Theatraler Protest und der Weg Polens zu 1989: Zum Aushandeln von Öffentlichkeit im Jahrzehnt der Solidarnosc [1. Aufl.] 9783839419229

Um Einzelne oder Gruppen nicht als politische Subjekte anzuerkennen, genügt es, ihnen jegliche Art von Äußerung im öffen

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Polecaj historie

Theatraler Protest und der Weg Polens zu 1989: Zum Aushandeln von Öffentlichkeit im Jahrzehnt der Solidarnosc [1. Aufl.]
 9783839419229

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Der politische Umbruch von 1989 und seine theatrale Dimension
Es begann in Polen...
Der politische Umbruch in Polen und die Dimension des Theatralen
Das Theatrale
Aufführung und Quellen
Programm-Vorschau
Öffentlichkeit – Protest – Theatrales Handeln
Die Möglichkeit einer konkurrierenden Öffentlichkeit
Subjektivierung als „Anteil der Anteillosen“
Protest und Öffentlichkeitserzeugung
Theatrale Strategien zur Öffentlichkeitserzeugung
Öffentlichkeit im kommunistischen Polen und der Danziger Auguststreik
Macht der Zensur
Der Auguststreik und die polnischen Massenmedien
Etablierung von Bühnenräumen
Ich handle, also bin ich!
Der emanzipierte Zuschauer
Weitere aktive Zuschauer
Bedeutung einzelner Akteure
Staatssicherheit: Zuschauer oder Akteur?
„Noch ist Polen nicht verloren...“
Das polnische Nationalgefühl
Religion und Politik
Die Bedeutung des katholischen Glaubens für Polen
„Wir haben die Kirche aus dem Museum geholt.“
Mit Hilfe von Gott, Papst und Maria
Der Wunsch nach Freiheit
Polen als Christus der Nationen
Sehnsucht nach Freiheit des Wortes
Vom Protest zum Ritual
Nur ein Hauch von Freiheit
Erste Protestformen
Die Antwort der Kirche
Kampf um die Nation
Gottesdienste für die Nation
Teilnahme am Gottesdienst als Protestausdruck
Der Staat greift ein
Die Begräbnisfeier Priester Popiełuszkos
Hin zum ritualisierten Protest
Das Gedenken der Opfer von 1970
Ritualisierter Protest
Das Durchbrechen des Ritualisierten: Die Orange Alternative oder Der friedliche Aufstand der Zwerge
Von der Bewegung der Neuen Kultur zum ersten Aufstand der Zwerge
Es lebe der Sozialistische Realismus!
Die Geburt der Zwerge
Happening als Protest
Die Zwerge werden lebendig
Gedenktage ganz anders
Frage nach dem Akteur
Miliz als Akteur
Zur Performativität des Flugblatts
Der Mut steigt...
Der Erfolg will geteilt werden
Erneuter Aufstieg der Solidarność
Die Antwort der Orangen Alternative
Das Aushandeln von Sicht- und Sagbarkeit
Im Jahrzehnt der Solidarność
Theatralität und Protest
Zeittafel
Literatur- und Quellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis

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Berenika Szymanski Theatraler Protest und der Weg Polens zu 1989

Theater | Band 43

Berenika Szymanski (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München sowie an der Universität Bayreuth.

Berenika Szymanski

Theatraler Protest und der Weg Polens zu 1989 Zum Aushandeln von Öffentlichkeit im Jahrzehnt der Solidarno´s ´c

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat und Satz: Berenika Szymanski Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1922-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 9 Der politische Umbruch von 1989 und seine theatrale Dimension | 13

Es begann in Polen ... | 15 Der politische Umbruch in Polen und die Dimension des Theatralen | 18 Das Theatrale | 23 Aufführung und Quellen | 31 Programm-Vorschau | 36 Öffentlichkeit – Protest – Theatrales Handeln | 39

Die Möglichkeit einer konkurrierenden Öffentlichkeit | 41 Subjektivierung als „Anteil der Anteillosen“ | 44 Protest und Öffentlichkeitserzeugung | 48 Theatrale Strategien zur Öffentlichkeitserzeugung | 53

Öffentlichkeit im kommunistischen Polen und der Danziger Auguststreik | 55 Macht der Zensur | 55 Der Auguststreik und die polnischen Massenmedien | 61 Etablierung von Bühnenräumen | 67 Ich handle, also bin ich! | 77 Der emanzipierte Zuschauer | 77 Weitere aktive Zuschauer | 83 Bedeutung einzelner Akteure | 86 Staatssicherheit: Zuschauer oder Akteur? | 93 „Noch ist Polen nicht verloren...“ | 103

Das polnische Nationalgefühl | 104 Religion und Politik | 110 Die Bedeutung des katholischen Glaubens für Polen | 111 „Wir haben die Kirche aus dem Museum geholt.“ | 117 Mit Hilfe von Gott, Papst und Maria | 122

Der Wunsch nach Freiheit | 135 Polen als Christus der Nationen | 135 Sehnsucht nach Freiheit des Wortes | 145 Vom Protest zum Ritual | 157

Nur ein Hauch von Freiheit | 157 Erste Protestformen | 162 Die Antwort der Kirche | 168 Kampf um die Nation | 168 Gottesdienste für die Nation | 173 Teilnahme am Gottesdienst als Protestausdruck | 180 Der Staat greift ein | 184 Die Begräbnisfeier Priester Popiełuszkos | 191 Hin zum ritualisierten Protest | 195 Das Gedenken der Opfer von 1970 | 198 Ritualisierter Protest | 203 Das Durchbrechen des Ritualisierten: Die Orange Alternative oder Der friedliche Aufstand der Zwerge | 2 09

Von der Bewegung der Neuen Kultur zum ersten Aufstand der Zwerge | 213 Es lebe der Sozialistische Realismus! | 213 Die Geburt der Zwerge | 219 Happening als Protest | 22 3 Die Zwerge werden lebendig | 22 3 Gedenktage ganz anders | 2 28 Frage nach dem Akteur | 234 Miliz als Akteur | 235 Zur Performativität des Flugblatts | 239 Der Mut steigt... | 24 3 Der Erfolg will geteilt werden | 25 0 Erneuter Aufstieg der Solidarność | 25 0 Die Antwort der Orangen Alternative | 25 3

Das Aushandeln von Sicht- und Sagbarkeit | 2 5 9

Im Jahrzehnt der Solidarność | 2 5 9 Theatralität und Protest | 26 3 Zeittafel | 2 69 Literatur- und Quellenverzeichnis | 275 Abbildungsverzeichnis | 30 5

Vorwort

Es war Anfang der achtziger Jahre, und ich sah im Fernsehen, wie [...] Lech Wałęsa Werften besetzte. ,Alle Polen tragen Schnurrbart.‘ Schon bald musste ich den Satz differenzieren. Der böse General Jaruzelski, der 1981 das Kriegsrecht ausrief, trug nämlich keinen Schnurrbart. Ich reformulierte meine These so: ,Alle guten Polen tragen einen Schnurrbart.‘ Doch auch diese neue Aussage schrie förmlich nach einer weiteren Verfeinerung, da ja Papst

Johannes

Paul

II

[...]

keinen

Schnurrbart trug. Ich grübelte lange und fand schließlich eine Lösung: ,Päpste zählen nicht.‘ Steffen Möller, Viva Polonia1

Im April 1990 bin ich gemeinsam mit meiner Familie in einem kleinen Polski-Fiat nach Deutschland aufgebrochen. Ich ließ Verwandte, Freunde und Nachbarn zurück und nahm ein großes Bündel an Erinnerungen meiner bis dahin in Polen gelebten Jahre mit: Die Kindersendung Pan Tik Tak, die Gedichte von Jan Brzechwa, Maiandachten und Rosenkranzgebete sowie lange Schlangen vor Nahrungsmittelgeschäften. Lech Wałęsa kannte ich

1

Möller, Steffen: Viva Polonia. Als deutscher Gastarbeiter in Polen. Frankfurt a. M. 2008. S. 5.

10 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

aus dem Fernsehen und wusste, dass er gemeinsam mit Solidarność für Polen die Freiheit erkämpft hatte. In meinen kindlichen Phantasien stellte ich mir vor, wie er, angefeuert von tausenden von Polen, gegen General Jaruzelski zu Felde zog bis dieser schließlich gemeinsam mit seinen Parteifreunden die Flucht ins ferne Russland ergriff. Die Komplexität dieser Zeit war mir damals schier unbewusst. Diesen Abschnitt der polnischen Geschichte habe ich schließlich zum Thema meiner Dissertationsschrift gewählt. Er ist meiner Meinung nach – gerade aufgrund seines hohen Grades an Theatralität – nicht nur für die Geschichts- und Politikwissenschaft, sondern auch für die Theaterwissenschaft von großem Interesse und lädt ein zur interdisziplinären Betrachtung. Die Ergebnisse meiner spannenden Recherchen, zahlreichen Archivaufenthalte, Interviews und Lektüren liegt nun vor Ihnen. Eine wissenschaftliche Arbeit ist immer auf Anregungen, Ratschläge und Unterstützung anderer angewiesen. Aus diesem Grund möchte ich mich ganz herzlich bei allen bedanken, die mir mit Rat und Tat zur Seite standen. Ganz besonders danken möchte ich meinem Betreuer Prof. Dr. Christopher Balme. Er ließ sich nicht nur auf dieses für die Theaterwissenschaft untypische Themenfeld ein, sondern bekräftigte mich immer in meinem Arbeitsvorhaben und förderte mein Interesse. Prof. Dr. Martin Schulze Wessel danke ich für die Möglichkeit, in seinem Kolloquium der Osteuropastudien teilzunehmen und einen Vortrag zu halten, wovon ich sehr profitieren konnte. Ein großer Dank gilt Prof. Dr. Claudia Kraft, die mir wertvolle Ratschläge gab und stets ein offenes Ohr für meine Fragen hatte. Für unzählige Gespräche, kritische Hinweise und aufbauende Worte danke ich ganz herzlich meinen Kolleginnen Dr. Meike Wagner und Dr. Miriam Drewes. Bedanken möchte ich mich auch bei den Zeitzeugen und Akteuren des von mir fokussierten Geschehens – Halina Winiarska, Jerzy Kiszkis, Zenon Kwoka, Krzysztof Wyszkowski und Andrzej Kołodziej –, die sich für mich sehr viel Zeit nahmen und mich mit vielen spannenden Informationen versorgten. In diesem Zusammenhang gilt mein Dank auch den vielen polnischen Archiven und ihren Mitarbeitern, die mir während meiner Recherchen hilfsbereit zur Seite standen.

V ORWORT

| 11

Für die ideelle und finanzielle Unterstützung meiner Dissertation danke ich ganz herzlich der Heinrich-Böll-Stiftung. Ein großer Dank gilt Familie Düll für ihre unermüdliche Unterstützung. Der Rückzugsort im idyllischen Steinsfeld war für mich nicht nur mit einer tollen Arbeitsatmosphäre verbunden, sondern auch die perfekte „Insel“, um Kraft zu tanken. Danken möchte ich auch meiner Familie sowie Monika und Regina Karl für ihren Zuspruch und ihre Geduld. Konstanze Heininger danke ich für das akribische Gegenlesen dieser Arbeit und die zahlreichen Computertipps; den Mensamädels für die vielen schönen Stunden des gemeinsamen Austauschs und der schönen Ablenkung. Last but not least danke ich Johannes. Ihm ist dieses Buch gewidmet. München, im September 2011 Berenika Szymanski

Der politische Umbruch von 1989 und seine theatrale Dimension

Und die Mauern fallen, fallen, fallen, und begraben die alte Welt. Jacek Kaczmarski1

Es ist der 19. Mai des Jahres 1984. Ein Menschenzug marschiert durch die Innenstadt Warschaus. Langsam und bedächtig sind seine Schritte, in den Gesichtern seiner Teilnehmer lassen sich Ernst und Trauer erkennen. Der Menge, die ca. 50 000 Menschen – vorwiegend junge Polen – umfasst, schreiten sechs Männer voran, die einen Sarg auf ihren Schultern tragen. Dieser ist mit weißen und roten Blumen, den Nationalfarben Polens, und Schleifen mit der Aufschrift „Solidarność“ (dt. Solidarität) geschmückt. Hier und da weht die Nationalfahne. Abgesehen von den wenigen gemeinsam gesungen Liedern, der polnischen Nationalhymne und dem aus dem 19. Jahrhundert überlieferten Lied Gott, der du Polen (pl. Boże, coś Polskę), schweigt die Menge bis zu ihrer Ankunft auf dem PowązkiFriedhof. Passanten bleiben neugierig stehen, viele schließen sich dem Zug an. Auf dem Friedhof hält die Lehrerin des Toten eine Grabrede: „Ich habe dich auf alles vorbereitet, nur nicht auf die Grausamkeit und Gewalt.“2 Hie-

1

Aus dem Lied Mury von Jacek Kaczmarski. Der Text des Liedes in polnischer Sprache und englischer Übersetzung ist abgedruckt im Booklet zur CD Sounds of Revolution. A Collection of Songs that Made the Iron Curtain Fall. Bundesstiftung zur Aufarbeitung 2009.

2

Zitiert nach: Recht auf Freiheit. In: Der Spiegel 23/1983, S. 95-101, 96.

14 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

rauf hebt jeder in der Menschenmasse die rechte Hand hoch und formt den Zeige- sowie den Mittelfinger zum Buchstaben „V“.3 Das hier beschriebene Begräbnis Grzegorz Przemyks, der im Alter von 18 Jahren am 14. Mai 1983 infolge schwerer Körperverletzungen, die ihm von Milizfunktionären zwei Tage zuvor zugefügt worden waren, verstarb, lässt sich zu einer der wichtigsten Massendemonstrationen gegen das kommunistische Regime im Polen der 1980er Jahre zählen. Mit ihrem gemeinsamen Auftreten, bei dem zum Teil für ein Begräbnis untypische symbolische Gesten und Zeichen bewusst vollzogen wurden, nahm die versammelte Menschenmenge nicht nur Abschied vom Toten, sondern bekundete zudem Protest sowohl gegen die Brutalität der Miliz als auch gegen das zu dieser Zeit vorherrschende Kriegsrecht. Hierbei wurde, wie im Skizzierten deutlich wird, auf die Sprache der Streikbewegung von 1980 zurückgegriffen und so Stellung zum Verbot der Gewerkschaft Solidarność bezogen. Protestereignisse, wie das hier exemplifizierte Begräbnis Przemyks, waren in Polen zwischen 1980 und 1989 an der Tagesordnung. Aufgrund ihres hohen Grades an Theatralität vermochten sie Massen zu mobilisieren, Identität unter ihren Teilnehmern zu stiften und eine Gegenöffentlichkeit zu der vorherrschenden herzustellen. Auf diese Weise wurde unter den Opponierenden die Möglichkeit etabliert, sich als zuvor nicht anerkanntes politisches Subjekt zu positionieren und einen wichtigen Beitrag zum politischen Umbruch des Landes zu leisten. Diese Protestereignisse stehen im Fokus meiner Arbeit und sollen unter dem Aspekt des Theatralen sowie seines Potenzials, Gegenöffentlichkeit herzustellen, untersucht werden. Bevor mit der Analyse einzelner ausgewählter Proteste begonnen wird, soll im Folgenden kurz die Geschichte des politischen Wandels in Polen und seine Bedeutung skizziert werden, wobei insbesondere auf den Streik vom August 1980 auf der Lenin-Werft in Danzig eingegangen wird, welcher als grundlegend für die weiteren hier fokussierten Proteste konstatiert werden kann. Im Anschluss daran wird die historische Skizze in die These

3

Die Rekonstruktion dieses Ereignisses erfolgte anhand von Zeitungsartikeln sowie diversen Fotographien, so z.B. Recht auf Freiheit. In: Der Spiegel 23/1983, S. 95-101; Tochmann, Wojciech: Przemyk, Grzegorz (1964-1983). In: Gazeta Wyborcza vom 15.03.1997; Fotos siehe http://www.erazm.art.pl/ galeria_autor.html (zuletzt aufgerufen am 23.11.2010).

DER POLITISCHE UMBRUCH VON 1989 | 15

dieser Arbeit eingeordnet, der Begriff des Theatralen geklärt sowie die zentralen Fragen, methodische Überlegungen und das Programm dieser Untersuchung vorgestellt.

ES

BEGANN IN

P OLEN ...

Anna Walentynowicz ist unbequem geworden, weil sie als Beispiel für andere diente. Sie ist unangenehm geworden, weil sie die Interessen anderer verteidigte und imstande war, ihre Kollegen zu organisieren. Das ist das beständige Vorgehen der Herrschenden, diejenigen aus dem Weg zu räumen, die in der Lage sind, eine Führungsrolle zu übernehmen. Wenn wir uns nicht dagegen wehren, wird es niemanden geben, der gegen Normerhöhungen, die Verletzung von Sicherheitsstandards oder erzwungene Überstunden protestiert. Aus diesem Grund unser Appell an euch, tut etwas zur Verteidigung der Kranführerin Anna Walentynowicz. Wenn ihr es nicht tut, kann es vielen von euch genauso wie ihr ergehen.4

Mit diesen Worten forderte eine kleine Gruppe von Arbeitern der Danziger Lenin-Werft ihre Kollegen am 14. August 1980 zum Streik auf. Die Kranführerin Anna Walentynowicz war am 9. August, also wenige Tage zuvor, entlassen worden, weil sie sich bereits seit einigen Jahren offen für mehr Rechte der Arbeiter und bessere Arbeitsbedingungen auf der Werft engagiert hatte und somit dem in den 1940er Jahren von Stalin in Polen errichteten kommunistischen System unbequem geworden war. Sie war damit, wie aus dem Zitat hervorgeht, eine der wenigen, die den Mut hatten, Kritik am Regime zu üben. Dabei gehörte Anna Walentynowicz nach dem Zweiten Weltkrieg zu derjenigen Gruppe von Polen, die an die Zukunft des Sozialismus glaubten.5 Das System hatte es der jungen Waisen aus der Unter-

4

Flugblatt mit dem Aufruf zum Streik in: Karnawał z wyrokiem. Solidarność 1980-1981. Hg. von Ośrodek KARTA. Warszawa 2005, S. 14. Bereits an dieser Stelle sei angemerkt, dass alle Übersetzungen polnisch vorhandener Quellen ins Deutsche von mir angefertigt wurden und in der Fußnote nicht extra mit dem Hinweis auf den Übersetzer versehen werden. Mehr hierzu unter „Aufführung und Quellen“.

5

Vgl. hierzu und im Folgenden die wissenschaftliche Biografie Walentynowiczs: Cenckiewicz, Sławomir: Anna Solidarność. Życie i działalność Anny

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schicht ermöglicht, eine Arbeit als Schweißerin in einer der führenden Fabriken des Landes zu bekommen, hatte sie bei Fortbildungen und Umschulungen unterstützt. Aus Dankbarkeit und überzeugt von der Gerechtigkeit des Systems engagierte sich Walentynowicz, die alle Kriterien der vom Regime propagierten Proletarierin erfüllte, vorbildlich beim Wiederaufbau des Landes. Sie war aktiv im Verband der Polnischen Jugend (pl. Związek Młodzieży Polskiej, kurz ZMP), in der Liga der Frauen (pl. Liga Kobiet) und verrichtete ihre Arbeit als Schweißerin, wobei sie stets alle Vorgaben der Vorgesetzten überbot. Auch später, als sie sich zur Kranführerin ausbilden ließ, stand sie ihren männlichen Kollegen in der Arbeitsleistung nicht nach. Für ihren Einsatz erhielt Anna Walentynowicz mehrere Auszeichnungen, u.a. 1957 das Bronzene und 1961 das Silberne Verdienstkreuz. Aufgrund von persönlichen Enttäuschungen durch verschiedene Erfahrungen mit den Schattenseiten des Systems, so z.B. dass das von übergeordneten Stellen verprasste Geld der Arbeiter nicht eingeklagt werden durfte, oder dass aufgrund der Flucht eines Kollegen in den Westen seine Bekannten dafür mit brutalen Verhören bestraft wurden, entwickelte sie sich im Verlauf der Jahre zu einer kritischen Stimme, die sich trotz Repressalien nicht zum Schweigen bringen ließ. So wie Walentynowicz erging es vielen Polen, die einst an das System glaubten, denn die Risse in der Fassade der Volksrepublik kamen nach und nach ans Licht: Viele Versprechen der führenden Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (pl. Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, kurz PZPR) stellten sich als Gemeinplätze heraus, politische Unterdrückung der Bevölkerung und Ausnutzung von Machtprivilegien durch Funktionäre beherrschten das Land; auch die polnische Wirtschaft befand sich, spätestens seit den 1970er Jahren, in einer tiefen Krise. Abgesehen von studentischen Revolten in den 1960er Jahren äußerten vor allem die Arbeiter immer wieder Unzufriedenheit mit den Zuständen, auch wenn sich diese zunächst nicht so sehr gegen das System selbst, sondern vorwiegend gegen die katastrophale wirt-

Walentynowicz na tle epoki (1929-2010). Poznań 2010. Insbesondere siehe die hier relevanten Kapitel: „Zabrakło czułych objęć matki“, „Coś szwankuje i jest złe“, „Nazywam się Anna Walentynowicz“ sowie „Byłam kroplą, która przepełniła kielich goryczy“.

DER POLITISCHE UMBRUCH VON 1989 | 17

schaftliche Situation richtete.6 Erst mit dem Auguststreik von 1980 nahmen die Proteste eine politische Dimension an: Neben der Forderung nach der Wiedereinstellung Anna Walentynowiczs und einer Lohnerhöhung aufgrund gestiegener Nahrungsmittelpreise stellten die Streikenden in Danzig nun auch politische Forderungen. Mit Hilfe von Intellektuellen verschiedener Oppositionsgruppierungen arbeiteten sie 21 Postulate aus, die neben Forderungen nach Verbesserung von Arbeits- und Lebensbedingungen auch die Forderung nach freien und unabhängigen Gewerkschaften, das Recht auf Streik und auf freie Meinungsäußerung beinhalteten.7 Aus Solidarität mit der Danziger Lenin-Werft nahmen in den nächsten Tagen polenweit auch andere Betriebe den Streik auf, so dass am 17. August der Überbetriebliche Solidaritätsstreik (pl. Międzyzakładowy Strajk Solidarnościowy) unter Leitung des aufgrund von opponierender Tätigkeit arbeitslos gewordenen Elektrikers Lech Wałęsa ausgerufen wurde. Dieses gemeinsame Aufbegehren der Arbeiter und die Unterstützung ihres Vorhabens durch die Mehrheit der Bevölkerung zwang die PZPR zu Verhandlungen mit dem in diesen Tagen gegründeten Überbetrieblichen Streikkomitee (pl. Międzyzakładowy Komitet Strajkowy, kurz MKS). Somit wurde zum ersten Mal in der Geschichte des real existierenden Sozialismus die Verhandlungsfähigkeit opponierender Gruppen anerkannt. Ausgerechnet das alte (wenn auch leicht veränderte) marxistische Motto: „Proletarier aller Betriebe, vereinigt euch!“8 zwang also die Partei, die stets vorgab, im Namen der Arbeiter zu regieren, sich tatsächlich ihren Forderungen zu stellen und Zugeständnisse zu machen. Das, was alle bis dato für unmöglich gehalten hatten, wurde wahr. Auch wenn General Wojciech Jaruzelski 16 Monate später in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht mit der Begründung,

6

An dieser Stelle sei besonders auf die Unruhen von 1956, 1970 und 1976 verwiesen. Einen Überblick zu diesen Ereignissen bietet u.a. Davies, Norman: Im Herzen Europas. Geschichte Polens. München 2002.

7

Die 21 Postulate in deutscher Übersetzung sind nachzulesen bei Kühn, Hartmut: Das Jahrzehnt der Solidarność. Die politische Geschichte Polens 19801990. Berlin 1999, S. 29-31. Hier findet sich auch eine Zusammenfassung des Streikverlaufs.

8

Siehe das Foto mit dem Spruch im Bildband Oni tworzyli Solidarność des Fotografen Zbigniew Trybek. Gdańsk 2000, S. 81.

18 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

damit eine militärische Intervention der Sowjetunion verhindern zu können, über Polen verhängte, in diesem Zusammenhang die Gewerkschaft Solidarność verbot sowie alle Danziger Zugeständnisse zunichte machte, ließen sich die vielen opponierend Denkenden nach der Erfahrung der Augusttage 1980 nicht entmutigen. Immer wieder setzten sie – trotz gewaltsamer Repressionen – Zeichen ihres Protestes und ihres Unmuts in Form von Demonstrationen, Streiks und Kundgebungen, aber auch verbotenen Gedenkfeierlichkeiten und Happenings fort, die Menschenmassen anlockten und so einen kollektiven Ausdruck von Unzufriedenheit und den Wunsch nach Veränderung formulierten und demonstrierten. Mit ihrem solidarischen und von Anfang an friedlich konzipierten Streik setzten die Streikenden im August 1980 nicht nur die polnische Regierung unter Druck, sondern brachten durch das Betreten der politischen Bühne auch eine Entwicklung in Gang, die nach und nach sowohl Polen als auch andere Satellitenstaaten der Sowjetunion politisch verändern und 1989 in die friedliche Revolution münden sollte. Die unmittelbare Vorgeschichte der Ereignisse der Jahre 1989/90 in Europa begann also im Dezennium zuvor in Polen, als einige wenige Arbeiter ihre Kollegen und Kolleginnen aufgefordert hatten, sich für die Belange der Anna Walentynowicz einzusetzen. Ivan und Balazs Szelényi bezeichnen das Land daher, neben Ungarn, als eine Saatbettgesellschaft“ des Zusammenbruchsprozesses des sozialistischen Systems.9 Dieser Prozess soll nun näher unter die Lupe genommen und in das Vorhaben dieser Arbeit integriert werden.

D ER

POLITISCHE U MBRUCH IN P OLEN UND DIE D IMENSION DES T HEATRALEN Der Zusammenbruch sozialistischer Gesellschaften stellt das Ergebnis eines komplexen Zusammenwirkens verschiedener Faktoren dar. Diesen auf nur einen Erklärungsansatz zu reduzieren, wäre zweifellos problematisch und unangemessen. Gesellschaftlicher Wandel, so auch die berühmte These Max Webers, vollzieht sich immer in einer Vielzahl von Faktoren – kultu-

9

Schelényi, Ivan und Balazs Schelényi: Why Socialism Failed: Toward a Theory of System Breakdown – Causes of Disintegration of East European State Socialism. In: Theory and Society 23/1994, S. 211-231, 228.

DER POLITISCHE UMBRUCH VON 1989 | 19

rellen, politischen, ökonomischen, exogenen und endogenen –, die erst in ihrer Gesamtheit den Wandel bewirken.10 In Polen waren zweifellos die wirtschaftlichen Umstände von entscheidender Bedeutung. Die Explosion der Ölpreise Mitte der 1970er Jahre führte zu Produktionskostensteigerungen und abnehmender Wettbewerbsfähigkeit osteuropäischer Produkte auf dem Weltmarkt. Polen gehörte zu den Ländern, die aufgrund dieser Entwicklung hohe Kredite aufnehmen mussten, wodurch es in Schuldenabhängigkeit geriet. Dem Land gelang es zudem nicht, mit den Bedingungen der Weltmarktkonkurrenz mitzuhalten; es verpasste die so genannte „dritte industrielle Revolution“, was zur Folge hatte, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes zunehmend sank. Hinzu können auch die Schwierigkeiten der Planwirtschaft addiert werden, die es auf lange Sicht nicht mehr erlaubten, eine gerechte Versorgung mit Grundnahrungsmitteln zu garantieren.11 Dies führte schließlich, wie eingangs thematisiert, zu gesellschaftlicher Unzufriedenheit, zu Streiks und zu Massenprotesten. Michail Gorbatschow stellt einen wichtigen exogenen politischen Faktor dar. Es ist allerdings eine Vereinfachung, den Zusammenbruch des Sozialismus nur Gorbatschow und seinen Reformen zuzusprechen. Der Zerfall des Systems begann bereits noch bevor Gorbatschow 1985 an die Macht kam. In mancher Hinsicht folgte der Nachfolger Konstantin Tschernenkos den Reformszenarien, die in Polen und Ungarn bereits ausgearbeitet worden waren.12 Auch Ilko-Sascha Kowalczuk betont, dass Gorbatschow „die letzte Antwort auf die von Polen ausgehende gesellschaftliche Emanzipationsbewegung im Ostblock und die tiefe Krise in der UdSSR und dem gesamtem Imperium“13 darstellte. Seine Reformen – Perestroika und Glasnost –, die er in seiner Innen- und Außenpolitik begann, hatten jedoch entscheidenden Einfluss auf die Dynamik der Liberalisierung in Polen und verstärkten die bereits existierende Legitimationskrise innerhalb der politischen Eliten. Als Jaruzelski 1981 den Kriegszustand einführte, konnte er dies noch als eine Alternative zum militärischen Angriff der Sowjetunion

10

Vgl. hierzu Ettrich, Frank: Die andere Moderne. Soziologische Nachrufe auf den Staatssozialismus. Berlin 2005, S. 155f.

11

Vgl. ebd. S. 167.

12

Vgl. Schelényi und Schelényi 1994, S. 226.

13

Kowalczuk, Ilko-Sacha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. Bonn 2009, S. 14.

20 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

begründen; seit Gorbatschow war eine solche Erklärung nicht mehr plausibel.14 Innerhalb der politischen Eliten Polens entwickelte sich bereits seit dem Tode Stalins zunehmend eine innere Differenz. Entgegen den Anhängern des alten totalitären und paternalistischen Systems formierten sich Reformen gegenüber aufgeschlossene Parteigenossen. Der Konflikt innerhalb dieser beiden Parteien, insbesondere seit den Liberalisierungen Gorbatschows, ermöglichte schließlich neue politische Freiräume und schuf die Möglichkeit für die Entwicklung autonomer und politischer Aktivitäten von Nicht-Eliten und Gegeneliten. Frank Ettrich fasst diese herrschaftssoziologische Dynamik, die er nicht nur im polnischen Fall bemerkt, sondern als ein Merkmal aller sozialistischen Gesellschaften konstituiert, folgendermaßen zusammen: Die Zusammenbruchsdynamik staatssozialistischer Gesellschaften beinhaltete herrschaftssoziologisch zwei grundlegende Wandlungsprozesse: den wachsenden Verlust der Fähigkeit des Parteistaates, bei den eigenen Funktionären Legitimitätsglauben, Gehorsam und Disziplin durchsetzen zu können, und den Niedergang der Fähigkeit der Funktionäre des Parteistaates, von der machtunterworfenen Bevölkerung in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens Motivation und Disziplin beim schon lange zu Phrasen degenerierten ,sozialistischen Aufbau‘ zu verlangen. 15

Eine herausragende Rolle für den politischen Umbruch Polens spielte in diesem Zusammenhang, wie bereits unter „Es begann in Polen ...“ dargelegt, das Engagement von opponierenden Kräften, die sich verstärkt seit den 1970er Jahren in diversen Zirkeln formierten, und seit 1980 gemeinsam unter dem Dach der Solidarność in unterschiedlicher Art und Weise agierten. Neben der Tätigkeit der über die Grenzen Polens hinaus berühmt gewordenen Gewerkschaftsbewegung finden sich aber auch zahlreiche, in der bisherigen Forschungsliteratur kaum gewürdigte, Aktivitäten anderer kleinerer und unabhängiger Gruppierungen, wie z.B. die Aktionen der Kämpfenden Jugend (pl. Młodzież Walcząca), der Aktivisten von Freiheit und Frieden (pl. Wolność i Pokój), aber auch der Happening-Bewegung Orange Alternative (pl. Pomarańczowa Alternatywa). Das gemeinsame Ziel dieser

14

Vgl. Ettrich 2005, S. 168.

15

Ebd., S. 178.

DER POLITISCHE UMBRUCH VON 1989 | 21

opponierenden Kräfte bestand darin, in der von der Partei dominierten Öffentlichkeit, in der Kritik an den herrschenden Verhältnissen unerwünscht war, Möglichkeiten zu finden und Freiräume auszuloten, diese trotzdem auszuüben und hierdurch eine Gegenöffentlichkeit herzustellen, womit sie sich im Sinne des französischen Philosophen Jacques Rancière als politisches Subjekt16 der Partei gegenüber positionieren und Veränderungen einfordern konnten. Dies geschah zunächst seit Mitte der 1970er Jahre in Form von kleinen Publikationen im Untergrund und der Kolportage von Flugblättern sowie seit den 1980er Jahren vermehrt in Form von Streiks, Demonstrationen, Manifestationen, aber auch Gottesdiensten und Happenings. Während die Publikationstätigkeit zu Beginn vorwiegend die Schicht der Intellektuellen erfasste und die breite Bevölkerung kaum berührte, begannen die Formen gemeinsamer Aktionen im öffentlichen Raum eine größere Wirkung sowohl nach innen als auch nach außen auszuüben. Sie ermöglichten den an ihnen beteiligten Akteuren, ihre Kritik und ihre Forderungen in der Öffentlichkeit zu äußern und damit als politisches Subjekt von den Machthabern wahrgenommen zu werden. In der Forschung zum politischen Umbruch in Polen wird zwar immer wieder die Bedeutung solcher öffentlichen Auftritte der Opposition betont,17 deren systematische Analyse ist bis heute jedoch ausgeblieben. In meiner Arbeit möchte ich aus diesem Grund hier anknüpfen und eine Analyse des öffentlichen Protests und seiner Erscheinungsformen in den Jahren 1980 bis 1989 vornehmen, die ich in Anlehnung an Hartmut Kühn als „Jahrzehnt der Solidarność“18 bezeichne. Leitend hierfür ist die Feststellung, dass diese Proteste gerade aufgrund ihres hohen Grades an Theatralität eine Gegenöffentlichkeit zu erzeugen vermochten und, durch diese Art der Mobilisierung von Massen und Herausbildung einer Identität als zuvor nicht anerkanntes politisches Subjekt, einen wichtigen Beitrag zur politischen Transformation des Landes leisteten. Eine theatrale Dimension ist der Zeit der Herausbildung der Solidarność bereits von dem polnischen Theaterwissenschaftler Kazimierz Braun in seinem Buch Teatr Polski 1939-1989 attestiert worden:

16

Mehr hierzu unter „Subjektivierung als ,Anteil der Anteillosen‘“.

17

Siehe hierzu v.a. Paczkowski, Andrzej: Strajki, bunty, manifestacje jako „polska droga“ przez socjalizm. Poznań 2003.

18

Kühn 1999.

22 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

Das große Theater in den 16 Monaten der Solidarność war kein Theater ästhetischer Erlebnisse, es fand nicht in Form szenischer Aufführungen statt und wurde nicht in Theaterhäusern gespielt. Das Theater fand auf den Straßen statt, auf öffentlichen Plätzen, in Fabrikhallen und überall dort, wo Gebäude kommunistischer Machthaber okkupiert wurden; es ereignete sich auf Streiks, Demonstrationen, Versammlungen, Kundgebungen, Massenmessen, Verhandlungen zwischen Regierungskommissionen und Arbeitern, Bauern, Studenten, Künstlern. […] Auf den Toren der Fabriken wurden Nationalfahnen aufgehängt, Portraits von Papst Johannes Paul II und Bilder der Mutter Gottes von Tschenstochau. An Orten des nationalen Gedenkens wurden Kränze und Blumen niedergelegt, Kerzen angezündet. […] Die Protagonisten der Spektakel waren die beliebten Anführer der Opposition und die verhassten Bonzen des Kommunismus, charismatische Kapläne und junge […] Aktivisten der Solidarność.

19

Braun betont in dieser Passage, dass das Theater der Jahre 1980 und 1981 sich nicht durch Inszenierungen auf polnischen Bühnen auszeichnete, sondern durch das, was sich auf öffentlichen Plätzen in der Gesellschaft dieser Zeit ereignete. Doch eine Analyse und theoretische Begründung dieser Aussage bleibt bei ihm aus. Zudem muss an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass nicht nur in dem von Braun postulierten Zeitraum ein theatraler Charakter auszumachen ist. Die Möglichkeit, theatrales Verhalten einzusetzen, um bestimmte Standpunkte zu äußern, ist auch in der Zeit seit der Einführung des Kriegszustands im Dezember 1981 zu konstatieren. Die Proteste nach 1981 nehmen zwar, im Unterschied zu der Zeit davor, eine veränderte Erscheinungsform an, knüpfen jedoch auch an einzelne Elemente der Proteste der legalen Solidarność-Phase an und sind für den Umbruch von großer Bedeutung. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in dieser Arbeit die bereits genannten und allgemein anerkannten Faktoren des politischen Umbruchs in Polen um einen weiteren entscheidenden Aspekt erweitert werden sollen, nämlich den der theatralen Dimension des öffentlichen Protestes, der neben den bereits genannten wirtschaftlichen und politischen Faktoren als ein konstitutives Element des politischen Umbruchs in Polen gesehen werden muss. Das Anliegen dieser Untersuchung ist es also, die mit dem politischen Umbruch in Polen in Verbindung stehenden öffentlichen zivilgesell-

19

Braun, Kazimierz: Teatr Polski 1939-1989. Warszawa 1994, S. 189.

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schaftlichen Initiativen unter dem Aspekt der Theatralität zu analysieren. Um dieses Ziel einlösen zu können, wird meine Arbeit zwei Leitfragen folgen: 1. Welche theatralen Möglichkeiten wurden seitens opponierender Kräfte genutzt, um ihre Belange und ihren Protest im Raum der Öffentlichkeit sicht- und sagbarzu machen?20 2. Welche Mechanismen wurden hierbei von den Machthabern der PZPR eingesetzt, um der Opposition die Partizipation am Raum des Öffentlichen zu erschweren? Was in dieser Arbeit unter dem Begriff des Theatralen verstanden wird und wie eine Analyse gesellschaftlicher Proteste im öffentlichen Raum unter diesem Aspekt fruchtbar genutzt werden kann, soll im Folgenden erläutert werden.

D AS T HEATRALE Dass Politik über eine theatrale Seite verfügt, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Seit jeher nutzen politisch handelnde Akteure die Möglichkeit eines öffentlichen Auftritts, um das Programm ihrer politischen Aktivitäten zu konkretisieren, um Zustimmung für das eigene Programm zu bekommen oder um sich selbst und ihre Herrschaft darzustellen. 21 Trotzdem fällt auf, dass der Begriff des Theatralen in Bezug auf Politik – vorwiegend in sozialwissenschaftlichen Arbeiten – mit einem bestimmten Konzept in Verbindung gebracht wird, und zwar dem des von der Literatur dominierten Kunsttheaters. Hier wird der Terminus Theater explizit mit einer Guckkastenbühne gleichgesetzt, auf der Schauspieler bestimmte ihnen zugewiesene Rollen eines Dramas vor einem vor ihnen sitzenden Publikum spielen. Gerne werden dabei Begriffe aus dem Theaterwortschatz wie Tragödie, Rolle, Maske oder Vorder- und Hinterbühne auf Bereiche des politischen Alltags übertragen, um das jeweilige Geschehen zu beschreiben und zu bewerten. Bei solchen Vergleichen fällt jedoch auf, dass überwiegend eine negative Konnotierung des Begriffes Theater verwendet wird, verstanden als Täu-

20

Auf den Begriff der Öffentlichkeit sowie der Hör- und Sagbarkeit wird im Kapitel „Öffentlichkeit – Protest – Theatrales Handeln“ ausführlich eingegangen.

21

Vgl. Horn, Christian und Matthias Warstat: Politik als Aufführung. Zur Performativität politischer Ereignisse. In: Erika Fischer-Lichter et al. (Hg.): Performativität und Ereignis. Tübingen/Basel 2003, S. 395-417, 395.

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schung, als Erzeugung des schönen Scheins, der ablenken soll von dem, was tatsächlich der Fall ist, wie das folgende Zitat verdeutlicht: Politik als Theater […] ereignet sich immer dann, wenn ein politischer oder Medienakteur A einem Publikum S ein X für ein U vormacht und sich dabei der Inszenierungsmittel des Theaters bedient. Dieses Theater kennzeichnet […] das verschwiegene Als-ob.

22

Eine solche Betrachtungsweise fällt z.B. in der Auseinandersetzung mit der Theatralität von Politik totalitärer Herrschaftssysteme auf, wie sie während des Nationalsozialismus in Deutschland oder während des kommunistischen Regimes der Sowjetunion zur Geltung kam. Hier waren Massenfeiern, Aufmärsche und diverse andere Aufführungen an der Tagesordnung, bei welchen sich die NSDAP bzw. die jeweilige kommunistische Partei eines Landes imposant in Szene setzte, Menschenmassen im Sinne ihrer Propaganda zu manipulieren und von den eigentlichen Problemen abzulenken versuchte. Auch in Bezug auf die heutige Politikpraxis wird immer wieder eine pejorative Begriffsverwendung des Theatralen benutzt. So wird Politikern vorgeworfen, sich durch inszenierte und symbolträchtige Auftritte Massenmedienwirksamkeit verschaffen zu wollen, dadurch Politik und ihren Gehalt zu vereinfachen und so bestimmte Inhalte zu verschleiern.23 Trotzdem, auf diese scheinbar einfache Formel „Theater = Als-Ob“ lässt sich der Theaterbegriff nicht reduzieren. Hierfür erweisen sich Überlegungen aus der gegenwärtigen Theaterwissenschaft als hilfreich. Die theaterwissenschaftliche Forschung unterscheidet zwischen einem engen und einem weiten Theaterverständnis. So gelten als Theater im engeren Sinn die Kunstform Theater und alle mit ihr verbundenen Traditionen, Institutionen, Elemente und Funktionen. Im Münchner Residenztheater beispielsweise wird der Zuschauer mit dem engen Theaterbegriff konfrontiert, wenn er Schauspielern bei der Darbietung einer Tragödie von Shakespeare oder Goethe zusieht. Theatrales Verhalten finden wir allerdings auch au-

22

Meyer, Thomas und Martina Kampmann: Politik als Theater. Die neue Macht der Darstellungskunst. Berlin 1998, S. 9.

23

Einen Überblick zu Überlegungen dieser Art bietet Münkler, Herfried: Die Theatralisierung der Politik. In: Josef Früchtl und Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Frankfurt a. M. 2001, S. 144-163.

DER POLITISCHE UMBRUCH VON 1989 | 25

ßerhalb eines künstlerischen Kontextes, also beispielsweise in einem ökonomischen, sozialen oder politischen Rahmen u.a. in Form von Streiks, Ritualen oder Sportveranstaltungen. In diesem Zusammenhang spricht die heutige Theaterwissenschaft von einem erweiterten Theaterbegriff.24 Dennoch lässt sich auch innerhalb des Faches eine unzureichende Auseinandersetzung mit „Politik und Theater“ konstatieren. Es fällt auf, dass dieses Paar – trotz der weit verbreiteten Ansicht, dass auch außerhalb des künstlerischen Kontextes theatrales Handeln ausgeübt wird – vorwiegend auf der künstlerischen Ebene von Dramen und ihren Inszenierungen sowie Performances verhandelt wird, wobei die Frage, inwiefern ein bestimmtes Werk politisch sei, immer wieder im Vordergrund der Analyse steht. So dominieren in letzter Zeit Publikationen mit Titeln wie The Politics of New Media Theatre25, Politisches Theater nach 195026 oder Politisch Theater Machen27 den Diskurs. Die umgekehrte Frage, inwiefern ein bestimmtes politisches Ereignis theatral sei, wird nur selten untersucht und in den wenigen hierzu vorhandenen Arbeiten lassen sich Defizite beobachten: Das Augenmerk wird vorwiegend allgemein auf Auftritte derjenigen gelenkt, die das politische Geschehen per se in der Öffentlichkeit beherrschen, wie z.B. Könige, Diktatoren oder Politiker, und die sich sowie ihre politische Linie durch bestimmte Inszenierungsstrategien im Raum des Öffentlichen repräsentieren. Hierbei dominiert die Auseinandersetzung mit höfischen Repräsentationsformen absolutistischer Herrscher.28 Zudem fällt auf, dass insbesondere bei der Betrachtung heutiger Auftritte von Politikern lediglich ihre mediale Präsenz in den Fokus der Untersuchung rückt, wie das z.B. in Christoph Scheurles Die

24

Vgl. hierzu Kolesch, Doris: Politik als Theater: Plädoyer für ein ungeliebtes Paar. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. 42/2008, S. 35-40, S. 35f.

25

Giannachi, Gabriella: The Politics of New Media Theatre. London 2009.

26

Marschall, Brigitte: Politisches Theater nach 1950. Wien 2010.

27

Deck, Jan und Angelika Sieburg (Hg.): Politisch Theater Machen. Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten. Bielefeld 2011.

28

So z.B. Kolesch, Doris: Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV. Frankfurt a. M. 2006 oder Horn, Christian: Der aufgeführte Staat. Zur Theatralität höfischer Repräsentation unter Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen. Tübingen/Basel 2004.

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deutschen Kanzler im Fernsehen. Theatrale Darstellungsstrategien von Politikern im Schlüsselmedium der Nachkriegsgeschichte29 deutlich wird. Bei den wenigen Untersuchungen, die sich auch Gegenkulturen widmen, wird dagegen vornehmlich die ästhetische Ebene fokussiert. Matthias Warstat untersucht beispielsweise in seinem Buch Theatrale Gemeinschaften. Zur Festkultur von Arbeiterbewegungen 1918-33 vorwiegend den Akteurskörper und sein Erscheinen, die Frage nach der hierbei generierten Bedeutungen bleibt bei ihm aus. So schreibt er: „Was ein Fest zur Aufführung macht, sind nicht primär seine Bedeutungen.“30 Will man aber der Analyse eines politischen Ereignisses als Aufführung gerecht werden, so genügt es nicht, lediglich nach dem leiblichen Handlungsvollzug des Akteurs zu fragen, auch die Bedeutungen, die mit diesem verbunden sind und durch diesen ausgestellt werden, müssen unter die Lupe genommen werden, um auch die inhaltliche Seite der Aufführung zu erfassen. Ein weiterer Kritikpunkt an Publikationen, die sich mit Gegenkulturen beschäftigen, ist die mangelnde Auseinandersetzung mit dem Zuschauer, der den untersuchten Aufführungen beiwohnt, sowie seiner Reaktionen auf die Repräsentationsansprüche der Politiker oder die Handlungsvollzüge von Protestierenden, die ihn wiederum zu einem Akteur machen können. Doch auch diese sollten bei einer Untersuchung des Theatralen von politischen Aufführungen in Betracht gezogen werden. Um eine einseitige Betrachtungsweise zu vermeiden und das Theatrale als einen gesellschaftskonstituierenden Faktor herauszuarbeiten, werde ich das Changieren zwischen den beiden in der Theaterwissenschaft kursierenden Theaterbegriffen und ihrer hierarchischen Anordnung von eng und erweitert aufbrechen und in meiner Arbeit allgemein vom theatralen Charakter sprechen, welcher beiden Termini eigen ist. Diesen verstehe ich aufgrund der etymologischen Herkunft des Wortes und seines historischen Ursprungs als hervorgehobenes Handeln und das Wahrnehmen von diesem. Eine solche Betrachtungsweise ermöglicht es mir, wie sich herausstellen wird, Protesthandlungen als Aufführungen in ihrem historischen Kontext zu

29

Siehe hierzu Scheurle, Christoph: Die deutschen Kanzler im Fernsehen. Theatrale Darstellungsstrategien von Politikern im Schlüsselmedium der Nachkriegsgeschichte. Bielefeld 2009.

30

Warstat, Matthias: Theatrale Gemeinschaften. Zur Festkultur der Arbeiterbewegung 1918-33. Tübingen/Basel 2005, S. 23.

DER POLITISCHE UMBRUCH VON 1989 | 27

analysieren, wobei sowohl das Verhalten einzelner als auch Aktionen von Gruppen herausgearbeitet werden, und die diesen Aktivitäten beiwohnenden Formen von Materialität und Generierung von Inhalten als auch die Funktion des Zuschauers Berücksichtigung finden. Um dieses Vorgehen nachvollziehbar zu machen, erscheint es mir wichtig, den Begriff des Theatralen und wie er in dieser Arbeit verwendet wird, genauer unter die Lupe zu nehmen. Der Terminus des Theatralen leitet sich ab von dem griechischen Wort théa31, was mit Schau übersetzt werden kann. In der griechischen Antike schickten die Städte einander Gesandte, die im théatron ‒ einer Anlage mit aufgestellten Sitzreihen, die als Versammlungsort diente ‒ der théa, der Schau, beiwohnten. Sie wurden theoroi, die Wahrer der Schau, und ihre Tätigkeit theoria genannt.32 Der Begriff der Theorie kommt also aus der Festkultur der Antike. Sie ist das systematische Beobachten der Dinge der Welt und ihr erkennendes und erklärendes Beschreiben.33 Die théa umfasste kultische Handlungen und sportliche Wettkämpfe wie auch Volksversammlungen, Tänze, chorische Gesänge und Tragödienwettbewerbe. In all diesen Fällen bedeutete es, dass sich eine kleinere Gruppe von Agierenden einer größeren von Zuschauenden in einer bestimmten Art und Weise an einem bestimmten Ort, an dem alle versammelt waren, präsentierte. Die Schauen der griechischen Antike dienten nicht nur der Erheiterung des Volkes und seiner Ablenkung von alltäglichen Sorgen, sondern waren auch Akte der Selbstdarstellung der Polis. So ließ sich Athen im 5. Jahrhundert v. Chr. beispielsweise die Beiträge der Bundesgenossen in die Orchestra bringen und Kriegswaisen, für die es finanziell sorgte, in einem feierlichen

31

Zur Etymologie des Wortes siehe Hjalmar Frisk (Hg.): Griechisches etymologisches Wörterbuch. Heidelberg 1960, S. 656f.

32

Vgl. Münz, Rudolf: Theatralität und Theater. Konzeptionelle Erwägungen zum Forschungsprojekt „Theatergeschichte“. In: Ders.: Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen. Berlin 1998, S. 66-81, 68f.; Burkert, Walter: Die antike Stadt als Festgemeinschaft. In: Paul Hugger (Hg.): Stadt und Fest. Zur Geschichte und Gegenwart europäischer Stadtkultur. Stuttgart 1987, S. 25-44, 29f.

33

Zum Begriff Theorie siehe König, Gert: Theorie. In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 10. Darmstadt 1998, S. 1128-1154.

28 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

Zug ins Théatron einmarschieren. Auf diese Weise konnte die Stadt sowohl den Gesandten aus anderen Städten als auch den Bürgern Athens nicht nur den Ertrag ihrer Herrschaft, sondern auch ihre Fürsorge für die Bürger demonstrieren.34 Der Terminus des Theatralen ist somit von seinem Ursprung her ein besonders offener und weit reichender Begriff, der eng mit den Tätigkeiten des Zeigens und des Sehens verbunden ist. Diese Breite behielt seine Verwendung bis zur ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in der Theater jeden erhöhten Ort von Demonstration und Ostentation bezeichnete, also einen Ort, auf dem sich etwas des Zeigens und des Sehens Würdiges ereignete. So stand theatrum sowohl für eine Hinrichtungsstätte als auch für das Podest eines Mimen.35 Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der Begriff Theater eingeschränkt und auf Aufführungen von Dramen, also auf das Kunsttheater, reduziert. Doch dieses basiert ebenfalls, auch wenn ihm ein literarischer Text zugrunde liegt, auf denselben Elementen wie Darbietungen ohne literarische Textbasis, nämlich den Elementen des Zeigens und des Gesehen-Werdens. Dabei kann die bewusste Hervorhebung von Stimme, Körper und die mit diesen agierende Materialität, die sowohl im Kunsttheater als auch in theatralen Handlungen außerhalb der Kunstgattung Verwendung findet, als konstituierende Eigenschaft des Theatralen gesehen werden. So betont auch Andreas Kotte, dass theatrales Handeln im Unterschied zu einem nicht theatralen zunächst solches in einem Sozialprozess hervorgehobenes Handeln sei. Die Hervorhebung kann dabei verschiedene Formen annehmen, wobei mehrere auch gleichzeitig vorkommen können. So führt Kotte hierzu vier Beispiele hervorgehobenen und somit theatralen Handelns an: Das kann a) direkt geschehen, wenn zum Beispiel ein Passant auf einer stark frequentierten Einkaufsstraße auf Händen läuft. Oder b), der Akteur erregt mittels seiner Stimme (bzw. anderweitig auditiv) Aufmerksamkeit, wie es früher die Markt-

34

Vgl. Meier, Christian: Die politische Kunst der griechischen Tragödie. München 1988, S. 68f.

35

Vgl. Kotte, Andreas: Theaterbegriffe. In: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart 2005, S. 337-344, 338. Siehe auch Fischer-Lichte, Erika: Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Faches. Tübingen 2010, S. 7.

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schreier und Quacksalber zu tun pflegten. Außerdem können die Bewegungsabläufe c) örtlich hervorgehoben sein, etwa die des Seiltänzers durch das Seil oder die des Schauspielers durch die Bühne. Und natürlich können d) dingliche Attribute – außergewöhnliche Kleidungsstücke zum Beispiel – dieselbe Funktion erfüllen.36

Ein so verstandenes theatrales Handeln ist also immer ein bewusstes Zeigen, welches vom Akteur vollzogen wird, um von jemand anderem wahrgenommen zu werden. Dieses ist aber niemals nur die bewusste, hervorgehobene Aktion eines einzelnen oder einer Gruppe, sondern stets eine Interaktion, bei der es zugleich eines Handelnden und eines ihm dabei Zuschauenden, eines seine Aktionen Wahrnehmenden bedarf. Denn wenn ein Seiltänzer seine Kunststücke vollführt oder ein Redner seine Rede zum Besten gibt und keinen Zuschauer findet, der ihm bei dieser Aktion zusieht, so ist die Situation nicht vollständig und kann dadurch nicht als theatral bezeichnet werden. Der hier vorgestellten Definition folgend, schlage ich daher in Bezug auf meinen Untersuchungsgegenstand eine differenzierte Handhabung der Begrifflichkeiten vor: Unter dem Terminus Theater wird die Kunstform „Theater“ verstanden, bei welcher Schauspieler eine ihnen vorgegebene Rolle in einem vom Regisseur inszenierten Kontext vor einem Publikum verkörpern. Die von mir fokussierten Protestformen wie Streiks, Gedenkfeierlichkeiten oder Happenings entziehen sich diesem Bereich des Begriffes, verfügen aber dennoch über einen, beiden Formen gemeinsamen, theatralen Charakter, da sie als bewusst hervorgehobene Handlungen in Interaktion mit einer Gruppe von Zuschauern treten. Kurz zusammengefasst lässt sich also sagen, ein Protest ist kein Theater, verfügt aber dennoch über die Eigenschaft des Theatralen. Unter Theatralität verstehe ich folglich die Eigenschaft des Theatralen, welche sich aus der wechselnden Konstellation eines bewussten Handlungsvollzugs und seiner Wahrnehmung ergibt.37 Dem zur Zeit sehr populä-

36

Kotte, Andreas: Theatralität. Ein Begriff sucht seinen Gegenstand. In: Forum Modernes Theater 13/1998, S. 117-132, 122.

37

Zu dem bereits oft diskutierten und unterschiedlich ausgeleuchteten Theatralitätsbegriff siehe Burns, Elizabeth: Theatricality. A study of convention in the theatre and in social life. London 1972; Schramm, Helmar: Theatralität und Öffentlichkeit. Vorstudien zur Begriffsgeschichte von „Theater“. In: Weimarer

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ren, jedoch auch einseitigen Theatralitätsmodell von Erika Fischer-Lichte, das sich aus der wechselseitigen Konstellation der Termini Aufführung, Inszenierung, Korporalität und Wahrnehmung ergibt,38 möchte ich das Konzept der Theatralität von Rudolf Münz entgegensetzen, das neben den von Fischer-Lichte erarbeiteten Merkmalen, obwohl er diese nicht explizit benennt, auch die gesellschaftskonstituierende Ebene aufgreift.39 Dieses Theatralitätskonzept bezieht nicht nur – wie Fischer-Lichte – das singuläre theatrale Ereignis mit ein, sondern versucht dieses aus dem Wechselspiel unterschiedlicher Faktoren, die zeitgleich auftreten, zu überdenken. Diese Faktoren ergeben sich aus der Berücksichtigung folgender Typologisierung: 1. Nicht-Theater; 2. Theater = Kunst, Repräsentation; 3. ,Theater‘ = Alltag, Straße; 4. ,Theater‘ = ,anderes Theater‘, Anti-Theater [...].40

„Theater“ fungiert bei Münz also als ein Kernbegriff, der qualitativ unterteilt wird, wobei einem jeden hier vorgestellten Typ das Theatrale anhaftet.41 Das jeweilige Verhältnis dieser grundsätzlich verschiedenen theatralen Faktoren kennzeichnet die Theatralität eines konkreten Zeit-Raums. Auf mein Arbeitsvorhaben übertragen bedeutet es, dass ich neben den Protestaufführungen ihre historischen Bedingungen sowie ihre Kooperation mit künstlerischen Formen betrachten und analysieren muss. So werden

Beiträge 2/1990, S. 223-239; Kotte 1998; Münz 1998, Fischer-Lichte, Erika: Theatralität als kulturelles Modell. In: Dies. et al (Hg.): Theatralität als kulturelles Modell. Tübingen/Basel 2004, S. 7-26; Schramm, Helmar: Theatralität. In: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 6. Stuttgart 2005, S. 48-73; Warstat, Matthias: Theatralität. In: Fischer-Lichte, Kolesch, Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart 2005, S. 358-364. 38

Vgl. z.B. Fischer-Lichte 2004, S. 7-26.

39

Vgl. Münz 1998.

40

Ebd., S. 99.

41

Mehr zu den einzelnen Typen siehe Hulfeld, Stefan: Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis. Wie Wissen über Theater entsteht. Zürich 2007, S. 317ff.

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hier neben den ausgestellten Protesthandlungen im öffentlichen Raum („Alltag“, „Straße“), auch die vorherrschenden Zensurbestimmungen sowie andere Einschränkungen des öffentlichen Raumes („Nicht-Theater) berücksichtigt und die Frage danach gestellt, wie diese die von mir untersuchten Handlungsakte in ihrem Vollzug beeinflussen. Daneben wird auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen den öffentlichen Protesten und den Elementen des Kunsttheaters sowie alternativen Kunstperformances („anderes Theater“) mitbedacht. Auf den ersten Blick scheinen diese beiden zuletzt genannten Formen, die aus dem Bereich der Kunst kommen, für eine Protestuntersuchung redundant. Bei genauerem Anschauen des Untersuchungsgegenstandes, also der Proteste der Zeit zwischen 1980 und 1989 in Polen, wird deutlich, dass auch diese Formen – sei es durch Auftritte der Schauspieler bei Streiks oder der Formierung von Kunstkollektiven – eine entscheidende Rolle bei der Formulierung von Protest spielten und aus diesem Grund analysiert werden müssen.

A UFFÜHRUNG

UND

Q UELLEN

Wird im Kontext theaterwissenschaftlicher Überlegungen von Analyse gesprochen, so wird damit zumeist die Aufführungsanalyse in Betracht gezogen, ist doch die Aufführung der eigentliche Gegenstand des Faches.42 Unter Aufführung werden dabei entsprechend der bereits dargelegten Definition des Theatralen alle bewusst hervorgehobenen Darbietungen bezeichnet, die vor einem diese wahrnehmenden Publikum stattfinden.43 Es erscheint jedoch wichtig, an dieser Stelle hervorzuheben, dass eine Aufführung nicht

42

Vgl. Balme, Christopher: Einführung in die Theaterwissenschaft. Berlin 2008, S. 77.

43

Diese Sichtweise wird insbesondere seit der Einführung des Begriffes cultural performance von Milton Singer vertreten: „For the outsiders these can be conveniently taken as the most concrete observable units of the cultural structure, for each cultural performance has ,a definitely limited time span, a beginning and an end, an organized program of activity, a set of performers, an audience and a place and occasion of performance‘.“ In: Singer, Milton: Preface. In: Ders. (Hg.): Traditonal India. Structure and Change. Philadelphia 1959, S. xiiif.

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gleichzusetzen ist mit der Inszenierung – wie dies immer wieder geschieht –, und dass es sogar notwendig erscheint, eine scharfe Trennung dieser beiden Begriffe vorzunehmen,44 um Aufführungen angemessen analysieren und beschreiben zu können. So definiert beispielsweise Martin Seel, bei dem die Gleichsetzung des Begriffes sehr gut zu beobachten ist, Inszenierungen als „1. absichtsvoll eingeleitete oder ausgeführte sinnliche Prozesse, die 2. vor einem Publikum dargeboten werden und zwar 3. so, daß sich eine auffällige spatiale und temporale Anordnung von Elementen ergibt, die auch ganz anders hätte ausfallen können.“45 Dabei bezieht sich lediglich der erste Teil seiner Ausführung auf den Inszenierungsterminus, nämlich auf den absichtsvoll eingeleiteten Prozess. Denn eine Inszenierung ist der Vorgang der Planung, der Erprobung und Festlegung von Strategien der sichtbaren Hervorbringung von Korporalität und Materialität, wie sie in der Aufführung vollzogen werden soll. Es geht bei dem Vorgang der Inszenierung darum, auszuprobieren und zu beschließen, was wann und wo in einer Aufführung erscheinen soll. Eine Aufführung dagegen ist die Darbietung selbst, also das Erscheinen von körperlichen Aktionen und der mit ihr in Verbindung stehenden Gegenstände in einer bestimmten Anordnung zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort vor einem körperlich anwesenden Publikum; oder das, was Seel als einen ausgeführten sinnlichen Prozess bezeichnet, der vor einem Publikum dargeboten wird. Eine Aufführung ist also die von Zuschauern wahrgenommene Hervorbringung von Korporalität und Materialität, wie sie eine Inszenierung gedacht hat. Somit rücken in den Untersuchungsbereich einer Aufführung verbale und nonverbale Zeichen sowie die Interaktion zwischen dem theatralen Ereignis, seinem Akteur und dem Zuschauer bzw. Publikum.46 Auch in dieser Arbeit sollen genau diese Aspekte in der Analyse berücksichtigt und folgende Fragen beantwortet werden: Welche Räume werden von den Akteuren für ihre Handlungen als Bühne etabliert? Wodurch zeichnet sich die Handlung der Akteure aus, d.h. welche verbalen und non-

44

Vgl. Fischer-Lichte 2004, S. 14; vgl. auch Balme 2008, S. 87.

45

Seel, Martin: Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs. In: Josef Früchtl und Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Frankfurt a. M. 2001, S. 48-61.

46

Vgl. Balme 2008, S. 87.

DER POLITISCHE UMBRUCH VON 1989 | 33

verbalen Zeichen47 werden mittels Korporalität hervorgehoben und welche materiellen Zeichen, wie z.B. Symbole, in diese integriert? Welche Bedeutungen werden hierbei generiert? Wie ist das Verhältnis zwischen den Akteuren untereinander und wie das Verhältnis zwischen Akteur und Publikum gekennzeichnet? Im Gegensatz zu Bildern, Texten oder Monumenten, die sich durch bleibende Dauer auszeichnen, existieren Aufführungen ausschließlich in der Gegenwart. In diesem Sinn ist jede Aufführung flüchtig und transitorisch; sie ist ein Ereignis.48 Hier liegt auch die Besonderheit seiner Analyse. Während sich der Analysierende bei der Analyse eines Textes oder Bildes seiner unveränderbaren Materialität gewiss sein kann und aus diesem Grund immer wieder die Seiten eines Buches oder Dokumentes vor- und zurückblättern oder sich das von ihm betrachtete Bild aus unterschiedlichen Positionen anschauen kann, ist dies bei einer Aufführungsanalyse nicht möglich, wie Erika Fischer-Lichte konstatiert: „Wenn der Analysierende an einem Punkt im Verlauf der Aufführung innehalten will, um über spezifische Vorgänge [...] nachzudenken und auf diese Weise mit der Analyse zu beginnen, wird er nachfolgende Geschehnisse [...] verpassen.“49 An dieser Aussage wird deutlich, dass der transitorische Charakter von Aufführungen seinen Betrachter vor besondere Herausforderungen stellt. Insbesondere dann, wenn es ihm nicht möglich ist, Aufführungen, die er der Analyse unterziehen möchte, live zu sehen, weil diese in der Vergangenheit stattgefunden haben. Bei der Betrachtung des in dieser Arbeit zu analysierenden Gegenstandes, also der öffentlichen Proteste wie Streiks, Demonstrationen, Manifestationen sowie Happenings, die aufgrund ihres theatralen Charakters als Aufführungen begriffen werden, wird dieses Problem deutlich. Sie alle haben in einem Zeitraum zwischen 1980 und 1989 stattgefunden und sind somit für eine Analyse nicht unmittelbar zugänglich. Aus diesem Grund können sie nur unter Rekurs auf Quellen unterschiedlicher Art rekonstruiert und analysiert werden.

47

Zu theatralen Zeichen allgemein siehe Fischer-Lichte 2010, S. 84.

48

Vgl. Sauter, Willmar: Inroducing the theatrical event. In: Vicky Ann Cremona (Hg.): Theatrical Events. Borders. Dynamics. Frames. Amsterdam/New York 2004, S. 3-14, 11.

49

Fischer-Lichte 2010, S. 72f.

34 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

Um meinem Untersuchungsgegenstand gerecht zu werden, wurde daher für die analytische Arbeit eine heterogene Quellenkollektion verwendet. Das Material wurde hierfür auf unterschiedlichen Feldern gesammelt: Die Basis meiner Analysen bilden Quellen, die ich in verschiedenen polnischen Archiven zusammentragen konnte. Hierzu gehören insbesondere die Archive des Instituts des Nationalen Gedenkens (pl. Instytut Pamięci Narodowej, kurz IPN) in Danzig und Breslau, in denen ich auf schriftliche, visuelle und auditive Unterlagen des polnischen Staatssicherheitsdienstes dieser Städte zugreifen konnte, die eine sehr wichtige, wenn auch unfreiwillige Quelle der Aufführungsdokumentation darstellen und darüberhinaus einen wichtigen Einblick in Überwachungs- und Manövermechanismen bieten. Im Hinblick auf den hier fokussierten Aspekt der Theatralität wurden die für diese Arbeit relevanten Akten zum Danziger Auguststreik, zu Demonstrationen und Gedenkfeierlichkeiten der Opposition im Zeitraum 1980 bis 1989, zu Gottesdiensten für die Nation, zu Protestaktionen der Kämpfenden Jugend sowie Freiheit und Frieden und zur Happening-Bewegung Orange Alternative ausgewertet. Zu der letzteren wurde auch die Dokumentensammlung des Archivs der Ossoliński Nationalbibliothek (pl. Archiwum Zakładu im. Ossolińskich, kurz AZiO) in Breslau analysiert, die neben der Zeitschrift Pomaranczowa Alternatywa, auch Flugblätter der Bewegung und Zeitungsartikel zu ihren Happenings beinhaltet. Daneben wurden die Unterlagen des Archivs der Stiftung KARTA (pl. Ośrodek KARTA) in Warschau zu Analyse herangezogen, wo unterschiedliche Art von Dokumenten der Opposition (Protokolle, Tagebucheinträge, Briefe, Zeitungsartikel inoffizieller Blätter, Lieder, Fotos etc.) aufbewahrt werden, und deren Ergebnisse insbesondere in das Kapitel „Die ersten Protestformen“ eingeflossen sind.50 Neben Archivquellen wurde für diese Arbeit auch auf publizierte Quellen zurückgegriffen. Insbesondere sei hier auf die Dokumentation der Au-

50

An dieser Stelle sei angemerkt, dass in dieser Arbeit auch die von den aufgesuchten Archiven publizierten und thematisch gegliederten Quellen berücksichtigt wurden. Hierbei handelt es sich insbesonders um Aparat Represji wobec księdza Jerzego Popiełuszki 1982-1984. Hg. von Instytut Pamięci Narodowej. Warszawa 2009; Karnawał z wyrokiem. Solidarność 1980-1981. Hg. von Ośrodek KARTA. Warszawa 2005; Tage der Solidarität. Hg. von Stiftung KARTA-Zentrum. Warszawa 2005 sowie Stan Wojenny. Ostatni Atak Systemu. Hg. von Ośrodek KARTA. Warszawa 2006.

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dioabschriften des Danziger Auguststreiks Gdańsk. Sierpień’80. Rozmowy51 verwiesen, in denen neben den Verhandlungsgesprächen des Überbetrieblichen Streikkomitees mit den Vertreten der Regierung auch Predigten von Priester Jankowski dokumentiert sind, sowie auf die Sammlung der Predigten anlässlich der Gottesdienste für die Nation von Jerzy Popiełuszko An das Volk. Predigten und Überlegungen 1982-198452 und Kazania patriotyczne53. Um den Umgang der offiziellen Medien mit Protesten herauszuarbeiten, wurde eine Analyse von Zeitungsartikeln der Trybuna Ludu sowie der Polityka unternommen, deren Ergebnisse in das Kapitel „Der Auguststreik und die polnischen Massenmedien“ eingeflossen sind. Einen weiteren wichtigen Teil stellen biographische Quellen dar, die zum einen in Form von Interviews mit den Zeitzeugen Krzysztof Wyszkowski, Zenon Kwoka, Andrzej Kołodziej sowie den Schauspielern Halina Winiarska und Jerzy Kiszkis, die an den jeweiligen von mir untersuchten Ereignissen als Akteure teilgenommen haben, generiert wurden. Das Ziel dieser mündlichen Befragung bestand darin, Hintergrundinformationen zu Inszenierungsstrategien zu erlangen, da diese bis dato in der von mir fokussierten Form nicht behandelt wurden. So wird beispielsweise der Auftritt der Schauspieler während der Streiks oder Gottesdienste in vielen Publikationen erwähnt, die Auswahl des aufgeführten Repertoires an Texten dagegen nicht berücksichtigt. So war es mir hier ein Anliegen, die Textauswahl zu eruieren und Hintergrundinformationen, Motive etc. zu diesem Ereignis zu recherchieren. Zum anderen wurden bereits publizierte Interviews mit Zeitzeugen, die eine tragende Rolle gespielt haben, der Analyse unterzogen. Hierbei handelt es sich insbesondere um Erinnerungsdokumente und Interviews mit polnischen Journalisten in Kto tu wpuścił dziennikarzy54, um Interviews mit Aktivisten der Solidarność in Portrety niedokończone. Rozmowy z twórcami „Solidarności“ 1980-198155 und mit Sympathisanten

51

Gdańsk. Sierpień’80. Rozmowy. Hg. von Andrzej Drzycimski und Tadeusz Skutnik. Gdańsk 1990.

52

Popiełuszko, Jerzy: An das Volk. Predigten und Überlegungen 1982-1984. Hg. von Franciszek Blachnicki. Düsseldorf 1985.

53

Popiełuszko, Jerzy: Kazania patriotyczne. Paris 1984.

54

Kto tu wpuścił dziennikarzy. Hg. von Marek Miller. Warszawa 2005.

55

Portrety niedokończone. Rozmowy z twórcami „Solidarności“ 1980-1981. Hg. von Janinia Jankowska. Warszawa 2003.

36 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

und Akteuren der Orangen Alternative in Wrocławskie zadymy56. Die Spezifik dieser Quellen von Zeitzeugen, deren zentraler Gegenstand in der subjektiven Erfahrung und den unterschiedlichen Verarbeitungsformen historischer Erlebnisse sowie den Veränderungen der Selbstdeutungen von Menschen in der Geschichte liegt, legt einen besonders vorsichtigen Umgang mit ihnen nahe.57 Wo immer es mir möglich war, habe ich versucht, sie zu verifizieren, indem ich die Aussagen einerseits miteinander verglichen, andererseits in Bezug zu den anderen von mir behandelten Dokumenten gesetzt habe. Abschließend sei angemerkt, dass alle deutschen Übersetzungen der in polnischer Sprache vorliegenden Quellen von mir angefertigt wurden und nicht extra in der Fußnote mit dem Hinweis auf den Übersetzer versehen werden. Bei literarischen und wissenschaftlichen Texten wurden bereits vorhandene Übertragungen ins Deutsche verwendet und werden so markiert; in Fällen von Texten, die noch nicht ins Deutsche übersetzt wurden, wurde das für diese Arbeit von mir nachgeholt, was ebenfalls nicht explizit in den Fußnoten vermerkt wird.

P ROGRAMM -V ORSCHAU Bevor ich mit der eigentlichen Analyse beginne, sollen mit dem Kapitel „Öffentlichkeit – Protest – Theatrales Handeln“ weitere und für diese Arbeit zentrale Begriffe – Öffentlichkeit und Protest – eingeführt werden. Hierbei sollen Mechanismen der Entstehung und Unterdrückung von öffentlichen Freiräumen aus theoretischer Sicht betrachtet werden, die die Fragestellung nach den theatralen Möglichkeiten der Aushandlung von

56

Kenney, Padraic: Wrocławskie zadymy. Wrocław 2007.

57

Vgl. hierzu u.a. Leh, Almut und Lutz Niethammer (Hg.): Kritische Erfahrungsgeschichte und grenzüberschreitende Zusammenarbeit. The Networks of Oral History. Leverkusen 2007; Vorländer, Herwart (Hg.): Oral History. Mündlich erfragte Geschichte. Acht Beiträge. Göttingen 1990; Obertreis, Julia und Anke Stephan (Hg.): Erinnerungen nach der Wende: Oral History und (post)sozialistische Gesellschaftern. Remembering after the Fall of Communism. Oral History and (Post-)Socialist Societies. Essen 2009; Tavris, Carol und Elliot Aronson: Ich habe recht auch wenn ich mich irre. München 2010.

DER POLITISCHE UMBRUCH VON 1989 | 37

Sicht- und Sagbarkeit im Raum der von der PZPR dominierten und kontrollierten Öffentlichkeit zwischen 1980 und 1989 theoretisch unterfüttern und das analytische Vorgehen ihrer Beantwortung näher erläutern. Den Hauptteil der Arbeit, der der Chronologie des Zeitgeschehens von 1980 bis 1989 folgt, beginne ich mit dem Kapitel „Theatrale Strategien zur Öffentlichkeitserzeugung“. In diesem stelle ich zunächst die Funktionsmechanismen polnischer Massenmedien in der Ära des Kommunismus in Polen vor, um eine Grundlage für die anschließende Analyse der Rezeption der Auguststreiks 1980 in den Massenmedien zu haben. Anhand dessen soll ein Erklärungsansatz geliefert werden, wieso und auf welche Weise die Streikenden in Danzig schließlich auf theatrale Mittel, die im Anschluss daran untersucht werden, zurückgriffen, um eine Gegenöffentlichkeit zu erzeugen. Im Kapitel „Noch ist Polen nicht verloren ...“ möchte ich hingegen auf die inhaltliche Seite des Danziger Geschehens eingehen und die Frage beantworten, welche Ideen und Kerngedanken mittels Theatralität in die Öffentlichkeit transportiert wurden. Diese lassen sich in die unruhige Geschichte des Landes einordnen, welche durch die Dreiteilung im 19. Jahrhundert, den Zweiten Weltkrieg sowie die Einführung des Kommunismus sowjetischer Prägung gezeichnet war. Da mit der Einführung des Kriegszustandes im Dezember 1981 der kollektive Einsatz des eigenen Körpers im öffentlichen Raum in Form von Streiks oder Demonstrationen zu gefährlich war, um Widerstand zu äußern, mussten andere Wege des Protestes beschritten werden, die sich vorwiegend auf die Räumlichkeiten der Kirche konzentrierten. Diese und mit ihnen das verbotene Gedenken wichtiger Ereignisse der polnischen Geschichte in Form von Gedenkfeierlichkeiten, werden im Kapitel „Vom Protest zum Ritual“ vorgestellt, wobei die Wiederkehr der beim Danziger Auguststreik etablierten Elemente sowie die mit ihnen verbundene Entwicklung von ritualisierten Formen des Protestes herausgearbeitet wird. Im letzten Kapitel des Hauptteils – „Das Durchbrechen des Ritualisierten: Die Orange Alternative oder der friedliche Aufstand der Zwerge“ – wird der Fokus auf das Happening gesetzt, welches seit der Mitte der 1980er Jahre von der Bewegung Orange Alternative als eine neue Protestform ins Leben gerufen wurde, die sich sowohl in Form als auch in Inhalten von den Protestformen distanzierte, welche von der Kirche und der Solidarność ausgegangen waren, und so für eine Wiederbelebung der Massenproteste sorgte.

38 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

Abschließend werden die Ergebnisse der Arbeit kurz zusammengefasst und ein Ausblick auf die Nützlichkeit von Aufführungsanalysen der Proteste im öffentlichen Raum gegeben.

Öffentlichkeit – Protest – Theatrales Handeln

In siebzig Städten hat es Demonstrationen gegeben. Diese Zahl ist interessant, weil sich zeigt, dass die polnischen Machthaber zwar eine Explosion in den Großstädten verhindern konnten, aber nicht alles unter Kontrolle haben. Michel Foucault1

Wenn wir Hannah Arendts berühmte Aussage, dass Macht „dort beginnt, wo Öffentlichkeit aufhört“2, in Erinnerung rufen und ihre Worte mit der allgemein anerkannten Ansicht, dass der Terminus Öffentlichkeit für die Herausbildung und das Funktionieren moderner ziviler Gesellschaften von wichtiger Bedeutung ist, in Verbindung bringen, erscheint es zunächst paradox, über Öffentlichkeit in einer staatssozialistischen Diktatur, wie sie in Polen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vorherrschte, zu sprechen. Das Fehlen einer autonomen Öffentlichkeit gehört schließlich zu den konstitutiven Merkmalen, welche Diktaturen von demokratisch verfassten Ge-

1

Foucault, Michel: „Neutralität ist nicht möglich“. In: Ders.: Dits et Ecrits. Schriften. Bd. 4. Hg. von Daniel Defert und Francois Ewald. Frankfurt a. M. 2005, S. 405-411, S. 406.

2

Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. New York 1955, S. 639.

40 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

sellschaften unterscheiden.3 Dennoch findet der Terminus in Bezug auf Staaten, die auf einer Diktatur basieren, immer wieder Verwendung; einerseits im Hinblick auf die Herausarbeitung von Differenzen zwischen der in solchen Gesellschaften vorherrschenden gelenkten und der in der Demokratie praktizierten autonomen Öffentlichkeitsstruktur, andererseits um partielle Freiräume innerhalb solcher reglementierten Strukturen aufzudecken.4 Einzeln betrachtet erscheinen diese Ansätze als verkürzt, da die Öffentlichkeit in Staaten, welche von der Diktatur beherrscht werden, trotzdem als eine differenzierte einzustufen ist: Trotz starker Kontrollmechanismen können in staatssozialistischen Gesellschaften Formen öffentlicher Kommunikation, welche sich dem Reglement des Staates entziehen, immer wieder beobachtet werden.5 Somit ist für staatssozialistische Diktaturen ein Spannungsfeld auszumachen, welches sich in einer permanenten Auseinandersetzung und Verhandlung um das, was öffentlich sein bzw. nicht sein darf, zeigt. Die Dynamik, welche sich aus einer Betrachtung dieser Spannung ergibt, erscheint für eine Analyse des von mir fokussierten Gegenstandes vielversprechend. Denn durch die Betrachtung der Auseinandersetzung um die Sichtbarkeit im öffentlichen Raum – public space oder espace publique, wie es im Englischen und Französischen treffend heißt – können Akteure und ihre Handlungen besser verstanden und analysiert werden. Aus diesem Grund sollen im Folgenden die Mechanismen der Entstehung und Unterdrückung von öffentlichen Freiräumen aus theoretischer Sicht betrachtet werden, um einer späteren Analyse der polnischen Öffentlichkeit in den 1980er Jahren gerecht werden zu können.

3

Vgl. hierzu Requate, Jörg: Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse. In: Geschichte und Gesellschaft 25/1999, S. 5-32, 26.

4

Vgl. ebd.

5

Sehr deutlich wird das beispielsweise in dem Aufsatzband Sphären von Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs. Hg. von Gábor T. Rittersporn, Malte Rolf und Jan C. Behrends. Frankfurt a. M. 2003.

ÖFFENTLICHKEIT – PROTEST – THEATRALES HANDELN | 41

D IE M ÖGLICHKEIT

EINER KONKURRIERENDEN Ö FFENTLICHKEIT Bei einer Auseinandersetzung mit dem Öffentlichkeitsbegriff ist es angebracht, mit Jürgen Habermas und seiner 1962 veröffentlichten Studie Strukturwandel der Öffentlichkeit zu beginnen. Habermas zufolge habe sich im 18. Jahrhundert in Frankreich, England und Deutschland aus einer neu entstandenen Schicht von Bürgern eine politische Öffentlichkeit herausgebildet, anhand der er das Idealmodell der bürgerlichen Öffentlichkeit entwickelt.6 Dieses Modell hat den Typus der repräsentativen Öffentlichkeit abgelöst, in welcher Fürsten als Inhaber der Staatsmacht ihre Herrschaft vor dem Volk repräsentieren, anstatt es zu vertreten. Die bürgerliche Öffentlichkeit konnte sich also in dem Augenblick herausbilden, in dem sich dieser Staatsmacht gegenüber eine Gesellschaft positionierte, die ihre Interessen zu formulieren imstande war. Die bürgerliche Öffentlichkeit kann somit als kritisches Gegengewicht zum absolutistischen Staat verstanden werden, d.h. sie zeichnet sich durch die Möglichkeit einer Kritik am Staat aus. Sie lässt sich daher in Habermas Worten als eine „Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute“7 auffassen, die dem Staat als Handlungs- und Meinungsträger gegenübersteht. Diese Öffentlichkeit, die einerseits in Kommunikationsräumen wie Salons und Kaffeehäusern, andererseits mittels Medien wie Zeitungen oder Bücher entstand, basiert auf der Kommunikation und ist damit eine kommunikative Sphäre, in der Meinungen und Argumente ausgetauscht und so Diskurse angekurbelt werden sollen. Die aus den öffentlichen Diskursen kristallisierten Meinungen sollen staatliche Entscheidungen legitimieren oder delegitimieren und unterwerfen sich ihnen nicht mehr kommentarlos. Der Zugang zum öffentlichen Gespräch muss daher laut Habermas für alle gesellschaftlichen Gruppen offen sein. Bereits hier wird eine Schwäche dieses normativen Modells offenbar: Historisch gesehen war die bürgerliche Öffentlichkeit nämlich nicht allgemein zugänglich; sie war schon immer von bestimmten Gruppen dominiert, die anderen Gruppen den Zugang zu ihr verweigerten. So blieben beispielsweise Frauen, Lehrlinge, Arbeiter oder Dienstboten aus diesem Be-

6

Vgl. hierzu und im Folgenden Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Frankfurt a. M. 1990.

