Ortsregister: Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart [1. Aufl.] 9783839419687

Spätestens seit dem »Spatial Turn« hat die Geistes- und Sozialwissenschaften ein neues Interesse an der Räumlichkeit ges

200 108 1MB

German Pages 320 [318] Year 2014

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Ortsregister: Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart [1. Aufl.]
 9783839419687

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Asyl
Augmented Reality
Banlieue
Bildungslandschaft
Borderlands
Business Improvement District
Castor
Cloud
Coworking Space
Dark Room
Deponie
Diaspora
Evakuierungszone
Fanmeile
Finanzparkett
Forum
Friedwald
Gated Community
Geocache
in vitro
Kiez
Krisenregion
Kritische Infrastruktur
Labor
Lager
Land Grabbing
Lounge
Maquiladora
Nano
Niemandsland
Offshore
Outdoor
Palette
Quarantäne
Rechenzentrum
Reservat
Resort
Spa
Spekulationsblase
Stall
Standort
Terminal
Toleranzgebiet
Übertragungsweg
Vertikale Farm
Zelt
Autorinnen und Autoren
Abbildungsverzeichnis

Citation preview

Nadine Marquardt, Verena Schreiber (Hg.) Ortsregister

Sozialtheorie

Nadine Marquardt, Verena Schreiber (Hg.)

Ortsregister Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Nadine Marquardt, Verena Schreiber, Julian Stenmanns Korrektorat: Hüseyin Demir, Bielefeld Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Aalexx Buchproduktion GmbH, Großburgwedel ISBN 978-3-8376-1968-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung Nadine Marquardt und Verena Schreiber | 9

Asyl Claudia Wucherpfennig | 19 Augmented Reality Paul Gebelein | 26 Banlieue Mélina Germes und Andreas Tijé-Dra | 32 Bildungslandschaft Anika Duveneck | 39 Borderlands Marc Boeckler | 44 Business Improvement District Robert Pütz | 50 Castor Armin Grunwald und Peter Hocke | 57 Cloud Suzana Alpsancar | 64 Coworking Space Iris Dzudzek | 70 Dark Room Nina Schuster | 76 Deponie Anselm Wagner | 83 Diaspora Juliane Karakayali | 89 Evakuierungszone Leon Hempel | 95 Fanmeile Bernd Belina | 102 5

Finanzparkett Andreas Langenohl | 107 Forum Natascha Adamowsky | 113 Friedwald Jürgen Hasse | 119 Gated Community Georg Glasze | 126 Geocache Verena Schreiber | 133 in vitro Ute Kalender | 138 Kiez Gisela Welz | 144 Krisenregion Benedikt Korf und Conrad Schetter | 148 Kritische Infrastruktur Andreas Folkers | 154 Labor Sonja Palfner | 160 Lager Daniel Loick | 166 Land Grabbing Stefan Ouma | 171 Lounge Jürgen Hasse | 178 Maquiladora Christian Berndt | 185 Nano Andreas Lösch | 192 Niemandsland Matthew Hannah | 199 Offshore Ute Tellmann | 206 Outdoor Antje Schlottmann | 211 Palette Monika Dommann | 217 Quarantäne Henning Füller | 224 Rechenzentrum Sonja Palfner und Gabriele Gramelsberger | 231

6

Reservat Michael Flitner | 237 Resort Karlheinz Wöhler | 243 Spa Alma-Elisa Kittner | 250 Spekulationsblase Susanne Heeg | 256 Stall Martina Schlünder | 262 Standort Anika Duveneck und Sebastian Schipper | 268 Terminal Jörg Potthast | 273 Toleranzgebiet Jenny Künkel | 280 Übertragungsweg Lukas Engelmann | 287 Vertikale Farm Yusif Idies | 293 Zelt Nadine Marquardt und Andreas Folkers | 300

Autorinnen und Autoren | 307 Abbildungsverzeichnis | 315

7

Einleitung

Es gibt viele Register. Zumeist handelt es sich um alphabetisch geordnete Verzeichnisse, in denen die unterschiedlichsten Sachverhalte möglichst systematisch, ordnungsgemäß und lückenlos registriert werden. Den enzyklopädischen Anspruch der Lückenlosigkeit verfolgt das vorliegende Ortsregister nicht. Einer gewissen Systematik folgt es aber durchaus: Es ist ein Verzeichnis, in das nur solche Orte eingetragen wurden, deren Begehung auch eine Annäherung an die vielfältigen räumlichen Muster und Verflechtungen der Gegenwart verspricht. Das Ortsregister nimmt seinen Feldzugang an 46 Orten gleichzeitig auf und macht hier die vieldeutigen Spuren der Techniken und Diskurse unserer Wirklichkeit sichtbar. Mit diesem Vorgehen schlägt das Glossar einen Zugriff auf Raum und Räumlichkeit vor, der die üblichen Auseinandersetzungen und die Arbeitsteilung zwischen forschungspraktischen Anwendungen von Raumkategorien einerseits und allgemeinen Debatten über die richtige Raumtheorie andererseits unterläuft. Jenseits allgemeiner Erzählungen über den Zusammenhang von Gesellschaft, Kultur und Raum und auch jenseits rein metaphorischer Bezugnahmen auf Raumbegriffe richten die Beiträge den Blick auf eine Vielzahl alltäglicher und unbekannter, umstrittener und umkämpfter, verheißungsvoller und exklusiver Räume und Orte. Über die Zusammenschau dieser ganz unterschiedlichen Schauplätze entsteht zwischen ihnen ein gewundener Pfad, der durch kulturelle Konflikte, gesellschaftliche Paradoxien und deren Bearbeitung hindurch führt. Ein neues Interesse an der Räumlichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse und kultureller Konstellationen hat die Geistes- und Sozialwissenschaften spätestens seit dem spatial turn erfasst und prägt seither empirische Forschungsagenden, theoretische Debatten und Kritiken der Gegenwart. Geographien der globalen Arbeitsteilung, der Erinnerung, der Exklusion, der Finanzmärkte, des Geschlechts, der Gesundheit, der Kindheit, des Klimawandels, des Konsums oder der Migration werden ausgekundschaftet, Räume der Sicherheit, des Tourismus, der Ästhetik, des Widerstands, der Wissensproduktion oder der Zirkulation durchquert und kartiert – die Liste reicht von geopolitischen Dimensionen bis weit hinein in die Sphären des Intimen, sie umspannt unterschiedliche

9

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Disziplinen und ließe sich endlos fortsetzen. Auch an konzeptionellen Auseinandersetzungen mit dem Zusammenhang zwischen sozialen Beziehungen, kultureller Bedeutungsproduktion und Räumlichkeit herrscht kein Mangel. Mindestens ebenso zahlreich wie Arbeiten, die eine forschungspraktische Fokussierung auf raumbezogene Fragen vornehmen, sind Beiträge, in denen nicht nur unterschiedliche Raumbestimmungen vorgenommen werden, sondern auch das gegenwärtige Interesse am Raum kritisch reflektiert und um ein »richtiges« Raumverständnis gerungen wird. Gespeist und beflügelt werden sowohl die forschungspraktische Privilegierung des Raums als auch die disziplinübergreifenden Auseinandersetzungen über eine angemessene Raumtheorie nicht zuletzt durch den Rückgriff auf eine Reihe philosophischer Theorien, die Kategorien des Raums und der Räumlichkeit in den Mittelpunkt gerückt haben. Vor allem poststrukturalistische Ansätze wie auch die Theorien des Politischen, die aktuell in den Sozial- und Geisteswissenschaften rezipiert werden, sind reich an räumlichen Evokationen. In vielen Fällen gilt: keine Arbeit zu politischen Geographien des Ein- und Ausschlusses ohne Rückgriff auf Agamben, keine Auseinandersetzung mit der Räumlichkeit von Machtverhältnissen ohne Foucault, kein Insistieren auf der Materialität von Raum ohne Deleuze, keine Untersuchung von epistemischen Räumen und den räumlichen Bedingungen von Wissensproduktion ohne Latour etc. Raum als eine Nahtstelle gesellschaftlicher Beziehungen in den Blick zu nehmen, ist auch die Absicht des Ortsregisters, das Räume und Orte der Gegenwart in einer Publikation zusammenführt. Das Ortsregister ist nicht der erste Versuch, eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart in Form von Essays in einem Glossar zusammenzutragen. Bereits 1979 versammelte Jürgen Habermas in zwei Bänden die Stichworte zur »Geistigen Situation der Zeit«. Das im Jahr 2004 erschienene Glossar der Gegenwart von Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke mit seinem Fokus auf unterschiedliche Leitbegriffe der Gegenwart hat vorgeführt, wie fruchtbar eine Forschungsperspektive des »indirekten Zugangs« sein kann, die nicht versucht, die Gesellschaft auf ein einziges Organisationsprinzip zurückzuführen. In den letzten Jahren sind etliche weitere Werke entstanden, die die Idee eines Glossars in unterschiedlicher Weise aufgegriffen haben. Auch Räume und Orte wurden bereits in Register eingetragen, wie in Stephan Harrisons, Steve Piles und Nigel Thrifts Patterned Ground von 2004, das sich die Aufgabe gab, anhand von über hundert Begriffen der Komplexität von Natur-Kultur-Beziehungen nachzugehen. Die Suche nach einem Zugang zur Gegenwart realisiert das vorliegende Ortsregister mit 46 Ortsbegehungen. In dieser Vorgehensweise greift es den zeitdiagnostischen Anspruch anderer Glossare auf und verbindet ihn mit der geographischen Sensibilität für die analytische Relevanz von Räumlichkeit, die in Werken wie Patterned Ground aufgezeigt wird. Das Ortsregister schlägt vor, die gesellschaftliche Wirklichkeit gewissermaßen transversal anzugehen und an ganz unterschied10

Einleitung

lichen Orten den vielgestaltigen Konstellationen nachzuspüren, aus denen sich die Erfahrung der Gegenwart zusammensetzt. Die Beiträge des Ortsregisters finden auf verschiedenen Wegen zu ihrem Gegenstand. Sie durchqueren nicht nur Räume und Orte, sondern bewegen sich auch durch unterschiedliche disziplinäre Felder gegenwärtiger Wissenschaftslandschaften und geben Einblick in aktuelle Theoriedebatten. Die Beiträge machen Halt an Orten, die täglich betreten und mit Leichtigkeit passiert werden können (der Kiez, S. 144), von deren Existenz wir noch nicht einmal etwas wissen müssen, während wir uns in ihnen aufhalten (der Business Improvement District, S. 50). Sie nähern sich Orten, die überraschende Begegnungen ermöglichen (der Dark Room, S. 76), die den Alltag für einen Augenblick unterbrechen sollen (das Spa, S. 250, das Resort, S. 243), die authentische Naturerfahrungen versprechen (das Outdoor, S. 211), auch wenn sie ganz und gar von uns geschaffen sind. Die Beiträge durchqueren Räume, die sich ganz der Aufgabe verschrieben haben, ihre Besucher_innen in angenehme Atmosphären einzuhüllen (die Lounge, S. 178), die eine Antwort auf die Sehnsucht nach großen Gefühlen versprechen (die Fanmeile, S. 102), die unsere gewöhnliche Raumerfahrung anreichern, uns noch mehr erleben lassen sollen (Augmented Reality, S. 26). Das Ortsregister sucht Räume und Orte auf, die Voraussetzung für alltägliche Arbeitsabläufe sind (das Rechenzentrum, S. 231), die Arbeitsweisen und Arbeitsteilungen neu organisieren (der Coworking Space, S. 70, die Maquiladora, S. 185). Viele der ausgewählten Orte sind Schauplätze gesellschaftlicher Selektion, sie sichern Privilegien (die Gated Community, S. 126), steuern Bewegungsfreiheit (das Asyl, S. 19), regulieren Grenzen (die Borderlands, S. 44). Die Beiträge zeigen die Effekte dieser Verortungs- und Entortungsprozesse auf und fragen nach dem Verhältnis von Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Identität (die Diaspora, S. 89). Das Ortsregister blickt auch auf Räume, die nicht betreten werden dürfen oder zu denen nur schwerlich Zugang gefunden werden kann – sei es, um uns vor ihnen zu schützen (die Evakuierungszone, S. 95) oder sie vor uns (das Reservat, S. 237). Es zeigt Räume, die wir so unwirtlich zurücklassen, dass manchmal nichts und niemand mehr in ihnen leben kann (das Niemandsland, S. 199) und solche Orte, die das Verworfene beherbergen, die Nebenprodukte unserer Ordnungsprozesse in sicherem Abstand halten sollen (die Deponie, S. 83), deren Verwahrung doch immer umkämpft ist (der Castor, S. 57). Das Ortsregister versucht auch solchen Räumen und Orten der Exklusion näherzukommen, die nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, die aber gerade dadurch paradigmatische Bedeutung für die Gesellschaft haben (das Lager, S. 166). Nicht zuletzt fragen die Beiträge nach den Orten, an denen wir einen Anfang nehmen (in vitro, S. 138) und an denen wir enden (Friedwald, S. 119). Das Ortsregister versammelt auch solche Raum- und Ortsbegriffe, die als »Platzhalter« in alltäglichen, politischen und auch wissenschaftlichen Ausein11

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

andersetzungen zirkulieren (die Banlieue, S. 32, der Standort, S. 268, die Bildungslandschaft, S. 39, die Krisenregion S. 148), denn in diesen Debatten findet sich eine überraschende Konjunktur verräumlichender Diskurse. Die Beiträge machen die operativen Effekte solcher Raumsemantiken sichtbar. Ob es um das vermeintliche Integrationsproblem in städtischen »Problemquartieren«, die vielbeschworene Standortkonkurrenz, die globalen Auswirkungen des Klimawandels oder um Zukunftsszenarien zu Konflikten um Ressourcen geht – Problematisierungen operieren maßgeblich im Modus der Verortung. Sowohl die im Glossar versammelten virtuellen als auch die physisch-materiellen Orte begreifen wir als gleichermaßen sozial und kulturell produziert und deshalb auch als gleichermaßen wirklich. Das Internetforum (S. 113) ist kein weniger realer Schauplatz der Verknüpfung komplexer Netzwerke als der Flughafenterminal (S. 273). Wenn uns Daten, die wir in eine Cloud (S. 64) gelegt hatten, verloren gehen, dann ist dies kein eingebildeter Verlust. Der standardisierte Raum einer Transportpalette (S. 217) macht nicht nur Waren mobil und verbindet die Orte der Produktion mit denen des Konsums, er mobilisiert auch logistisches Wissen, organisiert die Gleichzeitigkeit von Materialflüssen und Informationsströmen. Das Ortsregister fragt danach, welche Relevanz die diskutierten Räume und Orte für das Funktionieren von Gesellschaft haben, welche Diskurse sich in ihnen verdichten, welche Praktiken durch die Kopplung an Raumausschnitte legal gemacht, welche Probleme und Widersprüche an bestimmte Orte verschoben und ausgelagert oder aber auch als Inseln im Alltäglichen vertraut gemacht werden. Die ausgewählten Schauplätze lassen sich dabei nicht auf die »Materialisierung« einer ihnen wie auch immer vorgängigen Gesellschaftsordnung reduzieren. Viele der aufgesuchten Orte stimmen mitnichten ganz und gar mit den ihnen zugewiesenen Funktionen überein. Sie existieren nicht lediglich als passive Träger oder Effekte von Diskursen und Praktiken, sondern produzieren diese aktiv mit. Sie stehen nicht nur für das wechselseitige Verhältnis von gesellschaftlicher und kultureller Ordnung einerseits und räumlichen Anordnungsprozessen andererseits, sondern ebenso für Chaos, die scheiternde Bearbeitung von Konflikten, die Gleichzeitigkeit ungleicher Entwicklungen. Das Ortsregister verschafft sich Zutritt zu diesen »Brennpunkten der Erfahrung« (Foucault 2009, S. 15) und fragt nach dem unsicheren und beweglichen Boden, auf dem wir uns bewegen.

L ESE WEGE Das Ortsregister eröffnet unterschiedliche Möglichkeiten der Rezeption. Zunächst die naheliegendste: Alle Beiträge können nach Interesse jeweils für sich gelesen werden. Sie führen in aktuelle sozial- und kulturtheoretische Diskus12

Einleitung

sionen ein, schlagen Analyseperspektiven vor, geben Anregungen und werfen Fragen zum Weiterdenken auf, die weit über das Ortsregister hinausgehen. Eine weitere Möglichkeit, die Beiträge zu rezipieren, besteht darin, den Verbindungen zwischen den vielen einzelnen Räumen und Orten nachzuspüren, die im Glossar diskutiert werden – denn gerade in der Zusammenschau der Beiträge werden die vielfältigen Muster räumlicher Verflechtungen der Gegenwart sichtbar. Zwar können die 46 im Fokus stehenden Raum- und Ortsbegriffe zusammengenommen keine abschließende Darstellung des gegenwärtigen Verhältnisses von Raum, Kultur und Gesellschaft ergeben. Ein solcher vollständiger Index wäre – ähnlich wie die vermeintlich vollkommene Karte im Maßstab Eins-zu-eins aus Jorge Luis Borges’ berühmter Erzählung Von der Strenge der Wissenschaft (1982) – weder erstellbar noch sonderlich nützlich. Die Notwendigkeit einer Auswahl hat auch das Ergebnis des vorliegenden Glossars bestimmt. Einige interessante Räume und Orte fielen durch das Raster; nicht wenige Landschaften, Zonen, Gebiete und Regionen blieben unkartiert. Das Ortsregister kann nicht »alle Register ziehen«. Dennoch: Bereits zwischen den im Buch versammelten Begriffen entfalten sich komplexe Karten, die unsere Gegenwart auf unterschiedliche Weise sichtbar zu machen vermögen. Auf einige Möglichkeiten, mit Hilfe der Beiträge Routen zu wählen, Orientierungspunkte zu setzen, zwischen diesen Punkten Verbindungslinien zu ziehen und schließlich Kartographien zu entwickeln, möchten wir beispielhaft hinweisen. Eine erste Geschichte, die das Ortsregister erzählt, ist die der Angst vor Infektion und der Problematisierung von Ansteckung – elementare Motive des Regierens der Gegenwart. Der Beitrag zum Übertragungsweg (S. 287) fokussiert auf die unauflösliche Verschränkung von sozialen Räumen mit der mikrobiologischen Räumlichkeit des Virus. Auf seinem Übertragungsweg scheint der Krankheitserreger die Konturen sozialer Welten überhaupt erst sichtbar zu machen, die dann zum Ort infektionspolitischer Interventionen werden. Dass sich medizinische Begrifflichkeiten und politische Strategien wechselseitig informieren können, liegt nicht zuletzt auch an der Wissensproduktion des Labors (S. 160) und den etablierten Repräsentationsformen von Krankheit und Übertragung, die die mikroskopische Realität des Erregers und seiner Aktivitäten intelligibel machen. Moralische Diskurse und politische Strategien der Infektionskontrolle fokussieren aber nicht nur auf bestimmte Räume, denen eine ansteckungsbegünstigende Disposition unterstellt wird, sondern bringen diese auch aktiv hervor, wie die Toleranzgebiete (S. 280) für Prostitution, deren Einrichtung regelmäßig damit gerechtfertigt wird, dass hier gesundheitspolitische Kontrolle besonders gut umsetzbar sei. Wie unmittelbar Semantik und Visualisierung von Ansteckung zum Operator politischer Strategien werden können, zeigt auch die derzeit um sich greifende Politik der Kritischen Infrastruktur (S. 154), bei der ebenfalls versucht wird, Ansteckung – verstanden als die Übertragung von Störungen – zu verhindern und gefährliche Zirkulationen zu re13

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

gulieren, ohne die guten, erwünschten Zirkulationen (von Menschen, Waren, Finanztransaktionen etc.) zu unterbinden. Eine spezifische räumliche Technik der Einhegung von Übertragung, die im Kontext der Ansteckungskontrolle aktuell eine Renaissance erfährt, ist die Quarantäne (S. 224), die Zirkulationen über flexible zeit-räumliche Puffer zu regulieren versucht. Ein wesentlicher Schauplatz der Quarantäne als Bestandteil globalisierter Gesundheitspolitik ist der Terminal (S. 273), denn Flughäfen gelten den neuen Sicherheitsstrategien auch als Drehscheiben der Vervielfältigung von Verletzbarkeiten. Was sich zwischen den unterschiedlichen Beiträgen zeigt, ist eine Geschichte der Problematisierung von Ansteckung, die von mikroskopisch kleinen Realitäten bis in geopolitische Dimensionen und von Orten der Wissensproduktion zu Orten politischer Intervention reicht, die räumliche Repräsentationsformen ebenso umfasst wie räumliche Technologien der Steuerung und Kontrolle. Eine weitere Geschichte, die sich im Ortsregister zwischen den Beiträgen wiederfindet, ist die der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise. Die vielfältigen Anstrengungen von Finanzprofis, das Finanzparkett (S. 107) als einen Ort zu erzeugen, auf dem es rational zugeht und der daher möglichst wenig reguliert werden sollte, stehen seit dem Beginn der Krise im Jahr 2007 erneut in Frage. Begonnen hatte die aktuelle Krise mit dem Platzen einer Spekulationsblase (S. 256) von globalen Ausmaßen, die durch den weltweiten Handel mit subprime mortgages und entsprechender hochkomplexer Derivate entstanden war, der ohne die außerhalb der üblichen Rechtsnormen liegenden Offshore-Finanzplätze (S. 206) wohl nicht möglich gewesen wäre. Die weit verbreitete Rede von Spekulationsblasen bemüht zur Visualisierung höchst instabiler Marktsituationen das Bild der Seifenblase – ein empfindlicher Raum mit schillernder Oberfläche, der nur für wenige Augenblicke Bestand hat. Gleichwohl beeinflussen die Spekulationen mit Immobilien auf nicht nur vorübergehende Weise die physisch-materielle Gestalt urbaner Landschaften, wie etwa in Südkalifornien, wo seit 2007 tausende Zwangsräumungen durchgesetzt wurden und in einigen Städten nun ganze Nachbarschaften leerstehen. Diese neuen Geographien der Krise verändern auch das Verständnis von Krisenregionen (S. 152): »Krisen waren früher weit weg. Krisenregionen – das waren die Probleme der Anderen: Afghanistan, Irak, Somalia, Sierra Leone, Kongo, Osttimor usw.« Nun gibt es auch sogenannte Eurokrisenländer, in die interveniert wird. Neben den räumlichen Effekten der Krise werden im Ortsregister auch die räumlichen Strategien diskutiert, mit denen auf die Wirtschaftskrise reagiert wird. Die aktuelle Krise ist eine maßgebliche Triebfeder des Land Grabbings (S. 171) – eine Raumpraxis des Erwerbs von Land durch Finanzinvestoren, Konzerne und Staaten. Als spatial fix versprechen die Investitionen stabile Anlageformen; Hauptschauplatz der Privatisierung von Land sind afrikanische Staaten. Doch auch der Protest gegen die Auswirkungen der Krise bringt räumliche Strategien und neue Orte der Widerständigkeit hervor: In den Foren (S. 113) des Internets wie in den 14

Einleitung

Zelten (S. 300) der Occupy-Bewegung finden sich Raumpraktiken, die auf die Komplementarität von neuen, virtuellen Formen der Vernetzung einerseits und veränderten materiellen Praktiken der Aneignung andererseits verweisen. Im Ortsregister ist eine Geschichte der Wirtschaftskrise angelegt, die von 2007 bis heute reicht; sie macht Enteignungsökonomien sichtbar, die vom US-amerikanischen Suburbia und den verlorenen homeownership-Träumen seiner Bewohner_innen bis zur kriseninduzierten Privatisierung von Land reichen, die äthiopischen Kleinbauern ihre Ansprüche auf Landnutzung streitig macht. Im Ortsregister erscheint der Raum des globalen Kapitalismus nicht als homogenglatter Raum des Empire, sondern als vielfältig verschachtelt, fragmentiert und hierarchisiert, hervorgebracht von einer Krisendynamik, die nicht aufgelöst, sondern nur ständig (und sehr konkret räumlich) verschoben werden kann (Harvey 1982). Ein dritter Leseweg nimmt den schmalen Pfad durch das Dickicht der Naturund Kulturverhältnisse. Er führt an Orten entlang, an denen Natürlichkeit und kulturelle Gemachtheit von Natur immer schon untrennbar verflochten sind. Im Outdoor (S. 211) begegnen wir Naturraum-Fiktionen, die mit ihrem Versprechen einer »Wiedererlangung von äußerer und innerer Natur« das Gegenbild zum städtischen Arbeitsalltag und seinen beschleunigten Lebensbedingungen auf das Äußerste strapazieren. Natur scheint eines jener Dinge zu sein, derer wir zwar nicht habhaft werden, die wir aber auch nicht einfach nicht begehren können. Sie ist Quelle einer Sehnsucht nach authentischer Erfahrung, die trotz aufwändiger sozio-technischer Arrangements, wie etwa dem Geocache (S. 133), unerfüllt bleibt – auch wenn wir sie mit größter Anstrengung räumlich zu greifen und zu kontrollieren versuchen. So ist das Reservat (S. 237) ein eindringliches Beispiel dafür, dass gerade der vermeintliche Schutz eines Gebiets Praktiken seiner Räumung und Reinigung voraussetzt. Noch mehr irritiert die Vorgabe des Bewahrens, wenn es Bevölkerungsgruppen sind, die zu ihrem eigenen Schutz in eine ihnen zugewiesene Natur ausinkludiert werden. Die immer neuen Anstrengungen, dem Potenzial der Natur auf die Schliche zu kommen, zeigen sich auch im wissenschaftlichen Vordringen an immer unmöglichere Orte. Der Zwerg-Ort Nano (S. 192) bildet derzeit den maßgeblichen Möglichkeitsraum, unbegrenzte Phantasien einer technischen Neugestaltung der Welt freizusetzen. In der Nanotechnologie zeigen sich Visionen von Zukunftsräumen, deren Größe in ihrer Kleinheit liegt – je kleiner, umso omnipräsenter, umso wirtschaftlicher. Neue in vitro-Techniken (S. 138) entorten das Fortpflanzungsgeschehen aus dem geschlechtlichen Körper und verorten es im Labor. Das hier freiwerdende Potenzial einer De-Naturalisierung entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als ein Vorgang, der auch gesellschaftliche Vorstellungen von »natürlicher« Geschlechtlichkeit und Heterosexualität unterläuft und sichtbar machen kann, dass Fortpflanzung auch jenseits des Labors (S. 160) ein immer schon sozial-natürliches Ereignis ist. Solchen Laboratorien der Herstellung neuer Natur-Kultur-Verhält15

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

nisse begegnen wir auch dort, wo wir sie vielleicht gar nicht vermuten würden. Einige der Tierställe (S. 262) in den Bergen um Davos etwa beherbergen nicht einfach Schafe, sie sind vielmehr Räume der Herstellung neuartiger tierischer Existenzweisen. Die Ställe sind Schauplatz umfangreicher Verfahren, mit denen Schafe in geeignete Versuchstiere für die Unfallchirurgieforschung verwandelt werden und damit auch Orte der Hervorbringung komplexer Tier-Mensch-Beziehungen. Die im Ortsregister angelegte Geschichte der Neuordnung von NaturKultur-Verhältnissen durch Forschung und Technologieentwicklung führt nicht nur durch die winzig kleinen Welten von Nanoröhren, Reagenzgläsern und Tierknochenfasern. Sie zeigt sich ebenso in großangelegten Zukunftsvisionen der Raumplanung. Im architektonischen Höhenrausch der Vertikalen Farm (S. 293) feiert das Prinzip der Vertikalität die Überwindung der Natur, »während es sich zugleich der zur ›zweiten Natur‹ gewordenen Vergesellschaftung unterwirft, indem es die Verknappung des Raums vorauseilend als natürliche anerkennt und eine vermeintlich notwendige Verdichtung verspricht«. Die drei hier ausgewählten Lesewege sind bei Weitem nicht die einzigen, die es im Ortsregister zu entdecken gibt. Je nach Interesse kommen andere Verbindungen und neue Zusammenhänge zwischen den einzelnen Beiträgen in den Blick. Wir laden jede Leserin und jeden Leser ein, sich selbst auf die Suche nach weiteren Geschichten zu machen, die zwischen den Beiträgen wie Karten liegen, die darauf warten, entfaltet zu werden. Dass diese andere Kartographie geschrieben werden konnte, verdankt sich insbesondere den 47 Autorinnen und Autoren, die mit uns auf Spurensuche gegangen sind und bereit waren, ihre Funde auf eine im gängigen Wissenschaftsbetrieb unkonventionelle und doch so bereichernde Weise in Form von Essays zu teilen. Unser großer Dank gilt Julian Stenmanns und Martin Temmen, die von den ersten Begriffssammlungen bis zur Überarbeitung der Druckfahnen am Buch mitgewirkt haben – ohne sie hätten wir das Ortsregister nicht realisieren können. Unentbehrlich für die Konzeption des Buchprojekts war außerdem die nahezu tägliche Unterstützung durch Andreas Folkers und Jens Schreiber. Gerne danken wir auch dem transcript Verlag, der die Idee für das vorliegende Buch so umfassend unterstützt hat. Nadine Marquardt und Verena Schreiber

L ITER ATUR Borges, Jorge Luis (1982), Von der Strenge der Wissenschaft, in: Borges und ich, Gesammelte Werke Band VI, München: Hanser Verlag. Bröckling, Ulrich, Susanne Krasmann und Thomas Lemke (Hrsg., 2004), Glossar der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 16

Einleitung

Foucault, Michel (2009), Die Regierung des Selbst und der anderen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (Hrsg., 1979), Stichworte zur »Geistigen Situation der Zeit«, 2 Bände, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Harrison, Stephan, Steve Pile und Nigel Thrift (Hrsg., 2004), Patterned Ground. Entanglements of Nature and Culture, London: Reaktion Books. Harvey, David (1982), The Limits to Capital, Oxford: Blackwell.

17

Asyl

»Dublin II bedeutet, sie spielen Fußball mit uns, schießen uns von einem Land ins nächste, sie spielen mit uns und verschwenden unsere Zeit.«1 »In dem Lager kannst du nichts machen – nur schlafen und essen. Dabei dachte ich, in Deutschland kann ich endlich zur Schule gehen.«2 Diese beiden Zitate finden sich in Aufrufen zu aktuellen Kampagnen, mit denen Flüchtlingsinitiativen, Menschenrechtsorganisationen und Aktivist_innen für die sozialen Rechte von Flüchtlingen eintreten. Die Kampagnen richten sich gegen innereuropäische Abschiebungen in Transitländer, in denen Haft, Obdachlosigkeit oder Kettenabschiebung drohen, beziehungsweise fordern gleiche Schul-, Aus- und Weiterbildungsrechte für junge Flüchtlinge sowie ein dauerhaftes Bleiberecht. Seit einigen Jahren gehen immer mehr Flüchtlinge auch in Deutschland an die Öffentlichkeit, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen und gegen Diskriminierungen aufzubegehren. Sie kämpfen für ein Recht auf gesellschaftliche Teilhabe und gegen soziale und räumliche Isolation. Sie kämpfen gegen ein Abdrängen in die Illegalität, für ausreichende gesundheitliche Versorgung, gegen die Unterbringung in anonymen und peripher gelegenen Sammellagern, für einen Zugang zum regulären Arbeitsmarkt und vieles mehr. Die Kampagnen und Initiativen verweisen auf zahlreiche staatlich verordnete Benachteiligungen, denen Flüchtlinge heutzutage ausgesetzt sind. Schon ein kursorischer Blick auf solche Aktivitäten zeigt, dass das (politische) Asyl kein Ort ist, der zielgerichtet aufgesucht und einfach gefunden werden kann. Vielmehr beschreibt es ein Feld gesellschaftlicher Konflikte und Auseinandersetzungen – ein Feld, auf dem um Definitionen, Kompetenzen und Zuständigkeiten ebenso gerungen wird, wie Identitäten, Lebensbedingungen und Wahrheiten verhandelt werden. Dabei hatte es in der BRD mit der Idee der Flüchtlingsaufnahme und des Flüchtlingsschutzes einmal ganz anders angefangen: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.« (Art. 16 Abs. 2 GG) Mit diesem einfachen Satz zogen die »Eltern« der bundesdeutschen Verfassung Ende der 1940er Jahre Konsequenzen

19

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus. Keinem Menschen, dem irgendwo auf der Welt staatliche Verfolgung, Folter oder Tod droht, sollte in Deutschland Zuflucht verwehrt werden. Als individuelles, gerichtlich einklagbares Grundrecht wurde dem staatlichen Schutz von Flüchtlingen Verfassungsrang eingeräumt. Die Reichweite des Asylrechts wies damit über die Bestimmungen anderer Staaten und völkerrechtliche Konventionen hinaus. Die Umsetzung und Verwirklichung des Asylrechts erwies sich allerdings als weitaus komplexer und brüchiger, als es der einfache Wortlaut des Asylartikels vermuten ließ. Im Verlauf der vergangenen 60 Jahre hat sich die Gestalt des Asylrechts grundlegend verändert – und einem Großteil derjenigen, die heute in Deutschland Asyl suchen (soweit sie es überhaupt bis hierher schaffen), wird dieser Ort der Zuflucht verwehrt. Denn das menschenrechtliche Prinzip, dem das individuell einklagbare Recht auf Asyl folgte, stand stets in Konflikt mit dem Prinzip der territorial verfassten Staatssouveränität, der zweiten Säule des modernen Asyls (Noiriel 1994). Auch in der Bundesrepublik Deutschland, die sich nie als Einwanderungsland verstehen wollte und dies bis heute nicht so recht tut, war und ist Migrations- und Flüchtlingspolitik eng verknüpft mit Fragen der nationalen Identität und der inneren Sicherheit und Ordnung. Dies zeigt sich spätestens ab Mitte der 1970er Jahre (und damit kurz nach dem Anwerbestopp für »Gastarbeiter«), als steigende Flüchtlingszahlen nicht nur Anlass für erste populistische Asyldebatten, sondern ebenso für zahlreiche Gesetzesverschärfungen waren. Mit der Einführung befristeter Arbeitsverbote für Asylsuchende, dem Konzept des »offensichtlich unbegründeten Asylantrags« oder auch der Beschränkung der Bewegungsfreiheit unter dem vornehmen Namen der »Residenzpflicht« wurden zu Beginn der 1980er Jahre wichtige Instrumente geschaffen, die der Abschreckung dienen und die Lebensbedingungen von Asylsuchenden erheblich erschweren sollten (Heck 2008, S. 74f.). Doch der erwartete Effekt blieb aus. Flucht und Migration sind eben nicht einfach an- und abstellbar wie ein Wasserhahn, wie uns ein geflügeltes Wort heute lehrt. Vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des »Ostblocks« und beginnender Kriege im damaligen Jugoslawien stieg die Zahl der Asylanträge Ende der 1980er Jahre erheblich an. Ausländerfeindliche Parolen und rassistische Übergriffe weiteten sich aus, Lichterketten hatten dem wenig entgegenzusetzen. Die politische Antwort war der »Asylkompromiss« von 1992/93: Qua Verfassungsänderung wurde das Recht auf Asyl in den neu geschaffenen Artikel 16a verbannt und durch das Konzept der »sicheren Herkunftsstaaten« und die Drittstaatenregelung ergänzt. Flüchtlingen, die über Länder einreisen, in denen sie Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention erhalten können, wurde die Einreise nach Deutschland in der Regel verwehrt, der Zugang zu einem geordneten Asylverfahren wurde erheblich erschwert. Die Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes bedeutete zudem massive Einschränkungen im Lebensalltag von Asylsuchenden und Geduldeten. Sachleistungen in Form von 20

Asyl

Gutscheinen oder Essenspaketen beziehungsweise Geldleistungen, die etwa ein Drittel unter dem heutigen Hartz IV-Niveau liegen (und im Gesetz immer noch in D-Mark angegeben sind), sind nur ein Beispiel dafür. Auch Heranwachsende sind davon nicht ausgenommen. Hierfür sorgte vor allem die Vorbehaltserklärung der BRD zur UN-Kinderrechtskonvention. Als die Bundesrepublik die Konvention 1992 unterschrieb, insistierte sie darauf, dass keine der Bestimmungen ihr Recht beschränke, Gesetze und Verordnungen über die Einreise und Aufenthaltsbedingungen von Ausländer_innen zu erlassen und überhaupt »Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern zu machen« (BRD 1992). In einem performativen Akt wurden somit zehntausende Kinder und Jugendliche zu Ausländer_innen gemacht und aus zentralen Schutzbestimmungen der Konvention ausgeschlossen. Erst 2010 wurde dieser politisch wie juristisch höchst umstrittene Vorbehalt zurückgenommen, weitere rechtliche Konsequenzen wurden daraus allerdings nicht abgeleitet. Für Minderjährige gelten nach wie vor weitestgehend die gleichen restriktiven Bestimmungen wie für erwachsene Asylsuchende. Die prekären rechtlichen und materiellen Lebensbedingungen bedeuten oft (Re-)Traumatisierung, zumindest aber soziale Isolation und immer wieder Beschämung. Unter diesen Verhältnissen entwickeln die Heranwachsenden vielfältige Strategien, um nicht den Verdacht zu erwecken, »anders« oder gar unerwünscht zu sein. Während der Sommerferien werden da schon einmal Reiseführer gewälzt, um später vom tollen Urlaub berichten zu können – von einem Urlaub, der nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern allein schon wegen der Residenzpflicht nicht angetreten werden konnte. Im Zuge seiner Wirksam-Werdung hat sich der (utopische) Ort des politischen Asyls als ein heterotoper Raum entfaltet – als ein Raum, der von zahlreichen Grenzziehungen, Hierarchisierungen, Ein- und Ausschlüssen durchzogen ist, mittels derer gesellschaftliche Widersprüche bearbeitet und zu glätten versucht werden. Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Joseph Vogl (2002, S.  170) hat diese Entwicklung einmal als ein »doppeltes Verschwinden des Asyls« und als »Asylierung des Politischen« bezeichnet: Entscheidungen über das »Politische« im Begriff der »politischen Verfolgung« wurden an Gesetzgebungsverfahren delegiert, in denen zum Beispiel pauschal bestimmt wird, welche Staaten als sicher gelten. Polizeiliche Wege wurden gestärkt, und mit Gemeinschaftsunterkünften, Abschiebegefängnissen und exterritorialen Internierungslagern auf Flughäfen wurden »ausgeschlossene Orte der Einschließung« (ebd., S. 169) geschaffen, in denen soziale Rechte so gut wie ausgesetzt sind. Ihr Äquivalent und ihre Fortführung auf EU-Ebene fand diese »Asylierung des Politischen« in zahlreichen Abkommen und Verordnungen, die im Zuge der Formierung eines europäischen Grenzregimes in Kraft traten. Schengenabkommen und Dublin II-Verordnung sind zwei wesentliche Stichworte für eine 21

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Politik, deren Grundsätze auch hier Abschottung, Externalisierung und Vorverlagerung heißen (Hess und Tsianos 2003). Der Abbau der Binnen- und eine verstärkte Kontrolle der EU-Außengrenzen (die in diesem Prozess erst zu solchen wurden) gehören ebenso dazu wie die Einrichtung europaweiter Informationssysteme zur Registrierung und Überwachung von Migrant_innen, der Aufbau der Grenzschutzagentur Frontex oder Assoziations- und Rückübernahmeabkommen mit EU-Anrainerstaaten. Es wurde ein »Mehrfachgrenzraum« (ebd.) geschaffen, in dem nationalstaatliche und EU- beziehungsweise Schengengrenzen durch ein flexibles Netz weiterer Grenzpunkte und -linien ergänzt werden. In den vergangenen Jahren ist viel über die Bedeutung des »Asylkompromisses« und der Europäisierung des Grenzregimes gestritten worden. Einige Kritiker_innen sprechen von der »Festung Europa« sowie einer faktischen Abschaffung des Rechts auf Asyl und verurteilen eine Kriminalisierung von Migrant_innen durch diese Abschottungspolitik. Die »Gegenseite«, beispielsweise die Bundesregierung und hier vor allem das Innenministerium und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, betont dagegen die Notwendigkeit, Zuwanderung zu regulieren und zu begrenzen. »Tatsächlich Verfolgten« müsse großzügig Schutz gewährt werden, zugleich gelte es aber, »Missbrauch und Fehlentwicklungen« zu verhindern (BAMF 2012). Immer wieder wird die im europäischen Vergleich hohe Schutzquote in der BRD hervorgehoben und darauf verwiesen, dass Deutschland nach Frankreich das zweitgrößte Hauptaufnahmeland für Asylsuchende in der EU sei (ebd.). Menschenrechtsorganisationen rügen indes eine rigide Anerkennungs- und Abschiebepraxis und warten mit ganz anderen Zahlen auf. So ergebe sich ein völlig anderes Bild, wenn die absoluten Asylantragszahlen in Relation zur Einwohner_innenzahl gesetzt werden; bei dieser Rechnung liegt Deutschland lediglich im Mittelfeld der 27 EU-Staaten, weitaus höhere Quoten haben vor allem kleinere Staaten zu verzeichnen (Pro Asyl 2011). Wie aber lassen sich die beschriebenen Entwicklungen und die Position(en) von Migrant_innen und Flüchtlingen in diesem Kontext theoretisch fassen? In den kritischen Sozialwissenschaften hat sich zu dieser Frage eine lebhafte Debatte entfaltet, deren Pole grob als »Disziplinierung« versus »Autonomie der Migration« umrissen werden können. Der Erziehungswissenschaftler Joachim Schroeder (2003) beispielsweise beschreibt die Bedeutungsverschiebung des Asyls als eine »Einkerkerung des Flüchtlingsraums«. Mit Rückgriff auf Goffmans Konzept der »Totalen Institution« und Foucaults Schriften zur Disziplinargesellschaft konzipiert er die Sphäre des Asyls als einen transnationalen »totalen Raum«, in dem zentrale Merkmale des Panoptismus (vereinfacht: eines allgegenwärtigen Kontroll- und Überwachungssystems) wirksam werden. Durch Kontrolltechnologien wie neue Formen der Grenzsetzung und -überwachung, permanente Registrierungen und Klassifizierungen von Migrant_innen oder auch eine »politische Inbesitznahme des Körpers«, zum Bei22

Asyl

spiel durch das Einspeisen von Fingerabdrücken in europäische Datenbanken, werde ein »transnationales Einkerkerungsgewebe« (ebd., S. 387) konstituiert, das einer umfassenden und effizienten Verteilung, Überwachung und Sanktionierung der Individuen dient. Die Handlungen der Flüchtlinge werden in dieser Lesart als in hohem Maße von den Strukturen determiniert betrachtet (ebd., S. 380). Das Konzept der »Autonomie der Migration« betont dagegen die Handlungsfähigkeit und die in Netzwerke eingebundenen beharrlichen Praxen von Migrant_innen, welche die Abschottungsbestrebungen der EU unterlaufen. In dieser Perspektive geht es darum, einer Kriminalisierung wie einer Viktimisierung von Migrant_innen entgegenzutreten und deterministische Perspektiven auf Flucht und Migration (und die Grenzen zwischen diesen Markierungen) zu hinterfragen. Dem Konzept ist vielfach vorgehalten worden, trotz gegenteiliger Absicht Migrationsbewegungen zu romantisieren und zu verklären. In einer kritischen Weiterentwicklung – aus einer intersektionalen Perspektive auch unter dem Begriff der »Eigensinnigkeit der Migration« (Benz und Schwenken 2005) – gewinnt die Analyse von Kräfteverhältnissen an Gewicht. Ziel ist es hier, die Bedingungen und Wechselwirkungen zwischen staatlicher und institutioneller Migrationskontrolle einerseits sowie Dynamiken und Kämpfen der Migration andererseits zu analysieren, ohne Machtverhältnisse und soziale Positionierungen – auch innerhalb migrantischer Netzwerke – aus dem Blick zu verlieren. In dieser Lesart sind Migrant_innen und Flüchtlinge ohne Zweifel direkten wie indirekten Restriktionen und Diskriminierungen ausgesetzt und mit einem produktiven »System der Limitierung, Differenzierung, Hierarchisierung und partiellen Inklusion von Migrantengruppen« konfrontiert (Bojadžijev und Karakayali 2007, S. 204). Gleichwohl sind sie den Strukturen nicht einfach ausgeliefert; es kommt immer auf die konkreten Bedingungen und Verhältnisse an, so banal das erst einmal klingen mag. Dies führt zurück zu den zahlreicher und lauter werdenden Aktionen und Kampagnen von Flüchtlingsgruppen und -initiativen. In der eingangs erwähnten Kampagne »BILDUNG(S)LOS!« beispielsweise3 fordern Jugendliche ohne Grenzen (JOG), ein 2005 gegründeter bundesweiter Zusammenschluss von jugendlichen Flüchtlingen, »gleiches Recht auf Bildung, Arbeit und Chancengleichheit auch für Flüchtlinge«. Auf ihrer Homepage machen JOG deutlich: »Unsere Arbeit folgt dem Grundsatz, dass Betroffene eine eigene Stimme haben und keine ›stellvertretende Betroffenen-Politik‹ benötigen. Wir entscheiden selbst, welche Aktionsformen wir wählen, und auch, wie wir diese durchführen.« Mit dieser Haltung eröffnen sich JOG – ähnlich wie andere Initiativen – neue Räume im Feld des Asyls; Räume, in denen es nicht darum geht, sich allerorts markieren, diskriminieren und (de-)platzieren zu lassen, sondern eigene (Orts-)Register zu ziehen. Zeitgleich kämpfen JOG auf einem anderen Feld: Zwei von ihnen sind derzeit akut von Abschiebung nach Dagestan bedroht. 23

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Hier konkretisiert sich die Rede vom »Es kommt auf die konkreten Bedingungen an«. Das deutsche Wort Asyl ist dem griechischen ásylon entlehnt. Hier bedeutete es das Gegenteil von sylon (Raub, Beraubung, Beute), nämlich »unberaubt, sicher, unverletzt und unverletzlich« sein (Vogl 2002, S.  165). Für die große Mehrheit der Asyl-Suchenden bleibt dieser Ort heutzutage unerreicht – für viele wird er zur Dystopie, für andere bleibt er Utopie. Wo dieser Ort der Zuflucht liegen könnte, beschreibt in der ebenfalls eingangs erwähnten Dublin II-Kampagne eine eritreische Frau, die kurz vor einem Gespräch mit Aktivist_innen die griechische Insel Lesbos erreicht hatte: »Ich kann nun klar sehen wie Europa ist, dass es seine Armeen sendet, um uns auf dem Meer zu bekämpfen und uns in schreckliche Gefängnisse steckt. Wir müssen gemeinsam eine zweite Reise beginnen. Eine Reise zu einem anderen sicheren Ort, der vielleicht in Zukunft existieren wird.«4 Claudia Wucherpfennig

A NMERKUNGEN 1 2 3 4

| | | |

www.dublin2.info (Juli 2012) www.jogspace.net (Juli 2012) siehe Anmerkung 2 siehe Anmerkung 1

L ITER ATUR Benz, Martina und Helen Schwenken (2005), Jenseits von Autonomie und Kontrolle: Migration als eigensinnige Praxis, PROKLA 36(3), S. 363-377. Bojadžijev, Manuela und Serhat Karakayali (2007), Autonomie der Migration. 10 Thesen zu einer Methode, in: Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, hg. v. Transit Migration Forschungsgruppe, Bielefeld: transcript, S. 203-209. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF, 2012), 45.741 Asylanträge im Jahr 2011. Pressemitteilung vom 24.01.2012, www.bamf.de/SharedDocs/ Pressemitteilungen/DE/2012/20120124-0002-pressemitteilung-bmi.html (Juni 2012). Bundesrepublik Deutschland (1992), Vorbehaltserklärung der Bundesrepublik Deutschland zur UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK), www.nationalcoalition.de/pdf/Dokumente_Kinderrechte/Vorbehaltserklaerung_der_ BRD.pdf (Juni 2012). 24

Asyl

Heck, Gerda (2008), »Illegale Einwanderung«. Eine umkämpfte Konstruktion in Deutschland und den USA, Münster: Unrast. Hess, Sabine und Vassilis Tsianos (2003), Europeanizing transnationalism! Konturen des »europäischen Grenzregimes«, www.transitmigration.org/ db_transit/ausgabe.php?inhaltID=6 (Juni 2012). Noiriel, Gérard (1994), Die Tyrannei des Nationalen. Sozialgeschichte des Asylrechts in Europa, Lüneburg: zu Klampen. Pro Asyl (2011), Zahlen und Fakten 2011. Höhere Antragszahlen, www.proasyl. de/de/themen/zahlen-und-fakten (Juni 2012). Schroeder, Joachim (2003), Der Flüchtlingsraum als ein »totaler Raum«. Bildungsinstitutionen und ihre Grenzen, in: Lernen am Rande der Gesellschaft. Bildungsinstitutionen im Spiegel von Flüchtlingsbiographien, hg. v. Ursula Neumann, Heike Niedrig, Joachim Schroeder, Louis Henri Seukwa, Münster und andere: Waxmann, S. 379-396. Vogl, Joseph (2002), Asyl des Politischen. Zur Struktur politischer Antinomien, in: Raum Macht Wissen, hg. v. Rudolf Maresch und Niels Werber, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 156-172.

25

Augmented Reality

Die wörtliche Übersetzung von Augmented Reality lässt aufhorchen: »erweiterte Realität«. In den späten 1960er Jahren und Anfang der 1970er Jahre gab es ein starkes Interesse an der Erweiterung von Realität. Handelt es sich hier um eine Renaissance? Zudem: Welche Realität ist gemeint? Wird Realität, für den Moment angenommen es gibt sie und auch nur eine, nicht sowieso ständig erweitert und zugerichtet? Geht es hier um Wissenschaft, die den Bereich der Realität erweitert; technologisch oder doch pharmazeutisch? Spielt Phantasie dabei eine Rolle oder gehört diese nicht zur Realität? Und entscheidend: Was bedeutet diese wie auch immer gemeinte Realität, also die »erweiterte Realität« für soziologische Überlegungen, die die grundlegende wissensgenerierende Frage »Was ist hier eigentlich los?« mit Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge stellen? Ein anschauliches Beispiel für ein Augmented Reality-Gerät sind die Google Glasses, mit deren Ankündigung Google Anfang 2012 für Aufsehen gesorgt hat. Es handelt sich dabei um eine ungeschliffene Brille, in die eine kleine Kamera, ein kleiner transparenter Monitor, Mikrofon und Kopfhörer integriert sind. Mit dieser Brille ist es möglich, grafische und akustische Informationen direkt in das Wahrnehmungsfeld des Trägers einzuspielen und so eine audiovisuelle Überlagerung von Realität und Informationen zu erzeugen. Die hier naiv gedachte Realität wird auf diese Weise digital erweitert. Festzuhalten ist jedoch, dass Realität beziehungsweise Wirklichkeit das Ergebnis von sozialen Konstruktions- oder, um eine einseitige Betrachtungsweise zu vermeiden, Konstitutionsprozessen ist. Bekannt ist zudem, dass es sich bei Augmented Reality um ein Technologiekonzept handelt. Man hört einige Soziologen erleichtert aufatmen: »Na dann sind wir ja nicht zuständig – Problem gelöst.« Mitnichten. Wer Gesellschaft aufmerksam beobachtet, wird feststellen, dass Technik eine massive Rolle bei der Gestaltung gesellschaftlicher Wirklichkeit spielt. Dies ist nicht neu. Produktionstechnik hat schon immer Arbeitsbedingungen mitgeprägt, Kommunikationstechnik Interaktion und Koordination, Heiztechnik die Art und Weise, wie Menschen in Häusern zusammenleben und Transporttechnik, welche Waren gehandelt werden konnten und damit, wie Märkte strukturiert waren 26

Augmented Reality

oder werden konnten. Dass Technik dabei in keinem Fall eine kausale Ursache ist, sondern ein Faktor, eine Dimension oder ein Bestandteil von Praxis, der bedacht werden muss, ist selbstverständlich. Es spricht also einiges dafür, sich als Gesellschaftswissenschaftler der fremden Welt der Technik zu nähern und bevor eine neue Erfindung die gesellschaftliche Wirklichkeit umgekrempelt hat, ohne dass es jemand so richtig mitbekommen, geschweige denn gewollt hat, einen Blick in die Werkstätten der Entwickler zu werfen. Daran anschließende Überlegungen verbleiben im Experimentellen. Empirisch untersuchbar ist nur die soziale Transformation, die schon stattgefunden hat. Trotzdem ist es in jedem Fall hilfreich eine Idee davon zu haben, was da kommen könnte. Augmented Reality-Anwendungen sind keine Zukunftsmusik mehr, für die man Fachmessen besuchen muss. Sie sickern längst über Smartphones und ähnliche Geräte in den Konsumentenmarkt und damit in das alltägliche Leben ein. Durchdrungen haben sie es allerdings noch nicht. Es ist also der ideale Zeitpunkt sich ein paar Gedanken zu machen. Augmented Reality ist zunächst ein Konzept, das in der Computer Science im Verlauf der 1990er Jahre geprägt worden ist. Eine der frühesten Erwähnungen findet sich in dem Aufsatz Augmented Reality: An Application of Heads-Up Display Technology to Manual Manufacturing Processes (Claudell und Mitzell 1992). Den entscheidenden Schub bekam das Konzept im Jahr 1997 durch das Paper A Survey of Augmented Reality (Azuma 1997). Mit diesem Aufsatz, der einen Überblick über die zum damaligen Zeitpunkt vorliegenden Forschungen zum Thema gibt, legte Azuma die Grundlage für alle nachfolgende Forschung unter diesem Label. Azuma (ebd., S. 356) definiert Augmented Reality in Abgrenzung zu Virtual Reality, welche den Nutzer in eine künstliche Welt eintauchen lässt, wie folgt: »Augmented Reality allows the user to see the real world. Therefore, Augmented Reality supplements, rather than completely replacing it.« Augmented Reality habe drei zentrale Eigenschaften: Es kombiniert reale und virtuelle Welt (1), es ist in Echtzeit interaktiv (2) und es bietet echte Dreidimensionalität (3) (ebd.). Letzteres bedeutet, dass sich virtuelle und reale Objekte perspektivisch richtig zueinander verhalten, sich zum Beispiel gegenseitig verdecken. Das Ziel ist nicht die Erschaffung einer künstlichen Welt, die eine eigene Realität darstellt. Vielmehr geht es darum die bereits existierende Welt mit den Mitteln der Informationstechnologie zu erweitern. Damit befindet sich Augmented Reality auf dem Realitätskontinuum von Paul Milgram (1994) zwischen »Real Environment« und »Augmented Virtuality«, wobei jenseits von letzterem die bereits erwähnte »Virtual Reality« angesiedelt ist. Obwohl dieses viergliedrige Schema dem erkenntnistheoretischen Diskussionsstand in den Geistes- und Sozialwissenschaften offensichtlich nicht standhält, ist es die einschlägige Konzeptionalisierung dieses Zusammenhangs in der Computer Science und angrenzenden Disziplinen.

