?“ (Anja, T2319, T2360). Hierfür könne das Bild eines „Kampfringes“ (vgl. Anja, T2326) hilfreich sein (Anja, T2338f.), um sich bewusst zu werden: „Es ist nämlich gar nicht dein Kampf, was dich beschäftigt“ (Anja, T2353). Im Gespräch erläutert sie, dass sich frühe Erfahrungen und die Weitergabe von Konflikten durch Bezugspersonen in diesem Kampf widerspiegeln können. Anja schildert die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte wie einen Dialog mit dem Körper und einen Blick in die Seele, wozu sie zum angesprochenen Zeitpunkt noch nicht bereit war: In dem Moment, als ich eigentlich diese Antworten für mich von meinem Körper bekommen hätte, habe ich mich nicht drauf eingelassen: dass ich mich eigentlich selbst belüge in diesem Moment, dass das Essen mich glücklich machen kann, Nicht-Essen mich glücklich machen kann. Das hätte für mich bedeutet, ich muss tiefer in meine Seele hineinschauen und die Punkte holen ‒ wo bin ich mal verletzt geworden, was sind die Auslöser für das, was da alles passiert ‒ und hätte mich dem wieder stellen müssen. (Anja, T228‒T240)

Für Anja gehörte zum Verstehen der eigenen Geschichte außerdem die Beschäftigung mit jener ihrer Eltern, unter anderem durch ein Gespräch mit ihrem Vater, um sich von alten Lasten, nämlich den Konflikten, die ihre Eltern über sie „transportiert“ (Anja, T1311) haben, zu befreien (Anja, T1264), denn: „Das ist nicht mein Weg“ (Anja, T1306). Deutlich wird dabei ihr Vermögen, sich gegenüber der Geschichte ihrer Eltern abzugrenzen: „Ich möchte diese ganzen Verletzungen wirklich aufmachen, nochmal durchleben, weil ich merke, sie haben privat diesen großen Einfluss gehabt, negativ. Sie haben beruflich Einfluss gehabt. Ich sag's jetzt mal so: Ich will jetzt endlich erwachsen werden“ (Anja, T1367‒T1372). Sich auf diese Weise für ihren Weg stärken zu wollen, wurde ihr im Rahmen ihrer Partnerbeziehungen bewusst, als sie ihre noch eingeschränkte Stabilität durch Wiederholen früher Beziehungsmuster erfuhr (Anja, T1415‒ T1417). Indem Betroffene sich selbst durch Spüren eigener Bedürfnisse und Aneignung von Wissen über die Essstörung und deren Bedeutung in ihrer eigenen Geschichte näher kennenlernen, können sie allmählich andere Formen des Umgangs mit Belastungen finden. Dies ermöglicht ihnen, insbesondere schwierige Gefühle, wie Schmerz und Trauer, zunächst differenziert wahrzunehmen und dann unmittelbar, anstatt durch die Essstörung, auszudrücken. So ist nun für Karin, deren Beispiel zuvor erläutert wurde, die freudvolle Sportausübung zu einer wichtigen Bewältigungsmöglichkeit geworden, um in Stresssituationen Essanfällen entgegenzuwirken (Karin, T844‒T849).

7.2 Wende ‒ Aus dem Gleichgewicht und Wegorientierung

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Glauben Zu den bisher genannten Formen des Selbst-Zuwendens ist außerdem der Glaube an sich selbst zu ergänzen, der vielmehr eine Grundlage für das Selbst-Zuwenden darstellt. Ähnlich ist hier der von Jasmin angesprochene „Wille“ (Jasmin, T1435) einzuordnen. Bereits für die Entscheidung, den Weg aus der Essstörung zu gehen, bedarf es dieses Glaubens an einen Sinn eigener Handlungen und an die eigene Bewältigungsmöglichkeit, um diese längerfristig, vor allem auch in schwierigen Momenten, aufrechtzuerhalten. Der Glaube an sich selbst gewichtet für Jasmin, wie für die meisten anderen Personen, mehr als der religiöse Glaube. Nur Tamina betont den Halt, den sie in der katholischen Kirche findet. Jasmin hingegen meint, ein göttliches Wesen sei nicht sichtund greifbar, zudem spüre sie keine unterstützende Wirkung (Jasmin, T2423‒T2434): Ohne das jetzt egoistisch zu verstehen: Ich habe lernen müssen, an mich selber zu glauben. Das ist eigentlich der einzige Glaube, wo ich einen Sinn drin sehe: dass ich dran glaube, dass ich die Schule schaffe; dass ich dran glaube, dass ich irgendwann verheiratet bin, irgendwann glückliche, gesunde Kinder haben werde. Einfach ans Leben glauben. (Jasmin, T2399‒T2406)

Der religiöse Glaube ist für Jasmin vor allem „etwas, an das ich mich festklammern muss, wenn ich keinen Ausweg mehr habe“ (Jasmin, T2395‒T2397). Maßgeblich beteiligt dürfte hier die Erfahrung von Unsicherheit im Umfeld sein, sodass sie im Kontrollieren des eigenen Tuns mehr Halt finden kann als im Vertrauen in einen höheren Einfluss. Über die Kontrolle hinaus fühlt sich Irina vom Glauben an sich selbst, den sie wie ein inneres Wissen ausdrückt, getragen. Ein solches bildet sich durch vergangene Erfahrungen und Handlungen aus, die im Körpergedächtnis gespeichert sind (Sebald, 2016), und ist nach Gugutzer leiblich-affektiv spürbar (Gugutzer, 2002, S. 132). Sofern die Erfahrungen als bestärkend erinnert werden, können diese Sicherheit geben: „Zu wissen, ich werde es alleine schaffen ‒ das hab ich immer gewusst; das hab ich innerlich gewusst“ (Irina, 1599). 7.2.3 Umfeld als Brücke ins Leben Für den Weg aus der Essstörung stellt das Umfeld einen wichtigen Beitrag dar, indem es den Betroffenen eine Brücke ins Leben anbieten und damit eine Loslösung aus der starken Bindung an die Essstörung erleichtern kann. Aufgrund der Rückzugstendenz der Betroffenen besteht jedoch die Schwierigkeit, mit ihnen in Verbindung zu kommen. Die Brücke soll eine Metapher für diese Verbindung zwischen Betroffenen und Umfeld sein, wobei in diesem Kapitel folgende bedeutsame Aspekte, die nicht als strikt voneinander getrennt zu betrachten sind, beschrieben werden: in Verbindung kommen durch Zuwendung von anderen sowie Zuwenden nach außen; in Begleitung gehen; miteinander sein; an Vorbildern orientieren; Verändern bzw. Veränderung von Beziehungen durch Annähern oder Distanzieren; Verändern bzw. Veränderung des Umfeldes.

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In Verbindung kommen: Zuwendung von anderen und Zuwenden nach außen Im Sinne einer Zuwendung von anderen können besonders, aber nicht nur, Menschen „von außen“ (Alena, 1385), also außerfamiliäre Personen, mit Wertschätzung, Liebe und ihrer Unterstützung sehr hilfreich sein. Hingegen würde Mitleid zu einem gemeinsamen Stagnieren führen und die Betroffenen in ihren Schritten aus der Essstörung hemmen. Bereits wenig Körperkontakt in der Interaktion kann eine stärkende Geste sein, wie es Alena durch das Halten ihrer Hand von Seiten einer Betreuerin im Rahmen ihres therapeutischen Aufenthalts erfuhr. Ihre Erinnerung daran weist darauf hin, dass solche in ihrer Bedeutung oft gering geschätzten Beiträge ein nachhaltiges Wohlgefühl bewirken können. Alice erzählt von ihrer Cousine, die sie immer wieder zum Essen „ermutigt“ (Alice, T830) und ihr „sehr direkt gesagt“ (Alice, T834) habe, dass sie ihren geschwächten Zustand wahrnehme. Da Alice zu ihrer Cousine eine nahe Beziehung hatte und hat, konnte sie dieses Ansprechen auf die Problematik annehmen. Sie habe sie durch gemeinsame Unternehmungen „ein bisschen aus dem Essstörungsalltag rausgeholt“ (Alice, T1028). Hier wird die Brücke zwischen der Welt der Essstörung und der Alltagswelt, dem alltäglichen Leben des Umfeldes, deutlich (Alice, T824‒T836, T1024‒T1029). Von einer ähnlichen Erfahrung erzählt Rebecca im Hinblick auf ihre Schwester. Entgegen dem Druck von ihrer Mutter schätzte sie an ihrer Schwester, dass diese ihr die Nahrung ohne Drängen anbot (Rebecca, T312‒T322). Zurückhaltung kann somit eine Form von Zuwendung sein. Eine solche war für Rebecca vor allem von Seiten ihres Vaters, indem er die Essproblematik kaum ansprach, hilfreicher als die starke Konfrontation ihrer Mutter (Rebecca, T359‒T375, T1681‒T1683). „Der hat mich eigentlich immer mein Ding machen lassen“ (Rebecca, T856), so Rebecca über ihren Vater, wobei dies zwar Zutrauen seinerseits, aber auch ein Mangel an Aufmerksamkeit sein kann. Für Rebecca stellte seine Zurückhaltung jedoch insgesamt eine Entlastung dar. Dies ist angesichts der Einschränkung durch den massiven Druck ihrer Mutter, zu dem unter anderem die Sorge um ihre Tochter beigetragen haben dürfte, nachvollziehbar. Bei Alena war es weder Zurückhaltung noch wertschätzende Zuwendung, sondern ein Angriff in Form einer Abwertung und Demütigung von Seiten ihres damaligen Partners, wodurch es Alena gelang, sich von ihrer Selbst-Ablehnung zu distanzieren. Sie habe „innerlich eine Stärke aufbauen müssen“ (Alena, 1297), um in der Beziehung „bestehen“ (Alena, 1289) zu können und sich selbst mehr annehmen zu lernen: „Weil sonst, wenn ich mich selber noch zusätzlich fertiggemacht hätte, dann wäre es sich nicht mehr ausgegangen, nein“ (Alena, 1305). In diesem Fall war es also nicht das Verbinden mit dem Umfeld, das Alena ins Gleichgewicht brachte, sondern mit sich selbst infolge der empfundenen Provokationen des Partners (Alena, 1295). Es bedarf nicht nur der Zuwendung von anderen, sondern auch des Zuwendens der Betroffenen nach außen, um in Verbindung zu kommen. Mit Bezug auf die eingangs genannte Metapher der Brücke bedeutet dies, sich auf der Brücke zu begegnen und als Betroffene für die Begleitung in ein Leben jenseits des Hungers bereit zu werden bzw. zu sein. Hingegen blieb es für Anika in einer leidvollen Zeit beim Wunsch nach einer Umarmung aufgrund des damaligen Unvermögens, sich mit anderen Menschen zu ver-

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binden. Das Zuwenden nach außen ist das Öffnen gegenüber der Umgebung im umfassenden Sinn: gegenüber Menschen, anderen Lebewesen, Objekten, der Natur. Dies kann beispielsweise darin bestehen, die angenehmen Tagesereignisse zu erinnern und zu schätzen oder sich in der Natur zu bewegen, für sich selbst und mit anderen Menschen. Auch der Kontakt zu Tieren stellt eine Beziehungsaufnahme zum Umfeld dar und wird als wohltuend erlebt, denn: „Das ist schon schön, weil die Pferde natürlich ‒ oder generell Tiere ‒ einen so nehmen, wie man ist“ (Anika, 981). Nicht nur die „feine Art“ (Alena, 1027), also die Feinfühligkeit, der Pferde, sondern besonders die Erfahrung, als Person angenommen zu werden, spielt somit eine wichtige Rolle. Als Beispiele für das Zuwenden nach außen sind auch das rechtzeitige Erkennen des Bedarfs und dementsprechend die Suche nach einer (therapeutischen) Unterstützung zu nennen (Karin, T979‒T981). Von sich aus nach außen zu treten kann außerdem auf indirektem Weg erfolgen: Für Alice war das Lesen über Reisen und historische Themen wohltuend (Alice, T1450‒T1465), somit beschäftigte sie sich ohne direkten Kontakt, über das Medium Buch, mit ihrem Umfeld. In einem weiteren Sinn umfasst das Zuwenden nach außen auch den Glauben an etwas Höheres. Marlies empfand für den Ausgleich zwischen „Hirn und Herz“ (Marlies, 817) die spirituelle Vertiefung als hilfreich, so wie für Tamina der christliche Glaube von großer Bedeutung war und ist (Tamina, 661‒671, 815, 2255‒2265). In Begleitung gehen Die Begleitung von Seiten des Umfeldes in der aufrechten Verbindung zu den Betroffenen ist ein wichtiger Beitrag zur Überwindung der Essstörung. Dies bedeutet, Unterstützung anzubieten, ohne zu bevormunden: Menschen, die „zur Seite gestanden“ (Jasmin, T198) sind und die Person auch in schwierigen Zeiten „nie hängen lassen“ (Jasmin, T2346) haben. Dazu gehören unter anderem das Zutrauen, dass die Betroffenen ihren Weg aus der Essstörung finden und gehen werden, und das Gewähren von SelbstVerantwortung, die von den Gesprächspersonen besonders betont wird (s. Kapitel 10.2). Die temporäre und teilweise Abgabe von Verantwortung jedoch war entlastend und wird insbesondere im Hinblick auf die Therapie erwähnt. Anika nennt ein weiteres Beispiel in ihrem Umfeld: Da sie körperlich in einem geschwächten Zustand war, übernahm ihre Reitlehrerin die Fürsorge für ihr Pferd, vor allem während ihres stationären Aufenthaltes (Anika, 955‒959, 975‒977). Durch die vorübergehende Entlastung können die Betroffenen wieder Kraft gewinnen, Orientierung finden und andere Wege der Bewältigung von Herausforderungen im Leben gehen, anstatt auf die Essstörung zurückzugreifen. Hierin besteht eine Parallele zum Heranwachsen von Kindern: Auch sie brauchen zunächst mehr Unterstützung, die in eine Begleitung bis zum Loslassen übergeht (Winnicott, 2006, S. 106ff.). Dementsprechend kann die Anwesenheit und Begleitung von Menschen mitunter nur temporär unterstützend sein. Während Irina ihren früheren Lebensgefährten als wichtige Begleitung auf ihrem Weg zu sich selbst sieht, sei die Trennung von ihm wichtig für weitere Schritte auf diesem Weg gewesen (Irina, 1937‒1939).

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Als eine weitere Form von Unterstützung erwähnt Lia die „soziale Kontrolle“ (Lia, 1051), die für sie hilfreich war. Sie bezieht sich damit auf die Einschränkung von bulimischem Verhalten durch die Anwesenheit anderer Personen. Die Bulimie wird in diesem Fall durch die Menschen in Lias Umfeld aus dem Beziehungskontext BetroffeneEssstörung-Umfeld verdrängt oder zumindest an den Rand gedrängt, wenngleich dies nicht zum Verlassen des Kontextes führen muss. Irina spricht außerdem die Unterstützung ihrer Eltern an, die ihr durch Zeit, Geld und Vertrauen ermöglicht haben, ihren eigenen Weg zu finden: Ich finde es toll, dass meine Eltern mir die Zeit gegeben haben. Ich hab im Prinzip zweieinhalb Jahre mit dem Studieren [verbracht]. Dazwischen bin ich zwar arbeiten gegangen, aber das haben sie eigentlich ohne irgendwas finanziert und akzeptiert. Und haben aber auch gewusst, dass sie, glaub' ich, so eine selbstständige Tochter erzogen haben, dass die ihren Weg geht. (Irina, 2498‒2500)

Ein anderes Beispiel für Rückhalt erzählt Bianca: Im Rahmen eines Diebstahls zog der Polizist, ein Bekannter ihrer Familie, das klärende Gespräch mit ihr einer Anzeige vor und bewahrte sie damit vor größeren Konsequenzen. Sie meint dazu: „Ja, ich habe immer wieder Schutzengel gehabt“ (Bianca, 119). Miteinander sein Die Verbindung zwischen Betroffenen und ihrem Umfeld ermöglicht ein MiteinanderSein, wobei dieses in verschiedenen Zusammenhängen genannt wird: in Freundschaften, mit Personen innerhalb und außerhalb der Familie, in der Paarbeziehung, Schwangerschaft, im Vereins- und Berufskontext. Für Alena waren die Beziehungen „über die Jahre hinweg“ (Alena, 1385), die ihr „geschenkt“ (Alena, 1385) wurden, von großer Bedeutung, weil „die Familie hat versagt, so unter Anführungszeichen“ (Alena, 809). Hingegen erlebte Bianca gerade von ihrer Familie, konkret von ihren Cousins und Cousinen, dass sie „einfach immer da waren“ (Bianca, 105), auch wenn sie diese zeitweise von sich „gestoßen“ (Bianca, 105) habe. Es sind also die stabilen, überdauernden Beziehungen, in denen die ehemaligen Betroffenen von anderen als Person und nicht als Essstörung gesehen wurden. So erlebte Nina im Freundeskreis ihres Bruders sowie in Freundschaften außerhalb der Schule, wie es sein konnte, nicht die „Außenseiterin, die Schüchterne, ein bisschen Pummelige“ (Nina, T292) wie in der Schule zu sein. Diese war ein „Horrorthema“ (Nina, T367) für sie, besonders nach ihrem stationären Aufenthalt, da sie dann von ihren Mitschülern und Mitschülerinnen als jene mit einem „Knacks“ (Nina, T294) angesehen wurde. Nährend in zweierlei Hinsicht erlebte Irina die Mutter ihres früheren Partners: Einerseits bereitete sie mit Hingabe Speisen für die Familie zu, andererseits empfand Irina ihre persönliche Art als liebevoll. Dadurch konnte sie das Essen, ohne es zu erbrechen, wertschätzen (Irina, 1225‒1233). Ähnlich erging es Marlies, die sich in der Familie ihres früheren Partners so wohlfühlte, dass sie sich trotz ihrer Überzeugung bezüglich der Unstimmigkeiten in der Partnerbeziehung nur mit Zögern von ihm trennte (Marlies, 124).

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Für Marina wiederum war die Beziehung zu ihrem heutigen Mann ein wesentlicher Beitrag zur Überwindung der Bulimie (Marina, 284). Im Rahmen der „super Gemeinschaft“ (Marina, 352), womit sie sowohl die gegenseitige Liebe und Wertschätzung als auch die Alltagsgestaltung anspricht, bedurfte es in schwierigen Situationen nicht mehr des Essens und Erbrechens als Bewältigungsstrategie: „Da war von Bulimie nichts zu spüren“ (Marina, 352). Mitunter durch diese Erfahrung gelang es Marina allmählich, „mehr Herz in Beziehung hineinzulegen, den Menschen auch zu spüren, mich auf den Menschen einzulassen“ (Marina, 672). Bei Ina zeigt sich das wohltuende Zusammensein mit ihrem Mann unter anderem in der hohen Bedeutung der gemeinsamen Mahlzeiten (Ina, T671‒T679). Die Verbundenheit mit ihm erlebte sie außerdem durch seine Bestärkung nach Eintreten der ungeplanten zweiten Schwangerschaft: „Mein Mann hat sich total gefreut, und er hat mich dann irgendwie mitgerissen“ (Ina, T700f.). Die Bindung zum eigenen Kind ist eine weitere Form der überdauernden Beziehung. Schwangerschaften traten bei den betreffenden Gesprächspersonen in einer späteren Phase der Überwindung ein und waren ein unterstützender Beitrag. Eine solche, zumindest vorübergehende Verringerung der Essstörungssymptomatik im Rahmen der Schwangerschaft wird auch in der Literatur beschrieben (u. a. Mangweth-Matzek, 2017; Mazzeo et al., 2005; s. Kapitel 2.2.2). Nicht nur auf körperlicher Ebene, über die Nabelschnur, besteht eine enge Verbindung zwischen Mutter und Kind, sondern auch emotional erlebten die Frauen eine große Nähe. Die körperliche Veränderung durch die Schwangerschaft empfand keine von ihnen als schwierig, jedoch waren die Kontrolle der Gewichtszunahme und das Wiedererlangen des Ausgangsgewichts nach der Geburt sehr wohl ein Thema. Mit dem Heranwachsen des Kindes kann eine Vertiefung der Beziehung zu sich selbst und zum eigenen Leben einhergehen. Bianca äußert ihre Wertschätzung, die sie dem Kind, das sie in sich trug, entgegenbrachte und die besondere Nähe zu ihrer ersten Tochter. Die Freude über diese Schwangerschaft schildert sie so: Ich hab damit gerechnet, dass ich wahrscheinlich nicht so schnell schwanger werde, und war dann total überrascht, dass ich drei Monate, nachdem wir geheiratet haben, vier Monate, nachdem wir geheiratet haben, schwanger war. Ich habe mich irrsinnig gefreut. Das war echt so ein Magic Moment: ,Wah, ich bin schwanger!‘ (Bianca, 79)

Das Bewusstsein um die Verantwortung für das Kind, das von der Versorgung und Fürsorge der Mutter abhängig ist, bewirkt eine Zuwendung zu sich selbst, die zunächst vor allem aus Liebe zum Kind erfolgt: In dieser Schwangerschaft, schon allein dem Baby zuliebe, hätte ich das [Erbrechen] nie getan. Es hat vielleicht ein oder zwei Rückfälle gegeben. Mir war nie schlecht in der Schwangerschaft, das war eine angenehme Schwangerschaft. […] Ich war nicht am Klo, sodass ich das irgendwie wiedergegeben hätte, aber ich habe auch versucht, normal und gesund zu essen, weil ich eben gewusst habe, das mache ich für mein Kind. Das war dann total wichtig, für dieses Kind da zu sein und einfach das zu lassen. (Marina, 320)

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Auch Claudia wurde durch ihr Verantwortungsgefühl für das heranwachsende Kind vom Erbrechen abgehalten. Allerdings waren die Schwangerschaften nur vorübergehende Unterbrechungen auf dem Weg aus der Essstörung. Für eine längerfristige Veränderung bedurfte es weiterer hilfreicher Einflüsse (Claudia, T35‒T37, T1070‒T1079, T1740‒T1743). Ina thematisiert weniger die Beziehung zu ihren drei Kindern, sondern vor allem das (Wieder-)Erlangen von Vertrauen in ihren eigenen Körper, besonders während der ersten beiden Schwangerschaften. Die Erfahrung, dass sich ihre Angst vor einer übermäßigen und als irreversibel befürchteten Gewichtszunahme nicht realisierte, ermöglichte ihr, ihre eigene Kontrolle über den Körper, die damals in Form eines kontrollieren Essverhaltens sehr wohl noch bestand, zu verringern. Die ungeplante zweite Schwangerschaft dürfte Ina zwar kurzzeitig als Kontrollverlust erlebt haben, der jedoch durch den Rückhalt und die Freude ihres Mannes gemildert werden konnte (Ina, T695‒T699). Bereits im Wunsch nach einer Schwangerschaft, also bereits in der Zeit vor deren Eintreten, sieht Ina einen Wendepunkt. Durch die „Kinderpläne“ (Ina, T475) mit ihrem Partner wurde ihr bewusst (Ina, T485), dass es dafür einer ausreichenden körperlichen Versorgung bedarf. Eine eigene Familie zu gründen, ist für Ina einerseits ein Zeichen ihrer Liebe zu ihrem Mann, andererseits steht diese dafür, „dass ich mir mein eigenes Leben aufbaue“ (Ina, T499). Auf Anja hatte das Erleben eines wertschätzenden Miteinanders in einem Verein eine längerfristige Wirkung. Im Rahmen ihrer Mitarbeit bildeten sich Freundschaften, in denen auch die emotionale Äußerung von Bedeutung war und ist: Ich hab dann durch den [Verein] ‒ nicht nur, dass ich zeitweise mitarbeite ‒ für mich die Chance ergriffen, Freundschaften zu knüpfen. Die ganz wunderbar jetzt langsam zu wachsen beginnen, nicht mit jedem natürlich, aber da, wo du sagst, okay, da entdeckst du gemeinsame Ansätze, Sichtweisen. Einfach, wo wir wachsen, wo wir ein kleiner Kreis sind, der jetzt miteinander wächst, und mir einmal so wirklich bewusst geworden ist: Ich bin mit dem Ego, ich bin immer mit dem Ego unterwegs gewesen. Alles Verstandsache. So wie ich es eigentlich bei meiner Mutter hauptsächlich erlebt habe. (Anja, T1084‒T1096)

An Vorbildern orientieren Als besonders bedeutend zeigt sich das Zusammensein mit „Vorbildern“ (Tamina, 2155), unter anderem für „natürliches Essen“ (Marianne, 712) und Selbst-Achtung: Das hätte ich mir dort oft gewünscht: Greifbare Menschen zu haben, die normal ‒ also normal ist eh ein falsches Wort ‒, aber halt natürlich essen und auf den Körper wirklich Acht geben. Das braucht man, glaube ich. Also ich glaube nicht, dass das unbedingt eine Therapie in einem Krankenhaus ist. Ich glaube, wenn man unter solchen Menschen ist, die das leben, von denen kann man lernen, aber nicht von einem Krankenhausaufenthalt. (Marianne, 712‒714)

Marianne, die selbst Therapieerfahrung hat, äußert hier, dass die Verbindung zum Umfeld in seiner alltäglichen Vielfalt und weniger ein Aufenthalt im Krankenhaus Schritte

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der Überwindung fördern kann. Das Erleben dieser Alltagsnähe war für die Gesprächspersonen ein wesentlicher Aspekt in der Zeit der Essstörung. Tamina spricht in Bezug auf Vorbilder von Menschen, „denen das Leben gelungen ist“ (Tamina, 2153). Zudem betont sie in der entsprechenden Textpassage die Bedeutung, „unter Gesunden zu sein“ (Tamina, 2153), für den Weg aus der Essstörung und damit, wie Marianne, die Alltagsnähe. Sie erläutert diese Formulierungen nicht näher, regt jedoch nachfolgend an, generationsübergreifende Gemeinschaften im Alltag aufzusuchen (Tamina, 2157). Daher dürfte sie bei Gesunden mit einem gelungenen Leben von Menschen sprechen, die zum einen Lebenserfahrung haben und zum anderen mit alltäglichen Herausforderungen gut zurechtkommen, ohne einer Erkrankung als Ausweg zu bedürfen. Ein Hinweis dafür ist auch, dass die Gesprächspersonen Menschen, die selbst die Essstörung überwunden haben, als Modell der Hoffnung sehen. Daher können Therapeutinnen mit eigener Essstörungserfahrung ein Vorbild für noch Betroffene sein. Letztlich ist das Gelingen jedoch nicht allgemein und überdauernd zu definieren, sondern als Prozess, der „jeweils neue eigenständige und kompetente Antworten durch die betroffene Person selbst erfordert“ (Greve & Leipold, 2012, S. 577). Vorbilder oder Modelle sind als eine Verkörperung von Verhaltensweisen bzw. im umfassenden Sinn von Lebensformen zu sehen, die je nach Ausprägung zur Erkrankung oder Überwindung beitragen (s. Kapitel 2.3.3, Kapitel 7.1.2 und Kapitel 8.1.1). So wirkt die Verkörperung von Selbst-Kontrolle im Umfeld, beispielsweise durch kontrolliertes Essverhalten oder Leistungsorientierung von umgebenden Menschen, verstärkend auf die Selbst-Kontrolle der Betroffenen und damit auch auf die Essstörung. Demgegenüber ist die Verkörperung eines gelungenen Lebens, beispielsweise in Form von natürlichem und freudvollem Essverhalten, ein Beitrag zur Überwindung der Essstörung. Claudia meint dazu, wenn sie bei ihren Kindern ein „ganz normales Essverhalten“ (Claudia, T2630) wahrnimmt: „Das war oft so beruhigend zu wissen, dass das möglich ist“ (Claudia, T2632f.). Ihr ältester Sohn sei außerdem ein „Öko-Freak“ (Claudia, T1431), sodass sie durch sein achtsames Verhalten sich selbst und der Nahrung gegenüber zu einer gemeinsamen Selbst-Achtung finden konnten, indem sich nun die ganze Familie mit qualitativ hochwertiger Nahrung versorgt (Claudia, T1430‒T1439). Die umgekehrte Modellwirkung, indem Claudias Söhne ihr Essverhalten übernehmen, fand dementsprechend nicht statt. Dies dürfte unter anderem auf das Vermeiden von Essanfällen ihrerseits in Anwesenheit ihrer Kinder zurückzuführen sein. Nina wiederum fand Orientierung an anderen Bewohnern und Bewohnerinnen des Studentenheimes während ihres Auslandssemesters: Es habe „nicht jeder sein eigenes Süppchen gekocht“ (Nina, T934). Stattdessen wurden die Speisen gemeinsam zubereitet und gegessen, sodass sie ihre rigiden Verhaltensmuster lockern konnte. Silvia erwähnt weniger das Essverhalten, sondern vor allem das Ausstrahlen von Wohlbefinden ihrer Ausbildungskollegen und -kolleginnen, das sie als wohltuend erlebte (Silvia, T1550f.). Die unterschiedliche Wirkung von Modellen für strenge vs. gelockerte Selbst-Kontrolle wird bei Rebecca besonders deutlich: Sie konnte sich von der gelockerten Selbst-Kontrolle, die Menschen in ihrem neuen Umfeld verkörperten, „mitreißen lassen“ (Rebecca, T498). Sie bekam dadurch eine andere Orientierung: „Ich habe mich einfach an denen orientiert, weil ich nicht wollte, dass die was merken. Und ich habe gemerkt,

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dass es überhaupt nicht wehtut, überhaupt nicht schlimm ist und dass es viel angenehmer ist, so zu leben. So war es“ (Rebecca, T509‒T512). Hingegen verstärkte sich ihre eigene Kontrolle unter dem Einfluss der Strenge ihrer Mutter, die zudem selbst Zurückhaltung beim Essen zeigte und ihr Gewicht regulierte. Allerdings war Rebecca auch die äußere Darstellung ihrer Person sehr wichtig und zwar in dem Sinn, dass niemand Kenntnis von ihrer Essstörungserfahrung erlangen sollte. Es wäre ihr „unglaublich peinlich und unangenehm“ (Rebecca, T494) gewesen. Hier könnte somit nicht nur die Orientierung an Vorbildern, sondern eine Orientierung in stärkerem Ausmaß, nämlich in Form einer Nachahmung bis hin zur Anpassung, eine Rolle gespielt haben. Dadurch konnte sie die Sorge, von anderen vor dem Hintergrund der Essstörung gesehen zu werden, verringern. Prägend waren für Irina außerdem zwei Frauen, die Selbst-Ständigkeit und Zufriedenheit verkörperten. Über die Mutter ihres früheren Partners meint sie: Ganz wesentlich war eben, eine andere Art von Mutter kennenzulernen: eine herzliche Mutter, die auch wirklich aktiv Nähe gibt; die offen ist; die selbstständig ist. Das hab ich von meiner Mutter eben nicht so [mitbekommen]. Meine Mutter ist halt Hausfrau und Mutter und in ihrer Lebensrolle nicht zufrieden. War sie nie. Also die [Mutter des Partners] hab ich so als persönliches Vorbild gesehen. Sie ist auch gern ins Theater gegangen, hat sich alles selbst organisiert, war sehr kreativ und halt irgendwie offen, aber trotzdem Hausfrau. Irgendwie war das eine interessante Person, sie kennenzulernen. (Irina, 2341‒2355)

Ein weiteres Vorbild war für Irina eine ihrer Tanten, da sie sich in ihrer Lebensweise von den anderen Familienmitgliedern unterschied (Irina, 513‒551). Sie verließ ihren Heimatort, studierte, heiratete einen blinden Mann, von dem sie sich später trennte, und bekam erst spät ihre Kinder. Damit habe ihre Tante nicht dem „normalen Bild“ (Irina, 519) entsprochen, eine „Spezialrolle“ (Irina, 525) und daher eine „Konfliktstellung“ (Irina, 517) in der Familie gehabt. Deren Bedeutung für ihr Leben beschreibt sie so: Von ihrer Art her ist sie immer so ein bisschen mein emotionales Vorbild, glaube ich, gewesen. Weil sie herzlich ist, aber trotzdem ihren Weg gegangen ist; die Leute freigelassen hat, aber man trotzdem gewusst hat, sie ist noch da, und sie denkt an einen. (Irina, 535‒537)

Verändern bzw. Veränderung von Beziehungen: Annähern und Distanzieren Während Beziehungen zum Umfeld durch ihre Entstehung bzw. ihre Beständigkeit hilfreich sein können, ist es in anderen Fällen das Verändern bzw. eine Veränderung von Beziehungen. Unterschieden wird an dieser Stelle, ob die Person eine Beziehung bzw. das Umfeld verändert oder ob sich eine Beziehung bzw. das Umfeld verändert. Der Begriff Verändern weist hier auf das selbstintendierte und aktive Tun der Betroffenen hin, wie das Entscheiden für eine Trennung und das folgende Umsetzen derselben. Eine Veränderung bzw. das Sich-Verändern hingegen umfasst Ereignisse, auch Prozesse, die nicht primär von der Person selbst initiiert sind und initiiert werden können. Dies ist

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beispielsweise bei fremdbestimmter Wahl der Therapieeinrichtung der Fall. Auch das Kennenlernen eines Menschen wird nicht nur von der Person beeinflusst, sondern auch von der konkreten Situation und dem Interesse dieses Menschen. Eine solche Unterscheidung ist insofern von Bedeutung, da die Überwindung mit erforderlicher Aktivität und Anstrengung beschrieben wird und die Selbstbestimmung in den Lebensgeschichten eine große Rolle spielt. Die Veränderungen betreffen entweder die Personen unmittelbar, beispielsweise bei einer Trennung vom Partner, oder passieren im Umfeld, wie etwa die Trennung der Eltern. Eine solche erlebte Frauke während ihres Therapieaufenthaltes als entlastend, da sie sich in der Folge weniger um das Wohl ihrer Eltern, die zuvor eine konfliktgeladene Beziehung hatten, sorgte. Auch für Marlies war eine Beziehungsveränderung im Umfeld hilfreich: Zwischen ihr und ihrer Mutter wurde ein Wiederannähern möglich, nachdem sich die Mutter von ihrem damaligen Partner, dem gegenüber Marlies und ihre Schwester eine Abneigung empfanden, getrennt hatte. Annähern: Neubegegnen und Vertiefen Verändern und Veränderungen von Beziehungen können sich unter anderem durch ein Neubegegnen und Annähern im Rahmen einer Partnerschaft ereignen. Mitunter ist das Kennenlernen eines Partners allerdings nur vorübergehend hilfreich, wie es bei Marlies der Fall war. Als ihr die Verschiedenheit bewusst wurde, erlebte sie eine Enttäuschung, die mit einer verstärkten bulimischen Symptomatik einherging. Ein Neubegegnen in einer bereits aufrechten Beziehung erfuhr Bianca auf ihrem Weg aus der Essstörung. Nach einer temporären Trennung von ihrem damaligen Mann folgte ein Vertiefen der Beziehung „auf einer neuen Ebene“ (Bianca, 47): Die Beziehung war schon so, dass ich mich sehr verliebt habe in diesen Mann und eigentlich anfangs schon sehr viel getan habe dafür ‒ und irgendwann schon immer wieder gemerkt habe, dass mir das nicht guttut, so viel zu tun, mich zu verbiegen. Um nur ja geliebt zu werden, mich selber einfach hinten anzustellen und mich immer wieder zu verlieren. Deswegen war dann auch Schluss. Als ich im Krankenhaus war und erkannt habe, dass es so nicht mehr weitergeht, war das auch der Punkt, an dem ich die Beziehung ganz beendet habe. Dann hat sich aber auch was verändert. Ich war noch einmal im Ausland, bin wieder zurückgekommen, und mein Mann hat sich dann aber auch sehr um mich bemüht. Es hat die Beziehung auf einer neuen Ebene begonnen, und da war's schon irgendwo auf Augenhöhe, weil für mich einfach klar war: So nicht mehr. Das war dann auch möglich, die Beziehung neu zu definieren. (Bianca, 47‒49)

Aus der Schilderung von Bianca wird deutlich, dass sie mit dem Annähern an sich selbst, indem sie zu sich selbst stand, anstatt sich zu „verbiegen“ (Bianca, 47), auch ihrem Mann näherkommen konnte. Dass es dafür einer beidseitigen Bereitschaft für ein gemeinsames Gestalten der Beziehung bedarf, führt sie in folgenden Zeilen aus: Ich denke schon, dass [er] die große Liebe meines Lebens war ‒ mit schon viel Bemühung und Arbeit von beiden Seiten, dass dann wirklich auch was Tragfähiges draus geworden ist. Sagen wir, ein Ringen ist es bis heute (lachend), und jetzt sind wir dann neunzehn Jahre verheiratet. (Bianca, 51‒53)

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Die Vertiefung einer Beziehung, jener zu ihrer Mutter, war auch für Marlies auf ihrem Weg der Überwindung prägend. Ihre Mutter habe sich durch ihren damaligen Partner stark verändert, worunter Marlies und ihre Schwester sehr litten. Es gab nur mehr wenig gemeinsame Zeit, sodass sie sich „total verstoßen“ (Marlies, 145) fühlten. Zu erwähnen ist, dass ihr Vater, dessen Tod sie sehr getroffen hatte, bereits verstorben war. Umso mehr schätzt Marlies den heutigen Zusammenhalt zwischen ihr und ihrer Mutter, wozu die Trennung der Mutter von ihrem Partner wesentlich beigetragen habe (Marlies, 106). Eine Annäherung zwischen Grete und ihren Eltern brachte die für sie schmerzhafte Trennung von Seiten ihres Freundes, weswegen sie vorübergehend wieder ins Elternhaus zog (Grete, T457‒T460). Trotz ihres „Hochverrats“ (vgl. Grete, T777), wie sie heute ihr einmaliges untreues Verhalten am Ende der Partnerbeziehung voller Schuldgefühle bezeichnet, haben sie ihre Eltern „aufgefangen wie das verlorene Kind, ohne Widerworte, ohne irgendwas“ (Grete, T778f.). Das sei für sie „eine sehr bereichernde Erfahrung“ (Grete, T780) gewesen. Sie konnte dadurch wieder Vertrauen in ihre Eltern gewinnen, nachdem sie sich vorher so „verlassen“ (Grete, T461) gefühlt hatte und in ihrem „Weltbild geschädigt“ (Grete, T462) worden war. Eine große Veränderung bestand darin, „dass ich auf einmal innerhalb der Familie traurig sein hab dürfen, verletzt sein hab dürfen, ohne dass es mir vorgehalten wird“ (Grete, T743‒T745). Auch von anderen Verwandten habe sie viel „Resonanz gekriegt“ (Grete, T1971). Die Trennung war für Grete somit zwar schmerzhaft, aber auch eine „Chance“ (Grete, T134, T942), wie sie heute meint, sowohl für die Überwindung der Bulimie als auch für die Beziehung zwischen ihr und ihren Eltern. Sie habe ein „neues Bild“ (Grete, T792) von ihren Eltern und einen „liebevolleren Blick“ (Grete, T2201) bekommen, seit sie „am Boden gelegen“ (Grete, T2201f.) sei: „Ich kann heute auf die vielen Dinge von meinen Eltern auch hinschauen“ (Grete, T2213f.). Melina erklärt sich die Wiederannäherung an ihre Eltern damit, dass nun die Essstörung nicht mehr „dazwischen“ (Melina, 645) stehe und „man sich mittlerweile wieder gemeinsam über irgendwas freuen kann“ (Melina, 645). Daraus geht hervor, dass eine Annäherung in Beziehungen einerseits die Essstörung aus dem Beziehungskontext bringen kann, andererseits stellt die Essstörung ein Hindernis für eine solche Annäherung dar. Wie aus den bisherigen Ausführungen ersichtlich wird, gibt es dennoch Möglichkeiten, eine Verbindung aufzubauen und eine Annäherung zu erreichen, wodurch die Essstörung aus dem Mittelpunkt rückt. Distanzieren Nicht nur das Annähern, sondern auch das Distanzieren von bestimmten Personen, temporär oder langfristig, kann ein förderlicher Aspekt für die Überwindung sein. Die Abwendung von Seiten anderer Menschen ist zwar im Falle einer belastenden Beziehung mitunter förderlich, jedoch nicht dann, wenn dies im Sinne einer Ablehnung der Betroffenen passiert, wie es Alena von Seiten ihrer Tante vor allem in der bulimischen Phase erfuhr (Alena, 27‒33, 831). Häufig wird der Auszug aus dem Elternhaus oder auch das Beenden von Paarbeziehungen beschrieben. So sieht Tamina ein solches Distanzieren von ihrer Mutter als wichtig

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für ihre weitere Entwicklung. Karin gewann durch ihren Auszug Abstand vom Umfeld, in dem sie Überforderung und Demütigungen des Vaters erfuhr (Karin, T329f., T2091‒ T2097). Irina nennt ihren Auszug aus dem Elternhaus als wichtigen Schritt, sowohl speziell für ihre Selbst-Ständigkeit als auch allgemein für ihren Weg aus der Essstörung: „In meiner Situation war wirklich die räumliche Trennung, aus der Situation rauszukommen, ganz wesentlich“ (Irina, 2496). Durch den räumlichen Abstand konnte sie sich emotional leichter von den elterlichen Konflikten abgrenzen, aber gleichzeitig des Rückhalts ihrer Eltern sicher sein: „Trotzdem zu wissen, meine Eltern, die unterstützen mich eh“ (Irina, 2498). Somit kann eine räumliche Distanzierung mit einer emotionalen Annäherung einhergehen, wie Charlotte erzählt: Ich habe ein gutes Verhältnis gehabt, es ist aber mit der Mama das Verhältnis dann noch ein bisschen besser geworden, als ich nicht mehr daheim gewohnt habe. Dann haben wir uns wieder mehr respektiert, ich habe mehr Freiraum gehabt, Mama hat angerufen. Das Verhältnis ist irgendwie freundschaftlicher und doch, wenn wir zusammen waren, intensiver geworden. (Charlotte, T937‒T943)

Eine ebensolche Erfahrung machte Rebecca. Durch den Auszug aus dem Elternhaus und vor allem durch den damit einhergehenden Abstand von ihrer kontrollierenden Mutter habe sie „Freiheit“ (Rebecca, T904) für ihre Selbst-Verantwortung gewonnen: „Dann habe ich plötzlich so die Verantwortung für mich selber gespürt“ (Rebecca, T902f.). Die Übernahme der Versorgung und Fürsorge für sich selbst machte ihr das zuvor gesundheits- und selbstschädigende Verhalten bewusst (Rebecca, T224f.). Außerdem konnte sie nun selbst ihr Essen zubereiten, während zu Hause ihre Mutter diese Zuständigkeit für sich verteidigte, mit der Begründung des Verderbens der bereits zubereiteten Speisen. Aufgrund der gesamten Erzählung ist jedoch anzunehmen, dass sich auch darin der Versuch einer Kontrolle über ihre Tochter zeigte. Wie Rebecca beschreibt Anika die Möglichkeiten, die die Distanzierung von ihrer Mutter im Rahmen des Auszuges für ihre eigene Entwicklung mit sich brachte: Durch den Auszug hat sich ganz viel für mich verbessert. Dadurch geht's mir emotional viel besser, ich bin viel stabiler dadurch, dass ich mein Eigenes hab. Viele Probleme, die da waren, haben sich aufgelöst dadurch, dass ich nicht mehr in dieser Konstruktion lebe. Das war, glaube ich, wirklich gut für mich, der Auszug und auch die Trennung von meiner Mutter. (Anika, 849‒851)

Für Ina war der Schritt in die finanzielle Unabhängigkeit von ihren Eltern sehr wichtig. Als Symbol dafür stand das von ihrem ersten Gehalt gekaufte Rennrad, das zudem zur wohltuenden körperlichen Selbst-Erfahrung beitrug (Ina, T462‒T472; s. Kapitel 7.2.2). Vor allem der Abstand zu ihrer Mutter, die „Abnabelung“ (Ina, T1308, T1310), wirkte sich förderlich auf ihre Beziehung aus. Alice wiederum erzählt von ihrer Schwester, deren Abwesenheit aufgrund des auswärtigen Studiums „entspannend“ (Alice, T731) auf sie wirke. Dass bereits das Wissen um die Distanz „beruhigt“ (Alice, T716, T720), ist angesichts der Konkurrenz zwischen ihnen und der Vergleiche durch andere Menschen nachvollziehbar. Die Distanzierung vom familiären Umfeld kann sich jedoch auch als nachteilig für die Überwindung der Essstörung herausstellen. So beschreibt Alice ihre Versuche, durch

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Auslandsaufenthalte Abstand von der Familie zu gewinnen: „Dann wollte ich einfach weg“ (Alice, T296f.). Es war somit vor allem eine Flucht, dementsprechend verschlechterte sich ihr Befinden im Ausland (Alice, T296‒T333). Ein solcher Distanzierungsversuch lässt sich auch am Beispiel von Jasmin erkennen, wenngleich sie ihre berufliche Orientierung gleichzeitig als Sinn- und Zielsuche beschreibt (Jasmin, T831‒T834). Die Möglichkeit der Anmietung einer Garçonnière im Rahmen der Ausbildung sei ihr „im Auge gelegen“ (Jasmin, T811). Dadurch konnte sie sich von ihren Eltern distanzieren und mit ihrer Suche nach einem (beruflichen) Ziel die Suche nach einem Zuhause vereinbaren. Allerdings musste sie dieses gewonnene Zuhause und damit den gewünschten Abstand nach Abbruch der Ausbildung wieder aufgeben. Mitunter kann eine Distanzierung nicht unmittelbar erleichternd, sondern zunächst ein schwieriger Schritt sein. Alena beschreibt die Trennung von ihrem damaligen Partner zwar letztlich als hilfreich, jedoch hatte sie von ihm zuvor auch Stabilität erfahren (Alena, 89) ‒ ein Aspekt, der von den Personen oft im Hinblick auf die Essstörung geäußert wird. Sie sei meist „der sterbende Schwan“ (Alena, 1307) und „in so einer Quälerei drinnen“ (Alena, 1309), also „nie wirklich glücklich“ (Alena, 1309) gewesen. Das Beenden dieser Beziehung bedeutete für sie, sich aus der „brutalen Abhängigkeit“ (vgl. Alena, 103) zu „befreien“ (Alena, 101). Sich dem Alleinsein zu stellen, sieht sie zwar als einen sehr schwierigen, aber wichtigen Schritt zu sich selbst. Zunächst führte die Trennung zu einem „Einbruch“ (Alena, 1315), brachte sie ins „Wanken“ (Alena, 1287), und es wurde ihr die „Haltlosigkeit“ (Alena, 1317) bewusst: „Wobei es mich dann noch einmal voll hineingerissen hat, essstörungstechnisch. Weil, ich glaube, es ist das eine, mit einem Menschen an der Seite stabil zu sein, aber allein ist es noch einmal heftig gewesen“ (Alena, 105). Die Abhängigkeit war für Alena somit leichter zu ertragen als die Angst vor dem Stabilitätsverlust. Ähnlich erlebte Marlies die Trennung von ihrem Partner letztendlich als „total befreiend“ (Marlies, 122), auch wenn sie diesbezüglich Zweifel und Schuldgefühle einholten und sich die Bulimie kurzzeitig wieder verstärkte. Diese Distanzierung dürfte unter anderem eine Loslösung aus der Anpassung an eine Lebensform, die ihr nicht entsprach, gewesen sein, da sie bis zum Schluss keine Gemeinsamkeiten finden konnten. Melina hingegen empfand nicht nur ihre Partnerschaft, sondern auch die damit einhergehenden sozialen Kontakte als problematisch. Sie sei im gesamten Umfeld als diejenige mit der Essstörung betrachtet worden (Melina, 49). Auf ähnliche Weise beschreibt Irina Erfahrungen mit bestimmten Personen als schwierig, nämlich im Sinne des Wiedererinnerns: Ihr früherer Partner würde sie an die Zeit der Essstörung und ihr damaliges Essverhalten erinnern, weswegen für sie die Trennung von ihm wichtig war. Alena wiederum spricht in Bezug auf den Ort des früheren familiären Geschehens von „Täterkontakt“ (Alena, 1287) und kehrt bei Besuchen mit entsprechender Vorsicht dorthin zurück: „Da kann ich mir so viel ins Gesicht lügen, wie ich will. Das wird, glaube ich, nach wie vor auch immer schwierig sein“ (Alena, 1287). Dass das Distanzieren von Menschen ein Weg des Selbst-Annäherns sein kann, zeigt sich in den bisherigen Ausführungen insbesondere im Hinblick auf den Auszug aus dem Elternhaus, ebenso bei Trennungen in Paarbeziehungen. So war für Anja die Beendigung einer Partnerschaft, die sie zu Beginn als förderlich für ihren Weg aus der Essstörung, schließlich jedoch als belastend erlebt hatte, ein Anstoß zu ihrer Selbst-

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Zuwendung (Anja, T334‒T338). Eine Befreiung von alten Beziehungsmustern, die über längere Zeit aufrechtbleiben können, erfolgt unter Umständen erst mit dem Tod der involvierten Person bzw. Personen: Vielleicht hätte ich es auch früher geschafft, von dieser blöden Essstörung wegzukommen und vor allem auch mit dem Alkohol, gar nicht einmal da hineinzurutschen, wenn ich mir bewusst gewesen wäre: ,He, du kannst ja eh tun!‘ Ich habe mich nur immer so gefangen gefühlt. Und jetzt muss ich dir was sagen, wobei ich am meisten gedacht habe: ,Das ist jetzt ein Erlebnis, ein Aha-Erlebnis auf einer ganz anderen Ebene!‘ Meine Mama ist jetzt im März gestorben ‒ das war befreiend. Ich trau es mich gar nicht zu sagen, aber das war befreiend! Da hat sich wieder total viel geändert. (Marina, 582)

Auch wenn sich Marinas Lebenssituation über die Jahre veränderte, wirkten (internalisierte) äußere Erwartungen bis zum Tod ihrer Mutter, der sich im selben Jahr, in dem das Gespräch stattfand, ereignete, nach. Die Befreiung beschreibt sie mit dem Symbol von „Wurzeln“ (Marina, 586), die sie wieder oder endlich auf ihren „eigenen Füßen stehen“ (Marina, 588) lassen, und dürfte mit den zuvor erfahrenen Einschränkungen von Seiten ihrer Mutter zusammenhängen. Der Tod könnte auch das Loslassen der schmerzhaften Entbehrung von „Mutterliebe“ (Marina, 612) in den „prägenden Jahren“ (Marina, 610) erleichtert haben. Dies dürfte ebenso bei Claudia der Fall gewesen sein, für die der Tod ihrer Mutter Entlastung brachte. Einerseits ermöglichte dieser endgültige Verlust die Distanzierung von der täglich wiederkehrenden Erfahrung des Verlassenwerdens durch die mangelnde Fürsorge ihrer depressiven Mutter. Andererseits blieb der Besuch jener beiden körperlich übergriffigen Männer aus, die ihre Mutter zum abendlichen „Aufpassen“ (Claudia, T558, T575f.) beauftragte, während sie ihrer, gegenüber Claudia nicht näher spezifizierten, Arbeit nachging. Verändern bzw. Veränderung des Umfeldes Verändern und Veränderungen von Beziehungen stehen häufig mit einem Wechsel des Umfeldes in Zusammenhang, der sowohl die Menschen, die die Person umgeben, als auch die Orte betreffen kann. Dabei handelt es sich um ein Ereignis, also einen punktuellen Einfluss, mit prozessualer Wirkung. Zum Beispiel ist ein Umzug in eine andere Stadt demnach der punktuelle Einfluss, die neue berufliche Tätigkeit mit Kontakt zu anderen Menschen als folgende längerfristige Veränderung die prozessuale Wirkung. Ein Umgebungswechsel kann jedoch nicht nur ein Beitrag zur Überwindung der Essstörung, sondern auch zur Erkrankung sein, wenn andere Lebensbedingungen belastend sind. So stellte der Umzug im Rahmen des Übertritts in eine neue Schule eine Belastung für Marlies dar, da sie den Halt, den ihr die früheren Bindungen am Heimatort gegeben hatten, verlor. Vor allem berufliche Gründe und der Beginn einer Therapie waren für die Gesprächspersonen Anlässe für einen Umfeldwechsel. Alena und Frauke konnten außerdem in Form einer längeren Reise Eindrücke an neuen Orten sammeln. Karin beschreibt ein Praktikum im Ausland als „eine der schönsten und erfülltesten Zeiten“ ihres Lebens (Karin, T418). Hilfreich waren der geregelte Tagesablauf, die Freude an der Tätigkeit,

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das „Produktivsein“ (Karin, T3269) sowie die Gemeinschaft mit den Kollegen und Kolleginnen, auch bei gemeinsamen Mahlzeiten (Karin, T402‒T419). Anika erzählt vom Kennenlernen neuer Menschen durch ihr Studium an einem Ort, der in größerer Entfernung von ihrem Elternhaus liegt. Neben der Freude an ihrem Studium bringt das neue Umfeld vor allem die bereits im vorigen Abschnitt angesprochene Distanz zu ihrer Mutter mit sich. Eine ähnliche Erfahrung an ihrem Studienort schildert Rebecca, wobei bei ihr ein weiterer wichtiger Aspekt hinzukam. Mit dem Umzug war vor allem ein Moment der Bewusstwerdung (s. Kapitel 8.1.3) im Hinblick auf ihren körperlichen Zustand, der ihr die Lebensbewältigung erschwerte, verbunden. Da Rebeccas Freunde und Freundinnen kurzfristig ihre Unterstützung absagten und sie auch keine von ihren Eltern erhielt, musste sie die Organisation des Umzuges gänzlich allein übernehmen. Die damit verbundene Anstrengung, zumal der neue Studienort mehrere Hundert Kilometer entfernt lag, machte ihr das Erfordernis der ausreichenden Nahrungsversorgung bewusst. Anzunehmen ist, dass das Studium und der Auszug aus dem Elternhaus, mitunter als unbewusster Wunsch nach Distanzierung von der Mutter, wichtige Beweggründe für sie waren. Die alleinige Bewältigung des Umzuges stärkte ihr Selbst-Vertrauen und erwies sich somit als ein, wenn auch anstrengender, hilfreicher Beitrag für ihren Weg aus der Essstörung (Rebecca, T798‒T838). Der Wechsel in das neue Ausbildungsumfeld in ihrer Jugendzeit war auch für Claudia förderlich, wenngleich durch den Vater (und somit fremd-)bestimmt. Sie sollte im Rahmen der Lehre selbst ihr Geld verdienen und musste dafür zunächst ihre eigenen Berufswünsche aufgeben. Allerdings ergab sich dadurch die Möglichkeit der Distanzierung von ihrem Vater, der vor allem ihr Gewicht abwertend kommentierte (Claudia, T316f., T709‒T713). Doch wie sich auch beim Umzug zu ihrem späteren Mann zeigte, ist ein neues Umfeld, das mehr einen Zufluchtsort darstellt, „um aus dem Tal rauszukommen“ (Claudia, T693), nicht längerfristig hilfreich (Claudia, T647‒T715). Tamina hingegen spürte nachhaltige Auswirkungen ihres neunmonatigen Aufenthalts in Afrika: Sie sei gelassener geworden, könne leichter loslassen. Dieses Loslassen zeigte sich auf körperlicher Ebene nach längerer Gallensteinproblematik: „Scheinbar ist ein Stein abgegangen oder wie auch immer ‒ es hat sich geöffnet“ (Tamina, 827‒829). Ein ebensolcher Hinweis könnte das Wiedereintreten ihrer Menstruation nach zehnjähriger Amenorrhoe auf dem Flug nach Afrika sein: Blut, Sekret und Reste der Uterusschleimhaut werden nicht mehr im Körper gehalten, sondern fließen nach außen ab. Dieses beginnende Loslassen markiert außerdem einen Wendepunkt auf ihrem Weg aus der Essstörung. Im folgenden Zitat schildert Tamina das allmähliche Weichen ihrer anfänglichen Zurückhaltung: Die Leute haben mich da eines Besseren belehrt. Man muss ja gelassen werden. Ich meine, die ersten Monate, ich war ja aufbrausend, und immer musst du warten. Ich hab mich noch so viel geärgert die ersten Monate. Drei Monate hab ich gebraucht, aber danach war ich Afrikanerin. Danach war es mir so wurscht, und ich hab mit allen mitgelacht. Das war einfach eine Gelassenheit, wie soll ich sagen. (Tamina, 839‒845)

Dass sich Taminas Gelassenheit heute, nachdem sie wieder längere Zeit im hektischeren Rhythmus in Österreich lebt, verringert hat, macht den Einfluss des Umfeldes auf die Person deutlich.

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Während Tamina temporär Abstand von einem einschränkenden Umfeld gewinnen konnte, war ein solcher für Anja dauerhaft möglich. Sie zog mit ihrem damaligen Mann und ihren Kindern in eine Stadt, die einige Hundert Kilometer von seiner Familie entfernt lag. Dadurch konnte sie sich auch von deren Maßstäben im Hinblick auf das Aussehen, die Anja zu Diäten veranlassten, lösen. Allerdings erlebte sie diese „Freiheit“ (Anja, T114) nur kurzzeitig, da ihr Mann aufgrund seines Berufes meist abwesend war und sie sich alleine fühlte. Dadurch verstärkte sich die Essstörung wiederum. Hier wird das erforderliche Zusammenwirken mehrerer Aspekte für den Weg aus der Essstörung deutlich (s. Kapitel 8.1.1). Im therapeutischen Kontext ist die Krankenhausabteilung eine andere Umgebung und die Veränderung noch größer, wenn diese nicht im geografischen Heimatort liegt. Für Alena und Frauke war dieser Wechsel unter anderem aufgrund der wohltuenden familiären Atmosphäre in der Therapieeinrichtung hilfreich. Dieser Aspekt ist insbesondere bei schwierigen Erfahrungen in einem zuvor konfliktreichen Umfeld von großer Bedeutung. Auf diese Zusammenhänge wird in Kapitel 7.2.4 näher eingegangen. Aus den genannten Beispielen geht hervor, dass ein neues Umfeld in mehrerlei Hinsicht hilfreich sein kann: Es bietet einerseits neue Eindrücke ‒ geografisch, beruflich, im Kontakt zu anderen Menschen ‒ und Möglichkeiten, mit Abstand von früheren Maßstäben „ganz was Eigenes“ (Grete, T2069) zu finden. Andererseits verändern sich bisherige Beziehungen, vor allem in Form einer emotionalen Distanzierung. Eine solche ermöglicht eine Selbst-Annäherung und in weiterer Folge wiederum eine Annäherung bzw. Regulation von Nähe und Distanz zu Menschen des früheren Umfeldes. 7.2.4 Therapie als Orientierungshilfe Als weiteren Beitrag zur Überwindung der Essstörung nennen die Gesprächspersonen die Therapie im umfassenden Sinn, insbesondere Psychotherapie, Körpertherapie, Kreativtherapien, pferdegestützte Therapie und Ernährungstherapie. Darin finden sich die im Alltag erfahrenen, in den vorangegangenen Kapiteln beschriebenen, hilfreichen Aspekte wieder. So sind in der Begleitung durch das Umfeld wie durch den Therapeuten bzw. die Therapeutin die Unterstützung und die Selbst-Verantwortung der Betroffenen von großer Bedeutung. In der Therapie bietet sich jedoch die Möglichkeit der spezifischen Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte und aktuellen Problematik. An dieser Stelle stehen vor allem der Weg zur Therapie und ein Überblick über angenehme sowie schwierige Erfahrungen jener Gesprächspersonen, die eine Therapie aufsuchten, im Vordergrund. Es handelt sich dabei um Beiträge, die die Umgebung, die Inhalte sowie besonders die Beziehung in der Therapie betreffen und die für die Orientierung auf dem Weg aus der Essstörung von Bedeutung waren. Das unterstützende Potential der Therapieelemente wird im anschließenden Kapitel über die Wirkungszusammenhänge, die sich auf alle beschriebenen hilfreichen Aspekte beziehen, besprochen. Konkrete Anregungen der Gesprächspersonen für die Therapie sind in Kapitel 10.3 zusammengefasst.

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Entscheidung für eine therapeutische Begleitung Die Entscheidung für eine Therapie wird maßgeblich durch den Leidensdruck beeinflusst: Die Personen waren in einem schlechten Allgemeinzustand und konnten dadurch nur eingeschränkt am Leben teilhaben. Dass ihnen dies vor allem an der beeinträchtigen Leistungsfähigkeit auffiel, weist auf die ausgeprägte Leistungsorientierung hin. Aufgrund des sich erst allmählich aufbauenden Leidensdruckes vergeht meist einige Zeit zwischen dem Beginn der Essstörung und der Therapie. So waren auch für Ina das Bewusstwerden ihrer Problematik, vor allem der damit verbundenen Einschränkungen, sowie der Wunsch nach Veränderung ein Anstoß zur Therapie: Da war dann der Punkt, an dem ich gesagt habe oder wir schon ein bisschen überlegt haben, auch mit meinem Mann gemeinsam: ,Ja, irgendwie geht's mir jetzt einfach schon so auf die Nerven, dass mich das noch immer beschäftigt, und jetzt bin ich 32, 31, 32, in dem Alter.‘ Dann habe ich mir was gesucht. (Ina, T786‒T791; Hervorhebungen A. K.)

Erkennbar ist hier der Wechsel vom Plural zum Singular: Nachdem Ina und ihr Mann gemeinsam über eine Unterstützungsmöglichkeit nachgedacht hatten, wählte Ina schließlich selbst die Therapeutin aus. Unter anderem aufgrund des häufigen Beginns der Essstörung bei noch nicht vorhandener Volljährigkeit wird die Therapieentscheidung oft nicht selbst getroffen und alleine organisiert, sondern von außen angeregt. Dies ist jedoch nicht immer hilfreich, wie das Beispiel von Grete zeigt. Sie wurde mit sechzehn Jahren von ihrer Mutter zu einer Psychotherapeutin „geschleppt“ (Grete, T894), hatte damals jedoch noch keine Bereitschaft dazu. Durch die „Bearbeitung“ (vgl. Grete, T901) der Therapeutin sollte der „Fehler“ (Grete, T905) der Essstörung eliminiert werden. Auch Karin konnte sich gegenüber der Schulpsychologin am Beginn ihrer Essstörung nicht öffnen. Dass sie von ihren Lehrenden entgegen ihrem Willen zu ihr geschickt wurde, dürfte hier eine wesentliche Rolle gespielt haben (Karin, T254‒T258). Die Initiative erfolgte nicht nur durch Eltern, sondern auch durch bekannte, mehr oder weniger nahe Personen im Umfeld, ebenso wie im Erwachsenenalter eine wohlwollende und unterstützende Person dazu bewegen konnte. Ein gleichzeitiger äußerer und innerer Auslöser war der Herzstillstand von Bianca: ein äußerer Auslöser in dem Sinn, dass sich hier keine Entscheidung für oder gegen eine Therapie stellte, weder für sie noch für das Umfeld. Der Herzstillstand als Ereignis im Inneren einer Person macht ihn zu einem inneren Auslöser. Auch wenn der Leidensdruck verdeutlicht, dass es einer Veränderung bedarf, muss die Maßnahme nicht in Form einer Therapie erfolgen. Anita hatte Gründe, sich dagegen zu „sträuben“ (SMS Anita, 23.02.2016), die sie im Gespräch mit ihrer Ablehnung der ihr bekannten Therapiekonzepte erläutert. Der von Lia bei ihrer schriftlichen Kontaktaufnahme verwendete, an einen Wehrdienst erinnernde Ausdruck, eine Therapie „nie angetreten“ (Mail Lia, 11.01.2016) zu haben, löste im Rahmen der Auswertung des Gesprächs Irritationen und die Assoziation eines Machtgefälles zwischen Therapeuten bzw. Therapeutinnen und Betroffenen aus, auch wenn Lia ein solches aufgrund ihrer fehlenden Therapieerfahrung nicht erlebt haben dürfte. Bei Marlies war es hingegen weniger eine Abwehrhaltung gegenüber einer Therapie, da ihr sehr wohl allmählich

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klar geworden sei, etwas für sich tun zu müssen bzw. zu wollen. Hinter der ausbleibenden Inanspruchnahme einer Therapie stand vielmehr ihr Ziel, den Weg aus der Essstörung alleine zu bewältigen. Dies ist insbesondere in Zusammenhang mit ihrer Persönlichkeit gut nachvollziehbar, denn sie wollte immer als stark gelten, sich selbst und anderen gegenüber. Dazu gehörte für sie, keine Unterstützung anzunehmen: „Es sind mir immer wieder die Gedanken gekommen: ‚Ja, ich brauche professionelle Hilfe.‘ Dann habe ich mir aber immer wieder gedacht: ‚Nein, ich muss es selber schaffen! Wenn ich nämlich nicht den Willen dazu habe, funktioniert da überhaupt nichts!‘ “ (Marlies, 36). Allerdings schließen sich Therapiemotivation und Annehmen von Unterstützung keineswegs aus, ganz im Gegenteil, sie dürften gerade durch das Zusammenwirken den Weg aus der Essstörung erleichtern. Diesen fand Marlies jedoch auch durch die alleinige intensive Auseinandersetzung mit sich selbst, zudem gab es bei ihr eine vergleichsweise gute familiäre Stabilität im Hintergrund. Eigene „Disziplin“ (Bianca, 131, 145) sieht Bianca mit und ohne Therapie als sehr wichtig für den Weg aus der Essstörung ‒ diese Disziplin habe sie allerdings auch „hineingeführt“ (Bianca, 131). Wie der Weg aus der Essstörung insgesamt wird auch die Therapie als beschwerlicher Weg beschrieben, der oft länger dauert als erwartet. Insbesondere bei Anstößen durch andere bedurfte es weiterer Aufenthalte, unter anderem aufgrund der anfänglich noch nicht vorliegenden Bereitschaft der Betroffenen. Dies war nicht nur bei noch aufrechter Stabilisierung durch die Essstörung bzw. fehlendem Erkennen der eigenen Betroffenheit der Fall, sondern auch, wenn der stationäre Aufenthalt einem anderen Zweck als der Überwindung der Essstörung dienen sollte, etwa der Flucht vor den Eltern (Bianca, 7). Daher wurden die Aufenthalte von den Personen in unterschiedlichem Ausmaß als Beitrag zur Überwindung erlebt. Ebenso äußerten jene Personen, die mehrmals stationär aufgenommen waren, Unterschiede im Erleben ihrer einzelnen Aufenthalte. Die Veränderung der Therapiebereitschaft ist unter anderem daran erkennbar, dass mitunter die gleiche Einrichtung zu einem späteren Zeitpunkt als hilfreicher erfahren wurde (s. Kapitel 7.2.5). An den mehrmaligen Versuchen, oft mit unterschiedlichen, auch komplementärmedizinischen Zugängen, die im Gegensatz zu den vorherigen Erfolg versprechen könnten, zeigt sich jedenfalls die verzweifelte Suche nach einem Weg aus der Essstörung, sowohl von den Betroffenen selbst als auch vom Umfeld. Der Gang ihrer Eltern von einer „Koryphäe“ (Bianca, 15) zur nächsten, um die „beste Behandlung“ (Bianca, 199) zu gewährleisten, war für Bianca letzten Endes nicht hilfreich. Dennoch kann die Therapie eine wichtige Begleitung der Betroffenen auf einem Abschnitt ihres Weges sein und ihnen Orientierung im Leben geben. Spezifische Rahmenbedingungen, Inhalte und die therapeutische Beziehung sowie der Austausch mit anderen Betroffenen bieten ein Übungsfeld für Selbst- und Beziehungserfahrungen. Nicht nur das fachliche Hintergrundwissen des Therapeuten bzw. der Therapeutin ist hierfür von Bedeutung, sondern auch die Zeit, die sich die betroffene Person damit bewusst für sich selbst nimmt.