7

Ebd. S. 86.

42 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

reich ausgeschlossen. Indem sich die bürgerliche Klasse in Abgrenzung zu den älteren aristokratischen Eliten herausgebildet hatte, stellte sie sich wiederum über die einfachen und plebejischen Schichten.8 Aus diesem Grund konstatiert Nancy Fraser in einer Auseinandersetzung mit dem Begriff der bürgerlichen Öffentlichkeit von Habermas, dass Eliten immer wieder gezielt und erfolgreich Partizipationsmöglichkeiten bestimmter gesellschaftlicher Gruppen unterdrückt hätten. Habermas habe in der Idealisierung und theoretischen Homogenisierung seines bürgerlichen Öffentlichkeitsmodells – so ihre Kritik – darüber hinweggesehen, dass emanzipatorische Impulse gerade von solchen Randgruppierungen ausgegangen seien, die von diesem Öffentlichkeitsmodell ausgeschlossen waren. Aus der Erfahrung heraus, in der herrschenden Öffentlichkeit ihre Anliegen nicht äußern zu können, suchten Akteure von ihr ausgeschlossener Gruppen, alternative Öffentlichkeit herzustellen, um diskursive Räume zu erzeugen, in denen sie die Möglichkeit finden konnten, oppositionelle Einstellungen zu formulieren; um also das sagbar zu machen, was in der herrschenden Öffentlichkeit nicht sagbar war. Habermas habe also Frasers Ansicht nach außer Acht gelassen, dass die bürgerliche Öffentlichkeit nie die eine Öffentlichkeit dieser Zeit war. Vielmehr entstanden mit ihr viele konkurrierende Öffentlichkeiten, wie es etwa Mary Ryan an Beispielen nordamerikanischer Frauen herausarbeitet.9 Fraser betont daher in Bezug auf Ryan, dass gerade Ausschluss-

8

Zu diesem Kritikpunkt an Habermas siehe Fraser, Nancy: Rethinking the Public Sphere: A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy. In: Craig Calhoun (Hg.): Habermas and the Public Sphere. London 1992, S. 109-142; Eley, Geoff: Nations, Publics and Political Cultures. Placing Habermas in the Nineteenth Century. In: Calhoun 1992, S. 289-339; Ryan, Mary: Gender and Public Access: Women’s Poilitics in Nineteenth-Century America. In: Craig 1992, S. 259-288; Landes, Joan: Jürgen Habermas, The Structural Transformation of the Public Sphere. A Feminist Inquiry. In: Praxis International 12/1992, S. 106-127. Einen guten Überblick zur Kritik an Habermas’ Öffentlichkeitsmodell bietet Gestrich, Andreas: Jürgen Habermas’ Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit: Bedeutung und Kritik aus historischer Perspektive. In: Claus Zimmermann (Hg.): Politischer Journalismus, Öffentlichkeit und Medien im 19. und 20. Jahrhundert. Ostfildern 2006, S. 25-39.

9

Vgl. Ryan, Mary: Woman in Public: Between Banners and Ballots, 18251889. Baltimore 1990.

ÖFFENTLICHKEIT – PROTEST – THEATRALES HANDELN | 43

mechanismen und die aus ihnen resultierenden Konflikte10 als Motivation der Öffentlichkeitsherstellung gesehen werden müssen. So konstatiert sie: This historiography records that members of subordinated social groups – woman, workers, peoples of color, and gays and lesbians – have repeatedly found it advantageous to constitute alternative publics. I propose to call these subaltern counterpublics in order to signal that they are parallel discursive arenas where members of subordinated social groups invent and circulate counterdiscourses to formulate oppositional interpretations of their identities, interests, and needs.11

Nur mittels einer alternativen Öffentlichkeit haben ihrer Meinung nach also die Mitglieder von der vorherrschenden Öffentlichkeit ausgeschlossener Gruppen die Möglichkeit, sich einen Ort zu erkämpfen, an dem ihre kommunikativen Prozesse öffentlich ausgetragen werden können. So betrachtet Fraser Öffentlichkeit nicht nur als einen Raum, in dem diskursiv Meinung gebildet wird, sondern auch als einen Ort, an dem die Herausbildung und Inszenierung sozialer Identitäten stattfindet. Denn Partizipation am öffentlichen Leben heißt für sie, „to speak in one’s own voice“12. Derjenige, der sich nicht mit eigener Stimme artikulieren kann, nimmt also an der Öffentlichkeit nicht aktiv teil. An diesem Kritikpunkt an Habermas trifft sich Fraser in meinen Augen mit dem französischen Philosophen Jacques Rancière, der in seinen Schriften zum Thema zwar nicht direkt auf Habermas eingeht, jedoch immer wieder die vorherrschenden Unterdrückungs- und Ausschlussmechanismen im öffentlichen Leben aller Gesellschaften, auch der demokratisch strukturierten, anprangert. Das von Fraser geforderte Sprechen mit eigener Stimme, die Herausbildung eigener Identität im öffentlichen Raum, wird bei Rancière zum politischen Akt der Subjektivierung und mit ihm ein Einschreiben in den Raum des Sinnlichen. Da die von Rancière beschriebenen Mechanismen des Kampfes um die Sphäre der Öffentlichkeit in der von mir behandelten Zeit in Polen der 1980er Jahre besonders deutlich hervortreten

10

In diesem Punkt bezieht sich Fraser ausdrücklich auf Geoff Eley, der die Ent-

11

Fraser 1992, S. 123.

12

Ebd., S. 126.

stehung von Öffentlichkeit aus Konflikten herleitet. Siehe Eley 1992.

44 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

und aus diesem Grund in den späteren Analysen herausgearbeitet werden, sollen sie hier erläutert werden.

S UBJEKTIVIERUNG

ALS

„A NTEIL

DER

A NTEILLOSEN “

Die von Rancière vorgenommene Unterscheidung zwischen Politik und Polizei erlaubt es, die Subjektivierung einer Person bzw. Gruppe im Raum des Öffentlichen als politische Tätigkeit zu denken. Während im Allgemeinen unter dem Terminus Politik „die Gesamtheit der Vorgänge, durch welche sich die Vereinigung und die Übereinstimmung der Gemeinschaften, die Organisation der Mächte, die Verteilung der Plätze und Funktionen und das System der Legitimierung dieser Verteilung“13 verstanden wird, schlägt Rancière in seiner Schrift Das Unvernehmen (La Mésentente, 1995) vor, dieser Verteilung und dem System dieser Legitimierung den Namen Polizei zu geben. Der Polizei obliegt dabei die Etablierung und die Stabilisierung einer bestimmten Ordnung, welche die Partizipation einzelner Subjekte am Gemeinsamen bestimmt: Die Polizei ist [...] zuerst eine Ordnung der Körper, die die Aufteilung unter den Weisen des Machens, den Weisen des Seins und den Weisen des Sagens bestimmt, die dafür zuständig ist, dass diese Körper durch ihre Namen diesem Platz und jener Aufgabe zugewiesen sind; sie ist eine Ordnung des Sichtbaren und des Sagbaren, die dafür zuständig ist, dass diese Tätigkeit sichtbar ist und jene andere es nicht ist, dass dieses Wort als Rede verstanden wird, und jenes andere als Lärm.14

Die Polizei entscheidet, wie aus dem Zitat deutlich wird, über die Aufteilung des Sinnlichen, also darüber, wer in der von ihr dominierten Ordnung sichtbar ist und wer nicht, wessen Rede verstanden werden soll und wessen nicht. Diese Aufteilung des Sinnlichen ist nach Rancière daher im doppelten Sinne des Wortes zu verstehen: „einerseits das, was trennt und ausschließt, andererseits das, was teilnehmen lässt.“15 Eine Aufteilung des

13

Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt a. M. 2002, S. 39.

14

Ebd., S. 41.

15

Rancière, Jacques: Zehn Thesen zur Politik. Zürich 2008, S. 31.

ÖFFENTLICHKEIT – PROTEST – THEATRALES HANDELN | 45

Sinnlichen legt somit, wie der Franzose betont, „sowohl ein Gemeinsames, das geteilt wird, fest als auch Teile, die exklusiv bleiben.“16 Die Aufteilung der Gemeinschaft, die Rancière in Das Unvernehmen vornimmt, geht auf Aristoteles und seine Unterscheidung zwischen denjenigen, die logos und denjenigen, die phonè besitzen, zurück.17 Während die erste Gruppe, die zur Polizei gerechnet wird, Anteil am gemeinschaftlichen Raum der Sicht- und Sagbarkeit hat und diesen bestimmt, weil sie sich artikuliert, wird die Stimme der zweiten in diesem Raum nicht vernommen. So konstatiert Rancière in Zehn Thesen zur Politik: „Will man jemanden nicht als politisches Wesen erkennen, beginnt man damit, ihn nicht als Träger von Zeichen politischen Seins (politicitè) zu sehen, nicht zu verstehen, was er sagt, nicht zu hören, dass es eine Rede ist, die aus seinem Mund kommt.“18 Diese zweite Gruppe ist somit an der Aufteilung des Sinnlichen und somit an dem Raum der Sicht- und Sagbarkeit anteillos. Erst wenn sie beginnt, ihren Anteil einzufordern und so die Ordnung des status quo unterminiert, wird sie zu einem sich widersetzenden politischen Subjekt in der Ordnung der Gemeinschaft der sprechenden und der sichtbaren Wesen, in der für sie – aus dem Standpunkt polizeilicher Ordnung betrachtet – keine Stimme und keine Sichtbarkeit vorgesehen ist. Politik entsteht dabei nach Rancière im Unvernehmen, im Streit über den status quo „als Vorhandensein zweier Welten in einer einzigen“19. Hierbei wird die Logik der Gleichheit eines jeden beliebigen sprechenden Wesens mit jedem anderen beliebigen sprechenden Wesen der von der Polizei etablierten Ordnung entgegengesetzt. Die Aktualisierung der Gleichheit in der Demonstration des Dissens ist eine Störung der vorherrschenden Ordnung. So schreibt Rancière: „Was den politischen Charakter einer Handlung ausmacht, ist [...] ihre Form, diejenige, die die Bestätigung der Gleichheit in die Einrichtung eines Streits, einer Gemeinschaft, die nicht vor ihrer Teilung bestand, einschreibt.“20 Politik ist somit in der Unterbrechung der Ordnung der Herrschaft der Polizei

16

Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin 2008. S. 25.

17

Vgl. Aristoteles: Politik. Hamburg 1990.

18

Rancière 2008 a, S. 34.

19

Ebd., S. 33.

20

Rancière 2002, S. 43.

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und der Einrichtung des Anteils der Anteillosen existent. Sie lässt das sehen, was zuvor keinen Ort hatte, gesehen zu werden, und lässt die Rede hören, die zuvor nur als Lärm vernehmbar war. Politische Subjektivierung meint also den Prozess, bei dem der Einzelne oder eine Gruppe von Individuen Sicht- und Sagbarkeit hervorbringen, die in der gegebenen Ordnung zuvor nicht identifizierbar war. Sie demonstriert das Unrecht auf eine bestimmte Art und Weise, das sich in der ungleichmäßigen Verteilung der Anteile an der Gesellschaft manifestiert. Diese Demonstration als Akt der politischen Subjektkonstitution, als das, in Frasers Terminologie, Sprechen mit eigener Stimme, bringt somit, wie Rancière betont, zu Gesicht, was keine Gründe hatte, gesehen zu werden, sie beherbergt eine Welt in einer anderen, zum Beispiel die Welt, in der die Fabrik ein öffentlicher Raum ist, in derjenigen, wo sie ein privater Raum ist, die Welt, in der die Arbeiter sprechen und von der Gemeinschaft sprechen, in derjenigen, in der sie schreien, um ihren alleinigen Schmerz auszudrücken.21

Um also Gruppen, wie z.B. den im Zitat vorgestellten Arbeitern, die Eigenschaft, politische Subjekte zu sein, abzusprechen, genügt es in der polizeilichen Ordnung, ihnen den Raum im öffentlichen Leben zu verweigern und sie in einen privaten Raum zu verbannen, aus dem nur Schreie und Äußerungen des Schmerzes vernehmbar sind. Die Aufgabe dieser Gruppen besteht aber darin, diese Räume neu zu definieren, darin, den Ort der Gemeinschaft zur Wahrnehmung zu bringen.22 Öffentlichkeit, in Rancières Wortschatz die Bühne bzw. der Raum des Sinnlichen, ist also der Ort, an dem derjenige, der hier keine Hör- und Sichtbarkeit besitzt, diese für sich einfordert und seine Stimme, seinen Körper in diesen Raum hineinträgt. So schreibt er: Das Subjekt Arbeiter, das sich [...] als Sprecher zählen lässt, muss so tun, als ob die Szene existierte, als ob es eine gemeinsame Welt der Argumentation gäbe, [...]. Die Streiks [...] erhalten ihre einzigartige diskursive Struktur von der Ausreizung des Paradoxes: sie sind erpicht darauf zu zeigen, dass die Arbeiter gerade als vernünftig

21

Rancière 2008 a, S. 35f.

22

Vgl. ebd., S. 35.

ÖFFENTLICHKEIT – PROTEST – THEATRALES HANDELN | 47

sprechende Wesen streiken, dass die Tat, gemeinsam die Arbeit niederzulegen, nicht ein Lärm, eine gewaltige Reaktion auf eine unangenehme Situation ist, sondern dass sie einen Logos ausdrückt, der nicht einfach der Zustand eines Kräfteverhältnisses ist, sondern eine Demonstration ihres Rechts und des Rechten bildet, die von der anderen Partei verstanden werden kann.23

Der Zutritt zum Raum der herrschenden Öffentlichkeit muss erst erkämpft werden, indem eine Gegenöffentlichkeit mittels einer Einschreibung in den Raum des Sinnlichen hergestellt und in die herrschende Öffentlichkeit hineingeschoben wird. Es stellt sich somit die Frage, auf welche Art und Weise eine solche Öffentlichkeit und mit ihr Sicht- und Sagbarkeit hergestellt werden können. Die erste Antwort hierauf ist allgemein in dem Begriff Protest zu suchen. Wie auch Rancière definiert der Protestforscher Dieter Rucht, obwohl er sich keineswegs auf den französischen Philosophen beruft, den Terminus Protest als eine sicht- und hörbare Artikulationsform von Dissens und Kritik an bestimmten Akteuren, Verhältnissen und Entscheidungen.24 Bei seiner Begriffsverwendung betont Rucht jedoch die doppelte Signatur des Terminus Protest. Wer protestiert, stellt sich einerseits gegen etwas; er bekundet Widerspruch oder Einspruch an der herrschenden Ordnung oder Meinung. Andererseits spricht er sich aber zugleich für etwas aus, was vom lateinischen Verb testari abzuleiten ist, das mit „für etwas Zeugnis ablegen“ übersetzt werden kann. Protest bringt daher über die reine Kritik hinaus „indirekt Maßstäbe von Gerechtigkeit, Fairness, Zumutbarkeit und Würde zur Geltung. Er ist somit nie blanke Abwehr, sondern verweist zumindest implizit auf die Möglichkeit und Wünschbarkeit anderer und besserer Zustände.“25 Proteste zielen somit immer auf gesellschaftliche Veränderung ab; sie stellen eine Möglichkeit dar, staatliche Entscheidungsträger unter Druck zu setzen. Rucht versteht Protest daher als Ressource, die eingesetzt wird, um gesellschaftliche Entscheidungen zu beeinflussen. Seine Protestdefinition, das sichtbare Ereignis, bei dem Protestierende das Signal ihrer

23

Ranciére 2002, S. 64.

24

Rucht, Dieter: Protest und Protestereignisanalyse: Einleitende Bemerkungen. In: Ders. (Hg.) Protest in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen. Frankfurt a. M. 2001, S. 7-25, S. 8.

25

Ebd., S. 9.

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Kritik an ihre Gegner aussenden, kann also im Rancièreschen Sinne als Politik aufgefasst werden, denn hier wird bewusst das Unvernehmen zwischen den Teilnehmenden und den Anteillosen einer polizeilichen Ordnung offenbart; hier wird also die grundsätzliche Gleichheit menschlicher Wesen postuliert, die auf die ungleichen Machtverhältnisse polizeilicher Ordnung trifft, und einen Veränderungsvorschlag demonstriert. Das Erlangen von Aufmerksamkeit, die aisthesis, ist somit eines der ersten und wichtigsten Ziele des Protests. „Wer aufsteht, um Protest zu bekunden“, so Rucht, „der lenkt in der Regel die Blicke auf sich.“26 Verfehlt eine Protestbewegung jedoch die Aufmerksamkeit, so hat sie kaum Chancen, sich Gehör für ihre Anliegen zu verschaffen und somit Veränderungen zu bewirken. Sie ist also darauf angewiesen, in einem bestimmten Raum der Sicht- und Sagbarkeit, um in Rancières Terminologie zu sprechen, wahrgenommen zu werden. Auf die Möglichkeiten, sich in diesen Raum einzuschreiben, soll nun im Folgenden eingegangen werden.

P ROTEST

UND

Ö FFENTLICHKEITSERZEUGUNG

Während Jürgen Habermas in seiner Abhandlung zum Öffentlichkeitsbegriff lediglich die Kommunikation in Salons und das Verfassen von Meinungen in Form von schriftlichen Artikeln, welche in Journalen publiziert werden, als Möglichkeit der Erzeugung von bürgerlicher Öffentlichkeit und somit prinzipiell als Protestmittel anspricht, Nancy Fraser nur die Gründung von eigenen Zeitungen bei der Abhandlung der alternativen Öffentlichkeit erwähnt und auch Jacques Rancière mit dem Beispiel eines Streiks nur einen Weg der Konstitution von konkurrierender Öffentlichkeit aufzeigt, haben Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt ein differenzierteres Modell zur Herstellung von Öffentlichkeit erarbeitet, welches sich auch auf die Herstellung von Gegenöffentlichkeit übertragen lässt. Sie unterscheiden hier drei Interaktionsebenen,27 auf welchen Öffentlichkeit konstituiert werden kann:

26

Ebd., S.8.

27

Vgl. hierzu und im Folgenden Gerhards, Jürgen und Friedhelm Neidhardt: Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit: Fragestellungen und Ansätze. In: Stefan Müller-Doohm und Klaus Neumann-Braun (Hg.): Öffentlich-

ÖFFENTLICHKEIT – PROTEST – THEATRALES HANDELN | 49

Als die elementarste Form betrachten Gerhards und Neidhardt die Encounter-Ebene, bei der Menschen zu unterschiedlichsten Gelegenheiten aufeinandertreffen und miteinander kommunizieren, so z.B. bei Gesprächen am Arbeitsplatz, an der Bushaltestelle oder in einer Kneipe. Die Begegnungen auf dieser Ebene erfolgen mehr oder weniger zufällig, sind thematisch fluktuierend und relativ strukturlos. Die nächsthöhere Stufe bildet die Versammlungsebene, bei der es sich um thematisch zentrierte und von bestimmten Veranstaltern – Personen, Gruppen oder Organisationen – geplante Interaktionen wie Diskussionsveranstaltungen oder Vorträge handelt; die Teilnahme an ihnen setzt Themeninteresse voraus. Hier, wie auch auf der Encounter-Ebene, findet die Interaktion zwischen körperlich Anwesenden statt, d.h. die Akteure und das Publikum befinden sich an einem gemeinsamen Ort und können unmittelbar aufeinander reagieren. Die Anzahl derer, die an der Kommunikation teilnehmen, ist somit auf einen bestimmten Personenkreis von Anwesenden beschränkt; die Chance der Beeinflussung der öffentlichen Meinung ist somit im Vergleich zur Kommunikation auf der Ebene der Massenmedien relativ gering. Und diese ist es, die Gerhards und Neidhardt als die wirksamste Ebene der Konstitution von Öffentlichkeit konstatieren, da sie durch die technische Infrastruktur ermöglicht, eine breite Masse an Empfängern zu erreichen. So betonen sie: „Auch die auf den anderen Ebenen der Öffentlichkeit artikulierten Themen und Meinungen erreichen erst eine allgemeine Wahrnehmung, wenn sie von den Massenmedien aufgegriffen, berichtet und verstärkt werden [...].“28 Das Publikum wird somit, da es nicht körperlich präsent sein muss, abstrakter; statt einer Face-to-Face-Kommunikation dominiert hier die medial vermittelte Kommunikation. Die Massenmedien, die aus diesem Grund selbst als Akteure im Raum der Öffentlichkeit bezeichnet werden können, nehmen also wahrnehmbare Handlungen in diesem Raum auf und verarbeiten sie, wodurch die Handlungen selbst Popularität erlangen. Auch wenn diesen drei vorgestellten Formen der Öffentlichkeitsherstellung das Potenzial der von Rancière diskutierten Sicht- und Sagbarmachung innewohnt, da sich in allen dreien die Möglichkeit ergibt, einen Dissens zu artikulieren, lässt sich bei der Betrachtung des Umsturzprozesses in

keit Kultur Massenkommunikation. Beiträge zur Medien- und Kommunikationssoziologie. Oldenburg 1991, S. 31-89, 50ff. 28

Ebd., S. 55.

50 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

Polen feststellen, dass hier gerade die beiden von Gerhards und Neidhard zuerst genannten Ebenen eine wichtige Rolle spielten. Die EncounterEbene, die als die basalste Ebene vorgestellt worden ist, stellte den Beginn des Autonomisierungs- und somit des Herstellungsprozesses einer Gegenöffentlichkeit dar. Der Austausch oppositionell eingestellter Kräfte vollzog sich zunächst hier, in privaten Wohnungen, bei geheimen Treffen, bevor er auf die nächsthöhere Stufe, nämlich die Ebene der öffentlichen und organisierten Veranstaltung – die Versammlungsebene – in Form von Protesten wie Streiks, Demonstrationen, Kundgebungen etc. überging. Betrachten die beiden Soziologen die Proteste als eine Sonderform der Öffentlichkeitserzeugung, lässt sich für den polnischen Fall also konstatieren, dass erst ihre Aktivierung es opponierenden Kräften ermöglichte, sich eine eigene und zur offiziellen alternative Öffentlichkeit zu erkämpfen und so Aufmerksamkeit für die eigenen Belange und ihren Protest zu bekommen. Das Besondere an dieser Ebene der Öffentlichkeitsherstellung ist die unmittelbare und komprimierte Artikulation, die zwischen körperlich Anwesenden erfolgt. Ihre spezifische Handlungsform ist die direkte und kollektive Aktion, bei der eindeutige Meinungen zu einem Gegenstand geäußert werden können, wodurch sich eine Person oder Gruppe, die zuvor nicht identifizierbar war, bewusst mit der eigenen Stimme Hör- und mit dem eigenen Körper Sichtbarkeit verschaffen kann, wie Nancy Fraser und Jacques Rancière es fordern. Aus diesem Grund kann dieser Ebene die Eigenschaft des Theatralen zugesprochen werden. Denn der theatrale Charakter besteht, wie bereits in der Einleitung beschrieben, aus dem Aufführungspotenzial, welches sich dadurch auszeichnet, dass eine handelnde Person oder Gruppe sich ganz bewusst vor den Augen anderer präsentiert, dabei Zeichen produziert und mit diesen Bedeutungen evoziert und Wirkungen intendiert. Dieser Umstand ist meiner Ansicht nach auch bei der Ausübung von Protest festzuhalten. Denn diejenigen, die aufstehen, um Protest zu bekunden, werden in Form von bewusst ausgestellten Handlungen, die sie direkt mittels des eigenen Körpers, der eigenen Stimme und der eigenen Kreativität produzieren, vor Personen, die ihnen dabei zuschauen, zu politischen Subjekten und somit zu Akteuren, die vor einem Publikum bewusst agieren. In der Folge dieser Einschreibung in den Raum des Sinnlichen, um auf Polen der 1980er Jahre zurückzukommen, wurde zunächst zum einen die Aufmerksamkeit ausländischer Zeitungen und Fernseh- und Radiostatio-

ÖFFENTLICHKEIT – PROTEST – THEATRALES HANDELN | 51

nen, die über die Ereignisse in Polen berichteten und somit auf die PZPR und ihre Öffentlichkeitskontrolle Druck auszuüben vermochten, bewirkt. Zum anderen wurde in einem längeren und komplizierten Entwicklungsprozess von zehn Jahren das Zustandekommen eines uneingeschränkt freien Zugangs zu den Massenmedien, die selbständige Arbeit von Journalisten und damit die Entwicklung einer Öffentlichkeit im demokratischen Sinne in Polen selbst ermöglicht. Im Folgenden soll daher der Frage nachgegangen werden, wie es den opponierenden Kräften in Polen mit Hilfe theatraler Mittel gelang, sich Sicht- und Hör- bzw. Sagbarkeit zu verschaffen und somit eine konkurrierende Öffentlichkeit herzustellen. In einem ersten Schritt wird zunächst die Öffentlichkeitspraxis im kommunistischen Polen betrachtet, um die Rahmenbedingungen der Protestaktionen besser nachvollziehen zu können. Im Anschluss daran wird anhand des Danziger Auguststreiks von 1980 dargelegt, welch wichtige Rolle Theatralität im Prozess der Herstellung von Gegenöffentlichkeit spielte. Resümee Aus dem Dargelegten kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass Öffentlichkeit als Kommunikationsraum immer von dem Spannungsfeld der Auseinandersetzung und Verhandlung um Sicht- und Hörbarkeit betrachtet werden kann, und dass nicht nur innerhalb von Gesellschaften, welche von diktatorischen Strukturen beherrscht sind, sondern auch in denjenigen, die demokratisch aufgebaut sind. Protestakte spielen hierbei eine bedeutende Rolle im Zusammenhang mit der Erzeugung von Gegenöffentlichkeit, also Räumen der Artikulation von Meinungen, die in der vorherrschenden Öffentlichkeit unterdrückt bzw. bewusst ignoriert werden. Hierbei sind Versammlungen von Menschen bzw. Gruppen mit ähnlichen Ansichten und Zielen in Form von Streiks, Demonstrationen, Manifestationen oder Happenings als eine direkte Artikulation von Standpunkten von körperlich Anwesenden vor körperlich Anwesenden besonders hervorzuheben, da sie sich durch ihren theatralen Charakter von den anderen Möglichkeiten der Öffentlichkeitsherstellung abheben und über das von Rancière besprochene Potenzial einer politischen Subjektivierung in besonderer Weise verfügen. Insbesondere für den politischen Umbruch in Polen dürfen sie nicht außer Acht gelassen werden.

Theatrale Strategien zur Öffentlichkeitserzeugung

Wir hatten schon über 1000 Leute zusammen. Die Menschenmasse war dermaßen angewachsen, dass wir nicht mehr das Ende unserer Marschkolonne sehen konnten. [...] Die Leute krochen aus den Laderäumen, von den Schiffen. Jerzy Borowczak, Streikender aus Danzig1

Bereits im antiken Griechenland vollzogen Akteure, die ihre Ideen nach außen vertreten wollten, Aktionen, die Blicke auf sich zogen. So war beispielsweise der Philosoph Diogenes dafür berühmt, dass er die Kritik an seinen Zeitgenossen in Form Aufsehen erregender Handlungen im öffentlichen Raum präsentierte. Er soll sich z.B. mitten am Tag mit einer Laterne auf dem Marktplatz in Athen auf die Suche nach einem Menschen begeben haben, indem er einigen Athenern ins Gesicht geleuchtet und anschließend den Kopf geschüttelt haben soll, da seiner Meinung nach keiner von ihnen dem von ihm gesuchten Profil eines Menschen entsprach. Auch soll er aus Protest gegen den dekadenten Lebensstil seiner Mitmenschen in einem leeren Fass gelebt haben, um seine eigene Genügsamkeit zu demonstrieren.2

1

Tage der Solidarität. Hg. von Stiftung KARTA. Warszawa 2005, S. 6.

2

Vgl. hierzu Goulet-Cazé, Marie-Odile: Diogenes von Sinope. In: Hubert Cancik und Helmut Schneider (Hg.): Der neue Pauly. Bd. 3. Stuttgart 1997, S. 598-600.

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Im Sinne der bereits dargelegten Begriffsbeschreibung des Theatralen können solche Aktionen als Aufführungen begriffen werden. Die exponierte Handlung des Philosophen, sein Körper und diverse Hilfsgegenstände stehen hier im Mittelpunkt und lenken die Blicke anderer auf sich, wodurch Interesse geweckt, zu Interpretationen angeregt und Öffentlichkeit erzeugt wird. Während in heutigen demokratischen Gesellschaften jeder Akteur die Möglichkeit besitzt, für seine Belange öffentlich einzutreten und durch die modernen Massenmedien einen großen Adressatenkreis zu erreichen, war für die polnische Bevölkerung in der Ära des Kommunismus eine solche Möglichkeit mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Die Massenmedien unterlagen der Regimekontrolle. Aus diesem Grund nahm die Herstellung theatraler Ereignisse für die Äußerung von Protest in Polen und die politische Wende des Jahres 1989 eine sehr wichtige Bedeutung ein, denn durch diese konnte – ohne Hilfe von Massenmedien – unmittelbar Öffentlichkeit hergestellt werden. Der Anfang des erfolgreichen und somit verstärkten Gebrauchs solchen theatralen Handelns ist während des Auguststreiks 1980 auszumachen. Hier etablierten die Streikenden und ihre Helfer Bühnenräume, auf denen sie bewusste Handlungen vollzogen, um sich – um mit Rancière zu sprechen – in den Raum der Sinnlichkeit einzuschreiben. Im Folgenden sollen einige wichtige Beispiele der Bühnenkonstitution und des Handlungsvollzugs analysiert, und ihre Funktionsweisen sowie ihr Nutzen näher betrachtet werden. Zunächst wird aber auf die Funktionsmechanismen der polnischen Massenmedien eingegangen, die nach Gerhards und Neidhard schließlich zur wichtigsten Möglichkeit der Öffentlichkeitserzeugung gehören.3 Im Anschluss daran wird anhand einer Analyse der Rezeption des Streiks in den Massenmedien dargelegt, wieso und auf welche Weise die Streikenden schließlich auf theatrale Mittel zurückgriffen, um eine Gegenöffentlichkeit zu erzeugen.

3

Siehe Kapitel „Protest und Öffentlichkeitserzeugung“.

THEATRALE STRATEGIEN ZUR ÖFFENTLICHKEITSERZEUGUNG

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Ö FFENTLICHKEIT IM KOMMUNISTISCHEN P OLEN UND DER D ANZIGER A UGUSTSTREIK Macht der Zensur Schon in den ersten Jahren nach dem 2. Weltkrieg wurden die Massenmedien in Polen schrittweise nach dem Vorbild des bereits in der UdSSR existierenden Systems der gelenkten und kontrollierten Medien gestaltet; sie unterlagen bis 1990 der Parteikontrolle. So schreibt Tomasz Goban-Klas: „Because the Polish political system had to be a clone of ,Big Brother’s‘ political structure, the mass media could not be an exception. The media was standardized and Sovietized.“4 In kommunistischen Gesellschaften nach sowjetischem Vorbild waren die Massenmedien so konzipiert, dass sie die Werte und Vorstellungen des Regimes an die Gesellschaft zu transportieren hatten, mit dem Ziel, die öffentliche Meinung zu lenken.5 Folglich waren auch die Medien in Polen durch die PZPR zentralgesteuert und hatten der Partei als ein wichtiges Propagandainstrument zu dienen.6 So musste z.B. der Chefredakteur der Trybuna Ludu (dt. Tribüne des Volkes), des wichtigsten Publikationsorgans und Sprachrohrs der Partei, Mitglied des Zentralkomitees der PZPR sein.7 Auch waren – seit dem Aufkommen des Massenmediums Fernsehen – nicht nur alle wichtigen Funktionspositionen im TV-Bereich Mitgliedern der Partei vorbehalten, sondern selbst jede

4

Goban-Klas, Tomasz: Stalinism and the Press. Soviet Patterns and Polish Variations. In: Eduard Mühle (Hg.): Vom Instrument der Partei zur „Vierten Gewalt“. Die ostmitteleuropäische Presse als zeithistorische Quelle. Marburg 1997, S. 13-24, 18.

5

Vgl. Rittersporn, Gábor T., Jan C. Behrends und Malte Rolf: Öffentliche Räume und Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs. In: Dies. (Hg.): Sphären von Öffentlichkeiten in Gesellschaften sowjetischen Typs. Zwischen partei-staatlicher Selbstinszenierung und kirchlichen Gegenwelten. Frankfurt a. M. 2003, S. 7-21, 14.

6

Vgl. Kamiński, Łukasz: Stuktury propagandy w PRL. In: Piotr Semków (Hg.):

7

Vgl. Pepliński, Wiktor: Censura jako instrument propagandy PRL. In: Sem-

Propaganda w PRL. Wybrane problemy. Gdańsk 2004, S. 10-13. ków 2004, S. 14-21,18.

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Ausgabe der Abendnachrichten stand unter der persönlichen Aufsicht des für Propaganda verantwortlichen Sekretärs des Zentralkomitees.8 Zu Zwecken der Zensur und der Homogenisierung der Medienlandschaft wurde bereits 1946 das Hauptamt für Kontrolle der Presse, der Publikationen und der öffentlichen Veranstaltungen (pl. Główny Urząd Kontroli Prasy, Publikacji i Widowisk, kurz GUKPPiW) errichtet. Dieses formulierte die Direktiven der PZPR als Richtlinien für die jeweiligen ihm untergeordneten Sparten. In seiner Anfangsphase hatte das GUKPPiW vor allem dafür zu sorgen, die Machtübernahme der kommunistischen Partei zu legitimieren, während es später mehr dem Propagandabereich diente.9 Auszüge aus geheimen Dienstanweisungen, die 1977 der Krakauer Zensor Tomasz Strzyżewski bei seiner Flucht nach Schweden aus dem Land geschmuggelt hatte, ermöglichen einen guten Einblick in die Tätigkeit dieser Behörde. Diese Dokumente aus den Jahren 1974 bis 1977 wurden im Untergrund unter dem Titel Czarna Księga Cenzury PRL (dt. Schwarzes Buch der Zensur der Volksrepublik Polen)10 in zwei Bänden herausgegeben. Darin wird deutlich, dass die Zensoren genaueste Anweisungen erhielten, was öffentlich gesagt und was nicht gesagt werden durfte. So war es beispielsweise verboten, über den Export von Fleisch in die Sowjetunion zu informieren,11 über den in der Bevölkerung schon längst gemunkelt wurde, oder über den Re-Export von Kaffee – einer begehrten Mangelware auf dem damaligen polnischen Markt – zu berichten.12 Ebenso wurde genauestens aufgelistet, über welche Personen auf welche Art und Weise Bericht erstattet werden durfte. So heißt es im Schwarzen Buch bezüglich bekannter oppositionell eingestellter Intellektueller: Zu unterbinden ist in der Presse, im Funk und im Fernsehen das Hervorheben sowie positive Betonen wissenschaftlicher Leistung folgender Personen: Bronisław Baczko

8

Vgl. Paczkowski 1997, S. 39.

9

Vgl. Pepliński 2004, S. 15.

10

Czarna księga cenzury PRL, Bd. 1/2. London 1977/1978. Ins Deutsche übersetzte Auszüge aus dem ersten Band sind unter dem Titel „Kein Wort über den Kaffee-Konsum“ zu finden in: Der Spiegel 6/1978, S. 116-125.

11

Vgl. ebd., Bd. 1, S. 38.

12

Vgl. ebd.

THEATRALE STRATEGIEN ZUR ÖFFENTLICHKEITSERZEUGUNG

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Włodzimierz Brus Leszek Kołakowski Krzysztof Pomian Freigegeben werden dürfen hingegen kurze Informationen zum Thema der von ihnen veröffentlichten Arbeiten sowie alle Materialien, die gegen diese Veröffentlichungen polemisieren.13

Selbstverständlich waren abweichende Meinungen, oppositionelle Einstellungen und jegliche Kritik an Entscheidungen der Partei in der Berichterstattung untersagt. Exemplarisch dafür sei hier eine Anweisung bezüglich der Schließung eines Theaters in Puławy genannt, das in der Theaterlandschaft Polens damals künstlerisch kaum Bedeutung hatte: Es ist nicht gestattet, Polemiken oder Diskussionen im Zusammenhang mit der Schließung des Experimentellen Theaters in Puławy zuzulassen, in dessen Arbeit ernstzunehmende Unregelmäßigkeiten festgestellt wurden (u.a. die Zusammenarbeit mit dem Klerus, Missachtung von Zensureinwänden seitens seiner Leitung).14

Für den Fall, dass ein Werk eines in Ungnade gefallenen Autors oder Regisseurs aus innen- oder außenpolitischen Gründen erscheinen durfte, waren ebenfalls Maßnahmen vorgesehen. So durfte beispielsweise, um den Schaden in Grenzen zu halten, das Werk nicht rezensiert werden, denn das hätte den Reiz seines Konsums nur erhöht. Als Andrzej Wajdas für den Oscar nominierter Film Ziemia obiecana (dt. Gelobtes Land) in einigen Kinos ausgestrahlt wurde, war es etwa untersagt, diesen zu besprechen.15 Auch die Berichterstattung bezüglich der Wahl von Kardinal Karol Wojtyła zum Papst oder die Zuerkennung des Friedensnobelpreises an Lech Wałęsa waren in diesem Sinne geregelt. So soll beispielsweise der Chefzensor die Presseanweisung gegeben haben, die Nachricht über die Ernennung Wojtyłas zum Papst – mit Ausnahme katholischer Blätter – in der Größe so unauffällig wie möglich ausfallen zu lassen.16 Trybuna Ludu hat sich ganz

13

Ebd., S. 53.

14

Ebd., S. 87.

15

Ebd., S.172f.

16

Vgl. Bingen, Dieter: Polnische Zeitgeschichte als Forschungsgegenstand – Zum Problem polnischer Massenmedien als zeitgeschichtlicher Quelle. In:

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besonders an die Anweisung gehalten und zu diesem Ereignis lediglich einen kleinen Zweispalter ohne Bild veröffentlicht.17 In den Massenmedien sollte Harmonie zwischen den Regierenden und der Bevölkerung vermittelt, die Erfolge des Systems gepriesen sowie die Zufriedenheit und der Optimismus der Bürger in der Volksrepublik betont werden. Selbstverständlich wurden gleichzeitig alle Informationen eliminiert, die dieses Bild auch nur im Geringsten stören konnten.18 Ebenfalls sollten die Beziehungen Polens zur UdSSR stets in einem positiven Licht dargestellt werden. Es verwundert daher nicht, dass alle historischen Ereignisse, die die sowjetisch-polnische Freundschaft hätten stören können, tabuisiert wurden. Als ein solcher wunder und heikler Punkt der Geschichte der Volksrepublik erwies sich immer wieder die Erschießung polnischer Offiziere durch russische Soldaten während des Zweiten Weltkriegs in Katyń. Diese waren im September 1939 in sowjetische Gefangenschaft geraten und zwischen 1940 und Frühjahr 1941 erschossen und in Massengräbern im Waldgebiet von Katyń verscharrt worden. Das Gebiet wurde Anfang Juli 1941 von deutschen Truppen besetzt. Die Sowjetunion bestritt bis 1990 die Tat – schließlich sollte sie als der Retter Polens vor den Nazis in der Öffentlichkeit gerühmt werden – und machte das deutsche Militär für diese Tat verantwortlich. Dementsprechend lauten die Anweisungen im Schwarzen Buch wie folgt: 1. Es dürfen keine Versuche zugelassen werden, die Verantwortung für den Tod von polnischen Offizieren im Wald von Katyń der UdSSR zuzuschreiben. 2. In wissenschaftlichen Arbeiten, Memoiren, Biographien können Formulierungen zugelassen werden wie ‚von den Nazis in Katyń erschossen‘, ,starb in Katyń‘ [...]. Sollte bei Benutzung von Formulierungen wie ‚starb in Katyń‘ das Todesdatum angegeben werden, so ist dafür nur ein Zeitpunkt nach dem Juli 1941 zulässig. [...]19

Die Ausführung der Zensur war jedoch von der Stabilität des zentralen Apparates der PZPR, welcher nach Rancière als Polizei bezeichnet werden

Bernd Bonwetsch (Hg.): Zeitgeschichte Osteuropas als Methoden- und Forschungsproblem. Berlin 1984, S. 105-120, 117. 17

Siehe Trybuna Ludu vom 17.10.1978.

18

Vgl. Pepliński 2004, S. 15.

19

Czarna księga censury PRL, Bd.1, S. 170.

THEATRALE STRATEGIEN ZUR ÖFFENTLICHKEITSERZEUGUNG

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kann, abhängig: In Zeiten, in denen innerhalb der Partei Einigkeit und Beständigkeit herrschte, wurde die Kontrolle der Massenmedien wirksam durchgesetzt. In Krisenzeiten dagegen geriet das System ins Wanken. So setzte beispielsweise nach dem Tod Stalins 1953, ganz verstärkt aber nach dem Tod des Premiers Bolesław Bierut 1956, das so genannte Tauwetter in Polen ein. Innerhalb der Regierungsspitze kam es zunehmend zu Konflikten, was zu widersprüchlichen Direktiven an die jeweiligen Sparten und folglich zu Schwierigkeiten in der Zensurkontrolle führte.20 Dies ermöglichte einerseits den Journalisten, kritischere Töne als gewöhnlich von sich zu geben, andererseits konnten einige verbotene Zeitschriften, wie z.B. die katholische Wochenzeitung Tygodnik Powszechny, wieder erscheinen – allerdings als ein von oben kontrolliertes Medium. Nachdem Władysław Gomułka als Nachfolger Bieruts die Macht übernommen hatte, ließ er jedoch sehr schnell wieder die Zensur verstärken und einige neu entstandene Zeitschriften liquidieren.21 Die zweite größere Krise im Kontrollsystem der PZPR setzte Mitte der 1970er Jahre ein. Nach gewalttätigem Vorgehen der Regierung gegen die in Folge von Preiserhöhungen streikenden Arbeiter in Ursus und Radom wurde seitens engagierter und oppositionell eingestellter Intellektueller das KOR (Komitet Obrony Robotniczej, dt. Komitee zur Verteidigung von Arbeitern) gegründet.22 Ziel dieses Komitees war es, den angeklagten Arbeitern juristische, finanzielle und medizinische Hilfe zur Verfügung zu stellen und in der Öffentlichkeit über das ihnen widerfahrene Unrecht zu informieren. Zu diesen Zwecken wurden eigene Kommuniqués und Informationsbulletins herausgegeben. Nach dem Vorbild der Untergrundarbeit aus dem Zweiten Weltkrieg wurden zudem fliegende Schulen eingerichtet, in denen Interessierten, vor allem aus dem Arbeitermilieu, tabuisiertes Wissen aus den Bereichen Geschichte, Literatur oder auch Recht vermittelt werden sollte. 1977 wurde das KOR in KSS KOR umbenannt, wobei die Abkürzung KSS für das Komitee zur gesellschaftlichen Selbstverteidigung (pl. Komitet Samoobrony Społecznej) steht. Das Ziel bestand nun darin, wie dem Namen zu entnehmen ist, die Tätigkeit auf breitere gesellschaftliche Schichten auszudehnen. In diesem Zuge wurde die Untergrundzeitschrift

20

Vgl. Paczkowski 1997, S. 33.

21

Vgl. ebd., S. 34f.

22

Vgl. hierzu z.B. Kühn 1999, S. 81.

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Robotnik (dt. Arbeiter) gegründet. Neben diesem Komitee etablierten sich in den Folgejahren bis 1980 auch andere für den Wandel wichtige Oppositionsgruppen wie z.B. Wolne Związki Zawodowe (dt. Unabhängige Gewerkschaften) – aus welchen während der Auguststreiks die Solidarność hervorging – oder ROPCiO (Ruch Obrony Praw Człowieka i Obywatela, dt. Bewegung zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte), die jeweils mit eigenen illegalen Publikationen im so genannten „zweiten Umlauf“23 auftraten. Neben diesen gesellschaftskritisch ausgerichteten Veröffentlichungen wurden in dieser Zeit auch Untergrundverlage wie Zapis oder Puls gegründet, die in Polen verbotene Bücher verlegten. Das Ziel aller im Untergrund erschienenen Publikationen bestand darin, das Informationsmonopol des Staates zu brechen und seine Propagandamethoden zu demaskieren. Folglich sollten nicht nur öffentlich verschwiegene Informationen über den Zustand der Gesellschaft publik gemacht und Rechtsbrechungen angezeigt, sondern auch über die so genannten „weißen Flecken“ der Geschichte aufgeklärt werden. Dies betraf z.B. die Toten von Katyń.24 Der Einfluss und die Popularität dieser Schriften aus dem Untergrund waren jedoch sehr begrenzt, da sie zumeist nur in einer kleinen Auflage gedruckt werden konnten und vor allem lediglich einen kleinen Kreis aus dem Akademikermilieu und vereinzelte Arbeiter erreichten.25 Eine breitere Gegenöffentlichkeit vermochten sie also nicht zu errichten. Aus dem gerade Dargelegten wird einerseits deutlich, dass der Journalist in der Volksrepublik Polen seine traditionelle Funktion als Fachmann für die Aufarbeitung kritischer Informationen und Kommentare verlor und – wie Andrzej Paczkowski betont – als „Mitarbeiter der ersten ideologi-

23

Der „zweite Umlauf“ steht als Begriff für die in der Volksrepublik Polen ohne Zustimmung des Zensurapparates gedruckten und inoffiziell verbreiteten Publikationen, wozu Bücher, Zeitschriften, Flugblätter etc. gehören. Siehe hierzu Błażejewska, Justyna: Papierowa rewolucja. Z dziejów drugiego objegu wydawniczego w Polsce 1976-1989/1990. Warszawa 2010.

24

Vgl. Garsztecki, Stefan: Korrektive zu den zentralgelenkten Medien sozialistischer Gesellschaften: Das polnische Beispiel. In: Mühle 1997, S. 47-61, 53f.

25

Vgl. ebd., S. 54. Außerdem bestätigen dies sowohl Krzysztof Wyszkowski als auch Zenon Kwoka in den von mir mit ihnen durchgeführten Interviews im März 2009.

THEATRALE STRATEGIEN ZUR ÖFFENTLICHKEITSERZEUGUNG

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schen Frontlinie“26 neu definiert wurde. Er hatte, wie auch Janina Słuszniak aus eigener journalistischer Erfahrung heraus hervorhebt, das zu schreiben, was von oben vorgegeben wurde.27Andererseits stellt die vorgestellte Praxis im Gebrauch der Massenmedien einen der Mechanismen dar, die Teilnahme am Sicht- und Sagbarkeitsraum der Öffentlichkeit für den Bürger massiv einzuschränken und ihn somit im Rancièreschen Sinne sprachlos zu machen. Zum einen hatte er in dieser Zeit nur Zugang zu Informationen, die von oben freigegeben wurden. Zum anderen bestand für den Bürger in diesem System keine Möglichkeit, seine eigene Meinung, Position oder gar Kritik auszusprechen. So ist es nachvollziehbar, dass in Polen das Lesen von Tageszeitungen in der breiten Bevölkerung nicht populär war und vorwiegend von Parteizugehörigen praktiziert wurde. Die Öffentlichkeit im kommunistischen Polen war somit eine kontrollierte und von oben gesteuerte. Erst die Auguststreiks 1980 förderten die Entwicklung einer konkurrierenden Öffentlichkeit, die der herrschenden richtig gefährlich wurde. Sie waren das Ereignis, das die Schicht der Arbeiter, die in Polen in der kontrollierten Öffentlichkeit am wenigsten gehört und gesehen werden konnte, vernehmbar werden ließ. Der Auguststreik und die polnischen Massenmedien Die Organisatoren des Streiks in Danzig ahnten sicherlich aus der Kenntnis der polnischen Medienpraxis heraus, dass ihre Anliegen in den landeseigenen Medien kein Gehör finden würden. Zugleich wussten sie erfahrungsgemäß auch, dass die Berichterstattung – falls sie überhaupt stattfinden sollte – nicht auf Fakten, sondern dem Parteiapparat dienenden und somit verfälschten Nachrichten beruhen würde.28 In der Tat verhielt es sich so. In der Trybuna Ludu vom 16./17. August 1980 findet sich lediglich ein kurzer Vermerk, dass in Danzig Arbeitsniederlegungen stattgefunden haben. Hintergrundinformationen, d.h. aus welchem Grund gestreikt werde, welche Forderungen verlangt würden, wer hinter dem Streik stehe etc., sucht man in dieser und auch in den folgenden Ausgaben vergeblich. Erst in der Aus-

26

Paczkowski 1997, S. 31.

27

Vgl. Kto tu wpuścił dziennikarzy. Warszawa 2005, S. 290.

28

Interview mit Krzysztof Wyszkowski vom März 2009.

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gabe vom 20. August wird kurz und defizitär auf die Forderungen in einem einzigen Satz eingegangen: „Der Hauptteil der präsentierten Forderungen betrifft Lohnprobleme, die steigenden Kosten der Familienversorgung, Schwierigkeiten in Bezug auf den Familientag, unzureichende Lebensmittelversorgung.“29 Auch in den übrigen Massenmedien zeichnet sich ein ähnlicher Umgang mit dem Streik ab, wobei insgesamt festgestellt werden kann, dass der Begriff „Streik“ vermieden und stattdessen von „Arbeitsniederlegungen“gesprochen wird.30 Auffallend ist, dass in allen Beiträgen der Massenmedien wiederkehrende Muster auftreten. So verwies Ministerpräsident Edward Babiuch in seiner Fernsehansprache vom 15. August auf die feindlichen Kräfte, die gewillt seien, der Volksrepublik Polen Schaden zuzufügen: Feinde der Volksrepublik Polen versuchen die angespannte und emotional aufgeladene Atmosphäre für ihre politischen Ziele auszunützen, indem sie den Streikenden Parolen und Postulate unterjubeln, die nichts mit den Bestrebungen der Arbeiterklas31

se gemein haben und zudem den Nationalinteressen widersprechen.

Näher definiert werden die „feindlichen Kräfte“ in der Ansprache von Parteichef Edward Gierek vom 18. August, und zwar als verantwortungslose Anhänger anarchistischer und antisozialistischer Gruppierungen.32 So wird beispielsweise die erste Forderung der Streikenden, die Zulassung freier und von der Partei sowie den Betriebsleitungen unabhängiger Gewerk-

29

Trybuna Ludu vom 20.08.1980.

30

Das hängt wohl damit zusammen, dass der Streik für Marx und Engels als ein Mittel zur Behauptung der Arbeiterklasse und ihrer Interessen im Kapitalismus diente und zur Vorbereitung auf die Emanzipation der Arbeiterklasse gesehen wurde. In einem sozialistischen Staat, in dem der Arbeiter theoretisch über diese Emanzipation verfügte, war es für die Machthaber somit nicht angebracht, über einen Streik zu sprechen, da sie damit Fehler im System zugeben würden. Zum „Begriff“ Streik vgl. Lösche, Peter: Streik. In: Dieter Nohlen und Florian Grotz (Hg.): Kleines Lexikon der Politik. Bonn 2008, S. 558-559.

31

Trybuna Ludu vom 16./17.08.1980. Die gesamte Rede Babiuchs wurde in die-

32

Vgl. Ausschnitte der Rede in: Polityka vom 23.08.1980.

ser Ausgabe abgedruckt.

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schaften, als Akt oppositionellen und staatsfeindlichen Handelns kommentiert. In Trybuna Ludu heißt es: Das Postulat zur Errichtung der so genannten freien Gewerkschaften rührt im Grunde nicht aus der Sorge über eine bessere Interessenvertretung der Arbeiter her. Es wird vielmehr von opponierenden Aktivisten verlangt, die bestrebt sind, im Rahmen einer solchen Organisation ihre politische Tätigkeit gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung zu entwickeln.33

Zudem wird in der Berichterstattung immer wieder betont, welch hohen finanziellen Verluste die Volksrepublik aufgrund der Arbeitsniederlegungen zu erleiden habe. In einem Zug wird zwar zugegeben, dass die wirtschaftliche Lage Polens bereits in Schwierigkeiten stecke, doch gleichzeitig betont, dass die Streiks diese nur verschlimmerten. So sind Aussagen wie „Denn nur die Arbeit gebiert Brot. Nur eine in Ordnung und Frieden verrichtete Arbeit [...]“34 keine Seltenheit. Immer wieder wird zudem versucht, nach außen das Gefühl zu vermitteln, dass die Bevölkerung die Streiks satt habe, da diese dem Wohl des Landes Schaden zufügen. So druckte Trybuna Ludu – wohl um den Eindruck zu erwecken, dass die Mehrheit der polnischen Bevölkerung an die Streikenden die gleiche Bitte herantrage wie die Partei – selbst noch in der Ausgabe vom 30./31. August, also kurz vor dem Danziger Übereinkommen, negative Stimmen zu den Arbeitsniederlegungen ab, wie die eines Arbeiters aus Opeln: „Wir alle sehnen uns nach der Normalisierung der Situation und einem geregelten Arbeitsrhythmus im ganzen Land. Die Verlängerung der Streiks bewirkt nichts Gutes.“35 Solche Stellungnahmen wurden nicht nur in der Zeitung abgedruckt, sondern waren auch im Radio zu hören und im TV zu sehen.36 Dass Aussagen dieser Art fingiert waren, liegt aufgrund der Praxis der damaligen Massenmedien auf der Hand.37

33

Trybuna Ludu vom 22.08.1980.

34

Trybuna Ludu vom 31./31.08.1980.

35

Ebd.

36

Interview mit Krzysztof Wyszkowski vom März 2009.

37

In seinem Spielfilm Człowiek z żelaza (dt. Der Mann aus Eisen) von 1981, das dokumentarisches Filmmaterial integriert, demonstriert Andrzej Wajda in einer Szene ein Beispiel solcher Praktiken. Hier zeigt er, wie der Fernsehjourna-

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Doch wurde nicht nur anhand solcher Argumentationsmuster versucht, Ruhe im Land zu schaffen. Es wurden seitens der Regierung auch Fehler eingeräumt, um guten Willen und Bemühungen um Verbesserung zu signalisieren. So gab Gierek in seiner bereits erwähnten Ansprache an das Volk zu, dass die Partei auch über Schwächen verfüge und es in der Vergangenheit kleine Rückschritte gegeben habe, dass aber im Großen und Ganzen der Partei nichts mehr als das Wohl Polens am Herzen liege.38 So wurden immer wieder die Bereitschaft zum Dialog und die Bemühungen, auf die Forderung der Arbeiterklasse einzugehen, betont. Es wurde jedoch auch darauf hingewiesen, dass die Regierung in ihrem Handeln realistisch bleiben müsse, und dass es nur zum Wohle des Staates sei, keine falschen und leeren Versprechungen zu machen. So schreibt Mieczysław Rakowski, der Chefredakteur der Polityka, in seinem Artikel „Ludzie i Polityka“ (dt. „Menschen und Politik“): Unsere Aufgabe besteht nicht nur darin, populäre Wahrheiten auszusprechen, die Applaus ernten. Die gesellschaftliche Verantwortung befiehlt uns, auch unangenehme Sachverhalte zu thematisieren, wenn sie in unseren Augen richtig und nötig sind.39

In der Berichterstattung der Massenmedien wurde also nur die Stimme der Regierenden hörbar gemacht, wurden nur die Ansprachen der Parteifunktionäre und die von oben diktierten Meinungen in die Öffentlichkeit hineingetragen. Die Streikenden selbst kamen in der Berichterstattung nicht zu Wort, ihre Postulate wurden nur defizitär wiedergegeben und somit wurde auch deren Wahrnehmung in der herrschenden Öffentlichkeit verhindert. In diesem Sinn ist auch die Erklärung des Überbetrieblichen Streikkomitees zu verstehen, die in einem während des Streiks gegründeten Informationsblatt veröffentlicht wurde und darauf verweis, dass die Arbeiter nicht mehr bereit waren, die herrschenden Praktiken zu tolerieren:

list Winkel mit Schauspielerinnen Texte einübt, die im Namen polnischer Mütter und Frauen die Streikenden dazu auffordern, den Streik zu beenden. 38

Vgl. Polityka vom 23.08.1980.

39

Ebd.

THEATRALE STRATEGIEN ZUR ÖFFENTLICHKEITSERZEUGUNG

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Wir möchten darauf hinweisen, dass die verlogene Darstellung der Lage im Küstengebiet sowie der Absichten der streikenden Arbeiter jetzt auch die letzten Reste des Vertrauens in die zensierte Presse, den Rundfunk und das Fernsehen verschwinden lassen und ganz gewiss nicht zur Beruhigung der Stimmung in der Bevölkerung beitragen. Wir fordern, alle Polen umfassend und wahrheitsgetreu von unseren Postulaten in Kenntnis zu setzen.40

Das Misstrauen unter den Streikenden gegenüber den polnischen Massenmedien und ihren Journalisten war dementsprechend sehr groß. Die Arbeiter versuchten, sich gegenüber der ungenügenden und verlogenen Berichterstattung auf ihre Art und Weise zu schützen, indem sie z.B. nicht allen Journalisten Einlass in die Werft gewährten. Davon zeugt eine Aussage des Fernsehjournalisten Ireneusz Engler: [...] ich kam vom Fernsehen, das noch am selben Tag ein Interview Andrzej Kozeras mit Frauen, die den Streik missbilligten, ausstrahlte. Ich musste lange erklären, dass ich nicht an der laufenden Propaganda interessiert bin, sondern am Festhalten der Wirklichkeit; dass das, was hier vor sich geht, große Chancen hat, im TV zu erscheinen, wenn sie gewinnen. Ich hörte nur: ,Aber über Dezember [1970] hat man auch Filme gemacht, die heute in Polizei- und ZK-Archiven verschlossen sind. Man hat sie nur dazu benutzt, um diejenigen zu identifizieren, die am Streik teilgenommen haben.‘ Ich: ,Meine Herren, seitdem sind zehn Jahre vergangen. Westliche Reporterteams sind da, in den Westzeitungen wurden auf Titelseiten Fotoreportagen über den Streik gedruckt, in den westlichen Fernsehnachrichten wird ausführlich über sie Bericht erstattet. Selbst im australischen Busch kennt man schon Wałęsa. Es ist komisch, dass Sie sich solcher Argumente bedienen. Wenn Sie sich davon überzeugen wollen, dass ich ehrlich handle, dann nehmen Sie mir einfach meine Filmkassetten weg, und geben mir diese erst wieder, nachdem der Streik siegreich verlaufen ist.‘ Darauf sagte Gwiazda: ,Das ist eine Idee.‘ [...] Das war ein Risiko für mich.41

Aus dem Zitat geht hervor, dass die Streikenden aufgrund der Erfahrungen des Jahres 1970 Angst hatten, die Journalisten würden im Auftrag der Regierung arbeiten und hätten vielmehr das Interesse, ihre Gesichter für eine

40

Strajkowy Biuletyn Informacyjny Solidarność vom 23.08.1980.

41

Kto tu wpuścił dziennikarzy, S. 92f.

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spätere Identifikation auf Filmen und Fotografien festzuhalten, als über die tatsächlichen Ereignisse auf der Werft zu berichten. Aus diesem Grund versuchten sie, sich selbst zu schützen. Sehr bewusst hält Engler aus diesem Grund in seinem Film eine Szene fest, in der die Arbeiter ihre Einstellung dem lügenden Fernsehen gegenüber ausdrücken: Die ganze Zeit über hat die Zentralpropaganda Nachrichten wie von einem anderen Stern ausgestrahlt. In meinem Film habe ich das folgende Bild aufgenommen: In dem Saal, in dem sich die Delegierten der verschiedenen streikenden Betriebe aufgehalten haben, ist auf dem Rednerpult ein Fernseher aufgestellt worden. Kläglich hingen alle zuvor ausgesteckten Stecker und Kabel hinunter. Eine Fernseh-Attrappe, die niemand mehr nutzte. Das war für mich ein Symbol. Denn die Arbeiter kümmerte es nicht mehr, was die Zentrale sprach.42

Zudem zeigte sich, dass diejenigen Journalisten, denen der Zutritt in die Werft gewährt wurde und die das, was sich dort ereignete, in ihren Reportagen wahrheitsgemäß festhalten wollten, vom System ausgebremst wurden. Entweder wurden ihre Beiträge nicht publiziert, wie beispielsweise im Fall des Polityka-Redakteurs Lech Stefański: „Den ersten Beitrag vom Streik habe ich der Redaktion bereits am 19. August übergeben. Er endete mit der Messe und dem Aufstellen des Eichenkreuzes. Er erschien nicht.“43 Oder es wurden andere Maßnahmen ergriffen, wie das gezielte Einsetzen von technischen Störungen, um die Kommunikation mit Danzig und somit auch die Berichterstattung zu erschweren. Tadeusz Knade erinnert sich diesbezüglich: Leider hat sich herausgestellt, dass ich von der Warschauer Redaktion abgeschnitten war. Faxgeräte und Telefonapparate funktionierten nicht. [...] Als Journalist war ich vollkommen hilflos. Das unverschämte Abschalten der Fax- und Telefongeräte war ein Faustschlag ins Gesicht für das Journalistenmilieu. Das war mangelndes Vertrauen in alle. Man hat uns wie ein Ding und nicht wie eine Person behandelt.44

42

Ebd., S. 145.

43

Ebd., S. 75f.

44

Ebd., S. 71.

THEATRALE STRATEGIEN ZUR ÖFFENTLICHKEITSERZEUGUNG

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So ist es verständlich, dass im fünften Postulat der Streikenden gefordert wurde, dass in den Massenmedien die Informationen über die Gründung des Überbetrieblichen Streikkomitees sowie seine Postulate weitergegeben werden.45 Zudem wurde in einer weiteren Forderung dafür gekämpft, dass Informationsfreiheit sowie ein freier Zugang zu Massenmedien allen Polen garantiert werde. Dementsprechend lautete das dritte Postulat: Einhaltung der von der Verfassung der Volksrepublik Polen garantierten Freiheit des Wortes, des Druckes und der Publikationen, d.h. keine Unterdrückung unabhängiger Zeitschriften und Zugang von Vertretern aller Glaubensbekenntnisse zu den Massenmedien.46

Aus dem Herausgearbeiteten wird einmal mehr deutlich, auf welche Weise das kommunistische Regime den Bereich der Öffentlichkeit mittels Massenmedien für sich beanspruchte und mit welchen Methoden es die Teilnahme anderer Gruppen an der sinnlichen Sphäre zu verhindern suchte. Im Folgenden soll daher der Frage nachgegangen werden, mit welchen theatralen Mitteln es den Streikenden trotzdem gelang, sich Sicht- und Hörbarkeit zu verschaffen und somit eine Gegenöffentlichkeit herzustellen.

E TABLIERUNG

VON

B ÜHNENRÄUMEN

Ich fuhr mit der Straßenbahn zum Streik. […] Mir gingen verschiedene Gedanken durch den Kopf. Warum nahm man mich nicht fest? Ich sah sie in der Nähe, die typischen Herren in Zivil. Sie hätten mich unter jedem beliebigen Vorwand verhaften können. Die Werft stand schon seit 6 Uhr morgens still. Jetzt, um 8 Uhr, mussten sie längst Bescheid wissen. […] Vor der Werft stieg ich aus und schritt auf das Werfttor zu. […] Am Tor II drängte sich schon eine aufgebrachte Menge, aber am Eingang wurde noch immer genau kontrolliert. Ich hatte schon seit Jahren Hausverbot auf dem Werftgelände. Also bog ich nach rechts ab und gelangte durch einen schmalen Durchgang zwischen dem ersten und dem zweiten Werfttor zur Mauer. Ich sprang hinüber.47

45

Vgl. Kühn 1999, S. 30.

46

Zitiert nach ebd.

47

Wałęsa, Lech: Ein Weg der Hoffnung. Wien/Hamburg 1987, S.160-163.

68 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

Während Lech Wałesa, von dem das hier angeführte Zitat stammt, über die Mauer kletterte,48 forderte der Betriebsdirektor der Werft, Klemens Gniech, die streikenden Arbeiter auf, zurück an die Arbeit zu gehen, und versprach ihnen, sich um Verhandlungen zwischen der Betriebsleitung und den Vertretern der Arbeiter zu kümmern. Er stand vor ihnen auf einem Schaufelbagger. Diesen hatten die Initiatoren des Streiks an diesem Tag zur Bühne auserkoren, um ihren Mitarbeitern den Streikverlauf zu verkünden und Streikvertreter auszuwählen. Als Gniech zu den Streikenden sprechen wollte, halfen sie ihm auf diese provisorische Bühne, die im weiteren Verlauf des Streiks häufiger zum Einsatz kommen sollte. Als der Betriebsdirektor die streikenden Arbeiter fast überredet hatte, an die Arbeit zurückzukehren, „erschien [...] Lech Wałesa hinter dem Direktor“ – wie sich Jerzy Borowczak, ein Danziger Werftarbeiter erinnert – und sagte: „Erkennen Sie mich noch? Zehn Jahre habe ich hier in der Werft geschuftet und fühle mich noch immer als Werftarbeiter, weil ich das Vertrauensmandat der Belegschaft habe. Seit vier Jahren bin ich nun arbeitslos.“49 Wałesa, der aufgrund von opponierendem Verhalten seine Arbeit als Elektriker in der Werft verloren hatte, forderte den Betriebsdirektor auf, Anna Walentynowicz, wegen deren Entlassung der Streik ausgebrochen war, mit seinem Wagen zur Werft zu bringen und appellierte per Megaphon an die versammelten Arbeiter, den Streik fortzuführen. Sein Auftritt auf diesem Schaufelbagger löste tosenden Applaus bei den anwesenden Arbeitern aus und rettete, wie Timothy Garton Ash konstatiert, den Streik vor seinem Zusammenbruch.50 Der Bagger war die erste Bühne, die während des Streiks konstituiert wurde. Sie entspricht der räumlichen Anordnung der klassischen Vorstellung von einer Bühne, wie sie aus dem Kunsttheater vertraut ist, also einem erhöhten Ort, auf dem der Akteur in Aktion tritt, wobei ihm der sich unter ihm befindende Zuschauer zusieht. Lech Wałęsa und Klemens Gniech

48

Die Frage, ob Lech Wałęsa tatsächlich über die Mauer geklettert war, ist bis heute umstritten und wird von einigen Zeitzeugen bezweifelt. Während er selber daran festhält, wird seitens seiner Gegner – z.B. Anna Walentynowicz oder Andrzej Gwiazda – diese Tat abgestritten. Vgl. hierzu z.B. Cenckiewicz, Sławomir: Sprawa Lecha Wałęsy. Poznań 2008, S. 136ff.

49

Wałesa 1987, S. 120.

50

Vgl. Ash, Timothy Garton: The Polish Revolution. Solidarity. London 2002, S. 43.

THEATRALE STRATEGIEN ZUR ÖFFENTLICHKEITSERZEUGUNG

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standen während ihrer Unterredung auf dem Schaufelbagger und waren somit erhöht. Die Zuschauer, die streikenden Arbeiter, umgaben diese beiden Akteure und schauten zu ihnen hinauf. Diese Art von Bühnenerzeugung durch Nutzung von großen bzw. hohen Gegenständen kann auf dem ganzen Gelände und über den gesamten Streikverlauf festgestellt werden. So dienten nicht nur Bagger, sondern auch Elektrokarren, Tische, Stühle, aber auch die Schultern von Kameraden als Bühne. Interessant erscheint an dieser Stelle auch der Hinweis, dass nicht nur die Streikenden Bühnenräume konstituierten. Auch die Betriebsdirektion stellte in den ersten Streiktagen einen solchen Raum her. Dieser hatte allerdings neben der Möglichkeit, von möglichst vielen gesehen zu werden, vorwiegend das Ziel, in Sicherheit mit den Streikenden zu kommunizieren. So mied Klemens Gniech beispielsweise nach seinem Auftritt auf dem Schaufelbagger das offene Werftgelände – da er auf die Forderungen der Streikenden ohne eine Genehmigung von „oben“ nicht eingehen konnte – und schickte seinen Stellvertreter zu den Streikenden, damit dieser mit ihnen verhandle. Dieser stellte sich ihnen jedoch nicht direkt, sondern blieb auf Distanz. Vom Fenster seines Büros aus, das sich im zweiten Stock des Hauptgebäudes befand, sprach er mit Hilfe eines Megaphons zu den Streikenden und etablierte somit dieses Fenster als Bühne.51 Da sich das Gebäude auf dem Hauptplatz des Werftgeländes befand, wo sich alle Streikenden zunächst versammelt hatten, ermöglichte das eine interessante theatrale Konstellation, die an die räumliche Anordnung einer Simultanbühne erinnert. Die Simultanbühne, die vorherrschende Raumordnung des mittelalterlichen Theaters in Mitteleuropa, basiert darauf, dass mehrere Bühnen gleichzeitig an einem Ort aufgestellt sind, auf denen die Schauplätze der Handlung nebeneinander eingerichtet sind. Hierdurch verfolgen die Zuschauer das Geschehen nicht nur an einem Standort, sondern bewegen sich mit den Darstellern zu den jeweiligen Spielorten, die sie von mehreren Seiten, also nicht nur frontal, umstehen können.52 In Danzig verhielt sich die

51

Diese Information wurde aus dem Interview mit Zenon Kwoka im März 2009 entnommen. Auf Fotos festgehalten wurde die Situation von Trybek 2000, S. 30-33.

52

Mehr zur Simultanbühne siehe Michael, Wolfgang F.: Simultanbühne. In: Manfred Brauneck und Gérard Schneilin: Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles. Hamburg 1986, S. 915-916.

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Bühnenanordnung während des Gesprächs mit dem am Fenster stehenden Stellvertreter Gniechs folgendermaßen: Unter den Streikenden, also auf dem Boden des Hauptplatzes, war in Form eines Elektrokarrens eine weitere Bühne etabliert, auf der Lech Wałęsa stand, der zum Anführer des Streiks auserkoren worden war. Auch er sprach mit Hilfe eines Megaphons und wandte sich einmal an den Stellvertreter Gniechs nach oben, einmal an die zuschauenden Arbeiter nach unten.53 So wanderten die Blicke der Zuschauer zwischen den beiden Bühnen und ihren Akteuren hin und her, von oben nach unten und umgekehrt. Gleichzeitig nahmen diese Zuschauer auch an den Gesprächen der beiden Haupthandelnden aktiv teil, indem sie Beifall klatschten oder die Aussagen mit Pfiffen oder Lachen kommentierten. Tadeusz Strumff hält eine solche Reaktion fest: „Der Stellvertreter des Direktors sprach aus dem Fenster durch ein Megaphon. Dieses gab schreckliche Geräusche von sich, die die Menge mit einem Schrei der Freude empfing.“54 Auch non-verbal wurde von der Arbeitermenge kommuniziert. So kehrten die Streikenden beispielsweise auf die Nachricht hin, dass ihnen der Betriebsfunk nicht zur Verfügung gestellt würde, dem Redner auf der Fensterbühne geschlossen den Rücken zu.55 Somit übernahmen auch sie eine agierende Funktion und trugen zum Gesprächsverlauf ihren Teil bei. Ihre Bühne war der Boden des Hauptplatzes. Während ihrer Aktion zogen sie die Blicke der Hauptredner auf sich, die in solchen Momenten selber zu Zuschauern wurden, die nicht nur einander betrachteten, sondern auch zu der Menschenmasse schauten, die auf der am niedrigsten gelegenen Bühne agierte. Dennoch erreichte das Konstituieren der bisher vorgestellten Bühnenräume nur eine eingeschränkte Öffentlichkeit, eine Öffentlichkeit unter denjenigen, die sich vor der jeweiligen Bühne auf dem Werftgelände befanden. So erreichte beispielsweise die Unterredung Wałęsas mit Gniech auf dem Bagger nur diejenigen Personen, die direkt vor Ort waren und ihr beiwohnten. Ebenso verhielt es sich mit der Unterredung zwischen dem

53

Später hat auch Klemens Gniech diese Methode der Kommunikation genutzt. Im Spiegel 35/1980 ist dies auf Seite 87 sehr gut bildlich dokumentiert. Hier sind zwei Fotos der Redner – Gniech und Walentynowicz – nebeneinander abgedruckt.

54

Kto tu wpuścił dziennikarzy, S. 76.

55

Vgl. die Aussage von Piotr Halbersztat in ebd. S. 77.

THEATRALE STRATEGIEN ZUR ÖFFENTLICHKEITSERZEUGUNG

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Streikführer und dem Stellvertreter des Betriebsdirektors. Um eine größere Gegenöffentlichkeit zu erreichen, die Bevölkerung über die wahren Gründe für den Streik und die tatsächlichen Forderungen zu informieren und somit die Lügen der Massenmedien zu durchbrechen, mussten andere Taktiken angewendet werden. Naheliegend wäre es gewesen, in einem Protestmarsch durch die Straßen der Stadt zu gehen, so die Blicke auf sich zu ziehen und mittels Transparenten und ausgerufenen Slogans die Gründe für den Streikausbruch zu nennen. Aufgrund von schlechten Erfahrungen wurde jedoch hierauf verzichtet: Bereits am 14. Dezember 1970 kam es in den Küstenstädten Danzig, Stettin, Gdingen und Elbing zu spontanen Arbeiterstreiks und Demonstrationen aufgrund von starken Preiserhöhungen für Grundnahrungsmittel. Die Streikenden forderten damals die Regierung vergeblich auf, mit ihnen in Verhandlungen zu treten und gingen schließlich auf die Straßen ihrer Städte, um Druck auf die Regierenden auszuüben. Am 16./17. Dezember eskalierten die Proteste schließlich und es kam zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Armee- und Milizeinheiten und den Streikenden, in deren Verlauf Menschen ums Leben kamen.56 Das Verlassen des Werftgeländes erschien den Streikenden 1980 somit nicht als eine geeignete Strategie. Der Raum des Sinnlichen außerhalb der Werft musste somit mit einer anderen Taktik erobert werden. Besonders zwei Arten der Bühnenerzeugung können hierbei als erfolgreich konstatiert werden: Der eine Raum fungierte visuell, der andere dagegen vielmehr auditiv. Das Gelände der Werft war durch Mauern und Zäune von der Welt außerhalb der Fabrik getrennt. Was ursprünglich als ein grenzziehendes Element angelegt wurde, um das Innere des Arbeitsraumes vom Außenraum der Stadt zu trennen, erfüllte in den Tagen des Auguststreiks eine verbindende Funktion. Die Mauern und Zäune wurden als Bühne genutzt, um die Geschehnisse im Rauminneren nach außen publik zu machen. Sie ermöglichten es den Akteuren, mit einfachsten Mitteln mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. So schrieben die Streikenden beispielsweise ihre 21 Postulate auf große Tafeln und befestigten diese auf der, von der Fabrik aus

56

Mehr zu den Unruhen 1970 siehe u.a. Gdańsk Grudzień ’70. Rekonstrukcja, dokumentacja, walka z pamięcią. Hg. von Instytut Pamięci Narodowej. Gdańsk 2009; Danowska, Bogumiła: Grudzień 1970 roku na Wybrzeżu Gdańskim. Przyczyny, przebieg, reperkusje. Pelpin 2000.

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gesehen, äußeren Seite des Zaunes bzw. der Mauer. Auf diese Weise war es allen an der Werft vorbeigehenden Menschen möglich, die Streikziele, welche die Massenmedien verschwiegen bzw. nur defizitär weitergegeben hatten, zu erfahren. Die Journalistin Irena Dryll erinnert sich hierzu: „Ich war dabei, als sie aufgehängt wurden. Die Postulate selbst befanden sich auf großen Holztafeln. Junge Leute haben sie aufgehängt [...] und zwar so, dass sie bereits von weitem sichtbar waren. Das war ein bewegender Moment, denn unter die Postulate konnte jeder seine Unterschrift setzen.“57 Wie aus diesem Zitat hervorgeht, erfüllten die hier aufgehängten Tafeln nicht nur eine informative Funktion, sondern waren auch im Sinne Austins performativ,58 indem sie Handlungen nach sich zu ziehen vermochten. Sie animierten vorbeigehende Passanten, eine Unterschrift unter die Forderungen zu setzen und so ihre Unterstützung zu demonstrieren. Auf diese Weise wurde durch den Akt des Unterschreibens auch eine Gemeinschaft gebildet und nach außen ausgestellt. Dass eine solche Handlung nicht ungefährlich war, versteht sich angesichts des alle Taten beobachtenden und alle opponierenden Akte registrierenden Staates von selbst. Und dennoch wuchs die Anzahl der Signaturen täglich an. Neben den Postulaten waren auch verschiedene Sprüche auf die Mauern geschrieben worden, z.B. folgende Sätze: „Strajk trwa!“ (dt. „Der Streik ist im Gange!“), „Niech żyją Wolne i Niezależne Związki Zawodowe i Pokój na całym świecie!“ (dt. „Es leben freie und unabhängige Gewerkschaften und Frieden auf der ganzen Erde!“) oder „Tylko solidarność i cierpliwość zapewni nam zwycięsto!“ (dt. „Nur Solidarität und Geduld garantieren uns den Sieg!“) und „21 x TAK“ (dt. „21 x JA“).59 Doch nicht nur direkt an den Mauern und Zäunen vorbeigehende Passanten konnten durch diese Art der Öffentlichkeitserzeugung erreicht werden und Informationen – wie z.B. die Streikforderungen – erlangen.

57 58

Kto tu wpuścił dziennikarzy, S. 75. Vgl. Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart 2002. Hierzu siehe auch Krämer, Sybille und Marco Stahlhut: Das „Performative“ als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie. In: Paragrana 10/2001, S. 35-64.

59

Vgl. hierzu entsprechende Fotos im Bildband Trybek 2000, S. 40-43.

THEATRALE STRATEGIEN ZUR ÖFFENTLICHKEITSERZEUGUNG

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Abb. 1 – Streikende auf beschrifteten und geschmückten Mauern der Lenin-Werft.

Da sich ein Teil der Mauern und Zäune in der Nähe von Zuggleisen befand, konnten alle Reisenden, die nach Danzig kamen oder von hier abfuhren, ebenfalls diese Informationen wahrnehmen. Hierdurch konnten trotz der Kappung von Telefonverbindungen, die von der Parteiführung angeordnet worden war, um die Kommunikation Danzigs mit anderen Städten zu unterbinden, Nachrichten über den Streik und die Postulate der Streikenden an Passagiere der Züge weitergegeben werden, wodurch eine Verbreitung in ganz Polen garantiert war. Diese Art der Nachrichtenübertragung erwies sich als sehr erfolgreich, wie Zenon Kwoka bestätigt. Denn vor allem hierdurch erfuhren andere Betriebe außerhalb der Dreistadt60 von den Ereignissen, woraufhin sie Delegierte nach Danzig schickten und sich so den Forderungen der dortigen Streikenden anschlossen.61 So schildert Zbigniew Gach, der selbst zu den Zugreisenden zählte, seine Wahrnehmung der Situation, als sich der Zug der Werft näherte:

60

Danzig, Gdingen und Zoppot werden als Dreistadt bezeichnet.

61

Interview mit Zenon Kwoka im März 2009.

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Wir näherten uns der Station Danziger Werft. Beinahe alle Passagiere des Zugabteils schauten in Richtung der Werft. Sie streckten ihre Hälse, um jedes Detail aufzusaugen. Der Zug fuhr auch schon langsamer. Auf dem Sichtschutz aus Beton, der den Werftbereich von dem Teil der Polnische-Marine-Straße trennte, saßen auf den Dächern der Werftbaracken Grüppchen von Männern mit Schutzhelmen und Baskenmützen. Sie gestikulierten, winkten den Zugpassagieren zu und formten mit ihren Fingern den Buchstaben V. Auf den Mauern [...] leuchteten mit Farbe gemalte Parolen: ‚Wir mit dem Volk, das Volk mit uns, wir Werftarbeiter geben nicht auf! Es lebe die Gerechtigkeit!‘62

Aus dieser Aussage wird deutlich, dass nicht nur Schriftzüge als Akteure der Mauern- und Zaunbühnen agierten, sondern dass auch die Streikenden selbst auf ihnen sowie den Dächern von Baracken in Aktion traten. Durch den Einsatz ihrer Stimme und durch Gestik vermochten sie auf diese Art und Weise die Aufmerksamkeit zu erregen und die Blicke von außen auf sich zu ziehen. Neben diesem Auftreten als Gruppe nutzten einzelne Akteure diese Bühnenorte, um mit den vor den Toren Versammelten zu kommunizieren und sie über den Verlauf des Streiks zu informieren. Diese Art der Bühne gebrauchten die Streikenden auch dazu, um eigene Flugblätter und auch die Streikzeitung Strajkowy Biuletyn Informacyjny Solidarność unter die Menschen zu bringen. So wurden einerseits die Blätter von der Mauer aus zu den dort Stehenden hinuntergeworfen oder, wie das im Dokumentarfilm Robotnicy ’8063 zu sehen ist, durch die Stäbe der Tore an die Menschen, die davor standen, weitergereicht. Durch diese Taktik der Mauer als Bühne schrieben sich die Streikenden gemeinsam mit den von ihnen aufgemalten Sprüchen und Blättern in den Bereich des Sinnlichen des öffentlichen Raumes ein. Neben dieser visuellen Herstellung von Gegenöffentlichkeit wurde auch mit auditiven Mitteln Öffentlichkeit hergestellt. Denn die Transparenz der Ereignisse auf dem Werftgelände und die dadurch ermöglichte Teilnahme möglichst vieler Menschen am Geschehen war den Streikvorsitzenden wichtig.64 Von besonderer Bedeutung war dies bei den Verhandlungen mit

62

Kto tu wpuścił dziennikarzy, S. 45f.

63

Robotnicy ’80. Regie: Andrzej Chodakowski und Andrzej Zajączkowski.

64

Interview mit Krzysztof Wyszkowski vom März 2009.

1980.