27

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Die Google Glasses sind also ein nahezu idealtypisches Beispiel eines Augmented Reality-Geräts: Es werden zusätzliche Informationen eingespielt, die die »Realität« erweitern aber nicht überdecken. Anzumerken ist jedoch, dass es sich dabei bislang um eine Studie handelt, deren Realisierung abzuwarten ist. Tatsächlich verfügbare Geräte für den Konsumentenmarkt ersetzen das teure transparente Display durch eine Kombination aus Display und Kamera wie bei Mobiltelefonen: Der Nutzer sieht auf dem Display das Kamerabild plus eingespielte Informationen. In der gegenwärtigen Praxis wird sich zudem in der Regel auf Visualität konzentriert. Der Neologismus Augmented Reality bezeichnet also ein Technologiekonzept, das technische Produkte und Anwendungen zur Folge hat, die wiederum soziale Situationen konfigurieren. Diesen Status teilt es mit anderen Konzepten wie Pervasive Computing, Ubiquitous Computing, Web 2.0 und Social Web. Eine unter dem Namen Thomas-Theorem bekannt gewordene soziologische Grundeinsicht lautet: »If men define situations as real, they are real in their consequences.« (Thomas und Thomas 1973 [1928], S. 334) Es reicht also, wenn Personen der Überzeugung sind, dass das, was sie wahrnehmen (auf einem Bildschirm oder als Augmented Reality) real ist, und sei es nur für den Moment, um reale Konsequenzen zu produzieren. Das bedeutet: In was auch immer für einer »augmentierten« Realität beziehungsweise Situation sich eine Person aufhält, sie wird auf dieser Basis handeln und andere Personen mit diesen Handlungen und deren Folgen konfrontieren. Wenn Personen, die sich in physischer Nähe zueinander befinden, aufgrund von unterschiedlichen Realitäten handeln und die jeweils anderen dies aufgrund der physischen Nähe nicht ignorieren können, führt dies zunächst zu Irritation und schließlich zu Konflikten. Eine solche Situation lässt sich mit raumsoziologischen Konzepten gewinnbringend analysieren. Martina Löw (2001) unterscheidet bei der Konstitution von Räumen analytisch zwischen dem Platzieren (»spacing«) von Raumelementen (»Lebewesen und soziale Güter«) an Orten und dem Zusammenfassen von Orten zu Räumen (»Synthese«). Beide Prozesse werden durch Augmented Reality beeinflusst: Sie fügt neue Elemente hinzu oder verändert die Bedeutung von schon vorhandenen durch Überlagerung. Dies hat zur Folge, dass sich der Raum, in dem sich der Nutzer befindet, verändert: Bestimmte Personen und Dinge werden interessant, die es vorher nicht waren. Zum Beispiel, weil eine zusätzliche historische Information hinzugefügt wird, die ein zunächst unscheinbares Stück Mauer interessant erscheinen lässt. Relativ dazu verlieren andere Personen und Dinge an Bedeutung, die vorher entscheidend für den Aufenthalt an einem bestimmten Ort waren. Sei es zur Orientierung, sei es zu Unterhaltung oder sei es, um dort etwas Bestimmtes zu tun. Dabei sind verschiedenste Informationsquellen denkbar: etwa Museen, die raumgestalterisch tätig werden, um die Bauweise ihrer Ausstellungsräume digital zu erweitern, sei es aus Kostengründen oder wegen der erweiterten Mög28

Augmented Reality

lichkeiten; Städte, die ihr Erscheinungsbild digital erweitern möchten oder eine Kombination aus beidem, wie im Fall des Museum of London. Soziologisch interessanter sind Erweiterungen, die auf miteinander geteilten Daten basieren. Damit öffnet sich das Feld für alle mit dem Internet verbundenen Phänomene, wie Online-Communities, Social Web, Onlinemarketing und -konsum, Hacking etc. und den damit verbundenen Prinzipien: kollaborative Erweiterungen von Räumen/Orten nach den Regeln von Open Source-Software-Programmierung; subversive Transformation von Räumen/Orten, die zwar nur diejenigen wahrnehmen, die eine Verbindung zur Informationsquelle hergestellt haben, die aber in der Folge auf dieser Basis handeln; Algorithmen, die aus vorhandenen komplexen Daten individuell relevante Informationen errechnen, wie im Fall von Google und Facebook. Eine andere Ebene des soziologischen Nachdenkens ist die Ebene von Nutzungsweisen oder Praktiken. Die Untersuchungseinheit »Praktik« integriert verschiedene Elemente wie Personen, Vorstellungen, Können, Ziele, Materialien, Gegenstände und Infrastrukturen zu einer sozial immer wieder reproduzierten Einheit. Neue Praktiken entstehen niemals aus dem Nichts. Sie sind stets Neukombinationen von bereits Praktiziertem plus einem Schuss Innovation. Gelegentlich so verschieden, dass es Sinn macht sie anders zu benennen. Diese Neukombinationen geschehen durch neue Weisen etwas zu tun oder durch neue, oftmals technische Möglichkeiten etwas zu verknüpfen. An dieser Stelle kommt abermals Augmented Reality ins Spiel. Die Praktik »im Park spazieren gehen« wird sich, wenn die Brille von Google in die Praktik integriert wird, verändern. Ebenso wie sie sich verändert hat, als Personen begannen, nicht mehr ohne Smartphone aus dem Haus zu gehen und unterwegs zu telefonieren, auf die Karte zu schauen oder Facebook zu nutzen möglich wurde. Interessant an Augmented Reality ist, dass diese Auf-sich-selbst-Fixiertheit, die man von Smartphone-Usern kennt, durch die Überlagerung statt Ersetzung der Umgebung mit Informationen abgeschwächt wird. Die Umgebung wird gewissermaßen wieder miteinbezogen. »Smartphonezombies«, die den Gehsteig zum Büro umdeuten und ohne nachvollziehbare koordinatorische Bindung zu ihrer Umgebung durch die Straßen streben oder Navigationsgerätenutzer, die sich nicht im Geringsten an Details der gefahrenen Strecke erinnern, könnten so der Vergangenheit angehören. Jede Abschätzung neuer Praktiken ist spekulativ. Nichtsdestotrotz: Eine Verschmelzung von digitaler Technologie und Wahrnehmung der Umwelt ist nicht nur denkbar, im Fall von Geocaching ist so etwas bereits beobachtbar. Da die Definition von Augmented Reality sehr eng ist (siehe oben), fällt Geocaching nicht unter Augmented Reality. Grenzen von Technologiekonzepten dürfen jedoch nicht soziologisches Denken anleiten: Soziologische Zusammenhänge liegen in der Regel quer dazu.

29

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Ebenso wie Praktiken ein bestimmtes Verstehen von Dingen und Situationen, Regeln und bestimmte Hierarchien von Zielen und Affekten (Schatzki 1996, S. 99) oder eine bestimmte Anordnung von Dingen, Kompetenzen und Vorstellungen (Shove et al. 2007) voraussetzen und reproduzieren, so geht mit ihnen auch eine bestimmte räumliche Konfiguration einher. Praktiken konstituieren Räume. Wer bestimmte Praktiken ausübt, hält sich in ihnen auf. Nehmen wir einen öffentlichen Platz, zum Beispiel einen Park, an dem eine größere Anzahl Personen unterschiedlichen Praktiken nachgeht, die für Nichtbeteiligte vor Ort nicht durchschaubar, ja nicht einmal zur Gänze beobachtbar sind. Der Effekt ist bekannt. Personen, die telefonieren oder mit ihrem Smartphone beschäftigt sind, halten sich nicht in demselben Raum auf, wie Umstehende. Andere Elemente (entfernte Personen, Websites, Apps) sind in ihren Räumen enthalten und in einer anderen Weise zueinander in Beziehung gesetzt. Ein anderes Beispiel in dieser Richtung wären Flashmobs, die äußerst irritierend wirken können. Hier haben wir es nun nicht mehr nur mit einer Vereinzelung vor Ort, wie im Fall von Smartphones, zu tun, sondern mit plötzlich auftretender, an einem Ort beobachtbarer Koordination. Wenn man diese Schraube eine Umdrehung weiterdreht, dann gelangt man zu Anordnungen, die sich heute bereits andeuten: Gruppen, die als solche auf Grund ihrer körperlichen Anordnung nicht identifizierbar sind, aber trotzdem an einem Ort einer koordinierten Praktik nachgehen. Grenzziehungen zwischen Beteiligten und Unbeteiligten werden hier nicht mehr durch physikalische Nähe erzeugt, obwohl diese gegeben ist, sondern durch die Topologie der digitalen Infrastruktur zu der Personen (keinen) Zugang haben. Was bedeutet dies für das Verständnis von Öffentlichkeit? Wenn die Minimalbedingung für Öffentlichkeit ist, dass sich fremde Personen füreinander sichtbar in demselben Raum aufhalten, dann lautet die empirische Frage, wo solche Räume unter solchen Bedingungen zu finden sind. Die Praktik in einem Park ein Augmented Reality-Spiel zu spielen, bei dem Monster gejagt werden müssen (zum Beispiel BufferBusters von Vodafone), versetzt den Spieler in einen bestimmten Raum, in dem der Stadtpark ein Bestandteil ist und durch die Integration von zusätzlichen Informationen, die Teil der Praktik sind, umgedeutet wird. Dies gilt für alle, die an dieser Praktik teilnehmen. Und alle, die es nicht tun, werden es nicht nachvollziehen können und unter Umständen nicht einmal die Praktik als solche erkennen können. Jedoch wird Irritation entstehen, wenn andere in völlig anderer Weise auf dieselben Raumelemente referieren, die nur als knappe Ressource zur Verfügung stehen, was bei materiellen Elementen augenscheinlich der Fall ist. Fazit: Augmented Reality ist aus soziologischer Perspektive weder Ort noch Raum. Es ist eine raumwirksame Technologie. Damit gehört sie zu einer ganzen Reihe von Technologien (digitale Karten, GPS, Kommunikationstechnologie etc.), die bei der Konstitution von soziologisch interessanten Räumen, 30

Augmented Reality

bei denen es stets um die Anordnung des Nebeneinanders von Personen geht, eine Rolle spielen. Paul Gebelein

L ITER ATUR Azuma, Ronald T. (1997), A Survey of Augmented Reality, Presence: Teleoperators and Virtual Environments 6(4), S. 355-385. Claudell, Thomas und David Mitzell (1992), Augmented Reality: An Application of Heads-Up Display Technology to Manual Manufacturing Process, Proceedings of Hawaii International Conference on System Science (ii), S. 659-669. Löw, Martina (2001), Raumsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Milgram, Paul, Haruo Takemura, Akira Utsumi und Fumio Kishino (1994), Augmented Reality: A call of displays on the reality-virtuality continuum, SPIE Proceedings: Telemanipulator and Telepresence Technologies (2351), S. 282292. Schatzki, Theodore R. (1996), Social Practices – A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge: Cambridge University Press. Shove, Elizabeth, Matthew Watson, Martin Hand und Jack Ingram (Hrsg., 2007), The Design of Everyday Life, Oxford und New York: Berg. Thomas, William I. und Dorothy S. Thomas (1973 [1928]), Die Definition der Situation, in: Symbolische Interaktion, hg. v. Heinz Steinert, Stuttgart: Ernst Klett Verlag, S. 333-335.

31

Banlieue

Wen wundert das noch? Sieht ganz so aus, als ob die Viertel1,2 Ganz Frankreich gegen sich 9 haben. Und das schon bevor alles wieder vor die Hunde geht7. Wen wundert das noch? Wer will uns 8 rausschmeißen? Die trübe Erinnerung an die Unschuld Haben wir in Litern von Benzin7 ertränkt, Auf einem brennenden Seil balancierend Wie ein Strick am Hals der blauen Kastenwägen 8. Es ist weder der Hammer noch der Sieg, wenn alles abfackelt. Es ist nicht einmal eine Antwort, die der Tragödie gerecht wird 7. Doch so ist es halt, es ist alles was bleibt, Wenn das Viertel selbst der Pest 9 Angst 5 einjagt. Mein Leben, mein Herz kneife nicht. Vater, Mutter, weint nicht4, Wenn wir 8 vom Teufel besessen auf die Straßen stürmen, Verweigern wir zu leben ohne unsere Gefallenen zu ehren7 […]. Von den dreißig goldenen Jahren 3 haben sie 8 mir erzählt. Soll ich1 sie warnen, dass es danach schwierig wird? Verdammt! Sie haben nicht nur unseren Untergang beschworen, Uns zensiert 8, die Türen vermauert 6 und Alarm geschlagen. Wer muss als nächster Federn auf dem Teer7 lassen? Über ’nen gefallenen Kumpel werden sie erzählen, was ihnen passt 8 . Es geht nicht mehr darum, Ruhe zu bewahren; Flennen ist nicht unser Ding, aber die Luft riecht nach Napalm7. Wer sind die Laborratten 6, die die Filetstücke fressen werden? In der nachhaltigen Unterentwicklung 5 gefangen1, Echte Monster 8, aufgewachsen im Gestrüpp 4 Dieser schmutzigen Typen 8 , die keine Lösungen bieten 9.*

32

Banlieue

Am 28. Juni 2011 besuchten wir beide zum ersten Mal ein Rap-Konzert der Gruppe La Rumeur in der berühmten Pariser Musikbühne La Cigale. Die zumeist »mittelschichtszugehörigen« Besucher verfolgten erwartungsvoll das Konzert. La Rumeur fielen besonders durch ihre pointierten Texte und die Aussagekraft ihrer Bühneninszenierung auf. Mittels Ansprachen, Animationen und Leerstellen beim Rappen der Texte ließen sie ihr Publikum zu einem wichtigen Teil des Ereignisses werden. Aus wissenschaftlicher Perspektive waren wir uns einig, dass die Banlieue-Thematik häufige und zentrale Bezugspunkte in den Texten bildet. Auffällig erschien uns der hohe Grad (zum Teil vergeschlechtlichter) symbolischer Gewalt in den Texten, welche gleichzeitig politisierte Botschaften zu Banlieues artikulieren und sich als emanzipatorischer Diskurs interpretieren lassen (Hüser 2004). Am meisten überraschte uns die Reichweite des subkulturellen Raumdiskurses. Dieses Ereignis und obig übersetzter Text erinnern daran, dass Banlieues als paradigmatischer Brennpunkt Frankreichs gelten. Zahlreiche Aspekte der »Krise der Banlieues« werden durch unterschiedliche mediale und politische Diskurse artikuliert. Festgestellte Anteilnahme gibt Hinweise auf die Komplexität der Stellungnahmen. Was für ein Ort ist die Banlieue? Welche Debatten, Diskurse und Subjekte verknüpfen sich mit der Erzählung und Umdeutung der Krise der französischen Vorstädte? Im Folgenden werden wir die Hintergründe und Andeutungen des Raptextes interpretieren und hierdurch einen Einblick in die Mehrdeutigkeit und Umkämpftheit der Banlieue gewähren. Die Kontextualisierung der unterschiedlichen Erzählungen wird eine mehrstimmige Genealogie der Banlieue herstellen. Die hochgestellten Ziffern im Raptext referieren thematisch auf die nummerierten Absätze. Erzählungen über die Banlieues. 1_ Mit dem Begriff Viertel sind hier Banlieues, das heißt randstädtische Problemviertel mit Großwohnsiedlungen, gemeint. Die Banlieues sind mehr als der bloße Hintergrund des Liedes: die Verortung eines kollektiven sowie individuellen Subjekts in den Problemvierteln versteht sich als gezwungene, schicksalhafte und gleichzeitig identitätsstiftende Zugehörigkeit. 2_ Das Wort Banlieue bezeichnet stets vorstädtische Räume, besitzt aber je nach historischem Kontext unterschiedliche Konnotationen. Vor der Industrialisierung gilt die Banlieue als ca. vier Kilometer lange Bannmeile im Einflussbereich weltlicher oder geistlicher Stadtherren. Danach bezeichnet Banlieue in der Raumplanung die administrative Raumeinheit einer vorstädtischen Gemeinde. Obwohl die vorstädtischen Einfamilienhaussiedlungen heute überwiegen, rekurriert Banlieue seit Beginn der französischen Industrialisierung alltagsprachlich auf Arbeitervorstädte: über werkseigene Gartenstädte bis hin zu selbsterrichteten Elendsvierteln zugezogener Fabrikarbeiter_innen. Letztere werden bereits als gefährliche Orte wahrgenommen. Was die Einen abschreckt, 33

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

begeistert die Anderen: Gerade in den von kommunistischen Bürgermeistern regierten »roten Vorstädten« entwickeln sich besondere Initiativen, gestützt auf eine starke Arbeiterkultur und -solidarität, die sowohl in der Kunst als auch durch Gewerkschaften Ausdruck finden (Fourcaut 1992). 3_ Nach dem Zweiten Weltkrieg setzen Wirtschafts- und Städtewachstum wie auch Dekolonisation ein. Es fehlen zahlreiche Wohnungen für zugezogene Arbeiterbevölkerungen aus (ehemaligen) französischen Kolonien, dem ländlichen Raum oder dem europäischen Ausland. Diese lebten damals oft noch in unsanierten Altbauten oder notdürftigen Behausungen (ebd.). Aufgrund dessen »zoniert« die zentralstaatliche Raumplanung prioritäre Fördergebiete für Urbanisierungsprogramme und lässt während des Wirtschaftswunders – den dreißig goldenen Jahren – zahlreiche Großwohnsiedlungen mit Sozial- und Eigentumswohnungen an Stadträndern und in Zwischenräumen errichten. In Zeiten der Vollbeschäftigung in Lohnarbeit stehen Großwohnsiedlungen noch für Modernität, obgleich erste Kritiken an der Anonymität ihrer Architektur und der Leblosigkeit eines funktionalistischen Urbanismus aufkommen. 4_ Während Mitte der 1970er Jahre die betuchteren Erstbewohner_innen (rand-) städtischer Großwohnsiedlungen längst in die vielen neu entstandenen Einfamilienhaussiedlungen auf der Grünen Wiese gezogen sind, erfassen einsetzende Wirtschaftskrise und Sozialstaatsabbau diese Viertel in besonderem Maße (Wacquant 2007). Die regelrechte Destrukturierung der Arbeiterklasse stellt eine Form sozialer Gewalt dar (Beaud und Pialoux 2003). Zudem trifft die neue Massenarbeitslosigkeit in einem latent rassistischen Klima am härtesten die (männlichen) Kinder der aus den ehemaligen Kolonien stammenden und geringqualifizierten Arbeitsmigrant_innen. 5_ Im postfordistischen und postkolonialen Zeitalter wird Banlieue zum stigmatisierenden Sammelbegriff für Problemviertel in den unterschiedlichsten französischen Debatten. Die dauerhafte Arbeitslosigkeit mehrerer Generationen führt zum massiven Ausschluss aus der Konsumgesellschaft. Wegen zumeist niedriger Schulabschlüsse und der beträchtlichen Zahl Straffälliger werden die Banlieue-Jugendlichen als »Wilde« betrachtet. Fortbestehende koloniale Denkmuster und rassistische Verhaltensweisen lösen Angst vor den von nichteuropäischstämmigen – in der Regel dunkelhäutig(er)en – Bevölkerungsteilen bewohnten Vierteln aus (Tissot 2007, S. 37ff.). Eine Angst vor den »neuen gefährlichen Klassen« (Beaud und Pialoux 2003; Bonelli 2008), begünstigt durch hohe Kriminalitätsraten und abschreckende Medienberichte. 6_ Diese Probleme der Viertel sind eng mit zentralstaatlicher und kommunaler Stadtpolitik verschränkt. Insofern sind die Viertel nicht nur heruntergekommene Großwohnsiedlungen, sondern auch Fördergebiete einer experimentier- und akronymfreudigen Stadtpolitik (ZUS, ZUP, ZRU etc.). Durch die Politique de la Ville werden bestimmte Viertel baulich renoviert und mit sozial- und wirtschaftspolitischen Sonderprogrammen ausgestattet (Tissot 2007; Dikeç 2007). 34

Banlieue

Nach der Renovierung erfolgt die Neuvermietung der Wohnungen größtenteils an zahlungskräftigere Angehörige der Mittelschicht, auch um den Zielen einer sozialen Durchmischung nachzukommen – der Staat fördert Gentrifizierung. 7_ Zu den weiteren Maßnahmen zählen Sicherheitspolitiken, welche strenge Kontrollmaßnahmen umsetzten und harte Strafen verhängen (Bonelli 2008; Dikeç 2007). Straffällige fremde Staatsangehörige werden doppelt bestraft, da ihnen zusätzlich zur regulären Verurteilung oft die Abschiebung droht. Die Polizeiarbeit erregt des Öfteren Aufsehen aufgrund diskriminierender Praktiken, gewalttätiger Übergriffe oder gar Tötungen – regelmäßige Verfehlungen werden kaum aufgeklärt. Der Eindruck, dass die Polizei ohnehin unbestraft bleibt, dass die Sicherheitsmaßnahmen lediglich aus Überwachung bestehen, dass die (Bewohner_innen der) Viertel als minderwertig gelten, löst Missverständnisse und Ärger aus. Gerade konflikthafte Beziehungen zwischen Polizei und jungen Viertelbewohner_innen gelten als Auslöser für Unruhen. Nach Todesfällen bei Konfrontationen mit der Polizei (wie in Vaulx-en-Velin 1991, Clichy-sous-Bois 2005 oder Villiers-le-Bel 2007) erscheinen gewaltsame Aufstände und Straßenschlachten als letzte Möglichkeit, eine Stimme zu gewinnen (Beaud und Pialoux 2003). Hegemoniale Interpretationen der Aufstände tendieren dazu, solche hoffnungslosen voices zu verstörenden noises umzudeuten (Dikeç 2007, S. 153ff.). 8_ Einen weiteren Weg sich eine Stimme zu verschaffen, zeigt das zitierte Raplied auf. Die erste Person (Singular oder Plural) wird einem jungen Bewohner der Banlieue zugesprochen und personifiziert die Viertel. Demgegenüber sind staatliche Institutionen wie Polizei, Schule oder Regierung unter einem vereinheitlichenden »sie« zusammengefasst und ferner den »schmutzigen Typen« zugeordnet. Die Banlieue-Stimme verlangt Anerkennung, denn »Mehrheitsgesellschaft« und Staat grenzen revoltierende Banlieue-Bewohner_innen systematisch aus. 9_ Bei der Verhandlung beschriebener sozio-ökonomischer Disparitäten nehmen La Rumeur mehrmals implizit Bezug auf den hegemonialen Banlieue-Diskurs: »Wir sind die wilden Banlieues, ihr seid die ›schmutzigen Typen‹.« Damit werden die Subjekte der vorherrschenden Erzählung (»ihr seid die wilden Banlieues, wir das wertvolle Frankreich«) invertiert, der Antagonismus erhalten. In klassischen medialen oder politischen Erzählungen einer Banlieue-Krise gelten die Banlieues nicht nur als Problemviertel, sondern auch als Gefahr für vermeintlich franko-republikanische Werte (beispielsweise Ordnung, ein »eher christlicher« Laizismus, Frauenrechte etc.). Kriminalität sowie Unruhen sind Argumente zur (Dis-)Qualifizierung der Banlieue als Ort der gegnerischen Anderen, als Symbol einer gefährlichen Alterität. Das Raplied erörtert ähnliche Themenfelder, bietet aber alternative Interpretationen an. Probleme sind hierbei inkorporierte Leidenserfahrungen, Beleidigungen und Perspektivlosigkeit. Die Behandlung der Problemlagen durch massiv subventionierte Sozial- und 35

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Stadtpolitiken wird nicht als Lösung, sondern als Teil des Problems betrachtet. Sie begünstigen vielmehr die Probleme, die ihre Ursachen in der Geschichte und Persistenz einer rassistischen Diskriminierung und Ungleichverteilung des Reichtums finden. Eine Verkehrung der allgemeingültigen Beziehung (»soziale Probleme erfordern politische Lösungen« zu »problematische Politiken erzeugen soziale Probleme«) betont somit eine besondere ursprüngliche politische Verantwortung. Beschriebenem Rap-Genre ist also zu eigen, den hegemonialen Diskurs zu Banlieues als Problemviertel umzudeuten: einerseits durch Schaffung einer »Stimme der Anderen«, andererseits mit einer alternativen Erzählung, in der staatliche Institutionen und »Mehrheitsgesellschaft« das Außen eigener Identität sind. Deutungen. Jenseits dargelegter diskursiver Analysen zeigen sich jedoch Risse innerhalb des Dualismus »Banlieue vs. Frankreich«. Die Zuschauer_innen des La Rumeur-Konzerts oder beispielsweise die im Jahre 1995 stehend Beifall klatschenden Kinobesucher_innen des damals angelaufenen Banlieue-Filmdramas La Haine – beide gelten als mittelschichtzugehörige, kulturinteressierte Gruppen – belegen eine unerwartete Anteilnahme. Diese bestätigt die Relevanz des anfechtenden Diskurses, der mit Ausrufen, Applaus, Pfiffen oder Gesten goutiert wird. Zusätzlich destabilisiert die Anteilnahme die beschriebene Abgrenzung zwischen Banlieue und angeblicher »Mehrheitsgesellschaft«, indem sie eine Identifizierung darstellt: Breitere Gesellschaftsgruppen, die sonst kaum Bezüge zur Banlieue hätten, identifizieren sich weniger mit den »schmutzigen Typen« als mit dem Ich-Sprecher. Die Idee einer »Mehrheitsgesellschaft« erscheint fraglich, da das hegemoniale »Wir« und revoltierende »Ihr« vereinfachende Konstruktionen sind, welche die Vielzahl von Positionierungen verschleiern. Banlieue steht offensichtlich nicht für einen Problemort, sondern für einen breiteren Problemdiskurs. Die Konstruiertheit der Problemviertel durch politisches Handeln sowie statistische Expertisen wird von mehreren sozialwissenschaftlichen Beiträgen betont (Tissot 2007, S. 107ff.; Bonelli 2008). Seit den 1960er Jahren bildet Banlieue den vielerforschten Lieblingsgegenstand französischsprachiger Sozialund Stadtforschungen, die aktiv zur Implementierung der öffentlichen Politiken beigetragen haben (Tissot 2007, S. 63ff.). Allerdings wird die Forschungskategorie Banlieue unlängst als solche häufiger in Frage gestellt: nicht nur aufgrund ihrer Mehrdeutigkeit, sondern weil sie als übergreifende Kategorie komplexe Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Problemen reduktionistisch zu einer verorteten Gegebenheit zusammenfasst und somit essentialisiert. Jenseits der sozialwissenschaftlichen Literatur dient der Banlieue-Begriff bestimmten Gesellschaftsgruppen und Kommentator_innen als überstrapaziertes Instrument stigmatisierender Debatten zur Propagie36

Banlieue

rung eines Ghettomythos. Der Deutungskonflikt um die Banlieue reicht weit über die Grenzen der Viertel hinaus und äußert sich besonders in den diskursiven Praktiken vieler sozialer Bewegungen: sie bewerten »Problemviertel« auch als Orte menschlicher Ressourcen und Kreativität. Der in Frankreich kontroverse Begriff erfreut sich derweil großer Beliebtheit in anderen Sprachen – auch im Deutschen. Obwohl er wegen seiner Mehrdeutigkeiten als unübersetzbar gilt, dient er in anderssprachigen Medien und Sozialwissenschaften oft als Stichwort, um über französische Probleme zu berichten. Inwiefern erzeugt die Übernahme des Begriffs Banlieue als Sinnbild der »französischen randstädtischen Problemviertel« ein spezifisch französisches oder gar ein Problem Frankreichs? Nun, es besteht das Risiko, die Banlieue (spektakulär) zu folklorisieren und somit als französisch und national zu essentialisieren. Eine zu enge nationale Verortung der Banlieue-Debatte würde dazu beitragen, nicht nur die zahlreichen Ähnlichkeiten mit »Problemvierteln« anderer Länder zu übersehen, sondern auch andere Erklärungsmuster zu bevorzugen. Daher schlagen wir vor, die Banlieues in mehreren Kontexten auf unterschiedlichen Maßstabsebenen zu betrachten. Erstens variieren die lokalen französischen Kontexte: Je nach Stadt und Region verbindet sich die Problemlage mit Arbeits- und Wohnmärkten, Industrialisierungsgeschichten, Stadt- und Sozialpolitiken sowie mit institutionalisiertem und toleriertem Rassismus – dies kann auch innerstädtische Wohnviertel betreffen. Zweitens ermöglicht der staatliche Kontext einen Einblick in die Besonderheit französischer Institutionen und Politiken auf nationaler Ebene, sowie in Teile der französischsprachigen Sozialwissenschaften, die dank der Herstellung der Kategorien Banlieue und quartier sensible ihre Existenzberechtigung gefunden haben (Tissot 2007, S.  273); ferner zeigt eine Fokussierung auf die nationale Banlieue-Debatte, dass deren innewohnender Deutungskonflikt die gesamte Gesellschaft betrifft. Drittens erlaubt eine länderübergreifende Perspektive ein genaueres Verständnis der Schlüsselbegriffe in der französischen Banlieue-Debatte: Wirtschaftskrisen und Sozialstaatsabbau, (andauernder) Rassismus und koloniale Kontinuitäten, (Un-)Recht und Staatsangehörigkeiten. Hierbei werden gegenwärtige Herausforderungen angesprochen, die alle europäischen Staaten und deren Leitbilder, zudem auch postindustrielle Gesellschaften im Allgemeinen betreffen. Im internationalen Kontext lässt sich die Banlieue-Frage nicht als französische Besonderheit erklären, sondern als lokale Erscheinung, bei der drei Phänomene zusammentreffen: der bestrafende Staat, die prekarisierende Neoliberalisierung, ein diskriminierendes Europa. Diese »fortgeschrittene Marginalität« (Wacquant 2007, S. 237ff.) bedarf ebenfalls einer Kontextualisierung mit der historischen Entwicklung der Raumproduktion, in der wechselnde Ab- und Aufwertungsprozesse besonderer (städtischer) Räume sowohl symbolisch als auch wirtschaftlich stattfinden, und von staatlichen, privaten und nicht zuletzt wissenschaftlichen Akteuren beeinflusst 37

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

werden. Obwohl die Banlieue zwar von einer »nationalen Debatte« zeugt, steht sie ebenfalls paradigmatisch für die geschichtliche Raumproduktion des städtischen Kapitalismus: Banlieue dient dieser Raumproduktion als brisanter, aber leerer Ortsbegriff. Mélina Germes und Andreas Tijé-Dra * | Von den Autor_innen aus dem Französischen übersetzte Auszüge aus: La Rumeur (2007), Qui ça étonne encore?, in: Du cœur à l’outrage, La Rumeur Records.

L ITER ATUR Beaud, Stéphane und Michel Pialoux (2003), Violences urbaines, violence sociale. Genèse des nouvelles classes dangereuses, Paris: Hachette Littératures. Bonelli, Laurent (2008), La France a peur. Une histoire sociale de l’»insécurité«, Paris: La Découverte. Dikeç, Mustafa (2007), Badlands of the Republic. Space, Politics, and Urban Policy, Malden: Blackwell Publishers. Fourcaut, Annie (Hrsg., 1992), Banlieue rouge, 1920-1960. Années Thorez, années Gabin: archétype du populaire, banc d’essai des modernités, Paris: Autrement. Hüser, Dietmar (2004), RAPublikanische Synthese – Eine französische Zeitgeschichte populärer Musik und politischer Kultur, Köln: Böhlau. Tissot, Sylvie (2007), L’Etat et les quartiers. Genèse d’une catégorie de l’action publique, Paris: Seuil. Wacquant, Loïc (2007), Parias urbains. Ghetto, banlieues, État, Paris: La Découverte.

38

Bildungslandschaft

Bildungslandschaft – eine deutsch-deutsche Begriffspaarung, wie sie besser kaum zusammenpassen könnte. Sie vereint nicht weniger als »Bildung« im Sinne der weit über Wissensvermittlung hinausgehenden Bildung des ganzen Menschen, die sich aus dem Deutschen gar nicht in andere Sprachen übersetzen lässt, mit der »Landschaft« – auch dieser Terminus, der für Übersichtlichkeit, Harmonie und Ganzheitlichkeit steht, hat es nirgendwo zu so viel Bedeutung gebracht wie im Deutschen. Nun also: Bildungslandschaft. Und wie es scheint, ist der Name Programm. Der Ansatz zielt auf die umfassende Organisation von Bildung »aus einer Hand« ab und referenziert dabei auf ein modernes, weites Verständnis von Bildung (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2005), das sämtliche Formen des Lernens miteinbezieht – ob es sich dabei um formelle Schulbildung handelt oder sich Kinder und Jugendliche in informellen Settings wie dem Sportverein, dem Jugendclub oder einfach im Freundeskreis aktiv mit ihrer Umwelt auseinandersetzen. Die Zuständigkeiten für die entsprechenden Bereiche sind bislang über diverse Ebenen und Ressorts verstreut: So obliegt die inhaltliche Gestaltung von Schule dem Land, während Kommunen auf ihre Verwaltung und die Instandhaltung der Gebäude beschränkt sind. Dafür sind die Jugendhilfe, Sport, Kultur usw. kommunale Aufgaben, werden aber meist aus getrennt voneinander agierenden Ressorts verwaltet. Diese Fragmentierung durch die Einrichtung einer übergreifenden Bildungssteuerung zu überwinden, die den »ganzen« Menschen ins Zentrum stellt und sich an dessen realen Bildungsprozessen ausrichtet, ist Kern des Bildungslandschafts-Gedankens. Um bei der Gestaltung solcher Bildungsprozesse die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen mit den konkreten Bedingungen vor Ort in Einklang bringen zu können, scheint sie auf der kommunalen Ebene besonders gut angesiedelt. Die folgerichtige Absicht, dabei all jene miteinzubeziehen, die Verantwortung für das Aufwachsen junger Menschen tragen – Lehrer_innen, Erzieher_innen, Sozialpädagog_innen, lokale Unternehmer_innen, Künstler_innen usw. – lässt sich am ehesten im Nahraum realisieren. Andersherum hat sich Bildung mittlerweile zum Allrounder unter den Standortfaktoren (Eichert 2007)

39

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

gemausert und ist damit für Städte und Regionen zu einem Thema allererster Güte geworden. Um nur einige Vorzüge zu nennen: Bildung im Sinne einer Investitionsförderstrategie der Ressource Humankapital schafft attraktive Bedingungen für Unternehmen; weiterhin ist es häufig das Bildungsangebot, das bei den Umzugsentscheidungen der heiß umworbenen Mittelschichtsfamilien den Ausschlag gibt, und als Schlüssel zu sozialer Teilhabe und Chancengleichheit trägt Bildung nicht nur zur Wahrung des zivilgesellschaftlichen Friedens bei, sondern stellt zugleich die Verringerung sozialer Folgekosten in Aussicht. Kein Wunder, dass Kommunen von sich aus mehr Gestaltungskompetenzen einfordern (Deutscher Städtetag 2007). Mit der Bildungslandschaft hält die deutsche Sprache für die Steuerung eines ganzheitlichen Bildungsverständnisses im Nahraum einen Begriff bereit, der den Ansatz verglichen mit den eher technisch daherkommenden Äquivalenten aus dem Ausland – etwa local networks of education, area-based concepts oder breede schools – besonders ausdrucksstark und überzeugend bebildert. Ob sich Johannes Rau diese Wirkung bewusst zu eigen gemacht hat, als er den bis dahin rein deskriptiv verwandten Begriff 1995 in seiner Bildungskommission NRW in den Rang eines Konzeptes erhob, lässt sich nicht zurückverfolgen. Bewiesen ist jedoch, dass er funktioniert. Meist mit einem vorangestellten »lokal«, »kommunal« oder wahlweise »regional« versehen, haben Bildungslandschaften Einzug in die deutsche Kommunal- und Bildungspolitik erhalten. Seinen wahren Siegeszug trat das Konzept an, nachdem der Deutsche Verein (nach dieser begrifflichen Einleitung fragt man sich: Wer sonst?) in einem Diskussionspapier von 2007 den Aufbau lokaler Bildungslandschaften eingefordert hat. Seitdem schießen sie, gedüngt von Stiftungen und Förderprogrammen, wie Pilze aus dem Boden. Die flächenhafte Ausbreitung von Bildungslandschaften unterstreicht einmal mehr die Überzeugungskraft des Ansatzes, der nur Gewinner_innen kennt und Fürsprecher_innen in Lagern findet, die einander ansonsten spinnefeind gegenüber stehen. Doch ist solch ein Konsens nicht verdächtig? Grund genug jedenfalls, sich auf die Suche nach Brüchen zu begeben! So könnte man sich fragen, ob der weite und an den Bedürfnissen der jungen Menschen orientierte Bildungsbegriff nicht in Widerspruch mit der Idee von Bildung als standortpolitisch wertvolle Humankapitalinvestition geraten kann. Was ist, wenn sich die Interessen und Bildungsbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in diesem Sinne gar nicht in Wert setzen lassen, sondern zunächst einmal Kosten verursachen? Und kann überhaupt von öffentlichen Investitionen ausgegangen werden, wo doch die Krise auf die ohnehin schon gebeutelten kommunalen Haushalte drückt? Liegt es nicht nahe, dass Kommunen nach einer Analyse der Situation vor Ort zu dem gut begründbaren Schluss kommen können, dass sich mit der Schließung der einen oder anderen Bibliothek erhebliche Kosten sparen lassen? Und wie sollen neue Angebote entstehen, wenn es den vielen 40

Bildungslandschaft

Kommunen mit Nothaushalt nicht einmal gestattet ist, sogenannte »freiwillige« Leistungen zu erbringen? Abhilfe soll dem Ansatz zufolge die Vernetzung mit privaten Akteuren schaffen. Wegen dieses kooperativen Charakters wird die Entwicklung kommunaler Bildungsnetzwerke zuweilen sogar als progressives Gegengewicht zu Konkurrenz- und Wettbewerbslogik betrachtet. Doch wenn die Kooperationen im Bildungsbereich dazu dienen, Aufgaben, die von der öffentlichen Hand nicht mehr getragen werden (können), an private Akteure oder kurzfristige Förderprogramme abzugeben, spielen sie vielmehr einer neoliberalen Restrukturierung wohlfahrtsstaatlicher Verwaltungsapparate in die Hände. Und dekliniert man den Gedanken bis zum Ende durch, so kann die neue Verantwortung privater Akteure gar dazu führen, dass Verantwortlichkeiten an nicht-demokratisch legitimierte Akteure abgetreten werden; Politikversagen wäre folglich nicht mehr auf gewählte Vertreter_innen zurückführbar. Auch bezüglich der Einbindung der Bildungsakteure wirft der Netzwerkansatz Fragen auf; etwa wie weitreichend Mitbestimmung »von unten« sein kann, wenn Ziele politisch, betriebswirtschaftlich oder durch Wirkungsindikatoren vordefiniert werden. Zudem ist die Vernetzungsarbeit, so positiv ihr gegenüber die Beteiligten auch eingestellt sein mögen, stets problembehaftet (Tibussek 2009, S.  205): Der hohe Zeitaufwand irritiert häufig den laufenden Betrieb, Zuständigkeiten sind meist unklar verteilt und die Beteiligten können zunächst nicht absehen, ob sie von dem Aufwand überhaupt profitieren. Praktisch kann schließlich auch das genaue Gegenteil der Fall sein! Weiterhin können in den Netzwerken vor allem Träger und Vertreter_innen der Leitungsebene tätig werden, da oft nur sie über die nötigen Zeitressourcen verfügen. Solch eine Aussortierung ist dem angestrebten Informationsfluss von Praxiswissen in die kommunale Bildungspolitik jedoch wenig zuträglich. Wäre nicht genau das notwendig, um eine Politik zu realisieren, die sich an den realen Bedürfnissen ihrer Adressat_innen ausrichtet? Folgerichtig wären zusätzliche Mittel für die anfallende Arbeit der ohnehin schon überlasteten und unterbezahlten Sozialarbeiter_innen, Kindergärtner_innen usw. bereitzustellen – auch um gewachsene Hierarchien abzubauen, durch die die vielzitierte »Kooperation auf Augenhöhe« derzeit nicht mehr als eine hübsche Floskel sein kann. Doch woher sollen die entsprechenden Mittel kommen? Zumal Wettbewerbsbedingungen das Handeln von Kommunen prägen und ihnen die geforderte Neutralität nehmen. Und überhaupt sollte doch die Einbindung der Adressat_innen an allererster Stelle stehen, aber gibt es schon angemessene Ansätze? Ansätze, die nicht dazu führen, dass nur jene Heranwachsenden ihre Interessen einbringen können, die ohnehin schon gesellschaftlich privilegiert sind? Dass derart fragile Konstrukte eine Schlüsselrolle beim so herausfordernden wie wichtigen Abbau sozialer Disparitäten einnehmen könnten, ist schwer vorstellbar. 41

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Nicht zuletzt ist empirisch durchaus schon belegt, dass nahraumbezogene Bildungsansätze in benachteiligten Stadtteilen höchstens punktuell bessere Bildungsbedingungen für Kinder und Jugendliche, nicht aber den Abbau herkunftsbedingter Benachteiligungen erzielen können (Dyson 2011, S. 10). In der von hohen Erwartungen durchzogenen öffentlichen Debatte um Bildungslandschaften ist dieser Umstand jedoch kaum präsent. Ebenso wie der Blick selten darauf gelenkt wird, dass die Etablierung von Bildungslandschaften in einen marktförmigen Umbau des Bildungssystems eingebettet ist, der vor allem auf mehr Wettbewerb abzielt (Emmerich 2010) – und Ungleichheit insgesamt mehr verstärkt denn ausgleicht. Kurzum: Es bedarf weder weiterer Ausführungen noch viel Phantasie um ein Gespür dafür zu vermitteln, dass die Realisierung des progressiven und daher so überzeugenden Gehalts des Ansatzes in der Praxis unzähligen Widrigkeiten ausgesetzt ist. Den durch Offenheit gekennzeichneten Bildungslandschafts-Gedanken mit den hegemonialen Logiken neoliberaler Kommunalpolitik in Einklang zu bringen, wird sich leichter darstellen, als die Erhöhung der Mittel unterfinanzierter Jugendfreizeiteinrichtungen oder eine signifikante Einflussnahme von jungen Menschen auf Ziele und Maßnahmen durchzusetzen. Genauso wie der öffentlichkeitswirksame Verweis auf die sozialintegrative Wirksamkeit von Bildung ungleich einfacher zu bewerkstelligen ist, als herkunftsbedingten Benachteiligungen tatsächlich den Boden zu entziehen. Kritisch betrachtet bergen Bildungslandschaften die Gefahr, dass sich ihre hohe Überzeugungskraft zur konsenserzeugenden Verschleierung der dahinter liegenden sozial- und bildungspolitischen Missstände nutzen lässt. Ihr Potenzial liegt möglicherweise darin, die Differenz zwischen dem Konzept und den gegebenen Umsetzungsmöglichkeiten sicht-, problematisier- und schließlich angreifbar machen zu können. Macht man sich die hohe Messlatte zu eigen, die der Ansatz durch seine Bekenntnisse zum erweiterten Bildungsbegriff, zu Partizipation und der Ausrichtung an den Bedürfnissen der Adressat_innen setzt, und nimmt man sich ernsthaft der Aufgabe an, alle notwendigen Bedingungen für eine angemessene Realisierung zu schaffen, dann können Bildungslandschaften zu regelrecht revolutionären Instrumenten werden. Und mal ehrlich: Wer hätte das von einem deutsch-deutschen Begriffspaar gedacht? Anika Duveneck

L ITER ATUR Bundesministerium für Familie, Senioren Frauen und Jugend (2005), Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinderund Jugendhilfe in Deutschland – Zwölfter Kinder- und Jugendbericht – und 42

Bildungslandschaft

Stellungnahme der Bundesregierung, www.bmfsfj.de/doku/Publikationen/ kjb/data/haupt.html (Juni 2012). Deutscher Städtetag (2007), Aachener Erklärung des Deutschen Städtetages anlässlich des Kongresses »Bildung in der Stadt« am 22./23. November 2007, www.ec.europa.eu/education/migration/germany9_de.pdf (Juni 2012). Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (2007), Diskussionspapier des Deutschen Vereins zum Aufbau Kommunaler Bildungslandschaften, www.deutscher-verein.de/05-empfehlungen/empfehlungen_archiv/emp fehlungen2007/pdf/Diskussionspapier_des_Deutschen_Vereins_zum_Auf bau_Kommunaler_Bildungslandschaften.pdf (Juni 2012). Dyson, Alan (2011), »Extended Schools« in England: a remarkable experiment? Paper auf der ECER-Konferenz Berlin, 14.09.2011. Eichert, Christof (2007), Bildung als Standortfaktor, in: Bildungsnetzwerke und regionale Bildungslandschaften. Ziele und Konzepte, Aufgaben und Prozess, hg. v. Claudia Solzbacher und Dorothea Minderop, München: LinkLuchterhand, S. 14-22. Emmerich, Marcus (2010), Regionalisierung und Schulentwicklung: Bildungsregionen als Modernisierungsansätze im Bildungssektor, in: Handbuch Neue Steuerung im Schulsystem, hg. v. Herbert Altrichter und Katharina Maag Merki, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 355-375. Tibussek, Mario (2009), Netzwerkmanagement:  Steuerung in Bildungslandschaften, in: Lokale Bildungslandschaften. Perspektiven für Ganztagsschulen und Kommunen, hg. v. Peter Bleckmann und Anja Durdel, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 203-219.