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Therapeutische Rahmenbedingungen: Struktur, Freiraum und Gemeinschaft Die Personen äußern sich in den Gesprächen vor allem über ihre stationären Therapieerfahrungen. Im Hinblick auf den ambulanten Bereich stehen die therapeutische Beziehung in der therapeutischen Praxis und die Erfahrungen mit Mitpatientinnen in therapeutischen Wohngemeinschaften im Vordergrund. Es gab im klinischen Kontext zahlreiche Therapiebausteine, wobei in den Erzählungen weniger die konkreten Therapieansätze genannt werden. Der Vorteil einer stationären Therapie ist der Abstand zum bisherigen Umfeld: „aus dem System herausgenommen zu werden“ (Bianca, 723) und dadurch eine „Auszeit“ (Bianca, 723) zu ermöglichen. Bianca erfährt diesen Wunsch als heutige Therapeutin besonders bei Menschen mit Bulimie, worin sich deren noch größere Vereinnahmung im Vergleich zur Anorexie zeigt. Auch für das Umfeld kann die Distanz aufgrund der erlebten Sorge und Ohnmacht eine Erleichterung bedeuten (u. a. Frauke, 307‒311). Im Hinblick auf die therapeutischen Rahmenbedingungen sind Struktur, die Orientierung gibt, und gleichzeitiger Freiraum, der Selbstgestaltung erlaubt, von großer Bedeutung. Als wohltuend in struktureller Hinsicht betonen die Gesprächspersonen eine überschaubare Größe der Therapieeinrichtung. Dadurch konnte mehr Nähe zwischen Betroffenen und Therapeuten bzw. Therapeutinnen erfahren und damit wiederum Gemeinschaft erlebt werden: „Ich habe nicht das Gefühl gehabt, ich bin Patient Nummer irgendwas, sondern ich war halt ein Mensch“ (Alena, 921). Allerdings gab es auch andere Erlebnisse: Sie erzählen von Therapieprogrammen, in denen die Gewichtszunahme im Vordergrund stand, sodass sie sich nicht als Person wahrgenommen fühlten. Eine Fokussierung auf das Gewicht wurde von jenen Personen, die diese in Therapieeinrichtungen erfuhren, kritisiert. Sie sehen sehr wohl die Notwendigkeit einer Gewichtszunahme, sprechen sich jedoch gegen eine solche Schwerpunktsetzung aus. Durch ein „Hinaufgefüttert“-Werden (Tamina, 691), eine solche „rein materielle Angelegenheit“ (Tamina, 1200) sei eine „Symptomverlagerung“ (Tamina, 1200) wahrscheinlicher, etwa auf die Eifersucht und Kontrolle in Beziehungen, wie es Tamina beschreibt. Ebenso wird am Beispiel von Bianca deutlich, dass eine Gewichtszunahme nicht ausreichend ist. Nach dem ersten Krankenhausaufenthalt, von dem sie „mit einem guten, gesunden Gewicht“ (Bianca, 7) entlassen worden sei, folgte erneut eine Gewichtsabnahme: „Dann bin ich eigentlich wieder ziemlich in ein Loch reingerutscht und hab wieder abgenommen“ (Bianca, 7). Flüssignahrung kam in stationären Einrichtungen unter anderem dann zum Einsatz, wenn die vorgeschriebene wöchentliche Gewichtszunahme nicht erreicht wurde und/oder ein sehr niedriges Ausgangsgewicht bestand. Dazu erzählt Frauke von ihrer Erfahrung einer unfreiwilligen Verabreichung: „Dann haben sie mit Astronautennahrung probiert, dass ich zumindest was trinke, wenn ich schon nicht essen will“ (Frauke, 17; Hervorhebung A. K.). Deutlich wird dabei, dass die Therapeuten und Therapeutinnen diese Maßnahme durchführten, jedoch nicht sie selbst die Flüssignahrung zu sich nehmen wollte, womit der eingeschränkte Erfolg zu erklären sein dürfte. Die Erfahrung der festgesetzten Essensstruktur wird bei ihr auch an anderer Stelle deutlich: „Dann kriegt man schon vorgegeben, was man zu essen hat“ (Frauke, 113). Vorgaben in Therapieeinrichtungen können zwar gewisse Symptome wie

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Essanfälle verhindern, allerdings andere Verhaltensweisen als Kompensation auslösen oder verstärken. An den Sanktionen bei Nichterfüllen der Therapievorgaben, vor allem in der Art der Ausübung dieser Sanktionen, wird die Macht von Seiten der Behandelnden deutlich: Frauke spricht von scharfen Zurechtweisungen bei Missachtung der Aktivitätseinschränkung oder von Belohnungen bzw. Bestrafungen als „Druckmittel“ (Frauke, 243). In einzelnen Fällen kam es auch zu Handgreiflichkeiten, die Tamina gegenüber einer Mitpatientin beobachtete. In einem solchen Bestrafungs-Belohnungs-Prinzip ist allerdings die Gefahr einer Anpassung der Betroffenen zu sehen, wie dies auch Hilde Bruch über das „übergewissenhafte Kind“ (Bruch, 1989, S. 76) schreibt. Dazu Bianca aus eigener Erfahrung: Diese Strenge und: ,Wir wissen, was gut für dich ist‘, wodurch ich mich manchmal schon ein bisschen entmündigt gefühlt habe. Und da bin ich halt in die Anpassung gegangen: ,Bin ich halt die brave Patientin, dann habe ich meine Ruhe. Danach tu ich eh wieder, wie ich will.‘ (Bianca, 695‒699)

Diese Machtausübung in der Therapie kann jedoch umgekehrt eine solche von Seiten der Betroffenen bewirken oder verstärken. Es sei mit den Betreuenden auch „gespielt“ (Frauke, 25) worden, etwa durch Verstecken von Essen oder eine Suiziddrohung: „Ich war da, glaube ich, auch ziemlich schiach zu meinen Eltern. Ich habe dann gesagt: ‚Ihr müsst mich rausholen, weil sonst bringe ich mich um!‘ “ (Frauke, 33). Während Frauke heute Schuldgefühle äußert, war sie damals sehr verzweifelt. Sie hat diesen Aufenthalt im Krankenhaus als „ziemlich schlimme Zeit“ (Frauke, 19) in Erinnerung. Deutlich wird die Ohnmacht auf beiden Seiten, bei den Eltern und den Betroffenen. Wenngleich eine Form von Macht mit der Verweigerung von Essen verbunden ist, soll der Blick auf die Hintergründe dieses Verhaltens geworfen werden. So kann Ohnmacht bei Betroffenen durch eine zu rasche Gewichtszunahme ausgelöst werden: „Dann habe ich richtig viel zugenommen und war sehr geschockt“ (Alice, T356f.), so Alice. Durch den erlebten Kontrollverlust ‒ „ich kann's sowieso nicht steuern“ (Alice, T375) ‒ konnte sie außerdem kein Vertrauen in ihren Körper aufbauen (Alice, T372). Daher bedarf es einer behutsamen, schrittweisen Annäherung an ein höheres Gewicht, wobei das Festlegen von Teilzielen Orientierung auf dem Weg aus der Essstörung gibt (u. a. Jasmin, T543, T592). Jenseits von Bevormundung wird ein gewisses Ausmaß an Regelmäßigkeit und Struktur im Rahmen der stationären Therapie sehr wohl als wichtig und hilfreich erachtet. Sofern gleichzeitig Flexibilität gegeben ist, kann dadurch Halt anstatt Einschränkung erfahren werden kann. Diese Struktur betrifft in stationären Therapieeinrichtungen neben den Mahlzeiten auch andere Therapieangebote sowie den Austausch und die Gemeinschaft mit Mitpatientinnen. Allerdings ist hier die Motivation der Mitpatientinnen von Bedeutung, da auch destruktive Verhaltensweisen voneinander gelernt werden können. Die Erinnerung an den eigenen schlechten Zustand in früheren Zeiten bereitet mitunter Schwierigkeiten und löst sogar aggressive Gefühle aus: Mit einer habe ich so konkurriert, das war voll schlimm. Sie ist, glaube ich, ein bisschen nach mir gekommen. Die hat mich so widergespiegelt, und das war für mich einfach

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voll schlimm. Ich war eigentlich schon einen Schritt weiter, also ich habe schon ein bisschen angefangen, dass ich eine Einsicht habe und dass ich da jetzt was ändern muss; ja, dass es so nicht weitergeht. Dann kommt die, und ich habe das einfach voll nicht gepackt. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber ich glaube, die hat mich halt einfach so widergespiegelt, und die hat mich so aggressiv gemacht. Die hat sich nämlich auch einfach nie hingesetzt. Die ist immer gestanden und hat mit ihren Füßen so hinund hergewackelt. Das sehe ich heute noch. Eine Katastrophe war das. (Frauke, 585‒ 589)

Auch einige Zeit nach der Therapie kann das Treffen von (ehemaligen) Patientinnen motivierend durch hoffnungsvolle Beispiele sein oder nachdenklich stimmen, wenn die Krankheit im Verlauf hartnäckig bleibt (Anika, 905‒911). Hingegen erleichtern ein „supernettes Miteinander“ (Anika, 803), ein „Wir-Gefühl“ (Anika, 813) und eine damit verbundene Akzeptanz das Sich-Öffnen gegenüber anderen (Anika, 803). Das Erfahren von „Nächstenliebe“ (Anika, 1011), nicht nur in der Therapie, kann dazu beitragen, sich selbst anzunehmen, anderen Menschen zu vertrauen und schließlich diese „Liebe für den Menschen“ (Anika, 1011) „in die Welt zu übermitteln“ (Anika, 1021; 793). Therapeutische Zugänge: Selbst- und Beziehungserfahrung Insbesondere während stationärer Aufenthalte erfuhren die Personen verschiedene Zugänge, wie Gesprächstherapie, Traumatherapie, Kreativtherapie, Körpertherapie und pferdegestützte Therapie. Diese fanden in Form einer Einzel- oder Gruppentherapie statt, zudem wurden Familiengespräche angeboten. Jedoch sind auch selbstständige Tätigkeiten außerhalb der offiziellen Therapieeinheiten, beispielsweise Malen, kreatives Gestalten und Spiele, als wirksam im Hinblick auf die Überwindung der Essstörung zu erachten. Zentral bei den verschiedenen therapeutischen Zugängen ist die, über die medizinisch-körperliche Versorgung und Erholung hinausreichende, Möglichkeit zur Selbst- und Beziehungserfahrung. Diese Erfahrungen umfassen sowohl das Erleben als sinnlichen Anteil als auch die Reflexion als kognitiven Anteil. Eine besonders intensive Selbst-Erfahrung erlebte Bianca im Rahmen ihrer Psychotherapieausbildung, die aber erst nach der Zeit der Essstörung erfolgte. Dennoch konnte sie diesbezüglich noch weitere wichtige Erkenntnisse für sich gewinnen. So erging es auch Claudia, die sich zum Zeitpunkt des Gesprächs in einer ebensolchen Ausbildung befand. Ein Beitrag zur Selbst-Erfahrung im therapeutischen Umfeld ist das Wiedererlernen des Hunger- und Sättigungsempfindens in der Ernährungstherapie. Dieses ist für die Betroffenen zunächst aufgrund der oft langjährig nach Maßzahlen, wie Kalorien, Menge oder Gewicht, geregelten Mahlzeiten schwierig wahrzunehmen. Daher soll dessen Bedeutung in Anbetracht der häufigen Fokussierung auf die Gewichtszunahme nicht außer Acht gelassen werden (u. a. Alice, T78‒T88). Hinzu kommt, im Rahmen einer Lehrküche die Zubereitung von Speisen zu erlernen, um sich selbst ausreichend und achtsam nähren zu können (Jasmin, T1829‒T1831). Die Naturerfahrung trägt außerdem zu einem anderen Bewusstsein für Nahrung, damit auch für sich selbst, bei: Alena erwähnt hierzu die Versorgung mit frischen Eiern von den zu betreuenden Hühnern (Alena, 1035). Ein weiterer wichtiger Bestandteil ist das Erleben in der körperlichen

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Bewegung und im kreativen Ausdruck, wobei der Schwerpunkt zwar auf unterschiedlichen Körpersinnen liegt, jedoch immer die ganze Person beteiligt ist. So kann die Person sowohl durch die körperliche Berührung in der Körpertherapie Zugang zu unbewussten Erinnerungen finden als auch durch den Klang eines Instrumentes in der Musiktherapie (Müller-Braunschweig, 2010, S. 6ff.; Tüpker & Kühn, 2010, S. 244f.). Im Mittelpunkt soll jedenfalls ein umfassender Selbst-Ausdruck der Person auf körperlicher, geistiger und emotionaler Ebene stehen, womit auch der Ausdruck gegenüber anderen, der hier so bezeichnete soziale Ausdruck, verbunden ist. Vor allem gilt es, ihren Selbst-Ausdruck zu fördern: Ich habe immer geglaubt, ich kann alles ganz toll mit meinem Kopf und mit meinem Verstand und bestenfalls mit Gesprächen lösen und bin draufgekommen, das reicht nicht. Für mich war's ganz klar, bei so was Körperbezogenem wie Essstörungen muss der Körper in irgendeiner Art und Weise [dabei sein]. Sei's der Tanz oder, es gibt so viele Möglichkeiten von Ausdruck, Malen. Irgendeinen Ausdruck musst du finden. (Claudia, T2411‒T2420)

So beschreibt Alena die Kunst als einen hilfreichen Weg zu sich selbst: „Kunst ist mein Zugang. Also über das habe ich ganz viel weitergekriegt“ (Alena, 1023). Hingegen sind körpertherapeutische Ansätze für die Betroffenen aufgrund der häufigen Ablehnung ihres Körpers mitunter schwierig, als Therapiebaustein aber dennoch oder gerade deswegen wichtig (Alena, 1019). Alice gibt außerdem zu bedenken, dass der Körper einen Zugang zu Erinnerungen ermöglicht, die auch schmerzhaft sein können (Alice, T526‒ T530). Dies könnte ein Grund für diese Zurückhaltung von Betroffenen bei der Körpererfahrung sein. Die hohe Bedeutung der Körpertherapie für Menschen mit Essstörungen begründet Claudia, die oben zitiert wurde, mit der damit verbundenen körperlichen und körpersprachlichen Komponente sowie mit der Theorie des Körpergedächtnisses (Hüther, 2006; Küchenhoff, 2016; Künzler, 2010; Maurer, 2010; Sebald, 2016; s. Kapitel 2.1): „Diese körperliche Abspeicherung, die, glaube ich, unterschätzt man sehr. In der Therapie auch“ (Claudia, T2430f.). Eine Möglichkeit der Veränderung des Körpergedächtnisses sieht und erlebte sie selbst in der Osteopathie: „Dieses ‚Ich weiß im Kopf, was ich tun muss‘, aber dass dieses körperliche Begleiten vielleicht auch nicht schlecht wäre, um dieses Gespeicherte ein bisschen zu mildern“ (Claudia, T1692‒ T1695). Schwierigkeiten in Bezug auf die eigene Körperlichkeit zeigen sich auch heute noch bei manchen Personen, wie bei Bianca, die von sich selbst sagt, nicht „ganz der körperbewusste Mensch“ (Bianca, 235) zu sein. Damit spricht sie körperausdrucksbetonte Bewegungsformen, insbesondere das Tanzen, an, allerdings gleichzeitig auch davon, sich in ihrem Körper wohl zu fühlen, anstatt diesen abzulehnen. Wie in einer Gesprächstherapie ist auch in solchen sinnesbasierten Therapien, beispielsweise in der Körpertherapie, die Reflexion des unmittelbar Erlebten wichtig. Für Anja war die Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte in der Therapie jedoch zu wenig tiefgehend. Sie begründet dies damit, dass für das, „was jetzt ist, was jetzt alles passiert, der Schlüssel in meiner Kindheit liegt“ (Anja, T2125f.). Daher: „Ich will nicht reden, wie's mir jetzt geht, sondern ich will das Vergangene auflösen, damit ich leben kann“ (Anja, T2107‒T2109). Allerdings sei in ihrer Therapie der „Mantel des Schweigens“ (Anja, T1904) über die Vergangenheit gelegt worden. Neben der Aufarbeitung

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der vergangenen Erfahrungen tragen die verschiedenen Therapieformen zum Erproben von Interessen und Fähigkeiten bei, womit wiederum einerseits Freude, andererseits mehr Orientierung im Leben, mitunter im Hinblick auf den beruflichen Weg, einhergehen kann. Hilfreich für die Interaktion mit anderen Menschen ist der Austausch in der Gruppentherapie, der das gegenseitige Zuhören, Erzählen und Reflektieren von Seiten des Therapeuten bzw. der Therapeutin und der Gruppe umfasst. Dabei ist nicht nur das Ausdrücken eigener Anliegen, sondern auch das Lernen vom Leben der anderen Gruppenbeteiligten, wenn diese über sich erzählen, hilfreich (Ina, T1176‒T1209). Ina sieht dafür besonders in einer vielfältigen Zusammensetzung, beispielsweise durch verschiedene Altersstufen und Erkrankungen, sowie in einer geringen Größe eine gute Möglichkeit (Ina, T1144‒T1147). Eine gemischte Gruppe im Hinblick auf die Gewichtssituation erlebte Karin hingegen als schwierig: Sie sei sich mit ihrem Übergewicht „nicht richtig vorgekommen“ (Karin, T704) und konnte sich dadurch nicht öffnen. Da mehr Zurückhaltung möglich ist als in einer Einzeltherapie, kann die Gruppe jedoch bei Scham der Betroffenen von Vorteil sein (Ina, T1010‒T1013). Dies gelingt meist nur bei einer entsprechenden Gruppenatmosphäre, da ansonsten das Sprechen vor einer größeren Anzahl von Menschen noch schwieriger sein kann. Diesbezüglich empfand Karin eine Selbsthilfegruppe nach Abschluss ihrer Einzeltherapie als hilfreich. Dadurch sei „dieses Schamgefühl ein bisschen abgefallen“ (Karin, T1123). Selbsthilfegruppen werden von anderen Personen kaum thematisiert. Nur Bianca erzählt neben Karin von einer Teilnahme an einer angeleiteten, an der Selbsthilfe orientierten Gruppe, begleitend zur Einzeltherapie nach ihren vier stationären Aufenthalten (Bianca, 296). Im Hinblick auf Gruppenerfahrungen ist außerdem Ninas Erlebnis in einer Familientherapiesitzung zu erwähnen, wobei hier weniger der Austausch zwischen ihr, ihrer Familie und dem Therapeuten Wirkung zeigte. Stattdessen fanden Nina, ihre Eltern und ihr Bruder Übereinstimmung darin, dass sie keine Sympathie für den Therapeuten aufbringen konnten und sich in der Folge gegen ihn verbündeten (Nina, T237). Auch wenn dies kein primär erwünschtes therapeutisches Ziel war, erinnert Nina es als „ein positives Erlebnis“ (Nina, T247) für sie und ihre Familie, da sie dadurch „zusammengeschweißt“ (Nina, T240) worden seien: „Das war so richtig wieder einmal einer der Momente, wie wir es früher gehabt haben ‒ dass wir alle an einem Strang ziehen und uns so richtig gut verstanden haben“ (Nina, T250‒T252). Medikamente wurden von den Personen gar nicht oder nur kurzzeitig, vor allem in Form von Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (Selective Serotonin Reuptake Inhibitors, SSRI), eingenommen. Bei Jasmin bewirkte das Medikament, „dass ich meine Gefühle ein bisschen konstanter halten kann und dass ich nicht so empfindlich bin“ (Jasmin, T1258‒T1261). Während sie damals Nähe und Distanz in den Beziehungen zu Arbeitskollegen schwierig einschätzen konnte, sei sie heute „vorsichtiger“ (Jasmin, T1083) geworden. Anika erwähnt außerdem Wochenendangebote sowie therapeutische Spaziergänge, an denen sie bereits zu Beginn ihres stationären Aufenthaltes teilnehmen durfte. In anderen Einrichtungen wird dies hingegen bei Menschen mit Essstörungen oft sehr restriktiv, bis zur Zimmerruhe, gehandhabt. Mit dem „Realitätstraining“ (Anika, 111) in Form von Wochenendausgängen (Anika, 157) soll schrittweise auf den Alltag außerhalb

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der Klinik vorbereitet werden. Dieser Übergang kann außerdem durch lebenspraktische Aufgaben, beispielsweise konkret in Form der Haushaltsführung oder allgemein im Hinblick auf das Übernehmen von Verantwortung, erleichtert werden. Für Frauke hatte dieser Aspekt eine stärkere Gewichtung als für erwachsene Patientinnen, da sie zu Beginn ihres Aufenthalts erst vierzehn Jahre alt war (Frauke, 677‒681). Therapeutische Beziehung: Personenzentrierte Begleitung Die therapeutische Beziehung hatte für die Personen einen großen Stellenwert, insbesondere in Form der hier so bezeichneten personenzentrierten Begleitung. Diese ist im Wesentlichen durch folgende Aspekte auf Seiten des Therapeuten bzw. der Therapeutin charakterisiert: 1) Einfühlsamkeit im Hinblick auf die Bedürfnisse der Betroffenen bei gleichzeitiger Vermittlung von Klarheit und Sicherheit; 2) Präsenz im Sinne von Aufmerksamkeit für die Person der Betroffenen (anstatt der Fokussierung auf die Essstörung) einerseits und 3) im Sinne von positiver Verkörperung der eigenen Person (z. B. der Weiblichkeit mit Distanz zu gesellschaftlichen Idealen) andererseits; 4) Begleitung der Betroffenen beim Verstehen der eigenen Lebensgeschichte und 5) Zutrauen in ihre Fähigkeit, den Weg aus der Essstörung und zu sich selbst zu finden. Die Bedeutung der therapeutischen Beziehung zeigt sich daran, dass diese in der Erinnerung der Gesprächspersonen präsenter ist und ausführlicher beschrieben wird als die therapeutische Fachkompetenz (u. a. Ina, T1015f.). So erwähnt Bianca die „tolle Therapeutin“ (Bianca, 679) in der Ergotherapie, während ihr die Gruppenpsychotherapie „nicht nachhaltig in Erinnerung geblieben“ (Bianca, 679) sei. Eine nährende therapeutische Beziehungserfahrung kann viele Jahre später noch ein Gefühl von Dankbarkeit bewirken: „Auch wenn wir sicher nicht immer nur schöne Zeiten miteinander erlebt haben. Das war einfach das Beste, das mir passieren hat können, glaube ich“ (Frauke, 1793). Diese tiefe Dankbarkeit und Anerkennung fällt bei zwei weiteren Personen auf, obwohl eine von ihnen, Tamina, die damalige Therapie und den Therapeuten ambivalent sieht und kritisiert: Sie habe vieles „erduldet“ (Tamina, 1963). Ein solches ambivalentes Erleben in der Therapie beschreibt Bianca im Hinblick auf ihre Beziehung zum Therapeuten. Sie habe ihn zwar geschätzt, allerdings gleichzeitig „gehasst“ (Bianca, 681), da er immer wieder zu „streng“ (Bianca, 683), zu „rigid“ (Bianca, 687) gewesen sei. Bianca formuliert seine Art auch als: „wenn er mir so herangestiegen ist“ (Bianca, 683). Diese Vorgehensweise sieht sie als charakteristisch für die 1990erJahre, wird aber auch von anderen Personen über spätere Aufenthalte erzählt. Aufklärung über das therapeutische Vorgehen und Mitbestimmung bewirken hingegen das Gefühl, eine mündige Patientin zu sein. Übereinstimmend empfanden die Gesprächspersonen eine liebevolle Strenge, also Einfühlsamkeit einerseits und kritische Anregungen andererseits, ohne zu viel Druck auszuüben, als hilfreich. Von ihrem Therapeuten wurde Anika zwar auch mit schwierigen Themen in ihrer Geschichte konfrontiert, dennoch habe er „alles doch relativ entspannt gesehen“ (Anika, 1083). Somit ist nicht nur bei den Rahmenbedingungen eine flexible Struktur, sondern auch als Therapeut bzw. Therapeutin ein ausgewogenes Verhältnis, im Sinne eines Gleichgewichts, zwischen Offenheit und Klarheit anzustreben.

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Ähnliches erzählt Grete, die an ihrer Therapeutin besonders schätzte, dass diese sich mit ihren Stärken und Schwächen zeigte (Grete, T2772‒T2813). Das authentische Vermitteln der persönlichen Wichtigkeit der Betroffenen ist besonders bedeutsam und an einer anteilnehmenden statt passiven, distanzierten therapeutischen Haltung erkennbar. Dieses Gefühl, als Person angenommen zu werden, können ebenso Tiere vermitteln, weswegen die tiergestützte Therapie als hilfreich erinnert wird. Durch diese Anteilnahme tritt auch der Therapeut bzw. die Therapeutin als Mensch hinter seiner fachlichen Rolle hervor. Rebecca äußert die schwierige Erfahrung mangelnder Präsenz ihres Therapeuten in zweierlei Hinsicht: in der Stunde mit seiner Aufmerksamkeit (Rebecca, T1144f.) und durch das zweimalige Vergessen des Termins (Rebecca, T1216‒T1220). Hingegen erzählt Ina, dass sich ihre zweite Therapeutin lange und detailgenau an ihre Worte erinnern konnte (Ina, T1231). Sie fühlte sich von ihr „hundertprozentig ernst genommen“ (Ina, T1246), auch aufgrund ihrer Offenheit für Inas aktuelle Lebensthemen (Ina, T1039‒T1049). Die Auseinandersetzung mit diesen war für Ina wichtiger als mit ihrer Vergangenheit, möglicherweise aufgrund ihrer vorherigen Therapieerfahrung. Damals habe sie durch die Vertiefung in vergangene Erlebnisse einen Hass auf ihre Familie und Selbst-Mitleid entwickelt. Sie habe das als nicht zielführend empfunden, sich nach einer Therapiestunde schlecht gefühlt, und ihr Selbstwertgefühl sei gesunken bis zum Punkt: „Man ist dann ganz unten, und man ist niemand“ (Ina, T889f.). Allerdings gab Ina der Therapeutin keine Rückmeldung über ihr Empfinden, sodass eine Abstimmung zwischen ihnen nicht stattfinden konnte (Ina, T828‒T951). Für Grete hingegen brachte eine tiefe Auseinandersetzung mehr Orientierung auf ihrem Weg. Einerseits trug diese dazu bei, sich mit der Beraterin den eigenen Ausgangspunkt und den Sinn der Essstörung bewusst zu machen. Andererseits konnte sie die Begleitung leichter annehmen, da die Beraterin selbst Erfahrungen mit Essanfällen gemacht hatte (Grete, T2916‒T2922). Durch das Vermitteln von Wissen über die Essstörung wird den Betroffenen das Verstehen der eigenen Lebensgeschichte ermöglicht, damit wiederum eine Orientierung im Leben gegeben. Präsenz ist außerdem, angesichts der weitaus häufigeren Betroffenheit von Frauen im Vergleich zu Männern, im Sinne einer positiv verkörperten Weiblichkeit von Therapeutinnen bedeutsam. Hierzu gehören für Marianne unter anderem Selbst-Ständigkeit und Selbst-Bewusstsein (Marianne, 725). Ina erwähnt auch den Einfluss des Gewichts ihrer Therapeutin, um sie als Vorbild annehmen zu können: Wie ich sie gesehen habe, war ich froh, dass sie weder zu dünn noch zu dick ist. Weil wenn sie zu dick ist, dann denke ich mir: ,Der soll ich jetzt erzählen, dass ich mich zu dick fühle? Was soll sie sich denken?‘ Und wenn sie zu dünn ist, denke ich mir: ,Die erzählt mir, dass ich zunehmen soll, wenn sie selber so dünn ist?‘ Also sie war genau richtig. (Ina, T1270‒T1280)

Noch wichtiger waren für Ina jedoch deren Verkörperung von Lebenszufriedenheit und ihre sympathische Ausstrahlung (Ina, T1284‒T1293). Rebecca erklärt ihren Wunsch nach einer Therapeutin mit dem Verständnis für frauenspezifische Themen und Ideale (Rebecca, T1188f.):

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Ich glaube, ich hätte auch gerne 'ne weibliche Therapeutin gehabt, weil's mir dann doch ein bisschen leichterfällt, über bestimmte Frauenthemen zu sprechen. […] Dieses weibliche Empathische und das Verständnis, dass es extrem schwer ist, gegen dieses Schlankheitsideal irgendwie, ja, resistent zu sein und sich nicht darauf einzulassen. Grad so was, glaube ich, das hätte mir schon geholfen. (Rebecca, T1178‒T1182, T1204‒ T1209)

Dass Rebecca Resistenz gegenüber körperlichen Idealen anstrebt, weist auf den starken Einfluss solcher Ideale und die Schwierigkeit des Umgangs mit diesen hin. Sie dürfte sich dabei auf Frauen im Allgemeinen beziehen, da sie von „Frauenthemen“ (Rebecca, T1182) spricht, über die sie sich mit einer Therapeutin besser austauschen könne. Wenngleich sich Rebecca darüber nicht explizit äußert, könnte auch der Wunsch nach einer weniger bzw. nicht kontrollierenden Mutter-Erfahrung ein Grund für die Bevorzugung einer Frau in der therapeutischen Rolle sein. Außerdem verkörpert ihre Mutter das Streben nach diesem Ideal, gegen das Rebecca „resistent“ (Rebecca, T1206) sein möchte. Wie für Rebecca sind Erwartungen an Frauen auch für Ina ein großes Thema. Ihre zweite Therapeutin erwies sich als eine wichtige Begleitung beim Distanzieren von solchen äußeren Maßstäben. Sie war für Ina diejenige, die „auf den Weg hinbringt“ (Ina, T1255), vor allem weg vom Idealbild auf den Weg zu sich selbst (Ina, T1068‒T1077). Das Lockern der Selbst-Kontrolle zeigte sich unmittelbar nach den Gruppentherapiestunden: „Das hat sich dann einfach so gut entwickelt, also ich bin immer lockerer geworden. Ich habe richtig gemerkt, wenn ich von dieser Therapiestunde heimkomme, habe ich mir was zu essen gemacht“ (Ina, T1079‒T1082). Ina konnte ihre Lust am Essen und damit am Leben (wieder) finden. Das folgende Beispiel von Anika macht die hilfreiche Begleitung auf dem eigenen Weg in einer weiteren Hinsicht deutlich. Die Therapeutin entpathologisierte Anikas Körperempfinden und regte sie an, sich mit ihrem kindlichen Anteil zu verbinden und den Weg zum Erwachsensein zu gehen: Ich hatte teilweise den Bezug zu mir verloren, auch als ich in der Klinik war. Also ich hab mich angeschaut und hab gedacht: ‚Das stimmt nicht. Das bin ich nicht.‘ In Bezug zu meinem Körper. Ich dachte immer so Körperschemastörung oder so irgendwie, also vielleicht liegt's daran. Dann meinte die Bewegungstherapeutin mal, was ich sehen würde im Spiegel. Da kamen wir darauf, dass es eigentlich der Körper von einer Zwölfjährigen ist. Dann meinte sie, es wäre absolut natürlich oder es wäre viel beängstigender, wenn ich mich wohlfühlen würde in mir, weil ich mit neunzehn, das stimmt ja nicht überein mit dem geistigen Alter und dem, was ich im Spiegel sehe; dass es ja dadurch völlig normal wäre. Sie hat mir da mitgegeben quasi, ich soll jetzt diese Zwölfjährige an der Hand nehmen, die total verängstigt ist, und dann mit ihr langsam in die Richtung gehen, dass sich das angleicht. Das fand ich auch ein unheimlich schönes Bild, das irgendwie so mitzunehmen. Sich selbst mehr zuzuwenden, zu sagen: „Okay, da ist was, was Angst hat, erwachsen zu werden“, und dann zu sagen: „Ja, komm, wir machen das jetzt gemeinsam.“ Das fand ich wirklich sehr, sehr bedeutungsvoll. (Anika, 853‒863)

Anhand dieses Zitats wird außerdem erkennbar, dass die Therapeutin nicht die Symptome und Defizite fokussierte, sondern Anika als Person, mit ihren lebendigen Anteilen

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und Ressourcen, sah (Flückiger, 2009). Die Ermutigung und das Zutrauen, den Weg aus der Essstörung gehen zu können, sind für die Betroffenen nicht nur in der therapeutischen Beziehung, sondern auch von Seiten des Umfeldes sehr bedeutsam. Alena hingegen erlebte das Gegenteil: „Im Krankenhaus haben sie mir gesagt: ,Nicht therapierbar, es wird nicht mehr‘, so in diese Richtung. Das war schon hart, wenn du das hörst“ (Alena, 255). Dabei hatte gerade Alena immer das Ziel vor ihren Augen: „Ich will gesund sein“ (Alena, 1561). Mit einer solchen Mitteilung wird zwar Macht demonstriert, jedoch ist diese vielmehr als Zeichen der Ohnmacht der Therapeuten und Therapeutinnen zu interpretieren. Sie waren hilflos in zweierlei Hinsicht: einerseits, weil Alena nicht ihren Vorstellungen von Therapierbarkeit entsprach; andererseits gegenüber der Macht, die die Essstörung ausübte. Jedenfalls stand hier die Essstörung im Vordergrund und Alena als Person mit ihren Potentialen in deren „Schatten“ (u. a. Anika, 921). 7.2.5 Wirkungszusammenhänge der hilfreichen Aspekte Nach der Beschreibung von hilfreichen Aspekten für den Weg aus der Essstörung in den Kapiteln 7.2.1 bis 7.2.4 wird der Fokus an dieser Stelle auf deren Wirkungen und ihre Zusammenhänge gerichtet. Somit steht nun nicht im Vordergrund, wer bzw. was zur Überwindung beitragen kann, sondern die Frage, worin das hilfreiche Potential zu sehen ist. Der Beitrag dieser Aspekte für den Weg aus der Essstörung liegt im Wesentlichen darin, die Funktionen der Essstörung, insbesondere der Stabilisierung und des Schutzes, (vorübergehend) zu übernehmen und Entlastung, sowohl von der Essstörung als auch von der Überforderung im Leben, zu bringen. Diese drei Funktionen ‒ Stabilisierung, Schutz und Entlastung ‒ stehen in einem wechselseitigen Zusammenhang: Schutz beispielsweise bewirkt eine Entlastung der Person, und diese wiederum schützt sie vor zu hohen Anforderungen, den Auswirkungen der Essstörung etc. In weiterer Folge ermöglichen die hilfreichen Aspekte, die Sprache der Essstörung dieser Person zu übersetzen. Mit der Hervorhebung sei darauf hingewiesen, dass nicht von einer allgemeinen Sprache der Essstörung auszugehen ist, auch wenn es Gemeinsamkeiten bei den Betroffenen gibt. Stattdessen sind die Position und Aufgabe der Essstörung im Beziehungskontext der jeweiligen Person zu sehen. Dies kann mit verschiedenen Dialekten verglichen werden: Eine Landessprache unterscheidet sich regional mitunter deutlich, dennoch ist eine Verständigung über eine Gemeinsprache möglich. Das Verstehen der Sprache der Essstörung wirkt wiederum stabilisierend und entlastend, da es von Ohnmacht befreit und andere Lebensformen, ohne des Schutzes der Essstörung zu bedürfen, möglich macht. Wissen über die Essstörung im Allgemeinen und um die Bedeutung im eigenen konkreten Fall durch eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ist daher für die Gesprächspersonen ein wichtiger Beitrag für den Weg aus der Essstörung. Das Ausmaß und der Schwerpunkt des Bedarfs an Stabilisierung, Entlastung und/oder Schutz variiert in Abhängigkeit von der Person, vor allem im Hinblick auf ihre Entwicklung und Lebenssituation. In Bezug auf das Ausmaß dieser Aspekte kann eine Betroffene beispielsweise mehr Stabilisierung benötigen, wenn sie sich an einem Entwicklungsübergang, etwa vom Studium zum Beruf, befindet. Bei körperlichen und/

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oder verbalen Übergriffen im häuslichen Umfeld steht zunächst der Schutz mehr im Vordergrund. Der Schwerpunkt des Bedarfs ist als Position zwischen zwei Polen zu verstehen: zwischen Stabilisierung und Selbst-Ständigkeit, zwischen Entlastung und Selbst-Verantwortung sowie zwischen Schutz und Selbst-Sicherheit. Von Bedeutung ist somit die hier so bezeichnete personenzentrierte Abstimmung: das Ausmaß und die Schwerpunktsetzung bezüglich Stabilisierung, Entlastung und Schutz auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Person zum jeweiligen Zeitpunkt abzustimmen.

Zeit

BBeziehungen

Zeitpunkt, verzögerte bzw. überdauernde Wirkung, Dauer und Regelmäßigkeit

Nähe: Wertschätzung als Person, Mit-Teilen, Zutrauen

seelisch Selbst-stimmige Aufgaben: Freude, Interesse

Selbst-Ebene Beziehungs-Ebene

körperliche Nahrung

symbolische Nahrung

Bewegung, Lebensmittel

geistig Wissen über die Essstörung, Bewusstwerden der Zusammenhänge in der eigenen Lebensgeschichte, (religiöser) Glaube

Stabilisierung personenzentrierte Abstimmung:

Entlastung

Ausmaß und Schwerpunkt des Bedarfs in Abhängigkeit der persönlichen Entwicklung und der Lebenssituation

Schutz

Übersetzung der personenspezifischen Sprache der Essstörung Abbildung 5

Wirkungszusammenhänge der hilfreichen Aspekte als körperliche und symbolische Nahrung (eigene Darstellung)

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Im Rahmen dieses Kapitels wird zunächst das Verständnis jener Einflüsse, die hilfreich für die Überwindung der Essstörung sind, als körperliche und symbolische Nahrung erläutert. Es folgt eine Vertiefung in verschiedene Dimensionen der Zeit, die eine symbolische Nahrungsform darstellt. Nach der Beschreibung der stabilisierenden, entlastenden und schützenden Wirkungen dieser Nahrungsaspekte bilden Beispiele für deren personenzentrierte Abstimmung den Abschluss des Kapitels. In Abbildung 5 sind die genannten Inhalte veranschaulicht. Körperliche und symbolische Nahrung Aspekte, die Stabilisierung, Entlastung und/oder Schutz bringen, sind Nahrung im umfassenden, nämlich im körperlichen und symbolischen, Sinn. Unter körperlicher Nahrung werden vor allem Lebensmittel, aber auch körperliche Bewegungsformen verstanden. Symbolische Nahrung umfasst seelische und geistige Nahrung, Beziehungsnahrung sowie Zeit und wurde mit einer anderen Einteilung in den Kapiteln 7.2.1 bis 7.2.4, den Überschriften entsprechend, ausgeführt. Zu seelischer Nahrung zählen vor allem die für das Selbst stimmigen Aufgaben, die mit Freude und Interesse umgesetzt werden. Das freudvolle Tun und Gestalten erzählt Karin in Bezug auf ein Praktikum: „Das war echt super! Ich konnte dort genau das machen, was ich wollte“ (Karin, T402‒ T404). Bei Rebecca wird darüber hinaus deutlich, dass sie mit ihrem Studium ein früheres Interesse aufgriff, das sie auf ihrem Weg aus der Essstörung stärkte. Als geistige Nahrung sind hier Wissen und Bewusstwerdung sowie der (religiöse) Glaube angeführt. Tamina beschreibt dazu treffend ihre nährende Erfahrung mit dem religiösen Glauben: „Meinen Seelenhunger stillt einfach die Heilige Eucharistie“ (Tamina, 2255). An anderer Stelle drückt sie dies außerdem als medizinische, heilende Nahrung aus: „Eben, das Heilen: Der beste Arzt ist Jesus“ (Tamina, 667). Ein Beispiel für die hilfreiche Wirkung von Bewusstwerdung erwähnt Karin: Für ihren Weg aus der Essstörung war das Aufzeigen ihrer Selbst-Distanz von Seiten der Therapeutin sehr bedeutsam (Karin, T3134‒T3143). Hierfür wiederum ist das Wissen um die Dynamik der Essstörung, das in der Therapie, durch Literatur und im Austausch mit anderen (ehemaligen) Betroffenen erworben werden kann, erforderlich und förderlich. Die Beziehungsnahrung als weitere symbolische Nahrung umfasst Beziehungserfahrungen im therapeutischen Kontext sowie im Umfeld. Von großer Bedeutung sind hier vor allem die Wertschätzung der Betroffenen als Person, das gegenseitige Mit-Teilen sowie das Zutrauen der Überwindung. Diese sind einerseits Merkmale von Nähe und tragen andererseits wiederum zu Nähe zwischen den Menschen bei. Auch Zeit ist symbolische Nahrung, die in andere Nahrungsaspekte in mehr oder weniger großem Ausmaß einfließt: So bedarf es zum Beispiel für wohltuendes Zusammensein mit Menschen und freudvolles Tun an Zeit, vor allem für die Überwindung im umfassenden Sinn. Die körperliche Nahrung einerseits und die seelische sowie geistige als symbolische Nahrung andererseits werden hier als Selbst-Nahrung der Selbst-Ebene zugeordnet, auch wenn diese ebenso in den Beziehungen zu anderen präsent sein können. So ist eine freudvolle Aktivität, wenn sie alleine ausgeführt wird, beispielsweise das Üben des Gitarrenspiels, seelische Nahrung für das Selbst. Diese kann jedoch mit anderen Menschen, beim Musizieren in der Gruppe, geteilt werden. Nahrung, die das Selbst erreicht,

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kann in zweierlei Hinsicht wirksam sein: Selbst-wirksam ist sie im Sinn einer tiefergehenden Wirkung auf das Selbst. Eine solche erfuhr Alena durch die Kunst, durch die sie sich selbst näherkommen konnte: „Ich habe ganz viel Bestätigung und Positives für mich über die Kunst finden können“ (Alena, 59). Eine zweite Wirkung besteht in der Selbstwirksamkeit, als Formulierung ohne Bindestrich: Selbst-Nahrung ist häufig mit der Erfahrung verbunden, mit dem eigenen Tun etwas bewirken zu können, und stärkt damit das Gefühl der Selbstwirksamkeit. So erzählt Karin von der Bestärkung durch die Wiederaufnahme der sportlichen Aktivität, wodurch sie nicht nur ihr Übergewicht reduzieren, sondern auch die Veränderbarkeit der Situation durch das eigene Handeln erfahren konnte (Karin, T802‒T824). Beziehungserfahrungen im Alltag und in der Therapie als weitere symbolische Nahrung sind Beziehungsnahrung und werden von der Selbst-Nahrung unterschieden. Es wird hier nur im Hinblick auf Umfeldbeziehungen und die therapeutische Beziehung von Beziehungs-Ebene gesprochen, wenngleich auch auf der Selbst-Ebene eine Beziehung, nämlich die Selbst-Beziehung, besteht. Die symbolische Nahrungsform Zeit ist über die Selbst- und Beziehungs-Ebene hinaus umfassend präsent und wirksam – letztlich zeigt sie sich in der menschlichen Existenz an sich, vor allem in deren Endlichkeit. Im Bewusstwerden dieser zeitlichen Begrenzung liegt das hilfreiche Potential des Leidensdrucks für den Weg aus der Essstörung, da dadurch die eigene Verletzlichkeit unmittelbar erlebt wird. Somit geht es an dieser Stelle um eine Schwerpunktsetzung auf der Selbst- oder Beziehungs-Ebene und nicht um eine Ausschließlichkeit der Zuordnung. Wie die Beziehungserfahrungen werden auch die Nahrungsformen zwar einzeln genannt, aber nicht als isoliert auf einer Ebene wirkend betrachtet. Eine ausreichende Lebensmittelzufuhr als körperliche Nahrung hat ebenso seelische Auswirkungen, beispielsweise in Form der Stimmungsstabilisierung, und bringt auf geistiger Ebene unter anderem eine erhöhte Aufmerksamkeit oder mehr Zuversicht mit sich. Es ist anzunehmen, dass die meisten Menschen diesen Unterschied im Gesamtbefinden zwischen Hunger- und Sättigungszustand kennen. Dimensionen und Bedeutung der Zeit Eine wichtige Einflussgröße im Zusammenhang mit hilfreichen Aspekten für die Überwindung der Essstörung sind verschiedene Zeitdimensionen: Zeitpunkt, verzögerte bzw. überdauernde Wirkung, Dauer sowie Regelmäßigkeit. Der Zeitpunkt ist im Hinblick auf die Bereitschaft der Person, den Weg aus der Essstörung zu gehen, von Bedeutung (u. a. Silvia, T1472f.). Doch „über den Schatten zu springen“ (vgl. Silvia, T1510f.), also der Sprung in die Bereitschaft, kostet „Mut“ (Silvia, T1511) – dies könnte nicht nur der eigene Schatten, sondern auch jener der Essstörung, von dem Anika und Irina sprechen, sein (Anika, 921; Mail Irina, 05.12.2015). Die Bereitschaft ist von außen allerdings nur eingeschränkt beeinflussbar und ebenso von der Person selbst nicht zu erzwingen. Deren Fehlen kann den förderlichen Einfluss eines Aspekts zwar verzögern, nach Taminas Ansicht jedoch nicht zunichtemachen. Sie geht in diesem Fall von einer unterschwelligen, zunächst nicht sichtbaren Wirkung aus:

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Auch wenn die Zeit noch nicht reif ist, wenn der Mensch nicht bereit ist, nimmt man alles auf. Man merkt sich vielleicht auch das Gute, es bringt ja trotzdem was. Es hat sicher auch damals die Therapie etwas gebracht. (Tamina, 385)

So trug bei Marlies eine Ernährungsumstellung zunächst nur kurzzeitig, bei einem späteren zweiten Versuch jedoch langfristig zur Überwindung der Bulimie bei (Marlies, 42‒ 46). Auch für Bianca war die stationäre Therapie an der gleichen Abteilung erst nach ihrem Herzstillstand hilfreich. Zuvor bestand noch keine Bereitschaft ihrerseits, sondern die Therapie hatte den Zweck einer Flucht vor ihrem Elternhaus (Bianca, 7, 23). Allerdings ist in diesen Beispielen nicht von derselben Maßnahme zu einem späteren Zeitpunkt zu sprechen, da sich die Herangehensweise bei der Ernährungsumstellung bzw. die Zusammensetzung der Personengruppe in der Klinik, also die Situation in mehrerlei Hinsicht, inzwischen verändert hatte. Außerdem wird das Zusammenwirken von Zeitpunkt und Bewusstwerden des Leidensdrucks deutlich. So meint Bianca über das Erleben bzw. Überleben ihres Herzstillstandes: „Das war schon so ein Schlüsselmoment, in dem ich einfach gewusst habe: ,Wenn ich jetzt nicht was tue, das nächste Mal überlebe ich es nicht!‘ “ (Bianca, 23). Der Zeitpunkt der Bereitschaft ist somit ein Moment der Bewusstwerdung (s. Kapitel 8.1.3). Anja drückt dies in Bezug auf die Auseinandersetzung mit sich selbst aus: „Die Zeit war reif, muss ich sagen, als ich gesagt habe: ,Es geht so nicht mehr, ich muss jetzt hinterfragen, warum mir das alles passiert!‘ “ (Anja, T1082‒T1084). Die Bewusstwerdung und damit ein Anstoß zur Veränderung werden durch das Zusammentreffen von äußerer Anregung und eigenem Wunsch begünstigt. So machte Rebeccas Vater sie auf die Bewerbung um einen Studienplatz, mit dem letztlich ihr Umfeldwechsel einherging, aufmerksam und stieß damit auf den Wunsch von Rebecca, „aus meinem Dorf rauszukommen, wo ich davor gelebt habe“ (Rebecca, T888f.). Dass sich das Eintreten der Bereitschaft sowie hilfreiche Einflüsse ungeplant und plötzlich ereignen können, wird bei Claudia deutlich: „Ja, ich glaube, das [Treffen des Osteopathen] war mein Wendepunkt. So völlig, wie sagt man denn: ungewollt unvorbereitet“ (Claudia, T1895f.). Jedenfalls wird in den Erzählungen deutlich, dass mit vorhandener Bereitschaft sogar Situationen, in denen „die Logik völlig verquert“ (Claudia, T2010) ist, also Situationen, die objektiv kaum umsetzbar erscheinen, bewältigt werden können. Das Vermögen und die Bereitschaft, wohltuende Aspekte anzunehmen, sind im Laufe der Überwindung vermehrt erkennbar und verstärken sich durch bereits vorangegangene angenehme Erfahrungen. Die Schwierigkeit besteht darin, den Ausweg aus dem „Teufelskreis“ (Marlies, 508) und gleichzeitig das Eintreten in den Überwindungsprozess zu finden. Diesbezüglich stellt sich die Frage, ob eine Therapie hilfreich sein, der Therapeut oder die Therapeutin Zugang zur Person finden kann, wenn für diese noch nicht der passende Zeitpunkt für eine Therapie gegeben ist. Denkbar sind hier zwei Einflussrichtungen: Die Person trifft erst bei entsprechender Bereitschaft auf eine für sie adäquate Therapiemöglichkeit. Umgekehrt ist eine Bereitschaft zur Therapie dann wahrscheinlicher, wenn sie sich in der therapeutischen Beziehung wohlfühlt. Sich für die Überwindung der Essstörung bzw. überhaupt für die Möglichkeit der Überwindung zu öffnen, soll sowohl bei den Betroffenen als auch bei den Therapeuten und Thera-

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peutinnen gegeben sein. Noch mehr als die vergangene Zeit seit den ersten Essstörungserfahrungen dürfte hierfür der Leidensdruck der Betroffenen eine Rolle spielen. Sehr wohl äußern die Personen jedoch die Vermutung, dass sie den Weg aus der Essstörung leichter geschafft hätten, wenn sie entweder überhaupt (bezogen auf die Personen ohne Therapieerfahrung) oder früher therapeutische Hilfe annehmen hätten können. Frauke sieht ihr damaliges junges Alter und den raschen Therapiebeginn bei noch kurzer Erkrankungsdauer jedenfalls als erleichternd für ihren Weg aus der Essstörung an. Daher regen die meisten Gesprächspersonen noch Betroffene an, möglichst frühzeitig Hilfe anzunehmen (s. Kapitel 10.1). Eine erst später erkennbare oder überdauernde, langfristige Wirkung von beeinflussenden Aspekten erwähnen die Gesprächspersonen nicht nur im Hinblick auf die Überwindung der Essstörung, sondern auch auf frühe Erfahrungen. Marina bezieht sich auf das „Urvertrauen“ (Marina, 616) und die „essentielle Liebe in den prägenden Jahren“ (Marina, 610) der Kindheit, die sie als wichtige Grundlage des Lebens sieht. Sie hätte sich diese Erfahrungen gewünscht, musste sie jedoch entbehren. In der Äußerung dieses psychologischen Konzeptes spiegelt sich ihr fachlicher Wissenshintergrund als Psychologin, unter anderem über Ergebnisse der Bindungsforschung, wider (u. a. Bowlby, 2014; Brisch, 2011) und der Psychoneuroimmunologie (u. a. Schubert, 2014; Schubert & Amberger, 2016). Anhand von Irinas Erzählungen wird deutlich, wie in der Kindheit geweckte Wünsche und Sehnsüchte später erinnert und umgesetzt werden können. Die Lebensweisen eines Onkels und einer Tante, die von jener ihrer Eltern abwichen, dürften für ihre spätere Entwicklung prägend gewesen sein und sie ermutigt haben, ihren eigenen Weg zu gehen. Zeit ist außerdem im Hinblick auf die Dauer des Einwirkens von hilfreichen Aspekten bedeutend: „Das hat wachsen müssen. Ich glaube, die Zeit, dieses ständige Immerdauernd-an-mir-Arbeiten und die Beziehungen, die mir geschenkt worden sind; oder ich weiß nicht, wie ich sagen kann: die mich über die Jahre hinweg so begleiten“ (Alena, 1385). Bei Alena spielt hier die Zeit in zweifacher Hinsicht eine wichtige Rolle: in der Selbst-Beziehung, die sich durch die Kontinuität der Auseinandersetzung mit sich selbst vertieft hat, und in Form der über die Jahre andauernden Beziehungen zu anderen. So benötigen das Zuwenden, sich selbst sowie anderen gegenüber, und die Zuwendung von anderen ein gewisses Maß an Zeit. Marlies beispielsweise konnte durch eine Auszeit vom Studium einerseits mehr Zeit für das Auseinandersetzen mit sich und der Essstörung, andererseits für das Erleben mit Freunden und Freundinnen gewinnen (Marlies, 526‒532). Das hilfreiche Potential eines Aspekts kann sich jedoch im Verlauf verringern und dieser dann sogar als hemmend für die eigene Entwicklung empfunden werden. Während Irinas früherer Lebenspartner über Jahre hinweg, als sie erkrankt war, ein wichtiger Begleiter für sie war, würde er sie heute einschränken (Irina, 1937). Die Zeitdauer ist außerdem in der Therapie von großer Bedeutung: Beispielsweise bedarf es bei einem stationären Aufenthalt einer Zeit des Eingewöhnens, mitunter einer Verlängerung in Abhängigkeit der persönlichen Situation, vor allem, um Zeit für sich zu gewinnen. Die Kenntnis eines ungefähren Richtwertes für die Therapiedauer und ein überschaubarer Zeitraum sind hilfreiche Anhaltspunkte, insbesondere zu Beginn der oft schwierigen Eingewöhnungszeit. Dadurch kann sich auch im Fall einer zunächst

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noch vorhandenen Zurückhaltung oder eines anfänglichen Widerstandes der Betroffenen allmählich ein vermehrtes Einlassen auf die Therapie zeigen. So verschloss sich Frauke zunächst gegenüber den therapeutischen Angeboten, im Verlauf konnte sie sich jedoch dafür öffnen. Das Eingewöhnen an die neue Umgebung wird durch Mitpatientinnen, zu denen eine gute Verbindung besteht, und insbesondere durch eine unterstützende therapeutische Beziehung erleichtert (Frauke, 69‒79, 155‒157). Vorkommnisse im Umfeld tragen ebenso dazu bei (s. Kapitel 7.2.3): Erst als sich die Konflikte zwischen ihren Eltern aufgrund der Scheidung während ihres stationären Aufenthalts beruhigten, konnte sich Frauke, von diesen Sorgen befreit, ihrem eigenen Entwicklungsprozess zuwenden (Frauke, 147‒153). Hier spiegelt sich das Ergebnis von Untersuchungen zur Auswirkung einer Scheidung auf die Kinder wider, wonach diese durch die Trennung, wenn die Elternbeziehung im Vorfeld konfliktreich war, keine nachteiligen Entwicklungskonsequenzen, sondern im Gegenteil eher Entlastung erfahren (Walper, Langmeyer & Wendt, 2015). In Zusammenhang mit der Dauer steht die Regelmäßigkeit des Einwirkens von hilfreichen Aspekten. Diese beiden zeitlichen Dimensionen haben ein wichtiges Stabilisierungspotential für Betroffene: Durch ihr kontinuierliches oder regelmäßig wiederkehrendes Vorhandensein geben solche förderlichen Aspekte den Betroffenen Stabilität, bis sie diese allmählich in sich selbst finden können. Bei Ina gingen mit der eigenen Familiengründung ein fester Wohnsitz und die konstante Nähe ihres Mannes, da er dadurch auf Auslandsaufenthalte verzichtete, einher (Ina, T504). Sie erhielt somit Sicherheit und Stabilität durch die äußeren Umstände. Hierzu kann außerdem eine stabile therapeutische Beziehung über längere Zeit wesentlich beitragen. In Bezug auf die Regelmäßigkeit werden besonders der geregelte Ablauf in der Therapieeinrichtung und die dadurch erhaltene Struktur genannt. Stabilisierung Stabilität ist somit einerseits im zeitlichen Sinn, andererseits aber auch als Beziehungsmerkmal zu verstehen, indem Rückhalt im Umgang mit Lebensaufgaben sowie das Gefühl, im eigenen Sein, auch bei auftretenden schwierigen Stimmungen und Emotionen, akzeptiert zu werden, vermittelt wird. Darüber hinaus kann eine Stabilisierung auf körperlicher Ebene erfolgen, die sich wiederum auf die gesamte Person auswirkt. So stabilisierte sich Gretes Stimmung durch die Einnahme von Sertralin, einem Antidepressivum, begleitend zur Psychotherapie. Sie sei dadurch „nicht mehr so hippelig und nervös“ (Grete, T717f.) gewesen. Bei Ina trugen seelische Nahrung in Form von Freude an den Inhalten des neuen Studiums sowie der Umfeldwechsel zur Stabilisierung bei. Allerdings beschreibt sie diese Zeit als „existentialistischen Trip“ (Ina, T1805), wobei sie „körperliche Bedürfnisse ganz zurückschrauben“ (Ina, T1805f.) und sich auf die geistige Ebene begeben konnte, da dies in diesem Umfeld verbreitet sei. Diese „totale Hingabe zum Lesen“ (Ina, T1823) sieht sie als „Entwicklungsschritt“ (Ina, T1822) und könnte so erklärt werden: Wenngleich die Anorexie noch präsent und ebenso mit Bedürfnislosigkeit verbunden war, dürfte sich Ina unter diesen Gleichgesinnten nicht als abweichend aufgrund ihrer Zurückhaltung beim Essen gefühlt haben. Dadurch erfuhr sie Halt, der ihr ermöglichte, die Stabilisierung durch die Essstörung allmählich aufzugeben. Dies

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wurde wiederum durch weitere hilfreiche Einflüsse, insbesondere das Zusammensein mit ihrem Mann, erleichtert. Wie Ina nennen auch andere Personen vor allem Beziehungserfahrungen als wichtigen Beitrag zur Stabilisierung. Jasmin erfuhr von ihrer ambulanten Therapeutin über Jahre hinweg Rückhalt, der angesichts ihrer unsicheren Lebenssituation in der Jugendzeit, mit häufig nur temporären Wohnmöglichkeiten sowie Enttäuschungen, von großer Bedeutung für ihren Weg aus der Essstörung war (Jasmin, T2445‒T2468). Mit dem eigenen Maß anerkannt zu werden, stellt sich als besonders heilsam heraus. So erzählt Rebecca über ihren Freund, für den äußere Merkmale nicht im Vordergrund stehen: Das hat dann auch zu diesem Ausschleichen beigetragen, weil er hat mir immer verdeutlicht, dass ihm so, weiß nicht, so äußere Merkmale an 'nem Mädchen nicht wichtig sind; dass ihm halt das Aussehen nicht wichtig ist. Das hat mir eigentlich auch ziemlich stark geholfen. (Rebecca, T708‒T727)

Eine solche Begegnung sieht Rebecca allgemein als wichtigen Beitrag für den Weg aus der Essstörung: „Ich glaube, dass ein Freund da ganz guttut, der einem, wenn er ein lieber Freund ist, auch vermittelt, dass man eben nicht so [dünn] aussehen muss, um geliebt zu werden“ (Rebecca, T782‒T785; vgl. Anja, T481‒T483). Stärkend wirkt außerdem das Teilen verschiedener Themen mit Menschen, das MitTeilen (u. a. Anja, T1430f.). Umgekehrt gibt die Anteilnahme von anderen Stabilität, die Anja nachfolgend als „Umkippen im positiven Sinne“ (vgl. Anja, T2372f.) bezeichnet. Aufrichtige Nähe in Form von Liebe, Geborgenheit und Wohlwollen können der Feindschaft gegenüber sich selbst entgegenwirken: Wo bin ich immer umgekippt im positiven Sinne: Wenn's ganz liebe Menschen waren, die mir gezeigt haben, dass sie sich Sorgen um mich machen; die wollen, dass es mir gut geht, und die mich auch in den Arm genommen haben. […] Die Liebe und die Geborgenheit sind das. Wenn das da ist, dann braucht sich keiner mehr selbst zu bekämpfen. (Anja, T2372‒T2376, T2381‒T2383)

Diese Nähe kann in Form von Wärme spürbar sein, auf körperlicher und emotionaler Ebene: „Dieser Mensch fühlt sich so warm an, und das ist gut. Du darfst das jetzt haben, dieses Warme, dieses Geborgene“ (Anja, T503f.). Stabilität bzw. ein „Grundstock“ (Anja, T1454) wird durch ehrliche, verlässliche Bindungen geschaffen, wodurch sich die Person gehalten und in ihrem Sein angenommen fühlt. „Da waren Menschen“ (Anja, T1547f.), meint Anja, und beschreibt diese Erfahrung in einer Vereinsgemeinschaft folgendermaßen: Das ist ehrlich, weißt du, das ist ehrlich, ohne irgendwelche Hintergedanken. Das ist das Schöne. Wo ich erkenne: Ich kann das jetzt von ganz lieben Menschen haben, weil ich es ja auch gern gebe, gell? Also habe ich alles, den ganzen Grundstock, um jetzt alles aufzuarbeiten für mich. Da spürst du, da ist jemand da, und ich brauch mich nicht zu verstellen. Das ist es. Ich brauch mich nicht zu verstellen. (Anja, T1445‒T1467)

Eine solche verlässliche Beziehung erlebte und erlebt Ina mit ihrem Mann. Er erkennt sie als Person an, indem er seinen Fokus nicht auf ihre äußeren Maße legt. Außerdem

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stellte er ihr früheres Essverhalten nicht als Störung, sondern als „sehr spezielle Eigenart“ (Ina, T2007) dar. Somit reduziert er Ina nicht auf ihr Aussehen und Verhalten: „Nein, er hat mich immer so angenommen, wie ich bin“ (Ina, T2028), und: „Er hat mir gelernt, dass es nicht aufs Aussehen, sondern auf die Ausstrahlung ankommt. […] Er sagt auch immer, wenn ich zehn Kilo mehr hätte, würde ich ihm genauso gut gefallen. Ich glaube es ihm wirklich. Das ist für mich, für meinen Weg, glaube ich, auch sehr wichtig gewesen“ (Ina, T2063‒T2065, T2075‒T2079; Hervorhebung A. K.). Die Formulierung, dass er, also Inas Mann, ihr das Beschriebene gelernt hat, sowie andere Beispiele im Gespräch warfen im Rahmen der Auswertung die Frage nach Co-Abhängigkeit auf (Ina, T2010‒T2015). Allerdings wurde der Begriff im weiteren Forschungsprozess, mit Ausnahme von wörtlichen Zitaten, nicht weiter verwendet, da dieser laut Uhl und Puhm häufig zu unkritisch Gebrauch findet und mit Schuldzuweisungen an das Umfeld assoziiert sein kann (Uhl & Puhm, 2007). Stattdessen soll hier lediglich erwähnt werden, dass die Essstörung die Beziehungsdynamik zwischen Ina und ihrem Mann beeinflusste. Da er in den ersten Jahren ihres Zusammenseins häufig beruflich im Ausland war, sei es ein bisschen ein Teufelskreis immer wieder gewesen. Das war immer wieder so ein Hin und Her zwischen Ablösen, Abkoppeln und dann doch total abhängig sein von den Eltern, wenn sonst keiner da war. Da habe ich mich mit Sozialkontakten sehr schwergetan, obwohl ich sonst sehr kontaktfreudig bin. Aber ich habe keine Lust gehabt auf soziale Kontakte. (Ina, T221‒T226)

Allerdings sei es Ina immer wichtig gewesen, ihren Mann nicht einzuschränken. Außerdem betont sie, dass die Instabilität im Hinblick auf die situativen Umstände und nicht auf die Beziehung vorhanden war (Ina, T411‒T413). Die empfundene emotionale Nähe dürfte Ina gestärkt haben, die temporäre Abwesenheit ihres Mannes zu akzeptieren. Für Alena war ihr Partner ebenso eine vorübergehende Stabilisierung, jedoch in Form einer Abhängigkeit und schwierigen, für sie zum Teil demütigenden Beziehungserfahrung. Sie spricht dabei von einer „Suchtverschiebung“ (Alena, 89): Wobei er Narzisst ist und ich da quasi in so eine wunderschöne, ja, wie sagt man, CoAbhängigkeit hineingekommen bin. Ich habe viel mit mir machen lassen, das ich sicher nicht gemacht hätte, wenn ich ihn nicht so gebraucht hätte. Auch für meine Gesundheit. Er hat mir einfach die Stabilität gegeben, dass ich das mit dem Essen gehen lassen habe können. Also ich habe fast so eine Suchtverschiebung gehabt; oder ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. (Alena, 87‒89)

Zutrauen von Seiten des Umfeldes, den Weg aus der Essstörung bewältigen zu können, hat eine besonders stärkende Wirkung auf die Betroffenen. Jasmin erfuhr ein solches Zutrauen von Seiten der Ausbildungsleiterin einer Krankenpflegeschule, der sie beim Aufnahmeverfahren offen mitgeteilt habe, dass sie „noch nicht ganz über den Berg“ (Jasmin, T830) und in ambulanter Therapie wegen der Essstörung sei. Sie vertrat damals überzeugend ihre Motivation für die Ausbildung: „Dass ich da die Chance gekriegt habe, das hat mich total bestärkt. Wenn ich für etwas kämpfe, dass es schon Sinn macht“ (Jasmin, T1797‒T1800).

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Nähe durch Wertschätzung, Mit-Teilen und Zutrauen ist auch in Form einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung von wesentlicher Bedeutung und trägt zur Stabilisierung bei (u. a. Jasmin, T2448‒T2453). Dies spricht Ina im Hinblick auf die ambulante Therapiegruppe an, da sie durch eine dauerhaft gleichbleibende Zusammensetzung Vertrauen und Zusammenhalt erlebte (Ina, T1144‒T1147). Ebenso wirken Struktur und Regelmäßigkeit nicht nur bei den Mahlzeiten, sondern im Rahmen des gesamten stationären Therapieangebotes haltgebend. Alice spricht im Hinblick auf die Essensstruktur die Gewohnheit als Wirkung an: „Wenn du nichts anderes machst, dann gewöhnt sich dein Gewissen auch dran“ (Alice, T265‒T267). Sie schreibt hier die Gewöhnung dem Gewissen zu, das durch die regelmäßige Zufuhr einer ausreichenden Essensmenge die Erlaubnis dazu leichter erteilen könne. Hierin wird die Strenge des Über-Ichs von Menschen mit Essstörungen deutlich (Ettl, 2013, S. 105). An weiterer Stelle meint sie: „Dass man sich mehr dran gewöhnt, was [an Essen] man wirklich braucht“ (Alice, T350f.). Da sich die Bedürfnisse jedoch verändern (können), soll bei einer solchen Gewöhnung eine gewisse Flexibilität erhalten bleiben. Entlastung Stabilität wiederum wirkt entlastend, da ein Teil der Verantwortung dadurch abgegeben werden kann. Dieser Aspekt wird insbesondere im Hinblick auf die Essenstruktur erwähnt, da die Festlegung von Menge und Zusammensetzung des Essens eine große Belastung für die Betroffenen darstellt. Bei Grete war es die „Erlaubnis zum Überessen“ (Grete, T1251) von Seiten ihrer Ernährungs- und Lebensberaterin, die ihr damit einen Teil der Verantwortung für die Essenskontrolle abnahm. Angesichts ihrer Strenge sich selbst gegenüber hatte dies eine entlastende Wirkung auf Grete. Gleichzeitig muss das Gefühl der Mitbestimmung aufrechtbleiben, um eine Verantwortungsabgabe als positiv zu erfahren. Außerhalb der Therapie konnte eine solche Struktur durch geregelte Zeiten, beispielsweise im Praktikum (Karin, T402‒T418, T3262‒T3269) oder im Studium (Rebecca, T1331f.), hilfreich sein, wobei jedoch auch die Freude an der Tätigkeit entscheidend ist. Das temporäre und teilweise Abgeben von Verantwortung wurde vor allem dann als entlastend empfunden, wenn früher (zu) viele Belastungen getragen werden mussten, ohne ausreichend Halt zu bekommen. Beispielsweise erfuhr Anja bei ihrem damaligen Mann zwar Geborgenheit durch seine Stärke (Anja, T1391), allerdings fühlte sie sich für den Alltag alleine verantwortlich, insbesondere für ihre gemeinsamen Kinder. Durch die berufliche Abwesenheit ihres Mannes entfernten sie sich zudem emotional voneinander: „Ich habe alles gemacht, wirklich alles gemanagt ‒ mit dem Bewusstsein, ich habe einen Mann, aber eigentlich habe ich gar keinen“ (Anja, T1401‒ T1403). Marianne hingegen bezieht sich auf die Überforderung als Kind und erfuhr daher die betreute Wohngemeinschaft als entlastend. Ihre Aussage legt angesichts ihres psychosozialen Hintergrunds die Prägung durch psychologische Theorien nahe: Sicher haben meine Eltern Verantwortung gehabt. Aber irgendwie habe ich so viel Eigenverantwortung schon als Kind übernommen, dass ich da nicht mehr Kind sein habe können. Und da [in der betreuten Wohngemeinschaft] habe ich das abgeben können, glaube ich auch. Diese Verantwortungen, die ich für mich schon als Kind aufbauen habe

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müssen, habe ich da jetzt einmal sein lassen können und habe einmal, weiß ich nicht, einfach so leben können. Das hat mir, glaube ich, gutgetan. (Marianne, 281)

Eine solche Entlastung, da sie sich, anders als zu Hause, weniger verantwortlich fühlen konnte, erlebte Marianne auch in ihrer Therapie: „Bei ihr [der Therapeutin] habe ich nie in irgendeine andere Rolle hineingehen müssen. Da habe ich einfach immer, weiß ich nicht, das Kind oder halt die Klientin sein können“ (Marianne, 723). Ebenso wurde Bianca in der Therapie eine Last abgenommen, indem ihr Therapeut sie ent-schuldigte: Er befreite sie von Schuldgefühlen, die sie aufgrund der Tatsache ihrer Betroffenheit von der Essstörung hatte. Durch die damit verbundene Stabilisierung wurde der Essstörung Macht genommen. Halt erfuhr Anja in der Therapie durch das Mit-Teilen und Ausleben von Wut (Anja, T418‒T430) und vor allem durch den Austausch mit anderen Patienten und Patientinnen. Hier spielt die Entlastung durch Verringerung des Schamgefühls eine große Rolle: Da waren Ängste da, und ich habe dort plötzlich Menschen kennengelernt, zu denen ich nie Zugang gehabt hätte: einen Mathematik-Professor von der Uni und die alle ihre Erlebnisse, alles vom inneren Kind, von der Kindheit diese Prägung mitgeschleppt haben. Das war schön, das war einfach schön, unter Menschen zu sein. Da war kein Schämen, da war da: Ich bin da, ich bin stark, ich weiß, da ist was gelaufen, das nicht so laufen hätte sollen. Da sind andere Menschen, und bei denen im Leben ist auch etwas gelaufen, das auch nicht laufen hätte sollen. Da entwickeln sich ganz tolle Gespräche. Ich sag immer: Wir sind nicht nur therapiert worden, sondern wir haben uns gegenseitig auch etwas therapiert. (Anja, T364‒T376)

In anderer Form konnte Alice Entlastung finden, indem sie einen Teil der Verantwortung an Körpervorgänge abgab: Im Wissen, dass die Gewichtszunahme im Laufe der Therapie zwar auch mit der vermehrten Nahrungsaufnahme zusammenhängt, aber durch die Unterfunktion der Schilddrüse verstärkt wird, konnte sie diese leichter annehmen. Die somatische Erklärung erleichterte Alice den Umgang mit der körperlichen Veränderung, indem sie sich nicht alleine dafür verantwortlich fühlte (Alice, T1050‒ T1069). Auch im alltäglichen Umfeld ist eine Entlastung von Bedeutung, insbesondere in Form der Verringerung von emotionalem Druck, der aufgrund von hohen Leistungsanforderungen und -erwartungen sowie durch konfliktreiche Situationen entstehen kann. Hier erweist sich Abstand von solchen Situationen, beispielsweise durch eine Veränderung von Wohnverhältnissen, weniger fordernde Berufstätigkeit oder Auszeit vom Studium, als hilfreich. Entlastung kann somit durch eine äußere Stabilisierung, also durch von außen angebotene hilfreiche Aspekte, erreicht werden. Dadurch sind Herausforderungen leichter zu bewältigen, womit wiederum eine Stabilisierung der Person, ohne der Essstörung zu bedürfen, einhergeht. Frauke beispielsweise erzählt vom Halt, den ihr die Gemeinschaft im Studentenheim in der Zeit der Maturavorbereitung gab und der sie vom Leistungsdruck entlastete. Auch Tamina erfuhr den beruflichen Einstieg als überfordernd, eine spätere Veränderung ihrer Tätigkeit, im selben Beruf, hingegen als heilsam, wofür vor allem das neue Umfeld und das dortige Gemeinschaftserleben ausschlaggebend

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waren. Beide Personen wurden durch die erfahrene Stabilität von außen entlastet und dadurch vor einem Wiederauftreten oder Verstärken der Essstörung bewahrt. Schutz In einem engen Zusammenhang mit Entlastung und Stabilisierung steht die Schutzfunktion hilfreicher Aspekte, die besonders in Bezug auf die Therapie deutlich wird. Eine stationäre Einrichtung kann ein „geschützter Rahmen“ (vgl. Anika, 1043) sein, wiederum aufgrund der vorhandenen Struktur und der Möglichkeit, einen Teil der Verantwortung abzugeben. Außerdem vermittelt eine „tragfähige Beziehung“ (Bianca, 675) das Gefühl, auf dem Weg aus der Essstörung begleitet zu werden, und damit die Sicherheit, nicht alleine zu sein. Grete spricht im Hinblick auf ihre Therapeutin auch von einem „Sicherheitsfaktor“ (Grete, T2767). Der therapeutische Gesamtrahmen kann einerseits die Schutzfunktion der Essstörung gegenüber äußeren Einflüssen und eigenen Emotionen übernehmen. So äußert sich Anja über ihren Rehabilitationsaufenthalt: „Sie schirmen dich in dem Rahmen, den du willst, ab. Es kann keiner hinein, wenn du es nicht möchtest“ (Anja, T358‒T360). Andererseits kann dieser Rahmen ein Schutz vor der Gefahr der Essstörung sein. Bianca erzählt diesbezüglich, sich in der Klinik sicher gefühlt zu haben, da „rund um die Uhr jemand da“ (Bianca, 679) war. Auch eine nahe Bezugsperson, die in schwierigen Zeiten zur Seite steht und die Betroffene in ihrem Sein annimmt, vermittelt Sicherheit. Grete spricht Sicherheit und Schutz mit Bezug zu ihrer Tätigkeit als Polizistin an. Struktur und Disziplin gehören allgemein zu diesem Berufsbild, sodass „ein gewisser Schlag Leute“ (Grete, T1319), wie Grete dies ausdrückt, diesen Beruf häufiger wählt. Damit dürfte sie auf die Suche nach Sicherheit anspielen, die eine solche Struktur sowie die Uniform geben, denn: „Den Schutz der Uniform, den darf man nicht unterschätzen“ (Grete, T1302; T1317). Sie äußert dies im Zusammenhang mit ihrer Offenheit, über die Essstörung zu sprechen, die allerdings gegenüber ihren Arbeitskollegen und -kolleginnen begrenzt ist. Auch wenn psychische Belastungen in diesem Beruf laut ihrer Aussage heute kein Tabu mehr sind, dürften solche dennoch mit Zurückhaltung thematisiert werden. Die Uniform, die Macht und Stärke vermitteln soll, kann die eigene Verletzlichkeit verbergen und schützen. Demnach könnte im Fall von Grete ihre Uniform bzw. ihre berufliche Rolle, die damit verbunden ist, zum Teil die Stabilisierungs- und Schutzfunktion der Bulimie übernommen haben, wenngleich diese zur selben Zeit noch bestand. Das Ausmaß der Bulimie verringerte sich jedoch allmählich. Die Erfahrung von Schutz und Entlastung könnte auch am Beispiel von Alena gesehen werden, allerdings in einer aggressiven bzw. autoaggressiven Form: Ihr damaliger Freund übernahm die Täter- und Feindschaft in dem Sinn, dass er sie abwertete und sie dadurch von ihrer Selbst-Ablehnung entlastete. Diese Fremdverletzung ersetzte die Selbstverletzung, im Sinne einer von sich selbst ausgehenden Verletzung, sowie ihre Selbst-Verletzung, also die Verletzung ihres Selbst. In Form der Identifikation mit dem Angreifer, eines so bezeichneten Abwehrmechanismus (Mentzos, 2010, S. 63), wurde sie somit vor dem Schmerz ihrer Selbst-Distanz geschützt:

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Er hat dieses Täterdasein übernommen, weißt du. Er war mir so ein großer Feind, dass ich [der Feind] nicht mehr sein habe müssen. Also ich habe gut mit mir sein müssen, damit ich gegenüber ihm bestehen kann. So irgendwie. Weil er war Täter, ich war Opfer, und ich habe auf mich schauen müssen, dass ich es quasi irgendwie schaffe. Ich habe mir selber nicht mehr wehtun müssen, weil er es getan hat. […] Er hat mich gestraft, das hat mir relativ viel erleichtert. Klingt komisch. (Alena, 1289‒1293, 1299)

Personenzentrierte Abstimmung Nach der Erläuterung von Stabilisierung, Entlastung und Schutz als Wirkungen hilfreicher Aspekte folgen zum Abschluss des Kapitels Beispiele, um die flexible Abstimmung des Ausmaßes und der Schwerpunktsetzung auf die jeweilige Person zu verdeutlichen. Das heißt, dass nicht ein Entweder-oder im Hinblick auf die verschiedenen Aspekte und deren Wirkungen, sondern ein Sowohl-als-auch in Abhängigkeit von der persönlichen Entwicklung und Situation angestrebt werden soll. Stabilität stellt in diesem Zusammenhang keine Einschränkung dar, sondern die Ermöglichung eines ausreichenden Handlungsspielraumes für die Person innerhalb eines gewissen Rahmens. So nennt Grete einerseits die Stabilität in Form der geregelten Dienstzeiten in ihrem Beruf als Polizistin, andererseits die Möglichkeit zur Selbstgestaltung dieser Zeiten. Das Vorhandensein beider Aspekte sei für sie auf dem Weg aus der Bulimie wichtig gewesen. Für Jasmin erwies sich die Essensstruktur auch über den stationären Aufenthalt hinaus als hilfreich, insbesondere um die schrittweise Reduktion der Nahrung zu vermeiden. Innerhalb dieser Struktur achtete Jasmin jedoch auf Flexibilität bei der Essensauswahl, da sie ansonsten dazu tendiert hätte, sich nur auf das zu beschränken, „wovon ich denke, das wäre jetzt gerade gesund“ (Jasmin, T1455f.; T1448‒ T1458). Ein ähnliches Beispiel ist die Vereinbarkeit von Halt und Loslassen, die Anja im Rahmen einer Gruppenübung aus dem Konzept der Körperlichen Intelligenz erlebte: „Du hast aufgemacht, du hast vertraut, du wurdest gefangen“ (Anja, T2099). Dadurch konnte sie Vertrauen gewinnen. Bei einer Körperwahrnehmungsübung erfuhr sie außerdem die Möglichkeit der gleichzeitigen Stabilität und Öffnung gegenüber dem Umfeld, ohne eine „Mauer“ (Anja, T2174) aufbauen zu müssen. Im Hinblick auf den Therapieprozess wird die Bedeutung der Abstimmung von Konfrontation einerseits und Unterstützung in Form von Stabilität, Entlastung und Schutz andererseits deutlich. Karin erzählt von einer früheren Therapeutin, die zu konfrontativ gewesen sei. Sie hätte noch mehr Unterstützung gebraucht, da sie sich selbst sehr unter Druck gesetzt habe (Karin, T3167‒T3184). In einer späteren Therapie machte Karin hingegen eine andere Erfahrung: „Wie so ein bisschen bei einem scheuen Reh ‒ die hat gewartet, bis ich zu ihr gekommen bin“ (Karin, T3192‒T3194). Dementsprechend soll auch das Ansprechen der Essstörungsproblematik in Bezug auf die Art und Weise sowie den Zeitpunkt individuell abgestimmt werden. Schweigen kann eine angenehme Wirkung haben und zwar in dem Sinn, dass die Essstörung kein Dauerthema ist und ande-

7.3 Wege aus der Essstörung gehen ‒ Das eigene Gleichgewicht finden

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ren Lebensbereichen Platz gegeben wird (Nina, T687‒T690). Es geht somit um ein ausgewogenes Verhältnis von Reden und Schweigen, wie es Nina in der Physiotherapie positiv erlebte (Nina, T1887, T1904‒T1906). 7.3 Wege aus der Essstörung gehen ‒ Das eigene Gleichgewicht finden Wege aus der Essstörung zu gehen heißt, sich in Richtung des eigenen Gleichgewichts zu orientieren und es Schritt für Schritt zu finden. Dafür ist Bewegung erforderlich, sowohl an den einzelnen Punkten des Weges als auch im Vorwärtskommen. Gleichgewicht ist somit nichts Starres und Statisches. Dies erklärt die Vorsicht der Personen bei der Definition von Überwindung, die sich unter anderem in der Thematisierung eines möglichen Wiederauftretens der Essstörung in ihrem Leben zeigt. Überwindung als Finden des eigenen Gleichgewichts ist das Finden eines mittleren Bereiches, der subjektiv, nach eigenem Maß, zu definieren ist, „da die Mitte keinen Namen hat“ (Aristoteles, 1978, S. 142). Für Aristoteles ist diese Mitte „nicht etwa ein fester Punkt zwischen zwei anderen festen Punkten […], sondern ein schwebender Gleichgewichtszustand zwischen zwei lebendigen, beständig nach verschiedenen Seiten drängenden Kräften“ (Klibansky, Panofsky & Saxl, 2015, S. 82). Anstatt der Abwesenheit einer Bewegung über diesen Bereich hinaus ist das Wiederfinden der eigenen Mitte, also das Zurückkehren zu dieser, wesentlich, um das, bei hohem Bewegungsausschlag zunächst vorhandene, große Spannungsverhältnis wieder zu verringern. Die Selbst-Entfaltung beispielsweise kann als Ausgleichsbewegung zwischen der Anpassung als Zurückhalten der eigenen Wünsche und der Rebellion als überschießendes Umsetzen verstanden werden. Irina beschreibt das Leben als eine Art Pendelbewegung, wobei die Ausprägung des Schwerpunktes, um den diese Bewegung erfolgt, die Überwindung der Essstörung markiert: „Für mich ist es so: Wenn der Schwerpunkt auf Leben liegt, und zum Leben gehört Essen ‒ einmal mehr, einmal weniger, einmal da, einmal dort, einmal das, einmal dies ‒, dann ist das für mich normal“ (Irina, 2600‒2602; Hervorhebungen A. K.). Wie die Hervorhebungen im Zitat verdeutlichen, formuliert Irina hier ihr Verständnis von Überwindung als subjektive Norm und somit als ihr eigenes Maß. Wegvarianten ins Gleichgewicht In den Erzählungen der Personen zeigt sich eine Vielfalt an Wegen aus der Essstörung: „Dann habe ich eben verschiedene Mittel und Wege gefunden“ (Marlies, 40). Wie im Kapitel 7.2 bereits deutlich wurde, muss der Weg aus der Essstörung nicht immer mit begleitender Therapie erfolgen. Allerdings vermutet Marina, dass sie sich durch eine Therapie „viele, viele Jahre an Herumwurschteln und Selbstausprobieren“ (Marina, 688) erspart hätte. Tamina beschreibt ihren eigenen als „Weg des Glaubens“ (Tamina, 657) im Gegensatz zum „Weg des Schmerzes“ (Tamina, 659) ihrer Cousine, die sich an Ärzte und Ärztinnen verschiedener Richtungen wandte. Nachdem es Tamina zunächst auf ähnliche Weise versucht hatte, sei sie „bei der Königsdisziplin stehen geblieben“ (Tamina, 661), womit sie den religiösen Glauben meint. Taminas Cousine war schon

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früher und ist auch zum aktuellen Zeitpunkt von Anorexie betroffen, wenngleich Tamina deren Ausprägung geringer als ihre eigene frühere Betroffenheit einschätzt. Ihre Cousine habe „alles nicht so exzessiv gemacht“ (Tamina, 657), während sie selbst länger „wirklich in der Sucht drinnen“ (Tamina, 657) gewesen sei. Diese Unterscheidung dürfte mit der Form der Essstörung in Zusammenhang stehen, da Tamina an Bulimie litt, die für die Personen als schwieriger zu überwinden gilt. Bei den Schmerzen von Taminas Cousine könnte es sich um psychosomatische Beschwerden handeln, die die Anorexie begleiten oder (temporär) ablösen. Für eine derartige Problemverlagerung im Sinne einer Veränderung der Symptomatik im Verlauf sprechen außerdem die Formulierungen, „in die Depression geflüchtet“ (Anita, 740) zu sein bzw. eine „Suchtverschiebung“ (Marina, 734) erfahren zu haben ‒ letztere führen Marina und Tamina im Hinblick auf ihre Kontrolltendenz in Form einer Eifersucht in der Partnerschaft an, die die Bulimie ersetzt haben könnte (s. Kapitel 7.1.3). Auch ein chirurgischer Eingriff zur Körperkorrektur kann unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden. In Melinas Fall dürfte dieser jedoch weniger eine Alternative zur früheren Bulimie gewesen sein. Sie habe lange vor ihrer Volljährigkeit gewusst, dass sie eine Operation der Brust vornehmen lassen werde, und dadurch ein Körperwohlgefühl erreicht. Hirsch hingegen vertritt diesbezüglich einen kritischeren Standpunkt: „Im Grunde handelt es sich bei kosmetischen Eingriffen um Selbstbeschädigung mithilfe eines Arztes als Komplizen“ (Hirsch, 2010, S. 130). An dieser Stelle stehen allerdings nicht die unterschiedlichen, auch kontroversiellen Sichtweisen bezüglich kosmetischer Operationen im Mittelpunkt, sondern Überlegungen, einen solchen Eingriff als Wegvariante und/ oder als Umweg zum eigenen Selbst zu betrachten. Dieser Blickwinkel bietet sich ebenso für psychische Begleiterkrankungen an (s. Kapitel 2.2.3). Außerdem können der Weg in die Essstörung sowie deren Überwindung als Wegvarianten im Lebensentwicklungsprozess gesehen werden: das Erkranken als ein Abkommen vom Hauptweg und das Überwinden als ein allmähliches (Wieder-)Einmünden, dessen Kennzeichen über das Verschwinden der Symptome hinausreichen. Wird dieser eigene Hauptweg erst gefunden, ist die Zeit der Überwindung als Suche nach diesem Weg zu betrachten. Tamina beispielsweise wurde zum Zeitpunkt des Gesprächs durch die damals aktuelle, von ihrem Partner veranlasste Trennung zur Selbst-Reflexion angeregt, indem sie ihre Essstörungserfahrung nachträglich aufarbeiten wollte. Sie habe das nach ihrer erlebten Wende in Afrika nicht getan, dennoch gehe es ihr bezüglich des Essens gut. Diese Aussage warf bei der Auswertung folgende Fragen auf: War bis dahin nur die sichtbare Symptomatik verschwunden, der tiefergehende Überwindungsprozess jedoch noch aufrecht? War die Essstörung dann bereits überwunden? Wie an obiger Stelle erwähnt wurde, legt die Auseinandersetzung mit den geführten Gesprächen nahe, das Erkranken und Überwinden als Teil der umfassenden Entwicklung über die Lebensspanne hinweg zu betrachten. Der gesamte Lebensweg einer Person stellt einen einzigartigen Entwicklungsprozess dar. An der Essstörung zu erkranken und diese zu überwinden sind demnach Teilaspekte des individuellen Prozesses, Abzweigungen des Lebensweges einer Person. Die Gemeinsamkeit der beschriebenen Wege im Rahmen der Überwindung besteht im Sinnverlust der Essstörung: Die Person benötigt die Essstörung nicht mehr als Stabilisierung, Schutz und/oder Sprache und kann sich daher von dieser loslösen (Anika,

7.3 Wege aus der Essstörung gehen ‒ Das eigene Gleichgewicht finden

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1095). Es gibt im Beziehungskontext der Person immer weniger bis keinen Platz mehr für die Essstörung ‒ entsprechend der Wegmetapher schlagen beide nun andere Wegrichtungen ein, bis sie getrennte Wege gehen. Merkmale des Gleichgewichts, das die Person im Rahmen der Überwindung finden kann, werden in den folgenden Kapiteln ausgeführt sowie in Abbildung 6 dargestellt. Dabei wird das Gleichgewicht zunächst auf den einzelnen Ebenen, entsprechend der Theorie des posttraumatischen bzw. persönlichen Wachstums (s. Kapitel 3.3), betrachtet: in der Selbst-Beziehung, in den Umfeldbeziehungen und in der Lebensbeziehung. Da sich die Person jedoch im gesamten Beziehungskontext befindet, ist Gleichgewicht nicht nur als Phänomen innerhalb der einzelnen Ebenen, sondern auch zwischen diesen Ebenen zu verstehen. Daher erfolgt anschließend die Erläuterung des Zusammenhanges dieser Ebenen und des Gleichgewichts in diesem Gesamtkontext anhand des Bewusstseins und der Entfaltung als ausgewählte bedeutsame Veränderungen auf dem Weg aus der Essstörung. Diesbezüglich wird außerdem auf das Resonanz-Phänomen, das der Soziologe Hartmut Rosa (2016) beschreibt, hingewiesen.