THEATRALE STRATEGIEN ZUR ÖFFENTLICHKEITSERZEUGUNG

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den Unterhändlern der Regierung, die Mieczysław Jagielski anführte. Der Raum, der von den Danziger Streikführern für die Gespräche im August 1980 mit den Parteifunktionären auserwählt worden war, war ziemlich klein, so dass er nur einer begrenzten Anzahl von Personen Platz bot. Und obwohl er nicht über eine erhöhte Position verfügte oder durch eine andere exponierte Eigenschaft die Blicke anzog, fungierte auch er als Bühne. Seine Besonderheit lässt sich anhand von zwei Merkmalen beschreiben: Das erste Charakteristikum bestand in seiner visuellen Natur. Die gesamte Wand, die diesen Raum von der Lobby trennte, war aus Glas und ermöglichte somit allen, die sich in der Lobby befanden, das, was im Raum stattfand, unmittelbar zu sehen: Jede Bewegung, jeder Gesichtsausdruck der an den Gesprächen teilnehmenden Akteure konnte somit live verfolgt werden. Hier, in der Lobby, befanden sich vorwiegend ausländische Journalisten, die von den Ereignissen in der Werft ohne Zensureinschränkungen Bericht erstatteten und auf diese Weise ihren Beitrag zur Ausübung von Druck auf die polnische Regierung leisteten. Schließlich blickte nun mit ihrer Hilfe die ganze Welt auf Polen, außer den Polen selbst, die durch die Desinformation ihrer Massenmedien zum Teil nicht einmal wussten, was in Danzig wirklich passierte.65 Doch nicht nur über die Lobby konnten die Gespräche beobachtet werden, sondern auch durch die wenigen Fenster des Verhandlungsraumes, die zum Werftgelände hin platziert waren. Diese waren zwar sehr klein, doch ermöglichten sie einigen Streikenden, die Verhandlungen visuell zu verfolgen. Bogusław Turek beschreibt dies wie folgt: „Ich werde die Gesichter der Arbeiter, die an den Fensterscheiben des Verhandlungssaals klebten, niemals vergessen. Übermüdet, unrasiert und dreckig beobachteten sie das Geschehen, voll von Hoffnung, dass alles zu ihren Gunsten verlaufen werde.“66 Hinter diesen Streikenden befanden sich noch hunderte ihrer Kollegen und außerhalb des Eingangstores standen jeden Tag immer mehr Menschen – alle begierig darauf, die Verhandlungen ebenfalls verfolgen zu können. Hierbei erwies sich das zweite Charakteristikum des Verhandlungsraumes als nützlich, nämlich seine Anbindung an den Betriebsfunk und die Ausstattung mit Mikrophonen, die die Streikenden nach Verhandlungen mit dem Betriebsdirektor schließlich erkämpft hatten.

65

Diese Aussage bestätigen alle von mir danach befragten, in dieser Zeit in Polen lebenden Personen.

66

Kto tu wpuścił dziennikarzy, S. 138.

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Dadurch konnte jedes Wort, das in der Verhandlungsrunde fiel, live mittels Lautsprecher aus dem Verhandlungsraum hinaus transportiert werden, und das nicht nur bis zur Lobby, sondern auf das gesamte Gelände der Leninwerft, sogar über die Tore der Fabrik hinaus. Lech Wałęsa stellt diesbezüglich fest: In einem seiner ersten Beschlüsse forderte das Streikkomitee Zugang zum Betriebsfunk der Werft. Wir wußten, daß die Öffentlichkeit aller Gespräche und Verhandlungen in unserem Interesse lag. [...] Die Lautsprecheranlage der Werft erfaßte alle Abteilungen und Produktionshallen.67

So hatten alle, die sich auf dem Terrain der Werft befanden, die Möglichkeit, den Verhandlungsgesprächen beizuwohnen – das Geschehen auf der Bühne also zu verfolgen, wenn nicht visuell, so doch auditiv. Aus diesem Grund kann von einem dreifachen Publikum der Verhandlungen gesprochen werden: 1. den in der Lobby anwesenden Journalisten, 2. den Arbeitern auf dem Werft-Gelände und 3. denjenigen, die vor den Toren der Fabrik ausharrten. Die Dialoge, also Rede und Gegenrede der beteiligten Akteursgruppen, wurden vom gesamten Publikum verfolgt, was im Film Robotnicy ’80 dokumentiert ist. Hier sieht man die absolute Aufmerksamkeit, die die Verhandlungen begleitete, die konzentrierten Gesichter der auf dem gesamten Gelände stehenden Arbeiter, die kein einziges Wort versäumen wollten. Denn das, was die Regierungsunterhändler sagten, jedes Zugeständnis, das sie machten, war für alle von großer Bedeutung. Somit kann Wałęsas Ausspruch: „Unser Streik lief bei offenem Vorhang ab“68, zugestimmt werden. Diese theatrale Strategie ermöglichte es den Streikenden schließlich auch, Druck auf die Regierung auszuüben, denn die Transparenz der Verhandlungen, die Möglichkeit, dass jeder Beschluss live von einer großen Menge von Menschen gehört werden und somit nicht mehr zurückgenommen, verdreht dargestellt oder geleugnet werden konnte, ohne offensichtlich als Lüge zu erscheinen, konnte die Täuschungstaktik der Parteifunktionäre stoppen – jedenfalls für die Zeit der Danziger Verhandlungen in der Leninwerft. In diesem Sinn betont auch der Journalist Jerzy

67

Wałęsa 1987, S. 166.

68

Kto tu wpuścił dziennikarzy, S. 167.

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Surdykowski die Bedeutung der Lautsprecher: „Das war eine wunderbare Kontrolle der Tätigkeiten der Regierung.“69

I CH

HANDLE , ALSO BIN ICH !

Jede Bühne braucht einen Akteur und ein Publikum, um als theatrales Mittel wirksam zu werden. Wie bei der Analyse der Herstellung von Bühnenräumen bereits angesprochen wurde, war die Anzahl an Akteuren und Zuschauern während des Danziger Auguststreiks groß. Bei näherer Betrachtung einzelner Ereignisse lässt sich zudem feststellen, dass es zwischen den beiden Ebenen des Handelns und des Schauens oft zu einer Vermischung der sonst getrennt verhandelten Sphären kam. Im folgenden Kapitel soll somit die Frage nach dem Akteur und dem Zuschauer beantwortet werden. Der emanzipierte Zuschauer Ein theatrales Ereignis ist ohne Zuschauer nicht vorstellbar, denn eine exponierte Handlung wird erst, wie bereits in der Einleitung ausführlich behandelt wurde, durch die Anwesenheit eines Zuschauers zu einer theatralen. In dem Wort „Zuschauer“ steckt bereits seine wichtige Eigenschaft, nämlich die des Schauens. Aus diesem Grund wird das Publikum zuvorderst als Empfänger im Prozess der theatralen Kommunikation verstanden. Das Theatrale findet also in erster Linie für den Zuschauer statt.70 Jacques Rancière problematisiert in diesem Zusammenhang die Differenz von Zuschauen und bloßem Schauen, und sieht darin einen Gegensatz zum Wissen als auch zum Handeln begründet.71 Zum Wissen insofern, als das bloße Schauen bedeutet, lediglich Erscheinungen gegenüber zu stehen, ohne ihre Produktionsbedingungen oder die dahinter liegende „Realität“ zu kennen. Zum Handeln insofern, als derjenige, der etwas betrachtet, bis auf die Tatsache seiner Handlung des Sehens, an dem, was er sieht, nicht teilnimmt, also

69 70

Ebd., S. 105. Vgl. hierzu Sauter, Willmar: Publikum. In: Fischer-Lichte, Kolesch und Warstat 2005, S. 253-259, 253.

71

Vgl. hierzu und im Folgenden Rancière, Jacques: The emancipated spectator. Ein Vortrag zur Zuschauersperspektive. In: Texte zur Kunst 58/2005. S. 36-52.

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nicht in die Aktion eingreift. Aus diesem Grund fordert Rancière, dass jeder Zuschauer im Akt des Schauens aktiv werden solle, und erhebt den Anspruch, dass „der Zuschauer/die Zuschauerin den Status eines reinen Beobachters, der sich noch immer still und unberührt gegenüber einem distanzierten Schauspiel befindet“72 zu verlassen habe. In diesem Zusammenhang fügt er hinzu: „Er/Sie muss von seiner/ihrer trügerischen Beherrschung der Situation weggezerrt werden, hinein in die magische Kraft der theatralen Handlung, wo er/sie das Privileg des vernunftgeleiteten Betrachters mit dem Besitz von wahrer, lebendiger Energie eintauschen wird.“73 Der Zuschauer muss also, so lässt sich resümieren, den Status des passiv Schauenden verlassen. Er soll beim Zuschauen mitdenken, interpretieren, Ursachen erkennen und somit handelnd beobachten. Auf diese Weise ist es dem Zuschauer möglich, – wenn auch nur für eine bestimmte Zeitdauer – die Distanz zwischen sich und dem Agierenden, dem er zuschaut, zu überwinden und sich zu emanzipieren. Es ist ihm also möglich, die Hierarchien aufzubrechen, die die Aufteilung der sinnlichen Welt dominieren, und Gleichheit zu erzeugen. Denn der Umsturz der Aufteilung des Sinnlichen ist, wie bereits in der Definition des Politischen erläutert wurde, die Neuordnung des Verhältnisses von Handeln, Sehen und Sagen. Rancière geht es hierbei keineswegs darum, den Zuschauer in einen Akteur zu verwandeln, denn in seinen Augen ist jeder emanzipierte Zuschauer bereits ein Handelnder. Emanzipation meint also vielmehr „das Verschwimmen der Gegensätze zwischen denen, die betrachten, und denen, die handeln; zwischen den Individuen und den Gliedern eines kollektiven Körpers.“74 Bereits im Kapitel „Etablierung von Bühnenräumen“ wurde deutlich, dass die Streikenden in Danzig die Position von emanzipierten Zuschauern eingenommen hatten. Sie ließen sich somit nicht zu bloßen Zuschauern degradieren, die reglos den Ereignissen beiwohnen und keinerlei Machtbefugnis besitzen, in das Geschehen einzugreifen. Diese Befugnis nahmen sie sich, ohne die den Raum des Sinnlichen Beherrschenden, also die Partei und ihre Machthaber, um Erlaubnis zu fragen. Vor allem ihre große Anzahl erlaubte es, ihre Entschlossenheit in Aktion zu wandeln. Dies geht z.B. aus

72

Ebd., S. 38.

73

Ebd.

74

Ebd., S. 50.

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dem Aufsatz „Mit wem wir verhandeln“ hervor, der im Streikblatt veröffentlicht wurde. Hier heißt es: Meine Herren! Ihr verhandelt mit anderen Leuten – nicht mehr mit denen, die im Dezember 1970 auf die Frage ,Helft ihr uns?‘ noch gerufen haben: ,Wir helfen!‘ Vor allem haben wir uns aus dem Grund gewandelt, weil wir, wenn wir zusammenstehen, eben nicht mehr machtlos sind. Wir sind andere geworden, weil uns in den letzten 30 Jahren beigebracht worden ist, dass Versprechen nicht eingehalten werden.75

Bereits der Streikbeginn war von dieser Einstellung gekennzeichnet. Die Arbeiter schlossen sich dem Aufruf zum Streik an, trotz des Wissens, dass eine solche Handlung in der PZPR nicht erlaubt war. Sie verließen sich aber nicht nur auf die wenigen, die den Streikbeginn begonnen hatten, und sahen stumm zu, was folgte, sondern gestalteten von Anfang an den Streik mit und brachten ihn durch eigene Ideen voran. Genannt seien hier das spontane Abwenden des Körpers als Zeichen der Ablehnung von Beschlüssen oder das Kommentieren des in den Verhandlungen mit der Regierung Gesagten mit skandierten Sätzen, Buh-Rufen oder mit Applaus. Als beispielsweise eines Tages nach der Ankunft der Regierungsunterhändler der Verstärker ausgefallen war und die Arbeiter dem Gesagten nicht folgen konnten, kam eine große Unruhe auf. Sofort wollten sie die Gründe erfahren, und ein paar von ihnen erklärten sich freiwillig dazu bereit, die Ursachen zu klären und den Schaden zu beheben. Sie verließen sich also nicht auf andere und warteten, bis einer der Vorsitzenden die Angelegenheit in die Hand nahm, sondern fassten selbst den Entschluss, zu agieren. Genannt seien hier auch spontane Gesangsakte, die andere, vor allem die außerhalb der Werft Stehenden, mitzureißen vermochten. Auch spontan gesprochene Gebete und aus eigenem Bedürfnis heraus vollzogene Beichten mitten im Pulk von Mitstreikenden sollen nicht unerwähnt bleiben. Auch in anderen streikenden Betrieben, wie z.B. in „Mostol“ in Breslau, ist ähnliches Verhalten festzustellen, wie die folgende Aussage von Włodzimierz Mękarski, einem der dortigen Streikführer, beweist: Meine Kollegen haben den Streik beflaggt, weißrote Armbinden gemacht, das Tor verschlossen, Lebensmittel besorgt, sich um die Verbindung zur Außenwelt und be-

75

Strajkowy Bluletyn Informacyjny Solidarność vom 27.08.1980.

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scheidene Kopiermöglichkeiten gekümmert. Keine Ahnung, woher die auf einmal ihr dermaßen brillantes Organisationstalent hatten, denn schließlich waren wir doch total unerfahren. Kein Mensch hatte uns das je beigebracht.76

Bei der Betrachtung des Streikverlaufs und beim Studium von Interviews und Archivunterlagen lässt sich zudem konstatieren, dass die Streikenden aus den ihnen zugeschriebenen Rollenmustern, die den Arbeiter als eine Person definieren, die lediglich stumpf der Arbeit, die ihm vorgesetzt wird, nachzugehen habe,77 heraustraten und begannen, Handlungsakte zu vollziehen, die sie sonst nicht zu tun pflegten. Hierzu gehört beispielsweise das Schreiben von Gedichten. In Punkt. Almanach gdańskich środowisk twórczych (dt. Punkt. Almanach der Danziger Kunstkreise) vom Dezember 1980 wurde eine große Anzahl von solchen während des Streiks entstandenen Gedichten und Liedern festgehalten, die aus der Feder der Arbeiter stammen. In der fast täglich herausgegebenen Streikschrift Strajkowy Biuletyn Informacyjny wurden bereits während des Streiks zahlreiche von ihnen abgedruckt. Doch nicht nur in Druckform kamen sie unter das Volk, sondern auch durch Lesungen, die im Betriebsfunk ausgestrahlt wurden, konnten die Werke der Streikenden hörbar gemacht werden. Die Thematik dieser Gedichte und Liedertexte ist vielfältig. Sie reicht von der Beschreibung der Wünsche und des Glaubens der Arbeiter bis hin zu Grüßen an Familie, Kinder und Verlobte. Was in ihnen allen jedoch deutlich wird, ist ihr Entschluss, um die Anerkennung ihrer Subjektivität sowie der Wille, um ihre Rechte zu kämpfen. So wird beispielsweise in einem unbetitelten Gedicht von M. Czyż78 das Anprangern der Klassenunterschiede in einem sozialistischen Staat, in dem es solche eigentlich nicht geben sollte, deutlich hörbar gemacht. Die Regierenden werden als feine Herren beschrieben, denen es finanziell an nichts mangelt: Der Anzug nach Maß die Krawatte gestreift die Wangen gerötet

76

Tage der Solidarität. Hg. von Stiftung KARTA-Zentrum. Warszawa 2005, S. 78.

77

Vgl. Rancière 2005, S. 49f.

78

Der vollständige Name ist unbekannt.

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eine Ledertasche in der Hand. Ihr fragt, wer das ist? Wer ist die Figur? Ich zeichne doch nur das Portrait derjenigen da oben. Das Gesicht verschlossen die Augen ,treu‘ und grau über Geld jederzeit verfügend über alle Maße dreist.79

Die Arbeiterklasse wird in dem Text gegensätzlich charakterisiert, als arm und überarbeitet: Die Mütze abgegriffen die Wangen eingefallen die Diät erzwungen die Schulden über allen.80

Der von Rancière konstatierte Zustand der Dominanz der Polizei, also der Machthaber, über den Bereich der sinnlichen Ordnung und die Taubheit und Blindheit gegenüber anderen Gruppierungen wird in diesem Gedicht mehr als deutlich: Die Ersten, die wehren sich gegen die Zweiten. Verschließen die Augen mit schmutzigen Händen. Schmutzig durch Lüge und dick durch Faulheit ganz ohne Schwielen weiß und glatt.81

79

In: Punkt. Almanach gdańskich środowisk twórczych. 12/1980. S. 168.

80

Ebd.

81

Ebd.

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Die eindeutige Forderung nach Veränderung dieses Zustands wird dagegen in dem Gedicht Postulat 22 ausgedrückt. In diesem Gedicht, das in Strajkowy Biuletyn Informacyjny vom 25. August anonym erschien und später mit einer Melodie unterlegt und so zu einem Lied umgewandelt wurde, werden zu den offiziellen 21 Forderungen weitere hinzugefügt, welche vorwiegend auf das ungleiche Verhältnis der Regierenden und der Regierten verweisen und die Emanzipation der zweiten Gruppe fordern: Hört auf uns Dummheit einzureden Und Anarchie und mangelnde Erfahrung Anstatt zu stopfen, was nur geht Fangt an, Euch selber zu verändern.82

Denn die Fehler und Machenschaften der PZPR, so geht aus dem Gedicht hervor, sind längst erkannt worden und können nicht mehr wie gehabt fortgeführt werden. Aus diesem Grund wird hier gefordert, sie zu unterlassen: Hört auf, uns ständig zu bekriegen Uns zu zerteilen, wo’s nur geht. Hört auf, Unangenehmes zu verschweigen Und die Geschichte zu verfälschen.83

Sehr deutlich wird in diesem Gedicht ebenfalls – auch wenn nicht wörtlich ausgesprochen – die Forderung der Streikenden, als Subjekte wahrgenommen zu werden und ihr Wunsch, auf gleicher Augenhöhe mit den Regierenden zu verhandeln: Gebt vielen Worten ihren Wert zurück Damit sie nicht mehr leer sind Damit in Würde und in Solidarität Wir miteinander arbeiten können.84

82

Das Gedicht ist abgedruckt in: Strajkowy Biuletyn Informacyjny vom 25.08.1980.

83

Ebd.

84

Ebd.

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Im Sinne Rancières können auch solche für einen Arbeiter ungewöhnliche Handlungsakte, wie das Schreiben von Gedichten, als politisch eingestuft werden. Denn sie stürzen die Aufteilung der sinnlichen Welt um, indem sie einerseits Akte in die Welt der Sinnlichkeit einschreiben, die als überraschend und unerwartet eingestuft werden können, da sie schließlich normalerweise von Dichtern und Liedermachern vollzogen werden. Andererseits lassen sie die Glieder eines kollektiven Körpers als Individuen wahrnehmbar werden, die auf diese Weise ihre Vorstellungen und Wünsche hörbar und sichtbar werden lassen. Sie verlassen somit die Rolle der lediglich Zuschauenden und werden selbst zu denjenigen, die gesehen werden. In ihrer Gesamtheit waren die Streikenden also, so lässt sich resümierend festhalten, Zuschauer und Handelnde zugleich. Weitere aktive Zuschauer Über die Gruppe der Streikenden hinaus können auch andere Gruppierungen von Zuschauern ausgemacht werden, so z.B. die Journalisten. Ihre Aktivität bestand vor allem darin, die von ihnen beobachteten Streikereignisse festzuhalten und diese mittels Berichterstattung in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Die schwierige Situation der polnischen Journalisten, die nach Danzig kamen, um über den Streik zu berichten, und deren Beiträge von den polnischen Massenmedien aufgrund von Zensurbestimmungen und der Übermacht der Partei ignoriert wurden und somit nicht an die Öffentlichkeit gelangten, ist bereits im Kapitel „Der Auguststreik und die polnischen Massenmedien“ näher betrachtet worden. Auf einen Aspekt sollte an dieser Stelle jedoch trotzdem noch hingewiesen werden: Anstatt untätig und resigniert den weiteren Streikverlauf zu verfolgen oder gar das Gelände zu verlassen, veröffentlichten polnische Journalisten nach unzähligen Diskussionen eine Erklärung, in der sie sich dem System entgegenstellten und sich von diesem – seine Manipulation der medialen Öffentlichkeit aufdeckend – distanzierten. So heißt es in der Erklärung: Wir polnische Journalisten, die wir im Danziger Küstenraum während des Streiks präsent sind, erklären, dass zahlreiche bisher gedruckte Informationen, vor allem aber die Art und Weise seiner Kommentierung den tatsächlichen Ereignissen hier nicht entsprechen. Dieser Zustand fördert Desinformation. Die bestehende Telefonsperre und die fehlenden Möglichkeiten, Material, das ein wirkliches Bild von den

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Befindlichkeiten zeichnet, veröffentlichen zu können, treffen uns schmerzlich und lassen nicht zu, unseren beruflichen Pflichten solide nachzukommen.85

Auch sie ließen sich also nicht mehr zum Objekt degradieren und erhoben durch die Erklärung den Anspruch, als Subjekte mit eigenem Urteilsvermögen wahrgenommen zu werden. Auch sie schrieben sich also hierdurch in den Bereich des Sinnlichen ein, indem sie nicht mehr das von ihnen Erwartete reproduzierten, sondern ihre eigene Meinung verlautbaren ließen. Neben polnischen Journalisten befanden sich, wie ebenfalls bereits dargelegt, auch zahlreiche ausländische Reporter auf dem Gelände der LeninWerft. Ihre Position war einfacher als die der polnischen Journalisten, denn sie konnten von Anfang an das schreiben, was sie wollten, auch wenn sie unter schwierigen Bedingungen in Danzig arbeiteten, da die Telekommunikation zur Stadt gestört war und die Weiterleitung des Beobachteten in ihre Heimat mitunter große Kreativität erforderte. Dennoch berichteten sie in die ganze Welt und konnten so im Ausland eine breite Öffentlichkeit in den Massenmedien erzeugen. Für die ARD erstattete beispielsweise Peter Gater Bericht, der den Angaben des Spiegels zufolge „dem Deutschen Fernsehen Streikberichte von seltener Eindringlichkeit“ 86 verschafft hatte. Seine unzensierten Reportagen und Interviews wurden von vielen europäischen und US-Fernsehsendern übernommen. Während die Gesichter von Lech Wałęsa oder Anna Walentynowicz in Polen nicht bekannt waren, kannten sie außerhalb des Eisernen Vorhangs nahezu alle.87 Hierdurch konnten die WestJournalisten eine große Unterstützung für die Streikenden hervorrufen. So reisten beispielsweise Vertreter zahlreicher Gewerkschaften aus westlichen Ländern nach Danzig, um sich mit den Streikenden zu solidarisieren, und unterstützten diese auch finanziell. Doch es kamen nicht nur Journalisten aus aller Welt zur Werft. Auch Familienangehörige, Partner, Freunde und Sympathisanten der Streikenden versammelten sich tagtäglich vor den Toren und Mauern, um ihre Solidarität zu bekunden. Während zu Beginn der Streiks nur wenige Menschen zur Werft kamen, wurden es in seinem Verlauf zunehmend mehr, wie aus den Beobachtungsprotokollen der polnischen Staatssicherheit hervorgeht. So

85

„Erklärung der Journalisten“. In: Tage der Solidarität, S. 67.

86

Daß ihr da seid. In: Der Spiegel 35/1980, S. 99-101, 99.

87

Vgl. ebd.

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waren den Schätzungen der beobachtenden Beamten zufolge am Vormittag des 15. August ca. 150 Menschen vor Ort,88 um 22 Uhr desselben Tages waren es bereits doppelt so viele.89 Während der Verhandlungen mit Regierungsunterhändlern konstatiert der Beamte dagegen – je nach Tag – zwischen 1000 und 3000 Menschen.90 Ewa Juńczyk erklärt dieses Phänomen damit, dass zur Werft zu gehen damals so etwas wie die erste Bürgerpflicht darstellte.91 Und diese Bürgerpflicht bekam in diesen Tagen den Namen Solidarität. Denn die vor den Toren der Werft stehenden Menschen waren ebenfalls mehr als nur Zuschauer. Indem sie während der Verhandlungen mitfieberten, an den Gottesdiensten teilnahmen, mit den Streikenden sangen und Gebete sprachen, unterstützten und bekräftigten sie das Vorhaben der Streikenden und solidarisierten sich mit ihnen.

Abb. 2 - Sympathisanten der Streikenden vor den Toren der Lenin-Werft in Danzig.

88

Siehe AIPN GD 0046/364 t. 1, k. 93.

89

Ebd. k. 94.

90

Ebd. k. 117 u. k. 139

91

Vgl. Tage der Solidarität, S 91.

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Daneben halfen sie den sich auf der Werft Befindenden mit Nahrungsmitteln und Geldspenden. So heißt es beispielsweise in einem Beobachtungsprotokoll des Staatssicherheitsdienstes vom 22. August 1980: „Um 18:10 Uhr wurde beobachtet, dass vor den Toren 1, 2 und 3 auf Stühlen Einmachgläser aufgestellt wurden, in die die dort Versammelten Spenden [...] einwarfen.“92 Außerdem schmückten die Wartenden die Eingangstore mit Blumen und religiösen Bildern. Auf diese Weise bildeten sie mit allen sich auf dem Werftgelände aufhaltenden Menschen eine Gruppe von Akteuren, die den Regierenden ihren Zusammenhalt und ihren gemeinsamen Willen präsentierten. In diesem Sinne kann die gesamte Menschenmasse innerhalb und außerhalb der Lenin-Werft als Akteur bezeichnet werden, der bei seinem Handeln wiederum auf der innerstaatlichen Ebene weitere Zuschauer besaß, nämlich die Machthaber und ihre Weisungsbefugten. Bevor auf diese jedoch näher eingegangen wird, sollen zunächst anhand von Beispielen einzelne Akteure und ihre öffentlichkeitswirksamen Handlungen fokussiert werden. Bedeutung einzelner Akteure Selbstverständlich lassen sich Personen unter den Streikenden und den vor den Toren Versammelten ausmachen, die mit ihren Ideen das Geschehen im Hinblick auf öffentlich wirksames Auftreten mehr förderten als der Rest. Anhand von drei verschieden handelnden Akteuren soll dieser Umstand näher betrachtet werden. Der Grafiker und Erfinder des Solidarność-Logos Jerzy Janiszewski prägte mit seinen Ideen das Geschehen auf eine besondere Weise. Er gehörte nicht zu den Streikenden, sondern zu den Zuschauern vor den Toren. Wie viele andere kam er tagtäglich vor die Werft, um seine Solidarität mit den Arbeitern zu bekunden. Das Warten vor den Toren schien ihm nicht genug, auch er wollte sich nützlich machen, und zwar mit seinen Fähigkeiten als Grafiker. Er wollte ein Logo kreieren, mit dem sich die Streikbewegung identifizieren und ihre Zusammengehörigkeit demonstrieren könnten. Während Janiszewski zunächst an eine kleine Zeichnung des Werft-Tores Nr. 2 dachte, welches als Symbol für den Zusammenhalt zwischen den Danzigern und den Streikenden gesehen wurde, musste er beim Erstellen der Entwürfe

92

AIPN GD 0046/364 t. 1, k. 101.

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feststellen, dass dieses Motiv als Logo optisch nicht funktionierte. Nach zahlreichen Überlegungen fiel ihm bei der Betrachtung der bereits erwähnten Mauerbeschriftungen auf, dass das Wort, welches hier am häufigsten verwendet wurde, das Wort „Solidarność“ mit all seinen Varianten war: „Wir sind solidarisch!“ (pl. „Jesteśmy solidarni!“), „Mit Solidarität werden wir siegen!“ (pl. „W solidarności zwyciężymy!“) etc. Auch die Streikschrift trug in ihrem Namen dieses Wort. So begann er, genau damit zu arbeiten.93 Nach einigen Versuchen entstand schließlich der Schriftzug „Solidarność“, auf dem rote Großbuchstaben miteinander verbunden nach vorne zu marschieren scheinen und die polnische Fahne, die aus dem Buchstaben „N“94 hervorgeht, halten. Dieses Logo brachte er um den 20. August herum – das genaue Datum ist nicht bekannt – zur Werft und übergab es den Streikenden durch das Werft-Tor. Das Logo wanderte unverzüglich zu Krzysztof Wyszkowski, der für die Streikschrift verantwortlich war. Dieser war begeistert und animierte Janiszewski, mehr Abdrucke zur Werft zu bringen.95 Gemeinsam mit seiner Frau Krystyna und Freunden fertigte Janiszewski trotz Papiermangels täglich hundert DIN A 5 Blätter mit dem Schriftzug an. Schon bald waren die kleinen Poster mit dem unverwechselbaren Logo überall zu sehen. Nicht nur innerhalb des Werftgeländes, auch an den Toren und Mauern, an den die Werft umgebenden Bäumen und sogar in der Stadt an Laternenpfosten klebten sie und unterstrichen im öffentlichen Raum das Gemeinschaftsgefühl, welches zwischen den einzelnen Betrieben, aber auch zwischen den Streikenden und der ganzen Stadt in jenen Tagen entstanden war. Dieses Gefühl sollte auch die Regierung zu spüren bekommen. Gemeinsam mit Janiszewski beklebte Krzysztof Wyszkowski die Wände des kleinen Verhandlungssaals am ersten Tag des Zusammentreffens mit den Regierungsunterhändlern mit den neuen Logos. Die Schrift sollte nicht nur als eine Art Druckmittel auf Jagielski und seine Parteigenossen fungieren, sondern auch durch die filmenden Reporter in die Welt gehen und als Symbol dessen, was auf der Werft passierte, Popularität er-

93

Vgl. hierzu Daszczyński, Roman: Słynny znak Panny „S“. In: Gazeta Wyborcza. Narodziny Solidarności – Kroniki siperpniowe w 25 zeszytach 19/2005, S. 3-5.

94

Die Idee der Fahne stammt von der Frau des Erfinders, Krystyna Janiszewska, die ebenfalls als Grafikerin tätig ist. Vgl. ebd.

95

Interview Krzysztof Wyszkowski im März 2009.

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langen. Der Wandschmuck hielt allerdings nicht lange, denn die Begierde der Streikenden, eines der Plakate als Souvenir für sich zu behalten, war so groß, dass die Plakate über Nacht plötzlich verschwanden. Um neue zu drucken, fehlte allerdings das Papier.96 Trotzdem erlangte der Schriftzug Popularität rund um den Globus und mit ihm einer der wichtigsten Werte des Streiks, nämlich das solidarische Zusammenhalten verschiedener Gruppen und Gesellschaftsschichten. Der hier erwähnte Krzysztof Wyszkowski gehörte neben vielen anderen Aktiven des Streiks zu denjenigen, die selbst kaum in den Vordergrund des Geschehens traten, dennoch aber mit ihren Ideen für das Auftreten der Streikenden nach außen von Bedeutung waren. So entstand u. a. auf seine Anregung hin das Streikblatt Solidarność, das, wie bereits angesprochen, nicht nur auf dem Werftgelände, sondern auch über dieses hinaus gelesen wurde. Auch gehörte er zu denjenigen, die die Streikenden ermutigten, Gedichte und Lieder zu schreiben. Insbesondere eine theatrale Strategie, die auf seine Anregung hin entstand, soll hier näher betrachtet werden, da sie verdeutlicht, wie vorsichtig und wachsam die Streikenden sein mussten, um nicht vom Regime, besonders gegen Ende des Streiks, zu Propagandazwecken ausgenutzt zu werden: Parallel zu den Verhandlungen in Danzig wurden auch in Stettin Unterredungen mit Regierungsvertretern geführt und zwar von Marian Jurczyk (Streikleitung) und Kazimierz Barcikowski (Regierungsseite).97 Den Abschluss der Verhandlungen am 30. August 1980 verstand die Regierung öffentlichkeitswirksam für sich auszunutzen. Das live im polnischen Fernsehen übertragene Ereignis zeigte, wie in einen großen Saal zunächst die Delegierten der Regierungsseite eintraten und den Gang entlangschritten, dabei von den sich im Saal befindenden Menschen mit Applaus und „Bravo!“-Rufen begrüßt wurden. Erst hinter den Regierungsvertretern erschienen die Streikführer. Auch beim Ergreifen des Wortes waren nicht die Streikenden die ersten, sondern die Parteimitglieder, die in ihren Reden den gemeinsamen Sieg rühmten.98 Hierdurch inszenierten sie sich in der Öffent-

96

Ebd.

97

Mehr hierzu in: Tage der Solidarität, S. 94.

98

Das Unterzeichnen des Abkommens in Stettin vor Danzig sorgte für viel Unruhe innerhalb der streikenden Betriebe in ganz Polen. Die Angst, dass dies ein erneutes Manöver des Regierungsseite darstellen könnte, war groß. So erinnert

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lichkeit als die eigentlichen Sieger und stellten sich somit erneut über die Arbeiter, denen sie nicht den Raum des Sinnlichen genehmigten, der ihnen durch das Durchhaltevermögen und den Sieg, den in Wirklichkeit sie erzielt hatten, zustand. Mit Rancière ließe sich diese Situation als eine erneute Durchsetzung der Polizei interpretieren. In dem Moment, in dem die PZPR die Möglichkeit der Sinnlichwerdung des Anderen sieht, wehrt sie diese mit eigenen Strategien ab und tritt selbst erneut in den Vordergrund des Geschehens. In Danzig, wo die Verhandlungen einen Tag später abgeschlossen werden sollten, durfte sich eine solche Situation nicht wiederholen. Aus diesem Grund wurde von Wyszkowski und seinen Mitarbeitern ein Plan erarbeitet, wie sich alle Beteiligten verhalten sollten. So durfte beim Betreten der Verhandlungspartner in den BHP-Saal 99 nicht Beifall geklatscht, nicht gerufen oder aufgestanden werden. Jeder sich im Saal Aufhaltende sollte vielmehr den Ernst des Geschehens durch einen angemessenen Gesichtsausdruck demonstrieren. Hierdurch sollten alle Selbstdarstellungsversuche der Regierungsunterhändler unterbunden werden.100 Wie aus dem Dokumentarfilm Robotnicy ’80 hervorgeht, ging der Plan auf. Die Verhandlungspartner traten nicht hierarchisch auf, sondern kamen gemeinsam in den Saal. So traten die Hauptvertreter der beiden Parteien, Jagielski und Wałęsa, Schulter an Schulter nach vorne. Während ihres Einmarsches kam kein Applaus auf und kein Enthusiasmus wurde gezeigt. Dieser setzte erst bei den Reden der

sich ein Arbeiter aus Stettin: „Ich begriff nicht, weshalb wir nicht gleichzeitig mit Danzig unterschrieben hatten. Ein unverzeihlicher Fehler, denn dort streiken sie ja weiter. Ganz Polen streikt. Und wenn die Streiks nun noch länger anhalten werden? Schließlich sind wir doch zur Solidarität verpflichtet. Müssen wir dann auch wieder anfangen? Und wenn das ÜSK kein grünes Licht dafür gibt? Soll unsere Aktionseinheit zerschlagen werden? Ist es den Kommunisten darum gegangen? Vermutlich. In Stettin haben sie’s jedenfalls geschafft. Das ist ihr Sieg, nicht unserer.“ In: Tage der Solidarität, S. 94. 99

Die Abkürzung BHP steht für „Bezpieczeństwo i Higiena Pracy“, was übersetzt „Sicherheit und Hygiene der Arbeit“ heißt. In diesem Saal fanden die Versammlungen der Delegierten statt, aber auch viele andere Zusammenkünfte, so z.B. der Auftritt der Danziger Schauspieler, auf den im Kapitel „Noch ist Polen nicht verloren ...“ näher eingegangen wird.

100 Interview mit Krzysztof Wyszkowski im März 2009.

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beiden ein, die auf das gemeinsam vollbrachte Werk verwiesen. Am Ende des Signierungsaktes begann die Menge schließlich auf Geheiß Wyszkowskis, der mit einem T-Shirt mit der Solidarność-Aufschrift bekleidet war, „Leszek!“ zu skandieren, das Kosewort für Lech. Damit wurde ganz deutlich in der Sprache der Streikbewegung demonstriert, wer als Sieger der Verhandlungen anzusehen war. Der Name „Leszek“ stand dabei als Symbol für den Sieg des Überbetrieblichen Streikkomitees und für alle Streikenden, die gemeinsam an einem Strang zogen, beharrlich auf ihren Forderungen bestanden und sich von nichts abbringen ließen. Lech Wałęsa bot sich hierfür gut an, weil er zu denjenigen Personen gehörte, die während des Streiks mehr in den Vordergrund der Handlung getreten war als andere, und deren Gesicht für den Streik bereits als Symbol der neuen Sprache der Streikbewegung betrachtet wurde. Somit ist seitens der Versammelten auditiv deutlich gemacht worden, welche Partei in ihren Augen den Sieg errungen hatte. Lech Wałęsa ist jedoch nicht nur während der Verhandlungen mit den Unterhändlern der Regierung als Handelnder auszumachen, sondern auch durch seine Auftritte vor den vor den Toren Versammelten und den Streikenden im Inneren des Werft-Geländes. Krzysztof Wyszkowski betont hierbei das Talent Wałęsas, Menschen zu unterhalten und Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Während ergreifende Reden und Appelle an das Durchhaltevermögen – die alle leider nicht aufgezeichnet wurden und aus diesem Grund hier nicht behandelt werden können – vor allem von Frauen wie Anna Walentynowicz, Alina Pieńkowska oder Ewa Ossowska stammten, vermochte es Wałęsa insbesondere in schwierigen Situationen, durch seine spontane Art die angespannte Atmosphäre zu lockern, und er schaffte es immer wieder, ein Lächeln auf die Lippen der Menschen zu zaubern.101 Seine Art, öffentlich zu kommunizieren, soll hier anhand eines seiner letzten Auftritt als Vorsitzender des Überbetrieblichen Streikkomitees, der zugleich der einzige filmisch dokumentierte Auftritt während des Streiks ist, analysiert werden. Dieser Auftritt ist im Dokumentarfilm Robotnicy ’80 festgehalten: Nach den erfolgreichen Verhandlungen mit den Unterhändlern der Regierung und dem Unterschreiben der Übereinkommensdokumente verließ Wałęsa gemeinsam mit den anderen Delegierten den BHP-Saal. Draußen

101

Ebd.

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wurde er von zwei Kameraden auf deren Schultern gehoben und ließ sich so durch die Menge der jubelnden Streikenden tragen. Im Film sehen wir, wie er durch seine auf diese Weise erhöhte Position mit zur Faust geballten Händen die Arme in die Höhe streckt und so die Siegerpose einnimmt. Alle Blicke sind auf ihn gerichtet. Zahlreiche Reporter fotografieren und filmen ihn. Wałęsa betritt nun eine weitere Bühne: Von den Schultern seiner Mitstreikenden aus klettert er auf das Dach eines Elektrokarrens, der neben ihm gefahren ist, und der ihn schließlich unter „Leszek“-Rufen der Menge zum Tor Nr. 2 fährt. Hierdurch ist es ihm möglich, vor den vor den Toren wartenden Menschen aufzutreten.

Abb. 3 - Wałęsa spricht vom Tor Nr. 2 der Lenin-Werft aus zu davor Versammelten.

Das mit Blumen und Nationalfahnen geschmückte Tor, das ihn von den davor Stehenden trennt, ist Rampe und Kulisse zugleich. Durch seine erhöhte Position sehen die vor dem Tor Wartenden nur Wałęsa, er ist also in diesem Moment für sie der Hauptakteur und sie sind seine Zuschauer. Die beiden Nationalflaggen rechts und links umrahmen seine Gestalt und erwecken

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Assoziationen zu einer Rednerbühne. Doch Wałęsa hat auch hinter sich Zuschauer, nämlich die sich auf dem Werftgelände befindenden Streikenden. Auch wenn er zu ihnen mit dem Rücken gewandt spricht, so mindert das keineswegs die Wirkung, die von ihm ausgeht. Noch bevor Wałesa zu sprechen beginnt, werfen ihm die Zuschauer Blumen zu – eine Geste, die wir aus Kulturveranstaltungen kennen. Der Zuschauer bedankt sich hierdurch für die Bühnenleistung des Schauspielers. Wałesas Auftritt vor diesem Publikum steht zwar eigentlich noch bevor, doch trotzdem wissen die Anwesenden um den bereits errungenen Sieg in den Verhandlungen, von dem er ihnen berichten wird. Und auf diese Weise, also durch das Zuwerfen der Blumen, möchten sie sich bei ihm – stellvertretend für das gesamte Streikkomitee – bedanken. Wałęsa präsentiert sich hier unübersehbar in einer typischen Siegerpose: Seine Arme sind zum Himmel erhoben, seine Hände zu Fäusten geballt. Er spricht zu seinem Publikum bedächtig, aber freundlich, wichtige Worte werden lauter ausgesprochen, betont, und er setzt bewusst Pausen ein, in denen seine Zuschauer die Möglichkeit bekommen, ihren Emotionen Ausdruck zu verleihen. So wird z.B. bei dem berühmt gewordenen Satz: „Wir haben endlich unabhängige Gewerkschaften, wir haben das Recht zum Streik und die nächsten Rechte erkämpfen wir schon bald“102 drei mal eine Pause gemacht und so dem Publikum Raum zur Reaktion gegeben. Es klatscht, skandiert seinen Namen, reißt vor Begeisterung die Hände nach oben. Wałęsa informiert hier nicht nur über die Ergebnisse des Streiks, sondern stimmt die Menge auch auf die Zukunft ein, indem er sie in das kommende Werk integriert: „Nicht nur ich übernehme die Verantwortung, sondern wir alle! Denn wir alle zusammen, das ist Stärke, das ist Kraft.“103 Damit appelliert er an alle Versammelten, weiterhin solidarisch zu handeln. An dieser Rede fällt auf, dass Wałęsa ganz bewusst den politischen Akt der Einschreibung in die sinnliche, also öffentliche, Sphäre vollzieht: So betont er beispielsweise, dass das Volk von nun an eine gemeinsame Schrift mit dem Titel Solidarność hat, in der ohne Zensur geschrieben wird und in der die eigene Meinung geäußert werden darf. Der Aufruf zu einer erneuten Versammlung jedes Jahr am 16. Dezember zur Erinnerung an die Katastrophe von 1970 104 darf ebenfalls in diese Richtung

102 Robotnicy ’80. (Zeitangabe: 1:29:39-1:30:03). 103 Ebd. (Zeitanagabe: 1:30:43-1:30:50). 104 Mehr hierzu unter „Das Gedenken der Opfer von 1970“.

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interpretiert werden. Wałęsa weiß zudem genau, wie er mit seinem Publikum umzugehen habe. Hier und da baut er einen kleinen Scherz ein, um die Menschen zum Lachen zu bringen, lächelt schelmisch wie ein kleiner Junge, der etwas Großartiges vollbracht hat. So zeigt er beispielsweise allen die unterschriebenen Dokumente, die er aus seinem Jackett zieht, und betont dabei lächelnd, dass die polnischen Fernsehsender diesen Akt sicherlich herausschneiden werden, wobei er hinzufügt, dass dies sowieso sinnlos sei, denn er halte die Dokumente schließlich in seiner Hand.

S TAATSSICHERHEIT : Z USCHAUER

ODER

A KTEUR ?

Ein Akteur, die polnische Staatssicherheit, ist bisher noch nicht behandelt worden. Seine Art des Auftretens, die sich von dem der bisher behandelten Akteure unterscheidet, soll daher im Folgenden der Analyse unterzogen werden. Das Leben in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg war, wie aus dem bisher Dargelegten deutlich wird, ein Leben, welches stark von staatlicher Kontrolle durchdrungen war. Der polnische Staatssicherheitsdienst war darum bemüht, nicht nur die öffentliche Sphäre, sondern auch das private Leben vieler Bürger, vor allem derjenigen, die sich nicht konform zu den Vorstellungen der Machthaber verhielten, zu überwachen. Bereits in den 1940er Jahren wurde das Ministerium für Staatliche Sicherheit (pl. Ministerstwo Bezpieczeństwa Publicznego, kurz MBP) gegründet, um für die Sicherheit des Staates zu sorgen. Dieses Ministerium war u.a. verantwortlich für den in- und ausländischen Nachrichtendienst, die Spionageabwehr sowie staatsfeindliche Aktivitäten im In- und Ausland, den Schutz und die geheime Kommunikation der Regierung, aber auch die Überwachung der zivilen Kommunikation, der Miliz, Justiz etc. Am 10. Dezember 1956 wurde das MBP aufgrund eines Skandals aufgelöstund durch zwei separate Behörden ersetzt,105 und zwar das Komitee für Öffentliche Sicherheit (pl. Ko-

105 Der Geheimoffizier des MBP Józef Światło hatte nach seiner Flucht in den Westen die Praktiken dieser Behörde publik gemacht, wodurch die Regierung gezwungen war, sie aufzulösen. Vgl. hierzu: Paczkowski, Andrzej: Trzy twarze Józefa Światły. Przyczynek do historii komunizmu w Polsce. Warszawa 2009.

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mitet do Spraw Bezpieczeństwa Publicznego, kurz KdS BP) und das Ministerium für Innere Sicherheit (pl. Ministerstwo Spraw Wewnętrznych, kurz MSW). Während die erstgenannte Institution für den Nachrichtendienst, den Schutz der Regierung, die Gegenspionage und die Geheimpolizei zuständig war, kümmerte sich die zweite um die Überwachung der lokalen Regierungen, der Miliz, der Strafanstalten sowie der Grenzen des Landes. Ab 1956 unterstand ihr auch der Staatssicherheitsdienst (pl. Służba Bezpieczeństwa, kurz SB), der den Schutz und den Erhalt des kommunistischen Systems im Inneren des Landes zu verantworten hatte. Eine seiner wichtigsten Aufgaben bestand darin, opponierende Personen aufzuspüren und deren staatsfeindliche Akte zu verhindern. So verwundert es nicht, dass diese Behörde einen enormen Aufwand betrieben hatte, um alle verdächtigen Objekte im Auge behalten zu können. Neben fest angestellten Mitarbeitern, arbeiteten für die SB auch so genannte Informelle bzw . Inoffizielle Mitarbeiter (kurz IM), die die Behörde – ohne dass diese formal dort angestellt waren – unter einem Decknamen mit Informationen belieferten. Auf diese Weise war es der SB möglich, Kontakt zu Personen aufzubauen, zu denen sie mit offiziellen Mitarbeitern der Behörde keinen Zugang gehabt hätte, und über deren Aktivitäten Informationen zu erhalten. So schleuste sie IM in viele regimekritische Kreise ein oder warb dort verkehrende Personen unter der Zusicherung von Privilegien oder mittels Repressionen an. Die Existenz solcher Mitarbeiter, die in der Bevölkerung als Spitzel bezeichnet wurden, stellte kein Geheimnis dar; die Gefahr, die von ihrer verdeckten Tätigkeit für die nicht konformen Teile der Bevölkerung ausging, war jedoch groß. So sehr sich die in der Opposition Aktiven auch bemühten, Sicherheitsvorkehrungen aufzubauen, ihre Treffen an geheimen Orten oder in von Abhörmöglichkeiten freien Zonen abzuhalten, um sich und ihre Ideen zu schützen, gelang es der SB in den meisten Fällen trotzdem, diese aufzuspüren. Erwähnenswert ist die Tatsache, dass die Anzahl der IM im Verlauf der 1980er Jahre besonders stark anstieg. Den Nachforschungen des IPN zufolge arbeiteten im Jahr 1981 ca. 36 000 IM für die SB, 1989 waren es dagegen bereits 100 000.106 Der Grund für diesen Anstieg liegt vermutlich darin, dass seit dem Danziger Abkommen von 1980 die Anzahl

106 Vgl. hierzu Machcewicz, Paweł: Umgang mit der sozialistischen Vergangenheit – Das Beispiel Polen. Unter: http://www.goethe.de/ges/pok/prj/usv/svg/ pl/deindex.htm (zuletzt aufgerufen am 30.09.2010).

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der opponierenden Kräfte wuchs und das operative Vorgehen gegen diese automatisch ansteigen musste. Bereits Ende der 1970er Jahre, in einer Zeit also, in der sich 1977 die Vereinigung zur Verteidigung der Menschenrechte ROPCiO und auch die Freien Gewerkschaften WZZ Wybrzeże in der Küstenregion gründeten, stellte General Adam Krzysztoporski während einer Konferenz mit den Kommandeuren der MO am 4. September 1978 fest, dass die Machenschaften der Regimegegner zunehmend problematischer werden würden: In der Regel rühmen wir uns damit, dass es für antisozialistische Elemente schier unmöglich ist, in die Arbeitsbetriebe einzudringen. Wir haben sehr viele erfolgreiche Aktionen durchgeführt, wie beispielsweise die Verhinderung von Kolportage in den Betrieben. In vielen Wojewodschaften und Städten hatten wir es mit solchen Vorstößen zu tun. Aber sie versuchen an einzelne Leute heranzukommen und das Problem wird größer. Wir müssen weitere solche Unternehmungen aufdecken, sie verhindern oder wenigstens operativ kontrollieren.107

Die Verhinderung der opponierenden Tätigkeit war somit ein Hauptziel der künftigen operativen Arbeit der SB. Eine wichtige Taktik bestand darin, durch verdeckte Arbeit gezielt Angst zu schüren, innerhalb der Gruppe Konflikte aufflammen zu lassen sowie einzelne Personen der Desintegration und der Observation zu unterziehen.108 Im Kreis von WZZ Wybrzeże arbeitete beispielsweise Edwin Myszk, der den Decknamen „Leszek“ benutzte, als IM. Dank seiner Hilfe hatte der Staatssicherheitsdienst nicht nur von der Gründung der illegalen Gewerkschaft erfahren, sondern war auch über viele Operationen der Gruppe bestens informiert und konnte einige ihrer Aktionen durch präventives Verhaften der Beteiligten unterbinden oder erfolgreich die Wohnungen ihrer Mitglieder durchsuchen.109 Die SB hielt die Freie Gewerkschaft für ein Werk der KOR-Aktivisten110 und einen

107 AIPN Gd 0046/349, t. 5, k. 312-313. 108 Vgl. Cenckiewicz, Sławomir: Oczami Bezpieki. Szkice i materiały z dziejów aparatu bezpieczeństwa PRL. Kraków 2004, S. 312f. 109 Mehr hierzu siehe ebd. 110 Siehe z.B. AIPN Gd 0046/349, t. 5, k. 272.

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von ihnen, Bogdan Borusewicz, für den Begründer von WZZ Wybrzeże,111 doch muss hier richtig gestellt werden, dass beide Annahmen nicht zutreffen. Einerseits stieß die Gründung der Freien Gewerkschaft in der Küstenregion seitens des KOR und auch seitens des hier aktiven Borusewiczs zunächst auf Skepsis und bekam erst später, während der erfolgreichen Aktivität der Gruppe, aus diesen Kreisen Anerkennung. Andererseits fehlt der Name Borusewiczs bei der Unterschriftenliste der Gründungsakte.112 Als die eigentlichen Begründer können daher vielmehr u.a. Joanna und Andrzej Gwiazda, Antoni Sokołowski und Krzystof Wyszkowski genannt werden, die unter diese Akte ihre Namen gesetzt haben.113 Worin sich die SB jedoch nicht irrte, war die Gefahr, die von WZZ Wybrzeże ausging. Die Freie Gewerkschaft bestand nämlich nicht wie KOR nur aus Intellektuellen, die etwas für die Arbeiter tun wollten, sondern aus Intellektuellen und Arbeitern gleichermaßen, die am gleichen Strang zogen und deren Vision Gerechtigkeit und Menschenwürde war. Hierdurch konnte die wichtigste Schicht eines sozialistischen Staates – die Arbeiterschicht – am besten erreicht und aufgewiegelt werden, was wiederum an die Wurzeln der russischen Oktoberrevolution anknüpft.114 Dass es mit der Zeit und der steigenden Zahl der WZZ-Mitglieder zunehmend schwierig wurde, aller Operationen der Gewerkschaft Herr zu werden, zeigt sich nicht nur an der steigenden Anzahl von Flugzetteln und Mauerinschriften, die von der SB nicht rechtzeitig verhindert bzw. beseitigt werden konnten, sondern vor allem im Ausbruch des Streiks auf der Lenin-Werft. Denn trotz strengster Bewachung und Bespitzelung konnte mit Hilfe von WZZ

111 Vgl. AIPN Gd 0046/364, t. 3, k. 186. Dass er selber nicht zu den Begründern der WZZ Wybrzeże gezählt werden kann, gab Borusewicz beispielsweise in einem Interview mit Janina Jankowska zu. Hier sagte er: „Krzysztof Wyszkowski hat konsequent das Ziel verfolgt, die Freien Gewerkschaften an der Küste zu gründen, ich war entschieden dagegen, weil ich Angst hatte, dass das alles nur ein Reinfall wird.“ Siehe Portrety niedokończone. Rozmowy z twórcami „Solidarności“ 1980-1981, S. 55. 112 Vgl. Cenckiewicz 2004, S. 319. 113 Interview mit Krzysztof Wyszkowski im März 2009. 114 Vgl. Kostikov, Piotr: Widziane z Kremla. Moskwa-Warszawa. Gra o Polskę. Warszawa 1992, S. 250.

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Wybrzeże am 14. August 1980 der Streik begonnen und von der SB nicht verhindert werden. Aus dem gerade Dargelegten lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass die SB mit ihren Mitarbeitern im öffentlichen Raum verdeckt handelte, um antistaatliche Organe aufzuspüren und zu beseitigen, um diese also am öffentlichen Auftreten zu hindern. Dies ist auch in Danzig zu beobachten: Der Staatssicherheitsdienst scheute keine Mühe, den Streikverlauf seinen Taktiken entsprechend zu stören. So arbeitete der Historiker Sławomir Cenckiewicz anhand von geheimen Dokumenten zwei Etappen der Antistreik-Operation heraus: In der ersten Phase, vom 14. bis 20. August, versuchte die SB vergeblich zwischen den einzelnen Mitgliedern des Überbetrieblichen Streikkomitees sowie zwischen den Betrieben Unfrieden zu säen und unter den Streikenden Gerüchte zu verbreiten, dass der Streik in die Hand von Juden, Kranken und Drogenabhängigen geraten sei. In der zweiten Etappe, vom 21. bis 30. August, setzte sie – ebenfalls vergeblich – alles daran, die Bedeutung der Forderung nach unabhängigen Gewerkschaften zu schmälern.115 Hierbei ging sie äußerst sorgsam vor und benutzte Arbeiter, so z.B. als IM, die verdeckt in ihrem Auftrag agierten. Eine Entdeckung wäre für sie in dieser Lage gefährlich gewesen, zumal auf der Werft ganz bewusst Ausschau nach Spitzeln gehalten wurde, weswegen die Kontrollen am Einlass sehr streng gehandhabt wurden und durch Einlassdokumente geregelt waren. Die operative Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes war also aus gegebenen und hier herausgearbeiteten Gründen nicht theatral, weswegen ihre Mitarbeiter zwar im allgemeinen Sinn als Akteure bezeichnet werden können, jedoch nicht als theatrale Akteure, da ihre Handlung nicht bewusst ausgestellt war, um einem potenziellem Publikum vorgeführt zu werden. Neben den soeben benannten Tätigkeiten war die Staatssicherheit ein ständiger und wachsamer Beobachter des Streikgeschehens. Anders als die bereits behandelten Zuschauer konnte sie sich, obwohl auch sie durch die beobachtende Tätigkeit zum Publikum zählte, im Akt des Beobachtens nicht in ihrer wahren Identität zeigen und war stets bemüht, diese Observierungen so unauffällig wie möglich zu vollziehen. Da es aufgrund der bereits erwähnten strengen Kontrollen am Eingang schwierig war, ins Innere des Geländes zu gelangen und dies vorwiegend den IM überlassen wurde, die

115 Vgl. Cenckiewicz 2004, S. 429f.

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über einen Einlasszettel verfügten, mischte sie sich z.B. unter die vor den Toren Stehenden, um in der Masse unterzugehen und dennoch Beobachtungen anstellen zu können. Nicht immer gelang es den Beobachtern – trotz großer Vorsicht –, unerkannt zu bleiben, wie folgendes Beispiel beweist: „Um 18:15 Uhr hat ein Wagen [...] das Werftgelände verlassen. [...] Die sich in diesem befindenden Personen haben bemerkt, dass sie beobachtet werden. Um der Beobachtung zu entgehen, haben sie die Geschwindigkeit auf bis zu 100 km/h beschleunigt.“116 Im Großen und Ganzen konnten die Staatssicherheit und ihre Mitarbeiter jedoch inkognito agieren. Von dieser Tätigkeit zeugen zahlreiche sich im Archiv des IPN in Danzig befindende Beobachtungsprotokolle, wie beispielsweise die unter dem Kryptonym „Brama“ (dt. Tor) geführte Observation, die von den Einlasstoren aus akribisch jede nur beobachtbare Einzelheit mit Angabe der Zeit festhielt, um für spätere Aktivitäten daraus Nutzen zu ziehen. So wurden vom ersten Tag des Streiks an beispielsweise alle an der Werft eintreffenden wie auch diese verlassenden Personen notiert. Besonders viel Wert wurde beim Protokollieren auf diejenigen gelegt, denen das Betreten der Werft verboten war, wie z.B. die Aktivistin Anna Walentynowicz, die unter dem Pseudonym „Wala“ in den Beobachtungsprotokollen geführt wurde: Um 11.50 Uhr hat das Auto der Marke Fiat 125p mit dem Kennzeichen GDT-335B das Werft-Gelände durch Tor Nr. 2 verlassen. Im Auto saßen 3 Werftarbeiter in ihren Arbeitsanzügen und mit Helmen auf dem Kopf. Um 12.25 Uhr kam das Auto zurück mit der Figurantin ,Wala‘ und wurde enthusiastisch durch die das Tor bewachenden Arbeiter begrüßt.117

Dass nicht nur Personen, sondern auch Kennzeichen von Autos, die die Werft verließen oder ihr Einlasstor passierten, notiert wurden, weist auf die Akribie der Überwachung hin. Dass dies kein Einzelfall war, lässt sich an den Protokollen ablesen. So wurden allein am 18. August 1980 zwischen 7:30 und 21:00 Uhr 105 Autokennzeichen notiert.118 Hierdurch konnte die SB auf dem Laufenden gehalten werden, welche Betriebe welche Delegierten nach Danzig geschickt hatten oder welche Journalisten das Tor passier-

116 AIPN GD 0046/364 t. 1, k. 90. 117 AIPN GD 0046/364 t. 1, k. 92. 118 Vgl. AIPN GD 0046/364 t. 1, k. 87.

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ten. Doch nicht nur die Ankunft von Personen und Autos wurde hier vermerkt, auch und vor allem sicht- und hörbare Aktivitäten, insbesondere diejenigen, die nicht der Norm entsprachen, wurden wachsam festgehalten. In diesem Zuge wurden auch alle Auftritte von Personen in der Nähe des Tores und der die Werft umgebenden Mauern, auch unter Angabe von Inhalten, notiert wurden. So finden sich hier auch die ersten beiden Auftritte Walentynowiczs nach ihrer Ankunft in der Werft: Um 12:30 Uhr hat die soeben erwähnte Figurantin über Lautsprecher zu den Versammelten gesprochen. Sie hat vor allem darüber geredet, dass sie von der Arbeit entlassen wurde, dass ihr für eine gewisse Zeit der Lohn nicht gezahlt wurde, dass man sie, ohne eine Begründung anzugeben, versetzt hat. Ihre Rede, in der sie auch die Betriebsleitung kritisiert hat, wurde mit Beifall aufgenommen. [...] Um 16:50 Uhr ist die Figurantin ,Wala‘ in Begleitung eines jungen Mannes aufgetreten und hat laut verkündet, dass sie von den Machthabern festgehalten wurde und heute entlassen, direkt zur Werft kam. Die Anwesenden quittierten ihre Erklärung mit Applaus.119

An dem hier sowie dem vorher zitierten Beispiel wird deutlich, dass nicht nur die Streikenden und die Delegierten der fremden Betriebe, sondern auch die vor den Toren stehenden Zuschauer und ihr Verhalten beobachtet wurden. So können wir aus den Protokollen erfahren, dass die außerhalb des Geländes Versammelten die vor ihnen Sprechenden immer mit Applaus begrüßten, die durch den Betriebsfunk ausgestrahlten Radio- und Fernsehansprachen der Regierenden dagegen auf Gelächter und Buh-Rufe stießen. Auf diese Weise wurde beispielsweise auf die Rede des I. Sekretärs reagiert: Um 20 Uhr wurde durch die Lautsprecher des Betriebsfunks die Rede des I. Sekretärs der KC PZPR gesendet. Der Teil der Rede, der sich auf die Errichtung von unabhängigen Gewerkschaften bezogen, ist mit allgemeinem Gelächter empfangen worden.120

119 AIPN GD 0046/364 t. 1, k. 92. 120 Vgl. z.B. AIPN GD 0046/364 t. 1, k. 99.

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In besonderer Weise wurde aber Lech Wałęsa unter die Lupe genommen. Aufgrund der Tatsache, dass der beobachtende Beamte vor den Toren der Werft positioniert war, beschrieb er vor allem die Auftritte des Streikführers auf dieser Bühne. So wird aus den Beobachtungsprotokollen des Staatssicherheitsdienstes zum Streik ersichtlich, dass Wałęsa, der hier unter dem Pseudonym „Wół“ (dt. Ochse) geführt wird, mehrmals täglich zu den vor den Toren Stehenden sprach und ihnen die Neuigkeiten vom Streikverlauf berichtete. Major Jan Nyk beispielsweise seinen Auftritt vom 20. August wie folgt fest: In seinem kurzen Auftritt hat der Figurant mit dem Pseudonym ,Wół‘ darüber informiert, dass sich auf dem Werftgelände ca. 270 Delegierte aus unterschiedlichen Betrieben befinden. Und dass im Überbetrieblichen Streikkomitee kein Streit herrsche. Darüber hinaus hat er die Information erteilt, dass um 9 Uhr die Konferenz der Delegierten beginnen werde, in der diese über die aktuelle Lage in ihren Betrieben berichten werden. Er hat außerdem gesagt, dass bereits viel gemacht worden ist, aber dass man bis zum Ende aushalten müsse.121

So wird hier deutlich, dass Wałęsa nicht nur Nachrichten vom Streikverlauf überbrachte, wann beispielsweise was stattfinden würde oder was stattgefunden habe, sondern dass er auch die durch die Massenmedien verbreiteten Lügen zu korrigieren versuchte, wie z.B. das Gerücht über einen angeblichen Streik im Komitee. Wałęsa rief die vor der Fabrik Versammelten auch zu Handlungen auf. So bat er sie nicht nur, die Streikenden weiterhin zu unterstützen, sondern sprach auch ganz konkrete Bitten aus, wie z.B. dass diejenigen Personen, die über ein Aufnahmegerät verfügten, dieses zur Werft bringen sollten, um die Dokumentation des Streikverlaufs zu ermöglichen.122 Er fragte diese aber auch nach ihrer Meinung. Am 28. August beispielsweise, als die Verhandlungen mit den Regierungsunterhändlern im vollen Gang waren, fragte er die vor den Toren Versammelten, ob die Verhandlungen ihren Wünschen entsprechend verliefen.123 Wie die Antwort der Menschenmasse ausfiel, lässt sich zum heutigen Zeitpunkt leider nicht herausfinden, es ist allerdings aufgrund der euphorischen Stimmung zu die-

121 AIPN GD 0046/364 t. 1, k. 111. 122 Vgl. AIPN GD 0046/364 t. 1, k. 89. 123 Vgl. AIPN GD 0046/364 t. 1, k. 129.

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sem Zeitpunkt des Streiks anzunehmen, dass die Menschen positiv reagierten. In den von Nyk geführten Protokollen wird zudem ersichtlich, dass Wałęsa während seiner Auftritte auch mit den Streikenden in der Werft selbst kommunizierte, vor allem in Momenten der Angst und der Ermüdung: Er hat die Streikenden auch darum gebeten, dass sie denjenigen Kollegen, die Ermüdungsanzeichen haben oder psychisch nicht stabil sind, helfen und diejenigen, die nach Hause gehen möchten, nicht daran hindern. Er appellierte jedoch an diese, dass sie in wenigen Stunden wiederkommen möchten.124

Durch dieses genaue Beobachtung war es der Staatssicherheit möglich, nicht nur über den Streikverlauf auf dem Laufenden zu bleiben, sondern auch die Stimmungen der Streikenden und ihrer Helfer aufzuspüren und das nonkonforme Verhalten wichtiger Akteure festzuhalten, um es eventuell eines Tages gegen diese verwenden zu können.

Resümee Resümierend lässt sich festhalten, dass während des Streiks in Danzig im August 1980 eine Gegenöffentlichkeit mit Hilfe von visueller sowie auditiver Bühnenerzeugung konstituiert wurde. Auf diese Weise konnte über die Gründe für den Streik und die tatsächlichen Forderungen informiert werden, wodurch Lügen der Massenmedien entlarvt werden konnten. An der Erzeugung theatraler Ereignisse auf diesen Bühnenräumen und somit an der Herstellung von Öffentlichkeit waren verschiedene Akteure und Zuschauer beteiligt. Dabei changierte ihre Tätigkeit zwischen Zuschauen und Agieren. Neben den größeren Massen von Streikenden und ihren Sympathisanten, die in ihrer Aktion mehr als Gruppe sicht- und hörbar wurden, lassen sich in beiden Blöcken einzelne Personen ausmachen, die besonders herausragten. Während die einen – wie z.B. Lech Wałęsa, der durch seine Position als Streikführer und seine Fähigkeit, vor Menschenmassen aufzutreten und diese zu unterhalten und mitzureißen – mehr im Vordergrund agierten und sich so auch eigene Popularität sicherten, handelten die anderen, wie beispielsweise Krzysztof Wyszkowski oder Jerzy Janiszewski, im Verborge-

124 Ebd.

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nen des BHP-Saals und befruchteten trotzdem mit ihren Ideen das Auftreten des Streiks in der öffentlichen Sphäre. Die operative Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes lässt sich dagegen nicht als theatral einstufen, da seine Handlung nicht bewusst ausgestellt war, um einem potenziellen Publikum vorgeführt zu werden. Die Staatssicherheit war vielmehr ein ständiger und wachsamer Beobachter des Streikgeschehens, der sich allerdings auch im Akt des Beobachtens nicht in seiner wahren Identität zeigen wollte und stets bemüht war, diese so unauffällig wie möglich zu vollziehen.

„Noch ist Polen nicht verloren...“

Braut:

Wie ist dieses Polen, wisst Ihr’s?

Poet:

Du kannst es überall suchen, und wirst es nirgends finden.

Braut:

Dann sollt’ man’s erst gar nicht

Poet:

Doch gibt es ein kleines Gehäu-

versuchen. se, auf deine Brust drück die Hand ... Hörst du was hämmern? Braut:

Da soll mir was dämmern? s’ Herz!

Poet:

Das eben ist Polen.

Stanisław Wyspiański, Wesele1

Im vorangegangenen Kapitel habe ich anhand von ausgewählten Beispielen theatrale Mittel und Situationen beschrieben und analysiert, mit deren Hilfe eine Gegenöffentlichkeit während des Streiks in Danzig hergestellt werden konnte. In diesem Kapitel möchte ich hingegen auf die inhaltliche Seite des Geschehens eingehen und die Frage danach beantworten, welche Ideen und Kerngedanken mittels Theatralität in die Öffentlichkeit transportiert wurden. Im Vordergrund der Analyse stehen somit bewusst vollzogene Handlungen und bewusst ausgestellte Materialität sowie ihre jeweilige 1

Zitiert aus der Übersetzung von Henryk Bereska: Wyspiański, Stanisław: Die Hochzeit. Drama in drei Akten. Leipzig 1977. Dritter Akt, 16. Szene.

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Interpretation. Diese lassen sich in die turbulente Geschichte Polens einordnen, die während des Streiks eine Aktualisierung erfuhr.

D AS

POLNISCHE

N ATIONALGEFÜHL

Jede Gruppe, die sich als solche konsolidieren will, ist darum bemüht, von sich ein Selbstbild zu gestalten und mit diesem die eigene Differenz nach außen zu betonen. Jan Assmann zufolge nehmen Erinnerungen hierbei eine wichtige Rolle ein, denn alle Gruppen, die ein Bild von sich selbst, d.h. ihrer Einheit und Eigenart haben, stützen dies auf ein Bewusstsein gemeinsamer Vergangenheit.2 In genau diesem Sinne beantwortet auch der französische Religionswissenschaftler Ernest Renan bereits in seinem am 11. März 1882 an der Sorbonne gehaltenen Vortrag die Frage danach, was eine Nation ausmache: In seinen Augen nehmen nicht die Merkmale des gleichen Blutes, der gleichen Sprache oder der gleichen Riten eine herausragende Funktion bei der Bildung der Nation ein, sondern vielmehr das Gedächtnis. Es sei nämlich gerade das geistige Prinzip, das aus tiefreichenden Verbindungen der Vergangenheit resultiere, welches eine Nation ausmache.3 So schreibt er: Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses Prinzip [Nation] aus. Das eine liegt in der Vergangenheit, das andere in der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten, welches man ungeteilt empfangen hat. Der Ahnenkult ist von allen der legitimste; die Ahnen haben uns zu dem gemacht, was wir sind.4

Das gemeinsame Erbe der Vergangenheit verbindet also die Menschen, die dieses empfangen. Es wirkt sich hierdurch auf ihr Verhalten in der Ge-

2

Vgl. Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Jan Assman und Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988, S. 9-18, 10.

3

Vgl. Renan, Ernest: Was ist eine Nation? In: Ders.: Was ist eine Nation? Und andere politische Schriften. Wien 1995, S. 41-58.

4

Ebd., S. 56.

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genwart und in der Zukunft aus. Doch insbesondere die Erfahrung des Leids nimmt Renan zufolge in diesem Zusammenhang eine wichtige Position ein, denn „das gemeinsame Leiden verbindet mehr als die Freude. In den gemeinsamen Erinnerungen wiegt die Trauer mehr als die Triumphe, denn sie erlegt Pflichten auf, sie gebietet gemeinschaftliche Anstrengungen.“5 Eine Nation ist im Sinne Renans also eine Erfahrungsgemeinschaft, die sich aus einer langen Vergangenheit von Anstrengungen, Opfern und Hingabe speist und gewillt ist, in dieser Tradition selbst Opfer zu vollbringen.6 Auch das polnische Nationalgefühl ist in diesem Sinn zu verstehen. Es ist das Resultat jahrelanger negativer Erfahrungen und Leiden, welches immer wieder, auch noch bis in heutige Tage hinein, Identifikation – ganz besonders in Krisenzeiten – ermöglicht. Die Entstehung dieses Nationalgefühls lässt sich in das Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhundert zurückverfolgen,7 eine Zeit, in der Polen aus der Landkarte Europas verschwand: Von 1772 bis 1795 wurde das Land drei Mal geteilt und verlor seine Landesteile an Russland, Preußen und Österreich. Auf dem Wiener Kongress von 1814/1815 wurde die Dreiteilung bestätigt und blieb bis 1918 bestehen.8 Der Verlust staatlicher Souveränität und die damit einher-

5

Ebd., S. 57.

6

In diesem Sinne kann auch Renans Vorstellung von der Nation als eine gedachte Ordnung und kulturell definierte Vorstellung, die eine Kollektivität von Menschen als Einheit bestimmt, gesehen werden. Vgl. Lepsius, Rainer M.: Nation und Nationalismus in Deutschland. In: Michael Jeismann und Henning Ritter (Hg.): Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus. Leipzig 1993, S.193-214.

7

An dieser Stelle sei angemerkt, dass seit Ende des 18. Jahrhunderts die Idee der Nation in ganz Europa virulent war und für die Bildung von Nationalstaaten eine wichtige Rolle spielte, auch wenn sie unterschiedlich motiviert und konnotiert war. Vgl. hierzu z.B. Weichlein, Siegfried: Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa. Darmstadt 2006, S. 2f.

8

Einen Überblick zur Geschichte der Teilungen Polens bietet u.a. Davies 2002, S. 144-249 sowie 268-282; zur Vorgeschichte siehe auch Schulze Wessel, Martin: Politikgeschichte als Strukturgeschichte: Polen in der internationalen Politik des 18. Jahrhunderts. In: Stefan Krimm und Martin Sachse (Hg.): Eu-

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gehende Fremdherrschaft bedeutete einen Schicksalsschlag für das polnische Volk. Es löste ein Trauma aus, das weit über das 19. Jahrhundert hinaus zu einem zentralen Ausgangspunkt politischen Denkens und Handelns werden sollte. Was in Folge der Teilungen aus der Realität verbannt wurde, nämlich die Souveränität des Landes, wurde in den Bereich der Idee verschoben, und diese Idee trug den Namen Nation. Während in der alten Rzeczpospolita (Res publica) der Terminus Nation nur für diejenigen Bewohner Polens reserviert war, die über die vollen bürgerlichen und politischen Rechte verfügten – also den Adel (pl. Szlachta) –, wurde er in der Zeit der Dreiteilung nach und nach auf alle ausgeweitet, die polnisch sprachen und sich dem polnischen Volk zugehörig fühlten.9 In diesem Zusammenhang hebt Jerzy Holzer hervor: „Die Polen, die ihres Landes beraubt worden waren, versuchten nicht, sich über die Staatsangehörigkeit zu definieren, die ja russisch, österreichisch oder preußisch war, sondern über ihre sprachlichen, kulturellen, zum Teil auch konfessionellen Eigen- und Besonderheiten.“10 An die Stelle einer politischen Nation, die mit der Auflösung der Souveränität Polens aufgehoben wurde, trat nun die Kulturnation, die alle Schichten und Stände umfasste.11 Ihr Ziel bestand darin, in der Zu-

ropäische Begegnungen – Noch ist Polen nicht gewonnen! München 2005, S. 71-83. 9

Vgl. Łepkowski, Tadeusz: Polska – narodziny nowoczesnego narodu 17641870. Poznań 2003, S. 121ff. sowie Davies, Norman: God’s Playground. A History of Poland. Bd. 2. Oxford 2005, S. 9.

10

Holzer 2007, S. 8.

11

Im Prozess der nationalen Identitätsbildung nahm die Literatur eine wichtige Rolle ein, die in dieser Zeit eine enge Verbindung mit der Politik einging und den Begriff der Nation idealisierte. So betonen Alfred Gall und die Mitherausgeber des Bandes Romantik und Geschichte: „Sie [die literarischen Texte] intervenieren […] in den Prozess der Entstehung einer Nation und sind als Medien am Prozess des nation building beteiligt, in dem sie durch den imaginierenden Entwurf von Vergesellschaftung Vorstellungswelten sowie Begriffsfelder zum Ausdruck bringen, die in sozialen Praktiken aufgegriffen und so auch im politischen Feld wirksam werden können, wodurch sie auf ihre jeweils eigenständige Art und Weise an der Entstehung der polnischen Nation mitwirken.“ Gall, Alfred et al.: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Romantik und Ge-

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kunft wieder eine politische Nation, also einen unabhängigen polnischen Staat zu errichten. In diesem Zuge bildete sich der Gegensatz zwischen Gesellschaft und Staat heraus: Gesellschaft, das war die polnische Kulturnation; Staat, das waren die fremden Teilungsmächte. Ein Kampf des Einen gegen das Andere war die Folge dieses Unterschieds und der Schlachtruf „Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben“ war geboren. Józef Rufin Wybicki ist der Autor dieses Schlachtrufs; er schrieb ihn als Liedtext zwischen dem 16. und dem 19. Juli 1797 in Italien kurz nach dem gescheiterten Kościuszko-Aufstand, der zu der dritten Teilung Polens geführt hatte. In dieser Zeit hatte er sich General Jan Henryk Dąbrowski angeschlossen, der mit polnischen Legionen unter der Führung von Napoleon Bonaparte die Unabhängigkeit Polens wiederherstellen wollte. Wybickis Lied wurde daher auch von diesen Legionen zum ersten Mal gesungen, und zwar während des feierlichen Abschieds kurz vor ihrem Auszug aus Italien.12 So heißt es auch im Refrain:

schichte. Polnisches Paradigma, europäischer Kontext, deutsch-polnische Perspektive. Wiesbaden 2007, S. 7-17, 10. Nicht außer Acht zu lassen ist bei der Betrachtung der nationalen Identitätsfindung auch die Bedeutung der Religion, explizit des katholischen Glaubens. Es lässt sich sogar eine Verschmelzung der Begriffe der polnischen Nation und des katholischen Glaubens in dieser Zeit konstatieren. Dieser Umstand wird im Kapitel „Die Bedeutung des katholischen Glaubens für Polen“ erläutert werden. Einen wichtigen Beitrag zur Entstehung einer Schichten übergreifenden nationalen Identität trugen auch zahlreiche Kämpfe und Aufstände um die Unabhängigkeit bei. Zu den wichtigsten zählt der Novemberaufstand 1830/31 gegen die russische Besetzung, die Aufstände von 1846 bis 1848 im österreichischen und preußischen Teilungsgebiet und der Januaraufstand 1863/64 im Kongresspolen. Tadeusz Łepkowski zufolge erlangten diese vor allem au fgrund der schnellen Legenden- und Mythenbildung eine große Popularität in der breiten Bevölkerung, in welchen die kämpferische und heldenhafte Leistung der Nation hervorgehoben wurde. Die Helden dieser Aufstände, wie Tadeusz Kościuszko oder Jan Henryk Dąbrowski, wurden zu nationalen Größen erhoben und als Vorbilder um die Sache Polens verehrt. Vgl. hierzu Łe pkowski 2005. 12

Vgl. Panek, Wacław: Hymny Polskie. Wołomin 2007, S. 31.

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Marsch, marsch, Dąbrowski, Vom italienischen ins polnische Land. Unter deiner Führung Vereinigen wir uns mit der Nation!

Auch während des Kampfes war das Lied den Soldaten ein Begleiter, wie Dąbrowski in einem Brief an Wybicki bemerkte: „Die Soldaten finden an deinem Lied immer mehr Gefallen, und wir singen es oft in hochachtungsvollem Gedenken an den Autor.“13 Das Lied kam schließlich nach Warschau, Krakau, Posen und andere ehemals polnische Städte, wo es innerhalb kürzester Zeit Popularität erlangte und zu einer inoffiziellen Hymne aufstieg.14 Die Ursachen dafür sind in seinem Inhalt zu suchen, der die Hoffnung auf die Wiederherstellung der Souveränität sowie die Überzeugung, dass Polen trotz aller Widerstände solange existieren wird, solange es Menschen gibt, die bereit sind, für ihr Vaterland zu kämpfen, ausdrückt: Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben. Was uns fremde Macht genommen, holen wir wieder mit dem Säbel.

Nach dem Erlangen der Souveränität 1918 wurde das Lied schließlich zur polnischen Nationalhymne erhoben. Auch als Polen nach dem Ersten Weltkrieg die Selbstbestimmung wieder erlangt hatte, dauerte die Phase seiner unabhängigen Existenz nur kurz. Bereits im September 1939 geriet es unter die Besetzung deutscher und sowjetischer Truppen, die das Land untereinander aufteilten und seine Re-

13

Zitiert nach ebd., S. 31.

14

1807 gelang es Napoleon, das Herzogtum Warschau zu errichten, 1809 Krakau und Lublin hinzuzufügen und mit einer polnischen Verwaltung, einer eigenen parlamentarischen Verfassung und sogar einer Armee auszustatten. Außerdem gelang es ihm, im „polnischen Krieg“ 1812 durch die Überschreitung der Grenze des Russischen Reiches die 1795 annullierte historische Grenze zwischen Polen und Litauen wiederherzustellen. Nach seiner Niederlage in Russland jedoch wurden die Teilungen wieder in Kraft gesetzt und das Lied der polnischen Legionen verboten. Vgl. ebd.

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gierung in die Flucht schlugen.15 Während des Zweiten Weltkriegs erlitt Polen auf seine Größe bezogen mehr Schäden und Todesopfer als jedes andere beteiligte Land.16 Auch in dieser Zeit war der Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft virulent. Auch in dieser Zeit waren die Sprache, Literatur und Religion den Menschen ein Zufluchtsort und Mittel der nationalen Identitätsbildung. Wybickis Lied spielte dabei eine wichtige Rolle und vereinte die Menschen auch in dieser Situation im Kampf gegen die Besetzer. So soll z.B. innerhalb der Heimatarmee (pl. Armia Krajowa) die Nationalhymne eine wichtige Bedeutung gehabt haben und vor jedem wichtigen Kampf gesungen worden sein. Nach der Kapitulation des Deutschen Reiches am 9. Mai 1945 und dem Sieg der Alliierten konnte die polnische Bevölkerung jedoch immer noch nicht von einer Befreiung des Landes sprechen. Es wurde ohne ihr Einverständnis – den Vereinbarungen in Jalta entsprechend – dem sowjetischen Herrschaftsbereich überlassen. Auch wenn Polen nach dem Zweiten Weltkrieg als quasi eigenständiges Land fungierte, so war offensichtlich, dass über ihm die Handlungsmacht der Sowjetunion stand. Aus diesem Grund war die Akzeptanz der Regierung in der polnischen Bevölkerung sehr niedrig; die Partei wurde als eine fremde betrachtet. Und die Unterscheidung zwischen „wir“, also dem Volk, und „ihr“, den von den Besatzern eingesetzten Politikern, wuchs über die Jahre immer deutlicher an. Ihren Höhepunkt erreichte diese Differenz schließlich in den 1980er Jahren. In dieser Zeit wurde der Ruf nach Unabhängigkeit besonders laut und der Glaube daran, dass Polen noch nicht verloren sei, solange die polnische Gesellschaft am Leben sei, offenbar. Besonders deutlich ist dieses Bestreben nach Unabhängigkeit während des Danziger Auguststreiks 1980 auszumachen. Auffällig ist hierbei, dass die Erinnerung an die Leiden der vergangenen Jahrzehnte unter den Streikenden wieder gegenwärtig wurden und dass sie diese Leiden als Parallele zu ihrer aktuellen Situation, in der in ihren Augen erneut ein Gegensatz zwischen Volk und Regierung auszumachen war, betrachteten. Eine wichtige Funktion für die Identitätsbildung übernahmen hier vor allem überlieferte rituelle Praktiken, wie gemeinsame Gebete und das Zelebrieren Hei-

15

Die polnische Regierung wurde im Exil unter General Sikorski neu gebildet. Zunächst agierte sie von Frankreich, später von England aus.

16

Vgl. Davies 2002, S. 58.

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liger Messen, nationale Symbole, das Singen tradierter Lieder sowie das Lesen von Texten aus der Feder berühmter polnischer Autoren. Jan Assmann subsumiert diese soeben aufgezählten Formen der Aufbewahrung des Vergangenen, die er jede für sich Erinnerungsfiguren nennt, unter dem Begriff „kulturelles Gedächtnis“ und betont, dass mit ihm nicht so sehr die faktische Geschichte, sondern die erinnerte Geschichte transformiert wird. Das kulturelle Gedächtnis existiert für Assmann somit in zwei Modi: Zum einen im Modus der Potenzialität als Archiv, in dem bestimmte Handlungsmuster, Texte oder Bilder angesammelt und bewahrt werden, zum anderen im Modus der Aktualität, also der Möglichkeit, in einer jeweiligen Gegenwart aktualisiert zu werden.17 So konstatiert er: Unter dem Begriff kulturelles Gedächtnis fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten zusammen, in deren ‚Pflege‘ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt.