43

Borderlands

Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts verdichten sich Irritationen an der Grenze der USA zu Mexiko zu einem neuen Begriff. Von Matamoros bis Tijuana, von Brownsville bis San Diego war ein 3.200 Kilometer langer Streifen grenzüberschreitender Alltagskultur entstanden, der immer lauter an die Kontingenz einer nationalstaatlich sortierten Welt erinnerte. Dieser verwirrende Ort wurde angemessen verwirrend benannt. Borderlands. Zwei zeitgleich auftauchende Diskurse fördern die seltsame Karriere des Begriffs. Mit der wieder gewonnenen Aufmerksamkeit für die Welt als einheitlichen Erfahrungsraum problematisiert die globalisierungsbezogene Grenzarbeit politische Grenzen im Doppelspiel von De- und Reterritorialisierung. Gleichzeitig weisen poststrukturalistisch formatierte Sozialwissenschaften auf die grundsätzliche Unmöglichkeit stabiler Grenzziehungen hin. Differenz wird zum wichtigsten Bezugspunkt einer transdisziplinären Umschreibung der Moderne. Borderlands werden aus diesen Diskursen geboren und widersetzen sich ihnen als schwerfälliges Widerlager. Borderlands sind Materialisierungen von begrenzter Entgrenzung und entdifferenzierender Differenzierung. 44

Borderlands

Raumtheoretisch lassen sich Grenzen als Kanten fassen, die selbst weder Materie noch Raum sind, aber den Moment markieren, an dem Materie in offenen Raum übergeht (Casey 2011, S. 384). Auch Borderlands sind Zonen des Übergangs, allerdings ohne die materielle Leichtigkeit von Grenzen: »When edges matter to matter, matter matters to borderlands.« An Borderlands gesellt sich Land zur Grenze und bindet den Begriff fest an den Raum, aber nicht an irgendeinen Raum und nicht an jede Grenze. Borderlands sind selten. Sie gedeihen vor allem dort, wo nationale Gesellschaften grenzüberschreitend aneinanderstoßen, und nur dort, wo diese Begegnung Augenblicke spektakulärer Irritation erzeugen kann. An diesem Moment reizvoller Verwirrung orientiert sich die folgende Auswahl definitorischer Kriterien. Borderlands sind: Vervielfältigter Wahnsinn. »We shall take nothing for granted«, hieß es in der ersten Ausgabe von Borderland. Das 1893 gegründete Magazin war Grenzerfahrungen am Rande des Normalen gewidmet, den unerklärlichen Übergängen zum Übersinnlichen und Übernatürlichen (Baylen 1969). Borderland im Singular war begrifflich dem ausfransenden Wahnsinn vorbehalten. Knapp 100 Jahre später taucht der Begriff im Plural auf. Nun richtet das Journal of Borderlands Studies ausdrücklich am Beispiel der »United States-Mexico borderlands region« den Blick auf die unerklärliche Widernatürlichkeit nationaler Grenzziehungen. »Macht Vielheiten!«, hatten uns Deleuze und Guattari (1992 [1980]) einst aufgefordert. Wir haben uns daran gehalten. Aus Geographie sind Geographien und aus dem Borderland sind Borderlands geworden. Der Wahnsinn hat sich an die vielfältigen Materialitäten des Landes geheftet. »Hier leben sie, los atravesados, die Schielenden, Perversen, Schwulen, die Geplagten, Bastarde, Mischlinge, die Halbblütigen und Halbtoten, kurz: All jene, die die Schwelle zum Normalen überschreiten.« So ähnlich hat Gloria Anzaldúa (1987) als eine der ersten den räumlichen Übergang vom singulär Übersinnlichen zum vielfältigen Wahnsinn an der frontera mit Lebenden gefüllt. Anti-essentialistischer Essentialismus. »The U.S.-Mexican border es una herida abierta where […] the lifeblood of two worlds merging to form a third country – a border culture.« (Anzaldúa 1987, S. 25) War die »third culture« einst ein mehrfach hybrides »weder-noch«, wird sie nun blutend zur einfach vermischten »border culture«. Borderlands sind der Ort, an dem in anti-essentialistischer Absicht neue Kulturen essentialisiert werden. Die Grenzkultur des dritten Landes erhält einen Namen, Merkmale werden zugeschrieben, ein Territorium wird verfestigt. In Bajalta California werden Baja und Alta California diskursiv zu einem geographischen Raum zusammengefasst, der sich von Los Angeles bis Rosarito und Ensenada erstreckt, von San Diego bis Tecate und über das Inland Empire nach Calexico und Mexicali (Dear und Lucero 2005). Hier wird Spanglish gesprochen, im Bewusstsein der beständigen Grenzübertrittsmöglichkeit gelebt und mehrere Hundert Millionen Mal im Jahr die Grenze von Süd nach Nord überschritten. Grenzsicherung, Militarisierung (Drohnen) und materielle Verriegelung (Grenz45

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

zaun) als Maßnahmen im Krieg gegen Terror haben den Grenzübertritt für Migranten aus Oaxaca oder Guatemala erschwert. Für Menschen an der Grenze findet das alltägliche Leben beidseits der Grenze unverändert in engem Austausch statt. Nach wie vor bringen Frauen aus Mexicali ganz legal ihre Kinder in einem US-amerikanischen Krankenhaus in El Centro zur Welt, und nach wie vor stillen Kulturliebhaber aus Calexico ihren Unterhaltungsdurst in den Theatern Mexicalis. Jedoch: Die Borderlands-Kultur enthält seit einigen Jahren neue Mechanismen der Selektion. Menschen und Dinge werden im Grenzregime ontologisch symmetrisiert und anschließend präferentiell hierarchisiert. Mobile Waren sind wichtig und wertvoll. Bewegte Menschen gefährdend und unerwünscht. Waren treten weiterhin ungehindert ihre Passage nach Norden an, Menschen werden in Borderlands zunehmend festgehalten. Gefährdungshorizont des nationalen Raums. Borderlands drängen das Denken an die Grenze, an jenen Ort, an dem der nationale Staat seine Operation beginnt. Hier werden Militär von Polizei getrennt, Eigenes von Anderem geschieden, nationale Subjekte und nationale Territorien hervorgebracht, Politik und Geopolitik differenziert, Identitäten und Sprachen geschaffen und bewacht. In früheren Zeiten inspirierte diese begrenzte Ordnung auch existenzielles Denken über den Ort. »Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern, wie die Griechen es erkannten, die Grenze ist jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt.« (Heidegger 1954, S. 154) Raum ist wesenhaft das Eingeräumte, in seine Grenze Eingelassene, es wird versammelt durch einen Ort. Räume empfangen ihr Wesen aus Orten, nicht aus »dem« Raum, und die Orte selbst sind Effekte von Brücken, diesen »Dingen eigener Art« (ebd., S. 153). Borderlands sind keine Grenzen, sondern entsprechen der Brücke, die das Geviert versammelt, die Stätte verstattet und den Raum einräumt. Borderlands sind Möglichkeitsbedingung des Orts und als solche Voraussetzung und gleichzeitig Gefährdungshorizont des versammelten nationalen Raums. Wenn sich in diesen »Dingen eigener Art« Globalisierung als grenzüberschreitend in Bewegung versetzte Gesellschaft inszeniert, reagiert der nationale Staat panisch und verzweifelt mit neuen Grenzbefestigungen. Dabei sind Grenzen selbst längst flüchtig und liquide geworden. Sie gelten als mobil, permeabel und werden in sozio-technisch distribuierten Sicherheitspolitiken an allen Ecken und Kanten des Territoriums praktisch ausgeführt, in Flughäfen, an Bahnhöfen, in Innenstädten, im digitalen Raum. Borderlands hingegen sind fest und unbewegt, sie liegen schwerfällig am Rande des Staats und zwingen sowohl territoriale wie kosmopolitische Utopien zu praktischen Übungen in angewandter hyphenischer Geographie. In Borderlands muss man sich der widersinnigen Gleichzeitigkeit von Verbinden und Trennen stellen. Terrortory. An der Grenze zwischen Indien und Bangladesch hat sich der Austausch von »Papierpalästen« (chit mahal) im 18. Jahrhundert durch nationalstaatliche Grenzziehungen im postkolonialen Zeitalter zu irrsinnigen Matrjoschka-Borderlands vervielfältigt, mit hunderten wechselseitiger Enklaven, 46

Borderlands

mit Enklaven in Enklaven und Enklaven in Enklaven in Enklaven. Von hier stammt die Geschichte eines Mannes, der mit seiner Familie genau auf der Grenze lebt. Das Wohnzimmer befindet sich in Bangladesch, die Toilette in Indien. Der Familienvater war Politiker in Indien und ist heute Bauer in Bangladesch. Seine Töchter gehen auf die schlechteren Schulen Bangladeschs, seine Söhne besuchen die besseren indischen Schulen. Über den jüngst errichteten Grenzzaun zuckt er nur die Schultern, wenigstens würden ihm nun die Kühe nicht mehr weglaufen. Aber auch hier wehrt sich der nationale Staat Indiens verstärkt gegen mobile Bedrohungen. 15 Millionen Migranten sollen seit 1971 aus Bangladesch nach Indien gewandert sein. Ein bald 4.000 Kilometer langer Grenzzaun sowie ein shoot-to-kill-Befehl sollen nun die territoriale Ordnung sichern. Mit zweifelhaftem Erfolg, in den vergangenen zehn Jahren sind über 1.000 Bangladescher an der »Nulllinie« getötet worden. Indische »Grenzschützer« gelten als besonders trigger happy. Territorialität ist eine politische Technologie zur Kontrolle eines kalkulierbar gemachten Raums (Elden 2010). Grenzen und Territorien sind Effekte dieser Strategie. Zusammen bilden sie die Grundlage staatlicher Souveränität, sie müssen bewacht werden, unter allen Umständen. Das Land an der Grenze wird in Borderlands zu staatlichem Grundbesitz, versehen mit dem exklusiven Recht legitimer Gewaltausübung. Terra, Territorium und Terror kommen hier nicht zufällig zusammen. Die Beziehung hat ihren Ursprung in terrere – »Furcht einflößen«. Etymologisch ist Territorium der Ort, an dem Terror ausgeübt wird (Hindess 2006). Borderlands werden zu Furcht einflößenden Orten. Schussbefehle auf Migranten sind nicht die einzigen Manifestationen staatlichen Terrors. Borderlands zählen zu den wenigen Orten der Welt, an denen Menschen auf der Suche nach persönlichem Glück in der Wüste ertrinken und auf dem Meer verdursten. Mehrere Hundert Menschen sind allein im All-American-Canal zwischen Yuma und Mexicali in den letzten Jahren ums Leben gekommen und die mediterrane Bewachung der Außengrenzen Europas zwingt afrikanische Migranten zu weiten und tödlichen Fahrten über den Atlantik. Die Verbindung von Terror und Territorium ist allgegenwärtig. Normalisierte Differenz. Gesetz ist Gesetz. Häufig werden Borderlands als Ort der Begegnung unterschiedlicher Rechtssysteme verhandelt. Aber das ist nicht ganz richtig. Borderlands sind der Ort mehrerer paralleler Rechtssysteme. Das Leben des französischen Grenzbeamten Ferdinand besteht aus wiederkehrenden Versuchen, den italienischen Schmuggler Giuseppe zu verhaften. Ferdinand wurde in einem Haus direkt an der Grenze geboren. Giuseppe erfährt, dass sich die Küche, in der Ferdinand das Licht der Welt erblickt hatte, auf italienischer Seite befand. Das hat Konsequenzen. Nicht nur, dass Ferdinand als Italiener kein französischer Grenzbeamter sein kann. Ferdinand wird auch zum Deserteur und Bigamisten. Er hat in der feindlichen französischen Armee gedient und als er nach der Scheidung seiner ersten Ehe ein zweites Mal heiratet, kannte Italien 47

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

kein Scheidungsgesetz. Er ist also zwei Mal verheiratet. Aber auch für Giuseppe bringt die Grenzverschiebung Verwicklungen. Er ist heute mit der ersten Frau Ferdinands verheiratet, die nach der folgenschweren Reterritorialisierung von Ferdinands Geburtsküche nach italienischem Recht noch immer mit Ferdinand verheiratet ist und qua Gesetz bei ihrem Ehemann zu wohnen hat. Das ist die nationale Grenzgeschichte, die Totò und Fernandel in La Legge è legge 1958 auf die Leinwand gezaubert haben. Gesetz ist Gesetz und Gesetze sind territorialisiert. Das Borderlandnarrativ geht anders. Hier sind alle immer alles. Schmuggler, Grenzbeamte, Deserteure, Ehebrecher und Gotteslästerer. Borderlands sind der Ort normalisierter Differenz. Während die Grenze häufig in Asymmetrien gesetzt ist, produzierende Maquiladoras auf der einen Seite, konsumtiver Wohlstand auf der anderen Seite, interessieren sich Borderlands nicht für die Differenz. Sie umfassen beides, inkludieren den Anderen, verbinden und trennen, wandern hin und her, widersetzen sich der fixen Territorialität der bewachten Grenze und leben nur in der performativen Aktualisierung. Immer enthalten sie beides. Ferdinand und Giuseppe, die Behelfswohnungen der Maquila-Arbeiter in Ciudad Juarez ebenso wie die Anwesen der Maquila-Manager in El Paso, jährlich 3.000 Drogenmorde auf der einen Seite und die sicherste Stadt der USA auf der anderen. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben und beides zusammen konstituiert die Normalität des Borderlands. Am Rande des Normalen wird Differenz normalisiert. Temporäre Ewigkeit. Borderlands werden konstituiert, wenn sich Land zur Grenze gesellt. In wenigen Fällen ist es umgekehrt. Mitunter verhält sich die Grenze zum Land und manchmal ist dieses Verhältnis ewig und temporär zugleich. Im Windschatten von Selbstmordattentaten als auch von anti-muslimischen Sicherheitsdiskursen errichtet Israel seit dem 11. September 2001 eine militärisch bewachte Grenze zu den besetzten Gebieten des Westjordanlands. Diese Grenzanlage, teils als Mauer, teils als Zaun gebaut, erstreckt sich über international anerkannte Grenzlinien hinweg weit in palästinensisches Gebiet hinein, umschließt bisweilen ganze Siedlungen und trennt Dörfer von ihren landwirtschaftlichen Flächen. Hier ist es nicht die Grenze selbst, sondern der spezifische Verlauf, der das raum-zeitliche Problem temporärer Ewigkeit lösen kann. Der Grenzverlauf verhindert für immer einen lebensfähigen Staat Palästina und bleibt doch vorläufig, weil der göttlich legitimierte Anspruch auf das gelobte Land hinter der Grenze erhalten bleibt. Weil aber die externalisierten Anderen hinter klar definierten Schranken ein- und gleichzeitig ausgemauert werden, bleibt das Provisorium ewig unumstößlich. Hier definiert das Land die Grenze, die keine sein darf. Ratzel hätte seine Freude an diesem Prozess. War für ihn doch die Grenzlinie lediglich Abstraktion und der bewegliche, verschiebbare Grenzsaum die Realität im Wettkampf ungleich stark expandierender organischer Nationen. Trotz aller Grenzspiele existiert auch hier weiterhin ein geteilter Alltag. Die Borderlandsnormalität realisiert sich nicht nur in wechselseitigen 48

Borderlands

Angriffen, mit Hubschraubern und Steinen, sondern auch in palästinensischen Autowerkstätten, in denen israelische Siedler ihre SUVs reparieren lassen. Dass Grenzen Land nicht umgeben, sondern durchqueren, ist historisch nicht neu. Koloniale und postkoloniale Grenzziehungen haben Länder regelmäßig unregelmäßig zerschnitten und als nicht-intendierte Nebenfolge Borderlands hervorgebracht, die sich in Kurdistan, im Kaschmir und in zahlreichen Gegenden Afrikas als bedrohliche Peripherien quer zu nationalen Ambitionen territorialer Homogenität legen. Fazit. Borderlands sind widerspenstig, widersprüchlich und widernatürlich. Mit ihrer permanenten Widerrechtlichkeit widersetzen sie sich den einfachen Ordnungen einer einfachen Moderne ebenso wie den komplizierten Übergängen ins globale Zeitalter. Borderlands sind jene Furcht einflößenden Orte, an denen sich der vervielfältigte Wahnsinn der globalen Moderne in anti-essentialistischer Absicht ein territoriales Wesen neu erschaffen hat. Freundlicherweise drückt sich das Wesentliche in einer unaufschiebbaren Unbestimmtheit aus – »a vague and undetermined place […] a constant state of transition« (Anzaldúa 1987, S. 25). Borderlands bleiben undefinierbar, entziehen sich eindeutigen Zuschreibungen und erfreuen sich am Moment der Irritation. Das hundert Jahre alte Motto des singulären Borderland gilt auch im Plural: »We shall take nothing for granted.« Marc Boeckler

L ITER ATUR Anzaldúa, Gloria E. (1987), Borderlands – La Frontera: The New Mestiza, San Francisco: Aunt Lute. Baylen, Joseph O. (1969), W. T. Stead’s Borderland: A Quarterly Review and Index of Psychic Phenomena, 1893-97, Victorian Periodicals Newsletter 2(1), S. 30-35. Casey, Edward S. (2011), Border versus boundary at La Frontera, Environment and Planning D: Society and Space 29(3), S. 384-398. Dear, Michael und Hector Manuel Lucero (2005), Postborder cities, postborder world: the rise of Bajalta California, Environment and Planning D: Society and Space 23(3), S. 317-321. Deleuze, Gilles und Félix Guattari (1992 [1980]), Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve. Elden, Stuart (2010), Land, terrain, territory, Progress in Human Geography 34(6), S. 799-817. Heidegger, Martin (1954), Bauen – Wohnen – Denken, in: Vorträge und Aufsätze, hg. v. Martin Heidegger, Pfullingen: Neske, S. 139-156. Hindess, Barry (2006), Terrortory, Alternatives: Global, Local, Political 31(3), S. 243-257. 49

Business Improvement District

Ein aufmerksamer Besucher nordamerikanischer Innenstädte bemerkt es sofort: Immer wieder betritt er Bereiche, die sich wie eine Marke darbieten. Darauf weisen ihn immer wiederkehrende Markenzeichen, wie eine einheitliche Farbe von den Blüten der Torenien in den Blumenampeln über die Bestuhlungen in den Grünanlagen bis zu den Mülleimern am Straßenrand, hin. Auch erkennt er Logos, die auf ebendiesem Mobiliar prangen. Sie begegnen ihm zudem auf Bannern, die den Beginn eines solchen Viertels anzeigen und auf allerlei Flaggen und Wimpeln. Offenbar wird hier der Ort selber zum Konsumobjekt. Schaut der Besucher noch genauer hin, wird er bemerken, dass diese Markenstrategie nicht nur an der Oberfläche verbleibt, sondern offenbar tiefer in die Steuerung des Quartiers eingreift und mit der Straßenreinigung – gekleidet mit Blaumännern in den Farben des Viertels und mit großen Logos auf dem Rücken – oder privaten Sicherheitsdiensten Aufgaben wahrnimmt, die er bislang der öffentlichen Hand zugeschrieben hatte. Ist der Besucher weitgereist, wird er darüber hinaus feststellen, dass ihm solcherart gestaltete Quartiere in immer mehr Städten weltweit begegnen und er viele von ihnen aufgrund der immer wiederkehrenden Formelemente äußerlich kaum noch unterscheiden kann. Schaut er schließlich ganz genau hin und studiert das Impressum der überall ausliegenden Werbebroschüren, Hinweisplakate oder entsprechend gestalteten Internetauftritte, wird er schließlich erkennen, dass es sich bei vielen dieser Viertel um sogenannte Business Improvement Districts (BID) handelt, die derzeit weltweit in zunehmendem Maße den öffentlichen Raum in innerstädtischen Bereichen gestalten und regulieren. Sie gewähren Geschäftsleuten und Grundbesitzern zum Teil weitreichende Möglichkeiten, die Entwicklung ihres Viertels mitzugestalten. Stadtplanern und Stadtpolitikern verheißen sie, privates Kapital und privates Engagement für die Gestaltung des öffentlichen Raumes gewinnen zu können. BID sind darüber hinaus ein erfolgreiches Geschäftsmodell einer ganzen Armada von privaten Beratungsunternehmen geworden, die es lokalen Akteuren weltweit als Rezept zur Aufwertung von Innenstädten anbietet. BID zeichnen sich durch vier zentrale Merkmale aus, die sie von anderen Organisationen wie Werbegemeinschaften unterscheiden. Die Institution BID 50

Business Improvement District

bedarf erstens immer eines Gesetzes, das ihre Einrichtung legitimiert und von den entsprechenden Instanzen (Deutschland: Bundesländer, USA: Bundesstaaten) zuvor in einem entsprechenden Gesetzgebungsverfahren erlassen worden sein muss. BID sind zweitens immer eine territorial definierte Organisationsform, wobei die Ausdehnung von BID grundstücksscharf gezogen wird. BID beinhalten drittens immer eine spezifische Form der Partizipation, indem bestimmte Anteile an Grundbesitzern (in manchen Ländern auch Gewerbetreibenden) in Quoren zu Beginn des Gründungsprozesses sowohl den Grenzen des BID und seinen Aufgabenbereichen zustimmen müssen und gegen Ende des Prozesses nicht ablehnen dürfen. Anschließend sind viertens alle Grundeigentümer dazu verpflichtet, eine Abgabe zu leisten, mit denen Maßnahmen zur »Attraktivitätssteigerung« umgesetzt werden, das heißt, die oben benannten Stadtmöblierungen gekauft, Dienstleister mit Reinigungsservices beauftragt oder BID-Manager eingestellt werden. Diese Abgabe wird von der Kommune als territoriale Sondersteuer eingezogen und dann an den BID weitergeleitet. BID stehen aufgrund ihrer institutionellen Struktur, ihrer Einbettung in Governance-Strukturen und ihrer inhaltlichen Ausrichtung paradigmatisch für Veränderungen, die seit dem Ende der 1980er Jahre unter dem Stichwort neoliberale Stadtpolitik zusammengefasst werden (Peyroux, Pütz und Glasze 2012). In BID verflüssigen sich die traditionellen Grenzen zwischen hoheitlich-öffentlicher und privater Sphäre: Sie sind quasi-öffentlich, weil sie gesetzlich legitimiert sind und die öffentliche Hand die Abgaben von den Grundeigentümern erhebt. Sie sind zugleich privater Natur, weil Grundbesitzer und Gewerbetreibende die maßgeblichen Akteure in BID stellen und entsprechend ihrer Interessen deren Handlungsfelder ausrichten. BID stehen damit für netzwerkartige, informelle und projektförmige Interaktionen zwischen öffentlichen, privaten und semi-privaten Akteuren in der »unternehmerischen Stadt« und erhalten zum Teil weitreichende Befugnisse. So sind BID zum Beispiel in Hamburg als Träger öffentlicher Belange institutionalisiert worden und bekamen durch diese formelle Einbindung in Planungsverfahren ein gewichtiges Mitspracherecht bei Fragen der Stadtentwicklung. Insgesamt stehen BID als subkommunale Governance-Form darüber hinaus für ein downscaling vormals öffentlicher Aufgaben, bei dem das Quartier und die darin agierenden Grundeigentümer als selbstverantwortlich für seine weitere Entwicklung angerufen werden. Befürworter von BID, von Stadtverwaltungen bis zu einschlägigen Interessenvertretern, feiern dies als Demokratisierung und insgesamt breitere Teilhabe lokaler Gemeinschaften; kritische Stimmen verweisen auf eine Kompensierung des staatlichen Rückzugs aus seiner Verantwortung für Stadtentwicklungspolitik. Ähnliche Gestaltungsmerkmale und Organisationsprinzipien verweisen scheinbar auf eine weltweite Konvergenz von Stadtpolitik. Die dazugehörige Narration lautet: Das BID-Konzept wurde Ende der 1960er in Bloor West Village erfunden, einem innerstädtischen Stadtteil von Toronto. Die Geschäftsleute 51

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

selbst forderten demnach von der Stadt ein Gesetz, das die Grundeigentümer auf eine Abgabe verpflichtet, um damit die Aufwertungsmaßnahmen des Geschäftsviertels finanzieren zu können und die Trittbrettfahrerproblematik (wenige zahlen, alle profitieren) zu umgehen. Das BID war so erfolgreich, dass es sich zunächst in der Provinz Ontario und vor allem in den 1990er Jahren schließlich in ganz Nordamerika ausbreitete. Um die Jahrtausendwende diffundierte das Modell dann nach Übersee – Japan, Australien/Neuseeland, Südafrika – um sich mittlerweile in mindestens 16 Ländern, darunter in Deutschland, Großbritannien, Irland, Serbien und den Niederlanden, etabliert zu haben. In weiteren Staaten werden entsprechende Gesetzesinitiativen vorbereitet. Die These der zunehmenden Politikkonvergenz wird durch entsprechende wissenschaftliche Ansätze zum policy transfer gestützt, die von ebendieser ausgeht und sie mit Typologien von Einflussfaktoren und beteiligten Akteuren zu erklären sucht (Dolowitz und Marsh 2000). Eine solche Fokussierung auf die nationalstaatliche Ebene verstellt jedoch die Sicht auf vielfältige interkommunale Austauschprozesse. Zudem ist die Konzeptualisierung von Transfer in diesen Arbeiten häufig unterkomplex. Der Transfer von BID-Politiken würde danach verstanden wie ein wanderndes Paket, das an einem Ort eingepackt (ein BID-Gesetzestext, eine Anleitung zur Implementierung, ein spezifisches Set an Maßnahmen zur Gestaltung des Stadtraums etc.) und an einem anderen Ort unverändert wieder ausgepackt wird. Dies verstellt jedoch die Sicht auf die Prozesse, die Politiken mobilisieren, und die vielfältigen Veränderungen, die »wandernde Politiken« bei ihrer Einbettung in unterschiedliche Kontexte durchlaufen. Die Konvergenz-These ist – wie der Alltagsblick des Städtereisenden – eher reifizierend. Diese Kritikpunkte im Blick, fassen Stadtforscher unter dem Konzept der policy mobilities die globale Zirkulation von stadtpolitischem »Wissen« stärker als einen global-relationalen, sozialen und räumlich differenzierten Prozess auf, der Städte miteinander verbindet und sich gegenseitig durchdringen lässt. Sie versuchen, »epistemischen Gemeinschaften« (Mc Cann 2011) und vielfältigen Praktiken nachzuspüren, welche an der Mobilisierung und Kontextualisierung global verfügbarer Politikmodelle beteiligt sind (McCann und Ward 2011; Peck und Theodore 2010). BID können dabei exemplarisch deutlich machen, wie Akteure und Institutionen an der Wanderung, De- und Rekontextualisierung und Veränderung von neoliberalen Stadtentwicklungsmodellen beteiligt sind: • Policy Entrepreneurs, wie professionelle Politikberatungen, die eint, dass sie ein vitales wirtschaftliches Interesse an der Verbreitung des BID-Modells haben, die weltweit auf der Suche sind nach Best-Practice und Politikmodellen, die en vogue sind oder es werden könnten, um sie in ihr Portfolio aufnehmen zu können,

52

Business Improvement District

• internationale Organisationen der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit, die als »Globalisierungsbeschleuniger« von BID wirken, indem sie (wie USAID in Serbien oder die GIZ in Albanien) im Zuge der Unterstützung bei der Verwaltungsmodernisierung Projekte der Politikberatung finanzieren, die die Gründung von BID zum Ziel haben, • transnationale Netzwerke wie die International Downtown Association (IDA), ein Netzwerk von mehr als weltweit 650 Institutionen und Gebietskörperschaften, die von thematisch orientierten Fachkongressen für ihre Mitglieder über die Publikation einschlägiger Ratgeberliteratur bis zur Veranstaltung von Fortbildungsseminaren maßgeblich zur Erstellung und globalen Zirkulation von Blaupausen-Konzepten der Innenstadtrevitalisierung durch BID beitragen, • transnationale Regierungsorganisationen wie die EU, die zum Beispiel durch Interreg-Förderprogramme ganz gezielt Vergleiche von Politiken unter ihren Mitgliedstaaten fördert, um klarzumachen, dass ein Wettbewerb um gute Politiken herrscht, und um Diskussionen darüber anzustoßen, welche Elemente von externen Politiken sinnvollerweise in der EU implementiert werden könnten und welche nicht, • gewählte Offizielle, welche die Einführung von BID top-down maßgeblich forcieren können, sei es auf nationaler Ebene zum Beispiel Tony Blair, dessen New Labour einen Wettbewerb unter britischen Kommunen um die BID-Einführung initiierte und die Sieger anschließend finanziell unterstütze, sei es auf lokaler Ebene zum Beispiel der ehemalige Hamburger Oberbürgermeister Ole von Beust, der Hamburg zur deutschen BID-Hauptstadt machte, indem er ihre Gründungen durch Veränderungen in der Governance-Struktur Hamburgs (zum Beispiel BID-Beauftragte mit besonderen Befugnissen auf Senats- und Bezirksebene) vorantrieb, • lokale Akteure wie Stadtplaner, Politiker, zivilgesellschaftliche Gruppen, die – ihrerseits interlokal vernetzt – entscheidend an der lokalen Kontextualisierung von BID beteiligt sind und das Modell zum Teil erheblich abwandeln. So würde der Städtereisende mit seinem geschulten Blick für Markenstrategien im öffentlichen Raum bei einer Reise durch deutsche Großstädte BID zumeist gar nicht registrieren, weil diese hier bewusst nicht im öffentlichen Raum sichtbar werden wollen und entsprechende Symboliken im Stadtbild vermeiden. Praktiken der Politikzirkulation sind dabei stark an unterstützende Infrastrukturen gebunden, die als globalizing micro-spaces (Larner und Le Heron 2002) aufgefasst werden können. Hierzu zählen zum Beispiel internationale Tagungen wie der IDA-Jahreskongress, auf denen hunderte von Experten aus der ganzen Welt zusammenkommen. Sie tauschen dort Erfahrungen mit BID aus, sie entheben durch Vorträge BID aus ihren jeweiligen lokalen Kontexten, re53

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

duzieren sie auf Basiselemente und machen sie damit global mobilisierbar, sie vergewissern sich im Smalltalk in Tagungspausen der Zugehörigkeit zu einer internationalen Gemeinschaft, oder sie informieren sich bei der anwesenden Industrie, die von der Einrichtung von BID und der Verwirklichung ihrer spezifischen Programmatik profitieren möchte, über aktuelle Muster von Weihnachtsbeleuchtungen oder Mülleimern. Wandernde Politiken werden darüber hinaus durch machtvolle geographische Imaginationen in Form von »Vorbildstädten« maßgeblich geprägt. So kann als maßgeblich für die weltweite Verbreitung des BID-Modells seine Ikonisierung durch die Verbindung mit der Stadtpolitik New York Citys gelten. BID boomten hier vor allem in den 1990er Jahren und fügten sich mit ihrem starken Fokus auf Sicherheit und Sauberkeit und ihre starke Sichtbarkeit mittels uniformierten Wach- und Servicepersonals nahtlos in die zero tolerance-Politik unter dem damaligen Bürgermeister Rudolph Giuliani ein. Maßgeblicher Schritt in der Erfolgsnarration von BID war es somit, mit dem Aufschwung New Yorks in den 1990er Jahren identifiziert zu werden. Erst damit konnten sie zu einem weltweit zitierbaren konzeptionellen Vorbild für die Revitalisierung von unter Abwertungsdruck stehenden Geschäftsvierteln werden und gleichermaßen den empirischen Beleg für den Erfolg des Modells und die Übertragbarkeit auf andere Städte liefern. Konkreten Niederschlag findet das in Informationsreisen lokaler Repräsentanten, die in ihren Kommunen BID gründen wollen. So waren fast alle Länder, die BID implementieren wollten, zuvor mit Delegationen auf Informationsreise in New York. Sie erhielten dort »BID zum Anfassen«, mit spontanen Kurzinterviews mit natürlich hochzufriedenen Beschäftigten, der Besichtigung von Infrastruktur, Smalltalks mit Geschäftsinhabern, die auf den Erfolg von BID verweisen. Innerhalb Deutschlands kommt Hamburg mittlerweile eine vergleichbare Stellung als Vorbild zu, dessen BID-Gesetz auf andere Bundesländer übertragen wird und dessen BID-Repräsentanten auf Vortragsreisen für ihr Modell werben beziehungsweise andere Initiativen unterstützen oder in entsprechenden kommunalpolitischen Seminaren, Stadtrundgängen und auf Tagungen Best-Practice-Lösungen vorstellen. Auch mobile Politiken wie BID werden jedoch stark durch territorial gebundene Strukturen gefasst, da sich Stadtpolitik in erheblichem Maße pfadabhängig entwickelt. Die Konstituierung von Stadtpolitik kann als Assemblage aus machtvollen Diskursen, Aktanten (BID-Ratgeber, Gesetze etc.) sowie situierten Praktiken von Akteuren aufgefasst werden, die kontinuierlich global verfügbare und wanderende Politikmodelle anwenden, ablehnen oder verändern, wobei die lokale Zusammenführung von weltweit zirkulierenden Politiken zukünftige Pfadabhängigkeiten prägt (Ward 2011). Um als Vorbild dienen zu können, müssen Politiken dekontextualisiert werden oder auf einfach übertragbare Erfolgsrezepte reduziert werden. Um erfolgreich eingebettet zu werden, müssen sie kontextualisiert werden: Sie müssen sich in unterschiedliche 54

Business Improvement District

territorial gebundene Rechtsordnungen einpassen, sie müssen an lokalspezifische, überkommene institutionelle Gefüge andocken und sich entsprechend organisatorisch aufstellen, sie müssen an lokale Diskurse und Problemwahrnehmungen anschließen, um als erfolgversprechende Strategie aufgefasst werden zu können. Solche »Krisendiskurse« thematisieren zum Beispiel in den USA häufiger Sicherheitsfragen, in Deutschland dagegen Bedrohungen durch Shopping-Center – entsprechend unterscheiden sich die konkreten Handlungsfelder der BID. Lokal gebundene stadtpolitische Erfahrungen zum Beispiel mit anderen partizipativen Instrumenten können die Chance einer »erfolgreichen« Adaption deutlich erhöhen oder reduzieren. So muss bei aller Rede über die Ausbreitung von BID konstatiert werden, dass zum Beispiel in Hessen mindestens acht Gründungsversuche nicht zum Abschluss kamen (bei sechs vollzogenen Gründungen), weil lokal andere Probleme als relevant wahrgenommen werden als solche, für die BID Problemlösungskompetenz reklamieren, oder weil es Akteuren vor Ort gelingt, Widerstände gegen BID zum Beispiel über eine andere Auffassung über die Rolle des Staates bei der Leistungserbringung zu mobilisieren. Wie BID zeigen, sind mobile Politiken sehr flexibel und wandlungsfähig – von lokalen Kontextualisierungen bis hin zur Übertragung des BID-Modells auf andere stadtpolitische Felder wie in Hamburg zum Beispiel in Form von Housing Improvement Districts, die ihrerseits in der globalen Zirkulation von Stadtpolitiken mobilisierbar werden. Insbesondere haben sie sich durch eine Fähigkeit ausgewiesen, die neoliberaler Politik grundsätzlich zugesprochen wird: Widersprüche, Widerstände oder Kritik (zum Beispiel einer zunehmenden Kommodifizierung von innerstädtischen BID-Bereichen) zu inkludieren oder umzukehren (zum Beispiel durch eine Identität als Bewahrer der europäischen Innenstädte gegen die Bedrohung suburbaner Shopping-Center) und sich damit beständig zu erneuern. Robert Pütz

L ITER ATUR Dolowitz, David P. und David Marsh (2000), Who Learns What From Whom? A Review of the Policy Transfer Literature, Political Studies 44(2), S. 343-357. Larner, Wendy und Richard Le Heron (2002), From Economic Globalisation to Globalising Economic Processes: Towards Post-Structural Political Economies, Geoforum 33(4), S. 415-419. McCann, Eugene und Kevin Ward (2011), Introduction. Urban Assemblages: Territories, Relations, Practices, and Power, in: Mobile Urbanism. Cities and

55

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Policy-Making in the Global Age, hg.  v. Eugene McCann und Kevin Ward, Minneapolis: University of Minnesota Press, S. xiii-xxxv. Peck, Jamie und Nik Theodore (2010), Mobilizing policy: Models, methods, and mutations, Geoforum 41(2), S. 169-174. Peyroux, Elisabeth, Robert Pütz und Georg Glasze (2012), Business Improvement Districts (BID): the internationalization and contextualization of a »travelling concept«, European Urban and Regional Studies 19(2), S. 111-120. Ward, Kevin (2009), Policies in Motion and in Place: The case of Business Improvement Districts, in: Mobile Urbanism. Cities and Policymaking in the Global Age, hg. v. Eugene McCann and Kevin Ward, Minneapolis: University of Minnesota Press, S. 71-96.

56

Castor

Der »Castor« ist zu einem Synonym für einen ungelösten Technikkonflikt geworden. Es geht um die Suche nach einem Endlager für hoch radioaktive Abfälle in Deutschland. In der Regel handelt es sich bei den Abfällen um abgebrannte Brennstäbe aus Kernreaktoren oder Abfälle aus ihrer Wiederaufbereitung. Der Castor als anspruchsvoll ausgelegter und sorgfältig gestalteter Behälter mit Kühlrippen und einem aufwändigen mehrteiligen Deckel, also eine Art komplexe und große Blechkiste, wurde zu einem kommunikativ aufgeladenen Begriff, der weit über sich selbst hinausweist. Seine Verwendung weckt unmittelbar Assoziationen an große Demonstrationen und phantasievolle Aktionen zivilen Ungehorsams, aber auch an die größten und teuersten Polizeieinsätze der deutschen Gegenwart. All dies ist in mehrfacher Weise mit »Raumverhältnissen« verbunden, für die der Castor den Mittelpunkt bildet. Er trennt innen und außen, er wird über Schienen und Straßen bewegt und Menschen gruppieren sich um ihn – sei es nun als Polizisten, Demonstranten oder Transportbegleiter. Umhüllt werden diese Formen des Bewegens und kollektiven Handelns von massenmedialer Aufmerksamkeit, an die sich – jenseits informationsbezogener Medienresonanz – Debatten und Auseinandersetzungen um die nationale Form der Energieversorgung und um politische Überzeugungen anlagern. Diese Medienresonanz wird – fast schon routinisiert – über einige Tage und Wochen im Jahr der Öffentlichkeit mit Rede und Gegenrede unter den Stichworten »Castor« und »Endlagerpolitik« angeboten. Der Name Castor selbst entstammt der griechischen Mythologie. »Castor« und »Pollux« sind, in lateinischer Schreibweise, Halbzwillinge, deren Mutter Leda Castor in der gleichen Nacht von ihrem Ehemann, dem König von Sparta, Pollux jedoch vom Göttervater Zeus empfing. Dementsprechend war Pollux nach der griechischen Mythologie unsterblich, während Castor sterblich war. Sie galten als unzertrennlich und beteiligten sich mit Iason und den Argonauten an der Suche nach dem Goldenen Vlies. Castor wurde der Sage nach im Streit erschlagen, jedoch wurde von Pollux erwirkt, dass er seine eigene Unsterblichkeit mit Castor teilen dürfe. Castor und Pollux bilden das Sternbild der Zwillinge. Die Symbolik von »sterblich« versus »unsterblich« wurde

57

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

bei der Namensgebung der modernen Castoren berücksichtigt. Während der Castor mit seinen verschiedenen Typen einer Reihe von Transportzwecken und der Zwischenlagerung dient, also in seiner Lebenszeit auf mehrere Jahrzehnte befristet ist, ist für die Endlagerung der hoch radioaktiven Abfälle ein anderer Behälter vorgesehen: der Pollux, den es allerdings mangels eines Endlagers erst im Versuchsstadium gibt. Der moderne Castor ist allerdings kein Sagenheld, sondern als Akronym für »cask for storage and transport of radioactive material« ein international geschützter Markenname, dessen Rechte der Gesellschaft für Nuklear-Service gehören. Der Behälter selbst schimmert silbern, ist zylinderförmig und besteht aus dickwandigem Spezialwerkstoff aus duktilem Gusseisen, das die radioaktive Strahlung der Abfälle weitgehend absorbieren soll. Spezielle Vorkehrungen sind getroffen, damit die aus den fortlaufenden radioaktiven Zerfallsprozessen entstehende Wärme nach außen abfließen kann. Stoßdämpfer sollen bei Unfällen helfen, Schäden zu vermeiden. Sein Gewicht liegt zwischen 110 und 125 Tonnen. Etwa zehn Tonnen Abfall können mit ihm transportiert werden. Ein Castor-Behälter kostet etwa 1,5 Millionen Euro. Die Sicherheit des Behälters wurde durch aufwändige Versuche geprüft, zu denen das mehrfache Fallen aus neun Metern Höhe auf eine Kante und das Aussetzen einer Temperatur von 800 Grad Celsius für mindestens eine halbe Stunde sowie Kombinationen dieser Versuche gehörten (zur Technik siehe Bollingfehr et al. 2011, insbesondere S. 11-30). Der Castor trennt ein Innen vom Außen und damit Räume voneinander. Das, was innen ist, muss unbedingt vom Kontakt mit dem Außen ferngehalten werden. Der hoch radioaktive Inhalt symbolisiert zentrale Risiken der Kernenergie, die Strahlung und ihre Folgen für Mensch und Umwelt. Diese strahlenden Materialien werden, getrennt vom Außen durch die Wand des Castors, über normale Verkehrswege transportiert; auf Güterzügen über Schienen durch Bahnhöfe und Ortschaften, auf den letzten Kilometern vor dem Ziel – in der Regel einem Zwischenlager, das trotz des Wortes »zwischen« auf Jahrzehnte angelegt ist – auf Lastwagen über normale Straßen und auch durch Ortschaften. So nahe kommen hoch radioaktive Materialien der Bevölkerung sonst wohl kaum – getrennt von ihr nur durch die Metallwand des Castors. Das Risiko ist darin »eingesperrt« und verkörpert dabei ein Modell für containments jeglicher Art – ein containment, mit dem versucht wird, Risiken des wissenschaftlich-technischen Fortschritts unter Kontrolle zu halten. Der Castor also als Hochsicherheitstrakt der besonderen Art. Durch den Raum ziehen sich die Transportwege der Castoren, ausgehend von stillgelegten Kernkraftwerken, von der Wiederaufbereitungsanlage La Hague in Frankreich oder von Kernforschungszentren und endend an den Zwischenlagern Ahaus im Münsterland oder Gorleben im Wendland. Auf diese Weise werden Beziehungen zwischen den ortlosen und mobilen Castoren und 58

Castor

den Namen konkreter Orte hergestellt. An den Zielorten werden die Castoren abgestellt und müssen dort warten, bis die Endlagerfrage einmal gelöst sein wird. Das Wort Endlager ist mit dem Castor eng verbunden. Zwar sind die Castoren Ausdruck der »Zwischenlager«-Philosophie, jedoch verweist das Zwischenlager auf ein Endlager und wäre begrifflich ohne diese Vorstellung merkwürdig leer. Endlager – abgesehen von der unseligen Reminiszenz an die »Endlösung« – werden in Deutschland, wie auch in vielen anderen Ländern, als geologische Tiefenlager gesucht. Aus der ca. einen halben Meter dicken Castor-Wand, die das Risiko einschließt, sollen viele hundert oder auch tausend Meter werden, durch die der hoch radioaktive Abfall vom Menschen und seiner Lebenswelt getrennt werden soll. Die Topographie der Transportwege ist auch die der Menschen, die demonstrieren und die Ankunft des Castors verzögern wollen oder die den Transport betreiben beziehungsweise bewachen. Die Demonstranten entlang der Transportwege wenden sich gegen die Kernenergie als solche und gegen Gorleben als möglichen Endlagerstandort. Sie haben Sorge vor den im Castor eingesperrten Risiken, befürchten Nachteile für ihre Region und haben das Vertrauen in demokratische Prozesse oft verloren. Einige sind bereit, ihre eigene Mobilität im Raum bis ins Extrem einzugrenzen, indem sie sich an Schienen festketten oder auf der Transportstrecke einbetonieren lassen. Der Castor als Symbolisierung, aber auch als Visualisierung eines mehrschichtigen Technikkonflikts, der sich um den Verbleib erzeugter und bereits absehbarer Abfälle, vor allem aus der Produktion von Nuklearstrom, dreht, verweist auf mehrere mögliche Perspektiven. Hier sollen diese an Akteure geknüpft werden, die jeweils ihr eigenes Bild von den Castoren kommunizieren. Für die Stromwirtschaft sind Castor und Pollux High-Tech-Behältnisse, die Abfälle sicher »entsorgen«. Sie holen die hoch radioaktiven Abfälle aus dem kurzfristig genutzten Abklingbecken, den Lagerhallen und Recycling-Anlagen in Frankreich, Großbritannien und Belgien. Diese Behältnisse sind Produkte bester Ingenieurskunst und nehmen dem Bürger die Sorgen vor unsachgemäßer Deponierung und unklarem Verbleib. Als Teil einer arbeitsteilig organisierten »Entsorgungskette« müssen sie, da die Transporte wegen älterer vertraglicher Verpflichtungen und zum Erreichen einer sicheren Verwahrung notwendig sind, auch gegen den Protest nuklearkritischer Bürger und Nichtregierungsorganisationen an »Bestimmungsorte« wie in das BrennelementeLager Gorleben gefahren werden. Die Schlüsselentscheidungen zur Endlagerung werden von der Bundespolitik, insbesondere dem Umwelt- und dem Wirtschaftsministerium, übernommen. Beim Studium der deutschen Endlagergeschichte fällt auf, dass die Entsorgungspolitik die aktive Rolle im Raum (hier bundesdeutsches Territorium) zwar wahrnimmt. Ein pro-aktives und dynamisches Vorgehen, das den 59

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Fahrten der Castoren Gehalt verleihen könnte, ist jedoch kaum auszumachen. Konflikte zwischen Bund und Ländern sowie den Parteien, die jeweils in Regierungsverantwortung stehen, und fachpolitische Entscheidungsblockaden im Mehr-Ebenen-System des Förderalismus und europäischer Forschungs- und Energiepolitik machen den Castor zwar zu einem Sinnbild: Er wird bewegt und damit wird Aktivität suggeriert. Gleichzeitig verzögern jedoch Proteste (wie der berühmte Sand im Getriebe) die Transporte und machen den umfangreichen Einsatz von Polizei und Sicherheitskräften entlang von Transport-Routen notwendig. Was nach dem zweiten Ausstieg aus der Kernenergie als neue Bundespolitik der Entsorgung proklamiert wird (mehr Bürgerbeteiligung, Dialog und Vergleich von Standorten, aber auch der hohe Preis eines einzelnen Castor oder Pollux), führt zu einer Diskurslandschaft, in der zu fragen ist, welche alten Polarisierungen bestehen bleiben und welche sich auflösen werden. Der Castor als Transportbehälter wird mindestens noch 50 Jahre im Geschäft bleiben. Denn frühestens dann wird der letzte Brennstab am Endlager (an welchem Ort auch immer) für den Pollux bereitstehen. Weitere Politikergenerationen werden also ihre planenden, entscheidenden und Risiko managenden Aufgaben noch wahrnehmen müssen. Der Castor oder unter Umständen ein preiswerterer Nachfolger wird sie begleiten – biografisch, aber auch hinein in ihre Wahlkreise. In den Massenmedien ist es längst nicht mehr die erste Generation der Journalisten, die den letzten Castor-Transport im November 2011 bearbeitet und das Event als inszeniertes Pseudo-Ereignis oder als Versuch entschiedenen zivilgesellschaftlichen Widerspruchs ausgeschlachtet hat. Die großen Fragen der massenmedialen Bilder und Texte waren: Wird der Castor durchkommen? Wie lange dauert es? Welche Route wird der Zug auf seinem Weg aus Westfrankreich durch die alte Bundesrepublik bis zum Nadelöhr in Niedersachsen nehmen? Wird die Alarmkette der bundesweit (und doch regional) agierenden Gegner oder das zuständige Bahnunternehmen schneller sein? Schlagzeilen des Boulevards bedienten sich bei der Auswahl ihrer Berichterstattung der einschlägigen Nachrichtenfaktoren (wie Konflikt, Größe, ereignishaft punktuellem und lokalem Bezug, siehe dazu Eilders 2006 oder Schmitt-Beck 1990). Die Stunden der Verzögerung der zu transportierenden Behälter werden gegen die astronomisch hohen Summen der Transportkosten im zweistelligen Millionenbereich verrechnet. Die »Mediendemokratie« hat ihr Spektakel, das den Leser fasziniert; das Konfliktthema ist durch massenmediale Resonanz aktualisiert. Nutzen und Risiken der Brennstäbe verknüpfen sich symbolhaft (Berens 2001, S. 111). Die antinukleare Opposition und ihre Unterstützer machen den Castor zu einem innenpolitischen Konflikt – einem Konflikt, der aus vielen Gründen nur selten zur Ruhe kommt und sich an den Nuklearstandorten mit unterschiedlichem Eigensinn entwickelt. Die Protestgruppen gegen die Castor-Transporte 60

Castor

haben seit den 1990er Jahren die an sich ressourcenschwache deutsche »AntiAKW-Bewegung« durch Mobilisierungserfolge am Leben erhalten (Kolb 1997; Rucht 2008). Die bewiesene Fähigkeit, wie aus dem Nichts heraus Kampagnen mit 10.000 und manchmal auch 50.000 Teilnehmern und Unterstützern durchzuführen, hält eine ungewöhnliche Kontroverse aufrecht, die sich als Konfliktlinie mit ihren Pro- und Contra-Argumenten durch Talk-Shows im Fernsehen, Chatrooms im digitalen Raum, Reden an Kundgebungsorten und über die berühmten Küchentische im Privatleben von Familien zieht. Der Castor symbolisiert und reflektiert dabei Dissens und Widerspruch. In den Pausen zwischen den Transporten bleibt die nicht zu Ende geführte Diskussion virulent. Konsens als Diskussionsziel öffentlicher Debatten anlässlich eines Castor-Transports scheint auf dem Zeitstrahl weit entfernt – fast wie in einem anderen Raum. Experten und Wissenschaft erschienen lange als Hoffnungsträger. Auf die Überzeugungskraft ihrer abgewogenen und rationalen Argumente wurde abgestellt. Es sei doch gut begründbar, die abgebrannten Brennstäbe in gut geprüften Behältern in gut gesicherte Lagerstätten zu bringen. Auch die Wissenschaft und der sich um sie gruppierende weitere Kreis von Fachleuten und Experten bildet heute eine ihr eigene Teilöffentlichkeit (»Fachöffentlichkeit«) aus, die mit der allgemeinen Öffentlichkeit nur lose verknüpft ist. Ihre Wissenschaftler und Experten dringen mit ihren Wortmeldungen, zum Beispiel auf Dialogveranstaltungen oder Konferenzen, fallweise in die nationale Berichterstattung vor und spielen eine ambivalente Rolle. Einerseits sind sie – ihre Ergebnisse, Daten und Evaluationsprozesse – einer spezifischen Rationalität ausgesetzt. Da es aber im nationalen Kontext nur ein kleiner Kreis von Personen (zwischen 150 und 300) ist, der sich beruflich und anhaltend mit Fragen der Castor-Transporte und Entsorgung beschäftigt, sind sie auch für Stakeholder und andere Expertengruppen im Kampf um Konzepte und die Vorbereitung von begründeten Entscheidungen zentral – ganz gleich, ob sie sich pronuklear oder nuklearkritisch verorten. Das klassische Expertendilemma mit konträren Positionen in Sachfragen und Widersprüchen ist auch präsent, wenn es um die Einhaltung von Grenzwerten in Brennelemente-Lagern, die mit Castoren bestückt werden, und bei Castor-Transporten geht, bei denen die Strahlenbelastung für begleitende Polizeibeamte ermittelt und als (un-)bedenklich klassifiziert wird. Wissenschaftler und Experten sind eindeutig »Mitspieler« und übernehmen dabei gesellschaftliche Verantwortung, die über die Verantwortungsethik Max Webers hinausgeht. Diese Verantwortung für den Einsatz von Abfalltechnologie, die sich in Bergwerken räumlich-regional und mit den Castoren als Bewegung und Sicherung im Raum manifestiert, wird sowohl von der Wissenschaft und den Experten, als auch von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft übernommen. Gerade für die seit mehreren Dekaden antinuklear gestimmten deutschen Akteure 61

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

ist die Übernahme der Verantwortung nicht ganz freiwillig. Sie haben vor der Energiewende lange die »Atomwirtschaft« bekämpft und stehen heute zusammen mit ihren Befürwortern vor der Aufgabe, möglichst minimale Lasten an die nächsten Generationen weiterzugeben. Es handelt sich dabei keineswegs um ein Problem, das durch eine einfache Delegation an eine Standortregion für ein nationales Endlager verschwunden ist. Regionalismus und NIMBY-Positionen (Not In My Backyard) in potenziellen Standort-Regionen machen deutlich, dass mehr zu bearbeiten ist, als einen Standort nach fachlichen Kriterien auszuwählen (Hocke und Grunwald 2006). Unter Bedingungen von Fairness und Transparenz soll mittels sozialer Innovationen und Phantasie (das heißt durch Entwicklung angepasster Verfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung und das Organisieren ausreichender Sicherheit, zum Beispiel durch 500jährige Pollux-Standzeiten nach unterirdischer Deponierung) eine proaktive Bereitschaft bei der Bevölkerung in ausgewählten Deponieregionen erreicht werden, potenzielle Lasten zu tragen. Die Alternative zu zivilgesellschaftlichen Lösungen wäre das Zurückfallen auf eine Politik des Decide-Announce-Defend, die in der Vergangenheit bereits öfters gescheitert ist, aber keineswegs als strategische Alternative aus der Welt ist (Flüeler 2006, S.  186; Hermansson 2007, S.  30). Wer in dieser Welt allerdings transporttechnisch und räumlich dabei sein wird, ist der Castor. Deshalb macht es Sinn, den Castor nicht nur als technisches Artefakt, sondern auch als Chiffre für Modernität mit ihren Ambivalenzen, aber auch für eine oder eigentlich mehrere Legenden zu verstehen. Armin Grunwald und Peter Hocke

L ITER ATUR Berens, Harald (2001), Prozesse der Thematisierung in publizistischen Konflikten. Ereignismanagement, Medienresonanz und Mobilisierung der Öffentlichkeit am Beispiel von Castor und Brent Spar, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Bollingfehr, Wilhelm, Wolfang Filbert, Christian Lerch und Marion Tholen (2011), Endlagerkonzepte. Bericht zum Arbeitspaket 5. Vorläufige Sicherheitsanalyse für den Standort Gorleben, Köln: Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS)mbH. Eilders, Christiane (2006), News factors and news decisions. Theoretical and methodological advances in Germany, Communications 31(1), S. 5-24. Flüeler, Thomas (2006), Decision making for complex socio-technical systems. Robustness from lessons learned in long-term radioactive waste governance, Dordrecht: Springer. Hermansson, Hélène (2007), The Ethics of NIMBY Conflicts, Ethical Theory and Moral Practice 10(1), S. 23-34. 62

Castor

Hocke, Peter und Armin Grunwald (Hrsg., 2006), Wohin mit dem radioaktiven Abfall?, Berlin: edition sigma. Kolb, Felix (1997), Der Castor-Konflikt. Das Comeback der Anti-AKW-Bewegung, Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 10(3), S. 16-29. Rucht, Dieter (2008), Anti-Atomkraftbewegung, in: Die Sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, hg. v. Roland Roth und Dieter Rucht, Frankfurt a.M.: Campus, S. 245-266. Schmitt-Beck, Rüdiger (1992), Über die Bedeutung von Massenmedien für Soziale Bewegungen, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 42(4), S. 471-481.