Gleichgewicht in den SelbstUmfeldLebensbeziehungen Umfeldbeziehungen  Öffnung und Verbindung durch Mit-Teilen  Vertiefung

Selbst-Beziehung  Annäherung  Achtung  Stabilität

Wege aus der Essstörung gehen ‒ Das eigene Gleichgewicht finden

 Bewusstsein und Bewusst-Sein  Entfaltung  Resonanz

Lebensbeziehung  Lebensgefühl  Momenterleben  Wertschätzung

abnehmende Symptomatik  Körper(gleich)gewicht  Essverhalten: individuelle Norm  kognitiver und emotionaler Freiraum

Abbildung 6

Dritte Wegetappe Wege aus der Essstörung gehen ‒ Das eigene Gleichgewicht finden (eigene Darstellung)

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7.3.1 Abnehmende Symptomatik Die Überwindung der Essstörung wird unter anderem an der Reduktion bis zur Elimination jener Symptome sichtbar, die in den Klassifikationssystemen ICD und DSM als Diagnosekriterien angeführt werden (s. Kapitel 2.2.1). Melina beschreibt dies folgendermaßen: „Mein Gewicht ist normal, und ich habe auch sonst keine Symptome mehr. Ich habe keine Zwangsgedanken mehr bezüglich Essen und Gewicht, deswegen: Ja, im Moment funktioniert es einfach“ (Melina, 1205). Körper(gleich)gewicht Die Personen sprechen von einer Stabilisierung ihres Körpergewichts innerhalb eines Bereichs, den sie oft nicht konkret nennen. Aufgrund anderer Aussagen im Gespräch dürften sie sich auf den BMI als bekanntes und verbreitetes Maß beziehen. Einige Personen haben keine Kenntnis von ihrer Gewichtszahl, da die Waage im Gegensatz zu früher keine oder nur mehr eine nebensächliche Rolle in ihrem Leben spielt. Bei Grete wird das zunehmende physische, materielle Gleichgewicht deutlich: Als sich die Essanfälle verringerten, habe sich ihr Gewicht innerhalb eines Bereichs „eingependelt“ (Grete, T79), mit dem sie sich „gut halten“ (Grete, T85) konnte. Auf körperlicher Ebene lässt sich die Überwindung jedoch nicht nur an der Gewichtsstabilisierung erkennen, sondern auch an wieder intakten Organabläufen, beispielsweise an regelmäßiger Darmtätigkeit, Wachstum und Regeneration der Kopfhaare sowie an einem Wiedereintreten der Menstruation. Letztere ist jedoch kein verlässlicher Indikator für die Essstörung, da ein Ausbleiben auch bei höherem Gewicht sowie ein Vorhandensein bei niedrigem Gewicht vorkommen kann. Dementsprechend stellt dieses Symptom im DSM-5 kein Kriterium mehr dar (APA, 2015; s. Kapitel 2.2.1). Bei Jasmin setzte die Regelblutung am Tag ihrer Entlassung aus der Klinik wieder ein. Dass sie sich im Gespräch sichtlich darüber freute, kann als weiteres Zeichen einer abnehmenden Symptomatik, im Sinne einer wiedergewonnenen Lebensfreude, gesehen werden: „Als ich entlassen worden bin, habe ich endlich meine Tage wieder gekriegt. Das war so schön! Genau an dem Tag! Auch wenn ich wieder so Weh gehabt habe, aber die Schmerzen habe ich geliebt (vor Freude lachend)! Echt, das war so schön!“ (Jasmin, T780‒T788). Essverhalten: Finden einer individuellen Norm In Bezug auf das Essverhalten beschreibt Lia eine kontinuierliche Veränderung, bis keine „offensichtlichen Symptome“ (Lia, 23) mehr vorhanden waren. Sie erlebte den Rückgang der Symptomatik als „extrem entlastend“ (Lia, 23) und weist damit auf den Leidensdruck durch die Essstörung hin, der von den Personen als wichtiger Beitrag zur Überwindung genannt wird (s. Kapitel 7.2.1). Die von ihr so bezeichneten offensichtlichen Symptome, wie Essanfälle und Erbrechen, dürfte Lia hier den nicht sichtbaren und oft länger andauernden Gedanken an Essen und Gewicht gegenüberstellen. Während Marianne das Ausbleiben der Essanfälle als ein Zeichen dafür sieht, auf dem Weg aus der Essstörung zu sein (Marianne, 82), sei für Irina trotzdem „das Essen an sich noch ein Problem gewesen“ (Irina, 1269): „Ich hab die Fressattacken weggelassen und das

7.3 Wege aus der Essstörung gehen ‒ Das eigene Gleichgewicht finden

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Kotzen. Ich hab aber ganz sicher dann zu viel gegessen“ (Irina, 1269). Ihre Formulierung „das Essen an sich“ (Irina, 1269) dürfte sich auf die zwar veränderte, aber dennoch aufrechte Essproblematik beziehen. Ein solches Essverhalten, nämlich das übermäßige und „emotionale Essen“ (Irina, 1771), sei verbreitet, aber: „Das normale Essen, so wie's andere als normales Essen sehen würden, ist kein normales Essen“ (Irina, 1765‒1767). Somit bestand nach Irinas Ansicht weniger eine Abweichung ihres damaligen Essverhaltens von der Essensnorm, also von den verbreiteten Essgewohnheiten der anderen Menschen, sondern sie sieht diese Essensnorm als ver-rückt (s. Kapitel 6.1). Situationen, in denen ein Übermaß bzw. Überangebot an Essen besteht, können auch noch zu einem späteren Zeitpunkt im Rahmen der Überwindung schwierig sein. So meint Alena: Ich merke schon, schwierig ist nach wie vor ein Buffet oder wenn man ganz lang isst, so brunchen. Weil wenn es so viel ist, das überfordert mich voll (lächelt). Das ist halt komisch. Ich weiß auch, aber da höre ich auf mich, untertags mag ich mich nicht so anessen, weil ich das Gefühl nicht mag. Das ist mir dann lieber am Abend, dass ich mal was Gescheites esse, weil da lege ich mich dann hin, und dann ist es mir wurscht. Also ein paar Sachen sind schon geblieben, aber das ist halt einfach so. (Alena, 1439‒1441; Hervorhebung A. K.)

Inwiefern gewisse Verhaltensweisen im Hinblick auf das Essen als Restsymptomatik zu definieren sind, wie dies Alena in obigem Zitat äußert (s. Hervorhebung), soll nun genauer betrachtet werden. So ist eine Interpretationsmöglichkeit für die Formulierung „aber da höre ich auf mich“ (Alena, 1441), dass Alena auf ihr eigenes Wohlgefühl achtet und ihr Essverhalten danach ausrichtet. Zudem gibt es zahlreiche Menschen, die ihren Alltag ebenso gestalten, ohne dass sie als essgestört diagnostiziert werden. Dies gilt auch für das von Anita beschriebene Verhalten: „Das [Kochen ohne Salz] ist das Einzige, das mir wirklich übrig geblieben ist ‒ und eben ein paar Spleens, würde ich sagen, oder Tics“ (Anita, 644). Marianne spricht ebenso davon, dass sie „kein ganz normales Essverhalten“ (Marianne, 72) habe, und fügt hinzu: „Aber für mich ist es auch so, dass mir keiner sagen kann, was ein normales Essverhalten ist“ (Marianne, 72). Anika betrachtet kontrollierendes Essverhalten, das sie in Ansätzen noch bei sich selbst erkennt, als „nicht unbedingt so gesund“ (Anika, 265). Diese kritische Selbstsicht der Personen legt eine Internalisierung von äußeren, im (therapeutischen) Umfeld erfahrenen Maßstäben nahe. Auch Melinas Aussage über die heutige Bedeutung von Essen für sie deutet auf eine solche Normvorstellung hin: „Es ist eine angenehme Nebensache geworden ‒ so, wie es halt sein sollte“ (Melina, 201; Hervorhebung A. K.). Deutlichere Ambivalenzen bezüglich des Essens drückt Anita aus: „Essen ist für mich mittlerweile nicht mehr eine Qual, sondern ich muss mich immer zusammenreißen. Ich weiß, dass ich Essen brauche“ (Anita, 484). Hier wie in folgender Passage wird ihre Sicht auf das Essen als Notwendigkeit der menschlichen Existenz deutlich: „Ich esse, weil ich essen muss und nicht, weil ich Hunger habe“ (Anita, 1554). An anderen Stellen meint sie wiederum, dass sie zwar nicht aus Hunger, jedoch aus Lust und gerne esse. Es sei auch entspannend für sie (Anita, 482, 536, 558). Hunger und Sättigung zu spüren, habe sie „verlernt“ (Anita, 534), daher beende sie das Essen, wenn sie keine Lust mehr darauf habe (Anita, 542, 552). Gewisse Nahrungsmittel vermeide sie, da diese sie an die

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Zeit der Essstörung erinnern. Es stellt sich die Frage, wie diese Äußerungen in Bezug auf die Überwindung der Essstörung einzuschätzen sind. So dürften die meisten Menschen gewisse Lebensmittel nicht essen, sodass der Grund für ihre Abstinenz als ein Kriterium herangezogen werden könnte: wird ein Lebensmittel wegen seines Geschmacks, seiner Bekömmlichkeit oder eher wegen seines Kaloriengehalts, der einer Gewichtsabnahme entgegenwirkt, abgelehnt. Auch die Schwierigkeit der Wahrnehmung von Hunger und Sättigung ist bei einigen Menschen, die nicht mit einer Essstörung diagnostiziert werden, anzunehmen. Anita zeigt jedoch in weiteren Lebensbereichen, beispielsweise in der Beziehung zu sich und in den Beziehungen zu anderen, stärkere Ambivalenzen als andere Gesprächspersonen. Daher ist die Ausprägung solcher Ambivalenzen, allerdings nicht nur in ihrer Intensität und Dauer, sondern unter Berücksichtigung des gesamten Lebenskontextes, als ein Hinweis auf die Überwindung und das Gleichgewicht dieser Person zu betrachten. Trotz insgesamt abnehmender Symptomatik kann sich das Essverhalten temporär, beispielsweise in einer sorgenreichen Zeit, auf eine Weise verändern, die an die Essstörung erinnert. Dennoch ist eine Aufnahme von geringeren Essensmengen nicht voreilig als Symptom einer wiederkehrenden Essstörung zu interpretieren. In der fast verteidigenden Erklärung von Alena im Gespräch könnte sich ihre Erfahrung der äußeren Zuschreibung widerspiegeln: „Nach der Trennung habe ich relativ viel abgenommen, aber jetzt nicht essstörungsmäßig, sondern ich habe zwei, drei Monate lang einfach nichts runtergekriegt. Aber nicht, weil ich jetzt dünn sein wollte oder so“ (Alena, 1003‒1005). Die Überwindung der Essstörung ist somit nicht mit Abwesenheit von (Ess-)Schwierigkeiten gleichzusetzen, so wie sich im Leben allgemein immer wieder neue Herausforderungen stellen. Aufgrund der Komplexität des Begriffs Normalität, wie an obiger Stelle und in Kapitel 6.1 erwähnt, und der Betonung der Individualität in dieser Arbeit wird hier in Bezug auf das Essverhalten bevorzugt vom Finden einer individuellen Norm gesprochen. Kognitiver und emotionaler Freiraum Es können somit noch manche Schwierigkeiten im Umgang mit dem Essen vorhanden sein, dennoch haben sich dessen Präsenz und Bedeutung im Vergleich zur Erkrankungsphase deutlich verändert. Vor allem ist nun entgegen dem früheren kontrollierten ein flexibleres Verhalten möglich (u. a. Jasmin, T1458‒T1466). Dieses ist wiederum in Zusammenhang mit dem Verlust jener Funktion, die die Essstörung früher hatte, zu sehen. So erzählt Jasmin, dass sie heute ihren „Notfallkoffer“ (Jasmin, T1424), den sie von ihrem Klinikaufenthalt mitnahm, nicht mehr benötigt. In diesem waren „skills“ (Jasmin, T1422) für Belastungssituationen enthalten, um Alternativen für die Essstörung als Bewältigungsstrategie zur Hand zu haben. Die Veränderungen zeigen sich nicht nur am Essverhalten, sondern auch in der geringeren gedanklichen Beschäftigung mit Essen und Gewicht (u. a. Lia, 1205). Solche Gedanken dauern meist über die Stabilisierung des Körpergewichts hinaus an (Rebecca, T462‒T482). Dass sich das Gewicht „eingependelt“ (Rebecca, T992), die Person also ihr Gleich-Gewicht erreicht hat, weist somit noch nicht auf ein inneres Gleichgewicht hin.

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Die Verlagerung der Aufmerksamkeit auf andere Lebensbereiche wird bei Rebecca deutlich: Zum Beispiel, wenn ich mir was koche, dann konzentriere ich mich schon darauf, dass ich das lecker mache für mich. Wenn ich das gegessen habe, ist es aber auch vorbei. Dann mache ich weiter mit meinem Leben, beim Lernen oder mit dem Rausgehen. Ich achte auch nicht mehr so krass auf meine Figur ‒ in dem Sinne, dass ich mich nicht mehr so genau ankucke oder auf diese Körperstellen achte, die mir früher nicht so gefallen haben. (Rebecca, T1475‒T1482)

Während sich die Aussagen meist konkret auf Gedanken an Essen und Gewicht beziehen, sind es bei Anita die Gedanken an die Essstörung im Allgemeinen: „Dass man einfach nicht mehr daran denkt, das wäre für mich gesund“ (Anita, 600‒602). Die Verwendung des Konjunktivs weist darauf hin, dass dies bei ihr (noch) nicht zutrifft. Ebenso erzählt Lia von ihrer Unsicherheit im Vorfeld des Gesprächs, ob die damit einhergehende vermehrte gedankliche Auseinandersetzung mit ihren Essstörungserfahrungen ein Zeichen für eine noch nicht überwundene Erkrankung und temporäre Verdrängung sein könnte. Letztlich relativiert sie jedoch diese Sorge: Seit ich Ihnen diese E-Mail geschrieben habe und wir dann diesen Termin für heute ausgemacht haben, habe ich wieder angefangen, mich intensiver damit auseinanderzusetzen. Dann fragt man sich schon: ‚Okay, wenn ich jetzt wieder intensiver drüber nachdenke, geht es mir vielleicht doch noch nicht so gut, und das war vorher alles nur verdrängt.‘ Aber ich glaube nicht. Also das ist jetzt auch überhaupt nicht schlimm für mich, darüber zu reden, und ich werde mein Abendessen heute am Abend ganz normal essen (lachend). (Lia, 1269‒1275)

Ein sorgloses Essen als Kriterium für die Überwindung der Essstörung stellen auch andere Personen in den Raum. Sie erkennen einerseits in dieser Hinsicht noch Schwierigkeiten bei sich, andererseits sehen sie aber ihre Entwicklung in Richtung eines unbelasteten bzw. weniger belasteten Empfindens beim Essen: Es ist nicht so, dass ich jetzt wirklich essen gehe und mir denke: ‚Ma, schön, was kann ich da alles essen!‘ Also es ist schon ein besetztes Thema, und das ist, glaube ich, einfach so. Aber ich esse jetzt gern, und ich esse das, was ich will und wann ich will und fertig. (Alena, 1429)

Was Alena mit „besetzt“ (Alena, 1429) meint, erklärt sie folgendermaßen: Ich habe schon noch im Kopf, wie es früher war, vor meiner Essstörung, weißt du? So gaudihalber, weiß ich, mit der [Schwester] hat es Nachmittage gegeben, als wir beide bei der Oma waren, da haben wir uns so angegessen, dass es wehgetan hat. Dann haben wir uns auf die Couch gehauen und waren lustig, weil das ist ja so lustig, dass man so viel gegessen hat. Also das ist halt nicht. (Alena, 1435)

Den Hinweis im Gespräch, dass dies nicht angestrebt werden müsse, unterstreicht sie zwar, jedoch wird ihr Wunsch nach einem solchen unbeschwerten kindlichen Empfinden im Gespräch spürbar. Deutlich wird jedenfalls, dass Essen und Gewicht, vor allem eine Gewichtszunahme, nicht mehr angstbesetzt sind. So spricht Ina die allmähliche Verringerung einer solchen

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Angst an, während sie sich schrittweise mit mehr Nahrung versorgen konnte (Ina, T514‒T543, T661f., T1479‒T1499). Kontrolle, unter anderem bei der Nahrungsauswahl, ist für sie zwar noch wichtig. Gleichzeitig ist jedoch der flexiblere Umgang mit dem Essen erkennbar, ebenso ihre angstfreie Beweglichkeit innerhalb eines Gewichtsbereiches im Sinne einer Schwankungsbreite: „Das ist schon noch immer, dass ich mir denke: ,Ja, ich möchte schlank bleiben.‘ Aber ich habe jetzt keine Angst vor plus/minus vier Kilo zum Beispiel oder plus zwei Kilo“ (Ina, T1501‒T1504). Die Korrektur am Schluss von „plus/minus vier Kilo“ (Ina, T1503) auf „plus zwei Kilo“ (Ina, T1503f.) weist zwar auf die nachträgliche Eingrenzung ihres Bewegungsausmaßes nach oben ‒ zwei statt vier Kilo ‒ hin. Allerdings zeigt sich durch das Ausklammern des Minus auch die Abwendung von der Richtung nach unten und somit von der Gewichtsreduktion. 7.3.2 Selbst-Beziehung: Annäherung, Achtung und Stabilität Während in der Erkrankungszeit das Gefühl der verlorenen Selbst-Bezogenheit und der Selbst-Fremdheit im Vordergrund steht, schildern die Personen eine Vertiefung der Selbst-Beziehung im Laufe der Überwindung der Essstörung. Eine solche Vertiefung bringt Alena einerseits als Veränderung, andererseits als Grundlage, dass sie die Essstörung nicht mehr braucht, zum Ausdruck. Sie müsse „nicht mehr so süchtig sein“ (Alena, 131), womit sie die Veränderung als Verringerung („nicht mehr so“) und nicht als Abwesenheit von Schwierigkeiten mit sich selbst und im Leben beschreibt. Daher wird hier von Annäherung gesprochen und diese nachfolgend neben Achtung und Stabilität als ein zentrales Merkmal der Selbst-Beziehung erläutert. Zur Stabilität zählen auch die Selbst-Verantwortung und die damit einhergehende Selbst-Ständigkeit sowie das Selbst-Vertrauen. Den Schluss des Kapitels bilden Ausführungen zu Hinweisen auf eine noch eingeschränkte Selbst-Annäherung. Annäherung Mit dem Annähern als ein Auf-sich-zu-Bewegen verringert sich unter anderem die Diskrepanz zwischen der Darstellung nach außen und dem inneren Empfinden (Claudia, T1799f.). Es kann hierbei von Kongruenz gesprochen werden, wie Rogers dies im Hinblick auf die Haltung des Therapeuten bzw. der Therapeutin gegenüber Patienten und Patientinnen betont (Rogers, 2009, S. 276). Eine bereits erreichte Selbst-Annäherung beschreibt Anika als: „Ich bin wieder mehr in mir drin“ (Anika, 853), und ist im Sinne einer lebenslangen Entwicklung als aufrechtbleibend und fortsetzend zu verstehen: „So seit zwei Jahren mache ich dieses Basic Body Awareness [ressourcenorientiertes physiotherapeutisches Konzept], und seit ich das mache, entwickelt sich, tut sich was. Ich merke, dass ich noch näher zu meiner Körperlichkeit komme“ (Bianca, 231‒233). Es wird von einer Freundschaft anstatt der früheren Feindschaft sich selbst gegenüber gesprochen, woraus die Veränderung der Selbst-Beziehung von der Selbst-Ablehnung zur Selbst-Annäherung besonders deutlich hervorgeht. Erkennbar ist dabei eine geringer ausgeprägte Strenge und Kontrolle gegenüber sich selbst, verbunden mit größerer Selbst-Akzeptanz. Dieses Vermögen bezieht sich auf verschiedene Bereiche und zeigt

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sich unter anderem in einer Abnahme von Leistungsdruck, einer höheren Toleranz für das eigene Verhalten, beispielsweise in Freundschaften, und im Lockern der Kontrolle über Essen und Gewicht. Die Akzeptanz gilt dem ganzen Selbst, somit auch den zuvor abgelehnten Selbst-Aspekten. Beispielsweise erlaube sich Nina nun eine bedrückte Stimmungslage (Nina, T997), und Grete könne nun ihre Bedürfnisse zulassen, ohne sich als „Schwächling“ (Grete, T2748) zu sehen. Sie gesteht sich mehr Schlaf zu, der für sie sehr wichtig ist, „weil sonst geht die Sonne nicht auf bei mir“ (Grete, T2744). Anja beschreibt das gefundene Gleichgewicht durch die gelockerte Selbst-Kontrolle: „Ich fühle mich ausgeglichener. Weil wenn ich über die Stränge schlage, und das mache ich auch mit vollem Bewusstsein, dann gönne ich mir das“ (Anja, T1886‒T1888). Der Weg zur Selbst-Akzeptanz kann ein längerer sein und im Sinne einer weiteren Vertiefung der Selbst-Beziehung darüber hinaus fortführen. So fühlt sich Irina mit sich selbst wohl bzw. „extrem glücklich“ (Irina, 2243). Ähnlich beschreibt Grete ihre SelbstBeziehung als Freude mit sich selbst, auch wenn sie früher ein solches Empfinden nicht für möglich gehalten hätte: Heute muss ich sagen, ich hab mit mir eine Freude. Ich hätte mir nie gedacht, dass ich das sagen kann. Ich hab jetzt noch immer keine 58 Kilo, ich hab noch immer keinen Mann (lächelnd), ich hab kein Haus, ich hab keinen Hund und auch keine zwei Kinder, und ich hab noch kein Studium abgeschlossen. Es ist jetzt aber so, dass ich mit dem, wie ich mich entwickelt habe und wie sich das alles so gedreht hat: Ich hab jetzt mit mir eine Freude. (Grete, T2528‒T2536)

Ein wichtiges Merkmal der Selbst-Annäherung ist die Trennung zwischen Handeln bzw. Situation und Person. Während Grete nicht nur ihr Handeln, sondern auch sich selbst als „Fehler“ (Grete, T149, T2263) sah, kann sie heute liebevoller mit sich umgehen. Sie stellt sich nicht mehr als ganze Person in Frage, wenn sie mehr isst, als sie sich erlaubt, oder auch sonst nicht ihren Erwartungen entspricht (Grete, T2242). Jasmin erzählt davon, nun zwischen dem Scheitern in der Situation und dem Scheitern als Person differenzieren zu können, im Wissen, dass es noch andere Wegvarianten gibt (Jasmin, T1851‒T1857). Achtung Die Vertiefung der Selbst-Beziehung ist außerdem in Form einer größeren Selbst-Achtung sichtbar, wozu hier die Selbst-Wahrnehmung, Selbst-Fürsorge und Selbst-MaßNahme gezählt werden. Ergänzend zur Wahrnehmung bedarf es des Verstehens der Zusammenhänge in der eigenen Geschichte. Vor allem das Zusammenspiel dieser beiden Aspekte ist ein Zeichen der vertieften Selbst-Beziehung und reicht über die Veränderung des Gewichts hinaus (Melina, 813). Der Begriff der Selbst-Achtung beinhaltet einerseits die Umgangsweise, also den achtsamen Umgang mit sich selbst, und andererseits die Haltung sich selbst gegenüber im Sinne der Achtung vor sich selbst. Selbst-Wahrnehmung und Selbst-Fürsorge als Merkmale der Selbst-Achtung wurden auch im Rahmen des Selbst-Zuwendens als hilfreiche Beiträge erwähnt (s. Kapitel 7.2.2). Als Teilaspekte der Selbst-Achtung werden die

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Wahrnehmung und Fürsorge jedoch mehr als Lebensweise, im Hinblick auf das SelbstZuwenden als Maßnahme begriffen, wenngleich diese nicht strikt voneinander zu trennen sind. Eine stärkere Veränderung auf dem Weg aus der Essstörung erfolgt vor allem in der Achtung als Haltung, die zunehmend verinnerlicht wird, während achtsames Verhalten bereits früher umgesetzt werden und sich im Verlauf weniger unterscheiden kann. Die Personen erzählen davon, dass sie sich im Laufe der Überwindung schrittweise mehr und differenzierter wahrzunehmen vermochten. Karin beschreibt das SelbstWahrnehmen auch als Hören auf eigene Bedürfnisse, wobei sie ihre „Lauscher schon gut aufsperren“ (Karin, T2804) müsse, um diese nicht zu übergehen. Anja hingegen „weiß“ (Anja, T1492, T1494) nun um ihre Bedürfnisse, wobei ein solches Wissen dem Spüren vorausgehen kann, wenn dieses von eigenen Wünschen oder auch von Erwartungen anderer beeinflusst ist. In diesem Fall wäre es eine Annäherung von geringerem Ausmaß. Anjas Aussage ist auf Basis ihrer Erzählung jedoch mehr dahingehend zu interpretieren, dass sie das Spüren ihrer Bedürfnisse bereits reflektiert und dementsprechend als Wissen gefestigt hat. Es können zunehmend auch schmerzhafte Empfindungen wahrgenommen werden, ohne der Essstörung als Schutz zu bedürfen. Dazu trägt die errungene Stabilität im Umgang mit Belastungen bei, die an späterer Stelle in diesem Kapitel beschrieben wird. Das Aufgeben dieser Schutzfunktion ermöglicht wiederum eine Selbst-Annäherung und somit eine Vertiefung der Selbst-Beziehung. Die bewusstere Selbst-Wahrnehmung ist eine Grundlage der Selbst-Fürsorge, die unter anderem die ausreichende und wohltuende Versorgung mit Nahrung inkludiert. Im Laufe der Überwindung ist es für die Personen möglich geworden, mit Flexibilität, Achtsamkeit und Genuss zu essen. Sie sprechen auch von einem „natürlichen“ (Mail Melina, 14.01.2016), „lockeren“ (Mail Lia, 11.01.2016) oder „normalen“ (Mail Irina, 05.12.2015) Umgang mit Essen, Ernährung und Gewicht. Eine solche achtsame Ernährung sieht Claudia als Umkehrung ihres früheren Zugangs zum Essen an (Claudia, T1428‒T1430). Ein weiteres Beispiel für eine bewusste Selbst-Wahrnehmung und Selbst-Fürsorge ist das Absetzen des oralen Kontrazeptivums bei vorhandenem Unwohlsein, wozu bei Anika und Lia das Gefühl von Fremdbeeinflussung beitrugen (Anika, 289‒315; Lia, 713‒715). Durch das Beenden der Einnahme hingegen intensivierte sich ihr Körpergefühl auf eine angenehme Weise. Nicht nur für die Versorgung des Körpers, sondern auch in anderen Lebensbereichen ist ein fürsorglicher und damit achtsamer Umgang mit sich selbst wichtig. Einen solchen sieht Irina bereits in der bewussten Auswahl der Droge, die sie in der Zeit der Essstörung einnahm. Hierbei kann von einer Vorstufe ihrer heutigen Selbst-Achtung im alltäglichen Leben oder von einem (Um-)Weg zur Selbst-Achtung gesprochen werden. Abgesehen von einer anderen, ihr wohltuenden Ernährungsform trägt heute besonders das freudvolle anstatt des früheren primär leistungsorientierten Tuns zu Irinas Wohlgefühl bei (Irina, 1957, 1963). Durch ihre Entscheidung gegen die Fortsetzung ihres Studiums und die nun moderate, nicht exzessive Ausübung von Sport folgt sie achtsam ihren Bedürfnissen. Diese heutige tendenziell geringere Leistungsorientierung ist eine wesentliche Veränderung im Leben der Gesprächspersonen. Es können nun Interessen zugelassen wer-

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den, die früher, da zu wenig leistungsfordernd, abgelehnt wurden. Die Personen stellen weniger Anforderungen an sich selbst, auch wenn damit Unsicherheit, dann als „faul“ (Rebecca, T1560) zu gelten, einhergehen kann. Sie achten mehr darauf, in welchem Ausmaß das Leisten noch wohltuend ist, bei unterschiedlich großer subjektiver Bedeutung von Leistung. Während sich Anika als nach wie vor „ehrgeizig“ (Anika, 717) bezeichnet, lehnt Frauke das „Leistungsdenken“ (Frauke, 919) und den „Wettkampf“ (Frauke, 893) im Sport ab. Sportarten, die daraufhin ausgerichtet sind, wie das Klettern, übe sie daher nicht aus. Hingegen werde im Aikido, das sie als wohltuend erlebt, nicht gegeneinander gekämpft, sondern es stehe stattdessen die Auseinandersetzung mit sich selbst im Vordergrund (Frauke, 899). Für Tamina war das Beseitigen jener Pokale, die sie beim Schifahren in Kindertagen für ihren Vater gewann, nicht nur ein Entfernen vom Leistungsstreben, sondern auch vom Streben nach der Anerkennung ihres Vaters (Tamina, 191‒207). Ein wesentlicher Aspekt ist somit, die eigene mögliche Überforderung zu erkennen und entsprechend zu handeln. Anja beschreibt dies im Hinblick auf eine Gemeinschaft, in der sie sich zwar wohlfühlt, das Zusammensein jedoch zu einem bestimmten Zeitpunkt als zu intensiv empfand. Daher habe sie sich von da an etwas zurückgenommen (Anja, T1550‒T1552). Sich mit wohltuenden Menschen zu umgeben, wie dies auch Anja in der Gemeinschaft tat, ist eine weitere Form von Selbst-Fürsorge, in diesem Fall ein Versorgen mit Beziehungsnahrung als symbolische Nahrung (s. Kapitel 7.2.5). Bei Anja wird außerdem die Gegenseitigkeit dieses Nährens deutlich: „Ich entscheide jetzt auch, mit welchen Menschen ich mich umgebe und mit welchen nicht. Die, die mir guttun, mit denen umgebe ich mich, und denen ich guttue“ (Anja, T1753‒T1758; Hervorhebung A. K.). Grete beschreibt den achtsamen Umgang in dieser Hinsicht im Zusammenhang mit der Entscheidung für das Forschungsgespräch: Grete: Ich hab das E-Mail gelesen und mir gedacht: ,Ha, das fühlt sich stimmig an, das fühlt sich wie ein Ja an, melde ich mich einmal.‘ Dann war das durchs Telefonat noch verstärkt, und das war ein Ja-Gefühl, und auch jetzt, wo ich da bin, ist es ein einziges Ja-Gefühl. A. K.: Sehr schön, fein (lächelt). Grete: (lächelt) Ich bliebe heute nicht mehr, wissen Sie, ich stünde auf und ginge. (Grete, T2311‒T2318)

Durch das differenzierte Wahrnehmen eigener Bedürfnisse kann allmählich ein Gleichgewicht im Umgang mit diesen gefunden werden. So beschreibt Claudia ihre Tendenz vom erlebten Mangel zum Überschwang, nämlich zum Nachholen von früheren Bedürfnissen. Diese wolle sie noch etwas mehr „austarieren lernen“ (Claudia, T1943). Es gehe darum, diese Bedürfnisse anzunehmen und zu verstehen, dass die „kleine Claudia“ (Claudia, T1913) zwar „definitiv das Recht drauf gehabt hat“ (Claudia, T1914), jedoch ohne deren Erfüllung „ständig angelaufen“ (Claudia, T1932) sei. Daher möchte sie sich ausreichend selbst versorgen und mit dem „Haben-Wollen“ (Claudia, T1920), wenn sie dieses „übermannt“ (Claudia, T1919), umgehen lernen. Diese Aufgabe wolle sie nicht ihrem Osteopathen oder anderen Menschen überlassen, um diese damit nicht zu überfordern (Claudia, T1947f.).

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Unter Selbst-Achtung ist außerdem die hier so bezeichnete Selbst-Maß-Nahme zu verstehen. Dieser Begriff weist auf mehrere Aspekte hin, wobei das Maß zentral ist: MaßNahme bedeutet, von etwas oder jemandem Maß zu nehmen. Bei der Selbst-MaßNahme ist es das Maß des Selbst in Gegenüberstellung zu äußeren Maßstäben. Es wird hier ein Bindestrich zur Abgrenzung von der Maßnahme als Bezeichnung einer Intervention gesetzt, auch wenn die Selbst-Maß-Nahme durchaus eine Maßnahme zur Annäherung an das Selbst ist. Angesichts des Gefühls, mit der eigenen Individualität nicht den äußeren Erwartungen zu entsprechen, und der Tendenz zur Anpassung an äußere Maßstäbe, ist die geringere Abhängigkeit von diesen Maßstäben im Laufe der Überwindung besonders hervorzuheben. Diese bezieht sich nicht nur auf das Körpergewicht und das Essverhalten, sondern auch auf andere Lebensbereiche, beispielsweise Leistungskontexte. Eine wichtige Grundlage für die Selbst-Maß-Nahme ist, sich selbst zu spüren, also die bereits angesprochene Selbst-Wahrnehmung. So habe Lia das „relativ normale Hunger- und Sättigungsgefühl“ (Lia, 1199) wiedererlangt und ihren „eigenen Essrhythmus gefunden“ (Lia, 1201), wodurch sie nicht mehr an eine Uhrzeit gebunden sei. Somit ist sich Lia ihr eigenes Maß, da sie das Essen auf den Rhythmus ihres Körpers abstimmt. Dafür bedarf es des Vertrauens in die eigene Wahrnehmung, das Irina früher noch zu wenig hatte. Erst später, als sie sich mit der ayurvedischen Ernährung befasste, konnte sie Erklärungen für ihr damaliges Unwohlgefühl bei der Aufnahme bestimmter Nahrungsmittel finden. Dadurch wurde es ihr möglich, ihrem Empfinden zu folgen (Irina, 1973). Dass Irina ein Ernährungskonzept nach ihren Bedürfnissen „modifiziert“ (Irina, 2053), das „System“ entsprechend „adaptiert“ (Irina, 2121) hat, zeigt, dass sie den Weg des eigenen Maßes geht: „Ich hab das System nicht von ihm [dem Begründer des Ernährungskonzeptes] übernommen, weil es mir so nicht entspricht. [...] Ich mache mir die Regeln, […] und wenn ich was anderes brauche, dann werde ich das anders machen“ (Irina, 2025, 2139, 2145). Auch in der Unabhängigkeit von der Körperwaage, indem nicht eine Gewichtszahl, das materielle Gewicht und die Körperform, sondern das Körpergefühl und damit das „Wohlfühlgewicht“ (Ina, T1511) wichtiger sind, zeigt sich die Betonung des eigenen Maßes (u. a. Frauke, 845; Marina, 426, 430). Das Wohlfühlgewicht sieht Ina im Zusammenhang mit Lebenszufriedenheit, da diese mit einer Ernährungsweise einhergehe, die kein Übergewicht entstehen lasse. Es bedarf somit nicht des Essens als Ersatzfunktion, beispielsweise zur Bewältigung von Überforderung (Ina, T1515‒T1518). Lia spricht zwar nicht explizit über eine geringere Wichtigkeit von Gewicht, diese könnte aber in der Äußerung, „im Moment einen vergleichsweise lockeren Umgang mit meiner Ernährung und meinem Körper“ (Mail Lia, 11.01.2016) zu haben, enthalten sein. Anerkennung von anderen bleibt dabei bedeutend, bestimmt jedoch nicht mehr das Selbst (u. a. Charlotte, T822‒T824). Sich selber das eigene Maß, also „gut genug“ (Marina, 772) zu sein und sich selbst annehmen zu können, ist für die Personen ein wichtiges Thema auf dem Weg der Überwindung: „Weil man immer wieder vorgehalten kriegt: Das ist nicht gut genug, du bist nicht gut genug, du könntest noch was Besseres machen. Also der Anspruch der anderen ist immer da“ (Marina, 772). Auch in Anitas Erzählung ist „der Perfektionismus, der einem noch nachhängt“ (Anita, 850), also der eigene Anspruch, perfekt sein und aussehen zu wollen, ein Thema, ebenso äußere Erwartungen in Bezug auf den Körper: „Es

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ist immer dieser Druck, der einem gemacht wird, was ich eigentlich ganz schrecklich finde“ (Anita, 842). Wenngleich sie nicht spezifiziert, von wem diese expliziten oder impliziten Erwartungen ausgehen, ist ein Hinweis auf gesellschaftliche Rollenbilder und Ideale, die an Frauen herangetragen werden, naheliegend (Schigl, 2013). So verbindet auch Ina mit einer schlanken Erscheinung, „dass einen die anderen schön finden“ (Ina, T1534f.), also die Bewunderung von anderen. Eine Distanzierung von äußeren Erwartungen ist insbesondere bei ausgeprägtem Pflichtgefühl gegenüber dem Umfeld schwierig. Dazu erzählt Ina über ihren Abbruch des Auslandsstudienaufenthaltes, womit sie sich gegen den Wunsch ihrer Eltern durchsetzen konnte, obwohl ihr dies nicht leichtfiel (Ina, T330f.). An den Beispielen wird der Einfluss des Umfeldes auf die SelbstBeziehung deutlich und zwar in dem Sinn, wie sehr sich eine Person an die Ansprüche und Erwartungen der anderen anpasst (s. Kapitel 7.1.2). Umgekehrt kann das Handeln gegenüber anderen Menschen eine Leitlinie sein, das eigene Maß im Umgang mit sich selbst zu finden: Wenn ich mir denke, Menschen, die ich mag, denen würde ich das nie aufzwingen, das ich mir selber aufzwinge. Da würde ich nie sagen: „Du musst aber, und es muss perfekt sein!“, sondern: „Passt doch eh schon wunderbar, musst dich ja nicht weiterquälen!“ Also dass ich da einmal schaue, dass ich zu mir gleich nett bin wie zu anderen. (Nina, T1627‒T1634)

Wie Nina spricht Karin diesen Perspektivenwechsel an. Es sei „der wichtigste Schritt“ (Karin, T1964) für sie gewesen zu sagen: „Ich bin auch wichtig“ (Karin, T1939), so wie sie andere Menschen wichtig nimmt und sich für diese einsetzt: Er [der Kampfgeist] ist zwar nicht immer da und nicht immer so stark da, aber besonders hervor kommt er immer, wenn's um meine kleine Schwester geht. Da weiß ich, für die würde ich alles machen und täte ich alles machen. Ich versuche mich mittlerweile dran zu erinnern oder mir beizubringen, dass ich selber diesen Kampfgeist auch verdient hab; dass ich es auch wert bin, dass ich für mich kämpfe. (Karin, T3108‒T3115)

Stabilität Anhand der bisherigen Ausführungen wird deutlich, dass die Selbst-Annäherung und vermehrte Selbst-Achtung, als Aspekte einer vertieften Selbst-Beziehung, Bestandteile des Weges zum eigenen Gleichgewicht sind. Diese führen außerdem zu mehr Stabilität, die in diesem Abschnitt im Hinblick auf das allgemeine Verständnis sowie anhand konkreter Lebenssituationen und -bereiche erläutert wird. Anschließend folgt die Beschreibung der Selbst-Verantwortung, Selbst-Ständigkeit und des Selbst-Vertrauens als Beiträge zur Stabilität einerseits und als Formen von Stabilität andererseits. Mehr als beispielsweise die Selbst-Fürsorge, die zu einem größeren Anteil durch die Person selbst geschieht und somit auch als Selbstfürsorge zu bezeichnen ist (s. Kapitel 6.2), zeigt sich die Selbst-Stabilität besonders im Zusammenhang mit Umfeldeinflüssen. Aus den Aussagen zum Sinn der Essstörung geht hervor, dass diese zunächst als Teil bzw. Besitz der Person beschrieben wird. Andere Formen der Stabilisierung jenseits der Essstörung und vor allem das Entwickeln bzw. Leben des eigenen Selbst lassen

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die Betroffenen den Halt allmählich in sich selbst finden: „Ich habe in mir die Stabilität gefunden, die ich im Außen so lang gesucht habe“ (Alena, 1341). Daraus ist auf einen engen Zusammenhang zwischen Überwindung und persönlicher Entwicklung zu schließen. Durch alternative Bewältigungsstrategien sind Schutz und Stabilisierung durch die Essstörung nicht mehr erforderlich, wenngleich Vorsicht bei Triggern gegeben ist. Somit fallen im Laufe der Überwindung nicht die Belastungen, die das Leben mit sich bringt, weg, sondern diesen kann mit mehr Stabilität im Verhalten, Denken und Fühlen begegnet werden. Dazu trägt unter anderem eine geringere Selbstdiskrepanz und somit höhere Selbstkongruenz, also eine geringere Differenz zwischen dem Aktual- bzw. Real-Selbst der Person einerseits und dem Sollen- sowie Ideal-Selbst andererseits bei (Herner & Bierhoff, 2014b). Mit dieser Stabilität wird auch mehr Orientierung im Leben gefunden, beispielsweise von Bianca auf ihrem beruflichen Weg. Diese ist ein Merkmal der Überwindung und geht mit einem Zugewinn an Kraft und Lebendigkeit einher. Gleichzeitig erleichtert die zunehmende Orientierung durch Erkennen der eigenen Wünsche und Fähigkeiten wiederum die Überwindung der Essstörung. Stabilität ist jedoch kein starres Phänomen, sondern entsteht durch die Flexibilität gegenüber einwirkenden Belastungen im Sinne einer Gleichgewichtsbewegung. So beschreibt Charlotte beispielsweise eine zeitweise stabile, aber auch variierende SelbstWahrnehmung und Selbst-Zufriedenheit (Charlotte, T788‒T824). Dies ist bei ihr jedoch weniger Zeichen einer eingeschränkten Selbst-Stabilität, sondern des Schwankens im Rahmen einer solchen Gleichgewichtsbewegung. Das Ausmaß dieses Schwankens habe sich im Vergleich zu früher vor allem im Hinblick auf ihre Stimmung verringert (Charlotte, T1020‒T1023). Außerdem ist der Weg der Stabilisierung weder zeitlich noch im Ausmaß mit einem Endpunkt festzulegen. So erwähnt Anika ihre nun vermehrt spürbare Stabilität, aber gleichzeitig zu Beginn des Gesprächs ihre Ambivalenz dahingehend, ob diese ausreiche, um die Essstörung als überwunden zu betrachten (Anika, 9). Auf die Frage nach der Selbsteinschätzung bezüglich der Überwindung ihrer Essstörung am Ende des Gesprächs fasst sie zusammen: „Schon ganz gut über den Berg und stabil, aber es ist schon noch ein bisschen was zu tun“ (Anika, 1157). Nach diesen Aussagen hat Anika allmählich mehr Stabilität auf ihrem Weg aus der Essstörung erreicht, der aber darüber hinaus weiterführt. Anzumerken ist, dass sie die Stabilität und das Allgemeinbefinden an das „Normalgewicht“ (Anika, 9) koppelt. Jedoch ist dieses nicht ausreichend, wie es sich in einer frühen Überwindungsphase von Nina zeigte. Sie beschreibt die körperliche Stabilisierung durch die Gewichtszunahme, mit der sie einen kritischen, lebensgefährlichen Gewichtsbereich verließ. Emotional war sie damals allerdings noch nicht gefestigt, da sie die Gewichtszunahme beängstigte und in Tränen ausbrechen ließ (Nina, T124‒T130). Wie bei Anika, die von einer größeren Stabilität im Vergleich zu einer früheren Phase spricht, wird bei Grete deutlich, dass es diesbezüglich das eigene Maß zu finden gilt. Die zunehmende Ausgeglichenheit ihrer Stimmung formuliert sie folgendermaßen: „Für meine Verhältnisse bin ich jetzt stabil“ (Grete, T1669f.; Hervorhebung A. K.). Die Stabilität der Personen zeigt sich vor allem im Hinblick auf Belastungen, die zum Erkranken beigetragen haben, da diese auch während der Überwindung als Trigger für

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ein Wiederauftreten bzw. eine Verstärkung der Essstörung wirken können. Als Beispiele für solche Trigger nennt Bianca Leistungsdruck und Ansprüche, die andere an sie stellen, womit die Leistungsorientierung und die Anpassung an äußere Erwartungen, die beide häufig bei Betroffenen zu beobachten sind, als problematische Einflüsse deutlich werden. Ähnlich beschreibt Claudia eine Situation beim Arzt, der ihr Gewicht kommentierte, wie sie es bereits als Kind bei ihrem Vater erfuhr (Claudia, T1478‒ T1492). Diese Wiederholung ihrer Erfahrung löste einen „innerlichen Druck“ (Claudia, T1498) aus und brachte sie „aus dem Gleichgewicht“ (Claudia, T1491f.) bzw. „aus der Ruhe“ (Claudia, T1479). Allerdings konnte Claudia mit dem Kommentar des Arztes anders als früher umgehen: „Es ist jetzt nicht, dass ich deswegen was tun würde, also speiben gehen würde. Aber ich merke, es ist nicht positiv für mich“ (Claudia, T1500‒ T1502). Essen bzw. Nicht-Essen dient somit nicht mehr als Bewältigungsstrategie und Emotionsregulation. Stattdessen werden andere Umgangsformen, „gesunde Lösungswege“ (Alena, 119) gesucht und gefunden: „Ich konzentriere mich mehr auf die Sachen, die mir guttun“ (Alena, 125). Hier wird ein Aspekt der Selbst-Beziehung deutlich, da sich Alena mit wohltuender Nahrung im symbolischen Sinn versorgt (s. Kapitel 7.2.5). Dazu gehören für sie unter anderem das Klettern und ihr Freundeskreis, durch den sie Stabilität erfährt. Den letztgenannten Aspekt beschreibt Nina als: „Dann rückt es wieder in den Hintergrund“ (Nina, T570), nämlich das Unwohlsein rückt in den Hintergrund, wenn sie mit Freunden und Freundinnen gemeinsame Zeit verbringt, ebenso durch ihre freudvolle Arbeit. Sowohl für das frühzeitige(re) Erkennen von Triggern als auch für das Finden eines anderen Umgangs mit Belastungen anstelle früherer Reaktionsmuster bedarf es der Achtsamkeit sich selbst gegenüber. In den Aussagen zur Erfahrung von Stabilität in konkreten Lebenssituationen und -bereichen wird außerdem die Selbstwirksamkeitserfahrung deutlich, wodurch sich wiederum Selbst-Vertrauen aufbauen kann. Bestärkende Erfahrungen tragen somit zur weiteren Stabilisierung bei. So erzählt Lia von einem „Härtetest“ (Lia, 1177) im Hinblick auf das Essen während eines Auslandsaufenthaltes mit einer Freundin, die diesbezüglich sehr zurückhaltend war. Sie habe dennoch nicht ihre Essensmenge reduziert und dies weniger schwierig als befürchtet empfunden (Lia, 1183). In der Erkrankungsphase hingegen wirkt kontrolliertes Diätverhalten von Menschen im Umfeld verstärkend auf die Essstörung. Auch mit Stimmungsschwankungen könne Lia nun anders, nämlich entspannter, umgehen: Wenn ich merke, die Stimmung schlägt um, kann ich herausfinden, warum das jetzt so ist. Wenn's am Zyklus liegt, dann weiß ich: ,Okay, das ist normal, jetzt bist du halt einfach schlecht drauf.‘ Dann, weiß ich nicht: ,Iss eine Schokolade, geh zu deinem Freund und sag ihm, wie arm du bist.‘ (lacht) Also das Ganze halt einfach mit ein bisschen Humor nehmen. Das hilft dann. (Lia, 1247‒1253)

Ähnlich beschreibt Rebecca ihr heutiges Vermögen, von schwierigen Emotionen schneller Abstand zu gewinnen und sich selbst zu stabilisieren: Manchmal habe ich schon starke Stimmungsschwankungen, wenn ich zum Beispiel Streit habe in meinem Freundeskreis. So was beeinträchtigt mich immer stark. Das ist dann auch so, dass ich mich schnell runterziehen lasse. Aber das Gute ist, dass ich mich

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selber auch wieder schnell positiv in eine Richtung treiben kann. (Rebecca, T1568‒ T1573; Hervorhebung A. K.)

Im Hinblick auf die Stimmungsstabilität erzählt Ina von ihren nur mehr zweimal jährlich auftretenden depressiven Verstimmungen. Sie wisse nun, wie sie, anstatt einer Essensreduktion, hilfreiche Maßnahmen treffen könne, wozu unter anderem die Einnahme einer auf sie abgestimmten Bachblütenmischung zählt. Hierin wird auch das Finden des eigenen Maßes deutlich: Sie versorgt sich mit Mitteln, die auf sie selbst abgestimmt sind (Ina, T1618‒T1690). Bei Tamina zeigte sich ihre Stabilität zum Zeitpunkt des Gesprächs, indem sie auf ihre aktuellen Probleme nicht mit essstörungsspezifischen Verhaltensweisen reagierte. Insbesondere die kurz zuvor stattgefundene Trennung, die von ihrem langjährigen Lebenspartner ausgegangen war, und die Kinderlosigkeit beschäftigten sie damals sehr. Schließlich kann auch das Forschungsgespräch, in dem über die Lebensgeschichte gesprochen wird, einen „Selbsttest“ (Claudia, T2779) darstellen, nämlich: „eine Möglichkeit wieder zu schauen, was es macht. Ich merke, es macht recht wenig“ (Claudia, T2779f.). Damit meint Claudia ihre Stabilität beim Sprechen über ihre vergangenen Belastungen. Besonders die Erfahrung, trotz schwieriger Inhalte nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten, war für die Personen stärkend. Ein solches Vermögen erwarteten sie aufgrund ihrer diesbezüglichen früheren Schwierigkeiten zum Teil nicht, weswegen sie sich umso mehr darüber freuten (u. a. Anja, T2442‒T2456). Das Finden alternativer Bewältigungsstrategien verringert das Gefühl von Ohnmacht gegenüber der Essstörung sowie dem Leben insgesamt. Karin erzählt von Möglichkeiten jenseits der Essstörung, wie sie zu sich „zurückfinden“ (Karin, T2819) könne. Mit dieser Formulierung weist sie auf eine temporäre Selbst-Distanzierung hin: Ich hab da Gott sei Dank jetzt ein paar Sachen gelernt, mit denen ich mir dann auch selber wieder zurückhelfen kann. Wie ich halt vorher die Therapie auch gehabt hab, finde ich jetzt andere Wege wieder zurück. Und das ist eh das Beste. (Karin, T2864‒ T2870)

Beispielsweise wähle sie nun auch beruhigende, motivierende oder aufmunternde Musik aus, anstatt wie früher nur traurige Musik zu hören. Durch die Erfahrung und das Wissen, sich in schwierigen Situationen selbst stabilisieren zu können, fühlt sich Karin gestärkt und weniger ohnmächtig in ihrem Leben (Karin, T2907‒T2909). Eine solche Erfahrung wurde bei Grete durch weniger Rigidität beim Essen möglich. Da sich in der Folge ihr Verlangen nach Essen verringerte, verlor die Essstörung ihre Macht, während Grete an Kontrolle gewann: „Jetzt ist es nicht mehr so, dass ich mich dem [Verlangen nach Essen] ausgeliefert fühle“ (Grete, T1485f.). Karin äußert an einer weiteren Stelle ihre Stabilität im Hinblick auf den Einfluss der Essstörung, die als Stimme in ihr zu hören sein kann. Zwischen dieser, die zu Handlungen im Sinne der Essstörung anleitet, und der zweiten Stimme, die fürsorgliche Worte spricht, versuche sie das „Gleichgewicht zu halten“ (Karin, T1216): Da ist natürlich auch dieser Zwiespalt. Einerseits hab ich immer noch die Stimme in mir, die mir sagt: „Ein paar Kilo würden schon noch gehen, ein paar Kilo würden schon noch gehen!“, und andererseits die Stimme, die schon sagt: „Ja nicht zu schnell! Pass dir

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bitte auf, vorsichtig sein! Es geht nicht ums Gewicht!“ Also ich versuch, das Gleichgewicht zu halten und einfach sehr achtsam zu sein, eben auf alle Anzeichen. Ich hab aber schon das Gefühl, dass ich's steuern kann; dass ich schon selber entscheide, welcher Stimme ich zuhöre. (Karin, T1206‒T1220)

Selbst-Verantwortung, Selbst-Ständigkeit und Selbst-Vertrauen Die Erfahrung von Stabilität im Umgang mit Belastungen fördert die Übernahme von Selbst-Verantwortung und damit die Selbst-Ständigkeit sowie das Selbst-Vertrauen. Diese Aspekte tragen umgekehrt zur Stabilität bei, die Beeinflussung ist somit wechselseitig zu verstehen. In einem weiteren Sinn handelt es sich hierbei um Formen von Stabilität, wie es besonders am Begriff Selbst-Ständigkeit deutlich wird: selbst zu stehen vermögen, standfest zu sein oder, im alltagssprachlichen Sinn, mit beiden Füßen auf dem Boden bzw. mit beiden Beinen im Leben zu stehen. Die (Wieder-)Übernahme von Selbst-Verantwortung drückt Alena aus als: „ausgestiegen aus diesem Opferdasein hinein in das Die-Selbstverantwortung-übernehmen-fürmein-Leben“ (Alena, 1327). Auch Melina sieht sich wieder in ihrer eigenen Verantwortung für das Essen und für sich im Allgemeinen, wodurch sich die Beziehung zwischen ihr und den Eltern verbessert habe (Melina, 645). Im Zusammenhang mit der SelbstVerantwortung steht die Selbst-Ständigkeit, die die Personen nun wieder mehr (er-) leben und sehr betonen (u. a. Marina, 620). Diese Standfestigkeit wird bei Grete in der Formulierung, im Laufe der Überwindung ihrer Bulimie „Fuß gefasst“ (Grete, T2738) zu haben, deutlich und vermittelt ihr ein Gefühl von Sicherheit. Neben ihrer persönlichen Stabilisierung tragen dazu der Beruf und ihre Wohnsituation bei: „Ich bin froh, dass ich mir jetzt meine Existenz aufgebaut habe; dass die abgesichert ist; dass ich da Fuß gefasst habe“ (Grete, T2736‒T2738). Die Personen sprechen auch von Unabhängigkeit, insbesondere im Hinblick auf Partnerschaften und das Elternhaus. Da Alena seit zwei Jahren in keiner Partnerbeziehung lebt, meint sie, sie „kriege es jetzt gut auf die Reihe“ (Alena, 1287). Im Gegensatz zu ihrer früheren Abhängigkeit komme sie nun gut alleine, ohne dass damit eine Destabilisierung einhergehe, zurecht: „Mittlerweile weiß ich schon, ich kann mich halten; ich kann mich in der Situation halten. Ich brauche jetzt auch keinen Mann mehr, der mich hält oder irgendwas tut. Aber das hat wachsen müssen“ (Alena, 1385). Für Anja war der Weg aus solchen Abhängigkeiten in einer Partnerschaft einerseits durch ihre eigene Stabilität möglich. Andererseits trug dazu das Wissen um das Vorhandensein einer äußeren Stabilisierung bei, nämlich das Wissen, sich bei Bedarf an bestimmte Menschen wenden zu können. Irina sieht ihre erlangte Unabhängigkeit von ihrem ehemaligen Partner und ihren Eltern als wichtigen Teil des Weges aus der Essstörung. Durch diese Selbst-Ständigkeit erreichte sie mehr Zufriedenheit mit sich selbst und ihrem Leben (Irina, 2185‒2187). Unabhängigkeit strebt Claudia vor allem in ihrem Beruf an, „weil ich immer mehr von diesem Fremdbestimmten wegkommen möchte. Wovon ich weiß, das sind Dinge, die tun mir gut, die brauche ich, die will ich mir nehmen können. Das kann ich momentan nicht“ (Claudia, T1976f.; Hervorhebung A. K.). In der Suche nach wohltuenden Arbeitsbedingungen werden auch die Selbstfürsorge bzw. Selbst-

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Fürsorge sowie die Bedeutung, das eigene Maß leben zu können, deutlich, wozu wiederum diese Bedingungen im Umfeld wesentlich beitragen. Ein wichtiger Aspekt der Selbst-Stabilisierung, des Erlangens von Selbst-Stabilität, ist der Aufbau von Selbst-Vertrauen und Stärke, die die Verringerung von Kontrolle über äußere Einflüsse und sich selbst erleichtern oder überhaupt erst ermöglichen. Während Irina das Vertrauen auf das Selbst bezieht ‒ „dass ich mich auf mich verlassen kann“ (Irina, 2185) ‒, steht bei Ina der Körper im Vordergrund, mit dem sie „Solidarität“ (Ina, T650) empfinde. Zwar konnte sie die Kontrolle über ihren Körper lockern, jedoch sei ihr diese nach wie vor wichtig (Ina, T543‒T548, T648‒T662). Von einer solchen Erfahrung erzählt auch Claudia, wenngleich ihre Kontrolle als überdauerndes Bewältigungsmuster heute „ganz oft kontraproduktiv“ (Claudia, T1035) sei. Daher sieht sie im Aufbau von Vertrauen, insbesondere in andere Menschen, ein wichtiges Thema für sich selbst (Claudia, T1036‒T1039). Sie spricht über eine noch eingeschränkte Selbstwirksamkeitserwartung, gleichzeitig ist aber bereits ein größeres Selbst-Vertrauen im Hinblick auf ihre früheren Panikattacken erkennbar: „Ich glaube jetzt nicht mehr, dass ich dran [an Panikattacken] sterbe, und weiß, dass es grundsätzlich im Notfall irgendwas gäbe, das ich mir organisieren könnte“ (Claudia, T1671f., T1677f.). Nina wünscht sich noch mehr Schritte in Richtung Selbst-Vertrauen, wofür sie mehr „Mut“ (Nina, T1520) brauche, wie sie meint. Dieser ist jedoch sehr wohl bei ihr erkennbar, indem sie sich beängstigenden Situationen stellte, in denen sie ihre Struktur und Kontrolle aufweichen musste (Nina, T1526‒T1534). Das Bewältigen dieser gefürchteten Situationen, beispielsweise im Rahmen ihrer Auslandssemester, förderte ihr Selbst-Vertrauen. „Ins kalte Wasser reingeworfen“ (Nina, T1291f.) zu werden, erforderte allerdings eine gewisse Selbstüberwindung. Während sich das Selbst-Vertrauen im Rahmen der Überwindung vertieft, wird die Stärke der Personen schon im Vorfeld der Essstörung, unter anderem im Hinblick auf die frühe Verantwortungsübernahme, deutlich (u. a. Marina, 628; s. Kapitel 7.1.1). Durch diese Stärke konnte Jasmin Orientierung auf ihrem Weg aus der Essstörung finden: „In der ganzen Zeit habe ich immer so eine Kraft irgendwo drinnen gehabt in mir. Das kann ich nicht genau beschreiben ‒ einfach immer ein Gefühl zu kämpfen oder in eine gute Richtung zu schauen“ (Jasmin, T1809‒T1814; Hervorhebung A. K.). Die Personen sprechen davon, durch die Überwindung der Essstörung an Stärke gewonnen zu haben. Es ist jedoch anzunehmen, dass ihnen auch das bereits zuvor vorhandene Ausmaß erst durch die Herausforderungen bewusst wurde. So erkennt Marina ihre Stärke mitunter durch das Spiegeln von Seiten ihres Mannes sowie im Gespräch: Sie sei „im Großen und Ganzen stolz, es geschafft zu haben“ (Marina, 791), nämlich den Weg aus der Essstörung sowie die Bewältigung anderer Schwierigkeiten im Leben. Diesen Stolz spricht auch Alena im Hinblick auf ihr heutiges Befinden aus, denn sie habe immer an der Hoffnung auf die Überwindung ihrer Erkrankung festgehalten (Alena, 1335, 1343). Wenngleich das für Silvia das Einzige gewesen sei, nennt sie ebenso die Stärkung ihres Selbst als positive Wirkung ihrer Essstörungserfahrung (Silvia, T1270). Somit äußern die Personen zwar Aspekte vermehrter Stabilität, unter anderem das Vertrauen, nicht mehr „rückfällig“ (Jasmin, T1436) zu werden und das Gefühl von Kontrolle über die Essstörung, dennoch ist gleichzeitig ihre Vorsicht erkennbar. Karin

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meint, dass es des „Aufpassens“ (vgl. Karin, T1167f.) auf sich selbst sowie ihres „wachsamen Auges auf die ganze Thematik“ (vgl. Karin, T1175f.), nämlich auf die Essstörung, bedürfe. Auf ähnliche Weise drückt Alena ihre Vorsicht aus und meint zu ihrer Stabilität bezüglich der Essstörung: „Ich fühle mich jetzt gesund, ich fühle mich auch stabil. Aber ich weiß schon, es wird immer ein Thema sein, glaube ich, für mich, wo ich einfach aufpassen muss“ (Alena, 115; Hervorhebung A. K.). Die Formulierung, dass es immer ein Thema sein werde, steht den Aussagen gegenüber, dass die Essstörung heute kein Thema mehr sei (u. a. Marina, 446). Abgesehen von Unterschieden in den Biografien könnte Alena hierbei Prognosen des (therapeutischen) Umfeldes übernommen haben, da sie von einem Wissen über die Dauerhaftigkeit der Problematik spricht (s. Hervorhebung in obigem Zitat). Hinweise auf eine (noch) aufrechte Selbst-Distanz Neben der vertieften Selbst-Beziehung in Form der Annäherung, Achtung und Stabilität gibt es in den Erzählungen der Gesprächspersonen auch Hinweise auf Unterschiede im Ausmaß der Selbst-Annäherung. Eine mehr oder weniger ausgeprägte Selbst-Distanz zeigt sich einerseits in der Darstellung des Körpers, andererseits im Verhalten und in der Haltung sich selbst gegenüber. Vor allem die Personifizierung des Körpers, indem dieser sagt, denkt und handelt, anstatt Teil des Selbst zu sein, wird deutlich. Gegenüber dem Zwiegespräch mit dem Körper steht der „recht gute innere Dialog“ (vgl. Alena, 131) für mehr Selbst-Nähe, indem verschiedene Selbst-Anteile miteinander ins Gespräch kommen. Eine solche innere Kommunikation, vor allem zwischen kindlichem und erwachsenem Anteil, ist auch eine Herangehensweise in manchen Therapierichtungen, beispielsweise in der Ego StateTherapie (Peichl, 2007) oder in der Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie (Reddemann, 2011; s. Kapitel 3.3.2). Claudia verwendet im Rahmen dieser Zwiesprache verschiedene Personalpronomina (Claudia, T1461‒T1471): Über sich selbst spricht sie in allen drei Singular-Formen „ich“, „du“ und „sie“ (Claudia, T1025), über den Körper in der dritten Person Singular „er“, darüber hinaus im gemeinsamen „wir“ (Claudia, T1468f.). Es sind auch Perspektivenwechsel innerhalb der Textpassagen erkennbar: „Weil einfach, glaube ich, mein Körper nie gewusst hat, was er machen sollte. Da gab's ja nie eine Phase, wo man sich an irgendwas gewöhnen konnte, weil von einem Extrem ins andere. Wobei ich jetzt nie extrem dick war“ (Claudia, T1062‒T1065; Hervorhebungen A. K.). Den Körper beschreibt Claudia hier als denkend, ebenso als handelnd: „Aus irgendeinem Grund hat mein Körper sich immer genug Reserven zurückgehalten“ (Claudia, T751f.). Hier handelt der Körper außerdem bewusst, da begründet. Ina wiederum verleiht ihrem Körper eine Stimme: „Der Körper sagt einem, wo das Wohlfühlgewicht ist“ (Ina, T1515). Dass Ina ihr Wohlgefühl nicht selbst spürt, sondern der Körper ihr dieses sagt, könnte durch noch wirksame Ideale, eigene und jene der anderen, bedingt sein. Sie stellt sich selbst und den Körper zwar als getrennt voneinander dar, jedoch auch als zusammenwirkend: Sie habe gemerkt, „wenn man mit dem Körper arbeitet und auf sich hört, dass man sein Gewicht findet“ (Ina, T1521‒T1523; Hervorhebungen A. K.). An anderer Stelle drückt sie die Rolle des Körpers passiver aus: „dass er

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alles so super mit mir mitmacht und nach der Geburt so schnell wieder schlank wird“ (Ina, T650‒T652). Es wird von den Personen somit klar zwischen Körper und Selbst differenziert, dennoch besteht in dieser (noch) aufrechten Trennung eine Nähe bzw. Annäherung (u. a. Jasmin, T1469‒T1490). So zeigt sich bei Claudia eine gewisse Distanz zu ihrem Körper in Form der Zwiesprache mit ihm. Gleichzeitig drückt sie darin als Zeichen der Nähe ihre Nachsichtigkeit aus, indem sie ihrem Körper Zeit zum Finden des eigenen Maßes gibt: „Ich glaube einfach, dass sich mein Körper auch gewöhnen muss. Also jetzt einfach mal das Gewicht halten und schauen: ,Was tut die jetzt wieder damit?‘ “ (Claudia, T1460‒ T1462). Nicht nur in der Darstellung des Körpers, sondern auch im Verhalten und in der Haltung zu sich selbst bestehen bei den Personen Unterschiede im Hinblick auf die SelbstDistanz. Im Vergleich mit Personen, für die die Essstörung inzwischen weniger bzw. nicht mehr präsent ist, lassen sich bei jenen im fortgeschrittenen Therapieprozess noch mehr Kontrolle und weniger Flexibilität im Verhalten, vorwiegend beim Essen, erkennen. Das Spüren und vor allem das Vertrauen in das eigene Empfinden sind noch geringer, sowohl im Hinblick auf körperliche Bedürfnisse als auch auf die eigenen Wünsche (u. a. Alice, T1680‒T1682, T1712f., T1747‒T1762). Zurückhaltung im eigenen Körperausdruck und Schwierigkeiten mit körperlicher Berührung weisen außerdem auf eine solche Selbst-Distanz hin (Claudia, T2734‒T2736). Hier sind mitunter Erfahrungen mit körperlichen Übergriffen ein relevanter Einfluss. Ein weiteres Zeichen für eine größere Selbst-Distanz ist eine stärkere Ausrichtung des Verhaltens an äußeren Maßstäben. So wird bei Nina deutlich, dass sie noch nicht das eigene Wohlfühlmaß gefunden hat, da ihr die „Zahl [auf der Waage] einfach Sicherheit“ (Nina, T535) gibt. Eine Zahl innerhalb eines bestimmten Bereichs ist für sie eine Art Korrektiv, das ein allenfalls vorhandenes Unwohlsein nicht auf das Gewicht zurückführen lässt (Nina, T286‒T289). Umgekehrt kann jedoch auch eine unerwartet höhere Zahl ein vorher bestandenes Wohlgefühl dämpfen (Nina, T512‒T546). Die Körperwaage bzw. die Gewichtszahl bedeutet für Nina somit äußere Sicherheit und beeinflusst sie gleichzeitig sowohl in Richtung eines angenehmen als auch eines unangenehmen Empfindens. Alice hingegen erzählt davon, sich nicht abwiegen zu wollen, um sich bzw. ihr Verhalten und Befinden nicht von der Gewichtszahl abhängig zu machen (Alice, T449‒T464). Wurde das eigene Maß noch nicht bzw. noch nicht ausreichend gefunden, ist das Fernhalten von äußeren Maßstäben besonders wichtig, um derartige Einflussmöglichkeiten zu verringern. Im Hinblick auf die Haltung gegenüber sich selbst werfen Anitas Aussagen über ihre eingeschränkte Körperzufriedenheit die Frage auf, inwiefern diese auf eine noch nicht überwundene Essstörung hinweisen könnte, da sie sich unter anderem in der SelbstBeziehung von anderen Personen unterscheidet. Ein Ausschnitt aus dem Gespräch soll dies illustrieren (Anita, 838‒840): Anita: Wenn ich die Chance hätte, würde ich mich vermutlich von Kopf bis Fuß operieren lassen. Das würde bei den Haaren anfangen bis zur Nase, ich würde mir vermutlich Botox spritzen lassen. A. K.: Was hält dich davon ab?

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Anita: Es ist nicht nur eine finanzielle Frage. Es kostet, klar. Aber es ist keine Option. Man kann vor sich selber eh nicht davonrennen.