18

Aus diesem Zitat geht hervor, dass das kulturelle Gedächtnis identifikatorische Potenziale in sich trägt. Es bewahrt den Wissensvorrat, aus dem eine Gruppe das Bewusstsein ihrer Einheit und Eigenart beziehen kann. Die Aktualisierung dieses Wissens ermöglicht eine scharfe Trennung zwischen denjenigen, die etwas miteinander teilen und denjenigen, die es nicht tun. Es ermöglicht somit die Unterscheidung zwischen Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit, zwischen Inklusion und Exklusion. Genau das wurde auf der Danziger Lenin-Werft durch die bewusste theatrale Manifestation des Vergangenen demonstriert und auf die aktuelle Situation des Landes bezogen. Wie genau wäre diese Aufführung zu beschreiben?

R ELIGION

UND

P OLITIK

Noch vor dem Betreten des Streikgeländes in Danzig stach das Eingangstor in die Augen. Es war geschmückt. Nicht nur Blumen, sondern auch re-

17

Vgl. Assmann 1988, S. 13.

18

Ebd., S. 15.

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ligiöse Symbole zierten die grauen Metallgitter. Neben Rosen und Nelken in den Nationalfarben Weiß und Rot dekorierten Bilder von Papst Johannes Paul II., Portraits der Schwarzen Madonna und Kreuze den Eingangsbereich zur Werft-Fabrik.19 Doch dies beschränkte sich nicht nur auf den Eingangsbereich. So hing z.B. über dem Verhandlungstisch ein großes Holzkreuz, und auch neben dem polnischen Adler war an der Wand im BHP-Saal ein Kruzifix platziert. Über diese dekorativen Gegenstände hinaus wurde auch der Katholizismus in aller Offenheit praktiziert. In Form öffentlicher Gebete und Rosenkranzandachten, in Form von Heiligen Messen und dem Singen religiöser Lieder wurde der katholische Glaube öffentlich demonstriert. Auch wenn so mancher Beobachter außerhalb Polens in Staunen über diese offen vollzogene Religiosität bei dem Danziger Auguststreik geriet und dieser mit Unverständnis begegnete, da er ein derartiges Verhalten als einen Rückschritt in der heutigen modernen säkularisierten Welt interpretierte,20 war das bewusste Zur-Schau-Stellen des katholischen Glaubens für die Streikenden keineswegs eine Flucht in die Transzendentalität. Es stellte vielmehr die Möglichkeit dar, auf theatraler Ebene Distanz zum kommunistischen Regime, das Religion ablehnte, herzustellen und so den Gegensatz zwischen dem Volk und der Partei zu demonstrieren. Hierbei wurde an die enge geschichtliche Verbindung des Landes mit dem katholischen Glauben und dessen Funktion als Bewahrer der polnischen Nation angeknüpft. Da dieser Aspekt von wichtiger Bedeutung sowohl für das Verständnis der Aufführungen bei dem Danziger Auguststreik als auch für die Zeit danach ist, soll hier zunächst die geschichtliche Bedeutung des katholischen Glaubens für Polen skizziert, und im Anschluss daran seine Tragweite für den Streikverlauf behandelt werden. Die Bedeutung des katholischen Glaubens für Polen Der Katholizismus wurde in Polen mit der Taufe von Herzog Mieszko I. im Jahr 966 eingeführt, existierte jedoch lange Zeit neben anderen Glau19

Vgl. hierzu z.B. die Fotos im Bildband von Trybek 2000, S. 15, 56, 82.

20

Diese Ansicht ist mir vor allem während der Diskussionen zwischen Zeitzeugen und Wissenschaftlern auf dem Geschichtsforum 2009 in Berlin aufgefallen, das unter dem Titel „1989-2009. Europa zwischen Teilung und Aufbruch“ stattgefunden hat.

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bensrichtungen. Im 16. Jahrhundert war das Land sogar für seine religiöse Toleranz berühmt. Diese ermöglichte es verschiedenen an anderen Orten Europas verfolgten konfessionellen Minderheiten, sich in Polen niederzulassen. Das Zusammenleben dieser heterogenen Gruppen verlief zwar nicht immer konfliktfrei, doch die sozialen Strukturen schufen die Voraussetzung für das Aushandeln von Kompromissen und somit die Möglichkeit, die eigene kulturelle als auch religiöse Differenz zu leben. Vor diesem Hintergrund konnte beispielsweise in Polen ein Zentrum der Entwicklung jüdischen Wissens und jüdischer Religion entstehen.21 Die im 17. Jahrhundert geführten Kriege gegen die protestantischen Schweden stärkten den Katholizismus im Land. Die Verbindung des katholischen Glaubens mit nationalen Gefühlen prägte sich jedoch erst in der Zeit der Dreiteilungen voll aus. Im Zuge zahlreicher Verbote, welche die Teilungsmächte den besetzten Gebieten auferlegten – dazu gehört z.B. das Verbot, die polnische Sprache und Kultur zu pflegen –, suchte die Mehrheit der polnischen Bevölkerung nach Möglichkeiten, ihre Eigenart und Tradition zu bewahren. Während in den meisten Ländern Europas die Aufklärung mit ihrer Kritik an der Kirche das Bürgertum von dieser entfremdete und kirchliche Machtpositionen zurückdrängte, bot die katholische Kirche der polnischen Bevölkerung als einzige intakt gebliebene Institution innerhalb fremdbestimmter Strukturen einen Zufluchtsort. Kirchen wurden zum einzigen Ort, an dem das Polentum manifestiert und gepflegt werden konnte.22 Genau in dieser Zeit, vor allem aber zwischen den Aufständen von 1830 bis 1864, entwickelte sich die tiefe Verbundenheit Polens mit dem Katholizismus,23 und genau in die-

21

Vgl. Kraft, Claudia und Karin Steffen: Europas Platz in Polen. In: Dies. (Hg.): Europas Platz in Polen. Polnische Europa-Konzeptionen vom Mittelalter bis zum EU-Beitritt. Osnabrück 2007, S. 7-30, 14f.

22

Vgl. Kotowski, Albert S.: Polen in Deutschland. Religiöse Symbolik als Mittel der nationalen Selbstbehauptung (1870-1918). In: Heinz-Gerhard Haupt und Dieter Langewiesche (Hg.): Nation und Religion in Europa. Mehrkonfessionelle Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2004, S. 253-279, S. 264.

23

Vgl. ebd., S. 260f. sowie Kriedte, Peter: Katholizismus, Nationsbildung und Säkularisierung in Polen. In: Hartmut, Lehmann (Hg.): Säkularisierung, De-

„NOCH IST POLEN NICHT VERLOREN” | 113

ser Zeit geriet der katholische Glaube zu einer patriotisch motivierten Verteidigungshaltung. So konstatiert Bernhard Stasiewski: Die Kirche wurde durch Konfiskationen und Säkularisationen materiell erheblich geschwächt, sie blieb jedoch die erste Verteidigerin und der Identitätsfaktor des Volkes. [...] Trotz der Bedrohung durch das orthodoxe Russland, das josephinistische Staatskirchentum Österreichs und das protestantisch ausgerichtete Preußen stellte die Zugehörigkeit zur katholischer Kirche für die meisten Polen in den nächsten Jahrzehnten eine Klammer dar, die sie über die Grenzen der Teilgebiete einte.

24

Auch während des Zweiten Weltkriegs nahm die Kirche eine wichtige Rolle als Bewahrerin und Beschützerin der polnischen Nation ein. So propagierte der nach Paris emigrierte Publizist Józef Ordęga in seiner dort 1940 erschienenen Schrift Über die polnische Nation aus der Sicht des Katholizismus und des Fortschritts die Metapher von Polen als „Vormauer des Christentums“. In seinen Augen hatte das Land von seinen Anfängen an eine enge Beteiligung an der Entwicklung der katholischen Kirche. So sei das gemeinsame Ziel der Polen, und nur ein solches mache die Nation aus, schon immer die katholische Religion gewesen. Aus diesem Grund forderte er von allen Gesellschaftsschichten ein Handeln nach christlichen Prinzipien, denn nur ein solches lasse Polen wieder zu einem selbständigen Land werden.25 Ebenso agierte die katholische Kirche während des Realsozialismus. Der atheistische Charakter der marxistischen Lehre steht außer Frage. Die Existenz Gottes und der Glaube an eine übersinnliche, nicht-stoffliche Wirklichkeit werden hier negiert.26 Die Entstehung religiöser Gefühle wird mit sozialen Verhältnissen begründet. So schrieb Karl Marx: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem

christianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Göttingen 1997, S. 249-274. 24

Stasiewski 1974, S. 533.

25

Vgl. Kotkowski 2004, S. 260.

26

Vgl. hierzu und im Folgenden Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In: Ders. und Friedrich Engels: Werke. Bd. 1. Berlin 1961, S. 378-391.

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die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist.“27 Seiner Theorie zufolge ist die Ursache für die Existenz der Religion in der Ausbeutung der Arbeiter durch die bürgerliche Klasse und dem hieraus resultierenden Trostbedürfnis der Ausgebeuteten zu suchen, die sich dadurch in ein illusorisches Glück begeben. Religion betrachtete Marx daher als „Opium des Volks“28. Aus diesem Grund forderte er ihre Beseitigung und verband dieses Ziel mit dem Klassenkampf und der Abschaffung des Kapitalismus. Nur so werde den Ausgebeuteten seiner Meinung nach ermöglicht, zu ihrem wahren Glück zu finden. Auch Wladimir Iljitsch Lenin schloss sich diesen Ansichten an und konstatierte, indem er Marx’s Vorstellung von Religion als Opium für das Volk übernahm: „Die Religion ist eine Art geistigen Fusels, in dem die Sklaven des Kapitals ihr Menschenantlitz, ihren Anspruch auf ein auch nur halbwegs menschenwürdiges Dasein ersäufen.“29 Lenin zufolge sollte durch den Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung die Religion überwunden werden.30 Diese selbst auferlegte, auf die Zukunft hin ausgerichtete Vorstellung des sozialistischen Systems steigerte seinen Erfolgs-

27

Ebd., S. 378.

28

Ebd.

29

Lenin, Wladimir Iljitsch: Sozialismus und Religion. In: Ders.: Werke. Bd. 10.

30

So schreibt er: „Doch der Sklave, der sich seiner Sklaverei bewusst geworden

Berlin 1959, S. 70-75, 71. ist und sich zum Kampf für seine Befreiung erhoben hat, hört bereits zur Hälfte auf, ein Sklave zu sein. Durch die Fabrik der Großindustrie erzogen und durch das städtische Leben aufgeklärt, wirft der moderne klassenbewusste Arbeiter die religiösen Vorurteile mit Verachtung von sich, überlässt den Himmel den Pfaffen und bürgerlichen Frömmlern und erkämpft sich ein besseres Leben hier auf Erden. Das moderne Proletariat bekennt sich zum Sozialismus, der die Wissenschaft in den Dienst des Kampfes gegen den religiösen Nebel stellt und die Arbeiter vom Glauben an ein jenseitiges Leben dadurch befreit, daß er sie zum diesseitigen Kampf für ein besseres irdisches Leben zusammenschließt.“ Ebd.

„NOCH IST POLEN NICHT VERLOREN” | 115

zwang gegen die Religion und führte zum Kampf gegen die Kirche und zu ihrer Verfolgung.31 Zwar sind die Anfänge der kommunistischen Herrschaft in Polen von einer gewissen Nachgiebigkeit gegenüber der Kirche gekennzeichnet, doch nach einer ersten Etablierung des Systems folgte ab 1948 eine Welle von Repressionen und Schikanen, mit welchen die Institutionen der Kirche ausgeschaltet und aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verdrängt werden sollten. In diesem Sinne ist beispielsweise eine Aussage von Stanisław Radkiewicz, dem Leiter der polnischen Sicherheitsorgane, zu verstehen, der die Kirche als den „am besten organisierten Feind des Staates“32 bezeichnete. Im Rahmen der antikirchlichen Sanktionen wurde der Religionsunterricht aus den Schulen verbannt, die Errichtung neuer Gotteshäuser verboten, katholische Verlage und Zeitschriften aufgelöst und zahlreiche

31

In einem unveröffentlichten Brief von Bauern an die Zeitung Sozialistischer Ackerbau heißt es beispielsweise: „Die bolschewistischen Atheisten haben die orthodoxen Kirchen mit übermäßigen Steuern belegt. [...] Sie haben sie zu Theatern, Kinos, Arbeiterklubs und Speicherhäusern umfunktioniert und die kirchlichen Gerätschaften fortgenommen. Von vielen Kirchtürmen hat man die Glocken heruntergeworfen [...]. Die Gemeindemitglieder haben sich dieser Gewalt von Seiten der Kommunisten widersetzt, doch letztere haben sie mit Schußwaffen eingeschüchtert.“ Zitiert nach Ryklin, Michail: Kommunismus als Religion. Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution. Frankfurt a. M. 2008, S. 19f. Auch in zahlreichen Propagandakampagnen wurde versucht, die Kirche zu diffamieren und ihren Stellenwert zu mindern. 1930 waren beispielsweise die Maifeiertage dem Motto gewidmet: Die Kapitalisten zetteln Kriege an, die die Priester dann rechtfertigen. Im Zentralen Park für Kultur und Erholung wurde zu diesem Zweck eine Komposition aufgestellt: Zwischen Kanonenläufen, die aus dem beleibten Körper eines Kapitalisten herausragten, stand die Skulptur eines Geistlichen. Vgl. hierzu Gryz, Ryszard: Państwo a Kościół w Polsce 1945-1956. Na przykładzie Województwa Kieleckiego. Kraków 1999.

32

Zitiert nach Dudek, Antoni: Zarysy stosunków Państwo-Kościół w latach 1944-1956. In: Przemysław Wójcik (Hg.): Elity władzy a struktura społeczna 1944-1956. Warszawa 1993, S. 402-428, 405.

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Schauprozesse gegen Geistliche, denen u.a. staatsfeindliche Tätigkeit bzw. Spionage vorgeworfen wurde, geführt.33 Trotz dieser Maßnahmen ging die Rechnung der kommunistischen Machthaber in Polen nicht auf. Ganz im Gegenteil: Die katholische Kirche ging aus den Konfrontationen mit dem Staat gestärkt hervor und ihre Rolle als Opfer kommunistischer Machenschaften erhöhte ihre Popularität in der Bevölkerung. Wichtig hierfür war sicherlich die Wahl Karol Wojtyłas zum Papst Johannes Paul II. im Jahr 1978. Sie wurde in der polnischen Bevölkerung als ein nationales Ereignis gefeiert und mit Hoffnung auf die Unterstützung durch ihren Landmann im Kampf um die Durchsetzung der Menschenrechte in Polen verbunden. Seine Reise nach Polen ein Jahr nach seiner Wahl – die erste Reise eines Papstes in ein kommunistisches Land überhaupt – löste Begeisterungsstürme in der Bevölkerung aus. Tausende Menschen strömten zu seinen Open-Air-Gottesdiensten und lauschten konzentriert seinen Predigten.34 Die Regierung beobachtete diese Entwicklung mit Sorge, und auch wenn sie angesichts des weltweiten Interesses an diesem Ereignis gute Miene zum bösen Spiel zu machen versuchte, blieb sie ihrer Einstellung bezüglich der Kirche treu, was an einer Aussage des ZK-Mitglieds und Chefredakteurs der Wochenzeitschrift Polityka deutlich wird: Polen bleibt weiterhin ein weltlicher Staat, die Marxisten werden weiterhin aktiv wirken für die Wahrung und Festigung eines solchen Gesichtes der Volksrepublik. [...] Wenn es im katholischen Lager Leute gibt, die meinen, der weltliche Charakter unseres Staates könne geschwächt werden, so ist es angebracht, ihnen offen zu sagen, dies sind Illusionen.35

33

Vgl. hierzu beispielsweise Gryz, Ryszard: Państwo a Kościół w Polsce 19451956. Na przykładzie Województwa Kieleckiego. Kraków 1999. Der bekannteste Prozess gegen einen Geistlichen ist der von Primas Stefan Wyszyński, der sich öffentlich gegen das Dekret der Regierung auflehnte, die Oberaufsicht bei der Besetzung kirchlicher Ämter zu übernehmen. Am 24. September 1953 wurde er inhaftiert und später interniert.

34

Vgl. z.B. Papstreise: „Freue dich, Mutter Polen“. In: Der Spiegel 23/1979, S.106-122.

35

Zitiert nach ebd., S. 109.

„NOCH IST POLEN NICHT VERLOREN” | 117

Doch seine Worte selbst stellten sich als illusorisch heraus, denn die Zahl der Katholiken in Polen stieg in der Folgezeit an. Ganz besonders in der Krisenzeit des Regimes in den 1980er Jahren wuchs die Anzahl der Gläubigen auf 95% der Bevölkerung an.36 Polen war somit das einzige Land innerhalb des kommunistischen Machtbereichs, in dem es nicht gelungen ist, die dominierende Position der Kirche zu erschüttern. Somit kann dem polnischen Schriftsteller Witold Gombrowicz Recht gegeben werden, der bereits 1953 festhielt, dass Gott für die Polen eine „Pistole“ sei, mit der sie Marx erschießen wollen.37 Wie diese ungewöhnliche „Pistole“ mittels Theatralität auf dem Danziger Auguststreik 1980 eingesetzt und zur Abgrenzung der Streikenden vom Regime genutzt wurde, soll nun betrachtet werden. „Wir haben die Kirche aus dem Museum geholt.“ Der Historiker Timothy Garton Ash, der den Streik in Danzig als Journalist begleitete, bemerkt in seinen Beschreibungen: „Where else but in communist Poland would a strike be launched with Holy Mass […].“38 Wenn man den geschichtlichen Hintergrund der tiefen Verbindung Polens mit dem Katholizismus in Betracht zieht, ist es nachvollziehbar, dass am 17. August, dem Tag, an dem der Solidaritätsstreik begann, Priester Jankowski auf dem Gelände der Werft-Fabrik die Heilige Messe zelebrierte. In den für den Staatssicherheitsdienst angefertigten Beobachtungsprotokollen heißt es: „Von 8.55 bis 10.30 Uhr fanden kirchliche Feierlichkeiten statt. Der Priester widmete die Heilige Messe dem Leben Christi.“39 Kirche und Glaube waren im kommunistischen Polen, wie bereits dargelegt, nicht gesetzlich verboten, doch den Machthabern mit ihrer offiziellen Propagandierung des Atheismus ein Dorn im Auge. Das Abhalten einer Messe ausgerechnet auf der Lenin-Werft, einem Prestigeobjekt des polni-

36

Vgl. Luks, Leonid: Der „Sonderweg“ des polnischen Katholizismus (19451989). In: Hartmut Lehmann (Hg.): Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Göttingen 1997, S. 234-248, 242.

37

Vgl. Gombrowicz, Witold: Dziennik (1953-1956). Paris 1982, S. 41.

38

Ash 2002, S. 49.

39

IPN GD 0046/364 t. 1.

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schen Kommunismus, empfanden überzeugte Parteimitglieder sicherlich als Provokation. Für die Streikenden war dieser Akt jedoch mehr als nur Provokation: Es war ein öffentlicher Ausdruck ihres Willens, nicht mehr als Objekte des Regimes behandelt, sondern als zum Handeln fähige und das gesellschaftliche Leben mitgestaltende Subjekte wahrgenommen zu werden. Das wird auch an einer Aussage Wałęsas deutlich: „Wir haben die Kirche aus dem Museum herausgeholt, in das die Propaganda sie hatte verbannen wollen. Wir haben auf diese Weise gezeigt, daß dies unser Polen ist, daß wir nicht nur Mieter, sondern Miteigentümer sind“.40

Abb. 4 - Heilige Messe auf der Lenin-Werft in Danzig im August 1980.

Trotzdem war die Verbindung zwischen den Arbeitern und der katholischen Kirche keine Selbstverständlichkeit; auch die Bereitschaft der Geistlichen, einen Gottesdienst auf dem Werftgelände zu zelebrieren, hielt sich zunächst von Seiten der katholischen Kirche – was sich nicht sofort vermuten ließe – in Grenzen. Priester Jankowski, dessen Brigitten-Kirche als nächste zur Werft lag, wollte ohne eine Genehmigung des Bischofs nicht handeln. Dies bestätigen sowohl die Aussagen der für die Organisation der

40

Wałęsa 1987. S. 205.

„NOCH IST POLEN NICHT VERLOREN” | 119

Heiligen Messe auf der Werft Verantwortlichen Walentynowicz, Szczudłowski, Przybylski, Karandziej und Mikołajczyk,41 als auch die Unterlagen des Sicherheitsdienstes, in denen folgende Feststellung niedergeschrieben ist: [...] in die Pfarrei der Heiligen Brigitte in Danzig sind Vertreter des Streikkomitees mit der Bitte gekommen, Priester Jankowski (11063) möge am 17. August 1980 auf dem Werft-Gelände einen Gottesdienst abhalten. Der Priester hat hierzu keine Position bezogen, vielmehr hat er ihnen erklärt, er müsse die Angelegenheit erst mit Bischof L. Kaczmarek abklären.42

Auch Kaczmarek ging zunächst nicht auf die Bitte der Streikenden ein, mit einem Verweis auf die Vorschriften der PZPR, die einen Gottesdienst auf einem Betriebsgelände verboten. Erst nachdem die Delegation persönlich mit dem 1. Sekretär der Partei in Danzig, Tadeusz Fiszbach, und dem Wojewoden Jerzy Kołodziejski verhandelt und eine Zustimmung eingeholt hatte, gab auch der Bischof seine Zustimmung und schickte Jankowski am Sonntag zur Werft. Die Messe war dennoch mit Auflagen seitens der konsultierten Parteifunktionäre belegt: 1. Während des Gottesdienstes durften keine Auftritte demonstrativen Charakters stattfinden, 2. Der Altar sollte gleich im Anschluss an die Messe abgebaut werden, 3. Die Streikenden mussten versprechen, den Streik so schnell wie möglich zu beenden.43 Indem sie sich also auch an diesem Punkt nicht haben einschüchtern lassen, haben sich die Streikenden mittels des Gottesdienstes in den sinnlichen Bereich der öffentlichen Sphäre eingeschrieben und den Glauben demonstrativ praktiziert: Die Heilige Messe, die von besagtem Tag an täglich den gesamten Streik über zelebriert wurde, fand nicht etwa in einer Kapelle oder einer Kirche statt, sondern wurde bewusst als eine Open-AirVeranstaltung vor Tor Nr. 2 vollzogen.44 Die Streikenden funktionierten einen großen LKW-Anhänger zur Bühne um und errichteten darauf einen

41

Vgl. hierzu Cenckiewicz 2010, S. 131ff.

42

AIPN BU 0713/215, t. 1, k. 37.

43

Vgl. Cenckiewicz 2010, S. 134f.

44

Vgl. hierzu und im Folgenden Szymanski, Berenika: „Noch ist Polen nicht verloren...“ Der Danziger Auguststreik 1980 als Aufführung des Religiösen und Nationalen. In: Forum Modernes Theater 2 /2009, S. 123-134, 127ff.

120 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

provisorischen Altar. Die gesamte Messe wurde – trotz des enormen Widerstands seitens Parteiangehöriger45 – über Lautsprecher übertragen, so dass auf dem gesamten Werftgelände und auch über dieses hinaus eine Teilnahme am Gottesdienst möglich war. Diejenigen, die das Bühnengeschehen nicht sehen konnten, konnten es zumindest hören und somit auch an der Messe partizipieren. An diesem Gottesdienst kann eine interessante Akteur-RezipientSituation konstatiert werden: Einerseits können der Priester Jankowski und seine Helfer als Akteure bezeichnet werden. Sie standen erhöht auf einer Bühne, zelebrierten die Messe und wurden in ihrer Aktion von den die Messe Mitfeiernden, die um sie herum versammelt waren, wahrgenommen. Andererseits erhielten die Teilnehmer der Messe, die sich auf dem Werftgelände befanden und durch Mauern und Zäune körperlich von den vor den Toren Stehenden getrennt waren, durch ihre aktive Teilnahme an der Messe in Form von Gebet und Gesang nicht nur den Status von Zuschauern, sondern traten ebenfalls als Akteure auf: In ihrer aktiven Partizipation am Gottesdienst wurden sie von denjenigen wahrgenommen und beobachtet, die in diesen Stunden vor den Toren der Lenin-Werft standen. Die Wirkung, die von dieser betenden Arbeitergruppe auf dem Streikgelände ausging, war immens. So nahmen nicht nur die vor der Fabrik stehenden Angehörigen der Streikenden am Gottesdienst teil, auch zufällig an der Werft vorbeigehende Bewohner Danzigs beschlossen spontan, sich an der Zeremonie zu beteiligen – angelockt und ergriffen vom Gesang und vom Gebet der Masse. Daher erscheint es wichtig, darauf hinzuweisen, dass erst durch diese erste Messe die Streikenden Zulauf von außerhalb, also von ursprünglich nicht am Streik Beteiligten, bekamen, die von nun an tagtäglich vor den Toren ausharrten und auf diese Weise Solidarität mit 46 den Streikenden bekundeten. Durch das gemeinsame Gebet verschmolzen die sich inner- und außerhalb des Fabrikgeländes befindenden Menschenmassen. Somit kann in einem weiteren Gedankenschritt konstatiert werden, dass alle an der Messe Beteiligten, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Fabrikgeländes, in ihrer Gesamtheit auch als Akteure fungierten, indem sie gemeinsam als Gruppe offen ihre Frömmigkeit demonstrierten, und diese als politisches Statement an die Machthaber und ihre Anhä n-

45

Vgl. Cenckiewicz 2010, S. 134f.

46

Dies ist z.B. an den bereits erwähnten Beobachtungsprotokollen ersichtlich.

„NOCH IST POLEN NICHT VERLOREN” | 121

ger richteten, die den Katholizismus in Polen seit Jahrzehnten vergeblich zu bekämpfen versuchten. Denn „[a]llein die Kirche zeigte sich“, wie Janina Słuszniak bemerkte, „als die einzige Institution, die die Interessen unseres Landes nicht verraten hat.“47 Sicherlich wusste diese Journalistin nicht, als sie diese Aussage traf, dass die kirchlichen Amtsträger nicht freiwillig zu den Streikenden gekommen waren, sondern dass diese um die Messe erst kämpfen mussten. Die Messe kann als ein Ausdruck des Gegensatzes zwischen der Gesellschaft und der Partei verstanden werden. Bereits im 19. Jahrhundert wurden kirchlich-patriotische Manifestationen unterschiedlichster Art vom Volk als Ausdruck politischen Handelns praktiziert und gegen die Besetzer Polens gerichtet, wie ein Artikelausschnitt aus der Zeitung Przegląd Powszechny vom 26. September 1861 verdeutlicht: Seit einer bestimmten Zeit sind Messen aller Art an der Tagesordnung [...]. Das polnische Volk, das sich über viele Jahrhunderte mit den Heiden gerieben und sich den Namen eines christlichen Bollwerks verdient hat, war immer überwiegend religiös. Stets mit den Ungläubigen kämpfend war seine Waffe immer das Kreuz, in dessen Namen es focht. Auf des Säbels Klinge und auf dem Brustpanzer trug jeder Pole das Abbild der Muttergottes oder ein anderes christliches Emblem, und der Kampf begann und endete mit der Anrufung jener unbefleckten Jungfrau, die zur Königin ausgerufen ward.48

Aus dem Zitat wird neben der Gleichsetzung des Religiösen mit dem patriotischen Handeln und seinem einheitsstiftenden Moment sowie seiner abgrenzenden Wirkung auch die Schutzfunktion des Glaubens ersichtlich. Im Gegensatz zu 1861 herrschte in Danzig jedoch das Einvernehmen, dass der Kampf ohne Gewaltanwendung vonstattengehen sollte. Denn Gewalt war schließlich eines der Mittel, welches die Regierung immer wieder benutzte, um der Lage im Land Herr zu werden. Und diese Taktik erschien vor dem Hintergrund der Menschenrechte, die 1975 durch die Schlussakte

47

Kto tu wpuścił dziennikarzy, S. 156.

48

Przegląd Powszechny vom 26.09.1861, zitiert nach Binder, Harald: Kirche und nationale Festkultur in Krakau 1861 bis 1910. In: Martin Schulze Wessel (Hg.): Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa. Stuttgart 2006, S. 121-140, 123.

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von Helsinki im Rahmen des KSZE-Prozesses garantiert worden waren, den Streikenden als untragbar. Selbst Gewalt anzuwenden erschien somit als verpönt.49 Der Kampf in Danzig sollte auf friedlichem Wege ausgefochten werden. Die im Zitat aus Przegląd Powszechny vorgestellten religiösen Symbole wie das Abbild der Mutter Gottes oder das Kruzifix schmückten nun nicht mehr die Säbel und Brustpanzer, sondern waren an die Brust der Streikenden geheftet. Ihnen wurde aber dennoch eine Waffen- und Schutzfunktion zugeschrieben, wie das folgende Kapitel zeigen wird. Mit Hilfe von Gott, Papst und Maria Dass ein Streik im kommunistischen Polen keine ungefährliche Aktion darstellte, zeigten die zahlreichen gewaltsamen Streikniederschlagungen in der polnischen Geschichte, darunter beispielsweise die bereits erwähnten blutigen Ereignisse von 1970, die allen Streikenden in Danzig in schlimmer Erinnerung waren. Auch in den Tagen des Danziger Auguststreikes lag Gefahr in der Luft, und selbst wenn die Streikenden nicht wie 1970 auf die Straße gingen, sondern innerhalb der Fabrik ihren Protest zum Ausdruck brachten, konnte ein gewaltsames Vorgehen des Regimes nicht ausgeschlossen werden. Gerüchte über den Einmarsch russischer Militärtruppen und über Eingriffsvorbereitungen der polnischen ZOMO (Zmotoryzowane Obwody Milicji Obywatelskiej, dt. Motorisierte Distrikte der Bürgermiliz) kursierten permanent unter den Streikenden, wie auch die Meldung des Danziger Polizeipräsidenten bestätigt: Es herrscht die Meinung vor, rund um Danzig lägen spezielle Fallschirmjägereinheiten und stünden Panzer, die nur auf einen Vorwand warteten, um eingreifen zu können. Die Mitglieder der Streikkomitees ermahnen zur Ruhe, die Polizeibeamten nicht zu beleidigen und somit keinen Anlass für ein Eingreifen zu bieten.50

Die Angst, die Katastrophe von 1970 könnte sich wiederholen, war immens. Andererseits war der Wille, etwas zu bewirken, ebenfalls groß. So

49

Interview mit Wyszkowski im März 2009.

50

Meldung des Danziger Polizeipräsidenten. In: Tage der Solidarität, S. 43.

„NOCH IST POLEN NICHT VERLOREN” | 123

fanden die Streikenden ein Mittel, ihre Angst zu lindern, wie in einer Aussage Lech Wałęsas deutlich wird: Die Leute schwankten hin und her zwischen der Angst [...] und jener Revolutionsvorstellung, die einen dazu treibt, unbewaffnet gegen Panzer vorgehen zu wollen. Angesichts dieses Dilemmas und in dieser Spannung fanden wir eine neue Formel, in der sich verschiedene Elemente verbanden: die Religion, der Patriotismus, das Stereotyp der ,Arbeiterklasse‘ [...]. Es war die Formel einer ,Revolution auf Knien‘, mit Gebet, Rosenkranz und Messe.51

Die religiösen Bilder, Symbole und Riten waren also nicht nur, wie bereits herausgearbeitet, der Ausdruck der Forderung, als ein Subjekt anerkannt zu werden, sondern erfüllten auch die Funktion einer gewaltlosen Waffe gegen das Regime, jedoch einer Waffe, die den Streikenden gleichzeitig Mut gab. Dies wird bereits in der ersten Predigt des Priesters Jankowski sichtbar, der zu den Versammelten sagte: „Der Mensch soll das Werk Gottes fortsetzen. Er soll sein Mitarbeiter, sein Co-Architekt in der Gestaltung der Welt sein, in ihrer Vollendung und Vervollkommnung.“52 In dieser Hinsicht wurde auf die Hilfe und den Schutz von „oben“ vertraut. Wenn dieses Vertrauen zu schwinden drohte, wenn die Menge der Streikenden nicht mehr an einen Sieg glaubte oder die Angst vor einem militärischen Angriff ihren Willen zu brechen drohte, konnte mit einem einfachen theatralen Mittel eine Wende herbeigeführt werden. Dann kletterte nämlich Lech Wałęsa, dessen Talent, mit Massen umzugehen, bereits angesprochen wurde, auf die Bühne – mal auf einen Bagger, mal einen Tisch, mal eine Mauer vor der Fabrikhalle oder mal auf einen Elektrokarren – und begann mit Verstärkung eines Sprachrohrs oder Mikrofons, je nachdem was er gerade zur Hand hatte, ein allen bekanntes Lied zu singen. Manchmal war es die polnische Nationalhymne, manchmal ein altes, patriotisches Kirchenlied, wie das Lied Gott, der du Polen: O heil’ger Gott! durch dessen ew’gen Willen Nur deine Völker all’ bestehen können.

51

Wałęsa 1987, S. 204.

52

Predigt des Priesters Jankowski vom 17. August 1980. In: Gdańsk. Sierpień’80. Gdańsk 1990, S.107-113, 110.

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Reiß Polens Volk aus der Tyrannen Händen, Der Jugend Streben woll’st du Segen spenden. Zu Deines Himmels Thron dring unser Flehen, Schenk’ Polen Freiheit, laß es auferstehen.53

Die Menge beruhigte sich schlagartig, schaute zu Wałęsa hoch, stand auf und sang mit ihm.54 Timothy Garton Ash beschreibt einen von Wałesas Auftritten folgendermaßen: Yet as he sings he is transformed: no longer is he the feisty little electrician in illfitting trousers, the sharp talker with many human weaknesses; […] now he stands up straight, head thrown back, arms to his sides, strangely rigid and pink in the face, like a wooden figure by one of the naive sculptors from the Land of Dobrzyn where he was born.55

Und der Journalist Zbigniew Trybek erinnert sich: „Als ich auf die Arbeiter blickte und sah, dass sie weinten, als sie Gott, der du Polen sangen, da war ich selbst unheimlich ergriffen.“56 Durch das gemeinsame Singen erfuhren die Streikenden, wie auch ihr Anführer Lech Wałęsa, also eine Veränderung. Das gemeinsame Singen einte sie. Die schon oft zuvor gesungenen Worte des alten Liedes, welches zeitlich in der Dreiteilung Polens angesiedelt ist, machten ihnen deutlich, dass die Situation von damals nun wieder aktuell war, dass nun sie – so wie damals ihre Ahnen – gefordert waren, Gott um die Erlösung ihrer Heimat zu bitten und darauf zu vertrauen, dass er ihre Gebete, den Streik positiv beenden zu können, erhöre. Dies bestätigt auch Anna Walentynowicz: Die beruhigenden Worte der uns gut bekannten und seit Jahren wiederholten Gebete und Lieder nahmen neue Bedeutungen an. Sie einten uns, gaben uns Kraft. In den

53

Zitiert nach Podsiad, Antoni: Boże, coś Poskę... Monografia historycznoliteracka i muzyczna. Warszawa 1999, S. 609.

54

In den Beobachtungsprotokollen des Staatssicherheitsdienstes sind die Gesangsakte und ihre Wirkung genauestens protokolliert: IPN Gd 0046/364/1 Sierpień ’80.

55

Ash 2002, S. 64.

56

Kto tu wpuścił dziennikarzy, S. 155.

„NOCH IST POLEN NICHT VERLOREN” | 125

konzentrierten Gesichtern der Menschen konnte man mühelos große Ergriffenheit, tiefen Glauben und Hoffnung erkennen.

57

Die Streikenden wurden somit durch das gemeinsame Singen nicht nur an den Zweck ihres Streiks erinnert, sondern auch in ihrem Willen ermutigt. Zudem wurden sie durch diesen theatralen Akt auch in ihrer Gruppenzugehörigkeit gestärkt und nach außen, ihren Gegnern gegenüber, positioniert. Denn neben der stärkenden und einigenden Wirkung nach innen war dieses Lied auch ein Ausdruck des Protestes nach außen, was mit seiner Entstehungsgeschichte zusammenhängt. Ursprünglich war das Lied als eine Hymne für den damals auf polnischem Terrain als König fungierenden russischen Zar Alexander I. geschrieben worden anlässlich des einjährigen Jubiläums seiner Thronbesteigung. Alojzy Feliński verfasste den Text 1816, inspiriert durch die englische Hymne God Save the King. In der Forschungsliteratur wird dieser Umstand damit erklärt, dass Feliński auf Alexander I. große Hoffnungen setzte im Glauben daran, dass er Polen wohlgesonnen sei und es nicht dem Verderben überlassen werde. Selbst Kościuszko, für den der Autor als Sekretär tätig war, soll mit dem Zaren in der gleichen Hoffnung brieflich korrespondiert haben.58 Felińskis Text, der in der Gazeta Warszawska am 20. Juli 1816 erstmals publiziert wurde,59 ist in Form eines Gebetes um das Wohl des Königs gehalten. In der ersten Strophe heißt es: Gott! der du Polen manch’ Hunderte von Jahren Umgeben hast mit Glanz, mit Ruhm und Kraft, Der es mit seinem Schild bewahret in Gefahren, Und Unglück abgewandt durch deine Macht; Zu deines Himmels Thron dring’ unser Flehen, bewahre unseren König, o Herr!60

Die in den Zaren gelegten Hoffnungen wurden allerdings nicht erfüllt und die Hymne von der polnischen Bevölkerung als Farce empfunden. Inner-

57

Walentynowicz, Anna: Cień przyszłości. Gdańsk 1993, S. 84.

58

Vgl. Podsiad 1999, S. 16.

59

Ebd., S. 464.

60

Zitiert nach ebd.

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halb kürzester Zeit wurde sie daher durch verschiedene Autoren umgeschrieben.61 Als die bekannteste Umdichtung gilt die 1817 von Antoni Gorecki verfasste Hymne an Gott über den Erhalt der Freiheit. Gorecki hat den ursprünglichen Text so verändert, dass Gott nicht mehr um das Wohlergehen des Königs, sondern um die Freiheit Polens gebeten wird. Im Refrain heißt es daher: „Zu deines Himmels Thron dring’ unser Flehen, gib uns die Heimat zurück, o Herr!“62 Im Laufe der Zeit hat diese patriotische Version des Liedes unterschiedliche Textvarianten entwickelt; 1860 kursierten bereits elf Strophen. Schon bald war das Singen dieser Textversionen politisch motiviert und gegen die Besatzer gerichtet. Besonders in konspirierenden Studentenkreisen, aber auch anderen opponierenden Vereinigungen genoss es große Beliebtheit und wurde zu Beginn oder am Ende ihrer Versammlungen gesungen. Auch während der Aufstände sollen Soldaten das Lied gesungen haben, und zwar als eines der bedeutendsten Lieder neben dem Mazurek Dąbrowskis. 1862 wurde das Lied allerdings im russischen Teilungsgebiet verboten, was die Untergrundorganisationen trotzdem nicht davon abhielt, es weiterhin zu singen.63 Nach dem Erlangen der Souveränität Polens 1918 war Gott, der du Polen aufgrund seiner patriotischen Inhalte und der Popularität in der Bevölkerung in der engeren Auswahl als neue Nationalhymne, musste sich allerdings dem Mazurek Dąbrowskis geschlagen geben. In dieser Zeit wurde erneut der Refrain geändert, und zwar in „Zu deines Himmels Thron dring’ unser Flehen, unsre freie Heimat segne uns, o Herr!“64 Erst im Zweiten Weltkrieg und dann während des Kommunismus, als das Lied erneut verboten war, wurde von neuem der Refrain von der Befreiung Polens übernommen.65 Auch in Danzig wurde die verschärfte Version gesungen. Krzysztof Wyszkowski erinnert sich, dass das Singen dieses Liedes nichts Selbstverständliches darstellte. Jeder Kirchengänger auf dem Streikgelände kannte zwar das Lied, denn im Rahmen der Messen wurde es ab und an in der „abgemilderten“ Version gesungen, doch während des Streiks sangen auch Nicht-Gläubige das Lied und baten so in der verschärften Textvariante um

61

Ebd., S. 30f.

62

Ebd., S. 31.

63

Vgl. ebd., S. 40.

64

Panek 2007, S. 44.

65

Ebd.

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die Befreiung des Landes.66 Das Lied schaffte es, sie so in die Gemeinschaft der Gläubigen durch das gemeinsame Ziel eines freien Polens zu integrieren, was auch erklärt, dass in den Beobachtungsprotokollen des Staatssicherheitsdienstes jeder dieser Gesangsakte notiert wurde.67 Neben dem Singen von religiösen Liedern spielte auch Papst Johannes Paul II. eine wichtige Rolle sowohl als Vermittler von Kraft als auch als Verbildlichung einer opponierenden Haltung. Seine Ernennung in das höchste Amt der katholischen Kirche wurde vom Großteil der Bevölkerung als ein Zeichen Gottes für die ersehnte Veränderung in Polen gedeutet. Johannes Paul II., der in seinen Predigten von der Bedeutung der Nächstenliebe sprach, der die Wichtigkeit der Menschenrechte betonte und die Freiheit zu einem der wichtigsten menschlichen Güter erklärte, gab bereits bei seiner ersten Reise nach Polen in der Funktion als Papst der Bevölkerung seines Landes große Hoffnung und ermutigte sie auch in der Folgezeit. In Danzig wurde das besonders sichtbar: Bilder des polnischen Papstes zierten die Tore der Fabrik und schmückten die Wände der Verhandlungssäle, aber auch vieler einfacher Aufenthaltsräume. Doch sie dienten nicht nur der Aufmunterung, sondern übernahmen auch eine Schutzfunktion, wie der Journalist Ryszard Kapuśćiński bestätigt: „Diese Portraits fungierten als eine Art Schutzschild. Die Arbeiter sagten: ,Der polnische Soldat wird nicht auf den Papst schießen, der Panzer wird nicht über einen Altar fahren.‘“68 Nicht außer Acht gelassen werden sollte in diesem Zusammenhang auch die Verbindung zu der Leidensgeschichte Polens. Bereits 1848, also während der Dreiteilung, nahm der Dichter Juliusz Słowacki in einem Gedicht die Wahl eines Slawen zum Oberhaupt der katholischen Kirche vorweg: Droht Gefahr, dann hebt der allmächtige Gott unter gewaltigem Glockenton als neuen Papst einen Slawen auf den Thron. Wie eine Laterne im Dunkeln erstrahlt sein Gesicht,

66

Interview mit Krzysztof Wyszkowski im März 2009.

67

Vgl. AIPN GD 0046/364, t. 1, k. 92-141.

68

Kto tu wpuścił dziennikarzy. Warszawa 2005, S. 154.

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seine Schafe zu führen in der Arche Licht. Gottes Welt zu beschützen, braucht es Kraft und Mut. Seht, wie unser Bruder, der slawische Papst es tut.69

Zur Zeit Słowackis wurden die Polen vom Vatikans enttäuscht, weil Papst Pius VII. nichts gegen die Teilungen Polens unternahm. Und Słowacki, der seine Aufgabe als romantischer Seher und Künder (pl. wieszcz)70 ernst nahm und dieser Rolle gerecht werden wollte, prophezeite einen Retter aus Rom. Der slawische Papst wird, wie das Gedicht verkündet, anders als die Feinde, nicht mit Waffen, sondern mit Liebe kämpfen. Er wird Nationen zu Brüdern und Schwestern machen, Gesundheit und Freude bringen und die Dunkelheit mit Licht erhellen. Diesen Papst sahen die Polen nun in der Person Karol Wojtyłas gekommen. Die Streikenden rezitierten untereinander und durch die Lautsprecher in diesem Bewusstsein Słowackis Gedicht und erinnerten sich in Form dieses Aktes an die Unterstützung ihres Papstes.71 Denn dieser Papst ließ sie tatsächlich nicht im Stich, wovon ein Brief von ihm an Kardinal Stefan Wyszyński zeugt, der sowohl im Streikblatt als auch als Flugblatt abgedruckt und mittels Lautsprecher mehrmals vorgelesen wurde. Hier bekundet Johannes Paul II. die Nähe zu seinem Volk und fordert die katholische Kirche in Polen dazu auf, der Nation in dieser schwierigen Zeit beizustehen: Ich bete dafür, dass der Episkopat Polens mit seinem Primas an der Spitze [...] auch dieses Mal dem Volk helfen kann, in seinen mühsamen Bestrebungen um das tägli-

69

Abgedruckt in: Gdańsk. Sierpień’80. Rozmowy. Gdańsk 1990, S. 354f.

70

Der Romantiker verstand sich als Seher und Künder, der einen besonderen Bezug zu Gott hatte und in der Phase seiner Inspiration die Worte Gottes, die ihm dieser einhauchte, wiederzugeben vermochte.

71

Interview mit Wyszkowski und Kiszkis im März 2009.

„NOCH IST POLEN NICHT VERLOREN” | 129

che Brot, um Gerechtigkeit in der Gesellschaft und um die Sicherung seiner unantastbaren Rechte zum eigenständigen Leben und zu seiner Entwicklung.72

Der Papst selbst begleitete den Streik in Form von Gebeten: „Ich bin mit Euch zu Füßen der Jungfrau vom Hellen Berg mittels Sorge, Gebete und Segen.“73 So verwundert es also nicht, dass die Streikenden in ihm eine große Stütze sahen und seine Fotografien überall aufhängten. In die Geschichte ist in diesem Zusammenhang auch der theatrale Akt eingegangen, in dem Lech Wałęsa die Dokumente des Augustabkommens mit einem überdimensional großen Kugelschreiber unterschrieb, auf dem ein Bild von Papst Johannes Paul II. abgebildet war. Und als er nach diesem Akt vor die Menschenmenge trat, streckte er seinen Arm mit dem Kugelschreiber in die Luft, so als ob er eine Siegestrophäe in den Händen halten würde.74 Sicherlich ein Zeichen des Dankes an den polnischen Papst, aber auch eine bewusste Demonstration seiner Rolle für die Streikenden. Eine wichtige Funktion sowohl als Ausdruck des Kampfes als auch als Schutzschild spielte neben dem Papst die Schwarzen Madonna, deren Bild nicht nur die Brust der Streikenden als Anstecker schmückte, sondern auch auf dem gesamten Werftgelände zu sehen war. Doch nicht nur visuell, sondern auch theatral wurde die Bedeutung der Mutter Gottes herausgestellt. Eine wichtige Rolle übernahmen hier die gemeinsamen Gebete, die auch außerhalb der Gottesdienste praktiziert wurden. So erinnert sich der Journalist Andrzej Zajączkowski: Täglich fand eine Art politischen Rosenkranzgebetes statt. Ohne die Anwesenheit der Priester versammelten sich die Arbeiter und sprachen das Mariengebet in einer bestimmten aktuellen Intention. Zum Beispiel dass Gott den Regierenden Klugheit schenke und dass die Familien den Streik durchhalten.75

72

Orędzie Ojca Św. Jana Pawła II. do Prymasa Polski Stefana Kardynała Wyszyńskiego. In: Strajkowy Biuletyn Informacyjny Solidarność vom 24. 08. 1980.

73

Ebd.

74

Dies ist z.B. in dem bereits zitierten Dokumetarfilm Robotnicy ’80 festgehalten.

75

Kto tu wpuścił dziennikarzy, S. 156.

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Auch durch Gesänge wurde die Mutter Gottes um Schutz gebeten. Eine herausragende Stellung nahm hierbei das alte Lied der Schwarzen Madonna ein, das regelmäßig – auch außerhalb der Heiligen Messe – gesungen wurde. Der Text dieses Liedes bezieht sich ausdrücklich auf die Hilfe der Mutter Gottes: Und Du findest bei ihr Frieden und Bewahrung vor Gefahr, denn sie hat ein Herz für jeden der sich zählt zu ihrer Schar. Auch für dich wird sie sich sorgen, für dich sein ein Zufluchtsort, denn auch du kannst ehrlich singen dieses Wort.

Dieses Lied drückt die Bitte aus, dass Madonna einem jeden in schwierigen Zeiten, und so können die Tage des Streiks zweifellos eingestuft werden, als Beschützerin zur Seite stehen möge: Ohne Schutz und ohne Frieden, so erleben wir die Zeit. Und wir wären völlig einsam, ohne Hilfe weit und breit, hätten wir nicht uns’re Mutter, die uns liebevoll anblickt, uns zu Jesus hinführt gütig und geschickt.

Der Grund für diese Hinwendung der Streikenden an die Mutter Gottes liegt daran, dass diese bereits seit dem 17. Jahrhundert als Patronin Polens fungiert. Das Marienpatronat über politische Einheiten war in dieser Zeit keine Seltenheit in Europa. Viele katholische Fürstentümer wählten Maria zur Beschützerin ihres Staates; so z.B. Bayern im Jahr 1610, Frankreich 1638 und Portugal 1646.76 Die Idee des Heiligenpatronats baut auf der

76

Vgl. Tricoire, Damien: Die Erfindung der Gottesmutter Königin von Polen. Zur diskursiven Konstruktion eines katholischen Staates. In: Yvonne Kleinmann (Hg.): Kommunikation durch symbolische Akte. Religiöse Heterogenität und politische Herrschaft in Polen-Litauen. Stuttgart 2010, S. 229-247, 230.

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frühchristlichen Vorstellung auf, dass ein Heiliger für die Menschen bei Gott eintreten kann. Er ist ihr Fürsprecher und somit auch Beschützer.77 Später, im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Christentum, wurde das Patronat auch auf den Bereich der Herrschaft erweitert.78 In dieser erweiterten Funktion ist das Marienpatronat in Polen zu verstehen: Am 1. April 1656 erklärte der polnische König Jan Kazimierz die Mutter Gottes in einer feierlichen Zeremonie, den so genannten Lemberger Gelübden (pl. śluby lwowskie), zur Regina Poloniae, zur Königin und somit Patronin Polens. Damien Tricoire rekonstruiert die Feierlichkeit folgendermaßen: Am Marientag Samstag, den 1. April, wurde in einer feierlichen Prozession ein Marienwunderbild von einer auf dem Friedhof errichteten Kapelle zum Lemberger Dom getragen. Während der vom Nuntius gehaltenen Messe kniete Jan Kazimierz zwischen Predigt und Eucharistie vor dem Altar nieder und sprach das Gelübde: Die Gottesmutter um Hilfe im Krieg gegen die Schweden anflehend, ernannte er sie zur Patronin seiner Länder.79

In der Tat wurden nach dem Ablegen des Gelübdes die schwedischen Truppen bei Warka besiegt. Aus diesem Grund wiederholte Jan Kazimierz sein Gelübde am 23. April in Lemberg, in dem er Maria dankte und den Sieg als das Ergebnis ihrer Fürsprache deutete. Mit der offiziellen Ernennung der Heiligen Jungfrau zur Patronin Polens und dem Sieg über die Schweden ist auch der Mythos um die Wundertätigkeit des Bildes der Schwarzen Madonna von Tschenstochau entstanden. Dieser Umstand hängt wohl damit zusammen, dass in der polnischen Geschichtsschreibung bis heute der Befreiung des Paulinerklosters bei Jasna Góra (Heller Berg), wo sich das Bild der Schwarzen Madonna befindet, von der schwedischen Belagerung eine wichtige Rolle zugesprochen wird. Der Historiker Adam Kersten hat in seinen Studien jedoch nachgewiesen, dass die Belagerung dieses Klosters keineswegs die Wende im Krieg gegen die Schweden brachte. Seiner Meinung nach habe vielmehr die Schrift Nova Gigantomachia von Piotr August Kordecki dieses

77

Kopeć, Jerzy Józef: Geneza patronatu maryjnego nad narodem polskim. In:

78

Vgl. Tricoire 2010, S. 230.

79

Ebd., S. 238.

Roczniki humanistyczne 34/1986, S. 275-292, 282.

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Ereignis nachträglich aufgewertet.80 Auch Tricoire betont, dass nicht, wie in der Geschichtsschreibung gängig, die Ereignisse um das Kloster zum Lemberger Gelübde führten, sondern umkehrt die Gelübde die Belagerung am Hellen Berg rückblickend als Kriegswendepunkt stilisierten, und konstatiert: „Um die Heilige Maria als staatstragende Säule zu etablieren, wurde die jüngste Geschichte neu geschrieben.“81 Er fügt hinzu: „Es hat kein kommunikatives, soziales Gedächtnis zur Belagerung von Tschenstochau gegeben –, vielmehr errang das kulturelle Gedächtnis der Nova Gigantomachia ein Monopol in der Erinnerung.“ 82 So lässt sich erklären, dass der Glaube, Maria habe das Königreich gerettet, im Laufe der Zeit eine große Verbreitung fand, und mit ihm der Kult um das Bild der Schwarzen Madonna in Tschenstochau, dem nachgesagt wird, dass es Wunder bewirken könne, wuchs. Das Bildnis, welches beim ersten Lemberger Gelübde während der Prozession getragen wurde, wurde nachträglich mit dem Bildnis der Schwarzen Madonna gleichgesetzt. Historisch gesehen wurde der Kult um Maria als Königin Polens mit der Figur der Schwarzen Madonna erst auf einer Feierlichkeit am 9. September 1717 verbunden.83 Der Helle Berg wurde dank dieses Aktes und der Legende um die Rettung Polens zum beliebten Wallfahrtsort; besonders zur Zeit der Dreiteilung pilgerten sehr viele Polen nach Tschenstochau – trotz des Verbots der Teilungsmächte. Nach der Niederschlagung des Januaraufstandes 1963 erreichte der Marienkult seinen Höhepunkt: Die Zahl der Pilgerinnen und Pilger soll zwischen 1865 und 1899 von 46101 auf 337507 gestiegen sein und bis 1910 auf 900000.84 In dieser Zeit verschmolzen schließlich die Erinnerungsfiguren der Königin von Polen und der Schwarzen Madonna vollkommen.85 Albert S. Kotkowski betont, dass vor allem nach den Teilungen Polens der Helle Berg und mit ihm das Marienpatronat als Symbol

80

Vgl. Kersten, Adam: Pierwszy opis obrony Jasnej Góry w 1655 r. Studia nad

81

Tricoire 2010, S. 239.

82

Ebd. S. 240.

Nową Gigantomachią Ks. Augustyna Kordeckiego. Warszawa 1959.

83

Ebd. S. 246.

84

Vgl. Kriedte 1997, S. 252.

85

Tricoire 2010, S. 247.

„NOCH IST POLEN NICHT VERLOREN” | 133

des Kampfes um Unabhängigkeit und der untrennbaren Verbindung zwischen Kirche und Nation eine enorme Stilisierung erfuhren.86 Der hier erläuterte Umstand wird vor allem in einer Strophe des Madonnen-Liedes ausgedrückt, die auf die turbulente Geschichte des Landes verweist. In dieser Strophe wird ganz besonders das Vertrauen darauf demonstriert, dass die Schwarze Madonna dem polnischen Volk ihre Hilfe geben werde. Genau diese Strophe wurde ausnehmend gern auch zu Zeiten des Streiks gesungen: Oft hat Dir sich in Bedrängnis unser Volk und Land geweiht: Hilf o Mutter, schenk uns Frieden in den Nöten dieser Zeit. Ist dein Anlitz auch verwundet, Deine Augen blicken mild, Sieh, wir schauen voll Vertrauen, auf dein Bild.

Darüber hinaus kann die Hinwendung der Streikenden an die Schwarze Madonna als politisches Statement interpretiert werden, dass sie und nicht die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei als die wahre Machthaberin im Staate vom Volk anerkannt wurde, und dass sich die Streikenden vielmehr von ihr als von der Partei vertreten fühlten. Schon früher, nämlich von 1956 bis 1966, fungierte das Bildnis als Ausdruck des Widerstandes gegen die kommunistische Regierung. Kardinal Stefan Wyszyński trug während seiner Inhaftierung die Erneuerung des Gelübdes von Jan Kazimierz auf,87 was am 26. August 1956 in einer feierlichen Messe im Freien, zu der sich eine Millionen von Gläubigen versammelt hatte, vollzogen wurde: „Königin von Polen! Wir erneuern heute das Gelübde unserer Ahnen und erklären Dich zu unserer Patronin und Königin der Polnischen Nation.“88 Drei

86

Kotowski 2004, S. 258.

87

Auch Papst Johannes Paul II. hat die Lemberger Gelübde erneuert, und zwar im Jahr 1980.

88

Zitiert nach Rydel, Jan: Sacrum Poloniae Millenium. In: Emil Brix und Hannes Stekl (Hg.): Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa. Wien 1997, S. 231-250, 233.

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Tage nach dem Vollzug dieses Gelübdes schrieb Kardinal Wyszyński einen Brief an den General der Paulinerpatres: „Gott hat noch einmal gezeigt, im Namen welcher Kraft die Nation geeinigt und erneuert werden muss.“89 In den darauf folgenden neun Jahren sollte eine Kopie des Bildes der Schwarzen Madonna von Diözese zu Diözese wandern. Damit wurde die Große Novene zum Milleniumsjahr der Christianisierung Polens eingeleitet, die auf das Jahr 1964 fiel. Dieses Vorhaben wurde seitens der Regierung als Provokation verstanden, da sie im selben Jahr das tausendjährige Bestehen des polnischen Staates zu feiern gedachte. So standen die Veranstaltungen der Partei und die Feierlichkeiten der Kirche in Konkurrenz zueinander.90 Aus diesem Grund wurde die Kopie des Bildes von staatlichen Organen konfisziert, um ihre Wanderung zu verhindern, was zu Folge hatte, dass ein leerer Rahmen stellvertretend für das Madonnenbild die Reise antrat. Zum Abschluss dieses Kapitels soll jedoch angemerkt werden, dass nicht alle am Streik Beteiligten sich dem Ausstellen der hier dargestellten religiösen „Pistole“ kommentarlos und unkritisch unterwarfen. So erachtete z.B. Krzysztof Wyszkowski ihre Wirkung vielmehr für den Zusammenhalt der Streikenden als wichtig, wusste aber, dass sie im Fall eines Angriffs keinerlei Schutzfunktion erfüllen würde. Zudem kritisierte er, dass sich u.a. Lech Wałęsa zu oft hinter den religiösen Symbolen versteckte und bei ihm als auch bei anderen das Gefühl entstand, dass er die Verantwortung für ein mögliches Scheitern nicht sich selbst, sondern dem Willen „von oben“ geben würde. Insbesondere wurde dies Wyszkowski beim Unterzeichnen der Abschlussdokumente mit dem Papst-Kugelschreiber deutlich.91

89

Wyszyński, Stefan: Wielka Nowenna Tysiąclecia. Paris 1962. Brief vom 29. August 1956.

90

Mehr hierzu siehe Micewski, Andrzej: Stefan Kardinal Wyszyński. Primas von Polen. Mainz/München 1990.

91

Interview mit Wyszkowski im März 2009.

„NOCH IST POLEN NICHT VERLOREN” | 135

D ER W UNSCH

NACH

F REIHEIT

Schenkt man den Aussagen von Krzysztof Wyszkowski und Zenon Kwoka Glauben, so ging es den Streikenden nicht darum, den Kommunismus in Polen abzuschaffen. Es waren vielmehr Forderungen nach Grundrechten, die sie zum Handeln veranlassten.92 Betrachtet man den Danziger Streik als eine Aufführung, fällt dem Begriff der Freiheit innerhalb der postulierten Rechte ein besonders theatraler Gehalt zu. Nicht nur in den 21 Forderungen, sondern auch in diversen bewusst ausgestellten Handlungen wurden Bürgerliche Freiheitsrechte, aber auch die Loslösung von der UdSSR von den Streikenden auf theatrale Art und Weise zum Ausdruck gebracht. Im Folgenden sollen Beispiele eines solchen Handelns exemplarisch dargelegt werden. Polen als Christus der Nationen Das polnische Volk hat ein Martyrium durchlitten, welches es zum wahren Christus der Völker machte, ans Kreuz geschlagen, in schweren Wunden zerstückelt. Umso mehr muß es heute religiös sein. Der Glaube stärkt die nationale Gesinnung, weil er die Widerstandskraft erhöht und stark macht zu märtyrerhaftem Leiden, welches uns alleine erhält und uns vor dem Sterben bewahrt.93

Diese Worte, die bereits 1861 formuliert wurden, verraten einen wichtigen Aspekt des Kampfes Polens um die Freiheit: Den Glauben daran, durch das erfahrene Leid und die immer wiederkehrende Unterdrückung durch andere Länder ein auserwähltes Volk zu sein. Hierbei spielt der Messianismus eine wichtige Rolle. Da messianische Gedanken auch in Danzig zum Tragen kamen und in zahlreichen Momenten demonstriert wurden, soll die geschichtliche Verbindung des Begriffes zu Polen näher betrachtet und sein Aufleben während der Streiktage dargelegt werden. Der Messianismus94 steht für eine eschatologische Glaubensvorstellung, die davon ausgeht, dass mit dem Auftreten des Messias – eines von 92

Interview mit Kwoka und Wyszkowski im März 2009.

93

Przegląd Powszechny vom 26.09.1861, zitiert nach Binder 2006, S. 123.

94

Vgl. hierzu Pieróg, Stanisław: Mesjanizm. In: Józef Bachórz und Alina Kowalczykowa (Hg.): Słownik literatury polskiej XIX wieku. Wrocław 1991,

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Gott gesalbten Retters und Erlösers – eine positive Veränderung der gegebenen und als negativ empfundenen Zustände herbeigeführt werden kann. Die älteste Form des Messianismus findet sich im Alten Testament wieder, wo Israel, als das von Gott auserwählte Volk, auf die Ankunft des Messias wartet, der es von Gewalt und Unterdrückung erlösen und in ein Friedensreich führen soll. In der christlichen Glaubensvorstellung dagegen wurde mit der Geburt Jesu Christi das Warten auf den Messias bereits beendet. Der Terminus Messianismus tritt auch außerhalb der Bibel auf, besonders in Zeiten großer Umbrüche und Krisen, in denen er zumeist für politische Zwecke instrumentalisiert wird. So konstatiert auch Friedrich Wilhelm Graf, dass in „Situationen der Krise oder permanenten Bedrohung nationaler Identität [...] häufig christologische Sprachmuster, etwa der Topos vom leidenden Gerechten, reformuliert [werden], um kontrafaktischen Sinn zu stiften.“95 Dies ist auch in Polen im 19. Jahrhundert zu beobachten. Hier wurde der Messianismus-Begriff zur eigenen Sache erklärt: Das Leid des polnischen Volkes sollte dazu führen, in Europa eine neue Ordnung herzustellen und die Menschheit moralisch-ethisch im Geiste des christlichen Glaubens zu erneuern.96 Die Niederschlagung des Novemberaufstands von 1830/31 ist in diesem Zusammenhang von wichtiger Bedeutung.97 Dieses

S. 536-540 sowie Garewicz, Jan: Messianismus. In: Ewa Kobylińska, Andreas Lawaty und Rüdiger Stephan (Hg.): Deutsche und Polen. 100 Schlüsselbegriffe. München 1992, S. 152-160. 95

Graf, Friedrich Wilhelm: Wiederkehr der Götter. München 2007, S. 119.

96

Vgl. Janion, Maria und Maria Żmigrodzka: Romantyzm i historia. Warszawa

97

Am 29. November 1830 vertrieben polnische Aufständische den Großfürsten

1978, S. 57-78. Konstantin, der als Oberbefehlshaber der Armee in Warschau residierte, samt seinen russischen Truppen aus Polen, errichteten im Dezember eine provisorische Regierung und erklärten im Januar 1831 Polen für unabhängig. Der Aufstand hatte den russisch-polnischen Krieg zu Folge. Anfangs war der polnische Widerstand stark und die Russen erlitten schwere Rückschläge. Doch mangels Unterstützung aus dem Ausland und aufgrund einer innenpolitischen Spaltung wurde der Aufstand im September niedergeschlagen. Die polnische Verfassung wurde aufgehoben, die Armee aufgelöst, die Anführer hingerichtet und viele am Krieg Beteiligte nach Sibirien deportiert. Vgl. hierzu Davies 2005. Bd. 2, S. 3ff.

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Ereignis wurde zur literarischen Geburtsstunde des polnischen romantischen Messianismus. „Es war“, wie es Heinrich Olschowski betont, „die Antwort der Romantiker auf die nationale Katastrophe. Umgetrieben von der Frage, wie man der ausweglosen Niederlage einen positiven Sinn abgewinnt, bemühten sie das religiöse Paradigma.“98 Einen wirkungsvollen Ausdruck findet der Messianismus und mit ihm die Intervention in die politischen Prozesse vor allem im Werk des Dichters Adam Mickiewicz (1798-1855). Mickiewicz hatte es nie verwunden, am Novemberaufstand nicht teilgenommen zu haben. Die Nachricht von dessen Ausbruch erreichte ihn in Rom. Gewissensbisse sollen es gewesen sein, die ihn dazu bewogen, das Drama Ahnenfeier III (pl. Dziady III) als eine Art Wiedergutmachung für sein Fehlen zu schreiben. Schon 1832 begann er mit der Arbeit an diesem Text während seines Exils in Dresden.99 Das zunächst im volkstümlichen Brauchtum angesiedelte Drama – die Teile II und IV100 handeln vom Ritus der Geisterbeschwörung an Allerheiligen – wird ins politische Milieu transportiert. Hier verarbeitet Mickiewicz seine Erfahrungen mit den russischen Besatzern aus den 1820er Jahren. Mickiewicz gehörte in dieser Zeit den Geheimbünden der Philomaten und Philareten in Wilna an, deren Ziel darin bestand, mittels Literatur die polnische Sprache und das polnische Volkstum aufrechtzuerhalten. Aufgrund

98

Olschowsky, Heinrich: Sarmatismus, Messianismus, Exil, Freiheit – typisch polnisch? In: Andreas Lawaty und Hubert Orłowski (Hg.): Deutsche und Polen. Geschichte – Kultur – Politik. München 2003, S. 279-288, S. 280.

99

Der Novemberaufstand zwang sehr viele Polen in die Emigration. Auch Deutschland zählte zu den beliebten Flüchtlingsländern. Hier herrschte eine große Sympathie für die Polen: „Polenvereine“ wurden gegründet, in zahlreichen Artikeln und Broschüren nahm man sich der polnischen Angelegenheit an und verewigte ihr Schicksal in vielen Liedern und Gedichten. Siehe hierzu Koenen, Gerd: „Vormärz“ und „Völkerfrühling“ – ein deutsch-polnischer Honigmond? In: Koblińska, Lawaty und Stephan 1992, S. 79-84; Scheitler, Irmgard: „Noch ist Polen nicht verloren!“ – Deutsche Polenbegeisterung im Vormärz. In: Stefan Krimm und Martin Sachse (Hg.): Europäische Begegnungen – Noch ist Polen nicht gewonnen! München 2005, S. 85-109.

100 Dziady II und IV sind in den Jahren 1820-1822 in Wilna entstanden und dort 1823 erschienen.

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dieser Tätigkeit wurde er inhaftiert und später nach Russland verbannt. Im Vorwort zum Stück schreibt er daher: Die Geschichte des leidenden Polen umfaßt viele Generationen und eine nicht zu bestimmende Zahl von Opfern; blutige Szenen ereignen sich in allen Regionen unseres Landes und in fremden Ländern. – Das Poem, das wir heute der Öffentlichkeit unterbreiten, enthält einige Einzelheiten aus der Zeit der Verfolgung, die durch den Zaren Alexander eingeleitet wurde.101

Auch wenn Mickiewicz die Ereignisse der 1820er Jahre beschreibt, so sind Anspielungen auf die Situation in Polen nach dem Novemberaufstand und die aus diesem resultierenden antipolnischen Repressionen deutlich. Im Mittelpunkt des Dramas steht Konrad, der gemeinsam mit anderen Freiheitskämpfern für die polnische Nation im ehemaligen Kloster in Wilna inhaftiert ist. Viele Leidensgeschichten werden unter den Häftlingen ausgetauscht und die Frage gestellt, warum Polen leiden müsse. Mickiewicz gibt darauf eine Antwort: In Ahnenfeier III sakralisiert er die polnische Nation aufgrund ihrer politischen Unterdrückung: Er erhebt das Leid Polens ins Heilsgeschichtliche, stellt also das Schicksal seines Landes als Plan Gottes und Polen als Christus der Nationen dar. Bereits im Vorwort betont er: „Es scheint, als hätten die Könige ein herodianisches Vorgefühl von dem Erscheinen eines neuen Lichts auf der Welt und von ihrem nahen Untergang, während das Volk immer mächtiger an seine Wiedergeburt und Auferstehung glaubt.“102 Auch in seinen im selben Jahr in Paris veröffentlichten Büchern des polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft (pl. Księgi narodu i pielgrzymstwa polskiego), die er ebenfalls während seines Exils in Dresden verfasste,103 greift Mickiewicz die Metapher Polens als

101 Zitiert aus der Übersetzung von Walter Schamschula: Mickiewicz, Adam: Die Ahnenfeier. Ein Poem. Köln 1991, S. 187. 102 Ebd., S. 187. 103 Aus diesem Grund wohl widmet er die Schriften „Dem Deutschen Volke“. In der deutschen Ausgabe von 1833 heißt es: „Diese Bücher des Polnischen Volkes unter den Augen des Verfassers ins Deutsche übertragen widmet derselbe Dem Deutschen Volke als Zeichen seiner aufrichtigen Achtung und Dankbarkeit für die brüderliche Aufnahme, die ihm und seinen unglücklichen Landsleuten bei demselben auf ihrer Pilgerschaft geworden.“ In: Mickiewicz,

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Christus der Nationen auf. Hierbei hebt er den Glauben seines Volkes hervor, das im Gegensatz zu den Teilungsmächten Gott immer treu geblieben ist: „Aber nur das polnische Volk verneigte sich nicht vor diesem neuen Götzen [...]. Das polnische Volk verehrte Gott und wußte, daß wer Gott verehrt, allem dient, was gut ist.“104 Er hebt in einem Vergleich mit dem Gottessohn das Opfer hervor, welches sein Vaterland für Europa zu erbringen habe: „Und man peinigte das Polnische Volk zu Tode und legte es ins Grab [...].“105 So wie Jesus sich für die Menschen geopfert hatte, so muss sich bei Mickiewicz auch Polen für alle Völker Europas opfern und sein Leid ertragen, um eine Erlösung zu erwirken: „Und so wie mit der Auferstehung Christi auf der ganzen Erde die Blutopfer aufhörten, so werden mit der Auferstehung des Polnischen Volkes in der Christenheit die Kriege aufhören.“106 Das Leid und das Unglück des polnischen Volkes erfüllt – so die messianische Aussage Mickiewiczs – einen historischen und einen eschatologischen Sinn. Der romantische Messianismus in Polen war also sowohl ein Symptom der politischen Krise des Landes als auch ein Versuch, diese zu überwinden. Durch seine Verbreitung sollte das Selbstverständnis der polnischen Nation gestärkt und Kräfte für einen Kampf um die Souveränität mobilisiert werden. Indem religiöse Symbole und theologische Deutungsmuster auf die Nation übertragen wurden, wurde die Bereitschaft des Einzelnen, sein Leben für die Wiedererrichtung Polens zu geben, eingefordert. Das wird vor allem in diversen Aufständen deutlich, die als religiös legitimiert galten,107 und an denen auch viele Geistliche teilnahmen.108 Zahlreiche bewusst durchgeführte Aktionen in Danzig 1980 lassen sich im Hinblick auf den messianischen Gedanken interpretieren und somit als

Adam: Die Bücher des polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft. Übersetzt von P. J. B. Gauger. O. O. 1833, S. 0. 104 Ebd. S. 18. 105 Ebd. S. 23. 106 Ebd. S. 24f. 107 Vgl. Kriedte 1997, S. 259. 108 Vgl. Kotowski 2004, S. 272. Kotowski stellt hier außerdem heraus, dass es auch Priester gab, die die nationale Agitation nicht unterstützten. Diese gehörten jedoch der Minderheit an.

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ein erneutes Aufleben des Messianismus in Polen deuten. So versteht ein Arbeiter die Heilige Messe auf der Lenin-Werft in diesem Sinn: Outdoor masses, especially the first one, made an indelible impression upon us. They were experiences which no Shakespeare and no Goethe could produce by his magic. Why? I dare say it was so because even the finest theatrical performances lack that supernatural power which emanates from the wooden cross. An atheist would probably snarl at this statement, but there were no atheists among us, and the experience was genuine. […] For the onlookers the cross was merely a relic two thousand years old and nothing more. For us, strikers, it was something much more because of our (unconscious) identification with Christ. We were ready to take the cross upon our own shoulders, the cross in the form of the caterpillar tracks of the 109

tanks, if it came to an assault on us […].

Die Messe wird hier mit der Aufführung eines Werkes von Shakespeare bzw. Goethe verglichen, mit dem Ergebnis, dass die Wirkung, die von dem Gottesdienst ausging – so die Aussage des Streikenden – jede Theateraufführung eines noch so bedeutenden Dramatikers übertraf. Das einfache Kreuz vermittelte den Zuschauern nicht nur ein einzigartiges Erlebnis von Zusammengehörigkeit, sondern bot ihnen auch, ganz im messianischen Sinne, eine Identifikation mit Jesus Christus, was gerade an den beiden letzten Sätzen des Zitats erkennbar wird: Hier wird die Bereitschaft der Streikenden ausgedrückt, das Kreuz, das in diesem Fall für die aktuellen Sorgen und Nöte des Landes stand, auf die eigene Schulter zu nehmen und zu tragen. Es steht für die bewusste Entscheidung, für das Vaterland zu handeln, so wie es Generationen vor ihnen bereits getan hatten. Verstärkt wurde dieses Gefühl auch durch die Predigt des Priesters Jankowski, der bereits während der ersten Messe eine Parallele zwischen Jesus Christus und dem polnischen Volk aufzeigte. Hierbei bezog er sich auf eine Äußerung von Papst Johannes Paul II., die dieser während seiner Polenreise auf dem Siegesplatz in Warschau formuliert hatte:

109 Zitiert nach Kubik, Jan: The Power of Symbols against the Symbols of Power: the Rise of Solidarity and the Fall of State Socialism in Poland. Pennsylvania 1994, S. 189.

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Ohne Christus lässt sich die Geschichte Polens nicht verstehen. [...] Die Geschichte der Menschen. Die Geschichte der Nation. Hier an diesem Ort, an dieser Stelle solltet ihr das Kreuz des Sieges hin zu Euren Herzen aufstellen. Christus hat das durch menschliche Hand angefertigte Kreuz bis nach Golgatha getragen und niemand wusste, dass durch dieses Kreuz die ganze Welt eine Erlösung findet, und dass auch Du sie findest.110

Hieran anknüpfend forderte Jankowski die Streikenden dazu auf, sich auf die Spuren von Christus zu begeben und das Kreuz, welches ihnen die schwierige Zeit aufbürde, mit erhobenem Haupt und im Vertrauen auf Gott zu tragen: Liebe Schwestern und Brüder: nehmt, nehmt dieses Kreuz Eurer täglichen Pflichten auf Eure Schulter. Und geht den Weg, den Christus gegangen ist, über das Bethlehem Eurer Geburt bis hin zum Ruhm des Triumphes auf Golgotha. Und wir dürfen niemals vergessen, dass nach jedem Karfreitag der Sonntag der Auferstehung folgt.111

Das Kruzifix, das allgemein als das wichtigste Symbol des Christentums erachtet wird, wurde zu einem der zentralen Symbole des Streikes überhaupt und war nicht nur während der Messe präsent. So haben einige Bewohner von Danzig als Zeichen ihrer Solidarität mit den Streikenden dem Streikkomitee ein Kreuz mit gekreuzigtem Christus überreicht. Auf Wunsch Wałęsas wurde dieses Kruzifix über dem Verhandlungstisch des Überbetrieblichen Streikkomitees aufgehängt, damit es die Streikenden an die christlichen Werte und an ihre Pflicht, für das Wohl Polens zu handeln, erinnere und ihnen Kraft gebe.112 Sehr deutlich wird das auch in dem Gedicht Christus mit den Arbeitern – Arbeiter mit Christus (pl. Chrystus z robotnikami – robotnicy z Chrystusem), das am 22. August 1980 anlässlich der Kreuzschenkung aus der Feder des Streikenden B. Rawicz entstanden ist. In dem Gedicht, das sich an Christus wendet, wird neben Gefühlen des Vertrauens auf den Sohn Gottes auch die Liebe zu Polen und der Wunsch

110 Predigt von Jankowski vom 17. August 1980. In: Gdańsk. Sierpień’80. S. 107-113, 111. 111 Ebd. S. 112. 112 Interview mit Zenon Kwoka im März 2009.

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nach Solidarität in der Bevölkerung deutlich. Doch auch die Metapher Polens als gekreuzigter Christus wird thematisiert und die Leiden der Nation betont. Aus diesem Grund wird die Bereitschaft ausgesprochen, für Polen zu kämpfen: An Deine Hilfe glauben Deine Söhne und werden kämpfen, die Ideale beachtend, damit unser Leid geplagtes Vaterland für immer glücklich wird und stark. 113

Welch wichtige Bedeutung dieses Kreuz der Bewohner Danzigs auch während der Verhandlungen des Streikkomitees hatte, wird auch an einem theatralen Akt deutlich. So musste ein ehemaliges Parteimitglied vor allen versammelten Delegaten, Journalisten und sonstigen Zuschauern auf Wunsch des Überbetrieblichen Komitees an diesem Kreuz einen Eid ableisteten, um zu beweisen, dass er aufrichtig für die Sache des Streiks kämpfte: Indem er auf einem Stuhl stehend mit seiner rechten Hand das Kreuz berührte, versicherte er, sich als ehrlicher Delegat seines Betriebes den Delegierten anschließen zu wollen und nicht von der Partei als Spitzel nach Danzig geschickt worden zu sein.114 Neben diesem Kruzifix wurde auch ein anderes Kreuz zum Mittelpunkt eines theatralen Aktes. Als Ausdruck ihres messianischen Empfindens und der sich selbst auferlegten Pflicht, für die polnische Nation ein Stück Freiheit von der Partei zu erkämpfen, nahmen einige Arbeiter, darunter auch Lech Wałęsa, symbolisch ein großes, hölzernes, am Vortag gezimmertes Kreuz auf ihre Schultern, und trugen es gemeinsam nach der ersten Heiligen Messe auf der Werft – von einer Prozession begleitet – an den Ort, an dem später ein Denkmal für die 1970 Verstorbenen stehen sollte. Dabei riskierten sie, in Gefahr zu geraten und eventuell von der Miliz angegriffen zu werden, denn sie verließen für einen Augenblick das Gelände der Werft-Fabrik. Der für das Denkmal auserwählte Ort befand sich nämlich vor Tor Nr. 2.115 Die in der Nähe stationierten Milizionäre ließen der Akti-

113 Abgedruckt in: Punkt. Almanach gdańskich środowisk twórczych, S. 156. 114 Interview mit Zenon Kwoka im März 2009. Fotos zu dieser Situation siehe Trybek 2000, S. 98f. 115 Interview mit Krzystof Wyszkowski im März 2009.

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on jedoch einen freien Lauf. So weihte Priester Jankowski dieses vor der Werft aufgestellte Kreuz und segnete die um ihn Versammelten. Im Anschluss daran sangen alle die Nationalhymne, legten Blumen nieder und stellten brennende Kerzen am Kreuz auf. Wie schon während des Novemberaufstandes die polnische Hymne die Hoffnung auf ein unabhängiges und nicht mehr von fremden Mächten regiertes Polen zum Ausdruck brachte, so drückte sie auch in Danzig während der Streiktage die gleiche Hoffnung aus: Die Streikenden kämpften mit ihren 21 Postulaten für mehr Rechte und mehr Freiheit im kommunistischen Polen, gleichzeitig wünschten sie sich auch mehr Unabhängigkeit ihrer Heimat von der Sowjetunion. In der Diktatur des Regimes sowjetischer Prägung sah die Mehrheit der Polen, wie bereits dargelegt, eine Parallele zur Unterdrückung durch Russland im 19. Jahrhundert. In Danzig sollte der Kampf jedoch ohne Säbel stattfinden, sondern mittels Verhandlungen; nicht mit dem General Jan Henryk Dąbrowski, sondern mit dem Elektriker Lech Wałęsa an der Spitze. In diesem Sinne befestigte ein Unbekannter nach der Messe an dem Kreuz ein Bild der Schwarzen Madonna und ein Stück Papier, auf das ein von Adam Mickiewicz ins Polnische übersetztes Zitat aus Byrons The Giaour gekritzelt war: For Freedom’s battle once begun, Bequeath’d by bleeding sire to sun, Though baffled oft is ever won.116

Das Wort „bleeding“ wurde jedoch ausgelassen, als Zeichen dafür, dass der hiesige Kampf anders als die Aufstände im 19. Jahrhundert, anders als die Kämpfe des Zweiten Weltkriegs und auch anders als der Streik von 1970 ohne Blutvergießen zu Ende gebracht werden sollte. Und als dieses Ziel durch die erfolgreichen Verhandlungsgespräche erreicht war, entschied sich Lech Wałęsa – wohl nicht zufällig – dafür, für das erste offizielle Foto vor einem Kreuz zu posieren. Auch das Vortragen ausgewählter Passagen aus Ahnenfeier III durch Schauspieler des Danziger Theaters „Teatr Wybrzeże“ verstärkte die Identifikation mit dem Messianismus und löste große Ergriffenheit bei den Streikenden aus. Maciej Prus, der künstlerische Direktor des Theaters, der

116 Zitiert nach Kubik 1994, S. 187.

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die Lesung organisiert hatte,117 erinnert sich: „In dem Saal, in dem wir auftreten mussten, herrschte ein ständiges Geklapper von Schreibmaschinen und Fernschreibern. Doch während der ‚Vision des Paters Piotr‘ wurde alles still. Die Leute weinten ungeniert… Man bat uns um Zugaben“.118 Mickiewiczs Pater Piotr sieht in seiner Vision das polnische Volk leiden, wie Jesus Christus gelitten hatte. Seine Peiniger sind die drei Länder, unter denen das polnische Territorium aufgeteilt ist. Die Anklage lautet: Die polnische Nation hat sich dem Zaren nicht untergeordnet und muss sterben. Der Gallier sieht keine Schuld Polens, wie auch Pontius Pilatus zunächst keinen Grund für die Verurteilung Jesu sah, doch er beugt sich der schreienden Masse, gibt Polen zur Kreuzigung frei und begnadigt den Verbrecher Barabbas. Am Kreuz ruft Polen: „Herr, Herr, warum hast du mich verlassen?“, ebenso wie der biblische Jesus um die neunte Stunde rief. Zu seinen Füßen weinte Maria, um Polen dagegen weint in Mickiewiczs Drama die Freiheit. Der Sohn Gottes starb am Kreuz, doch er erstand vom Tode und wurde gen Himmel erhoben und von einer weißen Wolke bedeckt. Im christlichen Glauben wird dies als die Erfüllung der Mission Christi gedeutet. Auch Polen steigt nach seiner Kreuzigung in einem weißen Gewand zum Himmel hinauf und bedeckt mit ihm die ganze Erde. Piotr:

Und ich hör vom Himmel Stimmen, die wie Donner hallen: Er, der Walter aller Freiheit auf der Erde, ist sichtbar allen! […] Hoch erhoben über jedem König, jedem Erdensohne; Auf drei Kronen steht er, selber ohne Krone […].