63

Cloud

Wolken schweben über uns, wir können sie nicht greifen. Aufgrund des fehlenden haptischen Bezugs neigt man dazu, das Wolkige mit dem Ungreifbaren gleichzusetzen. Es mag eine Folge hiervon sein, dass man bei ihnen nicht so leicht zwischen Form und Inhalt unterscheiden kann. Laut Meteorologen sind sie eine Ansammlung von sehr feinen Wassertröpfchen oder Eiskristallen in der Atmosphäre. Das Merkwürdige hieran ist jedoch, Wolken sind eben nur das: Leere Wolken gibt es schlechthin nicht. Vermutlich deswegen sind sie als Orte interessant. Anders als bei Plätzen, die einen Ort bilden, ob sich nun Leute dort versammeln oder auch nicht, weiß man nicht so genau, ob man Wolken überhaupt als Orte fassen kann. Das fängt bei der Um- und Eingrenzung an: Wo genau verläuft die Grenze zwischen Wolken und Himmel, zwischen verdichteten Wassertröpfchen und »normaler« Luft? Wo fängt eine Wolke an, wo hört die andere auf? Andere materielle Gebilde lassen sich einfach voneinander unterscheiden. Zum Beispiel Mülltonnen. Ob gelb oder grau, der Unterschied ist sofort fassbar. Dass das bei Wolken nicht nur was ihre Klassifikation für den Laien, sondern auch schon ihre Anzahl betrifft, nicht so leicht ist, mag damit zusammenhängen, dass sie sich a) viel öfter als DIN-genormte Mülltonnen verformen und b) viel weiter als diese von uns weg sind. Ihnen fehlt ein fester Platz in unserer sozialen Ordnung. Dafür bevölkern Wolken den ganzen Himmel und schrecken nicht einmal vor nationalstaatlichen Grenzen zurück. Gegenüber den dynamischen Wolken haben unsere Mülltonnen etwas sehr statisches. Trotz dieser grundsätzlichen Differenz haben sie auch etwas Gemeinsames: Sie lassen Dinge verschwinden. Wolken verbergen oder vernebeln alles, was aus Blickrichtung hinter ihnen liegt, Mülltonnen idealerweise all das, was man in sie hineinwirft. Der Vergleich ist weniger konstruiert als vermutet. Während Wolken raumtechnisch besonders schwierig zu greifen scheinen, stehen Mülltonnen einer bestimmten Sorte für ein besonders handliches Raumkonzept – den »Container«, von dem man sich vielerorts nach und nach verabschiedet. Zur Erinnerung: Der sogenannte spatial turn bezeichnet eine transdisziplinäre Debatte, deren kleinster gemeinsamer Nenner in der Abwendung vom Container-Raum 64

Cloud

liegt. Die Bezeichnung Container-Raum hat sich für eine bestimmte Konzeptualisierung von Raum eingebürgert; nämlich die Idee, Raum als einen riesigen Behälter anzusehen. Die Namenswahl haben wir vermutlich Albert Einstein zu verdanken, der auch den Hintergrund dieser Vorstellung verrät. Ursprünglich ging es um das Konzept des absoluten Raums, welches mit Isaac Newton klassisch für die Physik wurde (Einstein 1960, S. XIII). Dabei ist der absolute Raum Newtons nichts, was man sich vorstellen kann, sondern eben ein absoluter, in der modernen Physik gar überflüssig gewordener Begriff. Bereits in den zeitgenössischen Debatten kursierte der Vorschlag, sich diesen übergeordneten Raum(-begriff) als einen großen Behälter vorzustellen. Damals war dieser Container bemerkenswerterweise noch der Wohnsitz Gottes (Schüller 1991, S. 468). Verstärkt durch die neuzeitliche Gewohnheit, die äußere Welt als Euklidischen 3D-Raum zu modellieren, verfestigte sich der Container zum alltagsweltlichen Bild (Löw 2001, S. 24-27). So stellte sich der moderne Großstädter alsbald seinen eigenen Lebensraum als Container vor. Die bekannten Vorteile des Container-Modells sind die klaren Grenzen des Innen und Außen. Man weiß, was hinein gehört und was nicht. Doch mit der Verflüssigung dieser Grenzziehungen verliert auch das Container-Modell seine Stahlkraft. Von Einstein kann man lernen, dass dies viel mit der Frage nach der Zeit zu tun hat, aber das soll hier außen vor bleiben. Kurz gesagt ist man sich neuerdings also einig geworden, unseren Planeten nicht mehr als riesige Mülltonne anzusehen. Es wäre bedenkenswert, ob das räumliche Geturne mit der Öko-Bewegung irgendwie unter einer Decke steckt. Seit Computer-Ingenieure einen neuen Wolken-Typus erfunden haben, legen Wolken insgesamt ihr giftiges Image aus der Öko-Bewegung ab (Atomwolke). Cloud-Computing gilt als der neue Hype unter den Computervisionären, der hier auf das Wolkige dieser Art von Datenverarbeitung hinterfragt werden soll. Wie häufig bei neuen Computing-Formen legen sich die Experten lange Zeit nicht auf eine Definition fest. Eine, die die Angelegenheit in etwa treffen sollte und an der wir uns hier orientieren können, lautet: »Cloud Computing erlaubt die Bereitstellung und Nutzung von IT-Infrastruktur, von Plattformen und von Anwendungen aller Art als im Web elektronisch verfügbare Dienste.« (Baun et al. 2010, S. 1) Aus der Sicht der Nutzer, meist Unternehmen oder Privatpersonen, geht es folglich um die flexible Nutzung von IT-Ressourcen. Ähnlich wie man beim Car-Sharing ein Auto nur für den Zeitraum der Nutzung zur Verfügung hat, kann man beim Cloud-Computing IT-Ressourcen mieten, anstatt sie zu kaufen und zahlt dann nur für die tatsächliche Nutzung. Das Praktische hieran ist, dass die zur Verfügung gestellten Ressourcen »dynamisch skalierbar« sind. Das heißt Menge und Typ können flexibel an das jeweilige Anliegen angepasst werden. Unternehmen können so Fixkosten für ein eigenes Rechenzentrum in operative Kosten umwandeln – »pay as you go«. Die Nutzung solcher IT-Ressourcen ist nichts Ungewöhnliches. In gewisser Hinsicht 65

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

erinnert diese Zentralisierung der Rechenleistung an die Mainframe-Ära, nur dass heutzutage diese zentrale Leistung über das Internet viel flexibler abgegriffen werden kann. Insider sehen im Cloud-Computing Parallelen zum GridComputing, bei dem ein Nutzer ebenfalls nicht auf seine eigenen Rechenleistung angewiesen ist, sondern einen ganzen Pool von Kapazitäten nutzen kann. Jedoch bleibt das Angebot der Rechenleistung beim Grid-Computing verteilt. Beim Cloud-Computing hingegen bündeln und monopolisieren kommerzielle Anbieter die IT-Kapazitäten. Wolkig wird es folglich dadurch, dass die Dienste von einem Provider (Anbieter) über das Internet oder Firmennetz bereitgestellt werden, der sich um die Verwaltung, Pflege und Sicherung der IT-Ressourcen kümmert. Die Mieter der Ressourcen greifen auf die Infrastruktur durch die jeweiligen Cloud-Dienste zu. Konkret heißt das, als Privatkunde kaufen Sie sich keinen zusätzlichen Speicherplatz mehr, sondern legen Ihre Daten in einer Cloud Ihrer Wahl ab, im kleinen Stil etwa in der Dropbox. Sie schaffen sich keine teure Office-Software an, sondern benutzen Google Docs. Die Angebote auf der professionellen Ebene sind in etwa vergleichbar. Über solche Cloud-Angebote verlegen Sie Ihre Daten folglich in eine Wolke. Der Zugriff auf Ihre Daten wird technisch geregelt und gesichert, es lohnt aber dennoch die Frage, inwiefern Ihre Daten in der Cloud mit Wassertröpfchen in der Atmosphäre vergleichbar sind. Eine markante Ähnlichkeit besteht nämlich in der Loslösung von einer erdräumlichen Verortung. Auf die Frage »Wo sind Ihre Daten?«, auf die Sie bis dato »auf meiner Festplatte« antworten konnten, können Sie jetzt nur noch sagen »in der Cloud«, was so viel heißt wie: irgendwo. Dass Sie nicht so genau wissen können, wo Ihre Daten sich befinden, bemerken Sie daran, dass Sie nicht auf einen Ort zeigen können, an dem sie sich befinden. Stattdessen verweisen Sie auf einen Anbieter, der die Daten für Sie bereit hält, und Sie mutmaßen, Ihre Daten seien wahrscheinlich auf irgendwelchen Rechnern dieser Anbieter gespeichert. Die Verlagerung in die Cloud entzieht dem Nutzer folglich den konkreten Ortsbezug der Möglichkeit, Daten sichtbar zu machen. Dafür verspricht sie, dass der Nutzer auf die Cloud von jedem internetfähigen Ort der Welt (mit passender Schnittstelle) zugreifen kann. Es findet somit eine zweifache Loslösung vom Ort statt, was für die postmoderne Techniknutzung symptomatisch sein mag. Zum einen liegen die Daten »irgendwo«, zum anderen kann der Nutzer auf die Daten »überall« zugreifen. Die Nicht-Orte »irgendwo« und »überall« können über das Cloud-Computing beliebig in Verbindung gesetzt werden. Auf die »raumtechnische« Frage des Cloud-Computings »Wo sind die Daten, wenn sie in einer Cloud sind?« lassen sich an dieser Stelle zwei Antworten formulieren. Die eher metaphorische Antwort bekundet, sie stecken nicht wie der Müll im Container, sondern verteilen sich wie Wassertropfen in der Atmosphäre. Die technische Antwort lautet, Ihre Daten werden virtualisiert. Das heißt, die Darstellung Ihrer Daten wird von ihrer physischen Lagerung entkoppelt (Baun et al. 66

Cloud

2010, S. 14). Die Cloud und der Cloud-Anbieter schieben sich zwischen Sie und Ihre Daten. Dadurch haben Sie die Daten nur noch virtuell bei sich zu Hause und nicht mehr physisch. Es geht also um ortsunabhängige Dienstleistungen, für die die Entwickler (ähnlich wie Meteorologen für die Wetterwolken) eine eigene Taxonomie aufgestellt haben. Je nach der technischen Ebene, auf der IT-Ressourcen angeboten werden, unterscheidet man in »Infrastructure as a Service« (IaaS), »Platform as a Service« (PaaS), »Software as a Service« (SaaS) und »Human as a Service« (HaaS). Das Motto dieser Einteilung lautet offenkundig: »Everything as a Service« (XaaS) (Lenk et al. 2009). Bei dem letzten Service kommen »Humans« übrigens deswegen ins Spiel, weil sie hier als Quelle der Daten dienen. Gemeint ist das sogenannte Crowdsourcing. Menschen füttern Webseiten mit Inhalten, etwa auf YouTube und Facebook. Speziell bezogen auf diese Service-Ebene fällt auf, dass die Nutzer mit ihren Daten in gewisser Weise selbst – symbolisch – in die Cloud verlagert werden; sei es in Form von bewusster Inszenierung eines eigenen Profils oder durch das Hinterlassen von Spuren, aus denen Dritte (allen voran Marketingexperten) erst ein Nutzerprofil (nach ihren Interessen geleitet) erstellen. Man muss sich klar machen: Weil die Daten in Wolken gesammelt werden, sind sie auch für andere prinzipiell von überall her einsehbar. Und das Versprechen einer unbegrenzten Speicherkapazität heißt zugleich: Die Daten sind unendlich oft kopierbar. Viele Unternehmen nutzen daher auch keine Public Cloud externer Anbieter, sondern erstellen eigene Private Clouds. Durchaus gibt es auch Mischformen, dann Hybrid Clouds genannt (Baun et al. 2010, S. 26). Da sich prinzipiell jede IT-Anwendung über eine Cloud abwickeln lässt, werten kommerzielle Anbieter Cloud-Computing freilich als neue Geschäftsidee, die eine starke Kundenbindung verspricht. Dies gilt insbesondere für den PaaS- und den SaaS-Bereich, während im IaaS-Bereich offene Cloud-Architekturen es erlauben, Dienste von verschiedenen Drittanbietern einzubinden. Am »Clouding« sind entsprechend die bekannten Giganten der Branche beteiligt: Google, Apple, Yahoo, Amazon, Microsoft, IBM, HP. Auf dem europäischen Markt kennt man dazu noch die Telekom. Zwei Aspekte stärken deren Kundenbindung. Zum einen ist die Synchronisation der eigenen Daten zwischen Smartphone und Laptop reibungslos, wenn man bei einem Anbieter bleibt. Zum anderen sieht man sich vor hohe Amortisationskosten gestellt, wenn man nach einiger Zeit von Amazon zu Google wechseln will, weil die Daten erst einmal aus der einen Wolke in die andere verschoben werden müssen. Umständlich sind hier verschiedene Kodierungen der Daten und die Frage, ob sie beim alten Anbieter tatsächlich gelöscht werden. Privacy ist entsprechend ein großes Thema und betrifft einerseits die Speicherung, andererseits die Sicherung der Daten. Von den Medien kritisch beäugt wurde die Panne bei Amazon im April 2011, bei der Server zeitweilig ausfielen. Zweifellos sorgen die großen Anbieter für Mehrfach-Spiegelungen der Kunden67

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

daten und schotten Teilsysteme gegen den Ausfall anderer Komponenten ab. Garantien übernehmen sie in ihren AGBs dennoch häufig nicht, zum Beispiel für versehentliche, automatisierte Kündigungen (Kossel 2012, S. 109). Die Sicherung der Daten wird technisch als Verschlüsselung diskutiert. Doch selbst wenn Daten in einer Cloud verschlüsselt werden, können diese zumindest vom Anbieter im Zweifelsfall wieder entschlüsselt werden (Budszus et al. 2011). Weil sich die Clouds wie ihre natürlichen Vorbilder technisch nicht an geographische Grenzen halten, Datenrecht aber an den Ort der Datenverarbeitung gebunden ist, kann der Schutz personenbezogener und kritischer Unternehmens-Daten problematisch werden. Eine besondere Brisanz hätte das Cloud-Computing, wenn es bald von öffentlichen Stellen genutzt werden würde und unsere dort verwalteten Daten über den Globus verteilt gelagert würden (Weichert 2010, S. 687). Fassen wir noch einmal zusammen: So wie Wetterwolken selten allein unterwegs sind, haben wir es auch beim Cloud-Computing eigentlich mit einer ganzen Landschaft von Rechnerwolken zu tun. Ihre Daten sind irgendwo in diesen Clouds, wo genau wissen Sie nicht. Die Cloud ist für Ihre Daten sinngemäß das, was ein Orbitalmodell für Atome ist – ein »Aufenthaltswahrscheinlichkeitsraum«. Ausgehend vom berüchtigten »Welle-Teilchen-Dualismus« entwickelten moderne Physiker und Chemiker um Werner Heisenberg das Orbitalmodell, welches berücksichtigt, dass alle Elektronen (also auch Wassertröpfchen und digitale Daten) sowohl Teilchen als auch Wellencharakter haben. Man war zunächst irritiert, weil sich Teilchen und Wellen im Raum ganz anders bewegen. Infolgedessen lässt sich zu einem beliebigen Zeitpunkt t der Aufenthaltsort eines Elektrons nur mit einer für die genauen Naturwissenschaften eigentlich nicht hinzunehmenden Unschärfe »beobachten«. Daher sah man fortan davon ab, für Elektronen Ortsangaben zu bestimmten Zeitpunkten anzugeben. Stattdessen einigte man sich auf Aufenthaltswahrscheinlichkeitsräume, in denen sie sich befinden. Diese sind interessanterweise beliebig groß, aber sie haben eine Art Kern (Orbital), in dem die Aufenthaltswahrscheinlichkeit von Elektronen um 90 Prozent liegt. Als Datennutzer (Datenbesitzer sind sie ja nur noch virtuell) hat man hingegen einen komfortableren Zugriff auf Daten als Chemiker auf Elektronen. Denn anders als in der Wissenschaft bleibt es hier sekundär, wo genau die Daten aufbewahrt werden. Wichtig ist nur, dass sie auf Abruf dargestellt werden und verwendbar sind. Vielleicht liegt genau hierin der Vorzug von Bits gegenüber Atomen (und damit auch Wassertropfen). Sie verschwinden nicht, wenn man technisch genau hinsieht. Im Gegenteil, sie sind gewissermaßen erst da, wenn sie einem technisch präsentiert werden. Wir können also festhalten, Daten »befinden« sich nicht einfach »in« den Clouds, wie sich etwas in einem Container befinden kann. Dennoch werden sie in den Rechnerwolken irgendwie aufbewahrt. Entscheidend ist hier, und das mag charakteristisch für soziale Praktiken jenseits der Container sein, dass die 68

Cloud

Frage nach dem »wo« der Daten nur dann relevant wird, wenn die gewöhnliche Nutzung unterbrochen wird. Wenn etwa eine technische Störung vorliegt oder Sie Ihre Daten in andere Aufenthaltswahrscheinlichkeitsräume bringen wollen. Es fällt auf, erst dann wird auch das Wolkige des Cloud-Computings sichtbar. Im Normalfall bleiben die Clouds als Wolken transparent. Eine letzte Frage drängt sich auf: Wohin verschwinden eigentlich die Cloud-Daten, wenn sie eines Tages vom Nutzer für Müll erklärt werden? Suzana Alpsancar

L ITER ATUR Baun, Christian, Marcel Kunze, Jens Nimis und Stefan Tai (2010), Cloud Computing. Web-basierte dynamische IT-Services, Berlin und Heidelberg: Springer. Budszus, Jens, Hanns-Wilhelm Heibey, Renate Hillenbrand-Beck, Sven Polenz, Marco Seifert und Maren Thiermann (2011), Orientierungshilfe – Cloud Computing der Arbeitskreise Technik und Medien der Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder, www.datenschutz-bayern. de/technik/orient/oh_cloud.pdf (Juli 2012). Einstein, Albert (1960), Vorwort, in: Max Jammer, Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. XI-XV. Kossel, Axel (2012), Giga-Wolken. Cloud-Angebote von Apple, Google, Microsoft und der Telekom, c’t. magazin für computertechnik (10), S. 106-109. Lenk, Alexander, Markus Klems, Jens Nimis, Stefan Tai und Thomas Sandholm (2009), What’s inside the Cloud? An architectural map of the Cloud landscape, in: Proceedings of the 2009 ICSE Workshop on Software Engineering Challenges of Cloud Computing, hg. v. IEEE Computer Society, Washington, D.C., S. 23-31. Löw, Martina (2001), Raumsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schüller, Volkmar (1991), Nachwort, in: Der Leibniz-Clarke-Briefwechsel, hg.  v. Volkmar Schüller, Berlin: Akademie, S. 441-485. Weichert, Thilo (2010), Cloud Computing und Datenschutz, Datenschutz und Datensicherheit 34(10), S. 679-687.

69

Coworking Space

Die Eckkneipe »›bei Herta‹ ist einem Café gewichen, das ganz groß mit vier Buchstaben wirbt: W L A N. Es nennt sich ›Hafen der digitalen Bohème‹. […] Alle Tische sind besetzt. ›Ja muss denn in dieser Stadt wirklich niemand mehr arbeiten gehn?‹ rufe ich verärgert. Achtzehn Köpfe erheben sich von achtzehn Laptops und rufen: ›Wir arbeiten doch!‹« (Kling 2011, S. 142f.). Im gegenwärtigen Kapitalismus hat sich die Arbeit verflüchtigt: in die virtuellen Weiten postmaterieller Produktion, in die Cloud, in die Freizeit, ins Café. Kurz und gut: Die Arbeitsverhältnisse sind zeitlich und räumlich entgrenzt. Der Coworking Space ist zum Kristallisationspunkt dieser neuen Arbeitsverhältnisse geworden. In diesem »Stundenhotel für Kreative« können diese sich tage-, wochen- oder monatsweise einen Schreibtisch mieten und alleinselbstständig verwerten. Christoph Fahle, Initiator und Geschäftsführer des betahauses, des bekanntesten Coworking Spaces in Berlin, definiert ihn als »Kreuzung zwischen einem Büro und einem Café […], welches mit dem Preismodell eines Fitness-Studios betrieben wird« (Lange, von Streit und Hesse 2011, S. 59) und schreibt damit die schweißtreibend entspannte Nicht-mehr-Trennung von Arbeit, Lebensstil und Freizeit einmal mehr fest. Der Klassiker: in Leerstand gestellte Tapeziertische mit WLAN, CoffeeFlat, einer angegliederten Lounge und dem gewissen Vintage-Flair. Coworking Spaces wie das betahaus in Berlin oder Coworking Köln sind bereits zu Symbolen neuer Arbeitsformen avanciert und können sich vor Journalistenanfragen kaum retten. Glaubt man ihren Apologeten, so entstehen in diesen »Codescapes« derzeit zukunftsweisende, neue soziotechnische Formen der Kommunikation, Zusammenarbeit und Innovation, in denen digitale Netzwerke mit dem physischen Raum verschmelzen (Forlano 2009). Mit ihnen wird derzeit heftigst experimentiert. Ob in Bar Camps, Coworking-Unis, Pecha Kucha Nights oder einfach beim Kaffee in der Mittagspause: Immer geht es darum, neben den besten Projektpartner_innen auch die perfekten Formate immaterieller Produktion auszuloten. So heterogen und vielfältig wie ihre Formate des Austauschs und der Zusammenarbeit sind auch die Formen der Coworking Spaces selbst: Einige klas70

Coworking Space

sische inhabergeführte Agenturen der Kreativbranche beispielsweise mieten bewusst zu große Büroflächen, um leere Schreibtische an Coworker zu vermieten. Sie versprechen sich frischen Wind und neue Ideen von den wechselnd in das Unternehmen kommenden Kreativen. Andere Agenturen nutzen Coworking als Mittel der Arbeitsorganisation. Eine große Werbeagentur beispielsweise bezieht ein neues Gebäude in Frankfurt allein aus dem Grund, weil die klassischen Zweierbüros den Anforderungen des projektbasierten Arbeitens nicht mehr genügen. Der neue Standort bietet zahlreiche große Räume, die als erster Schritt in einem Projekt von den Teams als Coworking Space nach den individuellen Anforderungen der jeweils zu bewältigenden Aufgabe eingerichtet werden. Wieder andere Formate kommen ganz ohne einen gemeinsamen Arbeitsort aus und haben nur noch einen gemeinsam gestalteten Projektbesprechungsraum mit hoher Aufenthaltsqualität. Und wieder andere Unternehmen nutzen Elemente des Coworkings zur Restrukturierung ihrer eher fordistisch orientierten Arbeitspraxis im Großraumbüro. Demgegenüber stehen alternative Projekte aus dem künstlerischen Spektrum. Convertible Hinge aus Frankfurt beispielsweise ist eine mobile Installation von Künstler_innen und Architekt_innen, die Büroleerstand in flexible kreative Möglichkeitsräume verwandelt und mittlerweile vielfach kopiert wurde. In den großen Metropolen – etwa zehn Prozent aller Coworking Spaces befinden sich in New York, San Francisco, London und Berlin – sprießen die Spaces derzeit wie Pilze aus dem Boden. Weltweit gibt es mittlerweile mehr als 820 dieser Orte, ihre Zahl wächst schnell, zwischen Februar und Mai 2011 nahm sie um 17 Prozent zu. Und das alles, obwohl 60 Prozent von ihnen nicht rentabel arbeiten (Foertsch 2011). Worin liegt die Faszination dieser neuen Soziotope, dass sie trotz ihres ökonomischen Misserfolgs einen derartigen Zulauf erfahren? In Zeiten, in denen sich Unternehmen zunehmend in Projekte auflösen, sind Coworking Spaces zur Materialisierung dessen geworden, was Boltanski und Chiapello die »projektbasierte Polis« (2006, S.  152ff.) nennen. Der Software-Konzern IBM beispielsweise plant in seinem Programm Liquid 8.000 seiner 20.000 Angestellten abzubauen, um sie stattdessen flexibel als zertifizierte freie Mitarbeiter_innen anzuheuern. In der Cloud konkurrieren sie global um die besten Lösungen zu den besten Preisen und werden von ihren Auftraggeber_innen nach dem »like«-System von Facebook bewertet (Dettmer und Dohmen 2012, S. 62-64). In dieser Polis tummelt sich eine neue widersprüchliche und kontrovers diskutierte Subjektivierungsform: die Arbeitskraftunternehmer_innen (Pongratz und Voß 2003). Sie arbeiten kreativ jenseits vom disziplinierenden fordistischen Konformismus und genießen die maximale Freiheit, die der flexible Kapitalismus zu bieten hat. Ohne Kapital, Produktionsmittel und Absicherung in nennenswerter Höhe, nur ausgestattet mit Latte macchiato, Highspeed-Internet und dem festen Glauben an die eigene Freiheit, Individua71

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

lität und Selbstverwirklichung verbinden sie das Risiko von Unternehmer_innen mit der Prekarität von Arbeiter_innen. Im Coworking Space machen sie ein Janusgesicht: Denn auf der einen Seite feiern sie die neuen Arbeitsverhältnisse als maximalen Grad der Freiheit, Flexibilität und Selbstbestimmung, den sie bei der Erledigung ihrer Aufgaben haben, sehen ihre Arbeit als Lebensstil, die sich im Café erledigt, pflegen ihr hippes Image als 24/7 kreative und innovative Urbanist_innen und zelebrieren die Freiheit, morgen nach London oder New York gehen zu können. Fast scheint es, als sei die von Boltanski und Chiapello (2006) diagnostizierte »Künstlerkritik« an den monotonen, hierarchischen, gängelnden und disziplinierenden Arbeitsverhältnissen des Fordismus erhört worden. Wären da nicht die Schattenseiten der schönen neuen Arbeitswelt und so entpuppt sich der Traum von Kreativität, Selbstbestimmung und Freiheit nicht selten als Alptraum einer permanenten 80-Stunden-Woche, fehlenden Urlaubs, unregelmäßigen Einkommens, mangelnder sozialer Absicherung, Existenzängsten, einer zunehmenden Marktförmigkeit sozialer Beziehungen, der Verbetrieblichung und Rationalisierung des eigenen Lebens, eines immer weitere Lebensbereiche durchdringenden Selbstmanagements, einer nicht enden wollenden Bewährungssituation und häufig eines Jahreseinkommens unterhalb der Armutsgrenze (Pongratz und Voß 2003). Nicht wenige wachen mit der Erkenntnis auf: »Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals …« Die zunehmende Entgrenzung von Arbeit und Freizeit und die wachsende Lebensstilisierung unternehmerischer Tätigkeit zeigen sich häufig in der Inszenierung und Ausbeutung der eigenen (sub-)kulturellen Differenz als Marke. Eine Ausstellung des Museums für Kommunikation in Frankfurt verhandelt Coworking als Teil der »Do-it-Yourself«-Kultur (Hornung 2011, S. 12), entreißt es damit direkt der Sphäre der Normalarbeitsverhältnisse und verortet es zielsicher im Bereich un(ter)bezahlter und informeller Arbeit. Do-it-Yourself, einst die Losung subkultureller Gruppen, die das System ablehnend, mit eigenen kreativen Mitteln alternative Formen der Kultur zu schaffen suchten, ist längst zum Selbstverwertungsimperativ der prekären Alleinselbstständigen in den kreativen Industrien geworden. Devianz, Träume, alternative Lebens- und Produktionsformen werden mittels Selbstmanagementtechniken in ökonomisches Kalkül verwandelt. Auf diese Weise entstehen neue Erlebnis- und Konsumwelten, die vom Resistance-Chic-Label bis hin zu Bioprodukt-Baukästen reichen, mit denen man sich seine nachhaltige Identität samt reinem Gewissen individuell zusammenstöpseln kann. Werte transformieren sich in Wertschöpfung, die eigene Identität in eine Marke. Ein weiteres Geheimnis der Coworking Spaces ist ein nicht minder hipper Hype: das Netzwerk. Obwohl sich die digitale Arbeit auch bequem von zu Hause erledigen ließe, scheuen Kreative zunehmend die Isolation, denn neben ihrem Wissen werden persönliche Netzwerke und Beziehungen zu entschei72

Coworking Space

denden Ressourcen auf dem Markt. Projektorientiert zu arbeiten bedeutet, sich für kurze Zeit und permanent wechselnd in kleinen, hochspezialisierten, flexiblen Teams zusammenzufinden. Die Spaces bieten Kontakt zu potenziellen Projektpartner_innen, die Möglichkeit zu informellem Austausch und vermitteln das Gefühl uneingeschränkter Wahlfreiheit von Projekten und Arbeitsorten. Sie versprechen maximale Flexibilität bei minimaler Bindung und die perfekte Möglichkeit, »singular plural« zu sein. Dies jedoch weniger im Sinne Jean-Luc Nancys (2000), sondern eher als eine Möglichkeit, den Zugang zu Kontakten und Netzwerken zu sichern, ohne dabei irgendeine Verbindlichkeit eingehen zu müssen, wie dies bei der festen Integration als Arbeitnehmer_in in Unternehmen der Fall ist. Die erste weltweite Untersuchung über Coworking Spaces zeigt, dass Gemeinschaftsgefühl, eine atmosphärische Location und Möglichkeiten zum Netzwerken mit Abstand als wichtigste Motivationen gesehen werden, einen Coworking Space zu nutzen (Foertsch 2011). Für den individualistischen Freelancer mit der Überdosis Starbucks-Kaffee und Sehnsucht nach Kontakt bietet der Coworking Space die perfekte Plug-and-PlayCommunity. Hier reichen sich der naive Wunsch nach Gemeinschaft und neue Networking- und Managementtechnologien die Hand, »which seem connected somewhere between the communalism of the 1960s and the whimsy of the dot-com days of the ’90s« (Fost 2008). Beim funktionalen Distanzkuscheln in der Netzwerkkommune geht die Trennung zwischen persönlichen und professionellen Beziehungen gern mal verloren, was häufig zu einer zunehmenden Vermarktlichung der Sozialbeziehungen führt. »ICH LIEBE MEINE ARBEIT! Aber manchmal frage ich mich, ob Liebe wirklich das Wichtigste ist in meinem Leben!« (Pollesch 2009, S. II). Wenn prekäre Kreative im »world-wide-webslum« vermarktlichte Beziehungen pflegen, die »kälter als das Kapital sind« (ebd.), ist es gut zu wissen, dass der Coworking Space auch als »Wärmestube für Yuppies« (Bozic 2011) fungiert. Diese multitalentierten flexiblen Büroeinheiten aber sind nicht nur für neue Formen kreativer Zusammenarbeit und Produktion, sondern auch als Schmieröl kreativer Stadtentwicklung unter den Vorzeichen von Haushaltssperre und fiskalischer Krise günstig zu haben. Ähnlich wie sein Artverwandter »das Szenecafé« verdingt sich der Coworking Space gern als Gentrifizierungsgehilfe durch Instandgebrauch von Leerstand im Unternehmen Stadt. Die Early Adopter aus den Spaces – immer offen für Neues, stets neugierig und ihre Umgebung aktiv mitgestaltend – gelten als Trüffelschweine mit dem richtigen Näschen für schlummerndes Aufwertungspotenzial und die rohen Diamanten des Kiezes. »Coworking Spaces entwickelten sich zu einem super Instrument, die das Büroumfeld für andere Mieter aufwerten. Die Immobilienfirmen besitzen vielleicht Bürogebäude, die liegen etwas komisch oder sind nicht mehr ganz in Schuss. […] Die Spaces machen die Gebäude auch

73

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

wieder bewohnbar, und sorgen dafür, dass außen rum neue Firmen einziehen.« (Foertsch 2011) Der Coworking Space ist die Bühne des flexiblen Kapitalismus, auf der René Pollesch das Drama seiner zwischen Verwertung und Verwirklichung zerrissenen, im Netzwerk fragmentierten Subjekte aufführt: »Stefan: ICH BIN IN SO VIELEN RÄUMEN. […]. Bernd: Und jeder simuliert nur, dass sie irgendwie nicht zusammenbrechen, sondern dass es da irgendetwas gibt. […] Stefan: So was wie Arbeit […] SO WAS WIE LEBEN. Aber es gibt nur Räume, die zusammenbrechen. […] Stefan: Offline ist die lounge ein slum und online ist sie irgendein Job, der sich in einem notebook dreht. Aber jetzt ist da Zusammenbruchsraum. Bernd: Dieser Wirklichkeitsraum ist eine Scheißadresse. Aber auch virtuell sitz ich jetzt in der Scheiße.« (Pollesch 2009, S. 178ff.)

Der Coworking Space stellt gegenwärtig ein spannendes, dynamisches Laboratorium neuer projekt- und netzwerkbasierter Arbeits-, Kollaborations- und Kommunikationsformen dar. Als super-synergetische Win-win-Situation und Wunderwaffe gegen Wirtschaftskrise und Prekarisierung qualifizierter Arbeit muss er sich ökonomisch aber erst noch beweisen. Gegenwärtig kann er nicht anders denn als Wirtschaftswunder auf Sparflamme und Diktat zur absoluten Selbstkapitalisierung, -vermarktung und -kontrolle bezeichnet werden, das noch die letzten kreativen und endogenen Potenziale aus dem Kiez und seinen Bewohner_innen presst. Die Verschmelzung aus Wirklichkeits- und Datenraum, aus Wertschätzung und Wertschöpfung, aus Arbeits- und Freizeitort, aus singular- und plural-Sein verweist auf die widersprüchlichen und fragmentierten Subjektvierungspraxen und Raumproduktionen des flexiblen Kapitalismus, von denen die Coworker und der Coworking Space eine ihrer interessantesten Ausprägungen sein mögen. Iris Dzudzek

L ITER ATUR Boltanski, Luc und Eve Chiapello (2006), Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK. Bozic, Ivo (2011), Wärmestube für Yuppies? Arbeiten im Coworking Space. Ein Selbstversuch im Berliner Szeneladen »Wostel«, Jungle World (20), 19. Mai 2011.

74

Coworking Space

Dettmer, Markus und Frank Dohmen (2012), Jobs: Frei schwebend in der Wolke. Der Software-Konzern IBM plant eine Radikalreform seiner Belegschaft, Spiegel (6), S. 62-64. Foertsch, Carsten (2011), Coworking Spaces, deskmag-Mag, www.deskmag.com (Juni 2012). Forlano, Laura (2009), WiFi Geographies: When Code Meets Place, The Information Society 25(5), S. 344-352. Fost, Dan (2008), They’re Working on Their Own, Just Side by Side, The New York Times, 20. Februar 2008. Hornung, Annabelle (Hrsg., 2011): Do it yourself. Die Mitmach-Revolution. Ausstellungskatalog, Mainz: Ventil Verlag. Kling, Marc-Uwe (2011), Das Känguru-Manifest. Der Känguru-Chroniken zweiter Teil, Berlin: Ullstein. Lange, Bastian, Anne von Streit und Markus Hesse (2011), Neue Organisationsformen in der Kultur- und Kreativwirtschaft, in: Kultur- und Kreativwirtschaft in Stadt und Region. Voraussetzungen, Handlungsstrategien und Governance, hg. v. Bastian Lange, Bonn: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, S. 52-62. Nancy, Jean-Luc (2000), Being singular plural, Stanford: Stanford University Press. Pollesch, René (2009), World Wide Web-Slums, 2. Auflage, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Pongratz, Hans J. und Günter G. Voß (2003), From employee to »entreployee«: Towards a »self-entrepreneurial« work force?, Concepts and Transformation 8(3), S. 239-254.

75

Dark Room

Hinein: Auf der Kellertreppe. Es gibt wenige Orte, an denen Sexualität und Geschlecht, Körper und körperliche Interaktion so deutlich mit ihrer materiellen Umgebung verschlungen sind, wie im Dark Room queerer Szenen. Ausgerechnet an diesem Ort ist das Sehen, also die Sinneswahrnehmung, die gewohnt Orientierung vermittelt, weitgehend außer Kraft gesetzt. Im Dark Room wird es notwendig, alle anderen Sinne zu aktivieren – tastend bewegen sich die Menschen darin voran, und Geräusche und Gerüche und auch der Geschmack eignen sich für das so ganz andere Erleben in der Dunkelheit. Begegnungen mit Unbekannten. Ganz nah sind fremde, vielleicht auch vertraute Körper. Austausch über die Bewegungen der Körper, schweigend. Das Sehen begrenzt auf schemenhaft wahrnehmbare Schatten. Eher ein Gleiten, ein Tasten, denn ein gezieltes Drauflosgehen. Ziele verrückt, Zufälle ermöglichend. Körper sein. Intimität mit Fremden teilen. Unsichtbar sein. In Gegenwart sein. Der Dark Room ist vielleicht ohne ein dominantes heteronormatives Gesellschaftsmodell nicht vorstellbar. Als eine der ersten hat die Philosophin und Geschlechtertheoretikerin Judith Butler in Das Unbehagen der Geschlechter (1991) darauf hingewiesen, dass die zweigeschlechtliche Unterscheidung der Körper durch eine »Matrix der Heterosexualität« auf rigide Art geordnet sei. Dadurch, dass Zweigeschlechtlichkeit und heterosexuelles Begehren naturalisiert würden, fänden sie immer wieder neu ihre Legitimation. Heteronormativität benennt dabei die Norm der Geschlechterverhältnisse und geht mit einer Privilegierung von Zweigeschlechtlichkeit, der Hegemonie von heterosexuellen Lebensorientierungen und heterosexuellem Begehren einher. Mithilfe einer Vielzahl symbolischer, rechtlicher und materieller Rahmungen ordnet Heteronormativität die Subjektivitäten ebenso an wie die Lebenspraxis und das gesellschaftliche Gesamtgefüge (Wagenknecht 2007, S. 17). Diese Norm wird sowohl auf symbolischer Ebene als auch in rechtlichen Belangen und in damit verbundenen Alltagsprozessen, zum Beispiel bei der Wohnungssuche und am Arbeitsplatz, abgesichert, indem normabweichende Personen und ihre Lebensentwürfe abgewertet werden. Diejenigen, die von den hegemonialen Geschlechter- und Sexualitätsnormen abweichen, leben also nach wie vor mit der relativ großen 76

Dark Room

Gefahr, in verschiedensten alltäglichen Settings diskriminiert oder sogar gewalttätig angegriffen zu werden. Diese Ausgangslage macht plausibel, dass Menschen, deren Lebensformen von dieser äußerst präsenten und prägenden Norm abweichen, in eine Auseinandersetzung mit ihrer Sichtbarkeit eintreten. Zunächst hieß dies, dass sie Verstecke konstituierten. Sie schafften sich kollektiv eigene Räume. Sexualität nahm für die Begründung einer schwulen Kultur eine ganz zentrale Rolle ein. In schwulen Bädern (gay bathhouses) lebten (einige) schwule Männer durch die Erfahrung eines relativ geschützten eigenen Raums nicht nur ihre Sexualität aus, sondern konnten auch soziale Beziehungen und eine Community aufbauen (Chauncey 1994, S. 224). Die historischen schwulen Bäder als Orte der sozialen Zusammenkunft, an denen Schwule unter sich blieben, ähneln damit in mancher Hinsicht den Orten, an denen heute öffentlich schwuler Sex stattfindet, wie Saunen, Dark Rooms und cruising-Bereichen in Parks und öffentlichen Toiletten. Schwule haben sich mit diesen Räumen eigene Rückzugsorte für (bestimmte Formen von) Sex geschaffen. Dark Rooms (englisch auch backrooms) gibt es seit Anfang des 20. Jahrhunderts als Hinterzimmer oder Keller schwuler Szenebars. Hier ist anonymer und einvernehmlicher Sex ebenso möglich wie die Teilnahme an der Szenerie als Voyeur_in, ohne selbst in sexuelle Handlungen involviert zu sein. Dark Rooms sind aber nicht nur Ausdruck des closet, des Versteckens queerer Identitäten, queerer Formen des Begehrens und queerer Sexualität. Sie sind auch Heterotopien, Orte des Anderen, der Normabweichung, von den Akteuren geschaffen, um andere Formen von Sex als den exklusiven Sex in der festen Zweierbeziehung auszuleben. In den (vornehmlich schwulen) Dark Rooms begegnen sich einander Fremde in ihrer Körperlichkeit zum meist einmaligen Sex. Die sexuelle Identität der Akteure und die Existenz fester Partner_innen sind für die sexuelle Aktivität beim Cruising oft eher unbedeutend (Brown 2008, S. 927f.). Diese Annahme kann sicherlich auf die Praxis in Dark Rooms ausgedehnt werden. Die relative Dunkelheit des Dark Rooms begünstigt darüber hinaus, dass sich die Körper über den Weg des Begehrens und der sexuellen Begegnung annähern, wobei auch die Grenzen von Klassenschranken idealerweise leichter überwunden werden können, als in der sozialen Interaktion in Bars und anderen, eher alltäglichen Situationen. Die Dunkelheit ermöglicht dabei das, was in den historischen schwulen Bädern durch die Nacktheit ihrer Gäste erreicht wurde; nichts habe auf ihre Klassenzugehörigkeit schließen lassen (Tattelman 1997). Schwarze hatten allerdings bis in die 1960er Jahre keinen Zugang zu den meisten schwulen New Yorker Bädern. Nur ein bathhouse in Harlem war auch Afroamerikanern zugänglich (Chauncey 1994, S. 218). Aus der Perspektive des Habituskonzepts (Bourdieu 1982) muss kritisch hinterfragt werden, ob Nacktheit im Bad die Klassenunterschiede einebnen kann. Ich würde eher annehmen, dass sich durch das Ablegen von Kleidung 77

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

und sonstigem Körperschmuck zwar einige Insignien von Klassenzugehörigkeit entfernen lassen. Dennoch bleibt die Inkorporierung des Sozialen den Körpern erhalten. Sie ist erkennbar an klassenspezifischen Körpergesten, der Haltung und den Bewegungen des Körpers sowie der Art sich sprachlich auszudrücken. Außerdem lässt sich die Prägung des Körpers durch die jeweils spezifische Form seiner Zurichtung durch Arbeit nicht einfach verstecken. Deswegen können sich beispielsweise die Statur, die Muskelmasse und die Bewegungen einer Arbeiterin relativ deutlich von denen einer Büroangestellten unterscheiden. Wie lässt sich die Dunkelheit im Dark Room, wie das Fehlen von Sehen und Sichtbarkeit hinsichtlich des gesellschaftlichen Umgangs mit Sexualität allgemein und insbesondere mit sexuellen Praktiken, die von heteronormativen Mustern abweichen, deuten? Die Frage der Sichtbarkeit spielte in Bezug auf Sexualität, die von der heterosexuellen Norm abweicht, immer eine besonders große Rolle. War lange Zeit auch heterosexueller Sex durch die christlich geprägte Norm auf das (verdunkelte) eheliche Schlafzimmer begrenzt (Foucault 1983, S. 11), hatten queere Formen der Sexualität lange Zeit ausschließlich an Orten stattzufinden, die nur den Eingeweihten bekannt waren, gesichert durch Clubmitgliedschaften (Tattelman 1997, S. 400) und doppelte Türen, Codewörter und geheime Hinterzimmer. Solange die Polizei und weitere Instanzen zur Wahrung der herrschenden Sexualmoral nichts von diesen Orten wussten, konnten sie sich im Versteckten erhalten und entfalten. Zugleich darf nicht vergessen werden, dass diese zunächst offensichtliche Unsichtbarkeit sexueller Praktiken begleitet war nicht nur vom Schweigen, sondern von einer wachsenden Fülle von Diskursen über die Sexualität (Foucault 1983, S. 125ff.). Politiken der Sichtbarkeit erhielten erst im Rahmen der Lesben- und Schwulenbewegungen seit Mitte der 1960er Jahre (in den USA, etwas später in der BRD) eine zentrale Bedeutung. Wie viele andere soziale Bewegungen der Zeit gründeten sie auf der Idee der öffentlichen Sichtbarkeitsproduktion und zwar nach dem Motto: »Macht Euer Schwulsein öffentlich!« (Rosenkranz und Lorenz 2006, S. 150). Der öffentliche Raum galt neben eigenen Treffpunkten als der Ort für lesbischwule Repräsentationen mit dem Ziel, die Diskriminierung von Lesben und Schwulen zu skandalisieren und die volle Anerkennung ihrer Bürgerrechte und ihre rechtliche Gleichstellung zu erreichen. Die Bewegungsakteur_innen gingen davon aus, dass es einer höheren Akzeptanz für ihre Lebensentwürfe, und das heißt immer auch: ihrer von der Norm abweichenden Geschlechter und Sexualitäten, bedürfe, um gleichberechtigte Anerkennung zu erlangen. Diese müsse in einem Ringen im Licht der Öffentlichkeit erlangt werden. Die Probleme dieser Fokussierung auf ein idealisiertes Öffentlichkeitskonzept und entsprechende Sichtbarkeitspolitiken können an dieser Stelle nicht ausführlich erörtert werden. Verwiesen sei hier beispielhaft auf eine Kritik von Phil Hubbard (2001), der herausarbeitet, dass es sexuellen Dissident_innen viel 78

Dark Room

eher an selbstbestimmten und selbst kontrollierbaren »privaten« Orten mangelt, als an einer öffentlichen Exponierung. Bis in die 1980er Jahre ging die Polizei extrem repressiv gegen lesbischwule Demonstrationen und (genehmigte) Informationsstände auf der Straße vor, woran sich die politische Brisanz der lesbischen, schwulen und Transgender-Proteste ablesen lässt. Machtvoll sollten sie zurückgedrängt werden in ihr closet. Und auch dort, an versteckten Orten wie Toiletten, waren Schwule nicht vor den Zugriffen der Polizei sicher. In den 1960er und 70er Jahren überwachte die Polizei zum Beispiel zehn innerstädtische öffentliche Herrentoiletten in Hamburg mit Einwegspiegeln. Damit verfolgte sie das Ziel, hinterhältig Männer zu verhaften, die an diesen Orten sexuelle Kontakte anbahnten. Erst die medienwirksame Zerstörung (und damit: das Sichtbarmachen) mehrerer dieser Einwegspiegel 1980 durch schwule und lesbische Aktivist_innen machte die rechtswidrige Praxis sichtbar; alle Einwegspiegel wurden daraufhin entfernt (Rosenkranz und Lorenz 2006, S. 163ff.). Nicht einmal die Toilettentür schützte Schwule also vor den Blicken und dem Zugriff der staatlichen Gewalt – und zwar auch noch Jahre nach der Abschaffung des §175 StGB, der Schwule bis zu den Strafrechtsreformen von 1969 und 1973 kriminalisiert hatte (ersatzlos gestrichen wurde dieser Paragraph erst 1994). Sicherheit ist bis heute für queere Orte der Sexualität alles andere als selbstverständlich. Unangekündigte Kontrollen durch die Polizei mit fadenscheinigen Begründungen finden dort immer wieder statt. Dennoch dienen sie nach wie vor vielen Schwulen zum Sex im Verborgenen. Ihre relative Verborgenheit lässt sich durchaus als ambivalent charakterisieren: Einerseits verhelfen Dark Rooms, Klappen (öffentliche Toiletten) und Cruising in Parks dazu, bestimmte Formen von Sexualität (schwulen Sex, anonymen Sex und promisken Sex) den Augen einer größeren Öffentlichkeit vorzuenthalten. Zugleich entwickelten sich die Orte zu heterotopen Orten für eben diese Formen der Sexualität. Wo sonst durften/dürfen Männerkörper sich einander an einem öffentlichen Ort hemmungslos und ungesehen hingeben? Wo sonst waren/sind schwule Männer eins mit ihrem Körper, ihrem Begehren, ihrer Sexualität, sei es in Gesten der Unterwerfung oder der Beherrschung? Damit soll nicht gesagt werden, dass das Verstecken von Sexualität und Begehren gar nicht so tragisch sei. Dennoch – die Schwulen finden Formen der Dissidenz, Schlupflöcher, um der staatlichen Kontrolle zu entgehen und wissen dabei den Sex im Dunkeln zu erotisieren und ihn für ihre Zwecke zu nutzen. Sie sind also nicht nur Opfer von Diskriminierung und Verfolgung, sondern auch Gestalter ihrer Spielräume und -orte. Lesbische/queere Sexualität wird in Debatten um queere Sexualität meist ausgeblendet, ebenso wie ihre Räume für Sex. Bedeutet dies, dass für sie die Sichtbarkeitsproduktion schlechter funktioniert hat als für Schwule? Oder dass lesbisch/queere Sexualität als irrelevant gilt? Die hegemoniale Sexualordnung konstruiert Frauenkörper als Objekte des männlichen Begehrens, die sexy, aber 79

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

nicht sexuell aktiv sein sollen, schön (für andere) und dadurch von sich selbst entfremdet (Hammers 2008, S.  558). Weibliche Sexualität wird dabei stereotypisiert als asexuell und passiv. Im Sozialisationsprozess schreiben sich diese Vorstellungen in die Körper und Körperpraktiken vieler Frauen ein. Wenn auch längst nicht täglich, zu jeder Tageszeit und überall, so existieren doch gelegentlich und in manchen Großstädten öffentliche Events zum Ausleben lesbisch/queerer Sexualität (Hammers 2008). Diese Räume sind auf den ersten Blick kaum mit denen von Schwulen vergleichbar, nicht nur, weil lesbisch/queere Orte für Gelegenheitssex nur selten, temporär und in wenigen Großstädten geschaffen werden. Doch was gilt überhaupt als sexuell? Die lesbisch/queere Sexkultur unterscheidet sich deutlich von der schwulen. An ihrer relativen Unsichtbarkeit lässt sich zeigen, welche Formen der Sexualität gesellschaftlich auf- beziehungsweise abgewertet werden. Die lesbische Bar ist durchaus so ein Ort für knisternde Erotik, Flirts, erste nahe Begegnungen und Berührungen, und auch explizite Sexakte sollen hier schon stattgefunden haben. Bars bilden also wichtige Bestandteile einer sexuellen queer/lesbischen Kultur (ebd., S. 551), werden jedoch selten als solche dargestellt. Wurde für die schwule Kultur angenommen, dass Sexualität und das bathhouse zentrale Aspekte zur Begründung eines schwulen Selbstbewusstseins und einer eigenen sexuellen Kultur seien, nehmen analog dazu Sexualität und die lesbische Bar eine zentrale Rolle für die Entstehung lesbischer Solidarität und lesbischer Geschlechterpraktiken (wie butch/femme) ein. Lesbische Bars gelten auch heute noch als die sichersten öffentlich zugänglichen Orte, um selbstbewusst lesbische Sexualität und lesbisches Begehren auszuleben (ebd.), und dies, obwohl auch sie gut sichtbare Angriffsflächen für homophobe Übergriffe bieten. Doch warum findet die lesbisch/queere Bar so selten Erwähnung, warum wird Sexualität in hegemonialen Diskursen auf den Vollzug sexueller Akte (und ihre Orte) begrenzt? Dies verweist auf die auch in lesbisch/queeren Bars und bei Sexpartys wirkenden Normen, die sich sowohl auf körper- und geschlechtsbezogene Normen als auch auf Normierungen sexueller Praktiken und dazugehörige, deutlich subtilere Techniken beziehen. Gewicht hat insbesondere das Ideal sexueller Aktivität beim Cruising, das offenbar aus der schwulen Sexkultur übernommen wurde. Andere Ausdrucksformen von Erotik und Sexualität werden abgewertet und unsichtbar gemacht. Doch die Anforderung, ihre Sexualität sichtbar und öffentlich auszuleben und möglichst den aktiven Part dabei zu übernehmen, liegt manchen Frauen offenbar nicht. Das mag auf ihren Habitus und ihre damit zusammenhängende Schüchternheit in der körperlichen Praxis zurückzuführen sein. Na und? Lesbisch/queere Räume eignen sich doch gerade dazu, eigene, widerständige Sexualitätsformen zu entwickeln und auszuprobieren und sie den hegemonialen Bewertungsschemata zu entreißen. Dabei gesehen zu werden, ist dann weniger eine politische Strategie, sondern funktioniert gelegentlich zur Steigerung der sexuellen Lust. 80

Dark Room

So existieren Sichtbarkeitspolitiken in ihren Ambivalenzen neben unsichtbaren Strategien und Heimlichkeiten. Während sich die Bewertung lesbisch/ queerer Sexualität an der Norm schwuler Sexualität ausrichtet, werden Transgender zugunsten lesbischwuler Politiken unsichtbar. Für die Sichtbarkeitsregime, die ihre Räume regulieren, spielen unter anderem geschlechtsbezogene und sexuelle Normen eine wichtige Rolle. Mit ihrer Hilfe wird entschieden, wer Zutritt erhält, wer dazu gehört, und wer nicht – nicht nur im Dark Room. Hinaus: Flecken an der Wand. Am nächsten Morgen. Jemand hat das Licht angeschaltet. Schäbig sieht der verwinkelte Bereich aus, der noch in der Nacht von stöhnenden, juchzenden, ächzenden Körpern, von Suchenden und Tastenden erfüllt war. Verlassen erscheint der Ort, an dem die erotische Spannung noch in der Nacht die Luft zerriss. In dem sich Gerüche und die Aufregung des Ungewissen mischten. Die wenigen Sitzmöbel wirken deplaziert und erstaunt, ohne Zauber. An der Wand und auf dem Lederpolster eines Sofas Flecken. Residuen, die keiner sehen will. Nina Schuster

L ITER ATUR Bourdieu, Pierre (1982), Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Brown, Gavin (2008), Ceramics, clothing and other bodies: affective geographies of homoerotic cruising encounters, Social & Cultural Geography 9(8), S. 915932. Butler, Judith (1991), Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Chauncey, George (1994), Gay New York. Gender, Urban Culture, and the Making of the Gay Male World, 1890-1940, New York: Basic Books. Foucault, Michel (1983), Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hammers, Corie J. (2008), Making Space for an Agentic Sexuality? The Examination of a Lesbian/Queer Bathhouse, Sexualities 11(5), S. 547-572. Hubbard, Phil (2001), Sex Zones: Intimacy, Citizenship and Public Space, Sexualities 4(1), S. 51-71. Rosenkranz, Bernhard und Gottfried Lorenz (2006), Hamburg auf anderen Wegen. Die Geschichte des schwulen Lebens in der Hansestadt, Hamburg: Lambda. Tattelman, Ira (1997), The Meaning at the Wall: Tracing the Gay Bathhouse, in: Queers in Space. Communities, Public Places, Sites of Resistance, hg. v. Gordon Brent Ingram, Anne-Marie Bouthillette und Yolanda Retter, Seattle: Bay Press, S. 391-406.

81

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Wagenknecht, Peter (2007), Was ist Heteronormativität? Zu Geschichte und Gehalt des Begriffs, in: Heteronormativität. Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht, hg. v. Jutta Hartmann, Christian Klesse, Peter Wagenknecht, Bettina Fritzsche und Kristina Hackmann, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 17-34.