Anita spricht an anderer Stelle mit erkennbaren Ambivalenzen davon, sich nur zu mögen und nicht zu lieben, sieht dies jedoch als „irrsinnigen Schritt“ (Anita, 858) zu sich selbst. Es ist somit wichtig, bei allen Ambivalenzen und Irritationen, die SelbstBeziehung im Rahmen der individuellen Entwicklung zu betrachten (Anita, 832, 860‒ 862). Auch eine vermehrte Strenge sich selbst gegenüber weist auf eine Einschränkung in der Selbst-Annäherung hin. Dies zeigt sich in Ausdrücken wie, ein „schwieriger Mensch“ (Alice, T853) zu sein, etwas „nicht hinzukriegen“ (vgl. Alice, T256) oder sich selbst nicht zu verstehen. Hinter solchen Formulierungen steht häufig ein bei größerer Selbst-Distanz stärker ausgeprägtes Schamempfinden, das sich konkret auf die (ehemalige) Betroffenheit von der Essstörung und/oder allgemein auf eigene Verhaltensweisen beziehen kann. Besonders deutlich wird dieses Schamempfinden in der Verteidigung von (demütigenden) Anderen (u. a. Alice, T602‒T604, T628‒T651). Das Lockern der Selbst-Kontrolle, im Sinne einer Verringerung von hohen Erwartungen an sich selbst, kann noch schwierig sein und daher durch eine körperliche Diagnose erleichtert werden (Jasmin, T2144f.): Ich habe jetzt die Diagnose gekriegt, dass ich die chronische Gastritis habe. Wenn ich wieder Weh habe und am nächsten Tag nicht fit bin, dann kann ich nicht immer super sein und auch die Leistung nicht immer super sein, nicht super ausfallen. (Jasmin, T2119‒T2123)

Bei Personen, die von mehr aktuellen Schwierigkeiten im Hinblick auf die Essstörung erzählen, ist die Leistungsorientierung im Vergleich zu anderen Personen tendenziell stärker ausgeprägt. So ist für Anita der „Perfektionismus“ (Anita, 850, 894), sowohl in Bezug auf die Leistung als auch auf das Aussehen, noch ein großes Thema, wenngleich in einem geringeren Ausmaß als früher. Die Bedeutung des körperlichen Äußeren dürfte besonders mit ihren schwierigen, zum Teil demütigenden Erfahrungen aufgrund ihrer Psoriasis in Zusammenhang stehen (Anita, 1545‒1576). Trotz Prüfungsangst scheint die Fokussierung auf Wissen und Können für sie im Gegensatz zu äußeren Bewertungen nicht oder weniger belastend zu sein (Anita, 382‒386). Für Karin hingegen ist ihre „Versagensangst“ (Karin, T1663) mitunter heute noch ein Anlass, sich im Studium entweder kurz vor der Prüfung abzumelden oder so viel zu lernen, dass ein Durchfallen praktisch ausgeschlossen werden kann (Karin, T1681‒T1686). Bei Jasmin zeigt sich die Bedeutung von Leistung in ihrer Art des Sprechens über ihren schulischen und beruflichen Werdegang. Aufgrund ihrer körperlichen Schwäche musste sie die Schule mit siebzehn Jahren abbrechen, später auch die Krankenpflegeschule. Sie wollte zwar „durchbeißen“ (Jasmin, T803), war allerdings mit der Ausbildung überfordert und hatte daher vermehrt Probleme mit der Essstörung: „Ich habe es mir nicht gedacht, ich bin wirklich wieder rückfällig geworden. Ich bin gut in der Schule gewesen, war leistungsorientiert und bestrebt und ehrgeizig, aber die Schule war so zu viel“ (Jasmin, T856‒ T859). Sie habe es „wieder nicht geschafft“ (Jasmin, T882) und ihr Vater habe dann erfahren, dass es ihr „wieder nicht gut geht“ (Jasmin, T899) ‒ an diesen Ausdrücken

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der Selbst-Anklage sind die Leistungsorientierung und die damit verbundene Scham erkennbar, den Anforderungen nicht gewachsen gewesen zu sein. Widersprüche in den Erzählungen im Hinblick auf das eigene Erleben (Alice, T297‒T306 vs. T1475f.) sowie geäußerte Selbst-Zweifel (Claudia, T1560‒T1563) weisen außerdem auf eine Selbst-Distanz hin. Auch Jasmins anklagende Aussagen über sich sind hier einzuordnen. Ihr häufig damit einhergehendes Lächeln ist zwar einerseits nicht dem Inhalt adäquat und dürfte ein Zeichen von Unsicherheit, auch Scham sein. So beschreibt Benecke das Lachen und Lächeln als „ ,Werkzeuge‘ zur Reduzierung negativer Affekte“ (Benecke, 2009, S. 127). Andererseits mildert Jasmins Lächeln auch ihre strenge Bewertung ab. Somit ist festzuhalten, dass das Ausmaß der Selbst-Annäherung bei den Personen durchaus unterschiedlich ist. Im Fall von Einschränkungen besteht Übereinstimmung im Wunsch nach mehr Distanzierung von der Essstörung. So ist Alice ein liebevoller Umgang mit sich selbst noch fremd, sie möchte sich jedoch von der Beschäftigung mit Essen und Gewicht mehr in Richtung Selbst-Akzeptanz bewegen (Alice, T1636‒T1642). Jedoch müsse nicht völlige Selbstakzeptanz erreicht werden, um die Essstörung als überwunden einstufen zu können, denn, so Melina relativierend, die eine oder andere Unzufriedenheit hätten alle Frauen (Mail Melina, 14.01.2016). Der Bezug zu Frauen kann einerseits ihre Identifikation mit dem eigenen Geschlecht, andererseits das weibliche Schönheitsideal widerspiegeln. Jedenfalls wird damit deutlich, dass Selbst-Zufriedenheit auch bei Menschen ohne Essstörungserfahrung situativ und zeitlich variieren kann (Karin, T1482‒T1486). Es gilt also, sich auch von Idealvorstellungen bezüglich des Ausmaßes an Selbst-Annäherung im Rahmen der Überwindung zu entfernen. 7.3.3 Umfeldbeziehungen: Öffnung, Verbindung und Vertiefung Wie in der Selbst-Beziehung ist auch in den Umfeldbeziehungen eine Annäherung auf dem Weg aus der Essstörung erkennbar. Es zeigt sich ein Öffnen gegenüber dem Umfeld, wodurch eine Verbindung mit diesem möglich wird. In einer solchen kann es schließlich gelingen, tiefe, vertrauensvolle Beziehungen zu leben. Öffnung und Verbindung durch Mit-Teilen Unter Öffnung wird hier die Bereitschaft für eine Verbindung mit anderen Menschen verstanden, nachdem die Aufmerksamkeit zuvor auf die Essstörung ausgerichtet war. Das Aufnehmen einer solchen Verbindung erfolgt insbesondere durch das Mit-Teilen gegenüber anderen Menschen. Die zusammengesetzte und zugleich getrennte Schreibweise von Mit-Teilen soll verdeutlichen, dass sich die Person einerseits in Richtung eines Miteinanders entwickelt hat. Andererseits äußert sie nun auch die eigenen Wünsche, die durch die Selbst-Annäherung spürbar werden, und setzt dementsprechend ihre Grenzen. Dadurch wird die Essstörung nicht mehr als Sprache benötigt, die Nähe-Distanz-Regulation kann jedoch noch schwierig sein. Entsprechende Einschränkungen werden am Schluss des Kapitels ausgeführt.

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Zu unterscheiden ist das direkte vom indirekten Mit-Teilen: Als direktes Mit-Teilen wird das unmittelbare Aussprechen von Erfahrungen, insbesondere mit der Essstörung, verstanden. Claudia verwendet im Hinblick auf das Forschungsgespräch die Formulierung, in der Forscherin eine Zeugin ihrer eigenen Geschichte gewonnen zu haben. Nach der Bezeichnung von Miller ist diese eine wissende Zeugin, die sich in die heute erwachsene Person mit ihren Erfahrungen als Kind einfühlt (Miller, 2009, S. 8): Es ist ein Zeuge mehr. […] Also es gibt jetzt einen mehr, der meine Geschichte weiß, und ich kann irgendwann einmal sagen: „Es ist eine Zeit, die nicht ganz zeugenlos war. Auch wenn damals niemand dabei war, der mir geglaubt hat, ist es jetzt der Fall.“ Das Vertrauen habe ich in das Gegenüber. (Claudia, T2784, T2789‒T2795)

Ein Beispiel für indirektes Mit-Teilen schildert Irina: Sie könne sich besser von ihrem Verantwortungsgefühl gegenüber anderen distanzieren, wenn sie keine direkten Anregungen weitergebe, sondern Impulse setze. Als Beispiel nennt sie das Auslegen einer Zeitschrift im Sozialraum an ihrer Arbeitsstelle. Dadurch stelle sie Informationen zu Themen, die sie selbst interessieren und/oder ihre Kollegen und Kolleginnen zum aktuellen Zeitpunkt beschäftigen (könnten), zur Verfügung, ohne jemanden gezielt anzusprechen. So überlasse sie es ihnen selbst, ob bzw. welche Anregungen sie davon für sich mitnehmen wollen (Irina, 1811‒1825). Beim indirekten Mit-Teilen steht somit die Handlung im Vordergrund. Es kann auch mit Verbalisieren einhergehen, jedoch in einer weniger konkreten, personenspezifischen Form als das direkte Mit-Teilen. Das vermehrte Mit-Teilen der Personen im Hinblick auf die Essstörung wird daran deutlich, dass diese kein Thema mehr im Sinne eines Lebensinhalts, jedoch sehr wohl Thema von Gesprächen geworden ist. Bei einigen Personen beschränkt sich das MitTeilen auf wenige vertraute Menschen, bei anderen umfasst dieses auch das Einbringen von eigenen Erfahrungen im Beruf. Bianca und Frauke beispielsweise können sich in ihrer psychosozialen Tätigkeit durch ihre eigene ehemalige Betroffenheit in die Erkrankungs- und Therapiewelt der noch Betroffenen einfühlen und zudem ein Modell der Hoffnung auf Überwindung sein (s. Kapitel 7.2.3). Irina sieht das offene Sprechen sogar als wichtigen Bestandteil der Überwindung: „Ein offenes Gespräch ist wichtig, um, glaub ich, die Essstörung wirklich abschließen zu können. Ich glaub, wenn man es nicht führen kann, das offene Gespräch, dann ist es nicht abgeschlossen“ (Irina, 2469). Jedoch ist umgekehrt die ausbleibende Kontaktaufnahme von Bekannten, die Alena für diese Forschungsarbeit vermitteln wollte, nicht als Hinweis auf eine noch aufrechte Problematik zu interpretieren. Sie meinte dazu, dass das Sprechen über diesen „Spaß“ (Mail Alena, 31.01.2016), die Essstörungserfahrung, möglicherweise „Bedenkzeit“ (Mail Alena, 31.01.2016) erfordere. Eine solche Hemmschwelle besteht insbesondere in der Zeit der Betroffenheit, allerdings auch, wenngleich meist in weniger ausgeprägter Form, darüber hinaus. Für ein Zögern gibt es verschiedene Erklärungen, etwa die Angst vor Konfrontation, da die Essstörung noch nicht überwunden ist. Die Essstörung könnte aber auch überwunden sein, allerdings möchte die Person nicht mehr über die Vergangenheit und/oder nicht mit einer fremden Person darüber sprechen. Neben Unbehagen oder Angst kommen außerdem die alltäglichen Anforderungen und dadurch limitierte zeitliche Ressourcen als weitere Gründe in Frage. Demgegenüber steht Irinas

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Auffassung, dass das Vermögen, über die Essstörung zu sprechen, sogar ein Kriterium, sie als „abgeschlossen“ (Irina, 2469) betrachten zu können, ist. Weder die eine noch die andere Position, sondern vielmehr das Gleichgewicht werden in dieser Arbeit als Zeichen von Überwindung vorgeschlagen: die Bereitschaft zur vertieften Auseinandersetzung und zum Sprechen bei flexiblem Umgang mit dem Thema Essstörung, also dass nicht darüber gesprochen werden muss, aber kann. Der Einfluss von äußeren Zuschreibungen auf diese Bereitschaft geht aus Alenas Erklärung auf die Frage nach ihrem aktuellen Befinden am Ende des Gesprächs hervor: Ich merke schon, ich bin noch emotional. Das ist schon. Vor allem, drüber geredet habe ich eigentlich in dem Ausmaß noch nie, also aktuell jetzt. Nein, ich habe schon lang nicht mehr drüber geredet. Einfach, weil es jetzt nicht mehr so Thema ist, oder ich bin halt mehr der Mensch, ich mache das mit mir selber aus. Ich habe auch nach wie vor so ein bisschen das Ding, wenn ich drüber rede, dann werde ich gleich abgestempelt als die Gestörte oder so. Deswegen tu ich, glaube ich, nicht so mit jedem gleich einmal darüber reden. (Alena, 1533‒1535)

Vor allem gegenüber Menschen, die nie von einer Essstörung betroffen waren, hat Alena Bedenken, darüber zu sprechen. Darauf könnte auch Silvia hinweisen, wenn sie meint, dass „das Thema [Essstörung] schon eher unangenehm“ (Silvia, T1598f.) sei. Alena erklärt ihre Zurückhaltung mit dem Problem der Nachvollziehbarkeit für solche Menschen und erinnert mit ihrer Erläuterung an eine Kommunikation in einer Fremdsprache: Ich glaube, dass es schwer verständlich ist für Leute, die es nicht erfahren haben. Auch wenn ich jetzt so von meiner Geschichte ein bisschen was erzähle, ich glaube, die Leute wissen einfach nicht, was das heißt: das Vertrauen ins Leben und überhaupt. Wenn du, glaube ich, ein halbwegs normales Umfeld gehabt hast oder hast, kann man sich das halt nicht vorstellen ‒ genauso wenig, wie ich mir das vorstellen kann, wie das sein muss, wenn man eine Familie hat, die normal ist, oder wenn man halt nicht gar so misshandelt worden ist. Deswegen habe ich, glaube ich, aufgehört zu versuchen, mich über das mitzuteilen, weil es eh nicht möglich ist. (Alena, 1553‒1555)

Aus diesem Zitat geht hervor, wie wichtig es ist, die Sprache der Essstörung nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für ihr Umfeld zu übersetzen. Hier kommt Therapeuten und Therapeutinnen eine wichtige Rolle zu, indem sie die Beteiligten dabei begleiten (s. Kapitel 7.2.4). Das nun vermehrte Mit-Teilen zeigt sich bei den Personen nicht nur im Sprechen über ihre Essstörungserfahrung (u. a. Nina, T1650f.). Nina erzählt davon, dass sie ihre Anliegen vor allem in Freundschaften mittlerweile ohne Zögern thematisiert (Nina, T1007f.). Dies erlebe sie als angenehm und steht im Gegensatz zur Erfahrung mit ihrem schweigenden familiären Umfeld. Während sich Nina dabei auf bereits länger bestehende Kontakte bezieht, sind bei Rebecca nun neue Bekanntschaften im Vordergrund, die sich unter anderem durch den Umfeldwechsel gebildet haben. Bisherige Freundschaften wurden von ihr in letzter Zeit „ziemlich eingedämmt“ (Rebecca, T1761), da es mit diesen Menschen nicht mehr so viele Gemeinsamkeiten gebe. Daher sei ihr ihre Zeit „ein bisschen zu schade“ (Rebecca, T1762), um sie mit ihnen zu verbringen.

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Vertiefung Durch das vermehrte Öffnen gegenüber anderen Menschen sowie das Verbinden mit ihnen wird ein Vertiefen von Beziehungen und gemeinsames (Er-)Leben möglich. Für Marlies sind die Beziehungen nun „intensiver“ (Marlies, 785), auf jeden Fall „schöner“ (Marlies, 785) und die Freundschaften „lockerer“ (Marlies, 785) geworden. Damit dürfte sie meinen, dass sie nicht mehr von der Essstörung vereinnahmt wird und nun, entgegen der Rückzugstendenz in der Zeit der Essstörung, freier für die Begegnung mit anderen ist. Essen wird außerdem (wieder) zu einem schönen gemeinsamen Erlebnis und ist kein Mittel der Bewältigung mehr. Neben Lia erwähnt Frauke diesen Aspekt in Bezug auf ihren Freund ‒ er als Person sowie das gemeinsame Essen seien wohltuend für sie. Hierbei handelt es sich somit um Nahrung in zweierlei Hinsicht: auf der Körperund der Beziehungsebene (s. Kapitel 7.2.5). Freundschaften haben (wieder) an Bedeutung gewonnen, einerseits im Hinblick auf die Beziehungstiefe, andererseits in Form der Vermehrung von sozialen Kontakten: „Es ist die Freude da. Du machst was mit Leuten, du gehst gern unter Leute, du entwickelst wieder ganz andere Interessen. Das ist mir einfach viel mehr wert“ (Melina, 209). Manche Personen erzählen auch in Bezug auf frühere Zeiten von tiefen Freundschaften, so wie Alena, da sie nicht der „oberflächliche Typ Mensch“ (Alena, 1469) sei. Frauke unterscheidet ihre Freundschaften danach, mit wem sie über „normale Probleme“ (Frauke, 1119) und mit wem hingegen auch über eine „Sinnkrise“ (Frauke, 1123) spricht. Je nach Ausmaß an Tiefe und Nähe handelt es sich für Nina um „verschiedene Stufen“ (Nina, T1057) in Freundschaftsbeziehungen. Anders als in der Zeit der Essstörung fühlt sie sich nun sozial gut eingebettet: „Jetzt habe ich mein Netzwerk von engsten Freunden. Ich glaube schon, das ist das, was mir eben viel Stütze gibt; was mir damals einfach, glaube ich, gefehlt hat“ (Nina, T1015‒T1017). Die Möglichkeit, sich im Freundeskreis über tiefbewegende Themen auszutauschen, ist den Personen heute besonders wichtig. Der eigene Ausdruck in allen Gefühlslagen sowie jener der anderen haben an Bedeutung gewonnen, so auch für Grete: „Das ist vielleicht der wichtigste Punkt: Ich kann heute über Gefühle reden. Ich kann heute über Dinge reden mit meinen Freunden, die mich wirklich bewegen; die mich erschüttern“ (Grete, T2376‒T2380). Das Zusammensein basiert bei Grete nur noch auf Freude, auf einem „Ja-Gefühl“ (Grete, T2306) und passiert nicht mehr aus Verpflichtung: „Ich bleibe an keinem Tisch mehr sitzen, nur weil es sein muss oder weil es sich gehört“ (Grete, T2330f.). Die Atmosphäre in ihrem Freundeskreis beschreibt Grete so: Man darf da jetzt einfach sein. Jeder mit allem, also mit seinem Kummer, mit seiner Trauer, mit seinen Enttäuschungen, mit seiner Freude. Das ist jetzt schon ein Unterschied zu früher, weil früher war das so: Ja, tun wir ein bisschen feiern, und das darf nicht sein, und das darf nicht sein. Heute darf aber alles sein, und das ist schön. (Grete, T2109‒T2115)

In der Verbindung besteht von Seiten der Personen somit mehr Offenheit, sich selbst zu zeigen und gleichzeitig auch andere Menschen in ihrer Tiefe wahrzunehmen. Ihre Empathie sei zwar bereits früher vorhanden gewesen, habe sich jedoch durch die eigenen Erfahrungen mit der Essstörung und deren Überwindung intensiviert. Rebecca

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meint dazu, dass sie dadurch ihre Emotionen vermehrt äußern und besonders für Menschen in Belastungssituationen mehr Mitgefühl zeigen könne (Rebecca, T1003, T1017; vgl. Alice, T1150‒T1161; vgl. Silvia, T1273‒T1280). Heute sei sie offener für die Anliegen anderer als früher, als sie vor allem auf sich bzw. die Essstörung fokussiert war: Zum Beispiel, wenn ich raushöre, dass jemand belastet von einem Ereignis ist, dann versuche ich da sensibel zu sein und der Person zu zeigen, dass ich sie unterstütze. Ich glaube, früher habe ich das nicht so erkannt oder ich habe halt mehr auf mich geachtet. Ich habe nicht so über meinen eigenen Tellerrand hinauskucken können. (Rebecca, T1007‒T1012; Hervorhebung A. K.)

Die hervorgehobene Stelle im Zitat ist ein treffender Begriff für die Vereinnahmung von der Essstörung, nicht nur im Hinblick auf die Gedanken an Essen und Gewicht, sondern auch auf soziale Beziehungen. Besonders wenn Rebecca bei einer Person eine Essstörung vermutet, fühlt sie sich angesprochen, dieser jene Unterstützung zu geben, die sie selbst vermisste. Diesbezüglich erwähnt sie insbesondere, nicht auf das Äußere der Betroffenen zu fokussieren, sondern den Versuch, sie in ihrer Persönlichkeit zu bestärken (Rebecca, T1026‒T1041). Grete bezieht sich weniger auf die Essstörung im engeren Sinn, sondern auf andere, jedoch mit der Erkrankung einhergehende Erfahrungen, die ihre Fähigkeit zur Empathie in ihrem Beruf als Polizistin gestärkt haben (Grete, T2217‒T2219). Verständnis besteht ebenso für selbst unbekannte Probleme, wie dies bei Jasmin im Hinblick auf die psychische Belastung ihres Partners der Fall ist. Für diese Partnerschaft, die zum Zeitpunkt des Gesprächs noch nicht lange aufrecht war, wünscht sich Jasmin eine gemeinsame Beziehungsgestaltung, womit auch Schwierigkeiten leichter zu bewältigen seien. Der Ausdruck ihrer eigenen Wünsche gelingt ihr bereits mehr als früher (Jasmin, T2090‒T2107). Mit einem „offiziell […] fixen Partner“ (vgl. Jasmin, T2356‒ T2358) könne sie sich heute auch Kinder vorstellen. Eine andere Beziehung zu ihren eigenen Kindern zu haben, als sie es mit ihren Eltern erlebte, ist ihr dabei besonders wichtig. Das Erlangen von Stabilität, jeder für sich und gemeinsam als Paar, stellt für sie eine Voraussetzung dafür dar (Jasmin, T2352‒T2365, T2387f.). Das Miteinander-Sein und die erlebte Nähe in Freundschaften werden von den Personen heute besonders wertgeschätzt. Dies spiegelt sich in ihrer Dankbarkeit wider: Die Menschen, die mir viel geben können, mehr wertzuschätzen; auch so was wie Dankbarkeit und ein bisschen, naja, Demut fast. Ich habe zwei Freundinnen, die einfach über die ganzen Jahre [geblieben] sind, und die sind schon ganz was Besonderes. Die sehe ich zwar ganz selten, aber da merke ich, dass sich von meiner Seite über die Jahre einfach nochmal was verändert hat. (Bianca, 635)

Bianca erzählt hier von lange bestehenden Freundschaften, die auch jene Zeiten überdauert haben, in denen sie von sich aus auf Distanz ging. Diese waren für sie ein wichtiger Halt auf dem Weg aus der Essstörung (s. Kapitel 7.2.3). Marina drückt ebenso die Wertschätzung gegenüber ihren Freunden und Freundinnen aus, außerdem die Bedeutung, „mir oft einmal auch Freuden zu bereiten ‒ kleine Freuden, große Freuden, auch den anderen, nicht nur mir“ (Marina, 801). Somit hat eine Annäherung einerseits in der

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Selbst-Beziehung, andererseits in den Beziehungen zu anderen, im Sinne einer gemeinsamen Freude, stattgefunden. Hinweise auf ein (noch) aufrechtes Nähe-Distanz-Ungleichgewicht Wie in der Selbst-Beziehung zeigen sich auch in den Umfeldbeziehungen Hinweise auf Einschränkungen in der Annäherung. Insbesondere diesbezügliche Unsicherheiten sowie Schwierigkeiten, andere Menschen in einem adäquaten Ausmaß auf Distanz zu halten, stehen hier im Vordergrund. Alice erzählt davon, dass es ihr in sozialen Kontexten insgesamt schwerfalle, sich mit einem Nein gegenüber anderen zu positionieren, dies jedoch bereits häufiger gelinge (Alice, T1226‒T1231). Das Bevorzugen von Distanz zum Umfeld, wie es Alice beim Sprechen über ihren Vater (Alice, T597f.) und insbesondere im Hinblick auf das Einnehmen von Mahlzeiten erwähnt, ist in Zusammenhang mit den erfahrenen Bewertungen erklärbar. So fällt Alice das Essen unter Menschen, die nicht von ihrer Essstörung wissen, leichter. Trotz dieser Tendenz zur Zurückhaltung schätzt sie das Zusammensein mit einzelnen Freundinnen sehr (Alice, T1187‒T1189). Sich anderen Menschen anzuvertrauen, ist auch für Claudia eine Herausforderung, doch insbesondere durch die wohltuende Osteopathie-Erfahrung haben sich ihre Unsicherheiten bereits verringert (Claudia, T429‒T433, T450‒T453). Die schrittweisen Veränderungen und noch bestehenden Schwierigkeiten dabei schildert sie folgendermaßen: Das ist auch ein Prozess und geht nicht immer [sich anderen zu öffnen], weil ich schon immer noch das Gefühl habe: ‚Das musst du in erster Linie mit dir selber ausmachen.‘ Aber es wird schon besser. Um Hilfe zu bitten, ist natürlich grundsätzlich ein Problem, weil für mich die Latte, wenn ich um Hilfe bitte, einfach eher da ist, wenn wer schon sagt: „Na, hast du einen Vogel?“ Ich habe da einfach ganz einen anderen Blick drauf. In erster Linie verlasse ich mich schon gern auf mich selber. (Claudia, T1236‒T1245; Hervorhebung A. K.)

Die Hervorhebung im Zitat soll auf den Zusammenhang mit den unsicheren Beziehungserfahrungen in ihrer Kindheit hinweisen. Außerdem wird deutlich, dass das Vertrauen in andere Menschen geringer ist als in sich selbst: „Das war so mein Grundgefühl: Verlasse dich mal in erster Linie auf dich. Dann kann man immer noch schauen, braucht's was anderes“ (Claudia, T1278‒T1280). Besonders fremden Erwachsenen, nicht den Kindern in ihrem beruflichen Alltag, nähere sie sich vorsichtig und schrittweise an. Umgekehrt werde sie auch von ihrem Freundeskreis anders wahrgenommen, als sie sich innerlich fühle, womit sie ihre Zurückhaltung, sich anderen zu zeigen, anspricht (Claudia, T427‒T429). Dadurch kann das Umfeld jedoch nicht adäquat und ausreichend auf ihre Bedürfnisse eingehen. Die Vorsicht und der Wunsch nach Kontrolle gegenüber dem Umfeld sind bei Karin in der häufigen Formulierung, „alles im Griff“ (Karin, T1815, T1826) haben zu wollen, erkennbar. So möchte sie in einer größeren Menschengruppe „ungefähr alles im Blick“ (Karin, T1707), also einen Überblick über die Situation, haben. Es dürfe nichts in ihrem „toten Winkel“ (Karin, T1722) sein, außerdem wäre es ein „Albtraum, mitten drinnen zu stehen“ (vgl. Karin, T1733). Daher halte sie sich lieber „irgendwo am Rand“ (Karin,

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T1734) auf, „immer mit dem Rücken zur Wand“ (Karin, T1736). Hinter der letzten Formulierung könnte Ohnmacht, die sie teilweise im Leben empfindet, stehen. Häufiger als in Freundschaften wird das Sich-Öffnen in einer Partnerschaft als schwierig erlebt. Alice bringt dies in Zusammenhang mit ihrem körperlichen Unwohlgefühl (Alice, T846‒T859). Hier ist ein Einfluss der Grenzüberschreitung von Seiten ihres Vaters in der Kindheit anzunehmen. Nina spricht auch von „Abwürgen“ (vgl. Nina, T1480) oder „Abblocken“ (vgl. Nina, T1032), „sobald sich was anbahnt“ (Nina, T1032), also noch bevor Nähe entstehen kann. Sie werde es jedoch „schaffen“ (Nina, T1478), dieses „Risiko“ (Nina, T1551) einzugehen, und müsse es noch „angehen“ (Nina, T1478). Diese Ausdrucksweise lässt die Annäherung in einer Partnerschaft wie eine Leistung oder Pflicht erscheinen. Aktuell möchte sie sich jedenfalls noch nicht in der Tiefe mit diesem Thema beschäftigen, denn „das wird mir dann zu intim, also im wahrsten Sinne des Wortes. Da bin ich noch nicht drüber“ (Nina, T1040‒T1042). Ähnlich ergeht es Karin, die noch nicht bereit für eine Partnerschaft sei, sich jedoch „auf einem ganz guten Weg“ (Karin, T3030) sieht: „Wie gesagt, ich bin schon sehr stolz, dass ich mich um meine Pflanze kümmern kann (lachend)“ (Karin, T3024‒T3026). Die Ambivalenzen im Hinblick auf das Aufbauen einer Verbindung, einer Brücke, zu anderen und das Begegnen auf dieser Brücke schildert Claudia ausführlich anhand ihrer Erfahrung mit ihrem Osteopathen. Seine Empathie trug dazu bei, dass sie trotz ihrer „Fluchttendenzen“ (Claudia, T1305) „aus irgendeinem Grund geblieben“ (Claudia, T1307) sei. Darüber zeigt sie sich selbst verwundert (Claudia, T1249‒T1251), zumal sie gegenüber Männern und körperlicher Berührung besonders zurückhaltend ist. In der Verbindung wird bei Claudia die Schwierigkeit in Bezug auf das Gleichgewicht von Nähe und Distanz deutlich. Auf der einen Seite stehen der Wunsch nach Unabhängigkeit und die Angst vor dem Verlassenwerden, wodurch sie zu Distanz gegenüber dem Umfeld tendiert. Auf der anderen Seite befürchtet sie, dass sie anderen, ihr wichtigen Menschen zu nahe kommt, wenngleich sie keine derartige Rückmeldung erhalten habe. Hierin sieht sie selbst einen Zusammenhang mit den erfahrenen Übergriffen, ebenso wird ihr Kontrollbedürfnis bezüglich Nähe und Distanz sichtbar. Diese Kontrolle steht in ihrer Lebensgeschichte für den Versuch, die Angst vor Verlust und Ablehnung zu verringern (Claudia, T1334‒T1416): Ich habe heute manchmal das Problem, dass ich überhaupt nicht spüre oder, sagen wir so, dass ich ständig Angst oder ganz oft Angst habe bei Menschen, die mir was bedeuten oder die mir nähergekommen sind, dass ich deren Grenzen überschreite. Es ist wirklich so, dass ich oft nicht weiß, was gehört sich. Das ist ganz schräg. Zum Beispiel: Kann ich den jetzt um acht am Abend noch anrufen oder tut man das nicht. Oder kann ich diesen und jenen mit dem und dem jetzt beaufschlagen oder tut man das nicht. Weil halt einfach meine Grenzen, glaube ich, phasenweise nicht gewahrt wurden. Und jetzt habe ich das Gefühl, ich muss das für alle anderen übernehmen. (Claudia, T1334‒ T1347)

Auch wenn Claudia das Zusammensein heute schon eher als gegenseitigen Austausch, als Geben und Nehmen, erleben kann (Claudia, T421‒T423, T1777‒T1787), besteht der Wunsch nach mehr Gleichgewicht in ihren Umfeldbeziehungen im Sinne eines Vertrauens in deren Beständigkeit. Während im folgenden ersten Zitat die Vorstellung deutlich

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wird, sich Freundschaften verdienen zu müssen, spricht Claudia im zweiten Zitat die Lockerung ihrer bisherigen Idee von Beziehungsmustern an. Diese Beziehungsmuster gaben ihr einerseits Halt, andererseits schränkten diese ihre Flexibilität und damit ihr Gleichgewicht in Beziehungen ein: Ich habe ganz oft Angst gehabt, wenn ich nicht ständig leiste und nicht ständig tu, dann verschwinden die Leute. Heute denke ich mir: ‚Ja, dann hat das vielleicht einen Grund. Ich kann nicht ständig leisten, ich kann nicht ständig tun. Ein paar werden schon übrig bleiben.‘ (Claudia, T2326‒T2332) Ich habe ganz lang geglaubt, menschliche Beziehung hat ein Muster, nämlich: Das muss so und so ausschauen. Das muss so ausschauen, dass einmal du anrufst, einmal ich anrufe, das muss seine Waage haben. […] Dieses ‚Was glaube ich, was Beziehung ist, und was glaube ich, was Begegnung ist‘, das ändert sich gerade in den letzten Jahren sehr stark. Dass nicht alles immer so ist, wie ich glaube und wie ich mir das vorstelle. Was natürlich auch wieder ein Verlust der Sicherheit ist, weil wenn jemand nicht so tut, dann werde ich unsicher; dann kenne ich mich nicht aus; dann weiß ich nicht, wo ich stehe. Das ändert sich schon ein bisschen: Dem auch Positives abzugewinnen, dass nicht alles so in Stein gemeißelt ist; dass die Qualität halt einfach wichtiger ist als die Quantität. (Claudia, T2340‒T2344, T2353‒T2368)

Wie Claudia äußert auch Jasmin die Angst vor dem Verlassenwerden, konkret im Hinblick auf Partnerbeziehungen (Jasmin, T1531). Hier ist ein Zusammenhang mit ihrer Zurückweisung von Seiten ihrer Eltern nach deren Scheidung zu sehen. Wenngleich sie dabei verlassen wurde, beschreibt sie die Angst vor dem Scheitern der Beziehung als Angst vor einem eigenen, zudem erneuten Verschulden mit folgenden Worten: „Ich versaue es mir wieder, ich mache das kaputt“ (Jasmin, T1533‒T1536). Am Ende dieses Kapitels ist somit festzuhalten, dass in den Umfeldbeziehungen eine Annäherung, Verbindung und Vertiefung, jedoch auch diesbezügliche Schwierigkeiten bei den Gesprächspersonen deutlich werden. Allerdings lassen sich diese nicht ausschließlich auf die Essstörungserfahrung zurückführen, sondern auch andere Einflüsse sind dabei von Bedeutung. Dafür spricht, dass derartige Nähe-Distanz-Ambivalenzen in der Literatur ebenso im Zusammenhang mit anderen Erkrankungen, beispielsweise Persönlichkeitsstörungen, beschrieben werden (u. a. APA, 2015; DIMDI, 2018). Zudem zeigen Alltagserfahrungen, dass ein ambivalentes Empfinden in Beziehungen auch für Menschen ohne diagnostizierte Erkrankung temporär oder längerfristig ein mehr oder weniger schwieriges Thema sein kann. 7.3.4 Lebensbeziehung: Lebensgefühl, Momenterleben und Wertschätzung Nicht nur die Beziehung zu sich selbst und zu anderen Menschen verändert sich im Laufe der Überwindung, sondern auch jene zum Leben, die die dritte Dimension des persönlichen Wachstums darstellt (s. Kapitel 3.3.1). Es erfolgt ein Annähern aus der anderen Welt der Essstörung an das Leben in seiner Vielfalt. Aus den Beschreibungen der Personen wird die zunehmende Lebendigkeit im Laufe der Überwindung deutlich

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sowie das Vermögen, durch Hoch- und Tiefphasen im Leben zu gehen, ohne der Essstörung als Halt zu bedürfen. Bei Ina wird eine schrittweise Annäherung an das Leben in zweierlei Hinsicht deutlich: Im Rahmen der Schwangerschaften, in denen sie auf mehr Nahrungszufuhr achtete (Ina, T553‒T564), kam sie ihrem eigenen Leben sowie jenem des Kindes näher. Dies zeigt sich auch nach der Schwangerschaft, als sie zwar Angst hatte, ihr Ausgangsgewicht nicht mehr zu erreichen, sich aber bewusst wurde: „Jetzt muss ich mal anfangen zu leben“ (Ina, T594). Es gelang ihr, die Kontrolle über ihren Körper zu lockern, womit das Leben mehr Gewicht bekam. Lebensgefühl „Es ist einfach das ganze Lebensgefühl wieder da“, meint Melina (207), als sie davon erzählt, dass sich neben Sichtweisen und konkreten Lebensformen vor allem das Empfinden auf dem Weg aus der Essstörung verändert hat. Auch Irina spricht von ihrem „Grundgefühl“ (Mail Irina, 05.12.2015), das wie ihre gesamte Lebenssituation heute ein ganz anderes sei. Marina beschreibt ihr „Aufblühen“ (vgl. Marina, 276) im Zusammenhang mit dem Kennenlernen ihres jetzigen Mannes, das im Hinblick auf die Überwindung ihrer Essstörung sehr bedeutend war. Auch beim Malen seien ihre Bilder allmählich farbiger und bunter geworden, und sie habe mit anderen Materialien, mit Aquarell und Öl anstatt mit schwarzer Kohle, gemalt. Wenngleich aus der Farbe an sich und deren Auswahl von Seiten einer Person keine unmittelbaren Rückschlüsse auf ihre Befindlichkeit zu ziehen sind (Menzen, 2001, S. 178ff.), zeigt sich im Falle von Marina anhand ihrer Erzählung ein Zusammenhang zwischen der Farbenvielfalt und der wachsenden Lebensvielfalt. Außerdem erzählt auch Grete, dass sie im Gegensatz zu ihrem früheren Schwarz-Weiß-Denken das Leben heute in „Grauzonen“ (Grete, T2167) sehe. Dieses andere Lebensgefühl zeigt sich unter anderem als Lebensfreude, die Anja folgendermaßen auf den Punkt bringt: „Das Leben ist einfach schön, weißt du“ (Anja, T1764). Die Lebensfreude ist im freudvollen Tun erkennbar und wird umgekehrt durch dieses verstärkt. Für Marlies wurde es wichtiger, die Freude nicht nur in der Freizeit, sondern auch im Beruf, jenseits ökonomischer Zwänge, zu erleben. Daher möchte sie diese beiden Bereiche nicht getrennt voneinander betrachten, sondern ihre Interessen kombinieren: Am Anfang habe ich immer gedacht: ‚Man muss was arbeiten‘, eben so BWLmäßig, ,damit du gut Geld verdienst, und dann hast du eh die Zeit, die Freizeit, die du nützen kannst.‘ Aber durch die Arbeit an mir selbst, mit den Büchern, mit den Seminaren bin ich draufgekommen: Das muss zusammenspielen, und dann kannst du auch deine Berufszeit wie Freizeit quasi gestalten. (Marlies, 819)

Bei Grete wird der Zusammenhang zwischen ihrer Lebensfreude und ihrer Einstellung zu Erkrankungen, damit auch zu ihrer eigenen Geschichte, deutlich. So empfindet sie heute ihre persönliche Entwicklung und die Arbeit an sich als Freude und Reichtum, nachdem sie ihre Betroffenheit früher als „Fehler“ (Grete, T2130), als „Behinderung“ (vgl. Grete, T2141) sah: „Ich schäme mich heute auch nicht, wenn ich hineingehe bei der Tür [der Psychotherapeutin]. Heute macht's mir Freude, was ich mir erarbeite. Mein Leben ist viel reicher geworden“ (Grete, T966‒T968).

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Mit ihrer Lebensfreude erlangten die Personen allmählich mehr Zufriedenheit und Wohlgefühl auf ihren Wegen aus der Essstörung. Marina beispielsweise setzte in der Zeit nach der Geburt ihres ersten Kindes das Studium fort und nahm nach ihrer Karenz wieder ihre Berufstätigkeit auf. Sie habe sich „sehr wohlgefühlt mit diesem vielen Rundherum“ (Marina, 340), wozu außerdem die Unterstützung ihres Mannes ein wesentlicher Beitrag gewesen sei (Marina, 352). Ein solches Wohlgefühl steht für Rebecca nun über ihrer Selbstdarstellung nach außen sowie den Bewertungen von anderen und damit in Zusammenhang mit dem Leben des eigenen Maßes. Diese Veränderung im Hinblick auf die Lebensbeziehung schildert sie folgendermaßen: Ich glaube, ich hab gemerkt, dass es nicht drauf ankommt, wie man auf andere Menschen wirkt, wie man aussieht oder ob man stark oder schwach wirkt, sondern dass man selber mit dem Leben zurechtkommt; dass man selbst das Leben genießt und Spaß hat und sich gut fühlt. (Rebecca, T1086‒T1091)

Wie in obigem Zitat wird bei Rebecca an anderer Stelle der Zusammenhang zwischen Selbst- und Lebensbeziehung deutlich. Sie beschreibt dabei dieses Wohlgefühl im Leben als Ausgeglichenheit, die sie durch die bewusstere Selbst-Wahrnehmung erreichen konnte. Für sie ist nun die Tiefe des Lebens, das eigene Erleben, bedeutender geworden (Rebecca, T1100‒T1116). Momenterleben Mit dem bisher beschriebenen Lebensgefühl in Form von Lebensfreude, Zufriedenheit und Wohlgefühl geht bei den Personen außerdem das Momenterleben als Veränderung gegenüber der Zeit ihrer Betroffenheit einher. Das Leben im Moment ist ein bewusstes Erleben des Hier und Jetzt und damit auch ein emotionales Empfinden. So erzählt Marlies, dass die Bulimie einerseits ein Versuch war, mit Druck, beispielsweise aufgrund von Prüfungen, umzugehen, andererseits der „innerliche Stress“ (Marlies, 516) durch den Zeitbedarf sowie die Gedanken an Essen und Erbrechen noch stärker wurde. Dies führte letztlich in einen „Teufelskreis“ (Marlies, 508). Heute hingegen kann sie Schwierigkeiten und Ärgernissen im Alltag mit mehr Gelassenheit begegnen: Ich bin viel relaxter, gechillter, mich bringt einfach nichts mehr aus der Ruhe. Das ist angenehm. Nicht, weil ich das nicht zulasse, sondern weil ich Dinge viel lockerer sehe. Wenn ein Auto vor mir langsam fährt, wäre ich früher komplett ausgezuckt mit Hupen oder irgendwas. Jetzt denke ich mir so: ‚Ja gut.‘ Oder ich denke mir gar nichts, es fällt mir nur auf, und ich fahre hinten nach. (Marlies, 632‒636)

Diese Gelassenheit zeigt sich auch im Hinblick auf Schwankungen im Empfinden, worin das Leben als Gleichgewichtsbewegung deutlich wird: „Das Annehmen: Es gibt gute Tage, es gibt weniger gute Tage, und die sind genauso in Ordnung“ (Marina, 768; vgl. Marlies, 623). In diesbezüglichen Aussagen, inhaltlich sowie in der Ausdrucksweise im Gespräch, ist das Loslassen von Kontrolle und einer rigiden Lebensvorstellung, beispielsweise bestimmte Leistungen erzielen zu müssen, erkennbar. Ebenso schildert Irina, nun mehr das Gefühl zu haben, im Moment angekommen zu sein:

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Ich hab früher sehr viel Stress aufgebaut, indem ich mir ganz viele Gedanken über die Zukunft gemacht hab: ‚Was wäre, wenn‘ und ,wenn das nicht funktioniert‘ und ,morgen muss ich‘ und ,wenn dann wieder‘. Immer nur um die Zukunft und die Vergangenheit. Wenn was nicht funktioniert hat: ‚Das hätte man doch anders machen sollen‘ und ,hätte man das doch‘. Irgendwie so. Jetzt aber einfach nur in der Gegenwart leben, der Moment und das Jetzt, das ist das Wesentliche. Von meinem Lebenskonzept her hat sich das komplett umgedreht. (Irina, 2273‒2279)

Bei Tamina zeigte sich das Loslassen sogar auf körperlicher Ebene und zwar während ihrer großen Wende auf dem Weg aus der Essstörung. Nach jahrelangen Koliken habe „es […] sich geöffnet“ (Tamina, 827‒829), und ihr Gallenstein löste sich. In den genannten Beispielen wird deutlich, dass Gelassenheit und Loslassen auf dem Vertrauen ins Leben basieren, das die Personen (wieder) vermehrt aufbauen konnten. Claudia schildert ihren Weg dahin, indem sie erzählt, früher noch mehr nach Erklärungen für Ereignisse gesucht zu haben. Heute kann sie sagen: „Man kann schon ein bisschen vertrauen ins Leben, auch wenn's schwerfällt. Weil im Endeffekt kümmert sich das Leben eh“ (Claudia, T2821‒T2823). Mit der Bedeutung des Momenterlebens ist das Bewusstsein um die Qualität und Fülle des Lebens verbunden. Für Karin ist nun „ein anderer Blick möglich geworden, was wirklich Prioritäten sind“ (Karin, T3086f.). Diesbezüglich nennt Claudia, jene wenige Zeit, die ihr neben alltäglichen Verpflichtungen bleibt, mit Aufgaben und vor allem Menschen verbringen zu wollen, mit denen sie sich wohlfühlt (Claudia, T2374‒T2378). Umgekehrt sieht sie die Aufmerksamkeit und Zeit von anderen Menschen nicht als Selbstverständlichkeit, sondern als Geschenk an (Claudia, T2840‒T2842). Ebenso schätzt Silvia ihre Gesundheit heute mehr als früher, und sie ist sich ihrer begrenzten Lebenszeit bewusster geworden. Letztgenannten Aspekt führt sie mehr auf ihr Alter als auf die Essstörungserfahrung zurück. Jedenfalls hat das freudvolle Erleben dieser Zeit für sie eine größere Bedeutung bekommen: „Ich meine, so viel Zeit ist dann nicht, weil jetzt bin ich nicht mehr jung und möchte die Zeit lieber so nützen, dass ich wirklich weiß: Da fühle ich mich wohl, mit dem bin ich gerne zusammen“ (Silvia, T716‒T719). Wertschätzung Besonders berührend äußern die Personen ihre Wertschätzung gegenüber dem Leben, das sie heute führen. Sie empfinden Dankbarkeit, vor allem für ihr Überleben angesichts der schwerwiegenden Erkrankung, die sie überwinden konnten. Alena fasst diese Dankbarkeit folgendermaßen zusammen: Ich habe jetzt ganz oft Momente, da fahre ich einfach mit meinem Auto in der Gegend herum, und ich bin so dankbar dafür, dass ich leben darf. Wirklich. Ich kann dir nur sagen, das ist so ein geiles Gefühl, das ist so eine tiefe Dankbarkeit, dass ich leben darf. Ich glaube, das ist eines der schönsten Geschenke überhaupt. Ich weiß nicht, ich kann's nicht beschreiben. Ich glaube, das ist, weil ich einfach nie aufgegeben habe. (Alena, 1337‒1343)

Dabei bleibt der Blick der Personen nicht nur auf die eigene Geschichte gerichtet, sondern auch auf das Verbindende zwischen den Menschen: „Es gibt halt leider nicht nur

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Freude, sondern es ist Freud und Leid, beides. Aber so geht's uns allen. Das bin nicht nur ich, sondern du empfindest Freud und Leid und der nächste“ (Claudia, T2825‒ T2827). Nach Anjas Beobachtung finden sich Menschen mit dem Bewusstsein um solche und weitere Gemeinsamkeiten sowie insbesondere mit gleichen Wertvorstellungen häufig in bestimmten Kontexten. Sie erfährt dies in einem Verein, in dem gegenseitige Wertschätzung, Respekt und Achtsamkeit gelebt werden (Anja, T1785‒T1796). Die Bedeutung, eigene angestrebte Werte zu verkörpern und dadurch weiterzutragen, bringt Jasmin im Hinblick auf ihre gewünschten eigenen Kinder zum Ausdruck. Diesen möchte sie ihre eigene Entfaltung ermöglichen, wie sie es selbst nicht erleben konnte: Sicher, ich bin 21 und hab eigentlich keinen Abschluss durch die ganze Sache, aber es geht mir heute gut. Es ist halt so. Sicher wäre es toll, wenn ich die Matura schon hätte oder geschafft hätte und jetzt verschiedene Sachen ausprobiere. Aber wenn ich selber mal Kinder haben sollte, die in solchen Situationen sind, dann werde ich nie sagen: „Du musst jetzt Matura machen, du musst jetzt eine Lehre machen!“, sondern: „Ich unterstütze dich überall!“ Sie müssen halt einfach erfahren können, dass das Leben schön sein kann. (Jasmin, T2537‒T2545, T2554f.)

7.3.5 Gleichgewicht in den Selbst-Umfeld-Lebensbeziehungen Nach der Beschreibung von Veränderungen, die auf dem Weg aus der Essstörung mit einem Gleichgewicht auf den einzelnen Ebenen der Beziehung zu sich selbst, zum Umfeld und zum Leben einhergehen, steht nun der ebenenübergreifende Zusammenhang dieser Veränderungen im Vordergrund. In den vorigen drei Kapiteln wurde bereits an manchen Stellen auf derartige Zusammenhänge hingewiesen. Zu diesen vorangegangenen Ausführungen wird nun Bezug genommen und Gleichgewicht als flexible Bewegung innerhalb des gesamten Beziehungskontextes, der alle drei Ebenen umfasst, verstanden. Dementsprechend kann Symptomfreiheit nur ein Merkmal von Gleichgewicht, jedoch nicht mit diesem gleichzusetzen sein. Im Rahmen dieses Kapitels erfolgt zunächst die Erläuterung des Unterschieds zwischen Symptomfreiheit und Gleichgewicht anhand der Aussagen der Gesprächspersonen. Anschließend sollen Beispiele die Auffassung des oben genannten Beziehungsgleichgewichts verdeutlichen. Hierfür wurden die Aspekte Bewusstsein und Entfaltung ausgewählt, da sich diese als relevante Entwicklungen in den Lebensgeschichten zeigen. Auf der Basis der konkreten Darstellung steht am Ende des Kapitels ein kurzer Einblick in die Resonanztheorie von Rosa (2016), um die Verbindung des Verständnisses von Gleichgewicht in dieser Arbeit zu dieser Theorie aufzuzeigen. Symptomfreiheit vs. Gleichgewicht Veränderungen auf körperlicher Ebene, vor allem des Gewichts, sowie des Essverhaltens sind besonders als Grundlage des persönlichen Gleichgewichts von Bedeutung. Es bedarf eines gewissen Ausmaßes an körperlicher Kraft, um den Alltag bewältigen und Beziehungen ‒ die Beziehung zu sich selbst, die Beziehungen zu anderen und die Be-

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ziehung zum Leben ‒ gestalten zu können. Eine ausreichend gute körperliche Verfassung trägt zur Teilhabe am Leben bei bzw. ist sogar Bedingung dafür. Diese Sichtweise unterscheidet sich von der Vorstellung, das Erreichen eines bestimmten Gewichts und Essverhaltens seien Ziele der Überwindung. Letzteres drückt der Begriff Zielgewicht, der in Therapiekonzepten Verwendung findet, aus. Allerdings widersprechen sich diese Auffassungen nicht, wenn diese Ziele als einzelne Schritte auf dem Weg aus der Essstörung gesehen werden, durch die weitere Schritte leichterfallen oder auch erst möglich werden. In den Gesprächen wird von den Personen zwischen Symptomfreiheit, wie Normalgewicht und geregeltem Essen, einerseits und einem tiefergehenden Erkenntnisprozess auf dem Weg zum eigenen Gleichgewicht andererseits unterschieden: „Damals habe ich gemeint, ich bin geheilt. Heute weiß ich, dass ich einfach von meinen Symptomen her gesundet war. Dieser Entwicklungs-, Erkenntnisprozess von Zusammenhängen und Mustern, eingebrannten Mustern, Prägungen ‒ mein Gott, das hat einfach viele Jahre gedauert“ (Bianca, 35). Bianca stellt hier die Gesundung in Form der Symptomfreiheit einer tiefergehenden Veränderung, die sie als Heilung bezeichnet, gegenüber. Die Verringerung bzw. Beseitigung von Symptomen ist so nur als ein Teil der Überwindung zu verstehen, kann aber inneren Veränderungen vorausgehen und somit ein Ausdruck derselben sein. So machte sich bei Grete der weniger strenge Umgang mit sich selbst in der geringeren Essenskontrolle bemerkbar, indem sie sich das Essen im Übermaß erlaubte, ohne sich dafür zu verurteilen (Grete, T110‒T131). Umgekehrt war das Ausbleiben der Essanfälle und des Erbrechens kein Hinweis auf ihr Wohlbefinden: „Ich habe mir immer gedacht, das [die Partnerbeziehung] passt jetzt so, nur weil ich keine Brechattacke hab. […] Ich weiß nicht, wie ich sagen soll: Es hat zwar nach außen hin alles schön, fein ausgeschaut, aber wirklich glücklich war ich dann auch nicht“ (Grete, T237‒T239, T246‒T248). Grete stellt den Vergleich mit Akne an, bei der es leichter sei, von außen auf deren Vorhandensein bzw. Abwesenheit zu schließen: „Wenn ich sage, ich habe Akne, dann sieht man es, wenn ich keine Wimmerln mehr habe“ (Grete, T2515f.). Die Selbst-Beziehung hingegen bilde sich nicht so direkt an der Oberfläche ab, wie Grete an anderer Stelle meint: „Ich hab mir immer gedacht, wenn ich nicht erbreche, bin ich gesund. Ich täte jetzt sagen: symptomfrei, als ich nicht erbrochen habe. Aber trotzdem hab ich mit meiner ganzen Persönlichkeit noch immer gehadert“ (Grete, T2150‒T2153). Auch Rebecca beschreibt den unterschiedlichen Zeitbedarf für einen äußerlich sichtbaren Gewichtsaufbau im Vergleich zur tiefergehenden inneren Veränderung. Körperlich habe sie sich schon früher stabilisiert, aber die Gedanken an Essen und Gewicht waren noch wesentlich länger, wenngleich in abnehmendem Ausmaß, präsent (Rebecca, T462‒T482). Diese Unterscheidung von Seiten der Personen ist insofern von Bedeutung, da sowohl in ihren Äußerungen über ihre Therapieerfahrungen als auch in den S3-Leitlinien der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V.) eine Fokussierung auf das Essverhalten und das Körpergewicht deutlich wird (Jacobi et al., 2010; Zeeck et al., 2010). Dadurch begegnen die Therapeuten und Therapeutinnen den Betroffenen jedoch nur auf jener körperlichen und oberflächlichen, auf einer körperoberflächlichen, Ebene, die ihnen die Betroffenen zeigen. Außerdem wird auf die Kontrolle, die der Essstörung ohnehin inhärent ist, wiederum mit Kontrolle

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in Form von strikten Essensplänen und Vorgaben von Gewichtszunahmen reagiert (Bohlen, 2005, S. 239; Padrão et al., 2013). Tamina meint dazu: „Im Grunde war das nur Symptomverlagerung. Nur die Kilos, die hab ich angefuttert in diesen sechs Wochen, okay. Ich meine, das war eine rein materielle Angelegenheit, aber psychosomatisch war da wenig los“ (Tamina, 1200‒1202). Unter Symptomverlagerung versteht Tamina, dass ihre Therapie zwar zu einer Veränderung ihres Gewichts und Essverhaltens führte, dabei aber zu wenig umfassende Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte stattfand. Das Unsichtbarwerden der Essstörung, indem die messbaren Symptome abnehmen, ist somit nicht ausreichend, um diese als überwunden zu bezeichnen, denn: „Heilung ist ja so viel mehr als Symptomfreiheit“ (Bianca, 769), nämlich ein jahrelanger Erkenntnisprozess. Dieser ist auch nicht allein durch Wissen oder scheinbare Gesundheit zu ersetzen: „Ich hab einfach so getan, als ob ich völlig gesund wäre“ (Tamina, 1867). Stattdessen soll die Person in ihrer Gesamtheit und mit ihren Beziehungen sichtbarer werden ‒ eine Entwicklung, die ausreichend Zeit erfordert (u. a. Alena, 1385). Daher ist auch bei noch vorhandenen Schwierigkeiten mit dem Essen nicht nur die Veränderung des Essverhaltens und des Körpergewichts, sondern vor allem die Gesamtbefindlichkeit ein wichtiges Kriterium für Überwindung. So bezieht Irina das Gefühl, „komplett frei und zufrieden“ (Irina, 2163) zu sein, auf ihre heutige Ernährung sowie auf ihre Lebenssituation. Das nun achtsame Essen sieht sie als einen „anderen Zugang“ (Irina, 1597) im Vergleich zu früher, der, da sie damit sich selbst wertschätzend(er) begegnet, als Zeichen einer tiefgreifenden Veränderung der Selbst-Beziehung einerseits und ihrer umfassenden Lebensweise andererseits zu sehen ist. Diese Zusammenhänge werden auch in Alenas Antwort auf die Frage nach ihrer heutigen Beziehung zum Essen deutlich, da sie von einem für sie unerwartet guten „Gesamtzustand“ (Alena, 1427) spricht. Bewusstsein und Bewusst-Sein Das Verständnis von Gleichgewicht im umfassenden Kontext der drei Beziehungsebenen wird nun anhand des Bewusstseins erläutert, mit folgenden Begriffen für die einzelnen Ebenen: Selbst-Bewusstsein (Selbst-Beziehung), Selbstbewusst-Sein (Umfeldbeziehungen), Lebens-Bewusstsein und Lebensbewusst-Sein (Lebensbeziehung). Sich des eigenen Selbst bewusst zu sein, ist ein Merkmal der vertieften Selbst-Beziehung und umfasst das Wahrnehmen, Annehmen und Leben des eigenen Maßes. Nach diesem eigenen Maß zu leben, bedeutet jedoch nicht, äußere Einflüsse zu negieren, sondern diese differenziert, dem eigenen Wohlbefinden entsprechend, annehmen oder ablehnen zu können. Die Person erlebt sich nicht als Spielball des Lebens, nicht mehr als „Opfer“ (Alena, 1291, 1327), sondern sieht ihre eigenen Beeinflussungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Somit übernimmt eine Person, die sich ihres Selbst bewusst ist, Verantwortung für sich selbst, aber auch anderen gegenüber. Tamina drückt dies im Hinblick auf die Essstörung treffend so aus, dass sie nicht mehr „Nahrung für andere Menschen“ (Tamina, 2269) sein, sondern sich selbst wichtig nehmen möchte: „Wie soll ich sagen: Jetzt ist Ende. Jetzt ist Schluss. Jetzt komme ich dran“ (Tamina, 419).

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Ein wichtiger Aspekt des Selbst-Bewusstseins ist die Vergrößerung des Selbst-Vertrauens auf dem Weg aus der Essstörung, zu dem das Selbstzutrauen von Überwindung gehört. Es ist als wichtige Grundlage für die Überwindung der Essstörung anzusehen, entwickelt sich jedoch gleichzeitig erst allmählich und kann durch (therapeutische) Begleitung erleichtert werden. So hatte Alena früher das Gefühl, es gebe „kein Morgen mehr“ (Alena, 1383). Heute hingegen traut sie sich zu, sich „selber durchtragen“ (Alena, 1383), „in der Situation halten“ (Alena, 1385) zu können, ohne eine Partnerschaft als Stütze zu benötigen. Sie hat somit auch Selbst-Stabilität erlangt. Irina wiederum war sich ihres Vermögens, die Essstörung allein überwinden zu können, bereits in der Zeit ihrer Betroffenheit sicher (Irina, 1599). Dieses Selbstzutrauen ist ein Hinweis dafür, dass Betroffene nicht zur Gänze von der Essstörung vereinnahmt werden. Stattdessen bleiben die Lebenskraft und, mit Irinas Worten, das innere Wissen, den Weg aus der Essstörung zu schaffen, aufrecht. Selbst-Bewusstsein stellt eine Grundlage für das Selbstbewusst-Sein in Beziehungen dar: das Vermögen der Person, sich zu öffnen, sich mit dem Umfeld zu verbinden und gleichzeitig die Grenzen des eigenen Selbst in dieser Verbindung aufrechtzuerhalten, auf Ansprüche und Erwartungen anderer differenziert zu reagieren. In der Betroffenheit hingegen ist Zurückhaltung bis zur Scham, sich anderen Menschen anzuvertrauen, zu beobachten. Dies wird auch im Anspruch, den Weg aus der Essstörung alleine schaffen zu wollen oder zu müssen, deutlich (u. a. Irina, 1599). Im Zusammensein mit anderen Menschen nun mehr den eigenen Bedürfnissen zu folgen, zeigt sich bei Frauke beispielsweise daran, dass sie sich nicht mehr zum sofortigen Rückruf oder einer Mailantwort verpflichtet fühlt (Frauke, 1679‒1681). Es besteht sehr wohl Interesse an einem Miteinander, jedoch ohne sich zu sehr die Verantwortung für andere und für Ereignisse im Leben aufzuerlegen (Anika, 767). Marlies schildert, dass sie Beurteilungen von anderen differenzierter sehen kann und sich von diesen nicht mehr als Person (negativ) bewertet fühlt. Es ist somit eine SelbstBetrachtung unter Einbezug der Fremdbetrachtung möglich, wobei sie nun selbst entscheidet, ob sie diese symbolische Nahrung, die das Gegenüber anbietet, annimmt oder nicht: Dass ich einfach nicht so viel Negatives zu mir ranlasse, auch nicht irgendwas persönlich nehme ‒ das ist auch ganz wichtig, dass man einfach nicht alles persönlich nimmt, wenn jetzt eine Person was zu einem sagt, weil oft ist es nur eine Reflexion der Person selbst. Wenn's mich aber doch anzipft, dann weiß ich: ,Okay, da ist bei mir vielleicht auch irgendwas, was sein könnte.‘ (Marlies, 825)

Nicht nur mit Kritik von anderen umgehen, sondern umgekehrt auch solche aussprechen zu können, kennzeichnet das Selbstbewusst-Sein in Beziehungen. Dies kann insbesondere in der Eltern-Kind-Beziehung schwierig sein, ist für Anika nun jedoch möglich: Zu erfahren, dass ich auch meine Eltern kritisieren darf. Das da [in der Therapie] auch sehr zugelassen wurde und Gehör gefunden hat. Weil ich immer das Gefühl hatte, meine Eltern geben uns [Anika und ihren Geschwistern] so viel, finanziell und überhaupt, und ich hab eigentlich gar kein Recht drauf, irgendwas zu kritisieren. Da hat sich viel verändert. (Anika, 771‒775)

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Der enge Zusammenhang zwischen Selbst-Bewusstsein und Selbstbewusst-Sein zeigt sich an zahlreichen Stellen in den Gesprächen. Im folgenden Beispiel drückt Grete ihr Selbst-Bewusstsein im Hinblick auf das eigene Maß an sportlicher Betätigung aus: „Weil diese Absolution ,Ab heute bin ich sportlich‘, wissen Sie, das geht bei mir nicht“ (Grete, T2410f.). Sich über das eigene Maß mit anderen auszutauschen, Mut zur Lücke zu haben und Hilfe anzunehmen (Grete, T556f., T570f.), spricht für ihre Entwicklung zum Selbstbewusst-Sein: „Heute fällt mir kein Stein aus der Krone. Früher hätte ich das nicht können, weil da wäre meine Krone runtergefallen“ (Grete, T2394‒T2396). Anja gibt ein weiteres Beispiel, indem sie über die Akzeptanz ihres Körpers spricht, mit der sie sich überzeugt gegenüber ihrem damaligen Partner zeigte: Irgendwie haben wir dann Dinge gemeinsam unternommen. Er wohnt in [Ort], und dann hat wieder langsam ein Karussell begonnen. Ich war dann so weit, dass ich gesagt habe: „Ich steh zu meiner Weiblichkeit. Ich habe Hüften, ich habe einen Hintern, ich habe einen Busen, und ich habe auch Bauch. Ich habe drei Kinder geboren, und ich will mich da jetzt nicht mehr abtrainieren und schauen, dass das weggeht, weil ich müsste das wirklich operieren lassen. Will ich nicht, das gehört zu mir!“ (Anja, T471‒T479)

Sowohl für sich als auch für andere Menschen deklariert Anja die Wichtigkeit, im eigenen Sein angenommen zu werden: „Ich bin, wie ich bin. […] Keiner hat das Recht, irgendjemandem zu sagen: ,Mein Gott, wenn du dünner wärst, dann würdest du da reinpassen!‘ Keiner!“ (Anja, T1753, T1758‒T1760; Hervorhebung A. K.). Nicht nur in Partnerschaften, sondern auch in einem Verein, in dem sich Anja freiwillig einbringt, gelingt es ihr, Forderungen von anderen nicht unreflektiert und pflichterfüllend nachzukommen. Ein solches Handeln wäre, wie sie es formuliert, „als inneres Kind zu reagieren“ (vgl. Anja, T1480): Ich sage jetzt bewusst, wenn irgendwas ist: „Ma, Anja, mach das, das, das!“, dann sag ich: „Liebe Leute, der Verein ist meine Freiwilligkeit.“ Sag ich: „Das, das, das ‒ einteilen kann mich mein zukünftiger Chef. Das ist mein Arbeitsbereich, und dafür bekomme ich bezahlt. Das ist freiwillig. In dem Moment, wo du mich einteilst, gehe ich in den Widerstand.“ Würde ich dann als inneres Kind reagieren, würde ich den Kontakt sofort abbrechen. Dadurch, dass ich aber erwachsen bin, schau ich mir das an. Dann sag ich: „Du, mir fällt auf, in letzter Zeit wird bei den Leuten immer alles vorausgesetzt. Ich möchte gefragt werden, ob ich Zeit habe, ob ich will, weil sonst geht gar nichts mehr!“ (Anja, T1467‒T1487)

Das Vermögen, bewusst zum eigenen Selbst zu stehen, kann in den Umfeldbeziehungen variieren. So äußerte Jasmin gegenüber einem früheren Freund deutlich ihren Wunsch nach etwas „Festem“ (vgl. Jasmin, T1576), an das sie sich „anlehnen kann“ (Jasmin, T1577). Stabilität war für sie angesichts ihrer unsicheren Erfahrungen mit ihren Eltern besonders wichtig. Nachdem der Freund noch nicht dazu bereit war, sich von seiner damaligen Partnerin zu trennen, zog sie daraus entsprechende Konsequenzen und distanzierte sich von ihm. Schwieriger hingegen ist es für Jasmin zum Teil noch heute, gegenüber ihren Eltern und ihrer Schwester ihre Bedürfnisse klar zu vertreten. Dies ist vor dem Hintergrund der erlebten Enttäuschungen in der gemeinsamen Vergangenheit zu interpretieren. In ihrer Schilderung der letzten Konversation mit ihrer

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Schwester vor ihrem Kontaktabbruch wird zwar einerseits die Klarheit, mit der sie damals ihre Position vertrat, deutlich. Andererseits bringt sie jedoch auch ihre noch spürbare Verletztheit durch ihre Emotionalität im Sprechen zum Ausdruck (Jasmin, T1891‒ T1903). Aus den bisherigen Ausführungen geht hervor, dass sich die Personen durch das Bewusstsein um den eigenen Wert von äußeren Erwartungen entfernen. So äußert sich Anika kritisch über den von ihr so wahrgenommenen Zusammenhang zwischen SelbstWert und Leistung in der Gesellschaft, den sie zunehmend ablehnt (Anika, 1009). Damit kann gleichzeitig die Kontrolle über sich, andere Menschen und das Leben gelockert werden. Entgegen dem früher häufiger auftretenden Gedankenkreisen und den Sorgen um die Zukunft werden die Personen freier für den Moment. Sie sprechen dabei von einer Werteverschiebung, die sich im Rahmen ihrer Überwindung ereignet hat, und zwar weg von der Fokussierung auf Leistung und Materielles hin zu den von Frankl so bezeichneten Erlebniswerten und zum Sinnerleben (Frankl, 1987). Entsprechend der Unterscheidung der Existenzweisen nach Fromm (2009) ist diese Veränderung mit einer Verschiebung von der Existenzweise des Habens zu jener des Seins vergleichbar. Eine Erschütterung des Gleichgewichts in Bezug auf das Selbst-Wertgefühl kann eine Trennung sein. Aufgrund einer solchen Erfahrung und ihres Wunsches nach einer Partnerschaft erlebt sich Tamina zwar als „Übriggebliebene, Alleingebliebene, also Gescheiterte“ (Tamina, 1949) und hat daher Angst vor ihrer Zukunft. Gleichzeitig jedoch verliert sie sich nicht in dieser Angst, sondern wendet sich ihrem Selbst zu, wodurch sie Selbst-Vertrauen gewinnen kann. Dieses wirkt sich wiederum auf das Weltvertrauen bzw. Vertrauen in einen Sinn des Lebens aus. Dazu äußert sich Marlies folgendermaßen: „Ich weiß, dass ich alles im Leben schaffen kann, was ich will, weil ich durch eine schwere Zeit durchgegangen bin, das abgelegt habe. Deswegen: Mir kann nichts passieren auf dieser Welt“ (Marlies, 761‒763). Der Zusammenhang zwischen Selbst-Bewusstsein und Bewusstsein um den Wert des Lebens, dem Lebens-Bewusstsein, ist nicht nur in der oben genannten Werteverschiebung, sondern auch im Erkennen von Sinn in der Essstörung bzw. dem Integrieren dieser Erfahrung in die eigene Lebensgeschichte zu sehen: Das [die Selbst-Beziehung] ist schon ins Positive gegangen. Aber es ist schon schwer zu sagen, weil es waren mindestens zehn Jahre Hardcore, sodass ich mich schon frage: Hat das sein müssen? Also ich tu mir schwer, dass ich sage: „Ich bin jetzt dankbar, dass ich es gehabt habe“, oder so. Es ist halt einfach gewesen. (Alena, 1453‒1459)

Während bei Alena ein zurückhaltendes Annehmen der Essstörungserfahrung erkennbar ist, erlebt sich Frauke dadurch ins Leben geworfen und sieht diese als Beitrag zu ihrer heutigen Zufriedenheit mit ihrer Lebensweise: „Ich sehe meine Krankheit im Nachhinein als eigentlich sehr positiv; also nachdem es mir jetzt gut geht. Weil ich mir denke, ich wüsste ja nicht, ob ich sonst auch so viel aus meinem Leben machen täte“ (Frauke, 1653). Tamina hingegen äußert sich in ihrer Erzählung über ihr bisheriges Lebensversäumnis und ihre begrenzte Lebenszeit. Auch wenn sie als einen Grund für diese Bewusstwerdung das Alter angibt, dürfte vielmehr die bisherige Anpassung an die Erwartungen anderer ausschlaggebend für ihr Empfinden sein, bisher noch zu wenig ihr Leben gelebt

7.3 Wege aus der Essstörung gehen ‒ Das eigene Gleichgewicht finden

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zu haben (Tamina, 1759‒1761). Jedenfalls drückt Tamina dabei ihr Lebens-Bewusstsein aus, da sie sich der Bedeutung des Lebens und seiner Begrenzung bewusst geworden ist. Jedoch möchte sie lebensbewusster sein, also ihr Leben vor dem Hintergrund ihres Wissens um diesen Lebenswert gestalten: „Das muss ich jetzt leben“ (Tamina, 1759). Hier spricht sie somit ihren Wunsch nach Lebensbewusst-Sein an. Im nachfolgenden Zitat kommen mehrere Aspekte des Lebens-Bewusstseins zur Sprache, vor allem die Werteverschiebung, Wertschätzung, Dankbarkeit und Zufriedenheit: Früher war's schon so: Es muss immer etwas Besonderes sein und, keine Ahnung, höher, schneller, weiter. Jetzt ist es so, dass ich mir einfach denke: Zufriedenheit. Es geht mir gar nicht um Glück, das ist eher vergänglich. Aber so ein bisschen eine innere, also einfach eine Zufriedenheit, auch eine Dankbarkeit, eine Demut zum Leben und vor dem Leben. Vor allem auch zum eigenen Körper, also dass ich gesund bin und wie wertvoll Gesundheit ist, wo ich mir früher immer gedacht habe: ,Was? Ein gesundes Leben? Was soll denn das für ein blöder Spruch sein!‘ Die Ziele einfach ganz weit heruntergeschraubt. (Bianca, 645)

Die Veränderung von Lebenswerten durch die Erfahrung mit der Essstörung und deren Überwindung wird bei den Personen besonders deutlich und zeigt sich auch in der heutigen Bedeutung von Beziehungen zu anderen. Auf die Frage, was Tamina diesbezüglich heute wichtig ist, antwortet sie: „Es ist schon auch Wertschätzung irgendwie. Ich würde das so gerne leben. Ich hab diese Wertschätzung in Afrika kennengelernt, dass wir alle gleich sind. Ich konnte sie in diesen Monaten damals so sehr wertschätzen, alle diese lieben schwarzen Kinder!“ (Tamina, 1835). Darin wird Taminas Sehnsucht nach einem gemeinsamen Sein auf Augenhöhe, unabhängig von der Herkunft, deutlich, da sie dieses in der Gemeinschaft in Afrika als so heilsam erlebte. Ein Miteinander heiße für sie, den anderen Menschen zu spüren (Tamina, 771‒773). Hingegen sei in Europa der „krankmachende Individualismus“ (Tamina, 767), das „Nebeneinander“ (Tamina, 769) verbreitet. In der damaligen Zeit dürfte Tamina viel Nähe und Zuwendung gebraucht haben (Tamina, 773). Dies kann mit ihrer stützenden Aufgabe im Hinblick auf ihre Mutter zusammenhängen, jedoch auch mit ihrer allgemeinen Tendenz, sich für andere verantwortlich zu fühlen. Dafür spricht ihr therapeutischer Beruf, durch den sie schon damals nach Afrika kam und in dem sie heute noch tätig ist. Im Gespräch wirkt Tamina jedenfalls überzeugt, nun mehr ihrem Wunsch nach verstärkter Selbst-Fürsorge folgen zu wollen. Durch diese wertschätzende Haltung sich selbst gegenüber kann wiederum anderen Menschen mit Wertschätzung begegnet werden: „Ich meine, wie kann ich anderen gegenüber wertschätzend sein, wenn ich mich selber gering wertschätze“ (Tamina, 1837). Das Bewusstsein um den Wert aller Menschen, den eigenen und jenen der anderen, ist somit ein essenzieller Teil eines bewussten Lebens. Entfaltung Wie in Bezug auf das Bewusstsein lässt sich auch im Hinblick auf die Entfaltung einer Person der Zusammenhang zwischen Selbst-Beziehung, Umfeldbeziehungen und Lebensbeziehung formulieren. Dabei ist der zuvor beschriebene Bewusstseinsaspekt als

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eine Bedingung für die Entfaltung zu sehen. So setzt beispielsweise das Entfalten eigener Wünsche voraus, diese wahrzunehmen und sich selbst wichtig genug für deren Umsetzung zu sein. Selbst-Entfaltung findet sich in den Theorien zum posttraumatischen bzw. persönlichen Wachstum (s. Kapitel 3.3) in Form der vertieften Selbst-Beziehung wieder, die einen Teilaspekt des persönlichen Wachstums und gleichzeitig eine Grundlage der Selbst-Entfaltung bildet. Beziehungen zu anderen Menschen, die die zweite Dimension des persönlichen Wachstums darstellen und als bedeutsam für die Überwindung erlebt wurden, können wiederum die Vertiefung der Selbst-Beziehung und dadurch die Selbst-Entfaltung fördern. Eigenen Wünschen und Zielen anstatt überwiegend äußeren Erwartungen und Leistungsanforderungen zu folgen, bringt mehr Freude am Tun, Lebensfreude im Allgemeinen und Wohlgefühl. Diese Vertiefung der Beziehung zum Leben als dritte Dimension des persönlichen Wachstums ist oft erst infolge eines Leidensdrucks, also durch eine schmerzhafte Präsenz des Lebens bzw. dessen Bedrohung, zu beobachten. Aufgrund dieser Zusammenhänge kann die Selbst-Entfaltung um die Begriffe der Weltentfaltung und Lebensentfaltung ergänzt werden. Als Weltenfaltung ist die (Wiederaufnahme der) Verbindung zum Umfeld im Laufe der Überwindung zu verstehen, unter anderem durch die Vertiefung der Beziehung zu anderen. Auch künstlerischer Ausdruck, Bewegen in der Natur und Reisen sind hier als Beispiele zu nennen. Lebensentfaltung basiert auf der Vertiefung der Beziehung zum Leben, wodurch sich das Erleben intensiviert und mehr Lebensmöglichkeiten offenstehen sowie verwirklicht werden können. Das Bewusstwerden mit dem Fokussieren eigener Wünsche geht deren Umsetzung voraus und ist somit als Vorstufe der Selbst-Entfaltung zu betrachten. Marlies meint, dass ihr die Konzentration ihrer Aufmerksamkeit auf ihre Wünsche anstatt auf das, was sie nicht möchte, sehr geholfen habe (Marlies, 743). Es wird außerdem deutlich, dass sie den Kampf gegen die Bulimie beendete und begann, sich dem (erwünschten) Leben zuzuwenden: Ich habe mir immer gedacht: ‚Ich muss jetzt damit aufhören!‘, und hab den Fokus auf das gerichtet, was ich nicht haben will. Dann ziehst du aber immer genau das an, was du nicht haben willst. Wenn du das umformulierst und sagst: „Hey, ich will das und das haben!“, dann geht's in diese Richtung, und dann arbeitet das Unterbewusstsein, glaube ich, einfach in diese Richtung. Das ist auch ganz was Großes, was ich aus der Bulimie habe lernen können. (Marlies, 751‒757)

Bei Tamina, Anika und Lia wird außerdem der Wunsch deutlich, ihr Frausein zu leben. Anika und Lia sprechen über ihr Wohlgefühl durch Absetzen des oralen Kontrazeptivums, unter anderem aufgrund der dadurch pharmazeutisch unbeeinflussten körperlichen Abläufe (Anika, 291‒315; Lia, 643‒649). Sie habe sich danach, so Lia, „irgendwie so echt gefühlt“ (Lia, 647): „So, als wäre das jetzt wirklich ich und dass der Zyklus nicht nur von der Pille gesteuert ist, sondern der Körper das selber machen kann“ (Lia, 647‒ 649). Hierin zeigt sich einerseits der Wunsch, die eigene Körperlichkeit und sich selbst im umfassenden Sinn zu leben. Andererseits bedarf es des Vertrauens in den eigenen Körper, um sich von Fremdeinflüssen, hier in pharmazeutischer Form, distanzieren zu können.