119

Das polnische Volk darf also auf seine Freiheit hoffen. In Ahnenfeier III wird vor allem die Sehnsucht nach der Befreiung von Russland betont. So kann das Stück als äußerst antirussisch betrachtet werden, da es antipolnische Handlungen des russischen Senators Novosilcevs thematisiert und kritisiert, den Mickiewicz in seinem Stück folgendermaßen charakterisiert: „Er war der Erste, der den brutalen und instinktiven Hass des russischen

117 Nähere Informationen zur Lesung finden sich im Kapitel „Sehnsucht nach Freiheit des Wortes“. 118 Zitiert nach Davies 2002, S. 346. 119 Mickiewicz 1991, S. 301f.

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Regimes gegen die Polen als heilbringend und politisch auffasste, ihn zur Grundlage seines Handelns machte und die Vernichtung des polnischen Volkstums zu seinem Ziel erklärte.“120 Auch andere Schriftsteller dieser Zeit – wie z.B. Juliusz Słowacki121 –, die ihre Moralisierungstendenzen zwar gegen alle Teilungsmächte richteten, sahen insbesondere in der russischen Macht den Hauptgegner. So stellt Maria Janion fest: „Die Romantiker verstanden Russland und Polen als zwei feindliche Mächte innerhalb des Slawentums, die entgegengesetzten Prinzipien folgten: der ,Freiheit‘ und der ,Despotie‘.“122 Auch die Streikenden von Danzig nahmen sich der Aufgabe an, ein Stück Freiheit im kommunistischen Polen zu erkämpfen, indem sie Forderungen stellten und sich so aktiv ins gesellschaftliche Leben einbringen wollten. Doch ging es ihnen nicht nur darum, mehr Rechte innerhalb des kommunistischen Systems zu erkämpfen. Sie sehnten sich auch – wie schon ihre Vorfahren im 19. Jahrhundert – nach einer Befreiung Polens von Russland. In der Sowjetunion sah die polnische Bevölkerung nämlich den Marionettenspieler der PZPR und somit auch des polnischen Volkes, was in vielen Karikaturen der 1980er Jahre deutlich wird. Auf diesen wird Breshnew immer wieder als Marionettenspieler dargestellt, der mit polnischen Politikern hantiert. Dieser Wunsch nach mehr Unabhängigkeit von Russland wurde während der Augusttage in Danzig jedoch nie öffentlich ausgesprochen, wie sich Jerzy Kiszkis erinnert. Die einzige Möglichkeit eine solche Sehnsucht zu formulieren, war das Zitieren der romantischen Literatur.123 Sehnsucht nach Freiheit des Wortes Am 28. August 1980 solidarisierten sich Schauspieler aus dem Teatr Wybrzeże mit den Streikenden. An diesem sowie den darauf folgenden Tagen trugen sie spontan zusammengestellte Texte in Form einer Lesung

120 Ebd., S. 189. 121 Als antirussisch kann z.B. Słowackis Stück Kordian betrachtet werden. 122 Janion, Maria: Polen in Europa. In: Kraft und Steffen 2007, S. 31-66, S. 51. 123 Interview mit Jerzy Kiszkis im März 2009.

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auf dem Gelände der Werft vor.124 Norman Davies stellt die Bedeutung solcher kulturellen Initiativen für die polnischen Arbeiter heraus: In den demokratischen Gesellschaften des Westens, wo die meisten Freiheiten die meiste Zeit geachtet werden, sehen Arbeiter wenig Veranlassung, bei ihren Gewerkschaften auf kulturelle Kost zu drängen, da jede Familie das Kulturgeschehen nach eigenem Gutdünken wahrnehmen oder auch ignorieren kann. In der kommunistischen Welt, wo die gesamte Kultur der offiziellen Propaganda dienstbar zu sein hatte, hatten die Arbeiter jedoch andere Bedürfnisse. Sie waren erregt und begeistert, wenn ihnen eine Theateraufführung oder eine inoffizielle Dichterlesung mit dem Versprechen angekündigt wurde, von der verbotenen Frucht der Doppeldeu125

tigkeiten und mehrdeutigen Bildern kosten zu dürfen.

Halina Winiarska betont, dass das Ensemble, das gewohnheitsgemäß Ende August nach den Sommerferien in Danzig eintraf, erst vor Ort erfuhr, was tatsächlich auf der Werft vor sich ging, und sofort beschloss, zu den Streikenden zu gehen. Diese Aussage bestätigt, dass in den Medien nicht ausreichend über dieses Ereignis berichtet wurde, wie bereits im Kapitel „Theatrale Strategien zur Öffentlichkeitserzeugung“ dargelegt wurde. Winiarska betont im Interview zudem, dass der Auftritt der Schauspieler aus einem Bedürfnis nach Freiheit entstand, vor allem aber der Freiheit des Wortes, welches sie nur mit ihrer Kunst auszudrücken vermochten. Somit folgte das Ensemble bei der Zusammenstellung des Auftritts dem Leitspruch: Alles ist erlaubt, was nicht erlaubt ist. Es wurden Gedichte sowie

124 Meine Informationen zu dem Auftritt der Schauspieler basieren größtenteils auf der Dokumentensammlung Gdańsk. Sierpień’80. Rozmowy, die von Andrzej Drzycimski und Tadeusz Skutnik 1990 in Danzig herausgegeben wurde. Hier findet sich die Abschrift einer Audioaufnahme des Auftritts vom 28. August 1980. Zudem konnte ich viele Informationen durch ein Interview mit den am Auftritt beteiligten Schauspielern Halina Winiarska und Jerzy Kiszkis, das ich im März 2009 in Danzig durchgeführt habe, gewinnen. Ausschnitte der Lesung sind auch in dem für Radio Freies Europa angefertigten Radiobeitrag Polski sierpień von Janina Jankowska zu hören. Siehe hierzu folgende Bestände aus dem Narodowe Archiwum Cyfrowe in Wraschau: NAC RWE/5542/0 Polski sierpień sowie RWE/7046/1, 4 Polski sierpień. 125 Davies 2002, S. 344.

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Prosa- und Dramenfragmente von Autoren hervorgeholt, die verboten waren, wie die Texte Czesław Miłoszs (1911-2005), der Polen bereits 1951 aus politischen Gründen verlassen musste; es wurden auch Texte ausgewählt, die zwar nicht auf der schwarzen Liste standen, deren öffentlicher Vortrag jedoch von Zensoren eigentlich erst hätte genehmigt werden müssen. Texte also, die wie die Schriften der polnischen Romantiker zwar in gedruckter Form existierten, deren Belebung jedoch seitens der Partei nicht erwünscht war. Bereits zu Beginn des ersten Auftritts wies Maciej Prus auf den Umstand hin, der die Arbeiter mit den Künstlern verband, nämlich das Einstehen für die Freiheit, ganz besonders für die Freiheit des Wortes: „Der Punkt, der von der Freiheit des Wortes spricht, das ist der Punkt, der auch uns betrifft. Das ist der Punkt, der über den Stellenwert der Kultur und über uns, Theatermacher, entscheidet, in der neuen Realität, die Sie aufzubauen gedenken.“126 Und so hauchten die Schauspieler gerade den verbotenen und den in die Keller der Zensur verbannten Worten der Dichter neues Leben ein. Auf diese Weise erinnerten sie deren Bedeutung, die auch noch nach Jahren ihre Aktualität nicht eingebüßt hatte. Bei der Betrachtung der ausgewählten Texte lässt sich feststellen, dass sich diese unter dem Motto „Sehnsucht nach einem unabhängigen, freien Polen“ zusammenfassen lassen und hauptsächlich aus der Feder von Autoren stammen, die selbst die Unabhängigkeit des Landes erlebten. In ihnen, wie etwa in einem Fragment aus dem Drama Die Befreiung (pl. Wyzwolenie) von Stanisław Wyspiański (1869-1907), wird die Bedeutung der Zusammengehörigkeit in der Bevölkerung verdeutlicht und Polen glorifiziert: Seht her, das alles ist Polen, jeder Stein und jeder Krümel. Und der Mensch, der hierher kommt, wird ein Teil Polens, ein Teil des Ganzen. Fühlt ihr, dass wir jetzt Polen sind? Reicht mir eure Hände, Brüder und Schwestern. Legt eure Köpfe an meine Brust. Hört ihr? Unsere Herzen schlagen im gleichen Rhythmus, auch unser Atemzug ist gleich. Ja, erst jetzt sind wir Polen. Hier könnt ihr weinen – und keine eurer Träne wird je vergessen werden. Freut euch – und keine eurer Freuden wird von Trauer erfüllt sein. Polen umgibt euch, das ewig unsterbliche Polen. [...]127

126 Gdańsk. Sierpień’80. Rozmowy, S. 353. 127 Ebd.

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Auch wenn Wyspiański gegen die Schwärmereien der Romantiker, ganz besonders Mickiewiczs, polemisiert, da er ihnen in seinem Stück vorwirft, die Idee der Freiheit lediglich in Träumereien übersetzt zu haben, so steht auch bei ihm die Befreiung des Landes, wie es schon der Titel dieses Dramas verrät, an erster Stelle. Konrad, Mickiewiczs Held, begegnet in diesem Stück in der königlichen Kathedrale des Schlosses von Wawel seinem Meister in Form einer versteinerten Statue, die den Namen Genius trägt. Auch er brennt, wie das Original, aus Liebe zu Polen und sehnt sich nach nichts anderem als dessen Befreiung. Doch während Mickiewiczs Konrad von dem Leid spricht, das er empfindet: „Heiße Million – denn für die Million, / Die ich liebe, ist’s da ich mich quäle“128, will Wyspiańskis Figur zur Tat schreiten, denn nur in dieser sieht sie die Möglichkeit, einen freien Nationalstaat zu erlangen. So entreißt sie dem Genius den Kelch der Träumereien. Wilhelm Feldman konstatiert, dass in diesem Stück „mit dem Messiasglauben an ein außerirdisches Polenreich“129 aufgeräumt wird. Diese Szene wurde von den Schauspielern in Danzig jedoch nicht zitiert, es wurden auch keine Anspielungen auf eine Polemik gegenüber der Romantik zugelassen. Darin bestand schließlich nicht das Ziel ihres Auftritts. Vielmehr wurden Passagen ausgewählt, die sich im Allgemeinen auf das Leiden Polens und die Hoffnung auf dessen baldiges Ende konzentrieren. Doch die Tat, die Wyspiański in seinem Drama preist, wird in aller Deutlichkeit ausgesprochen und sogar an den Anfang des Auftritts gestellt. Haben sich doch die Streikenden in Form ihrer Arbeitsniederlegung und der Formulierung von Postulaten eindeutig für das Handeln, für die Tat entschieden: Unfreiheit halte ich nicht mehr aus und auch nicht das knechtsche Elend. Ein bess’res Schicksal will ich und werde dafür kämpfen. Auf dieser Erde will ich siegen, hier den Staat zum Leben erwecken.

128 Mickiewicz 1991, S. 261. 129 Feldman, Wilhelm: Einleitung. In: Wyspiański, Stanisław: Die Warschauerin. Novembernacht. München 1918, S. 5-65, 43.

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Segne doch unsere Tat und uns, deine Söhne.130

Während in diesem Gedichtfragment Gott angerufen wird, um die Taten der nach Freiheit Dürstenden zu segnen, wird in einem Ausschnitt aus Julian Tuwims (1894-1953) Polnische Blumen (pl. Kwiaty Polski) ganz direkt die Bitte ausgesprochen, dem Volk die Möglichkeit zu geben, seine Heimat, die mit einem bescheidenen aber sauberen Haus verglichen wird, in Ordnung zu bringen: Es kann arm, aber sauber sein Unser Haus aus dem Friedhof erhoben Gib ihm eine Erde, wenn es von den Toten erwacht Und ein Strahl der Freiheit ihn vergoldet. Gib ihm eine Regierung von klugen, guten Menschen. Stark in der Weisheit und in der Güte.131

Dieses Gedicht wurde während der Naziherrschaft in Polen begonnen und während des kommunistischen Regimes weitergeschrieben. Tuwim selbst ist 1894 geboren, in einer Zeit, in der die Dreiteilung noch bestand. In seiner Person verbinden sich also die Erfahrungen von den drei Phasen, in welchen Polen von anderen Mächten beherrscht wurde. Bei dem Auftritt der Danziger Schauspieler durften die Romantiker nicht fehlen, wie Jerzy Kiszkis betont.132 Neben Cyprian Kamil Norwid (1821-1883), der bereits 150 Jahre zuvor äußerte, dass die Polen zwar keine Regierung und keine Presse besäßen, jedoch auf die Meisterwerke ihrer Literatur zählen dürften,133 wurden vor allem die mit Zensur belegten Schriften von Adam Mickiewicz zitiert. Die Bedeutung der Ahnenfeier für das messianische Empfinden wurde bereits im vorhergehenden Kapitel betont. Doch das Werk hatte für die Streikenden von Danzig und ihre Unterstützer auch eine andere Bedeutung, nämlich die des Kampfes um die Freiheit des Wortes. Ahnenfeier III war seit seiner Entstehung mit Zensur

130 Gdańsk. Sierpień’80. Rozmowy, S. 352. 131 Ebd., S. 359f. 132 Interview Winiarska/Kiszkis März 2009. 133 Vgl. Gdańsk. Sierpień’80. Rozmowy, S. 352.

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belegt. Weder Mickiewicz noch seine Zeitgenossen konnten es jemals im Theater bewundern. Vielmehr war es durch geheime Lesungen bekannt. Wojciech Dudzik erläutert die Situation folgendermaßen: Die Zensur der an den Teilungen Polens beteiligten Staaten (Rußland, Österreich, Preußen) war wachsam und im Falle des Theaters besonders aktiv, das neben der Kirche die einzige öffentliche Institution in den polnischen Gebieten war, die offiziell die polnische Sprache benutzen durfte. Auch ,Dziady‘ galten lange Zeit als verbotene Lektüre, sogar der Besitz eines Exemplars war gefährlich.134

Es ist also nicht verwunderlich, dass das Stück während des Zweiten Weltkriegs und vor allem mit der Einführung des Kommunismus aufgrund von antirussischen Inhalten und messianischen Gedanken verboten wurde, die nicht in die Ideologie der Machthaber passten. Als im Jahr 1948 der 150. Geburtstag des Dichters anstand und Leon Schiller alle Teile des Stückes in einer Neuinszenierung auf die Bühne bringen wollte, wurde dies persönlich von dem damaligen Ersten Sekretär der PZPR und Staatspräsidenten Bolesław Bierut verboten.135 Erst in der „Tauwetter-Phase“, am 26. November 1955, kam das Werk anlässlich des 100. Todestages des Dichters wieder auf die Bühne in der Regie von Aleksander Bardini. Der Regisseur musste allerdings Kompromisse eingehen, um das Stück überhaupt aufführen zu können. So hatte er beispielsweise auf alle Spuren von Mystizismus und Metaphysik zu verzichten, selbst die Darstellung von Engeln war auf der Bühne verboten. Alle messianischen Anspielungen waren selbstverständlich ebenfalls zu streichen. Stattdessen sollte versucht werden, sozialistische Ideen im Stück herauszuarbeiten, so sollte z.B. die unglückliche Liebe des Helden als soziale Ungerechtigkeit dargestellt werden.136 Aus diesem Grund bemerkte Bohdan Korzeniowski süffisant: „Die

134 Dudzik, Wojciech: Politik und Dichtung „Die Totenfeier“ (Dziady) – Das polnische nationale Drama zwischen Beifall und Verbot. In: Beiträge am Slavischen Seminar der Universität Tübingen. Nr. 20. Tübingen 1998, S. 3-22, 7. 135 Vgl. ebd. S. 12. 136 Vgl. Artwińska, Anna: Romantik in der Volksrepublik Polen im Dienst der Politik. In: Junges Forum Slavischer Literaturwissenschaft: www.jfsl.de/ publikationen/2005/artwinska.htm, S. 1-10, 8. (zuletzt aufgerufen am 26.04.2010).

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Rückkehr der Ahnenfeier auf die Bühne nach einer 22-jährigen Pause stand unter dem Motto: Sie geben ein bisschen nach, Herr Mickiewicz und wir geben ein bisschen nach und in dieser heiligen Übereinstimmung werden wir das Jubiläum ihres 100. Todestags begehen.“137 Trotzdem wurde die Aufführung am Polnischen Theater in Warschau ein Erfolg.138 Das Premierenpublikum war gerührt. So notiert Jan Kott im Przegląd Kulturalny: „Die Minister weinten, den Maschinenmeistern zitterten die Hände, die Garderobenfrauen wischten sich Tränen mit Taschentüchern ab. Die Ahnenfeier bewegte alle tief.“139 Zuschauer aus ganz Polen pilgerten nach Warschau, um das Stück auf der Bühne zu sehen. Nach dieser Inszenierung erlebte die Ahnenfeier bis 1967 insgesamt 14 Premieren, darunter auch eine in der Regie von Jerzy Grotowski. Doch ganz besonders sei an dieser Stelle an die Inszenierung von Kazimierz Dejmek erinnert, da sie ein Ereignis darstellt, das in den Erinnerungen der meisten im August auf dem Danziger Werftgelände Anwesenden haftete.140 Dejmeks Inszenierung der Ahnenfeier am Nationaltheater löste in Polen die Unruhen des Jahres 1968 aus. Sie lässt sich somit in die Kategorie der Theaterereignisse einordnen, die aufständisches Verhalten auszulösen vermochten.141 Auf das Jahr 1967 fiel der 50. Jahrestag der Oktoberrevolu-

137 Korzeniowski, Bohdan: W obronie aniołów. In: Pamiętnik teatralny 1/1956, S. 3-21,6. 138 Vgl. Dudzik 1998, S. 14. 139 Kott, Jan: Czemu to o tym pisać nie chcecie, panowie. In: Przegląd Kulturalny, 49/1955. 140 Interview Winiarska im März 2009. 141 Der bekannteste Fall einer Theaterinszenierung, die revolutionäre Folgen nach sich zog, ist sicherlich die Oper Die Stumme von Portici von Daniel François Esprit Auber, die am 25. August 1830 in Brüssel zur Erstaufführung kam. Im stummen Fischermädchen Fenella glaubte das Publikum die eigene unterdrückte Nation verkörpert zu sehen. Nach dem Freiheitsduett im 2. Akt, das im Namen der Vaterlandsliebe zum Aufstand aufruft und dabei die Marseillaise zitiert, stürzten die Premierenzuschauer auf die Straßen Brüssels und besetzten den Justizpalast. Die Aufführung stellte den Ausgang für die belgische Revolution dar, die die Unabhängigkeit des Landes von den Niederlanden nach sich zog. Mehr hierzu z.B. bei Wagner, Meike: Am Puls der Zeit.

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tion. Dejmek wollte aus diesem Anlass die Ahnenfeier inszenieren. In seiner Begründung gab er an, dass der Hass auf den russischen Zaren nicht nur Mickiewicz leitete, sondern auch Lenin und die Bolschewiki. Das Kultusministerium stimmte dem Vorhaben zu, was überraschend erscheint, da die Partei in dieser Zeit dem Liberalisierungskurs bereits ein Ende gesetzt und ihre ideologische Position verschärft hatte. Am 25. November 1967 erlebte das Stück seine Premiere. Wojciech Dudzik erinnert sich: Zum ersten Mal brachte Dejmek den Text der Widmung des Dichters (, ...dem leuchtenden Andenken der Mitschüler, Mitgefangenen, Mitverbannten ...‘) auf die Bühne. Die Widmung wurde vom Guślarz am Ende der Totenfeier, gleich nach den Worten: [...] (,Zeit ist, da der Väter sei gedacht...‘) vorgetragen. Das bedeutete in ethischer und politischer Hinsicht eine gemeinsame Ebene für alle Teile des Dramas. Das Bühnenbild von Andrzej Stopka (1904-1973) war asketisch: Der Vordergrund frei, weiter ein Podest, auf dem viele Handlungen spielten, dahinter in der Mitte eine große, graue Pforte mit drei Paaren von Kreuzen. An beiden Seiten zusätzlich kleine Glockentürme. [...] Bei der ,Vision des Priesters Peter‘ öffnete sich die Pforte und dahinter erschien ein Altar. [...] Eine große Rolle spielte die Musik, mit bekannten polnischen Kirchenliedern, Psalmen und mit der religiösen Hymne ,Gaude Mater Polonia‘. Anrührend war das letzte Bild: Während der Bauernchor seine Beschwörung wiederholte: ,Dunkel, dumpf ist es auf Erden, Was soll werden, was soll werden?‘ kam Konrad [...] in Fesseln aus der dunklen Bühnentiefe und schaute stumm in die Augen der Zuschauer. Die Anspielung war klar: Der Freiheitskampf war noch nicht zu Ende.142

Die Aufführung wurde vom Publikum sehr gut angenommen, doch für die anwesenden Parteiangehörigen enthielt sie zu viele regierungsfeindliche Anspielungen. Das Kultusministerium ordnete an, die Anzahl der Vorstellungen zu reduzieren; eine Anweisung, die nicht einfach zu kaschieren war, da die Spielpläne bereits veröffentlicht waren. Eine Gerüchtelawine

Theater und Revolution im 19. Jahrhundert. In: Forum Modernes Theater, 2/2008, S. 121-134. 142 Dudzik 1998, S. 16f.

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wurde losgetreten.143 Das Publikum stürmte die wenigen angesetzten Vorstellungen, suchte und fand immer mehr Anspielungen auf die eigene Gegenwart. Schließlich wurde seitens des Ministeriums beschlossen, die Inszenierung vom Spielplan zu nehmen; eine letzte Vorstellung durfte am 30. Januar 1968 gegeben werden. Sie war vollständig ausverkauft. Über 1000 Menschen nahmen im Zuschauerraum Platz. Das Publikum reagierte auf viele Passagen, die es als Anspielung verstand, mit Beifall, spöttischem Lachen oder in Form von Kommentaren. Da die Sicherheitsbehörde den Verlauf der Aufführung und die Reaktionen des Publikums akribisch notierte, ist es möglich, einige Beispiele zu nennen. So gab es z.B. entsprechende Reaktionen des Publikums bei den Worten Adolfs: „Unser Volk schmückt Einfachheit und Gastlichkeit,/Szenen voll Gewalt und Blutvergießen ist es leid“, ebenso während der Szene des „Warschauer Salons“ nach der folgenden Passage: „Das Regime hat seinen Plan, sein tiefverborg’nes Ziel,/Das im höchsten Interesse es verhüllen muß.“, oder während der „Ballszene“ nach dem Satz: „Sie werden Gründe finden, schreien,/Die Universitäten soll man schließen.“144 Am Ende der Vorstellung wollte der Applaus kein Ende nehmen, der Vorhang ging mehrmals hoch. Wojciech Dudzik beschreibt den weiteren Verlauf wie folgt: Anschließend zogen die Zuschauer, meist Studenten, mit den Ausrufen: ,Freie Kunst! Freies Theater!‘, ,Mickiewicz! Mickiewicz!‘, ,Wir wollen Dziady!‘ zum Mickiewicz-Denkmal in die Krakowskie-Przedmieście-Straße, nicht weit vom Nationaltheater entfernt. Am Denkmal griff die Polizei ein, mehrere Personen wurden geschlagen und vorübergehend verhaftet.145

Studentenkundgebungen und die aus ihnen resultierenden Auseinandersetzungen mit der Polizei in ganz Polen waren die Folge. Einige Professoren wurden entlassen, weil sie sich mit ihren demonstrierenden Studenten solidarisiert hatten. Auch Dejmek musste seinen Posten als Intendant des Nationaltheaters räumen. Anfang März kam es zu einer Massenkundgebung auf dem Gelände der Universität in Warschau, bei der Professoren und

143 Vgl. Dejmek, Kazimierz: Casus „Dziady“. In: Dialog 6/1981, S.103-117, 103ff. 144 Vgl. ebd., S. 105. 145 Dudzik 1998, S.18.

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Studenten gemeinsam die Forderungen des Schriftstellerverbandes unterstützten, der sich für die Freiheit des Wortes und gegen die Zensur ausgesprochen hatte. Die Kundgebung wurde gewaltsam aufgelöst. All dieser Vorgänge waren sich die Anwesenden auf der Werft während ihres Streiks bewusst. In ihrem Gedächtnis waren diese Ereignisse aus dem Jahr 1968 fest eingeschrieben,146 auch deswegen, weil die Arbeiter damals sich dem Kampf der Studenten und der Intellektuellen nicht angeschlossen hatten. Für sie war damals die ideologische Unterdrückung weit weniger relevant als für die Intellektuellen, vielmehr empfanden sie das Sinken des Lebensstandards als entscheidender.147 Nun war die tiefe Kluft aber überwunden, und Arbeiter und die sich mit ihnen solidarisierten Intellektuellen setzten sich gemeinsam für die gleichen Ziele ein. Das Vortragen der Passagen aus dem Werk von Mickiewicz hatte also auch den hohen Stellenwert der Bestrebung um die Freiheit des Wortes und mit ihm der Freiheit generell. Aus der Sicht des heutigen westlichen Rezipienten erscheint das hier vorgestellte exponierte Vertrauen auf Gott und die mit ihm verbundenen Bilder und Symbole übersteigert und die Frage nach dem Scheitern eines solchen Umgangs mit dem Glauben drängt sich auf. Dass die religiösen Bilder und Symbole und der Glaube an ihren Schutz keinen Siegeszug garantieren, zeigte sich schon mit der Einführung des Kriegsrechts durch General Jaruzelski. Auf diese Phase und die mit ihr einhergehenden Proteste soll im nächsten Kapitel der Fokus gelegt werden. Resümee Wie in diesem Kapitel deutlich wird, war die bewusste Ausstellung von Handlungen auf dem Danziger Auguststreik mit bestimmten Inhalten belegt. So wurde durch die Demonstration religiöser Praxis, durch das bewusste Ausstellen von religiösen und nationalen Bildern und Symbolen, das Singen von tradierten Liedern und das Rezitieren bedeutender Ausschnitte aus der polnischen Literatur an den Augusttagen mit Hilfe theatraler Strategien Protest ausgeübt. Diese bewusste Vergegenwärtigung des kulturellen Gedächtnisses hat es den Streikenden ermöglicht, nicht nur ihre Identität als Gruppe und somit ihre Zusammengehörigkeit zu stärken, son-

146 Interview Winiarska/Kiszkis im März 2009. 147 Vgl. Kühn 1999, S. 51.

„NOCH IST POLEN NICHT VERLOREN” | 155

dern auch, sich nach außen – dem Regime und seinen Anhängern gegenüber – zu positionieren. Das Wiederaufleben des messianistischen Gedankens der Romantiker und das gezielte Zur-Schau-Stellen der historischen Parallelen zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert drückte ganz besonders die oppositionelle Haltung der Streikenden aus, ihren Willen, als handlungsfähige Subjekte anerkannt zu werden, sowie ihren Wunsch nach Freiheit. Denn an diesen Tagen waren sie davon überzeugt, dass Polen noch nicht verloren war, solange sie lebten; und das sollten alle sehen, vor allem aber die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei.

Vom Protest zum Ritual

In a given time and place, people learn a limited number of claim-making performances, then mostly stick with those performances when the time to make claims arrives. Charles Tilly, Contentious Performances1

N UR

EIN

H AUCH

VON

F REIHEIT

Im Zuge der Stettiner und Danziger Abkommen entstanden unter der Schirmherrschaft der Solidarność neben den bereits im Untergrund existierenden Blättern weitere unabhängige Zeitungen und Bulletins, die im Gegensatz zu den 1970er Jahren nun in der Bevölkerung an Popularität gewonnen hatten und als Alternative zur offiziellen Presse gelesen wurden. Auch einige neue Verlage wurden gegründet.2 Die Parteiführung, die diese Entwicklung mit Sorge betrachtete, verteidigte jedoch ihr Monopol auf das Fernsehen mit Nachdruck. Alle Versuche der Solidarność und ihrer Anhänger, im Fernsehen auftreten zu können oder einen Platz im Sendeprogramm eingeräumt zu bekommen, schlugen deswegen fehl.3 In diesen Zusammenhang ist auch das zunächst verhängte Aufführungsverbot des bereits mehrmals erwähnten Dokumentarfilms Robotnicy’80 einzuordnen, der während des Streiks in Danzig entstanden war. Erst nach zahlreichen Pro1

Tilly, Charles: Contentious Performances. Cambridge 2008, S. 4.

2

Vgl. hierzu Błażejowska 2010, S. 126ff.

3

Vgl. Paczkowski 1997, S. 41.

158 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

testen und öffentlichen Stellungnahmen bedeutender polnischer Künstler wie Andrzej Wajda, der als Vorsitzender der Vereinigung polnischer Filmemacher das Verbot als Bruch des Danziger Augustabkommens sah,4 wurde die Ausstrahlung des Films im Kino erlaubt, wobei die Regierung sich bestimmter Taktiken bediente, um die erwartet hohe Zuschauerzahl zu reduzieren. So wurde beispielsweise in der Presse unter den Kinoanzeigen die Information abgedruckt, dass der Film bereits ausverkauft sei, so dass tatsächlich an manchen Tagen die Kinosäle fast leer blieben.5 Trotz aller Blockaden seitens der PZPR konnte die Opposition einen wichtigen Erfolg verbuchen: Nach mehrmonatigen Verhandlungen mit Vertretern der Solidarność verabschiedete der Sejm am 31. Juli 1981 ein Gesetz, nach dem der Eingriff der Zensur in Texten angemerkt werden musste. Im Oktober desselben Jahres wurde dieses in Kraft gesetzt. Zensurentscheidungen durften von nun an beim Hauptverwaltungsgericht angefochten werden. Aufgrund des wenige Monate später eingeführten Kriegszustands6 galt das Gesetz allerdings nur 72 Tage lang. Denn Kraft dieses Beschlusses des Staatsrates vom 13. Dezember 1981 wurden alle Zeitungen und Zeitschriften – ausgenommen die Parteiblätter – in ihrer Auslieferung blockiert und das Fernseh- und Radioprogramm auf nur einen Sender reduziert, der unter strengster Parteikontrolle stand. Dies lässt sich beispielsweise nicht nur daran erkennen, dass den ganzen Tag Propaganda zur Rechtfertigung des Kriegszustandes gesendet wurde, sondern auch daran, dass die Nachrichtensprecher in Militäruniformen auftraten. An ihren Jacken prangten Abzeichen, die der Journalist Henryk Bąkowski der militarisierten, irrationalen und alle Gesetze außer Kraft setzenden Zeit entsprechend kommentiert: „Die Speaker – Stefanowicz und Racławicki – in Militäruniformen mit dem Grad des Gefreiten, doch mit goldenen Abzeichen des

4

Vgl. AO A/ 22.2, 2.

5

Vgl. Eisler, Jerzy: Robotnicy ’80. In: Tygodnik Powszechny vom 18.08.2010. Auch zu finden unter: http://tygodnik.onet.pl/35,0,51296,artykul.html (zuletzt aufgerufen am 7.10.2010).

6

Mehr zum Kriegszustand in Polen siehe Paczkowski, Andrzej: Wojna polskojaruzelska. Stan wojenny w Polsce 13.XII.1981-22.VII.1983. Warszawa 2007.

VOM PROTEST ZUM RITUAL | 159

,Vorbildlichen Soldaten‘. Erst seit wenigen Stunden sind sie im Dienst des Militärs und schon haben sie sich die Abzeichen verdient!“ 7 Um jeglichen Informationsfluss der Opposition zu unterbinden, stürmten ZOMO- und Milizeinheiten schon in der Nacht zuvor die Lokale der unabhängigen Blätter, konfiszierten oder zerstörten Druckgeräte und Papier und setzten Telefonleitungen außer Betrieb. Journalisten, die sich in den vergangenen Monaten solidarisch mit opponierenden Kräften gezeigt hatten, wurden – wie auch die Mehrheit der Solidarność-Aktiven – noch in dieser Nacht verhaftet, oder einige Wochen später aus ihrer Arbeit entlassen. So erinnert sich Adam Orchowski: Im Januar 1982 wurden wir verifiziert. Man hat uns in drei Kategorien geteilt: Die erste Gruppe erzielte ein positives Ergebnis und konnte weiterarbeiten. Die zweite Gruppe konnte nur unter der Bedingung arbeiten, dass ihr keine Leitungsposten mehr übertragen werden dürfen. Und vor der dritten Gruppe – den Hoffnungslosen – wurden alle Redaktionstüren verschlossen [...].8

Die Parteiführung sorgte auch dafür, dass kaum Informationen über den wahren Zustand des Landes durch den Eisernen Vorhang drangen. So beklagt beispielsweise ein Reporter des Magazins Der Spiegel: Als liege Polen nicht im östlichen Mitteleuropa, sondern am Hindukusch, drangen kaum Meldungen nach draußen, bis auf das, was die Zensur [...] noch durchließ. Polen verschwand hinter dem eisernen Vorhang eines Kriegsrechts, das sich bleiern über das Land legte. Das Militär nahm die eigene Nation in Isolationshaft.9

Der Informationsfluss der Opposition konnte so zunächst blockiert werden, denn auch die beliebten und heimlich gehörten ausländischen Sender BBC und Radio Free Europe konnten durch die Informationsblockade zunächst nichts Neues berichten. Untergrundveröffentlichungen hingegen ließen sich mit der Einführung des Kriegsrechts zunächst zwar aufhalten, jedoch nicht vollständig verhindern. Bereits im Dezember erschienen im Untergrund

7

Stan Wojenny. Ostatni Atak Systemu. Hg. von Ośrodek KARTA. Warszawa 2006, S. 26.

8

Kto tu wpuścił dziennikarzy, S. 326.

9

Polen: Die Aktion „Kanarienvogel“. In: Der Spiegel 52/1981, S. 86-96, 86.

160 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

vereinzelt und in kleinster Auflage erste Mitteilungen über den Kriegszustand und seine Folgen. Auch in den kommenden Monaten wurden in unregelmäßigen Abständen Flug- und Informationsblätter gedruckt, obwohl dies unter Strafe stand. So konstatiert der Journalist Stefan Garsztecki: Und auch das Übergehen seitens der Behörden von Gefängnisstrafen zu empfindlichen Geldstrafen und schließlich zur Beschlagnahmung von Autos für illegale Druck- und Verteilungstätigkeit im Rahmen des ,zweiten Umlaufs‘ zeugt davon, daß diese Maßnahmen ihre Abschreckungsfunktion nicht erfüllten, so daß auch in den achtziger Jahren die Veröffentlichungen des ,zweiten Umlaufs‘ wichtiger Bestandteil der Gegengesellschaft waren.

10

Dennoch konnten diese Maßnahmen die im August 1980 durch die Solidarność durchgesetzten Verhältnisse nicht im Geringsten wiederherstellen. Zum einen lag es daran, dass der Mangel an Papier- und Druckfarben groß war, zum anderen, dass nur sehr wenige Druckgeräte gerettet werden konnten. So entstand lediglich eine geringe Anzahl von Publikationen, die aus diesem Grund auch nur sehr wenige Menschen erreichten.11 Auch wenn 1982 auf Initiative des Physikers Zbigniew Romaszewski das Untergrundradio Radio Solidarność gegründet wurde, das zum ersten Mal für achteinhalb Minuten in Warschau am 12. April auf Sendung ging und in den folgenden Jahren auch in anderen Städten, u.a. in Breslau, Puławy und Toruń, solche kleinen illegalen Radiostationen ins Leben gerufen wurden, konnte keine Kompensation für die Desinformation durch die staatlichen Medien geschaffen werden. So wusste z.B. nicht jeder, wann das Radio Solidarność genau auf Sendung ging; auch seine Übertragungen konnten immer wieder aus Sicherheitsgründen unterbrochen werden. Wegen ihres Wirkens im Geheimen und der eingeschränkten technischen Mittel waren die Untergrundsender nicht in der Lage, eine breite Gegenöffentlichkeit zu erzeugen. Zudem waren laut Dekret des neugegründeten Militärischen Rates zur Nationalen Rettung (pl. Wojskowa Rada Ocalenia Narodowego, kurz

10

Garsztecki 1997, S. 55.

11

Dies lässt sich z.B. daran beobachten, dass im Archiv der Solidarność, in dem Zeitungen und Flugblätter der Opposition aufbewahrt werden, nur wenige unregelmäßig erschienene Schriften aus dieser Zeit vorhanden sind, die zumeist auch nur aus ein oder zwei Seiten bestehen.

VOM PROTEST ZUM RITUAL | 161

WRON) seit dem 13. Dezember 1981 Versammlungen jeglicher Art verboten und konnten mit Freiheitsstrafen belegt werden: Jegliche Art von Versammlungen, aber auch das Organisieren und Durchführen von öffentlichen Veranstaltungen aus den Bereichen Kunst, Sport und Freizeit sowie alle öffentlichen Zusammenkünfte sind untersagt, es sei denn, sie erhalten eine Erlaubnis des zuständigen Organs der staatlichen Administration. [...] Das Recht auf Streik oder Protest wird aufgehoben. [...] Wer einen Streik oder eine Protestaktion organisiert oder anführt, wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 5 Jahren belegt. [...] Wer an einem Streik oder einer Protestaktion teilnimmt, kann mit bis zu 3 Monaten Freiheitsstrafe oder einer Geldstrafe in Höhe von 5000 Zloty belegt werden.12

Diesem Dekret folgend wurden alle spontanen Demonstrationen und Streiks sofort gewaltsam niedergeschlagen und viele ihrer Teilnehmer in Gefängnisse oder Isolationslager gebracht. Insbesondere an der schlesischen Zeche „Wujek“ erteilte das Regime den Opponierenden einen Denkzettel, der zugleich eine Abschreckungsmaßnahme sein sollte: Alle Streikenden, die trotz Warnungen ihren Okkupationsstreik nicht unterbrochen hatten, wurden aus disziplinarischen Gründen entlassen; hierbei handelte es sich um ca. 3000 Kumpel. Als auch das nichts nutzte, fuhren Panzer vor der Grube auf. Polnische Fahnen, Blumen an den Toren sowie Bilder der Schwarzen Madonna und von Johannes Paul II., also all das, was noch in Danzig gleichsam als Schutzwall empfunden wurde, wurde hier innerhalb kürzester Zeit zerstört. Der polnische Soldat, so zeigte sich, konnte doch auf diese als heilig empfundenen Symbole schießen und seine Waffen gegen einen Landsmann richten. Ein Augenzeuge berichtet von der Brutalität, mit der in der Zeche „Wujek“ gegen die Streikenden vorgegangen wurde: Nach Ablauf des Ultimatums rollten Panzer und Tankwagen vor; Frauen, die sich auf die Straße legten, um die Fahrzeuge aufzuhalten, wurden von Wasserwerfern vertrieben. Nun rückte Bereitschaftspolizei mit Wasserwerfern und Tränengas gegen die Passanten vor [...]. Dann rückten die Panzer gegen die Grube vor. Umzäunungen, Eingangstore und Gebäudeteile wurden niedergewalzt, hochbewaffnete Bereit-

12

Dekret o stanie wojennym. In: Trybuna Ludu vom 14.12.1981.

162 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

schaftspolizisten stürmten durch die Breschen, ebenfalls mit Tränengas und Schlagstöcken ausgerüstet. Dann fielen Schüsse.13

Sieben Bergleute wurden bei dem Angriff getötet, zahlreiche weitere schwer verletzt. Auch trotz des Entschlusses der Streikenden, das Gelände zu verlassen und den Streik zu beenden, sollten sich die Kampfeinheiten zurückziehen, kam es zu weiteren Opfern. Denn der Kommandeur der Sicherheitstruppen hatte das Versprechen, nicht einzugreifen, gebrochen und auf die Streikenden schießen lassen.14 Der Streik war in dieser Zeit also zu gefährlich, um sich im Kontext der einleitend aufgeführten Theorien, in den Bereich des Sinnlichen einzuschreiben und eine eigene Öffentlichkeit, wie noch im August des Vorjahres, herzustellen. So wurden andere Lösungen gesucht und theatrale Mittel gefunden, um erneut im Raum des Sinnlichen präsent zu werden und die Gesellschaft zu einem neuen Kampf um die Freiheit zu mobilisieren.

E RSTE P ROTESTFORMEN Da der kollektive Einsatz des eigenen Körpers im öffentlichen Raum aufgrund von Repressionen des Regimes nicht in Frage kam, und nicht einmal eine sprachlich artikulierte Meinung geduldet war, mussten andere Wege des Protestes beschritten werden. Doch die Antwort lautete auch dieses Mal, nicht Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen, sondern vielmehr einen leisen, aber visuell starken Protest zu leisten. Als ein Veto gegen die Besetzung der Fernsehsender durch das Militär und das Ersetzen des gewohnten Programms durch Propaganda setzten beispielsweise Bewohner von Warschau ein kollektives Zeichen, das sowohl ihre Unzufriedenheit über die Lage in ihrem Land als auch ihr Missfallen über die Vereinnahmung des Fernsehens demonstrieren sollte: Sie stellten Fernsehgeräte auf den Fensterbrettern ihrer Wohnungen auf, den Bildschirm zur Straßenseite gerichtet, und beklebten die Bildschirme mit Bildern oder Sprüchen, die ihre Abneigung gegenüber den Machthabern verdeutlichen sollten.15 Auch wenn die-

13

Zitiert nach Kühn 1999, S. 284.

14

Vgl. ebd.

15

Vgl. Braun 1994, S. 198.

VOM PROTEST ZUM RITUAL | 163

ser Akt im Privaten einer Wohnung stattfand, so hatte er doch eine öffentliche Wirkung: Durch die Fenster wurde ein sichtbares Bekenntnis zur Lage abgelegt, und zwar in personifizierter Form. Denn wer wissen wollte, wer zu den Bekennern gehörte, musste nur auf das Klingelschild blicken, um den Namen in Erfahrung zu bringen. Meine Nachforschungen dazu, ob dieses Verhalten tatsächlich mit Strafen geahndet wurde, sind allerdings ohne Ergebnis geblieben, denn in den mir zugänglichen Akten konnte ich hierzu leider nichts in Erfahrung bringen. Neben dieser Aktion wurden auch andere theatrale Formen gewählt, um die Ablehnung der Verhältnisse durch bewusst ausgestellte Ignoranz gegenüber dem in den Massenmedien Berichteten zu zeigen. So wurden während der Abendnachrichten demonstrativ Spaziergänge unternommen, Staub gesaugt oder das Licht ausgeschaltet.16 Neben solchen ungewöhnlichen und auf individuelle Initiative hin vollzogenen Protestaktionen der Bevölkerung, versahen opponierende Kräfte in den ersten Tagen und Monaten des Kriegszustands immer wieder Häuser- und Mauerwände mit Protestparolen oder warfen Flugblätter mit Informationen über die noch andauernde Untergrundtätigkeit der Solidarność von Hochhausdächern. Doch die Sicherheitsbehörden sorgten schnell dafür, dass die Beschriftungen übermalt und die Flyer eingesammelt wurden, so dass auch sie nur einen Bruchteil der Bevölkerung erreichen konnten. Nicht unerwähnt sollte hier die Herstellung von Öffentlichkeit durch Internierte bleiben. Trotz der Tatsache, dass sie sich in Isolation, also abgegrenzt von der Öffentlichkeit, befanden, schafften sie es, auf sich im öffentlichen Raum aufmerksam zu machen. Den Angaben der Mitarbeiter des Institutes für Nationales Gedenken zufolge, haben die Vorbereitungsarbeiten zur Internierung von Mitgliedern der Solidarność bereits im Jahr 1980, also kurz nach dem Danziger Augustabkommen, begonnen. Die älteste Liste mit Namen von Personen, die voraussichtlich interniert werden sollten, ist auf den 28. Oktober 1980 datiert. Eigens hierzu wurden 52 Internierungslager eingerichtet.17 Auf der Grundlage des Artikels 45 des Erlasses vom 12. Dezember 1981 wurden diese Lager „als selbständige Organisati-

16

Vgl. Kühn 1999, S. 303.

17

Vgl. hierzu Kopka, Boguslaw, Grzegorz Majchrzak und Krzysztof Stasiecki: Kriegszustand in Polen – 1981. In: http://www.internowani.xg.pl/index.php? type=article&aid=252 (zuletzt aufgerufen am 10.10.2010).

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onseinheiten“ und „als unabhängige Abteilungen der Strafvollzugsanstalten, der Untersuchungshaftanstalten und der Resozialisierungsstellen“18 definiert. Die Operation „Jodła“ (dt. Tanne), wie die Aktion der Internierungen genannt wurde, begann am 12. Dezember nach 23.00 Uhr, also noch vor der offiziellen Verhängung des Kriegsrechtes. Bereits in dieser Nacht wurden über dreitausend Menschen festgenommen, unter ihnen beinahe alle Mitglieder der Landeskommission NSZZ Solidarność. Interniert wurden auch Mitglieder anderer unabhängiger Organisationen, so z.B. aus der Umgebung der ROPCiO, der unabhängigen Studentenvertretungen, aber auch Sympathisanten dieser Gruppen, darunter Schauspieler, Künstler oder, wie erwähnt, Journalisten. Den Angaben des Ministeriums für Gerechtigkeit (pl. Ministerswto Sprawiedliwości) zufolge waren am 21. Dezember 1981 bereits 5128 Personen inhaftiert, darunter 313 Frauen. In der Folgezeit ist ihre Anzahl auf 8728 Männer und 1008 Frauen angestiegen.19 Wie auch die Streikenden beim Danziger Auguststreik sich innerhalb des Fabrikgeländes aufgehalten hatten, befanden sich die Inhaftierten in einem abgeschlossenen Bereich. Im Gegensatz zum Streik war ihre Abgrenzung jedoch nicht freiwillig. Auf das Unrecht, welches ihnen widerfuhr, versuchten sie von nun an, die Aufmerksamkeit all jener zu lenken, welche der Haft bisher entgangen waren. Darüber hinaus setzten sie Signale – auch an die Machthaber –, dass sie sich trotz der über sie verhängten Freiheitsstrafe nicht brechen lassen würden. Aus Archivunterlagen, die in der Stifung KARTA in Warschau aufbewahrt werden, können hierbei zahlreiche theatrale Strategien konstatiert werden. So lässt sich anhand von Tagebüchern und Berichten der Inhaftierten feststellen, dass die Zellenfenster zu einer Art Bühne auserkoren wurden. Sie waren, neben den Ausgangshöfen, die einzigen Objekte der Inhaftierten, die sie mit der Außenwelt verbanden und von denen aus sie mit dieser in Kontakt treten konnten, und zwar mit Hilfe von primitiven Mitteln, aber dennoch sichtbar und wirkungsvoll. So lässt sich einem Bericht entnehmen, dass mittels Lichteffekte Kontakt mit der Außenwelt hergestellt und gleichzeitig Formen des Protests etabliert wurden. Am 30. Januar 1982 haben sich die Inhaftierten im Internierungslager Rzeszów-Załęże beispielsweise darauf geeinigt, zu Ehren der in der Zeche „Wujek“ im Monat zuvor getöte-

18

Ebd.

19

Vgl. ebd.

VOM PROTEST ZUM RITUAL | 165

ten Streikenden in ihren Zellen die Lichter für einige Minuten zu löschen.20 Neben dem Ausschalten von Licht wurden oft auch Kerzen oder Grablichter zu vereinbarten Stunde angezündet, was nicht selten von Bewohnern der Häuser gegenüber den Haftanstalten aus Solidarität auf dieselbe Weise erwidert wurde. Zu diesen Lichteffekten kamen auch dekorative Verkleidungen der Fenstergitter. So verkleideten z.B. die Inhaftierten in Iławy die Gitter in Form eines Kreuzes mit Lumpen und zündeten diese später an. Für diese Aktion, die viel Aufsehen erregte, wurden sie mit Besuchsverbot bestraft.21 Später wurden auch immer wieder von Familien und Freuden in die Lager eingeschmuggelte Nationalflaggen oder Fahnen der Solidarność in die Fenster gehängt. Manchen gelang es sogar, diese auf dem Dach der Anstalt zu platzieren.22 Neben diesen symbolischen Formen wurde vor allem das Singen zu einem wichtigen Mittel des Protestes und einer wirksamen Möglichkeit zur Öffentlichkeitsherstellung. So hält ein Inhaftierter mit Namen Wiśniewicz in seinem Tagebuch fest: „Vom ersten Tag an singen wir zum Zeichen des Protestes religiöse und patriotische Lieder.“23 Als die beliebtesten lassen sich die Lieder Gott, der du Polen und Schwarze Madonna erkennen, Lieder also, die sich bereits während des Danziger Auguststreiks großer Beliebtheit erfreuten. Da das Kriegsrecht kurz vor Weihnachten verhängt wurde, spielten vor allem auch Weihnachtslieder in der ersten Zeit der Inhaftierung eine wichtige Rolle. Insbesondere an Heiligabend wurden diese vor geöffneten Fenstern zu einer Zeit gesungen, zu der Menschen außerhalb der Gefängnismauern zur Christmette gingen oder wieder auf dem Weg nach Hause waren.24 Auf diese Weise konnten die Häftlinge mit diesen Kontakt aufnehmen. Auf die Melodien der beliebtesten Weihnachtslieder wie Bóg się rodzi (dt. Gott wird geboren) oder Cicha noc (dt. Stille Nacht) wurden bereits in den ersten Hafttagen neue Liedtexte geschrieben und von den Internierten gemeinsam zur Weihnachtszeit gesungen. So hat ein Internierter mit dem Vornamen Andrzej auf die Melodie von Gott wird geboren die folgenden Zeilen getextet:

20

Vgl. AO IV/55.4, 10, S. 17.

21

Vgl. AO IV/55.4, 2, S. 4.

22

Vgl. ebd.

23

AO IV/55.4, 10, S. 7.

24

Vgl. z.B. ebd. S. 8.

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Tröste Jesu das weinende Land, säe in die Herzen das Korn der Wahrheit, gib den Kämpfenden deine Stärke segne die Solidarność! Gib Ausdauer allen Gefangenen, Hab in deiner Obhut ihre Familien, das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gelebt.25

Der Glaube an Gott wurde also, wie aus diesem Textfragment hervorgeht, durch das Vorgehen der Staatsmacht nicht erschüttert. Trotz der krisenhaften Zeit wurde auf die Hilfe von „oben“ vertraut und um Schutz gebeten. Äußert wichtig erscheint mir der Hinweis, dass die in der Haft getexteten und komponierten Lieder auch außerhalb der Lagermauern Popularität erlangten. Durch Besucher oder aus der Haft Entlassene gelangten sie in die Öffentlichkeit und wurden sogar während der Gottesdienste, so z.B. in der Warschauer Stanisław-Kostka-Kirche26 im Gedenken an die Internierten gesungen. Doch nicht nur religiöse bzw. religiös beeinflusste Lieder wurden in den Lagern gesungen. Es sind auch zahlreiche Texte entstanden, die sich gegen den Kriegszustand, das Regime und vor allem den Militärischen Rat wenden. Zu den populärsten zählt Zielona Wrona (dt. Die grüne Krähe). Das Wort „Krähe“ steht hier als Spitzname für den Militärischen Rat, dessen Abkürzung WRON Affinität zu dem polnischen Wort für Krähe (wrona) aufweist. Das Lied wurde am 4. Februar 1982 in Rzeszów-Załęże in Zelle 204 von Jacek Baluch und Krzysztof Bryniarski geschrieben und rekapituliert die Ereignisse der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember: Irgendwo bellen Hunde, die Extremisten schlafen schon, der freie Samstag neigt sich dem Ende, das Rudel ist auf dem Weg, seine Schritte hallen auf dem Pflaster und an den Türen hört man ein lautes Gedonner:

25

Ebd., S. 9.

26

Zur Bedeutung dieser Kirche siehe Kapitel „Die Antwort der Kirche“.

VOM PROTEST ZUM RITUAL | 167

Die grüne Krähe der Schnabel im Schlangenmuster, wer noch nicht geflohen wer nicht krähen will, der wird interniert. Der Dezembermorgen kam, niemand hat etwas gesehen, das Telefon schwieg wie ein Grab bis der Führer selbst über das Radio den Kriegszustand verkündete. [...]27

Später sind noch weitere Strophen entstanden, die das Leben in Haft beschreiben und gegen das Vorhaben der WRON, Polen ohne die Unterstützung der Bevölkerung aus der Krise verhelfen zu wollen, polemisieren: Gemeinschaftsraum, Essen, vielleicht eine Runde spazieren, doch Albins Brust schwillt an vor Stolz: Die Extremisten sollen nur sitzen von Nutzen sind sie ohnehin nicht, wir erbauen ein Polen aus dem Nichts.28

Das Repertoire der Inhaftieren wuchs, wie die im Archiv KARTA aufbewahrten Dokumente belegen, mit jedem Hafttag an. Die Gesänge wurden immer lauter und, wie es scheint, gefährlicher. Denn das Singen wurde schließlich wegen Störung der öffentlichen Ordnung verboten.29 Am 4. März 1982 wurden die Insassen der Zelle 238 in Rzeszów-Załęże – Bogdan Klich, Krzysztof Krzykowiak, Sbyszek Solak und Jurek Piekarski – darüber informiert, dass gegen sie ein Strafverfahren eingeleitet wurde, da sie in der Öffentlichkeit Lieder sängen, welche die polnische Nation und ihre Regie-

27

Ebd., S. 19. Das Lied kann auch unter http://www.youtube.com/watch?v

28

Ebd.

29

Vgl. ebd., S. 3.

=JNMqUxmV7E4 angehört werden (zuletzt aufgerufen am 13.10.2010).

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rung verhöhnen.30 Hier stellt sich die Frage, inwieweit eine Zelle als öffentlich bezeichnet werden kann. Wohl aufgrund des offenen Fensters, das die Melodien und Worte der Lieder nach außen dringen ließ und so eine Gegenöffentlichkeit erzeugte. Auch das Singen auf den Höfen der Internierungslager wurde in diese Richtung interpretiert. In Briefen beschreibt ein Internierter, wie er gemeinsam mit Kameraden durch das Singen von antistaatlichen Liedern Protest dagegen ausübte, seine Familienangehörigen nicht sehen zu dürfen, und dafür mehrfach bestraft wurde.31 Die hier vorgestellten Beispiele des Protests vermochten zwar eine Öffentlichkeit zu erreichen, gefährlich für das Regime wurden sie aufgrund ihrer geringen Reichweite allerdings nicht. Ganz anders verhielt es sich mit den Gottesdiensten für die Nation, die einen Großteil der Bevölkerung erneut zu einem opponierenden sowie sicht- und hörbaren Subjekt zu vereinen vermochten.

D IE A NTWORT

DER

K IRCHE

Kampf um die Nation Wie im Kapitel „Noch ist Polen nicht verloren“ herausgearbeitet, spielte der Begriff der Nation eine wichtige Rolle bei der theatralen Subjektivierung der Streikenden und ihrer Helfer sowie ihrer Abgrenzung zu den kommunistischen Machthabern des Landes während der Tage des Solidaritätsstreiks 1980, wobei historische Ereignisse Polens in Form von Symbolen, Liedern und Literatur aktualisiert wurden. Besonders aber seit der Einführung des Kriegsrechts wurde über den Begriff der Nation eine scharfe Abgrenzung zum bestehenden Regime formuliert und der PZPR, aufgrund ihrer Abhängigkeit von der Sowjetunion, jegliche nationale Legitimation abgesprochen. So wurden beispielsweise die Parteifunktionäre der PZPR in zahlreichen Karikaturen als Marionetten Russlands dargestellt, die dort Herrschende immer wieder nach eigenem Gutdünken austauschten. In diesem Sinne ist auch eine Aussage von Stefan Bratkowski zu verstehen, der in der Untergrundzeitung Tygodnik Mazowsze folgende Aussage traf: „[Z]u

30

Vgl. ebd., S. 23.

31

Vgl. AO III/1096, S. 3ff.

VOM PROTEST ZUM RITUAL | 169

diesem einen können sie mich nicht zwingen, und zwar, dass ich sie als anständige Polen, dass ich sie überhaupt als Polen anerkenne, dass ich in ihnen eine legale polnische Regierung sehe.“32 Doch nicht nur die Opposition verstand es, sich auf das Nationale zu berufen, auch die Partei warb in ihrer Propaganda, insbesondere seit ihrer Legitimationskrise in den 1980er Jahren, mit der Bedeutung dieses Begriffes, denn sie erkannte schnell, worin das Problem ihrer Delegitimation lag. So wurde in einem Parteirapport festgestellt: „Auf unmittelbare Art und Weise wird [...] in betrieblichen sowie regionalen Bulletins die These vertreten, dass der Sozialismus Polen von außen aufgezwungen wurde, und dass die Ideologie, auf der er fußt, der polnischen Kultur und ihrer nationalen Tradition fremd sei.“33 Um das Volk vom Gegenteil zu überzeugen, wurde hierauf, wie Marcin Zaremba es in seiner Studie Komunizm, legitymizacja, nacjonalizm (dt. Kommunismus, Legitimation, Nationalismus) herausgearbeitet hat, eine eigene nationale Formel aufgestellt, die besagte, dass die Partei die einzige Garantie der polnischen Unabhängigkeit darstelle und jeder, der ihr feindlich gesinnt sei, als Feind Polens betrachten werden müsse. In diesem Zuge sind auch revisionistische Kräfte aus dem Westen als Feinde deklariert worden, die schon seit der Ausrufung der Volksrepublik in der Propaganda zu gefährlichen Objekten stilisiert worden waren. Als große Gefahr für die polnische Freiheit waren aber nach den Augustabkommen vor allem opponierende Bewegungen in Polen selbst eingestuft worden, da sie der Argumentation der Machthaber zufolge die innere Ruhe zu destabilisieren suchten und somit eine Invasion seitens der Sowjetunion provozierten.34 In diesem Sinn ist auch die Begründung der Einführung des Kriegsrechts zu verstehen: Wojciech Jaruzelski hat in seiner Ansprache, die am 13. Dezember mehrmals sowohl im Radio als auch im Fernsehen ausgestrahlt und am 14. Dezember in der Trybuna Ludu veröffentlicht wurde, zu verstehen gegeben, dass die Solidarność als Feind zu betrachten sei: Streiks, die Bereitschaft zum Streik und Protestaktionen sind mittlerweile zur Norm geworden. Selbst die Schuljugend wird miteinbezogen. [...] Terroranschläge, Dro-

32

Bratkowski, Stefan: Dlaczego nie pójdę głosować. In: Tygodnik Mazowsze vom 7.6.1984.

33

AAN, KC PZPR 4799, k. 598.

34

Vgl. Zaremba 2001, 385.

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hungen und moralische Selbstjustiz, aber auch Gewaltakte mehren sich. Dreiste Straftaten, Überfälle und Einbrüche herrschen im Land. Das Chaos und der Sittenverfall haben ein katastrophales Ausmaß erreicht. Die Nation ist am Rande des psychischen Zusammenbruchs. [...] Genug ist genug! Man muss die Konfrontation, die die Führer der Solidarność angekündigt haben, eingrenzen. [...] Man muss den Randalierern die Hände fesseln, ehe sie die Heimat in einen Brüderkrieg stürzen.35

Das Verhängen des Kriegsrechts wurde dagegen als Rettungsakt für Polen dargestellt und die Partei mit Jaruzelski an der Spitze zum einzigen Retter der Nation erklärt: Unser Vaterland steht vor dem Abgrund [...]. Die mir in diesem dramatischen Augenblick der polnischen Geschichte zufallende Last der Verantwortung ist groß. Es ist meine Pflicht, diese Verantwortung zu übernehmen. Es geht um die Zukunft Polens. [...] Es gibt ein übergeordnetes Ziel, das alle denkenden verantwortungsbewussten Polen vereint: die Vaterlandsliebe, die Notwendigkeit, die so schwer erkämpfte Unabhängigkeit zu festigen, die Achtung vor dem eigenen Staat. [...] Die heute unternommenen Schritte dienen der Aufrechterhaltung der grundsätzlichen Voraussetzungen der sozialistischen Erneuerung.36

Während der gesamten Ansprache hing die polnische Fahne hinter dem Redner. Der in seine Generalsuniform mit allen Militärabzeichen gekleidete Jaruzelski las die Rede von seinem Manuskript ab. Die Kulisse war passend gewählt, doch die Art und Weise des Vortrags lässt sich als antithetisch zu den gesprochenen Inhalten konstatieren: Wojciech Jaruzelski transportierte keinerlei Emotionen, sondern agierte vielmehr in Mimik und Gestik ohne jeglichen Ausdruck, so als ob er eine beliebige Nachricht verkünden würde. Auch seine Stimmlage blieb im Monotonen verhaftet, selbst dann, wenn er einen Appell an die Bevölkerung richtete oder in seinen Abschlussworten die so oft von der Opposition zitierte Passage aus der Nationalhymne vorlas: „Vor der gesamten polnischen Nation und vor der ganzen Welt möchte

35

Rede des Generals Wojciech Jaruzelski vom 13. Dezember 1981. In: Trybuna Ludu vom 14. 12. 1981. Die Version der TV-Ausstrahlung ist zu finden unter: http://www.youtube.com/watch?v=Ibp5ci0qOgk (zuletzt aufgerufen am 11.10. 2010).

36

Ebd.

VOM PROTEST ZUM RITUAL | 171

ich diese unsterblichen Worte wiederholen: Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben!“37 Im Gegensatz dazu ist bei Aktiven der Opposition ein hoher Anteil an Emotionalität auszumachen, der nicht nur durch das Gesagte – wie dies auch bei Jaruzelski zu beobachten ist –, sondern auch durch den Einsatz von Mimik, Gestik und Stimme Emotionen des Redners vermitteln und diese gleichzeitig bei den Rezipienten wecken konnte. Vor allem aber die bereits vorgestellte Verbindung zwischen Nation und Religion vermochte der Bevölkerung eine emotionale Bindung zu vermitteln und somit die Glaubwürdigkeit ihrer Exponenten zu unterstreichen. Insbesondere Priester spielten in der Zeit der Einführung des Kriegszustands in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Sie gehörten – im Gegensatz zu den in Inhaftierung verweilenden Solidarność-Führern – zu den wenigen, die in Ausübung ihres Amtes noch öffentlich auftreten und ohne Bedenken, da im Rahmen der Kirche, eine Versammlung einberufen konnten. Im Dekret des Militärischen Rates waren Veranstaltungen im Rahmen der Kirche ausgenommen: Von dieser Regelung ausgenommen sind Gottesdienste wie auch andere religiöse Zeremonien der katholischen Kirche und anderer Konfessionen; diese haben ausschließlich dem religiösen Ziel zu dienen und dürfen nur in Kirchenhäusern, Kapellen und anderen, ausschließlich diesem Ziel dienenden, Einrichtungen stattfinden.38

Viele Priester nutzten diese Lücke, sich für die Sache der Opposition zu engagieren, ihre eigene nationale Antwort auf die Phrasen der PZPR zu formulieren und so deren Handlungen als antinational zu entlarven. Hierbei knüpften sie an die traditionelle Rolle der polnischen katholischen Kirche an, die sich im Verlauf der Geschichte – wie bereits unter „Religion und Politik“ herausgearbeitet wurde – insbesondere in Krisenzeiten des Landes in die Dienste der Nation stellte. So wurde sie während des Kriegszustands zu einer wichtigen Stütze der Bevölkerung, und das nicht nur für die Gläubigen: Viele, die mit der katholischen Kirche wenig zu tun hatten oder ihren Lehren eher fern standen, fühlten sich in dieser Zeit sehr von ihr angezogen. Der Grund hierfür lässt sich, so die Vermutung nach dem Studium der mir zur Verfügung stehenden Dokumente sowie Aussagen und Berichte

37

Ebd.

38

Dekret o stanie wojennym. In: Trybuna Ludu vom 14.12.1981.

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von Zeitzeugen, vor allem in der Fürsorge der Kirche gegenüber den Opfern der Repression suchen. In diesem Sinn erklärt beispielsweise ein Internierter aus Breslau in einem Brief, dass die Kirche seit der Einführung des Kriegsrechts für ihn, aber auch viele seiner Kollegen, einen persönlichen Sinn bekam, denn sie einte die Menschen und vermittelte ihnen das Gefühl, für sie da zu sein und sie nicht im Stich zu lassen.39 Bereits am 15. Dezember veröffentlichte beispielsweise der polnische Episkopat seine Stellungnahme zum Kriegszustand, in der er diesen scharf kritisierte und die Verletzungen der Bürgerrechte anprangerte: Die dramatische Entscheidung der Machthaber, welche den Kriegszustand in unser Land einführte, bedeutet einen schweren Schlag für die Erwartungen und Hoffnungen der Gesellschaft, dass die zur Zeit existierenden Schwierigkeiten unserer Nation auf dem Weg der nationalen Einigung gelöst werden könnten. [...] Das moralische Empfinden ist durch den Verstoß gegen die Bürgerrechte stark verletzt worden. 40

Während der Kriegszustand bewies – wie aus dem Zitat hervorgeht –, dass der Mensch in der Volksrepublik nichts zählte und die PZPR vielmehr Interesse am Erhalt ihrer Macht als am Wohl des Volkes und somit dem Wohl der Nation zeigte, setzte sich die Kirche für den Menschen und seine Würde ein. Sie beließ es jedoch nicht nur dabei, das Vorgehen der PZPR zu kritisieren und Forderungen, z.B. nach Entlassung der Inhaftierten oder nach Abschaffung der Isolationslager, zu stellen, sondern unterstützte die Betroffenen aktiv. So stellten Priester und andere Vertreter der Kirche beispielsweise opponierenden Gruppen Räume für geheime Treffen zur Verfügung, besuchten die Inhaftierten und bedachten ihre Familien nicht nur mit Worten der Aufmunterung und des Trostes, sondern, dank der Unterstützung durch ausländische Hilfsorganisationen, auch mit Lebensmitteln, Kleidung oder finanzieller Hilfe. Insbesondere in Jerzy Popiełuszko fand sie aber einen Geistlichen, der kirchliche Fürsorge und Unterstützung der nationalen Sache in besonderer Weise zeigte und gleichzeitig oppositionelle Kraft bewies.

39

Vgl. AO IV/55.4, 15, S. 1.

40

APP, Komunikat Rady Głównej Episkopatu Polski, 15.12.1981, zitiert nach: Aparat Represji wobec księdza Jerzego Popełuszki 1982-1984. Hg. von Instytut Pamięci Narodowej. Warszawa 2009. S. 20.

VOM PROTEST ZUM RITUAL | 173

Popiełuszko gehörte zu den Priestern, die bereits während des Auguststreiks ihre Solidarität mit den Streikenden in Form von Gottesdiensten auf dem Gelände der bestreikten Betriebe bekundeten. Gemeinsam mit den Arbeitern der Warschauer Hütte erlebte er die Solidarität der Streikenden untereinander und der Bevölkerung mit ihnen und war Zeuge der Geburt der Gewerkschaft Solidarność, die er von nun an aktiv unterstützte. Die von ihm seit der Einführung des Kriegszustands einmal im Monat durchgeführten Gottesdienste für die Nation wuchsen zum Ausdruck oppositioneller Kraft heran, einer Kraft, die für die Machthaber schon bald zum Ärgernis wurde und für den Priester schließlich mit dem Tod endete. Denn hier versammelte Popiełuszko nicht nur Gläubige, sondern auch diejenigen, die mit ihrem Kirchenbesuch ein Zeichen des Protestes setzen wollten. Im Folgenden sollen diese Gottesdienste für die Nation fokussiert werden, die aufgrund ihres theatralen Charakters eine wichtige Rolle für die Erzeugung von opponierender Öffentlichkeit spielten und aus diesem Grund eine erneute politische Subjektivierung der Bevölkerung darstellten. Gottesdienste für die Nation Der erste Gottesdienst für die Nation wurde von Jerzy Popiełuszko im Januar 1982, also unmittelbar nach der Verkündung des Kriegszustandes, in der Stanisław-Kostka-Kirche in Warschau abgehalten. Mit diesem hat der Priester, auf Anregung des Prälaten Teofil Bogucki, der eine solche Messe bereits am 22. Februar 1981 zelebrierte, eine alte Tradition aus der Zeit der Dreiteilung wiederaufleben lassen, in der gemeinsam für die Befreiung der Nation gebetet wurde.41 So wurden auch die von Popiełuszko geleiteten Heiligen Messen, die jeden letzten Sonntag im Monat stattfanden, für das Wohlergehen und den Frieden der polnischen Nation vollzogen.42 Während der Warschauer Gottesdienste für die Nation war Jerzy Popiełuszko durch seine Stellung als Priester der Hauptzelebrant der Messe

41

Vgl. die Homepage zu Ehren Popiełuszkos und die hier verzeichneten Informationen zur Entstehung der Idee der Gottesdienste für die Nation: http://www.popieluszko.net.pl/xjerzy/msze_ojcz.php (zuletzt aufgerufen am 20.11.2010).

42

Vgl. die Abschriften der Liturgiefeiern von Januar 1982 bis September 1984 in: Popiełuszko, Jerzy: Kazania patriotyczne. Paris 1984.

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und somit ihr Hauptakteur. Er sprach die Predigten, führte durch den Ablauf der Heiligen Messe und trat vor den in der Stanisław-Kostka-Kirche versammelten Menschen auf. Hierbei hob er sich von ihnen bereits in der Kleidung ab, da er traditionsgemäß ein Messgewand trug. In seinen Auftritten zeigte er sich oft sehr emotional engagiert. Er unterstütze seine Worte mit Mimik, Gestik und Intonation. So erinnert sich beispielsweise der mit ihm einst befreundete Waldemar Chrostowski, dass Popiełuszko die Worte, die er zu den Versammelten sprach, gleichsam auch selbst durchlebte und somit seine Rede nicht nur mit einstudierten, sondern mit spontanen, unmittelbar aus ihm kommenden Gesten unterlegte.43 Im Gegensatz zu vielen anderen Priestern dieser Zeit war er – laut Chrostowski – nie auf Hetzreden gegen die Parteifunktionäre aus. Vielmehr ging es ihm darum, die Probleme der Menschen anzusprechen, von denen er aus persönlichen Gesprächen wusste, und Lösungsansätze zu suchen.44 Vor allem, so lässt sich konstatieren, setzte sich Popiełuszko dafür ein, dass diejenigen, die erneut vom System zu Stimmlosen im Sinne Rancières verdammt worden waren, eine Stimme während der Messe verliehen bekamen. Indem er die Missachtung der Menschenrechte scharf kritisierte, machte er immer wieder auf die Lage der Arrestierten, Internierten und Verurteilten aufmerksam: „In unserem Land achtet man diese Rechte nicht, da Tausende von Menschen in Gefängnissen und Lagern festgehalten werden.“45 Diesen widmete er zahlreiche Gottesdienste, wie die im Juni 1982 zelebrierte Heilige Messe: „In dieser Heiligen Messe beten wir insbesondere für all diejenigen, die der Freiheit beraubt wurden [...].“46 Zwar waren diese der Freiheit Beraubten während der Gottesdienste körperlich nicht präsent, doch durch das Gedenken an sie ist für ihre Lage öffentlich Aufmerksamkeit geschaffen und unter den Anwesenden ihre Präsenz im Geist hergestellt worden. Bereits in seiner ersten Predigt im Januar 1982 hat Popiełuszko in Form einer Schweigeminute all derer gedacht und gedenken lassen, welche in Isolationslager und Gefängnisse gesteckt wurden: „Da uns durch die Einführung des Kriegszustands die Freiheit des Wortes weggenommen wurde, wollen wir, der Stimme unseres Herzens und unseres Ge-

43

Vgl. Chrostowski, Waldemar: Świadectwo. Dokumenty. Innsbruck 1991, S. 31.

44

Vgl. ebd.

45

Popiełuszko 1984, S. 66.

46

Ebd., S. 23.

VOM PROTEST ZUM RITUAL | 175

wissens lauschend, an all jene Schwestern und Brüder denken, welche der Freiheit beraubt wurden.“47 Durch das Vorlesen ihrer Briefe und Gedichte ermöglichte er diesen sogar Präsenz während des Gottesdienstes. So hat er beispielsweise im Juli 1982 den Gottesdienst mit dem Brief der Internierten aus Białołęka beginnen lassen: Wir möchten uns [...] ganz herzlich für das Gedenken an uns und die Unterstützung durch Gebete bedanken. Den Dank sprechen wir all denjenigen aus, die so tatkräftig an den Gottesdiensten teilnehmen. Wir fühlen uns Euch nah, da uns derselbe Gott, dieselben Gebete und dieselben Wünsche miteinander verbinden. [...] Wie harren aus, da wir wissen, dass Ihr auf uns wartet. Wie harren aus, weil wir in der unvergleichlichen Pein Jesu Christi ein Beispiel haben und weil wir die Hoffnung besitzen, dass gemeinsame Anstrengungen uns mit der ersehnten Erneuerung belohnen werden, der Erneuerung des gemeinschaftlichen, des familiären und des menschlichen Lebens. [...] Wir beten für Euch. Harrt aus! Wir harren aus! Wir werden siegen!48

Aus diesen Zeilen geht hervor, welche Bedeutung die Integration für die Internierten hatte. Sie zeigte ihnen, dass sie nicht vergessen waren, sondern dass sie trotz der Isolation mit den Menschen draußen eine Einheit im Kampf um eine gerechtere Zukunft bildeten. Diese Einheit schaffte der Priester nicht nur dank der Einbindung der fernen Mitstreiter in die Gottesdienste, sondern auch indem er sich nicht scheute, das Unrecht, welches im Land geschah, beim Namen zu nennen und so die Mechanismen der Unterdrückung aufzudecken. Er prangerte das von oben angeordnete gewaltsame Vorgehen und den psychischen Terror an und kritisierte die Lügen und Halbwahrheiten der polnischen Massenmedien und der Regierung. Darüber hinaus kritisierte er offen den Vertragsbruch der Regierung hinsichtlich des Augustabkommens von 1980 und sprach sich für die Legalisierung der verbotenen Gewerkschaft aus: „Es ist wahr, dass die Solidarność ein Recht auf eine ungestörte Existenz hat [...].“49 Hierbei widersprach er der von der kommunistischen Propaganda verbreiteten These, die Gewerkschaft habe

47

Ebd., S. 15.

48

Ebd., S. 47.

49

Ebd., S. 144.

176 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

nur Unruhe in das Land gebracht: „Es ist ungerecht, der öffentlichen Meinung einzureden, dass die Solidarność zu Streiks aufgerufen habe, und dass diese Streiks Polen in die Krise gestürzt hätten.“50 Die Solidarność war in seinen Augen nicht nur das rechtmäßige Instrument zur Verteidigung und Durchsetzung der Interessen von Arbeitern, sondern auch eine Instanz, welche den Menschen im August 1980 zu einer moralischen Verwandlung verhalf: „Solidarność bedeutet eine ständige Sorge um das Vaterland, eine Bewahrung der inneren Freiheit, sogar unter den Bedingungen der äußeren Gefangenschaft. Sie bedeutet den Sieg über die Angst, das Eingeständnis der Richtigkeit unserer Überzeugung, die wir in den Herzen tragen.“51 Zudem betonte er die Leistung der Gewerkschaft, die seiner Ansicht nach darin bestand, die Menschen auf den Weg der Wahrheit geführt zu haben. So sagte er in seiner Predigt am 25. April 1982: „Solidarność hat es möglich gemacht, das Böse mit seinen Funktionsmechanismen zu durchschauen, und sie hat die junge Generation mit verschiedenen bis jetzt verschwiegenen historischen Wahrheiten aus der Geschichte unseres Vaterlandes vertraut gemacht.“52 Somit formulierte er in seinem Lob die moralischen Leistungen der verbotenen Gewerkschaft um die Nation als einen Gegenpol zur Sorge der PZPR um diese Nation und das kriegerische Vorgehen der Staatsmacht. Dennoch verdammte er, wie sich vielleicht vermuten ließe, die Machthaber nicht. Vielmehr sprach er immer wieder von dem falschen Weg, auf den diese geraten seien, und ermahnte seine Rezipienten zur Vergebung. Wie bereits während des Streiks im August propagiert wurde, forderte er die Besucher seiner Gottesdienste weiterhin zum Verzicht auf jegliche Art von Gewalt auf. Der selbst täglich erfahrenen physischen und psychischen Gewalt sollte vielmehr gemäß der Lehre Jesu mit Vergebung

50

Ebd., S. 183.

51

Ebd., S. 145. In einem Interview mit dem Priester Antoni Poniński sagte Popiełuszko zudem Folgendes zu der von ihm beobachteten Wirkung, die Solidarność auf die Menschen ausübte: „Vielleicht klingt das wie ein Stereotyp, aber das, was mich am meisten bewegte, war die Entdeckung, dass unter den Menschen von Tag zu Tag die Achtung der eigenen und der fremden Würde wuchs. [...] dass jeder es wert ist, geschätzt zu werden. Und das forderten sie nicht nur für sich ein.“ In: Zapiski. Listy i wywiady ks. Jerzego Popiełuszki 1967-1984. Hg. von Gabriel Bartoszewski. Warszawa 2009, S. 105.

52

Popiełuszko 1984, S. 26.

VOM PROTEST ZUM RITUAL | 177

und Liebe begegnet werden. So sagte Popiełuszko beispielsweise im September 1982: „Wir bitten dich Gott, befreie uns von Rachegedanken und Hass, wir bitten dich um die Frucht der Liebe“ 53; oder im Dezember 1983: „Der Frieden, das ist ein gerechter Dialog im Geiste der Liebe.“54 In einer Mischung aus einfacher Sprache und Mut traf der junge Priester genau den Ton, der der ängstlichen Stimmung der Menschen in der ersten Phase des Kriegszustands entgegenkam. Auch auf Pathos, das die Menschen in dieser Zeit hören wollten, verzichtete er nicht. Hierbei, so lässt sich anhand erhaltener Liturgiedokumente konstatieren, verstand er es auch, das historische Leid Polens und den immer wiederkehrenden Kampf um die Freiheit in das Gedächtnis seiner Rezipienten zu rufen. Wie in der Predigt vom 30. Januar 1983, in der es hieß: „Seit den Anfängen der Geschichte unseres Vaterlandes haben unsere Vorfahren ihr Blut vergossen, um den größten nationalen Wert, die Freiheit, zu verteidigen.“55 Popiełuszko blieb bei seinen Ausführungen nie abstrakt, sondern belegte sie mit historischen Beispielen. So erinnerte er an die Aufstände im 19. Jahrhundert und beschrieb den Eifer der damaligen Jugend, sprach von den blutigen Kämpfen und den Opfern während des Zweiten Weltkrieges, insbesondere beim Warschauer Aufstand. Er verwies auch auf den Umstand, dass selbst nach 1945 das Leiden der polnischen Nation nicht aufgehört hatte, und erwähnte in diesem Zusammenhang u.a. die blutigen Arbeiterkämpfe in den 1970er Jahren.56 Der Priester verortete darüber hinaus das Leid der polnischen Bevölkerung in die christliche Heilslehre. Hierzu griff er überwiegend die Leiden Jesu Christi auf, wie in der Predigt vom 26. September 1982: „Christus stirbt am Kreuz für die ganze Menschheit, er überwindet den Tod und öffnet den Weg zur Auferstehung. Warum musste die Erlösung der Menschheit an so einem grausamen Werkzeug, wie es das Kreuz im Altertum war, vollzogen werden?“57 Dabei knüpfte auch er an die bereits zur Zeit des Solidaritätsstreiks aufgeflammte Parallele zwischen dem Leiden Jesu und dem Leiden Polens an. Im Gegensatz zu August 1980, wo der messianische Gedanke virulent war und in Form von Literatur, Symbolen

53

Ebd., S. 67.

54

Ebd., S. 163.

55

Ebd., S. 97.

56

Insbesondere in der Predigt vom November 1983. Vgl. ebd. S. 158f.

57

Ebd., S. 65.

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sowie symbolischen Handlungen artikuliert wurde,58 sprach er diesen jedoch nie wörtlich aus, sondern betonte vielmehr die Analogie der Leiden: Wir dürfen unser Leid [...] immer mit Christus verbinden, weil sein Prozess noch andauert. Der Prozess über ihn dauert in seinen Brüdern und Schwestern an. Denn die Darsteller der Tragödie und des Prozesses Christi leben weiter. Lediglich die Namen und Gesichter haben sich geändert, die Geburtsorte und die Geburtsdaten. Auch die Methoden ändern sich, doch der Prozess selbst dauert an. All diejenigen nehmen an ihm teil, die ihren Brüdern Schmerz und Leid zufügen, diejenigen, die das bekämpfen, wofür Christus am Kreuz starb. [...] Welch Ähnlichkeit auch heute zwischen dem am Kreuz blutenden Christus und unserer leidenden Heimat. [...] Wie der gekreuzigte Christus, so blutet unser Vaterland. Seine Söhne werden um die Ehre und die Würde gebracht, erniedrigt und misshandelt. Christus wurde am Kreuz von seinen Landsleuten getötet. Heute werden unsere Brüder von ihren Landsleuten gemartert und getötet.59

Er begriff das Leid, welches Polen in Form des Kriegszustands ergriffen und die Nation vor neue Herausforderungen gestellt hatte, nicht als eine Bestrafung Gottes, sondern vielmehr als ein Geschenk: Das Kreuzeszeichen umfasst das Schönste und Wertvollste des Menschen. Das Kreuz führt uns zur Auferstehung. Einen anderen Weg gibt es nicht. Und aus diesem Grund müssten uns die Kreuze unserer Heimat, unsere persönlichen Kreuze und die Kreuze unserer Familien zum Sieg führen, zur Auferstehung, wenn wir sie mit Christus verbinden, der das Kreuz besiegt hatte.60

Alle Leiden, auch die persönlichen – so lassen sich seine Worte resümieren – führen zur Freiheit. Dadurch vermochte der Priester, im Gegensatz zu der machthabenden Partei, die Erfahrungen der Gegenwart mit Hoffnung zu verbinden und den Menschen eine Zukunftsperspektive zu geben, wie die Aussage eines Zeitzeugen verdeutlicht: „Wir haben angefangen zu glauben, dass diese polnische Nation tatsächlich eine wundervolle Nation ist und

58

Vgl. hierzu Kapitel „Noch ist Polen nicht verloren...“.