82

Deponie

»Die mehrheitliche Entscheidung unserer Gesellschaft zum Kapitalismus und Materialismus müßte sich doch gleichzeitig auch im Bekenntnis ausdrücken/ Müllberge zu besitzen/stolz auf sie zu sein«, schreibt der Künstler Lois Weinberger (1999, S. 184) im Kommentar zu seinem Projekt für Hiriya Dump, der größten Müllhalde Israels. Bekanntlich ist das Gegenteil der Fall. Obwohl die Müllberge nur die Warenberge in den Shopping Malls widerspiegeln, ja geradezu als Monumente von Produktivität und Wohlstand gelten könnten, die noch in Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden den Archäologen als vielleicht einzige Zeugnisse der Moderne zur Verfügung stehen werden, erregen sie derzeit nur Widerwillen bis Ekel, den alles Verworfene, das einmal ein Eigenes war, hervorruft, oft kombiniert mit jenen Schuldgefühlen, die das ökologische Gewissen der westlichen Endverbraucher (und in wesentlich geringerem Maße das der Produzenten) seit den 1970er Jahren plagen. Weinbergers Äußerung bezieht ihren Witz daraus, vom agrargesellschaftlichen auf das konsumgesellschaftliche Verhältnis zum Abfall zu schließen: So wie ein Bauer auf seinen Misthaufen berechtigt stolz ist, weil er eine wichtige Ressource für die Produktivität seiner Feldwirtschaft darstellt, kann ein Konsu-

83

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

ment den Müll freilich nur hassen, weil dieser eben nicht mehr produktiv ist. Gegenüber den agrarischen Kreisläufen, in denen so gut wie nichts verloren geht, krankt die »trash economy« (Prisching 2012, S.  29ff.) der »Abfallmoderne« an ihrem Einbahnsystem der Produkt- und zugleich Abfallmaximierung, das – allen Recyclingbemühungen zum Trotz – in immer größere Müllberge mündet, deren Rohstoffe dem Wirtschaftskreislauf ähnlich entzogen sind, wie die Schätze archaischer Gesellschaften, die diese mit ihren Verstorbenen zu deren jenseitiger Ergötzung unter die Erde beförderten. Unsere Müllberge sind gewissermaßen die Jenseitsorte einer Gesellschaft, die an kein Jenseits und schon gar nicht an eine Auferstehung glaubt; sie werden daher zu Recht als »Un-Orte« empfunden, als Orte außerhalb des Systems beziehungsweise als Fehler im System. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts führen die Konversationslexika unter dem Stichwort »Abfall« als erstes den Abfall von Gott oder der Obrigkeit, also die pure Systemverneinung, an, und erst in zweiter Linie den Abfall als Nebenprodukt der Güterproduktion. Letzterer musste seit Beginn städtischer Kultur vor allem »weg« gebracht werden; das heißt vor die Stadtmauern, raus aus dem System, ins »Ödland«, also in abgebaute Kies- und Tongruben, verlassene Steinbrüche, Sümpfe, Moore und Gewässer, den Un- oder Gegenorten des städtisch-zivilen Kosmos schlechthin, auf die dieser Kosmos allerdings dialektisch angewiesen bleibt. Denn begreift man mit Mary Douglas, Theodor Bardmann, Roger Fayet und Zygmunt Bauman Abfall als Nebenprodukt von Ordnungsprozessen, kommt keine Ordnung ohne Abfall aus; er ist »die im System angelegte Provokation des Systems« (Bardmann 1994, S. 168), weshalb er aus der Welt (heute gerne auch in die Dritte) geschafft werden muss. Die Deponie kann nun als der paradoxe Versuch bezeichnet werden, den quasi »extra-terrestrischen« Un-Ort Müllberg wieder ins System zu integrieren, indem man für ihn ein eigenes, vom Rest abgekapseltes Subsystem schafft. Das »weg« des Wegwerfens soll verortet, geregelt und institutionalisiert, zu einem »da« wie jede andere Ablage auch werden. Im Gegensatz zum bloßen Abkippen von Müll im Gelände verstand man unter Deponie anfangs die »geordnete und kontrollierte Ablagerung von Abfällen auf dafür zugelassenen Plätzen«, wie es das deutsche Bundesgesundheitsblatt 1969 definierte. Eine solche geordnete Deponie(rung) wurde in der BRD erst ab 1961 getestet und offiziell 1965 gestartet; dementsprechend jung ist der Begriff und wird noch am 20. März 1971 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als »neues Wort« bezeichnet und in Frage gestellt, da beim wortverwandten Depot »alles was deponiert wird, wieder abgeholt werden kann, aber diese Möglichkeit […] bei überwachsenem Müll gewiß ausgeschlossen« sei. Tatsächlich suggeriert der Begriff eine sauber geordnete Lagerstätte für Güter, die man nur vorübergehend »deponiert« hat, um den Skandal ihrer nutzlosen Verrottung zu kaschieren und mögliche Gefahren, die von ihnen ausgehen könnten, als unter Kontrolle befindlich zu beschreiben. Der Deponiebegriff reagiert damit auf den erwachenden postmodernen Ökologiediskurs, der die Kehrseite der kapitalistischen »Wegwerfgesellschaft«, wie man sie 84

Deponie

damals nannte, kritisierte und versucht sich dem Problem konstruktiv zu stellen. Als Vorbild dienten die sanitary landfills in Großbritannien und den USA, die dort schon ab der Zwischenkriegszeit angelegt worden waren und aus der modernen Hygienebewegung resultierten, also einen etwas anderen ideologischen Hintergrund besaßen. Ganz scheint sich die euphemistische Sprachpolitik nicht durchgesetzt zu haben, da man schon ab den 1980er Jahren zwischen einer »geordneten« und einer »ungeordneten bzw. wilden Deponie« unterscheiden muss (Bilitewski, Härdtle und Marek 1990, S. 91). »Eine geordnete Deponie bedeutet eine geordnete Erfassung der Abfälle, eine zentrale Behandlung, eine Verwiegung und kontrollierte Ablagerung, eine Abdichtung gegen Grundwasserkontamination, eine systematische Erfassung der Deponiegase, das Verhindern von Windflug, Deponiebränden, Hangrutschungen und des manuellen Durchstöberns des Mülls unter unmenschlichen Bedingungen«, wie Christoph Scharff (2012, S. 70f.), einer der führenden Abfallmanager Österreichs, mit sichtlicher Emphase des Sicherheitsaspekts schreibt. Die Deponie verspricht also den Abfall, der per definitionem aus der herrschenden Ordnung herausgefallen ist, in eine neue Parallelordnung zu überführen und diese durch ein »Multibarrierenkonzept« (Stief 1986) rundum komplett abzudichten. Tatsächlich gleicht eine Deponie ein wenig einem Hochsicherheitsgefängnis: Meist versteckt und wenig einsehbar, aber an verkehrsstrategischen Knotenpunkten gelegen, ist sie seitlich von hohen Wällen und Zäunen umgeben, nach unten durch Kies, eine Folie oder Ton abgedichtet und nach oben alle zwei Meter von einer Schicht aus inertem Material (zum Beispiel Aushub) bedeckt, sodass der Deponiekörper im Querschnitt eine regelrechte Zellenstruktur aufweist. Einlass bekommt man nur über ein gesichertes Tor, hinter dem Wiege-, Sortier- und Komprimierungsanlagen je nach »Schwere der Fälle« für die Klassifizierung, sachgemäße Behandlung und Zuteilung in die einzelnen Deponiezonen sorgen. Zwar ist keine »Entlassung« und schon gar keine »Resozialisierung« geplant, aber man ist sich bewusst, dass »Wegsperren« allein nicht ausreicht, da der Abfall in seinen unterirdischen Zellen weiterhin Böses plant und trotz »Multibarrierenkonzept« immer Wege nach draußen findet: »Der Deponiekörper ist ein Reaktor, der Schadstoffe emittiert.« (Bilitewski, Härdtle und Marek 1990, S.  99) Nach unten drohen Sickerwässer den Boden und das Grundwasser zu kontaminieren, nach oben die beim Zersetzungsprozess entstehenden Deponiegase zu entweichen – Prozesse, die auch nach Stilllegung einer Deponie fortdauern, sodass jede Deponie einer »›ewigen‹ Nachsorge« bedarf (Stief 1989, S. 117). Abfall entzieht sich somit einer absoluten Kontrolle; die ursprüngliche Idee, ihn via Deponie komplett abzukapseln und dann vergessen zu können, erwies sich als Illusion. Deponien besitzen aus Sicht der Betreiber auch einen politischen Nachteil: Da es aus wirtschaftlichen und ökologischen Gründen notwendig war, die rund 50.000 unkontrollierten Müllkippen, die es noch 1972 allein in der BRD gab, in wenige zentrale Deponien zu überführen (ein Jahrzehnt später waren die Kippen 85

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

in den rund 1.000 zentralen Deponien aufgegangen), bekam der bis dahin frei vagabundierende Abfall quasi einen festen Wohnsitz mit Adresse. Er war nun wieder Teil des Systems und damit angreifbar: In den 1980er Jahren rief schon die bloße Ankündigung, in einer Gemeinde eine Deponie zu planen, regelmäßig dagegen Sturm laufende Bürgerinitiativen auf den Plan (ähnlich wie heute die Planung eines Asylbewerberheims mit wutbürgerlicher Empörung rechnen muss). Die Deponie bleibt also ein verorteter Un-Ort, der seine Ambivalenz auch nach der Stilllegung behält, nachdem man wieder buchstäblich Gras über die Angelegenheit hat wachsen lassen. Da Besiedlung, land- oder forstwirtschaftliche Verwendung aus bautechnischen und ökologischen Gründen ausfallen, bleibt als Nachnutzung nur mehr die Umwandlung in einen Park übrig. Der gemiedene Un-Ort soll sich nun in einen erholsamen Freizeitort, das Ausgeschiedene in ein Paradies verwandeln, was so kaum funktionieren kann. Der Preis dafür wäre totale Amnesie (die man sich ob der immer noch drohenden Gefahren gar nicht leisten kann), wie es im vierten, in der Zukunft spielenden Teil der Fernsehsatire Piefke-Saga von Felix Mitterer (1993) auf die Spitze getrieben wird: Dort entpuppt sich die gesamte Tiroler Bergwelt als gigantische Mülldeponie, die nur von einer dünnen Gras- und Gesteinsschicht bedeckt und von japanischen Wissenschaftlern in ein perfektes Urlaubsidyll verwandelt worden ist, in dem sich die in gedächtnislose, Trachten tragende Bilderbucheinheimische umoperierten Tiroler mit ihren deutschen Gästen vergnügen. Obwohl Anfang der 1990er Jahre in Deutschland rund 90 Prozent aller Abfälle in Deponien wanderten, wurde kurz darauf aufgrund der geschilderten Probleme der Deponieausstieg beschlossen: Abfälle sollten entweder recycelt oder »thermisch verwertet« (vulgo: verbrannt) werden, um wieder das vormoderne Ideal einer geschlossenen Kreislaufwirtschaft zu erreichen. Seit 2005 (in Österreich seit 2009) darf kein unbehandelter Abfall mehr deponiert werden; bis 2020 sollen Deponien endgültig der Vergangenheit angehören. Die EU will dieses Ziel bis 2026 erreicht haben. Laut EUROSTAT von 2009 betrug der Deponierungsgrad in Deutschland null Prozent, in Österreich, den Niederlanden und Schweden je ein Prozent, EU-weit aber aufgrund der fast ausschließlich vorherrschenden Deponierung in den ehemaligen Ostblockländern immer noch 38 Prozent. Ob Europa den Deponieausstieg im angegebenen Zeitraum tatsächlich schafft, ist daher zweifelhaft, aber die Entwicklung dahin ist wohl nicht mehr umkehrbar. Sind Deponien daher bereits Geschichte, ein Übergangsphänomen von der »Abfallmoderne« zur Recycling- oder »Kompostmoderne«, ein Relikt des 20. Jahrhunderts? Global betrachtet: nein. Die USA deponieren beispielswiese immer noch 70 Prozent ihrer feststofflichen Abfälle, und für mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung wären geregelte Mülldeponien ein gewaltiger hygienischer Fortschritt gegenüber dem Status quo. Zu den unkontrollierten Müllhalden in den Entwicklungsländern tragen 86

Deponie

nicht zuletzt auch die Europäer kräftig bei, indem sie zum Beispiel ihren toxischen Elektroschrott illegal in afrikanische Länder exportieren, wo er meist von Kindern mit bloßen Händen ausgeschlachtet wird. Es ist zu befürchten, dass sich diese Praxis aufgrund des europäischen Deponierungsverbotes noch ausweiten wird. Abgesehen von den tausenden stillgelegten Deponien, die vielleicht von der Erdoberfläche, aber nicht von der Erde verschwinden werden, dürften Deponien daher auch im 21. Jahrhundert das dominierende Modell der Abfallbeseitigung bleiben. Man wird sie aber nicht nur als etwas Ausgeschiedenes, sondern auch wieder Auszubeutendes betrachten. Bereits jetzt haben zum Beispiel die in Gebäuden, Produkten und Deponien abgelagerten Kupferbestände das Volumen des natürlichen Vorkommens erreicht, sodass das urban mining in aufgelassenen Deponien bald eine neue Form der Rohstoffgewinnung sein könnte. Aus systemtheoretischer Sicht ist es interessant, dass die Deponierung, also die ansatzweise Reintegration des Ausgeschlossenen in ein Subsystem, der derzeit in Europa angepeilten kompletten Rückführung ins System durch Wiederverwertung vorausgeht. Die paradoxe Verortung des Abfalls im Un-Ort Deponie führte zwangsweise zu einer Beschäftigung mit dem Müll, die sich nicht aufs bloße Wegschaffen und Vernichten beschränkte, und damit letztlich zu seiner Anerkennung als Teil des Systems namens moderner Produktionsprozess führte. Die Kunst hatte diese Anerkennung schon viel früher betrieben; bereits zu Beginn der Klassischen Moderne, bei Kubisten, Dadaisten und Surrealisten, wurden Abfälle in Kunstwerke eingebaut. Zunächst sollte dies im Sinne der Avantgarde einer außersystemischen Antikunst dienen. Nach dem Zweiten Weltkrieg und besonders in der Postmoderne plädierte die »Müllkunst« hingegen für eine Reintegration des Verdrängten (auch das eingangs zitierte Projekt von Lois Weinberger gehört in diesen Kontext). Die Wissenschaft folgte in den 1970er Jahren, als der Anthropologe William Rathje an der Deponie von Tucson/Arizona eine »archäologische« Grabung vornahm, um die Lebensgewohnheiten seiner Landsleute zu erforschen, und begründete damit den Forschungszweig der garbology. Die Deponie stellte für Rathje eine Art »Zeitkapsel« dar, deren aufgrund der schichtenweisen Abdeckung mumifizierter Inhalt die Wahrheit der Konsumgesellschaft zu bewahren schien (Rathje und Murphy 1992, S. 112). Sind Deponien daher eine Art unbewusste »soziale Plastik« (Cox et al. 2011, S. 187) und den Depots und Archiven doch viel näher als man dachte? Nach der Schließung der ältesten Deponie der USA, des Fresno Sanitary Landfill in Kalifornien, schlugen Wissenschaftler sogar vor, sie zur national landmark zu erklären, das heißt unter Denkmalschutz zu stellen. Es wäre nicht das erste Mal, dass das Verworfene nicht nur wieder integriert, sondern sogar einen besonderen Platz einnimmt. Die Institution Museum entstand schließlich auch als Kompensation des »Ausschließungs- und Reinigungsunterfangen[s] der Moderne« (Fayet 2012, S. 234), um für unbrauchbar erklärte Dinge vor der Vernichtung zu bewahren. Vielleicht werden unsere 87

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Deponien einmal die Museen der Zukunft sein, zu denen die Kulturbeflissenen Sonntag für Sonntag pilgern, die dann über unsere Abfallscheu ähnlich den Kopf schütteln werden, wie wir über die radikalen Säkularisierer der frühen Moderne, die Klöster und Abteien zu Steinbrüchen erklärten. Anselm Wagner

L ITER ATUR Bardmann, Theodor M. (1994), Wenn aus der Arbeit Abfall wird. Aufbau und Abbau organischer Realitäten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bauman, Zygmunt (2006), Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, 2. Auflage, Hamburg: Hamburger Edition. Bilitewski, Bernd, Georg W. Härdtle und Klaus A. Marek (1990), Abfallwirtschaft. Eine Einführung, Berlin und Heidelberg: Springer. Cox, Rosie, Rose George, R. H. Horne, Robin Nagle, Elizabeth Pisani, Brian Ralph und Virgina Smith (2011), Dirt. The Filthy Reality of Everyday Life, London: Profile Books. Douglas, Mary (1988 [1966]), Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Fayet, Roger (2003), Reinigungen. Vom Abfall der Moderne zum Kompost der Nachmoderne, Wien: Passagen Verlag. Fayet, Roger (2012), Der Abfall und das Museum, in: Abfallmoderne. Zu den Schmutzrändern der Kultur, 2. Auflage, hg. v. Anselm Wagner, Wien und Berlin: Lit-Verlag, S. 225-240. Prisching, Manfred (2012), Trash Economy. Abfallmaximierung als Wirtschaftsprinzip, in: Abfallmoderne. Zu den Schmutzrändern der Kultur, 2. Auflage, hg. von Anselm Wagner, Wien und Berlin: Lit-Verlag, S. 29-44. Rathje, William und Cullen Murphy (1992), Rubbish! The Archaelogy of Garbage, New York: HarperCollins. Scharff, Christoph (2012), Abfallwirtschaft in einer arbeitsteiligen Gesellschaft, in: Abfallmoderne. Zu den Schmutzrändern der Kultur, 2. Auflage, hg. v. Anselm Wagner, Wien und Berlin: Lit-Verlag, S. 63-80. Stief, Klaus (1986), Das Multibarrierenkonzept als Grundlage von Planung, Bau, Betrieb und Nachsorge von Deponien, Müll und Abfall 18(1), S. 15-20. Stief, Klaus (1989), Ablagern von Abfällen, in: Abfall und Abfallentsorgung. Vermeidung, Verwertung, Behandlung, hg. v. Dieter Walprecht, Köln u.a.: Heymanns Verlag, 103-125. Weinberger, Lois (1999), Present Time Space – Hiriya Dump, in: Verlauf/Drift, Ausstellungskatalog des Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien und Bozen: Folio Verlag, S. 178-185. 88

Diaspora

In der Diaspora ist man niemals allein. In der Diaspora ist man als Kollektiv. Das unterscheidet sie vom Exil: Ein der Diaspora entsprechendes Analogon zum Begriff des Exilanten gibt es nicht. Der Exilant ist jemand, der aus dem Gemeinwesen, in dem er bis dahin lebte, aus politischen Gründen vertrieben wurde oder geflohen ist. Ganz wie im deutschen Grundgesetz wird das Politische hier als ein zutiefst dem individuellen Subjekt zu eigener Akt der Positionierung gedacht. Das äußere ist nicht anders als das innere Exil, eine im Prinzip einsame Angelegenheit. Erst wenn man als Gruppe vertrieben wird entsteht eine Diaspora. Und ein weiterer Unterschied existiert: Während das Exil die Option der Rückkehr beinhaltet, ist die Diaspora niemals nur temporär. Die Diaspora ruft Fragen nach dem Verhältnis von Ort, Gemeinschaft, Zeitlichkeit und Kultur sowie den Konstitutionsbedingungen kollektiver Identität hervor. Die Diaspora bezeichnet den Zustand einer kollektiven Entortung. Seit der sogenannten babylonischen Gefangenschaft der Israelit_innen 586 vor Christus, wie sie alttestamentarisch dokumentiert ist, wird mit Diaspora ganz allgemein die Entkopplung von Volk und Territorium bezeichnet. Die Diaspora war zum sprichwörtlichen Zustand des Judentums geworden, nämlich eine religiöse Gruppe zu sein, die über kein oder nur ein utopisches »Land« verfügte. Diese Diaspora bricht also mit herkömmlichen Vorstellungen von Volk und Territorium, reifiziert aber scheinbar gleichzeitig die Idee einer homogenen Bevölkerungsgruppe: Die diasporische Community wahrt ihre kulturelle Identität gegenüber äußeren Einflüssen, sie bleibt ethnisch-kulturell identifizierbar. Praktiken wie beispielsweise die Markierung der männlichen Körper über die Beschneidung erscheinen als Versuch, auch in der Vertreibung eine Genealogie sicher zu stellen. Diese Perspektive auf die jüdische Diaspora gilt es allerdings kritisch zu hinterfragen. Denn zu keiner Zeit können, so James Clifford (1994), jüdische Communities als abgeschlossene soziale Systeme innerhalb der sie jeweils umgebenden Gesellschaften betrachtet werden. Vielmehr hat gerade die Tatsache, dass Jüd_innen überall auf der Welt Teil der Gesellschaften wurden, in denen

89

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

sie lebten, normative Vorstellungen von nationaler kultureller Homogenität herausgefordert. Als ein weiteres Indiz für die starke Verschmelzung der Jüd_innen mit den Gesellschaften, in denen sie lebten, wertet Clifford die großen Konflikte zwischen sephardischen und aschkenasischen Jüd_innen in Israel, die er auf sehr unterschiedliche diasporische Erfahrungen, die diese beiden Gruppen gemacht haben, zurückführt. Hier wird deutlich, dass die Diaspora auch eine transnationale Erfahrung ist. Viele wissenschaftliche Texte orientieren sich an einer expliziten oder impliziten checklist, die alle Punkte aufführt, die gegeben sein müssen, um eine Gruppe legitimerweise als Diaspora bezeichnen zu können. Dazu gehört unter anderem, dass eine Diaspora sich immer auf ein klar definiertes Mutterland bezieht, wofür als Beispiel meistens die jüdische Diaspora angeführt wird. Allerdings erscheint die Annahme, die jüdische Diaspora bezöge sich auf ein klar identifizierbares Mutterland und Israel sei das Zentrum der diasporischen Sehnsucht, verkürzt, denn sie verkennt das oben angedeutete transnationale Moment, das in einem gleichzeitigen Leben hier und da besteht. Zudem verweisen gerade die religiösen Praktiken des Judentums auf einen Glauben, der nicht an ein Territorium gebunden ist. Dazu gehört die Zentralität der Bezugnahme auf ein Buch, die Thora, als quasi mobile Verortung sowie als weiteres Kernelement die religiös fundierte Lebensform, die eine Art der unaufhörlichen Selbstvergewisserungspraktik darstellt und territorial ungebunden ist (Meyer 2005). Die religiöse Interpretation der Verstreuung der Jüd_innen über die Welt als eine Strafe Gottes (die von christlichen Theolog_innen antisemitisch gewendet aufgegriffen wurde), deren Dauer eigenmächtig nicht verkürzt werden dürfe, sondern erst mit der Ankunft des Messias aufgehoben sei, bewegt manche religiöse Strömungen innerhalb des Judentums noch heute dazu, den Staat Israel eben nicht als Mutterland von Jüd_innen zu betrachten. Hier hat das Konzept der Diaspora ohne Mutterland offensichtlich Eingang in die Religion selbst gefunden. Die Tatsache, dass nur eine kleine Gruppe der Jüd_innen nach Aufhebung der Verbannung im Jahr 538 vor Christus nach Israel zurückkehrte, spricht ebenfalls für die Transnationalität dieser Diaspora und die Bedeutung von Mutterland und Rückkehr als eher imaginative Bezugspunkte diasporischen Denkens (Meyer 2005). Postkoloniale Theoretiker_innen wie Stuart Hall (1990) oder Paul Gilroy (1995) griffen das Diaspora-Konzept auf und bezogen es auf die Gruppe der Nachkommen der ehemaligen Sklav_innen in den USA und der Karibik. Damit erfuhr es eine Modifikation, da sich die Erfahrungen der black diaspora von der der jüdischen in einigen Aspekten unterschieden. So zum Beispiel in der Geschichte der Vertreibung: Europäische Sklavenhändler raubten Menschen aus vielen Teilen Afrikas, verschleppten sie auf den amerikanischen Kontinent und zwangen sie in die Sklaverei, wobei sie darauf achteten, Menschen aus möglichst unterschiedlichen Gegenden Afrikas zusammenzubringen, um eine Verständigung und ge90

Diaspora

meinsamen Widerstand unwahrscheinlicher zu machen. Menschen wurden so, wie Hall es formuliert, von ihrer Herkunft abgeschnitten (1990). Ist zwar Afrika der Ursprung all dieser versklavten Menschen, so erscheint die Proklamation Afrikas als »Mutterland« der Nachkommen der ehemaligen Sklav_innen – wie es in der Rastafaribewegung und dem Panafrikanismus getan wurde – die längst erfolgte Verschmelzung der Schwarzen Diaspora mit ihrer Umgebung, sei es in den USA oder der Karibik, außer Acht zu lassen. »Rückkehr«-bewegungen, wie es sie zum Beispiel im 18. Jahrhundert von Afro-Amerikaner_innen nach Liberia gegeben hat, erwiesen sich ganz und gar nicht als Erfahrungen des »nach Hause Kommens« – weder für die in Liberia lebenden Menschen noch für die Afro-Amerikanischen Siedler_innen (Meyer 2005). Afrika kann, wie Hall (1990) es formuliert, nur eine Leerstelle für das sein, was den ehemaligen Sklav_innen und ihren Nachkommen geraubt wurde. Die gemeinsame Geschichte der Versklavung, so bemerkt Hall, markiert also keinen gemeinsamen Ursprung, sie kann nicht Ausgangspunkt sein für eine ethnische Identifizierung. Sie produziert eine Identität, die eher eine Identifikation ist, eine Identität, die mit und von der Differenz lebt und sich nicht in Kategorien wie Ethnizität auflösen lässt. Daraus ergibt sich eine spezifische Positionierung in und zur Welt, die sich in Beziehungen, Konstellationen, und Relationen ausdrückt. Insofern gibt es in der Black Diaspora keine Genealogie, was sich auch in der Kulturproduktion zeigt – Sprache, Literatur und Musik der Black Diaspora sind immer schon hybrid, unrein, und vereinen Aspekte kultureller, religiöser und sprachlicher Traditionen der Kolonisator_innen wie der Kolonisierten. Dass eine solche Vermischung überhaupt stattgefunden hat, ist auf den Widerstand der ehemaligen Sklav_innen zurückzuführen, denen es gelang, auch im Angesicht der Vernichtung die eigene Geschichte durch die Bewahrung herkunftskultureller Aspekte zu tradieren. Die durch den Kolonialismus hergestellte Normalität ist also die einer Wurzellosigkeit, einer Verstreutheit und Hybridität, die auch die nicht-diasporischen Subjekte affiziert, ein Phänomen, dass Avtar Brah mit dem Begriff des »diaspora space« beschreibt (1992). Das wechselvolle Verhältnis der Diasporen zu ihren imaginierten oder möglichen Heimatländern ist gekennzeichnet durch eine auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinende Gemengelage von gelebter Entfremdung und einer im Angesicht von Exklusionserfahrungen in der Diaspora überhöhten Identifikation mit der vorgestellten Referenzkultur. Dabei stößt das diasporische Subjekt an die engen Vorstellungen einer Homogenität von Volk, Identität und Territorium und transzendiert dabei durch seine bloße Existenz das Lokale, indem es zum Beispiel Schwarz und britisch ist oder jüdisch in einem christlichen Land (Clifford 1994). Das heißt allerdings nicht, dass diasporische Gemeinschaften nicht auch nationalistische Tendenzen aufweisen könnten (Meyer 2005). Hier lassen sich Parallelen zum Konzept der transnationalen Migration ziehen, das sich auf dem Terrain akademischer Debatten als begriffliche Alterna91

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

tive oder Konkurrenz erweist. Die transnationale Migration beschreibt die Nationalstaatsgrenzen überwindende, nicht mehr unidirektionale Wanderung von Migrant_innen, die durch ihre Praktiken neue soziale Räume schaffen. Diese zeichnen sich nicht durch eine diasporische Zerstreuung aus, insofern es in den allermeisten Fällen – zumindest auf dem Papier – ein »Mutterland« gibt; wie imaginär die sozialen und kulturellen Bezüge zu diesem dann auch sein mögen. Zudem erscheinen die transnationalen Migrant_innen als dauerhaft mobil, als Menschen, die sich zumindest potenziell physisch zwischen verschiedenen geographischen Räumen bewegen. Die Diaspora hingegen konstituiert sich aus der gewaltsamen Vertreibung von einem Ort, an den eine Rückkehr unmöglich ist. Die transnationale Migration produziert aber – und hier finden sich Parallelen zur Diaspora – ebenfalls hybride Formen des Kulturellen und Sozialen, die sich nicht mehr eindeutig auf einen Herkunfts- oder Ankunftskontext (sofern diese beiden überhaupt unterscheidbar sind) beziehen lassen. Insofern – das zeigen viele empirische Studien – lassen sich ein diasporisches Bewusstsein und eine diasporische Kulturproduktion durchaus für viele transnationale Communities aufzeigen. Für die gegenwärtigen arabischen, türkischen, griechischen, chinesischen etc. transnationalen Communities kann man zu Recht reklamieren, dass auch ihnen kein Ort entspricht, keine hegemoniale Sprache und kein kultureller Code ihr »Zuhause« markiert. W.E.B. Du Bois’ »double consciousness« (1994 [1903]) beziehungsweise Cliffords »home away from home« (1994) scheinen insofern auch sehr passende Beschreibungen der Situation der transnationalen Communities zu sein. Eine Differenz zwischen Diaspora und transnationaler Migration ist aber auch hier feststellbar: Denn für die diasporische Kultur und das diasporische Bewusstsein sind der Verlust, die Vertreibung, die Unterwerfung und der Widerstand konstitutiv. Die kulturellen und sozialen Praxen der transnationalen Migrant_innen können zwar im Angesicht des in den Aufnahmeländern herrschenden Rassismus durchaus auch als widerständig beschrieben werden, dennoch verfügen sie zumeist über deutlich größere Handlungsspielräume in der Gestaltung ihrer Migrationserfahrung und begegnen einem quantitativ geringeren Ausmaß von Gewalt. Das Diaspora-Konzept ist wissenschaftlich und politisch breit rezipiert worden, um Entfremdung, Nicht-Linearität, das Nicht-Essentielle und Heterogenität zu beschreiben. Was genau macht aber nun eine diasporische Community aus? Diese Frage scheint in Anbetracht der oben ausgeführten Überlegungen zu Nicht-Genealogie, Nicht-Linearität und Positionalität gar nicht so einfach zu beantworten zu sein. Zudem sind diasporische Communities – wie jede Gemeinschaft – in vielerlei Hinsicht heterogen und von verschiedensten Ungleichheitsverhältnissen durchzogen. So haben Schwarze Feministinnen ihre Stimmen nicht nur gegen die rassistische Unterdrückung und ihre Nichtbeachtung durch den weißen Feminismus erhoben, sondern mussten gleichzeitig gegen die Be92

Diaspora

schneidung ihrer Rechte innerhalb der Black Community und den Vorwurf kämpfen, mit ihrer Politik diese Community zu spalten und zu schwächen (Clifford 1994). Schwarze Feministinnen haben dann ihre eigenen diasporischen Erfahrungen zum Ausgangspunkt gemacht, um die Theoretisierung der Interdependenzen verschiedener Ungleichheitsverhältnisse, die das Geschlechterverhältnis durchkreuzen, voranzubringen; eine Debatte, die auch unter dem Begriff der Intersektionalität geführt wird (Kron und zur Nieden, im Erscheinen). Und, daran anschließend, verbindet die Queer Diaspora Critique die Analyse von sexuellen und globalen Ungleichheitsverhältnissen (Fortier 2002). Es lässt sich also feststellen, dass die Gemeinsamkeiten der diasporischen Subjekte begrenzt sind. Aber auch in Hinblick auf die Frage der politischen Mobilisierung in Hinblick auf gemeinsame Themen und Kämpfe fällt eine Antwort nicht leicht. Denn Teil einer diasporischen Community zu sein, legt noch keine eindeutigen Solidaritäten nahe. Beziehungsweise stellt sich die Frage, welche Solidaritäten sich entwickeln, denn die Positioniertheit der diasporischen Subjekte, die sich in spezifischen Relationen ausdrückt, macht unterschiedliche Linien der Gemeinschaft und der gemeinschaftlichen Kämpfe möglich. So hat es in der Geschichte politische Mobilisierungen entlang von »Schwarz sein« gegeben, die sich auf die gemeinsam erlebte Geschichte von Unterwerfung und kolonialer Gewalt bezogen haben. Diese konnten aber durchaus auch zerfallen, wenn sich postkoloniale Allianzen zum Beispiel um den Islam herum organisierten. Insofern sind diasporische Koalitionen flexibel und können sich um verschiedene Themen entwickeln (Brah 1992). Insofern bleibt die Frage, was eine diasporische Community ausmacht, relational und ist kaum generalisiert zu beantworten. Und dennoch ist die Community die Existenzweise der Diaspora. Denn in der Diaspora ist man niemals allein. Ich danke Birgit zur Nieden und Serhat Karakayali für ihre hilfreichen Kommentare. Juliane Karakayali

L ITER ATUR Brah, Avtar (1992), Difference, Diversity and Differentiation, in: Race, Culture and Difference, hg. v. James Donald und Ali Rattansi, London: Sage, S. 126-145. Clifford, James (1994), Diasporas, Cultural Anthropology 9(3), S. 302-338. Fortier, Anne-Marie (2002), Queer Diaspora, in: Handbook for Lesbian and Gay Studies, hg. v. Diane Richardson und Steven Seidman, London: SAGE, S. 183197. Du Bois, W.E.B. (1994 [1903]), The Souls of Black Folk, New York: Gramercy Books. 93

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Gilroy, Paul (1995), The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness, London: Harvard University Press. Hall, Stuart (1990), Cultural identity and diaspora, in: Identity, Community, Culture, Difference, hg. v. Jonathan Rutheford, London: Lawrence and Wishardt, S. 222-237. Kron, Stefanie und Birgit zur Nieden (im Erscheinen), Thinking Beyond the Categories: On the Diasporisation of Gender Studies, in: Querelles – Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung, Band 16. Meyer, Ruth (2005), Diaspora. Eine kritische Begriffsbestimmung, Bielefeld: transcript.

94

Evakuierungszone

Ein Raum wird aufgeteilt in ein gefährdetes und ein ungefährdetes Gebiet. Menschen und Tiere werden verlegt, um versorgt, beschützt und auf potenzielle Risiken untersucht zu werden, die sie wiederum zur Gefahr machen könnten. Die Errichtung einer Evakuierungszone behauptet, eine akute oder bevorstehende Gefahr zu reduzieren oder abzuwenden. Eine technische Apparatur markiert die Grenze zwischen innen und außen. Sie trennt das gefährdete vom vermeintlich sicheren Areal, unterteilt den Raum, schafft durch die gezogene Linie eine topografische Ordnung, die die geregelte Flucht aus der festgestellten Gefährdungszone ermöglichen soll. Jedoch bleibt die Aufteilung fraglich, die instrumentelle Definition durch den Geigerzähler wie im Fall radioaktiver Verseuchung temporär – der Wind könnte drehen, Regen fallen. Das permanente Justieren der Richtwerte verschärft die Ungewissheit, wo die Grenze zwischen Ungefährdet-Sein und Gefahr, Sicherheit und Unsicherheit verläuft. Die Lokalisierung erweist sich als ein flexibles Konstrukt, die Einzonung als unsichere Markierung, die im Gegensatz zum objektivierenden Anspruch der Technik und der Maßeinheiten steht. Nicht die Gefahr selbst, sondern ihre Unbeherrschbarkeit gerät zur Bedrohung. Sie wirft die Frage auf, wer darüber entscheidet, wo sich das ungefährdete vom gefährdeten Areal trennt. Wie im Fall von Fukushima lässt der Streit um den Evakuierungsradius zwischen der Regierung, den Technikern und (ausländischen) Experten die Evakuierungszone zum Zeichen von behaupteter Souveränität in der Situation ihres drohenden Verlusts werden. Der Evakuierungsradius wird für unzureichend erklärt. Eine größere Ausdehnung entzöge der Regierung jenes sichere Territorium, das die Evakuierungszone erst ermöglicht und rechtfertigt. Umgekehrt bewiese die unzureichende oder gar fehlende Zone Hilflosigkeit und Versagen, die Bevölkerung angemessen vor der Strahlengefahr zu schützen. Die Entscheidung über die Aufteilung des nationalen Raums erweist sich als eine genuin politische Aufgabe, die weder Techniker noch Experten treffen können. In und mit der Evakuierungszone behauptet sich eine Ordnungsmacht, die aus der Potenz der Gefahr das Potenzial ihres Handels zieht und ziehen muss. Die Proklamierung und Etablierung der Evakuierungszone verlangt die Grenze zwischen sicherem und unsicherem Raum entschieden zu markie-

95

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

ren, weil sie zugleich das eigene Handeln markiert. Mit der Konstituierung der Zone bezeugt sich die Ordnungsmacht architektonisch, organisatorisch und institutionell. Als technisches Funktionsmodell ist sie zugleich ihr Abbild und – in der Konfiguration von Gefahr und Bewältigung – politisches Emblem. Während die Begriffe »Rettung« und »Räumung« die Befreiung von Individuen oder Gegenständen aus der Unmittelbarkeit kurzfristiger Bedrohung bezeichnen und ad hoc und gegebenenfalls auch gegen den Willen der Betroffenen erfolgen können, verspricht der Begriff »Evakuierung« ein planvolles Handeln. Das Kalkül richtet sich nicht allein auf den Einzelnen oder eine Gruppe, sondern auf das Überleben einer sozialen Gemeinschaft insgesamt, handelt es sich hierbei um eine Hausgemeinschaft wie im Falle einer Bombenentschärfung oder um einen umfänglichen Bevölkerungsteil angesichts drohender Verheerung durch Krieg, Vulkanausbruch, Flut oder radioaktive Verstrahlung. Unterschieden wird zwischen temporärer oder langfristiger Umsiedlung, wobei der Lebensmittelpunkt für unbestimmte Zeit verlagert wird. »Als Konsequenz muss die betroffene Bevölkerung in anderen Gebieten neu angesiedelt und in das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben integriert werden«, formuliert die Strahlenschutzkommission des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (2009, S. 89). Um an der sozialen Ordnung teilzuhaben, müssen sich die Evakuierten der Erklärung sowohl der Gefahr wie der Evakuierung fügen. Gerade in der geregelten Verlagerung demonstriert und bewahrt sich die soziale Ordnung. Zugleich jedoch zeigt sich die Evakuierung als eine soziale, ökonomische und psychologische Belastung, als ein Opfer gegebenenfalls des eigenen Lebens, das der Sicherheit und mehr noch der sozialen Ordnung gewidmet ist. Durch die Fokussierung auf das anonym technische Vorgehen in der konzentrisch um die Gefahrenquelle angelegten Evakuierungszone gerät deren soziale wie politische Relevanz aus dem Blick. Evakuierungen sind heute durch Ablaufpläne und Katastrophenschutzorganisationen institutionalisiert, gerade private Organisationen scheinen durch die Vorsorge in einem Spannungsverhältnis zum Handeln staatlicher Akteure zu stehen. Auf diese Weise wird jedoch überdeckt, dass es sich bei der Einrichtung nach wie vor um politisch-ästhetische Akte handelt, die sich durch die sinnlich nachvollziehbare Aufteilung von Räumen auszeichnen. Gerade am technisch-organisatorischen Umgang mit der Gefahr sucht sich (politische) Ordnung zu bestätigen und zu versichern. Jedes Versagen verwandelt sich deshalb unmittelbar zur Kritik an ihr, an der Kompetenz der verantwortlichen Regierung, weil es einen Ordnungs- wie Legitimitätsverlust eingesteht. Das Scheitern droht zur politischen Katastrophe zu werden, denn nicht ein Unfall oder ein schreckliches Naturereignis gefährden jetzt die Sozialität, sondern vielmehr das Misslingen der in der Evakuierungszone vergegenständlichten Ordnungsmaßnahmen. Evakuierungszonen adressieren somit eine zweifache Gefahr: einerseits die unmittelbare, für die sie offensicht96

Evakuierungszone

lich eingerichtet sind, andererseits aber diejenige, die sie als Abbild souveränen Handelns potenziell darstellen. Während die eingerichteten Zonen vor ersterer zu bewahren suchen, so muss die zweite Gefahr gänzlich durch den technischorganisatorischen Verlauf der Evakuierung zu verhindern gesucht werden. Der reibungslose Ablauf stellt mithin ihr wesentliches Ziel dar, demonstriert und repräsentiert das Funktionieren der Ordnung. Setzt Evakuierung Planbarkeit und Regel voraus, sind Beruhigung und Gewissheit ihre ersten Zwecke. Mit diesen korreliert das professionalisierte und in Planspielen, Übungen und Simulationen heute eintrainierte Handeln der Evakuierungskräfte, die sich als Herren der Lage zu erkennen geben. Nirgendwo ist diese Demonstration aber bereits eindrücklicher beschrieben als in dem literarischen Bericht über den Vesuv-Ausbruch im Jahre 79 nach Christus durch Plinius den Jüngeren. Die Kultur der heutigen preparedness gegenüber jeder nur denkbaren Bedrohungslage findet ihren Ursprung im stoischen Denken, das im antiken Rom gerade aus dem Bewusstsein der permanenten Krise des Staates und der Vulnerabilität des einzelnen Menschen sich den Begriff der Sicherheit überhaupt erst erarbeitet hat. Im ersten der zwei berühmten Briefe an Tacitus schildert der römische Senator wie sein berühmter naturforschender Onkel und Erzieher, Plinius der Ältere, als Flottenkommandant von Misenum aufbricht, um angrenzende Bewohner aus der unbestimmten Gefahr zu evakuieren. Ohne einen institutionalisierten Evakuierungsplan im heutigen Sinne zielt die Aktion des Plinius gleichwohl auf die wesentlichen Merkmale eines solchen: planvolles Handeln zu bezeugen und den Bestand der Ordnung zu sichern. Die Gegenwart des Offiziers wird zur exemplarischen Anweisung an das Verhalten der Betroffenen. Die Präsenz beschwichtigt die Angst durch eine angesichts der Gefahr geradezu auf absurde Weise zur Schau gestellte Sicherheit: »um den Verängstigten […] durch seine eigene Ruhe zu beschwichtigen, ließ er sich ins Bad tragen«. Der Kommandant demonstriert eine Selbstbeherrschung im unmittelbaren Anblick der Gefahr und bezieht aus dieser die Macht, Unsicherheit in Sicherheit, ja Unglück in Glück zu verwandeln. »Nach dem Bade ging er zu Tische und speiste seelenruhig oder – was nicht weniger großartig ist – anscheinend seelenruhig.« (Plinius der Jüngere, 1995, S. 498) Die Seelenruhe beweist die Überlegenheit rationalen Handelns gegenüber hilfloser Unvernunft. Sie stützt sich dabei auf Selbsttechniken und Beobachtungen, die Natur als vernünftig zu erkennen und irrationales Verhalten, Zorn und Furcht zumal, hiervon abzusetzen. Verharmlost wird die Naturgewalt, beschworen dagegen die eigentliche Bedrohung, die Panik kopfloser, anarchischer Massen, die jegliche Ordnung und damit das Überleben radikal in Frage stellt. »Inzwischen leuchteten vom Vesuv an mehreren Stellen weite Flammenherde und hohe Feuersäulen auf, deren strahlende Helle durch die dunkle Nacht noch gehoben wurde«, heißt es in ästhetisch-theatralischer Übersteigerung des spektakulären Ereignisses. Der Aufzug der katastrophischen Kulisse dient jedoch einzig als 97

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Therapeutikum: »Um das Grauen der andern zu beschwichtigen, erklärte mein Oheim, Bauern hätten in der Aufregung die Herdfeuer brennen lassen, und es ständen ihre Hütten unbehütet in Flammen.« (Ebd.) So wird auch hier eine Grenze gezogen: zwischen den zu Rettenden und den vom Schrecken getriebenen Bauern, zwischen Ordnung und Chaos – wobei eben die heutigen technischen Verfahren fehlen, die den Blick auf diese soziale und politische Dimension der Aufteilung verstellen. Nicht das Naturereignis, nicht der Vulkanausbruch bezeichnet die Katastrophe im antiken Denken, sondern der Verlust der sozialen und politischen Ordnung. In diesem Sinne werden die Bauern als asozial und als die eigentliche Gefahr denunziert. Der ältere Plinius führt das Verhalten der ihr eigenes Hab und Gut niederbrennenden Bauern als Ausdruck mangelnder Standhaftigkeit, plötzlichen Schreckens, als panische Masse und vor allem als Gegensatz zu sich selbst vor. Nach griechischer Sage löst der Schrei des Gottes Pan die unkontrollierbare Massenflucht aus. Auf ihre Verhinderung ist das demonstrative Verhalten angelegt. Die Kontrastierung ist das Mittel dieser Verhinderung. Dort das gewissermaßen barbarische, irrationale Verhalten der Bauern, hier das zivilisierte, vernunftgeleitete Handeln, repräsentiert durch die Gelassenheit des Plinius. Als Exempel sich statuierend, bezeugt dieser sich selbst und den Standesgenossen die eigene soziale Identität und vermag die Verängstigten am statuarischen Gegenbild ihrer selbst zu beruhigen und damit panisches Fluchtverhalten abzuwenden. Bis heute zielt noch jede Evakuierungsmaßnahme hierauf ab. Sie dient in der unmittelbaren Gefahr dazu, die Menschen zu beruhigen, die Sicherheit der bestehenden sozialen Ordnung zu garantieren. Wenngleich die Möglichkeiten einer Entfluchtung aufgrund von Ascheregen und rauem Meer im Fall des Plinius nicht vorhanden sind, ist es doch das rationale Verhalten des Flottenkommandanten, welches den katastrophischen Ort in eine Evakuierungszone verwandelt. Dies wird an einem befremdlichen, aber für das stoische Sicherheitsdenken entscheidenden Detail sichtbar. In der idealisierten Darstellung des Adoptivsohns erscheint der Tod als letzte Gewissheit der Gefahr zu entkommen, gewissermaßen als Kompensation der in der Gefahrensituation fehlenden technischen Schleusen und markierten Wege, die das ungehinderte Übertreten vom unsicheren Ort zum Ort der Sicherheit hätten ermöglichen sollen. Aus erhabener Position begegnet der Kommandant ihm mit vollkommener Furchtlosigkeit, bar allen Schreckens, wie von Ausgrabungen bekannt. Die Todesbegegnung wird zum Prüfstein der inneren Gleichmut, der inneren Sicherheit wie Freiheit, sich der Ordnung zu opfern. Im sich zum Tode selbst verurteilenden stoischen Weisen scheinen die zum Tod verurteilten Helden der katastrophischen Moderne vorweggenommen, die – wie die Soldaten in Tschernobyl, die Feuerwehrleute in New York, die Arbeiter in Fukushima – für ihren Opfermut belobigt werden. Ihr Tod beweist den Bestand der Ordnung, die sich nicht nur als soziale sondern auch als eine wie auch immer zweifelhafte ethische behauptet. 98

Evakuierungszone

Ohne eine räumliche Aufteilung, die geordnete Übergänge, Flucht- und Rettungswege ermöglicht und hierdurch das Risiko irrationalen Verhaltens von rationalem trennt, ließe sich keine Evakuierung durchführen. Konstituiert wird ein Innen-Außenverhältnis, wobei Schrecken und Gefährdung sowohl innerwie auch außerhalb (inner- wie auch außerweltlich) der Einzonung liegen können. Innen und außen sind letztlich austauschbar, weshalb sich deshalb die Vorstellung, Gefahren einhegen zu können, womöglich als vollständig illusionär erweist. So kann ein Außenraum zum Fluchtort vor einer Gefahr innerhalb eines begrenzten Raums werden, etwa im Fall eines Brandereignisses, eines plötzlichen Einsturzes eines Hochhauses oder einer panischen Menschenmenge in einem Autobahntunnel. Im Idealtypus einer Innen-Außenkonstellation erscheint der Zweck reibungsloser Evakuierung übersetzt in eine Architektur der Entfluchtung nach einem geschützten Außen. Sie basiert auf einem Zusammenspiel von Berechnung und katastrophischer Imagination, die sich in Form von Bauvorschriften, Verordnungen und Regelwerken, gar in die architektonische Form selbst eingeprägt hat. Sie ist danach eingerichtet, dass die Fluchtwege kurz und übersichtlich, barrierefrei, gut ausgewiesen und beleuchtet sind. Stets gilt noch das Kriterium, dass die Evakuierungszeit deutlich geringer ausfällt als der Zeitraum bis zum Eintritt lebensbedrohlicher Situationen. Bereits das antike Rom vereint den Gegensatz zwischen Vernunft und Imagination in Symbolen der Prävention, in Kennzeichnungen für Fluchtwege und Sammelplätze. Kein anderes Monument als das flavische Amphitheater, später Kolosseum genannt, erweist sich in seinem Aufbau nicht nur als Abbild der sozialen Ordnung, sondern gleichzeitig als ein gebauter Evakuierungsplan, als eine in seine Architektur immer schon eingelassene Evakuierungszone. Selbst ihr Anlass, Tod und drohender Untergang, finden sich gehegt in der Arena aufgeführt. Entsprechend der architektonischen wie sozialen Ränge wird durch sorgsam verteilte und markierte Wege das geordnete Verlassen der Massen gelenkt, die, sortiert und aufgeteilt, durch die geregelte Fluchtarchitektur selbst bei Gefahr geordnete Gesellschaft bleiben; die präventive Formung und Lenkung der Massen hat das Ausbrechen von Panik zu verhindern und die sozial aufgeteilte Ordnung abzusichern (Paul 1972, S. 141). Umgekehrt kann auch ein Innenraum vor einer Gefahr schützen wie im Fall von Pandemien oder Kriegen. Als kritische Ordnungsräume definieren die Sicherheitsarchitekturen von der Festung, dem Spital, dem Lazarett über den Flughafen bis zum Bunker Evakuierungszonen als Orte riskanter Ordnung. Sie sind die geschützten Orte, die gleichsam aus dem Innen ein bedrohtes Außen als Evakuierungszone bestimmen, sie definieren Ausweg und Ziel. Grenzziehung und Aufteilung treffen abermals aufeinander. Vielfältigste Schleusen fungieren als Filter, trennen gesunde von kranken, gefährdende von ungefährdeten Körpern. Innen- und Außenraum, gefährdetes und sicheres Areal, sind mithin prinzipiell austauschbar. Umschließt eine Evakuierungszone nur eine andere, erweist 99

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

sich bei fortschreitender Durchdringung sichernde Ordnung als einschließende Flucht. Der Erdball verwandelt sich zur permanenten Evakuierungszone, in der jeder Ausgang aus einer Zone ein Eingang zu einer neuen ist. Die endlose Passage verrät gleichermaßen das onto-theologische Erbe des Sicherheitsdenkens. Bei Herman Kahn, dem US-amerikanischen Strategen und Futurologen des Kalten Krieges, werden Szenario und War Game zu Verfahren, die Katastrophe eines Dritten Weltkriegs als logisches Phänomen präventiv aufzurufen und Wissen durch Inszenierung und Vorführung zu erzeugen. Es gilt den Atomkrieg nicht zu verhindern, sondern als potenzielle Realität zu behandeln, um dem Untergang durch rationale Mittel und Strategien zu entkommen. Das »Undenkbare zu denken« gerät zum Schlachtruf der Vernunft. Die gesamte Welt wird jetzt zur Evakuierungszone erklärt: »How much more hostile will the environment be?«, »How happy or normal a life can the survivors and their descendants hope to have?« (Kahn, zitiert nach Ghamari-Tabrizi 2005, S. 312) Kahn denkt die atomare Katastrophe, um bei einer Ausweitung der Evakuierungszone auf globalen Maßstab die Wahrscheinlichkeit eines Überlebens der amerikanischen Gesellschaft überhaupt abzuschätzen. Das Szenario der absoluten Katastrophe ist die Bedingung amerikanischer Hegemonie. Die Beschwörung der Katstrophe inhäriert zugleich ihre Bewältigung in Form detaillierter, absurd erscheinender Berechnungen für die benötigten Mittel zum Bau unterirdischer Bunker und Versorgungsanlagen. Die Schadenshöhe hängt von den Vorbereitungen ab. Kahn entwirft Fluchtwege ins Erdinnere. Die Erdkruste bildet Grenze und Übergang der Evakuierungszone, teilt nun vertikal den Raum auf. »There might be another 50 million spaces at $400 per space for medium and small cities and the suburbs of large cities. The basic shelter for the rest of the country (100 million spaces) might cost about $200 per space.« Kahn ist die moderne Antwort auf das stoische Sicherheitsdenken Roms. Der Nuklearkrieg ist nicht nur denkbar, sondern auch strategisch machbar, auch wenn er das Leben von Millionen Menschen kosten sollte. »The resulting damage is just part of the price we have to pay to live in a civilization with nuclear power plants, X-rays, fluoroscopes, tracer elements, weapons tests, and so on.« (Kahn, zitiert nach Ghamari-Tabrizi 2005, S. 320) Evakuierungszonen sind Orte, wo die Gefahr und die Akte souveränen Handelns diese zu beherrschen zusammengezogen sind. Sie sind der Ort der Katastrophe schlechthin, indem sie ihre Erklärung und Lösung verbinden. Sie stellen Ordnung als durch Bedrohung legitimierte und zugleich als gemachte vor; sie demonstrieren, was alltägliche Ordnung verbirgt: Die Zivilisation erweist sich mithin als eine universelle und letztlich unentrinnbare Evakuierungszone, erkennbar an den ubiquitären, mehr oder weniger diskreten Zeichen der Entfluchtung, Haltelinien politischer Souveränitätsbehauptung in unaufhörlicher (inszenierter) Vulnerabilität. Leon Hempel 100

Evakuierungszone

L ITER ATUR Gaius Plinius Caecilius Secundus (Plinius, der Jüngere, 1995), Briefe: lateinischdeutsch. Epistularum libri decem, Zürich: Artemis und Winkler. Sharon Ghamari-Tabrizi (2005), The Worlds of Herman Kahn: The Intuitive Science of Thermonuclear War, Cambridge: Harvard University Press. Strahlenschutzkommission des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (2009), Radiologische Grundlagen für Entscheidungen über Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung bei unfallbedingten Freisetzungen von Radionukliden, Heft 61. Paul, Eberhard (1972), Antikes Rom, Leipzig: Koehler & Amelang.