7.3 Wege aus der Essstörung gehen ‒ Das eigene Gleichgewicht finden

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Ein ähnliches Erlebnis erzählt Anika, wobei ihr Unbehagen im Rahmen der Einnahme des Kontrazeptivums mit einem teilweisen Verlust der Kontrolle über ihren Körper zusammenhängen dürfte: Irgendwie hat mich die Pille an sich so genervt. Vielleicht weil ich dachte, ich bin dadurch hormonell irgendwie verändert oder nicht ganz ich selbst. Ich weiß es gar nicht, was mich konkret genervt hat an der Pille. […] Ich weiß nicht, ob ich sie nochmal nehmen würde, aber irgendwie kommt es mir so unecht vor. Also irgendwie wird mir dann auch was suggeriert, finde ich, was gar nicht so ist, und ich weiß nicht, ob das unbedingt gut ist. (Anika, 297, 313)

Nicht nur in der vorigen Aussage, sondern in Anikas gesamter Lebensgeschichte ist Kontrolle von großer Bedeutung. Dennoch kommen hier besonders ihr Wunsch, ihr Selbst zu leben, und ihr Empfinden der Einschränkung dieses Wunsches durch den äußeren, künstlichen Einfluss zum Ausdruck. Sie spricht von „Neugierde“ (Anika, 313), ob sie „wieder von Natur aus einen Zyklus“ (Anika, 313) haben werde ‒ zum Zeitpunkt des Gesprächs war dies noch nicht der Fall ‒ sowie über ihren, wenn auch nicht dringenden, Kinderwunsch (Anika, 291‒293). Für Tamina ist Mutterschaft hingegen angesichts ihrer Kinderlosigkeit und des im Vergleich zu Anika höheren Alters von 44 Jahren ein größeres Thema. Körperrundungen assoziiere sie mit „Weiblichkeit“ und „Mütterlichkeit“ (Tamina, 1096), so wie sie im Allgemeinen die „runde Form“ (Tamina, 1098) als Gegensatz zum Mathematischen und Analytischen, womit sie ihre Persönlichkeit beschreibt, sieht. Ihr Streben nach mehr Gewicht und Körperrundungen steht damit für ihren Wunsch nach Entfaltung ihres Frauseins sowie nach Mutterschaft auf der einen Seite. Auf der anderen Seite drückt sich darin der Wunsch nach einer persönlichen Veränderung ‒ mit ihren Worten: vom Analytischen zum Runden ‒ aus. In Bezug auf die Persönlichkeit dürfte Tamina auf eine Schwerpunktverlagerung von einer regelgeleiteten zur kreativen Lebensform, im Sinne einer Verringerung der Kontrolle in ihrem Leben, anspielen. Ihre Vorstellung von Weiblichkeit könnte durch ihre Erfahrung in Afrika beeinflusst sein, da diese mehr dem dortigen Körperideal entspricht (Hoek, 2016). Eine weitere Form von Entfaltung ist das Reisen; entweder als Urlaub, Auszeit oder im Rahmen einer geografischen Veränderung aufgrund von Studium, Beruf oder Therapieaufenthalten. Bei Alena und Frauke zeigen sich die Selbst-Entfaltung, da das Bereisen der Welt ihr Wunsch war, sowie das Selbst-Vertrauen, indem sie dieses alleine umsetzten. Besonders bei Alena steht dieser Schritt ihrer früheren Tendenz zur Abhängigkeit in Beziehungen entgegen. Eine Ortsveränderung aufgrund von Studium und Beruf bedarf ebenso des Vertrauens in sich, wie in die Welt. Somit zeigen diese Beispiele die Verbindung von Selbst-Entfaltung mit Weltentfaltung: sich eigene Wünsche zu erfüllen, sich selbst zu vertrauen einerseits; sich der Welt zu öffnen, sich in die Welt auszudehnen andererseits. In einem weiteren Verständnis ist auch der künstlerische Ausdruck als Weltentfaltung zu sehen: Alena konnte sich selbst in der Kunst finden, entfalten und sich dadurch wiederum der Welt mitteilen (Alena, 1023). Selbst- und Weltentfaltung gehen mit der Vergrößerung des Lebensraumes und einer Lebendigkeitserfahrung einher. Es wird von mehr Lebensintensität durch die Umsetzung von Möglichkeiten, für die sie zuvor nicht die Kraft und das Interesse hatten, sowie von mehr Lebensfreude gesprochen. Die Lebensentfaltung, die darin deutlich wird,

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bringt Marina besonders treffend mit dem Begriff bzw. dem Bild des Aufblühens zum Ausdruck (vgl. Marina, 276). Resonanz Zum Abschluss dieses Kapitels wird der Resonanz-Begriff von Rosa (2016) erläutert, da dieser eine erweiterte Perspektive auf den Zusammenhang zwischen Selbst-Beziehung, Umfeldbeziehungen und Lebensbeziehung ermöglicht. Im Rahmen seiner Ausführungen zur Soziologie der Weltbeziehung schreibt Rosa über die Resonanz zwischen zwei Objekten, dass „sie [die beiden Entitäten der Beziehung] als aufeinander antwortend, zugleich aber auch mit eigener Stimme sprechend, also als ›zurück-tönend‹ begriffen werden können“ (Rosa, 2016, S. 285). Zentral ist hierbei, dass die Antwort nicht erzwungen und konkret vorhersagbar ist sowie eine Eigenbewegung, kein bloßer Widerhall, stattfindet, denn „im Echo widerhallt nur das je Eigene, nicht das Antwortende“ (Rosa, 2016, S. 286). Im Hinblick auf die Person und ihr Umfeld kann eine solche Resonanzbewegung als flexibles Annähern und Zurücknehmen, ähnlich einer Pendelbewegung, in Abstimmung auf eigene Bedürfnisse und jene des Gegenübers gedacht werden. Sie umfasst somit das eigene Sprechen, ebenso das Antworten. Nicht nur in der Beziehung zu anderen lässt sich das Resonanzphänomen beschreiben, sondern auch in der Selbst-Beziehung. Hier besteht Resonanz darin, eine Handlung zu setzen, deren Wirkung zu erspüren und dementsprechend diese Handlung wiederum anzupassen. Dieses Abstimmen wird besonders im Sprechen über den eigenen Körper deutlich, beispielsweise wenn eine Person davon erzählt, auf ihren Körper, wie auf eine Stimme, zu hören ‒ in Anbetracht dessen erhält der Begriff Abstimmen die hier zutreffende Bedeutung, dass die in Resonanz stehenden Objekte ihre eigene Stimme haben und behalten. Nicht nur in der Physik oder Soziologie, sondern auch in der Psychotherapie wird von Resonanz gesprochen. Darunter ist die Empfindung des Therapeuten bzw. der Therapeutin in Form einer über die verbale Ebene hinausreichende Antwort auf die Wahrnehmung des Patienten bzw. der Patientin zu verstehen. Es ist eine Art Schwingen, das in Abhängigkeit des Ausmaßes an gegenseitig induzierender Wirkung ein mehr oder weniger starkes Mitschwingen ist. In der Therapie gilt es, diese Resonanz explizit und damit zum Bestandteil des Prozesses zu machen (Rosa, 2016, S. 286). Beziehungen sind in den Lebensgeschichten einerseits als Beitrag zur Überwindung relevant, andererseits zeigen sich insbesondere Veränderungen von Beziehungen auf den Wegen aus der Essstörung. Während in der Erkrankungszeit eine Tendenz zum Rückzug besteht, kommen die Betroffenen im Rahmen der Überwindung allmählich mehr in Resonanz mit sich selbst, den anderen und der Welt. Zur Gegenseitigkeit in Beziehungen meint Marina: „Ich denke, jeder kann ein Geschenk sein für den anderen, ohne dass er es weiß“ (Marina, 803). Diese Gegenseitigkeit ist insofern als Resonanz zu sehen, da sie ein Gleichgewicht zwischen Geben und Zurückhalten sowie zwischen Nehmen und Ablehnen, jenseits von Reagieren und Erzwingen, darstellt. Auch der bereits erwähnte Zusammenhang zwischen Wertschätzung sich selbst und anderen gegenüber bzw. allgemein zwischen Annäherung an sich selbst und an das Umfeld kann mit dem Resonanzbegriff erklärt werden. In dieser Hinsicht gilt es außerdem, das Modellverhalten anzuführen, das als Übertragung der Eigenresonanz einer Person auf die

7.3 Wege aus der Essstörung gehen ‒ Das eigene Gleichgewicht finden

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andere zu begreifen ist. Dabei dürfte eine positive Verkörperung, also ein positives Vorbild, eine besonders anregende Wirkung haben (s. Kapitel 7.2.3 und Kapitel 8.1.1). Rosa zitiert hierzu Schütz: „Es wird davon ausgegangen, dass, je stärker sich eine Person in der eigenen Resonanz befindet, es umso mehr auch für andere Personen induzierend wirkt, sowohl in den eigenen Resonanzzustand zu gehen als auch mit anderen Menschen in Resonanz zu kommen“ (Schütz, 2009, S. 594; zitiert nach Rosa, 2016, S. 287). Eine solche zwischenmenschliche Resonanz zeigt sich bei den Personen auf ihrem Weg aus der Essstörung besonders deutlich als vermehrtes Annehmen der Fürsorge von Menschen im Umfeld. Dieses kann durch (veränderte) Beziehungen erleichtert oder überhaupt erst möglich werden. Im Unterschied dazu empfand Frauke das Angebot von Essen früher als Bedrängung: Früher, als ich noch daheim war, da haben die Leute immer probiert, mir irgendwelche Sachen hineinzustopfen. Aber das habe ich nicht angenommen. Als ich dann ein bisschen reflektierter war und diese Krankheitseinsicht ein wenig gehabt habe, habe ich das sehr wohl annehmen können; gerade von meinen Freunden. (Frauke, 797; Hervorhebung A. K.)

Ein wesentlicher Aspekt neben dem Reflexionsprozess, der „Krankheitseinsicht“ (Frauke, 797), ist somit, wer die Nahrung anbietet: „gerade von meinen Freunden“ (Frauke, 797). Von vertrauten Menschen kann diese leichter angenommen werden. Passend dazu ist der Titel des Buches von Jongbloed-Schurig (2006) zur psychoanalytischen Betrachtung von Essstörungen: Ich esse deine Suppe nicht. Deutlich wird jedenfalls, dass sich die Personen einerseits mehr für das Empfangen von Nahrung, auch im umfassenden Sinn in Form von Liebe, öffnen. Andererseits vermögen sie, zunehmend Liebe zu schenken: Auf Situationen bezogen habe ich sicher bei vielen Menschen gehandelt: ,Du bist mir wurscht, egal, was du sagst!‘ Wahrscheinlich auch bei meinem ersten Mann, als ich gesehen habe, das geht in die Richtung ,Ich kann dich eh nicht retten‘ ‒ tschüss. Wahrscheinlich total drübergefahren, total brutal, also richtig. Manchmal habe ich sie wahrscheinlich ordentlich verletzt, vor den Kopf gestoßen. Aber nach und nach bin ich mir dann bewusst geworden, was es bedeutet, geliebt zu werden und auch Liebe geben zu können. (Marina, 672)

8 Wegverläufe Während im vorigen Kapitel Merkmale der einzelnen Wegetappen beschrieben wurden, stehen nun Entwicklungen, die über diese Etappen hinausreichen, im Mittelpunkt. Die bisherige Darstellung baute somit auf einem Querschnittverständnis auf, die folgende hingegen ist eine Längsschnittbetrachtung. Im ersten Unterkapitel liegt der Fokus auf den Wegverläufen und ihren Kennzeichen, insbesondere im Hinblick auf den Prozesscharakter und die Beteiligung mehrerer Einflüsse auf die Entstehung und die Überwindung der Essstörung. Anschließend folgt eine Beschreibung der Erfahrungen, von denen die Gesprächspersonen in Bezug auf ihre individuelle Selbst-Entwicklung erzählen, sowie ihrer allgemeinen Auffassungen von Selbst-Entwicklung. Hierzu nennen sie verschiedene Formen, die einerseits in Zusammenhang mit dem Begriff Selbst-Entfaltung und andererseits mit konkreten Entwicklungslinien in den Selbst-Umfeld-Lebensbeziehungen gebracht werden: das eigene Maß finden und leben; in sich selbst stabil werden; zur Sprache kommen und sichtbar werden; Wende und Verlust. 8.1 Verlaufsdynamiken In den Gesprächen werden der Beginn, der Verlauf und die Überwindung der Essstörung überwiegend als Prozess dargestellt. Die Personen sprechen häufig von: „abrutschen“ (u. a. Melina, 43), „reinrutschen“ (Marina, 27) und „reinschlittern“ (Bianca, 7) in die Essstörung. Den weiteren Verlauf bezeichnen sie allgemein als Überwinden sowie konkret als: den Weg „raus aus der Essstörung“ (Irina, 1153), den „Weg raus finden“ (Marianne, 7); „rauskommen“ (Marianne, 7); „in die Gesundheit gehen“ (vgl. Alena, 1395); „Gesundung“ (Tamina, 191), „Gesundungsverlauf“ (Alena, 35); „gesund werden“ (Anita, 438, 606; Marlies, 36), „gesund werden versuchen“ (Anita, 436), „eigentlich gesund werden wollen“ (Anita, 416); „Heilung“ (Alena, 1373; Bianca, 765, 769; Marina, 777) und „Heilungsprozess“ (Alena, 923). In ihrer Rückmeldung zum Erleben des Gesprächs nennt Ina auch den Begriff der „Laufbahn“ (Ina, T2231). Die Prozesshaftigkeit geht außerdem aus zeitlichen Angaben hervor, wie: „Die wirkliche Heilung passiert so seit zwei Jahren“ (Alena, 1373; Hervorhebung A. K.). Subjektive Theorien über den Beginn und Verlauf der Essstörung lassen sich an spezifischen Formulierungen erkennen. So meint Nina, „ganz klassisch ein pummeliges Kind“ (Nina, T28f.; Hervorhebung A. K.) gewesen und dafür „verspottet“ (Nina, T29) worden zu sein. Demnach liegt es für sie nahe, dass dadurch der Wunsch nach einer Gewichtsabnahme entstand und der Weg in die Essstörung gebahnt wurde. Mit zum Teil gleichem Wortlaut drückt sich Bianca aus: Sie sei „so richtig klassisch reingeschlittert“ (Bianca, 7), da sie für den Gewichtsverlust, wenngleich sie nicht übergewichtig war, Lob und Anerkennung erhielt. Auch der Begriff „natürlich“ (Nina, T73, T77, T119) weist auf eine Erwartung oder Selbstverständlichkeit von Ereignissen hin. So erzählt Nina, dass das Erreichen der festgesetzten wöchentlichen Gewichtszunahme nach dem stationären Aufenthalt „natürlich auch immer schiefgegangen“ (Nina, T119) sei. Deutlich wird © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Kathrein, Überwindung der Essstörung als Weg ins Gleichgewicht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25971-6_8

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8 Wegverläufe

jedenfalls die Komplexität der Essstörung, wie in folgenden Worten von Ina: „weil es so viele unterschiedliche Formen gibt und Ausprägungen und Ursachen“ (Ina, T2161‒ T2163). 8.1.1 Vielheit an Einflüssen und Wirkrichtungen In Bezug auf das Erkranken und Überwinden wird von den Personen das Zusammenwirken mehrerer Aspekte, die „Hand in Hand gegangen“ (Nina, T1370) sind, betont. Marianne drückt dies so aus, dass „viele Außeneinflüsse“ (Marianne, 50) bzw. „viele Sachen mitgespielt“ (Marianne, 112), „in diesen Essensstrudel mit hineingeschwirrt“ (Marianne, 371) haben, „mitgeschwirrt“ (Marianne, 365) und „mitgeschwommen“ (Marianne, 92) sind. Dementsprechend lassen sich Unterschiede zwischen den Personen nicht an einzelnen Kriterien, wie Diagnose, Dauer und dem zeitlichen Zurückliegen der Essstörung, festmachen, zumal deren Definition häufig komplex ist. Diese Vielzahl an Einflüssen sowie deren oft nicht eindeutige Erfassbarkeit tragen zur Überforderung der Betroffenen am Beginn der Essstörung bei. Komplexität und Diffusität der Beeinflussung In den Gesprächen wird eine genetische Komponente erwähnt, jedoch häufiger auf äußere Einflüsse und damit eng zusammenhängende innere Empfindungen Bezug genommen. Die frühe Prägung, womit gemeint ist, dass Essen und Gewicht bereits in der Kindheit ein Problem darstellten, beschreiben mehrere Personen. Claudia erzählt über sich, schon vor der Essstörung ein „fülligeres Kind“ (Claudia, T15) gewesen zu sein. Ebenso schildert Alice: „Ich glaube, ein gestörtes Verhältnis zum Essen habe ich schon sehr, sehr lang gehabt; auch schon als Kind, weil ich extrem übergewichtig war“ (Alice, T19‒T21). Hier fließt das Störungsverständnis ein und dieses wiederum in die Definition des Essstörungsbeginns. Karin führt ebenso eine Prägung im Hinblick auf Essen und Gewicht an, da in ihrer Familie „alle einfach immer viel und gern gegessen“ (Karin, T16; T2055‒T2158) haben. Schon ihr Vater sei mit der Allgegenwärtigkeit von Essen „erzogen“ (Karin, T2117) worden, sodass dieses bei jedem Anlass, ob bei „Stress, Frust, Kummer, Freude, Lust“ (Karin, T2107), dazugehört habe und auch heute noch als ein wichtiger Bestandteil gelte. Außerdem sei sie „einfach vom Körperbau immer schon schwerer gewesen“ (Karin, T43f.), womit sie ihr Mehrgewicht, durch das sie sich von den, von ihr nicht näher definierten, Anderen unterschieden habe, als Anlage beschreibt. Dafür spricht auch, dass sie sich mit ihrem Gewicht innerhalb der Familie nicht in einer Differenz erlebte, in anderen Umfeldern hingegen schon (Karin, T1791‒T1797). Eigenes Entscheiden und Tun im Hinblick auf die Essstörung sowie die eigene „Einstellung“ (Marlies, 36), eigene „Gewohnheiten“ (Marlies, 36) und „Gedanken“ (Marlies, 36) werden weniger stark thematisiert. Dies spiegelt sich in den Metaphern für das passive „Rutschen“ (u. a. Marlies, 14) in die Essstörung wider. Hingegen ist hier das Umfeld von großer Relevanz: Unter anderem auftretende Veränderungen, z. B. eine Trennung, der Verlust einer nahen Person oder eine örtliche Veränderung, stehen häufig am Beginn der Erkrankung.

8.1 Verlaufsdynamiken

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Auch in Bezug auf die Überwindung wird in den Aussagen entweder explizit oder indirekt das hilfreiche Potential der Kombination von mehreren Aspekten deutlich: „Ich denke, es waren einfach ganz viele kleine Sachen. Aber da fällt mir jetzt spontan gar nichts ein, weil das war dann einfach so ein Weg“ (Bianca, 497). Claudia meint dazu: „Je mehr positive Faktoren da sind, umso leichter wird's sein“ (Claudia, T2523f.). Dieses Zusammenwirken von mehreren Einflüssen einerseits und erlebten Veränderungen der Person andererseits formuliert Irina als: „sehr mit meiner Biographie verwoben“ (Mail Irina, 05.12.2015). Ein Beispiel hierfür erzählt Marlies, bei der eine Ernährungsumstellung erst dann eine förderliche Wirkung im Hinblick auf die Überwindung der Bulimie zeigte, als sich gleichzeitig die Trennung ihrer Mutter von deren Partner ereignete. Letztlich erweist sich die Überwindung jedoch, wie die Erkrankung, als ein teilweise unbekanntes Phänomen. Daher ist die Frage in den Raum zu stellen: „Warum schaffen es manche und andere nicht?“ (Alena, 1351). Dieses Unbekannte zeigt sich auch in der Aussage von Bianca: „Ich habe immer wieder Schutzengel gehabt; also dass mir eigentlich nicht wirklich viel Schlimmeres passiert ist“ (Bianca, 119). Schwierige Einflüsse sind nicht nur als Beiträge zur Essstörung, sondern auch während deren Überwindung bzw. allgemein im Leben immer wieder präsent und oft nicht konkret zu fassen: „wenn halt einfach einmal alles nicht zusammenpasst“ (Nina, T558f.). Doch selbst zunächst hintergründige Aspekte können zur Überwindung beitragen. Anja erwähnt ein Erlebnis, bei dem sie an eine frühe Prägung erinnert wurde: „Das Entscheidende war, als ich reingegangen bin, es war der Kachelofen an, es war warm und hat da so gut gerochen. Es hat mich an meine Kindheit erinnert: der Kachelofen bei meiner Übergroßmutter“ (Anja, T1535‒T1542). Mit dem Begriff der „Übergroßmutter“ weist Anja auf deren Dominanz hin, die sie im Gespräch zuvor erwähnte. Wenn auch nicht immer und nicht unmittelbar sichtbar, können hilfreiche Aspekte, so Alena über die Therapie, wie einzeln gesetzte „Samenkörner“ (Alena, 1021) zunächst unbemerkt bleiben und erst im Laufe der Zeit ihre Wirkung entfalten (s. Kapitel 7.2.5). Wirkrichtungen Erkranken vs. Überwinden Neben der Vielheit an Einflüssen sind außerdem verschiedene Wirkrichtungen derselben erkennbar. So kann ein Aspekt einerseits zum Erkranken beitragen, andererseits das Überwinden fördern, wobei sich die Ausprägung dieses Aspekts und der Zeitpunkt des Einwirkens als relevant herausstellen. Beispiele für Ausprägungen von Umfeldeinflüssen sind im Fall des Zusammentreffens mit Gleichbetroffenen deren Motivation, in Partnerbeziehungen das Ausmaß an Wertschätzung, in beiden Fällen außerdem die Art des Modellverhaltens (Bandura, 1979; s. Kapitel 2.3.3, Kapitel 7.2.3, Kapitel 7.2.4). So wird der Austausch mit Gleichbetroffenen dann als hilfreich erlebt, wenn diese bereit sind, den Weg aus der Essstörung zu gehen, anstatt sich von der Essstörung vereinnahmen zu lassen. Trifft letzteres zu, werden das kontrollierte Essverhalten und die Konkurrenz untereinander verstärkt. Die Wirkung dieses Austauschs kann somit entweder eine gegenseitige Motivation oder gemeinsame Destruktion sein. Hier wird die Bedeutung des Modellverhaltens von

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8 Wegverläufe

Menschen im Umfeld deutlich: Verkörpern diese Menschen Selbst-Achtung, anstatt Kontrolle und Missachtung ihrer eigenen Gefühle, ist es Betroffenen leichter möglich, einen solchen achtsamen und liebevollen Umgang mit sich selbst zu lernen. Veränderungen des Umfeldes, z. B. im Rahmen eines Umzugs, können solche förderlichen (Beziehungs-)Erfahrungen begünstigen. Partnerbeziehungen sind besonders dann unterstützend, wenn sie auf Vertrauen und nicht auf Bewertungen basieren. Die Wirkung von Beziehungen wird somit stark von ihren Merkmalen beeinflusst. Ein weiteres Beispiel für diese zwei Wirkrichtungen ist der erlebte Druck: Druck in Form von innerlichem Stress bei nicht bewältigbaren Belastungen, beispielsweise zu hohen (Leistungs-)Anforderungen oder Konflikten, trägt zur Essstörung bei, Leidensdruck im Rahmen der Essstörung jedoch zur Überwindung. Es handelt sich dabei zwar nicht um die gleiche Art von Druck, allerdings geht mit beiden ein Gefühl von Ausweglosigkeit einher, das sich schließlich unterschiedlich auswirkt. Bei diesen und weiteren Beispielen ist außerdem der Zeitpunkt im Erkrankungs- bzw. Überwindungsverlauf, zu dem die Aspekte einwirken, zu beachten (s. Kapitel 7.2.5). Beispielsweise kann Wissen über die Essstörung am Beginn des Erkrankungsprozesses selbigen verstärken, ab der Wende hingegen förderlich für die Überwindung sein. Die zeitliche Komponente ist auch im Hinblick auf den zuvor angesprochenen Druck von Relevanz. So entsteht der Leidensdruck erst allmählich, während hohe Anforderungen, die die Betroffenen von anderen erfahren, sowie jene, die sie an sich selbst stellen, schon früher vorhanden sind. Die Wirkung eines bestimmten Aspektes kann somit, auch bei gleicher Ausprägung, in Abhängigkeit des Zeitpunktes im Entwicklungsprozess variieren. Auf ähnliche Weise werden Beziehungen zu einem Menschen mitunter über einen gewissen Zeitraum als förderlich, in einem anderen jedoch als hemmend empfunden (u. a. Irina, 1937). Zusätzlich zum zeitlichen Verlauf ist hier allerdings die Veränderung der Beteiligten durch ihre Entwicklung zu berücksichtigen, sodass nicht von einer gleichbleibenden Ausprägung des hilfreichen Einflusses, der Beziehung, zu sprechen ist. Zirkularität In den vorangegangenen Ausführungen wurde bereits die Zirkularität im Erkrankungsund Überwindungsprozess als weiteres Verlaufsmerkmal deutlich. Veränderungen im Rahmen der Überwindung sind gleichzeitig heilsame Aspekte, deren Wirkungen wiederum die Veränderungen aufrechterhalten. Das heißt, dass diese Aspekte auf der einen Seite eine förderliche Wirkung haben und auf der anderen Seite die Überwindung sichtbar machen. Vertrauensvolle Beziehungen beispielsweise erweisen sich als hilfreich für den Weg aus der Essstörung, ebenso als Merkmal dieses Weges und zwar in Form des Vermögens, tiefe Beziehungen zu leben. Ein solches Vermögen erhöht wiederum die Wahrscheinlichkeit, Beziehungen bewusst als hilfreich zu erfahren und somit den Weg der Überwindung weiterzugehen. Auch Veränderungen von Beziehungen können die Überwindung einerseits erleichtern ‒ hier ist von einer Überwindung durch die Veränderung von Beziehungen zu sprechen ‒, andererseits ein Zeichen von Überwindung ‒ im Sinne einer Überwindung als Veränderung von Beziehungen ‒ sein.

8.1 Verlaufsdynamiken

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Ein solcher Zusammenhang zeigt sich außerdem im Rahmen des Selbst-Zuwendens und Selbst-Entfaltens: Erst auf dem Weg der Überwindung entwickelt sich die Kraft und Offenheit, sich selber zu spüren, zu erleben und sich nach außen zu öffnen, also sich der Welt gegenüber zu entfalten. Frauke konnte allmählich gewisse Wünsche, beispielsweise den Wunsch zu reisen, wieder umsetzen und erleben. Hier ist eine Zirkularität zu sehen: Wenn sich eine Person mit wohltuender körperlicher und symbolischer Nahrung versorgt (s. Kapitel 7.2.5), wird sie sich diese aufgrund der angenehmen Erfahrung mit großer Wahrscheinlichkeit erneut zuführen. Somit ist diese Nahrung sowohl für die Entstehung als auch für die Stabilisierung und Intensivierung des Wohlgefühls förderlich. In Bezug auf die körperliche Nahrungsversorgung ist außerdem bedeutend, dass die zunehmende körperliche Kraft die Teilhabe an verschiedenen Aktivitäten erleichtert oder überhaupt erst ermöglicht und die Lebendigkeit erlebbar macht. Selbst-Wahrnehmung und Selbst-Fürsorge tragen somit zur Selbst-Annäherung bei, werden durch diese Selbst-Annäherung wiederum aufrechterhalten und sind Ausdruck derselben im Rahmen der Überwindung der Essstörung. Die wohltuenden Erfahrungen bringen auch zunehmend mehr Orientierung im Leben mit sich, die gleichzeitig das Verfolgen eigener Wünsche und Ziele als hilfreichen Aspekt fördert. Hingegen kann mangelnde Orientierung, beispielsweise in beruflicher Hinsicht, die Essstörung verstärken, um dadurch vorübergehend Stabilität zu erhalten. Unter dem Einfluss der Essstörung wird die Orientierung auf dem eigenen Weg jedoch weiter eingeschränkt. Dieser Zusammenhang trifft ebenso auf die Überforderung zu, durch die die Betroffenen, allerdings auch die sie umgebenden Menschen, Stabilität verlieren. Die Überforderung der Betroffenen und des Umfeldes bedingen sich somit wechselseitig, sodass das Umfeld die Betroffenen nicht ausreichend unterstützen kann. Dadurch bleibt die Überforderung der Betroffenen bestehen oder wird verstärkt, insbesondere durch die Essstörung, die Halt bieten soll, letztlich jedoch zur Destabilisierung führt. Dementsprechend kann Leistungsorientierung als Suche nach Halt in der Essstörung vermehrt auftreten, wofür das größere Lernpensum, einhergehend mit sozialem Rückzug, spricht. Jedoch stellt der Leistungsdruck einen Trigger für die Essstörungssymptomatik dar ‒ so soll Essen im Rahmen der Bulimie häufig der Druckreduktion dienen. Dadurch wiederum steigt der erlebte innerliche Druck, beispielsweise wegen des Zeitverlusts für das Erfüllen von Lernpflichten, und ein neuerlicher Essanfall kann provoziert werden. Marlies bezeichnet diesen zirkulären Zusammenhang treffend als „Teufelskreis“ (Marlies, 508). Die Herausforderung besteht nun darin, entgegen dem anfänglichen „Einstieg“ (Marina, 53) aus dem Aufrechterhaltungskreislauf der Essstörung auszusteigen und förderliche Aspekte anzunehmen, deren wohltuende Wirkung aber erst allmählich auf dem Weg aus der Essstörung mit zunehmender Lebendigkeit erlebbar wird. Dafür bedarf es der Offenheit für die Selbst-Annäherung, allerdings lehnen Menschen mit einer Essstörung meist ihren Körper und letztlich sich selbst ab. Diese Schwierigkeit trifft auch auf die Problematik des sozialen Rückzugs in der Essstörung zu, da Beziehungen von den Betroffenen eingeschränkt werden, aber gleichzeitig unterstützend für sie sein können. Insbesondere bei förderlichen Aspekten, die einer hohen Eigeninitiative der Betroffenen bedürfen, sind die genannten Überlegungen von Relevanz. Doch bereits für das

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8 Wegverläufe

Zuwenden nach außen, als eine Grundlage für eine nährende Begegnung mit Menschen und das Umsetzen von freudebringenden Aktivitäten, bedarf es einer ersten Impulssetzung von Seiten der Betroffenen (s. Kapitel 7.2.3). Hier dürfte der Leidensdruck eine Rolle dafür spielen, inwieweit eine Person bereit für die Überwindung der Essstörung ist, ebenso das Zusammenwirken mehrerer hilfreicher Einflüsse und nicht zuletzt der individuell stimmige, aber nicht bestimmbare Zeitpunkt. Gegenläufigkeit Im Rahmen der genannten Beispiele wird neben der Vielheit an Einflüssen und Wirkrichtungen sowie der Zirkularität das Merkmal der Gegenläufigkeit deutlich: Sowohl im zeitlichen Verlauf bestehen, unter anderem im Verhalten und Empfinden der Person, entgegengesetzte Tendenzen als auch zu bestimmten Zeitpunkten in Form einer Gleichzeitigkeit (punktuelle Gegenläufigkeit). Solche punktuellen Gegenläufigkeiten sind beispielsweise die gleichzeitige Tendenz einer Person zur Anpassung und zur Rebellion, wobei sich diese Verhaltensweisen auf verschiedene Lebensbereiche beziehen können. Außerdem geht die Sichtbarkeit der Essstörung mit der Unsichtbarkeit der Person einher, punktuell sowie im zeitlichen Verlauf. Gleichzeitig werden die Betroffenen auch sichtbarer, insbesondere durch die Gewichtsabnahme und die damit zunehmende Abweichung von ihrem früheren Aussehen sowie von Referenzmaßen, vor allem dem BMI. Diese Gleichzeitigkeit der Aspekte verändert sich in ihrer Gewichtung über den Verlauf hinweg. Beispielsweise verstärken sich die Destabilisierung und Einschränkung durch die Essstörung bis zur Wende, während sich deren stabilisierende Wirkung verringert. Ebenso verhält es sich mit der Schutzfunktion der Essstörung, die allmählich abnimmt, während die (Lebens-)Gefahr durch ihre Präsenz steigt. Die Essstörung kann somit anhand von Gegensatzpaaren charakterisiert werden und erinnert an einen Januskopf, wobei allerdings oft mehr als zwei Gesichter erkennbar sind (s. Kapitel 7.1.3 und 7.2.1). In Bezug auf das Modell zu persönlichen Entwicklungswegen aus der Essstörung, das im Rahmen dieses Forschungsprojektes entstand, gilt folgende übergeordnete Gegenläufigkeit zu einzelnen Zeitpunkten und über den Entwicklungsprozess hinweg: aus dem Gleichgewicht kommen – ins (eigene) Gleichgewicht kommen. Wie aus den Ausführungen zum Modell in Kapitel 5 und Kapitel 7 hervorgeht, wird vom eigenen Gleichgewicht nur im Rahmen der Überwindung gesprochen, da vorher vielmehr Ausgleichsversuche mit temporären und vermeintlich stabilisierenden Mitteln stattfinden. Ein Beispiel für Gegenläufigkeiten im Verlauf ist in diesem Modell die Entwicklung vom Gleichgewicht durch äußere Stabilisierung zum Gleichgewicht durch Stabilität in sich selbst. So soll das Gleichgewicht in der Erkrankungsphase durch Stabilisierung und Stabilität von außen, vor allem in Form der Essstörung, der Anpassung und des Leistungsstrebens, erlangt werden. Im Rahmen der Überwindung hingegen tragen verschiedene hilfreiche Aspekte zur allmählichen Stabilisierung der Betroffenen und deren Stabilität in sich selbst bei. Konkret wird dadurch die Essstörung unsichtbarer, die Person hingegen sichtbarer: Sie findet Schritt für Schritt das eigene Gleichgewicht und damit einen Ausgleich im Spannungsfeld der Gegenläufigkeit.

8.1 Verlaufsdynamiken

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8.1.2 Prozesscharakter und Aktivitätsausmaß In den Erzählungen werden zwar zum Teil Zeitpunkte und die Dauer der Essstörung angegeben, öfter sind die Erinnerungen jedoch unklar. Dies kann einerseits durch die Komplexität des Phänomens bedingt sein, die die vielfältigen Einflüsse nur eingeschränkt erklären lässt (u. a. Silvia, T844‒T850). Andererseits könnte die schwierige Erinnerung mit einem unbewussten Schutz vor der Aktualisierung der damaligen Belastungen, insbesondere wenn diese mit traumatischen Erfahrungen einhergingen, in Zusammenhang stehen. Außerdem dürfte hier der Prozesscharakter eine Rolle spielen, da sich mehr Hinweise für einen fließenden, phasenhaften als für einen diskontinuierlichen Verlauf zeigen. Es gibt jedoch sehr wohl punktuelle Veränderungen, die oft erst einige Zeit später bewusst wahrgenommen werden (Silvia, T559‒T565; s. Kapitel 8.1.3). So können über den zeitlichen Beginn und den Ablauf der Essstörung sowie über deren Überwindung meist keine konkreten Angaben, sondern nur Vermutungen gemacht werden: „Seitdem hat sich die Essstörung irgendwie langsam ausgeschlichen, kommt mir vor“ (Marianne, 70; Hervorhebung A. K.; vgl. Anita, 125). Auch die Langwierigkeit der Esstörung kann zu solchen Erinnerungsschwierigkeiten beitragen (u. a. Alice, T1780‒T1782). Diskontinuität und Kontinuität des Verlaufs Als diskontinuierlicher Übergang wird vor allem der Beginn der Essstörung in aktiver oder passiver Form genannt. Ein aktiver dichotomer Übergang zeigt sich beispielsweise in Formulierungen wie: „Einstieg“ (Marina, 53), mit der Essstörung „angefangen“ (Anita, 283) zu haben. Ein solcher Anfang wird jedoch auch passiv ausgedrückt: „Das war der Anfang“ (Anita, 12), oder: „So mit siebzehn, in den Semesterferien, hat das angefangen“ (Lia, 19). Dadurch erhält die Essstörung den Charakter eines Ereignisses. So erinnert Rebecca, wie die zuvor zitierte Lia, den Beginn ihrer Anorexie einerseits im konkreten Alter von sechzehneinhalb Jahren. Andererseits relativiert sie diese Exaktheit: „eigentlich angefangen hat's“ (Rebecca, T16; Hervorhebung A. K.). Sie schildert ein mehr passives Wegbewegt-Werden von einem Einfluss als ein aktives Hinbewegen zu einem Ziel: Im Rahmen ihrer Auseinandersetzung mit dem Beginn und Verlauf der Essstörung von anderen Betroffenen habe sie sich gefragt, „was sie da reingetrieben hat“ (Rebecca, T1291f.; Hervorhebung A. K). Die Ausdrücke der Personen unterstreichen die von ihnen stark passiv empfundene Anfangsdynamik des Reinschlitterns und Abrutschens (u. a. Mail Melina, 14.01.2016). Bei Karin ist dies zumindest teilweise der Fall, gleichzeitig beschreibt sie den Beginn der Essstörung ähnlich einer Aufwärmrunde: „Mit Start der Pubertät haben so die ersten Diätversuche angefangen“ (Karin, T26f.), nach denen „tatsächlich der Start“ (Karin, T28) kam. Die Diätversuche sind dabei ihr aktives Zutun. Die beiden Anteile, Aktivität und Passivität, am Beginn der Essstörung beschreiben somit mehrere Personen, wobei Nina den aktiven Anfang des Abnehmens ihrer Disziplin bzw. ihrer Persönlichkeit zuschreibt: Sie sei „recht stur“ (Nina, T34). Weniger häufig wird ein aktiver dichotomer Übergang im Hinblick auf die Überwindung der Essstörung formuliert. Ein Beispiel gibt Nina, indem sie meint, „dass man das echt durchbrechen kann“ (Nina, T1995). Auch wenn es vorher eines Anlaufes im Sinne des

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8 Wegverläufe

eigenen Zutuns bedarf, ist der Durchbruch ein konkretes Ereignis. Sowohl bei Lia als auch bei Nina wird außerdem die unspezifische und neutrale Bezeichnung „das“ für die Essstörung deutlich (s. Kapitel 6.1). Meist werden die Übergänge in die und aus der Essstörung als Kontinuität dargestellt, ebenso der Verlauf. Dies gilt auch für zeitlich aufeinanderfolgende und/oder parallel auftretende Betroffenheiten: für den Übergang von der Anorexie zur Bulimie sowie für Depression, selbstverletzendes Verhalten (Ritzen), Drogenkonsum und „Beziehungssucht“ (Alena, 163) als begleitende Probleme. Ein Hinweis für die Kontinuität des Geschehens ist die Formulierung, „auf einem guten Weg“ (Jasmin, T779) zu sein und, wenngleich nicht immer explizit in den Aussagen enthalten, die unbekannte Dauer dieses Weges aus der Essstörung (u. a. Bianca, 139). Auch die Therapiedauer als Teil des Überwindungsprozesses kann länger als anfangs erwartet sein (u. a. Frauke, 153‒159). Die Prozesshaftigkeit zeigt sich außerdem im allmählichen und nicht unmittelbaren Verringern der Problematik beim Erleben von wohltuenden Einflüssen (u. a. Lia, 23; Marianne, 281‒285). So erzählt Alice, dass sich ihr Gewicht mit der Zeit „eingependelt“ (Alice, T364, T365) habe. Den Weg aus der Essstörung kennzeichnet neben der Dauer, die unbekannt und oft länger als erwartet ist, das Empfinden von Langwierigkeit. Darauf weisen Aussagen hin, dass die Essstörung bzw. entsprechendes Verhalten zur Gewohnheit werden kann – allerdings auch das Leben ohne Essstörung: Ich habe geglaubt, das ist überhaupt nicht mehr möglich bei mir. Ich habe so lange erbrochen, dass ich mir gedacht habe: ‚Es gibt kein Leben ohne Erbrechen.‘ Weil ab dem Zeitpunkt, wo ich aufhöre, nehme ich zu ohne Ende. Das ist schon möglich, und ich habe eigentlich gar nicht viel dazu getan (lächelnd). Aber der Körper kann sich schon wieder akklimatisieren. (Claudia, T2628‒T2645)

Die Überwindung ist somit ein „längerer Prozess“ (Frauke, 1547) der allmählichen Stabilisierung und umfasst, wie Anita meint, ein Mehrfaches der Erkrankungsdauer. Auf der anderen Seite wiederum, so Lia über das Wiedererlernen des Hunger-SättigungGefühls, sei es „im Vergleich zu dem, was vorher war“ (Lia, 643) gar nicht so lange. Konsens besteht jedenfalls darin, dass der Weg aus der Essstörung Anstrengung und Zeit, auch über die Therapie hinausreichend, erfordert. Mit frühzeitiger Unterstützung könnte er jedoch kürzer sein: Die Gespräche, die ich damals gesucht habe, mit Pfarrer oder mit Menschen, die mit dem Glauben was zu tun haben, hätten auch anders verlaufen dürfen oder können. Dann wäre vielleicht der Weg auch ein kürzerer gewesen. Aber alles kommt zu seiner Zeit, und du kannst nichts abkürzen. (Marina, 712)

Phasenverlauf Dieser längere Weg des Erkrankens und Überwindens ist von Richtungswechseln im Sinne eines wellenförmigen Verlaufs bzw. Phasenverlaufs gekennzeichnet. Auf diese „Auf und Abs“ (Claudia, T1061) wurde Claudia durch Körpersignale aufmerksam: „bis

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wieder irgendwas nicht mehr funktioniert hat“ (Claudia, T752f.). Besonders für die Anfangsphase der Essstörung erinnert sie sich an ein Pendeln zwischen Extremen: „Die erste Erinnerung war einfach, einen Weg zu finden aus diesem Gar-nichts-Essen und Der-Körper-packt-das-nimmer bis zu: Ich muss irgendwas essen, aber ich kann's scheinbar selber nicht dosieren, ich muss es wieder loswerden. Das war so in der Pubertät“ (Claudia, T43‒T47). So wie sie dieser Pendelausschlag allmählich aus dem Gleichgewicht brachte, schildert Claudia dies auch im Hinblick auf Lichtreize, die ihre Panikattacken auslösen können: „Dann macht mich das sehr unrund“ (Claudia, T1658). Im Gleichgewicht zu sein wäre demnach, rund zu sein, sich rund zu fühlen und/oder rund gemacht zu werden. Das Finden des Gleichgewichts, wenn auch nur vorübergehend, bezeichnet Claudia unter anderem als: sich „wieder derrappelt“ (Claudia, T62), also sich wieder gefangen zu haben. Durch diese Auf-und-Ab-Bewegung bzw. Vorwärts- und Rückwärtsschritte im Erkrankungs- und Überwindungsprozess ist Lernen aus Erfahrung möglich: „Ich falle natürlich zeitenweise in die alten Muster zurück, muss ich ganz ehrlich sagen, wobei ich mir denke: ‚Was machst du jetzt schon wieder?‘ “ (Anja, T1170‒ T1172). Die Schwankungsbreite der Verlaufswellen wird allmählich weniger (Alice, T444), worin sich das Finden eines Gleichgewichts zeigt. Die Phasen des Prozesses werden von den Personen unterschiedlich bewertet: „Es ist auch jetzt immer noch so, dass es Phasen gibt, wo's besser läuft, und Phasen, wo's schlechter läuft“ (Karin, T926f.). Die Formulierung, dass es „immer noch so“ sei, lässt auf eigene Idealvorstellungen, die sich auch an anderen Stellen im Gespräch zeigen, schließen (Karin, T1821‒T1823). Somit differenziert Karin die Phasen unter anderem nach ihrem Schweregrad: Eine „schlechte Phase“ (vgl. Karin, T2897) oder „schwerste Phase“ (Karin, T928) zeichnet sich durch vermehrte Essensprobleme mit einhergehender depressiver Verstimmung aus. Neben solchen „depressiven Phasen“ (Karin, T526) konnte Karin jedoch auch ein „Hoch“ (Karin, T521) und „super viel Freude“ (Karin, T521) erleben. Abgesehen vom Schweregrad sind die Phasen anhand ihrer Bewegungsrichtung zu unterscheiden. Es habe, so Karin, zwei sich abwechselnde Richtungen gegeben: Auf der einen Seite stand die Restriktion, auf der anderen Seite gab es die Essanfälle, die dieser starken Zurückhaltung folgten (Karin, T998‒T1002, T1094‒T1096). Auch Anja spricht mit „runterhungern, dann wieder raufhungern“ (Anja, T243) zwei Richtungen an. Dabei trägt „raufhungern“ einen Widerspruch in sich, ebenso die „Phase des Runteressens“ (Anja, T256). Um das Pendeln zwischen den beiden Polen verringern zu können, ist das Wissen um die Richtung des Weges aus der Essstörung, „wo's prinzipiell hingeht“ (Karin, T1263), von Bedeutung. Den wellenförmigen Verlauf der Essstörung beschreibt Ina mit mehreren Höhepunkten (Ina, T194, T278, T811), worauf hier unter anderem die damaligen beruflichen Auslandsaufenthalte ihres Mannes Einfluss hatten. Den Höhepunkt der Essstörung markiert die vorherrschende Symptomatik, die viel Raum im Leben einnimmt. Nina hingegen gibt nur einen „Höhepunkt“ (Nina, T18) an, womit die Notwendigkeit der stationären Therapie einherging. Dies war auch ein Wendepunkt im Hinblick auf die Überwindung, die jedoch längere Zeit dauerte als die Entwicklung der Essstörung im Vorfeld. Dies unterstreicht den rapiden Verlauf zu Beginn. Ähnlich bezeichnet Alice das höchste

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Ausmaß der Essstörung als „Hochphase“ (Alice, T146). Grete spricht von „Höchstphase“ (Grete, T17) im Hinblick auf ihren höchsten BMI, während sie „stärkere Phasen“ (Grete, T1208) oder die „ärgste Phase“ (Grete, T1232, T1490) auf das Verlangen nach Essen und die Häufigkeit von Essanfällen bezieht. Der Leidensdruck hingegen wird von Ina als Tiefpunkt, von dem aus es „bergauf“ (Ina, T195, T1468) geht, dargestellt, während sie in die Essstörung „hineingerutscht“ (Ina, T653), „so richtig schnell reingeschlittert“ (Ina, T126f.) ist. Dieses Hineinrutschen bzw. -schlittern kann nach unten führen, worauf die Gespräche übereinstimmend hinweisen. So wird auch in Rebeccas Formulierung, Kommentare von anderen zu ihrem Aussehen haben sie früher „runtergezogen“ (Rebecca, T960) und wirkten sich auf ihr Essverhalten aus, die Position der Essstörung in der Tiefe deutlich. Nina veranschaulicht außerdem die Gefahr der Essstörung, indem es ihren Eltern nach anfänglichem Bagatellisieren irgendwann „zu steil geworden“ (Nina, T44) sei. Damit könnte ein BergabVerlauf gemeint sein. Dieser Tiefpunkt der Essstörung muss nicht mit jenem der Betroffenen zusammenfallen, sondern kann auch bei bereits einwirkenden hilfreichen Veränderungen eintreten. So hatte Ina das neue Studium, mit dem sie sich wohlfühlte, begonnen, als die Essstörung noch sehr präsent war (Ina, T809‒T811). Dass die Essstörung erst allmählich in den Hintergrund rückte, obwohl der unterstützende Beitrag des Studiums schon früher vorhanden gewesen war, lässt zum einen auf eine erst verzögert sichtbare Wirkung von hilfreichen Aspekten und zum anderen auf das erforderliche Zusammenwirken mehrerer Einflüsse schließen (s. Kapitel 7.2.5). Im Hinblick auf die Überwindung weist Ina auf einen Verlauf nach oben hin, indem sie meint, ihr Verhalten habe sich „zum Positiven gesteigert“ (Ina, T657). Ein solcher Anstieg wird auch bei Nina deutlich: Als sie sich auf dem Weg aus der Essstörung außerhalb des lebensgefährlichen Bereichs befand, sei sie „über den Berg“ (Nina, T1212) gewesen. Anika verwendet ebendiese Formulierung für einen Punkt, der eine fortgeschrittene und umfassende, nicht nur auf das Körpergewicht bezogene, Stabilisierung bei noch fortführendem Weg markiert (Anika, 1157). Diese Aussagen der Personen, insbesondere jene über die, im folgenden Abschnitt beschriebene, erforderliche Anstrengung unterstreichen jedenfalls den Bergauf-Verlauf der Überwindung. So beschreibt Anika ihre aktuelle Situation als einen gebirgigen, noch weiterführenden Anstieg, der in prozentualen Etappen aus der Essstörung führt: „Wenn wir eine Skala haben zwischen null und hundert Prozent, würde ich mich vielleicht so bei siebzig sehen. Also schon ganz gut über den Berg und stabil, aber es ist schon noch ein bisschen was zu tun“ (Anika, 1155‒1157). Aktivität und Passivität des Prozesses Die vorangegangenen Ausführungen zur Diskontinuität und Kontinuität sowie zum Phasenverlauf deuten bereits den Unterschied zwischen Erkrankungs- und Überwindungsprozess in Bezug auf den erforderlichen Aktivitätsgrad an. Das Erkranken wird in seinem Beginn und Verlauf häufiger als passives Geschehen beschrieben, womit die Langwierigkeit der Überwindung in Zusammenhang steht. Folgende Aussage von Alena ist hingegen ein Beispiel für einen aktiven Anteil:

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Ich bin wieder heim, also zu meiner Tante, da habe ich dann eine Zeit lang gewohnt, weil daheim habe ich nicht mehr sein können. Dort habe ich mir dann irgendwie die Bulimie richtig angelernt, glaube ich. Das war sehr intelligent. Da habe ich nach Wegen gesucht, wie könnte ich es noch schlimmer machen, und dann habe ich mir gedacht: ‚Probieren wir das jetzt aus.‘ (Alena, 27)

Anstatt der vermeintlichen Kontrolle über das eigene Essverhalten, den eigenen Körper und letztlich über sich selbst werden Kontrollverlust und Ohnmacht erlebt. Dies findet sich insbesondere in Aussagen über den Beginn der Essstörung wieder: „Irgendwie ist es dann, ich sage einmal, entglitten“ (Marina, 19). Aus Inas Begriff für ihre Betroffenheit, in der Essstörung „drinnen gehängt“ (Ina, T396) zu sein, geht die passive Komponente der Betroffenen, vor allem ihre Ohnmacht, besonders deutlich hervor (vgl. Rebecca, T1266). Zu erwähnen ist außerdem ihr Ausdruck, auf dem Weg aus der Essstörung „nicht mehr in ein abnormales Verhalten reingerutscht“ (Ina, T654f.) zu sein. Somit erlebte sie Ohnmacht im Rahmen des eigenen Verhaltens, woraus der unbewusste Anteil des Verhaltens in der Erkrankung hervorgeht. Alice verwendet auch für die begleitende Depression eine passive Formulierung: Sie sei aufgrund der Überforderung beim Wechsel ins Gymnasium „fast in eine Depression geflogen“ (Alice, T1323f.). Die rasche Entwicklung am Beginn der Essstörung und die Ohnmacht beschreibt Alice, mit heutiger Erschütterung darüber (Alice, T48), so: „Dann hab ich das irgendwie komplett übersehen“ (Alice, T42). In weiterer Folge hingegen habe es sich „dahingezogen“ (Alice, T111) und „dahingeschlängelt“ (Alice, T159). Hier wird die passiv formulierte Langwierigkeit deutlich. Eine Art Sogwirkung der Essstörung bringt auch Nina zum Ausdruck, wenn sie meint, sie sei „reingeschlittert“ (Nina, T1317) und habe „damit irgendwann nicht mehr aufhören können“ (Nina, T1319f.). Dementsprechend wurde sie durch den stationären Aufenthalt aus diesem Sog „wieder rausgerissen“ (Nina, T26). Grete erzählt von einer passiven Komponente im Hinblick auf das Erbrechen: Sie habe „automatisch erbrochen“ (Grete, T78). Diesem Erbrechen ging kein geplantes Essen voraus, sondern sie habe sich „mit Falschem überessen“ (Grete, T77). Was dieses Falsche war, spezifiziert sie nicht näher. Es dürfte jedoch die von ihr an anderer Stelle angesprochene verbotene Nahrung, wie Süßigkeiten, zudem in einer großen Menge sein. Auch im Begriff „sporadisch“ (Grete, T1206) in Bezug auf das Auftreten des Erbrechens wird der sich verselbstständigende Anteil deutlich, jedoch ebenso die geringere Häufigkeit. Karin wiederum bezieht sich bei der Schilderung einer passiven Erkrankungsdynamik auf ihre Essanfälle, die „passiert“ (Karin, T487) seien. Sie drückt damit ihre Ohnmacht aus, zumal sie an dieser Stelle auch vom Alkoholeinfluss spricht, der zusätzlich enthemmt. Das Wiederauftreten bzw. Verstärken der Essanfälle durch Alkoholeinfluss mit den Begriffen „durchbrechen“ (vgl. Karin, T473) und „rauskommen“ (vgl. Karin, T486) zu bezeichnen, verdeutlicht nicht nur die Ohnmacht, sondern in Form des Durchbruchs auch die Gefährlichkeit der Dynamik. Während sich die Essstörung allmählich ausdehnt und die Betroffenen „hineinschlittern“ (vgl. Tamina, 21), „hineinkippen“ (vgl. Alena, 997), „hineinrutschen“ (vgl. Marlies, 14) lässt, erfordert der Weg aus dem „Radl“ (Nina, T1993) der Essstörung aktives Tun, auch Mühe. Mitunter beginnt der aktive Weg aus der Essstörung bereits mit einer bewussten Entscheidung für eine Lebensveränderung, zu der vor allem der Leidensdruck

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beiträgt (u. a. Marlies, 36; s. Kapitel 7.2.1). Seltener wird eine passive Beschreibung für die Überwindung gebraucht, doch bei Ina lässt sich eine solche, neben ihrem überwiegend aktiven Zutun, finden: „Dann [nach dem Kauf des Rennrades] hat es angefangen, sich ein bisschen zu bessern“ (Ina, T474). Ebenso schildert Rebecca, dass sich die Essstörung allmählich „einfach so ausgeschlichen“ (Rebecca, T193, T199) habe. Dies machte sich an ihrer gelockerten Kontrolle bemerkbar, indem sie nicht mehr den Kaloriengehalt der Nahrung im Fokus hatte (Rebecca, T197). Allerdings nennt sie auch einen Anstoß dieses Prozesses, nämlich das Orientieren am Essverhalten ihres Freundes, das „zu diesem Ausschleichen beigetragen“ (Rebecca, T719f.) habe. Karin bringt ihre Hoffnung für ihren weiteren Weg mit einer passiven Formulierung zum Ausdruck: „dass sich das Thema einfach von sich wieder in den Hintergrund stellt“ (Karin, T1256f.). Die Personen beschreiben den Weg aus der Essstörung auch gemischt mit aktiven und passiven Anteilen. So habe sich Alice mit ihrem Ernährungsplan „durchgewunden“ (Alice, T124), und es sei „dann irgendwie ein Durchwurschteln“ (Alice, T1785) für sie gewesen, woraus das Aktivitätsausmaß nicht eindeutig hervorgeht. Nina beschreibt die Langwierigkeit in aktiver Form mit dem erforderlichen „Raushändeln“ (Nina, T1323) und passiv, dass es sich „so hin- und hergezogen“ (Nina, T49f.) habe. An anderer Stelle meint sie: „Das ist dann ausgeklungen. Ich habe es natürlich nicht von einem Tag auf den nächsten geändert“ (Nina, T1260f.). Die schrittweise, zum Teil unbewusste Veränderung nennt sie einen „schleichenden Prozess“ (vgl. Nina, T1326). Claudia bezieht sich außerdem auf ihre früheren Panikattacken. Sie habe mit den Attacken „angefangen“ (Claudia, T1620), also aktiv dazu beigetragen, während diese „sukzessive weniger geworden“ (Claudia, T1649) sind und sich somit von selbst verringerten. Im Hinblick auf das Erbrechen formuliert Claudia ebenso ein passives Ende, gleichzeitig aber ein aktives Geschehen: „Sicher bis vor drei, vier Jahren, dann hat es sich eingestellt. Aber nicht von selber (lachend)“ (Claudia, T39‒T41). Silvia schildert verschiedene Aktivitätsaspekte des Überwindungsprozesses: eine Art spielerische Abwehr, da sie eine neuerliche Erkrankung „rechtzeitig abfangen“ (Silvia, T810) konnte, wofür sie sich jedoch „zusammenreißen“ (Silvia, T822) musste. Für die Abwehr waren somit auch ihre Disziplin und ihr Bemühen erforderlich (Silvia, T819). Neben den einzelnen passiven Formulierungen stehen in den Geschichten die Aktivität und Anstrengung im Vordergrund. Es wird von den Personen immer wieder vom „Kampf“ (Melina, 21) gesprochen, besonders davon, dass die Bulimie „schwerer zu besiegen“ (Alena, 35) sei als die Anorexie. Alena meint, sie werde immer „aufpassen“ (Alena, 115) müssen, auch wenn sie sich aktuell „gesund“ und „stabil“ (Alena, 115) fühle. Dieses Empfinden macht wiederum die Macht der Essstörung deutlich. Die Überwindung der Essstörung ist somit „nicht etwas, das einem zufällt“ (A. K. in Frauke, 1780), also kein Zufall. Vielmehr blickt Alena auf „harte Arbeit“ (Alena, 1527) zurück, in denen sie mit verschiedenen förderlichen Einflüssen aus der Essstörung gefunden hat (Alena, 1395). Karin beschreibt ihren Weg aus der Essstörung als langwierigen Kampf, der auch etwas Undefinierbares hat: Sie habe sich „irgendwie ein bisschen durchgekämpft“ (Karin, T263f.; Hervorhebung A. K.) und „immer wieder versucht, das Gewicht in den Griff zu bekommen“ (Karin, T331f.). Für das Erfordernis von Anstrengung spricht auch, dass bei Anja die „Umpolung“ (vgl. Anja, T215) ihres Mannes nicht nachhaltig wirksam war. Er richtete einen bestimmenden Appell im Hinblick auf die

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Verantwortung für ihre Kinder an sie (Anja, T192‒T196): „Mit dem Satz ,Du hast ja Kinder!‘ hat er mich wieder umgepolt“ (Anja, T213‒T215). Diese (erwünschte) Radikalität der Veränderung steht jedoch der Langwierigkeit des Weges aus der Essstörung entgegen. So meint Alice: „Es ist halt manches schon so automatisiert, und ich glaube, das geht dann nur in kleinen Schritten, dass man das vielleicht wegkriegt“ (Alice, T400f.). Demnach bringt Alice die erforderliche Aktivität mit der Gewohnheit und diese wiederum mit der Langwierigkeit der Essstörung in Zusammenhang. Darin sieht sie die Gefahr der Chronifizierung, womit die Empfindung der Essstörung als Teil des Selbst zu erklären ist (Alice, T172‒T174, T1584‒T1588). Der Weg ist mitunter „zäh“ (Alena, 1561), sodass diese Anstrengung ermüden kann. Dies wird bei Melina deutlich, wenn sie erzählt, es sei eine Zeitlang „schleppend dahingegangen“ (Melina, 41). Außerdem kann es dabei wieder „bergab“ (Melina, 595) gehen und einen „Rückschlag“ (Anita, 436), einen „Rückfall“ (Lia, 657) geben, wie es auch Marianne ausdrückt: „Ich habe zwischendurch immer wieder so Phasen gehabt, in denen ich komplett eingebrochen bin“ (Marianne, 471). Wenngleich „immer wieder Versuche gestartet“ (Marianne, 46) werden müssen und die Betroffene noch „auf der Suche“ (Marianne, 74) nach ihrem Weg ist, sind Rückfälle nicht als ein Zurückfallen, sondern vielmehr als Teil des Vorwärtsgehens zu sehen. Sich nicht davon entmutigen zu lassen, sondern solche Situationen anzunehmen, hat Lia als sehr hilfreich empfunden: Ganz wichtig war auch, das zu akzeptieren, wenn ich einen Rückfall habe; dass es okay ist, wenn ich mich irgendwann übergeben muss, und dass das keine weitere Bedeutung hat. Oft einmal habe ich gedacht: ,Das ist vorbei‘, und Monate später war ganz plötzlich irgendwas, was mich furchtbar erschüttert hat, und ich habe mich dann plötzlich wieder übergeben müssen. Aber es war nicht weiter schlimm, weil das war einmal, und dann war es eben nicht mehr. Für das nächste Jahr oder so. (Lia, 657‒659)

Die Aktivität der Betroffenen im Rahmen der Überwindung wirkt zwar der Macht der Essstörung entgegen, kann allerdings aufgrund von deren Hartnäckigkeit und Langwierigkeit nicht alleinig ausreichend sein, um sich von dieser zu befreien: „Ich hab's nicht wirklich weggebracht“ (Alice, T111f.). Hierzu trägt außerdem ein verzögerter Therapiebeginn bei, wie es bei Karin aufgrund der Abklärung der Finanzierung sowie der Wartezeit auf den Therapieplatz der Fall war (Karin, T565‒T579). Alice beschreibt den Weg aus der Essstörung insgesamt mehr als Befreiung von der Symptomatik und nicht als Zugehen auf die eigenen Wünsche und Vorstellungen, sehr wohl jedoch mit Schritten in ein Leben ohne Essstörung. So war es ihr Ziel, die Essprobleme, die Essstörung loszuwerden und den „Essensplan aufzulösen“ (Alice, T348). Eine aktivere Form des Loswerdens ist, sich aus dem Stress oder der depressiven Stimmung „selbst rauszuholen“ (vgl. Alice, T946f.). Jedenfalls lohnt sich die Mühe, wie Frauke in folgender Aussage mit Freude feststellt: „Ich habe mir im Nachhinein schon gedacht: ‚Pah, da bin ich echt ein ganz schönes Stückerl weitergekommen!‘ “ (Frauke, 625). Außerdem bereitet nicht nur die Überwindung Mühe, sondern auch die Essstörung selbst aufgrund des kontrollierenden Verhaltens: „Es ist extrem anstrengend, immer auf sein Gewicht zu achten; immer diese Sorge, wenn man Essen vor sich hat, und dann immer zu überlegen: ‚Okay, wie viele Kalorien hat das jetzt? Passt das in meinen Tagesbedarf?‘ “ (Rebecca, T194‒T198).

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8 Wegverläufe

Doch nicht nur das kontinuierliche aktive Tun und Lernen durch tägliche Erfahrungen tragen zur Überwindung der Essstörung bei, sondern diese ereignet sich auch und ist zu einem gewissen Teil ein Geheimnis (u. a. Alena, 1373). Die teilweise Unkontrollierbarkeit kann das Einwirken von förderlichen Einflüssen auf die Überwindung überhaupt erst ermöglichen: Man kann nicht ‒ Gott sei Dank vielleicht ‒ alles kontrollieren und beeinflussen im Leben. Weil hätte ich es kontrollieren können, ich schwöre es dir: Ich hätte es gemacht. Und ich habe mich gut bemüht, aber ja (lachend). Das Leben hat was anderes vorgehabt. (Claudia, T2614‒T2623)

8.1.3 Wendepunkte und Wendeprozesse Wenden auf dem Weg aus der Essstörung können punktuell, das heißt innerhalb kurzer Zeit, auftreten und sind in diesem Fall als Wendepunkte zu bezeichnen. Darüber hinaus gibt es prozesshafte Wenden, wobei ein Prozess als eine Aufeinanderfolge von einzelnen punktuellen Veränderungen gesehen werden kann. Dementsprechend lässt sich häufig eine Kombination von punktuellen und prozesshaften Anteilen im Rahmen einer Wende erkennen. Die Personen sprechen bei einem Wendepunkt auch von einem „springenden Punkt“ (vgl. Ina, T342), „Schlüsselerlebnis“ (Anika, 793), „Schlüsselmoment“ (Claudia, T1819) oder einer „Schlüsselerfahrung“ (Anika, 767). Jasmin stellt im Gespräch die Nachfrage, ob „positive oder negative“ (vgl. Jasmin, T1778) Wendepunkte gemeint seien. Damit dürfte sie die Wendepunkte nach der Wirkung der darauf folgenden Ereignisse unterscheiden. Außerdem erwähnt sie „direkte Wendepunkte“ (Jasmin, T1782), mit denen sie konkrete Handlungen anstatt der erst geplanten Veränderungen verbindet: Direkte Wendepunkte? Als ich es mir nur gedacht oder auch gehandelt habe? (lacht) Das sind nämlich bei mir ganz große Unterschiede, weil ich mir oft so viele Sachen als Ziel setzen oder so viel vorstellen würde, aber langsam an die ganzen Sachen gehen muss. (Jasmin, T1782‒T1792)

Wendepunkt als Teil eines Prozesses Wie der Weg aus der Essstörung insgesamt ein längerer, mit dauerhaft unterstützenden Erfahrungen war, zeigt sich auch die Wende mehr als kontinuierliches Geschehen, wenngleich einzelne einschneidende Ereignisse, wie Biancas Herzstillstand, stattfanden. Den Personen ist weniger im Sinne von Wendepunkten „voll der Knopf aufgegangen“ (Frauke, 1549), dennoch sprechen sie auch von konkreten Zeitpunkten der Veränderung. Beispielsweise entschieden sie sich für eine Therapie oder haben „gecheckt“ (Alena, 1327), welche Möglichkeiten jenseits der Essstörung offenstehen, nämlich: „dass ich einfach mein Leben selber gestalte ‒ mit meinen Gedanken, mit meinen Handlungen, die ich setze“ (Alena, 1327; vgl. Marianne, 515). Daraus geht hervor, dass ein wahrgenommener Wendepunkt Teil eines längeren Prozesses ist. So ist Alena mit der Übernahme der Verantwortung und der Selbstgestaltung

8.1 Verlaufsdynamiken

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ihres Lebens aktiv „in die Gesundheit gegangen“ (Alena, 1395). Außerdem kann punktuellen Ereignissen ein Prozess der Wende folgen: dem Kennenlernen eines Partners das Entstehen einer wohltuenden Partnerschaft; dem Beginn einer Therapie der anschließende Therapieprozess; der Entscheidung für einen anderen Wohn-, Arbeitsort oder dem Distanzieren von Personen eine hilfreiche sukzessive Lebens- und Beziehungsveränderung. Im Unterschied zum vorangegangenen Erkrankungsprozess, bei dem die Ohnmacht der Betroffenen im Vordergrund steht, geht die Wende von der Person selbst aus, indem die Betroffenen (wieder) beginnen, ihr Leben aktiv und selbstbestimmt zu gestalten. Da die Personen in den Gesprächen auf die Frage nach Wendepunkten häufig förderliche Aspekte, die über die Zeit hinweg eine Veränderung begünstigten, nennen, ist von einem engen Zusammenhang zwischen diesen Aspekten und prozesshaften Wenden auszugehen. Durch die Präsenz hilfreicher Einflüsse kann sich eine prozesshafte Wende ereignen, wobei sich das bewusste Erfahren der wohltuenden Wirkung von (mehreren) Einflüssen wie ein Wendepunkt anfühlen kann. Momente der Bewusstwerdung Zu unterscheiden sind somit die sich mehr prozesshaft ereignenden Veränderungen von den Momenten der Bewusstwerdung. Letztere stehen häufig mit dem Leidensdruck durch die Essstörung in Zusammenhang, der die eigene Betroffenheit und den Handlungsbedarf erkennen lässt. Außerdem können bedeutsame Ziele zu bewussten Veränderungen führen. Die Bewusstwerdung bezieht sich nicht nur auf leidvolle Zustände, sondern rückblickend auch auf die bereits gelungene Umsetzung im Alltag, beispielsweise die Reduktion bzw. Elimination von Essanfällen. Die Personen stellen diese Momente wie eine plötzliche „Erkenntnis“ (Alena, 1327) dar und verwenden dafür häufig Formulierungen wie: „klick gemacht“ (Marina, 274; Melina, 965, 971), es „überrissen“ (Melina, 245), „gecheckt“ (Alena, 1327; Marianne, 515) zu haben. Marlies schildert eine Erschütterung durch das erst nach jahrelanger Bulimie eintretende Erkennen der eigenen Betroffenheit, woran die häufig lange Dauer der Erkrankung und die erst späte Inanspruchnahme von Unterstützung deutlich werden. Ihre Erschütterung ist damit zu erklären, dass sie nach außen immer als stark galt und gelten wollte. In dieses Bild passte die Essstörung für sie jedoch nicht. Diese allmähliche Zuspitzung wird auch bei Claudia deutlich, indem sie einen unklaren Zeitpunkt der Erkenntnis nennt: „dass dir irgendwann einmal bewusst wird, dass du dir ja selber eigentlich ständig Verletzungen zufügst“ (Claudia, T2255‒T2257; Hervorhebung A. K.). Sie verwendet häufig die Formulierung „Das geht sich nicht aus“ (Claudia, T23), wenn ihr die Notwendigkeit einer Veränderung aufgrund körperlich spürbarer Konsequenzen des Essverhaltens, beispielsweise in Form von Verdauungsproblemen, bewusst wurde (Claudia, T17‒T26). Anja hingegen bezieht sich weniger auf die Essstörung im engeren Sinn, sondern auf ihre Einsamkeit, die sie in einem Moment während ihrer Auseinandersetzung mit sich selbst erkannte und traurig stimmte.

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8 Wegverläufe

Neben leidvollen Erfahrungen können bedeutsame Ziele den Veränderungsbedarf bewusst werden lassen. Alena beschreibt die Wende vom Selbst-Hass zur Selbst-Freundschaft ‒ ein Begriff, den auch der Philosoph Wilhelm Schmid verwendet, wenn er über die „Lebenskunst im Umgang mit sich selbst“ (Schmid, 2007, 2018) schreibt. Diese Selbst-Freundschaft konnte für Alena beginnen, als sie die Bedeutung dieser Entwicklung sah: „Irgendwann habe ich geschnallt, dass ich mir selber meine beste Freundin sein muss. Dann hat dieses selbstzerstörerische Verhalten eigentlich keinen Platz mehr, und seitdem ist es gut“ (Alena, 129; Hervorhebung A. K.). Bei Ina war es der Wunsch nach einer Schwangerschaft, wodurch sich der „Schalter natürlich umgelegt“ (Ina, T485) habe, da sie dafür bereits im Vorfeld auf eine ausreichende Nahrungsversorgung achten wollte (Ina, T496f.). Eine weitere plötzliche Erkenntnis hatte sie außerdem am Beginn ihres Studiums, als sie sich ihres Interesses mit Hilfe der vorherigen Rückmeldungen ihres Mannes sicher wurde: Da bin ich dann irgendwie draufgekommen, auf einmal hat es so klick gemacht: auch durch meinen [Mann], durch das Kennenlernen und dadurch, dass der mich auf einmal für Sachen anerkannt hat, für die ich vorher nie Anerkennung gekriegt habe. Für die künstlerische Ader zum Beispiel. […] Dann habe ich gesehen, da gibt's vergleichende Literaturwissenschaft. Das war irgendwie so: ,Ah, jetzt habe ich endlich meinen Weg gefunden!‘ (Ina, T1741‒T1745, T1750‒T1753; Hervorhebung A. K.)