59

Popiełuszko 1984, S. 66.

60

Ebd., S. 65.

VOM PROTEST ZUM RITUAL | 179

dass wir diese womöglich schon bald werden frei erleben können.“61 Damit hat er das bereits zu Zeiten des Streiks unter den Menschen erwachte Gefühl, wichtige Träger der polnischen Geschichte zu sein, noch intensiviert. Das Einbinden von literarischen Texten polnischer Autoren, welche die Leiden ihrer Heimat beschreiben, leistete hierbei sicherlich auch einen beachtlichen emotionalen Beitrag. So rezitierten berühmte Schauspieler, die dem polnischen Fernsehen seit der Einführung des Kriegsrechts einen Boykott erklärt hatten,62 wie schon ihre Kollegen in Danzig im August 1980 Textpassagen von Mickiewicz bis Miłosz. Der Zeitzeuge Waldemar Chrostowski betont hierbei ihre Bedeutung für die Besucher der Gottesdienste folgendermaßen: „Die Leute waren nicht nur von dem hervorragenden Vortrag der Texte begeistert, sondern auch erbaut, dass so angesehene Künstler an ihrer Seite stehen.“63 Nach Absprache mit Popiełuszko wurden vor allem solche Texte ausgesucht, welche die Worte der christlichen Lehre und die Hoffnung zu unterstreichen vermochten, wie ein Text von Maria Konopnicka (1882-1910): Ich flehe dich an, o Herr, für dieses ganze Land! O, schau auf dieses Land und schenke ihm Gehör! Damit es die Hoffnung in Dein Wort nicht verliert, weil doch Gott am schnellsten den Menschen erhört, wenn er nicht sein, sondern des Bruders Glück will.64

Insbesondere ein Lied der Autorin – Rota (dt. Eid) –, die selbst die Zeit der polnischen Abhängigkeit erlebte, wurde wiederbelebt. Das Lied, welches von Konopnicka gegen die Germanisierung Polens durch die preußischen Besatzer im 19. Jahrhundert geschrieben worden war, sangen Kirchengemeinden, also nicht nur die Besucher von Popiełuszkos Messen, seit der

61

AO IV/55.4, 15, S. 1.

62

Die Mehrheit polnischer Schauspieler verweigerte jegliche Art von Auftritten im Funk und Fernsehen als Zeichen der Missbilligung des Kriegszustands. Mehr zum Boykott siehe Braun 1994, S. 196ff. Siehe auch den Dokumentarfilm Uderzyć w aktora. Regie: Małgorzata Ziętkiewicz. Video Studio Gdańsk.

63

Chrostowski 1991, S. 31.

64

Abgedruckt in: Popiełuszko 1984, S. 66.

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Einführung des Kriegszustandes in ganz Polen zum Ausdruck ihrer Opposition gegen das kommunistische Regime im Land: Den Namen Polens erlauben wir nicht zu zerdrücken, Und gehen nicht lebendig in den Sarg. Im Namen Polens und für seine Ehre, Erheben wir zärtlich uns’re Stirn. Der Enkel bekommt den Boden seines Großvaters zurück. Dazu verhelf uns Gott! Dazu verhelf uns Gott!65

Teilnahme am Gottesdienst als Protestausdruck Durch sein Engagement und sein Gespür für das Bedürfnis der Menschen dieser Zeit schaffte es Jerzy Popiełuszko, die Teilnahme an seinen Gottesdiensten aus der reinen Pflichterfüllung zu befreien. Viele Aussagen zeugen davon, dass die Besucher der Gottesdienste diese innerlich sehr stark miterlebten und sich von ihnen in besonderem Maße persönlich angesprochen fühlten. Viele Menschen besuchten nach jahrelanger Absenz von der Kirche erneut regelmäßig den Gottesdienst, gingen wieder zur Beichte und begannen, die Kommunion zu empfangen. Andere wiederum ließen sich taufen.66 Andererseits, und besonders hierdurch sind die Messen für die Nation den Machthabern gefährlich geworden, bot Popiełuszko den Menschen auch eine Plattform, sich sicht- und hörbar zu machen, und das nicht nur den bereits erwähnten Inhaftierten, denen er durch das Verlesen ihrer Texte Präsenz verschaffte. Auf der Konferenz der Abteilung für Innere Sicherheit vom 3. Dezember 1983 stellte z.B. Major Jerzy Karpacz in einem Vortrag insbesondere die Fähigkeit der römisch-katholischen Kirche heraus, für den Staat gefährliche Versammlungen zu initiieren, in welchen die Massen instrumentalisiert werden.67 Dadurch, dass die Teilnahme an einer Messe das Versammlungsverbot des Kriegsrechts nicht betraf, konnte ohne Angst vor möglichen Übergriffen an ihnen teilnehmen werden. Und die Anzahl der

65

Konopnicka, Maria: Rota. In: Jerzy Polanicki (Hg.): Poezja Polska. Warszawa

66

Vgl. Chrostowski 1991, S. 34.

67

Vgl. AIPN W-wa 0397/466, t. 1, k. 274-283.

1993, S. 159.

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Gottesdienstbesucher wuchs zunehmend; selbst Nicht-Warschauer kamen, um an den Gottesdiensten Popiełuszkos zu partizipieren. Auch aus der Isolationshaft rund um Warschau Entlassene sollen ihre ersten Schritte in die Stanisław-Kostka-Kirche gerichtet haben.68 Während zu Beginn die Räume der Kirche ausreichten, mussten die Besucher im Verlaufe der Jahre aufgrund von Überfüllung des Hauses vom Vorplatz aus der Messe folgen. Um auch diese zu integrieren und ihnen eine Teilnahme am Gottesdienst zu ermöglichen, wurden Lautsprecher an den Außenwänden der Kirche angebracht. Als auch dies nicht ausreichte, verlagerte Popiełuszko die Zelebration auf den Balkon der Kirche. Von dort aus hatte er einen guten Ausblick und war selbst für die meisten sichtbar.69 Zudem halfen Verstärker, seine Stimme und die seiner Konzelebranten in die Menge der Versammelten, die bis zum angrenzenden Park reichten, zu tragen. Ein informeller Mitarbeiter der SB schätzte die Teilnehmer der Messe im Juni 1982 auf über 1000 Personen,70 wenige Monate später wurde die Anzahl der Versammelten sogar auf 5000 geschätzt.71 Im Lauf der Zeit wurde der Priester seiner Popularität wegen in andere Pfarrgemeinden eingeladen, so dass er in ganz Polen seine Messen abhielt und landesweit sehr viele Menschen in die Kirche brachte. Beispielsweise hat er am 14. August 1984 anlässlich des vierten Jahrestages der Auguststreiks in der Brigitten-Kirche in Danzig eine Messe abgehalten oder regelmäßig in Tschenstochau Pilgergottesdienste für das arbeitende Volk durchgeführt. Der Besuch eines Gottesdienstes ist im Allgemeinen zunächst dadurch gekennzeichnet, dass er auf Freiwilligkeit basiert und nicht zur Aktivität, im Sinne einer bewusst vollzogenen Handlung verpflichtet, d.h. jeder Besucher darf die Position eines Rezipienten einnehmen, der das stattfindende Geschehen wahrnimmt. Andererseits ist es ihm aber auch möglich, aktiv zu werden, so z.B. während der Wechselgrußformeln, der Wechselgesänge, des gegenseitigen Austausches des Friedenszeichens oder der gemeinsam gesprochenen Gebete und in der Gemeinschaft gesungener Lieder. So hebt Ursula Roth hervor, dass je nach Sequenz im Ablauf des Gottesdienstes, je nach Vertrautheit sowie je nach dem eigenen Bedürfnis nach Nähe und Dis-

68

Vgl. Chrostowski 1991, S. 41.

69

Vgl. ebd., S. 34.

70

Vgl. AIPN W-wa 00334/289, t. 12, k. 130.

71

Vgl. Aparat Represji wobec księdza Jerzego Popełuszki 1982-1984, S. 80.

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tanz sich die Anwesenden in jeder Sequenz neu entscheiden dürfen, ob sie teilnehmen oder die Teilnahme verweigern.72 Darüber hinaus bietet die katholische Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Möglichkeit der Partizipation in Form von Mitgestaltung der Gottesdienste an. Diese Form, die nicht von allen polnischen Priestern der damaligen Zeit willkommen geheißen wurde, benutzte Popiełuszko regelmäßig. Dabei beschränkte er sich nicht nur darauf, bestimmte Texte durch Freiwillige vorlesen oder die bereits erwähnten Schauspieler aus der polnischen Literatur rezitieren zu lassen, sondern traf sich immer wieder mit Gläubigen, um seine Ideen und Predigten zu besprechen, sich Anregungen für Gottesdienstthemen zu holen und Wünsche zu Liedern übergeben zu lassen.73 Die Besucher der Gottesdienste für die Nation sind aber auch über diese von der Kirchenordnung vorgesehenen Formen der Partizipation hinausgegangen. So haben sie Verhaltensformen entwickelt, die sich im Laufe der Zeit zu festen Zeichen etablierten. Beim Betrachten von erhaltenen Filmfragmenten und Fotos74 lässt sich beobachten, dass die Mitglieder der Gemeinde beim Singen von Liedern wie Rota, Schwarze Madonna oder Gott, der du Polen ihre rechte Hand in die Höhe heben und die Finger zum Victory-Zeichen formieren. Hierbei lässt sich zudem feststellen, dass diese Geste unabhängig von Alter und Geschlecht vollzogen wurde. Auch kleine Kruzifixe wurden auf dieselbe Art und Weise von den Teilnehmern der Gottesdienste ausgestellt. Ein IM bemerkte in seinem Beobachtungsprotokoll vom 15. November 1983: „Ich erinnere mich, dass während des Rota-Liedes [...] die Versammelten kleine Kreuze sowie Hände, deren Finger den Buchstaben „V“ formten, erhoben haben.“75

72

Vgl. Roth, Ursula: Die Theatralität des Gottesdienstes. Gütersloh 2006, S. 252.

73

Vgl. Chrostowski 1991, S. 31.

74

Siehe insbesondere den Dokumentarfilm Ksiądz Jerzy. Regie: Marian Terlecki. Video Studio Gdańsk. Fotos siehe http://www.erazm.art.pl/galeria _autor.html (zuletzt aufgerufen am 28.11.2010).

75

AIPN W-wa 1815/1, t. 2, k. 78.

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Abb. 5 – Teilnehmer des Gottesdienstes für die Nation formen die Finger ihrer rechten Hand zum Buchstaben „V“.

Auch ist das Mitbringen von polnischen Fahnen oder von Abzeichen und Bannern der Solidarność auf Fotografien dokumentiert. Nicht selten übernahmen die Versammelten sogar eine Geste des Danks und der Anerkennung, welche von Kulturveranstaltungen bekannt ist, im Rahmen kirchlicher Aktivitäten jedoch kaum praktiziert wird, und applaudierten am Ende des Gottesdienstes. Diesbezüglich erinnert sich Waldemar Chrostowski: „Ich werde nie diesen Beifallssturm vergessen, der nach der Messe losbrach. Ich hatte Tränen in den Augen als ich all die Menschen betrachtete, die Jerzy wirklich liebten; und wenn er sich nicht auf dem Balkon befunden hätte, hätten sie ihn sicherlich auf Händen getragen.“76 Im Anschluss an die

76

Chrostowski 1991, S. 49.

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in Danzig zelebrierten Messe anlässlich des Jubiläums des Auguststreiks wurde er sogar mit Blumen in den Farben Rot und Weiß beworfen, wobei die versammelten Menschen „Danke!“ skandierten.77 Durch ihre aktive Teilnahme an den Gottesdiensten und durch die Gesten, die sie zu Ehren des Priesters vollführten, demonstrierten die Besucher der Gottesdienste erneut ihre Verbundenheit mit der katholischen Kirche und zugleich ihre opponierende Haltung dem Regime gegenüber. Das entging der PZPR und dessen beauftragten Beobachtern selbstverständlich nicht, wie das folgende Kapitel verdeutlichen wird. Der Staat greift ein Bereits am 8. Januar 1982 ist auf einer Sitzung des Ministeriums für Innere Sicherheit die negative Reaktion der Kirche auf die Einführung des Kriegsrechts besprochen worden.78 Wenige Tage später wurde in einer von der Administrationsabteilung der Partei durchgeführten Analyse die Gefahr bestätigt, die von dieser Haltung ausging: „Nach der Demontage des Organisationsnetzes der ,Solidarność‘ versucht ein Großteil der Opposition [...], ihres Organisationsstützpunktes beraubt, Gehör bei einem Teil der Hierarchie der Kirche und ihrer Geistlichkeit zu bekommen und findet ihn dort.“79 Auf Grund dessen wurden genaue Beobachtungen einzelner Pfarreien in Auftrag gegeben, um das Ausmaß des Schadens zu begrenzen und die opponierende Tätigkeit der Geistlichen zu unterbinden. In diesem Zug geriet auch Jerzy Popiełuszko mit seinen Gottesdiensten für die Nation ins Visier der zuständigen Beamten. Die SB mit ihren offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern wurde in Folge dessen zu einem der aufmerksamsten, aber auch gefährlichsten Zuschauer der Aktionen des Warschauer Priesters. Hierbei ist gerade dieses Publikum, so lässt sich aus der Beobachtung seiner Folgetätigkeit konstatieren, zunehmend vom verdeckten und unerkannten Zuschauer zum unvorsichtigen Akteur mutiert, der ungewollt theatrale Situationen provozierte und so das Gegenteil seines Ziels bewirkte. Schon seit der ersten von Popiełuszko zelebrierten Messe für die Nation sind einzelne IM beauftragt worden, Berichte über die folgenden Gottes-

77

Vgl. ebd.

78

Vgl. Stan wojenny w dokumentach PRL, S. 119.

79

Ebd. S. 157.

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dienste abzugeben.80 Die IM mischten sich unter die Gottesdienstbesucher, notierten jede ihrer Gesten und Worte und versuchten, ihnen bekannte Personen in ihren Notizen festzuhalten. Zudem notierten sie das Verhalten und die Worte Popiełuszkos akribisch. Einige IM dokumentierten das Geschehen sogar mit Aufnahmegeräten. Diese Zuschauer in ihrer verborgenen Aktivität zu entlarven und ihre Tätigkeit bloßzustellen, gehörte zur Antwort des Priesters und seiner Mitarbeiter. So wurde von technisch versierten Anhängern der Gottesdienste eine Methode entwickelt, mit der sie den Funk der Beamten zum Teil abhören konnten, um so die Personen, welche sich dienstlich in den Gottesdiensten befanden, leichter zu erkennen und vor eventuellen Übergriffen gewarnt zu sein. Auf diese Weise konnte durch Beobachtung der Mitarbeiter des Staates wiederum verhindert werden, dass sie den Verlauf der Heiligen Messe durch bewusst eingesetztes provokatives Verhalten störten. So brachte man beispielsweise rechtzeitig in Erfahrung, dass im Februar 1983 Jugendliche engagiert worden waren, um nach der Messe unter den Besuchern für Tumult zu sorgen und dadurch einen Angriff der Miliz zu provozieren.81 Solche Aktionen wurden u.a. dadurch verhindert, dass der Priester in der Messe die Gemeinde vom Aufenthalt der eingesetzten Provokateure in Kenntnis setzte und sie aufforderte, im Anschluss an die Messe weder zu singen noch zu skandieren, denn auf diese Weise könnten sich dann nur die Provokateure zu erkennen geben.82 Oft verrieten sich die Beamten aber auch durch ihr überaus vorsichtiges, aber dadurch verräterisches Verhalten selbst, wie aus einem Bericht Waldemar Chrostowskis deutlich wird: Eines Tages bin ich auf einen zugekommen und habe ihm gesagt, dass er sich nicht genieren soll, die Messe aufzunehmen und dass er seinen Kassettenrekorder im Mantel nicht verstecken muss. Niemand werde ihn dabei stören und seine Aufnahme würde dadurch an Qualität gewinnen. [...] Gerade das Verstecken der Aufnahmegeräte in den Mänteln oder in Taschen hat sie [die IM] verraten. Denn alle durften offen die Messe aufnehmen, das war sogar willkommen.83

80

Vgl. AIPN W-wa 00334/289, t. 12, k. 58-61.

81

Vgl. Popiełuszko 2009, S. 64.

82

Vgl. ebd. S. 66.

83

Chrostowski 1991, S. 32.

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Negative Rapporte einzelner Mitarbeiter konnten jedoch nicht verhindert werden, vor allem die derjenigen Spitzel nicht, die sich in das persönliche Umfeld des Priesters eingeschlichen hatten. Hierbei wurde mehrfach festgestellt, dass Popiełuszko seine Stellung als Priester ausnutze, um antistaatliche Hetzkampagnen zu führen. So konstatiert der unter dem Pseudonym „Tarcza“ (dt. Schild) geführte IM: Ich möchte noch einmal betonen, dass der Charakter des Gottesdienstes ausgesprochen tendenziös war und im Grunde der gesamte Gottesdienst von religiösen Inhalten abwich. Insbesondere durch das Vortragen von ausgewählten Texten, sogar aus der Heiligen Schrift, wurde eine kämpferische Situation erzeugt und eindeutige Stimmungen unter den Anwesenden provoziert. Ich persönlich würde das alles als eine hetzerische Vorstellung gegen die Regierung der Volksrepublik Polen bezeichnen.84

Jerzy Popiełuszko war sich schon ziemlich früh darüber im Klaren, dass nicht nur seine Messen, sondern auch er selbst unter Beobachtung der SB stand. Er hat diese Vermutung jedenfalls demselben IM gegenüber, der seine Gottesdienste denunzierte und den er offensichtlich für einen Vertrauten hielt, bereits im Februar 1982 geäußert.85 Aus diesem Grund hat er auch seine Wohnung gewechselt. So berichtet IM „Tarcza“: „Er hat mir gesagt, dass er vor zwei Wochen vom Parterre in die Wohnung im ersten Stock umgezogen ist, weil unten seiner Meinung nach, Abhörgeräte installiert worden sind. [...] Er weiß, dass er unter ständiger Beobachtung steht.“86 Nicht immer waren die auf ihn angesetzten Beamten jedoch so unauffällig wie IM „Tarcza“. Die vor dem Wohnhaus des Priesters Tag und Nacht parkenden Autos, in welchen zwei bis drei Männer der Staatssicherheit saßen, fielen nicht nur Popiełuszko, sondern auch seinen Bekannten sofort auf. Der Grund für dieses doch recht demonstrative Verhalten der Beamten kann als Versuch der Einschüchterung des Priesters gedeutet werden. Doch dieser ließ sich nicht einschüchtern. Im Gegenteil antwortete er hierauf selbst mit demonstrativem Verhalten. So soll er beispielsweise an einem Winterabend zu den ihn beobachtenden Herren herausgegangen sein

84

AIPN W-wa 00334/289, t. 12, k. 130.

85

AIPN W-wa 00334/289, t. 12, k. 60.

86

AIPN W-wa 00334/289, t. 12, k. 59.

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und ihnen einen heißen Tee angeboten haben; an Heiligabend bot er ihnen an, gemeinsam eine Oblate zu teilen. Die Beamten reagierten auf dieses Angebot des Priesters mit peinlicher Berührung, wie der Augenzeuge Chrostowski berichtet.87 Ebenso ließ sich Popiełuszko nicht aus der Fassung bringen, als schließlich eindeutige Angriffe gegen ihn vorgenommen wurden, die ihn körperlich gefährdeten. In seinem Tagebuch hat er u.a. notiert: „In der Nacht vom 13. auf den 14. Juni [1982] hat um 2 Uhr nachts die Klingel geläutet, anschließend kam es zu einer Explosion. Ein Backstein hat die Scheibe zerschlagen. In der Nacht darauf wurde ins Treppenhaus eingebrochen.“88 Von da an hielten Männer wie Waldemar Chrostowski Wache in der Wohnung des Priesters, um ihn zu beschützen. Um die Gottesdienste für die Nation trotzdem zu unterbinden und Jerzy Popiełuszko zum Schweigen zu bringen, wurde auch versucht, den Weg über die Institution Kirche einzuschlagen. Wie aus dem Tagebuch des Priesters vom 11. Juni 1982 hervorgeht, wurden seine direkten Vorgesetzten darüber informiert, dass er zu denjenigen Geistlichen gehöre, die auf der Internierungsliste stehen.89 Aus diesem Grund ist es ihm seitens der Kurienleitung verboten worden, den Gottesdienst vom 28. Juni persönlich zu halten.90 Die Gottesdienste der Folgemonate hat er aber wieder selbst zelebriert. So hat der Direktor des Konfessionsamtes Adam Łopatka am 30. August 1982 einen Brief an den Erzbischof Bronisław Dąbrowski verfasst, in dem er sich über den Missbrauch der Gottesdienste durch Popiełuszko zu Zwecken der Politisierung beschwerte und eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung aussprach: Priester Popiełuszko hat der am 29. August um 19 Uhr abgehaltenen Messe eindeutig einen politischen Charakter verliehen. Seine Predigt und die vorbereitete Szenerie haben offensichtlich als Inspiration der Gläubigen zum Demonstrationsverhalten gedient. Priester Popiełuszko hat zudem die Erlaubnis erteilt, die Räumlichkeiten der Kirche mit hetzerischen und zur Aufruhr ermutigenden Bannern anlässlich des Jahrestages der Abkommen von Stettin und Danzig zu dekorieren. Ohne jegliche Genehmigung hat er das Gelände rund um die Kirche mit Verstärkern versehen, womit

87

Chrostowski 1991, S. 61.

88

Popiełuszko 2009, S. 57.

89

Ebd., S. 52f.

90

Ebd., S. 57.

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er eine Ansammlung von an die fünf tausend Menschen ausgelöst und dadurch die Straßen blockiert hatte. Priester Popiełuszko hat zugelassen, dass während des Gottesdienstes weltliche Personen auftreten, wobei eine davon zu Gebeten für die Kriegsrechtopfer aufrief. [...] Die Einstellung und das Klima, welche von Priester Popiełuszko geschaffen wurden, haben dazu geführt, dass die religiöse Versammlung zu einer politischen Manifestation umfunktioniert wurde, die eine Gefährdung der Ordnung und Sicherheit unserer Hauptstadt darstellt.91

In erpresserischer Haltung forderte Łopatka den Erzbischof auf, die Tätigkeit des Priesters zu unterbinden, um nicht für mögliche Konsequenzen des Staates mitverantwortlich zu sein.92 Briefe ähnlichen Inhalts wurden auch an die Metropoliten-Kurie in Warschau geschickt.93 Auch Primas Glemp ist in der Sache Popiełuszko mehrfach kontaktiert worden. Doch alle Warnungen und Bemühungen seitens der Kirche, den Priester zu seinem eigenen Wohl zum Verzicht auf seine Tätigkeit zu bewegen, schlugen fehl. Selbst das Angebot, sich in Rom weiterzubilden, nahm er nicht an. Primas Glemp erinnert sich diesbezüglich: „Ich wollte keinen Druck ausüben, damit es nicht den Charakter einer Verbannung annahm. Ich habe ihn gebeten, dass er seine Arbeit an der Stanisław-Kostka-Kirche begrenze, dass er keine Interviews erteile, dass er nicht das ganze Land bereise, aber er hörte nicht.“94 Den Grund für sein Verhalten sah Popiełuszko in seiner Verpflichtung der Kirche und dem Vaterland gegenüber. So schreibt er in einem Tagebucheintrag: „Ich rechne damit, dass sie mich internieren oder arrestieren können, oder dass sie einen großen Skandal vorbereiten, aber ich kann nicht von der Tätigkeit ablassen, die doch der Dienst an der Kirche und am Vaterland ist.“95 So verschärften die staatlichen ihre Maßnahmen. Den ersten großen Fehler begingen die Behörden bereits, als sie die Wohnung der Priesters durchsuchten, wobei sie ihm in der Zeit, als er aufs Präsidium zum Verhör mitgenommen wurde, offensichtlich belastendes Material unterschoben. In seinem Tagebuch vermerkt Popiełuszko den Vorfall wie folgt:

91

Aparat represji wobec księdza Jerzego Popiełuszki 1982-1984, S. 80.

92

Ebd. S. 81.

93

Vgl. ebd. S. 82-83.

94

Zitiert nach Żaryn 2009, S. 59.

95

Popiełuszko 2009, S. 53.

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Zur Durchsuchung bin ich ruhig gefahren, weil ich nicht einmal im Besitz eines Flugzettels aus der Zeit vor dem Kriegszustand war. Wie groß war meine Überraschung als einer der vier Offiziere [...] innerhalb von drei Minuten einen Haufen von belastendem Material hervorgezogen hat. Darunter befanden sich 15 000 Exemplare illegaler Schriften. Ein Kassiber in französischer Sprache, 60 Exemplare à 14 Seiten Berichte des Priesters Małkowski mit dem Primas, angeblich an mich mit einem Brief aus Paris, von Giedroyc geschickt, 36 Maschinengewehrpatronen [...], fünf Tuben Druckfarbe.96

Der bei der Durchsuchung als Zeuge anwesende Chrostowski erkannte unter den Beamten ein bekanntes Gesicht, einen von den Männern, die den Priester bereits seit Monaten beschatteten. Zudem fiel ihm auf, dass dieser sehr zielsicher die Beweismaterialien aus ihren vermeintlichen Verstecken hervorholte, und zwar so, als ob er von vornherein wüsste, wo sich diese befänden: „Er hat den kleineren Teil des Zimmers betreten, ist ohne zu zögern zum Sofa gegangen und hat von dort zwei große Pakete hervorgeholt.“97 Im Anschluss daran wurde Popiełuszko verhaftet und erst nach der Intervention des Erzbischofs entlassen. Selbstverständlich unterließen es die zuständigen Beamten nicht, den Fund öffentlichkeitswirksam zu präsentieren, um den Ruf des Geistlichen zu schädigen. In der Zeitung Express Wieczorny (dt. Abendexpress) vom 27. Dezember 1983 schrieb Michał Ostrowski einen hetzerischen Artikel gegen den Priester, der auch in anderen Zeitungen abgedruckt und im Radio sowie TV mehrmals vorgelesen wurde. Trotzdem hielten die Gläubigen zu Popiełuszko. Dies bestätigt u.a. eine Aussage des IM „Kustosz“ gegenüber Hauptmann Roman Dobrzyński, der kurz nach der Durchsuchung das Vorgehen des Sicherheitsdienstes negativ beurteilte. In einem Dokument heißt es daher: IM ,Kustosz‘ stellte fest, dass die Verhaftung Popiełuszkos in der Art und Weise, wie sie erfolgte, gegen die Kirche und die nationale Einigung verstoßen habe. Dass während der Durchsuchung seiner Wohnung Flugblätter und Zündmaterial gefunden wurden, wird niemand glauben, weil Priester Popiełuszko seit geraumer Zeit mit einer Arrestierung gerechnet [...] und aus diesem Grund kein belastendes Material besessen habe. Diese Sachen müssen ihm von außen untergeschoben worden sein.

96

Ebd. S. 75.

97

Chrostowski 1991, S. 67.

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[...] Die Machthaber haben selber dafür gesorgt, dass er zu einem Märtyrer erklärt wird [...].98

Zudem hat „Kustosz“, wie aus dem Zitat deutlich hervorgeht, bereits zu diesem Zeitpunkt die Gefahr erkannt, dass der Priester aufgrund des radikalen Vorgehens des Staates von der Bevölkerung zum Märtyrer und somit zum Symbol des Kampfes gegen das Regime stilisiert werden könne. Den wohl größten Fehler, der die Befürchtung „Kustoszs“ wahr werden ließ, begingen die Behörden durch die Entführung und Ermordung des Priesters am 19. Oktober 1984: Auf dem Rückweg von einem auswärtigen Gottesdienst in Bromberg wurde Popiełuszkos Wagen von drei Offizieren des Staatssicherheitsdienstes unter Vortäuschung einer Straßenkontrolle bei Thorn angehalten. Nachdem die Beamten – Grzegorz Piotrowski, Waldemar Chmielewski und Leszek Pękala – den Priester entführt hatten, schlugen sie ihn bewusstlos, banden Steine an seine Füße und ertränkten ihn im Weichsel-Stausee bei Włocławek.99 Dank der Flucht des einzigen Zeugen, seines Fahrers Waldemar Chrostowski, kam die Aktion der Beamten an die Öffentlichkeit. Chrostowski gelang es, sich trotz Handschellen und Knebel aus dem fahrenden Auto der Entführer zu werfen und die Kurie von der brutalen Entführung des Priesters in Kenntnis zu setzten.100 Die Nachricht verbreitete sich schnell. Nun war der Staat gefragt, zu reagieren. Trotzdem versuchten die zuständigen Beamten, die Wahrheit zu verschleiern und die Tat zunächst anderen, so z.B. den Westmächten oder den SolidarnośćAnhängern, unterzuschieben.101 Auch innerhalb der Partei wurden ähnliche Lügen verbreitet, wie ein Zitat des Informationsdienstes der PZPR beweist: In der Regel wird unter den Aktiven die Ansicht vertreten, dass die Entführung Priester Popiełuszkos eine Provokation seitens der Untergrundextreme der ehemaligen ,Solidarność‘ darstelle, die ein weiteres Mal durch Störungen der Stabilität des

98

AIPN W-wa 00328/841, t. 2, k. 51.

99

Zum Tathergang siehe z.B. Sumara, Zdzisław: Ks. Jerzy Popiełuszko na tle wydarzeń 1981-1985. Tarnów 2001.

100 Zur Flucht siehe Chrostowski 1991, S. 90-96. 101 Vgl. Chinciński, Tomasz: Na tropach prowokacji. In: Biuletyn IPN 10/2004, S. 31-39, 31.

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Landes Schaden zufügen will. Man sagt, dass die Provokation auch vom Klerus stammen könnte, die aus Popiełuszko einen Märtyrer machen möchte.102

Die Aussagen Chrostowskis belasteten den Staat jedoch stark. Gläubige in ganz Polen strömten in die Kirchen, wo sie gemeinsam sangen und für Popiełuszko den Rosenkranz beteten, ausländische Medien berichteten von den Ereignissen in Polen in die ganze Welt. So sah sich der Machtapparat zum Handeln gezwungen und konnte das von ihm begangene Verbrechen nicht länger vertuschen: Am 27. Oktober gab General Kiszczak schließlich die Namen der drei Beamten preis, musste also zugeben, dass der Anschlag aus eigenen Reihen kam. Am 30. Oktober wurde die Leiche des Priesters gefunden, trotz aktiver Verzögerungsmaßnahmen der Machthaber, die Manifestationen von Popiełuszkos Anhängern befürchteten. So heißt es im Protokoll vom 29. Oktober: „[...] das Auffinden des Leichnams Popiełuszkos würde ganz Polen zu seiner Beerdigung ködern und könnte im Milieu der mit der Religion verbundenen Gruppen eine Motivation zum schädlichen Handeln sein.“103 Der zuständige Beamte behielt Recht, denn die Begräbnisfeier des ermordeten Priesters am Vormittag des 3. November kann, neben des in der Einleitung beschriebenen Begräbnisses von Grzegorz Przemyk, als das erste große Manifest opponierender Stärke seit der Ausrufung des Kriegszustandes angesehen werden und soll aus diesem Grund im Folgenden näher betrachtet werden. Die Begräbnisfeier Priester Popiełuszkos Auch wenn die Drahtzieher des Mordes an Jerzy Popiełuszko mit ihrer Tat Angst in der Bevölkerung zu säen und andere, ebenfalls für die Opposition agierenden Geistlichen abzuschrecken suchten, erreichten sie das Gegenteil. Der Mord motivierte einige im Untergrund agierende Kräfte zu einem erneuten offenen Kampf. So haben z.B. Aktive außerhalb Warschaus die Bevölkerung dazu aufgerufen, sich nicht einschüchtern zu lassen, sondern offen zu trauern und damit ein Zeichen ihres Protestes gegen das gewaltsame Vorgehen der Machthaber und ihre Einschüchterungsmechanismen zu

102 Serwis informacyjny PZPR 76/1984, S. 4. Zitiert nach ebd., S. 32. 103 AIPN By 082/98, t. 2, k. 357. In: Aparat Represji wobec księdza Jerzego Popełuszki 1982-1984. Warszawa 2009.

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setzen. Joanna und Andrzej Gwiazda haben gemeinsam mit Leszek Świtek, Karol Kremetowski, Andrzej Kołodziej und Anna Walentynowicz einen solchen Appell bereits am 31. Oktober an die Bewohner der Region Danzig geschrieben, in dem es hieß: Wenn wir über dieses schreckliche Verbrechen schweigen und uns mit ihm ohne jeglichen Protest abfinden, wird uns die Angst noch mehr unsere Gedanken, Worte und Taten lähmen. Wir dürfen uns nicht unterkriegen lassen! Ein Protest, in dem unsere Trauer demonstriert wird, wird keineswegs die Ordnung in unserem Land stören. Wir schlagen hierzu die friedlichsten Arten des Protestes [...] vor. Wir appellieren an Euch, an den zahlreichen religiösen Trauerfeiern teilzunehmen und als Zeichen der Trauer schwarze Binden an der Schulter anzulegen. Wir fordern dazu auf, täglich zwischen 21.00 und 21.15 Uhr bis zum 10. November das Licht auszuschalten und stattdessen in den Fenstern Kerzen anzuzünden.104

Wie aus dem Zitat deutlich herauszulesen ist, wurden Formen der Trauer mit opponierender Tätigkeit gleichgesetzt und in diesen Tagen bewusst praktiziert. Auch die Begräbnisfeier Popiełuszkos ist in diesem Sinn verstanden worden. Bereits vor Tagesanbruch begannen Menschen, sich vor der Stanisław-Kostka-Kirche zu versammeln. Einige unter ihnen holten schweigend Plakate und Transparente mit der Aufschrift „Solidarność“ hervor, mit welchen sie sich zu der weiterhin verbotenen Gewerkschaft bekannten. Andere sangen ununterbrochen Lieder wie Gott, der du Polen oder Rota. Die Versammelten füllten schließlich nicht nur den gesamten Platz vor der Kirche, sondern auch die Seitenstraßen, von denen aus sie den auf dem Balkon der Kirche aufgestellten Altar nicht mehr sehen konnten.105 Mit Verstärkern wurde dafür gesorgt, dass sie das Geschehen auditiv verfolgen konnten. Unter den Besuchern waren nicht nur diejenigen, die sich hier jeden letzten Sonntag im Monat zum Gottesdienst für die Nation einfanden, auch aus anderen Gemeinden waren Gläubige mit Bussen angereist. Alle wichtigen Vertreter der Opposition zeigten sich zum ersten Mal seit der Einführung des Kriegsrechts gemeinsam öffentlich, unter ihnen Geremek, Mazowiecki, Walentynowicz und Wałęsa. Wichtige Vertreter west-

104 AIPN W-wa 0364/127, t. 2, k. 190. 105 Vgl. Schuber, Günter: Unversöhnt. Polen nach dem Priestermord. Köln 1985, S. 31.

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licher Regierungen waren erschienen. Auch der polnische Staat ließ sich, wohl aus Anstand, durch Mitglieder des Staatsrates und des Sejm vertreten. Insgesamt lässt sich die Teilnehmerzahl auf ca. 500 000 Personen schätzen.106 Wie auf dem Danziger Auguststreik wurde der Zaun, der das Kirchengelände umgab, mit Blumen in Nationalfarben und religiösen Bildern geschmückt. Daneben waren dort Tafeln mit einer Dokumentation des Mordes angebracht worden. Auf diese Weise konnte jeder die Einzelheiten des tragischen Geschehens, die in den polnischen Massenmedien nur zögerlich veröffentlicht wurden, erfahren. So wurden beispielsweise Fotografien von der Leiche des Ermordeten aufgehängt, um die Brutalität der Beamten zu dokumentieren. Die Begräbnismesse wurde von Primas Glemp gemeinsam mit über 100 Priestern aus ganz Polen, unter ihnen auch zahlreiche Bischöfe, konzelebriert.107 Doch nicht nur Amtsträger der Kirche ergriffen das Wort, auch Vertreter der Arbeiter und Krankenhausangestellten, der Künstler und der Solidarność sprachen vor den Versammelten. In nahezu allen Reden betonten die Sprecher den Einsatz des Priesters für Wahrheit und Nächstenliebe, lobten seine Fähigkeit, Streitigkeiten zu schlichten, und hoben sein Engagement für gesellschaftlich Benachteiligte hervor. Insbesondere wurde jedoch sein Einsatz für das Vaterland betont. Lech Wałęsa ordnete ihn sogar in die Reihe der für Polen gefallenen Helden ein: Ich kann das Gefühl des Schmerzes und des Unrechts, mit dem wir heute von Kaplan Jerzy Popiełuszko Abschied nehmen, kaum in Worten ausdrücken. Zur Liste derer, die für Polen gefallen sind, den Namen, die auf den Denkmälern von Warschau, Posen, der Ostseeküste und Schlesien eingemeißelt sind, fügen wir heute den Namen des Warschauer Priesters hinzu, der aus einem Dorf im Norden stammte und als Arbeiterpriester wirkte.108

Andere, wie der Prälat Teofil Bogucki, scheuten sich nicht, den Priester sogar zum Märtyrer zu erklären: „Die polnische Erde hat nicht nur einen neuen Helden bekommen, sondern auch einen neuen Märtyrer. Eine solche Be-

106 Vgl. Sauerland, Karol: Der Mord an Priester Jerzy Popiełuszko. Ein Tagebuchbericht. In: Horch und Guck 1/2008, S. 30-33, 33. 107 Vgl. Chrostowski 1991, S. 132. 108 Wałęsa 1987, S. 492.

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gräbnisfeier mit der Teilnahme des Kardinals, der Bischöfe und einer unzähligen Menge von Gläubigen verdient nämlich nur jemand, der groß oder heilig ist.“109 Auch Karol Szadurski, der für die Arbeiter der Warschauer Hütte sprach, betitelte den Priester so: „Herr Gott soll dich in den Kreis polnischer Märtyrer aufnehmen.“110 Somit kann dem Spiegel-Redakteur Fritjof Meyer Recht gegeben werden, der kurz nach dem Tod des Priesters in einem Artikel konstatierte, dass die Geheimpolizei sich mit dem Mord „selbst einen Gegner geschaffen [hat], der für den Staat gefährlicher ist, als der lebende Popiełuszko es je war: einen Märtyrer.“111 Die Reden, in welchen das Leiden und der Kampf des Priesters betont wurden, stilisierten Popiełuszko nicht nur zu einem nationalen Helden, sondern einten auch die Anwesenden durch die Betonung seines Leides und ermutigten diese, sowohl sich als auch den Gedanken an ein freies Polen – ganz im Sinne des ermordeten Priesters – nicht aufzugeben. Insbesondere auch dadurch, dass die Redner das Schicksal ihres gemarterten Landes immer wieder einbezogen und die versammelte Gemeinde direkt ansprachen, wie das an einem Fragment aus Boguckis Rede deutlich wird, vermochten sie das Gemeinschaftsgefühl der Menge zu verstärken: „Ich sehe vor mir ganz Polen. Das wahre Polen, das an Gott glaubt. Ein katholisches Polen. Ein Polen, das an Gott glaubt und den gekreuzigten Jesus liebt. Ein Polen, das nach Freiheit und Selbstbestimmung dürstet.“112 So verwundert es nicht, dass die Versammelten auch nach der Begräbnisfeier ihre Einheit und den neu gewonnenen Mut gegenüber den Machthabern zu demonstrieren suchten. Nach der Messe formierte sich die versammelte Gemeinde zu einem Demonstrationszug, der Richtung Stadtmitte strebte. Die Menschen verhielten sich ruhig und andächtig, doch als sie am Polizeipräsidium und

109 Die Rede von Teofil Bogucki ist nachzulesen auf folgender Internetseite: http://www.obnie.pl/index.php?option=com_content&view=article&id=1326: popieluszko-mowy-pogrzebowe&catid=95:kosciol-wiara&Itemid=27 (zuletzt aufgerufen am 28.10.2010). 110 Zitiert nach ebd., S. 134f. 111 Meyer, Fritjof: Ein Mord als kleineres Übel. In: Der Spiegel 5/1985, S. 106117, 106. 112 http://www.obnie.pl/index.php?option=com_content&view=article&id=1326 :popieluszko-mowy-pogrzebowe&catid=95:kosciol-wiara&Itemid=27 (zuletzt aufgerufen am 28.10.2010).

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am Gebäude des Stadtrats vorbeimarschierten, begannen sie in Sprechchören ihre Botschaften an die Machthaber und deren Mitarbeiter zu richten: „Wir verzeihen Euch!“, „Tötet nicht fürs Geld!“ oder „Sei ein Mensch und kein Stasi!“ zu richteten. Bei der Kreuzung der Straßen Marzszałkowska und Aleje Jerozolimskie dankten die Warschauer schließlich den Gästen – durch skandierte Dankesworte – für ihr Kommen, wonach alle gemeinsam das Lied Gott, der du Polen sangen und erst dann auseinandergingen.113 Auch wenn die Sicherheitskräfte sich in der ganzen Stadt versammelt hatten und die Miliz mit Wasserwerfern Präsenz zeigte, griffen sie die Demonstranten nicht an. Der Grund liegt sicherlich zum einen darin, dass Reporter aus nahezu ganzer Welt vor Ort waren und das Geschehen verfolgten. Zum anderen hätte ein solches Vorgehen noch mehr Unruhe in der Bevölkerung stiften können.

H IN

ZUM RITUALISIERTEN

P ROTEST

Nach dem Tod Jerzy Popiełuszkos wurde die Zelebration der Messen für die Nation fortgesetzt. In Warschau übernahm sie Teofil Bogucki, in Krakau waren es Kazimierz Jancarz und Adolf Chojnacki, die die Messen regelmäßig feierten.114 In Danzig führte sie Henryk Jankowski in der Brigitten-Kirche fort. Dennoch erreichten diese Gottesdienste nie die Popularität der Messen Polpiełuszkos. Durch das regelmäßige Abhalten wurden sie allerdings zu einem wichtigen Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. Darüber hinaus entwickelten sie sich auch zu einem festen Element des öffentlichen Gedenkens bedeutender Tage der polnischen Geschichte. Wie die Partizipation an Streiks und Gottesdiensten eine emotionale Identifikation ihrer Teilnehmer sowie ein gemeinsames theatrales Auftreten ermöglichen und so eine Abgrenzung des Eigenen gegenüber dem Fremden bewirken, verfügen auch und gerade Gedenktage über eine solche Eigenschaft. Wie in den vorangehenden Kapiteln herausgearbeitet wurde, spielte die Erinnerung an die Vergangenheit Polens, die durch den Kampf um Souveränität gekennzeichnet war, diesbezüglich eine wichtige Rolle. Wäh-

113 Vgl. Sauerland 2008, S. 33. 114 Vgl. Mark, Łucja: Msze Święte za ojczyznę. In: Biuletyn IPN 5-6/2009, S. 5259.

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rend der Streiks, aber auch während der Gottesdienste für die Nation wurden bestimmte Ereignisse durch das Singen von Liedern, das Rezitieren von Literatur oder das Aufstellen von Symbolen aktualisiert, was wiederum (nicht nur) auf die Anwesenden identifikationsstiftend wirkte. Während jedoch die hier vorgestellten Streiks und Gottesdienste nicht primär dem Erinnern gewidmet waren, erfüllten Gedenktage vornehmlich diese Funktion. Bereits 1772, also im Jahr der ersten Teilung Polens, hat Rousseau der Regierung des unter Fremdherrschaft stehenden Landes nahe gelegt, zur Stabilisierung des Nationalgefühls patriotische Feste zu veranstalten.115 Und diese folgte dem Ratschlag: Die Erinnerung an die polnische Verfassung vom 3. Mai 1791, welche die erste moderne Verfassung auf dem europäischen Kontinent war, wurde zu einem solchen Ereignis auserkoren. Zwar währte diese Verfassung nicht lange, da sie von den Nachbarländern Polens, nicht zuletzt wegen der zeitgleichen revolutionären Vorgänge in Frankreich, als eine Bedrohung für deren absolutistische Herrschaften gesehen und im Rahmen der zweiten Teilung Polens 1793 schließlich außer Kraft gesetzt wurde, doch barg sie gerade aufgrund ihrer Außerkraftsetzung großes identifikatorisches Potenzial in sich.116 Wohl aus diesem Grund wurde der Tag während der Zeit der Dreiteilung heimlich gefeiert und spielte auch nach dem Wiedererlangen der Souveränität 1919 eine wichtige Rolle im Jahreskalender der Nation.117 Im Zusammenhang mit diesem Ereignis wurde auch ein weiterer nationaler Gedenktag eingeführt, der 11. November, der an den Aufbau der Eigenständigkeit und das Ende des Ersten Weltkrieges erinnern sollte. Beide Tage wurden seitens der kommunistischen Machtha-

115 Vgl. Düding, Dieter: Einleitung. Politische Öffentlichkeit – politisches Fest – politische Kultur. In: Ders. et al. (Hg.): Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum 1. Weltkrieg. Reinbek 1988, S. 1024, 14. 116 Mehr hierzu siehe Helmut Reinalter und Peter Leisching (Hg.): Die polnische Verfassung vom 3. Mai 1791 vor dem Hintergrund der europäischen Aufklärung, Frankfurt a. M. 1997. Text der Verfassung vom 3. Mai in deutscher Übersetzung zu finden unter: http://www.verfassungen.eu/pl/verf91-i.htm (zuletzt aufgerufen am 29.10.2010). 117 Vgl. hierzu Stekl, Hannes: Öffentliche Gedenktage und gesellschaftliche Identitäten. In: Ders. und Emil Brix (Hg.): Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa. Wien 1997, S. 91-116, 100.

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ber bewusst nicht zu Feiertagen erklärt, sondern durch andere Feste ersetzt, die mehr dem von der PZPR propagierten Geschichtsbild des Neuanfangs Polens mit Hilfe der Sowjetunion entsprachen. Der 3. Mai wurde durch pompöse Feierlichkeiten anlässlich des 1. Mai – des Tages der Arbeit – verdrängt, und der 11. November vom 22. Juli ersetzt, dem Tag, an dem im Jahr 1944 die erste kommunistische Regierung in Polen gegründet wurde. Während beider Feiertage waren es vor allem die Parteifunktionäre, die sich bewusst in Szene setzten und das Volk an die bisherigen Errungenschaften des sowjetisch geprägten Kommunismus erinnerten. In den 16 Monaten der politischen Lockerung nach dem Augustabkommen 1980 wurden die beiden abgeschafften Gedenktage durch die Opposition allerdings wieder belebt. Ihr öffentliches, jedoch unerlaubtes Begehen stellte aber vornehmlich seit der Einführung des Kriegszustands neben dem Akt des Erinnerns vor allem eine bewusste Demonstration opponierender Haltung dar, welche die Machthaber radikal zu bekämpfen suchten. Zu diesen beiden für das kollektive Gedächtnis des Landes wichtigen Gedenktagen gesellten sich Ereignisse der jüngsten Geschichte des Landes, und zwar das Gedenken der Opfer von 1970 am 16. Dezember sowie die Erinnerung des Augustabkommens vom 31. August 1980. Diese beiden Daten spielen insofern eine besondere Rolle, da sie Ereignisse darstellen, die der Großteil der Bevölkerung miterlebt hatte. Der 3. Mai und der 11. November sind hingegen eher der Generation der Vorfahren vorbehalten. Der brutal niedergeschlagene Arbeiteraufstand von 1970 wird von Wissenschaftlern wie Lech Mażewski als konstituierend für die Genese oppositioneller Gruppierungen und ihres Vorgehens in der Küstenregion betrachtet.118 Als Beispiel sei hier die bereits erwähnte Gründung der Freien Gewerkschaften WZZ Wybrzeże genannt, aus der später die Solidarność erwuchs. Somit wird auch das Danziger Abkommen als das Resultat der Erfahrungen eingestuft, die bei dem schmerzhaften Ereignis vom 16. Dezember 1970 gesammelt wurden, wie der bereits im Kapitel „Etablierung von Bühnenräumen“ erwähnte Entschluss, während des Streiks das Betriebsgelände nicht zu verlassen. Darüber hinaus, so lässt sich diese Feststellung ergänzen, spielte dieses Ereignis, welches von vielen Oppositionellen aus

118 Vgl. Mażewski, Lech: Lekcja Grudnia a „Kultura“ i opozycja przedsierpniowa. In: Ders. und Wojciech Turek (Hg.): Grudzień przed Sierpniem. W XXV rocznicę wydarzeń grudniowych. Gdańsk 1996, S. 131-141.

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der Küstenregion als ein Symbol des Arbeiteraufstandes betrachtet wurde, auch eine wichtige Rolle bezüglich des Kampfes um Sicht- und Hörbarkeit in Form seines Gedenkens. Diese Behauptung lässt sich sogar soweit führen, dass der 16. Dezember seitens der WZZ-Mitglieder dezidiert als ein neuer Gedenktag, mit dem Ziel des Protestes, eingeführt wurde. Aus diesem Grund möchte ich dieses Gedenken in den Fokus des nächsten Kapitels stellen. Da in seiner Kommemoration auch Elemente, Formen sowie die Dramaturgie der anderen Gedenktage der Opposition, also des 3. Mai, des 30. August sowie des 11. November, auszumachen sind, sollen an seinem Beispiel die Mittel des Einschreibens in die Sphäre der Sinnlichkeit seiner Akteure analysiert sowie die Entwicklung zum Rituellen herausgearbeitet werden. Das Gedenken der Opfer von 1970 Das Gedenken der Opfer von 1970 begann bereits im Jahr nach der blutigen Niederschlagung des Arbeiteraufstandes und war interessanterweise in einen offiziellen und somit erlaubten Feiertag integriert: Einige Werftarbeiter trugen in einem Zug anlässlich des 1. Mai in Danzig ein Transparent mit der Forderung eines Denkmals für ihre getöteten Kameraden.119 Diese Forderung wurde von den Machthabern jedoch ignoriert, operatives Handeln mit dem Ziel, jegliche Erinnerung an dieses Ereignis zu verhindern sowie weitere Unruhen abzuwenden, dagegen bereits im Dezember 1970 verstärkt. Diesbezüglich wurden allein im Gebiet Danzig 500 IM angeworben.120 Aus diesem Grund fiel das Gedenken an die Ereignisse vom Dezember 1970 in der ersten Hälfte der 70er Jahre verhalten aus. Ab und an legte zwar ein Mutiger Blumen oder eine Kerze vor das Werfttor Nr. 2 in Danzig ab, jedoch mit dem Ergebnis einer sofortigen Verhaftung.121 Erst mit dem Aufleben organisierter Oppositionsgruppen wie WZZ Wybrzeże wurde das Gedenken der Opfer von 1970 aktiviert und, so lässt sich aufgrund der Analyse dieses Ereignisses konstatieren, zu einem Zeichen opponierender Einstellung auserkoren. Bereits ein halbes Jahr vor der offiziellen Gründung der WZZ Wybrzeże haben ihre späteren Gründer, darunter die

119 Vgl. Baczko 1994, S. 198. 120 Vgl. Cenckiewicz 2004, S. 333. 121 Vgl. Wałęsa 1987, S. 108

VOM PROTEST ZUM RITUAL | 199

Brüder Wyszkowski, dieses Gedenken initiiert und 1977 vor Tor Nr. 2 der Lenin-Werft mit einer Gruppe von Studenten aus den Kreisen von ROPCiO einen Kranz niedergelegt. Dies geschah am 16. Dezember um 14:15 Uhr, zu einer Zeit, in der die meisten Arbeiter zum Schichtende das Betriebsgelände verließen. So gelang es den Initiatoren, die Aufmerksamkeit der Werftarbeiter zu gewinnen und in einer Schweigeminute der Verstorbenen zu gedenken.122 Im Jahr 1978 wurde die Aktion wiederholt, jedoch mit verstärktem Einsatz der SB: Bereits seit Anfang Dezember patrouillierten 106 Milizbeamte in der Stadt einzig mit dem Ziel, „feindliche“ Propaganda bezüglich des Gedenkens dieses Ereignisses, d.h. Flugblätter, Plakate und Untergrundzeitschriften, aufzuspüren.123 Zudem wurden präventiv verdächtige Personen – darunter Andrzej Gwiazda, Krzysztof und Błażej Wyszkowski sowie Lech Wałęsa – arrestiert und ihre Wohnungen durchsucht.124 Auch Bogdan Borusewicz befand sich auf der Liste der zu Verhaftenden. Ihm gelang es jedoch, sich zu verstecken und die Gedenkfeier, gemeinsam mit Kazimierz Szołoch und Dariusz Kobzdej, durchzuführen, zu der trotz zahlreicher Straßensperren an die 2000 Personen, vornehmlich Werftarbeiter, erschienen.125 Auch 1979 gelang es der Gruppe, trotz verschärfter Maßnahmen des Sicherheitsdienstes, eine Versammlung vor der Werft zu organisieren; in diesem Jahr fand sie am 18. Dezember statt. Die Wahl dieses Datums lässt sich damit erklären, dass die SB eigentlich an den Tagen zuvor mit einer Manifestation gerechnet hatte und am 18. Dezember die Kontrollen nicht mehr so scharf durchführte. Die Observation des Werfttores blieb jedoch bestehen. Von 5:30 bis 23:00 Uhr beobachteten Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes das Gelände und notierten jede Einzelheit, die mit dem Gedenken an den Dezember 1970 zu tun haben könnte; so z.B. dass um 13:35 Uhr Figurant „Wół“, also Lech Wałęsa, das beobachtete Revier betreten hatte.126 Dieses Mal gelang es dem späteren Gewerkschaftsführer dank der

122 Vgl. Interview Janina Jankowskas mit Bogdan Borusewicz. In: Portrety niedokończone. Rozmowy z twórcami „Solidarności“ 1980-1981, S.43-81, 56. 123 Vgl. AIPN Gd 0046/364, t. 5, k. 238ff. 124 Vgl. AIPN Gd 0046/364, t. 7, k. 65-74. 125 Vgl. Interview Janina Jankowskas mit Bogdan Borusewicz. In: Portrety niedokończone. Rozmowy z twórcami „Solidarności“ 1980-1981, S.43-81, 56. 126 Vgl. AIPN Gd 003/16, t. 11, k. 508.

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Mithilfe seiner Arbeitskollegen, die ihn in einem Container versteckt zur Werft gefahren hatten, dem Arrest zu entgehen und mit Hilfe von Mitgliedern der Gruppe ROPCiO und den wenigen aus dem Kreis der WZZ, die dem Arrest ebenfalls entkamen, die Gedenkfeierlichkeit zu leiten. In seiner kurzen Ansprache wies er auf das 10-jährige Jubiläum der Geschehnisse vom Dezember 1970 hin: Im nächsten Jahr werden wir den 10. Jahrestag dieser Tragödie begehen. Und wir müssen ein Denkmal aufstellen. Sollte bis dahin ein solches nicht entstanden sein, möchte ich alle darum bitten, nächstes Jahr einen Stein mitzubringen. Denn wenn jeder einen Stein mitbringt, dann können wir auf jeden Fall ein Denkmal errichten. [...] Es wird sich um ein außergewöhnliches Denkmal handeln, doch die Situation damals war auch außergewöhnlich.127

An dieser Aussage wird der Wunsch und auch der Entschluss deutlich, dass nicht nur die jährlichen Versammlungen an die Opfer und den Arbeiteraufstand erinnern sollen, sondern dass auch ein symbolisches und ständiges Monument, wie ein Hügel aus Steinen, das Geschehene ins Gedächtnis rufen und dem von der PZPR angeordneten Vergessen Widerstand leisten soll. Bis dato musste die WZZ aber auf sich selbst und all diejenigen zählen, die sie bei der Durchführung der Gedenkfeier unterstützten, so z.B. die Kirche. Zum ersten Mal waren in diesem Jahr auch Geistliche bei der Gedenkfeier zugegen, die mit der versammelten Menge für die verstorbenen Kameraden, aber auch für all jene, die verhaftet worden waren, beteten. Priester Bronisław Sroka stimmte zudem das in den 1980er Jahren zu einem der beliebtesten Lieder der Opposition aufgestiegene Gott, der du Polen an.128 Die Anwesenheit des Klerus wird wohl auch ein Grund dafür gewesen sein, warum die Miliz an diesem Tag nicht eingriff und die Versammlung gewaltsam auflöste. Ein abschreckendes Exempel wollten die Machthaber dennoch statuieren und kündigten das Arbeitsverhältnis aller, die während der Gedenkfeier auf Fotos und Filmvideos der SB identifiziert werden konnten. Um zukünftige Manifestationen dieser Art zu verhindern, wurde sogar damit begonnen, an einem Umbau des Geländes zu arbeiten,

127 AIPN Gd 0046/364, t. 7, k. 149. 128 Vgl. AIPN Gd 0046/364, t. 7. k. 143.

VOM PROTEST ZUM RITUAL | 201

um den Ort des Gedenkens zu liquidieren.129 Die Ereignisse vom August 1980 kamen dem Sicherheitsdienst jedoch in die Quere, und das Projekt der WZZ Wybrzeże, den Opfern von 1970 ein Denkmal zu errichten, konnte nach langen Verhandlungen mit den Unterhändlern der Regierung begonnen werden. Bereits während des Auguststreiks entstand ein Entwurf für das Monument. Sein Ideengeber war der Techniker Bogdan Pietruszka. In der vierten Ausgabe des Streikbulletins vom 25. August wurde sein Vorschlag öffentlich vorgestellt: Das Denkmal ist ein 30 m hohes Monument, bestehend aus 4 Kreuzen, die sich an den Schultern sowie den vier an ihnen angehefteten Ankern berühren. Die Zahl vier symbolisiert die Anzahl der ersten Werftarbeiter, die 1970 vor Tor Nr. 2 in Danzig getötet wurden. In der nationalen Symbolik Polens steht das Kreuz [...] für den Glauben und das Märtyrertum, der Anker dagegen für die Hoffnung. Im Dezember 1970 wurde diese Hoffnung gekreuzigt. Das unterhalb der Kreuze flackernde Feuer ist das Leben. Das Denkmal soll ein Memento für all jene sein, die uns diese Symbole wegzunehmen versuchen.130

Realisiert wurde das Projekt in einer veränderten Version. Anstatt von vier wurden drei Kreuze aufgestellt, als Symbol für die ersten drei getöteten Werftarbeiter. Die Zahl drei symbolisierte außerdem die drei großen und von den Machthabern brutal niedergeschlagenen Arbeiterunruhen der Jahre 1956, 1970 sowie 1976. In einer Pressemitteilung heißt es bezüglich des vierten Kreuzes: „Wir möchten kein viertes Kreuz mit einer folgenden Tragödie aufstellen.“131 Die Größe der Kreuze wurde dafür auf 42 m erhöht. In ihrem oberen Bereich wurden die geplanten Anker aufgehängt, im unteren Bereich wurden dagegen Flachreliefs von Ryszard Pelpliński und Elżbieta Szczodrowska eingebaut, die Szenen aus dem Leben der Werftarbeiter abbilden. Eines dieser Reliefs wurde mit einem Gedichtfragment von Czesław Miłosz gestaltet:

129 Vgl. Cenckiewicz 2004, S. 344. 130 Strajkowy Biuletyn Informacyjny Solidarność vom 25. August 1980. 131 Przedruk z BIULETYNU INFORMACYJNEGO STOCZNI GDANSKIEJ im. Lenina. In: AS, t. Komisja Budynku Pomnika.

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Der du dem einfachen Menschen Unrecht Getan hast und darüber noch spottest, Sei deiner nicht so sicher. Der Dichter merkt sich das. Du kannst ihn töten - doch ein neuer wird kommen. Taten und Worte werden niedergeschrieben.

Auf diese Weise, so lässt sich dieser Akt interpretieren, wurde dem verbannten Dichter, dessen Werke in Polen verboten waren, ein Raum der Sicht- und Sagbarkeit gegeben. Zudem wurde durch diesen Akt ein Bekenntnis zu ihm und seiner Literatur ausgesprochen. In diesem Sinn ist auch die Enthüllung des gigantischen Denkmals am 16. Dezember 1980 auf dem Platz vor der Danziger Lenin-Werft zu verstehen. Die Feierlichkeiten am 16. Dezember stellten zwar zum ersten Mal kein verbotenes Gedenken dar, trotzdem lassen sie sich als bewusstes Ausstellen des 1970 vom Regime verübten Unrechts beschreiben.132 Bereits der Beginn der Veranstaltung verdeutlicht diese Feststellung, denn die Gedenkfeier selber wurde durch Glockenklänge und das Ertönen von Sirenen sowie das von Krzysztof Penderecki zu diesem Anlass komponierte Werk Lacrimosa eröffnet. Bereits hierdurch, also einzig durch die Kraft der schweren, zum Nachdenken anregenden Klänge wurde des Geschehens von 1970 und seiner Toten gedacht. Darüber hinaus wurden die Opfer auch in einer besonderen Weise vergegenwärtigt: Der Schauspieler Daniel Olbrychski las die 27 Namen der in Danzig getöteten Arbeiter einzeln vor, wobei nach jedem Namen die Versammelten „Er ist unter uns!“ antworteten. Auch diejenigen, deren Leichen nicht identifiziert werden konnten, wurden auf die gleiche Weise, allerdings als Gruppe, zu den Anwesenden gerufen, wobei die Menge „Sie sind unter uns!“ skandierte. Durch eine Schweigeminute wurde dieses Gedenken abgerundet. Durch die Einbindung von Psalmenzitaten in die Zeremonie wurde auch ein religiöser Kontext hergestellt. So wurde das 1979 zum ersten Mal durchgeführte gemeinsame Beten in Anwesenheit von Geistlichen durch die Heilige Messe erweitert, die der Primas von Polen, Stefan Wyszyński,

132 Die Informationen zu diesem Ereignis beruhen auf Audioaufnahmen der Feierlichkeit zur Enthüllung des Denkmals, die sich im Archiv der Solidarność in Danzig unter dem Titel: „Odsłonięcie Pomnika Poległych Stoczniowców, Gdańsk 16.12.1980r.“ befinden.

VOM PROTEST ZUM RITUAL | 203

persönlich gemeinsam mit dem Danziger Bischof Lech Kaczmarek konzelebrierte. Hierbei wurden sowohl das Denkmal als auch die Fahnen der Solidarność und alle Gedenktafeln, welche von angereisten Betrieben mitgebracht worden waren, geweiht. Neben der polnischen Nationalhymne sangen die Versammelten auch Lieder wie Gott, der du Polen sowie Rota, und das außerhalb der Messe. Auf diese Weise wurde erneut die Distanz zum kommunistischen Staat und die geschichtliche Verbundenheit der katholischen Kirche mit der Polnischen Nation demonstriert. Mit der bis ins Detail inszenierten Feier, an der ca. 500 000 Personen teilnahmen, knüpften die Organisatoren also nicht nur an Elemente der bereits etablierten Handlungen des Gedenkens, wie Niederlegen von Kränzen und Blumen, Anzünden von Kerzen und Ansprachen einzelner Personen an, sondern gestalteten die Feierlichkeiten ihren Vorstellungen entsprechend und zeigten so ihr neu erlangtes Selbstbewusstsein in aller Öffentlichkeit. Doch bereits ein Jahr später war durch die Einführung des Kriegsrechts das offizielle Gedenken der Opfer von 1970 erneut verboten. Ein erneuter Kampf um Sicht- und Hörbarkeit, vor allem in Form des trotzigen Gedenkens verbotener Jahrestage, begann. Dieses nahm rituelle Züge an, was im Folgenden erläutert werden soll. Ritualisierter Protest Der Ritualbegriff wird spätestens seit der Jahrhundertwende nicht mehr nur auf einen ihm zugrunde liegenden Mythos bezogen, welcher durch die rituelle Handlung lediglich anschaulich gemacht wird. In dieser Zeit bildete sich ein neues Verständnis des Begriffes heraus, der nun als ein Vollzug repräsentativer symbolischer Handlungen verstanden wird, der ebenso bedeutungsvoll wie ein Text gedacht werden kann und dem die Fähigkeit zugrunde liegt, eine Wirkung auf die an ihm Beteiligten auszuüben.133 An rituellen Handlungen sind also sowohl Akteure, die sie in vollem Bewusstsein ausführen, als auch Zuschauer beteiligt. Das Ritual kann somit als eine bestimmte Art der cultural performance kategorisiert und sein Vollzug als

133 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Performance, Inszenierung, Ritual. Zur Klärung kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe. In: Jürgen Martschukat und Steffen Patzold (Hg.): Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Köln 2003, S. 33-54.

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Aufführung betrachtet werden. Hatte noch Emile Durkheim den Terminus ausschließlich für Handlungen verwendet, die sich auf das Sakrale bezogen, so hat sich der Begriff inzwischen von dieser Definition gelöst.134 In ihrer formalen Struktur lassen sich heute alle Handlungen als Rituale charakterisieren, die aus strukturierten und geordneten Sequenzen von Handlungen, Gesten und Worten, wie z.B. Formeln, Sprüchen und Gebeten, bestehen, welche eine symbolische Bedeutung erfüllen, die über das visuell und akustisch konkret Wahrnehmbare hinausweist, und so Akteuren wie Zuschauern Interpretationsmöglichkeiten anbieten. Hierbei zeichnen sich Rituale dadurch aus, dass sie durch Wiedererkennbarkeit und Wiederholbarkeit markiert sind, wobei Varianten und Modifikationen nicht ausgeschlossen werden können. Sie können der Erneuerung und der Etablierung der sich an ihnen beteiligenden Gruppen dienen, denn sie sind im Stande, das Moment der communitas zu erzeugen.135 Bei der Betrachtung der Gedenkfeiern, die in Polen auf Intention der Opposition organisiert wurden, lässt sich feststellen, dass das Gedenken der ausgewählten und bereits erläuterten Ereignisse die oben vorgestellten Züge aufweist: Es ist durch strukturierte Handlungssequenzen charakterisiert, die durch die jährliche Wiederholung markiert sind; es beinhaltet symbolisches Handeln, welches Interpretationsräume eröffnet, und wird von einer Gruppe von Akteuren vollzogen, die während seines Vollzugs das Moment der communitas erleben. Auf diese Weise wird ihre Gruppe durch das besondere Erleben nach innen gestärkt und nach außen, also denjenigen gegenüber, die nicht am Gedenken teilnehmen, positioniert. Aus meiner bisherigen Beschäftigung kristallisierte sich die Beobachtung heraus, dass sich für den polnischen Protest dieser Zeit insbesondere zwei Aspekte als relevant für einen repetitiven Vollzug erwiesen: 1. Der Rückgriff auf die katholische Religion sowie 2. Der Rückgriff auf das historische Leid des Landes. Hierbei sind die jeweils dazugehörigen Aufführungen zu festen Bestandteilen der Proteste geworden, die sich wiederum

134 Vgl. Rao, Ursula und Klaus Peter Köpping: Die „performative Wende“: Leben-Ritual-Theater. In: Dies. (Hg.): Im Rausch des Rituals. Gestaltung und Transformation der Wirklichkeit in körperlicher Performanz. Hamburg 2000, S. 1-31, 1. 135 Vgl. hierzu Turner, Victor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a. M. 2000.

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zu einem rituellen Handeln etablierten. Am Beispiel des Gedenkens der Ereignisse des Jahres 1970 kann zudem Folgendes konstatiert werden, wobei an dieser Stelle darauf hingewiesen werden soll, dass auch die anderen Gedenktage der Opposition über diese Elemente verfügen, wenn auch zum Teil in modifizierter Version: Was in den 1970er Jahren noch mit dem Mitbringen von Blumen und Anzünden von Kerzen begonnen wurde, etablierte sich im Verlauf des folgenden Jahrzehnts zu einem Handlungsgefüge, das sich aus mehreren festen Bestandteilen zusammensetzte. Aus den mir vom Archiv des IPN zur Verfügung gestellten Filmen, welche von SB-Mitarbeitern angefertigt wurden,136 lässt sich schließen, dass sich die Feierlichkeiten jedes Jahr wiederholten und sich im dramaturgischen Aufbau, aber auch in Inhalten glichen. Dies ist nicht nur für Danzig festzuhalten, sondern auch z.B. für Gdingen, wo ebenfalls im Dezember 1980 ein Denkmal für die dort getöteten Streikenden errichtet wurde. Zudem kann hier hinzugefügt werden, dass die Gedenkfeiern in beiden Städten einander ähnelten. Der einzige Unterschied, der hier konstatiert werden kann, ist die Anzahl der Teilnehmer, die in Danzig um einiges größer war als in der Nachbarstadt. Um ein grobes Schema dieser Gedenkfeierlichkeiten zu zeichnen, lassen sich sieben feste Bestandteile fixieren: 1. Das Gedenken beginnt durchweg mit einem Gottesdienst, der zumeist als Gottesdienst für die Nation deklariert ist. 2. Im Anschluss an den Gottesdienst formiert sich ein Demonstrationszug, der von der Kirche zum Werfttor und somit zum Denkmal der Opfer von 1970 schreitet. 3. Blumen und Kränze werden von Delegationen und wichtigen Persönlichkeiten wie Lech Wałęsa vor dem Denkmal abgelegt und Kerzen angezündet. 4. Es werden gemeinsamen vor dem Denkmal national-religiöse Lieder gesungen, wobei Gott, der du Polen und Rota sowie die polnische Nationalhymne als die beliebtesten hervorgehoben werden können.

136 Vgl. z.B. AIPN GD 334/3 oder AIPN GD 334/25.

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5. Mit einer Schweigeminute wird der Opfer gedacht. 6. Das Gebet „Vater unser“ wird gemeinsam vor dem Denkmal gesprochen. 7. In Ansprachen und Reden wird an die Ereignisse von 1970 erinnert. Auch innerhalb der einzelnen Sequenzen lassen sich feste Elemente beobachten. Während der Gottesdienste werden u.a. dieselben Lieder gesungen wie später vor dem Monument, wobei jedes Mal beim Singen – sowohl in der Kirche als auch vor dem Denkmal – die Hand ausgestreckt und der Zeige- und Mittelfinger zu einem V formiert werden. Hierbei wird der Arm rhythmisch bewegt. Die Männer nehmen hierzu, als Zeichen des Anstandes, ihre Kopfbedeckungen ab. Dieses Verhalten ist allerdings dezidiert nur bei Liedern nationalen Inhalts zu beobachten; bei typisch religiösen Liedern, die sich nicht auf das Schicksal der Nation beziehen, wird ein solches Handeln unterlassen. Auszüge aus literarischen Texten polnischer Autoren, insbesondere aus der Zeit der Dreiteilung und des Zweiten Weltkrieges, die auf das Leid und auf die auserwählte Position Polens verweisen, werden während der Gottesdienste von Schauspielern vorgetragen; zu den beliebtesten Autoren zählen auch hier Mickiewicz und Słowacki. Während der Demonstrationszüge schreiten diejenigen, die später vor dem Denkmal die Blumenkränze niederlegen werden, in der ersten Reihe. Die hinter ihnen Marschierenden skandieren rhythmisch Worte und Sätze opponierenden Inhalts, die sich meist – jedenfalls im polnischen Original – reimen, so z.B. „Keine Freiheit ohne Solidarność!“ (pl. „Nie ma wolności bez Solidarności!“) oder „Grüße an den Untergrund!“ (pl. „Pozdrowienia dla podziemia!“). Nicht selten sind auch polnische Fahnen und SolidarnośćFlaggen sichtbar. Während der ersten Phase des Kriegsrechts war das Gedenken aus gegebenen Gründen eher verhalten, seit seiner Aufhebung kann jedoch ein erneut sichtbarer Mut zur Versammlung beobachtet werden, wobei gewaltsames Niederschlagen durch die Regierung an der Tagesordnung war. Insbesondere 1984, dem Jahr des Todes von Jerzy Popiełuszko, nahmen sehr viele Menschen an den Gedenkfeierlichkeiten teil. Doch schon in den kommenden Jahren lassen sich ein Abnehmen der Teilnehmerzahl und eine Phase der Lethargie beobachten. So waren bei Gedenkfeierlichkeiten an-

VOM PROTEST ZUM RITUAL | 207

lässlich der Ereignisse von Dezember 1970 im darauffolgenden Jahr – 1985 – bereits deutlich weniger Akteure zu beobachten, im Jahr 1988 waren in Gdingen am 16. und am 17. Dezember sogar nur einige wenige Menschen anwesend. In der überschaubaren Menschenmenge fielen, wie aus einigen Filmen hervorgeht, die filmenden Beamten besonders auf. Sie wurden von den Teilnehmern als Mitarbeiter der SB identifiziert, wie der transkribierte Dialog beweist: - Sind Sie mit dem roten Polonez hierher gekommen? - Ja. - Gehört der Wagen der Miliz? - Nein. - Und wem dann? - Meiner Firma. - Und welcher? - Tja. - Woher haben Sie den Wagen? Er hat staatliche Kennzeichen.137

An solchen Aktionen können zwei Beobachtungen festgehalten werden. Zum einen wird deutlich, dass der Sicherheitsdienst sich selbst für noch so kleine Menschenansammlungen, wie in dem besagten Jahr in Gdingen, die den Staat in ihrer Größe kaum gefährden durften, interessierte und seine Mitarbeiter diese observieren ließ. Zum anderen werden hier die vom SB geschickten Mitarbeiter, die eigentlich unerkannt bleiben sollen, für die eigentlichen Akteure selbst zu beobachteten Akteuren der Gedenkfeierlichkeit, die allerdings im Gegensatz zu den Versammelten keine bewusst herausgestellten Handlungen vollziehen. Der Schwund der Bereitschaft in der breiten Bevölkerung, die Gedenkfeierlichkeiten zu begehen, lässt sich vor allem damit erklären, dass es zwischen 1985 und 1988 um die Solidarność und ihre Anführer still geworden ist. Zwar agierte eine kleine Gruppe, die Kämpfende Solidarność, im Untergrund weiter, doch aufgrund ihrer konspirativen Tätigkeit konnte sie im öffentlichen Raum kaum Präsenz zeigen. Es war vielmehr die Jugend, die in dieser Zeit den Platz der Solidarność einnahm und die Bevölkerung, vor

137 AIPN GD 334/25, Film11.

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allem aber Gleichaltrige, zu neuen Protesten motivierte. Dieser Aspekt wird im nächsten Kapitel herausgearbeitet werden. Resümee Das Verhängen des Kriegsrechts stellte eine wichtige Zäsur für den öffentlichen Protest dar. Diese repressive Vorgehensweise der PZPR-Führung zwang die Opposition nicht nur erneut in den Untergrund, sondern auch zu neuen Strategien, ihren Protest im Rancièreschen Sinne sicht- und hörbar zu machen. Neben visuellen und auditiven Aktionen von Internierten und einzelnen engagierten Bürgern in der ersten Phase des Kriegszustands, etablierten sich die von Jerzy Popiełuszko wiederbelebten Gottesdienste für die Nation als öffentlicher Ausdruck von Protest. Da religiöse Versammlungen vom Versammlungsverbot des Militärischen Rates ausgenommen waren, nutzten sie zunehmend mehr Menschen als Möglichkeit, sich einerseits im geschützten Raum der Kirche mit Gleichgesinnten zu treffen und andererseits durch die Teilnahme an Gottesdiensten ein Zeichen ihres Nichteinverstanden-Seins zu setzen. Neben den Gottesdiensten Popiełuszkos fungierten verbotene Gedenkfeierlichkeiten offiziell nicht begangener historischer Ereignisse als Ausdruck opponierender Einstellung dieser Zeit, wobei sich diese Protestform zu einem ritualisierten Handlungsvollzug entwickelte, bei dem die bereits während des Danziger Auguststreiks etablierten Elemente übernommen und zu einem festen Bestandteil konstituiert wurden. Trotz der hier vorgestellten theatralen sicht- und hörbaren Aktivitäten im öffentlichen Raum lässt sich bis 1987 ein Schwund der Bereitschaft der breiten Bevölkerung am Begehen der von der Solidarność initiierten Proteste konstatieren.

Das Durchbrechen des Ritualisierten: Die Orange Alternative oder Der friedliche Aufstand der Zwerge

Jeder Mensch ist ein Künstler. Joseph Beuys

Während der Großteil der polnischen Bevölkerung mit der Einführung des Kriegsrechts in Lethargie verfiel, formierten sich seit dessen Ausrufung in Schüler- und Studentenkreisen unterschiedliche Gruppierungen, die zum Teil in Kooperation mit der illegalen Gewerkschaft agierten, sich zum Teil aber von den Aktionen der Solidarność distanzierten und eigene Proteste formierten. Bei der Betrachtung der Unterlagen des polnischen Staatssicherheitsdienstes fällt auf, dass vor allem drei Jugendbewegungen in dieser Zeit von sich reden machten: die Föderation der Kämpfenden Jugend (pl. Federacja Młodzieży Walczącej), Freiheit und Frieden (pl. Wolność i Pokój) und die Orange Alternative (pl. Pomarańczowa Alternatywa). Alle drei Bewegungen haben sich, jeweils von einer Stadt ausgehend, innerhalb kürzester Zeit auf ganz Polen ausgebreitet und dort in Eigeninitiativen und in Regionalgruppen agiert. Somit lässt sich die sowohl im Inland als auch im Ausland verbreitete Ansicht widerlegen, welche die polnische Opposition einzig mit der Solidarność gleichsetzt und beschreibt. Tatsächlich agierten verschiedene oppositionelle Gruppierungen außerhalb der Gewerkschaft, ganz besonders seit Mitte der 1980er Jahre, als es um die Solidarność ruhiger wurde.

210 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

Anhand der Archivunterlagen des Instituts für Nationales Gedenken lässt sich konstatieren, dass die Föderation der Kämpfenden Jugend und die Gruppierung Freiheit und Frieden an viele Elemente der ritualisierten Protestformen, die im vorangehenden Kapitel beschrieben wurden, anknüpften. So ist das Gedenken an besondere Tage der polnischen Geschichte in Form von Manifestationen, wozu beispielsweise das Erinnern an die Opfer von 1970, die Einführung des Kriegsrechts sowie diverse Aktionen anlässlich des 1. und 3. Mai gehören, und die Teilnahme an Gottesdiensten und Demonstrationen zu nennen. Während die Föderation der Kämpfenden Jugend, die zum größten Teil aus Schülern bestand, vorwiegend im Umfeld von Schulen aktiv war und sich über die allgemein angestrebten Ziele wie Demokratisierung und Freiheit hinaus gegen die Gewalt an Schülern richtete, engagierte sich die in studentischen Kreisen angesiedelte Gruppierung Freiheit und Frieden in erster Linie gegen die obligatorische Einweisung zum Militärdienst. Die Gruppierung formierte sich 1985 in Podkowie Leśne während eines Hungerstreiks anlässlich der Verurteilung des Studenten Mark Adamkiewicz zu einer Gefängnisstrafe wegen Kriegsdienstverweigerung. Später kamen auch ökologische Ziele wie der Protest gegen Atomenergie hinzu. Während sich die Gruppierung Freiheit und Frieden in ihrer Anfangszeit der bereits etablierten Protestformen bediente, knüpfte sie später, wie Leszek Budrewicz berichtet,1 an die von der Orangen Alternative ins Leben gerufene Form des Happenings an, die damit eine bis dahin in Polen nicht praktizierte Form des öffentlichen Protests begründete. Auch Aktivisten der Föderation der Kämpfenden Jugend fanden Gefallen an den Happenings der Orangen Alternative und beteiligten sich an ihnen immer wieder als Akteure. Der Terminus Happening taucht historisch zum ersten Mal während Allan Kaprows 18 Happenings in 6 Parts in der Reuben Gallery in New York im Herbst 1959 auf. Nicht passives Zuschauen, sondern aktive Teilnahme wurde von den Galeriebesuchern gefordert: Am Eingang bekamen sie Kärtchen mit Handlungsanweisungen, die Kaprow im Vorfeld verfasst hatte, und sollten diesen entsprechend in Aktion treten. Auf den Kärtchen war festgelegt, wann sich wer in welchem der drei Räume mit Installationen aufzuhalten habe. So wurde das Publikum zum Teil des Kunstwerks. Kaprow hat sich damit, inspiriert von den Experimenten am Black Moun-

1

Vgl. Kenney, Padraic: Wrocławskie zadymy. Wrocław 2007, S. 116ff.

DAS DURCHBRECHEN DES RITUALISIERTEN | 211

tain College, dem statischen Kunstwerkbegriff verweigert und die Happening-Bewegung initiiert.2 Diese Form der Aktionskunst wurde in den 1980er Jahren von der Orangen Alternative, einer Gruppe von Studenten unterschiedlicher Fachrichtungen, übernommen, um durch künstlerische Veranstaltungen gesellschaftliche, kulturelle und politische Umstände in Polen zu hinterfragen. Mit ihren Aktionen beabsichtigte die Gruppe, wie Kaprow, das Verschmelzen von Kunst und Leben. Allerdings war hier nicht eine Galerie der Schauplatz, sondern eine Straße, ein allen zugänglicher Ort, der im kommunistischen Polen einer strengen Bewachung unterlag. Auch wenn die Orange Alternative immer betonte, keine Politik zu betreiben, begann sie, ihre Art des politischen Happenings in Polen zu etablieren und sich damit den öffentlichen Raum in einem bewachten sozialistischen Staat auf originelle Art und Weise zu erobern. Damit differenzierte sich die Gruppe von allen bereits erwähnten und bis dahin praktizierten Protestformen, setzte mit eigenwilligen Aktionen neue Akzente innerhalb der Protestlandschaft und durchbrach das Ritualisierte. Mit ihren Happenings gehörte sie zu den ersten, die es in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wagten, die konspirative Arbeit, in welche der Kriegszustand die opponierenden Kräfte gezwungen hatte, zu verlassen und erfolgreich eine öffentliche Form des Protestes zu etablieren. Während, wie im letzten Kapitel dargelegt wurde, die Mani-

2

Vgl. Jappe, Elisabeth: Performance Ritual Prozeß. Handbuch der Auktionskunst in Europa. München/New York 1993, S. 17. Das Skript zu Kaprows erstem Happening ist zu finden unter Kaprow, Allan: 18 HAPPENINGS IN 6 PARTS. In: Michael Kirby (Hg.): Happenings. New York 1965, S. 53-83. In Polen wurde in den 1960er Jahren ebenfalls nach Möglichkeiten gesucht, den statischen Kunstwerkbegriff zu durchbrechen und alternative Formen zu entfalten. In zahlreichen experimentellen Aktionen wurden konservative Kunstansichten in Frage gestellt. Eines der berühmtesten Beispiele ist sicherlich die Arbeit Tadeusz Kantors. In seinem ersten Happening Cricotage in der Warschauer Gallerie Foksal beispielsweise ließ er simultan unterschiedliche Ereignisse im Raum passieren und platzierte das Publikum inmitten des Geschehens. Als ein weiteres Beispiel kann Jerzy Grotowski genannt werden. Er versuchte in dieser Zeit in Breslau die Ideen von seinem von allen Fesseln befreiten Theater zu verwirklichen und gründete zu diesem Zweck das „Theater Laboratorium“.