101

Fanmeile

Gemeinsam Fußball schauen, das kannten wir schon länger, im Stadion ohnehin, dank Live-Übertragungen auch zu Hause oder in der Kneipe. Seit 2006 kennen wir zusätzlich die Variante »Fanmeile«, also Fußball schauen in einem umzäunten öffentlichen Raum, gemeinsam mit reichlich Sicherheitspersonal und -technologie, dazu Rahmenprogramm mit ausgewählten Kaufvorschlägen, nationalen Symbolen satt und alkoholischen Kaltgetränken aus dem Hause des jeweiligen Sponsors. Aus dieser spezifischen Verbindung von Sport, Maskulinität, Kommerz und Nation entstehen in den Städten seitdem immer mal wieder neue, zeitlich befristete Orte, die man auch kennt, wenn man sie noch nie aufgesucht hat (wie dieser Autor). Immerhin sind sie primär Inszenierungen fürs Fernsehen, und was dort zu sehen ist, kann man wohl als ihre Essenz auffassen. Aus den »Schalten« vor dem Spiel kennt man den als Moderator angesprochenen Animateur, der in eine schwarz-rot-goldene Menge hinein nach ihrem Befinden fragt, um von dieser dann euphorisiert angeschrien zu werden; nach dem Spiel hängt die Stimmung ganz vom Ausgang desselben ab. Orte nationaler Begeisterung in den Zentren der Städte sind es, die uns präsentiert werden. Hatte Henri Lefebvre (1969, S.  106) den Pariser Mai 1968 noch mit der »dialektische[n] Interaktion zwischen Marginalität und urbaner Zentralität« erklärt, weil die Bewegung der Studierenden »eines Zentrums« bedurfte, das ihr »die ›Heterotopie‹ Nanterres« nicht liefern konnte, weshalb sie von diesem »ex-zentrischen Ort« aus ins Quartier Latin strebte und »sich diesen Raum wieder an[eignete]«, der ihr »entrissen« worden war »und den sie im Kampf wiedererobert[e]«, so konstatieren Christine Resch und Heinz Steinert (2010a, S. 227f.) für die Fanmeilen der EURO 2008, die sie mit ihren Teams in Wien und Frankfurt ethnographisch beforscht haben: »Junge Männer reisen aus den Vor- in die Innenstädte und besetzen sie durch Lärm und Pöbeleien.« Während Lefebvre (1969, S. 111) in der räumlichen Praxis des Mai 1968 die Ankündigung einer »neue[n] soziale[n], politische[n], kulturelle[n] Ära« sah, der »urbane[n] Gesellschaft« jenseits der Entfremdung, die hervorgehen werde aus der révolution urbaine, in der der differenzielle Raum den Sieg über den abstrakten Raum von Staat und Kapital davontragen wird, sind die »Spuren von Widerständigkeit«, 102

Fanmeile

die Resch und Steinert (2010a, S. 227) in den Märschen der »Unterschicht-Machos« in die Fanmeilen ausmachen, deutlich bescheidener: »Sie eignen sich die Zentren an, die sonst den Wohlhabenden vorbehalten sind«, den »gutsituierten Touristen« in Wien und »den Bankern« in Frankfurt am Main (ebd., S. 228). Bezüglich der Bewegung sozioökonomischer Positionen im städtischen Raum weisen Mai 68 und EURO 2008 also gewisse Gemeinsamkeiten auf: In den sozial-räumlich segregierten Städten kommt der Rand ins Zentrum, eignet ihn sich an und verändert ihn dabei temporär. Doch sind die Unterschiede frappierend. Im Unterschied zu Paris 1968 ist die Bewegung hin zu den zentral gelegenen Fanmeilen in Frankfurt, Wien und anderswo in politischer Hinsicht deutlich anders zu verorten. Wo 1968 die Studierenden, später gemeinsam mit den Arbeiter_innen, die Verhältnisse in Frage gestellt haben, werden diese in den Fanmeilen komplett affirmiert. Nicht nur sind es Orte dominanter Maskulinität und verordneten Kommerzes, die ganze Veranstaltung basiert auf dem zentralen Identitätsangebot, das den Subalternen in der Moderne »von oben« gemacht wird, auf der Nation. Wer in Fanmeilen pilgert, bewegt sich ganz in der »Nation-Form«, die »alle Unterschiede […] relativiert und sie unterordnet, so dass schließlich der symbolische Unterschied zwischen ›uns‹ und ›den Fremden‹ obsiegt und als irreduktibel erlebt wird« (Balibar 1990, S. 116). Nur in einer Welt, die genau diese Differenz als zentral erachtet, ergeben Spiele zwischen Nationalmannschaften Sinn. In der Fanmeile wird nicht etwa der Fußball gefeiert, sondern die Nation. Die Fanmeile ist so ziemlich der ungeeignetste Ort, den man sich vorstellen kann, um sich eines Fußballspiels von der Sache her zu erfreuen: Das Bild ist weit weg, der Ton schlecht zu hören, die Ablenkungen sind gewaltig. Die Frage, welcher Mannschaft man den Sieg gönnt, wird hier von niemandem nach der Qualität des Spiels, nach Taktik, Einsatz, herausgespielten Chancen oder schön anzusehenden Einzelaktionen entschieden. Das Urteil steht vielmehr schon zuvor fest und wird als Urteil gar nicht mehr wahrgenommen: Selbstverständlich sollen »wir« siegen, weil »wir« es verdient haben, schließlich sind »wir« ja »wir«. Am gängigen Verlauf der im modernen Fußball als Völkerverständigungsparty inszenierten nationalen Konkurrenz ist dann auch schon der ganze Unfug der Unterscheidung von »Nationalismus« (= »böse«, weil »gegen« die Anderen) und »Patriotismus« (= »gut«, weil nur »für« die Eigenen) zu beobachten. Selbstverständlich sind die in den einen Trikots »gegen« die in den anderen Trikots, das ist der Witz am Fußballspiel! Wer gewinnen will, muss wollen, dass die anderen verlieren. Wird das Fußballspiel in Nationaltrikots ausgetragen und können sich die in den einen Trikots auf die Unterstützung aller verlassen, die sich derselben Nation angehörig fühlen, ist in der Praxis zu beobachten, was theoretisch an der Unterscheidung von Nationalismus und Patriotismus zu kritisieren ist: »Patriotismus schließt zwangsläufig die ab- und ausgrenzende 103

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Stellung der eigenen Nation zu anderen Vaterländern ein. Immerhin gilt die positive Stellung nicht einem Begriff des Vaterlandes, sondern der je besonderen Nation.« (Huisken 2012, S.  146) Wer für Deutschland grölt, tut dies eben gut erkennbar nicht nur nicht für die auf der anderen Spielfeldseite, sondern notwendig gegen sie. Fans einer Nationalmannschaft sehen im Fußballspiel nur das Mittel zum Zweck, und das ist der Sieg. Auf dieser Abstraktionsebene handelt es sich um denselben Wunsch, den Anhänger_innen der Nation auch beim Eurovision Song Contest, beim Kampf um die Exportweltmeisterschaft oder im Krieg hegen. Und wie dort, beanspruchen beim Fußballländerspiel stets mindestens zwei Nationen den Sieg je exklusiv für sich. Weil zu befürchten ist, dass die Anhänger_innen des Verliererteams beziehungsweise der Verlierernation in der Fanzone das ihnen vorenthaltene Recht auf den nationalen Sieg mit Mitteln einklagen wollen, die das Monopol des zuständigen Staates auf die Anwendung legitimen physischen Zwangs in Frage stellen, sind Fanmeilen auch Orte beeindruckender Sicherheitsvorkehrungen. In ihnen ist eine »kollektive Infantilisierung« (Brüchert 2010, S.  129) zu beobachten: Erwachsene Menschen lassen sich ihre Bewegungen im Raum komplett durch Schranken, Zäune und Sicherheitspersonal vorgeben. Diese Versicherheitlichung des Raums findet auch jenseits der Fanmeilen statt, in den Stadien und in den öffentlichen Räumen der Ausrichterstädte, an und vor den Staatsgrenzen und im virtuellen Raum der Daten. Um zu verhindern, dass die erwünschten Nationalismen (»zu Gast bei Freunden«) mit einer unerwünschten gewaltsamen Praxis einhergehen, wurde etwa zur WM 2006 die Freizügigkeit im Schengenraum zeitweise und selektiv aufgehoben, die britische Polizei verhängte 5.000 Ausreiseverbote, besondere Kontrollen fanden statt etwa am Flughafen FrankfurtHahn, wo Billigflieger aus England landen, oder im Stadionumfeld, wo entsprechend der »FIFA-Sicherheitsrichtlinien« Videoüberwachung zu installieren war, und im Luftraum über Deutschland, wo Aufklärungsflugzeuge der NATO patrouillierten. Zusätzlich waren in den Eintrittskarten RFID-Chips integriert und beim Ticketkauf mussten potenzielle Stadionbesucher_innen (nicht aber VIPs) umfangreiche Angaben zur Person machen (Lederer 2006; Brüchert 2010). Die meisten Stadtbewohner_innen scheinen kein Problem damit zu haben, dass im Namen der Sicherheit in Fanmeilen, Stadien und Innenstädten der Zugang zu urbanen Räumen selektiv eingeschränkt und das Verhalten ebenda möglichst genau reguliert wird. Ab und an gibt es Beschwerden über das Biermonopol (der falschen Marke) oder darüber, dass (»ausländische«) Fans sich nicht zu benehmen wüssten, aber insgesamt scheint die Freude zu überwiegen, dass »wir« als Ausrichterstadt auserwählt wurden und »der Welt« zeigen können, wie schön es hier ist. Gerne greift die Berichterstattung die Schönheit derselben Stände und Banner von FIFA-/UEFA-Partnern, derselben festivalisierten Stadträume und derselben Idee einer ganz einmalig schönen Stadt auf, die es auch in allen anderen Ausrichterstädten zu begutachten gibt, dass es eine Pracht 104

Fanmeile

und die nach Anerkennung heischende lokale Öffentlichkeit stolz ist – stolz auf ihre Gastfreundlichkeit, ihre Kultur, ihre Identität, die sich unter anderem darin materialisieren, dass für die Dauer der medialen Salbung Bettler_innen aus den Innenstädten geschafft und Proteste verhindert werden. In der Praxis zeigt sich bürgerliche Öffentlichkeit als das, was sie hinter ihrer ideologischen Fassade von freiem und gleichem Zugang für alle schon immer war: als auf Exklusion des Anderen, des Armen, des Aufrührerischen basierende Herrschaftsform, der die Nation als Legitimation all dessen gerade recht kommt. Wo und soweit sichergestellt ist, dass Nationalismus nicht gewaltsam praktisch wird, ist die Fanmeile Ort der fernsehtauglichen Inszenierung dessen, was Michael Billig (1995) als flagging der Nation bezeichnet hat, also die alltägliche Erinnerung an die Zugehörigkeit zu diesen imagined communities, die mittels Flaggen und anderen Symbolen, mittels Traditionen und Sprachen stattfindet, die allesamt als nationale daherkommen, oder in der auch und gerade im Fußball gängigen Rede vom »wir«, das ohne erklärt werden zu müssen stets die Nation bezeichnet. (Seit wann reden Fernsehkommentatoren eigentlich von »unserer Mannschaft« und nicht mehr vom »DFB-Team«?) Die Normalisierung eines exzessiven flaggings des neuen, gesamtdeutschen »Wir« durch angetrunkene Jungmänner aus den Vorstädten in Form der all-präsenten Nationalflagge, wie es in den Fanmeilen fernsehtauglich inszeniert und im Bezug auf die eigene Flagge mit positiven Assoziationen, mit Begeisterung und dem Recht auf den Sieg für »uns« verbunden wurde, scheint dann auch das zentrale Vermächtnis jüngerer Fußballturniere zu sein. Auch wenn die auf Aufklebern weit gestreute Drohung der Bildzeitung »schwarz-rot-geil, wir machen weiter!« zum Glück nicht im angekündigten Umfang wahr gemacht wurde, haben die Fanmeilen ihren arbeitsteiligen Beitrag zur »Normalisierung« des Nationalismus hierzulande geleistet, an der in der aktuellen Krise Sarrazin et al. weiterarbeiten können. Der Autor dieser Zeilen jedenfalls wird sich auch in Zukunft wichtige Länderspiele mit Beteiligung des DFB-Teams in Sicherheit zu Hause ansehen und zu diesen Zeiten den öffentlichen Raum, und schon gleich die Nähe zu Fanmeilen, meiden, um nicht erneut, wie während des Sommermärchens 2006, im ÖPNV ob fehlendem body-flagging angepöbelt zu werden. Ihm fehlt offenbar die Professionalität des in Feindesland ethnographisch Forschenden, die – neben vielen anderen Qualitäten – etwa den unvergessenen Heinz Steinert (1942-2011) auszeichnete. Ihm sei dieser Beitrag gewidmet, und mit einer Beobachtungsnotiz aus seiner Feder aus der Wiener Fanmeile während der EURO 2008 sei er geschlossen: »Mein schönstes Interview: Ich werde von einer jungen Frau, um die 14, schon ziemlich illuminiert, wie folgt angemacht: ›Du Oasch (Pause, in der sie mich taxiert) – oda san Se am End ka Deitscha? (ich: net ganz) Macht nix – mir san trotzdem die bessan!‹« (Resch und Steinert 2010b, S. 111) Bernd Belina 105

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

L ITER ATUR Billig, Michael (1995), Banal Nationalism, London: SAGE. Brüchert, Oliver (2010), Welche Sicherheit hätten S’ denn gern? Und darf’s ein bissl mehr sein? Fußballgroßereignisse und Sicherheitsversprechen in Europa und Südafrika, in: (K)ein Sommermärchen: kulturindustrielle FußballSpektakel, hg. v. Torsten Heinemann und Christine Resch, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 124-136. Balibar, Étienne (1990), Die Nation-Form: Geschichte und Ideologie, in: Étienne Balibar und Immanuel Wallerstein, Rasse – Klasse – Nation, Hamburg und Berlin: Argument Verlag, S. 107-130. Huisken, Freerk (2012), Der demokratische Schoß ist fruchtbar … Das Elend der Kritik am (Neo-)Faschismus, Hamburg: VSA. Lederer, Anja (2006), Weltmeister der Inneren Sicherheit. Bilanz der WM 2006, Bürgerrechte & Polizei/CILIP (84), S. 76-81. Lefebvre, Henri (1969), Aufstand in Frankreich. Zur Theorie der Revolution in den hochindustrialisierten Ländern, Berlin: Edition Voltaire. Resch, Christine und Heinz Steinert (2010a), Sport als Inszenierung. Konkurrenz, Nationalismus und die Lizenz zum schlechten Benehmen, in: (K)ein Sommermärchen: kulturindustrielle Fußball-Spektakel, hg.  v. Torsten Heinemann und Christine Resch, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 214-233. Resch, Christine und Heinz Steinert (2010b), Fanzonen-Aktionen, in: (K)ein Sommermärchen: kulturindustrielle Fußball-Spektakel, hg.  v. Torsten Heinemann und Christine Resch, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 103-111.

106

Finanzparkett

Parkett ist ein glatter und ebener Bodenbelag, zu finden häufig in Ballsälen. Parkett muss bespielt werden, hier lässt sich tanzen. Der Rhythmus dieser Tänze sind Börsennachrichten und eingehende Bestellungen, per Boten gebracht, auf Tickerbändern, Bildschirmen und elektronischen Handgeräten angezeigt. Diese Tänze sind wild und zumeist Männertänze. Sie enthalten hektische Gebärden, ausdrucksstarke Mimik und laute Rufe, die sich gegenseitig zu übertönen suchen. Die Kleidung ist an das Tempo angepasst. Parketthändler, wo es sie heute noch gibt, tragen Sakkos, deren Rücken aus einem Netzgewebe besteht, um eine Stauung der Transpiration zu verhindern. Die körperliche Fitness, die ein Ausstattungsmerkmal des Börsenhändlers ist, und die Präsenz der gestikulierenden Körper stehen in Beziehung zu den psychologisierenden Deutungen, die die Welt vom Finanzhandel unterhält. Wir kennen die Bilder unsicherer, verzweifelter, das Gesicht in den Händen vergrabender Händler auf den Titelseiten der Zeitungen, wenn es zu einem Kurssturz kommt. Die Börsenpsychologie scheint auf dem Finanzparkett und in seinen Tänzen inkarniert zu sein. Die große Enttäuschung, der Markt, der partout nicht nach oben will, trotz aller Anstrengungen und allem guten Willen. Und die Panik in den Augen, die gebannt und ungläubig die Nachrichten, die Ticker und Bildschirme verfolgen, die wie aus einer anderen, feindlichen Welt kommen – als würden wir Zeugen einer Wiederauflage von Orson Welles’ Radiohörspiel The War of the Worlds, das 1938 das Entsetzen vieler US-Amerikaner und fast eine Massenpanik auslöste. Gerade noch rechtzeitig konnte klargestellt werden, dass es sich nicht um eine reale Invasion marsianischer Truppen, sondern um eine Fiktion handelte. Tatsächlich ist das Finanzparkett ein Schauplatz globaler Prozesse, die oft wie aus heiterem Himmel zu kommen scheinen. Hier materialisieren sich Fernfolgen von Handlungen Anderer in aller Unabweislichkeit, nämlich als mathematisch berechnete Kurswerte. Aber zugleich ist es der Ort, der die Rahmenbedingungen erzeugt, die eine solche Manifestation erst ermöglichen. Denn hier wird gehandelt. Handel/n aber ist voraussetzungsreich. Er/es entsteht nicht aus dem Nichts – vielmehr muss man Handelnde motivieren, teil-

107

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

weise überreden, sich an diesem Handel zu beteiligen. Das ist das Geheimnis der Liquidität: Solange potenziell Handelnde auf ihrem Reichtum (oder dem anderer Leute) sitzen, passiert nichts. Erst wenn sie motiviert werden können, diesen Reichtum zirkulieren zu lassen, entsteht Liquidität. Und dies erfordert zuweilen mühsame Überzeugungsstrategien, wie Donald MacKenzie und Yuval Millo (2003) demonstriert haben. Die Chicagoer Börse für Optionshandel wurde in den 1960er Jahren nicht einfach gegründet, wie man einen Verein gründet, sondern sie wurde real erst als Resultat unermüdlicher Überredungskünste ihrer Visionäre gegenüber den noch skeptischen potenziell Handelnden, die den neuen, derivativen Produkten eher misstrauisch gegenüber standen. Die Liquidität dieses Marktes bestand im Anfang aus wenig mehr denn einer Schar mehr oder minder überzeugter und mehr oder minder miteinander bekannter Börsenakteure, die sehr zögerlich begannen, eine Nachfrage nach diesen damals als exotisch geltenden Finanzprodukten zu erzeugen. Das Parkett der Chicagoer Börse war koextensiv mit »dem Markt« für Optionen. Ein klassisches Beispiel für eine Gruppendynamik, auf der die Ökonomie beruht: Wer einen Markt haben möchte, möge bitte miteinander spielen. Dieses Beispiel zeigt, dass das Finanzparkett ein Ort von Sozialität ist. Wenn es auch heute scheinen mag, als äußerten sich hier lediglich die unpersönlichen Fernfolgen globaler und merkwürdig ungeerdeter Handelsaktivitäten, weist seine Genealogie in genau die entgegengesetzte Richtung: Das Finanzparkett ist der Ort, an dem durch lokale Sozialität translokale Ökonomizität – also ein Markt – erzeugt wird. In diesem Sinne, als Ort von Sozialität, ist das Finanzparkett mit anderen Orten vergleichbar. Das bedeutet in erster Linie, dass nicht jede_r Zutritt hat. Die abstrakte Vorstellung des Finanzmarktes, an dem jede_r teilnehmen kann, der/die über einen Internetzugang verfügt, ist eine ausgesprochen rezente Schimäre. Denn noch heute walten Prozeduren der Schließung, was im Begriff der »geschlossenen Fonds« Ausdruck findet. Es handelt sich hier um Investmentfonds, an denen man nur auf Einladung partizipieren kann. Diese Einladung erfolgt häufig über die Banken, die Anteile an solchen Fonds vertreiben und sie nur sehr solventen Kunden anbieten. Um zum eigentlichen Parketthandel zugelassen zu werden, muss(te) man noch höhere Hürden überwinden. In Großbritannien und Frankreich war die Zahl derjenigen, die mit eigenem oder fremdem Geld Handel treiben durften, limitiert. Das Recht hierzu wurde entweder gegen Bares erworben oder qua Abkunft vererbt. So konnten sich im 19. Jahrhundert regelrechte Börsendynastien ausbilden. Der Soziologe Max Weber, damals noch Jurist, formulierte als Mitglied eines provisorischen Börsenausschusses in den 1890er Jahren das Argument, dass diese soziale Schließung des Börsenhandels einen nationalökonomischen Sinn habe: Nur die »starken Hände« der traditionellen Börsendynastien hätten Handelsstile ausgebildet, die den Finanzhandel von innen heraus zu regulieren imstande wären (Weber 108

Finanzparkett

1988 [1894/95]). Die eigentliche Gefahr sah Weber im Anwachsen der Zahl handelnder Kleinanleger, die kraft ihrer irrationalen und einzig auf schnelles Geld zielenden Motivation die Märkte durcheinanderbrächten. Auf diese Weise führte er einen informellen Milieukodex gegen damalige Forderungen nach einer juristischen Regulierung der Märkte ins Feld, von der er eine Schwächung des Börsenstandorts Berlin befürchtete. So gesehen ist die Geschichte der Börse die Geschichte von Versuchen der Schließung des Handelsraums. Alex Preda (2009) hat nachgezeichnet, wie seit dem 19. Jahrhundert die Agenten der Schließung und ihr Milieu sich veränderten. Zentral hierfür war der Kampf um die Publizität der Preise und preisrelevanter Informationen. In der heutigen Finanzwissenschaft gelten Finanzmärkte deswegen als idealtypische Märkte, weil ihnen im Modell unterstellt wird, Informationen sofort in die Nachfrage- und Angebotsstruktur einzuarbeiten – Finanzmärkte seien informationstransparent und in diesem Sinne »effizient«. Dieses Bild entspricht indes nicht der geschichtlichen Realität. Bestimmte hochspezialisierte Finanzmarktprodukte mit potenziell weitreichenden Folgen waren exklusives Geschäft spezialisierter Händler, und das bis in die 1940er Jahre hinein. Die Einführung des Börsentickers ab den 1860er Jahren, oftmals gesehen als ein wichtiger Schritt zur globalen Integration der Finanzmärkte, durch den Entfernungen zwischen Handelsorten fast in Echtzeit überwunden werden konnten, zementierte zugleich den Anspruch der New York Stock Exchange, einzige Quelle verlässlicher Preisinformationen zu sein, aus der sie dann in die Welt sprudelten. Die Untersuchungskommission, die die näheren Umstände des Zusammenbruchs der Finanzmärkte am »Schwarzen Freitag« des Jahres 1929 aufklären sollte, schrieb die Krise zu einem Gutteil dem Zwielicht zu, in dem Preise gebildet wurden. Eine Fernfolge hiervon ist die heutige rechtliche Sanktionierung von »Insiderhandel«, das heißt des Handels im exklusiven Wissen um preisrelevante Informationen. Wenn auch Preisinformationen im Laufe des 20. Jahrhunderts allmählich zugänglicher und insofern tatsächlich transparenter wurden, setzte dies den sozialen Schließungsmechanismen des Finanzparketts kein Ende, sondern transformierte sie bloß. Sie verlagerten sich zunehmend in den Bereich der Professionalisierung. Den Anfang machten die business schools in den USA. Mittlerweile sehen wir eine weltweite institutionelle Spezialisierung der Ausbildung zum Finanzmarktexperten – ein wichtiger Schritt angesichts des Umstands, dass die Professionalisierung von erwerbsmäßigen Tätigkeiten zwingend an deren Ausdifferenzierung als akademische Disziplin mit eigenen, nicht von anderen Disziplinen bedienbaren Wissensbeständen und Wissenschaftsprogrammen gebunden ist. Zugleich ging dies mit einer räumlichen Expansion, aber auch Zerfransung des Finanzparketts einher: Es verlagerte sich von den alten, architektonisch umhegten Finanzplätzen zunehmend in die Gebäude der Banken. Der Finanzhandel blieb so zwar an den mit Städtenamen bezeichneten, sagenumwobenen Orten lokalisiert, hielt 109

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

aber zugleich Auszug aus dem Gebäude der Börse. Auf diese Weise entstanden, im Begriff Saskia Sassens (1991), global cities, deren Wirtschaftsdynamik in entscheidendem Maße vom Verkehr zwischen Börse, Banken, Versicherern, Werbeund Rechtsagenturen ab- und immer weniger mit dem regionalen Umfeld dieser Städte zusammenhängt. Insofern ist mit vollem Recht von »Finanzstandorten« zu sprechen: Weit davon entfernt, nur die alte Börse zu tangieren, hängen an deren ökonomischer Dynamik zahlreiche Finanz-, aber auch personenbezogene Dienstleister – das Fitnessstudio und der Pizzaflitzer für die Banker ebenso wie die Hausmeisterdienste und Fensterputzkolonnen der Bankentürme. In der Finanzdienstleistung arbeiten meist studierte Finanzfachleute, die die Börsen den Laien nicht länger überlassen. Das geht so weit, dass bestimmte Marktsegmente wie etwa der globale Devisenmarkt, so Gordon Clark und Nigel Thrift (2005), außerhalb der Banken, die seine Player sind und zugleich die notwendige Kommunikationsinfrastruktur bereitstellen, keine Existenz haben. Die Geschichte der sozialen Schließungen des Finanzparketts läuft dabei an der Geschichte der Entstehung bürgerlicher Öffentlichkeit entlang. Tatsächlich grenzte das Finanzparkett an die Räume dieser Foren an, als sie im Entstehen begriffen waren. Im London des 18. Jahrhunderts waren es die Kaffeehäuser, in denen laut Jürgen Habermas (1962) eine räsonierende Öffentlichkeit entstand, die, zunächst hauptsächlich an Fragen literarischer Ästhetik interessiert, allmählich begann, sich für Fragen des politischen Gemeinwesens zu interessieren. Dieselben Kaffeehäuser dienten indes den frühen Börsenbrokern als Kontore: Hier wurden Bestellungen aufgenommen, Kurse bekanntgegeben und Profite ausbezahlt. Die Zeitung als frühes Medium debattierender Öffentlichkeit legte sich Finanzseiten zu und wurde damit auch zum Forum der handelnden und wettenden Öffentlichkeit. Ähnliches lässt sich für die Pariser Parks sagen, in denen nicht nur flaniert und räsoniert, sondern, wie in den Londoner Kaffeestuben, auch gehandelt wurde. Aus dieser Perspektive waren Räume der bürgerlichen Öffentlichkeit im 18. und 19. Jahrhundert durchaus nicht nur Aufführungsorte für die »vorgestellten Gemeinschaften« (Anderson 1983) der Nation und ihres Staates, die durch die zeitungsmäßige Zirkulation schriftlicher Kommunikation im Medium einer Hochsprache jene nationalen Gemeinschaften zu inszenieren halfen. Denn zugleich manifestierten diese Räume in sinnfälliger Weise die Translokalität, gar Globalität der Märkte. Die abstrakte Gemeinschaftlichkeit, die man allgemein der Vorstellung der Nation zuschreibt – niemand kennt alle Angehörigen seiner/ihrer Nation, aber dennoch steht ihre Existenz außer Frage – wurde so flankiert von der Vorstellung einer noch abstrakteren Zirkulationssphäre, nämlich der des Marktes. Umgekehrt mag es sein, dass die Angrenzung von debattierender und wettender Öffentlichkeit dazu beitrug, den Finanzhandel zu dignifizieren. Marieke de Goede (2005) und Urs Stäheli (2007) haben nachgezeichnet, welche politischen, wirtschaftswissenschaftlichen und rechtlichen Mittel aufgeboten wer110

Finanzparkett

den mussten, um den Finanzhandel von anderen Praktiken, die als moralisch verwerflich galten, zu dissoziieren, etwa vom Glücksspiel. So bildeten die sogenannten bucket shops, die, heutigen Sport-Wettbüros nicht unähnlich, eine Schnittstelle zwischen Kleinanlegern und Finanzprodukten darstellten und in denen auch die ersten Börsenticker außerhalb der Börsengebäude standen, im 19. Jahrhundert eine stete Quelle moralischer Entrüstung und weitreichender Sorgen über die Spielmentalität vor allem der unteren Gesellschaftsklassen. Und nicht zuletzt der Frauen: Ein gängiges Sittenbild des 19. Jahrhunderts zeichnete die weibliche Hausbedienstete als ebenso leichtsinniges wie unwissendes Opfer des Börsenfiebers, die durch Investitionen in kleinste Aktienanteile – sogenannte penny stocks – ihre spärlichen Mittel im wahrsten Sinne des Wortes aufs Spiel setzte. Die Anstrengungen der Purifizierung des Finanzhandels sind auch heute bei weitem nicht abgeschlossen – gegenwärtige öffentliche Debatten über die Finanzmärkte kommen, aller Professionalisierung des Handels zum Trotz, immer wieder auf den Verdacht zurück, es handele sich dabei um nichts anderes denn um ein über alle Stränge schlagendes Kasino. Das »boundary work« (Preda 2009, S. 45), das Finanzprofis betreiben, um sich ihren privilegierten Zugang zum Finanzparkett zu erhalten, stellt sich so immer auch als moralische Anstrengung dar, einen Ort zu erzeugen, auf dem es rational zuginge. Wobei gilt: Rational = national. Die andauernde Debatte um eine Finanztransaktionssteuer zeigt überdeutlich, dass die Behauptung einer den Finanzmärkten inhärenten Rationalität, und damit ihrer Regulierungsunbedürftigkeit, eine Ligatur mit dem Prinzip des Nationalen eingeht, etwa wenn es heißt, eine solche Steuer wie überhaupt jede rechtliche Regulierung schade den Nationalökonomien beziehungsweise, in heutiger Diktion, den »Wirtschaftsstandorten« – ein Argument übrigens, das schon Max Weber in den 1890er Jahren vorbrachte (Weber 1988 [1894/95]). So grenzen das Finanzparkett und der Raum des Nationalen nach wie vor, und allen Globalisierungsbehauptungen zum Trotz, aneinander an. Gegenüber Webers Zeit allerdings mit dem Unterschied, dass das Finanzparkett nun in dieselbe Abstraktheit und Virtualität hinübergeglitten ist, die der Vorstellung der nationalen Gemeinschaft schon immer eigen war. Das Frankfurter Finanzparkett figuriert mittlerweile als bloße Kulisse für die »Börse im Ersten«. Gehandelt wird längst woanders, nämlich in Rechenzentren, in denen der ganz überwiegende Anteil etwa des globalen Devisenhandels von vollautomatisierten Handelsrobotern abgewickelt wird. Meist wird davon ausgegangen, dass es die Finanzmärkte sind, die die Virtualisierung der Welt unbarmherzig vorantreiben. Vielleicht haben sie sich indes nur endlich auf demselben abstrakten und virtuellen Parkett eingefunden, das schon seit langem unter den Tänzen des Nationalen erzittert. Andreas Langenohl 111

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

L ITER ATUR Anderson, Benedict (1983), Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London und New York: Verso. Clark, Gordon L. und Nigel Thrift (2005), The Return of Bureaucracy: Managing Dispersed Knowledge in Global Finance, in: The Sociology of Financial Markets, hg. v. Karin Knorr Cetina und Alex Preda, Oxford und New York: Oxford University Press, S. 229-249. de Goede, Marieke (2005), Virtue, Fortune and Faith: A Genealogy of Finance, Minneapolis und London: University of Minnesota Press. Habermas, Jürgen (1962), Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Berlin und Neuwied: Luchterhand. MacKenzie, Donald und Yuval Millo (2003), Constructing a Market, Performing Finance: The Historical Sociology of a Financial Derivatives Market, American Journal of Sociology 109(1), S. 107-145. Preda, Alex (2009), Framing Finance: The Boundaries of Markets and Modern Capitalism, Chicago und London: University of Chicago Press. Sassen, Saskia (1991), The Global City: London, New York, Tokyo, Princeton: Princeton University Press. Stäheli, Urs (2007), Spektakuläre Spekulation. Das Populäre der Ökonomie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Weber, Max (1988 [1894/95]), Die Börse, in: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen: Mohr Verlag, S. 256-322.

112

Forum

Zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts gibt es Foren im Internet wie Sand am Meer. In ihnen werden Meinungen ausgetauscht, Erfahrungen geteilt, Informationen gesucht und Witze erzählt; man trifft auf Expertise, Mitgefühl und Selbstentblößungen, auf Hilfsbereitschaft und Logorrhoe. Die Themenbandbreite ist in etwa so vielfältig wie das, was Menschen rund um den Globus beschäftigt, und auch die Qualität der Beiträge schöpft die gesamte Bandbreite des Vorstellbaren aus, von banal und einfältig bis zu brillant, gewitzt, charmant und sophisticated. Man hat es nicht nur mit einem zentralen Element digitaler Populärkultur zu tun, sondern mit einer globalen Infrastruktur, deren entgrenzendes, partizipatives Potenzial ausreicht, die bisherigen Kommunikations- und Machtverhältnisse umzuwälzen. Diskussionsforen gehören wie E-Mail oder IRC-Chat zu den klassischen Diensten für Direktkommunikation im Internet. Vor der Durchsetzung des World Wide Web als beherrschende Nutzungsform des Internet gegen Ende der 1990er Jahre erfolgte der Informations- und Meinungsaustausch über zahlreiche Telnet-Foren und die Newsgroups des Usenet sowie über Mailinglisten. Seither jedoch haben sich webbasierte Diskussionsplattformen rasant verbreitet und die älteren Kommunikationsstrukturen stark zurückgedrängt. Zwei Modellierungstypen haben sich durchgesetzt: die Foren und die Boards, wobei die begriffliche Differenz in der Praxis oft untergeht. Der wesentliche Unterschied besteht in variierenden Ansprüchen an die jeweilige Diskussionskultur, was sich in der Anordnung der Diskussionsstränge widerspiegelt. Während in einem Board die einzelnen Beiträge der Nutzer rein chronologisch geordnet sind und vielbeachtete Themen mit hoher Beteiligung auf der Übersichtsseite an höchster Position stehen, geht es in einem Forum um die Darstellung der Beziehungen zwischen den einzelnen Beiträgen zu einem Thema, weshalb der Diskussionsverlauf als Baumstruktur visualisiert wird. Der große Erfolg von Web-Foren ist unter anderem durch die freie Erhältlichkeit und vergleichsweise einfache Handhabbarkeit von Foren-Software begünstigt. Jeder Website-Betreiber kann ein eigenes Forum zu seinem favorisierten Thema einrichten und als Moderator und Administrator die Diskus-

113

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

sionskultur prägen und die Anordnung der Beiträge organisieren. Die Mehrheit der Web-Foren wird heute kostenlos von Privatpersonen unterhalten; besonders beliebt sind sogenannte Hilfe-Foren, die Rat und Unterstützung für spezielle Probleme aller Art anbieten. Sehr oft geht es um Fragen, die Hard- oder Software-Produkte betreffen, für die sich auch kommerzielle Anbieter interessieren. In ihren Support-Foren muss man allerdings damit rechnen, dass neben der Lösung des eigenen Problems auch das Geschäftsinteresse verfolgt wird, weshalb man hier Hinweise auf eventuelle Vorteile von Konkurrenzprodukten vergebens sucht. Ebenfalls kommerziell orientiert sind Bewertungsforen, in denen Nutzer Testberichte über bestimmte Produkte, Veranstaltungen oder Services schreiben oder aber sich bereit erklären, regelmäßig Umfragen zu beantworten, wofür sie Prämien oder Gutscheine erhalten oder an »attraktiven Verlosungen« teilnehmen dürfen. Doch was muss man eigentlich genau unter einem Internetforum verstehen? In Anlehnung an die antike Bedeutung des Wortes Forum (Markt- beziehungsweise Stadtplatz) ist damit allgemein ein virtueller Ort der Meinungsbildung und des Informationsaustauschs bezeichnet. Im großen Unterschied zu realweltlichen Foren als Orte der Volksversammlung jedoch sind Internetforen nur bedingt öffentlich. Zum einen muss man sich in der Regel anmelden beziehungsweise registrieren, zum anderen existiert man hier wie in den restlichen Weiten des Internets am Rande zur Metapher. Die derzeitigen Strukturen und Praktiken der digitalen Netzwerkkultur bringen es mit sich, dass man im Internet wie in seinen Foren körperlos und anonym unterwegs ist. Die Anonymität befördert eine Situation der Ambivalenz. Denn während die Rahmenstruktur Forum eine Ausweitung des Öffentlichen in die digitale Netzwelt verspricht, erlaubt die Anonymität eine Haltung der Unverbindlichkeit und befördert so eine radikal privatistisch-persönliche Bespielung des neu gewonnenen Kommunikationsareals. Internetforen sind eine der markantesten medienspezifischen Interaktionsund Kommunikationsformen des globalen Netzes. Sie sind nicht als akustische Räume der Rede und der Rhetorik, der Stimme und damit des Körpers gestaltet, sondern als Räume der Schrift und der Repräsentation. Gleichzeitig sind sie gigantische Archive, Speicherkapseln meist leicht dahin geworfener Plaudereien und Dispute. Man kann Zeitreisen unternehmen zu Themen und Fragen, die die Internet-Community vor zwei, drei Wochen, Monaten, eventuell auch Jahren beschäftigten und als Historikerin oder Ethnologe Prägnanz und Wandel digitaler Sprachkultur verfolgen. Man könnte aber auch, mit entsprechender Energie und nötigem Know-how, die Datenschatten eines jeden freilegen und seine Spur an Fragen und Kommentaren in umfangreichen Dossiers verdichten. Die Kommunikationen im Netz sind erstaunlich stark von Elementen des Mündlichen durchzogen. Es regiert ein informeller Gestus, das flüchtig geäußerte Wort, Unexaktheit und eine starke emotionale Intensität, die sich in 114

Forum

Emoticons, verbalen Entgleisungen, Denkblasen (*hechel, schluchz*) und Akronymen wie PEBKAC (Problem Exists Between Keyboard And Chair ), LMFAO (Laughing My Fucking Ass Off ) oder auch PLONK (Please Leave Our Newsgroup, Kid ) äußert. Doch nicht nur, was man sagt, existiert allein im Medium elektronischer Schriftzeichen, sondern auch, wer man ist. Computerwelten sind virtuelle Räume. Um in sie einzusteigen, braucht es einen de- und resymbolisierenden Akt, mit dem man sich auf ein intermediäres Terrain begibt. Allem, was sich dort ereignet, ist ein basaler Zug des Spiels eingeschrieben, das Vermögen zu sein und gleichzeitig nicht zu sein, wer oder was man scheint. So begegnet einem in einem der avanciertesten Medien des 21. Jahrhunderts eine archaische Situation des Anfangs und ein Schauplatz jener bangen Frage des Universums: Wer bin ich? Wer möchte ich sein? Diese Frage der Identität, die Frage der Sphinx, ist die spielerische Frage par excellence. Melden sich heute Studierende per E-Mail für ein Seminar an der Universität an, so ploppt eine illustre Schar auf den Dozentenbildschirm von HotMama, Trick17 bis zum Dorfphilosophen. Wie auch immer sich die Bekanntschaft dann im weiteren Alltag gestalten mag, in die erste Begegnung ist das Spiel als Umgangsform eingelassen. Der Virtualisierung von Identität im Internet korrespondiert eine Virtualisierung des Raumes. In diesem Zusammenhang ist der Begriff des Forums eine von unzähligen Raum- und Bewegungsmetaphern, mit denen sich Benutzer suggerieren, sie seien »unterwegs« anstatt vor einem Tastatur-BildschirmEnsemble oder sie würden »Leute treffen« und nicht Nachrichten von hannibal66, KnutschiWong oder Kater Mikesch lesen. Darüber hinaus legt die Idee des Forums die Vorstellung eines räumlichen Mittelpunkts nahe, doch die Welt der Internetforen ist eine Welt im Plural, eine Netzwerk-Welt aus Kollektiven ohne Zentrum. In ihrer extremen Ausdifferenzierung sind Internetforen nicht in der Lage, die Funktion eines globalen Marktplatzes zu übernehmen. Sie bilden vielmehr ein Labyrinth partikularer Interessen, persönlicher Spleens und sozialsymptomatischer Überspanntheiten. Begünstigt wird dies unter anderem durch die hohe Fluktuation in Internetforen. Musste man sich – in Anlehnung an Jürgen Habermas (1971 [1962]) – in einem klassischen Verständnis von Öffentlichkeit noch mit den gleichen Leuten über etwas und auf etwas verständigen, wechselt im Internet das »Personal« je nach Thema. Zwar kann es durchaus sein, dass man in unterschiedlichen Foren Bekannte wiedertrifft, doch vom Prinzip her spricht man nicht wie bei einer »realen« Versammlung mit den gleichen Leuten über Demokratie, Plagiate, Brustkrebs, Bankenkapitalismus, Frisuren, Autos, WoW oder Fettleibigkeit, sondern man separiert sich den eigenen Interessen und Vorlieben entsprechend in unzählige Untergrüppchen auf frisuren.de, brigitte.de, guttenplag.com oder occupy-germany.com. In Anbetracht dieser extensiven Ausdifferenzierung könnte man die pointierte These formulieren, dass sich mit 115

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

der explosionsartigen Verbreitung von Internetforen der öffentliche Raum aus sich selbst zurückzieht. In jedem Falle hat man es mit einem anachronistischen Begriff zu tun, ist doch Forum nicht nur von der Idee eines räumlichen Zentrums und einer egalitären Kommunikationssituation geprägt, sondern auch von dem Bild einer statischen Architektur. Die Diskussionen und Ereignisse, die sich in einem realweltlichen Forum abspielen, haben in der Regel keine Auswirkung auf seine bauliche Substanz oder physische Gestalt. Internetforen hingegen sind nicht als »Plätze«, sondern als Listen beziehungsweise hierarchische Strukturbäume organisiert und werden so auch auf der Benutzeroberfläche grafisch dargestellt. Sie visualisieren damit viel passender das dynamische Geschehen, welches sich »in« ihnen ereignet und sie dabei modifiziert, indem sie mit jedem weiteren Eintrag und jedem neu angelegten thread, das heißt mit jedem neuen »Diskussionsabzweig«, der die einzelnen Aspekte eines Themas bündelt und organisiert, weiter wachsen. Gleichzeitig wird so offensichtlich, was die konventionalisierte Vorstellung des Internets als öffentlichem Raum und demokratischer Plattform, die den Grundsätzen von Freiheit und Gleichheit verpflichtet ist, konterkariert: ein streng gestaffeltes Ordnungssystem nämlich, in dem sich die dirigistische Logik der Foren-Software und die Interessen der Moderatoren und Forenbetreiber ergänzen. Damit ist nicht festgelegt, dass man in – beziehungsweise mit Hilfe von – digitalen Foren keine radikale Politik der Öffentlichkeit vorantreiben könnte, sondern dass sie von ihrer Organisationsform her individualistisch und strukturell autoritär angelegt sind. Vor diesem Hintergrund scheint es überdenkenswert, ob Web-Foren tatsächlich einen virtuellen Raum markieren, in dem verschiedene User an einem »gemeinsamen« Projekt der Informationsgewinnung, Meinungsbildung oder Entscheidungsfindung arbeiten. Erhellender scheint es vielmehr, im Sinne Eva Horns (2009, S. 8f.) zu fragen, ob man es bei dieser divergenten Ansammlung von Kollektiven ohne Zentrum nicht mit »Anzeichen einer anderen Form von Gouvernementalität« zu tun hat, »die nur in den tradierten Analysebegriffen noch nicht zu beschreiben ist«? Der Umstand etwa, dass ein Großteil der Kommunikation in und um Web-Foren der Aufrechterhaltung beziehungsweise dem Abbruch der Kommunikation dient – als Stichworte mögen hier genügen: Netiquette, don’t feed the troll, Roter Hering: >, Cross- und Multipostings –, legt eher den Begriff der Multitude nahe. Diese ist, wie Eugene Thacker in Anlehnung an Toni Negri und Michael Hardt in seinem bereits zum vielzitierten Klassiker gewordenen Aufsatz Netzwerke – Schwärme – Multitudes beschreibt, vor allem mit ihrer eigenen Konstitution beschäftigt und damit, »sowohl dem Konsens als auch dem Dissens einen Raum zu geben« (Thacker 2009, S. 59). Was die Multitude mit den Web-Foren-Communities verbindet, ist ihre Bestimmtheit durch eine Vielfalt von Interessen, Affekten und Relationen, die sich nur in einer äußerst flüchtigen Form entsprechen, sowie ihre labile wie durchlässige Konstitution. 116

Forum

Die Multitude ist weder das Individuum noch die Gruppe. Sie bildet sich immer nur in Momenten flüchtigen Konsenses heraus und wird durch Netzwerke und Schwärme in ihre Form gebracht und transformiert (ebd., S.  64). In der Tat lässt die Flüchtigkeit und Fluktuation der Schreib- und Kommunikationskultur in der sich fortlaufend ausdifferenzierenden Welt der Web-Foren an einen verteilten Punkteschwarm denken, der sich in der technologischen Struktur des Internet zu verschiedenen Formen der Medialität verdichtet. Im Gegensatz zu der statischen Topologie des Forums stehen Schwärme für die Dynamik eines permanenten Werdens. Sie ereignen sich nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit, »sie finden statt, sind reines Geschehen« (Horn 2009, S. 16). Thacker beschreibt Schwärme als eine Organisationsform multipler, individuierter Einheiten, als »dynamische und äußerst differenzierte Kollektivität interagierender Akteure«, die keinen übergeordneten Zweck verfolgt, außer sich selbst zu erhalten (2009, S. 53, 55). Eine interessante Parallele zur Kommunikationskultur der Web-Foren besteht darin, dass Schwärme ihre Bewegungen vor allem über affektive Signale des eigenen Zustands wie des nächsten Nachbarn oder auch der Umwelt koordinieren. Dies erinnert stark an die von Emotionen, Befindlichkeiten und Stimmungen geprägte Diskussionskultur der Web-Foren, die weder ziel- noch ergebnisorientiert ist, sondern primär beziehungsweise stets auch dem Austausch affektiver Zustände zu dienen scheint. Somit ist den neuen und innovativen Strukturen eine tiefsitzende Ambivalenz eigen, die der Begriff des Forums verdeckt. Denn obwohl das Internet zweifelsohne eine verteilte, dezentralisierte Topologie aufweist, bringt es nicht automatisch demokratische Umgangsformen mit sich. Die Schwarm-Foren seiner Multitudes können ebenso konservative wie reaktionäre Kontexte realisieren, amorphe Terrorzellen nähren oder zu Zwecken politischer Unterdrückung eingesetzt werden. Gleichzeitig jedoch sind sie ein Modell für eine Form der dezentralen, flexiblen wie widerstandsfähigen Selbstorganisation, die derzeit unglaublichen Zuspruch erfährt, Menschen mobilisiert und es ihnen potenziell ermöglicht, ihre Ziele und Intentionen global zu artikulieren. »Zuletzt«, so Thacker, »wurde das Phänomen des Schwärmens in einer neuen Form von Protest beobachtet (dezentralisierter Dissens, Netwars und Smart Mobs), der physische und technologische Schwarmbildung, Bewegungen von Körpern (Interessengruppen) und Datenbewegungen (drahtlose Netzwerke) verknüpft« (2009, S. 54, 68). Es ist noch zu früh, hier zu einem abschließenden Urteil zu kommen, wie weit der Schwarmbegriff für die Beschreibung emergenter Kollektivität im Internet trägt. Die alte Idee des Forums hingegen scheint den kontinuierlichen Modifikationen von Handlungen, Bewegungen, Äußerungen und Ideen immer weniger zu entsprechen. Natascha Adamowsky

117

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

L ITER ATUR Bunz, Mercedes (2008), Die Geschichte des Internet. Vom Speicher zum Verteiler, Berlin: Kulturverlag Kadmos. Günzel, Stephan (Hrsg., 2009), Raumwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1971 [1962]), Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 5. Auflage, Neuwied/Berlin: Hermann Luchterhand. Horn, Eva und Lucas Marco Gisi (Hrsg., 2009), Schwärme. Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld: transcript. Horn, Eva (2009), Schwärme. Kollektive ohne Zentrum. Einleitung, in: Schwärme. Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, hg. v. Eva Horn und Lucas Marco Gisi, Bielefeld: transcript, S. 7-26. Schwarte, Ludger (2009), Philosophie der Architektur, München: Wilhelm Fink. Thacker, Eugene (2009), Netzwerke – Schwärme – Multitudes, in: Schwärme. Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, hg. v. Eva Horn und Lucas Marco Gisi, Bielefeld: transcript, S. 27-68.