Diese Bewusstwerdung stand somit am Beginn ihres Weges aus der Essstörung, der gleichzeitig ihren Weg zum eigenen Maß darstellte. Es habe jedoch einige Zeit gedauert, sich das Leben des eigenen Maßes zuzugestehen. So konnte sie sich erst allmählich von der Fokussierung auf das Aussehen distanzieren (Ina, 2100f.). Das Zulassen einer längerfristigen Veränderung kann somit ein einmaliger oder sich auf dem Weg wiederholender bewusster Moment sein. Nicht nur der Blick auf erforderliche oder gewünschte Veränderungen sowie deren Umsetzung, sondern auch bereits gelungene Schritte werden auf dem Weg aus der Essstörung erkannt bzw. sichtbar. In Lias Beschreibung geht einem solchen Punkt der Selbst-Erkenntnis eine längere und intensive Arbeit an sich im Sinne einer Selbst-Annäherung voraus: „Durch das, dass ich mich dann viel mit mir selber auseinandergesetzt habe, glaube ich, bin ich einfach irgendwie zu dem Punkt gekommen, dass ich irgendwann so weit war zu sagen: ,Es ist okay so, wie du bist!‘ “ (Lia, 627). Insbesondere die mit den Veränderungen verbundene Entlastung auf dem Weg aus der Essstörung steht im Zentrum der Bewusstwerdung. Dieses Erkennen ereignet sich des Öfteren zu einem späteren Zeitpunkt des Überwindungsprozesses oder überhaupt erst im Rückblick auf die Essstörungserfahrung (u. a. Melina, 245). So erzählt Lia von einem Erlebnis der Langeweile, das sie wenige Tage vor dem Gespräch hatte, als zwei Studienkolleginnen über Essen und Sport sprachen. Sich nicht mehr für diese Themen zu interessieren, sei für sie eine sehr beglückende Erfahrung gewesen (Lia, 23‒35). Somit wurden den Personen einige Aspekte erst unmittelbar vor dem Gespräch oder während des Gesprächs bewusst. Zum Beispiel erkennt Nina beim Erzählen das zumindest teilweise hilfreiche Potential des stationären Aufenthalts, den sie jedoch insgesamt als schwierig schildert (Nina, T1793f.). Karin bezieht sich in ihrer Aussage auf das Übergehen eigener Bedürfnisse, das sie nun durch ihre inzwischen andere Lebensweise

8.2 Entwicklungen in den Selbst-Umfeld-Lebensbeziehungen

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sieht. Sie meint zu ihrer geringen körperlichen Energie, die sie in einer intensiven Diätund Sportphase hatte: „Damals ist es mir natürlich nicht so aufgefallen, aber im Nachhinein betrachtet“ (Karin, T73‒T75). Die genannten Beispiele legen nahe, dass besonders das Bewusstwerden von schwierigen Erfahrungen einerseits und von bereits erreichten Entwicklungen andererseits überwiegend erst zu einem späteren Zeitpunkt gegeben ist. Denn durch die lange Dauer der Essstörung wird die erlebte Belastung zu einem alltäglichen, dem Leben inhärenten Teil, und der hohe Leistungsanspruch der Person an sich selbst lässt die gegangenen Schritte als nichtig erscheinen. Das Phänomen der späten Bewusstwerdung trifft aber auch auf Themen zu, die über die Essstörung im engeren Sinn hinausgehen und relevant für die persönliche Entwicklung waren und sind. Irina erkannte in der Zeit vor dem Gespräch, dass Drogen für sie früher ein Weg des achtsamen Umganges mit sich selbst waren: „Das ist mir in letzter Zeit erst bewusst geworden: Was die Droge damals mit mir gemacht hat, war so, dass ich auf mich selbst sehr geachtet habe und dass ich zufrieden war“ (Irina, 1809). Auch Claudia nennt die noch vorhandene Unsicherheit im Hinblick auf die Wahrung der Grenzen von anderen als wichtige Erkenntnis im Vorfeld des Gesprächs (Claudia, T1328‒T1354). Außerdem meinte Tamina nach ihrer Erzählung, dass ihr erst währenddessen wieder einige Aspekte ihrer Geschichte, die sie bereits unmittelbar zuvor beunruhigt hatten, insbesondere im Hinblick auf ihre Mutterbeziehung, bewusst geworden seien. Diese Erfahrung könnte Teil ihres, zu dieser Zeit von ihr so erlebten, Wendepunktes sein, zu dem das Ende der Partnerbeziehung wesentlich beitrug (Tamina, 1967). Besonders berührend war in den Gesprächen das Glücksgefühl, das die Personen beim Erkennen ihrer positiven Entwicklung empfanden und ausdrückten. Es erfüllte sie zu Recht auch mit Stolz. 8.2 Entwicklungen in den Selbst-Umfeld-Lebensbeziehungen Auf Basis der Wegetappen, die im Modell zu persönlichen Entwicklungswegen aus der Essstörung beschrieben werden, lassen sich bei deren Betrachtung im zeitlichen Verlauf verschiedene Hauptentwicklungslinien in den Selbst-Umfeld-Lebensbeziehungen festhalten. Diese werden durch die in Kapitel 7.2 genannten hilfreichen Aspekte positiv beeinflusst, mitunter überhaupt erst ermöglicht. Darüber hinaus äußern sich die Gesprächspersonen folgendermaßen zu ihrem eigenen Verständnis von Entwicklung: Ihre Veränderungen könnten auch durch das Älterwerden, jenseits der Essstörung, bedingt sein; manche von diesen empfinden sie als positiv, andere als negativ; häufig sprechen die Personen von einem Lernprozess, und vor allem ist ihnen die Kontinuität dieses Prozesses im Leben bewusst. Diese Auffassungen sind Inhalt des ersten Unterkapitels, ebenso Formen von SelbstEntwicklungen, die die Personen beschreiben. Dazu gehören das Entdecken; Gestalten inklusive Erfinden und Neudefinieren; Verwirklichen; Verbinden/Ganz-Werden bzw. Ganz-Sein. Die genannten Selbst-Entwicklungsformen werden in Bezug zum Begriff des Entfaltens gesetzt und fließen in die Erläuterungen der folgenden drei Hauptentwicklungslinien in den Selbst-Umfeld-Lebensbeziehungen ein (s. Kapitel 8.2.2 bis Kapitel

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8 Wegverläufe

8.2.4): 1) das eigene Maß finden und leben; 2) in sich selbst stabil werden; 3) zur Sprache kommen und sichtbar werden. Entsprechende Aspekte aus den einzelnen Etappen werden erneut aufgegriffen und als Verlaufsentwicklung dargestellt. Das letzte Unterkapitel 8.2.5 umfasst Ausführungen zur Wende und zum Verlust als weitere Selbst-Entwicklungen, bei denen mehr die erlebten Einschränkungen als positive Veränderungen im Vordergrund stehen. Die beschriebenen Entwicklungen im zeitlichen Verlauf der Wegetappen sind in Tabelle 2 veranschaulicht. Tabelle 2

Entwicklungen in den Selbst-Umfeld-Lebensbeziehungen im zeitlichen Verlauf (eigene Darstellung)

Entwicklungen des Entfaltens in den Selbst-Umfeld-Lebensbeziehungen Formen des Selbst-Entfaltens: Entdecken, Gestalten (inkl. Erfinden und Neudefinieren), Verwirklichen, Verbinden/Ganz-Werden, Ganz-Sein

Das eigene Maß finden und leben Entdecken, Gestalten (inkl. Erfinden und Neudefinieren), Verwirklichen äußere Maßstäbe

Maßgabe der Essstörung

Selbst-Maß-Nahme

In sich selbst stabil werden Verbinden/Ganz-Werden, Ganz-Sein Überforderung und Verunsicherung

äußere Stabilisierung

Selbst-Stabilität (Stabilität in sich selbst, Selbst-Ständigkeit)

Zur Sprache kommen und sichtbar werden Gestalten, Verwirklichen, Verbinden/Ganz-Werden Schweigen und Unauffälligkeit

Essstörung als Sprache

Sprechen (über die Essstörung) und Sichtbarkeit als Person

Selbst-Entwicklungen, die nicht/nur bedingt dem Entfalten zuzuordnen sind Wende sprunghafte persönliche Veränderung (180-Grad-Wende)

Verlust Selbst-Verlust durch eingeschränkte Grenzsetzung in Beziehungen Lebensversäumnisse und Kosten an Lebenszeit fehlende Verbindung zu persönlichen Anteilen (z. B. zum kindlichen Anteil)

8.2 Entwicklungen in den Selbst-Umfeld-Lebensbeziehungen

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8.2.1 Auffassungen und Formen von Selbst-Entwicklung In den Gesprächen wird die umfassende Sicht der Personen auf die Entwicklungsaufgaben in verschiedenen Lebensphasen anstatt einer Fokussierung auf die Essstörung und ihrer Zusammenhänge deutlich. Auf Basis ihrer Äußerungen stellte sich im Laufe der Auswertung zudem die Frage, ob die Überwindung der Essstörung mit einer persönlichen Entwicklung einhergeht oder ob die Überwindung eine persönliche Entwicklung ist. Angesichts des Verständnisses als über die Symptomfreiheit hinausgehend, umfasst die Überwindung der Essstörung eine Veränderung, die sich nicht nur auf der äußerlich sichtbaren Körper- und Verhaltensebene, also in der Symptomatik, sondern auch im psychischen Sinne vollzieht. Diese Veränderung kann sich entweder auf das Wesen der Person oder lediglich auf dessen Sichtbarkeit für die Person selbst sowie für andere beziehen (Irina, 2207‒2211). Im letztgenannten Fall kommt die vorhandene Eigenart jenseits der Erkrankung und Anpassung mehr zum Vorschein. Die Überwindung ist hier aber nicht mit einer persönlichen Veränderung der Person an sich gleichzusetzen. Dennoch bedarf es zumindest eines anderen oder überhaupt eines Zugangs zu sich selbst, um sich anderen zeigen zu können und mit dem eigenen Wesen nicht mehr im Verborgenen zu bleiben. Mit anderen Worten: Im Rahmen der Annäherung sich selbst und anderen gegenüber, als wichtige Aspekte der Überwindung, kommt die Person mehr zu ihrem Ausdruck, entweder mit oder ohne einer wahrgenommenen persönlichen Veränderung. Allgemeine Sichtweisen auf Selbst-Entwicklung Die Personen äußern Überlegungen, ob insbesondere ihre Veränderungen in der Beziehung zu sich selbst und in den Beziehungen zu anderen auf den Prozess des Älterwerdens anstatt auf die Essstörung und deren Überwindung zurückzuführen sein könnten. So gibt Nina zu bedenken, dass sie nicht beurteilen könne, ob sie sich ohne Essstörungserfahrung anders entwickelt hätte (Nina, T1584f.). Claudia meint zur SelbstBeziehung: „Was sich natürlich verändert hat, ist, man wird grundsätzlich ein bisschen egoistischer, glaube ich. Aber ob das vielleicht mit dem Alter zusammenhängt oder so, weiß ich jetzt nicht“ (Claudia, T2310‒T2313). Im Hinblick auf ihre Freundschaftsentwicklungen fügt sie hinzu: „Was sich schon ändert ‒ aber das, glaube ich, kann auch nur mit dem Alter zu tun haben ‒, dieser Freundeskreis minimiert sich eher, weil man, glaube ich, also ich jetzt, so ein bisschen die oberflächlichen Kontakte auslaufen lässt“ (Claudia, T2317‒T2323; vgl. Charlotte, T1359‒T1377). Rebecca erwähnt einen weiteren Zusammenhang mit dem Alter und zwar in Bezug auf das Sprechen über die Essstörung: Dass sie sich diesbezüglich früher nicht öffnete, könnte einerseits am damaligen anderen Freundeskreis, andererseits an ihrem jüngeren Alter liegen. Ein Argument für die letztgenannte Überlegung von Rebecca ist, dass der Umgang mit Betroffenen für Jugendliche eine noch größere Überforderung als für Erwachsene darstellen kann. Außerdem befinden sich die Betroffenen in diesem Alter meist am Beginn ihrer Erkrankung, an dem, altersunabhängig, noch mehr Zurückhaltung in Bezug auf das Aussprechen der Problematik erkennbar ist. An anderer Stelle äußert Rebecca einen Einfluss des Alters auf das Ausdrücken eigener Wünsche: „Ich hätte zum Beispiel, wie gesagt,

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8 Wegverläufe

dieses Weibliche mehr gebraucht, was ich dem Therapeuten nicht sagen konnte, weil ich noch viel jünger war zu der Zeit“ (Rebecca, T1234‒T1236). Nicht nur das Vermögen, eigene Wünsche und Bedürfnisse mitzuteilen, sondern auch das Wissen um diese werde mit den Jahren größer (Ina, T977). Die Personen sprechen darüber hinaus von Reife, die einerseits durch das fortschreitende Alter entstehe, andererseits durch Veränderungen im Rahmen der Überwindung, womit natürlicherweise auch das Älterwerden verbunden ist. So formuliert Karin, durch die Essstörungserfahrung „ein gewisses Maß an Reife gewonnen“ (Karin, T3084) zu haben. Reife geht jedoch nicht unbedingt mit dem Alter einher, wie es Rebecca in Bezug auf ihre Schwester ausdrückt: „Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie eigentlich viel reifer ist als ich, obwohl sie viel jünger ist. Aber von der halte ich schon echt viel“ (Rebecca, T1726‒T1728). Auch in den Gesprächen zeigt sich, dass diese Reife als Form der persönlichen Entwicklung nicht altersspezifisch ist, da ähnliche Erkenntnisse von Personen unterschiedlichen Alters geäußert werden. Dieses Ergebnis steht somit in Übereinstimmung mit Untersuchungen zum posttraumatischen bzw. persönlichen Wachstum, das in Zusammenhang mit schwierigen Lebenserfahrungen über die gesamte Lebensspanne hinweg gesehen wird. Ebenso ist Weisheit nicht ausschließlich sowie naturgemäß mit dem (höheren) Alter assoziiert (s. Kapitel 3.3). Im Hinblick auf die Essstörung unterscheidet Karin zwischen einer positiven und negativen Entwicklung (Karin, T3047f.). Als negativ empfindet sie die Kosten der Essstörung, beispielsweise an Lebenskraft und Optimismus (Karin, T3056‒T3075; vgl. Grete, T200‒ T204). In ihrer Erzählung ist ein Hinweis darauf zu finden, dass sich die positive Sicht auf die eigene Essstörungserfahrung eher erst im Laufe der Zeit entwickelt und diese damit als ein Zeichen der Überwindung zu interpretieren ist. Karin spricht als Veränderung die gewonnene Stärke an: „Die Frage sind wir in der Therapie auch durchgegangen. Da hab ich die ersten fünf Male, glaube ich, gesagt: ,Gar nichts Positives hat's mir gebracht!‘ Mittlerweile denke ich, dass ich schon einen Kampfgeist entwickelt hab“ (Karin, T3102‒T3108). Die persönliche Entwicklung ist zudem durch Meilensteine gekennzeichnet. So verwendet Karin mehrmals im Gespräch den Ausdruck „Level“ (Karin, T1119, T1301), an dem konkrete Veränderungen stattgefunden haben bzw. bewusst werden. Hierzu nennt sie als Beispiele den inzwischen gefundenen eigenen Essrhythmus (Karin, T1301‒T1303, T1332‒T1338) und die Bereitschaft, in der Selbsthilfegruppe über ihre Betroffenheit zu sprechen (Karin, T1118‒T1120). „Einen guten Punkt“ (Karin, T907) erreichte sie außerdem, als die Begleitung der Therapeutin für sie nicht mehr erforderlich war. Diese Meilensteine sind durch kontinuierliche Erfahrungen zu erreichen, wobei die Personen häufig von einem Lernprozess sprechen. Ein solcher wird unter anderem im Hinblick auf die Selbst-Annäherung beschrieben (u. a. Nina, T1608‒T1610). Anja bezieht sich dabei konkret auf ihren Körper, dessen Akzeptanz ein „großer Lernprozess“ (Anja, T708) für sie war. Doch jetzt kann sie sagen: „Ich mag diesen Körper. Ich mag ihn jetzt“ (Anja, T703). Diese Entwicklung im Rahmen der Überwindung kann an ein Kind am Beginn seines Lebens erinnern: „An manchen Tagen bin ich aufgewacht und hab das Gefühl gehabt, ich bin ein Mensch, der gerade mehr oder weniger das Leben lernt“ (Karin, T2731‒T2734). Zu differenzieren ist dabei, ob der Lernprozess den eigenen Wünschen oder äußeren Vorgaben folgt:

8.2 Entwicklungen in den Selbst-Umfeld-Lebensbeziehungen

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Ich hab das Gefühl, dass ich mir schon sehr, sehr, sehr viel nähergekommen bin, aber dass ich noch im Entwicklungsprozess bin. Dass ich auch zum Beispiel viel mehr hinterfrage: ‚Okay, kommt das wirklich von mir oder hab ich das mehr oder weniger einfach so gelernt.‘ Da weiß ich schon, dass ich mich extrem weiterentwickelt hab. (Karin, T2766‒T2774)

Der Weg zum Leben eigener Wünsche ist demnach ein Lernprozess. Karin hat beispielsweise im Laufen ihre frühere Begeisterung wiedergefunden und diese verwirklicht (Karin, T2755‒T2760). Wie in anderen Bereichen, beispielsweise beim Essen, kann es im Rahmen der Sportausübung des (Wieder-) Erlernens des eigenen Maßes bedürfen, wenn dieses zuvor missachtet wurde (Marianne, 397). Möglicherweise aufgrund ihrer Sportbegeisterung beschreibt Karin das Lernen als eine Entwicklung mit einer stark aktiven Komponente und vergleicht es mit dem Trainieren im Fitnessstudio. Durch Üben konnte sie „Taktiken“ (Karin, T2818) erlernen, die sie zu ihren Bedürfnissen „zurückfinden lassen“ (Karin, T2819). Hierin wird das Finden des eigenen Gleichgewichts als Bewegung deutlich, die immer wieder zum Selbst zurückführt. Nicht nur die Auseinandersetzung mit sich selbst, sondern auch Umfeldbeziehungen werden als Übungsfeld gesehen. Anja beschreibt das Lernen aus eigenen Erfahrungen mit ihrer Mutter im Hinblick auf ihre Beziehung zu ihren eigenen Kindern (vgl. Jasmin, T2371f.): Da war dieser Satz prägend von meiner Mutter, als ich achtzehn wurde: „Jetzt bist du nicht mehr mein Kind.“ […] Das hat mich so geprägt, dass ich zu meinen Kindern gesagt habe: „Mir ist egal, wie alt ihr seid. Du bist meine [Tochter], du bist mein [Sohn], und du bist meine [zweite Tochter]!“ (Anja, T1146f., T1152‒T1154)

Ina meint am Beispiel ihrer Beziehung zur Mutter, dass zu viel Nähe „einfach nicht gut für die Entwicklung von einem jungen Menschen“ (Ina, T249f.) sei. Damit verallgemeinert sie ihre eigene Erfahrung auf „junge Menschen“ (vgl. Ina, T250). Sie nennt eine weitere Beeinflussung der persönlichen Entwicklung durch frühe Beziehungen und Merkmale des Umfeldes: Ihre Persönlichkeit habe durch „Konkurrenz“ (Ina, T35) und „Wetteifern“ (Ina, T34) mit den Geschwistern um die Aufmerksamkeit der Eltern „schon ein bisschen eine Richtung bekommen“ (Ina, T37f.). Außerdem können Beziehungserfahrungen in Partnerschaften einen Lernprozess anregen. Anja sieht einen früheren Partner als ihr „Lernstück“ (Anja, T2071, T2073). Es lässt sich jedoch nicht nur Neues lernen, sondern es können auch „viele schlechte Sachen“ (Anja, T2086), womit sie auf schwierige frühe Erfahrungen anspielt, „verlernt“ (vgl. Anja, T2086) werden. Hier spricht Anja die Wirkung von korrigierenden emotionalen Erfahrungen an, wie diese in der Psychotherapie bezeichnet werden (Alexander & French, 1946; Pfammatter et al., 2012). Letztlich hat der persönliche Entwicklungsprozess, sowohl im Hinblick auf seine Richtung als auch zeitlich gesehen, ein offenes Ende. Wenngleich Karin bereits mehr SelbstWertgefühl entwickeln konnte, erwähnt sie die Notwendigkeit, „immer dran feilen“ (Karin, T1766) zu müssen. Die Überwindung oder vielmehr die persönliche Entwicklung ist demnach ein fortwährender Gestaltungsprozess. Auch Grete beschreibt diese Of-

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fenheit, die ihr durch eine Anregung ihrer Beraterin bewusst wurde: „Wenn man einmal damit angefangen hat, dann ist es ein Weg, den man geht. Man geht da weiter, und er wird nie fertig sein“ (Grete, T2223‒T2225). Formen von Selbst-Entfalten Die Äußerungen der Personen im Hinblick auf die Selbst-Entwicklung weisen auf verschiedene Formen bzw. Ausprägungen des Selbst-Entfaltens hin. Anders als im Kapitel 7.3.5, in dem die Entfaltung als sichtbares Merkmal des Gleichgewichts in den SelbstUmfeld-Lebensbeziehungen erläutert wurde, erfolgen an dieser Stelle Ausführungen zur Entwicklung des Entfaltens. Die Begriffe „Entdecken“ (Alena, 1375), „Gestalten“ (Anika, 765) und „Verwirklichen“ (Anika, 765) bzw. die Formulierung, „ich sein zu können“ (vgl. Irina, 2193; 2191‒2201), bezeichnen verschiedene Umsetzungsweisen eigener Wünsche und Potentiale als Kennzeichen der Selbst-Entfaltung. Das Entdecken verwendet Alena im Zusammenhang mit dem (Wieder-)Finden eines vorhandenen, aber nicht sichtbaren, da von der Essstörung verdeckten, Selbst. Es könnte aber auch ein Neuentdecken sein. Beim Gestalten wird etwas Vorhandenes verändert, beim Verwirklichen ein eigener bereits vorhandener oder neuer Wunsch umgesetzt. Hierbei spricht Tamina auch vom Leben ihrer „Individualität“ (Tamina, 1380). „Erfinden“ (Anika, 767) und „Neudefinieren“ (Anika, 767) können stärker ausgeprägte Formen des Gestaltens und damit Ausdrucksweisen der Selbst-Entfaltung sein, sofern diese als Erweitern und Verändern des Selbst verstanden werden. Eine Erfindung und Neudefinition im Sinne einer Neuerschaffung hingegen widerspricht der Auffassung des Selbst als überdauernd, ebenso den Äußerungen der Personen. Das Verbinden oder Ganz-Werden ist insofern als Selbst-Entfalten zu sehen, da die miteinander „ausgesöhnten“ (Bianca, 161) anstatt miteinander kämpfenden SelbstAnteile das Verfolgen eigener Wünsche und Ziele erleichtern oder überhaupt erst ermöglichen. Ebenso kann der Begriff des Ganz-Seins eingeordnet werden, worunter Irina ihr Vermögen versteht, keiner anderen Person als Ergänzung zu bedürfen, um sich selbst ganz zu fühlen (Irina, 2243‒2255). Im Unterschied dazu bezieht sich das zuvor angesprochene Verbinden auf persönliche Anteile, die sich annähern und zusammenwirken. Wie die anderen Formen, deren Bezeichnungen den Prozesscharakter (z. B. Ganz-Werden) mehr hervorheben, ist auch das Ganz-Sein kein feststehendes Endresultat, sondern das Ergebnis eines fortlaufenden Prozesses (s. Kapitel 3.4). Es handelt sich somit um einen immer wieder neu geschaffenen Zustand, so wie das Gleichgewicht im Rahmen des Modells aufgefasst wird (s. Kapitel 5 und Einleitung des Kapitels 7.3). Die beschriebenen Selbst-Entwicklungsformen können als verschiedene Stadien des Selbst-Entfaltens, das dementsprechend einen Überbegriff darstellt, verstanden werden: Während beispielsweise das Entdecken am Anfang steht, ist das Verwirklichen ein bereits aufrechter Prozess des Selbst-Entfaltens. Die einzelnen Aspekte sind jedoch nicht als zeitlich aufeinanderfolgend zu betrachten, sondern können in verschiedenen Lebensphasen mehr oder weniger präsent sein. Gerade Umbrüche im Leben, wie Wendepunkte, sind häufig eine Anregung zu einer Selbst-Entdeckungsreise. Erkennbar werden die Veränderungen an verschiedenen Lebensweisen und Umgangsformen und

8.2 Entwicklungen in den Selbst-Umfeld-Lebensbeziehungen

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zwar nicht nur im Hinblick auf die Beziehung zu sich selbst, sondern umfassend in den Selbst-Umfeld-Lebensbeziehungen. Die Wende und der Selbst-Verlust sind hingegen nicht oder nur bedingt dem Entfalten zuzuordnen. 8.2.2 Das eigene Maß finden und leben Das Maß der Essstörung kann als Übermaß von äußeren Maßstäben, vor allem von Körper- und Leistungsidealen, verstanden werden, da das Streben nach diesen besonders stark ausgeprägt ist. Es wird hier von Maßgabe der Essstörung gesprochen, um zu verdeutlichen, dass die strikte Kontrolle der Betroffenen über sich selbst dem Erfüllen von Vorgaben einer Machtinstanz gleicht (zur Macht der Essstörung s. Kapitel 7.2.1). Während früher das Missachten eigener Wünsche und das Anpassen an äußere Erwartungen im Vordergrund standen, hat für die Gesprächspersonen heute das Finden und Leben des eigenen Maßes, die Selbst-Maß-Nahme, eine größere Bedeutung. Der Weg zum eigenen Maß ist für die Personen oft schwierig, da sie äußere Maßstäbe internalisiert haben und daher das Distanzieren von etwas, das vermeintlich zum Selbst gehört, erforderlich ist. Umso bedeutsamer ist diese Veränderung, die einen wichtigen Aspekt der vertieften Selbst-Beziehung im Sinne einer Selbst-Annäherung darstellt (s. Kapitel 7.3.2). Persönliches Körpermaß Das Körpergewicht ist im Zusammenhang mit Essstörungen zwar ein wichtiger, jedoch nur ein Aspekt des persönlichen (Körper-)Maßes. Ein diesbezüglich gefundenes eigenes Maß wird durch folgende Formulierungen deutlich: „Das ist ein gutes Gewicht für mich“ (Irina, 1345); „das hat sich immer so eingependelt, bis heute“ (Marina, 424). Ein „gutes Gewicht“ (Irina, 1345) lässt sich unter anderem am ausgeglichenen Befinden anstatt erhöhter Reizbarkeit erkennen (Marina, 432). Hinweise können außerdem aufrechterhaltene körperliche Reserven sein, sodass der Körper „nicht ganz ausgelaugt“ (Irina, 1345) wird. Irina bezieht sich mit dieser Aussage auf eine Phase, in der sie sich mit ihrem damaligen Gewicht zwar nicht mehr in akuter Lebensgefahr befand und das Erbrechen kontrollieren konnte, allerdings noch weitere Schritte zum Wohlfühlmaß erforderlich waren. Nicht nur das objektiv messbare Gewicht, sondern auch andere Aspekte, vor allem das subjektive Wahrnehmen und Empfinden des Körpers, kennzeichnen das eigene Maß auf körperlicher Ebene. Während früher das Fremd-Körpergefühl und FremdkörperGefühl sowie äußere Maßstäbe, die wiederum dieses fremde Empfinden bewirken bzw. verstärken, präsent waren, haben die Personen nun mehr Nähe zu ihrem Körper gefunden. Mit Fremd-Körpergefühl ist hier das fremde Gefühl im eigenen Körper, mit Fremdkörper-Gefühl das noch stärkere Distanzerleben des fremden, nicht zum Selbst gehörigen Körpers gemeint. Karin erzählt, dass ihre Körperzufriedenheit nun „das beste Level“ (Karin, T1501f.) im Vergleich zu früher erreicht habe. Somit wendet sie hier ihre eigene Entwicklung als Maßstab an. Für Nina war es zunächst eine große Überwindung, sich aufgrund fehlender Verfügbarkeit einer Körperwaage auf das eigene

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Spüren einzulassen. Jedoch konnte sie dadurch ihrer Angst vor einer Gewichtszunahme begegnen und allmählich die Kontrolle über Essen, Gewicht und damit über sich selbst lockern. Erleichtert wurde dies durch ein neues, wohltuendes Umfeld im Rahmen ihrer Auslandsaufenthalte (Nina, T933‒T936, T954‒T956). Es verhalf Nina zum Verändern ihrer starren Verhaltensmuster und zur Suche nach dem eigenen Maß (Nina, T940‒ T958). Die sich verringernde Angst vor der Gewichtszunahme ist im Zusammenhang mit dem Entfernen von äußeren Maßstäben zu sehen: Während früher äußere, oft erniedrigende Kommentare und Bewertungen bis zur Reduktion auf das Äußere als problematisch erlebt wurden, verlieren diese an Gewicht und beängstigender Wirkung, wenn das eigene Maß wichtiger wird. Dieses hat Anja nicht nur bei der Kleidergröße, sondern auch für sich als Person gefunden: „Es passt für mich. Ich brauch keine kleinere Kleidung, ich brauch keine größere, ich trage Größe 40, mit dem kann ich sehr gut leben. Ich bin, wie ich bin, und nicht so, wie mich andere haben wollen“ (Anja, T722‒T729). Die Erwartungen der anderen sind somit in den Hintergrund gerückt, während ihr eigenes Wohlgefühl im Vordergrund steht (Anja, T1752). Diese Entwicklung beschreibt Anja so: „Ich habe generell immer das Gefühl gehabt: Je dünner ich bin, umso mehr werde ich wahrgenommen, umso mehr passe ich in die Gruppe hinein. So, und jetzt bin ich nicht dünn, und ich fühle mich in meiner Gruppe wohl, in der ich jetzt bin“ (Anja, T1742‒T1747). Das Gewicht ist nicht mehr allein ausschlaggebend für das Wohlgefühl und vor allem nicht mit der Person gleichzusetzen. Stattdessen geht die Selbst-Definition über die Beurteilung des Gewichts hinaus: „Sie ist weder mollig, sie ist weder schlank, sie ist sie“ (Anja, T1021f.), so Anja über ihre Tochter. Somit steht nun das gefühlte anstatt gemessene Gewicht im Mittelpunkt. Rebeccas Gedanken kreisen nicht mehr um äußere Maßstäbe und mögliche Maßnahmen, diesen zu entsprechen. Sie verlässt sich heute mehr auf ihre eigene Wahrnehmung und hat ihre „persönliche Figur“ (Rebecca, T989) gefunden, wobei sich dieses Finden im „Einpendeln“ (vgl. Rebecca, T993) des Gewichts widerspiegelt. Das damit einhergehende Wohlgefühl bringt sie auch mit der gelockerten Kontrolle und der ausreichenden Versorgung, im Unterschied zur Zeit der (Nahrungs-)Entbehrung, in Verbindung. Außerdem habe sie erkannt, „dass manche Schönheitsideale einfach unrealistisch sind“ (Rebecca, T973f.; T973‒T997). Wenngleich ein Ideal per definitionem nicht real gegeben ist, weist ihre Thematisierung, auch an anderen Stellen, darauf hin, dass viele Menschen ihrer Ansicht nach dennoch versuchen, dieses zu erreichen, und sich dessen Unerreichbarkeit nicht bewusst sind. Jedoch kann nur eine Annäherung an das Ideal in mehr oder weniger großem Ausmaß statfinden, wobei es dessen Bedeutung als ein erstrebenswertes Ziel zunächst zu reflektieren gilt. Wege zum Selbst-Maß: Entdecken, Gestalten und Verwirklichen Wege zum eigenen Maß führen über die körperliche Ebene hinaus und können die im Kapitel 8.2.1 erwähnten Selbst-Entwicklungsformen des Entdeckens, Gestaltens, inklusive des Erfindens und Neudefinierens, sowie des Verwirklichens sein. Wie bereits im Hinblick auf das Körpermaß angesprochen, wird, anstatt äußere Maßstäbe zu übernehmen und ihnen zu entsprechen, Zugang zu eigenen Wünschen und dem eigenen Sein,

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somit zu sich selbst, gefunden. Von Bedeutung ist dabei, neben eigenen Fähigkeiten auch Grenzen im Hinblick auf eigene Ressourcen zu erkennen. Somit sind der flexible Umgang mit eigenen Wünschen und das dementsprechende Anpassen der weiteren Schritte zum eigenen Maß, im Sinne einer offenen Entwicklung, wichtige Veränderungen (u. a. Claudia, T2174‒T2178). Das eigene Maß wahrzunehmen, anzunehmen und zu leben, ist ein Aspekt der bereits in Kapitel 7.3.2 beschriebenen Selbst-Annäherung, die als ein Merkmal von Überwindung gilt, und bedarf des Selbst-Zuwendens, das als hilfreicher Beitrag in Kapitel 7.2.2 erläutert wurde. Die Bereitschaft und das Vermögen zur achtsamen Selbst-Wahrnehmung sind somit eine wichtige Grundlage für den Zugang zum eigenen Maß. Die Veränderung dieser Wahrnehmung beschreibt Karin als Hörvorgang, wofür es immer wieder der Bewusstwerdung bedarf, achtsam zu sein und zu bleiben: Die Bedürfnisse wahrzunehmen, das haben wir in der Therapie lang besprochen. Nur, ich hab das Gefühl, ich muss meine Lauscher schon gut aufsperren, dass ich es höre, dass ich es mitkriege. Aber ich empfange zumindest was. Das war vorher nicht so. Vorher war da einfach nichts. Da ist nichts gekommen. Und jetzt, wenn ich hinhöre, dann kommt da wirklich auch was. (Karin, T2800‒T2808)

Bei den Gesprächspersonen zeigt sich eine solche Sensibilisierung für eigene Bedürfnisse im Laufe der Überwindung der Essstörung, indem die Selbst-Maß-Nahme, bei der eigene Maßstäbe gesetzt werden, an Bedeutung gewinnt. Normen des näheren Umfeldes und der Gesellschaft bleiben jedoch ebenso wirksam. Dies wird unter anderem an der Thematisierung der Normalität und der häufigen Verwendung entsprechender Begriffe sichtbar. Das zufriedenstellende Erfüllen von Leistungsanforderungen hat heute allerdings einen geringeren Stellenwert im Leben der Gesprächspersonen. So richtet sich Rebecca im Leistungsbereich nun mehr nach ihrem eigenen Gefühl aus. Auch im Sport erlegt sie sich keinen Zwang mehr für ein zu erfüllendes Pensum auf, sondern sie orientiert sich an ihrem eigenen Befinden (Rebecca, T1361‒T1368). Eine solche Veränderung zeigt sich bei ihr nicht nur im Kontext der Universität und des Sports, sondern auch in der Verlagerung des Fokus vom Äußeren zum Wohlgefühl. Dennoch kann Leistung zumindest teilweise noch ein definierender Teil des Selbst sein, wie es bei Anika deutlich wird: Mir macht auch das Studium so super viel Spaß, dass sich das nochmal bestätigt hat, dass es das Richtige war. Jetzt hab ich das Gefühl, ich bin auch wirklich mal gut in meiner Leistung im Studium. Wobei ich mich dann auch schnell darüber definiere. Also ich bin da schon ziemlich ehrgeizig jetzt. (Anika, 717)

Karin betont diesbezüglich, den eigenen Wert nicht von Leistung abhängig zu machen, auch wenn dies nicht einfach sei: „Man muss keine Leistung bringen, damit man ein Mensch ist; damit man was wert ist. Das war natürlich ein Riesenthema in der Therapie“ (Karin, T1754‒T1758). Das Spüren des eigenen Maßes ist ein schrittweiser Prozess des Selbst-Entdeckens. Alena verbindet damit eine „wirkliche Heilung“ (Alena, 1373), die sich ereignet,

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seitdem ich die Essstörung wegschieben habe können und mich selber als Mensch dahinter jetzt einmal entdecke oder überhaupt die ganze Geschichte. Ich kann's halt jetzt spüren. Früher habe ich es nicht spüren können, weil da war die Essstörung, die mich geschützt hat. (Alena, 1375)

Somit wurde Alena früher von der Essstörung vor ihren schmerzhaften Gefühlen, die in Zusammenhang mit ihren vergangenen schwierigen Erfahrungen stehen, bewahrt. Auch heute kann dieses Spüren noch schmerzhaft sein: „Das wird halt manchmal ausgelöst durch Betreuungen [an der Arbeitsstelle]. Also vom Schmerz her habe ich das Gefühl, ich muss jetzt sterben, weil es so wehtut“ (Alena, 1379). Selbst-Entdecken und Selbst-Gestalten stehen bei Anika im Zusammenhang mit einer räumlichen Entfernung von ihrem Heimatort im Rahmen des Studiums. Durch die damit einhergehende emotionale Distanz zu ihrer Mutter könne sie sich „neu definieren“ (Anika, 973), „selbst gestalten“ (Anika, 765), „selber erfinden“ (Anika, 767). Einerseits rückt dadurch die Einschränkung, die sie aufgrund der Konkurrenz mit ihrer Mutter um die Anorexie erfährt, in die Ferne. Andererseits kann sie insbesondere durch die Wahl einer anderen Studienrichtung, als sie ihre Mutter für sich wählte, neue Wege jenseits des Vergleichens gehen und sich an ihrem eigenen Maß orientieren. Die Befreiung und damit einhergehende Erweiterung ihrer Möglichkeiten zeigen sich in ihrem Gefühl des Ankommens am neuen Ort (Anika, 973). Ähnlich beschreibt Ina „das Loslösen von Idealen, die die Eltern vorgelebt“ (Ina, T1936f.) haben, als hilfreich für den Weg zum eigenen Maß (Ina, T1950‒T1952). Dies ist unter anderem an der Wahl ihres zweiten Studiums, das sie nach dem Abbruch des ersten Studiums für sich entdeckte, erkennbar. Durch die geisteswissenschaftliche Richtung unterschied sie sich vom Rest der Familie, die solche Studien ‒ von Ina als „das Brotlose“ (Ina, T1775) bezeichnet ‒ nicht sehr schätze. Bedeutend war hier somit, dass das eigene Maß auch eine Differenz zum näheren Umfeld schaffte (Ina, T1709‒T1719). Für Karin war es hingegen durch ihren Bruder schwierig, das eigene Maß zu finden, denn er war für sie „diese Figur, die so einen Schatten immer auf mich geworfen hat, wo ich daneben einfach untergegangen bin“ (Karin, T2618f.). Ihre Entwicklung beschreibt sie so: Der [Bruder] war für mich mehr oder weniger das, wo ich halt einfach hinwollte. Ich wollte natürlich auch so beliebt sein, und ich wollte einfach mit Leuten reden können, und ich wollte auch so gesellig, so umgänglich sein. Also das war einfach eine lange Zeit mein Ideal. […] Es hat sich im Endeffekt gut entwickelt, muss man sagen, auch diese, glaube ich, für mich persönlich notwendige Distanz, die ich vorher nicht gehabt habe. Da bin ich ihm einfach auch nachgerannt: Da habe ich das gemacht, was er gemacht hat und das gesagt, was er gesagt hat; die Musik gehört, die er gehört hat. Und jetzt, wer ich bin und wer er ist, sind einfach andere Sachen. Also die Distanz ist da, aber wir können gut miteinander. (Karin, T2638‒T2642, T2702‒T2715)

Die Distanz von Maßstäben des früheren Umfeldes, ihrer Freunde und Freundinnen sowie ihrer Mutter, schildert Rebecca sogar als Bedingung, um die eigenen Wünsche zu spüren und das eigene Maß zu finden. Sie konnte dadurch, ausgehend von der zuvor passiveren Position (s. Hervorhebung im nachfolgenden Zitat), ihre eigene Richtung erkennen und gehen:

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Ich hatte ständig den Input von anderen Seiten: Einflüsse durch die Freunde, durch die ich mich orientieren habe lassen; Input, an dem ich mich dann orientiert habe oder von dem ich da was mitgenommen habe und da was mitgenommen habe. Erst als ich dann quasi hier so isoliert war von dem ganzen Input, habe ich überlegt, wie ich eigentlich sein möchte. Oder, ich weiß nicht, gefällt es mir überhaupt, so wie ich gerade bin. Oder wie bin ich überhaupt. So Persönlichkeitseigenschaften. (Rebecca, T913‒T924; Hervorhebung A. K.)

Jasmin bezieht sich nicht auf den Einfluss des näheren Umfeldes, sondern auf den Druck durch soziale Medien im Hinblick auf die Anzahl von Freundschaften. Sie habe sich davon gelöst und sei mit den wenigen, aber nahen sozialen Beziehungen glücklich (Jasmin, T2323‒T2329). Irina hingegen beschreibt nicht das neue Gestalten, sondern das Verwirklichen ihres Selbst. Sie sei durch die Essstörungserfahrung mehr sie selbst geworden, anstatt dass sie sich verändert habe: Ich glaub gar nicht, dass ich mich verändert habe, sondern ich bin mehr ich geworden. Aber das ist keine Veränderung, das mag für Außenstehende eine Veränderung sein. Ich weiß, dass ich in der Zeit, in der es mir eigentlich ganz schlecht gegangen ist, ich schon sehr viel ich war, aber ich mir das selbst so extrem blockiert hab. Also ich hab mich selbst viel zu viel unter Druck gesetzt, sodass ich nicht ich sein konnte. Und ich hab mich nicht gemocht. Das ist der Unterschied. (Irina, 2207‒2211)

Nach Irinas Aussage hat sich bei ihr die Veränderung nicht im Hinblick auf ihre Person, sondern auf die empfundene Selbst-Nähe und das Vermögen, das eigene Sein zuzulassen, vollzogen. Diese Erfahrung war für sie früher nur unter Zuhilfenahme von Drogen, heute hingegen ist sie ohne Fremdeinfluss möglich: „Ich hab das Gefühl jetzt wieder, aber nicht mehr einen Tag, sondern ich hab das Gefühl die ganze Woche. Nicht so intensiv, aber die ganze Woche, dass ich jetzt ich sein kann und bin. Ohne irgendeine Droge. Das ist der Unterschied“ (Irina, 2193‒2201). Ihr Selbst konnte Irina während der Zeit der Essstörung nicht leben, zumal sie außerdem sehr leistungsorientiert war und somit äußeren Ansprüchen genügen wollte. Sie sieht die begleitende Einnahme von Drogen als „eine Flucht aus der Essstörung, um so sein zu können, wie ich bin und wie ich gerne wäre“ (Irina, 853‒855; Hervorhebungen A. K.). Die Hervorhebungen sollen folgenden Widerspruch verdeutlichen: Lebte Irina durch den Drogeneinfluss ihr Selbst oder ihr Wunschbild? Außerdem stellt sich die Frage, inwiefern sie dadurch wirklich sie selbst sein konnte. Dennoch lässt sich auch bei ihrem Drogenkonsum die Berücksichtigung des eigenen Maßes erkennen: Sie habe ausschließlich die zu ihr passende „Lieblingsdroge“ (Irina, 855) und diese mit Bedacht genommen. Durch eine intensive Auseinandersetzung mit der Wirkung von Drogen war es „eine komplett überlegte Sache“ (Irina, 857), sodass sie die Kontrolle über sich behalten konnte. Ähnlich sieht Claudia sich nicht als Person verändert, sondern den Umgang mit sich selbst. Deutlich werden in ihrer Aussage die Selbst-Annäherung und Selbst-Achtung: Ich glaube nicht, dass ich jetzt irgendwie wer anderer bin, ob ich jetzt bulimisch bin oder nicht. Also ich glaube, dass ich grundsätzlich schon die Gleiche bin. Was sich verändert hat, ist halt vielleicht so ein bisschen eben das Auf-sich-selbst-Schauen. Das

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Schmerz-Zufügen, weiß man, ist jetzt nicht so gesund. Was anderes zu finden, wäre gesünder. Also nicht nur auf andere schauen, wobei ich grundsätzlich schon derjenige bin, glaube ich, der gern schaut, dass es anderen gut geht. Dass man auch schaut, dass es einem selber gut geht. Wobei man halt immer unwichtiger, also scheinbar unwichtiger ist als die anderen. Oder lang zumindest war es unwichtiger oder nicht so wichtig. Sonst bin ich natürlich erwachsener und reflektierter, aber im Kern, glaube ich, bin ich die Gleiche, ob ich jetzt gespieben habe oder nicht gespieben habe. (Claudia, T2284‒ T2306)

Ungeachtet des Weges, den die Personen im Hinblick auf die konkrete Art der SelbstEntwicklung gegangen sind, weisen die beschriebenen Aspekte somit auf folgende Entwicklungsrichtung hin: Es wird, über das Körpermaß hinaus, mehr das eigene Maß gefunden und gelebt. Der Titel des Sachbuches Ich finde nicht mein Maß, in dem die Autorin Gisela Ehle (1992) Merkmale und Therapieansätze der Essstörungen beschreibt, ist hier somit neu zu formulieren: Ich finde (mehr) mein Maß. Dazu tragen das SelbstZuwenden und das damit einhergehende Selbst-Wahrnehmen sowie das Erleben, als Person mit ebendiesem eigenen Maß vom Umfeld angenommen zu werden, wesentlich bei. Die Entwicklung zum eigenen Maß hat, wie die persönliche Entwicklung im Allgemeinen, ein offenes Ende. So möchte Karin noch mehr das „Ausbalancierte“ (Karin, T3426), das sie als das „richtige Maß“ (Karin, T3442) sieht, finden. Darin wird die Gleichgewichtsbewegung deutlich, die kein Stillstand ist: Das wäre ein großer Wunsch, dass ich dieses Ausbalancierte, das ich jetzt die ganze Zeit beim Essen versuche, generell lerne, auf alle Situationen zu übernehmen. Also dass ich auch auf der Uni und in der Arbeit einfach diesen Weg finde, etwas zu machen, aber nicht in das hineinkomme, dass ich mich überanstrenge. Aber auch, dass ich nicht auf gar nichts schalte und dann gar nichts mehr weitergeht, sondern dass ich da schön langsam lerne: Okay, wie kann ich meinen Alltag gestalten; wie kann ich generell mein Leben gestalten, sodass ich arbeiten kann, dass ich mein Potential ausleben kann und dass ich trotzdem nicht dran kaputtgehe. Ich glaube, da muss ich eben auch noch viel lernen, wo das richtige Maß ist. Das eben auch auf die Uni und auf die Arbeit bezogen. Also das richtige Maß finden. (Karin, T3423‒T3442)

8.2.3 In sich selbst stabil werden Die eingeschränkte Stabilität zu Beginn und während der Erkrankung mit einer unbewussten Suche nach Halt in der Essstörung ist ein sehr bedeutsames Thema in den Lebensgeschichten der Gesprächspersonen. In der Überforderung und Verunsicherung bringt zunächst die Essstörung Stabilisierung, während die Person im Laufe der Überwindung allmählich in sich selbst stabiler bzw. stabil wird. Es ist nun weniger bis keine äußere Stabilisierung, unter anderem durch die Essstörung, durch Beziehungsabhängigkeiten oder von außen einwirkende hilfreiche Aspekte, erforderlich. Die Stabilität zeigt sich in einer Selbst-Ständigkeit, nach dem vorherigen „Verselbstständigen“ (Irina, 31) des Geschehens durch das Ab- bzw. Hineinrutschen in die Essstörung. Rebecca schildert den Unterschied zu früher im Hinblick auf die Auswirkung von Triggern, wie

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Bewertungen von anderen. Sie werde von diesen heute nicht mehr „aus der Bahn geworfen“ (Rebecca, T952f.): Ich glaube, für meine jetzige Persönlichkeit ist es [die Essstörungserfahrung] ganz gut, weil ich jetzt eigentlich ein relativ stabiles Selbstbild habe. Das hat schon geholfen. Es ist nicht mehr so wackelig und leicht zu zerstören, wenn jemand anders mal was sagt, was das Selbstbild vielleicht verletzt oder schädigt; wenn ein blöder Kommentar kommt oder so was. Aber früher hat es mich ziemlich aus der Bahn geworfen. Zum Beispiel, einmal war ich mit sechzehn, grad so um die Zeit, als es angefangen hat, im Sommer draußen. Ich hab eine kurze Hose getragen, und dann waren irgendwelche Mädchen hinter mir, die so getuschelt haben. Dann habe ich gehört, wie die eine meinte: „Wah, die hat voll Cellulite!“ Grad solche Sachen. Das hat mich so runtergezogen, und dann habe ich angefangen, Sport zu machen, weil ich das nicht wollte. Wenn ich jetzt so was hören würde, dann wär mir das ziemlich egal, glaube ich. (Rebecca, T942‒T963)

Das Erlangen von Stabilität beschreiben die Personen vor allem mit folgenden SelbstEntwicklungen: Verbinden von persönlichen Anteilen bzw. Ganz-Werden und GanzSein. Ganz-Sein in Beziehungen Ein Beispiel für die Entwicklung zum Ganz-Sein gibt Irina. Sie fühle sich heute mit sich selber wohl, ohne Halt in einer Partnerbeziehung zu suchen: Wenn ich jemanden brauche zum Ergänzen, dann würde ich ja sagen: „Ich bin nicht ganz.“ Aber ich bin ja für mich selbst ganz. Ich brauche niemanden, um mich zu ergänzen, sondern ich brauch nur jemanden, der mir von außen vielleicht ein bisschen einen Input gibt. Also der mir neue Ideen, Gedanken, neue Dinge lernt, mir neue Dinge zeigt. Aber so der Spruch: „Das ist meine bessere Hälfte“, das würde meiner Sicht von Beziehung, von partnerschaftlicher Beziehung, gar nicht entsprechen. Die hab ich aber früher schon gehabt. (Irina, 2251‒2255)

Für Ina waren früher Phasen des Alleinseins, vor allem durch berufliche Auslandsaufenthalte ihres Mannes, schwierig. Sie suchte dann die Nähe ihrer Mutter, obwohl sie diese als zu nahe und hemmend für ihre Entwicklung (Ina, T248‒T250), unter anderem aufgrund von deren Fokussierung auf Äußerlichkeiten, beschreibt. Es war eine Suche nach Halt, da sie diesen nicht in sich selbst finden konnte. Gleichzeitig verunsicherten sie die Bemerkungen ihrer Mutter. Heute hingegen kann sie diesen wesentlich stabiler begegnen (Ina, T2137‒T2156). Grete beschreibt ihr früheres Gefühl nach Trennungen als Leere, Mangel und Verlust, während sie sich heute auch mit sich allein wohlfühle (Grete, T1101‒T1104). Nach dem Ende der Beziehung zu ihrem Partner, mit dem sie sich Kinder wünschte, habe sie diesen Wunsch „komplett begraben“ (Grete, T1125). Es war, „wie wenn etwas weggestorben wäre“ (Grete, T1125f.): „Ich hab das Gefühl gehabt, ich bin aus der Beziehung gegangen mit einem Mangel, weil mein damaliger Freund und ich uns beide gedacht haben, wir bleiben zusammen bis an unser Lebensende, und wir zwei gehören zusammen“ (Grete, T1126‒T1131). Dabei fühlte sich nicht nur die Trennung vom Partner,

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sondern auch von dessen Familie, die ihr nahestand, wie ein Verlust an (Grete, T1140f.). Die Paarbeziehung hatte somit eine stabilisierende Wirkung auf Grete, jedoch ebenso auf ihren Partner. Dies wird in ihrer Beschreibung seines Besitzanspruchs, den er ihr gegenüber im Rahmen einer narzisstischen Kränkung äußerte, deutlich: Dann hat er nicht gewusst: Soll er mich behalten, soll er mich nicht behalten, sein Besitz wurde geschändet und lauter solche Sachen. Wobei ich mir gedacht hab: ,Wah, der Mann den ich heiraten wollte, der sagt zu mir, dass sein Besitz geschändet wurde!‘ (Grete, T437‒T441)

Ganz-Sein durch Integration von Erfahrungen Während die vorigen Beispiele das Ganz-Sein ohne Notwendigkeit einer äußeren Stabilisierung durch und in Beziehungen veranschaulichen, ist eine solche Entwicklung auch im Hinblick auf die Integration der Essstörungserfahrung in die eigene Lebensgeschichte zu sehen. Die Essstörung wird nicht mehr als Teil des Selbst und im aktuellen Leben benötigt: „Ich weiß, dass das [die Essstörungserfahrung] zu meinem Leben gehört, aber ich brauch's jetzt nicht mehr, sagen wir so. Deswegen ist es irgendwie ganz weit weg“ (Marlies, 303). Bei Marlies scheint ein Widerspruch deutlich zu werden, der sich jedoch folgendermaßen auflösen lässt: Einerseits löst das Sprechen über die Zeit ihrer Betroffenheit ein Gefühl der Befremdung bei ihr aus. Dieses spiegelt sich in der aktuell von ihr so wahrgenommenen weiten Entfernung der Essstörung und deren sachlicher Bezeichnung „es“ wider. Andererseits erkennt Marlies die Essstörung als einen Teil ihres bisherigen Lebens an, mit dem Unterschied, dass diese heute nicht mehr der Mittelpunkt ihres Lebens ist. Marlies fühlt sich ganz, ohne die Essstörung zu „brauchen“ (vgl. Marlies, 303). Somit ist nicht mehr die Essstörung Teil ihres Selbst, sondern die Erfahrung mit der Essstörung. Anders ausgedrückt: Die Essstörung hat in Form dieser Erfahrungen Spuren im Selbst hinterlassen, wie eine gehende Person im Schnee oder Sand, ohne selbst noch anwesend zu sein. Dieses Bild ist aufgrund der Darstellung der Essstörung als Person in den Gesprächen besonders treffend. Das Verwischen von sichtbaren Spuren der Essstörung, beispielsweise durch das Vernichten von Fotos der eigenen Person aus der Zeit der Erkrankung, kann auf eine Verdrängung hinweisen. Bei Charlotte hingegen ist es ein Zeichen der Integration in die eigene Lebensgeschichte, weswegen es dieser äußeren Marker nicht mehr bedarf (Charlotte, T799‒T811). Frauke bezeichnet ihre Krankheitserfahrung nicht als Teil ihres Lebens, wie Marlies, sondern als Teil ihres Selbst, den sie jedoch „beiseitegelegt“ (Frauke, 1111) habe. Anzunehmen ist, dass sie damit auf die persönliche Entwicklung im Rahmen der Überwindung der Essstörung hinweist: „Ich habe schon lange nicht mehr über das alles geredet, weil es ein Teil von mir ist, und das ist okay. Aber ich habe das jetzt eigentlich schon eher beiseitegelegt“ (Frauke, 1111‒1113). Sie äußert sich nur gegenüber ausgewählten Menschen über die vergangene Essstörung, wobei dies im Gesamtkontext des Gesprächs nicht als Verdrängung, sondern als geringere Präsenz der Essstörung in ihrem aktuellen Leben zu deuten ist. Immerhin erklärte sie sich auch für das Gespräch bereit und somit auch für eine Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte vor einer fremden Person

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(s. Kapitel 8.2.4). Ähnlich wie Frauke stellt Grete die Bulimie mit dem Ausdruck, „Bulimikerin“ (Grete, T978) (gewesen) zu sein, nicht nur als Teil ihrer Lebensgeschichte, sondern auch ihres (früheren) Selbst dar. Sie verwendet die Gegenwarts- und Vergangenheitsform, weshalb von einem noch aufrechten Anteil der Bulimie an ihrem Selbst auszugehen ist, zumal sie an anderer Stelle sagt: „Die Bulimie gehört jetzt zu mir und zu meinem Leben dazu“ (Grete, T2507f.). Allerdings könnte sie hier, wie der zweite Satzteil nahelegt, auch die Integration ihrer Erfahrung in ihre Lebensgeschichte meinen. Früher habe vor allem ihre Mutter die Bulimie als „Fehler“ (Grete, T905) ihrer Person betrachtet, den es zu eliminieren gäbe. Angesichts dessen und der früheren Strenge sich selbst gegenüber ist daher Gretes heutiges Empfinden als eine Entwicklung des Ganz-Werdens, als Weg zum Ganz-Sein, zu betrachten. Ganz-Sein umfasst nicht nur das Annehmen der Essstörungserfahrung, sondern auch vergangener Lebensweisen im Allgemeinen, selbst wenn diese für die Person zum heutigen Zeitpunkt nicht mehr adäquat sind: das Vergangene also nicht abzuwerten oder zu verdrängen, es auch nicht weiterleben zu müssen, sondern hinter sich lassen zu dürfen. Ina beschreibt dies im Hinblick auf ihr früheres literarisches Interesse: „Das ist schon etwas, das ich komplett weggelegt habe. Wie so einen Mantel habe ich das abgelegt. Ich bin stolz darauf, dass ich das mal gemacht habe, aber es passt nicht mehr zu meinem jetzigen Leben“ (Ina, T1887‒T1890). Gleichzeitig ist bei Ina eine gewisse Vorsicht erkennbar, sich mit vergangenen Themen, beispielsweise der Familiengeschichte, auseinanderzusetzen. Daher dürfte die Konfrontation damit in einer früheren Therapie zum Abbruch derselben beigetragen haben. Sie möchte auch nicht mehr mit Literatur, die sie zu einer früheren Zeit las, und Gedichte, die sie selbst schrieb, in Berührung kommen, um nicht an ihre damaligen Gedanken erinnert zu werden: „Ich könnte nie mehr wirklich so ganz tiefgründige und hochwertige Literatur lesen. Zu dem greife ich nicht mehr. Nein, das geht nicht einmal, dass ich dazu greife. Ich kann es nicht angreifen“ (Ina, T1876‒T1880). Dies kann ein Hinweis auf eine noch teilweise Instabilität, aber auch auf eine integrierte Erfahrung, die sie in der Vergangenheit belassen möchte, sein. Verbinden von persönlichen Anteilen Das Ganz-Werden zeigt sich in den Lebensgeschichten besonders darin, dass sich persönliche Anteile bzw. Aspekte der Person miteinander verbinden. Grete bezieht sich dabei auf soziale Kontakte, in denen für sie früher „mehr die Außendarstellung der Freundschaft“ (Grete, T2278f.) im Vordergrund stand. Sie habe eine „Maske“ (Grete, T2444) aufgesetzt und sei auf „Funktionen“ (Grete, T2431) sowie „Rollen“ (Grete, T2431) bedacht gewesen. Heute hingegen achte sie in einem Umfeld und bei ihrem Tun mehr auf das „Ja-Gefühl“ (Grete, T2306). Demnach ist Grete nicht mehr primär mit ihrer Äußerlichkeit, sondern als ganzer Mensch präsent. Es besteht somit ein enger Zusammenhang zwischen Ganz-Werden und der im Kapitel 8.2.4 erläuterten Ausdrucksweise des Selbst, dem Sichtbar-Werden. Bianca beschreibt ihre persönliche Entwicklung des Ganz-Werdens, indem sie nun ihre zwei persönlichen Seiten, anstatt wie früher getrennt, vereint erlebt:

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Ich denke, es gibt zwei Teile in meinem Leben. Da gibt's das Alte ‒ oder eigentlich gibt's drei Teile in meinem Leben. Da gibt's das Alte, dass ich schon sehr wild und laut und fordernd und chaotisch und absolut bis an die Grenzen gehend war. Dann gibt's diesen Teil, dass ich ganz diszipliniert, sehr tüchtig, fleißig war, Leistung [erbracht] und auch gelernt habe, die dann auf ein Niveau zu bringen, sodass es schon okay ist. Aber einfach sehr, sehr, sehr viel Struktur. Und dann gibt's jetzt, würde ich mal sagen, den Teil, in dem die zwei Teile tatsächlich schon miteinander in Verbindung kommen und sich recht gut ausgesöhnt haben. So würde ich mal sagen. Dass ich beide brauche, dass sie beide wichtig sind und dass der eine den anderen nicht ausschließt; dass der eine den anderen total gut ergänzt. Weil das Alte, das total Chaotische, vor dem habe ich immer Angst gehabt. Ich glaube, das war schon auch der Grund, dass ich keinen Alkohol trinke, getrunken habe, da ich Angst gehabt habe, dass das dann wieder kommt. (Bianca, 157‒ 165)

Auf die Nachfrage, was sie früher am „chaotischen“ (Bianca, 157) Anteil beängstigte, vor allem wenn sich dieser zeigte oder gezeigt hätte, antwortet sie: „Dass es total ausufert; dass ich einfach keine Grenzen kenne; dass ich wieder in den Abgrund hineinspringe, weil es so lässig ist, zu fliegen“ (Bianca, 169‒173). Unbehagen bereitete Bianca somit diese befürchtete Grenzenlosigkeit und damit aus einer, von ihr selbst und/oder von anderen erwarteten, Form auszubrechen. Solche äußeren Erwartungen spielten in ihrer Geschichte eine große Rolle, gegen die sie zwar immer wieder rebellierte, indem sie mit einem „fordernden Will-Ich, Brauch-Ich, Mag-Ich“ (Bianca, 541) agierte, gleichzeitig aber Anerkennung suchte. Heute könne sie sich leichter von äußeren Forderungen und vor allem von Menschen, die solche aussprechen, distanzieren, wodurch sie sich stabiler fühle (Bianca, 633). Ergänzend im Hinblick auf die Verbindung ihres chaotischen Anteils mit dem disziplinierten Anteil spricht Bianca die Bedeutung an, mit den eigenen „bedürftigen Anteilen […] in Kontakt zu kommen“ (Bianca, 615; 615‒621), so wie auch Anika eine solche Verbindung mit dem inneren Kind anspricht (Anika, 853‒ 863; Bradshaw, 1992; Chopich & Paul, 2009; s. Kapitel 3.3.2). Bianca könnte mit den Anteilen aufgrund des verwendeten Begriffs Bedürftigkeit ebenso auf das innere Kind hinweisen, zumal sie sich selbst als forderndes Kind beschreibt, das „ganz, ganz, ganz viel gebraucht“ (Bianca, 312) und „viel Weh gehabt“ (Bianca, 312) habe. Beide Personen wurden in diesem Prozess des Selbst-Verbindens von ihren Therapeutinnen begleitet. Anja weist im Gespräch konkret auf das „innere Kind“ (vgl. Anja, T1948) hin, an das sie sich früher nicht „herangetraut“ (Anja, T1949) habe. Um sich mit diesem zu verbinden, halfen ihr Meditationsübungen. Anhand von Fotos, die Anja im Gespräch vom Regal nimmt, beschreibt sie ihre Verbindung zum inneren Kind: Jetzt sage ich: „Das bin ich; ich als Kind.“ Vorher war da einfach, dass du dieses Mädchen anschaust: ,Aha, das bist du. Wer bist du eigentlich? Das bist du?‘ Das war schon ein schmerzhafter Prozess. Aber jetzt sage ich: „Ja, das bin ich!“ Es braucht Zeit, es anzunehmen. Wenn ich jetzt in die Meditation gehe, kann ich sie [die kleine Anja] einfangen; ich kann sie knuddeln, ich kann sie abbusseln. Sie kommt auch, wenn ich ihr die Hand ausstrecke. Das ist alles da. (Anja, T1955‒T1976)

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Bei Anika ist im Ausgleich der beiden gegenläufigen persönlichen Facetten Anpassung und Rebellion eine weitere Entwicklung des Verbindens zu sehen. Sie sei heute „braver“ (Anika, 703) und führe ein „fast spießiges Leben“ (Anika, 703) im Vergleich zu früher, das sie aber „genieße“ (Anika, 703), da sie sich unter anderem mit Freude ihrem Studium widmen könne. Im Gespräch ist diese Ausgeglichenheit am Ausdruck von Zufriedenheit und Ruhe erkennbar. Karin erzählt von einem verlorengeglaubten Teil ihrer Persönlichkeit, den sie durch die sportliche Betätigung, die sie in der Essstörung zeitweise vernachlässigte, wiederfinden konnte: Ich hab nicht das Gefühl gehabt, ich erzwinge mir den Sport auf, sondern es war, wie wenn ich einen Teil meiner Persönlichkeit wiedergefunden hätte; also diese Sportlerin, die ich ja irgendwie immer schon war, und das Gewicht ist mir halt immer im Weg gestanden. Ich hab's zwar trotzdem gemacht, ich bin trotzdem Volleyballspielen gegangen, trotzdem Reiten gegangen, aber ich hab schon gewusst, dass mir das Gewicht im Weg steht. […] Aber ich hatte diese Sportlerin immer in mir, und diesen Teil, diese Kämpferin, habe ich irgendwie wiedergefunden. (Karin, T947‒T960, T968‒T970)

In der Aussage ist eine Trennung erkennbar, indem Karin ihr früheres Körpergewicht, zumindest das Zuviel an Gewicht, als Hindernis für das Ausleben ihrer „Persönlichkeit“ (Karin, T949), zu der jedoch auch der Körper gehört, sieht. Außerdem zeigt sich das Potential der körperlichen Selbst-Erfahrung für den Prozess des Verbindens von SelbstAnteilen (s. Kapitel 7.2.2). Neben der sportlichen Persönlichkeit gebe es auch jene mit der Vorliebe für Essen. Dass sich diese beiden nun nicht mehr ausschließen, zeigt sich an ihrer vermehrten Selbst-Akzeptanz: „Ich kann diese zwei Persönlichkeiten ja trotzdem ganz gut vereinen: Die Person, die einfach gerne isst ‒ ja, okay, die habe ich in mir, das ist manchmal immer noch schwer zu sagen oder schwer zu akzeptieren ‒ und die, die gern Sport macht. Dass das trotzdem passt“ (Karin, T1428‒T1436). Karin erzählt außerdem von zwei weiteren persönlichen Anteilen, einem kontrollierenden und einem versagenden Anteil. Diese beschreibt sie als heute einander angenähert, früher jedoch als gegeneinander kämpfend: „Die haben sich einfach überhaupt nicht verstanden, diese beiden. […] Die haben sich abgewechselt, und es waren wirklich Riesenwelten dazwischen“ (Karin, T1842f., T1861‒T1863). Karin greift dabei unter anderem auf den Vergleich mit einer Maschine zurück und beschreibt den Kampf dieser Anteile sehr dramatisch. Wie Bianca personifiziert Karin ihre bedürftigen Anteile, die sich infolge ihrer Unterdrückung überschießend zeigten, sodass sich Karin, entgegen der vorherigen massiven Kontrolle, ohnmächtig fühlte: Ich habe mich voll überanstrengt und immer in meinem Hirn gehabt, dass das trotzdem so laufen sollte. Wie eine Maschinerie halt einfach, wobei es keine Müdigkeit und auch keine Gefühle oder was auch immer gibt, die einen zurückhalten. Irgendwann haben sich diese Gefühle natürlich ‒ oder alles, die ganzen Bedürfnisse, um die ich mich die ganze Zeit nicht gekümmert hab ‒ wieder gemeldet und sind dann dementsprechend stärker wieder herausgebrochen. Natürlich auch Traurigkeit, die habe ich ja vorher gar nicht zugelassen. Für das war kein Platz. Dann auf einmal ist es natürlich wie ein Schwall ‒ dieser Schwall trifft es eh perfekt, weil es war ja nicht nur das Essen wie ein Schwall, sondern auch alles, was ich ignoriert hab die ganze Zeit‒ durchgebrochen und

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hat mich im vollen Maße erwischt, wie ein LKW frontal in etwa. Es ist dann natürlich alles auf einmal wieder gekommen. (Karin, T1885‒T1915)

Dadurch, dass sich ihre persönlichen Anteile miteinander verbunden haben, kann sich Karin heute gestärkt fühlen: „dass mich mehr oder weniger nichts so leicht umhauen kann; dass ich immer wieder aufstehe, auch wenn's noch so ein harter Schlag ist, und dass ich immer noch weitermache“ (Karin, T3120‒T3126). Verbinden von Körper und Selbst In Verbindung mit sich selbst zu kommen und ganz zu werden, kann sich auch auf körperlicher Ebene zeigen, indem die Person ihren Körper und ihr Selbst als einander angenähert bzw. miteinander vereint erlebt. Hierbei handelt es sich, ebenso wie im vorigen Abschnitt besprochen, um ein Verbinden von persönlichen Anteilen, da beide, Körper und Selbst, nach dem Verständnis in der vorliegenden Arbeit als Aspekte der Person gelten. Dementsprechend wurde in Kapitel 7.3.2 bereits auf eine Trennung von Körper und Selbst als Zeichen für eine noch aufrechte Selbst-Distanz hingewiesen. Ina beispielsweise fühlt sich heute ihrem Körper näher, äußert ihre Dankbarkeit, dass die Schwangerschaften ohne Probleme verliefen und sie keine Folgeschäden von der Anorexie davongetragen habe. Außerdem erlebte sie die unkontrollierbaren Abläufe in den Schwangerschaften nicht als Kontrollverlust über ihren Körper, wodurch sie sich diesem annähern konnte. Es ist insofern noch eine Trennung von Körper und Selbst erkennbar, da sie ihren Körper als Objekt darstellt und personifiziert. Er ist wie ein Solidaritäts- und Kooperationspartner (Ina, T544, T650), der mit ihr „mitarbeitet“ (Ina, T1927) und ihr „nicht das Hackerl ins Kreuz haut“ (Ina, T546), obwohl sie ihn vorher so „vergewaltigt“ (Ina, T1928), „ihm so lange eigentlich nichts Gutes gemacht und sehr viel angetan“ (Ina, T1922f.) habe. Aus Dankbarkeit, denn „dann auf einmal verzeiht er einem alles total schnell“ (Ina, T1923f.), möchte sie ihrem Körper etwas „zurückgeben“ (Ina, T717): „Das ist in diesem Fall natürlich ein normales Essverhalten gewesen“ (Ina, T719). Den Körper mit Nahrung zu versorgen, stellt sie hier wie eine Belohnung für seine Leistung, sein Funktionieren dar. Diese Entwicklung kann als Stufe auf dem Weg zum Ganz-Sein im Sinne eines Ganz-Werdens betrachtet werden: Während sie ihren Körper früher als „lästige Hülle, die nicht so ist, wie man sie sich wünscht“ (Ina, T1902) empfunden habe, wurde ihr allmählich bewusst, „dass der Körper zum Kopf dazugehört und noch dazu so bereitwillig alles mitmacht“ (Ina, T1902‒T1904). Ebenso durch die Betonung des „Wohlfühlgewichts“ (vgl. Ina, T1511) reduziert sich Ina nicht auf das Körperliche, sondern formuliert die Verbindung von Körper, Seele und Geist, die Verbindung der „Hülle“ (Ina, T1902) mit anderen Selbst-Anteilen. Anzumerken ist, dass sie auch im Hinblick auf ihre frühere Lebensweise einen Begriff für eine oberflächliche, umhüllende Schicht verwendet. Von diesem „Mantel“ (Ina, T1888) befreite sie sich jedoch im Unterschied zur körperlichen Hülle, mit der sie eins wurde.

8.2 Entwicklungen in den Selbst-Umfeld-Lebensbeziehungen

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8.2.4 Zur Sprache kommen und sichtbar werden Auf den Wegen aus der Essstörung ist die Entwicklung vom Schweigen zunächst zur Essstörung als Sprache und schließlich zum Sprechen über die Essstörung erkennbar. Nicht nur über die Erkrankung, sondern auch darüber hinaus äußern die Personen allmählich vermehrt ihre Wünsche und werden damit, entgegen ihrer früheren Unauffälligkeit, als Person sichtbar. Neben dem Finden und Leben des eigenen Maßes (s. Kapitel 8.2.2) sowie dem Erlangen von Stabilität in sich selbst (s. Kapitel 8.2.3) sind das ZurSprache-Kommen und Sichtbar-Werden somit weitere Ausdrucksweisen des Selbst. Diese sind Formen der Selbst-Entfaltung und können insbesondere durch die SelbstEntwicklungen Gestalten und Verwirklichen erreicht werden. In einem umfassenden Sinn handelt es sich dabei um ein Mit-Teilen, also ein Teilen des eigenen Selbst mit dem Umfeld: körperlich, emotional, geistig, im Verhalten. Ein direktes Mit-Teilen gegenüber einer Person oder mehreren Personen erfolgt im Sprechen, somit verbal. Nonverbale Formen, wie Malen, und/oder personenunspezifische Adressierung, wie in der Musik, sind als indirektes Mit-Teilen zu verstehen (s. Kapitel 7.3.3). Neben dem Gestalten und Verwirklichen ist für das Zur-Sprache-Kommen und Sichtbar-Werden ebenso das Verbinden bzw. Ganz-Werden als weitere Selbst-Entwicklung erforderlich, da es für diesen Ausdruck des Selbst einer gewissen Konkretheit und damit Verbundenheit von Selbst-Anteilen bedarf. Nonverbale und verbale Sprachformen Wie Alena erzählt, konnte sie im Malen einen „Zugang“ (Alena, 1023) zu sich selbst finden. Es ist eine nonverbale Sprache, die eine Kommunikation sowohl mit sich selbst als auch mit anderen ermöglicht. Ebenso erzählt Marina von ihren Erfahrungen mit dieser künstlerischen Ausdrucksform: Sie habe im Laufe der Überwindung nicht mehr düstere Bilder mit Kohle gemalt, sondern mit anderen Materialien, insbesondere mit Öl, Aquarell und Acryl, sowie mit verschiedenen Farben gearbeitet. Die Anwendung von Öl gilt als schwieriger sowie aufwändiger und kann daher für mehr Selbstvertrauen in eigene Fähigkeiten stehen. Außerdem ist dieses Material dichter und nicht wasserlöslich im Vergleich zu Aquarell und Acryl (Menzen, 2001, S. 174ff.). Die Person hinterlässt damit intensivere und überdauernde Spuren. Ähnlich drückt Karin nicht mehr nur ihre Traurigkeit mit Musik aus, sondern sie setzt diese auch in anderen Stimmungslagen ein: zur Motivation, zur Aufmunterung, zur Beruhigung (Karin, T2824‒T2862). Die Emotionen zeigen sich bei den Personen somit differenzierter, wodurch die Beziehung zu sich sowie zur Welt nun insgesamt facettenreicher ist. Zum (Wieder-)Aufbau einer solchen Verbindung kann die Kunst, so Levine, wesentlich beitragen. Dies wird auch in der Bezeichnung Expressive Arts Therapy, einer Kunsttherapierichtung, deutlich (Levine, 1995, S. 183). Die Personen brachen aus der Gewohnheit, aus der Rigidität aus – es waren neue Wege, die sie gingen, sodass das Leben nicht mehr „eintönig“ (Tamina, 1070) wirkt, sondern bunter geworden ist. Besonders deutlich ist in den Lebensgeschichten das Schweigen, von dem auch in Bezug auf frühere Generationen erzählt wird. So erfuhr Fraukes Vater beispielsweise erst

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8 Wegverläufe

sehr spät von seinem eigenen Vater über seine genetische Vorbelastung für eine neurologische Erkrankung, die dadurch auch für Frauke zum Thema wurde. Das Schweigen beschränkt sich somit nicht nur auf die Betroffenen und auf das Thema Essstörung, sondern ist ein verbreitetes Merkmal der Kommunikation im Umfeld. Daher liegt es nahe, die Essstörung als Sprache zu verstehen: Die Art des Umgangs mit Nahrung und dem eigenen Körper drücken etwas aus, das zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit Worten formuliert werden kann (s. Kapitel 7.1.3). Zur Sprache zu kommen, bezeichnet einerseits die Bewegung der Betroffenen zur Sprache hin und andererseits das unmittelbare Thematisieren der Essstörung durch die Betroffenen sowie durch das Umfeld. Die Betroffenen sprechen allmählich mehr über ihre Essstörungserfahrung, aber zum Teil mit Vorsicht und nur mit bestimmten, sehr vertrauten Menschen. Auch eigene Gedanken und Wünsche können mehr geäußert und damit hörbarer werden, sodass die Essstörung in abnehmendem Maß als Sprache benötigt wird: „Ich sage auch ‒ ich meine, ich war schon immer direkt, aber ich sage noch viel mehr, was ich mir denke“ (Marlies, 771). Über die Essstörung hingegen hat Marlies, die hier zitiert ist, erst nach der Zeit ihrer Betroffenheit gesprochen. Grete erzählt, dass sie nun offen über ihre Bulimie-Erfahrung sprechen kann, jedoch eine differenzierte Auswahl der Personen trifft, denen sie sich anvertraut. Hier spielt die Tiefe der Beziehung zur jeweiligen Person eine wichtige Rolle: „Heute bin ich viel bewusster, wem ich was sage, weil alles, was ich erzähle und wichtig ist, da ist man angreifbar, und da denke ich mehr an meinen Schutz“ (Grete, T2467‒T2470). Sie kann die Bulimie nun thematisieren, gleichzeitig habe sie „im Alltag jetzt nicht mehr die Präsenz“ (Grete, T1011f.). Anders als im Alter von sechzehn Jahren, als sich jene zwei Freundinnen, denen sie von der Bulimie erzählte, von ihr distanzierten, konnte Grete später im Umfeld ihres Reitstalles bestärkende Erfahrungen mit ihrer Offenheit machen. Sie sei „reich beschenkt“ (Grete, T2083) worden, womit sie sich einerseits auf das Zuhören einer dortigen Kollegin und andererseits auf deren Vertrauen beziehen dürfte, nämlich auf das Anvertrauen des Pferdes ihrer Tochter (Grete, T2081‒T2095). Karin meint, dass sie, um zur Sprache zu kommen, an einem gewissen „Level angelangt“ (Karin, T1119) sein musste, womit sie auf ihre eigene Bereitschaft im Rahmen der Selbsthilfegruppe hinweist. Auch das Sprechen über die Essstörung mit ihren Schwestern sei für Karin, wenngleich sie sich sehr nahestehen, „eine recht neue Entwicklung“ (Karin, T2986). Dies hängt mit ihrer Öffnung dafür zusammen, die wiederum durch die Veränderung der Situation ihrer Schwestern ‒ die jüngere sei erwachsen geworden, bei der älteren habe sich „auch einiges stabilisiert“ (Karin, T2993f.) ‒ begünstigt wurde. Es bestehe nun „eine andere Gesprächsbasis“ (Karin, T2994). Über ihre Betroffenheit sprach Rebecca nur in einer Situation der Verzweiflung am Beginn der Essstörung, ansonsten habe sie nie und niemandem mehr davon erzählt: „Also wirklich gar niemandem von meinem Freundeskreis. Ich habe mir auch immer richtig Mühe gegeben, das zu verleugnen und abzustreiten“ (Rebecca, T565‒T567). An Rebeccas Begriff der Mühe wird deutlich, dass das Schweigen über die Essstörung nicht ein bloßes Stummbleiben ist, sondern Anstrengung erfordert, um das Geheimnis bewahren zu können. Heute hingegen vermag sie darüber zu sprechen, wie mit einem Freund kurz vor dem Forschungsgespräch. Sie habe jedoch im Vorfeld des Aussprechens eine gewisse Zurückhaltung gegenüber dem Freund gespürt, da sie sich im Hinblick auf seine

8.2 Entwicklungen in den Selbst-Umfeld-Lebensbeziehungen

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Reaktion unsicher gewesen sei. Rebecca befürchtete, dass sich dadurch seine Sicht auf ihre Person verändern würde (Rebecca, T549‒T555). Die Außendarstellung hat nun zwar wesentlich weniger Gewicht, dennoch ist sie für Rebecca auch wichtig geblieben. Dass sie eine „gute Erfahrung“ (Rebecca, T549) beim Sprechen über die Essstörung machen konnte, wird sie in ihrer Offenheit bestärken. Emotionaler Ausdruck Die vorangegangenen Beispiele verdeutlichen, dass die Essstörungserfahrung nun, anstatt des früheren Schweigens und geheimen Verhaltens, in die eigene Lebensgeschichte integriert werden konnte. Ein Bild dafür ist, dass die Essstörung im Laufe der Überwindung unsichtbarer, schließlich unsichtbar, gleichzeitig hörbarer wird. Dies zeigte sich auch in den Gesprächen mit den Personen, in denen sie sehr offen ihre Geschichte erzählten und sich dabei wohlfühlten, anstatt Scham zu empfinden (u. a. Rebecca, T1771‒T1774). Abgesehen von der Verbalisierung der eigenen Betroffenheit umfasst das Zur-SpracheKommen auch das Ausdrücken eigener Wünsche und Gefühle. Bei Jasmin wird die Entwicklung vom unbedachten Äußern, vor allem im Arbeitskontext ‒ sie sei „vorlaut“ (Jasmin, T1086) gewesen ‒ zum differenzierten Ausdruck deutlich. Sie „fresse nicht alles rein“ (Jasmin, T2052), wäge jedoch ab, ob das Aussprechen zu ihrem Nachteil sein könnte. Ein Entscheidungskriterium ist, ob ihr die Angelegenheit „im Magen liegen“ (vgl. Jasmin, T2065) würde, wenn sie diese nicht zur Sprache brächte (Jasmin, T2052‒ T2067). Jasmin kann heute auch ihrer Wut Ausdruck verleihen, die sie früher aus Angst vor Zurückweisung verbarg. Für den Umgang mit Gefühlen in diversen Situationen war die therapeutische Begleitung sehr hilfreich. Dadurch konnte sie aus der Anpassung zum Ausdruck kommen, wenngleich im Zitat deutlich wird, dass sie noch zwischen ihrem Empfinden und dem Verhalten des Man schwankt: Das Richtig-Falsch-Verhalten, das war für mich ewig ein Thema. Das war ganz, ganz ausgeprägt bei mir, dass ich immer alles richtig machen wollte. Da haben wir viel mit Situationen gearbeitet, dass ich erzählt habe: „Es hat die Situation gegeben, und innerlich hätte ich so platzen können, ich habe aber nichts gesagt.“ Ich habe dann mitgekriegt, dass es total normal wäre, wenn ich das in so einer Situation ‒ ich muss ja nicht ausrasten deswegen ‒ zumindest anspreche oder auch mein Gefühl zulasse. Ich habe es ja lange nicht zugelassen. Und dann langsam auch mich so verhalte, wie es ist oder wie man es halt auch tut und nicht nur alles runterschlucken. (Jasmin, T2028‒T2044; Hervorhebung A. K.)