212 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

festationen der Solidarność 1987 nur wenig Anklang in der Bevölkerung fanden, partizipierten zunehmend mehr Menschen an den Happenings der Orangen Alternative. Damit wurden nicht nur die Parteikader, sondern auch die Solidarność-Aktivisten – die anfangs die Aktionen noch als lächerlich empfanden – vor den Kopf gestoßen und viele Gruppen, wie die bereits erwähnte Freiheit und Frieden, zur Nachahmung inspiriert. Die Orange Alternative stellt zum jetzigen Zeitpunkt einen kaum erforschten Gegenstand dar. Nur wenige Aufsätze, die vorwiegend aus eigenen Erfahrungen und Beobachtungen der Mitwirkenden berichten, die Auswirkungen und Analysen der Happenings jedoch größtenteils vernachlässigen, sind bisher veröffentlicht worden. Zudem fällt auf, dass in den bisherigen Veröffentlichungen das Archivmaterial kaum, Materialien des Staatssicherheitsdienstes gar nicht berücksichtigt wurden.3 Diese Forschungslücke gilt es nun zu füllen; daher sollen an dieser Stelle besonders die bisher vernachlässigten Quellen zur umfassenden Darstellung und Analyse der Happenings der Orangen Alternative herangezogen werden. Ergänzend hierzu wird auf Interviews zurückgegriffen, die Padraic Kenney mit Akteuren der Happenings durchgeführt und publiziert hat.4 Im Folgenden sollen die Proteste der Orangen Alternative und ihre Art und Weise der theatralen Öffentlichkeitserzeugung näher betrachtet und die Unterschiede zu den bisher behandelten Widerstandsformen herausgearbeitet werden.

3

Hierzu zählt das Kapitel „How the Smurfs Captured Gargamel, or, A Revolution of Style“ zur Orangen Alternative in Padraic Kenneys Buch: A Carnival of Revolution. Central Europe 1989. Princeton 2002, S. 157-194 sowie die Aufsätze von Misztal, Bronisław: Between the State and Solidarity: one movement, two interpretations – the Orange alternative movement in Poland. In: The British Journal of Sociology 43/1992, S. 55-78; Peczak, Mirosław: The Orange Ones, The Street, and The Background. In: Performing Arts Journal 13/1991, S. 50-55; Tyszka, Juliusz: Orange Alternative: Street Happenings as Social Performance in Poland under Martial Law. In: New Theatre Quarterly 56 /1998, S. 311-321.

4

Siehe Kenney 2007.

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V ON

DER B EWEGUNG DER N EUEN K ULTUR ZUM ERSTEN A UFSTAND DER Z WERGE Es lebe der Sozialistische Surrealismus! Die Wurzeln der Orangen Alternative reichen in die Zeit der legalen Aktivität der Solidarność zurück. Nach der offiziellen Zulassung der Gewerkschaft 1980 wurden in ganz Polen sowohl in Fabriken als auch in Bauernverbänden und selbst in Kreisen von Kulturschaffenden ihre Ableger gegründet. Auch in Studenten- und Schülerkreisen formierten sich zahlreiche unabhängige Gruppierungen, die als Vertreter der jeweiligen Studentenbzw. Schülerschaft fungierten. Eine dieser Gruppen, die Bewegung der Neuen Kultur (pl. Ruch Nowej Kultury), wurde an der Universität und der Kunstakademie in Breslau ins Leben gerufen. Im Gegensatz zu der polenweit tätigen Unabhängigen Studentenvereinigung (pl. Niezależne Zrzeszenie Studentów, kurz NZS), die sich als Alternative zum parteinahen Sozialistischen Bund Polnischer Studenten (pl. Socjalistyczny Związek Studentów Polskich, kurz SZSP) verstand, und sich um eine Verbesserung der Studienbedingungen bemühte, bestand das Bestreben der Bewegung der Neuen Kultur vor allem darin, kontestative Kunstaktionen durchzuführen. Mit diesen sollte das Bewusstsein ihrer Kommilitonen und Mitmenschen verändert werden, indem diesen ihre Lethargie und Entfremdung vergegenwärtigt werden sollten. Im Statut der Bewegung der Neuen Kultur heißt das Ziel daher: „[...] die Probe, mittels kultureller Aktivitäten die Entfremdung des in einer Industriegesellschaft lebenden Menschen von sich selbst zu überwinden“ sowie „humanistische Bande zwischen den Menschen zu knüpfen“5. Das Erschaffen alternativer und freier Denk- und Handlungsräume in der Gesellschaft sollte zum Erreichen dieses Ziels führen. 1981 führte Waldemar Fydrych, ein Mitglied der Bewegung der Neuen Kultur, mit der Publikation des Manifestes des Sozialistischen Surrealismus, das in Form eines losen Flugblatts erschien, die Vorstellungen der Gruppe näher aus. Das Manifest wurde später sowohl zur Grundlage der

5

Zitiert nach Fydrych, Waldemar: Przełamywanie struktur akademickich na tereneie Wrocławia w sztuce w latach 1980-1985. In: Ders. und Dobosz, Bogdan: Hokus Pokus czyli Pomarańczowa Alternatywa. Wrocław 1989, S. 20-42, 21.

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Zeitschrift Orange Alternative6 als auch der von Fydrych Mitte der 1980er Jahre gegründeten gleichnamigen Happeningbewegung. In seinem Manifest fordert Fydrych – damals Student der Kunstgeschichte – die Abkehr von einer rationalen Lebenseinstellung: Tötet die Vernunft! [...] Du weißt genau, dass die Imagination eine unbegrenzte Welt ist. Ihr Abbild kann alles sein, aber nur unter der Bedingung, dass es sich nicht kriecherisch zu der so genannten praktischen Welt verhält. [...] Offensichtlich existiert keine Kraft, die die unzähligen Welten der Vorstellungskraft einschränken könnte. Sie überwindet alles, ohne Rücksicht auf reale Kräfte. Die Imagination lebt in uns, solange sie frei ist.7

6

Die Frage nach dem Namen der Zeitschrift Orange Alternative, der später auf die Happenigbewegung übertragen wurde, lässt sich nicht eindeutig beantworten, da unter ihren Anhängern und auch in der bisher veröffentlichten Sekundärliteratur verschiedene Erklärungen kursieren. Dass bereits die Bewegung der Neuen Kultur eine Alternative zu den bisher existierenden Gruppierungen darstellen sollte und sich aus diesem Grund auch als Alternative bezeichnete, darf die Wahl des Wortes Alternative erklären. Viel schwieriger dagegen ist die Beantwortung der Frage nach der Wahl des Adjektivs „orange“. Eine Version erklärt es aus der Zugehörigkeit von Waldemar Fydrych zum Buddhismus. Da Fydrych zur Zeit der Bewegung der Neuen Kultur noch keine führende Rolle spielte und sonst niemand aus der Gruppe sich dieser Religion zugehörig fühlte, bleibt diese Erklärung fragwürdig. Eine andere Version behauptet, die Bewegung habe sich als Nachfolge der alternativen Provo-Bewegung aus den Niederlanden gesehen, wofür allerdings nichts spricht bis auf die Tatsache, dass auch sie sich als Alternative verstand und Orange die Nationalfarbe Niederlands ist. Am meisten nachvollziehbar erscheint die Erklärung, dass die Farbe Orange aus der Mischung der Farbe Rot des Kommunismus und der Farbe Gelb der Katholischen Kirche resultiere. Die Bewegung fühlte sich, wie aus meinen Analysen in diesem Kapitel deutlich wird, keiner der beiden Gruppen und der mit ihnen verbundenen Organisationen nahe und stand mit ihren Aktionen zwischen diesen.

7

Manifest surrealizmu socjalistycznego. AZiO: Pomarańczowa Alternatywa I-2, t. 1, lata 1981-1987.

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Diese Art der Weltbetrachtung ermöglicht es seiner Ansicht nach, nicht nur sich selbst von den Zwängen des Alltags zu befreien, sondern die gesamte Welt als ein Kunstwerk zu betrachten und jedes einzelne Lebewesen als einen Teil davon: „Schließlich ist die ganze Welt ein Kunstwerk.“8 Im Manifest des Sozialistischen Surrealismus wird zudem deutlich, dass sich Fydrych mit seinen Ideen von der Denkweise der Solidarność und der ihr nahe stehenden Gruppierungen und Anhänger distanzierte. Während diese die Befreiung der Nation zum Ziel hatten und die Leiden des polnischen Volkes in ihren öffentlichen Versammlungen immer wieder thematisieren, behauptet Fydrych in seinem Manifest: „Welchen Sinn hat es zu leiden, wenn man sich freuen kann?“9 Damit nimmt er Abstand von der messianischen Vorstellung, die – wie in den vorangegangenen Kapiteln herausgearbeitet – eine dominierende Rolle in Oppositionskreisen spielte. Er nennt den Begriff des Messianismus zwar nicht beim Namen, doch indem er konstatiert, dass das Schicksal kein Kreuz sei, bezieht er eindeutig Stellung zu der messianischen Vorstellung des Großteils seiner Zeitgenossen und postuliert die Befreiung von dieser Art von geistiger Abhängigkeit. In Anlehnung an Marx und Lenin heißt es im Manifest sogar: „Religion ist das Opium oder die Träumerei des Volkes.“10 Anstatt sich dem Transzendenten zu widmen und in der Hoffnung auf eine bessere Zeit zu verharren – denn die Hoffnung und die Träumereien können Fydrychs Meinung nach als große Feinde des Menschen betrachtet werden –, sollen die Menschen ihre Jetztzeit der Imagination widmen und sich über ihr gegenwärtiges Leben freuen. Anstatt über ihre Lage zu räsonieren, sollen sie sich dem Spiel widmen. Selbsttäuschung, im Sinne eines religiösen Glaubens an eine bessere Zukunft, ist demnach nicht zulässig: „Jeder von Euch soll wissen, dass wir es nicht erlauben werden, sich einfach zu betrügen.“11 In seinem Manifest fordert Fydrych daher seine Mitmenschen auf, sich aktiv am Kunstwerk ihres Alltags zu beteiligen und so der krisenhaften Stimmung der Zeit zu entgehen. Bereits im November 1980 hat die Bewegung der Neuen Kultur eine erste Aktion veranstaltet, bei der sie mit Transparenten wie „Weg mit der

8

Ebd.

9

Ebd.

10

Ebd.

11

Ebd.

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Symmetrie. Es lebe die freie Vorstellungskraft!“ durch die Breslauer Innenstadt marschierte. Diese Aktion ist insofern bemerkenswert, als dass bereits mit ihr eine neue Form des Protestes gezeigt wurde. Während in ganz Polen zu dieser Zeit die Protestform des Streiks vorherrschte und Massendemonstrationen für konkrete politische Angelegenheiten, beispielsweise für die Zulassung der Solidarność von Bauern (pl. Solidarność Chłopska), veranstaltet wurden, gingen die Mitglieder und Anhänger der Bewegung der Neuen Kultur mit nicht alltäglichen und für die Mehrheit der Bevölkerung absurd erscheinenden Forderungen auf die Straßen. Diese Aktionen wurden von den Passanten eher als Kunstaktionen gesehen als mit den konkreten gesellschaftlichen Anliegen assoziiert, wie sich Fydrych erinnert.12 Dennoch stellten sie in einer Welt, in der Anpassung und Funktionieren nach Regeln, die vom Regime vorgegeben waren, zur Tagesordnung gehörte, eine Forderung dar, die nicht so sehr der Kunst als der Gesellschaft entgegenkam. Während der polenweiten Studentenstreiks für mehr Mitbestimmungsrechte im universitären Betrieb im November und Dezember 1981 wurden von der Bewegung der Neuen Kultur weitere Formen des Protests ausprobiert und die Anregungen des Manifests des Sozialistischen Surrealismus in die Tat umgesetzt: Wie ihre Kommilitonen besetzten auch die Anhänger der Bewegung der Neuen Kultur einen Teil des Breslauer Universitätsgebäudes; als Handlungsquartier und Koordinationszentrale dienten die Räume des Philosophieinstitutes. Neben dem Kampf um mehr Rechte von Studierenden verstand die Bewegung den Streik als „eine neue Form zwischenmenschlicher Kontakte“13, welche mit Hilfe von Phantasie geknüpft werden könnten. Denn der Streik als „der Ausdruck des Sozialistischen Surrealismus, dem zufolge nicht nur die typischen rationalen Ziele erreicht werden können“14, war ihrer Ansicht nach in der Lage, den eigenen Horizont auf eine besondere Art und Weise zu erweitern. Zu den bereits vorhandenen Postulaten fügte sie daher dem Manifest entsprechend ihre eigene Streikforderung, „Es lebe die freie Vorstellungskraft!“15, hinzu, denn nur mit dieser lasse sich der Streik erfolgreich führen und das Ziel einer freien

12

Vgl. Fydrych 1989, S. 21.

13

Ebd. S. 24.

14

Pomarańczowa Alternatywa, Nr. 6.

15

Ebd.

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Universität verwirklichen. In der in diesen Tagen gegründeten Zeitschrift Orange Alternative16, die unter das Motto „Alle Proletarier seid schön“ (pl. „Wszyscy proletarjusze bądzcie piękni“) gestellt wurde, diskutierte die Bewegung der Neuen Kultur die Notwendigkeit dieser Forderung. Eine freie Universität bedeutete für sie nicht nur eine Anstalt, in der Studenten mehr Mitbestimmungsrechte erhalten sollten, sondern eine Universität, in der sie sich von den ihnen auferlegten Zwängen der Angepasstheit, des Funktionierens und der Bürokratie loslösen und ihrer Imagination freien Lauf lassen könnten: freie universität ist die revolution der imagination ist die störung der symmetrie des bürokratischen lebens inmitten von dogmen und institutionalisierten wahrheiten [...] freie universität ist das wundervollste spiel mit einer menge von ciuciubabcias mit tausenden von alten bären die schlafen und einem karussell das wartet [...].17

Als eines der wichtigsten Ziele galt die Loslösung von Ängsten, vor allem gegenüber Autoritäten wie der polnischen Miliz. In einer ersten HappeningAktion sollte daher die Harmlosigkeit der polnischen Ordnungshüter den Streikenden gegenüber demonstriert werden. Täglich kamen abgeordnete Milizeinheiten an die Universität und entfernten Streikbanner, Plakate und Graffiti, welche die Forderungen der Studenten ausdrückten. Die Bewegung der Neuen Kultur beschloss, sich diesen Aktionen anzuschließen und die Tätigkeiten der Miliz – dem Manifest entsprechend – in ein Spiel zu verwandeln: Waldemar Fydrych begrüßte eines Morgens von einem Fenster aus die Ordnungshüter mit einem Megaphon und gab im Befehlston Anweisungen für ihre leicht zu durchschauenden Handlungen wie „Leiter aufstellen!“, „Auf die Leiter steigen!“ und „Plakate abreißen!“.18 Währenddessen schauten andere Mitglieder der Bewegung, die sich selbstgebastelte

16

Die Zeitschrift Orange Alternative (pl. Pomarańczowa Alternatywa) erschien insgesamt sieben Mal während des Streiks. Alle Ausgaben sind im AZiO in Breslau vorhanden sowie auf der Homepage der Orangen Alternative zu finden: http://www.pomaranczowa-alternatywa.org/index-pl.html. (zuletzt aufgerufen am 25.11.2010).

17

Pomarańczowa Alternatywa, Nr. 7.

18

Siehe Interview Padraic Kenneys mit Agata Saraczyńska und Marcin Harlender. In: Wrocławskie zadymy, S. 303- 313, 307.

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Helme aufgesetzt hatten, aus anderen Fenstern zu und fotografierten die 19 Handlungen der Miliz, wobei sie die Internationale sangen. Den Angaben Fydrychs zufolge sollen die Ordnungshüter daraufhin das Universitätsgelände verlassen haben.20 Nicht so sehr von ihren Kommilitonen als vielmehr von den studentischen Streikführern wurden die Aktivitäten der Bewegung der Neuen Kultur kritisiert. Diese vertraten die Meinung, dass sich deren Aktionen nicht mit den Zielen des Streiks vereinbaren ließen und sowohl die Studenten als auch den Staat der Lächerlichkeit preisgäben.21 Besonders die Zeitschrift Orange Alternative stieß auf Ablehnung. In einem Schreiben wurde sogar ein Publikationsverbot verhängt: „[...] aus Streikzielgründen wird das Drucken der ,Orangen Alternative‘ – der Schrift der Bewegung der Neuen Kultur – während der Streikdauer ohne eine vorherige Zensur durch das Streikkomitee untersagt.“22 In einer Zeit, in der sich die Studenten von der Diktatur des kommunistischen Regimes und seinen einschränkenden Praktiken zu befreien suchten, handelte das studentische Streikkomitee in Breslau in genau den gleichen restriktiven Verhaltensmustern wie ihre eigentlichen Gegner. Während Studenten mittels des Streiks eine Öffentlichkeit für ihre Belange zu erzeugen suchten, wurde einem Teil von ihnen nicht nur von der Partei, sondern auch von ihren Mitstreitern diese Öffentlichkeit verweigert. Die polizeilichen Mechanismen im Sinne Rancières wurden paradoxerweise von denjenigen übernommen, welche selbst zu den Anteillosen gehörten. Innerhalb dieser Gruppe der Anteillosen praktizierten sie also die von ihnen selbst verabscheuten Methoden. Und dagegen wiederum wehrten sich die von ihnen Ausgeschlossenen und kämpften um ihren Platz an der Sichtbarkeit: Die Antwort der Redaktion der Orangen Alternative auf die ihnen aufgebürdeten Restriktionen war die Sabotage des Verbots und ein Aufruf zur Gründung Komitees, die alternativ zum Streikkomitee arbeiten. In einer gegen die Umstände polemisierenden Anzeige in der Orangen Alternative heißt es:

19

Vgl. Fydrych 1989, S. 25.

20

Vgl. ebd.

21

Vgl. ebd.

22

Pomarańczowa Alternatywa, Nr. 3.

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[...] während einer studentischen Einmannsitzung ist in Breslau das erste Alternative Komitee (AK) gegründet worden. Während derselben Sitzung wurde die Föderation Alternativer Komitees (FAK) ins Leben gerufen, zu deren Anführer einstimmig, nämlich von ihm selbst, Marek Puchała, gewählt wurde. Auf diese Weise wurde derselbe zum Offizier der Föderation der Alternativen Komitees (abgekürzt FAK OF) ernannt.23

Die Bewegung der Neuen Kultur setzte ihre Arbeit und die Publikation ihrer Zeitschrift getreu dem Motto „Eine freie Kunst ist die einzige und die sicherste Kunst des Kampfes mit der Wirklichkeit und die Wirklichkeit ist sich dieses Umstandes bewusst“ bis zum Ende des Streiks fort und eröffnete somit die von sich selbst geforderten alternativen Räume; auch wenn sie ihre Bastion an der Breslauer Uni verlassen und sich einen neuen Handlungsort (zunächst die Landwirtschaftsakademie, später die Akademie der Bildenden Künste) suchen musste. Doch auch dieser Zufluchtsort konnte nicht lange gehalten werden, da die neuen Maßnahmen der PZPR allen opponierenden Kräften die neu gewonnenen Freiheiten blockierten und den Bereich der Öffentlichkeit erneut und sogar noch strenger als zuvor bewachten.

D IE G EBURT

DER

Z WERGE

Die Verhängung des Kriegsrechts in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1981 und das Verbot der Solidarność zwang, wie im Kapitel „Vom Protest zum Ritual“ dargelegt wurde, die Aktivitäten der Gewerkschaft in den Untergrund. Auch alle anderen unabhängigen Gruppierungen, wie die Bewegung der Neuen Kultur, mussten in die konspirative Arbeit fliehen und schlossen sich den dort neu entstehenden Gruppierungen an. Die opponierenden Kräfte wurden somit erneut aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit, aus dem Raum der Sinnlichkeit, entfernt. Alle Versuche von Streiks, Demonstrationen und Manifestationen wurden gewaltsam niedergeschlagen. In den ersten Monaten nach der Ausrufung des Kriegsrechts bestand eine der raren und am wenigsten gefährlichen Möglichkeiten, ein Zeichen des Protests im öffentlichen Raum zu setzen, darin, Graffiti mit Slogans und

23

Pomarańczowa Alternatywa, Nr. 4.

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Parolen an Mauern und Wänden zu platzieren und sich so ein Stück Sichtbarkeit zu erkämpfen. Die meisten Slogans postulierten das Weiterleben der Solidarność (z.B. „Solidarność lebt weiter!“) oder richteten sich gegen die Politik Wojciech Jaruzelskis (z.B. „Verfrachtet die Asche des Generals auf den Wawel!“). Die Mauern dienten also auch hier als Bühne, auf der die Schrift zum Akteur wurde. Anders als beim Danziger Auguststreik eineinhalb Jahre zuvor, wo die Slogans die von der Presse verschwiegenen bzw. falsch dargestellten Zustände richtig stellten und der Informationsvermittlung über den Streik dienten, waren sie in der Zeit des Kriegszustands zunächst die einzige Möglichkeit – ohne die Preisgabe der eigenen Identität, die das Streiken oder das Demonstrieren forderte –, Protest gegen das verhängte Kriegsrecht zu äußern. Daneben dienten sie auch der Information: Sie kommunizierten allen, die sie sahen, dass die Opposition weiterhin arbeitete und sich durch das Verbot nicht einschüchtern ließ. Die Slogans wurden allerdings innerhalb kürzester Zeit von speziell dafür abgeordneten Kräften übermalt; was zurück blieb, waren weiße Flecken auf grauem Mauerwerk. Waldemar Fydrych, der den Kriegszustand, genauso wie die Zeit vor seinem Ausbruch, als Chance für die Entwicklung unabhängigen Denkens und alternativen Handelns betrachtete,24 beschloss – dem Motto seines Manifests folgend –, zu spielen und sich in das Kunstwerk des Alltags einzumischen. Die zahlreichen Flecken an Haus- und Mauerwänden Breslaus wurden von ihm und einigen seiner Kameraden, die so wie er den Massenverhaftungen dieser Zeit entgangen waren, mit kleinen bunten Zwergen versehen.25 Auch in anderen Städten wie Warschau, Krakau, Lodz und Stettin schmückten schon bald kleine Männchen mit bunten Mützen die Wände. Zum Teil wurden sie von Fydrych selbst, zum Teil von seinen Freunden, zum Teil aber auch von Nachahmern angebracht. Fydrych verstand die Zwerge als eine Verknüpfung von Widersprüchen: „Die Parole ist die These, der weiße Fleck die Antithese und der Zwerg die Synthese.“26 Die an die Wände gemalten Zwerge sind also den Ideen des Manifests des surrealistischen Sozialismus zuzuordnen. Fydrych fasst ihre Devise folgendermaßen zusammen:

24

Vgl. Pomarańczowa Alternatywa. Rewolucja Krasnoludków, S. 26.

25

Vgl. Fydrych und Dobosz 1989, S. 9.

26

Pomarańczowa Alternatywa. Rewolucja Krasnoludków, S. 28.

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1. Die Gesellschaft soll ermutigt werden, Mauerbeschriftungen anzufertigen, damit die Anzahl der Flecken steigt und mit ihnen das Erscheinungsbild der Stadt eine Veränderung erfährt. 2. Im Erscheinungsbild der Stadt soll so die Anzahl von Zwergen in Übereinstimmung mit den Konventionen des sozialistischen Surrealismus steigen und so von der Quantität auf die Qualität übergehen. 3. Durch das Erscheinen von Zwergen auf Straßen und in Fabriken soll die surrealistische Revolution hervorgerufen werden.27

Durch das Erscheinen der Zwerge sollte also die Welt der Ratio mit der Welt des Irrationalen verbunden werden. Die Grenzen der Verbote der Partei konnten somit überschritten, neu ausgelotet und verhandelt werden. Denn, wie Fydrych es in seinem Manifest betonte, ist der Welt der Phantasie und der Vorstellungskraft keine Grenze gesetzt.

Abb. 6 Zwerge auf Mauern während des Kriegsrechts

Der Zwerg ist von seinem Ursprung her nicht als politisches Zeichen konnotiert. Auch im Rahmen von Fydrychs Aktion war die Figur zunächst nur

27

Fydrych 1989, S. 31.

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ein Märchenwesen, das Platz einnahm auf weißen Flecken an Mauern und Hauswänden. Und auch wenn Fydrych selbst die Apolitizität der Zwerge immer wieder betonte, nicht nur gegenüber der Miliz, können die Zwerge dennoch als politisch betrachtet werden. Hinter ihnen verbarg sich zwar keine eindeutig zu identifizierende Bedeutung, die unmissverständlich auf eine politische Aktivität verwies. Durch das Aufsprühen auf die Mauern der Städte, das Herauslösen aus ihrem fiktionalen Kontext also, brachen die Zwerge in die Realität hinein. Sie wurden sichtbar an Orten, an denen durch das Übermalen der Slogans Unsichtbarkeit verordnet war. Bereits hierdurch begannen sie politisch zu wirken. Doch sie blieben nicht nur zu betrachtende Elemente an einem nicht für sie bestimmten Ort, sondern intervenierten in die Aktionen zwischen den Sprayern und den Ordnungshütern. Sie eröffneten damit einen neuen Diskurs im öffentlichen Raum, der sich auf mehreren Ebenen vollzog: auf der Ebene der polizeilichen Ordnung, der Encounter-Ebene und der Ebene der Massenmedien. Hierbei wurde nicht nur ihre Herkunft, sondern auch ihre Bedeutung verhandelt. Die Behörden beispielsweise begegneten den Zwergen mit Ratlosigkeit. Waren das Streiche von Jugendlichen oder ernstzunehmende politische Symbole? Sollten sie übermalt werden oder konnten sie auf den Wänden bleiben? Die Maler der Zwerge wurden immer wieder verhaftet und zur Rede gestellt. In Swinemünde mussten sie sogar ein Dokument unterschreiben, in dem sie die Apolitizität der Zwerge zu bezeugen hatten.28 Oppositionelle Kräfte dagegen versuchten, die Zwerge für sich zu okkupieren und deuteten sie als neue Zeichen des geheimen Widerstands. Auch Radio Freies Europa diskutierte über die Bedeutung der Zwerge und interpretierte sie schließlich als Zeichen einer Jugendorganisation der Solidarność, die mit den Zwergen Häuser markierte, in welchen Geheimagenten oder Mitarbeiter des ZOMO wohnten.29 Die Zwerge hatten aber nichts mit der Solidarność und ihrer Art des Widerstands zu tun. Vielmehr widersetzten sie sich den an sie herangetragenen Interpretationen; sie waren subversiv. Sie, die Wesen der Imagination, brachen in die praktische Welt ein und verhielten sich nicht gefällig und kriecherisch, sondern brachten Verwirrung in die Ordnung des Polizeiregimes. Sie leisteten also auf ihre Art Widerstand.

28

Vgl. ebd. S. 9.

29

Siehe Interview Padraic Kenneys mit Agata Saraczyńska und Marcin Harlender. In: Wrocławskie zadymy, S. 303- 313, 307.

DAS DURCHBRECHEN DES RITUALISIERTEN | 223

H APPENING

ALS

P ROTEST

Die Zwerge werden lebendig Auch als das Kriegsrecht aufgehoben war, erwiesen sich die Zwerge für die Staatssicherheit als ein ernstzunehmendes Problem: Die Wandbilder wurden lebendig. Am 1. Juni 1987 stürmten als Zwerge verkleidete Studenten und Schüler, inzwischen vereint unter dem Namen Orange Alternative, die Świdnicka-Straße in Breslau.30 Sie sangen populäre Kinderlieder wie das Biene-Maja-Lied oder Wir sind die Zwerge (pl. My jesteśmy krasnoludki), lachten und tanzten. Da an diesem Tag der Internationale Kindertag in Polen gefeiert wurde, verteilten sie Süßigkeiten an Kinder und selbstgenähte Zwergenmützen an Erwachsene. Sie luden alle Passanten dazu ein, mit ihnen durch die Straßen zu ziehen und den Kindertag zu feiern. Damit formierten sie eine Gegenveranstaltung zu den Feierlichkeiten der PZPR, die am nahegelegenen Marktplatz stattfanden. In einem einige Tage zuvor kolportierten Flugblatt informierten sie die Bewohner Breslaus über ihr Erscheinen: „In der Volksrepublik Polen sind Zwerge keine vereinzelten Wesen. Am 1. Juni um 15 Uhr werden sie sich auf der Świdnicka-Straße in der Nähe der Uhr zeigen.“31 Neben den Zwergen nahmen auch verschiedene andere Märchenfiguren an der Aktion teil, so z.B. der gestiefelte Kater, Schneewittchen und ein Teddybär, der aufgrund seiner schwarzen Sonnenbrille Assoziationen mit General Jaruzelski weckte. Somit traten dem Manifest Fydrychs entsprechend in die reale Welt der Ratio irreale Figuren ein, die das von ihm postulierte Kunstwerk des Alltags aufzumischen suchten und sich dazu eines öffentlichen Ortes, einer der belebtesten Straßen der Innenstadt, bedienten.

30

Einige kleine Aktionen wurden bereits 1985 und 1986 auf Initiative von Waldemar Fydrych, Krzysztof Skarbek, Piotr Petyszkowski, Andrzej Głuszek und Sławomir Moniewicz veranstaltet, die jedoch ohne die Verwendung des Zwergenmotivs stattfanden und für relativ wenig Aufsehen sorgten. Hierzu gehört beispielsweise das Happening Verrauchte Städte (pl. Zadymione miasta) vom 01.06.1986.

31

Flugblatt „Krasnoludki“, AZiO: Pomarańczowa Alternatywa I-2, t. 1, lata 1981-1987.

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Die Świdnicka-Straße fungierte für die Orange Alternative also als Bühne. Dass diese Art der Beanspruchung einer vom System bewachten Sphäre auf Widerstand stoßen würde, war vorherzusehen. So erinnert sich Waldemar Fydrych: „Ich nahm an, dass die Miliz herumrennen und den Menschen die Mützen von den Köpfen reißen würde. Doch die Miliz überraschte mich. Sie begann, die Zwerge festzunehmen.“32 Anfangs wurde noch durch das Megaphon zum Abnehmen der Mützen, später zur Auflösung der Menge aufgefordert, doch als das nichts nutzte, wurde den Performern mit Verhaftungen gedroht und diese Drohung schließlich in die Tat umgesetzt.33 Ein Zwerg, der auf der Straße singt, tanzt und Süßigkeiten verteilt als Bedrohung der öffentlichen Sicherheit, die beseitigt werden muss? Selbst innerhalb der Miliz, insbesondere unter den Beamten, die sich im Hauptquartier und nicht auf der Świdnicka-Straße befanden, war die Verwirrung über das Treiben auf der Straße groß, wie ein Gespräch über Funk beweist: - Wer sind die? [...] - Zwerge. - Was für Zwerge? - Na Zwerge eben. [...] - Was, spinnt ihr? [...] - Nein, wir spinnen nicht, auf der Straße sind wirklich Zwerge. Wir haben sie verhaftet. - Sagt mal, habt ihr heute zu viel getrunken? - Nein, wir haben nichts getrunken. - Wieso seht ihr dann Zwerge? - Das sind Studenten, als Zwerge verkleidet. - Ach so! [...] Und was machen diese Studenten? [...] - Sie singen. - Was? - ,Wir sind die Zwerge.‘ - In diesem Fall alle auf die Wache bringen.34

32

Pomarańczowa Alternatywa. Rewolucja Krasnoludków. Warszawa 2008,

33

Fydrych 1989, S. 49.

34

Ebd. S. 45f.

S. 40.

DAS DURCHBRECHEN DES RITUALISIERTEN | 225

Anstatt die Menschenmenge durch die Verhaftungen zu minimieren und so die Ordnung wiederherzustellen, wurde noch mehr Aufmerksamkeit bei den Passanten geweckt und Irritation, insbesondere unter den Kindern, ausgelöst. Ein Kind soll sogar seine Mutter gefragt haben: „Mami, warum verhaften die die Zwerge?“, worauf ihre Antwort lautete: „Weil es die im Kapitalismus gibt, aber im Sozialismus nicht.“35 Die Aussage dieser Mutter, auch wenn sie zynisch erscheint, verdeutlich die Eingrenzung der Freiheit, die in Polen zu dieser Zeit herrschte: Es war unerwünscht, ohne eine offizielle Genehmigung an einem öffentlichen Ort in irgendeiner noch so harmlosen Art und Weise aufzufallen; und genau das wollten die Akteure der Orangen Alternative zeigen: „Wir haben einfach dafür gekämpft, dass es normal ist, dass ein Mann in der Straßenunterführung auf einer Gitarre spielen kann, ohne dafür von der Miliz verhaftet zu werden“36, pointiert diesen Punkt Krzysztof Albin. So wie die Zwerge an der Wand sich zwischen die Parolen der Opponierenden und die sie übermalende Farbe der Sicherheitskräfte stellten, so stellten sich diese Aktion und die folgenden Happenings der Orangen Alternative zwischen die Solidarność und das System und begannen, die Kluft zwischen den beiden sich bekämpfenden und zunehmend an Kraft verlierenden Parteien zu füllen. Ganz deutlich kann das in der jungen Generation beobachtet werden, die mit Begeisterung den Happenings beiwohnte, wie die Aussage Jarosław Wardęgas beweist: Moslems, Hindus, junge offene Katholiken, Menschen, die mit der Politik nichts am Hut hatten, für die der blutige Kampf des Kommunismus mit der sehr ernsten aber nicht sichtbaren Hand des Untergrunds nicht akzeptabel war, sie alle sehnten sich nach Veränderungen. Doch für sie war der Eintritt in die eine oder die andere Konstellation undenkbar. Die eine war untragbar, weil sie mit ihr nicht übereinstimmten und die andere war zu hermetisch. Die Happenings boten ihnen die Möglichkeit, sich auszuleben, auf die Straße zu gehen, um Protest zu demonstrieren gegen das,

35 36

Pomarańczowa Alternatywa. Rewolucja Krasnoludków, S. 42. Interview Padraic Kenneys mit Krzysztof Albin. In: Wrocławskie zadymy, S.313-320, 320.

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was sie störte, sich zum ersten Mal in ihrem Leben aktiv zu zeigen und dabei die Angst zu verlieren.37

Die Orange Alternative bot also mit ihren Aktionen vielen, die sich weder dem Parteilager noch der Solidarność zugehörig fühlten, die Möglichkeit, sich trotzdem zu engagieren, zu protestieren und sich dabei in keine Schublade und Struktur zwängen zu lassen. Selbst Józef Pinior, ein bekannter Aktivist der Solidarność Anfang der 1980er Jahre, fühlte sich von der Bewegung angezogen und nahm an vielen Happenings teil: Von der Solidarność war ich ermüdet, vor allem ermüdet davon, dass sie eine immer engere Beziehung mit der Kirche einging. Es geht hier keineswegs um eine Kritik der Kirche, aber ich fand diese enge Bindung nicht richtig, das war ein Verlust der Unabhängigkeit. Die Orange Alternative half mir, meine Maske abzunehmen.38

Auch andere fühlten sich, so wie Pinior, vom engen Bündnis zwischen Kirche und Gewerkschaft abgestoßen und fanden die Art und Weise der Orangen Alternative, mit Ironie und ohne Ideologie dem kommunistischen Alltag gegenüber zu treten, passender und wirkungsvoller als die Teilnahme an Gottesdiensten für die Nation. Die Orange Alternative sprach gleichwohl viele unterschiedliche Themen an, die nicht nur für die Jugendlichen, sondern für die ganze Gesellschaft von Bedeutung waren. Doch sie sprach sie nicht direkt aus, sondern mit Cleverness und Humor. Während die Solidarność-Kader in ihren zu dieser Zeit schlecht besuchten Manifestationen direkte Parolen wie „Wir werden Polen nicht weggeben, den Kommunismus aber stürzen!“ verbreiteten, bedienten sich die Happenings einer anderen Sprache: Sie verwiesen mit einer auf den ersten Blick nicht erkennbaren, metaphorischen Art und Weise auf die Mechanismen des Alltags im sozialistischen Polen. Damit konnten sie einerseits zum Nachdenken anregen, andererseits aber die für viele als grau empfundene Realität von einer anderen, nämlich absurden Seite, zeigen und den Alltag dadurch mit etwas Frische bereichern.

37

Interview Padraic Kenneys mit Jarosław Wardęga. In: Wrocławskie zadymy,

38

Interview Padraic Kenneys mit Józef Pinior. In: Wrocławskie zadymy, S. 357-

S. 345-348, 347. 358, 357.

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Über die Tatsache hinaus, dass sich nicht einmal ein verkleideter Student auf der Straße auffällig verhalten konnte, barg das Leben im Sozialismus viele weitere Absurditäten. Dazu gehörte beispielsweise der Mangel an Lebensmitteln oder Drogerieprodukten, der für leere Regale in den Geschäften sorgte oder bei einer Lieferung lange Warteschlagen verursachte. Mit dem Happening Wer hat Angst vor Toilettenpapier? hat die Orange Alternative auf diese Lage reagiert. Das Toilettenpapier zählte zu den Produkten, die sehr schwer zu bekommen waren. Die Orange Alternative kommentierte diesem Umstand in ihren Flugblättern, die sie heimlich an Schulen, Universitäten und in Betrieben verteilte: „Der Sozialismus mit seinem extravaganten Hang zur Teilung von Konsumgütern und seiner exzentrischen Gesellschaftseinstellung hat das Toilettenpapier zum Himmel höchster Träume erhoben. Momentan ist dieser nicht zu erreichen.“39 Sie beschloss, diesem Umstand auf die Spur zu kommen und fragte in ihren Flugblättern nach den Gründen des Toilettenpapiermangels: „Kann mit Hilfe von Toilettenpapier der Sozialismus vertieft werden? Ist Toilettenpapier Verbündeter oder Feind der Weltrevolution?“40 In einem Quiz auf demselben Flugblatt wurde sogar die Frage gestellt, was die Warteschlangen für den Toilettenpapiererwerb ausdrücken sollten, wobei eine der möglichen Antworten zum Ankreuzen lautete: „die führende Rolle der kommunistischen Partei in einer Gesellschaft des entwickelten Sozialismus“41. Am 1. Oktober 1987 sollten die auf dem Flugblatt gestellten Fragen beantwortet werden. Mitglieder der Orangen Alternative, erneut als Zwerge verkleidet, verteilten die sozialistische Rarität auf der Świdnicka-Straße gemäß des Ziels, die Gerechtigkeit in Polen mit der gerechten Verteilung des Toilettenpapiers zu beginnen.42 Hierbei wurden jedoch nicht ganze Rollen der Mangelware verteilt, sondern sparsam einzelne Blätter ausgegeben, denn die Akteure selbst verfügten nur über wenige Klopapierrollen, die sie – wie Wiesław Cupała in einem Inter-

39

Flugblatt „Kto się boi papieru toaletoweg?“, AZiO: Pomarańczowa Alternatywa I-2, t. 1, lata 1981-1987.

40

Ebd.

41

Ebd.

42

Vgl. ebd.

228 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

view preisgibt – im Tausch gegen Altpapier erhalten hatten.43 Die Passanten nahmen das Toilettenpapier dankbar an. Weniger dankbar dagegen zeigte sich die Miliz, die auch dieses Mal die Aktivisten der Orangen Alternative und die sich an der Aktion spontan beteiligenden Akteure zu verhaften begann. Die Antwort auf die Frage, wer Angst vor dem Toilettenpapier habe, war somit einfach: Die polnische Miliz und ihre Befehlshaber. Aus dem Flugblatt zu diesem Happening geht hervor, dass die Orange Alternative auch die Verteilung von Damenbinden, ebenfalls Mangelware, beabsichtigte: „Damenbinden sind die Gondeln auf Riesenwellen der Wirklichkeit. Ihr Herren in Zivil und Nicht-Zivil, greift nach den Damenbinden.“44 Zu dieser Aktion kam es jedoch aufgrund des Milizeinsatzes nicht, wie das am 12. Oktober herausgegebene Flugblatt mitteilt.45 Erst am 8. März des folgenden Jahres wurde anlässlich des Internationalen Frauentags der Versuch unternommen, Damenbinden unter das Volk zu bringen – mit dem Ergebnis, dass Waldemar Fydrych eine Freiheitsstrafe von drei Monaten wegen Störung der öffentlichen Ordnung erhielt.46 Gedenktage ganz anders Bei den vorgestellten Beispielen fällt auf, dass sich die Happenings der Orangen Alternative immer wieder auf einen konkreten Tag bezogen. Hierzu gehörten offiziell gefeierte Tage wie der Kinder- oder der Frauentag, die in ganz Polen feierlich begangen wurden. Neben solchen etablierten Feiertagen zu Ehren bestimmter Bevölkerungsgruppen wurden in Polen auch Gedenktage wichtiger Ereignisse der jüngsten Geschichte begangen; auch von der Orangen Alternative. Während die Partei Tage wie das Gedenken an das Ende des 2. Weltkrieges am 8. Mai in aufwendig inszenierten Feierlichkeiten beging, etablierten sich in der Bevölkerung Formen des Geden-

43

Diese Art des Tausches war im Polen der damaligen Zeit eine gängige Praxis. Interview siehe Fenomen Pomarańczowej Alternatywy. Rozmowa z dr Wiesławem Cupałą. In: Uniwersystet Zielonogórski 2/2001, S. 32-34, 33.

44

Flugblatt „Kto się boi papieru toaletoweg?“, AZiO: Pomarańczowa Alternatywa I-2, t. 1, lata 1981-1987.

45

Flugblatt „Papier toaletowy – dwa słowa“, AZiO: Pomarańczowa Alternatywa

46

Ebd. (Rückseite).

I-2, t. 1, lata 1981-1987.

DAS DURCHBRECHEN DES RITUALISIERTEN | 229

kens an offiziell verleugnete Geschichtsereignisse, wie die Morde von Katyń. Am Beispiel des Dezembers 1970 wurde in Kapitel „Vom Protest zum Ritual“ bereits auf die Form des Gedenkens solcher offiziell verbotenen Gedenktage eingegangen. Darüber hinaus existierten noch zahlreiche weitere Anlässe des Gedenkens, die von den jeweiligen aktiven Gruppierungen außerhalb der Gewerkschaft ins Leben gerufen wurden. Die Föderation der Kämpfenden Jugend wählte beispielsweise den 14. Mai, den Todestag des 19-jährigen Schülers Grzegorz Przemyk,47 der bei seiner Verhaftung während einer Demonstration anlässlich des 3. Mai von der Polizei so brutal zusammengeschlagen wurde, dass er im Krankenhaus verstarb, als des Gedenkens würdig. In einem Flugblatt heißt es: Der Jahrestag der Ermordung von Grzegorz Przemyk naht. Als er verstarb, war er erst 19 Jahre alt. Sein plötzlicher Tod, der durch das Polizeiregime herbeigeführt wurde, hat es ihm unmöglich gemacht, seine Ideale zu verwirklichen. Diese Ideale waren auch diejenigen seiner Altersgenossen, und weit weg von denjenigen Idealen entfernt, welche die Politik der Regierenden Volkspolens vertritt. Sein Tod soll uns also Symbol werden für die nicht erfüllten Hoffnungen und Träume unserer Generation.48

Die am häufigsten praktizierte Gedenkform der Kämpfenden Jugend, auch beim Gedenken an den Tod von Przemyk, war, neben der Teilnahme an Manifestationen anderer Gruppierungen, das organisierte Schweigen. In den meisten Flugblättern wird zu diesem Akt explizit aufgefordert; auch anlässlich der Ermordung Grzegorz Przemyks: „Protestiere gegen Verhaftungen, indem du des tragischen Todes von G. Przemyk gedenkst, und nimm teil an Schweigepausen am 21.5; in den Schulen in der großen Pause und an den Hochschulen von 12.00-12.15 Uhr.“49 Zusätzlich zu dieser Schweigeaufforderung wurde zudem dazu aufgefordert, auch visuell Stellung zu beziehen, indem entweder schwarze Kleidung getragen oder schwarze Zeichen der Trauer angelegt werden sollten, z.B. in Form von

47

Zum Begräbnis von Grzegorz Przepyk siehe Kapitel „Der politische Umbruch von 1989 und seine theatrale Dimension“.

48

AIPN Gd 0027/3839 t. 1, k. 47.

49

Ebd.

230 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

schwarzen Schleifen, die an die Kleidung geheftet wurden.50 So bekam das Schweigen einen theatralen Charakter. Alle daran teilnehmenden Akteure unterschieden sich nicht nur in ihrem Verhalten, einem Verharren des Körpers und der Stimme im Schweigen, sondern auch in ihrem äußeren Erscheinen, das durch schwarze Kleidung markiert war, von anderen Schülern bzw. Studenten. Auf diese Weise zogen sie die Blicke bewusst auf sich und signalisierten dem Betrachter den Bruch mit der Normalität, gleichzeitig regten sie ihn so zum Nachdenken an. Die während der Manifestationen und Demonstrationen, aber auch während der Gottesdienste praktizierte Schweigeminute wurde hier also übernommen und modifiziert. Sie stellte nun eine eigene Protestform dar, denn sie diente nicht nur dem Gedenken, sondern ging über dieses hinaus. Was an der oben zitierten Aufforderung sowie anderen Aufrufen der Föderation der Kämpfenden Jugend auffällt, ist der konkrete Hinweis darauf, wofür die Schweigeminuten gedacht waren. Im Fall des Gedenkens an den Tod Grzegorz Przemyks handelte es sich auch um Protest gegen die Verhaftungen von Schülern und Studenten bei Demonstrationen sowie ihre Misshandlung auf Polizeirevieren. Somit unterschied sich diese Art des Gedenkens von der Form des Erinnerns der Solidarność, auch wenn beide sich in einem wichtigen Element, der Schweigeminute, glichen. Der ernste Charakter des Gedenkens war aber beibehalten worden. Dennoch, so lässt sich resümierend feststellen, konnte mit den Schweigepausen keine größere Öffentlichkeit hergestellt werden. Sie fanden immer in einem geschlossenen Raum einer Schule oder einer Universität statt und sprachen somit vorwiegend die Gruppe der sich zu dieser Zeit im Gebäude befindenden Menschen an. Die von der Orangen Alternative veranstalteten Gedenktage dagegen unterschieden sich nicht nur komplett von den Gedenkfeiern sowohl aller anderen Gruppierungen als auch der Partei; sie führten auch eine neue Möglichkeit des Gedenkens in Form von Happenings ein und schafften es, eine breite Gegenöffentlichkeit zu erzeugen, auch an offiziell von der Partei begangenen Gedenktagen. An einem Beispiel soll diese These erläutert werden. Zu einem der wichtigsten Feiertage in den Ländern des realen Sozialismus gehörte der Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, an dem der Machtübernahme der Bolschewiki am 7./8. November 1917 und

50

Vgl. z.B. AIPN Gd 0027/3839 t. 1, k. 35.

DAS DURCHBRECHEN DES RITUALISIERTEN | 231

der Errichtung des ersten kommunistisch geführten Staates gedacht wurde. Die jährlich organisierten Feierlichkeiten, die unter der Teilnahme wichtiger Parteipersönlichkeiten und Lobreden auf das System begangen wurden, fanden in Breslau als geschlossene Veranstaltungen statt. Auch im Jahr 1987, dem 70. Jahrestag der Revolution, wurde kein öffentliches Fest organisiert, sondern „unter sich“ gefeiert. Diesen Umstand deuteten die Aktivisten der Orangen Alternative als eine weitere Absurdität des polnischen Sozialismus, denn wie kann eines solchen Tages ohne die Teilnahme des Volkes gedacht werden? Die Große Oktoberrevolution sollte schließlich „dem Ziel dienen, die Macht an das Volk zu übergeben“51, wie in einem Flugblatt der Bewegung konstatiert wurde. Ihrer Meinung nach sollte der Bevölkerung daher die Teilnahme an den Feierlichkeiten ermöglicht werden.52 Aus diesem Grund wurde beschlossen, bereits am Vorabend der Revolution des Ereignisses zu gedenken. In einem Flugblatt hieß es diesbezüglich: Genossen!!! Der Tag des Ausbruchs der großen Proletarischen Oktoberrevolution ist der Tag eines bedeutenden Ereignisses. Momentan verfügt dieser Feiertag nicht über einen Heiligabend. Genossen, es ist an der Zeit, die Passivität der Volksmassen zu durchbrechen! Lasst uns damit beginnen, den Heiligabend der Großen Oktoberrevolution zu begehen. Versammeln wir uns bereits am Freitag, den 6. November, um 16 Uhr auf der Świdnicka-Straße unter der ,Uhr der Geschichte‘.53

Auch eine Kleiderordnung – gemäß der Farbe der Revolution – wurde bekanntgegeben. So hieß es im Flugblatt weiter: Genosse, zieh dich feierlich an in der Farbe Rot. Zieh dir rote Schuhe an, ein rote Mütze und einen roten Schal. Falls du nicht einmal über eine rote Armbinde oder über ein anderes rotes Garderobenelement verfügst, leih dir bei deiner Nachbarin

51

Flugblatt: „Rewolucja“, in: Pomarańczowa Alternatywa. Rewolucja Krasnoludków, S. 63.

52 53

Vgl. ebd., S. 60. Flugblatt: „Prawda nas wyzwoli“, AZiO: Pomarańczowa Alternatywa I-2, t. 1, lata 1981-1987.

232 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

eine rote Tasche aus. Für den Fall, dass du keine rote Fahne hast, male dir die Fingernägel in der Farbe Rot an. Solltest du tatsächlich nichts Rotes besitzen, kannst du dir ein Baguette mit Ketchup kaufen.54

In einem anderen Flugblatt wurde darauf hingewiesen, dass dieser Vorabend dem revolutionären Charakter der Revolution entsprechen sollte.55 Auch wenn damit lediglich der Sturm auf die „Bar Barbara“ gemeint war, die zum Winterpalast Breslaus erkoren wurde, wo die Menge nach der Veranstaltung Rote-Bete-Suppe (pl. Barszcz czerwony) zu sich nehmen wollte, war die Staatssicherheit alarmiert und witterte Gefahr. Diese Form des Erinnerns an die Oktoberrevolution sahen die Funktionäre nicht nur als Hohn: „Auf Plakaten, Transparenten und Flugblättern sind Inhalte platziert, die allgemein anerkannte Gedenktage an Ereignisse unserer neuesten Geschichte sowie die Institutionen unseres Landes verhöhnen und verleumden.“56 Die Aktion wurde auch als Gefährdung der öffentlichen Ordnung betrachtet. Da aufgrund der Flugblattkolportage weder die Identität noch die Anzahl der Teilnehmer bekannt war und daher das Verhindern des Happenings im Vorhinein unmöglich erschien, wurden sehr strenge Sicherheitsvorkehrungen getroffen: Zahlreiche Miliztruppen versperrten den Zugang zur Świdnicka-Straße und die „Bar Barbara“ wurde auf Anordnung der Beamten für diesen Nachmittag geschlossen.57 Die alternative Feier zum Tag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution konnte trotzdem nicht verhindert werden und beherrschte für zwei Stunden das öffentliche Geschehen im Zentrum Breslaus, da dem Aufruf der Orangen Alternative hunderte von Menschen gefolgt waren. Genauso wie die Revolutionäre von 1917 ihre Gegner zu bezwingen hatten, mussten die Akteure 1987 die Absperrungen der Miliz überwinden. Ein im Vorfeld von der Orangen Alternative ausgearbeiteter Plan sollte den Akteuren helfen, die Sicherheitsvorkehrungen der Miliz zu durchbrechen; die Taktik bestand darin, einen Angriff von mehreren Seiten zur gleichen Zeit zu starten, um so die Einsatzkräfte zu überfordern. Tatsächlich erfolgte um 16 Uhr von verschiedenen

54

Ebd.

55

Vgl. Flugblatt: „Rewolucja“, in: Pomarańczowa Alternatywa. Rewolucja

56

AIPN WR 054/1005, k. 2.

57

Vgl. Fydrych 1989, S. 67.

Krasnoludków, S. 63.

DAS DURCHBRECHEN DES RITUALISIERTEN | 233

Seiten der Ansturm auf die „Bar Barbara“: Der aus Pappkarton angefertigte Panzerkreuzer „Potemkin“, der in der Buchhandlung „Kwant“ versteckt war, und der aus Leinen genähte Kreuzer „Aurora“, der sich im gegenüberliegenden Laden befand, erschienen auf der Świdnicka-Straße und wurden sofort von den Ordnungshütern umstellt. Auch die „Matrosen von Kronstadt“, die sich aus der Richtung des Marktplatzes der Świdnicka-Straße näherten, wurden durch die Ordnungshüter gestoppt und zur Ausweiskontrolle gezwungen. Als einzige Truppe schaffte es die „Rote Kavallerie“, bestehend aus rot gekleideten Freiwilligen, sich vom Freiheitsplatz kommend in die Gefahrenzone auszubreiten und „Revolution!“ zu skandieren. Das hierdurch entstandene Durcheinander ermöglichte es nicht nur anderen rot Gekleideten, sondern auch dem Revolutionsengel mit roten Flügeln zur „Bar Barbara“ zu gelangen und vor deren verschlossener Tür u.a. die Internationale zu singen. Auch die Sternsinger mit dem Transparent „Rote-BeteSuppe“ konnten ungestört die Świdnicka-Straße erreichen.58 Hierdurch gerieten die Abwehrlinien der Miliz außer Kontrolle. Zahlreiche Megaphondurchsagen mit der Aufforderung, sich aller roten Accessoires und Kleidungsstücke zu entledigen, folgten. Die Miliz versuchte mit allen Mitteln, den Akteuren ihre roten Sachen abzunehmen. Alle Verweigerer wurden verhaftet. Auch diejenigen, die an diesem Tag zufällig etwas Rotes bei sich hatten und sich ohne jede Absicht, am Happening teilzunehmen, auf der Świdnicka-Straße befanden, mussten sich vor den Ordnungshütern verantworten. Diejenigen, denen die roten Kleidungsstücke abgenommen wurden, versuchten, sich spontan mit anderen roten Gegenständen zu behelfen und kauften, dem Tipp des Flugblatts folgend, Baguettes mit Ketchup am Imbiss in der Nähe der Kirche der Hl. Dorothea. Auch dies führte zu Verhaftungen und war Anlass für eine vorübergehenden Schließung der Imbissbude. Erst gegen 18 Uhr, als die meisten Akteure verhaftet worden waren oder sich auf dem Heimweg befanden, durften der Imbiss und die „Bar Barbara“ ihren Betrieb wieder aufnehmen. Mit dieser Aktion distanzierte sich die Orange Alternative einerseits von der pompösen, aber geschlossenen Veranstaltung der Machthaber zur Oktoberrevolution und brach andererseits mit dem ernsten Charakter der Gedenktage, die von der Solidarność und anderen opponierenden Gruppen

58

Zum Ereignishergang vgl. ebd. S. 66f. Siehe auch die Mappe mit Legende auf S. 68.

234 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

begangen wurden. Sie zeigte, dass Protest auch spielerisch in Form des Gedenkens praktiziert werden kann. Gemäß dem Manifest des Sozialistischen Surrealismus wurde mithilfe der Imagination eine historische Situation in Breslau nachgespielt, diverse Kampfeinheiten gebildet und die Eroberung einer Bar, die zum Winterpalast auserkoren wurde, zum Ziel gesetzt, in der zum Ausdruck des Sieges eine rote Suppe gegessen werden sollte. Die Mittel des Kunsttheaters, seine Situation des Als-Ob, wurden hier zu einem wichtigen Bestandteil der Theatralität des realen Protests mit der dominierenden Frage: Wie kann unter Ausschluss des Volkes die Revolution des Volkes gefeiert werden? Bei der Betrachtung der politischen Realität in Polen kann diese Aktion auch auf einer anderen Ebene betrachtet werden, nämlich als Infragestellung der Staatspartei, deren Hauptziel in der Errichtung einer kommunistischen Volksrepublik bestand, also einer Gesellschaft, in der die Gleichheit der Menschen herrschen und die Macht vom Volk ausgehen soll. Davon war jedoch in der Realität nichts zu spüren. Die Regierenden stellten sich über das Volk, das nur auf dem Papier Rechte besaß; es war in den Augen der tatsächlichen Machthaber lediglich ein Störfaktor der von ihnen durchorganisierten und kontrollierten Ordnung. Selbst für eine Feierlichkeit zum größten Gedenktages des Kommunismus war kein Platz für das Volk vorgesehen.

F RAGE

NACH DEM

A KTEUR

Die Orange Alternative war im Gegensatz zu anderen Organisationen keine Gruppe, der man offiziell beitreten musste, um aktiv zu sein. Sie verpflichtete niemanden, Aufgaben zu übernehmen, sondern basierte auf völliger Freiwilligkeit. Sie war somit mehr Bewegung als Organisation und öffnete sich allen, die Lust hatten, an den Happenings teilzunehmen, auch denjenigen, die spontan kamen, um einmal dabei zu sein, und sich später nie wieder beteiligten.59 Eine kleine Gruppe von Ideengebern, darunter u.a.

59

In genau diesem Sinn definiert Dieter Rucht den Begriff Bewegung: „Im Unterschied zu Parteien und Verbänden fehlen Bewegungen explizite Satzungen zur Regelung von Mitgliedschaft, Finanzierung, Bestellung der Führung, Rechenschaftslegung usw. Daraus ergeben sich erhebliche Konsequenzen für In-

DAS DURCHBRECHEN DES RITUALISIERTEN | 235

Fydrych, Jezierski und Albin, schmiedeten Pläne für die Happenings, die sie mit Hilfe freiwilliger Akteure Wirklichkeit werden ließen. Wie aus dem bereits Dargelegten deutlich wird, war es die Teilnahme dieser freiwilligen Akteure, die ein Happening erfolgreich werden ließ; zugleich stellte sie eines der Hauptmerkmale der Happenings der Orangen Alternative dar. Indem sich die Zuschauer am Happening beteiligten, direkt und aktiv am Geschehen teilnahmen, wurden sie zu seinen Akteuren. Die Barriere zwischen dem Produzenten und dem Rezipienten konnte so durchbrochen werden, ebenso wie die Grenze zwischen dem Ideengeber und dem Performer. Denn durch sein Eingreifen in die Aktion wurde der Rezipient genauso zum Gestalter und Treiber der Handlung wie zuvor der eigentliche Ideengeber. Im Rahmen des Happenings wurden sie zu gleichgestellten Partnern, die gleichermaßen in der Lage waren, den Lauf der Aktion zu bestimmen. Neben den ursprünglichen Initiatoren aus dem Kreis der Orangen Alternative können zwei unterschiedliche Gruppen von Akteuren ausgemacht werden: Die Miliz sowie die Zivilbevölkerung. Beide sollen im Folgenden fokussiert werden. Miliz als Akteur Die Kräfte der Miliz wurden, wie sich an den bisher aufgezeigten Beispielen erkennen lässt, zu wichtigen Akteuren der Happenings der Orangen Alternative. Gemäß der bereits in Fydrychs Manifest aufgeführten These, dass „selbst jeder einzelne Milizionär auf der Straße ein Kunstwerk“60 sei, beteiligten sich die auf den Straßen patrouillierenden Beamten an der Vollendung bzw. der Beendigung der von der Orangen Alternative und den von

nen-Außen-Differenzierungen, interne Struktur und Bindung der Anhängerschaft, Programmatik und Kontnuität, die zusammengenommen ein hohes Maß an Flexibilität, aber auch an Instabilität von Bewegungen bewirken. Kompetenzen und Rollen bilden sich naturwüchsig heraus und werden ohne feste Verfahrengrundlage ausgehandelt.“ Rucht, Dieter: Parteien, Verbände und Bewegungen als Systeme politischer Interessensvermittlung. In: Oskar Niedermayer und Richard Stöss (Hg.): Stand und Perspektiven der Parteienforschung in Deutschland. Opladen 1993, S. 251-275, 263f. 60

Manifest surrealizmu socjalistycznego. AZiO: Pomarańczowa Alternatywa I-2, t. 1, lata 1981-1987.

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ihr animierten Passanten begonnenen Aktionen. Denn gerade durch ihr Eingreifen in die Happenings wurde eine zusätzliche Ebene eröffnet, nämlich das Eintreten des Staates in das Spiel auf der Straße. Gerade hierdurch konnte die Absurdität der sozialistischen Realität Polens hervorgehoben werden. Wo sonst, wenn nicht in einem streng kontrollierten öffentlichen Raum wird ein Mensch für das Verteilen von Bonbons, Klopapier oder Damenbinden verhaftet? Oder, wie das im Fall von Waldemar Fydrych und anderen geschah, zu einer Gefängnisstrafe verurteilt? Bei der Betrachtung der im Zeitraum von 1987 bis Anfang 1989 durchgeführten Happenings lässt sich feststellen, dass sie alle auf dem vorhersehbaren Eingreifen der Miliz basierten. Anders als noch in dem allerersten Happening, das die Bewegung der Neuen Kultur während des Studentenstreiks durchführte und bei dem die Miliz beim Ertönen der Internationale aus den Mündern der Studenten den Handlungsort ohne ein Eingreifen verließ, konnte nun mit Verhaftungen und Verhören von Teilnehmern gerechnet werden. Die Orange Alternative ging bei der Planung ihrer Aktionen sogar so weit, den Ordnungshütern feste Rollen in ihren Regiebüchern zuzuschreiben. Im Fall des Happenings anlässlich des Gedenkens der Oktoberrevolution beispielsweise fungierte die Miliz als die historische Weiße Armee, welche die Rotgardisten an ihrer Revolution und der Erstürmung des Zarenpalastes zu hindern versuchte. Durch die vorhersehbaren Verhaftungen und Identifizierungen der Performer wurde die Miliz ihrer Rolle als Gegner der Revolution gerecht, ohne es selbst zu wissen, da sie die ihnen zugeschriebene Funktion nicht kannte. Beim Happening Tag des Milizionärs am 7. Oktober 1987 sollte die Miliz dagegen gemäß des für sie erfundenen Feiertages als sie selbst agieren. Die Orange Alternative beschloss, ihren Ordnungshütern einen Feiertag unter dem Motto „Lächle, denn morgen wird es schlimmer“ zu organisieren. Der Umstand, dass im Sozialismus fast jede Bevölkerungs- bzw. Berufsgruppe ihren Ehrentag besaß (Frauentag, Kindertag, Tag des Arbeiters, Tag des Bergmanns etc.), die Miliz jedoch nicht, sollte geändert werden.61 Aus diesem Grund sollte den Ordnungshütern für ihre Dienstleistungen an den bisherigen Happenings gedankt und ihnen dafür ihre Arbeitszeit an diesem Tag mit netten Gesten verschönert werden: Um 15:30 Uhr wurde der Miliz an der Uhr an der Świdnicka-Straße von einem Teil der Hap-

61

Vgl. Fydrych 1989, S. 59.

DAS DURCHBRECHEN DES RITUALISIERTEN | 237

penisten das Ständchen Hoch sollen sie leben! (pl. Sto lat!) gesungen und das Transparent „Wir danken der Miliz und dem Sicherheitsdienst für ihren Sinn für Humor“ aufgehängt. Anschließend verteilte die Gruppe der Zwerge Blumen an die Ordnungshüter. Durch die Flugblätter waren diese von der Aktion informiert und patrouillierten daher in der Umgebung. Waldemar Fydrych erinnert sich an die Irritation der Milizionäre, als ihnen Blumen überreicht wurden: „Manche Funktionäre wissen nicht, was sie mit den Gaben machen sollen. Vorsichtshalber fragen sie die Vorgesetzten. Die Vorgesetzten brauchen aber Bedenkzeit.“62 Diese Gruppe von Performern entging der Festnahme, ihre Blumen wurden jedoch als Beweismittel konfisziert. Eine andere Gruppe, die sich als Helfer der Miliz anbot und den Fußgängerübergang kontrollierte, indem sie die bei Grün Überquerenden mit Applaus belohnte und den bei Rot Überquerenden einen Ehrenstrafzettel ausstellte, wurde wegen der Störung der öffentlichen Ordnung und Behinderung des Verkehrs verhaftet. Bei der Frage nach den Gründen für das Verhalten der Ordnungshüter können zwei Antworten gegeben werden, die die Staatssicherheit in ihren Akten liefert: Vom ersten Happening an wurden die Mitglieder der Orangen Alternative von der Staatssicherheit unter Beobachtung genommen, wovon einige Bände der bis heute aufbewahrten Akten mit Beobachtungsprotokollen, Zeugenverhören und Stellungnahmen zeugen, die im Institut des Nationalen Gedenkens in Breslau aufbewahrt werden. In den Akten des Staatssicherheitsdienstes, die unter dem Krypton „MEDIUM“ geführt wurden, wird das Verhalten der Miliz mit der Störung der öffentlichen Ordnung und der politischen Gefahr, die in den Augen der Ordnungshüter von der Orangen Alternative ausging, begründet. Kapitän Andrzej Beksa konstatiert: Die Gruppe, die von Aktivisten der Opposition manipuliert wird, u.a. J. Pinior und W. Frasyniuk, organisiert so genannte Straßenhappenings, die die öffentliche Sicherheit und die Ordnung gefährden. Unter dem Vorwand der Apolitizität werden gegen unseren Staat gerichtete feindliche Inhalte propagiert, die die Institutionen und Strukturen sowie die sanktionierten Formen der Gesellschaftsaktivitäten lächerlich zu machen versuchen. Während der Happenings wird die Schuljugend eigens dafür instruiert, wie sie sich während der Konfrontation mit den Organen der MO zu

62

Ebd. S. 61.

238 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

verhalten habe, und stellt eine potenzielle Basis der künftigen oppositionellen Kader dar. Operative Erkundungen ergeben, dass eine Eskalation der Aktivitäten dieser Gruppe vorauszusehen ist, ebenso wie ihre Versuche, sich auf andere gesellschaftliche Klassen zu verbreiten, sehr wahrscheinlich erscheinen.63

Hierbei fällt zudem auf, dass die Orange Alternative nicht beim Namen genannt und in die Tätigkeit von bekannten Breslauer Oppositionellen aus Solidarność-Kreisen – wie Józef Pinior und Władysław Frasyniuk – eingeordnet wird. Diese hatten aber nichts mit der Organisation der Happenings zu tun, sondern folgten lediglich den Aufrufen der Bewegung und nahmen an ihren Aktionen teil. Mit der Aussage, die Gruppe sei von den Aktivisten der Opposition manipuliert, wird der Orangen Alternative außerdem Handlungseigenständigkeit abgesprochen und sie so als Marionette in den Händen bereits organisierter antistaatlicher Strukturen dargestellt. Mit ihrer Hilfe werde die Jugend, so die hier artikulierte Überzeugung, zum oppositionellen Handeln bewegt. Sehr deutlich wird die Befürchtung ausgesprochen, dass die zur Zeit auf schulische und universitäre Kreise beschränkten Aktivitäten sich auch auf andere gesellschaftliche Klassen ausbreiten könnten. In der Tat fanden die Aktionen der Orangen Alternative Zuspruch und Sympathien nicht nur unter jungen Menschen, sondern auch in der breiteren Bevölkerung. Beim Studieren der Akte des Staatssicherheitsdienstes fällt generell auf, dass sich die Verantwortlichen sehr schwer mit der Einordnung der Tätigkeiten der Orangen Alternative taten und es ca. ein Jahr dauerte, bis der Name der Bewegung in den Akten verzeichnet wird.64 Immer wieder wird versucht, wie auch in dem oben stehenden Zitat deutlich wird, die Aktionen anderen bereits bekannten Organisationen, Gruppen und Aktivisten zuzuordnen. Hierbei fallen Namen von Bewegungen wie Freiheit und Frieden, Unabhängige Studentenvereinigung oder Zwischenschulisches Widerstandskomitee (pl. Międzyszkolny Komitet Oporu, kurz MKO) auf.65

63

AIPN WR 054/540 k.2.

64

Seit dem am 01.06.1988 wiederholten Happening anlässlich des Kindertages wird jedenfalls der Name Orange Alternative regulär und nicht mehr sporadisch verwendet.

65

Siehe z.B. AIPN WR 053/2522, t.2, k. 211.

DAS DURCHBRECHEN DES RITUALISIERTEN | 239

Zur Performativität des Flugblatts Im Fall der Mitwirkung der polnischen Miliz musste, wie wir gesehen haben, kein Aufruf zu einer Beteiligung in der von der Orangen Alternative gewünschten Art und Weise erfolgen, da diese dem autoritären System entsprechend mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten war. Ganz anders verhielt es sich dagegen mit Akteuren, deren Teilnahme als unsicher erschien. Hierzu lassen sich alle Gruppen der Einwohner Breslaus zählen. Da sie für das Happening ebenfalls von großer Bedeutung waren, mussten sie zu einer Teilnahme aufgefordert werden. Neben dem direkten Ansprechen von Passanten während eines Happenings nutzte die Orange Alternative hierfür vor allem die Möglichkeiten des Flugblatts, in welchem sie ihre Aufrufe zur Handlung verbreitete. Für jedes Happening wurde eigens ein spezieller Flyer gestaltet, auf dem sowohl Text als auch Zeichnungen platziert waren. Anfangs, als die Gruppe aus wenigen Aktiven bestand, waren die Handzettel noch relativ einfach gehalten. Robert Jezierski erinnert sich diesbezüglich: Ich habe so einen Flyer in die Hand bekommen und dachte nur, wie schlecht ist das denn, wie furchtbar sieht das aus; am liebsten wäre ich zum Major gegangen und hätte ihm gesagt, dass er mit diesen Flyern so hart wie in Sibirien arbeiten wird müssen, bis sich ein Effekt einstellt. Das musste anders gemacht werden, mit mehr Technik, mehr Intelligenz, mehr Witz.66

Gemeinsam mit Freunden begann Jezierski, neue Flugblätter für die Orange Alternative zu entwerfen und in Heimarbeit mit einer Walzpresse zu produzieren. Die von Fydrych geschriebenen Texte wurden mit Bildern und Farbe attraktiver und interessanter gestaltet. Anlässlich des Happenings zum Vorabend der Oktoberrevolution beispielsweise wurden auf einem Flugblatt unter dem Titel „Die Klassiker“ (pl. Klasycy) die großen Ikonen des Kommunismus abgebildet: Marx, Engels, Lenin und Stalin. An ihre Seite wurde Waldemar Fydrych gestellt.67 Der Erfinder der Zwerge wurde so zu

66

Interview Padraic Kenneys mit Robert Jezierski. In: Wrocławskie zadymy, S. 348-357, 353.

67

Vgl. Flugblatt „Klasycy“. In: Pomarańczowa Alternatywa. Rewolucja Krasnoludków, S. 62.

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einem ebenbürtigen Nachfolger der kommunistischen Urväter erhoben. Und das weckte sicherlich Neugier auf die Aktion auf der ŚwidnickaStraße. Auf allen Flugblättern, die konspirativ in ganz Breslau von Mitgliedern und Sympathisanten der Orangen Alternative verteilt wurden, waren das anstehende Happening, das Motto, das Datum und der Ort der Veranstaltung sowie ein Aufruf zum Mitmachen verzeichnet. Dieser kann in zwei Kategorien eingeordnet werden: Zum einen gab es einfache Aufforderungen zur Teilnahme wie: „Komm, du wirst es nicht bereuen!“68 oder „Komm zu dem Treffen!!! Du bist nicht schlechter als Schneewittchen und der Schneekönigin sogar ebenbürtig!“69. Zum anderen – und diese Art war häufiger – erschienen auf den Flugblättern Instruktionen der Ideengeber für das kommende Happening. Anlässlich des von der Orangen Alternative ins Leben gerufenen „Tags des Agenten“ am 1. März 1988 hieß eine solche: Zieh dir entsprechend eine schwarze Brille, einen Hut, einen Trenchcoat oder eine Lederjacke beziehungsweise einen Umhang an. Nimm eine Abhörausrüstung mit, eine Ohrtrompete, einen Trichter oder ein Mikrophon. Ratsam sind Mikros, die in Regenschirmen oder in Gehstöcken montiert sind. Liebhaber von Scotland Yard werden gebeten mit Tabakpfeifen zu erscheinen. Das Mitbringen von Hunden ist von Vorteil. [...] Benimm dich frei; fordere Passanten auf, dir ihre Dokumente zu zeigen. Zeige das Innere deines Mantels, wo deine Dienstmarke deutlich zu sehen sein wird. Solltest du eine Einladung in den Wagen [gemeint ist der Milizwagen] erhalten – folge ihr, das ist schließlich dein natürlicher Platz!70

Erweitert wurden diese Instruktionen, die vornehmlich Verkleidung und mitzubringenden Requisiten beschrieben, um Handlungsanregungen, die in einem weiteren Flugblatt abgedruckt waren:

68

Flugblatt „Papier toaletowy“, AZiO: Pomarańczowa Alternatywa I-2, t. 1, lata 1981-1987.

69

Flugblatt „Krasnoludki i PRL“, AZiO: Pomarańczowa Alternatywa I-2, t. 1,

70

Flugblatt „Dzień Tajniaka“, AZiO Pomarańczowa Alternatywa I-2, t. 2, lata

lata 1981-1987. 1988-1990.

DAS DURCHBRECHEN DES RITUALISIERTEN | 241

1.

Passanten beobachten und verfolgen

2.

Informationen über versteckte Sender durchgeben [...]

3.

In Dreier- oder Vierergruppen Dokumente von Passanten kontrollieren und

4.

Sich in Dreiecksform in größerem Abstand formieren und geheime Zeichen

ihre Angaben in Notizheften vermerken aussenden: - Sich an der Nase kratzen - Blinzeln - Zigaretten anzünden - Die Zeitung auf- und zuklappen - Einen Hut auf- oder absetzen - Salzstangen, Chips oder Pommes essen - Grillensignale von sich geben: 3 kurze – SB, 2 lange – die Unseren 5.

Taschen und Rucksäcke durchsuchen

6.

Razzia auf verdächtige Funktionäre vornehmen [...]

7.

Aus Verstecken fotografieren

8.

Den Passanten die im Inneren des Mantels angehefteten Abzeichen FBI, KGB, SB, SECRET SERVICE zeigen

9.

Verdächtige mit erhobenen Händen an die Wand stellen und sie entlang ihres Körpers und der Hosenbeine abtasten, auch die Schuhe durchsuchen

10.

Sollten sich Funktionäre anderer Dienste einmischen ZEIGEN WIR KEINEN WIDERSTAND (NON VIOLANCE – für Ausländer) und gehen mit einem Lächeln auf den Lippen auf die angebotenen Kontakte ein [...]71

In diesem Beispiel handelt es sich um recht genaue Handlungsinstruktionen, die Regieanweisungen ähneln. Anders als im Kunsttheater, wo ihre Umsetzung für den Schauspieler eine Pflicht darstellt, sind sie für den Leser dieser Flugblätter optional. Ihr performativer Charakter ist jedoch nicht zu verkennen. Als perlokutionäre Sprechakte im Sinne John L. Austins72 sind sie in der Lage, auf ihren möglichen Rezipienten Wirkungen auszuüben und bei diesem einen performativen Prozess in Form von Handlungen zu veranlassen. Doch ob der mögliche Adressat der Performativität des Flug-

71

Flugblatt „Tajny okólnik nr. 0031/745 SB“, AZiO Pomarańczowa Alternatywa

72

Als perlokutionäre Sprechakte bezeichnet Austin Äußerungen, die mittelbar

I-2, t. 2, lata 1988-1990. oder unmittelbar Handlungen nach sich ziehen. Hierzu siehe Austin 2002.

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blatts folgt, bleibt ihm selbst überlassen. Selbst wenn er beschließt, die an ihn gerichteten Instruktionen umzusetzen, entscheidet er selbst, ob er ihnen genau folgt, sie modifiziert oder sich lediglich von ihnen inspirieren lässt und schließlich ganz andere Handlungen vollführt. Hierdurch war jedes Happening der Orangen Alternative, welches auf die performative Wirkung des Flugblatts angewiesen war, in seinem Ablauf durch einen hohen Grad an Unvorhersehbarkeit gekennzeichnet. Es war von der ungeplanten Reaktion und Aktion des Publikums abhängig und damit ein Ereignis par excellence. Die Spontanität und Unvorhersehbarkeit der Happenings, die von der Orangen Alternative als Teil ihres Projekts angesehen wurde, bereitete dem Sicherheitsdienst Unbehagen, wie die folgende Aussage in einem Rapport beweist: „Die Formel der spontanen Teilnahme bei dieser Art von Veranstaltungen bietet die Möglichkeit, sich an ihr unkontrolliert zu beteiligen, auch seitens rowdyhafter Elemente, die unzählige nicht vorhersehbare Vorfälle herbeiführen können.“73 Aufgrund dieser Unvorhersehbarkeit waren die Happenings von den Sicherheitskräften schwer zu verhindern und konnten erst nach Beginn einer Aktion durch den Eingriff der Miliz gestoppt werden. Und gerade das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Arten von Akteuren kann als eines der befruchtendsten Elemente dieser Happenings betrachtet werden. Beim Tag des Agenten beispielsweise folgten hunderte von Menschen dem Aufruf der Orangen Alternative und agierten als Agenten, wie sich Krzysztof Albin, ein Mitglied der Gruppe, erinnert: Die Leute sind als Agenten verschiedener Spezialeinheiten verkleidet gewesen – japanische SE, CIA, MI6, Sicherheitsdienst des Zaren – und ließen sich von den Leuten ihre Papiere zeigen, dankten höflich in feiner englischer Manier. Allein das war absurd, denn alle wussten, dass in solchen Situationen eigentlich Krakeelen und Unannehmlichkeiten an der Tagesordnung waren.74

Das Eingreifen der Miliz ließ nicht lange auf sich warten, löste jedoch eine weitere absurde Situation aus: Auch die Beamten begannen damit, sich sowohl von unbeteiligten und zufällig vorbeilaufenden oder dem Happening

73

AIPN Wr 054/1005, k. 2.

74

Siehe Interview Padraic Kenneys mit Krzystof Albin. In: Wrocławskie zadymy, S. 303-313, 319.

DAS DURCHBRECHEN DES RITUALISIERTEN | 243

als Zuschauer beiwohnenden Passanten als auch von den Akteuren die Ausweise vorzeigen zu lassen. Währenddessen führten die HappeningAkteure ihre Kontrollaktion fort und ließen sich nicht von der Miliz einschüchtern. Ein gegenseitiges Kontrollieren war die Folge. Die irreale Welt trat erneut in die reale, dieses Mal nicht in Form von Märchenfiguren, sondern in Form von falschen Geheimagenten. Doch indem sich Akteure als Agenten verkleideten und spielerisch eine neue Identität annahmen, ließen sie die „Als-ob-Welt“ des Kunsttheaters in die der Aufführung der tatsächlichen Welt einmarschieren. Hierdurch entstand wiederum Irritation, denn an einem gewissen Punkt der Handlung, so die Aussage Krzysztof Albins, war nicht mehr eindeutig zu trennen, wer eigentlich wen kontrolliere.75 Der Mut steigt... Der Erfolg der Orangen Alternative lässt sich nicht nur an den zahlreichen Nachahmern festmachen, die, wie z.B. die Grüne Alternative (pl. Zielona Alternatywa), in den Küstenstädten mit Hilfe von Happenings für ihre ökologischen Ziele zu kämpfen begannen. In anderen Städten wie Lodz oder Warschau wurden auch unabhängig von Waldemar Fydrych und seinen Breslauer Mitstreitern unter dem Namen Orange Alternative Happenings veranstaltet. Der Erfolg lässt sich auch an den immer größeren Menschenmassen erkennen, die an den Happenings partizipierten. Nicht nur Schüler und Studenten, wie noch zu Beginn, sondern auch Arbeiter und Intellektuelle wurden von diesen Veranstaltungen angezogen. Zum ersten Mal seit den Auguststreiks herrschte wieder ein enges Bündnis zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsschichten und Altersklassen, wie auch Józef Pinior bestätigt: Selbst Arbeiter beteiligten sich an der Orangen Alternative. Es war großartig, es war unglaublich, dass gerade dort wieder eine Annäherung stattgefunden hat. Ich habe das zum zweiten Mal in meinem Leben gesehen, – das erste Mal 1980 und das zweite Mal in der Orangen Alternative – dass es möglich ist, die Grenzen zu überwinden, die normalerweise zwischen den Arbeitern und den Intellektuellen bestehen.76

75

Vgl. ebd.

76

Interview Padraic Kenneys mit Józef Pinior. In: Wrocławskie zadymy, S. 357358, 357.

244 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

Diesen Umstand stellte der Sicherheitsdienst in seinen Berichten verfälscht dar. So verzeichnet beispielsweise Oberst Janusz Koronowski in seinem Bericht, dass das Happening, welches „in der Angelegenheit des Toilettenpapiers“ durchgeführt wurde, auf „fehlendes Interesse von Passanten“ gestoßen sei.77 Diese Aussage lässt sich schon durch die bei diesem Happening angefertigten Fotos widerlegen. Welches Ziel mit einer solchen Beurteilung verfolgt wurde, bleibt dem Kreis der Eingeweihten vorbehalten. Vermuten lassen sich zwei Ansätze: Zum einen könnte der Versuch unternommen worden sein, bei übergeordneten Stellen in Warschau den Eindruck zu erzeugen, die Staatsmacht sei auf Breslaus Straßen Herr der Lage und habe aufgrund der Milizeinsätze den Passanten die Lust an einer Happeningteilnahme verdorben. Zum anderen erscheint es im Jahr 1987 auch nicht mehr unwahrscheinlich, dass den Reformen gegenüber bereits aufgeschlossene Beamte mit der Orangen Alternative sympathisierten und mit solchen falschen Darstellungen den Versuch unternahmen, die Gefahr für die Bewegung zu mildern und härteres Vorgehen abzuwenden. Milizeinsätze während der Happenings, Verhaftungen und Übergriffe auf Akteure blieben dennoch nicht aus. Bis in das Jahr 1989 hinein, also bis zur Veränderung des politischen Kurses der Partei, mussten die Teilnehmer an Aktionen der Orangen Alternative mit Verhaftungen wegen Störung der öffentlichen Ordnung rechnen. Zusanna Dombrowska stellt in diesem Zusammenhang fest: „Mitglied der Orangen Alternative zu sein, bedeutete nichts anderes, als sich bereit zu erklären, für das Zwergendasein ins Gefängnis zu gehen.“78 Nicht nur Mitglieder der Bewegung, sondern alle, die sich den Happenings anschlossen, mussten die Gefahr von Repressionen auf sich nehmen. Dennoch wuchs der Mut der Menschen, sich von den Fesseln der Angst zu lösen und dafür Schikanen jeglicher Art auf sich zu nehmen. Jolanta Skiba konstatiert diesbezüglich: Man traute seinen Augen kaum, wenn man auf die Świdnicka-Straße blickte und die Mengen von Menschen sah, die dort spielten. Einige von ihnen, eigentlich ernste Menschen, verhielten sich wie Kinder. Eine Art Lösung von Angstblockaden war

77 78

AIPN WR 053/2522, t. 2, k. 233. Interview Padraic Kenneys mit Zusanna Dombrowska. In: Wrocławskie zadymy, S. 320-322, 320.