118

Friedwald

Zu allen Zeiten haben sich sepulkralkulturelle Traditionen an veränderte gesellschaftliche Situationen angepasst. Dabei folgte der Wandel nie allein rationalen Einsichten, sondern auch emotionalen Bedürfnissen und ideellen Vorstellungen. In Praktiken der Verräumlichung des Todes drückt sich ein vielschichtiges Verhältnis der Menschen zu ihrer eigenen Sterblichkeit und zum Tod im Allgemeinen aus. Begräbnisorte sind seismische Felder, auf denen sich religiöse, mythische, ästhetische und ökonomische Beziehungen zur »Grenzsituation« (Karl Jaspers) des Todes berühren, überlagern und wechselseitig stimmen. Das Konzept Friedwald spiegelt nicht nur eine graduelle Variation, sondern eine strukturelle Umorientierung in der Sepulkralkultur der Gegenwart wider. In der Schweiz entstand der erste Friedwald 1999, in Deutschland 2001. Für die Einrichtung eines Friedwaldes eignen sich Areale von 40 bis 60 Hektar in

119

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

verkehrsinfrastrukturell gut erreichbaren Laub- oder Mischwäldern. Die Planung bedarf der Kooperation eines Betreibers, eines Trägers (Kommune) und eines (meist staatlichen) Waldbesitzers. Zwar repräsentiert der Name Friedwald eine Marke, hat sich aber als Gattungsname für Bestattungswälder und Baumwurzelbestattungen etabliert (Rüter 2011, S. 79). Bestattungsplätze mit einem Nutzungsrecht von bis zu 99 Jahren werden vor allem an Familien- und Gemeinschaftsbäumen angeboten. Es gibt aber auch Ruhestätten für Einzelpersonen. Die FriedWald GmbH beschreibt ihr Konzept, das auf eine Idee des Schweizers Ueli Sauter zurückgeht, als eine »alternative Bestattungsform«. Diese unterscheidet sich insbesondere in ökonomischer, ästhetischer, ritueller und religiöser Hinsicht von den Praktiken christlicher Friedhofs-Bestattungen. An die Stelle einer rituell weitgehend normierten Sargbestattung auf einem öffentlichen Friedhof tritt die individuelle »Naturbestattung« einer (ökologisch abbaubaren) Urne im Wurzelbereich eines Baumes. Jede Form der Grabgestaltung ist nicht gestattet. Dieser Medialisierungsverzicht soll die Erhaltung der »Natur«-Atmosphäre des Waldes garantieren. Die Reduzierung von Trauer- und Erinnerungssymbolen auf ein kleines unauffälliges Namensschild am Stamm des Bestattungsbaumes führt zwar tendenziell zu einer ästhetischen Diffusion des Begräbnisortes, deshalb aber nicht auch schon zu einer symbolischen Enthiearchisierung posthumer Sozialgefüge. Eher ändern sich die Medien der Einordnung Verstorbener (oft mehr noch der Hinterbliebenen) in einen hierarchischen Gesellschaftsaufbau. An die Stelle repräsentativer Elemente der Grabgestaltung tritt ein alter, würdiger Baum an einem anmutungsreichen Platz in der Waldlandschaft, und das unauffällige und »bescheidene« Reihengrab entspricht dem von Rotwildverbiss bedrohten Birkensetzling inmitten des (Fried-) Waldes, denn der Preis der Bestattungsplätze ist nach Art, Alter und Lage der Bäume gestaffelt. Kostendämpfend ist die Bestattung an einem sogenannten »Basisbaum« mit kürzeren Ruhezeiten von 15 bis 30 Jahren (ebd., S. 63). Bestattungswälder spiegeln nicht nur individualisierte, mobile und sozial separierte Lebensformen der Spätmoderne, sondern auch eine Neuorientierung in der soziokulturellen Bewältigung des Todes wider. So ist ein Begräbnis in der Gegenwart keine Aufgabe traditioneller lokaler bis regionaler Gemeinschaften mehr; vielmehr wird der eigene imaginable Tod zu einem pragmatischen Ereignis, dessen vorausschauende Planung die monetäre Ent-Sorgung Hinterbliebener einschließt. Im posttraditionellen Blick der Profanisierung und Versachlichung erscheint der Tod in seiner ökonomischen »Nachhaltigkeit« als soziale und ökonomische Zumutung für die Generation der Nachfahren. Eine konnotative Nähe zum umweltpolitischen »Verursacherprinzip« ist unverkennbar. Während im Friedwald Urnenbeisetzungen nur an Bäumen stattfinden, sind sie in einem »Ruheforst« auch an anderen symboltauglichen Orten in der Natur zulässig (zum Beispiel an Steinen, Felsen oder auf Lichtungen). In den USA sind die Möglichkeiten der Naturbestattung noch vielfältiger. Während das 120

Friedwald

ökologische Konzept EcoEternity dem des Friedwaldes entspricht, bieten zahlreiche Unternehmen unter dem Label Green Burials auch die Körperbestattung (im biologisch abbaubaren Sarg) in Wäldern oder der offenen Landschaft an. Mit der seit 1998 in South Carolina praktizierten neuen Begräbnisform sprechen die Betreiber auch das national-historische Bewusstsein, insbesondere die Erinnerung der ersten hundert Jahre US-amerikanischer Geschichte an, gehörte es oft doch zum Schicksal der großen Trecks, dass unterwegs verstorbene Angehörige oder Mitfahrende an Ort und Stelle in der offenen Landschaft beigesetzt werden mussten. Ein Friedwald weist – manchem länderspezifischen Bestattungsgesetz zum Trotz – oft keine für Begräbnisplätze charakteristische Umfriedung in Gestalt einer sichtbaren und spürbaren Grenze auf (Mauer, Hecke oder Wassergraben, siehe auch Hasse 2006). Als relativ offener Raum unterscheidet er sich nur dadurch vom umliegenden Forst, dass zahlreiche Bäume als Orte einer Urnenbestattung fast übersehbar mit kleinen Namensschildern markiert sind. Im Unterschied dazu ist ein »Friedhof« in seiner Erscheinung und mikrologischen Raumordnung ein formal und ästhetisch herausgehobener Ort. Als »Hof« ist er ein Garten, als »Kirch«-hof gehört er zum Haus der Kirche und als »Fried«-hof wurde er ab dem 16./17. Jahrhundert als Folge der Bevölkerungszunahme vor die Tore der Stadt verlegt, blieb aber auch dann ein Ort der Stadt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, war und ist ein Friedhof durch seine Umfriedung markiert und begrenzt. Nach innen sichert sie den Rahmen numinoser Atmosphären und nach außen schirmt sie den profanen Raum des Weltlichen ab. Nicht nur aus hygienischen Gründen hatten Friedhöfe eine Umfriedung, die im Mittelalter durch das »Hexengitter« noch spirituell begründete Ängste dämpfen musste. Nach dem Ende des Glaubens an die Macht böser Geister, schafft eine Umfriedung vor allem atmosphärische Qualitäten des Friedens, der Ruhe, Stille, Gnade und des Schutzes. Sie rahmt den Friedhof als »anderen Raum« (Heterotopie) im Sinne von Foucault. Eine Heterotopie vermittelt eine »zugleich mythische und reale Bestreitung des Raumes, in dem wir leben« (Foucault 1990 [1967], S. 40) und macht so gesellschaftliche Widersprüche erträglich. Darin liegt der Kern dessen, was Foucault »Realisierung« der Utopien nennt. Erst dank seiner räumlichen Markierung, institutionellen Spezialisierung und normativen Regulierung konstituiert sich ein Friedhof in einem realräumlichen und atmosphärischen Drinnen, das in einem Kontrastverhältnis zum Draußen des gesellschaftlichen Lebens steht. Dort ist die Stadt des Lärms, der Maschinen, der Fahrzeuge und eine sozialdarwinistische und bankenkapitalistische Welt der Unbarmherzigkeit. Aber auch das harmonische, in Frieden und sozialer Übereinkunft geführte Leben vollzieht sich in einer Welt profaner Realitäten, innerhalb derer die Menschen ihr (biologisches) Leben eines Tages endgültig verlieren. Als Heterotopie bestreitet der Friedhof diese Form der Endlichkeit. Mauern, Zäune und Hecken ziehen 121

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

vor allem atmosphärische Grenzen, um die Übergänge zwischen dem profanen Diesseits und einem göttlich imaginierten Jenseits mythisch und emotional zu ordnen. Die symbolische Regulierung dieses Übergangs bildet das semantische Zentrum aller Friedhöfe, die kraft ihrer Ästhetik als Gärten des Thánatos auch emotional spürbar gemacht werden. Die Macht des Mythos kann sich atmosphärisch aber nur an erkennbar definierten Orten entfalten. Christian Cay Lorenz Hirschfeld (1742 bis 1792) wollte den Friedhof aus diesem Grunde in seiner Gartenarchitektur als einen düsteren Raum affektiv niederdrückender Atmosphären inszenieren. Während der Friedhof in der Unbewusstmachung der Irreversibilität des Todes ein eindeutig identifizierter Ort ist, mangelt es dem weitgehend offenen Raum eines Friedwaldes an der Evidenz seiner sepulkralkulturellen Funktion und in der Folge an heterotopologischen Merkmalen. Und so vermag in ihm auch keine numinose Atmosphäre des »heiligen Raums« Macht über die Gefühle der Menschen zu entfalten. Ein Friedwald ist in seinem Umgebungserleben durch die Ästhetik des Waldes disponiert und nicht die eines gleichsam sonderweltlichen Begräbnisortes. Er ist zugleich Forst, Biotop, öffentlicher Freizeit- und Erholungsraum, Grundwasserspeicher etc. Die Differenz zwischen Identität und Verschiedenheit des Raumes bleibt in der Schwebe. Allenfalls haften den mikrologischen Inseln erkennbarer Urnenbäume Merkmale einer fraktalen Heterotopie an. Das Konzept der Baumbestattung fußt auf sentimentalistischen Konnotationen von Wald und Baum. Im Mittelalter galt der Wald in der lebensweltlichen Vorstellung noch als ein unwirtlicher, dunkler, gefahrvoller und mystischer Ort. Erst nach großflächigen Rodungen wurde er ab dem 17. Jahrhundert als Raum der Stille und Schönheit entdeckt und schließlich in der Romantik zu einem affektiv übermächtigen Stimmungsraum. Diese Verklärung aktualisiert sich im Konzept Friedwald. Dabei setzt die das Gefühl der Trauer atmosphärisch tragende Fiktion einer »heilen Natur« die Ausblendung der dystopischen Natur des Waldes voraus: die Übersehung seiner kulturlandschaftlichen Degradierung und ökosystemischen Destabilisierung. Nur der idealisierte »Natur«-Wald bewährt sich als moderne zivilisationskompensatorische Gefühlslandschaft und paradiesische Jenseitswelt. Das Schweizer Bestattungsunternehmen Ahnenstätte spricht ganz in diesem Sinne von »Naturbestattungen in natürlich gewachsenen Oasen« und »paradiesischen Zuständen«.1 Christliche Allegorien eines göttlichen Paradieses verschmelzen bruchlos mit heidnischen Vorstellungen eines idyllischen Jenseits. Dessen imaginäres Milieu ist eine homöostatische Natur des Waldes, die schon mit dem Beginn der Waldfriedhofsbewegung um 1900 (Fischer 1992) als kulturelle Norm beschworen wurde. Das alte Wunschbild einer zivilisationshistorisch »unbefleckten« Natur des Waldes wird radikalisiert und rituell aktualisiert, wenn der Förster, der schon zu mittelalterlichen

122

Friedwald

Zeiten (im Unterschied zum Jäger) für die Hut des Waldes verantwortlich war (Hasel 1985, S. 133), die Urne beisetzt. Trotz aller Unterschiede sind sich Friedhof und Friedwald darin ähnlich, dass beide Begräbnisorte den Endpunkt einer metaphorischen Reise bilden, die in der griechischen Mythologie über die Grenzflüsse Achéron (Fluss des Leides), Kokytós (Fluss des Wehklagens) und Stýx (Fluss der Gewalt) von der irdischen Welt der Menschen ins Reich des Thánatos führte. Auf dem dörflichen Gottesacker wie im »Herzen der Natur« des Bestattungswaldes wird der »letzte Weg« eines Toten mit der rituellen Verortung sterblicher Überreste abgeschlossen. Eine in diesem Sinne große Transversale setzte Arnold Böcklin mit seiner Toteninsel 1886 ins Bild (siehe auch Hasse 2011). Der letzte Ort ist eine mystische Insel. Klarer kann das Wesen einer Heterotopie im Metier des Ästhetischen nicht zur Darstellung gebracht werden. Das Trennende des Todes, wofür die christliche Ikonographie viele raumzeitliche Überleitungs-Allegorien kennt (Chronos mit dem Stundenglas, der einen letzten Tanz erzwingende Spielmann oder der Schnitter, der die Ähre vom Halm trennt; Rosenfeld 1972) und die tatsächliche und mythische Umräumung der Verstorbenen reifiziert sich in den meisten Begräbnis- und Trauerkulturen in Symbolisierungspraktiken im physiognomisch eindeutig markierten Raum: auf dem umfriedeten Friedhof, dem eingefassten Grab oder – besonders ornamentreich – im Mausoleum. Diese Verdichtungsorte des religiösen Glaubens (v)erklären den Verbleib der Toten und ihre metaphysische Seinsform als ein Warten auf die Auferstehung, Inkarnation oder andere Formen verwandelten Weiterlebens. Auf die Art der religiösen Mythologisierung kommt es dabei nicht an; schon der heidnische »Friduwald« war als heilige Stätte eingefriedet (Grimm und Grimm 1991 [1852-1971], Sp. 183 und 187). Auch der offene Raum des Friedwaldes nimmt die Restmaterie Toter nicht nur in den physischen Raum, sondern auch in einen mythischen Raum auf. Indes bleibt die »Erzählung« des Ortes profan. Als multifunktional genutzter Wald spannt seine Atmosphäre keinen Faden zum Mythos ewigen Lebens, wie es mannigfaltige Allegorien der christlichen Grabsymbolik suggerieren (halb geöffnete Türen, Schiffe, Engel, Schmetterlinge und andere transversale Symbole). Die Atmosphäre des Waldes federt den Schmerz niederdrückender Trauer nicht mit der Kraft christlicher Medien der Kommunikation mit Gott ab, sondern mit dem Argument, dass es in der Natur keinen Tod, sondern nur Wandlung gibt. In Friedwäldern gibt es sowohl kirchliche als auch säkulare Bestattungen. Der Anteil anonymer Beisetzungen ist gering. Ca. 50 Prozent der Beisetzungszeremonien werden von einem Geistlichen begleitet. Wo dieser den Ort des Grabes segnet, knüpft er das religiöse Band zum christlichen Glaubensbild der Auferstehung. Folgt die Beisetzung dagegen pantheistischen Vorstellungen, wird das Grab zu einem Ort der Synthese zwischen dem Gefühl der Trauer auf der einen Seite und dem ökologisch abstrakten Wissen um die unendliche 123

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Transformation aller irdischen Stoffe auf der anderen Seite. Christliche Symbole werden als Medien der Bewältigung der Grenzsituation des Todes von esoterischen bis pantheistischen verdrängt; an die Stelle numinoser Atmosphären des heiligen Raums tritt die mythische Potenz von Wald und Baum. Der Weg vom Leben zum Tod ist der vom Subjekt zum Objekt, vom Leib zum Körper. Es ist Sache sepulkralkultureller Traditionen und Praktiken, diese Transformation zu entprofanisieren und damit den Glauben an höhere Ordnungen des (Weiter-)Lebens zu sakralisieren. So macht der sich mit der Friedwald-Idee verbindende Pantheismus auf seine Weise jene moderne Einsicht unbewusst, dass der Tod im Sinne von Jean-Paul Sartre »der Freiheit des Für-sich-Seins völlig entzogen und darum sinnlos, absurd« (Hügli 1972, Sp. 1236) ist. Die an einem Baum beigesetzte Asche eines Toten symbolisiert deshalb auch nicht die fatale Auflösung einer Person, sondern deren Weiterleben auf dem abstrakten Prozessniveau natürlicher Stoff- und Energiekreisläufe. Mit säkularen Mitteln kompensiert der Ritus der Naturbestattung wie die Institution des Baumgrabes die existenzielle Angst gegenüber der Unabwendbarkeit des Todes. Dieser wird nicht als die Unmöglichkeit jeder Möglichkeit (im Sinne von Levinas, ebd., Sp. 1238), sondern als ökologistisch verklärte Transformation vorstellbar gemacht. Ein Friedwald ist kein numinoser Raum widerstreitender Gefühle demütiger Kontemplation und furchtvollen Erschauderns (Otto 1924, S. 12), sondern ein beruhigendes Milieu. Selbst »die Grabpflege übernimmt die Natur«2 heißt es – diesseits jeder religiösen Sinnsuche – in der Selbstbeschreibung der bundesweit agierenden Betreibergesellschaft FriedWald. Der über alle Zeiten mit dem Friedhof verbundene sepulkralkulturell-ästhetische Symbolisierungsanspruch wird unter dem Einfluss nüchtern-säkularer Wertvorstellungen weitgehend aufgegeben. Die Atmosphäre des heiligen Raums weicht einer Kulisse profan-romantizistischer Transzendenz-Vorstellungen. Daher ist das Konzept Friedwald auch weniger eine Antwort auf veränderte Bedürfnisse der Trauerkultur, als Ausdruck einer postgemeinschaftlichen Gesellschaft beschleunigter Individualisierung. Jürgen Hasse

A NMERKUNGEN 1 | www.ahnenstaette.ch (Januar 2012) 2 | www.friedwald.de/BUV_1_Konzept.AxCMS (Januar 2012)

124

Friedwald

L ITER ATUR Fischer, Norbert (1992), »Das Herzchen, das hier liegt, das ist sein Leben los«. Historische Friedhöfe in Deutschland, Hamburg: Verlag am Galgenberg. Foucault, Michel (1990 [1967]), Andere Räume, in: Aisthesis, hg.  v. Karlheinz Barck und Peter Gente, Leipzig: Reclam, S. 34-46. Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm (1991 [1852-1971]), Deutsches Wörterbuch, 33 Bände, München: dtv. Hasel, Karl (1985), Forstgeschichte. Ein Grundriß für Studium und Praxis, Hamburg und Berlin: Paul Parey. Hasse, Jürgen (2006), Zur sepulkralkulturellen Bedeutung räumlicher Grenzen auf Friedhöfen, Geographische Zeitschrift 93(4), S. 221-236. Hasse, Jürgen (2011), Zur Atmosphäre einer imaginären Landschaft. Die »Toteninsel« von Arnold Böcklin, kuckuck 26(2), S. 40-45. Hügli, Anton (1972), Tod, in: Kambartel, Friedrich, Erfahrung. Stichwort in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10, hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Basel: Schwabe Verlag, Sp. 1227-1242. Otto, Rudolf (1924), Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Gotha und Stuttgart: Friedrich-AndreasPerthes. Rosenfeld, Hellmut (1972), Tod, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Band 4, hg. v. Engelbert Kirschbaum, Freiburg: Herder, Sp. 327-332. Rüter, Stefanie (2011), Friedwald Waldbewusstsein und Bestattungskultur, Münster u.a.: Waxmann.

125

Gated Community

Kaum ein anderes städtebauliches Phänomen hat seit Ende der 1990er Jahre mehr mediale Aufmerksamkeit erfahren, als neue Siedlungen und Apartmentanlagen, die durch Tore, Zäune oder Mauern von der Umgebung abgeschlossen sind. Die Bezeichnung solcher bewachter Wohnanlagen als Gated Community hat ihren Ursprung in den USA. Die Immobilienwirtschaft in Nordamerika vermarktet seit Anfang des 20. Jahrhunderts die privatwirtschaftlich von developern geplanten und entwickelten, suburbanen (meist Einfamilienhaus-)Siedlungen als Communities. Die Wahl dieses Begriffs war kein Zufall, denn community steht im Englischen nicht nur für Gemeinde oder Nachbarschaft, sondern transportiert auch die Konnotation von »Gemeinschaft«. Die neu errichteten Siedlungen wurden damit aus Marketingerwägungen in einen Gegensatz zum vermeintlich anonymen Leben in den Zentren gestellt. Der Begriff Community ist aber ein Euphemismus. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass der soziale Zusammenhalt innerhalb geschlossener und bewachter Nachbarschaften nicht größer ist als außerhalb. Mit dem Zusatz gated versah die Immobilienwerbung jene dieser Siedlungen, die als verkaufsförderndes Argument mit einem Schlagbaum und Zugangskontrollen versehen wurden und zusätzlich noch Sicherheit verheißen sollen. Im Kern geht es also um privatwirtschaftlich entwickelte Wohnsiedlungen. Treffender wäre daher die (zugegebenermaßen etwas nüchterne) Bezeichnung »privat beziehungsweise gemeinschaftlich organisierte und bewachte Wohnsiedlungen beziehungsweise -anlagen«. In den USA stieg die Zahl privat organisierter Siedlungen seit Anfang des 20. Jahrhunderts rasch an. Für 2002 geht die Community Association of America davon aus, dass ca. 47 Millionen, das heißt jeder sechste Amerikaner, in einer der mehr als 230.000 privatwirtschaftlich organisierten Nachbarschaften wohnt, wobei ungefähr jede fünfte dieser Siedlungen gated ist (Le Goix und Webster 2008). Privatwirtschaftlich entwickelte und geschlossene Wohnanlagen sind allerdings keine nordamerikanische Erfindung. So lässt sich zeigen, dass in den rasch wachsenden europäischen Metropolen des 19. Jahrhunderts private Investoren Wohnsiedlungen entwickelt haben, deren Konzeption in vielem den zeitgenössischen Gated Communities ähnelt: So wurden beispielsweise Villen126

Gated Community

kolonien, die ab den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts im damaligen Umland von Berlin entstanden, von privaten Investoren beziehungsweise Gesellschaften entwickelt. Diese bauten Straßen, modellierten und inszenierten die Landschaft und stellten die technische Erschließung sicher. Viele Einrichtungen wie Schulen, Strom- und Gasversorgung wurden (zunächst) privatwirtschaftlich beziehungsweise gemeinschaftlich und nicht kommunal organisiert. Die Kolonien wurden zwar nicht umzäunt und bewacht, aber die Bauherren sicherten den exklusiven Charakter durch Bau- und Gestaltungsvorschriften mittels Grundbucheinträgen und privatrechtlicher Vereinbarungen (so wurden finanzschwächere Haushalte beispielsweise durch das Verbot von Mehrfamilienhäusern exkludiert). In Paris entstanden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die villas: privat erschlossene, gemeinschaftlich verwaltete und geschlossene Wohnviertel wie die Villa Montmorency im 16. Arrondissement von Paris. Hier kümmert sich seit 1853 eine Eigentümergemeinschaft um die Verwaltung und Regulierung der gemeinschaftlichen Flächen. Bis heute ist das Gelände umzäunt und wird bewacht. Im Londoner Westend waren bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts exklusive Siedlungen entstanden, deren Zugänge geschlossen waren und teilweise bewacht wurden. Man könnte daher die US-amerikanischen Gated Communities mit einer gewissen Plausibilität sogar als europäische Erfindung beurteilen (Glasze 2003a). Anders als in den USA kam die Entwicklung solcher privat entwickelter und organisierter Wohnsiedlungen in Europa mit der Stärkung kommunal-wohlfahrtsstaatlicher Strukturen im 20. Jahrhundert zum Erliegen und erst in jüngster Zeit entstehen in einigen Ländern Europas (wieder) privatwirtschaftlich entwickelte und privat organisierte, bewachte Wohnanlagen (insbesondere in einigen mittel- und osteuropäischen Transformationsstaaten, aber beispielsweise auch in Großbritannien, Frankreich und Spanien; siehe Glasze 2003a sowie Cséfalvay und Webster 2012). Nachdem die mediale und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gated Communities in den 1990er Jahren zunächst in hohem Maße auf Entwicklungen in den USA fokussiert war, kamen ab Ende der 1990er städtebauliche Entwicklungen in zahlreichen anderen Regionen der Welt ins Blickfeld, die zunächst vielfach als eine Ausbreitung beziehungsweise Globalisierung des Gated Communities-Modells beschrieben wurden. Detaillierte Studien zeigen, dass Vorbilder aus den USA zwar einflussreich sind und in gewissem Maße US-amerikanische Gated Communities zu einer weltweit verfügbaren Blaupause für die Entwicklung von Wohnsiedlungen geworden sind – ähnlich wie ShoppingCenter seit den 1970er Jahren für Einzelhandelsprojekte. Gleichzeitig weisen diese Studien jedoch darauf hin, dass es eine Vielzahl unterschiedlicher städtebaulicher, sozio-politischer und sozio-ökonomischer Kontexte gibt, in denen unterschiedliche Formen einer privatwirtschaftlichen oder gemeinschaftlichen Organisation von Nachbarschaften mit wiederum unterschiedlichen Formen der Abschottung und Bewachung kombiniert werden. 127

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

In Saudi-Arabien haben auf Wunsch der Regierung westliche Unternehmen, die in dem Land tätigt sind, für ihre Arbeitskräfte aus Europa, den USA und der Levante, abgeschlossene und bewachte compounds errichtet, deren städtebaulich-morphologische Strukturen vielfach den Gated Communities in den USA ähneln. In den rasch wachsenden Metropolen Chinas entstehen verschiedene Formen bewachten und gemeinschaftlich beziehungsweise privatwirtschaftlich organisierten Wohnens nebeneinander: So werden ländliche Siedlungen, die gemeinschaftlich verwaltet wurden, im Zuge der Verstädterung zu sogenannten urban villages. Die Nutzung des Bodens bleibt dabei in der Hand der (ehemaligen) Dorfbewohner und in einigen Fällen entwickeln diese bewachte Apartmentkomplexe, die sie gewinnbringend vermieten. Daneben existieren abgeschlossene Arbeitersiedlungen von Unternehmen und es entstehen an den Rändern der Metropolen luxuriöse bewachte Einfamilienhaussiedlungen. In Südafrika und einigen Ländern Lateinamerikas gibt es innerstädtische Apartmentanlagen sowie suburbane Einfamilienhaussiedlungen, die als bewachte und gemeinschaftlich verwaltete Nachbarschaften geplant und vermarktet wurden und werden. Daneben entwickeln sich aber auch in bestehenden Nachbarschaften neue gemeinschaftliche Formen der Selbstverwaltung, die beispielsweise eine nachträgliche Abgrenzung und Überwachungsstrukturen organisieren (siehe die Beiträge in Glasze, Webster und Frantz 2006). Werden alle diese sehr komplexen Formen der sozio-ökonomischen und sozio-politischen Organisation von Nachbarschaften alleine auf den Schlagbaum oder den Zaun um die Anlage reduziert und mit dem vermeintlich universellen Begriff der Gated Communities verknüpft, besteht die Gefahr, dass die jeweils spezifischen gesellschaftlichen Hintergründe und Organisationsformen überhaupt nicht ins Blickfeld der Analyse kommen. Für zahlreiche Kritiker stehen die bewachten Wohnanlagen für eine Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich und eine Architektur der Angst, die abgeschottete Enklaven für gesellschaftliche Eliten bieten. Studien in hochpreisigen bewachten Wohnanlagen in den USA, Südafrika und Lateinamerika zeigen, dass die Angst vor Kriminalität eine häufig genannte Antwort auf die Frage nach der Zuzugsmotivation ist (Low 2003). Andere Fallstudien kamen allerdings zu dem Ergebnis, dass eine solche Angst keine große Rolle als Zuzugsmotiv gespielt hat, wohl aber die Suche nach einem Wohnumfeld, das gewisse Erwartungssicherheiten bietet (je nach gesellschaftlichem Kontext beispielsweise die gesicherte Versorgung mit Elektrizität und Trinkwasser im Libanon, die Sicherheit, keine störenden Nachbarn aushalten zu müssen in den USA oder die Sicherheit, eine funktionierende Freizeitinfrastruktur vorzufinden in Istanbul). In zahlreichen Immobilienmärkten lässt sich zudem beobachten, dass bewachte Wohnanlagen nicht ausschließlich für die sozio-ökonomischen Eliten errichtet werden, sondern vielfach in besonders hohem Maße auch für eine breite mittlere Einkommensgruppe (Le Goix und Webster 2008, S. 1207ff.). 128

Gated Community

Insgesamt sind die bewachten Wohnanlagen allerdings durchaus eine spezifische Form der Segregation, das heißt einer Absonderung der Wohnstandorte unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen. Marktwirtschaftlich organisierte Immobilienmärkte führen immer dazu, dass Bevölkerung gemäß der Verfügbarkeit von ökonomischem (sowie sozialem und kulturellem) Kapital in spezifische Räume der Stadt »sortiert« wird. Privatwirtschaftlich entwickelte und vermarktete bewachte Wohnanlagen verschärfen diese Segregation insofern, als dass nicht nur das Wohnen, sondern auch der Zugang zu bestimmten Stadträumen gemäß der ökonomischen Leistungsfähigkeit organisiert wird. Einige Autoren weisen auf der Basis von Studien in Großbritannien und Chile allerdings darauf hin, dass mit den bewachten Wohnanlagen die »Korngröße« der Segregation verändert wird. So würden exklusive, bewachte Apartmentanlagen zum Teil in Stadtvierteln errichtet, die bislang eher von ökonomisch weniger leistungsfähigen Haushalten bewohnt wurden – auf Quartiersebene komme es damit zu einem engeren Nebeneinander unterschiedlicher sozio-ökonomischer Schichten als bislang (ebd., S. 1205ff.). Eine unmittelbare Schlussfolgerung von städtebaulich-morphologischen Formen (Tore, Zäune, Mauern etc.) auf bestimmte soziale Prozesse (zunehmende soziale Spaltung der Gesellschaft) greift allerdings zu kurz. Notwendig ist vielmehr immer eine detailliertere Analyse der sozialen Prozesse sowie insbesondere der sozio-ökonomischen und der sozio-politischen Organisation des Zusammenlebens in Städten. In einer solchen Perspektive können die bewachten Wohnanlagen als Teil eines Trends zu privatwirtschaftlich beziehungsweise gemeinschaftlich organisierten Wohnsiedlungen und Apartmentanlagen bewertet werden. Dabei werden das Eigentum beziehungsweise Nutzungsrecht einer Wohneinheit (in der Regel Haus oder Apartment) mit Gemeinschaftseigentum (Grünanlagen, Sporteinrichtungen, Ver- und Entsorgungsinfrastruktur usw.) und gemeinschaftlich genutzten Dienstleistungen (zum Beispiel Wach- und Hausmeisterdienste) verbunden. Das Gemeinschaftseigentum und die gemeinschaftlich genutzten Dienstleistungen werden von einer Form von Selbstverwaltung gesteuert, das heißt einer institutionalisierten Form nachbarschaftlicher Governance (einführend siehe Glasze 2003b). Aus einer wirtschaftsgeographischen Perspektive kann dieser Prozess als Etablierung territorialer Club-Ökonomien beschrieben werden. Der amerikanische Wirtschaftsgeograph Charles M. Tiebout wies bereits 1956 darauf hin, dass viele kollektiv genutzte Güter, die in der Regel als »öffentlich« bezeichnet werden, in Wirklichkeit »lokale« öffentliche Güter seien, in dem Sinne, dass diese Güter nur denjenigen zugutekommen, die sich an einem bestimmten Ort aufhalten (beispielsweise die Erholung in einem Park, die Nutzung eines Freibades, die polizeiliche Überwachung eines Stadtviertels). Der (neo-)liberale US-amerikanische Ökonom Fred Foldvary argumentierte 1994, dass die privaten Wohnsiedlungen solche lokalen Güter marktfähig machen: Die Selbstver129

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

waltung (und im Falle bewachter Siedlungen die Tore und Zäune) lösen das Trittbrettfahrer-Problem und machen die lokalen Güter exklusiv. Gleichzeitig stellen sie sicher, dass die Gebühren der Bewohner ausschließlich innerhalb der Nachbarschaft verausgabt werden. In den Wirtschaftswissenschaften werden Gruppen, welche bestimmte Güter auf der Basis von Eigentums- oder Mitgliedsbeziehungen kollektiv aber exklusiv nutzen, als Clubs bezeichnet. Die Analyse von privaten Wohnsiedlungen als Club-Ökonomien hilft, deren Attraktivität für Immobilienentwickler, öffentliche Kommunal- beziehungsweise Bezirksregierungen sowie Wohnungssuchende und Bewohner in bestimmten marktwirtschaftlichen Kontexten zu verstehen: Immobilienentwickler profitieren davon, dass die Etablierung einer nachbarschaftlichen Governance-Struktur die Nutzung der gemeinschaftlichen Räume und Einrichtungen reguliert, diese marktfähig macht, das Risiko einer Degradation reduziert und damit insgesamt das Investitionsrisiko minimiert. Lokale Regierungen können von diesen ClubÖkonomien insofern profitieren, als dass diese Siedlungen keine öffentlichen Erschließungs- und Instandhaltungskosten erfordern. Wohnungssuchende und Bewohner profitieren von dem Niveau der kollektiven Dienste und Einrichtungen sowie dem Versprechen stabiler Immobilienpreise, welches mit der Steuerung der sozialen und physischen Umwelt ihres Eigentums durch die nachbarschaftliche Governance-Struktur verbunden ist. Mehrere Autoren haben darauf hingewiesen, dass kleine und sozial homogene öffentliche Kommunen de facto auch als Club-Ökonomien beschrieben werden können. So zeigen Studien in den USA und Frankreich (Charmes 2009), dass kleine, sozial homogene Gemeinden am Rande der Großstädte gezielt die baurechtlichen Kompetenzen des Gemeinderates nutzen, um den Zuzug sozio-ökonomisch schwächerer Gruppen zu verhindern (exclusionary zoning). In sozial heterogenen Gemeinden mit mehr oder weniger gut funktionierenden demokratischen Institutionen ist allerdings zu erwarten, dass die Stadtbeziehungsweise Gemeinderäte auch die Interessen von sozio-ökonomisch benachteiligten Gruppen wahrnehmen. So profitieren in privaten Siedlungen beispielsweise nur jene von Freizeiteinrichtungen wie einem Schwimmbad, die sich einen Zuzug leisten können. In öffentlichen Gemeinden ist zu erwarten, dass die Nutzung von Freizeiteinrichtungen auch an andere Kriterien gebunden wird und sei es nur, dass der Gemeinderat allen Schulkindern den Zugang zum Schwimmunterricht im kommunalen Bad ermöglicht (und subventioniert). Die politische Organisation der privaten Siedlungen wird von deren LobbyOrganisation in den USA als bestmögliche Form lokaler Demokratie gepriesen. Tatsächlich scheinen die Organisationen der privaten Siedlungen neue Möglichkeiten für freiwilliges Engagement zu schaffen. Mehrere Studien zeigen aber, dass die politische Praxis in den Selbstverwaltungsorganisationen vielfach weit entfernt von den Idealen funktionierender demokratischer Systeme ist: So gilt in der Regel eine Art Zensuswahlrecht, wobei das Wahlrecht an das Eigen130

Gated Community

tum an einer Wohneinheit gebunden und vielfach in Abhängigkeit vom Wert des Eigentums gewichtet wird. Mieter sind damit ausgeschlossen und Entscheidungen werden nicht auf der Basis one man one vote, sondern one Dollar one vote getroffen. In der Regel gibt es in den Selbstverwaltungen kein institutionalisiertes Recht der Opposition, sodass die Vorstände der Selbstverwaltung über einen privilegierten Zugang zu Informationen verfügen. In der Konsequenz etablieren sich vielfach diktatorische oder oligarchische Strukturen (McKenzie 2005). Darüber hinaus ist zu befürchten, dass die Selbstverwaltungen ausschließlich nach einer optimierten Bedürfnisbefriedigung für die Bewohnerschaft suchen und Ideen eines sozialen Ausgleichs ablehnen. So bemüht sich beispielsweise die Lobby-Organisation der US-amerikanischen Privatsiedlungen darum, dass Bewohner von Privatsiedlungen keine lokalen Steuern mehr abführen müssen, da sie ja bereits über die Gebühren für ihre Siedlung für lokale Dienste zahlen – eine Forderung, die von Kritikern als weiterer Schritt zu einer secession of the successful beurteilt wird. Insgesamt fokussiert die Debatte um Gated Communities bislang in hohem Maße auf sichtbare städtebauliche Phänomene. So wichtig eine Diskussion über die physische Separierung von Nachbarschaften und deren Folgen ist, so besteht dabei aber die Gefahr, dass die sozio-ökonomische und -politische Organisation dieser Nachbarschaften außerhalb des Blickfeldes bleibt. Analysiert man auch die ökonomische Funktionsweise und die politische (Selbst-)Steuerung von bewachten Siedlungen und Wohnanlagen, dann wird klar, dass diese sich vielfach in einen umfassenden Trend hin zu einer privatwirtschaftlichen Organisation von Siedlungen einordnen lassen und damit eine grundlegende Alternative zu einer öffentlich-kommunalen Organisation sind. Konsequenz einer solchen Siedlungsorganisation wäre, dass die Nachbarschaft jedes Einzelnen allein von der ökonomischen Leistungsfähigkeit bestimmt würde, die Angebote in den jeweiligen Club-Ökonomien allein von der ökonomischen Leistungsfähigkeit der Bewohner abhingen und das Recht auf politische Partizipation in einer Art shareholder-Demokratie an den Wert des jeweiligen Eigentums gebunden würde. Welche Konsequenzen lassen sich aus dieser Beobachtung ziehen? Verschiedene Studien deuten darauf hin, dass private und vielfach auch bewachte Siedlungen vor allem in jenen Regionen der Welt errichtet werden, in denen keine öffentlichen Kommunen existieren oder diese über wenig politischen und ökonomischen Gestaltungsspielraum verfügen (für Europa siehe beispielsweise Cséfalvay und Webster 2012). Mit anderen Worten: Demokratisch legitimierte und leistungsfähige Kommunen »schützen« vor den gesellschaftlichen Risiken, die mit einer privatwirtschaftlichen Siedlungsorganisation verbunden sind. Georg Glasze

131

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

L ITER ATUR Charmes, Eric (2009), On the Clubbisation of the French periurban Municipalities, Urban Studies 46(1), S. 189-212. Cséfalvay, Zoltán und Chris Webster (2012), Gates or No Gates? A Cross-European Enquiry into the Driving Forces behind Gated Communities, Regional Studies 46(3), S. 293-308. Foldvary, Fred (1994), Public Goods and Private Communities. The Market Provision of Social Services, Hants: Edward Elgar Publishing. Glasze, Georg (2003a), Bewachte Wohnkomplexe und »die europäische Stadt« – eine Einführung, Geographica Helvetica 58(4), S. 286-292. Glasze, Georg (2003b), Private Neighbourhoods as Club Economies and Shareholder Democracies, Belgeo 4(1), S. 87-98. Glasze, Georg, Chris Webster und Klaus Frantz (Hg., 2006), Private Cities. Global and local perspectives, London und New York: Routledge. Le Goix, Renaud und Chris Webster (2008), Gated Communities, Geography Compass 2(4), S. 1189-1214. Low, Setha M. (2003), Behind the Gates: The New American Dream, London und New York: Routledge. McKenzie, Evan (2005), Planning through residential clubs: homeowner’s associations, Economic Affairs 25(4), S. 28-31. Tiebout, Charles M. (1956), A pure theory of local expenditures, Journal of Political Economy 64(5), S. 416-424.

132

Geocache

Die unbedeutendsten Dinge verwandeln sich in Schätze, wenn sie gefunden werden. Das Kind klaubt »die Geister, deren Spuren es in den Dingen wittert« (Benjamin 1972 [1926], S. 115), aus jedweden Ritzen, Mulden und Löchern. Der schlichte Stein wird ihm zur Kostbarkeit, wenn seine Hand von ihm Besitz ergreift. In Kisten gestapelt, legt das Kind über die Jahre enorme Archive seiner Beutezüge an. Es erfreut sich an nichts mehr als an ewigem Sortieren. Das Gefühl, einen ungeheuerlichen Fund gemacht zu haben, übertrifft sich nur noch im Akt des Versteckens. Hinter dem Vorhang macht das Kind sich selbst »zu etwas Wehendem und Weißen, zum Gespenst«, und lässt »mit einem lauten Schrei den Dämon, der es so verwandelte, damit man es nicht findet, ausfahren, wenn es der Suchende faßt« (ebd., S. 116). Die relative Unsichtbarkeit erträgt das Kind nur in glühender Anspannung. Irgendwann muss sie als Illusion enttarnt werden, liegt die Kunst des guten Verstecks doch darin, »unsichtbare Spuren« (Benjamin 1972 [1932], S. 398) im Raum zu hinterlassen, die ein Auffinden möglich machen. Eine derart kindliche Sehnsucht nach dem ersten Blick auf die Dinge teilt sich in dem zuletzt modern gewordenen Vergnügen des Geocachings mit. Sein elementarer Baustein ist der Geocache, in dessen Schöpfung sich die Illusion kindlicher Beutezüge verdinglicht. Tatsächlich beschwört bereits der Name die magische Erfahrung. Mit Caches wurden in der Zeit der Eroberung Amerikas die von Forschern angelegten Lagerstätten für Nahrung und Ausrüstung bezeichnet (Telaar 2007, S. 6f.). Heute benennt er sowohl das von der Erde (Geo) offenbarte Versteck, als auch den darin geborgenen Schatz. Die Kostbarkeit des Geocaches ist wohl komponiert aus Mitgebsel, Logbuch sowie einer kleinen Schatulle, in welcher erstere beide der Erde übergeben werden. Um die kleinen Schätze herum ist ein sozio-technisches Arrangement aus Vermessungseifer, Natur-Fiktionen und Tauschgeschäften gebastelt, das ihrem Lockruf mithilfe mobiler Navigationsgeräte folgt. Es ist deren Auftrag, als »Sprachrohre für die stummen Objekte« (Haraway 1995, S. 46) die Spuren zu den ganz eigenen Geistern aufzunehmen. Die Geburtsstunde des Geocaches fällt in den frühen Mai 2000, als das US-Verteidigungsministerium die Signalverschlechterung der Satelliten ab-

133

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

schaltete. Fortan ließ sich auch im zivilen Bereich die Position im gekrümmten Raum der Grade, Bogenminuten und -sekunden bis auf wenige Meter exakt bestimmen. Am heutigen Tag, vertraut man den einschlägigen GeocachingPortalen, harren auf unserem Planeten mehr als 1,8 Millionen in kleine Behälter eingeschlossene künstlich erzeugte Gespenster darauf, von fünf Millionen Jägerinnen und Sammlern aufgespürt zu werden. Geocaching ist demgemäß eines der erfolgreichsten Abfallprodukte einer Kriegstechnologie. Es ist aber vor allen Dingen eine kleine »Widerstandsbewegung gegen das Erwachsenwerden« (Marquard 1986, S.  80), die es sich zur Aufgabe macht, in die Regionen der Ritzen, Mulden und Löcher vorzudringen; kurz: zu verkindlichen. Mein Blick auf den Geocache ist darum so gerichtet, dass er die Kunst jener Illusion, die aufwendigen Vorbedingungen in der Metamorphose zur kindlichen Jägerin vergessen zu machen, in ihre drei Methoden sozio-technischer Schatz-Lehre spaltet. Mit diesem Anliegen entpuppt sich das Essay als Plädoyer für jene stummen Schätze, mit denen sich die postmodernen Erwachsenen ihre Wirklichkeit wieder fremd zu machen suchen. erstens_Fährten legen. Das Kind nimmt die Fährte zu den Geistern ganz intuitiv auf. Ganz anders beim Geocaching: Hier müssen die Spuren mit einigem technischen Aufwand gelegt und anschließend wieder verwischt werden. Die Spielregeln hierzu lesen sich wie eine Abschrift des von Bruno Latour (2009 [1987], S. 120) beschriebenen Akkumulationskreislaufs der immutable mobiles, der einem Dinge vertraut macht, die weit entfernt sind: »Wie bringt man Dinge an einen Ort zurück, damit sie jemand zum ersten Mal sehen kann, so dass dann andere erneut ausgesendet werden können, um andere Dinge zurückzubringen?« Die Stimmen, welche die Geocaching-Gemeinde aus den reisenden Gegenständen der Geocoins, Hitchhiker und Trackables empfangen, sprechen in der Zahlensprache der Koordinaten, die das Global Positioning System lautlos bereitstellt. Koordinaten sind Zahlengeister, die sich den Dingen einverleiben. Sie heben den Punkt an die Spitze aller Geometrien und machen ihn zum Antreiber der Jagd. Eine gepunktete Welt. Punkte sprechen nicht unsere Sprache, die Übersetzung ist daher an den nicht-menschlichen Akteur des mobilen Navigationsgeräts überantwortet. Er kommuniziert die Route, die sich zwischen den Koordinaten des Geocaches und denen der eigenen Position aufspannt. Wer Geocaching betreibt, ist eine Liebhaberin der Zahlen – und der Technik. Die Technisierung zum Cyborg geht längst nicht unter die Haut, aber bringt den Körper in Stellung. Der GPS-Empfänger führt als verlängerter Arm in soziotechnischer Choreographie zur Beute. [Die Hinweise auf den nächsten Cache erreichen mich als Botschaft aus dem Weltraum. Ich lasse mich orten. Um den nächsten Schritt gehen zu können, nimmt meine Gefährtin eine Reise von 20.183 Kilometern zu mindestens vier ihrer 29 Mutter-Satelliten auf sich und fragt sie nach dem Weg. Ich bin blind geworden für das Nahe und delegiere mein Sehen an einen Apparat, der genau zu wissen scheint, wo es lang geht. Hand in Hand mit meiner Gefährtin 134

Geocache

balanciere ich auf dem Gewebe der Datenströme. Es ist ein Spiel mit Maßstäben, vom erdschweren Gang gleite ich in die Umlaufbahn meiner Begleiterinnen und wieder zurück. Noch 373 Meter bis N 040° 03´ 10,33˝, E 023° 47´ 54,13˝. Ein Dialog, eine Symbiose. Ich gehe einen Schritt und bekomme sogleich schwarz auf gelb Antwort, ob ich es gut gemacht habe. Allein auf den letzten Metern lässt meine Gefährtin mich im Stich. Sie müssen aus eigener Orientierungskraft überwunden werden, was sich nach langer sicherer Führung schwieriger erweist, als gedacht. Ground Zero, mit drei Metern Zugabe an die kindliche Wildfremdheit. Ich nutze die zusätzlichen Hinweise mithilfe des Dechiffrierungsschlüssels. Meine Augen müssen sich erst wieder an das Licht gewöhnen und dann greife ich verzückt zu.] zweitens_unverschämte Orte begehren. Hierunter verbirgt sich das Erfordernis, sich dem Reiz der gefalteten Räume hinzugeben. Geocaches sind abgefeimte Dinger, weil sie gleich mehrfach in Raum getränkt sind. Sie lassen uns den Raum als Wildnis begehren, indem sie diese dreisten Nicht-Orte der Ritzen, Mulden und Löcher verdinglichen: ein Astloch, eine Mauerspalte, die Kleidungsfalte einer Skulptur. Ihre imaginäre Kostbarkeit erbeuten Geocaches aus der ewigen Hereingabe in den gekerbten Kreislauf der Dinge. Sie sind damit dem schlichten Stein des Kindes nicht ganz unähnlich. Während dieser sich jedoch in einen Schatz verwandelt, indem er den Ritzen und Mulden entwendet wird, muss der Geocache dafür Sorge tragen, in sein Versteck zurückzukehren; besser noch, zwischen den Verstecken zu zirkulieren. Seine Ortsverbundenheit ist auf Dauer gestellt; von dort aus lockt er die Jägerinnen an. Das sorgfältig gewählte Versteck wird durch die Kolonisierung mit einem Geocache zum Naturrespektive Kulturprojekt, aber eben auch nur dieses. Verloren geglaubte Orte (Lost Places) und besondere Naturschauspiele (Earth Caches) existieren, weil sie gecached sind, nicht umgekehrt. Die aus Koordinaten geborenen Orte waren vorher nicht da draußen und haben nur darauf gewartet, mit den richtigen Instrumenten auffindbar gemacht zu werden. Sie sind vielmehr Erträge eines vermessungsträchtigen Spiels; vielleicht eine weitere Stufe der aus unmittelbaren und vermittelten Wahrnehmungen des Raumes gemischten Koproduktionen der sinnlichen Realität (Virilio 1984, S. 146), in jedem Fall etwas gemeinsam von menschlichen und nichtmenschlichen Wesen Gemachtes (Haraway 1995, S. 15). Diese Beobachtungen sind keine Technikkritik und auch kein Widerspruch. Geocaching ist Umweltbildung im anderen Sinne; eine Jagd, die nicht in die Natur führt, sondern sie im Jagen herstellt. Wer den Ort ohne Koordinate bereist, wird einen anderen sehen. [Als ich aufschaue, bemerke ich, was mir zu Füßen liegt. Die Erde ist mein Spieluntergrund, die sich mir mit ihrer Beute anbietet. Ich bereise die Natur als Summe ihrer Schätze und trainiere mir auf der Unüberschaubarkeit ihres Spielfelds den Blick auf das Weite systematisch ab. Den raffinierten Unterschlupfen zolle ich Tribut, indem ich ihnen zu nahe komme, in der Erde wühle. Dabei blende ich bereitwillig aus, dass in die Angelegenheit dieses Blickes wahrscheinlich Hunderte von Menschen verwickelt sind. Jetzt gilt es erst mal, sich in dieser Situation von Nie135

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

mandem, schon gar nicht von Muggeln, erwischen zu lassen. In diesem Moment steht der Ort nur mir zu. Ich teile mich ihm mit, er ist von mir be-geistert. Ich wende den Blick wieder auf die Schatulle, entnehme ihr Logbuch und Trade Item und lasse mich auf ein Tauschgeschäft ein. Ihr neues Innenleben, da bin mir relativ sicher, wird nicht von langer Dauer sein. Dann übergebe ich die Schatulle ihrem Unterschlupf und logge meine heute gemachte Beute.] drittens_einen Schrei ausstoßen. Die kleine Widerstandsbewegung gegen das Erwachsenwerden kulminiert im Verrat ihrer Geister. Geocaching existiert nicht ohne den Ausruf des Logs. Erst im entblößenden Akt wird die Verwandlung zur kindlichen Jägerin vervollkommnet. Der Log-Ruf im weltweiten Netz hallt leiser als der kindliche Austrieb der Dämonen – dafür jedoch ungleich weiter. Er ist vertont in Akronymen, die dem Gebot des Kryptischen gehorchen: FTF, TFTC (First to find, Thanks for the cache). Jeder Fund wird ausgelegt, selbst wenn gar nichts gefunden wurde. Die Kommentare sind so banal wie unabdingbar. Hier wird die Beute entzaubert, seziert, inventarisiert und abgelegt. Einmal damit begonnen, wird die Jägerin nicht müde, ihr Archiv der Andenken anzureichern. Ein Wettbewerb um die meisten Schätze, die unverschämtesten Verstecke; eben ein Spiel, das Passagen des Lebens mit physischen Orten verkordelt. An jeder Beute hängt eine Erinnerung, die nunmehr dorthin zurückkehrt, wo sie generiert wurde: in das Gewebe der Datenströme. Hier liegt ein Teil der Identität, der immer wieder abrufbar ist. Hier werden wir ihrer habhaft. Am Ende bildet das Logbuch noch eine ganz andere Sache ab. Zusammengenommen ist es wahrscheinlich eines der größten gegenwärtigen Archive menschlicher Bewegungsverläufe. [Meine Beute ist vermessen. Die Statistik sagt, dass ich im Durchschnitt 0,0838 Caches pro Tag finde, in der Regel in der Größe Nano. Heute habe ich meinen östlichsten Fund gemacht – vom Nullmeridian aus gesehen. Kartographisch wechseln meine Funde in die Ästhetik eines dicken Kleckses, der kleine Sprenkel verursacht hat. Meine Freude am Zahlenspiel steigert sich in der Kontaktaufnahme zu meinem winzigen Geocoin-Avatar. Ein Teil von mir taucht als Route vor mir auf. Ich war wohl zuletzt in der Tasche von »Trüffelschwein« (wie berechenbar!) unterwegs und lauere in diesem Moment in einem Unterschlupf bei Prag auf meine nächste Finderin. Am Straßenrand der Logbucheinträge steht die Menge Spalier und trägt mich Stück für Stück weiter. Per Anhalter in 80 Tagen um die Welt – zwei Klassiker.] Letztendlich ist die Entwicklung des Geocachings so vorhersehbar wie ihre Kritik. Mit Schatzsuchen wird zwangsläufig Beute gemacht. Und während ich noch in Nostalgien schwelge, ist das Spiel an anderer Stelle längst der Ent-Kindlichung preisgegeben. Auch Geocaching unterliegt jener ökonomischen Logik, die noch die unnützesten Dinge zur Routine macht. In den Städten lotsen von autorisierter Instanz erdachte Multicaches über ausgetretene Pfade zu Schauplätzen, um die man ohnehin nicht herumkommt. Die Beute verkümmert zu Wortansammlungen, die noch in jedem Reiseführer abgedruckt sind. In den Bildungseinrichtungen soll das mit Kompetenzbereichen aufgeblähte Geoca136

Geocache

ching den »erfahrungsleeren Erfahrungserwerb« (Marquard 1986, S. 84) schulischen Lernens kompensieren. Schülerinnen spielen nicht, sondern üben sich im Spiel. Der kleine Protest gegen das Erwachsenwerden wird zum Training des »Erwachsenseins unter Kindseinsbedingungen« (ebd.) verdreht. [Letzter Eintrag für Heute: Geocaching NM (Needs Maintenance)]. Verena Schreiber

L ITER ATUR Benjamin, Walter (1972 [1926]), Einbahnstraße, in: Gesammelte Schriften IV, hg. v. Tillman Rexroth, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 83-148. Benjamin, Walter (1972 [1932]), Der enthüllte Osterhase oder Kleine VersteckLehre, in: Gesammelte Schriften IV, hg. v. Tillman Rexroth, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 393-400. Haraway, Donna (1995), Monströse Versprechen. Die Gender- und Technologie-Essays, Hamburg: Argument Verlag. Latour, Bruno (2009 [1987]), Die Logistik der immutable mobiles, in: Mediengeographie. Theorie – Analyse – Diskussion, hg. v. Jörg Döring und Tristan Thielmann, Bielefeld: transcript, S. 111-144. Marquard, Odo (1986), Apologie des Zufälligen, Stuttgart: Reclam. Telaar, Daniel (2007), Geocaching. Eine kontextuelle Untersuchung der deutschsprachigen Geocaching-Community, Münster: unveröffentlichte Diplomarbeit. Virilio, Paul (2009 [1984]), Die morphologische Irruption, in: Mediengeographie. Theorie – Analyse – Diskussion, hg.  v. Jörg Döring und Tristan Thielmann, Bielefeld: transcript, S. 145-165.