Mit dem verbalen und nonverbalen Ausdruck von Emotionen zeigt sich die Person in ihrer Ganzheit, ohne dafür die Sprache der Essstörung zu benötigen (s. Kapitel 7.1.3). Dies fällt den Personen heute leichter, kann aber noch eine Herausforderung sein: „Die [Wut] ist bei mir sicher noch nicht ausgeprägt, wie sagt man denn: ausagiert. Ich suche schon immer wieder so einen Punkt des Ausdrucks, was das sein kann“ (Claudia, T2720‒T2722). Hierfür erlebt Claudia Ruhe, etwa in Form des Meditierens, als hilfreich, da sie dabei „nicht so viele Fluchtmöglichkeiten“ (Claudia, T2750) wie beim (schnellen) Laufen habe, denn: „Das kriegt bei mir manchmal ein bisschen den Aspekt von: Ich

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8 Wegverläufe

überlagere es“ (Claudia, T2744). Eine Ambivalenz bezüglich der Äußerung eigener Emotionen wird außerdem am Perspektivenwechsel vom „ich“ zum „man“ im folgenden Zitat von Anita deutlich. Sie spricht hier über eine Stresssituation im Rahmen der Prüfungsvorbereitung für ihr Studium: „Ich lasse mir auch nicht mehr nehmen, dass ich in so einer Phase [der Verzweiflung] weinen darf. Wenn ich etwas in dem Moment spüre, dann sollte man das auch machen. Das ist eigentlich das, was sich am meisten geändert hat“ (Anita, 1242‒1246; Hervorhebung A. K.). Sichtbarkeit als Person Durch das Zur-Sprache-Kommen im Laufe der Überwindung der Essstörung vergrößert sich somit die Hörbarkeit der Person. Eine solche Entwicklung zeigt sich auch im Hinblick auf ihre Sichtbarkeit, während sie in der Anpassung „unauffällig“ (Marianne, 116) bleibt: einerseits, da sie selbst ihre Wünsche nicht oder kaum spürt und wenig Orientierung für sich hat; andererseits aufgrund ihrer mangelnden Akzeptanz im Umfeld. In ihrer Betroffenheit ist nicht die Person selbst, sondern vor allem die Essstörung erkennbar, wobei dieses Ausmaß von der Ausprägung und der Form, Anorexie oder Bulimie, abhängt. Die Betroffenen erlangen dabei allenfalls durch ihr körperliches Verschwinden mehr Sichtbarkeit. Hingegen wird die Person mit der Überwindung der Essstörung sowohl körperlich als auch mit ihren eigenen Wünschen bzw. mit ihrem ganzen Selbst präsenter. So zeigt sich Grete gegenüber anderen nicht nur mit ihrer Bulimie-Erfahrung, indem sie darüber spricht, sondern ebenso mit dem Essen: „Ich kann heute alles, was ich esse, auch in der Öffentlichkeit essen“ (Grete, T1454f.). Sichtbarer werden die Personen außerdem in sozialen Beziehungen. Durch das Heraustreten aus dem sozialen Rückzug kommen die Personen wieder mehr mit ihrem Umfeld in Kontakt. Hierfür können neue Situationen und Kontexte förderlich sein (u. a. Melina, 875), zumal Bindungen der Vergangenheit das Loslassen von alten, die Essstörung aufrechterhaltenden oder verstärkenden Beziehungsmustern mitunter erschweren. Damit ist wiederum die Hör- und Sichtbarkeit als Person eingeschränkt. Tamina spricht davon, sich „zurückgehalten“ (Tamina, 2299) zu fühlen, wobei sie dieses Gefühl im Bereich ihrer Gallenblase verortet. Bis zu ihrem bedeutsamen Aufenthalt in Afrika vor beinahe fünfzehn Jahren litt sie häufiger an Koliken aufgrund von Gallensteinen. Sie stellt den Gedanken in den Raum, dass es möglicherweise „ein anderes Halten“ (Tamina, 2297) sei. Es stehe dafür, dass sie ihre „Individualität“ (Tamina, 1380) nicht leben könne, also noch zu sehr in ihrer Entfaltung gehemmt und in der Anpassung gehalten wird. Irina hingegen konnte sich durch die Trennung von ihrem früheren Lebenspartner von alten Mustern lösen und dadurch ihr Leben, nicht nur ihr Essverhalten, verändern. Auch für Bianca war das Hinterfragen der Beeinflussung durch frühere, familiäre Prägungen sehr bedeutsam für ihre Entfaltung: „Die Werte meiner Ahnen oder die Süchte meiner Ahnen ‒ sind sie wirklich meine?“ (Bianca, 129). Sie bezieht sich dabei auf die Alkoholproblematik, die sie nicht aufgrund ihrer gemeinsamen genetischen Grundlage in sich weiterträgt, und spricht im Hinblick auf diese Erkenntnis von einem „Befreiungsschlag“ (Bianca, 131). Das Befreien von internalisierten Vorstellungen ermöglichte ihr somit ein Entfesseln und Sichtbar-Werden ihres Selbst.

8.2 Entwicklungen in den Selbst-Umfeld-Lebensbeziehungen

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Eine Veränderung oder Entfernung von früheren Beziehungsmustern und Überzeugungen trägt demnach zur Selbst-Stabilisierung bei. Mit einer solchen, heute vorhandenen Stabilität bringt Rebecca das vermehrte Ausdrücken ihrer Person gegenüber ihren Freunden und Freundinnen in Zusammenhang (s. Kapitel 8.2.3). Sie spricht dabei von einem „relativ stabilen Selbstbild“ (vgl. Rebecca, T944). Früher sei sie mehr auf ihre äußere Darstellung bedacht gewesen, während sie heute auch „Schwächen eher zugeben“ (Rebecca, T1054) könne (Rebecca, T1053‒T1070). Karin kann sich nun vor allem mit ihrer Körperlichkeit mehr zeigen, da sie sich mit ihrem Gewicht wohler fühlt. Während sie noch nicht so weit sei, ihre Körperlichkeit im Rahmen einer Partnerschaft zu leben und deswegen auch nicht, eine Partnerschaft einzugehen, erzählt sie von ihrem veränderten Erleben unter anderen Frauen im Fitnessstudio: Ich hab am Anfang so eine Scham gehabt, mit diesen anderen Frauen überhaupt duschen zu gehen. Das war für mich so eine Überwindung. Jetzt ist es eine Selbstverständlichkeit für mich. Dieses Sich-wem-anderen-Zeigen, da haben mehrere Sachen mitgespielt. Wahrscheinlich war's nicht nur der Sport, sondern prinzipiell dieses Unterdie-Leute-Gehen. (Karin, T3222‒T3234)

Jasmin erfreut sich vor allem am Sichtbar-Werden als Frau: „Mal einen schönen Schuh anziehen oder ein Kleid ‒ Frau sein. Mittlerweile brauche ich das einfach für mich“ (Jasmin, T1488‒T1490). Auf die Frage, wie dies früher war, antwortet sie: „Es war mir eigentlich viel wurscht in der Zeit, als ich so krank war. Ich bin meistens im Joggingzeug herumgelaufen, eh alles nur zu weite Sachen natürlich, weil es mir unangenehm war“ (Jasmin, T1495‒T1500). Im Hinblick auf ihre Sichtbarkeit äußert Karin außerdem einen Wunsch, der mit der problematischen Fokussierung auf die Essstörung, vor allem auf die Reduktion ihres früheren Übergewichts, von Seiten des Umfeldes in Zusammenhang steht. Sie möchte als Person sichtbarer werden, während die Essstörung „noch mehr in den Hintergrund rücken“ (vgl. Karin, T3402), „von der Bühne gehen“ (vgl. Karin, T3421) solle. Wenn sich „die Wogen glätten“ (Karin, T3410), kann Karin mehr Gleichgewicht finden: Eine Sache, die für mich schon sehr wichtig wäre, ist, dass dieses ganze Thema noch mehr in den Hintergrund rückt. Weil es reagieren die Personen in meinem Umfeld momentan immer noch recht anders auf mich: „Ma, du hast abgenommen!“ Einfach, dass das auch für die anderen ein großes Thema ist, dass ich jetzt mehr oder weniger anders ausschaue. Dass sich da die Wogen glätten und es in der Hinsicht nicht mehr so wichtig ist. Ja, dass sich einfach alles ein bisschen normalisiert und das nichts Besonderes mehr ist. Dass mich Leute nicht so anschauen und sagen: „Pah, du hast so viel abgenommen!“, oder was auch immer. Oder: „Was isst du jetzt?“, und: „Was tust du?“ Also dass das ganze Thema generell wieder ein bisschen von der Bühne geht und einfach mehr Platz wieder für anderes lässt. Das wäre ein großer Wunsch. (Karin, T3400‒T3424)

Zur Sprache zu kommen und sichtbar zu werden ‒ zusammengefasst: zum eigenen Ausdruck zu kommen ‒, sind somit wichtige Aspekte der Selbst-Entfaltung. Diese führen zu einer Lebensweise jenseits von Anpassung und Unauffälligkeit bzw. sind Teil einer solchen Lebensweise, die Marina folgendermaßen auf den Punkt bringt: „Das eigene

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8 Wegverläufe

Leben leben, nicht das Leben von anderen leben“ (Marina, 803). Das ist Marina nicht nur für sich selbst wichtig, sondern gibt sie auch (noch) Betroffenen als Anregung mit (s. Kapitel 10.1). 8.2.5 Wende und Verlust Neben den bisher genannten Selbst-Entwicklungen zeigen sich in den Gesprächen mit der Wende und dem Verlust zwei weitere Formen, die jedoch nicht oder nur teilweise als Selbst-Entfalten zu betrachten sind. Die Personen beschreiben hierzu vor allem Auswirkungen der Essstörungserfahrung auf das Selbst, jedoch werden auch jene auf die Umfeldbeziehungen und die Lebensbeziehung deutlich. Tamina spricht von einer „180Grad-Wende“ (Tamina, 753) in ihrem Leben, insbesondere in Bezug auf die Essstörung. An anderer Stelle meint sie, „180 Prozent verändert“ (Tamina, 1618) und ein „komplett anderer Mensch“ (Tamina, 753) geworden zu sein. Im Gegensatz zu Irina, die vom Zulassen anstatt einer Veränderung ihres Selbst spricht (s. Kapitel 8.2.2), erzählt Tamina von einer subjektiv erlebten persönlichen Veränderung im Rahmen ihres neunmonatigen beruflichen Aufenthalts in Afrika. Diesen sieht sie als den „allergrößten Wendepunkt“ (Tamina, 1963) für die Überwindung der Essstörung sowie insgesamt für ihre persönliche Entwicklung: „Ich sag immer, es war für mich eine 180-Grad-Wende, als ich zurückgekommen bin. Ich bin als ein komplett anderer Mensch zurückgekommen ‒ und geheilt“ (Tamina, 753). Eine Wende, punktuell sowie prozesshaft, kann sich nach dieser Auffassung sowohl im Hinblick auf den Verlauf der Essstörung bzw. des Lebens im Allgemeinen als auch auf die Veränderung der Person vollziehen. In folgender Aussage spricht Tamina ebenso eine Wende an: „Die Menschen dort haben mich missioniert, nicht ich sie (lacht)“ (Tamina, 735‒737). Nach ihrer Rückkehr fühlte sich Tamina in ihrem ursprünglichen österreichischen Umfeld jedoch fremd. Außerdem wurde sie wieder mit früheren Problemen, beispielsweise in der Beziehung zu ihrer Mutter, konfrontiert. Dementsprechend war dieses Thema sehr präsent im Gespräch. Im Gegensatz zu einer allmählichen Entwicklung könnte eine Wende, im Sinne einer großen Veränderung innerhalb kurzer Zeit, die Stabilität einer Person verringern, da damit ein rascher Verlust früherer Bindungen einhergeht. Eine von Tamina beschriebene „180-Grad-Wende“ (Tamina, 753) kann sich auf zweierlei Weise ereignen: Bei vorherigem Entfernen bedeutet diese ein Zugehen auf sich selbst und begünstigt damit ein Entfalten eigener Wünsche. Diese Variante trifft auf Tamina zu. Befindet sich eine Person jedoch auf dem Weg zu sich selbst, heißt eine Wende um 180 Grad eine Distanzierung von sich selbst. Entgegen diesen beiden Fällen muss eine Wende jedoch nicht unbedingt mit einer Fortbewegung verbunden sein: Dadurch wird im ersten Fall ‒ in der Tendenz, sich vom Selbst zu entfernen ‒ der Blick zwar auf sich selbst gerichtet, jedoch die Distanz aufrechtbleiben. Im zweiten Fall hingegen ‒ auf dem Weg zu sich selbst ‒ wird die Nähe, aber mit nun abgewandtem Blick, beibehalten. Wie die von Tamina angesprochene Wende kann auch das Gefühl des Selbst-Verlustes die eigene Stabilität einschränken. Tamina habe sich aufgrund zu vieler außerberuflicher Aktivitäten in der Zeit vor dem Gespräch „fast ein bisschen verloren“ (Tamina, 1484), unter anderem aufgrund ihrer Schwierigkeit, Grenzen zu setzen. Bianca erzählt

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von einem kurzzeitigen, sich aber immer wieder ereignenden Selbst-Verlust in ihrer Beziehung zum damaligen Partner und heutigen Mann und bezeichnet diesen auch als: sich selber „hinten anzustellen“ (Bianca, 47). Durch eine Veränderung der Beziehung, die darin bestand, diese „neu zu definieren“ (Bianca, 49), hat sie ein solches Gefühl nun nicht mehr. Karin hingegen beschreibt einen bleibenden persönlichen Verlust durch die Essstörung als das für sie „nicht so Gute“ (vgl. Karin, T3058): Ich glaube zum Beispiel, bezogen auf das nicht so Gute, dass mich die Erkrankung schon extrem viel Kraft gekostet hat und dass ich das einfach merke. Ich hab da schon öfter diesen Gedanken: ,Ich hab das Gefühl, ich hab schon sieben Leben hinter mir.‘ Ich hab schon so viele Kämpfe ausgefochten, dass es mich, wie gesagt, viel Kraft gekostet hat und auch viel von meiner Positivität. Also Optimismus ist bei mir nicht mehr viel da. Wenn meine Mama sagt, dass ich als Kind immer so fröhlich war, ist das so weit weg. Ein fröhlicher, unbeschwerter Mensch, das war ich schon so lang nicht mehr, und das bin ich einfach auch nicht mehr. Eine Unbeschwertheit ist in meinem Leben eigentlich nicht mehr wirklich existent, sagen wir so. Es gibt wieder Momente der Freude und so weiter, aber ich bin einfach die, die bedachter ist und die realistisch ist und die auch den Plan hat. Aber so dieses Einfach-in-den-Tag-hinein-Leben, das gibt's bei mir eigentlich nicht mehr. (Karin, T3057‒T3081)

Während sich Karin vor allem auf ihre persönliche Entwicklung bezieht, erzählt Rebecca von den „Kosten“ (vgl. Rebecca, T936) an Lebenszeit. Sie meint damit vor allem das Versäumnis von Erleben, beispielsweise zusammen mit nahen Menschen zu sein, jedoch ist dieses auch im Hinblick auf die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben zu sehen. Eine stärkere Ausprägung von Selbst-Verlust spricht Anita mit Wehmut an. In sehr ernstem und bedrücktem sowie bedrückendem Ton erzählt sie, ähnlich wie die zuvor zitierte Karin, dass sie sich als Person vor der Essstörung vermisst. Gleichzeitig findet sie jedoch auch die schönen Seiten des Lebens: Ich bin noch immer auf der Suche nach der [Anita] vor der Essstörung. Ich hab sie verloren. Deswegen sag ich ja, es waren nicht nur die verlorenen Jahre. Es war, dass ich mich verloren hab als Person. Ich möchte einfach nur die haben, die lachen hat können. Es ist nicht so, dass mein Leben traurig ist oder so. Im Gegenteil, es ist sehr schön. Aber ich hätte gern diese kindliche Seite. (Anita, 1150‒1160)

Anders als Bianca, Anika und Anja (s. Kapitel 8.2.3) hat Anita keine Verbindung zu ihrem kindlichen Anteil, also zu einem Teil ihrer Person, gefunden, sondern sie ist auf der Suche nach diesem, vor allem nach der früheren Unbeschwertheit. Durch die Essstörung fühlt sie sich von diesem kindlichen Anteil abgetrennt bzw. ist dessen Kommunikation mit dem heutigen erwachsenen Anteil eingeschränkt (Reddemann, 2011, S. 164f.; s. Kapitel 3.3.2). Hierin unterscheidet sie sich von den meisten anderen Personen, die heute mehr Selbst-Nähe durch die vergangene Essstörungserfahrung erleben. Da es bei der Einschätzung von Anita bezüglich der Überwindung insgesamt Unsicherheiten gab, ist dies ein Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen vertiefter SelbstBeziehung, die einen Aspekt des persönlichen Wachstums darstellt, und Überwindung

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8 Wegverläufe

der Essstörung. Dass die überdauernde Essstörung letztlich ein Weg des Selbst-Verlustes ist, drückte Anitas Therapeutin folgendermaßen aus: „Je mehr Sie verschwinden, desto weniger werden Sie sich selber finden“ (Anita, 1385), denn es sei ein „Selbstmord auf Raten“ (Anita, 1383).

III RÜCK- UND AUSBLICK

9 Zusammenfassung und Diskussion der Forschungsergebnisse Im Anschluss an die Darstellung des Modells zu persönlichen Entwicklungswegen aus der Essstörung, das im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit entstand, werden in diesem Kapitel zentrale Ergebnisse zusammengefasst und mit Bezug auf relevante Literatur diskutiert. Ausgangspunkt war die Frage nach einem Zusammenhang zwischen Selbstentfaltung und persönlichem Wachstum einerseits und Überwindung der Essstörung andererseits, da bei Betroffenen häufig Anpassung und Leistungsorientierung zu beobachten sind. Zudem richtete sich der Blick auf unterstützende Aspekte für die Betroffenen im Alltag sowie in der Therapie. Durch Erkenntnisse hierzu soll zum Verständnis der Dynamik dieser Erkrankung und damit zur Erhöhung der Heilungschancen beigetragen werden, da die Verläufe und Therapieerfolge trotz zahlreicher Forschungsarbeiten nach wie vor nicht zufriedenstellend sind (s. Kapitel 1). Im Rahmen der Auswertung zeigten sich insbesondere verschiedene Gegenläufigkeiten, sowohl im Wesen der Essstörung und deren Verlauf als auch in den Merkmalen der Personen. Unter anderem diese Komplexität erschwert das Begreifen der Erkrankung und damit ihre Überwindung. Zum Beispiel ist die Essstörung für die Betroffenen Gefahr und Schutz zugleich. Eine weitere Gegenläufigkeit besteht in der sowohl aktiven als auch passiven Beteiligung der Betroffenen im Verlauf der Erkrankung und Überwindung. Vor allem bringt ihnen die Essstörung nur vorübergehend Gleichgewicht, das sie letztlich jedoch verlieren. Gleichgewicht auf den persönlichen Entwicklungswegen Die persönliche Entwicklung der Gesprächspersonen kristallisierte sich im Laufe der, an der Grounded Theory ausgerichteten, Auswertung als Weg ins Gleichgewicht heraus. Daher gilt das Gleichgewicht als Kernkategorie des Modells zu persönlichen Entwicklungswegen aus der Essstörung, wofür sich verschiedene Ausprägungen im Rahmen der folgenden drei Etappen beschreiben lassen: 1) Anfang(en) und Abrutschen in die Essstörung ‒ Aus dem Gleichgewicht kommen; 2) Wende ‒ Aus dem Gleichgewicht und Wegorientierung; 3) Wege aus der Essstörung gehen ‒ Das eigene Gleichgewicht finden. Diese Etappen sind keine Abschnitte, für die jeweils eine klare Trennlinie, etwa nach zeitlichen oder symptomatischen Gesichtspunkten, anzugeben wäre. Zudem ist der Weg ins Gleichgewicht kein geradliniger, sondern er umfasst Verzweigungen, weshalb passender von Wegen zu sprechen ist. Neben der Entwicklung in Richtung Gleichgewicht ist die Aporie eine weitere Gemeinsamkeit dieser Wege. Diese, aus dem Griechischen zu übersetzende, Ausweglosigkeit (Gessmann, 2009, S. 45) ist vor allem während der ersten Etappe, die im Modell beschrieben wird, präsent. In dieser anfänglichen Ausweglosigkeit, vor allem aufgrund der Überforderung und Verunsicherung in der aktuellen Lebenssituation, scheint die Essstörung ein Ausweg zu sein, indem diese als Stabilisierung, Schutz und Sprachrohr dient (s. Kapitel 7.1). Der sich häufig bis zur Wende zuspitzende Leidensdruck erfordert eine Orientierung auf dem Weg, eine Wegorientierung (zweite Etappe; s. Kapitel 7.2), um in Richtung des eigenen Gleichgewichts © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Kathrein, Überwindung der Essstörung als Weg ins Gleichgewicht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25971-6_9

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gehen zu können (dritte Etappe; s. Kapitel 7.3). Treffend ist an dieser Stelle der Unterschied zwischen pόros im Begriff Aporie als Weg, den es erst zu bahnen gilt, im Gegensatz zu hodόs im Begriff Methode (griech. méthodos): Dieser Weg ist schon bekannt und kann daher nachgegangen werden (griech. metá = nach, hinter; Gessmann, 2009, S. 489). Die Überwindung der Essstörung stellt sich jedoch als Finden des eigenen, noch nicht vorgezeichneten Weges dar. Dieser ist bei den Gesprächspersonen von folgender Verlaufsdynamik charakterisiert: das Abrutschen bis zu einem Tiefpunkt, von dem aus es mit Mühe wieder bergauf zu gehen erfordert. Solche verschiedenen Phasen beschreiben auch Corbin und Strauss (1993) mit den Krankheitsverlaufskurven bei chronisch erkrankten Menschen. Nicht nur die Überwindung der Essstörung, sondern die persönliche Entwicklung im Allgemeinen ist als ein solcher neu zu bahnender Weg zu verstehen. Somit befindet sich der Mensch kontinuierlich im Werden, wie dies auch Montaigne ausdrückt: „Ich schildere nicht das Sein, ich schildere das Unterwegssein“ (Montaigne, 1998, S. 398; zitiert nach Danzer, 2012, S. 444). Erfahrungen können dementsprechend nicht rückgängig gemacht werden, sondern bleiben wirksam. Auch in Ökosystemen, die sich kontinuierlich verändern und anpassen, haben Ereignisse mitunter langfristige Auswirkungen. Diese Ereignisse sind zwar Störungen im Ökosystem, aber keine Zerstörungen, denn, so Rupert Seidl in einem Ö1-Radiobeitrag: „Die Störung bietet sozusagen die Möglichkeit für den Wald, sich zu erneuern“ (Harmner, 2018). Dieses Beispiel kann auf das menschliche Leben übertragen werden: Verletzungen hinterlassen häufig Narben und damit Spuren auf zellulärer Ebene. Demnach ist die Überwindung der Essstörung bzw. die Entwicklung des Menschen im Allgemeinen nicht als Erreichen eines Zustandes, der vor dem Auftreten der Essstörung bzw. eines Ereignisses gegeben war, zu verstehen. Erfahrungen wirken in der Person fort und zeigen sich entsprechend dem Umgang mit ihnen auf unterschiedliche Weise. Die Person kann diese Erfahrungen verdrängen oder umgekehrt sich von ihnen zurückdrängen, also hemmen, lassen. Eine andere Form des Umgangs ist die Transformation, die zentraler Bestandteil der posttraumatischen bzw. persönlichen Wachstumstheorien ist: sich mit den Erfahrungen auseinanderzusetzen, sie als Teil der eigenen Geschichte anzuerkennen und mit ihnen den eigenen Weg weiterzugehen ‒ an ihnen zu wachsen (s. Kapitel 3.3). Dieser Auffassung sind jene Aussagen der Gesprächspersonen zuzuordnen, in denen sie die Überwindung bzw. die Entwicklung im Allgemeinen als Lernprozess darstellen (s. Kapitel 8.2.1). Über den Verlauf hinweg wird neben dem Gleichgewicht und der Aporie ein drittes Merkmal deutlich: die Ambivalenz. Eine Person, die Ambivalenz empfindet, steht im Zwiespalt zwischen zwei für sie gleichwertigen Aspekten (lat. ambo = beide, valere = gelten; Häcker & Stapf, 1998). Zu nennen ist hier insbesondere der Wunsch nach Anerkennung als Person, die mit Selbstentfaltung, dem Leben eigener Fähigkeiten und Ziele, erreicht werden möchte, aber mitunter nur durch Anpassung an äußere Forderungen, vor allem durch Verfolgen von Körper- und Leistungsidealen, erfahren wird. Die Ambivalenz lässt sich einerseits als Zwischenschritt auf dem Weg von der Aporie zum Gleichgewicht auffassen, andererseits als Aspekt der Gleichgewichtsbewegung und -findung: Während in früheren Phasen der Erkrankung eine Tendenz zum Verharren an dem einen oder anderen Pol besteht, wird allmählich die Bewegung zwischen den Polen möglich. Beispielsweise ist weder die gänzliche Anpassung an Forderungen

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von anderen noch das rücksichtslose Umsetzen eigener Interessen anzustreben. Stattdessen gilt es, Nähe zu anderen und ihren Bedürfnissen zu finden und gleichzeitig Grenzen zu setzen, indem eigene Wünsche ausgesprochen und verwirklicht werden. Das Finden eines Gleichgewichts, wie es sich in der vorliegenden Arbeit zeigt, beschreiben auch Jenkins und Ogden in Form des Ausgleichs zwischen Dichotomien: das Zusammenspiel zwischen Körper und Seele, zwischen Gedanken und Verhalten. Dadurch können Bewältigungsstrategien erstens gefunden und zweitens flexibel eingesetzt werden, ohne die Essstörung als Sprache zu benötigen (Jenkins & Ogden, 2012). Lamoureux und Bottorff nennen auf Basis ihrer Gespräche mit neun Frauen, die die Anorexie überwunden haben, deren Empfinden des „good enough“ (Lamoureux & Bottorff, 2005, S. 180) als Ausdruck ihrer gefundenen Balance. Durch die größer werdende Selbstakzeptanz konnten sie die Anorexie loslassen und mehr ihre eigene Vielfalt leben, die über ihr Aussehen hinausreicht ‒ mit dem Gefühl, trotzdem, oder gerade deswegen, gut genug zu sein (Lamoureux & Bottorff, 2005). In der Analytischen Psychologie nach C. G. Jung besteht das Finden eines Gleichgewichts in der Integration von Persona und Schatten, die im Rahmen der Individuation, der Ganzwerdung, erfolgt (s. Kapitel 3.2.3). Die Integration wird als Zusammenführung von verdrängten Merkmalen der Person und ihrer äußeren Darstellung verstanden. Dementsprechend handelt es sich um eine Verbindung von persönlichen Anteilen (s. Kapitel 8.2.3). Das Annehmen der eigenen Person und des Lebens mit all seinen Seiten, anstatt äußere Vorgaben sowie (vermeintlich) eigene Vorstellungen zu erfüllen, ist kein Verharren, sondern vielmehr die Grundlage für Veränderung: „Gerade indem man diese Grundbedingungen akzeptiert, kann man beharrlich Grenzüberschreitung üben“ (Kast, 2009, S. 18). Das Wesen der Essstörung Die Essstörung stellt sich in den Gesprächen sehr vielschichtig dar. So sprechen manche Personen den Suchtcharakter an, unter anderem vergleichen sie die Essstörung mit der Alkoholerkrankung. Dies ist angesichts der deutschen Bezeichnungen Magersucht und Ess-Brech-Sucht nachvollziehbar. Die rigide Kontrolle lässt die Essstörung außerdem in die Nähe der Zwangsstörung rücken, durch die emotionale Labilität gibt es wiederum eine Überschneidung mit dem Bereich der affektiven Störungen (DIMDI, 2018; s. Kapitel 2.2.3 und Kapitel 7.1.3). Laut Köpp et al. wurde die Anorexie Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, unter anderem von Freud, der Hysterie, auch der Melancholie, zugeordnet. Dies traf ebenso auf die Bulimie, mit Bekanntwerden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zu, wobei hier darüber hinaus ein Zusammenhang mit narkotischen Süchten gesehen wurde. Schließlich galten Anorexie und Bulimie jedoch als eigene Krankheitsbilder (Köpp et al., 2007). Zur Frage nach der heutigen diagnostischen Einordnung der Essstörung sei Ettl zitiert: Wir haben es bei den Eßstörungen mit einer eher willkürlichen nosologischen Einteilung zu tun, die sich am lärmenden Symptom orientiert, aber in die Irre führt. Man könnte, wie gesagt, die Patienten z. B. ohne Mühe und zutreffender den Scham- oder Zwangserkrankungen oder besser den Phobien zuteilen, zieht man die Gewichtsphobie

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oder die soziale Phobie in Betracht. Eßstörungen gibt es überdies auch bei anderen Krankheitsbildern wie der Depression oder der Angst. Man könnte also ebensogut von einem epidemischen Anwachsen der Angststörungen oder Depressionen sprechen. Die Überbewertung des Eßverhaltens wäre vom Tisch, zumal auch für die Patienten das Lebensmittel als solches ohne Bedeutung ist. Schon die manifeste Ebene des Symptoms zeigt, daß es nicht ums Essen geht, wie die Magersüchtige vorführt: Sie weist die Nahrung verächtlich von sich. Die Bulimikerin ihrerseits entwertet sie, indem sie sie gleich wieder erbricht. (Ettl, 2006b, o. S.)

Dass das Essverhalten nicht allein ausschlaggebend für die diagnostische Einordnung sein soll, zeigt sich auch an den verschiedenen Funktionen, die die Essstörung erfüllt, insbesondere an der stabilisierenden bzw. identitätsbildenden Funktion. Zum Empfinden der Betroffenen, sich erst durch die Präsenz der Essstörung des eigenen Selbst gewiss zu werden, schreibt die analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Iris Nikulka: „Nur wenn ich ein Strich bin, kann ich sein“ ‒ diese Aussage einer meiner Patientinnen konfrontiert uns mit einem Paradox, das für das Phänomen Magersucht typisch ist. Gilt der Körper gemeinhin als existentielle Voraussetzung des Seins, erstrebt das magersüchtige Subjekt eine Entkörperung, eine Strichexistenz, um sein zu können. Das heisst [sic], es versucht das Unmögliche: Es hungert sich zu Tode, um sein zu können. Oder: Es ist, wenn es nicht isst. Und umgekehrt: Wenn es isst, ist es nicht. (Nikulka, 2006, S. 365)

Eine umfassendere Beschreibung des Verlaufs einer Essstörung könnte anhand der Lebensqualität in verschiedenen Bereichen erfolgen, ähnlich den Domänen des entsprechenden Fragebogens der WHO (Angermeyer, Kilian & Matschinger, 2000, 2002). Diese umfassen körperliche, seelische, geistig-spirituelle und soziale Aspekte sowie Existenzund Umweltbedingungen. Damit ist eine Sichtweise auf die ganze Person gegeben, ohne auf die Essstörung zu fokussieren. Eine solche Fokussierung erinnern die Gesprächspersonen als sehr einschränkend. Das Erleben der Essstörung und das Leben mit der Essstörung werden in der vorliegenden Forschungsarbeit auf ähnliche bis gleiche Weise beschrieben wie von (ehemaligen) Betroffenen in anderen Studien (u. a. Jenkins & Ogden, 2012; Weaver et al., 2005) und von Betreuenden in Erfahrungsberichten (Mantl & Klabutscher, 2017). Beispiele hierfür sind: Vereinnahmung von der Essstörung; Kontrollverlust; Hörbarkeit der Essstörung als Stimme. Auch die Funktion der Problembewältigung oder der nonverbalen Kommunikation wird in der Literatur thematisiert. Diese Ähnlichkeit der Darstellung lässt sich einerseits mit einer eindeutigen Symptomatik und Dynamik der Essstörung erklären. Andererseits könnten sich darin Erklärungsansätze widerspiegeln, von denen die Gesprächspersonen in ihrer Therapie und durch die Auseinandersetzung mit Literatur und Dokumentationen Kenntnis gewonnen haben. Für Parallelen in der Entwicklung sprechen ähnliche Erlebnisse der Betroffenen im Rahmen der Überwindung, vor allem im Hinblick auf hilfreiche Aspekte, in verschiedenen Studien. Einige wesentliche davon sind: soziale Unterstützung, nahe Beziehungen, als Person jenseits des Gewichts wahrgenommen zu werden. Diese Ergebnisse haben sich im vorliegenden Projekt bestätigt.

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Beziehungskontext Betroffene-Essstörung-Umfeld Zum besseren Verständnis der Essstörungsdynamik werden die Betroffenen, ihr Umfeld und die Essstörung in dieser Forschungsarbeit in einem hier so bezeichneten Beziehungskontext betrachtet, in dem die Beteiligten verschiedene Positionen einnehmen können (s. Kapitel 6.2). Die Erkrankung ist kein Phänomen der einzelnen Person, sondern des Zusammenwirkens zwischen ihr und ihrem näheren Umfeld sowie der Gesellschaft. Diese gegenseitige Beeinflussung von Individuum und Umwelt wird auch in verschiedenen Entwicklungstheorien beschrieben (s. Kapitel 3). Im Rahmen dieser Untersuchung zeigt sich eine überfordernde Lebenssituation als wesentlicher Beitrag zur Essstörung ‒ besonders häufig wird von Druck, auch von Stress, gesprochen (s. Kapitel 7.1.1). Wie im gesamten Verlauf spielen hier mehrere Einflüsse eine Rolle, insbesondere: zu bewältigende Entwicklungsaufgaben; persönliche Merkmale wie Empfindsamkeit, Leistungsorientierung und Tendenz zur Anpassung; konfliktreiches, emotional zurückhaltendes und (über-)forderndes Umfeld. In der damit einhergehenden Destabilisierung der Personen bietet die Essstörung Halt ‒ bis diese zum Lebensinhalt wird. Eine weitere wichtige Funktion ist der Schutz vor Anforderungen und vor allem vor schmerzhaften Emotionen aufgrund schwieriger Erfahrungen. Dieser Schmerz kann durch die Fokussierung auf Essen und Gewicht in der Anorexie ausgehungert bzw. in der Bulimie erstickt werden. Da Belastungen, Emotionen, Bedürfnisse und Wünsche nicht auf andere Weise mitgeteilt werden können, ist die Essstörung außerdem als nonverbale Sprache zu verstehen. Hier spielt die Einschränkung in der Wahrnehmung und in der Kenntnis des eigenen Empfindens eine große Rolle, die wiederum mit den überfordernden Bedingungen im Umfeld in Zusammenhang steht: Bietet dieses zu wenige Möglichkeiten für die Auseinandersetzung mit sich selbst, beispielsweise durch (zu) viel Verantwortungsübernahme für andere, bleibt das Selbst in mehr oder weniger großem Ausmaß unbekannt. Damit können auch eigene Bedürfnisse nicht bzw. nur eingeschränkt gespürt und formuliert werden. Die Bedürfnisse der anderen hingegen werden sehr wohl wahrgenommen. Die hierfür erforderliche Empfindsamkeit zeigt sich bei den Gesprächspersonen indirekt auf Basis der Erzählinhalte sowie direkt durch das Formulieren ihrer Einschätzung. Sie sprechen zum Teil auch von Hochsensibilität. Diese korrelierte in der Studie von Blach und Egger mit höheren Stress- und Depressivitätswerten, war aber bei Menschen mit chronischen Krankheiten nicht häufiger zu verzeichnen als bei Personen ohne Diagnose (Blach & Egger, 2014). Neben Schüchternheit und negativer Emotionalität wird außerdem eine schwierigere Kindheit bzw. die Erinnerung an eine solche bei hochsensiblen Menschen beschrieben. Von diesen drei Aspekten ist in der Untersuchung von Aron, Aron und Davies (2005) jener der schwierigen Kindheitserfahrungen zentral: Bei hochsensiblen Personen gingen solche Erfahrungen mit stärker ausgeprägter Schüchternheit im Erwachsenenalter einher als bei weniger sensiblen Personen. Die Autorinnen und der Autor erklären dies mit der insgesamt höheren Emotionalität von hochsensiblen Menschen. Durch belastende Beziehungserfahrungen sind ihre vermehrten Emotionen negativ gefärbt und bewirken soziale Zurückhaltung. Im Falle eines supportiven Umfeldes gab es keinen Unterschied in der Schüchternheit zwischen hochsensiblen und anderen Personen (Aron et al., 2005). Da manche Gesprächspersonen von erhöhter sozialer

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Ängstlichkeit im Kindesalter erzählen, ist für diese ein stützendes Umfeld nicht nur im Hinblick auf ihre sozialen Kontakte, sondern auch für die Prävention der Essstörung als besonders bedeutsam anzunehmen. Dafür spricht das große hilfreiche Potential der Umfeldbeziehungen, während in der Erkrankungszeit ein sozialer Rückzug mit Bindung an die Essstörung besteht. Empfindsamkeit und bestimmte Umfeldbedingungen, insbesondere Mangel an Einfühlsamkeit sowie Be- bzw. Abwertungen, sind als Beitrag zu erhöhtem Schamempfinden zu sehen, das im Rahmen dieser Arbeit mit der unsicheren Identität in Zusammenhang gebracht wird (s. Kapitel 2.3.2). Ein solches zeigt sich bei den Personen nicht nur in ihrer Erzählung über ihre Betroffenheit, sondern zum Teil auch in den Gesprächen, indem das Äußern von schwierigen Erfahrungen häufig mit einem begleitenden Lächeln erfolgte. Das von ihnen wahrgenommene Gefühl des Anders-Seins (s. Kapitel 7.1.2) dürfte unter anderem mit Bewertungen von anderen in Zusammenhang stehen und ein Aspekt der erlebten Scham sein, zumal diese Kommentare mitunter demütigend und daher beschämend waren. So schreiben auch Linville et al., dass Zuschreibungen und fehlendes Verstehen von Seiten des Umfeldes das Schamempfinden erhöhen und den Rückzug aus Schutz vor weiteren Verletzungen verstärken (Linville et al., 2012). Dieser Rückzug wiederum trägt zu dem ohnehin häufig präsenten Schweigen in den Familien sowie zur Einsamkeit und Überforderung der Personen mit der Essstörung und mit der Situation bei. Hohe Leistungsanforderungen im Umfeld bewirken, die Betroffenheit als Schwäche und damit als Schamanlass zu erleben. Nach Frost et al. (2014) zeigt sich in mehreren Studien ein Zusammenhang zwischen Schamempfinden und Essstörungssymptomatik. Dafür spricht das Bewahren der Essstörung als Geheimnis über lange Zeit, oft bis zum Zuspitzen des Leidensdrucks. Dies trifft aufgrund des meist unauffälligen Gewichts noch mehr für Menschen mit Bulimie zu. Schamempfinden führt zum Hinauszögern des Therapiebeginns (Troop et al., 2008) und ist im Rahmen der Therapie durch eine adäquate Abstimmung zwischen Konfrontation und Behutsamkeit zu berücksichtigen (Frost et al., 2014). In ihrer Überforderung und Verunsicherung erhalten die Personen (zunächst) durch die Essstörung Stabilität, ebenso durch: Leistungsstreben; Anpassung; Kontrolle, die unter anderem in der Rigidität des Essverhaltens deutlich wird; Hyperinklusion durch den Austausch mit Gleichgesinnten (Thiel, Renner & Zipfel, 2018; s. Kapitel 7.1.2). Leistungsstreben ist bzw. war bei den Gesprächspersonen sehr ausgeprägt, wie es auch in der Literatur beschrieben wird (u. a. Bruch, 1989; Gazzillo et al., 2013). Das Ergebnis in diesem Projekt, dass hierfür in der Zeit der Essstörung eine stärkere Tendenz besteht, lässt auf eine Gemeinsamkeit von Essstörung und Leistungsorientierung im Hinblick auf ihre Einflussfaktoren schließen. Einerseits bringt Leistungsorientierung Anerkennung und ist als Form der Anpassung an gesellschaftliche Ideale zu sehen (s. Kapitel 2.3.4), wenngleich die Gesprächspersonen mitunter davon sprechen, dass es nur ihre eigenen Ansprüche gewesen seien. Gleichzeitig gab es jedoch auch die direkte oder öfter indirekte Vermittlung der Erwünschtheit guter Leistungen, vor allem in der Schule und im Sport. Mit indirekt vermittelt ist hier gemeint, dass die Erwartung beispielsweise durch die allgemein hohe Bedeutung von Leistung in der Familie, durch nonverbale Botschaften oder durch vorgelebte Leistungsorientierung im Sinne eines Modellverhaltens wei-

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tergegeben wird. Andererseits bringt Leistungsstreben neben der Anerkennung zumindest in gewissem Ausmaß und temporär eine Ablenkung von den Gedanken an Essen und Gewicht. Für das Entfernen von der Essstörung stellt das Leistungsstreben somit ein Hindernis und gleichzeitig eine Möglichkeit dar: ein Hindernis, da druckerzeugend für die Betroffenen und die Essproblematik verstärkend; eine Möglichkeit, da zum Teil vor der Essstörung schützend und, wie diese, haltgebend. Unabhängig davon geht Leistungsstreben jedenfalls mit einer Orientierung an äußeren Maßstäben, jenseits von Selbst-Entfaltung, einher. Wie in den Ausführungen zum Leistungsstreben deutlich wird, ist Anpassung an äußere Forderungen eine Form der Stabilisierung und als Rückzug hinter eigene sowie von außen festgelegte Grenzen zu verstehen. Demgegenüber steht die Widerstandsreaktion auf äußere Einengung in Form einer Rebellion (Chopich & Paul, 2009, S. 26). In keinem Fall erfolgt die Umsetzung eigener Wünsche: In der Anpassung werden diese meist nicht mehr wahrgenommen, in der Rebellion steht die Abwehr der vermeintlichen Bedrohung dieser Wünsche oder überhaupt der eigenen Existenz im Vordergrund. Rebellion kann aber auch der Erfahrung eigener Grenzen und in diesem Sinn der SelbstErfahrung dienen. So spricht Selvini Palazzoli im Hinblick auf die Adoleszenz, in der die Identitätsdefinition eine vordergründige Entwicklungsaufgabe ist, die „offene Rebellion“ (Selvini Palazzoli, 1995, S. 245) an. Essstörungen manifestieren sich zwar häufig in dieser Entwicklungsphase, jedoch geht aus den Erzählungen der Gesprächspersonen wesentlich weniger Rebellion als Anpassung hervor. Letztere ist demnach als Beitrag zur Entstehung einer Essstörung zu sehen, da dadurch eigene Bedürfnisse nicht oder wenig kennengelernt werden und die Identitätsdefinition nur eingeschränkt erfolgen kann – die Person wird bzw. ist unauffällig. In dieser Identitätsunsicherheit sowie den überfordernden Umfeld- und Lebensbedingungen bietet die Kontrolle über den eigenen Körper Sicherheit. Die Kontrollierbarkeit der Ereignisse im Leben, zumindest in einem gewissen Ausmaß, spielt in Entwicklungsbzw. Gesundheitskonzepten, unter anderem als Merkmal von Hardiness (Kobasa, 1979; Kobasa et al., 1982) und als Aspekt des Kohärenzgefühls (Antonovsky, 1997), eine zentrale Rolle für das Wohlbefinden einer Person (s. Kapitel 3.3.3). Anhand der Ausführungen von Greco zur Alexithymie lässt sich die Kontrolltendenz von Menschen mit Essstörungen aus einem weiteren Blickwinkel erklären. Auch bei Personen mit Alexithymie, einem gefühlsarmen Ausdruck, ist eine starke Ausrichtung auf Normen zu beobachten. Wie Greco mit Bezug auf Canguilhem schreibt, sei jedoch die Anpassung an soziale Normen im Gegensatz zu jener an biologische Gegebenheiten nicht bzw. nicht in der Form und dem Ausmaß notwendig (Canguilhem, 1974, S. 198; zitiert nach Greco, 2000, S. 273). Demnach könnte die Kontrolle über den eigenen Körper im Rahmen der Essstörung auf eine Ablehnung der notwendigen Anpassung an biologische Gegebenheiten hinweisen. Damit wäre es möglich, jener sozialen Anpassung, die einschränkende Umfeldbedingungen erfordern, etwas entgegenzusetzen, zumal die Betroffenen häufig zu einer solchen tendieren. Mit anderen Worten: Während die Person auf sozialer Ebene kontrolliert wird, übernimmt sie in biologischer Hinsicht selbst die Kontrolle, nämlich über ihren Körper, wenngleich diese letztlich auch zu Einschränkungen und Ohnmacht führt.

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Thiel et al. (2018) ziehen im Hinblick auf Anorexie außerdem das Phänomen der Hyperinklusion in Betracht, das auch auf die Bulimie übertragbar ist. Dieses wird im Spitzensport als Einengung des Lebensbereiches auf ein Sozialsystem mit den damit verbundenen Verhaltens- und Denkmustern, Zielen und Werten verstanden. So ist der Alltag eines Spitzensportlers bzw. einer Spitzensportlerin vom Training mit Kollegen und Kolleginnen sowie von der Kommunikation mit Trainern und Trainerinnen geprägt. Da die Einseitigkeit des Umfeldes bereits im Kindes- und Jugendalter präsent ist, konzentriert sich die Identitätsentwicklung auf ebendiesen Kontext ähnlich einem Identitätstunnel. Ein solcher Prozess könne aufgrund der Fokussierung auf Essen und Gewicht auch bei Essstörungen beschrieben werden. Insbesondere die Vernetzung über soziale Medien ermögliche eine „positiv besetzte soziale Exklusion aus dem gesellschaftlichen Mainstream“ (Thiel et al., 2018, S. 232) und „soziale Ansteckungsprozesse über geographische und zeitliche Grenzen hinweg“ (Thiel et al., 2018, S. 232) ‒ ein gemeinsamer Identitätstunnel wird gebildet. Dieses Phänomen stellt somit zwar eine Distanzierung von äußeren Maßstäben dar, geht jedoch mit noch stärkerem, nämlich gemeinsamem, Rückzug in eine eigene Welt einher. In dieser können sich Betroffene aufgrund der Schwierigkeit im Umgang mit eigenen Emotionen und mit der Interpretation des emotionalen Ausdrucks von anderen (s. Kapitel 2.2.2) leichter zurechtfinden, da solche Äußerungen auf Emoticons reduzierbar sind. Zudem erfüllt sich der Wunsch nach Anerkennung in einem solchen gemeinsamen Tunnel, in dem Essstörungen als Lebensstil und nicht als Lebensbedrohung interpretiert werden, eher als in der Welt außerhalb des Tunnels. Der Zugang von außen durch Menschen des Umfeldes sowie Therapeuten bzw. Therapeutinnen wird noch schwieriger (Thiel et al., 2018). Diese Überlegungen von Thiel et al. weisen auf das Risiko von sozialen Medien hin, das im Hinblick auf ProAna und Pro-Mia angemerkt wurde (s. Kapitel 2.3.4), jedoch darüber hinausreicht. Daraus wiederum lässt sich die Bedeutung von realen Begegnungen im Alltag ableiten, um einen Weg aus diesem Tunnel zu finden. Rolle des Umfeldes im Beziehungskontext In der Literatur werden für Familien von Menschen mit Anorexie im Vergleich zu jenen mit Bulimie zwar auch unterschiedliche, jedoch einige gemeinsame Merkmale angegeben. Darin könnte ein Grund für das häufige Auftreten beider Essstörungsformen im Verlauf, das sich bei den Gesprächspersonen dieser Forschungsarbeit zeigt, liegen. Zu den Merkmalen gehören insbesondere das Nähe-Distanz-Ungleichgewicht in Beziehungen sowie entweder das Verdrängen von Konflikten oder der wenig konstruktive Umgang damit (s. Kapitel 2.3.3). Ergebnisse anderer Untersuchungen, die darauf hinweisen, dass sich Betroffene in der Familie häufig isoliert fühlen (Levine, 2017), stimmen mit den Aussagen der Gesprächspersonen überein, immer anders gewesen zu sein. In unterschiedlichem Ausmaß bestehen bei ihnen familiäre Konflikte, nicht nur innerhalb der engeren Herkunftsfamilie, also zwischen ihren Eltern sowie zwischen ihren Eltern und ihnen, sondern häufig auch auf Seiten der Eltern mit ihren eigenen Eltern. Daran sind zum einen Abgrenzungsprobleme maßgeblich beteiligt, z. B. durch die Möglichkeit für Verwandte, jederzeit unangekündigt Zutritt zum Haus der Familie zu

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haben. Zum anderen werden Streitigkeiten laut ausgetragen, wodurch eine entsprechend distanzierte Atmosphäre vorherrscht. Laut Forschungsergebnissen beeinträchtigen Schwierigkeiten zwischen den Erwachsenen auch die Beziehung zu den Kindern (Walper et al., 2015). Die eigene Belastung geht mit einer geringeren zugewandten Aufmerksamkeit für das Kind einher, die wiederum die elterliche Fürsorge beeinflusst. Konflikte zwischen den (getrennten) Eltern wirken sich sowohl auf das Kind und seine Entwicklung als auch auf dessen Beziehung zum getrennt lebenden Elternteil aus. Ergebnisse aus Untersuchungen, wonach eingeschränkte materielle Ressourcen aufgrund der Belastung und Sorge der Eltern deren Beziehungsqualität zu den Kindern verringern, zeigen sich im vorliegenden Projekt nicht. Mehr als der materielle steht eher der emotionale Mangel im Vordergrund. Die Geschwisterbeziehung hingegen ist bei den Gesprächspersonen häufig von Nähe gekennzeichnet, mitunter haben die Geschwister eine Vorbildfunktion. Eine Betreuungsrolle scheint eher von Seiten der Gesprächspersonen als ihrer Geschwister vorhanden gewesen zu sein, vor allem bei (emotionaler) Abwesenheit der Eltern. Bei innerfamiliären Konflikten kann durch geschwisterlichen Zusammenhalt eine Stärkung erfahren werden. Dementsprechend äußern sie rückblickend mitunter Schuldgefühle, die Schwester oder den Bruder in der konfliktreichen Atmosphäre alleingelassen zu haben. Nicht nur Einflüsse des Umfeldes auf die Essstörung, sondern auch umgekehrt, nämlich der Essstörung auf das Umfeld, werden von den Gesprächspersonen sowie in der Literatur betont. Treasure et al. (2008) beschreiben den Umgang, das Verhalten und die Reaktionen des Umfeldes als Beitrag und als aufrechterhaltende Aspekte. Häufig zeigen sich ähnliche Persönlichkeitsmerkmale bei den Betroffenen und ihren Familien, insbesondere Ängstlichkeit, Zwanghaftigkeit und auch Essprobleme, die die Kommunikation erschweren. Nach dem Modell zur Aufrechterhaltung der Anorexie von Schmidt und Treasure (2006; cognitive-interpersonal maintenance model of anorexia nervosa; Goddard et al., 2013) erweisen sich Kontrollverhalten und ein hohes Ausmaß an Kritik sowie emotionaler Involviertheit (high expressed emotions) als verstärkend auf die Essstörungssymptomatik der Betroffenen. Beispielsweise wird durch ausgeübte Kontrolle, die einige Gesprächspersonen von Seiten ihrer Eltern beschreiben, die Tendenz zu Perfektionismus erhöht. Insbesondere Angst vor der negativen Beeinflussung der Erkrankung und vor Konflikten bewirkt bei den Bezugspersonen eine Anpassung ihres Verhaltens an die Betroffenen, womit Symptome mitunter verstärkt werden. Dies ist häufiger der Fall, wenn die Bezugspersonen selbst Essprobleme haben und dadurch mehr belastet sind (Goddard et al., 2013; Treasure et al., 2008). Ein solches Modellverhalten für Ess- und Gewichtskontrolle stellte für die Gesprächspersonen einen schwierigen Einfluss dar (s. Kapitel 7.1.2 und Kapitel 8.1.1). Somit erhöht sich die Belastung auf beiden Seiten. Gleichzeitig ist, wie für Betroffene, auch eine stabilisierende Funktion der Essstörung für das Umfeld zu erkennen: Die Sorge um die Betroffene bringt mitunter eine enge Bindung bis hin zur Abhängigkeit mit sich, die wiederum eine Stütze für die Bezugsperson in ihrer eigenen Überforderung, z. B. aufgrund einer schwierigen Partnerschaft, sein kann. Diese beiden Seiten der Essstörung ‒ einerseits belastend, andererseits entlastend und auf diese Weise sinnvoll ‒ zeigen sich außerdem im Begriff des Schattens, der in den

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Gesprächen im Hinblick auf die Sorge des Umfeldes und dessen Fokussierung auf die (ehemalige) Essstörung, anstatt auf die Betroffene als Person, erwähnt wird (Anika, 921; Mail Irina, 05.12.2015). So spricht Anika vom „Stempel auf der Stirn“ (Anika, 925), und vor allem ist die internalisierte Sicht, „gestört“ (Alena, 81) (gewesen) zu sein, in den Gesprächen hörbar. Für Jung umfasst der Schatten jene Anteile der Person, die vom Ich ins Unbewusste verdrängt werden (Stein, 2011, S. 129ff.; s. Kapitel 3.1 und Kapitel 3.2.3). Nach diesem Verständnis können die umgebenden Menschen durch eine Fokussierung auf die Essstörung zumindest vorübergehend von ihren eigenen Problemen ablenken und diese zu einem Teil ihres Schattens werden lassen. Dadurch bringt die Essstörung nicht nur Schutz für die Betroffenen vor äußeren Anforderungen und schmerzhaften Erfahrungen, sondern auch für das Umfeld. Jedoch besteht von Seiten der Personen der Wunsch, die Essstörung in ihren Schatten zu stellen, anstatt in deren Schatten zu stehen. Dabei geht es ihnen nicht darum, die vergangenen Erfahrungen ins Unbewusste zu verdrängen, sondern zu diesen noch mehr Distanz zu gewinnen. Der Begriff des Schattens ist somit, wie die Essstörung selbst, facettenreich. Auf Basis der Erzählungen ist weder ein striktes Schweigen noch eine Fokussierung auf die Essstörung, sondern ein einfühlsames Herantasten von Seiten des Umfeldes ein adäquater Umgang. Es handelt sich also auch in dieser Hinsicht um ein Gleichgewicht zwischen Annäherung und Wahren einer Distanz sowie um eine flexible Abstimmung auf die Person. Inwiefern eine Verbindung zu den Betroffenen aufgenommen werden kann, hängt unter anderem von der Art des Ansprechens, dem Zeitpunkt und dem Raum, den dieses Thema in der Kommunikation einnimmt, ab. Gerade zu Beginn der Erkrankung öffnen sich die Betroffenen häufig nicht. Dies gilt es, sofern nicht Gefahr in Verzug ist, zu akzeptieren. Jedenfalls erweist sich Druck von Seiten des Umfeldes nicht als hilfreich, sondern vielmehr das Angebot, sich jenseits eines Müssens öffnen zu können. Leidensdruck als wichtiger Anstoß zum Weg ins Gleichgewicht Der Leidensdruck wird in der OPD-2 als relevantes theoretisches Konstrukt der Achse I (Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen) angeführt und ist bei verschiedenen Erkrankungen Anstoß zu einer Veränderung. Schubert und Amberger nennen als Beispiel das benefit finding bei Patienten und Patientinnen nach einem Herzinfarkt. Jene Personen, für die dieses Ereignis ein Motiv für eine Lebensveränderung gewesen war, wiesen acht Jahre später eine bessere gesundheitliche Verfassung im Vergleich zu jenen Personen auf, die das Ereignis negativer interpretiert hatten (Schubert & Amberger, 2016, S. 59). Meist ist bereits ein gewisses Ausmaß an Leidensdruck auf Seiten der Patienten und Patientinnen vorhanden, bevor sie Unterstützung aufsuchen. Doch insbesondere die Art des Leidensdrucks stellt sich als relevant heraus (Arbeitskreis OPD, 2009, S. 70f.). So ist im Hinblick auf die Essstörung ausschlaggebend, wie sehr diese die Person vereinnahmen und zurückdrängen kann; inwiefern sie von der Stabilisierung zur Destabilisierung, vom Schutz zur Gefahr wird. Dies ist vor allem in Zeiten der Überforderung, Verunsicherung und bei mangelnder Selbst-Stabilität vermehrt der Fall. Anhand des Vergleichs der Essstörung mit einer Krücke, die von außen stabilisiert (s. Ka-

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pitel 7.1.3), lässt sich ihre gleichzeitig stabilisierende und einschränkende Wirkung folgendermaßen beschreiben: Die Krücke gibt Stabilität, ermöglicht das Gehen und bewahrt vor dem Fall, schränkt aber die Handlungsfähigkeit ein. Bezeichnend hierfür ist die Aussage von Alena, die Bulimie habe sie „echt so in der Hand gehabt“ (Alena, 761) – die Essstörung handelte, während Alena am Handeln gehindert wurde. Also nicht sie hatte die Essstörung in der Hand, wie eine Person die Krücke, sondern umgekehrt. Hierin zeigt sich die Macht der Essstörung, die zur Ohnmacht auf Seiten der Betroffenen, aber auch des Umfeldes führt. Die Ohnmacht der Bezugspersonen kann sich in Form der bereits erwähnten Sorge um die Betroffenen und in Schuldgefühlen, aber auch in bestimmendem Verhalten äußern. Aufgrund dieser Macht der Essstörung können die Gesprächspersonen rückblickend zum Teil selbst nicht mehr nachvollziehen, wie sie ihren damaligen Alltag bewältigen konnten. Dieser sei von der Essstörung „gezeichnet“ (Alena, 761) gewesen. Während die Essstörung der Bewältigung von Überforderung dienen sollte, verstärkte sich selbige dadurch. Die Essstörung hindert die Betroffenen am Umgang mit Lebensaufgaben, die an sich schon eine große Herausforderung sein können, und vergrößert damit die Überforderung. So gesehen kann die Einschränkung durch die Essstörung eine Ablenkung von äußeren Erwartungen und Pflichten sein, da das eigene Verhalten selbstkontrolliert erscheint, wenngleich die Vereinnahmung von der Essstörung einen zunehmenden Kontrollverlust bewirkt. Anstatt der angestrebten Selbst-Ständigkeit der Betroffenen verselbstständigt sich die Essstörung. Diese Ohnmacht steht dem Gefühl der Kontrollierbarkeit von Geschehnissen im eigenen Leben entgegen, das, wie zuvor erwähnt, in verschiedenen Konzepten (z. B. Kohärenzgefühl nach Antonovksy, 1997) als bedeutsam für Gesundheit erachtet wird (s. Kapitel 3.3.3). Auch in anderen Untersuchungen stellt sich die Bewusstwerdung der Einschränkung durch die Essstörung als wesentlicher Anstoß für die Betroffenen dar, den Weg aus der Essstörung gehen zu wollen (u. a. Esherick, 2003). Solche Einschränkungen sind einerseits auf körperlicher Ebene spürbar, andererseits hindert die Essstörung am Leben von Beziehungen und Umsetzen beruflicher Ziele (Jenkins & Ogden, 2012). Das Erkennen der negativen Auswirkungen und Risiken für (weitere) Probleme löst mitunter existenzielle Angst aus. Nach Gugutzers Leib-Körper-Dimensionen personaler Identität ist der Leidensdruck der Grenzerfahrung zuzuordnen (Gugutzer, 2002, S. 213ff.; s. Kapitel 3.1). Durch die von ihm so benannte leiblich-körperliche Grenzerfahrung, vor allem in der erlebten Schwäche, kann das Selbst erfahren werden. Dies ist angesichts der Tendenz zur Anpassung von Menschen mit Essstörungen und der damit einhergehenden Selbst-Distanz bis hin zum Selbst-Verlust eine Möglichkeit, das Selbst wieder zu spüren, wenngleich auf schmerzhafte Weise. Durch diese Bewusstwerdung festigt sich der Wunsch nach einer Veränderung der Situation, wobei es bis zu dessen Umsetzung Ambivalenzen und Schwierigkeiten zu bewältigen gilt. Hierfür bedarf es neben dem Leidensdruck weiterer hilfreicher Einflüsse, wie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft als motivierende Kraft (Esherick, 2003), soziale Beziehungen und Begleitung in Form von Beratung oder Therapie (Jenkins & Ogden, 2012). Zusätzlich zum Leidensdruck zeigt sich die Entscheidung für das Leben von Seiten der Gesprächspersonen als wesentlicher Aspekt der Wende. Im Zusammenhang mit der

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Überwindung einer Erkrankung schreibt Greco über die Bedeutung der Entscheidungsfreiheit und weist dabei auf eine Studie von Rijke mit Menschen nach spontaner Remission ihrer Krebserkrankung hin. Er kam zum Schluss, dass „über einen freien Willen zu verfügen und auf natürliche Weise den eigenen Intuitionen und Einsichten zu folgen“ (Rijke, 1985, S. 318; zitiert nach Greco, 2000, S. 280) ein Merkmal dieser Personen war. Dafür wiederum bedürfe es der von ihm so genannten Bereitwilligkeit, sich mit sich selbst und den Schwierigkeiten des Lebens auseinanderzusetzen sowie sich den Möglichkeiten und Konsequenzen zu stellen (Greco, 2000). Diese Ergebnisse bestätigen sich in der vorliegenden Untersuchung, indem sich die Bereitschaft zur Überwindung der Essstörung neben anderen Aspekten als sehr bedeutsam herausstellte. Es ist die Bereitschaft, das eigene Entwicklungspotential zuzulassen, wie es Suhr mit Bezug auf Sartres Werk Das Sein und das Nichts ausdrückt: „Das Nichts, das zwischen das Ich, das ich jetzt bin, und das Ich, das ich sein werde, hineingeglitten ist, ist die Freiheit, mich zu entscheiden, mich zu wählen“ (Suhr, 2007, S. 116). Dieses Nichts birgt zahlreiche Entwicklungsmöglichkeiten, die jedoch durch äußere Vorgaben mehr oder weniger eingeschränkt sein können. Kriterien für die Überwindung der Essstörung Wenngleich zu Beginn des Projektes Kriterien für die Überwindung der Essstörung in Anlehnung an die ICD-10 festgelegt wurden (s. Kapitel 4.2.1), erwies sich die Definition im Laufe der Auswertung als wesentlich komplexer. Unter anderem ist der Begriff Überwindung im Hinblick darauf zu reflektieren, inwiefern darunter ein Zustand nach einer Erkrankung und dieser als Abwesenheit entsprechender Symptome verstanden wird. In den Gesprächen stellt sich die Überwindung über eine Symptombeseitigung hinaus als tiefgreifende Veränderung dar. Daher wäre beispielsweise der Begriff Verwandlung zutreffender, da darin das Zugrundeliegen eines Transformationsprozesses deutlicher zum Ausdruck kommt. Für diese sich allmählich ereignenden Schritte spricht außerdem, dass sich die Grenzziehung zwischen Betroffenheit und ehemaliger Betroffenheit in anderen Studien zur Überwindung der Essstörung oft als schwierig herausstellt (s. Kapitel 2.4.3): Welche Verhaltensweisen bezüglich des Essens gelten als normal? Wie aussagekräftig ist der BMI? Es wird deutlich, dass es hierfür keine allgemeine und klare Definition gibt, worin ein Grund für die unterschiedlichen Angaben im Hinblick auf Rückfall- und Heilungsquoten zu sehen ist. Beispielsweise kann sich eine Person mit einem Gewicht an der unteren Grenze ihres, anhand des BMI errechneten, Normalbereichs stabil fühlen, während eine andere Person an der oberen Grenze ihres Bereichs Einschränkungen im Leben, auch jenseits der Essstörung, erleben kann. Darüber hinaus ist eine Erfahrung nicht reversibel, sondern diese hinterlässt nach der Theorie des Körpergedächtnisses Spuren. Dementsprechend kann nicht zu einem ursprünglichen Zustand zurückgekehrt werden (u. a. Künzler, 2010; Maurer, 2010; s. Kapitelabschnitt: Gleichgewicht auf den persönlichen Entwicklungswegen und Kapitel 2.1). In der Forschung soll jedenfalls die Subjektivität, wenn die Definition der Überwindung auch auf den Sichtweisen und Selbstbeurteilungen der (ehemaligen) Betroffenen basiert, nicht als Einschränkung, sondern als Bereicherung gelten, zumal die Veränderung

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der Lebenssituation ebendieser Personen im Mittelpunkt steht. Dennoch ist eine solche Vorgehensweise in Studien häufig als Limitation formuliert (u. a. Bardone-Cone et al., 2010; Dawson et al., 2014). Nicht die Objektivierung und Messung des Befindens von Betroffenen, sondern Einblicke in ihr subjektives Erleben können zum besseren Verständnis der Essstörung und der Auswirkungen, die diese auf die Person und deren Beziehungen hat, beitragen. Überwindung durch Sinnverlust der Essstörung Die Überwindung der Essstörung wird von den Gesprächspersonen, wie in anderen Studien (u. a. Jenkins & Ogden, 2012; Lamoureux & Bottorff, 2005), als langwierig und fordernd beschrieben. Vor allem stellt sich diese als Arbeit der Person an sich selbst heraus, worin sich die gesellschaftliche Erwartung von Selbstverantwortung für die eigene Gesundheit widerspiegeln dürfte (Lamoureux & Bottorff, 2005). Wenngleich eine solche Selbstverantwortung wichtig ist, sollten Systembedingungen nicht außer Acht gelassen werden. Denn die Gesundheitspolitik bzw. die Gesellschaft im Allgemeinen trägt einerseits zur Erkrankung bei, beispielsweise durch das Vermitteln von Idealen (s. Kapitel 2.3.4), kann andererseits aber auch die Gesundheit der Menschen fördern. Von großer Bedeutung ist die Übersetzung der Sprache der Essstörung, für die Betroffenen, indem diese beim Verstehen ihrer eigenen Geschichte begleitet werden, sowie für ihr Umfeld. Das Aufzeigen von Zusammenhängen fördert das Sinnerleben und stärkt das Vertrauen der Betroffenen dahingehend, dass sie auftretenden Belastungen mit anderen Mitteln als mit der Essstörung begegnen können. Auch in Antonovskys Modell der Salutogenese hat die Verstehbarkeit als Teilaspekt des Kohärenzgefühls einen hohen Stellenwert. Antonovsky sieht das Erkennen einer Struktur in den Ereignissen, die im eigenen Leben sowie im Umfeld passieren, und die damit einhergehende Erklärbarkeit als wichtige Beiträge zur Gesundheit (Antonovsky, 1997; Faltermaier, 2005, S. 68f., S. 164f.). Die Bedeutung einer Sinnperspektive, insbesondere in schwierigen Lebensphasen, wird in mehreren Konzepten betont, unter anderem im Konzept des posttraumatischen Wachstums (s. Kapitel 3.3). Der Therapie kommt hier eine wichtige Aufgabe zu: Worte für das eigene Empfinden zu finden, anstatt dieses mit der Essstörung auszudrücken, und die neue Sprache zu erproben. Jenkins und Ogden beschreiben den Zugang zu den eigenen Emotionen als Möglichkeit der Verbindung zwischen der „irrationalen und rationalen Seite“ (vgl. Jenkins & Ogden, 2012, S. e28). Das Verstehen der nonverbalen Sprache der Essstörung ermöglicht das allmähliche Finden von Worten. Insbesondere das Nein, sofern überhaupt ausgedrückt, wurde vom Umfeld der Personen häufig nicht akzeptiert: das Nein zur angebotenen Nahrung, das Nein gegenüber den Forderungen und Erwartungen. Doch ein Nein muss nicht nur ausgesprochen werden, sondern es braucht „ein Gegenüber, der [sic] es vernimmt, […] den Anderen, der Sinn unterstellt und zugleich darauf achtet, ob er gut ,untergestellt‘ worden ist, ob seine Sinnannahmen aufgegriffen werden können“ (Küchenhoff, 2012, S. 318). Daher, so Küchenhoff, sei es wichtig, „ein Nein zu hören, das sich in der Krankheit und ihren Symptomen wie vorsichtig, wie verdeckt oder verbogen auch immer, äußert, und es ist gerade dort schwer zu hören, wo das Nein selbst vernichtet worden

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zu sein scheint“ (Küchenhoff, 2012, S. 318). Durch das aufmerksame Zuhören ist das nonverbale Nein in Form der Essstörung, die Abgrenzung und Schutz bringt, nicht mehr erforderlich. Wie Lamoureux und Bottorff (2005) über Anorexie schreiben, geht das Loslassen der Essstörung aufgrund deren Schutz jedoch mit Angst einher. Damit sich die Person selbst, ohne Essstörung, schützen und Selbst-Vertrauen gewinnen kann, ist es von großer Bedeutung, Grenzen für sich selbst und gegenüber anderen setzen zu lernen. Dadurch verringert sich die Gefahr der Überforderung, wodurch die Person wiederum Stabilität in sich selbst erlangen kann (s. Kapitel 7.3.2 und Kapitel 8.2.3). Hilfreiche Aspekte zeichnen sich dadurch aus, dass diese die Funktionen der Essstörung ‒ Stabilisierung, Schutz und damit Entlastung ‒, vorübergehend übernehmen (s. Kapitel 7.2.5). Dies kann beispielsweise im Rahmen einer haltgebenden Paarbeziehung oder einer betreuten Wohngemeinschaft mit Distanzierung vom früheren Umfeld erfolgen. Selbstverantwortung bzw. Selbst-Verantwortung und Freiraum für die persönliche Entwicklung müssen dabei ebenso aufrechtbleiben. Die Bereitschaft zum Sprechen über die Essstörung kann als Zeichen für die Integration der Essstörungserfahrung in das eigene Leben und damit für Überwindung gelten. Diese Offenheit steht dem früheren und zum Teil noch im Gespräch erkennbaren Schamgefühl entgegen, worunter Hahn „eine Art von zur Gewohnheit gewordener Vorsicht und Bedachtsamkeit, die zu vermeiden sucht, dass Szenen entstehen, in denen man sich schämen muss“ (Hahn, 2016, S. 65), versteht. Wenngleich sich Hahn auf das Beichtgeheimnis bezieht, bei dem es darum gehe, „ein Bekenntnis zu ermöglichen, obwohl es Schamgefühle auslöst“ (Hahn, 2016, S. 65), kann eine Parallele zur Gesprächssituation gezogen werden. Die Personen erlebten eine Atmosphäre, die sie über das früher oft Geheimgehaltene ein „Zeugnis“ (Tamina, 2403) geben ließen. Das Gespräch war nicht nur eine Erleichterung, sondern häufig gab es auch Momente der Bewusstwerdung, sodass die Personen neue Zusammenhänge in ihrer Geschichte erkennen konnten (u. a. Anja, T910‒T913; Marina, 791). Hierin zeigt sich das Potential der Narration, das Pals und McAdams (2004) außerdem im Hinblick auf das posttraumatische Wachstum beschreiben (s. Kapitel 3.3.2): sich durch aufmerksames Zuhören des Gegenübers gehört zu fühlen sowie im Sprechen über die eigene Entwicklung, das eigene Leben mehr über sich selbst zu erfahren und sich dabei selbst verstehen zu lernen. Darauf basiert unter anderem die narrative Medizin, natürlich auch die (Gesprächs-)Psychotherapie. Doch nicht nur gehört zu werden, sondern auch mit dem Gesagten zur Vertiefung des Wissens über Essstörungen beitragen zu können, war den Personen ein Anliegen (u. a. Rebecca, T1782‒T1785). Insbesondere ermöglicht das Sprechen über dieses subjektiv bewegende Thema den Ausdruck von Emotionen, während diese in der Betroffenheit unterdrückt wurden. Durch die methodische Herangehensweise in diesem Projekt mittels Narration konnte jedenfalls die Individualbiografie gegenüber einer erwarteten Normalbiografie in den Vordergrund treten (Reinders, 2002). Eine solche Sicht auf die Person mit ihrer Geschichte, ihrer Gegenwart und ihren Wünschen für die Zukunft steht der nomothetischen Wissenschaft entgegen. Dazu schreibt Allport: „Irgendwo in den Spalten ihrer nomothetischen Gesetze hat die Psychologie die menschliche Person verloren, wie wir sie im täglichen Leben kennen“ (Allport, 1949, S. 571; zitiert nach Jüttemann, 2002, S. 328). Nicht das Erfüllen von Normen und konkreten, vorgegebenen Kriterien für die

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Überwindung der Essstörung, sondern der Weg der einzelnen Person sollte gewürdigt werden. Dieser Punkt ist besonders zu betonen, da die Reduktion auf die Essstörung ein sehr präsentes Thema in den Lebensgeschichten ist und das Zur-Sprache-Kommen sowie Sichtbar-Werden der Person, also das Hervortreten hinter der Erkrankung, wesentliche Entwicklungen im Rahmen der Überwindung darstellen (s. Kapitel 8.2.4). Außerdem spricht ein weiterer Aspekt für eine personenzentrierte statt störungsfokussierte Vorgehensweise in der Forschung sowie in der Therapie: Die Essstörung ist in ihrer Diffusität schwer zu erfassen und daher einerseits die Betroffenen vereinnahmend, andererseits das Umfeld belastend. Daher kann in einer Konkretisierung dieser Diffusität ein Ansatzpunkt für die Überwindung liegen, indem die Person mit ihrer Lebensgeschichte im Vordergrund steht und das Wissen über die allgemeine Symptomatik dem Verständnis des individuellen Phänomens dient. Somit wird der Sinn der Essstörung in der jeweiligen Biografie beleuchtet, wodurch diese nicht, zumindest weniger ausgeprägt bzw. weniger leicht, ihren Schatten auf die Betroffenen werfen kann. Denn die Vermeidung von allgemeinen Zuschreibungen erleichtert das Aufnehmen einer Verbindung mit den einzelnen Betroffenen und verringert damit wiederum die Gefahr, dass sich diese gemeinsam mit der Essstörung in den an obiger Stelle beschriebenen Identitätstunnel zurückziehen. Vertiefung der Selbst-Beziehung als wesentliches Merkmal der Überwindung Die Selbst-Annäherung, ein Merkmal der vertieften Selbst-Beziehung und damit des persönlichen Wachstums (s. Kapitel 3.3.1), erweist sich im vorliegenden Projekt als wichtige Veränderung im Rahmen der Überwindung der Essstörung. Zu diesem Ergebnis kommen auch andere Forscher und Forscherinnen (u. a. Weaver et al., 2005; s. Kapitel 2.4.3). Gleichzeitig mit der Selbst-Annäherung rückt die Essstörung allmählich auf Distanz. Darauf weist die Beschreibung der Essstörung als Teil des Selbst oder als naher Besitz in der Zeit der Betroffenheit hin, während diese im weiteren Verlauf mitunter zu einer entfernten Stimme wird (Anika, 269). Im Gespräch äußern die Personen außerdem ein Fremdheitsgefühl gegenüber der Welt der Essstörung und gegenüber sich selbst, wie sie damals waren. Dieses Ergebnis entspricht jenem der Studien von CruzatMandich et al. sowie von Dawson et al., die die Externalisierung der Essstörung und deren Bedeutungsverlust als wichtige Merkmale der Überwindung beschreiben. Im Unterschied zur früheren Phase, in der die Essstörung als Teil des Selbst erlebt worden war, stellte sich diese für die Teilnehmenden an den genannten Untersuchungen allmählich als Hindernis für die eigene Entwicklung dar (Cruzat-Mandich et al., 2017; Dawson et al., 2014). Die Verringerung der Kontrolle fördert die eigene Versorgung, unter anderem mit ausreichend Nahrung, und die Fürsorge im Sinne einer Achtsamkeit im Verhalten und in der Haltung sich selbst gegenüber. Damit kann, so Cruzat-Mandich et al. (2017), die ganze Person zum Ausdruck kommen ‒ körperlich, emotional und mit den eigenen Potentialen im Sinne der Selbst-Entfaltung. Die Selbst-Reflexion, die zur Vertiefung der Selbst-Beziehung beiträgt und gleichzeitig ein Merkmal derselben ist, erweist sich als sehr bedeutend für die Überwindung der

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Essstörung. Hierin zeigt sich eine Parallele zur Weisheitsforschung, da eine solche reflexive Komponente als förderlicher Aspekt sowie als Kennzeichen von Weisheit erachtet wird (u. a. Weststrate & Glück, 2017; s. Kapitel 3.3.3). Vor allem die vertiefte Auseinandersetzung mit schwierigen Erfahrungen, das Erkennen von Sinn und das Verstehen der eigenen Biografie gelten als wesentlich für die Entwicklung von Weisheit, ebenso für persönliches Wachstum. Da die Essstörung eine solche schwierige Erfahrung darstellt und deren Bewältigung eine intensive Beschäftigung mit der eigenen Geschichte erfordert, kann diese somit nicht nur zu einer Stabilisierung im Hinblick auf die Erkrankung, sondern auch zu Weisheit und persönlichem Wachstum beitragen. Mit der Selbst-Annäherung konnten die Gesprächspersonen außerdem Stabilität in der Beziehung zu sich selbst, zu anderen und zum Leben erlangen. Diese ist als dynamisches Phänomen zu verstehen, indem Prozesse auch bei erschwerenden Bedingungen aufrechterhalten werden. Als weiteres Beispiel für eine solche Auffassung ist das Resilienz-Konzept zu nennen (Leipold & Greve, 2009; s. Kapitel 3.3.3). Die Prozesshaftigkeit von Stabilität kommt deutlicher im Begriff Stabilisierung zum Ausdruck und ist als Gleichgewichtsbewegung zu sehen. Reddemann beschreibt diese im Hinblick auf die Therapie von traumatisierten Patienten und Patientinnen: Pendelbewegungen sind Zeichen von Lebendigkeit. Wenn das Pendel stillsteht, sich nichts mehr bewegt, ist das ein Zeichen für Erstarrung, ja Tod. Aus meiner Sicht geht es darum, die minimalen Pendelbewegungen, zu denen unsere PatientInnen trotz allem fähig sind, zu erkennen, die PatientInnen anzuregen und zu ermutigen, sie zu nutzen und zu fördern, damit sie sich schließlich größere und große Pendelausschläge erlauben können, wenn sie es wünschen. Das verstehe ich unter Stabilisierung. (Reddemann, 2011, S. 145)

Als Stabilität bezeichnet Reddemann „die Fähigkeit, auch mit Überwältigendem und Schmerzlichem innerlich umgehen zu können, ohne dekompensieren zu müssen. Häufig wird das auch Affektkontrolle genannt“ (Reddemann, 2011, S. 146). Somit zeigt sich Stabilität nicht als Abwesenheit von Schwierigkeiten, sondern als Vermögen, mit diesen, jenseits der Essstörung oder einer anderen Erkrankung, umzugehen. Die Gesprächspersonen erfuhren schwierige Einflüsse bereits im Vorfeld der Essstörung und besonders im Rahmen ihrer Betroffenheit. Hier ist bei den Personen teilweise noch eine gewisse Vorsicht erkennbar, da die Essstörung wieder eine Form der Bewältigung werden könne. Die Selbst-Annäherung und vor allem die Stabilität durch das Verbinden von Selbstanteilen (s. Kapitel 8.2.3) spricht Gugutzer (2012) in Form des Gleichgewichts zwischen Leibsein und Körperhaben an, das es für Betroffene im Rahmen der Überwindung zu erreichen gelte. Mit Bezug zu Plessner versteht er unter Leibsein das Leben und Annehmen eigener Empfindungen und Bedürfnisse. Demgegenüber steht die Objektivierung des Körpers, das Körperhaben, indem der Körper be-handelt wird. Beide Aspekte sind Teil des menschlichen Lebens und in einen Ausgleich zu bringen. Jedoch liegt der Schwerpunkt bei Betroffenen durch die Kontrolle und Missachtung ihrer Bedürfnisse auf dem Körperhaben. Diese Differenz zum Leibsein verstärkt sich im Verlauf der Essstörung durch die oft zunehmende Rigidität in ihrem den Körper instrumentalisieren-

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den Verhalten. Wenngleich sich Betroffene wie einer äußeren Macht unterlegen fühlen, die sie zu dieser Kontrolle drängt, ist diese Macht, so Gugutzer, Teil von ihnen selbst, nämlich in Form des Leibseins. Es gehe nun darum, das Zulassen von Bedürfnissen nicht als „Schwäche oder Selbstkontrollverlust“, sondern als „Stärke und Selbstermächtigung“ (Gugutzer, 2012, S. 188) zu erkennen. Gerade durch das Nachlassen ihrer Kontrolle entkommen sie der Macht und Fremdbestimmung durch die Essstörung (Gugutzer, 2012, S. 188). Daher plädiert auch Ettl für die Arbeit an der Anerkennung naturgegebener Bedürfnisse, um das ohnehin schon ausgeprägte Unabhängigkeitsstreben der Betroffenen nicht zu verstärken (Ettl, 2006b). Somit sollen die eigenen Grenzen angenommen werden, ohne sie (permanent) zu überschreiten. Hierin wird die in Kapitel 7.3.2 beschriebene Achtung als Aspekt der vertieften Selbst-Beziehung deutlich. Für Gugutzer ist die Körpererfahrung eine Selbst-Erfahrung, denn im „Kampf zwischen seinem Willen und der spürbaren Widerständigkeit seines Leibes“ (Gugutzer, 2002, S. 271) spüre das Individuum seine Grenzen. Dementsprechend können die Grenzen des Selbst über den Körper kennengelernt werden (Gugutzer, 2002, S. 270f.), worin das Potential der Körpertherapie liegt. Neben der Lockerung ihrer Kontrolle über sich selbst war für die Gesprächspersonen gleichzeitig eine moderate temporäre Kontrolle oder Disziplin hilfreich. So ermöglichten erst eine gewisse Struktur und Regelmäßigkeit einen allmählich flexibleren Umgang mit dem Essen und anderen Anforderungen, beispielsweise im Leistungskontext. Dies scheint zunächst ein Widerspruch zu sein, doch ist dieser Zusammenhang so zu verstehen, dass es für das Finden des Gleichgewichts beider Facetten, nämlich jener der Begrenzung und des Spielraumes, bedarf. Tendenziell ist mehr Selbst-Annäherung erkennbar, während Nähe zu anderen, der zweite Bereich des persönlichen Wachstums (s. Kapitel 3.3.1), zum Teil mit Zurückhaltung gelebt wird. Dies betrifft insbesondere Paarbeziehungen, unter anderem aufgrund von Unsicherheit mit der eigenen Körperlichkeit. Darin könnte sich die Entwicklung des Nähe-Distanz-Gleichgewichts zeigen, indem ein solches zunächst auf Ebene der Selbst-Beziehung entsteht und sich allmählich mehr auf die Beziehungen zu anderen ausweitet. Dieses Ergebnis unterscheidet sich zum Teil von jenem der Studie, die Bardone-Cone et al. (2010) an Frauen mit einer Essstörung und einer Kontrollgruppe von Frauen ohne Essstörung durchführten. Bei den betroffenen Frauen fanden sie mehr Schwierigkeiten in der Beziehung zum eigenen Körper verglichen mit ihren Beziehungen zu Eltern, Freundschaften und Partnerschaften, die sich bereits verbessert hatten. Allerdings war der Unterschied im Hinblick auf die Beziehung zur Mutter und zum Partner geringer ausgeprägt (Bardone-Cone et al., 2010). Hierin besteht wiederum eine Übereinstimmung mit der vorliegenden Untersuchung: Zwar sind bei manchen Gesprächspersonen eine Zurückhaltung in intimen Beziehungen und eine teilweise schwierige Mutterbeziehung erkennbar, doch konnten Freundschaften (wieder) aufgenommen bzw. intensiviert werden. Besonders die Tiefe in Beziehungen anstatt eines oberflächlichen Austauschs hat an Bedeutung gewonnen. Gegenüber jenen Menschen, die ihnen über die Jahre hinweg zur Seite gestanden sind, empfinden die Personen große Dankbarkeit. Die Beständigkeit dieser Beziehungen nennen sie als wichtige Quelle ihrer Stabilisierung.