DAS DURCHBRECHEN DES RITUALISIERTEN | 245

das. Jeder wusste, dass um sie herum die Miliz lungert, dass sie da ist, und trotzdem haben sie das gemacht, was sie wollten. Sie haben dieses doofe Toilettenpapier verteilt, sind mit irgendwelchen roten Jacken und Mützen gelaufen und haben die Oktoberrevolution gefeiert. [...] Ich habe den Eindruck, dass sie auf diese Weise ihre Angst überwanden. [...] Damals herrschte auf der Świdnicka-Straße die absolute Freiheit. Ab einem gewissen Moment, machten alle das, was sie wollten.79

Der zunehmende Angstverlust lässt sich von Aktion zu Aktion immer deutlicher durch das wachsende Ausloten von Grenzen seitens der Zivilakteure beobachten. Als sehr gutes Beispiel kann das Happening Revolution der Zwerge vom 1. Juni 1989 betrachtet werden. Von diesem zeugen Gerichtsakten, zahlreiche Zeugenaussagen und ein Foto, das zu den bekanntesten Aufnahmen der Orangen Alternative gezählt werden kann.

Abb. 7 Aleksander Żebrowski auf dem Dach eines Milizbusses

79

Interview Padraic Kenneys mit Jolanta Skiba. In: Wrocławskie zadymy, S. 358359, 358f.

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Auf dem Foto ist ein junger Mann mit Zwergenmütze zu sehen, der auf dem Dach eines Milizbusses der Marke Nyska steht, seine Arme in die Luft streckt und dabei ein Bündel Luftballons hält. Um den Wagen sind zahlreiche Menschen mit Zwergenmützen versammelt, die ihre Arme ebenfalls in die Höhe heben und mit Begeisterung dem Mutigen zujubeln. In diesem Augenblick nimmt er die Rolle eines Hauptakteurs ein, die Blicke der anderen Akteure, die so zu Zuschauern werden, sind auf ihn gerichtet. Der Wagen – in diesem Augenblick in der Funktion der Bühne – kann in der Menschenmenge weder vor noch zurückfahren. Wie ist es zu dieser Situation gekommen? Anlässlich des Happenings, zu dem mit den Worten „Die Revolution der Zwerge kann nicht ohne Dich erfolgen! Ihr Schicksal liegt in deinen Händen!“80 aufgerufen wurde, versammelten sich zahlreiche Menschen auf der Świdnicka-Straße. Auch dieses Mal sollte parallel zu einer von der Partei organisierten Veranstaltung der Internationale Kindertag gefeiert werden. Wie im Jahr zuvor sangen und tanzten als Zwerge verkleidete Menschen auf der Straße und verteilten Süßigkeiten an Kinder. Die Studentin Iwona Tyszkiewicz, die für die künstlerische Gestaltung der Happenings der Orangen Alternative verantwortlich war, beschloss spontan, auf einem sich ihr nähernden Milzbus eine Blume zu malen, woraufhin sie von Milizoffizieren zur Ausweiskontrolle in den Bus gezerrt wurde.81 Ihre Verhaftung, die vor den Augen der Happeningteilnehmer erfolgte, löste die Belagerung des Busses aus. Forderungen nach Freilassung der jungen Frau wurden laut. Als der Wagen den Motor anließ, um loszufahren, wurde er von der Menschenmasse blockiert. Die Versammelten begannen sogar, den Wagen „einige Sekunden lang hin und her zu schaukeln“82, wie der Augenzeuge Robert Jezierski am 1. Oktober 1988 zu Protokoll gab. Allerdings betonte er, dass es sich hier nicht um ein aggressives Vorgehen gehandelt hatte, sondern vielmehr um eine Art des Spiels mit der Miliz.83 Denn jegliche Art von Gewalt und Unruhestiftung war während der Happenings strengstens verboten. Aus Jezierskis Zeugenaussage wissen wir auch, dass

80

Flugblatt „Rewolucja krasnali“. AZiO Pomarańczowa Alternatywa I-2, t. 2, 1988-1990.

81

AIPN WR 20/94, k. 139.

82

AIPN WR 20/94, k. 136.

83

Vgl. ebd.

DAS DURCHBRECHEN DES RITUALISIERTEN | 247

die Beamten durch das Megaphon für das Abbrechen des Schaukelns die Freilassung Tyszkiewiczs in Aussicht stellten. Nach ihrer Freilassung ging eine Welle der Freude durch die Versammelten, in deren Zuge der Student Aleksander Żebrowski auf das Dach des Milizwagens stieg, was einen erneuten Jubelausbruch zur Folge hatte. Żebrowski hielt sich auf dem Dach nur eine knappe Minute auf. Für diese Tat wurde er später verhaftet und angeklagt, „an einem öffentlichen Ort grundlos, die Grundsätze der rechtlichen Ordnung missachtend, den Dienstwagen der Marke Nyska mit der Kennziffer MOP 07-13 vorsätzlich in Höhe von 6148 Zloty beschädigt“84 zu haben. Żebrowski gab zwar zu, sich auf dem Dach aufgehalten zu haben, bestritt jedoch eine vorsätzliche Beschädigung des Wagens: „Als ich auf das Dach kletterte, war mir nicht bewusst, dass ich das Auto beschädigen könnte; ich hatte weiche Schuhe an. Ich hielt mich auf dem Dach einige Sekunden auf und ich bin nicht auf dem Dach herumgesprungen.“85 Auffällig ist, dass seine Aussage von Augenzeugen bestätigt wird, nicht aber von den Milizoffizieren. Diese, wie der Funktionär der MO Stanisław Podsiedlik, behaupteten, dass der Angeklagte auf dem Dach des Wagens gesprungen sei, wobei er antistaatliche Parolen von sich gegeben habe.86 So wie die Aussagen der gegeneinander auftretenden Parteien auseinander gehen, weichen auch die Ergebnisse der durchgeführten Befragungen zur Person des Angeklagten voneinander ab. Seine Freunde, Kommilitonen und Nachbarn zeichneten ein positives Bild von ihm, was der zuständige Beamte in folgende Worte zusammenfasste: „Eine Abhängigkeit von Suchtmitteln, ganz besonders von Alkohol, konnte nicht festgestellt werden. Er pflegte keine Kontakte zu verbrecherischen und sich im Visier der Miliz befindenden Elementen. Seine Lebensführung kann als stabil betrachtet werden.“87 Aleksander Ż ebrowski nicht gewogene Personen, deren Angaben in den Akten anonym gehalten wurden, chrakterisierten ihn dagegen als einen schwer erziehbaren und unbegabten Studenten, der in die Kolportage von Flugblättern und in diverse Straßenmanifestationen verwickelt war.88 Auch wenn Żebrowskis Verhalten keine Gefängnisstrafe nach sich zog, wurde er

84

AIPN WR 20/94, k. 149.

85

AIPN WR 20/94, k. 145.

86

AIPN WR 20/94, k. 12-14.

87

AIPN WR 20/94, k. 38.

88

AIPN WR 20/94, k. 41.

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von seiner Universität für die Dauer des Prozesses exmatrikuliert. Dies hinderte ihn trotzdem nicht daran, sich weiterhin bei diversen Demonstrationen, Manifestation und Happenings der Orangen Alternative zu engagieren. Sein Gerichtsverfahren zog sich bis zum 29. Juni 1989 hin. Das Ergebnis sollte nicht unbeachtet bleiben, denn aufgrund der Veränderung der politischen Lage wurde das Verfahren gegen Aleksander Żebrowski eingestellt.89 Neben Verhaftungen, Anklagen und Gefängnisstrafen wegen Störung der öffentlichen Ordnung mussten Happening-Akteure bei ihren Straßenauftritten auch mit Gewaltanwendung durch die Miliz rechnen. Während frühere Gewaltanwendungen selten Klagen nach sich zogen, da diese als aussichtslos galten, änderte sich dies Ende der 1980er Jahre. Ganz deutlich lässt sich das auch am Fall der Happenisten beobachten, die nicht mehr bereit waren, die an ihnen verübte Gewalt hinzunehmen. Als der in meinen Augen interessanteste Fall soll hier der Übergriff auf den Schüler Andrzej Kielar näher betrachtet werden, der im Rahmen des Happenings anlässlich des 71. Jahrestags der Oktoberrevolution am 7. November 1988 auf der Świdnicka-Straße stattfand. Zwar wird in den Akten des Sicherheitsdienstes vermerkt, dass es während des Happenings keinen Einsatz der MOEinheiten gab und auch keine Verhaftungen vorgenommen wurden. Gleichzeitig wird jedoch darauf hingewiesen, dass im direkten Anschluss an die Veranstaltung die sich noch in der Umgebung aufhaltenden Teilnehmer aufgefordert wurden, wegen Behinderung des Straßenverkehrs und 90 Störung der öffentlichen Ordnung ihre Personalien anzugeben. Im Rahmen dieser Maßnahmen fanden Übergriffe auf einige Teilnehmer statt. Ob diese auf Befehl von oben oder auf Eigeninitiative der Offiziere hin passierten, lässt sich den Dokumenten nicht entnehmen. Der heikle Prozess, der diesem Ereignis folgte, belegt aber erneut die Verstrickung des Regimes in ein System aus Lüge und Täuschung. Fest steht, dass Andrzej Kielar während der Aufnahme seiner Personalien so brutal zusammengeschlagen wurde, dass er lebensgefährliche Verletzungen erlitt. Seinen Angaben im Protokoll der Gerichtsakte zu Folge wurde er von zwei Beamten am ganzen Körper, besonders jedoch in der Kopfregion, mit Gummiknüppeln misshandelt, da er den Befehl verweigert hatte, sich auf

89

AIPN WR 20/94, k. 196.

90

Vgl. AIPN WR 20/96, k. 13.

DAS DURCHBRECHEN DES RITUALISIERTEN | 249

den Boden des Milizbusses zu legen.91 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass der Schüler in einem verdunkelten Wagen, also außerhalb des öffentlichen Blickes, die Brutalität der Beamten erfuhr. Auf diese Weise konnten keine Zeugen den Tathergang beobachten. Nachdem der Schüler aus der Wache in der Altstadt entlassen worden war, ohne dass sich dort jemand um seinen Zustand gekümmert hatte, wurde er von Freunden ins nächstgelegene Krankenhaus gebracht, wo schwere Verletzungen des Kopfes diagnostiziert wurden. Seine Klage reichte Andrzej Kielar am 9. Dezember 1988 ein. Die beschuldigten Beamten bestritten jedoch die Tat: „Keiner von uns hat irgendjemandem befohlen, sich auf den Boden zu legen, oder in irgendeiner Weise Gewalt ausgeübt. Wir haben sie [die Arrestierten] auch nicht beschimpft. [...] Ich habe auch nicht gehört, dass sich jemand über Schmerzen beklagt hätte.“92 Auch der Hauptbeschuldigte Mariusz Babiak wies jede Anschuldigung von sich. Auffallend ist, dass im Prozess die Aussagen des behandelnden Arztes so manipuliert waren, dass in den Akten die Aufmerksamkeit auf die äußeren Verletzungen gelenkt wurde, die allein keiner Einweisung bedurft hätten. Lediglich in einem Nebensatz wird auf die Überweisung des Verletzten an einen Spezialisten zur Untersuchung des Kopfes hingewiesen.93 Erst dieser erkannte die Schwere der Verletzung, behielt Kielar zur stationären Behandlung im Krankenhaus und schrieb ihn bis Ende des Schuljahres krank. Seine Stellungnahme sucht man in den Akten vergeblich. Der Prozess zog sich über mehrere Monate hin und wegen der sich zwischenzeitlich verändernden politischen Lage in Polen wurde den Beschuldigungen des Klägers nachgegangen. Nach zahlreichen und komplizierten Rekonstruktionen des Tathergangs durch Spezialisten, die die Glaubwürdigkeit des Klägers zu beweisen hatten, konnte Mariusz Babiak schließlich als Täter überführt werden. In diesem Zusammenhang sollte jedoch die Gerichtsentscheidung vom 30. Juni 1989 näher betrachtet werden: Im Urteil wird Artikel 1 Absatz 4 der Verordnung vom 29. Mai 1989 angewendet, welcher die „Vergebung und das Vergessen mancher Straftaten und Rechtsverletzungen“ besagt, „wenn die Straftat im Zeitraum von 31. Januar

91

Vgl. AIPN WR 20/96, k. 24.

92

AIPN WR 20/96, k. 50.

93

Vgl. AIPN WR 20/96, k. 15.

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1980 bis 29. Mai 1989 begangen wurde“94. Dieser Artikel wurde vorwiegend auf Oppositionelle angewendet, die aufgrund von Streiks, Demonstrationen und anderen politischen Aktivitäten, die von der Partei als antistaatlich eingestuft waren, bestraft wurden, um sie in der sich verändernden politischen Realität von den Beschuldigungen zu entlasten und ihnen einen vorstrafenfreien Neuanfang zu ermöglichen. Absatz 4 dieses Artikels verweist jedoch darauf, dass auch staatliche Kräfte, die sich beim Beschützen der staatlichen Ordnung eines Vergehens schuldig gemacht hatten, von dem Gesetz profitieren können. So sollten auch „Vergehen, die anlässlich der Bekämpfung von Streiks, Protestaktionen oder anderen Verstößen gegen die Sicherheit und öffentliche Ordnung aus politischen Gründen begangen wurden“95 nicht geahndet werden. Auch Babiak fiel unter dieses Gesetz. Am 18. November 1989 wurde sogar sein Antrag auf einen Pass genehmigt, wodurch ihm das Verlassen Polens ermöglicht wurde. Was also früher unangenehmen Dissidenten angeboten wurde, wurde nun auch beim eigenen Kader praktiziert.

D ER E RFOLG

WILL GETEILT WERDEN

Erneuter Aufstieg der Solidarność Mit dem zunehmenden Erfolg der Orangen Alternative zeigten auch Aktivisten der Solidarność ein immer größeres Interesse an den Initiativen der jungen Breslauer. Hatten sie deren Aktivitäten am Anfang noch belächelt oder sich durch diese der Lächerlichkeit preisgegeben gefühlt,96 so wuchs ihr Interesse nun zunehmend. So erinnert sich Bogumiła Tyszkiewicz: „Als die Orange Alternative groß wurde, als an den Happenings immer mehr Menschen teilgenommen haben, da haben wir das Interesse der erwachsenen Oppositionellen geweckt. Ich bin von einigen heute bekannten Perso-

94

Artikel 1 der Verodnung vom 25. Mai 1989: http://isip.sejm.gov.pl/ DetailsServlet?id=WDU19890340179 (zuletzt aufgerufen am 25.11.2010).

95

Ebd.

96

Vgl. Interview Padraic Kenneys mit Bogumiła Tyszkiewicz. In: Wrocławskie zadymy, S. 377-345, 342f.

DAS DURCHBRECHEN DES RITUALISIERTEN | 251

nen zum Tee eingeladen worden.“97 Auch Krzysztof Jakubczak stellt fest: „Die ,erwachsene‘ Solidarność verlor in dieser Zeit an Halt, sie hatte keine Ideen. Deswegen hat sie begonnen, sich an die Orange Alternative zu kleben [...].“98 In der Tat nahmen immer mehr Aktivisten der Solidarność an den Happenings teil und versuchten, den Kern der Gruppe für sich und ihre Aktionen zu gewinnen. Anhänger der Gewerkschaft begannen, Banner mit ihren Parolen zu den Happenings mitzubringen, und diese für sich zu instrumentalisieren. Auf den Fotos später Happenings lassen sich beispielsweise immer wieder zwischen Bannern mit typischen Sprüchen der Orangen Alternative wie „Wir sind für!“ oder „Wir lieben Euch trotzdem!“ das Logo der Gewerkschaft oder Slogans wie „Solidarność lebt!“ erkennen. Schließlich bestand durch solche Aktionen die Möglichkeit, bei der Masse den Eindruck zu erwecken, die beiden Parteien arbeiteten zusammen und zogen in ihrem Ziel, den Kommunismus zu bekämpfen, an einem Strang. Auch wenn die Orange Alternative selbst nie das Ziel verfolgte, den Kommunismus abzuschaffen, sondern vielmehr Veränderungen des Alltags und in der Haltung der Mitmenschen anstrebte, hatte die Taktik der Solidarność-Aktiven Erfolg. So sind zum Buchstaben „V“ geformte Finger in den Massen immer häufiger auf Fotos von den Happenings zu sehen. Ein Foto aus der Kollektion von Krzysztof Jakubczak99 zeigt sogar eine ganze Masse als Zwerge verkleideter Menschen, die den Arm mit dem für die Solidarność typischen Zeichen in die Höhe heben. Angesichts der sich in dieser Zeit langsam verändernden politischen Lage lässt sich vermuten, dass dies keine Ausnahme war, denn die Gewerkschaft fand im Verlauf des Jahres 1988, sicherlich auch dank solcher Aktivitäten, wieder mehr Sympathisanten. Auch wenn ein offener Brief des Historikers Jerzy Holzer, den er im Januar 1988 sowohl an General Jaruzelski als auch an Lech Wałęsa mit der Bitte um ein gemeinsames Treffen der Parteien, in dem konstruktiv über die Zukunft Polens gesprochen werden sollte,100 innerhalb der Solidarność noch auf Misstrauen stieß – das Ergebnis dieser Taktik schien ebenso ungewiss wie die aktive Unterstützung der

97

Ebd. S. 343.

98

Interview Padraic Kenneys mit Krzysztof Jakubczak. In: Wrocławskie zadymy, S. 327-332, 331.

99

Das Foto ist abgedruckt in: Pamięć i Przyszłość 2/2008, S. 61.

100 List otwarty Jerzego Holzera. In: Polityka 3/1988.

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Bevölkerung –,101 erwies sich der Vorschlag als Erfolg. Das positive Klima, beeinflusst durch die langsame Überwindung vorherrschender Ängste in der Bevölkerung und die Reformoffenheit Gorbatschows, nutzte die Solidarność, die Arbeiter im Mai und später im August zu neuen Streiks zu motivieren. Auch wenn die Streikwelle nicht das Ausmaß der Auguststreiks von 1980 erreichte, so konnte die Gewerkschaft doch beweisen, dass sie noch bzw. wieder Handlungsmacht besaß. Und der Glaube an sie und ihren Erfolg begann in der Bevölkerung erneut zu wachsen, insbesondere als die Regierung in Gespräche am Runden Tisch einwilligte, die zu den ersten halbfreien Wahlen am 4. Juni 1989 führten.102 Trotz der Erfolge der Solidarność-Aktivisten, die unbestritten für die politischen Veränderungen in Polen entscheidend waren, erscheint es als verkürzt, die Leistungen anderer Gruppierungen auf dem Weg der politischen Entwicklung des Landes nicht zu würdigen. Im Fall der Orangen Alternative ist das bis heute aber der Fall. In Hartmut Kühns Buch Das Jahrzehnt der Solidarność beispielsweise wird die Bewegung mit keinem Wort erwähnt. Doch gerade sie gehörte nicht nur zu den ersten Gruppierungen, die aus der konspirativen Arbeit heraus in den öffentlichen Raum traten, sondern auch zu denjenigen, die es schafften, sowohl Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten in einer Zeit zu mobilisieren, in der die Solidarność genau damit Schwierigkeiten hatte, als auch mit ihren Happenings einen Weg zu finden, den Abbau von Ängsten vor der Miliz zu fördern und die Bevölkerung zu ermutigen, in der Öffentlichkeit mit dem Erscheinen ihres Körpers und vor allem ihres Gesichts Stellung zu beziehen. Sie berei-

101 Vgl. Kühn 1999, S. 388. 102 Die Verhandlungen am Runden Tisch fanden zwischen dem 6. Februar und dem 5. April 1989 statt. Das Verhandlungsteam der PZPR wurde vom Innenminister General Czesław Kiszczak, dem Assistenten des Ministerpräsidenten Aleksander Kwaśniewski sowie dem Gewerkschaftsfachmann Janusz Reykowski geleitet. Das Team der Solidarność wurde von dem Berater der Gewerkschaft Tadeusz Mazowiecki gemeinsam mit Leitern unterteilter Verhandlungsgruppen, Bronisław Geremek, Jacek Kuroń, Zbigniew Bujak, Władysław Frasyniuk und Lech Kaczyński, geführt. Wojciech Jaruzelski und Lech Wałęsa agierten hinter den Kulissen. Vgl. hierzu u.a. Garlicki, Andrzej: Rycerze Okrągłego Stołu. Warszawa 2004; mehr zu den Verhandlungen siehe auch Kühn 1999, S. 399ff.

DAS DURCHBRECHEN DES RITUALISIERTEN | 253

tete somit den Nährboden mit für das, was später unter Federführung der Solidarność folgen sollte. Die Antwort der Orangen Alternative Trotz der Euphorie, welche die gerade genannten Ereignisse in Polen auslösten, waren auch Stimmen der Unzufriedenheit innerhalb der polnischen Gesellschaft zu vernehmen. Eine davon kam von der Orangen Alternative. „Der Runde Tisch war eine komplette Verneinung des Sinns der Demokratie“103, betont in diesem Zusammenhang Bogumiła Tyszkiewicz und kritisiert damit das Vorgehen der Solidarność-Führung, nicht allen Gruppierungen die Möglichkeit gegeben zu haben, Gesandte in die Gespräche schicken oder wenigstens mitbestimmen zu können, wer das Volk am „Runden Tisch“ vertreten dürfe. Eine solche Meinung, wie sie Tyszkiewicz vertritt, war damals unpopulär. Die Veränderungen der Politik schienen schließlich mit der Durchsetzung der Wahlen 1989 in Gang gesetzt worden zu sein; weitere Bemühungen um mehr Mitbestimmung oder um freie Öffentlichkeit erschienen vielen verzichtbar, da diese als Folge der Wahlentscheidung als sicher galten. Die Happenings verloren somit ihre einstige Bedeutung, die Begeisterung der früheren Teilnehmer schwand. Die Orange Alternative war gezwungen, auf die Transformation zu reagieren, und sie modifizierte ihre Happenings. Die Veränderungen fanden auf mehreren Ebenen statt: Die Happenings entwickelten sich von Massenveranstaltungen zu Aufführungen im kleineren Kreis. Der Grund lag daran, dass immer weniger Menschen bereit waren, an den Happenings zu partizipieren und auch die Miliz angesichts des politischen Umbruchs das Interesse verlor, das bunte Treiben auf der Świdnicka-Straße zu stören. Dies hatte zum einen zur Folge, dass die Miliz, die Fußgänger und sonstige Interessenten nicht mehr aktiv in das Geschehen eingriffen. Das wiederum bewirkte, dass die Aktiven der Orangen Alternative nun die einzigen Akteure darstellten und ihre Happenings diesem Umstand entsprechend ausrichteten. So organisierten sie Aktionen, bei denen sie mit auffälligen Requisiten und einer symbolischen Handlung für Aufsehen sorgen konnten. Anlässlich der durch die Medien in der ganzen Welt

103 Interview Padraic Kenneys mit Bogumiła Tyszkiewicz. In: Wrocławskie zadymy, S. 430-333, 430.

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mit Begeisterung propagierten Gespräche am Runden Tisch wurden z.B. im Zentrum von Lodz am 24. Februar 1989 acht runde Tische in Kreisform mit jeweils einem Stuhl aufgestellt. Auf jedem befand sich eine Schüssel mit einem rohen Ei und ein Schneebesen. Krzysztof Skiba, der Initiator, erinnert sich an den Verlauf: Zuerst erschien ein runder Tisch, danach wir, elegant gekleidet, in Anzügen. Wir begrüßen uns höflich und nehmen am runden Tisch Platz; dann zerschlägt jemand mit einem Karatehieb ein Ei und vollzieht eine historische Teilung in Eigelb und Eiweiß. Das Schaumschlagen am runden Tisch beginnt.104

Dieses Happening, welches den Titel Schaumschlagen am Runden Tisch trug, wies auf das schwierige Verhältnis hin, das die Happenisten mit den in ihren Augen fragwürdigen Verhandlungen und dem medialen Hype um das Ereignis hatten. Außerdem war es ein erneuter Versuch, in die Sphäre des Sinnlichen einzugreifen. Denn während den Solidarność-Akteuren am Runden Tisch die Sicht- und Hörbarkeit im öffentlichen Raum gewährt wurde, mussten andere Gruppierungen, vor allem diejenigen, die nicht mit der Gewerkschaft und ihren Ideen zur Umsetzung von Demokratie übereinstimmten, weiterhin um einen Platz im öffentlichen Raum kämpfen. Zum anderen richteten sich die Happenings nicht mehr wie früher nur an die Machthaber. Treu dem Credo des Manifests des Sozialistischen Surrealismus spürte die Orange Alternative weiterhin die Absurditäten des Alltags auf, die das Leben zu einem Kunstwerk machten, in das es sich einzumischen galt. Sie behandelte zwar nicht mehr die Absurdität des kommunistischen Alltags, da sich dieser langsam zu verändern begann, doch die neue Realität schienen nicht weniger absurd. So konzentrierte sich die Orange Alternative nun auf die absurden Konsequenzen, die aus den Gesprächen zwischen der PZPR und den Gesandten der Solidarność entstanden. Anhand des Happenings Orangener Major oder Roter General lässt sich das sehr gut verdeutlichen. Das Happening fand im Rahmen der Wahlphase statt und dauerte insgesamt 35 Tage. Es beschränkte sich also nicht auf eine einzige Aktion, sondern beruhte auf einer Reihe einzelner Sequenzen. Waldemar Fydrych ließ sich in diesem Zug als Kandidat für den Senat aufstellen und organisierte

104 Zitiert nach Pomarańczowa Alternatywa. Rewolucja Krasnoludków, S. 231.

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seine eigene Wahlkampagne, die unter dem Motto „Orangener Major oder Roter General. Relaxe und denke nach – Du hast die Wahl!“105 durchgeführt wurde und am 30. April 1989 begann. Auch wenn Fydrych manchmal mit einer Zwergen-Band auf einer kleinen Holzbühne auftrat oder von einigen Kollegen im Wahlkampf unterstützt wurde, wie z.B. von seinem Wahlkampfleiter, dem Mathematiker Wiesław Cupała, der unter den Fußgängern Wahlzettel verteilte, oder von Krzysztof Skiba, der den Konkurrenten Wojciech Jaruzelski per Steckbrief für die Belohnung von 1 000 000 $ suchen ließ, so war er der Hauptperformer des Happenings. Während in den früheren Happenings die Menschen dem Aufruf der Flugblätter folgten, sich an ihnen aktiv beteiligten und ihren Verlauf durch eigene und spontane Ideen mitgestalteten, gaben sie sich nun damit zufrieden, vorwiegend die Rolle des Zuschauers einzunehmen und die Aktionen von Fydrych und seinen Helfern zu verfolgen. Fydrych und seine Gruppe erreichten auch so ihr Ziel, sich Gehör für ihre Belange zu verschaffen, Belange, die sonst – auch unter den veränderten Bedingungen – keine Möglichkeit hatten, öffentlich verhandelt zu werden. Denn die Massenmedien waren zweigeteilt: Zum einen befanden sie sich weiterhin in den Händen der Partei, die sie erwartungsgemäß dazu nutzte, für ihre Wahl und ihre Interessen Werbung zu machen. Zum anderen wurde der Solidarność während der Beratungen des Runden Tisches das Recht zugestanden, zu den ersten Wahlen eine Tageszeitung herauszugeben, Gazeta Wyborcza106 (dt. Wahlzeitung), die selbstverständlich nur ihre Interessen vertrat und Gegenmeinungen – weder der PZPR noch anderer Organisationen – nicht zuließ. Der Orangen Alternative blieb erneut nur der Weg des theatralen Protests, ihre Meinung zu äußern und dabei die Absurdität dieser Situation aufzuzeigen. So las Fydrych beispielsweise aus dem Buch Polski Kodeks Honorowy (dt. Polnischer Ehrenkodex) vor, das 1919

105 Flugblatt „Fydrych Senatorem“. AZiO Pomarańczowa Alternatywa I-2, t. 2, lata 1988-1990. 106 Gazeta Wyborcza war neben dem katholischen Tygodnik Powszechny (dt. Allgemeine Wochenzeitung) erst die zweite unabhängige Zeitung in der Geschichte der Volksrepublik Polen Sie erschien das erste Mal am 8. Mai 1989 in einer achtseitigen Ausgabe und in einer Auflage von 150 000 Exemplaren. Ihr Chefredakteur war und ist Adam Michnik. Die Zeitung existiert bis heute und ist eines der meistgelesenen Blätter Polens.

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von Władysław Boziewicz geschrieben wurde und im Polen der Zwischenkriegszeit zu einem hoch angesehenen, wenn auch rechtlich nicht gültigen Dokument avancierte und Auskünfte erteilte, wie sich ein ehrenwerter Mann zu duellieren habe. Auch wenn Boziewiczs Buch auf den ersten Blick unpassend erschien, da es 1989 über keine gesellschaftliche Relevanz mehr verfügte, so lässt es sich dennoch mit den Verhältnissen von 1989 in Verbindung bringen: Zum einen stammt das Buch aus einer Zeit, in der sich Polen ebenfalls in einer Phase des Umbruchs befand, da es nach dem Ersten Weltkrieg seine Souveränität wieder erlangt hatte und das gesellschaftliche Leben neu ordnen musste. Zum anderen wurde in Polski Kodeks Honorowy, wie es bereits der Titel verrät, auf ehrenvolles Verhalten eingegangen. Boziewicz plädiert hier keinesfalls für die Lösung eines Streites durch das Durchführen eines Duells, vielmehr fordert er das Bemühen beider Seiten um eine Schlichtung und somit um ein friedliches Ende.107 Auch wenn die Wahlen von 1989 ein anderes Duell darstellten als das von Boziewicz beschriebene, so sollten auch sie zu einem friedlichen und versöhnlichen Ende der gegeneinander angetretenen Kandidaten führen. Doch war das tatsächlich der Fall? In den Augen der Orangen Alternative wurde nur scheinbar eine solche Lösung anvisiert, denn was letztendlich zählte, war am Ende doch der Sieg des Einzelnen, und die Kader von PZPR und Solidarność teilten die Macht unter sich auf. Für Alternativen gab es in diesem neuen System keinen Platz. So haben sich die meisten Kandidaten für den Senat beispielsweise gerne neben Lech Wałęsa fotografieren lassen, denn das signalisierte die Nähe des Kandidaten nicht nur zur Solidarność, sondern auch zu dem großen und wieder sehr beliebten Gewerkschaftsführer. Auch der Erfolg schien damit garantiert, wie die Wahlergebnisse zeigten.108 Waldemar Fydrych hat darauf in seiner Kampagne verzichtet, auch wenn er sich problemlos zusammen mit Wałęsa hätte fotografieren lassen können. Auch wäre es für ihn, den bunten Breslauer Dissidenten, sicherlich kein Problem gewesen, noch schnell in die Solidarność einzutreten. Doch eine solche Art, sich Vorteile zu verschaffen, entsprach nicht seiner Haltung. Der Sieg war schließlich nicht alles, was seine Aktion einbringen sollte. In dem Flugblatt zu seiner Kampagne ist zu lesen:

107 Die komplette Textfassung ist zu finden unter: http://literat.ug.edu.pl/honor/ index.htm (zuletzt aufgerufen am 30.09.2010). 108 Ergebnisse der Wahlen sie u.a. bei Kühn 1999, S. 447ff.

DAS DURCHBRECHEN DES RITUALISIERTEN | 257

Zwerge – absurde Kleinwesen aus einer anderen absurden Welt – finden Antworten auf Nonsens und sind mit einer wertvollen und unverbrauchten Klugheit ausgestattet. Erlauben wir ihrem Erfinder – Major Fydrych – etwas von dieser Klugheit in den Senat einzubringen; vielleicht wird sich die scheinhafte Demokratie ihrer Sinnlosigkeit bewusst und wandelt sich endlich in eine reale!109

Der Kampf gegen die scheinhafte Demokratie war jedoch nicht alles, was mit diesem Happening erreicht werden sollte. Auch die Fähigkeit seiner Mitbürger zu Reflexion und Erkenntnis sollte wieder mobilisiert werden. Denn während des Kommunismus und insbesondere in den 1980er Jahren, als die Auseinandersetzungen mit dem System zunahmen, flüchteten sich viele Polen in die Idee des Messianismus. Nun begann die Solidarność die Rolle des Messias einzunehmen. Eines Tages, kurz vor den Wahlen, stellte sich Fydrych auf eine Mauer und begann Dollarnoten in die Menschenmenge zu werfen. Die Zuschauer griffen gierig zu und bemerkten nicht, dass die Aktion dieses nett lächelnden und Witze reißenden Mannes, nur eine symbolische Geste war. Er lachte den Glauben der Menschen aus, dass der neue, von der Solidarność geplante, freie Markt ihnen einen Goldesel bescheren würde, große Autos und ein Leben wie im erträumten Westen. Die Orange Alternative stellte sich somit erneut zwischen die Fronten und eröffnete einen dritten Weg. Sie ließ sich nicht von den Phrasen einwickeln, die von den beiden sie umgebenden Seiten auf das Volk niederprasselten und es als politisches Wesen immer noch nicht wahrnahmen. Die Orange Alternative kämpfte weiterhin um die Aufteilung des Sinnlichen, um ihre Teilhabe an dem Raum der Sicht- und Sagbarkeit. Denjenigen wenigen, die sich weder der Partei noch der Solidarność zugehörig fühlten, bot sie auch dieses Mal in ihren Reihen die Möglichkeit, Widerstand zu leisten und ihr Unvernehmen zu äußern. Resümee Durch die Etablierung des Happenings als Protestform hat die Orange Alternative, die sich seit 1987 zwischen die Solidarność und die PZPR stellte und die Kluft zwischen den beiden sich bekämpfenden und zunehmend an Kraft verlierenden Parteien zu füllen begann, einen wichtigen Beitrag für

109 Flugblatt „Fydrych Senatorem“. AZiO Pomarańczowa Alternatywa I-2, t. 2, 1988-1990.

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das Wiederaufleben von Protesten und somit das Einschreiben in den öffentlichen Raum geleistet. Auf eine spielerische Art und Weise und fern jeglicher national-religiöser Tendenzen übte sie Kritik an diversen und in ihren Augen absurden gesellschaftlichen Zuständen im kommunistischen Polen. Hierdurch schaffte sie es in einer Zeit der Proteststille, sowohl Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten an der Teilnahme ihrer Happenings zu motivieren als auch den Abbau von Ängsten vor der Miliz zu fördern. Auf diese Weise bereitete die Bewegung den Nährboden für den Runden Tisch unter der Federführung der Solidarność. Auch nach erfolgreichen Verhandlungen zwischen der Gewerkschaftsbewegung und der PZPR stellte sie sich erneut zwischen die beiden Fronten und kämpfte gegen die von ihr als „scheinhaft“ empfundene Demokratie, die weiterhin bestimmten Schichten und Meinungen die Teilhabe am Raum der Sicht- und Sagbarkeit erschwerte.

Das Aushandeln von Sicht- und Sagbarkeit

I M J AHRZEHNT

DER

S OLIDARNOŚĆ

Das Ziel der vorliegenden Abhandlung bestand darin, die mit dem politischen Umbruch von 1989 in Verbindung stehenden öffentlichen zivilgesellschaftlichen Initiativen in Polen unter dem Aspekt der Theatralität zu untersuchen, um aufzuzeigen, dass die theatrale Dimension der öffentlichen Protestformen zu den konstitutiven Faktoren des polnischen Umbruchs von 1989 gezählt werden kann. Um dieses Ziel zu erreichen, folgte meine Arbeit, angeregt durch die Theorien zur Erzeugung von Gegenöffentlichkeit von Nancy Frazer und dem hier in Verbindung stehenden Politikbegriff von Jacques Rancière, zwei Leitfragen: 1. Welche theatralen Möglichkeiten wurden seitens opponierender Kräfte genutzt, um ihre Belange und ihren Protest im Raum der Öffentlichkeit sicht- und sagbar zu machen? 2. Welche Mechanismen wurden hierbei von den Machthabern der PZPR unternommen, um diesen Opponenten die Partizipation am Raum des Öffentlichen zu erschweren? Allgemein lässt sich festhalten, dass der Zeitraum von 1980 bis 1989, von der Entstehung der Solidarność bis zur erneuten Legalisierung der zwischendurch verbotenen Gewerkschaftsbewegung, als ein permanentes Aushandeln von Sicht- bzw. – die Strategien der PZPR und ihrer Funktionäre betrachtend – Unsichtbarkeit der opponierenden Kräfte im öffentlichen Raum konstatiert werden kann. Um die Vorherrschaft der Partei über die Öffentlichkeit zu durchbrechen und die eigene Stimme und mit ihr die eigene Meinung und Position sicht- und hörbar zu machen, wandten diverse Gruppierungen der Opposition theatrale Proteststrategien an, die von Streiks, über verbotene Gedenkfeierlichkeiten bis hin zu Happenings reichten. Auf diese Weise betonten sie auf eine direkte Art und Weise ihre

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Standpunkte und subjektivierten sich im Sinne Rancières politisch. Hierbei konnte herausgearbeitet werden, dass nicht nur die Gewerkschaft Solidarność, die aus der Initiative der WZZ Wybrzeże entwachsen ist, eine wichtige Funktion für den politischen Wandel 1989 einnahm, sondern dass auch andere Gruppierungen, wie die Orange Alternative, bei einer Betrachtung der Ereignisse zwischen 1980 und 1989 nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Gerade die Orange Alternative, die in der Forschung kaum gewürdigt wird, hat – wie diese Arbeit aufzeigt – den Nährboden für das Erstarken der Gewerkschaftsbewegung bereitet. Im den Analysen konnte die Etablierung von unterschiedlichen auditiven wie visuellen Bühnenräumen als bedeutend für die Erzeugung von Gegenöffentlichkeit dargestellt werden. Durch das Nutzen von Mauern, Baggern, Straßen aber auch Lautsprechern zur Herstellung von Bühnenräumen, auf welchen Akteure ihre bewusst vollzogenen Handlungen ausführen konnten, war es den Protestierenden möglich, sich in den Raum des Sinnlichen einzuschreiben. Durch den hier vorgeführten Einsatz ihrer Stimme sowie ihre Mimik und Gestik, aber auch durch das bewusste Ausstellen von Symbolen und sonstigen visuellen Zeichen konnten schließlich nicht nur die Blicke nicht am Protest Beteiligter auf den Protest gelenkt, sondern auch Aufmerksamkeit für die Meinungen und Ziele der Protestierenden erregt und auf die Desinformation und die Lügen der von der Partei beherrschten Massenmedien durch Vermittlung eigener Informationen geantwortet werden. Im Rahmen der Arbeit konnte zudem offengelegt werden, dass zwischen der Ebene des Handelns und des Schauens eine Vermischung der sonst getrennt verhandelten Sphären stattfand. So lassen sich während der Protestakte nicht nur handelnde Akteure und ihnen zuschauende Zuschauer ausmachen, sondern auch handelnde Zuschauer und beobachtende Akteure konstatieren. Hierdurch konnten einerseits die Glieder eines kollektiven Körpers als Individuen wahrgenommen werden, andererseits bot sich innerhalb dieser Kollektivität der Raum für einzelne Akteure, aus der Masse hervorzutreten und durch einzelne Aktionen die Protestakte erfolgreich zu befruchten. Die sich gegenseitig beeinflussenden Tätigkeiten des Schauens und des Handelns verstärkten zudem das Gemeinschaftsgefühl und die Identität der Protestierenden. Bei der Betrachtung des Verhältnisses von Akteur und Zuschauer konnte der Staatssicherheit und ihren Mitarbeitern eine Sonderrolle zugewiesen

DAS AUSHANDELN VON SICHT- UND SAGBARKEIT

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werden, da diese im öffentlichen Raum verdeckt handeln mussten, um antistaatliche Organe aufzuspüren und zu beseitigen, um diese also am öffentlichen Auftreten zu hindern. Die operative Tätigkeit der Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes kann daher, da ihre Handlung nicht bewusst ausgestellt war, um einem potenziellen Publikum vorgeführt zu werden, nicht als theatral eingestuft werden. So fungierte die Staatssicherheit im öffentlichen Raum zunächst als ein ständiger und wachsamer Beobachter. Durch eigenes Versagen, aber auch dank der Taktiken opponierender Kräfte – wie dies am Beispiel des Priesters Popiełuszko und seiner Gottesdienste für die Nation herausgearbeitet wurde – übernahmen die Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes trotz allem auch immer wieder die Funktion theatraler Akteure. Daneben lassen sich auch andere Funktionäre des Staates als wichtige Glieder theatraler Akte der Opposition definieren. So wurden beispielsweise Sicherheitskräfte der polnischen Miliz – wie dies hier anhand der Happenings der Orangen Alternative gezeigt wurde – durch ihr Eingreifen in die Protestakte opponierender Kräfte zu einem ungewollten, aber wichtigen Teil der theatralen Aktionen. Auf der inhaltlichen Ebene des Handlungsvollzugs der opponierenden Akteure ließ sich eine starke Bindung der Protestierenden zur Vergangenheit ihres Landes sowie die daraus resultierende Verbundenheit zur katholischen Kirche konstatieren. Durch den Einsatz von Erinnerungsfiguren wie Symbolen, Liedern und literarischen Texten wurden diese Elemente demonstriert und zugleich ihrer Situation entsprechend aktualisiert. Insbesondere die Zeit der Dreiteilung Polens im 19. Jahrhundert, aber auch die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs waren hier wichtige Bezugsfelder. Diese Manifestation des kulturellen Gedächtnisses hat es den Opponierenden ermöglicht, nicht nur ihre Identität als Gruppe und somit ihre Zusammengehörigkeit zu stärken, sondern sich auch nach außen – dem Regime und seinen Anhängern gegenüber – als handlungsfähiges Subjekt zu positionieren. Neben dieser religiös-patriotischen Ausrichtung konnten auch humorvolle und ironische Inhalte festgestellt werden, die insbesondere durch die Happenings der Orangen Alternative zur Aufführung kamen. Diese basierten vor allem auf dem Aufzeigen der Absurdität des Alltags im kommunistischen Polen und distanzierten sich somit, auch durch einen spielerischen Umgang mit Geschichtsereignissen, von der ideologischen und ernsten Ausrichtung der Gewerkschaft.

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Auf der Achse der zeitlichen Perspektive konnten ebenfalls wichtige Erkenntnisse gewonnen werden: Während zunächst Streiks erfolgreich zur Einschreibung ihrer Ausführenden in die sinnliche Sphäre genutzt wurden – wie dies anhand des Auguststreiks in Danzig gezeigt wurde –, stellte sich diese Form des theatralen Protestes mit der Einführung des Kriegsrechts in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1981 aufgrund gewaltsamer Übergriffe des Regimes als zu gefährlich heraus. Die Einführung des Kriegszustandes und das damit einhergehende Verbot der Solidarność lassen sich somit als eine wichtige Zäsur für den öffentlichen Protest betrachten. Dieses Vorgehen der Machthaber zwang nämlich die opponierenden Kräfte nach 18 Monaten legaler Tätigkeit einerseits erneut in den Untergrund, andererseits zu neuen Strategien, sich sicht- und hörbar zu machen. Insbesondere visuelle und auditive Aktionen, wie das Ausstellen von symbolischen Requisiten oder das Singen von selbstgeschriebenen Liedern antistaatlichen Inhalts – zum einen seitens einzelner Mutiger aus der Bevölkerung, zum anderen seitens inhaftierter Personen aus dem Kreis opponierender Kräfte – konnten in der ersten Phase des Kriegsrechts ausgemacht werden. Daneben etablierten sich in der ersten Hälfte der 1980er Jahre, vornehmlich aufgrund der Initiative des Priesters Popiełuszko, Gottesdienste für die Nation als öffentlicher Ausdruck von Protest. Da Versammlungen im Rahmen der Kirche vom Versammlungsverbot des Militärischen Rates ausgenommen waren, fanden immer mehr, auch ungläubige Menschen den Weg in Kirche, um auf diese Weise ein Zeichen ihres NichteinverstandenSeins zu setzen. Daneben sind Gedenkfeierlichkeiten offiziell nicht begangener Ereignisse der polnischen Geschichte als ein wichtiger Ausdruck opponierender Einstellung dieser Zeit vorgestellt worden. Anhand des Gedenkens der Opfer von 1970 ist die Entwicklung solcher Protestformen zu einem ritualisierten Handlungsvollzug gezeigt worden, bei dem die bereits während des Danziger Auguststreiks etablierten Elemente übernommen und zu einem festen Bestandteil konstituiert wurden. Wie hierbei dargelegt wurde, ließ sich bis 1987 ein Schwund der Bereitschaft der breiten Bevölkerung am Begehen solcher Gedenkfeierlichkeiten und anderer in ähnlicher Weise vollzogener Protestakte der Solidarność, die stets zwischen nationalen und religiösen Elementen changierten, konstatieren. In dieser Zeit waren es vorwiegend Gruppierungen junger Aktivisten, welche die Massen zum Protest motivierten.

DAS AUSHANDELN VON SICHT- UND SAGBARKEIT

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Durch die Etablierung des Happenings als Protestform, die sich sowohl in der Form als auch in den Inhalten von den Aktionen der Solidarność unterschied, konnte aufgezeigt werden, dass sich seit 1987 insbesondere die Orange Alternative zu einem wichtigen Motor für neue Proteste, die den Verlust von Ängsten vor der Miliz anzuregen und Menschen zum Erscheinen in der Öffentlichkeit zu ermutigen vermochten, entwickelte. Auf diese Weise bereitete die Bewegung den Nährboden für den Runden Tisch unter der Federführung der Solidarność-Elite. Neben der Euphorie, welche die Verhandlungen am Runden Tisch auslösten, waren auch Stimmen der Unzufriedenheit innerhalb der polnischen Gesellschaft vernehmbar, da die Solidarność nicht allen Gruppierungen die Möglichkeit gab, Gesandte in die Gespräche zu schicken oder mitbestimmen zu können, wer das Volk am Runden Tisch vertreten dürfe. Solche Stimmen riefen wiederum neue Protestformen hervor, die sich nicht mehr gegen den Kommunismus, sondern vielmehr gegen die scheinbare Demokratie der neu entstandenen Solidarność-Elite richtete. Auch an diesen war die Orange Alternative beteiligt. Somit lässt sich anhand der hier untersuchten Aushandlung der Sichtund Hörbarkeit opponierender Kräfte resümierend festhalten, dass die öffentlichen Proteste, welche durch einen hohen Grad an Theatralität gekennzeichnet sind, nicht nur eine Gegenöffentlichkeit erzeugten, sondern auch die Positionierung opponierender Kräfte als ein zum Handeln fähiges Subjekt im Sinne Rancières bewirkten und somit die Regierung mehrfach zum Einlenken zwangen. Aus diesem Grund leisteten sie einen entscheidenden Beitrag zum politischen Umbruch Polens im Jahr 1989 und können somit zu den konstitutiven Faktoren der Wende gezählt werden.

T HEATRALITÄT

UND

P ROTEST

Obwohl Wojciech Jaruzelski bei den Verhandlungen am Runden Tisch auf die Beibehaltung der Inhaltszensur und des Parteimonopols der Medien pochte, um den Einfluss des Staates auf die öffentliche Meinung beibehalten zu können, erkämpfte die Opposition die Reaktivierung des verbotenen Tygodnik Solidarność sowie die Erlaubnis für die Zeit des Wahlkampfs, eine Tageszeitung, die bereits genannte Gazeta Wyborcza, herausgeben zu

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können.1 Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus kam es schließlich endgültig zur Demonopolisierung der Massenmedien. Am 11. April 1990 beschloss der polnische Sejm einstimmig die Aufhebung der Zensur. Der Weg für eine autonome Öffentlichkeit war frei. Auch wenn die Akteure nun die Positionen wechselten – von Opponierenden zu Regierenden – und die Grundbedingungen der Massenmedien eine Veränderung erfuhren, blieben die von Jacques Rancière erarbeiteten Mechanismen des Kampfes um Sicht- und Sagbarkeit jedoch bestehen. Ein Anfang hierzu ist bei den bereits angesprochenen Verhandlungen am Runden Tisch auszumachen, an denen nur bestimmte Personen aus dem Kreis der Solidarność teilnahmen, andere, ebenfalls wichtige Stimmen der Opposition, jedoch ignoriert wurden. Diese Tendenz lässt sich bis in heutige Tage beobachten, trotz eines demokratischen Systems und des mit diesem garantierten freien Zugangs zu den Medien. Die einstigen Verbündeten kämpfen nun gegeneinander und versuchen, sich der einst gemeinsam erlangten Sichtbarkeit zu berauben. So ist die Jubiläumsfeierlichkeit zum 30. Jahrestag der Gründung der ersten freien Gewerkschaft im kommunistischen Ostblock im Jahr 2010 als eine solche Aushandlung von Sicht- und Hörbarkeit beispielhaft zu betrachten. Unter dem Motto „Es begann in Danzig“ trafen am 30. August in Gdingen die Gründungsmitglieder und heutige wie ehemalige Aktivisten der Solidarność zu einem Jubiläumskongress zusammen, um der Leistungen der Gewerkschaft zu gedenken.2 In diesem Rahmen – einer typischen Versammlungsebene, wie Gerhards und Neidhardt sie definiert haben – ist die seit Jahren andauernde Auseinandersetzung zwischen dem nationalkonservativen und dem liberal-konservativen Lager einmal mehr deutlich geworden, und das obwohl die Führungspersönlichkeiten dieser Parteien

1

Vgl. Paczkowski 1997, S. 44.

2

Vgl. hierzu u.a.: Eklat beim Solidarnosc-Jubiläum. In: Focus Online vom 31.08.2010,

http://www.focus.de/politik/ausland/polen-eklat-bei-solidarnosc-

jubilaeum_aid_547464.html (zuletzt aufgerufen am 25.11.2010); Zerstrittene Helden. In: sueddeutsche.de vom 31.08.2010, http://www.sueddeutsche.de/ politik/jahre-solidarno-zerstrittene-helden-1.994280 (zuletzt aufgerufen am 25.11.2010); Jäger-Dabek, Brigitte: Solidarnosc wird 30: Die Helden sind zerstritten und müde In: Das Polen Magazin vom 31.08.2010, http://www.daspolen-magazin.de/solidarnosc-30-helden-zerstritten-muede/ (zuletzt aufgerufen am 25.11.2010).

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einst gemeinsam unter dem Dach der Solidarność gekämpft hatten. Sehr deutlich zeigte sich das beim Auftritt der Amtsinhaber. Jarosław Kaczynski, der Chef der national-konservativen Oppositionspartei PiS (Prawo i Sprawiedliwość = Recht und Gerechtigkeit), wurde schon beim Betreten der Kongresshalle mit Beifall gefeiert. Während seiner anschließenden Rede, in der er u.a. gegen seine politischen Gegner polemisierte,3 erhielt er tosenden Applaus. Den liberal-konservativen Regierungschef Donald Tusk und seinen Parteikollegen, den heutigen Ministerpräsidenten Bronisław Komorowski, der sich in den diesjährigen Präsidentschaftswahlen gegen Jarosław Kaczynski durchgesetzt hatte, pfiff die Mehrheit der im Saal Anwesenden dagegen aus und erschwerte durch Buh-Rufe die Verständlichkeit der Rede beider Akteure. Der Grund für dieses Verhalten des Publikums kann wohl damit erklärt werden, dass die heutige Solidarność politisch durchweg in der Nähe der PiS beheimatet ist und die Wahl Kaczyńskis, der in der von der Solidarność in den 1980er Jahren wiederbelebten Tradition des national-religiösen-Paradigmas verhaftet ist, unterstützte. Das hier geschilderte Verhalten des Publikums animierte Henryka Krzywonos-Strycharska, die im August 1980 mitten in Danzig auf dem Platz an der Oper die von ihr gefahrene Straßenbahn der Linie 15 angehalten und so einen wichtigen Beitrag zum Solidaritätsstreik geleistet hatte, dazu, unaufgefordert die Rednerbühne zu betreten und das Publikum, aber 4 auch Kaczyński, an die Bedeutung des Wortes Solidarność zu erinnern. Das Wort verpflichte schließlich, so lässt sich ihr Auftritt resümieren, respektvoll miteinander umzugehen anstatt sich gegenseitig zu beschimpfen. Während ihres Auftritts wurde mehrmals versucht, Krzywonos-Strycharska am Sprechen zu hindern. So versuchte nicht nur das Publikum, mit Pfiffen und Buh-Rufen die Worte der Frau unhörbar zu machen, auch der Solidarność-Vorsitzende Janusz Śniadek bemühte sich mehrmals, der einstigen Straßenbahnführerin das Mikrophon zu entreißen und sie so am Äußern ihrer Meinung zu hindern. Sie bleib jedoch standhaft und ließ sich das Wort

3

Ausschnitte

der

Rede

sind

zu

finden

auf

http://www.youtube.com/

4

Siehe hierzu die Filmaufzeichnungen des Auftritts von Henryka Krzywonos-

watch?v=PEJPJ9LN5l4&feature=related (zuletzt aufgerufen am 18.11.2010). Strycharska: http://www.youtube.com/watch?v=RPp4CkNUIzs (zuletzt aufgerufen am 18. 11. 2010).

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nicht nehmen, was sie immer wieder betonte: „Moment, lasst mich ausreden, dann könnt ihr pfeifen. Ich lasse mich nicht übertönen! [...] Nach dreißig Jahren möchte ich endlich das sagen, was ich zu sagen habe.“5 Diese erkämpften Worte wurden nicht nur von den im Saal Anwesenden vernommen, durch die Anwesenheit der Massenmedien sind sie auf der ganzen Welt hörbar und der Auftritt Krzywonos-Strycharska sichtbar gemacht worden. Waren in den 1980er Jahren noch Straßen, Vorplätze von Fabrikhallen und Kirchengebäude diejenigen Orte, auf welchen Sicht- und Sag- bzw. Hörbarkeit in Polen ausgehandelt wurde, so verlagerte sich das Geschehen mit dem politischen Wandel auf das Terrain der Massenmedien. Wer Zugang zu ihnen hat, wird mit ihrer Hilfe gehört, wer nicht, muss besonders hart um den Raum des Sinnlichen kämpfen. Theatrale Strategien sind dabei weiterhin beliebt. Ein Aufsehen erregender Auftritt sichert die Präsenz in den Massenmedien. Aus diesem Grund versuchen Akteure, sich immer wieder durch entsprechende Auftritte Präsenz auf der von Gerhards und Neidhardt postulierten wirksamsten Ebene zur Erzeugung von Öffentlichkeit zu verschaffen. So machen sie ihre Meinung hörbar und haben am politischen Geschehen teil. Ein solches Verhalten findet selbstverständlich nicht nur in Polen statt, sondern lässt sich vielerorts beobachten. Als jüngste Beispiele solchen Aushandelns um Sicht- und Sagbarkeit können z.B. die Protestaktionen der ukrainischen Frauen-Organisation FEMEN gesehen werden, die durch öffentliche Entblößung ihres Oberkörpers u.a. gegen Sextourismus und Prostitution in Kiew demonstrieren. Auch politische Flash-Mobs können hierzu gezählt werden, wie diejenigen der EURIZONS-Aktivisten. Diese versuchen mit ihren Aktionen europaweit auf die globale, soziale und ökonomische Ungleichheit Aufmerksamkeit zu schaffen, an das Verantwortungsgefühl des Einzelnen zu appellieren sowie die politischen Handlungsträger zu aktivieren. Ich hoffe, mit meiner interdisziplinär ausgerichteten Arbeit nicht nur neue Erkenntnisse zum polnischen Umbruch von 1989 geboten zu haben, sondern auch eine Anregung sowohl für die Theaterwissenschaft als auch für die Zeitgeschichte zu leisten, miteinander zu kooperieren und nicht nur transdisziplinär, sondern auch interdisziplinär stärker zusammenzuarbeiten. Der Theatralitätsbegriff ist hierbei eine wichtige Brücke, um die Bedeutung

5

Ebd.

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von Strategien des Aushandelns von Sich- und Sagbarkeit in der Öffentlichkeit und ihrer jeweiligen Funktionsweisen in bestimmten historischen Kontexten erforschen zu können und sie als konstituierende Faktoren für gesellschaftliche Vorgänge mit zu berücksichtigen. Für die Zeitgeschichte bedeutet das sicherlich neben ihrem Fokus auf Faktizität, Geschichte auch unter dem Aspekt des ästhetischen Ereignisses zu berücksichtigen. Für die Theaterwissenschaft bedeutet es, verstärkt nach dem Theatralen in gesellschaftlichen Kontexten zu suchen, seine Wirksamkeit in bestimmten historischen Situationen zu erforschen, denn auch diese bergen Kreativität, die Genese von Bedeutungen und ein Zusammenspiel von Akteuren und Zuschauern. Öffentliche Protestformen wie Demonstrationen, Streiks oder Manifestationen mit den hier vorgestellten Mitteln der Theatralität zu untersuchen, bedeutet auch, sich einen komparatistischen Ansatz zu ermöglichen. So können nicht nur einzelne Beispiele analysiert werden, sondern auch eine Grundlage zum Vergleich von Protestformen in unterschiedlichen Zeiten und Ländern unter die Lupe genommen werden, um Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede herauszuarbeiten.

Zeittafel

1956 3. Juni In Posen werden Arbeiterunruhen gewaltsam niedergeschlagen.

1968 3. März Anlässlich des Verbots der Inszenierung der Ahnenfeier in der Regie von Kazimierz Dejmek kommt es in Warschau zu Studentenprotesten, die sich auf ganz Polen ausbreiten.

1970 16. Dezember Werftarbeiter in Danzig beginnen einen Streik aufgrund von Fleischpreiserhöhungen. Arbeiter in anderen Küstenstädten – Gdingen, Stettin und Elbing – folgen ihnen. Diese Streiks werden blutig niedergeschlagen.

1976 25 . Juni Aufgrund von drastischer Erhöhung der Preise für Grundnahrungsmittel kommt es zu Unruhen in den industriellen Zentren Radom und Ursus bei Warschau.

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3. September Aufgrund der Ereignisse vom 25. Juni wird von Intelektuellen das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) gegründet.

1977 16. Dezember Künftige Gründer der WZZ Wybrzeże (dt. Freie Gewerkschaften der Küste) gedenken zum ersten Mal der Opfer von 1970 vor Tor Nr. 2 der LeninWerft in Danzig.

1978 April Gründung von WZZ Wybrzeże am 29. April.

1980 14. August Auf dem Gelände der Lenin-Werft in Danzig bricht ein Streik aus. Die Arbeiter fordern die Wiedereinstellung Anna Walentynowiczs sowie Lohnerhöhung. 17. August Ausrufung des Überbetrieblichen Solidaritätsstreiks. Gründung des Überbetrieblichen Streikkomitees unter der Leitung von Lech Wałęsa. 30. August In Stettin wird das erste Streikübereinkommen zwischen Regierungsunterhändlern und Streikenden geschlossen. 31. August Übereinkommen zwischen dem Überbetrieblichen Streikkomitee mit Vertretern der Regierung in Danzig. 17. September Die Gewerkschaft „Solidarność“ wird gegründet.

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9. Oktober Der im Exil lebende Schriftsteller Czesław Miłosz, dessen Werke in Polen von der Zensur verboten sind, erhält den Nobelpreis für Literatur. 7. Dezember Der Dokumetarfilm zum Danziger Auguststreik Robotnicy’80 wird zum ersten Mal öffentlich gezeigt. 16.-18. Dezember In den Küstenstädten Danzig, Gdingen, Stettin und Elbling finden Feierlichkeiten zu Ehren der Opfer von 1970 statt. Vor der Werft in Danzig wird ein Denkmal zu ihren Ehren enthüllt.

1981 12. Mai Die Bauerngewerkschaft Land-Solidarität wird registriert. 28. Mai Primas Stefan Wyszyński stirbt. 31. Juli Der Sejm verabschiedet am 31. Juli 1981 das Gesetz zur Kontrolle von Publikationen und Aufführungen, laut welchem der Zensureingriff im Text angemerkt werden muss. 13. Dezember General Wojciech Jaruzelski erklärt den Kriegszustand in Polen. Die Gewerkschaft Solidarność wird verboten und die meisten Aktiven interniert. 14. Dezember In der Wojewodschaft Katowice kommt es in den Zechen Wujek, Manifest Lipcowy, Lenin, Staszic und anderen zu Arbeitsniederlegungen und Okkupationsstreiks, die gewaltsam niedergeschlagen werden.

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1982 Januar Zum ersten Mal zelebriert Jerzy Popiełuszko die Heilige Messe für die Nation in der Stanisław-Kostka-Kirche in Warschau. 12. April Das Untergrundradio Radio Solidarność geht zum ersten Mal für achteinhalb Minuten in Warschau auf Sendung.

1983 19. Mai Begräbnis des von der Miliz am 14. Mai lebensgefährlich verletzten Grzegorz Przemyk. 16.- 23. Juni Papst Johannes Paul II. besucht Polen. 5. Oktober Lech Wałęsa wird der Friedensnobelpreis zuerkannt.

1984 19. Oktober In der Nähe von Toruń wird Priester Jerzy Popiełuszko von drei Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes ermordet. 3. November Begräbnisfeier von Jerzy Popiełuszko, an der ca. 500 000 Menschen teilnehmen.

1987 1. Juni Erstes Happening der Orangen Alternative findet auf der Świdnicka Straße in Breslau statt.

ZEITTAFEL | 273

8.-14. Juni Papst Johannes Paul II. besucht Polen zum dritten Mal seit seiner Wahl zum Oberhaupt der katholischen Kirche.

1989 6. Februar In Warschau beginnen die Gespräche am Runden Tisch. 17. April Legalisierung der Gewerkschaft Solidarność. 8. Mai Die erste Ausgabe der Gazeta Wyborcza erscheint unter der Leitung von Adam Michnik. 4. Juni Die ersten „halbdemokratischen“ Wahlen seit der Einführung des kommunistischen Regimes finden statt. 24. August Der polnische Sejm wählt den Berater der Solidarność Tadeusz Mazowiecki zum Ministerpräsidenten.

1990 11. April Der Sejm beschließt einstimmig die Aufhebung der Zensur.

Literatur- und Quellenverzeichnis

P UBLIZIERTE Q UELLEN Aparat Represji wobec księdza Jerzego Popełuszki 1982-1984. Hg. von Instytut Pamięci Narodowej. Warszawa 2009. Chrostowski, Waldemar: Świadectwo. Dokumenty. Innsbruck 1991. Czarna księga cenzury PRL. Bd. 1/2. London 1977/1978. Dokumenty Komitetu Obrony Robotników i Komitetu Samoobrony Społecznej „KOR“. Hg. von Andrzej Jastrzębski. Warszawa/Londyn 1994. Gdańsk Grudzień ’70. Rekonstrukcja, dokumentacja, walka z pamięcią. Hg. von Instytut Pamięci Narodowej. Gdańsk 2009 . Gdańsk. Sierpień ’80. Rozmowy. Hg. von Andrzej Drzycimski und Tadeusz Skutnik. Gdańsk 1990. Karnawał z wyrokiem. Solidarność 1980-1981. Hg. von Ośrodek KARTA. Warszawa 2005. Kenney, Padraic: Wrocławskie zadymy. Wrocław 2007. Kto tu wpuścił dziennikarzy. Hg. von Marek Miller. Warszawa 2005. Opozycja demokratyczna w Polsce 1976-1980. Wybór dokumentów. Hg. von Zygmunt Hemmerling und Marek Nadolski. Warszawa 1994. Pomarańczowa Alternatywa. Rewolucja Krasnoludków. Warszawa 2008. Popiełuszko, Jerzy: An das Volk. Predigten und Überlegungen 1982-1984. Hg. von Franciszek Blachnicki. Düsseldorf 1985.

276 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

Popiełuszko, Jerzy: Kazania patriotyczne. Paris 1984. Popiełuszko, Jerzy: Zapiski. Listy i wywiady ks. Jerzego Popiełuszki 19671983. Hg. von Gabriel Bartoszewski. Warszawa 2009. Portrety niedokończone. Rozmowy z twórcami „Solidarności“ 1980-1981. Hg. von Janinia Jankowska. Warszawa 2003. Punkt. Almanach gdańskich środowisk twórczych. Gdańsk 1980. Stan Wojenny. Ostatni Atak Systemu. Hg. von Ośrodek KARTA. Warszawa 2006. Stan wojenny w dokumentach PRL. Hg. von Instytut Pamięci Narodowej. Warszawa 2006 Tajne dokumenty Biura Politycznego. PZPR a „Solidarność“ 1980-1981. Hg. von Zbigniew Włodek. Londyn 1992. Tajne dokumenty państwo – Kościół. Londyn/Warszawa 1993. Trybek, Zbigniew: Oni Tworzyli Solidarność. Gdańsk 2000. Tage der Solidarität. Hg. von Stiftung KARTA. Warszawa 2005. Periodika Gazeta Wyborcza Polityka Trybuna Ludu

A RCHIVDOKUMENTE Archiwum Opozycji KARTA A/1. 1 Międzyzakładowy Komitet Strajkowy. A/1. 4 Kalendaria strajkowe. A/1. 5 Informatory, Komunikaty, Biuletyny i Materiały Prasowe. A/4. 1 Kościół Katolicki w Polsce wobec strajów sierpniowych.

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A/5. 1 PZPR wobec strajków robotniczych 1980 r. A/11. 1 Stanowisko Kościoła Katolickiego w Polsce wobec NSZZ „Solidarność“ i sytuacji w kraju. A/11. 2 Działania wobec NSZZ „Solidarność“. A/22. 2 Materiały i dokumenty dotyczące działalności NSZZ „Solidarność“ w roku 1980. A/13. 19 NSZZ „Solidarność“ – Struktury Branżowe – Komisja Krajowa Pracowników Filmu NSZZ „Solidarność“. A/12. 12. 36 Zespół d/s Działalności Kulturalnej NSZZ „Solidarność“ Region Mazowsze. A/12. 12. 24. 7 Kultura. AO IV/55. 4 Stan Wojenny. Internowania. Dokumenty ogólnopolskie. AO IV/59. 1 Materiały ogólne. AO IV/59. 2 Sytuacja środowisk twórczych w stanie wojennym. AO IV/189. 2 Stan Wojenny. Demonstracje i strajki. AO IV/232. 2 Dokumenty życia codziennego. AO IV/233. 5 Oficjalne Materiały Propagandowe. AO V/189. 5 Stan Wojenny. Demonstracje i strajki. AO V/189. 8 Stan Wojenny. Demonstracje i strajki. AO/197. 6 Czerwiec 1956 / Rocznice. III. 28. 1 Lech Wałęsa – Dokumety dotyczące osoby Lecha Wałęsy.

Archiwum Instytutu Pamięci Narodowej Danzig AIPN GD 003/196 t.1-2: Sprawa objektowa krypt. „DUET“. AIPN GD 003/243: Sprawa objektowa krypt. „Splin“.

278 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

AIPN GD 0027/3839 t. 1-6: „Federacja“ dot. Federacja młodzieży walczącej. AIPN GD 0027/3840: „BIS“ dot. Federacja młodzieży walczącej. AIPN GD 0027/3842 t.1-14: „Alternatywa“ – Federacja młodzieży walczącej. AIPN Gd 013/334 t. 1-4: Materiały dotyczące akcji. Krypt. “Zorza II”. AIPN GD 0046/349 t.9: Operacyjne zabezpieczenie obchodów 1 MAJA 1980 r. AIPN GD 0046/364 t. 1-2: Sierpień ’80. AIPN GD 0046/364 t. 3: 1. Maj. AIPN GD 0046/364 t. 7: Grudzień 1978,1979,1980. AIPN GD 0046/538: Informacje dot. sytuacji społeczno-politycznej w woj. gd. m.in. kolportażu ulotek; środowisk opozycyjnych, manifestacji Federacji Młodzieży Walczącej, KPN; NZS; protestów przeciwko budowie elektrowni w Żarnowcu. AIPN Gd 77/10 t.1-2: Akta śledztwa w sprawie zbiegowiska publicznego w Gdańsku w dniu 16.12.84 r. AIPN GD 253/9056: Karkowska Hanna. AIPN GD 299/274: Społeczne Komitety Budowy Pomników „Poległych Stoczniowców 1970“ w Gdańsku oraz „Ofiar Grudnia ’70“ w Gdyni. AIPN GD 362/6: Sprawozdania z przebiegu działań w październiku 1982 r. AIPN GD 387/168: Teczka rozpoznania – krypt. „1 Maja“. AIPN GD 411/1 t. 1-3: Sprawa operacyjnego rozpracowania kryptonim „Suwnicowa“ dotycząca dzialalności w NSZZ „Solidarność“. AIPN GD 467/4-7: Sprawa objektowa kryptonim „Żądło“ dotycząca Komitetu Obywatelskiego „Solidarność“. AIPN GD 528/81: GAZETA WYBORCZA wojewódzkiego komitetu obywatelskiego w Koszalinie.

LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS | 279

Film-, Foto- und Tonaufzeichnungen AIPN GD 072/14 t. 4: Nagrania opozycji z lat osiemdziesiątych: 1. Ostatnie homilie ks. Jerzego Popiełuszki, 2. Ostatnie homilie ks. Jerzego Popiełuszki. AIPN GD 072/14 t.15: Nagrania opozycji z lat osiemdziesiątych: „Zielona Wrona“. Obozowe Piosenki z Łukowa i Gołdapi. AIPN GD 319/3: Obchody 3. Maja przed kościołem. AIPN GD 319/4: Przemówienie Lecha Wałęsy 27.04.1986 r. AIPN GD 334/2: Gdańsk, pomnik poległych stoczniowców, składanie kwiatów przez Lecha Wałęsę, pochód w stronę ul. Łagiewinki i ul. Wały Piastowskie, 16.12.1985. AIPN GD 334/3: Obchody rocznicy wydarzeń grudniowych (msza w kościele św. Brygidy, manifestacja przed kościołem, ul. Łagiewinki) – Gdańsk, 16.12.1984 r. AIPN GD 334/4: Wizyta Papieża Jana Pawła II w 1987 r. (Gdynia, ul. 10 Lutego, Skwer Kościuszki, port Gdański, Długi Targ, plac ks. ZatorPrzytockiego, pomnik Poległych Stoczniowców. AIPN GD 334/5: Wizyta Papieża Jana Pawła II w Gdyni i Gdańsku 1112.06.1987 r. AIPN GD 334/6: Wizyta Papieża w Gdańsku-Zaspie 11.06.1987 r. AIPN GD 334/10: Gdańsk, manifestacja na ul. Rajskiej, na Długim Pobrzeżu 14.08.1988 r. AIPN GD 334/17: Gdańsk, strajk w Stoczni Gdańskiej, wiec przy bramie stoczni i pomniku poległych stoczniowców, rourzucanie ulotek, przybycie Henryka Jankowskiego, Paweł Adamowicz na czele NZS, pochód przez ul. Łagiewniki z udziałem Henryka Jankowskiego i Dariusza Kobzdeja, demonstracja przed kościołem św. Brygidy, 01.09.1988. AIPN GD 334/21: Gdańsk, Długi Targ, ul. Długa, manifestacja “Solidarności Walczącej” i KPN przed ratuszem, wystąpienie Andrzeja Gwiazdy, koncert na Długim Targu, 01.05.1989 r.

280 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

AIPN GD 334/24: Gdańsk, plac Zebrań Ludowych, koncert w muszli koncertowej, okolicznościowe wiersze, poczty sztandarowe, oficjalne wystąpienia, przedstawiciele władz (m.in. Jerzy Andrzejewski) i weteranów, odśpiewanie “Międzynarodówki”, 01.05.1989. AIPN GD 334/25: Gdańsk, plac Solidarności, obchody rocznicy wydarzeń grudniowych pod pomnikiem poległych stoczniowców, składanie kwiatów, śpiewanie pieśni, wystąpienia (m.in. Lech Wałęsa, Alojzy Szablewski), 16.12. 1988 r. AIPN Gd 481/t. 1-5: Dokumentacja forograficzna z kościoła św. Brygidy w Gdańsku. AIPN GD 481/32: Wystąpienie ks. Henryka Jankowskiego w dniu 03.05.1984 r.

Breslau AIPN WR 20/94: Akta dochodzenia/śledztwa p-ko Aleksandrowi Ż ebrowskiemu. AIPN WR 20/96: Akta w sprawie karnej o-ko Mariuszowi Babiakowi. AIPN WR 024/8872 t. 1: Kapała Ewa. AIPN WR 024/8872 t. 2: Ponulak Małgorzata. AIPN WR 024/8872 t. 3: Dąbrowska Zusanna. AIPN WR 024/8872 t. 4: Skiba Jolanta. AIPN WR 024/8872 t. 5: Sprawa operacyjnego rozpracowania „Elipsa“ tom II. AIPN WR 024/8872 t. 6: Sprawa operacyjnego rozpracowania „Elipsa“ tom IV. AIPN WR 024/8872 t. 7: Sprawa operacyjnego rozpracowania „Elipsa“ tom III. AIPN WR 024/8872 t. 8: Sprawa operacyjnego rozpracowania „Elipsa“ tom I.

LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS | 281

AIPN WR 024/8883: Sprawa operacyjna rozpracowania „Medium“. AIPN WR 024/8888: Sprawa operacyjnego rozpracowania „Błękitni“. AIPN WR 33/533: Akta prokuratora w sprawie p-ko Babiakowi Mariuszowi. AIPN WR 042/178: Sprawa operacyjnego Sprawdzenia Kryptonim „Tęcza“. AIPN WR 50/250: Akta tymczasowo aresztowanego-skazanego: Fydrych Waldemar. AIPN WR 053/2522 t. 1: Informacje dzienne 1.01.- 30.06.1987. AIPN WR 053/2522 t. 2: Informacje dzienne 1.07.- 31.12.1987. AIPN WR 053/2523 t. 1-4: Informacje dzienne WUSW kierowane do ministra SW w 1988r. AIPN WR 054/138: Wydział III. AIPN WR 054/348: Informacje dzienne 01-06 ’89 Wydziału III SB we Wrocławiu. AIPN WR 054/540: Sprawa operacyjna rozpracowania „Medium“. AIPN WR 054/1006: Pomarańczowa Alternatywa – Materiał. AIPN WR 142/10: Happening „Pomarańczowej Alternatywy“ 1987-1988.

Archiwum Zakładu Narodowego im. Ossolińskich Pomarańczowa Alternatywa I-2, t. 1, lata 1981-1987. Pomarańczowa Alternatywa I-2, t. 2, lata 1988-1990.

Archiwum Solidarności Gdańsk Biuletyn Informacyjny Solidarność (später: Biuletyn Informacyjny MKZ Gdańsk), Robotnik.

282 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

Rozwaga i Solidarność. Strajkowy Biuletyn Informacyjny. Tygodnik Mazowsze. Audioaufzeichnung zur Enthüllung des Denkmals für die Opfer von 1970 in Danzig: „Odsłonięcie Pomnika Poległych Stoczniowców, Gdańsk 16.12.1980r.“.

Narodowe Archiwum Cyfrowe RWE/14667/0 Przywracanie porządku. RWE/6206/0 Jak kształtowała się „Solidarność“. RWE/5541/0 Strajki sierpniowe 1980. RWE/6117/0, 1, 2 Jak kształtowała się „Solidarność“. RWE/6186/0 Jak kształtowała się „Solidarność“. RWE/6195/0 Jak kształtowała się „Solidarność“. RWE/13575/0 Program specjalny. RWE/13660/0 Program specjalny. RWE/13758/0 Stocznia Gdańska – Sierpień 1980 r. RWE/13883/0 Radio Solidarność. RWE/13661/0 Program Specjalny. RWE/6252/2 Jak kształtowała się „Solidarność“. RWE/10818/0 Różne wypowiedzi. RWE/6831/0 Strajki robotnicze 1980. RWE/6136/1, 2 Jak kształtowała się „Solidarność“. RWE/13113/0 Relacja z obchodów 1 Maja. RWE/5542/0 Polski sierpień.

LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS | 283

RWE/7046/1, 4 Polski sierpień. RWE/7072/0 Audycja radia Solidarność Gdańsk.

Archiwum Akt Nowych Warszawa (kurz AAN) AAN, KC PZPR 4799.

F ÜR

DIESE

A RBEIT

DURCHGEFÜHRTE I NTERVIEWS

Alle Interviews wurden im März 2009 durchgeführt. Folgende Zeitzeugen und Akteure der von mir fokussierten Ereignisse konnten als Interviewpartner gewonnen werden: Jerzy Kiszkis Andrzej Kołodziej Zenon Kwoka Halina Winiarska Krzysztof Wyszkowski

L ITERATURVERZEICHNIS Aristoteles: Politik. Hamburg 1990. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. New York 1955 Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München. 2010. Arnold, Sabine R., Christian Fuhrmann und Dietmar Schiller: Hüllen und Masken der Politik. Ein Aufriß. In: Dies. (Hg.): Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert: Zur Sinnlichkeit der Macht. Wien/Köln 1998, S. 7-24. Ash, Garton Timothy: The Polish Revolution. London 2002.

284 | THEATRALER PROTEST UND DER WEG POLENS ZU 1989

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D OKUMENTARFILME Ballada o strajku. Regie: Piotr Bikont, Leszek Dziumowicz. Video Studio Gdańsk. Bogdan i inni. Regie: Krzysztof Tchórzowski. Video Studio Gdańsk. Dzieci stanu wojennego. Regie: Jerzy Afanasjew. Video Studio Gdańsk. Grudniowy zmierzch. Regie: Anna Mydlarska. Video Studio Gdańsk. Inny Sierpień. Regie: Piotr Bikont, Leszek Dziumowicz. Video Studio Gdańsk.

LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS | 303

...i wjechał czołg. Regie: Iwona Bartólewska. Video Studio Gdańsk. Ksiądz Jerzy. Regie: Marian Terlecki. Video Studio Gdańsk. Od opozycji do władzy. Regie: Ireneusz Engler. Video Studio Gdańsk. Opowieści okrągłego stołu. Regie: Piotr Bikont, Leszek Dziumowicz. Video Studio Gdańsk. Padł na ulicy Gdańska. Regie: Ewa Górska. Video Studio Gdańsk. Polskie drogi do niepodległości – „Solidarnośc. Regie: Anna Mydlarska, Andrzej Dorniak. Video Studio Gdańsk. Pomarańczowa Alternarywa Wrocław 1988. Regie: Mirek Dembiński. Filmhochschule Łódz. Robotnicy ’80. Regie: Andrzej Chodakowski und Andrzej Zajączkowski. Wytwórnia Filmów Dokumentalnych. Solidarność. Regie: J. M. Meurice. Video Studio Gdańsk. Solidarność żyje. Regie: Włodzimierz Resiak. Video Studio Gdańsk. Video Studio Gdańsk. Uderzyć w aktora. Regie: Małgorzata Ziętkiewicz. Video Studio Gdańsk. Walka o pomniki Grudnia 1970. Regie: Anna Mydlarska. Video Studio Gdańsk.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1 Fotograf unbekannt; Archiwum Opozycji KARTA, Warschau. Abb. 2 Witold Górka; Archiwum Opozycji KARTA, Warschau. Abb. 3 Witold Górka; Archiwum Opozycji KARTA, Warschau. Abb. 4 Fotograf unbekannt; Archiwum Opozycji KARTA, Warschau. Abb. 5 Adam Szymański; Archiwum Opozycji KARTA, Warschau. Abb. 6 Tomasz Sikorski. Abb. 7 NAF „Dementi“, Breslau.

Theater Nina Birkner, Andrea Geier, Urte Helduser (Hg.) Spielräume des Anderen Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater Juli 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1839-6

Eckhard Mittelstädt, Alexander Pinto (Hg.) Die Freien Darstellenden Künste in Deutschland Diskurse – Entwicklungen – Perspektiven Mai 2012, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1853-2

Ulf Otto Internetauftritte Eine Theatergeschichte der neuen Medien März 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2013-9

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Theater Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen März 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1408-4

Jens Roselt, Ulf Otto (Hg.) Theater als Zeitmaschine Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven Juni 2012, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1976-8

Wolfgang Schneider (Hg.) Theater und Migration Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis 2011, 236 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1844-0

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Theater Johanna Canaris Mythos Tragödie Zur Aktualität und Geschichte einer theatralen Wirkungsweise 2011, 370 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1565-4

Nicole Colin Deutsche Dramatik im französischen Theater nach 1945 Künstlerisches Selbstverständnis im Kulturtransfer 2011, 784 Seiten, kart., mit CD-ROM, 55,80 €, ISBN 978-3-8376-1669-9

Susanne Valerie Granzer Schauspieler außer sich Exponiertheit und performative Kunst. Eine feminine Recherche 2011, 162 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1676-7

Eva Krivanec Kriegsbühnen Theater im Ersten Weltkrieg. Berlin, Lissabon, Paris und Wien Januar 2012, 380 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1837-2

Adam Czirak Partizipation der Blicke Szenerien des Sehens und Gesehenwerdens in Theater und Performance

Artur Pelka, Stefan Tigges (Hg.) Das Drama nach dem Drama Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland seit 1945

Februar 2012, 326 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1956-0

2011, 494 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1488-6

Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Politisch Theater machen Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten

Katharina Pewny Das Drama des Prekären Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance

2011, 186 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1409-1

Andreas Englhart, Artur Pelka (Hg.) Junge Stücke Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater April 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1734-4

Ralph Fischer Walking Artists Über die Entdeckung des Gehens in den performativen Künsten

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Jens Roselt, Christel Weiler (Hg.) Schauspielen heute Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten 2011, 268 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1289-9

Jenny Schrödl Vokale Intensitäten Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater April 2012, 319 Seiten, kart., mit CD-ROM, ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1851-8

2011, 316 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1821-1

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Lars Koch, Christer Petersen, Joseph Vogel (Hg.)

Störfälle Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2011

2011, 166 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-1856-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 10 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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