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In der Beziehung zum Leben, dem dritten Bereich des persönlichen Wachstums (s. Kapitel 3.3.1), ist bei den Gesprächspersonen vor allem die Lebendigkeit sicht- und spürbar – das Teilhaben am Leben mit seinen schmerzhaften und freudvollen Seiten. Ihre Erfahrung, sich wieder mehr mit anderen Menschen und überhaupt dem Leben verbunden zu haben, spiegelt sich in Gadamers Gesundheitsverständnis wider. Gesundheit sei „Da-Sein, In-der-Welt-Sein, Mit-den-Menschen-Sein, von den eigenen Aufgaben des Lebens tätig oder freudig erfüllt sein“ (Gadamer, 2010, S. 144). Es ist somit das freudvolle, auch gemeinsame Tun mit anderen Menschen, das im Vordergrund steht, und nicht das Erfüllen äußerer Maßstäbe. Andere Werte haben nun mehr Raum in ihrem Leben eingenommen. Bei Personen im fortgeschrittenen Therapieprozess, die in die Auswertung zum Vergleich mit Personen, bei denen schon mehr Distanz zur Essstörung besteht, einbezogen wurden, ist weniger Selbst-Annäherung ‒ und damit mehr Distanz zu sich anstatt zur Essstörung ‒ vorhanden. Entsprechende Merkmale zeigen sich in der Beschreibung ihres stärker kontrollierten und leistungsorientierten Verhaltens sowie ihrer Haltung sich selbst gegenüber im Sinne einer eingeschränkten Selbst-Akzeptanz. Außerdem geht aus ihren Erzählungen hervor, dass sie ihren Körper bzw. Teile ihres Körpers vermehrt ablehnen und vom Selbst getrennt erleben. Bei diesen Personen besteht nicht nur mehr Distanz zu sich selbst, sondern auch zu anderen Menschen bei gleichzeitig geringerem Vermögen der Grenzsetzung. Damit wird die Einschränkung des Gleichgewichts im Nähe-Distanz-Verhältnis deutlich. Über die Bedeutung der Eindeutigkeit persönlicher Grenzen schreibt die Psychologin Verena Kast: Je klarer die Ichgrenzen sind, je besser wir uns als Ich in unserem Selbsterleben und Handeln von anderen Menschen unterscheiden können, je mehr wir dadurch auch unser eigenes Leben leben, desto weniger müssen wir auf unseren jeweiligen Ichgrenzen beharren, desto eher können sie auch immer wieder durchlässig werden. (Kast, 2009, S. 21)

Klare Grenzen müssen nicht mehr verteidigt werden und erlauben aufgrund ihrer Beständigkeit mehr Spielraum für ihre Regulation und damit auch für die Öffnung gegenüber anderen Menschen und der Welt im Allgemeinen. Selbst-Entfaltung: Distanzierung von äußeren Maßstäben und Annäherung an das eigene Maß Als weiteres wichtiges Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist der Einfluss von äußeren Maßstäben mit der Tendenz zur Erfüllung derselben, insbesondere durch Leistungsstreben und Anpassung der Person, zu nennen. Dementsprechend kann das eigene Maß vor allem durch das Distanzieren von diesen äußeren Maßstäben gefunden und damit wiederum das Selbst-Entfalten ermöglicht werden. Gerade in der Adoleszenz, in einer Phase der ausgeprägten Identitätsdefinition, gewinnt die Außendarstellung, und damit die Körperlichkeit, noch mehr Bedeutung im Hinblick auf die Anerkennung von anderen, insbesondere von Gleichaltrigen. Gleichzeitig soll mit einem bestimmten Aussehen die eigene Individualität zum Ausdruck kommen. Dieser Aspekt ist aufgrund der häufigen Manifestation der Essstörung in der Adoleszenz von Relevanz

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und wird in den Gesprächen deutlich: Der Fokus auf das Äußere steht vor dem Hintergrund des Wunsches nach Anerkennung einerseits und der Betonung der eigenen Besonderheit andererseits. Soziale Medien wie Pro-Ana und Pro-Mia stellen für diese Selbstdarstellung eine Bühne zur Verfügung und tragen zum sozialen Vergleich bei (Schorb, 2014). Über diese Kanäle gelangen gesellschaftliche Maßstäbe, wie Körperund Leistungsideale, zu noch größerer Verbreitung, wenngleich diese Maßstäbe bereits in frühen Jahren, etwa in Form von unrealistisch proportionierten Puppen, förmlich greifbar sind (Claudia, T2552‒T2557). Wie Franke betont, behindern diese Maßstäbe jedoch im Finden und Halten des Gleichgewichts. Sie bezieht sich auf folgenden, von ihr in einer Zeitschrift gelesenen, Satz: „Die Frauen von heute sind auch ohne Idealgewicht im Gleichgewicht“ (Franke, 2001b, S. 389). Dazu meint sie: „Wenn sich diese Erkenntnis auf gesellschaftlicher Ebene durchsetzen würde und zusätzlich noch diejenige, dass Frauen sich trotz Idealgewichts seelisch im Ungleichgewicht befinden können, wären wir einen wichtigen Schritt weiter“ (Franke, 2001b, S. 389). Gerade das Entfernen vom Idealgewicht kann das persönliche Gleichgewicht fördern oder gar erst ermöglichen. Neben den vermittelten Idealen hindern äußere Bewertungen und vor allem Abwertungen an der Überwindung der Essstörung, speziell an der Selbst-Entfaltung. In der Untersuchung von Rodgers et al. (2009) beeinträchtigten jedoch nicht nur negative Kommentare der Eltern zu ihrer Körperfigur und ihrem Essverhalten die Körperzufriedenheit junger Frauen, sondern auch positive Kommentare. Die Fokussierung auf äußere Merkmale im Gesamten kann somit zur Entwicklung einer Essstörung beitragen. Daher soll die ganze Person gesehen, vor allem angenommen werden – nicht nur äußerlich, sondern auch mit ihren persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten. Erschwerend für das Distanzieren von äußeren Maßstäben ist deren Internalisierung, wodurch diese als die eigenen wahrgenommen und handlungsleitend werden (s. Kapitel 2.3.2 bis Kapitel 2.3.4, Kapitel 7.1.2). Die Fremdbeeinflussung hat somit eine latente Wirkung. Durch die Internalisierung verringert sich eine mögliche Diskrepanz zu eigenen Wünschen bzw. bleibt das eigene Maß überhaupt verborgen. Außerdem könnten eigene Erwartungen an sich selbst auf andere projiziert und diese damit zu vermuteten äußeren Erwartungen werden. Das Eigene verlagert sich hier nach außen und ist ebenso handlungsleitend. Mitunter stammt auch dieses Eigene nur scheinbar von der Person selbst. Aufgrund der Komplexität der Einflüsse (s. Kapitel 8.1.1) steht an dieser Stelle jedoch nicht die Frage nach dem Ursprung dieser Erwartungen, sondern nach dem Zusammenwirken von Person und Umfeld im Vordergrund. Die Anpassung an Normen schränkt allerdings nicht nur ein, sondern bietet auch Halt, während die Gestaltungsfreiheit im Rahmen der Selbst-Entfaltung mit Unsicherheit einhergeht. So gilt es, den eigenen Weg ‒ im Sinne eines pόros ‒ erst zu finden und somit Möglichkeiten zu erproben. Äußere Vorgaben hingegen geben gemäß ihrer Bezeichnung den Weg in mehr oder weniger großem Ausmaß ‒ im Sinne eines hodόs ‒ vor (s. Kapitelabschnitt: Gleichgewicht auf den persönlichen Entwicklungswegen). Greco bezieht sich mit folgenden Worten zwar auf Menschen mit Alexithymie, trifft damit jedoch den Vorteil bzw. die Problematik der Anpassung in ihrem Kern: Die Eigenschaft rigider Anpassung, die Alexithymikern zugeschrieben wird, bewahrt sie vor den Konflikten und Dilemmata des Daseins in dem Sinne, dass soziale Verhaltens-

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und Gefühls-Standards ihnen vorgefertigte Antworten und Werte liefern, die wenig Raum für Selbstzweifel, Selbst-Befragung oder Selbst-Veränderung lassen. (Greco, 2000, S. 281f.)

Letztlich ist es eine Frage, ob dieser Raum durch (Selbst-)Vertrauen geöffnet werden kann oder aufgrund überwiegender (Selbst-)Unsicherheit verschlossen bleibt. Für das Öffnen dieses Raumes ist das Zutrauen von anderen, jenseits der Erwartung oder Überzeugung von Untherapierbarkeit der Essstörung (Alena, 255), ein wesentlicher Beitrag. Bestärkung durch andere Menschen wirkt der Hoffnungslosigkeit der Betroffenen angesichts der schwerwiegenden Erkrankung entgegen, während die Vermittlung einer aussichtslosen Prognose, beispielsweise durch Begriffe wie chronifizierte Essstörung oder Therapieresistenz, diese zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden lässt (Dawson et al., 2014). Zutrauen und Bestärkung im Tun und Sein fördern außerdem das Empfinden, als Person gut genug und wertvoll zu sein (Lamoureux & Bottorff, 2005). Eine solche Ermutigung ist für Menschen mit Essstörungen aufgrund ihrer häufig starken Selbst-Ablehnung besonders wichtig und erleichtert das Verfolgen von subjektiv bedeutsamen Zielen. Mitunter gilt es, eigene Ziele erst (wieder) zu finden. Das Ergebnis zur Resilienz in der Kauai-Studie von Werner (1993, 2005), das zeigt, dass sich berufliche Perspektiven positiv auf die persönliche Entwicklung auswirken, legt nahe, im Rahmen der Überwindung einer Essstörung auch danach bzw. nach allgemeinen Sinnperspektiven im Leben zu suchen. Indem Bewertungen im Umfeld der Betroffenen und in der Gesellschaft insgesamt in den Hintergrund rücken, kann nicht nur die Überwindung von Essstörungen gefördert, sondern überhaupt deren Entstehungswahrscheinlichkeit verringert werden. Dies ist jedoch über die Essstörung hinaus zu betonen. So spricht Greco mit Bezug zu Rijke die kritische Betrachtung und, bei Bedarf, das Entfernen von äußeren Maßstäben als salutogenetischen Beitrag an. Es gehe um „die Entwicklung der Fähigkeit, Unbehagen (und in einem nächsten Schritt: Dissens) zu artikulieren, flexibel mit Normen umzugehen, ja sie vielleicht sogar zu überschreiten, statt an ihnen passiv festzuhalten“ (Greco, 2000, S. 280). Im übertragenen Sinn geht es um das Wahrnehmungs- und Entscheidungsvermögen der Person, ob die Nahrung für sie bekömmlich ist und, falls dies nicht zutrifft, sich von ihr zu distanzieren. Sowohl auf die Anpassung als auch auf die Selbst-Entfaltung einer Person haben Modelle bzw. Vorbilder einen großen Einfluss. Wenngleich mit einem Modell ein äußeres Maß vorliegt, kann hiermit dennoch das eigene Maß gefunden werden. Ausschlaggebend dafür ist, dass das Verhalten der Person, die das Vorbild darstellt, und ihre Haltung nicht im Sinne einer äußeren Vorgabe übernommen werden. Indem diese Person ihr eigenes Maß lebt und zwar mit innerer Überzeugung und Zufriedenheit, vermittelt sie die Bedeutung einer solchen Lebensweise. Außerdem können Menschen mit überwundener Essstörung für noch Betroffene ein Modell der Hoffnung sein, da sie die Überwindbarkeit der Erkrankung verkörpern (Dawson et al., 2014). Im Zusammenhang mit dem Modellverhalten wird auch das Erleben von Gemeinschaft und nährenden Beziehungen als wichtiger Beitrag zur Überwindung der Essstörung deutlich. Dies ist angesichts des Individualisierungsprozesses, der in den letzten Jahren zu einem Verlust von Halt im religiösen Glauben und in der Familie sowie zur Erwartung

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von Selbstverantwortung führte, besonders zu betonen (Gugutzer, 2012, S. 168). Struktur, Halt und Nähe innerhalb einer Gemeinschaft zeigten sich auch im Rahmen der Kauai-Studie zur Resilienz von Werner (1993, 2005) als hilfreiche Aspekte. Im Kindes- sowie im Erwachsenenalter begünstigten unter anderem stabile Beziehungen die persönliche Entwicklung (s. Kapitel 3.3.3). Dementsprechend betont Kast den Halt im Leben bzw. das Gefühl des Getragenseins als wesentlich für die Individuation, die Selbstwerdung im Sinne Jungs. Diese versteht sie, wie an obiger Stelle im Hinblick auf die Kriterien für die Überwindung der Essstörung angemerkt, als tiefergehende Verwandlung: Wir sind nicht nur in das Leben geworfen, sondern wir sind auch von ihm getragen. Es gibt nicht nur die Angst, es gibt auch die Freude. Durch dieses Getragensein können wir uns wandeln ‒ allerdings auch durch das Geworfensein. Doch wandeln wir uns durch das Getragensein auf einem anderen Weg: Hier verbinden wir uns in der Symbiose mit anderen Menschen und auch mit unserem Unbewußten, wir erleben dadurch mehr Lebensfülle, Stärke, Aufgehobensein; wir erfahren Selbstsein in der Selbstvergessenheit, nehmen unsere Vitalität und den Reichtum des Entdeckbaren wahr. Es ist eine Form der Wandlung durch Selbstbestätigung, Selbstbejahung ‒ eine Voraussetzung für die Selbstwerdung im Sinne der Individuation, bei der es darum geht, sich gegen andere Menschen abzugrenzen, sich auch in Frage zu stellen und so sich selbst zu finden. (Kast, 2009, S. 22)

Therapie als Beitrag zum Gleichgewicht Ein wichtiger Anstoß zur Inanspruchnahme von Therapie war für die Gesprächspersonen ihr eigener Leidensdruck und/oder jener des Umfeldes aufgrund der erlebten Ohnmacht. In Abhängigkeit von der konkreten Situation, unter anderem vom Alter, erfolgte die Entscheidung durch die Personen selbst oder durch andere, meist durch die Eltern bei noch bestehender Minderjährigkeit. Zwischen hilfreichen Beiträgen innerhalb und außerhalb der Therapie gibt es zu einem großen Teil Übereinstimmung. So sind beispielsweise in beiden Kontexten die personenzentrierte anstatt störungsfokussierte Sicht sowie das Zutrauen von anderen sehr bedeutend. Doch können in der Therapie Aspekte angeboten werden, die im Alltag nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung stehen. Vor allem bietet diese einen „geschützten Rahmen“ (vgl. Anika, 1043) an, innerhalb dessen Stabilisierung erfolgen und der persönlichen Entwicklung Raum gegeben werden kann. Auch wenn psychische Probleme und Konflikte, die der Essstörung zugrunde liegen, wesentliche Elemente von psychodynamischen Ansätzen sind, weisen die Erfahrungen der Gesprächspersonen im vorliegenden Projekt auf eine häufig symptomorientierte Therapie der Ess- und Gewichtsproblematik hin. Ein strikter Essensplan und normierte Vorgaben für die Gewichtszunahme entsprechen jedoch dem ohnehin schon stark kontrollierten Verhalten der Betroffenen und könnten für die hohen Rückfallraten mitverantwortlich sein. Dafür spricht, dass die Gesprächspersonen diese Zugangsweise kritisieren und vor allem die Bedeutung vertrauensvoller Beziehungen betonen. Ettl erklärt

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die Problematik einer symptomorientierten Therapie bei Bulimie in psychodynamischer Hinsicht: Bei der Kontrolle des Essverhaltens, z. B. mithilfe von Ernährungstagebüchern, handle es sich lediglich um eine „domestizierte Aggressionsabfuhr“ (Ettl, 2006b, o. S.). Somit werde an der ohnehin bestehenden Unterdrückung von Emotionen angesetzt und zur, insbesondere von Frauen erwünschten, Zurückhaltung und Anpassung beigetragen. Die Förderung einer libidinösen Besetzung anstelle der Entwertung oder Ablehnung von Nahrung reiche nicht aus (Ettl, 2006b). Padrão et al. sprechen von einer Legitimation der Selbstkontrolle und sehen dieses Vorgehen als „Pakt mit der Anorexie“ (vgl. Padrão et al., 2013, S. 112) von Seiten der Therapeuten und Therapeutinnen, wodurch eine „anorektische Identität“ (vgl. Padrão et al., 2013, S. 119) gefördert werde. Zudem ist bei einer solchen symptomatischen Therapie eine in den Gesprächen thematisierte Verlagerung von der Anorexie auf die Bulimie (u. a. Bianca, 7) als wahrscheinlicher anzunehmen. Stattdessen gehe es gerade darum, so Padrão et al. (2013), die Unkontrollierbarkeit des Lebens annehmen zu lernen, wofür Vertrauen eine wichtige Basis ist: das Vertrauen in sich selbst, Herausforderungen des Lebens bewältigen zu können, sowie das Vertrauen, bei Bedarf entsprechende Unterstützung zu erhalten. Eine schrittweise Begleitung bei der Suche nach dem eigenen Selbst ermöglicht bzw. erleichtert das allmähliche Aufgeben der Stabilisierung durch die Essstörung, die die Betroffenen als Teil ihres Selbst erleben. Dementsprechend sind nachhaltige innerpsychische Veränderungen eher im Rahmen einer längeren Beziehungsarbeit als durch reine Reduktion bzw. Elimination von Symptomen zu erwarten. Dafür spricht das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung, in Übereinstimmung mit anderen Forschern und Forscherinnen (u. a. Jenkins & Ogden, 2012; Linville et al., 2012), dass eine äußerliche Unauffälligkeit durch ein so bezeichnetes Normalgewicht nicht mit einem inneren Wohlgefühl einhergehen muss. Ein solches Wohlgefühl kann bereits unterhalb des errechneten Zielgewichts empfunden werden sowie bei bereits erreichtem Zielgewicht noch nicht vorhanden sein. Gedanken kreisen oft noch länger um Essen und Gewicht, ebenso kann der Umgang mit Emotionen und den alltäglichen Herausforderungen in Beziehungen noch schwierig sein. Daher gilt es, die verschiedenen Dimensionen ‒ d. h. die körperliche, seelische, geistige, spirituelle, soziale Dimension etc. ‒ in die Therapie zu integrieren und damit eine umfassende Selbst- und Beziehungserfahrung zu ermöglichen. Die Funktion der Essstörung kann so exploriert, allmählich von anderen Aspekten, z. B. im Rahmen einer stützenden Beziehung, zur Verfügung gestellt und schließlich von den Betroffenen selbst übernommen werden (Jenkins & Ogden, 2012). Doch auch die Beobachtung des Gewichts in einem gewissen Ausmaß ist ein wichtiger Bestandteil. Eine Beschränkung des Wiegens auf die Therapie oder den Arztbesuch, anstatt der alleinigen Durchführung im häuslichen Umfeld, kann Entlastung bringen (Linville et al., 2012). Die Medikamentengabe stellt bei Bedarf eine begleitende Unterstützung dar, soll allerdings nicht einer symptomatischen Herangehensweise dienen und einen tiefergehenden Blick auf die eigene Geschichte ersetzen (s. Kapitel 2.4.1). Aufgrund der noch wenig bekannten inneren Veränderungsprozesse (u. a. Gumz et al., 2018; Wollburg, Meyer, Osen & Löwe, 2013) sind hierfür weitere Studien, vor allem in Form von subjektorientierter Prozessforschung, erforderlich.

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Im Hinblick auf die körperliche Aktivität wird in der S3-Leitlinie für Menschen mit Anorexie kein Verbot, sondern ein gemäßigter, der Situation entsprechender Umfang empfohlen (Zeeck et al., 2010, S. 123). Dennoch erfuhren manche Gesprächspersonen eine sehr restriktive Vorgehensweise, nicht nur bei sportlichen Aktivitäten, sondern auch bei verhältnismäßig energiesparenden Tätigkeiten (u. a. Frauke, 21, 517, 807‒809). Deren Sinnhaftigkeit ist jedoch angesichts der starken Ablehnung des eigenen Körpers in Frage zu stellen, da die körperliche Selbst-Erfahrung die Selbst-Beziehung positiv beeinflussen kann (s. Kapitel 7.2.2). Daher ist der Energieverbrauch, der mit der körperlichen Bewegung einhergeht, jedenfalls mit der Förderung der Selbst-Beziehung durch die (körperliche) Auseinandersetzung mit sich selbst zu rechtfertigen (Probst et al., 2018; Probst & Skjaerven, 2018). Zudem kann in körperorientierten Therapien, beispielsweise in der Physiotherapie, die Verbalisierung von Belastungen mitunter leichter erfolgen, da sich die Betroffenen hier nicht, wie in der (Gesprächs-)Psychotherapie, direkt dazu aufgefordert fühlen (Kathrein, 2017, S. 205; Nina, T1887, T1904‒T1908). Eine Abstimmung der Therapie auf die Person anstatt primär auf die Erkrankung ist nicht nur bei Menschen mit Essstörungen von großer Bedeutung, sondern wird von Gadamer unabhängig von der konkreten Symptomatik betont. Aus dem Griechischen übersetzt sei Therapie der Dienst, der einerseits Verantwortung umfasse, andererseits vor allem „freigebende Fürsorge“ (Gadamer, 2010, S. 141). Diese beiden Aspekte werden in der vorliegenden Untersuchung besonders deutlich: Struktur und Rhythmus bieten Entlastung in einer Situation der Überforderung und Destabilisierung. Die Kontrolle kann dadurch zu einem Teil abgegeben werden, wodurch Freiraum für das SelbstZuwenden und das Finden des eigenen Gleichgewichts entsteht (s. Kapitel 7.2). In Abhängigkeit der Person mit ihrer konkreten Betroffenheit und Entwicklung gilt es für Therapeuten und Therapeutinnen, das entsprechende Verhältnis zwischen Begrenzung und Freiraum zu finden. Dieses ist außerdem im Verlauf der Erkrankung bzw. der Überwindung anzupassen. Eine solche personenzentrierte Vorgehensweise erfordert eine empathische therapeutische Beziehung, die sich in den Gesprächen als vordergründig gegenüber dem konkreten Zugang darstellt. Die Bedeutung einer Begegnung auf Augenhöhe begründet Bohlen mit der eingeschränkten Autonomie, die Menschen mit Essstörungen häufig leben und erleben, sowie mit ihrem Empfinden eines geringen Selbst-Wertes (Bohlen, 2005). Autonomie können die Betroffenen durch Begleitung, nicht jedoch durch autoritäres Auftreten der Therapeuten und Therapeutinnen erfahren. Auf ein solches Machtgefälle weist der Begriff „Therapieverweigerung“ (Jasmin, T2566) hin: Die Betroffenen beugen sich nicht den vorgegebenen Maßnahmen und werden als unwillig angesehen. Stattdessen kann die Nahrung für die Person nicht passend sein und/oder die Art und Weise, wie sie angeboten wird. Daher gilt es, so Gadamer, „den anderen in seinem Anderssein anzuerkennen. Nur dann wird man ihn ein wenig anleiten können, so daß er seine eigenen, ihm eigenen Wege zu finden weiß“ (Gadamer, 2010, S. 140). Indem Gadamer von Wegen und nicht von dem Weg für die einzelne Person spricht, wird außerdem die Such- bzw. Gleichgewichtsbewegung, die sich über mehrere Pfade erstrecken kann, deutlich. Für die Begleitung bei dieser Suche ist wichtig, das Verständ-

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nis von Überwindung auf Seiten des Therapeuten bzw. der Therapeutin und der Betroffenen zu klären (Jenkins & Ogden, 2012). Differenzen können die gemeinsame Arbeit und damit die Überwindung erschweren. Wenngleich die Person letztendlich ihren eigenen Weg finden und gehen soll, ist häufig eine Begleitung über den stationären Aufenthalt hinaus wichtig. In dieser Hinsicht fühlten sich einige Personen zu wenig unterstützt (Alena, 53‒55, 901‒904, 940‒943, 962‒965; Tamina, 699‒705). Die vertrauensvolle Beziehung wird zwar am meisten betont, doch auch die Fachkompetenz der Therapeuten und Therapeutinnen ist für die Begleitung der Betroffenen und ihres Umfeldes erforderlich. Eine solche wird in manchen Untersuchungen, beispielsweise von Linville et al. (2012), zum Teil als nicht ausreichend wahrgenommen. Im durchgeführten Projekt bestätigt sich dies nicht bzw. spielen bei wenig hilfreichen Erfahrungen noch weitere Aspekte, wie die Unfreiwilligkeit und damit fehlende Bereitschaft zur Therapie, eine Rolle. Aufgrund der Komplexität der Essstörung und der Herausforderung im Umgang mit Betroffenen, unter anderem aufgrund des zunächst häufig eingeschränkten emotionalen Zugangs (s. Kapitel 2.2.2), bedarf es jedenfalls einer entsprechenden Expertise in diesem Gebiet. Diese umfasst neben Wissen über die Erkrankung insbesondere auch kontinuierliche Reflexion der Erfahrungen in der therapeutischen Arbeit. Eigene Anteile, Unsicherheiten und Ohnmacht sollen in einer Supervision, einzeln und/oder im Team, bearbeitet werden können, um eine wertschätzende und haltgebende Begegnung mit den Betroffenen zu ermöglichen. Nicht nur die Begleitung der Betroffenen, sondern auch der Menschen in ihrem Umfeld ist von Bedeutung, um bei diesen das Verstehen der Problematik zu fördern. Dafür sind allgemeine Informationen über die Dynamik der Essstörung erforderlich und vor allem Hinweise auf die individuelle Ausprägung. Die Vernetzung der Therapeuten und Therapeutinnen mit Familie, Freunden und Freundinnen sowie anderen wichtigen Bezugspersonen kann einerseits zu deren Entlastung beitragen, da sie oft Ohnmacht erleben und sich daher von den Betroffenen distanzieren. Andererseits fühlen sich die Betroffenen durch ein solches Netzwerk auch aufgehoben und nicht allein im Umgang mit der Essstörung (Linville et al., 2012; Treasure et al., 2008). Durch die Aufklärung des Umfeldes können Bemerkungen, die die Überwindung behindern, vermieden oder zumindest verringert werden. Wie im vorliegenden Projekt äußern auch Frauen in den Gesprächen mit Weaver et al. ähnliche erschwerende Erfahrungen auf ihrem Weg aus der Essstörung. Die Aufforderung, sich um das eigene Begräbnis zu kümmern („plan your funeral“: Weaver et al., 2005, S. 197), ist weder hilfreich noch ein Zeichen von Einfühlsamkeit. Hier fehlt es jedenfalls an Zutrauen, außerdem tragen derartige Aussagen zusätzlich zum Verlust des Gleichgewichts bei. Somit wird deutlich, dass nicht nur die Person mit der Essstörung, sondern ebenso das Umfeld betroffen ist. Dies wiederum unterstreicht die Sichtweise auf den Beziehungskontext Betroffene-Essstörung-Umfeld (s. Kapitel 6.2) sowie den Bedarf eines umfassenden therapeutischen Ansatzes. Das Einbeziehen des Umfeldes ist jedenfalls ein Erfordernis bei einer bereits manifesten Essstörung, aber auch als Anregung zur Prävention zu verstehen. So können Eltern ihrem Kind nicht die für seine Entwicklung erforderliche Stabilität geben, wenn sie selbst belastet sind, sei es aufgrund von aktuellen Konflikten oder eigenen schwierigen frühen Erfahrungen. Angesichts der häufigen Überforderung von Eltern und Betroffe-

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nen bereits im Vorfeld der Erkrankung ist daher die frühzeitige Beratung und Begleitung zu betonen, um die Wahrscheinlichkeit für spätere Probleme und Erkrankungen, über die Essstörung hinaus, verringern zu können. Fazit: Überwindung der Essstörung als persönlicher Entwicklungsweg ins eigene Gleichgewicht Abschließend ist somit festzuhalten, dass in Bezug auf die Kriterien für die Überwindung der Essstörung verschiedene Auffassungen und daher Unklarheiten in der Forschung und Praxis bestehen. Wie die vorliegenden Ergebnisse zeigen, handelt es sich jedenfalls um ein differenziertes Phänomen, das mehr als die Gewichtsstabilisierung und Abwesenheit von (Ess-)Problemen umfasst und daher nicht ausreichend mit diesen Merkmalen beschrieben werden kann. Der Vorschlag von Wünsch-Leiteritz (2016), Überwindung mittels eines symptomfreien Intervalls von fünf bis zehn Jahren, wie dies mitunter bei somatischen Krankheiten erfolgt, zu definieren, entspricht zum Teil dem Verständnis von Stabilität in dieser Arbeit. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass der Begriff Stabilität hier über die Essstörungssymptome hinaus eine Lebensweise im umfassenden Sinn meint: Alternativen zur Essstörung zu finden, um Schwierigkeiten im Leben bewältigen zu können. Für die Beurteilung von Überwindung soll vor allem die subjektive Sichtweise der Person im Mittelpunkt stehen und eine Gesamtbetrachtung der Lebensgeschichte erfolgen. Als zentrales Merkmal zeigt sich in der Forschungsarbeit das Gleichgewicht im Umgang mit Herausforderungen des Lebens. Überwindung ist somit kein absolutes Maß und bleibt nach diesem Verständnis kein Ideal, sondern kann Wirklichkeit werden. Im Deutschen Wörterbuch definieren Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (1999f, Sp. 653) den „Überwind“ als einen „wind, der oberhalb wegstreicht und das schiff, den baum, den wanderer im windschatten läszt“. Dementsprechend erlangen die Personen auf dem Weg aus der Essstörung die Position dieses Windes: Sie gehen über die Essstörung hinweg und lassen diese in ihrem Schatten stehen, während früher umgekehrt die Essstörung einen Schatten auf sie warf. Diese Vorstellung unterstreicht die Aussagen von Anika (921) und Irina (Mail 05.12.2015), die den Schatten der Essstörung im Sinne einer Fokussierung auf die Symptomatik erwähnen. Eine solche ist daher von Seiten des Umfeldes sowie der Therapeuten und Therapeutinnen zu vermeiden. Mit einer solchen Auffassung von Überwindung verändert sich auch jene von Krankheit. Diese kann als „das Störende, das Gefährliche, mit dem es fertigzuwerden gilt“ (Gadamer, 2010, S. 135) gesehen werden. Oder aber es wird darin ein Sinn erkannt, eine „seelische Herausforderung“ (Hell, 2013), indem die Betroffenen sich selbst zuwenden und versuchen, diese Sprache zu verstehen. Denn, so Gadamer, auch bei Krankheit und Schmerz bleibe die Gesundheit im Verborgenen vorhanden: „Die Funktion des Schmerzes im Leben ist, daß die subjektive Empfindung auf eine Störung in dem gefügten Ausgleich der Lebensbewegung hinweist, in der Gesundheit besteht“ (Gadamer, 2010, S. 139). Damit ist in einem weiteren Schritt nicht nur Gesundheit bzw. Krankheit, sondern das Leben insgesamt als Gleichgewicht aufzufassen.

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Dem Blick auf den Beziehungskontext Betroffene-Essstörung-Umfeld entsprechend, kann die Überwindung der Essstörung eine gemeinsame Herausforderung für die Betroffenen und das Umfeld, ein gemeinsamer Weg ins Gleichgewicht sein. So wie das Umfeld der Essstörung Raum geben kann, beispielsweise durch Forderungen bis zur Überforderung (s. Kapitel 7.1), hat es ein großes Unterstützungspotential (s. Kapitel 7.2.3). Häufig sind in den Gesprächen Schuldgefühle erkennbar, die sich im Ent-schuldigen des Umfeldes von Seiten der Gesprächspersonen widerspiegeln. Jedoch bietet das Eintreten der Essstörung in den Beziehungskontext der Person und ihres Umfeldes die Möglichkeit, aus den Erfahrungen zu lernen und das Leben anders zu gestalten ‒ jeder und jede Einzelne für sich sowie, bei vorhandener Bereitschaft, gemeinsam. Der Fokus ist somit auf alle Beteiligten zu richten, auch in dem Sinn, dass Menschen des (therapeutischen) Umfeldes mit der Art und Weise, wie sie sich selbst und andere achten, wesentlich zur Überwindung der Essstörung beitragen können (s. Kapitel 10.2 und Kapitel 10.3). Letzten Endes gilt es zu erkennen, dass niemand, auch kein Therapeut bzw. keine Therapeutin, die Betroffenen zu heilen vermag, da sich die Heilung in der Person selbst ereignet. Es besteht die Möglichkeit des Angebots von symbolischer Nahrung in Form von Unterstützung und Begleitung, aber die Betroffenen müssen ihren Weg selbst gehen (wollen) – so wie auch eine Pflanze versorgt, aber nicht für sie gewachsen werden kann. Dieses Wissen mag das Umfeld einerseits von einem zu großen Verantwortungsund Schuldgefühl entlasten. Andererseits ist es schwer zu ertragen, die Person nicht von der Essstörung befreien und den Schritt in ihre Lebendigkeit für sie gehen zu können. Auf jeden Fall hilfreich sind das Gewähren von Freiraum, um damit die Person ihren eigenen Weg finden zu lassen, und das Zutrauen in ihre Fähigkeit, diesen für sich zu finden und auch zu gehen (s. Kapitel 10.2). Dadurch kann es ihr gelingen, bereit für ihre Selbst-Entdeckungsreise zu werden und damit, möglicherweise wie nie zuvor, auf den Geschmack ihres Lebens zu kommen: Ich bin quasi in meinem Paradies gelandet, weil ich mir nie vorstellen hätte können, dass ich jemals so gut leben kann. (Alena, 1427)

10 Wegbegleitung in Alltag und Therapie ‒ Gemeinsam Gleichgewicht finden Auf Basis der gewonnenen Forschungserkenntnisse werden in diesem abschließenden Kapitel Anregungen für Betroffene, das Umfeld sowie Therapeuten und Therapeutinnen formuliert, um gemeinsame Wege aus der Essstörung zu ermöglichen bzw. zu erleichtern. Es fließen insbesondere jene Aspekte ein, die die Personen einerseits als hilfreich erlebten und andererseits als wichtig erachten, jedoch nicht immer selbst erfahren haben. 10.1 Betroffene Person: Den eigenen Weg suchen An die Betroffenen richten die Gesprächspersonen vor allem ermutigende Worte, ohne die Schwierigkeiten zu verharmlosen. Sie zeigen die Möglichkeiten innerhalb dieser Schwierigkeiten auf, wodurch die Essstörung nicht mehr als Ausweg und deren Überwindung nicht mehr ausweglos erscheinen. Der Essstörung ins Gesicht blicken Die Betroffenheit und besonders das gefährliche Gesicht der Essstörung sollen erkannt werden. Mit Alenas Worten: Es sei wichtig, „sich selber nicht ins Hemd zu lügen“ (vgl. Alena, 1525). Denn, so Silvia (T1497): „Das Leben ist lebenswert.“ Über die Bewusstwerdung des Problems hinaus ist die tiefe Auseinandersetzung wesentlich: im Hinblick auf die eigenen Bedürfnisse Fragen zu stellen und die eigene Geschichte verstehen zu wollen. Dies kann zu einem früheren Zeitpunkt der Betroffenheit leichter gelingen, da die Gefahr besteht, sich an das Leben mit der Essstörung zu gewöhnen (Alice, T1580‒ T1584, T1611f.). Mit sich selbst anfreunden Dieser Aspekt umfasst, sich wichtig zu nehmen, sich selbst zu begegnen und vor allem Zeit (Claudia, T2756‒T2759). Es sollen somit „kleine Meilensteine“ (Marlies, 859) gesetzt werden, um sich selbst spüren zu lernen und das eigene Maß zu finden. Dieses schrittweise Vorgehen ist gerade für leistungsorientierte Menschen und damit für Betroffene oft schwierig. Besonders bedeutsam für die Überwindung der Essstörung ist, sich von äußeren Maßstäben, Bewertungen und dem Streben nach Perfektion zu entfernen, vor allem, weil dadurch eine Annäherung an eigene Wünsche erleichtert wird. Zum eigenen Nein zu stehen und die eigenen Bedürfnisse zur Sprache zu bringen, sind hier wichtige Aspekte (Grete, T2949f.). Dafür muss die Antwort auf die Frage „Was brauch ich, damit es mir gut geht?“ (Anja, T2268) oft erst gefunden werden (Anja, T2311). Auf das eigene „Bauchgefühl“ (Jasmin, T2560) zu hören, ebnet den Weg zu freudvollem Tun und zu sich selbst, Schritt für Schritt: „dass man immer mehr versucht, immer mehr © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Kathrein, Überwindung der Essstörung als Weg ins Gleichgewicht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25971-6_10

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10 Wegbegleitung in Alltag und Therapie ‒ Gemeinsam Gleichgewicht finden

von dem zu machen, wovon man weiß, dass einem das gut tut und immer weniger von dem zu machen, wovon man weiß, dass es einem nicht gut tut“ (Karin, T3313‒T3317). Damit distanzieren sich Betroffene von der Selbst-Abwertung und bewegen sich auf die Selbst-Akzeptanz zu (Rebecca, T1426‒T1444). Auch bei einem Rückfall rät Grete, innezuhalten und den Blick zurückzuwerfen auf das, was schon erreicht wurde, anstatt sich selbst zu verurteilen (Grete, T2960‒T2964). Dem (therapeutischen) Umfeld öffnen und anvertrauen Um aus der Welt der Essstörung zu gelangen, ist für Betroffene auch die Verbindung mit dem Umfeld wichtig, beispielsweise in Form einer gemeinsamen Freizeitgestaltung, aber ebenso die Verbindung mit der Natur, etwa durch Bewegung im Freien oder bewusste Auseinandersetzung mit der Qualität ihrer Nahrung. Ein weiterer Schritt besteht im Anvertrauen: mit Menschen offen über die Betroffenheit und andere Anliegen zu sprechen; sich unterstützen und halten zu lassen; in Wohlfühlgemeinschaften zu sein. Dadurch erfahren Betroffene nicht nur Halt, sondern sie können auch andere Perspektiven gewinnen. Die Gesprächspersonen raten Betroffenen, sich erstens frühzeitig und zweitens therapeutisch unterstützen zu lassen (u. a. Claudia, T2763‒T2772; Frauke, 875‒879). Bei der Suche nach einer therapeutischen Begleitung soll auf ein individuell passendes Umfeld, beispielsweise ein ansprechendes Klinikkonzept, geachtet werden. Ebenso ist die „Sympathie“ (Jasmin, T2475) zwischen der betroffenen Person und dem Therapeuten bzw. der Therapeutin wichtig, denn: „Das wird auch in fünf Jahren nicht fruchten. Das muss passen, das ist ganz wichtig“ (Jasmin, T2478‒T2480). An sich selbst glauben Die Gesprächspersonen ermutigen die Betroffenen, sich auf den eigenen Weg in ein Leben ohne Essstörung zu machen: „Nie aufgeben“ (u. a. Alena, 1527), denn: „Es ist Veränderung möglich“ (Claudia, T2756). Karin ergänzt dazu: „Nie aufgeben, egal wie schwer es wird. […] Das ist leider ein harter Weg. […] Aber er lohnt sich“ (Karin, T3509, T3518, T3522) ‒ nicht zuletzt, da jeder Mensch wertvoll ist (Karin, T3297‒T3310). 10.2 Umfeld: Die Betroffenen ihren Weg finden lassen Dem Umfeld wird von den Gesprächspersonen nahegelegt, die Betroffenen zu begleiten und den eigenen Weg finden zu lassen, anstatt sie direktiv anzuleiten (Tamina, 2205‒2207). Wichtig für das Gehen des eigenen Weges sind das „Freilassen“ und die „Unterstützung“ (Irina, 2473). Druck hingegen erzeugt mitunter Widerstand (Irina, 2235). Die Personen sehen jedoch auch die Schwierigkeiten für das Umfeld: „Irgendwie ist es eine Zwickmühle: Wie man es macht, ist es falsch“ (Nina, T1970f.). Aber es gibt Wege, die zu den Betroffenen führen, um mit ihnen gemeinsam gehen zu können.

10.2 Umfeld: Die Betroffenen ihren Weg finden lassen

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Personenzentriert begegnen Grundlage für das Erkennen der Problematik von Seiten des Umfeldes ist dessen Aufmerksamkeit für entsprechende Anzeichen. Auch auf gesellschaftlicher Ebene bedarf es eines größeren Bewusstseins dafür, dass die Essstörung keine „Modekrankheit“ (Alice, T1838) und das Essen „eigentlich Nebensache“ (Jasmin, T2494) ist. Zu einem solchen Bewusstsein trägt einerseits allgemeines Wissen über die Essstörung bei (Rebecca, T1655‒T1662). Andererseits sind vor allem der Blick des Umfeldes auf die konkrete Situation der Betroffenen und die Bereitschaft, diese zu verstehen, von großer Wichtigkeit (Anja, T2276‒T2299). In Essenssituationen soll kein Druck ausgeübt, sondern mit „Feingefühl“ (Charlotte, T1478) vorgegangen werden. Das Ansprechen an der Arbeitsstelle ist abzuwägen, da es beschämend sein kann, dennoch sollte das „Wegschauen“ (Rebecca, T1393) vermieden werden. Von großer Bedeutung ist somit, die betroffene Person jenseits der Essstörung wahrzunehmen: der Person Raum zu geben, da zu sein und ein offenes Ohr zu haben; gleichzeitig die Essstörung zu begrenzen. Letzteres ist zu erreichen, wenn sich Menschen im Umfeld mit ihren Bedürfnissen und Wünschen zeigen, sich also nicht von der Essstörung vereinnahmen lassen. Für beide Seiten soll die Möglichkeit, jenseits eines Zwanges, zum Sprechen über Schwierigkeiten und andere Anliegen gegeben sein. Miteinander gestaltete Zeit kann zur Annäherung zwischen den Betroffenen und den sie umgebenden Menschen beitragen (Jasmin, T2503‒T2521). Das Ziel besteht darin, gemeinsam, etwa im Rahmen einer Familientherapie, einen Weg zu finden, auf dem die Essstörung ihre Funktion im Beziehungskontext der Beteiligten verliert (Anita, 1375‒1377). Dieser kann letztlich auch mit einer räumlichen Distanzierung, beispielsweise einem Auszug der Betroffenen (Irina, 2484‒2494), einhergehen. Stabilität geben Ein „tragendes Umfeld“ (Claudia, T2508f.) ist angesichts der häufigen Überforderung, in der die Essstörung Stabilisierung bringen soll, sehr bedeutsam. Stabilität kann das Umfeld in Form von Liebe und Geborgenheit geben, wodurch sich die betroffene Person gehalten fühlen kann (Anja, T2381‒T2383). Auch die Möglichkeit, Aufgaben und Entscheidungen des Lebensalltags, z. B. im Beruf oder in Beziehungen, zu teilen, trägt hierzu bei. Allerdings bedarf es der Bereitschaft der Betroffenen, diese Unterstützung anzunehmen (Claudia, T2508‒T2519). Dementsprechend ist das Ausmaß an Unterstützung „persönlichkeitsabhängig“ (Rebecca, T1255) und soll daher im Hinblick auf das Verhältnis zur Selbst-Verantwortung auf die jeweilige Person abgestimmt werden (Rebecca, T1252‒T1270). Selbst-Achtung leben Nicht nur Aufmerksamkeit für die Betroffenen, sondern auch gegenüber sich selbst soll bei Menschen des Umfeldes sichtbar sein. Hiermit wird die Modellwirkung angespro-

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10 Wegbegleitung in Alltag und Therapie ‒ Gemeinsam Gleichgewicht finden

chen: als Lebensmodell, als Modell für einen achtsamen Umgang mit sich selbst „greifbar“ (Marianne, 714) zu sein. Dies gilt unter anderem für den natürlichen Umgang mit Essen, indem Hunger und Sättigung gespürt und nicht kognitiv kontrolliert werden (Claudia, T2628‒T2633; Marianne, 708‒714). Über das Essen hinaus ist die Vorbildwirkung für das Leben des eigenen Maßes von großer Bedeutung, um den Betroffenen das Entfernen von äußeren Maßstäben zu erleichtern. Hierfür gelten Menschen, die die Essstörung bereits überwunden haben, aufgrund der geteilten Erfahrung als besonders bestärkend. Daher ist der Austausch mit ehemaligen Betroffenen eine Anregung für zukünftige Initiativen (Rebecca, T1274‒ T1299) ‒ so wie auch die vorliegende Arbeit mit der Vielfalt an Lebensgeschichten solcher Personen den Weg aus der Essstörung unterstützen möge. Einblick in die Lebensvielfalt geben Dieser Aspekt wird auch ausgedrückt als: „einen Bissen vom Leben geben“ (Bianca, 750, 751), oder: „ein Stück weit Normalität hineinbringen“ (Bianca, 749), damit die Essstörung „nicht ständig im Mittelpunkt“ (Bianca, 747) steht. Menschen im Umfeld können den Zugang zur Alltagswelt und das Verlassen der „Parallelwelt“ (Alena, 1769) erleichtern, indem sie „den Menschen einfach weiterhin mitnehmen“ (Nina, T1972). Es gilt, die verschiedenen Lebensbereiche wieder zu erkennen und zu erfahren, vor allem das Zusammensein mit nahen Menschen. Das Leben zutrauen Hiermit sprechen die Gesprächspersonen einen wesentlichen Punkt an: Die Betroffenen sollen mit ihrer Stärke, ihren Potentialen und nicht nur mit ihrer Störung wahrgenommen, also in ihrem Sein und Werden ermutigt werden. Das Zutrauen zeigt sich unter anderem in der Fähigkeit des Umfeldes, sich nicht zu sehr in die Essstörungsproblematik zu involvieren, sich „nicht so einzumischen“ (vgl. Nina, T1913), auch wenn dies schwierig ist. So teilte Bianca ihrer Mutter in einer gemeinsamen Therapiestunde mit: „Mama, trau mir endlich mein Leben zu!“ (Bianca, 741). 10.3 Therapie: Die Betroffenen auf ihrem Weg begleiten Eine wichtige Aufgabe der Therapeuten und Therapeutinnen besteht in der Begleitung der Betroffenen auf dem Weg zu sich selbst: bei der Selbst-Annäherung, bei der „Selbstexploration“ (Lia, 951), bei der Selbst-Entdeckung. Begleiten heißt, nicht direktiv, sondern einfühlsam und bedarfsorientiert vorzugehen (Marlies, 863‒873) und den Freiraum sowie den Halt auf die Person abzustimmen (u. a. Claudia, T2483f., T2503). Dies ist auch über das therapeutische Setting im engeren Sinn hinaus zu verstehen, indem Therapeuten und Therapeutinnen gemeinsam mit den Betroffenen die Planung der längerfristigen Lebensgestaltung, insbesondere nach einem stationären Aufenthalt, in die Therapie einbeziehen. So kann beispielsweise eine Veränderung der Wohnsituation den weiteren Weg erleichtern (Anita, 1318‒1320; Frauke, 159‒163).

10.3 Therapie: Die Betroffenen auf ihrem Weg begleiten

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(Aus-)Haltende Beziehung aufbauen Eine „tragfähige Beziehung“ (Bianca, 709) im Sinne einer vertrauensvollen Beziehung stellt die Grundlage für die Therapie dar. Die Bezeichnung tragfähig ist insofern zutreffend, da die Betroffenen in ihrer Überforderung und Verunsicherung zunächst Halt in der Essstörung finden, der nun temporär in der Therapie zur Verfügung gestellt werden kann: als Therapeut bzw. Therapeutin da zu sein und zu bleiben, somit die Betroffene nicht fallen zu lassen. Aushaltend ist die Beziehung auch, da die gemeinsame Arbeit mitunter schwierig sein kann (Bianca, 709). Zunächst ist das Aufbauen einer Vertrauensbasis erforderlich und hierfür wiederum ausreichend Zeit. Dadurch wird ein schrittweises Kennenlernen ermöglicht, um so einen „Draht“ (Nina, T1699) zueinander zu finden. Dies ist über die Gruppenangebote hinaus besonders in der Einzeltherapie mit mehr Tiefe zu erreichen. Wie von Seiten des Umfeldes wirkt auch das Zutrauen der Therapeuten und Therapeutinnen, dass die Betroffenen ihren Weg finden und gehen werden, bestärkend für das Setzen der einzelnen Schritte auf diesem Weg. Der Person Raum und Rahmen geben Eine tragfähige Beziehung schafft einerseits Raum und bietet andererseits einen Rahmen für die Person an. In diesem Raum haben alle Themen Platz, vor allem kann die Sprache der Essstörung und damit der Betroffenen gehört, deren Bedeutung gemeinsam ergründet und ein alternativer (emotionaler) Ausdruck erprobt werden (Anika, 1059‒1067). Diese personenzentrierte Vorgehensweise geht über die diagnostische Zuordnung anhand von Klassifikationssystemen hinaus. So erwähnt Claudia die diagnoseunabhängige Bedeutung von Raum in Form von Zeit und Zeitpunkt für die Betroffenen in der Therapie: „Das ist immer die Beziehung zwischen Therapeut und Patient, egal was der hat. Dieses Raum-Schaffen, wo jeder sein Tempo hat; und nie drängen“ (Claudia, T2464‒T2471). Zu viel Fokus und Druck auf die Gewichtszunahme hingegen erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass nur eine kurzfristige Stabilisierung oder eine Verlagerung auf eine andere Problematik, insbesondere von der Anorexie auf die Bulimie, erfolgt (Alena, 19‒21). Gleichzeitig zum Raum bedarf es eines Rahmens, dessen Flexibilität auf die Person abgestimmt werden soll. Vor allem wird die Anpassung dieses Rahmens bis zu jenem Maß, das eine „Reibung“ (Bianca, 747) zulässt, als hilfreich geschildert. Hierzu gehören auch Rahmenbedingungen des therapeutischen Ablaufes, die beispielsweise in einem Vertrag gemeinsam mit den einzelnen Betroffenen festgehalten werden können (Frauke, 769). Struktur und Regelmäßigkeit sind eine wichtige Unterstützung für den Weg aus der Essstörung (u. a. Claudia, T2486f., T2498‒T2500), sofern sie nicht als Einengung, sondern als Orientierungsrahmen bestehen. Im Hinblick auf die Gewichtszunahme zeichnet sich ein solcher durch die Möglichkeit, kleine Schritte zu gehen, aus (Nina, T1808‒T1814). Zum Freiraum innerhalb der Struktur gehören außerdem ein breites Angebot an therapeutischen Zugängen (Nina, T1796) sowie die Zurückhaltung bei Bewertungen von Seiten der Therapeuten bzw. Therapeutinnen, also der Freiraum in ihrem Denken

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10 Wegbegleitung in Alltag und Therapie ‒ Gemeinsam Gleichgewicht finden

(Anika, 1081‒1083; Lia, 970‒989). Angesichts der erfahrenen Bewertungen mit einhergehender Verunsicherung vor und in der Zeit der Essstörung sowie der Tendenz zur Anpassung an äußere Maßstäbe ist dies besonders zu betonen. Selbst-Erfahrung ermöglichen Für die Selbst-Annäherung ist die Selbst-Erfahrung in Form von sinnesbasierten Zugängen und Reflexion ein wesentlicher Bestandteil der Therapie. Die tiefe Auseinandersetzung ermöglicht einen anderen, nicht mehr sich selbst schädigenden Umgang mit früheren Belastungen und Verletzungen (Alice, T1489‒T1491) sowie das Kennenlernen eigener Fähigkeiten. Hierfür ist das Bewusstwerden der Selbst-Distanz wichtig, wozu der Therapeut bzw. die Therapeutin wesentlich beitragen kann: „diesen Gegensatz klar zu machen, was man mit Menschen macht, die man liebt, und was man mit sich selber macht ‒ und wie weit das eigentlich auseinander ist“ (Karin, T3346‒T3351). Da Selbst-Erfahrung auch und besonders auf körperlicher Ebene erfolgt, soll körperliche Bewegung trotz des oft stark ausgeprägten Bewegungsbedürfnisses der Betroffenen und der erforderlichen Begrenzung des Kalorienverbrauchs nicht zu sehr beschränkt werden. Stattdessen ist ein Maß zu finden, mit dem das körperliche Spüren und die Nährstoffversorgung, also die Versorgung auf körperlicher und seelischer Ebene, vereinbart werden können. Das Unterdrücken eines Bedürfnisses kann selbiges, wenn überhaupt, nur vorübergehend verringern, sodass eine gemäßigte, dem Allgemeinzustand der Betroffenen angepasste Aktivität zielführender ist. In Verbindung mit der Lebensvielfalt bringen Lebensvielfalt ist hier vor allem im Sinn von Alltagsnähe zu verstehen. Die Personen empfehlen keine krankheitsspezifische Separation, allerdings bestehen Ambivalenzen im Hinblick auf gemischte Abteilungen mit adipösen Menschen. Diese verkörpern in gewisser Weise die Angst der Betroffenen vor Übergewicht (Anika, 23; Anita, 1340‒ 1352). Abgesehen von einer überschaubaren Größe werden verschiedene Altersgruppen in einer Therapieeinrichtung vorgeschlagen, wodurch ein Gefühl von Familiarität und damit von Alltag vermittelt wird. Hierfür ist nicht nur die Vielfalt im stationären Bereich, sondern auch der Kontakt zum Alltag außerhalb der Einrichtung, beispielsweise durch den begleitenden Schulbesuch (Frauke, 1527‒1537), hilfreich. Innerhalb des stationären Rahmens bringen alltagsnahe Aktivitäten eine Verbindung zu Lebensinhalten, die über die Essstörung hinausgehen, und damit ein Gefühl, nicht (nur) als krank zu gelten (Nina, T1714‒T1717). In einem weiteren Sinn umfasst dieser Kontakt zum Leben auch das Einbeziehen des Umfeldes in die Therapie. Dies kann unmittelbar, beispielsweise in Form von familientherapeutischen Sitzungen, und/oder indirekt durch die tiefe Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten, die in der momentanen Lebenssituation und in Beziehungen bestehen, erfolgen.

10.3 Therapie: Die Betroffenen auf ihrem Weg begleiten

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Das Umfeld entlasten Angesichts der häufigen Überforderung des Umfeldes im Umgang mit den Betroffenen ist dessen Unterstützung durch die Therapeuten und Therapeutinnen von großer Bedeutung. Eltern und andere Angehörige können unter anderem durch die Aufklärung, nicht auf das Essverhalten zu fokussieren und die Verantwortung hierfür den Betroffenen zu überlassen, „aus der Verantwortung genommen“ (Nina, T1925f.) werden. Es ist somit eine geteilte Verantwortung, die zur Entlastung aller Beteiligten beiträgt. In professionellen Beratungen können Angehörige einen Einblick in die Erkrankungsdynamik erhalten und konkrete Bewältigungsformen für sich erarbeiten. Selbsthilfegruppen ermöglichen außerdem einen Austausch mit anderen Angehörigen von Menschen mit Essstörungen (Charlotte, T1491‒T1496). Eigene Haltung als Therapeut bzw. Therapeutin reflektieren Wissen über die Dynamik der Essstörung ist in der therapeutischen Arbeit zweifelsohne von großer Bedeutung: einerseits, um die Betroffenen auf ihrem Weg sowie ihr Umfeld begleiten zu können; andererseits, um sich als Therapeut bzw. Therapeutin sicherer im Umgang mit den einhergehenden Herausforderungen zu fühlen. Doch dieses Wissen ersetzt nicht den Blick auf die Lebensgeschichte der betroffenen Person. Erst die Verbindung zwischen dem Allgemeinen, dem Wissen, und dem Spezifischen, der Geschichte, bildet das hilfreiche Potential. Außerdem sind der persönliche Bezug zu diesem Thema und die Haltung gegenüber Menschen mit Essstörungen zu reflektieren, um vor dem Hintergrund dieses Bewusstseins die Person in ihrer Tiefe sehen zu können und nicht das Essverhalten als sichtbares, oberflächliches Symptom in den Mittelpunkt zu stellen (Jasmin, T2486‒T2494). Eine weitere Anregung betrifft Therapeutinnen: Insbesondere aufgrund der hohen Anzahl an Frauen unter den Betroffenen ist die Verkörperung einer selbstbewussten, zufriedenen Weiblichkeit ein nicht zu unterschätzender förderlicher Beitrag für die Überwindung der Essstörung (Irina, 2341‒2355). Fazit Die genannten Anregungen sind wortgemäß folgendermaßen zu verstehen: Sie können anregen, also ein Impuls für Betroffene, für ihr Umfeld sowie für Therapeuten und Therapeutinnen im Hinblick darauf sein, auf welche Weise die Überwindung der Essstörung gelingen kann. Es handelt sich um eine Auswahl von Möglichkeiten, deren Verwirklichung sich für eine Person in ihrer Situation und zu diesem Zeitpunkt als hilfreich erweist, sich hingegen für eine andere Person als inadäquat herausstellt. Somit liegt die zentrale Botschaft darin, dass es kein Rezept für ein richtiges Verhalten gibt, sondern nur eine auf die Person abgestimmte Zusammensetzung der Nahrung im körperlichen und symbolischen Sinn. Ausschlaggebend ist die Auswahl jener Zutaten, mit denen die jeweilige Person ihr „verhungertes Selbst“ (vgl. Bruch, 1990) nähren und dadurch ihr erfülltes Selbst entwickeln kann. Ein solches personenzentriertes Vorgehen schließt alle Beteiligten im Beziehungskontext ein, das heißt, dass das Wohlergehen

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10 Wegbegleitung in Alltag und Therapie ‒ Gemeinsam Gleichgewicht finden

und damit das Gleichgewicht aller im Blick behalten werden soll. Mit einer unterstützenden Begleitung der Betroffenen von Seiten des Umfeldes und der Therapeuten bzw. Therapeutinnen kann jede einzelne Person in diesem gesamten Kontext ihr eigenes Gleichgewicht finden. Das Zusammenwirken der beteiligten Personen wiederum bildet die Basis für ein gemeinsames Gleichgewicht, indem die Möglichkeiten und Grenzen von allen berücksichtigt werden. Dadurch bahnt sich für die Betroffenen ihr Weg in einen Lebensmöglichkeitsraum, in dem die Essstörung keinen Platz mehr hat: Früher war halt alles einseitig nur durch diese, durch die Essstörung. Und jetzt irgendwie sind andere Möglichkeiten auch noch da. […] Und ich denke, dadurch, dass das jetzt nicht mehr ist, habe ich da so viel, also ist da in meinem Leben eigentlich voll viel Raum für andere Sachen entstanden. (Marianne, 471, 558)

Anstelle der Essstörung kann nun die Person (mehr) Raum einnehmen, denn, so Franke (2011, S. 192): „Gesundsein heißt, seinen Raum zu kennen.“ Diesen eigenen Raum zu füllen, wird dadurch möglich, dass es nicht mehr heißt, dass ich dünn sein will. Sondern dass es heißt, dass ich, ja, dass ich ein Leben haben will, in dem ich auch wirklich einen Platz habe; in dem ich leben kann; wo das Leben wieder lebenswert ist. Und dass ich für das kämpfe und dass ich das nicht wieder hergebe. (Karin, T1970‒T1974)

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Transkriptionsregeln

Für die Transkription der Gespräche, die als Audioaufnahme mittels Diktiergerät vorliegen, wurden folgende Regeln in Anlehnung an Dresing und Pehl (2015, S. 21ff.) angewandt: 

 













Die Buchstaben A. K. kennzeichnen die Forscherin, während die Gesprächsperson, damals noch Interviewperson genannt (s. Kapitel 4.4), die Buchstaben IP kombiniert mit der Nummer des Gesprächs erhielt (z. B. IP2). Jeder Sprecherbeitrag beginnt in einer neuen Zeile, ohne Leerzeile zwischen den Absätzen. Dies gilt auch für kurze Einwürfe (z. B. „Ja, genau.“). Es erfolgte eine wörtliche Transkription unter Beibehaltung umgangssprachlicher Satzstellungen sowie individuell und regional charakteristischer Ausdrücke, jedoch mit Übersetzung ins Schriftdeutsche. Wortverschleifungen wurden gemäß der schriftdeutschen Sprache geglättet (z. B. „haben wir“ statt „hamma“), jedoch Wortverkürzungen (z. B. „mal“ statt „einmal“) und Wortdoppelungen (z. B. „nicht, nicht“) erfasst. Wort- und Satzabbrüche sind am Abbruchzeichen / erkennbar. Das Senken der Stimme ist durch einen Punkt, eine bleibende Tonhöhe durch einen Beistrich gekennzeichnet. Zugunsten der Lesbarkeit erfolgte eine Glättung, das heißt bei kurzem Senken der Stimme oder nicht eindeutiger Betonung wird ein Punkt statt ein Komma gesetzt. Sinneinheiten sollen dabei erhalten bleiben. Eine wörtliche Rede, auf die die Gesprächspersonen hinweisen, ist mit doppelten Anführungszeichen markiert, beschriebene Gedanken hingegen mit einfachen Anführungszeichen. Auch Verständnissignale und Fülllaute wurden erfasst (z. B. „mhm“, „ah“), mit Ergänzung der Interpretation als Zustimmung („mhm (bejahend)“) oder Ablehnung („mhm (verneinend)“), wenn eine entsprechende Aussage fehlt. Ebenso sind nonverbale Ausdrücke wie Kopfnicken als Bejahung und Kopfschütteln als Verneinung festgehalten. Sprechpausen bis zu drei Sekunden wurden mit in Klammer stehenden Auslassungspunkten vermerkt, wobei die Anzahl der Dauer entspricht: (.) für eine Sekunde, (..) für zwei und (...) für drei Sekunden Pause. Eine in Klammer gesetzte Zahl steht für die Länge einer Pause über drei Sekunden (z. B. (8) für eine Pause von acht Sekunden). Wörter in GROSSBUCHSTABEN weisen auf einen betonten Ausdruck hin. Veränderungen im Sprechrhythmus (z. B. staccato) und in der Lautstärke (leiser bzw. lauter) sowie emotionale Äußerungen (z. B. Lachen) und die emotionale Färbung des sprachlichen Ausdrucks (z. B. nachdenklich oder traurig) wurden in Klammer hinter dem Sprecherbeitrag hinzugefügt. Beispielsweise erhält eine von Lachen begleitende Aussage den Zusatz (lachend).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Kathrein, Überwindung der Essstörung als Weg ins Gleichgewicht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25971-6

430



 

Transkriptionsregeln

Die Anredepronomen „du“ und „ihr“ sowie die Possessivpronomen „dein“ und „euer“ sind in Kleinschreibung, die Höflichkeitsanrede „Sie“ und das dazugehörige Possessivpronomen „Ihr“ in Großschreibung festgehalten. Zahlen von null bis zwölf, kurze Zahlwörter (z. B. zwanzig) und Maßzahlen (z. B. Prozent) wurden verbal ausgedrückt. Die Unverständlichkeit eines Wortes ist am Zeichen (unv.) und der entsprechenden Zeitmarke ersichtlich, während ein in Klammer gesetztes Wort mit Fragezeichen und Zeitmarke für ein nicht eindeutig identifizierbares Wort steht.

Im Rahmen des vorliegenden Textes sind die Zitate, vor allem durch Entfernen von Satzabbrüchen, Wortwiederholungen und Pausen, zur leichteren Lesbarkeit geglättet, da der Inhalt hier im Vordergrund steht. Es wurde jedoch darauf geachtet, die Bedeutung der jeweiligen Aussage nicht zu verändern. Hinweise der Autorin sind durch Hervorhebung in Kursivschrift markiert (s. Punkt 4 im nachfolgenden Abschnitt Hinweise zur Zitation). Zitate aus dem, im Textverarbeitungsprogramm verfassten, Basistranskript haben den zusätzlichen Buchstaben T vor der Zeilennummer erhalten, während mit Bezug zum Text im MAXQDA-Auswertungsprogramm kein Buchstabe vergeben wurde. Diese Differenzierung ist erforderlich, da die Nummerierung in MAXQDA nach Absätzen und nicht zeilenweise erfolgt. Dementsprechend unterscheiden sich die numerischen Angaben für denselben Gesprächsausschnitt im Basistranskript und im MAXQDA-Dokument.

Hinweise zur Zitation

Die folgenden Hinweise beziehen sich vor allem auf die Gesprächszitate, da die formale Gestaltung des Gesamttextes an den Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (2007) ausgerichtet ist und daher an dieser Stelle nicht näher ausgeführt wird. Einzelne Anmerkungen hierzu sind unter Punkt 5) zusammengefasst. 1) Die wörtlichen Zitate aus den Gesprächen werden unter Anführungszeichen gesetzt bzw. bei längeren Passagen über circa vierzig Wörtern als Blockzitat angegeben. Am Ende des Zitats befindet sich der Hinweis auf die Person und die Absatznummer aus dem MAXQDA-Dokument oder die Transkriptionszeile aus dem Basistranskript. Auch bei einer inhaltlichen Wiedergabe ohne wörtliche Zitierung ist die konkrete Textstelle ersichtlich. 2) Die Abkürzung vgl. steht für: a) ein Zitat, das grammatikalisch vom Originaltext abweicht. Dies betrifft vor allem den Kasus, vereinzelt auch die Wortfolge, Adjektivierung, Substantivierung etc. Bsp.: Anika erzählt, dass für sie „der geschützte Rahmen“ (Anika, 1043) der Klinik hilfreich war. Somit betont sie „den geschützten Rahmen“ (vgl. Anika, 1043) als wichtigen therapeutischen Aspekt. b) eine weitere Person, die sich zu einem Aspekt, der anhand einer konkreten Person in der Ergebnisdarstellung beschrieben wird, äußert. Bsp.: Die Suche nach Anerkennung richtete sich bei Bianca auf ihren Vater (vgl. Tamina, 191‒207). 3) Die Abkürzung u. a. wird vor der Angabe der Person und der entsprechenden Textstelle ergänzt, wenn diese ein Beispiel für einen beschriebenen Aspekt darstellt. Bsp.: Neben Leistungsstreben und Anpassung, die mit Kontrolle einhergehen, zeigen Menschen mit Essstörungen verschiedene kontrollierte Verhaltensweisen, mitunter bereits in der Kindheit (u. a. Alice, T898‒T907). 4) Für Betonungen von Seiten der Autorin wurde die Kursivschrift gewählt und am Ende des Gesprächszitats nach Angabe der konkreten Textstelle „Hervorhebung A. K.“ oder, bei mehreren Stellen in Kursivschrift, „Hervorhebungen A. K.“ hinzugefügt. 5) Im Gesamttext stehen neben Betonungen der Autorin auch englische Begriffe in Kursivschrift. Unter oben genannten Punkten kommen die Punkte 2a) bei Zitaten aus der Literatur und 3) für eine beispielhafte Literaturangabe zur Anwendung. Außerdem ist die deutsche Übersetzung eines englischen Begriffs mit vgl. vor der Quellenangabe gekennzeichnet.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Kathrein, Überwindung der Essstörung als Weg ins Gleichgewicht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25971-6