137

in vitro

Neulich abends zu später Stunde. Ich sitze mit meiner Freundin Ada in einem angesagten Berliner Mini-Club. Statt plüschiger Queer-Folklore und aufdringlichem Dildo-Klamauk herrscht um uns herum ein stilsicheres sexuelles Downsizing. Chic Lesben in schwarzen Understatements und mit gemattetem rotem Lippenstift. Neben mir die Herausgeberin des Bacterial Magazines. Ein queerfeministisches Heft, das Queer vom Ballast aus Körpern, Sexualitäten und Identitäten befreien will. Im Hintergrund läuft light games von kool thing. Ebenso aufgeklärt wie der Ort kommt auch unser Gespräch über die In-vitro-Fertilisation (IVF) und queere Reproduktion daher. Wir tauschen Sätze aus wie: »Ja aber, es gibt ohnehin kein Zurück mehr in die vortechnologische Gesellschaft. Wir sind doch sowieso den ganzen Tag an Technologien angeschlossen. Technopatriarchat? Ich würd bei IVF eher von einer cleveren Aneignung sprechen. Und außerdem facebooke ich morgens schon, bevor ich überhaupt einen Kaffee trinke.« Es sind die üblichen Aussagen mit denen wir wohl eine progressive Haltung zu Reproduktionstechnologien ausdrücken wollen. Tatsächlich sind wir mittendrin. Ada, eine Frau mit Male-to-Female-Vergangenheit und als Kulturphilosophin geschult in neuester Queer Theorie, Non/ Human-Feminism und Nature/Culture-Debatten, hatte es vor ihrer Operation geschafft, Sperma einfrieren zu lassen. Eine IVF mit Sperma-Diagnostik und Sperma-Aufarbeitung wird nun angedacht. Sie überlegt zusammen mit ihrer Partnerin Claire, einer transbegehrenden Femme, wie der Kinderwunsch zu organisieren ist. Ist es besser, wenn Claire sich befruchten lässt oder soll eine Freundin gefragt werden? Die Kinderfrage soll ja ohnehin kollektiv gelöst werden. Ein bedeutungsschwangerer Blick auf mich. Nach dem Gespräch ging mir nicht nur der Blick nach. In diesem Reprotech-Geplauder, dachte ich, wurde auch auf den Punkt gebracht, dass queere Fantasien zu Reproduktion und reproduktives Begehren mittlerweile fast ausschließlich über die Frage der Technologienutzung laufen. Und dass IVF immer wieder eine zentrale Stellung einnimmt. Ein Grund ist, dass die im Reagenzglas herbeigeführte Verschmelzung von Ei- und Samenzelle den Fortpflanzungsprozess disaggregiert. Die IVF zerstückelt die Reproduktion und schafft so die Mög138

in vitro

lichkeit, dass die daraus hervorgehenden Elemente in einem unmittelbar räumlichen Sinne und auf unterschiedlichsten Maßstabsebenen bestimmte Grenzen überschreiten können. Die Disaggregation hat zudem ein queeres Potenzial beziehungsweise bringt die Queerness von neuen Reproduktionstechnologien auf den Punkt: Die IVF verlagert das Anfangsstadium aus dem geschlechtlichen und sexuellen Körper ins Labor. Der heterosexuelle Koitus steht so nicht länger am Anfang des Menschen. Statt der leiblichen Vereinigung von Mann und Frau vermengen sich Eizellen und zuvor bereits durch Zentrifugen oder Gefrierschränke gewandertes Sperma im Reagenzglas. Oder die Pipette wird in eine Eizelle eingeführt, die sich zwischen einer weiteren Haltepipette befindet. Die IVF hat auch ein queeres Potenzial, weil sie den eindeutigen schwangeren Frauenleib als primären Signifikanten des Fortpflanzungsgeschehens in Frage stellt. Männerkörper wie den von Thomas Beatie kann die IVF ebenso schwängern. Schließlich kann die IVF neue Familien- und Verwandtschaftsformen hervorbringen, die übliche heteronormative Arrangements überschreiten. Wenn meine Freundin das Sperma gibt, ihre Freundin die Eizelle zur Verfügung stellt und ich den Laborembryo austrage, kommen wir schnell mit unseren üblichen euro-amerikanischen Familienkonzepten an die Grenze. Queere Beiträge gehen deshalb über feministische Studien zu Reproduktionstechnologien hinaus und machen deutlich, dass Reproduktionstechnologien nicht nur ein Potenzial der De-Naturalisierung (Franklin 1997; Thompson 2005) eingeschrieben ist: Dieses Potenzial ist auch de-geschlechtlichend und de-heterosexualisierend (Nordquist 2008, S. 282). Die IVF macht einmal mehr deutlich, dass Fortpflanzung ein »sozial-natürliches« Ereignis ist. Und: Sie stellt eine weitere Möglichkeit dar, das heteronormative Reproduktionsspektakel samt Heterosex, binär-geschlechtlichen Körpern und Kernfamilie zu umgehen. Diesen queeren Potenzialen steht in Deutschland eine heteronormative Familien- und Technologiepolitik entgegen, die das queere Reisen reproduktiver Substanzen unterbinden will. Der In-vitro-Embryo soll in keinen anderen als den eindeutigen Frauenkörper wandern und dort zum Kind eines heterosexuellen, möglichst verheirateten Paares führen. Anders ausgedrückt: Die deutsche Biopolitik stuft Queers als unerwünschte reproduktive Staatsbürgerschaftssubjekte ein und erschwert ihnen den Zugang zur IVF stark. Die Bundesregierung hat beispielsweise Ende 2010 bekräftigt, dass lesbische Paare in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft weiterhin keinen Anspruch auf eine Finanzierung von Fertilisationsbehandlungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung haben: »Eine Neuregelung der Finanzierung von Maßnahmen der künstlichen Befruchtung ist derzeit nicht vorgesehen«, heißt es in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen (Deutscher Bundestag 2010, S. 1). Die logische Gegenreaktion von queeren Beiträgen zu Reproduktion ist eine Kritik am Ausschluss aus der Kategorie des reproductive citizen und das queertheoretische Ausexplizieren der technologischen Potenziale. Queere Interes139

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

senvereinigungen, Aktivist_innen sowie Theoretiker_innen setzen sich für eine »Aneignung der Technologien von unten« ein. Am nächsten Tag treffe ich eine weitere Freundin. Sie setzt sich kritisch mit Geschlechterverhältnissen und neuen Arbeitsverhältnissen im Postfordismus auseinander. Agnieszka erzählt mir, dass in Rumänien Frauen per Anzeige zur »Eierproduktion« angeworben werden. Die Aussicht: ein doppeltes Monatsgehalt. Die Käufer_innen sind wiederum Frauen und Paare aus materiell reicheren Ländern. Für die Eizellernte werden die Frauen teils in andere Länder geflogen. In einer Klinik werden die Eier dann unter Narkose abgesaugt und im Nebenraum mit Fremdsamen befruchtet. Grundlage ist also auch hier IVF. Aber das queere Potenzial ist für Agnieszka kein Thema. Vielmehr spricht sie von Rohstoffarbeit und unterstreicht, dass Frauen die Arbeit leisten. Agnieszka hebt damit einen weiteren Aspekt rund um die IVF hervor: Um den Hauptakteur der IVF – den Laborembryo – herzustellen, ist Arbeit notwendig: sich zum Beispiel gut ernähren, in die Klinik fahren, sich Hormonstimulationen unterziehen und mit Risiken wie dem Hyperstimulationssyndrom leben. Die IVF enteignet aber nicht nur die Frau von dieser reproduktiven Kraft, sie ermöglicht auch, dass das Potenzial nicht nur in andere Körper, sondern auch in andere Länder und andere Klassen »reist«. Rohstoffarbeit ist auch die Grundlage für die Mehrwertproduktion in neuen Biosektoren wie Stammzellforschung und Klonforschung. Denn diese Forschungszweige, so fährt Agnieszka fort, sind auf Unmengen von Eizellen angewiesen. In öffentlichen Diskursen wird in der Regel aber die Tätigkeit der Forschenden als schöpferische Arbeit gesetzt. Sie wird im Gegensatz zur Arbeit der Eizellproduzierenden als gesellschaftlich wertvoll eingestuft und der Beitrag der Rohstoffarbeiterinnen verdeckt. Autorinnen wie Donna Haraway oder Charis Thompson unterstreichen deshalb, dass »the end of the practices makes a difference« (Haraway 2008, S. 66). Kurzum: Es macht einen Unterschied, ob das reproduktive Potenzial durch das Reagenzglas zurück in den Körper jener Person reist, von der die Eizelle stammt. Und ob der Embryo dort zum Kind wird – zum Teil der »eigenen« Identität. Oder ob die reproduktive Kraft im Biosektor an Produktionsmaschinen gekoppelt wird und in Mehrwert resultiert. Vor diesem Hintergrund muss ich an eine jüngst veröffentlichte Londoner Studie denken, in der die Eizellen von lesbischen Frauen im Rahmen von IVF als Spitzenrohstoff »entdeckt« worden sind. Der Leiter der Studie unterstrich, dass die Erfolgsraten mit »lesbischen« Eizellen wesentlich höher sind, als die mit Eiern von heterosexuellen Frauen. Denn Lesben nutzen die IVF, weil sie von vornherein den Heterosex umgehen wollen. Probleme, auf »natürlichem Wege« schwanger zu werden, haben sie nicht. In seinen Worten hört sich das so an: »It’s also a remarkable turnaround – 10 years ago lesbian women weren’t all that welcome in fertility clinics. Now that’s changed. These women are going

140

in vitro

to be our saviours. This is evidence that they make excellent patients in eggsharing schemes – both as donors and recipients.« (Goodchild 2009) In meinem Kopf geht es hoch her: Werden lesbische Frauen also zu den neuen bevorzugten Rohstoffarbeiterinnen? Was ist mit Männern mit einer Femaleto-Male-Vergangenheit? Auch sie haben keine Unfruchtbarkeitsprobleme und herkömmlicher Heterosex hat für die Fortpflanzung keine Bedeutung. Werden auch sie bald von der Forschung als Rohstoffsubjekte entdeckt? Oder lehnen sie, weil sie Männer sind, die Rohstoffarbeit eher ab und überlassen sie ihren Partner_innen? Hat die Rohstoffarbeit Effekte für das Verhältnis zwischen verschieden privilegierten geschlechtlichen Existenzweisen? Zwischen Cisfrauen, transemphatischen Femmes, Frauen mit Male-to-Female-Vergangenheit und Lesben? Ich frage mich auch, wie die Ergebnisse der queer-feministischen Ökonomiekritik auf Fragen des rohstofflichen Arbeitens übertragen werden könnten. Wie müsste beispielsweise der Begriff des sexuellen Arbeitens von Autorinnen wie Renate Lorenz und Brigitta Kuster (2007) vor dem Hintergrund einer Rohstoffökonomie durchdacht und justiert werden? Schließlich: Wie gehen wir politisch damit um? Queer bedeutet weiterhin eine prekarisierte gesellschaftliche Position. Gleichzeitig entstehen gerade mit den Zukunftsökonomien wie Stammzellforschung neue gesellschaftliche Bereiche, in denen Mehrwert geschaffen wird und Queers als Rohstoffarbeiterinnen adressiert werden könnten. Sollten queere Gewerkschaften gegründet werden oder würde eine solche politische Praxis die Erschließung queerer reproduktiver Substanzen lediglich diskursiv absichern? Zwei Tage später sitze ich neben einer Bekannten im Auto. Wir liefern das Mondkalb aus. Sie ist Journalistin und Redakteurin bei der Zeitschrift für das organisierte Gebrechen. Als Krüppelbewegte, jenem interessanteren Teil der Behindertenbewegung, der keine Lebensschützer mag, eher böse statt bittend und dankend auftritt, hat Rebecca nicht nur einen zutiefst makabren Humor. Sie führt auch helfende Gutmenschen geistreich und in Sekundenschnelle vor. Es geht – diesmal indirekt – wieder um die IVF: Wir reden über die Präimplantationsdiagnostik (PID), die an dem Tag gerade gesetzlich zugelassen wurde. Dazu werden einem IVF Embryo einige Zellen entnommen und auf mögliche Chromosomendefekte untersucht. Die IVF hat die PID erst ermöglicht, und in Deutschland ist die IVF auch zulässig, wenn eine PID durchgeführt werden soll. Für eine PID wird eine Vielzahl von IVF-Embryonen benötigt. Während wir so durch den Prenzlauer Berg cruisen, fragt sie mich: »Du bist doch wahrscheinlich gegen PID, weil Du selbst Leute kennst, deren Geburt die PID heute verhindern wollen würde?« Ich antworte ja, denke kurz nach und schiebe dann nach: »Auch. Aber vor allem aus egoistischen Gründen.« Wie die Pränataldiagnostik (PND) hat auch die PID eine individualisierte Eugenik ermöglicht, dank derer die Einzelne die bevölkerungspolitischen Ziele selbst in die Hände zu nehmen hat. Klassifiziert die PND ihren Fötus als behindert, muss sich die Frau 141

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

für oder gegen eine Abtreibung entscheiden. Im Falle der PID selektiere ich nicht selbst die Embryonen, im Namen meiner Selbstbestimmung erledigt das der Arzt. Ich bin also im Grunde dagegen, denke ich, weil ich nichts damit zu tun haben möchte: Ich möchte weder den Arzt Embryonen selektieren lassen noch Diskussionen mit mir engen Personen über die Geburt eines möglicherweise behinderten Kindes nach positivem PND-Befund führen müssen noch mich in Risikogruppen einordnen lassen oder mich mit statistischen Aussagen auseinandersetzen. Trotzdem muss ich auch an Einwände denken: Die Technologien »an sich« bedeuten nichts, wird mir manchmal entgegengehalten. Sie sind wertneutral und könnten je nach gesellschaftlichen Normen, die sich verändern lassen, gut oder schlecht genutzt werden. Dann müsste sich eine queere Technologiepolitik für einen verantwortungsvollen, besseren Umgang mit den Technologien einsetzen. Hieße also eine queere Aneignungspolitik die Ablehnung von transphoben Praktiken und den Einsatz dafür, dass auch als intersexuell klassifizierte Embryonen eingepflanzt würden? Würde sie erfolgreich das sogenannte Family Balancing umgehen – die Herstellung einer »geschlechtlich ausgewogenen« Familie? Und würde sich eine queere Aneignungspolitik dafür einsetzen, dass auch als behindert klassifizierte Embryonen ausgetragen würden? Rebecca bezweifelt das stark. Bei Feministinnen ist die Empörung groß, wenn es um Geschlechtsselektion geht. Eugenische Praktiken werden hingegen oft euphemistisch als »medizinisch notwendig« eingeschätzt. Die Technologien können die ihnen eingeschriebene kapitalistische Geschichte der Normalisierung nicht abstreifen. IVF mit anschließender PID ist Rebecca zufolge entwickelt worden, um die industrielle Tierzucht zu optimieren. Es sollte eine Nachkommenschaft gewährleistet werden, die möglichst nah an Kriterien von Leistungsfähigkeit und Gesundheit herankommt. Diese standen neben anderen Normen am Anfang der Entwicklung und sind daher dem heutigen gesellschaftlichen Möglichkeitsfeld eingeschrieben, in dem individuelle Entscheidungen für oder gegen eine Technologienutzung getroffen werden. Rebecca hinterfragt im Grunde bereits den gesellschaftlichen Antrieb, der überhaupt zur räumlichen Zerstückelung der Fortpflanzung geführt hat. Sie geht damit über queere und postfordistische Positionen hinaus. Denn sie lässt sich gar nicht erst auf die epistemischen Vorannahmen ein, die dem denkenden Mitreisen mit den reproduktiven Substanzen vorausgehen. Ich muss an das Gespräch mit Ada zurückdenken. Sie hatte nach einigen Wodka-Rhabarbersaft noch gesagt, dass Empfängnis für Queers, anders als für Heteros, noch nie etwas Natürliches gewesen sei. Auch die neuen Reprotechnologien seien nur weitere Methoden im queeren Repertoire von Fortpflanzungstechniken. Queers hätten parallel auch immer Freunde nach Sperma gefragt, um den Spermacocktail anzurühren und die Bratenspritze aufzuziehen. Ich hatte laut aufgelacht, gefragt, ob sie in die vortechnologische Barbarei zurück142

in vitro

wolle und gesagt, dass sie das ohne mich tun müsse. Zwei Wochen später will ich Technologien grundsätzlich noch immer nicht missen. Und nostalgischen Träumen von einer besseren vortechnologischen Zeit hänge ich auch nicht nach. Trotzdem bin ich nachdenklich geworden: Müsste queere Reproduktion nicht eigentlich die Bedeutungslosigkeit anstreben? Müsste es nicht egal werden, wann wir Kinder, wie viele Kinder wir und vor allem welche wir bekommen? Warum gilt es als nicht-respektabel mit 21 bereits fünf Kinder zu haben, von denen eins als schwer behindert und ein anderes als intersexuell wahrgenommen wird? Eins weiß ich jedenfalls sicher: Der queere Weg zur reproduktiven Bedeutungslosigkeit verläuft nicht notwendigerweise über eine Technologienutzung. Sondern nach wie vor darüber, dass die momentanen gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse und Arbeitsteilungen, die die einen reproduktiv streiken lassen und die anderen von der Reproduktion ausschließen, in den Blick genommen – und schließlich auch verändert werden müssten. Ute Kalender

L ITER ATUR Deutscher Bundestag (2010), Kleine Anfrage: Kinderwunschbehandlung bei lesbischen Frauen, 17. Wahlperiode, Drucksache 17/4077. Franklin, Sarah (1997), Embodied Progress: A Cultural Account of Assisted Reproduction, London: Routledge. Goodchild, Sophie (2009), Fertility clinics to recruit more lesbians as egg donors for IVF, London Evening Standard, 09. Juni 2009. Haraway, Donna J. (2008), When species meet, Minneapolis: University of Minnesota Press. Lorenz, Renate und Brigitta Kuster (Hrsg., 2007), sexuell arbeiten – eine queere perspektive auf arbeit und prekäres leben, Berlin: b_books. Nordquist, Petra (2008), Feminist heterosexual imaginaries of reproduction. Lesbian conception in feminist studies of reproductive technologies, Feminist Theory 9(3), S. 273-292. Thompson, Charis (2005), Making parents. The ontological choreography of reproductive technologies, Cambridge: MIT Press.

143

Kiez

Kiez hat sich im späten 20. Jahrhundert in Deutschland als Bezeichnung für kleinräumige, städtische Gebiete durchgesetzt, denen eine distinkte lokale Identität zugeschrieben wird, ohne dass sie eine verwaltungsrechtliche Einheit oder Gebietskörperschaft sind. In den vergangenen Jahren ist der Begriff Kiez in Stadtentwicklung und -politik aufgenommen, umgedeutet und in Dienst genommen worden. Dabei lassen sich zwei, in widersprüchlicher Weise aufeinander bezogene Anwendungsbereiche des Kiez-Konzepts beobachten. Zum einen neue sozial- und integrationspolitische Programme, die als typische Instrumente neoliberaler Governance sogenannte endogene Potenziale und lokales Sozialkapital eben der Stadtteile nutzen, deren Probleme sie lösen sollen. Zum anderen die Vermarktung von Stadtraum für ein neues städtisches Bürgertum, das mit dem Begriff Kiez eine besondere, Authentizität und Individualität versprechende Lebensqualität von Innenstadtvierteln verbinden soll. Die Genese des Begriffs ist eng mit der Stadt Berlin und den hier beobachtbaren sozialräumlichen Ausformungen von Stadtentwicklung und städtischem Alltagsleben verbunden. Ursprünglich bezeichnete er historische Bau-Ensembles, die auf mittelalterliche Fischersiedlungen an Flussufern in Berlin und Brandenburg zurückgehen (Rach 1988). Er wurde im 20. Jahrhundert verallgemeinert, um Quartiere unterhalb der Maßstabsebene der Berliner Bezirke zu bezeichnen. Im Kiez dominieren die unteren sozialen Schichten; auch außerhalb Berlins ist der Begriff Kiez vereinzelt als Bezeichnung für Vergnügungsviertel und Arbeiterbezirke verwendet worden. Die meisten in Berlin gängigen Bezeichnungen für eigenständige Kieze sind neueren Datums, viele kursieren erst seit den 1970er Jahren. Die Herausbildung alternativer Lebensstile in Berlin-Kreuzberg und anderen Bezirken trug zur positiven symbolischen Aufladung des Kiez-Konzeptes bei (Lang 1998). Nach der Wiedervereinigung gerieten im Zuge der Restrukturierung der städtischen Ökonomie gerade die ehemals klassischen Kiezviertel – im Westen unter anderem Teile des Bezirks Kreuzberg, im Osten zunächst vor allem der Prenzlauer Berg – unter massiven Veränderungsdruck durch Gentrifizierung, Bevölkerungsaustausch und touristische Vermarktung. Kiez ist zudem – im Mediendiskurs, insbesondere in 144

Kiez

Berlin – zum Synonym für migrantisch geprägte Milieus geworden. Die Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese bezeichnet mit dem – durchaus umstrittenen – Begriff »Kiezdeutsch« die Entwicklung eines Dialekts türkisch- und arabischstämmiger Jugendlicher in großstädtischen Migrantenvierteln, dem sie Eigenständigkeit und Kreativität attestiert (Paul, Wittenberg und Wiese 2010). Kieze in Berlin sind in zahlreichen sozial- und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen thematisiert worden. Kiez ist dabei kein analytisches Konzept der sozialwissenschaftlichen Raumforschung, sondern wird vielmehr als vernakuläre Kategorie begriffen, die von den Stadtbewohnern kognitiv – durch einen ausgeprägten symbolischen Ortsbezug – und praktisch – durch Nachbarschaftsbeziehungen, Gegenseitigkeitshilfe und intensive Nutzung lokaler Infrastruktur – hergestellt wird. Studien zur Konstruktion der »Nahwelt« (Binder 2002) durch die Bewohner von Berliner Bezirken haben freilich auch herausgearbeitet, dass der Kiez nur eine von mehreren Optionen des Raumbezuges der Stadtbewohner ist, deren Alltagsmobilität, soziale Verkehrskreise und Imaginationen sich heute zunehmend auf maßstäbliche Ebenen beziehen, die nicht durch räumliche Nähe definiert sind. In der Öffentlichkeit hat sich demgegenüber ein Verständnis etabliert, das mit Kiez eine homogene lebensweltliche Raumeinheit meint und Merkmale wie einen hohen Grad sozialer Überschaubarkeit und gut entwickelte nachbarschaftliche Netzwerke sowie Altbausubstanz, insbesondere Etagenmietshäuser, eine vielfältige Struktur von Einkaufsmöglichkeiten und Gastwirtschaften als charakteristisch für das Raumbild des Kiezes begreift. Zugleich hat sich der Begriff des Kiezes aber von seiner ausschließlichen Bezogenheit auf die Stadt Berlin gelöst. Damit konnte er für politische Projekte und ökonomische Interessen in Dienst genommen werden, die mit der neoliberalen Transformation von deutschen Städten eng verbunden sind. So arbeiten sozialpädagogische Programme des »Quartiersmanagements« bereits seit den späten 1990er Jahren mit einem sozialstrukturell homogenen, auf gemeinschaftlichen Identitätsentwürfen beruhenden Modell des Stadtteils. Dieses Modell wurde durch die Best-Practice-Projekte des Bund-Länder-Programms Soziale Stadt über das gesamte Bundesgebiet verbreitet, sodass überall »Gebiete mit besonderem Entwicklungsbedarf« in Analogie zum Kiez begriffen wurden. Die sozialintegrierte Stadtentwicklung, die die Symptome der städtischen Restrukturierung – baulicher Verfall, Ausdünnung von Infrastruktur, sozialer Abstieg von Teilen der Bewohner, steigende Gewaltbereitschaft – nicht ursachenorientiert bearbeitet, sondern therapeutisch harmonisiert, operiert mit der »Vorstellung einer nachbarschaftlichen Gemeinschaft als Ideal […], in der die BewohnerInnen nachhaltig und langfristig verankert und aufgehoben sind und für die sie Verantwortung übernehmen sollen bzw. wollen«, wie die Stadtethnologin Beate Binder (2002, S. 11) schreibt, die eine kritisch-begleitende Forschung in einem der ersten Quartiersmanagementgebiete Berlins leitete. 145

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Neu entwickelte Programme wie »Kiezmütter« und »Kiezläufer« stehen dabei für die aktivierenden Strategien neoliberalen Regierens in der Stadt. Das Präfix kiez- bezeichnet neue Akteurskategorien, die einerseits Klienten der neuen sozialpädagogischen Stadtentwicklung sind, andererseits angelernt (»ermächtigt«) werden, um anstelle von qualifiziertem Fachpersonal ein »flächendeckendes Netz aufsuchender Integrations- und Präventionsarbeit« (Koch 2009) für die Bewohner von sogenannten Problemkiezen zu realisieren. Teilnehmer der Programme durchlaufen Schulungen und übernehmen dann für Aufwandsentschädigungen oder im zweiten Arbeitsmarkt beschäftigt sozialpädagogische und -beratende Aufgaben im Stadtteil, zum Beispiel Streetwork mit Jugendlichen oder Familien- und Gesundheitsberatung bei sozial benachteiligten und bildungsfernen Gruppen, insbesondere Migranten mit mangelnden Deutschkenntnissen. Als »Kiezmütter« werden Migrantinnen zu aktiv Agierenden in ihrem Kiez und darüber hinaus gemacht, so der Diskurs der Träger-Organisationen. Die Meliorations- und Disziplinierungseffekte, die in solche Maßnahmen im Bund-Länder-Programm Soziale Stadt eingelassen sind, können zwar nicht auf den Kiez als präexistente verwaltungs- und haushaltsrechtliche Einheit aufbauen, konstruieren diesen aber auf der Basis von Sozialstatistiken, lokalen Identitätsdiskursen und Baustrukturen neu. Derartige subkommunale Governanceformen stellen den Kiez also als eine unterhalb der Ebene des Bezirks angesiedelte, quasi-administrative Einheit neoliberalen Regierens her. Die zunehmende Lösung des Begriffs Kiez von der Stadt Berlin macht ihn zudem offen für weitere Nutzungen, die ihn auch von seiner Assoziation mit unterbürgerlichen Bewohnergruppen entfernen. Im Rahmen von Inwertsetzungsprozessen und Stadtmarketing wird Kiez zu einem beliebig verwendbaren Label, das soziale Nähe, kulturelle Diversität und räumliche Überschaubarkeit als Imagefaktoren einsetzt und kommodifizierbar macht. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlicht seit Mitte 2011 in unregelmäßiger Folge in ihrem Lokalteil ausführliche Portraits von Frankfurter Stadtteilen. Signet ist ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Mxin Kiez«. Das Herz steht für die liebenswerten Qualitäten, die sowohl problematischen Lagen – wie dem Frankfurter Gallusviertel – als auch arrivierten Vierteln, die zurzeit eine zweite Gentrifizierungsphase durchlaufen, zugeschrieben werden. Das Nordend rund um den Merianplatz wird gar als »der Prenzlauer Berg von Frankfurt« etikettiert (Schulze 2011). Dieser Kiez »erfüllt den Wunsch nach Verwurzelung und Heimat« (ebd.) und ist zugleich ein Ort, an dem die mittelschichtigen Neu-Bewohner ihre hedonistischen Konsumbedürfnisse ausleben können. Zusammenfassend ist festzustellen, dass Kiez-Bezeichnungen heute für größere Stadtareale und auch ganze Bezirke eingesetzt werden, sodass die Bezogenheit auf kleine und kleinste Maßstabsebenen der sozialräumlichen Stadtstruktur verloren geht beziehungsweise durch eine relative Beliebigkeit der Größenordnung ersetzt wird. Auch die soziale Bindung des Begriffs an Arbei146

Kiez

terklasse und Migration ist gelockert worden, indem wohlhabende Innenstadtviertel – in der eben erwähnten Frankfurter Reihe – das Etikett »Kiez« erhalten können. Der Kiez ist in der neoliberalen Stadt also zum Baustein eines sozialpädagogischen Regimes der Konfliktprävention geworden, zum anderen ein Produkt, das für den Raumkonsum urbaner Mittelschichten hergestellt wird. Gisela Welz

L ITER ATUR Binder, Beate (Hrsg., 2002), Nahwelten – Tiergarten-Süd, Berlin. Zur Produktion von Lokalität in einer spätmodernen Stadt. Sonderheft, Berliner Blätter. Ethnographische und ethnologische Beiträge (28). Koch, Liv-Berit (2009), Evaluation des Pilotprojektes »Stadtteilmütter in Neukölln«. Berlin: Camino Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich gGmbH. Lang, Barbara (1998), Mythos Kreuzberg. Ethnographie eines Stadtteils 1961-1995, Frankfurt a.M.: Campus Verlag. Paul, Kerstin, Eva Wittenberg und Heike Wiese (2010), »Da gibs so Billiardraum«. The interaction of grammar and information structure in Kiezdeutsch, in: Vallah, Gurkensalat 4U & me! Current Perspectives in the Study of Youth Language, hg. v. J. Normann Jørgensen, Frankfurt a.M.: Peter Lang, S. 131-145. Rach, Hans-Jürgen (1988), Die Dörfer in Berlin. Ein Handbuch der ehemaligen Landgemeinden in Berlin, Berlin: VEB Verlag für Bauwesen. Schulze, Rainer (2011), Der Prenzlauer Berg von Frankfurt. Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 294, 17. Dezember 2011, S. 47.

147

Krisenregion

Krisenregion – ein geographischer Raum, in dem eine bestehende (soziale, politische, ökonomische) Ordnung im Umbruch begriffen ist. Fragen wir zuerst: Was heißt Krise? Nach Reinhart Koselleck steht der Begriff der Krise in einem dialektischen Verhältnis zum Begriff der Ordnung. Der Begriff der Krise bezeichnet gewisse Zustände als anachronistisch, anstößig oder die Ordnung gefährdend. Dementsprechend ist der Terminus der Ordnung ohne den der Krise nicht zu denken, da die Krise erst Folge der Bewusstwerdung der Normalität ist, was Koselleck (1973 [1959]) mit dem dialektischen Verhältnis von Kritik und Krise grundlegend herausgearbeitet hat. So war für JeanJacques Rousseau die Krise ein Zustand der Herrschaftslosigkeit, der Anarchie und der Auflösung jeder Ordnung, die mit politischen Erschütterungen und Unruhen verbunden ist – eine Art moralische Urteilsvollstreckung. In der Krise werden die Menschen auf ihre Ursprünglichkeit zurückgeworfen. Aus dieser Sicht wird die Krise zur Notwendigkeit; sie ermöglicht erst die Reinigung der menschlichen Gesellschaft von unmoralischer Herrschaft. So betrachtet bedeutet Krise, dass alltägliche, ordnende Routinen, die zur Alltagsbewältigung notwendig sind, aufgrund eines Hindernisses oder Problems nicht mehr greifen. Daher sind Krisen wichtige Momente der Selbstvergewisserung und der Überprüfung normativer Leitfiguren einer gesellschaftlichen Ordnung; sie sind Momente der Reflexion über die herrschende Ordnung. Durch Krisen kommt die Brüchigkeit und Labilität der sozialen Ordnung zum Vorschein. Soziale Ordnung wird konstruiert, um dem Individuum im Hier und Jetzt Halt zu geben und es in einer sich ständig verändernden Welt »krisenfest« zu machen. Während die Kritik die Differenz zwischen der gegebenen Ordnung und der gewünschten zum Vorschein bringt, stellt die Krise bereits die Manifestierung, die Gerinnung der Kritik in der Wahrnehmung dar, die eine Veränderung der herrschenden Zustände als unausweichlich erscheinen lässt. Dies führt weiter zur Frage des Verhältnisses zwischen Krise und Katastrophe. In beiden Fällen werden bislang wenig reflektierte Muster einer sozialen Ordnung krisenhaft bewusst und die bindenden Regeln des gesellschaftlichen Zu148

Krisenregion

sammenlebens sowie die hiermit korrespondierenden Weltbilder (Ideologien, Kosmologien etc.) in Frage gestellt. Koselleck (1973 [1959], S. 151) betont in Bezug auf die Krise, dass »[d]ie innere Garantie [gegeben ist], dass in dem drohenden Zustand der Unsicherheit die politische Krise ein günstiges Ende finden wird«. So impliziert der Begriff der Krise ein eschatologisches Geschichts- beziehungsweise Zukunftsverständnis, indem die Krise bereits die Zuversicht der Überwindung derselben in sich trägt und damit bereits eine Erwartungssicherheit für die Zeit nach der Krise generiert. Dagegen betont der Begriff der »Katastrophe« den kompletten, zeitlich undefinierten Wegfall von Erwartungssicherheit, der kein Licht am Horizont mehr zulässt. Ein Ende des Zustands der Erwartungsunsicherheit ist nicht abzusehen. Weder gibt es Regeln noch Weltbilder, die als Leitplanken der Orientierung herhalten können. Wenn also Krise und Katastrophe gemein haben, dass bisherige Erfahrungen, Normen, Ziele und Werte in Frage gestellt werden, übt die Katastrophe für das betroffene Individuum einen bedrohlichen Charakter aus, während der Krise die Zuversicht der Rückkehr zu einer veränderten Normalität innewohnt. Von Krise – politisch verstanden – spricht man also in einer schwierigen Zeit, in der es zu einer gefährlichen Entwicklung, zu einer Bedrohung der bestehenden sozialen Ordnung gekommen ist und die auf einen Wendepunkt, eine Entscheidung zuläuft, um die Ordnung wieder herzustellen. Politische Krisen können schleichend entstehen oder akut auftreten. Oft erhalten sie erst durch ökonomische und soziale Umbrüche eine besondere Dynamik. In akuten Krisen ist rasches Handeln und oft ein Eingreifen von Außen gefordert. Die Krise kann sich in gesellschaftlicher Anomie, Massenprotesten und Gewaltausbrüchen (bis zum Bürgerkrieg) zeigen. In der Bürokratensprache der Entwicklungshilfebranche werden Krisenländer und -regionen – je nach der angelegten Ordnung – deshalb auch als schwach, fragil oder kollabierend bezeichnet. Allerdings gibt es noch einen weiteren Aspekt, der zu beachten ist. Im Gegensatz zur politischen Krise, die als gesellschaftlich gemacht angesehen wird, erscheint eine Naturkatastrophe als politisch »unschuldig«: Die davon betroffenen Akteure und Staaten haben sich nichts zuschulden kommen lassen. Meist bezeichnen wir ein Land, das eine Naturkatastrophe heimgesucht hat, nicht als Krisenregion, eher als »Katastrophengebiet«. Sri Lanka oder Thailand wurden durch die Naturkatastrophe des Tsunami nicht zu Krisenländern. Eine Krisenregion ist demnach der Ort, in dem sich eine Krise manifestiert. Auch der Begriff Krisenregion basiert auf einer normativen Zuschreibung, der sich aus dem Glauben an eine gewisse Ordnung ableitet. Es scheint, dass das Label Krisenregion vor allem für »politische« Krisen, Bürgerkriege und »fragile« Staaten verwendet wird. Krisen sind nicht unverschuldet, sondern politisch verursacht und heben Anomalien einer angenommenen Ordnung, die es herzustellen gilt, hervor. Es hängt somit vom subjektiven Empfinden, von Repräsentationen und Bedeutungszuschreibungen ab, was als Krise bewertet wird. 149

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Daher stellt sich bei der Beschreibung eines gesellschaftlichen oder staatlichen Zustands die Frage der subjektiven Perspektive der Betrachtung beziehungsweise der Objektivierbarkeit von Ereignissen. Fragen wir nun: Was produziert die Semantik der Krisenregion – welche Handlungen und Nicht-Handlungen, welche Repräsentationen (und Nicht-Repräsentationen)? Erstens eine Temporalität der Tat, der Dringlichkeit, der Unmittelbarkeit, der Entscheidung: Krisen erfordern rasche und radikale Taten der Regierenden. Deshalb war Japan nach Fukushima auch nur kurzzeitig eine Krisenregion – es hat sich weitgehend selbst aus der dreifachen Katastrophe von Erdbeben, Tsunami und Atomunfall herausgearbeitet. Krisenregionen zeichnen sich gerade dadurch aus, dass die Regierenden es nicht mehr schaffen, diesen Kraftakt vorzunehmen: Kongo, Haiti, Somalia. Am Horn von Afrika oder in Afghanistan, wiederum, ist die Krise endemisch, zum Dauerzustand geworden. Damit werden solche Räume zur permanenten Ausnahme der herrschenden politischen Ordnung, zu »unregierbaren Räumen« definiert (Schetter 2010). Zweitens produziert der Krisendiskurs eine Logik des Ausnahmezustands: Ist die Ordnung in Auflösung, gelten auch ihre Regeln nicht mehr. Es entsteht eine Art Ausnahmezustand, in dem latent noch Regeln und Ordnungen vorhanden sind, aber nicht mehr zur Anwendung kommen. Es ist oft die Ordnung der Unordnung, einer scheinbaren Anarchie. Doch ist solche Unordnung selten regellos, anarchisch. Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, schreibt Carl Schmitt (2009 [1922]). In der Krise ist aber oft nicht klar, wer souverän im schmittschen Sinne sein kann. Meist finden wir eine Vielzahl von potenziellen Souveränen, die um politische Macht konkurrieren und ein Nebeneinander verschiedener sozialer Ordnungen schaffen. Und diese Souveräne sind nicht nur lokale, sondern auch globale Akteure. Drittens nimmt sich der Krisendiskurs ein normatives »Recht« auf Eingreifen heraus: Die Logik des Ausnahmezustands bezieht sich auch auf die internationale Gemeinschaft: In politischen Krisen werden schon einmal die Regeln des Völkerrechts ausgesetzt, die Norm der Souveränität oder auch nur: die soziale Ordnung einer lokalen Gemeinschaft. Es muss geholfen, Schlimmeres abgewendet werden. Der Ausnahmezustand umfasst humanitäre Hilfe ebenso wie militärische Intervention (Duffield 2007). Im ersten Fall entsteht das Feld humanitärer Interventionen, die außerhalb des bestehenden politischen Systems »direkt« an die Bedürftigen verteilt wird. Oder die Norm des »responsibility to protect« (r2p), die ausländischen Mächten einen normativen Raum zur Intervention in Krisenländern bietet, um die Bevölkerung zu schützen, wenn der eigene Souverän dazu nicht willens oder in der Lage ist. Viertens entstehen bei solch einem Eingreifen vielfältige Paradoxien. Es kommt zum widersprüchlichen Zusammenspiel von Gutmenschentum, postkolonialem Paternalismus und der Verfestigung globaler Herrschaftsstrukturen. Auf der einen Seite soll geholfen werden. Auf der anderen Seite definieren 150

Krisenregion

gleichzeitig die Interventionisten selbst, wann und in welcher Form. Wieso wird in manchen Krisen militärisch interveniert und in anderen nicht? Warum fließt humanitäre Hilfe in manchen Krisensituationen so großzügig und in anderen nur spärlich? Wer sich das Recht auf Eingreifen herausnimmt, hat auch das Recht auf Nicht-Eingreifen. Wer Hilfe verteilt, entscheidet selbst, wer sie bekommt und welche Hilfe verteilt wird (zum Beispiel amerikanischer Weizen). Wer Hilfe bringt, bewegt sich in einem Raum des Ausnahmezustands, der außerhalb etablierter Regeln des Zusammenlebens Ordnungen in Frage stellt und neue errichtet, die nach den Regeln der internationalen Hilfsindustrie arbeiten. Fünftens bieten Krisen den schöpferischen Raum, um eine gewünschte Ordnung herzustellen. In der Krise kann der Kern zur Erneuerung der alten Ordnung liegen. Building back better, das war der Slogan des Wiederaufbaukaravans nach dem Tsunami im Indischen Ozean, der 2004 in Sri Lanka, Thailand, Indien und Indonesien große Verwüstungen angerichtet hatte. Dabei bezieht sich dies nicht nur auf die physischen Strukturen der zerstörten Infrastruktur, sondern oft auch auf die soziale Ordnung, die, wie Naomi Klein (2007) argumentiert, im Wiederaufbau mit dem Modell des globalen Neoliberalismus in Einklang gebracht werden soll, manchmal aber auch zur Etablierung lokaler Inseln utopischer Gesellschaftsmodelle dient. Auch aus politischen Krisen, Revolutionen und Bürgerkriegen kann der Impuls für eine bessere Gesellschaftsordnung erwachsen. Manche militärische Intervention nährt sich aus dem politischen Ziel, eine bessere Gesellschaftsordnung zu schaffen, man denke nur an die Interventionen in Afghanistan und Irak. Aber wer definiert, was diese bessere Ordnung ausmacht? Sechstens rufen Krisen einen launischen Voyeurismus bei den internationalen Medien hervor. Das Leiden anderer betrachten, wie es Susan Sontag (2003) nannte, scheint einerseits eine Obsession zu sein, andererseits einer gewissen Ermüdung zu unterliegen. Welche Bilder menschlichen Leids berühren uns noch? Warum regte der Tsunami im Indischen Ozean unser Mitleid an und löste eine Spendenwelle aus, aber das Leiden einer von Hungersnot bedrohten somalischen Nomadin weit weniger (Korf 2006)? Liegt es daran, dass wir im einen Fall das reine Opfer einer Naturkatastrophe sehen, im anderen aber die Folge politischer Krise und sozialer Anomie? Naturkatastrophen kommen meist mit einer großen Wucht, politische Krisen kommen schleichend. Aus diesen sechs Punkten folgen siebtens die komplexen Geographien der Krise. Dies fängt schon bei der Frage der räumlichen Abgrenzung an: Wo macht die Krise halt? Eine Krisenregion hat Grenzen, doch oft sind diese diffus. Krisen hören selten an den Staatsgrenzen auf, was der Begriff Krisenregion (im Gegensatz zu Krisenland) bereits andeutet: So sprechen wir von der »Krisenregion am Golf«; von der »Great Lakes Region« als Krisenraum – oder vom Horn von Afrika als Krisenherd. Der Begriff der Krisenregion, trotz seiner dif151

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

fusen Grenzen, suggeriert, dass die Krise dort verortet werden kann; dort kann sie bewältigt werden, wenn nicht von innen heraus, so doch wenigstens durch Interventionen »von außen«. Doch was ist, wenn die Krise nicht auf diesen Container begrenzt bleibt? Wenn sie über die Grenzen tritt? Einerseits denken wir an die Flüchtlinge, die aus den vermeintlichen Krisencontainern ausbrechen und nach Europa flüchten. Aus dieser Situation heraus ist schon manche Intervention in Krisencontainer befürwortet worden, um den Strom an Flüchtlingen zu stoppen. Andererseits hat Europa als Krisenregion selbst eine neue Bedeutung erhalten. Krisen waren früher weit weg. Krisenregionen – das waren die Probleme der Anderen: Afghanistan, Irak, Somalia, Sierra Leone, Kongo, Osttimor usw. Mit der globalen Finanzkrise 2007 und ihren politischen und ökonomischen Folgen ist uns die Erfahrung der Krise bedenklich nahe gerückt: Griechenland, Spanien, sogar Italien – und selbst Frankreich beginnt zu wanken. Mit der globalen Finanzkrise sind viele Euro(-päische) Länder selbst zu Krisenländern geworden. Die Krisenländer werden uns immer ähnlicher. Früher bedeutete Krise: humanitäre Krise, Bürgerkrieg, Naturkatastrophe. Heute auch: Krise des Finanzkapitalismus. In den Semantiken ihrer Bewältigung greifen auch hier die Geographien der Krise: Die Eurokrise erfordert rasches Eingreifen. Die Dramatik der Lage erfordert eine Art Ausnahmezustand, in dem bestehende Regeln ausgesetzt und neue gesetzt werden. Kann das Überschwappen der Krise in andere Länder verhindert werden? Muss von außen eingegriffen werden? Souverän ist, wer in den Eurorettungsschirm einbezahlt. Souverän auch deshalb, weil über die Konditionalitäten neue Ordnungen in den Krisenländern geschaffen werden. Finanzielle Unterstützung kommt gepaart mit Paternalismus. Schafft die Eurokrise auch einen schöpferischen Raum des Neuen? Fragen wir die Occupy-Bewegung, so erhalten wir wohl eine andere Antwort als von einem Administrator des Eurorettungsmechanismus. Die Globalisierung der Welt ist auch die Globalisierung ihrer Krisen. Verorteten wir früher die Krisen weit weg, sind Krisenregionen als Eurokrisenländer unsere Nachbarn geworden. Auch lassen sich die Folgen von Krisen nicht mehr auf einen Containerraum eingrenzen. Die Krise kommt zu uns – in Form von Flüchtlingsströmen. Doch ist dies noch die Krise der Anderen, deren Auswirkungen uns treffen. Die Eurokrise hingegen ist direkt auch unsere Krise, eine Krise des Kapitalismus tout court, eine globale Krise des Systems. Apokalyptisch gesinnte Beobachter sehen in den Krisen jedoch Vorboten des Untergangs – also der Katastrophe. Dann wendet sich die Verknüpfung vieler Krisen zu einem Zustand, in dem die Rückkehr zu einer anvisierten Ordnung nicht mehr möglich ist; hier ist etwa der globale Klimawandel als solch ein Szenario zu nennen. Was wir in Form einiger krasser Fälle von Krisenregionen heute sehen – soziale Anomie, Gewalt, Verzweiflung – wird von den Apokalyptikern zu

152

Krisenregion

unserer Zukunft erklärt, denen weite Teile der Welt in Form von Klimakriegen und Klimaflüchtlingen anheimfallen werden (Welzer 2008). Unser Krisenbewusstsein hat sich gewandelt. Kartierten wir Krisenregionen nach dem Ende des Kalten Krieges vor allem außerhalb Europas als Anomalie, so ist die Krise zunehmend zur Normalität geworden, zur systemimmanenten Bedrohung des globalen Kapitalismus und der herrschenden politischen Ordnungen Europas (Harvey 2011). Die Moderne erlebt sich selbst als Krise – der Ausnahmefall ist zur Normalität geworden (Nassehi 2012). Damit kann die Ausnahme aber nicht mehr nur in Krisenräumen à la Afghanistan oder Somalia verortet werden. Durch diese Bedeutungsverschiebung erhalten auch die Geographien der Krise, die wir für Somalia, Kongo, Osttimor, Afghanistan, ja auch Kosovo noch gelten ließen, einen schalen Beigeschmack, wenn es um Griechenland, Portugal oder Spanien geht. Doch wann fangen wir an, die Geographien der Krise auch in Somalia, Kongo, Osttimor und Kosovo zu hinterfragen? Benedikt Korf und Conrad Schetter

L ITER ATUR Duffield, Mark (2007), Development, Security and Unending War: Governing the World of Peoples, Cambridge: Polity Press. Harvey, David (2011), The Enigma of Capital and the Crises of Capitalism, London: Profile Books. Klein, Naomi (2007), Die Schockstrategie: der Aufstieg des Katastrophenkapitalismus, Frankfurt a.M.: Fischer. Korf, Benedikt (2006), Geographien der Moral, Geographische Zeitschrift 94(1), S. 1-14. Koselleck, Reinhart (1973 [1959]), Kritik und Krise, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Nassehi, Armin (2012), Der Ausnahmezustand als Normalfall, Kursbuch (170), Krisen Lieben, S. 34-49. Schetter, Conrad (2010), »Ungoverned Territories« – eine konzeptionelle Innovation im »War on Terror«, Geographica Helvetica 65(3), S. 181-188. Schmitt, Carl (2009 [1922]), Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin: Dunker & Humblot. Sontag, Susan (2003), Das Leiden anderer betrachten, Frankfurt a.M.: Fischer. Welzer, Harald (2008), Klimakriege, Frankfurt a.M.: Fischer.

153

Kritische Infrastruktur

Dem Wortsinn nach sind Infrastrukturen das Darunterliegende oder der Unterbau. Auch wenn nicht alle Infrastrukturen so offensichtlich der Sicht entzogen sind wie Kanalisationen, U-Bahnen, Strom- und Wasserleitungen, oder weitgehend unsichtbar, wie etwa satellitengestütze Telekommunikationsnetze, so bleiben doch die Straßen auf denen wir fahren, die Schienen über die wir gleiten und viele soziale Infrastrukturdienste in einem gewissen Sinne opak. Wir setzen ihr Funktionieren voraus, bauen darauf, dass alles klappt. Als ebenso unsichtbar wie fundamental drängen sich Infrastrukturen als Gegenstand der Gesellschaftswissenschaften geradezu auf. Denn nichts treibt die Sozialforscherin so sehr, wie ihr geradezu voyeuristisches Interesse daran, was die Gesellschaft untendrunter trägt, also stabilisiert, ermöglicht, fundiert oder auch unterminiert. Wenn Marx sich die industrialisierte Gesellschaft durch den Abstieg in die Fabrik erschließen konnte, dann liegt der Zugang zur »Netzwerkgesellschaft« (Castells 1996) vielleicht unter dem Gullideckel, in der Kanalisation. Jede Gesellschaft – und das gilt für eine vernetzte und globalisierte besonders – muss eminent infrastrukturell sein; nur so können sich jenseits von Interaktionen im Nahfeld komplexe soziale Operationen vollziehen, die in der Lage sind, zeitliche und räumliche Distanzen zu überbrücken. Dabei überbrücken Infrastrukturen streng genommen nicht nur bereits bestehende Räume, sondern erschließen diese überhaupt erst, machen sie be- und erfahrbar. Die Globalität der Globalisierung verweist auf eine infrastrukturell erschlossene Welt. Schon immer bestand eine gewisse Affinität von Infrastruktur und Macht – jedes Imperium ist auf die infrastrukturelle Durchdringung des von ihm okkupierten Gebietes angewiesen, die Grenzen seiner Infrastrukturnetze sind zugleich auch die Grenzen seiner Macht. Das gilt für das römische Imperium und seine Aquädukte und Straßen ebenso wie für den europäischen Kolonialismus und seine infrastrukturellen Großprojekte oder die Verlegung des Glasfaserkabels für das Empire der Globalisierung. Neu ist aber, dass seit der Jahrtausendwende der Schutz sogenannter »Kritischer Infrastrukturen« in einer Reihe westlicher Staaten wesentlicher Bestandteil sicherheitspolitischer Stra154

Kritische Infrastruktur

tegien geworden ist. Die zuvor »schweigende« und unsichtbare Grundlage der Machtausübung wurde also zum Kontrollproblem erklärt und damit zur grell beleuchteten und laut besprochenen Zielscheibe der Macht. Wie so viele Strategien der Macht wurde auch der Schutz Kritischer Infrastrukturen aus dem Geist des Krieges beziehungsweise des Militärs geboren. Während dieser Geist jedoch zumeist im Traum perfekter Kontrolle zum Vorschein kam, war es im Fall der Kritischen Infrastruktur der Alptraum des Kontrollverlustes, der die Schutzbedürftigkeit der Infrastruktur offenbarte. Seit dem Ersten Weltkrieg hatte sich das strategic bombing als militärstrategische Doktrin etabliert, die insbesondere im Zweiten Weltkrieg praktiziert wurde. Der Krieg sollte nicht mehr primär gegen die Zivilbevölkerung geführt werden, sondern auf kritische Punkte im militärischen Versorgungsnetz des Feindes zielen (Galison 2001; Collier und Lakoff 2008). Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Strategie nicht lange geheim bleiben konnte, sodass sich – sobald der Zweite Weltkrieg beendet und durch den Kalten Krieg abgelöst war – in den USA verstärkt die Frage aufdrängte, welche Infrastrukturen im »Heimatland« ein Opfer von feindlichen Angriffen (neuerdings auch durch Atomwaffen) sein könnten. Ein Perspektivwechsel wurde notwendig: Das Heimatland musste »mit den Augen des Feindes«, durch das »bombsight eye« (Galison 2001, S. 29) betrachtet werden. Die Erfahrung mit strategic bombing hatte gezeigt, wie gefährlich die räumliche Konzentration von kriegswichtiger Infrastruktur war; schon einige wenige gezielte Luftschläge konnten ganze Industriezweige lahm legen. Mithilfe des »vulnerability mapping« (Collier und Lakoff 2008, S.  12) wurde versucht, die unbestimmte Gefahr (das ob und wann eines Atomangriffs sind schließlich nicht bekannt), kartierbar zu machen und damit zumindest räumlich in den Bereich des Kalkulierbaren zu bringen. Über die Karte eines Gebietes wurde eine Folie gelegt, die den Zerstörungsradius einer Atombombe anzeigte. Auf diese Weise ließ sich abschätzen, welche Folgen ein Atomangriff auf dem jeweiligen Gebiet hätte; die Verwundbarkeiten vor Ort wurden sichtbar und deren Reduzierung planbar. Wenn die räumliche Konzentration zentraler Industriezweige und militärischer Einrichtungen in einigen wenigen urbanen Zentren die Verletzlichkeit der Infrastruktur und damit des Heimatlandes so enorm erhöhte, dann versprach Dezentralisierung eine Reduzierung dieser Verwundbarkeit und machte so den Raum zum stärksten Verbündeten des Heimatschutzes: »Space is the one thing that really works.« (Galison 2001, S.  16) Gemäß der neuen Strategie einer »distributive preparedness« (Collier und Lakoff 2008) wurde nun versucht, die Infrastruktur so im Raum zu verteilen, dass im Notfall der Kollaps einzelner Elemente kompensiert werden könnte. Seit dem Ende des Kalten Krieges hat die Sorge um mögliche Störungen der Informations- und Kommunikationsinfrastruktur den Bemühungen zum Schutz Kritischer Infrastrukturen neuen Auftrieb gegeben (Dunn Cavelty 155

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

2008). Dabei lässt der Fokus auf die neuen virtuellen Welten die Zentralität des Raumes in den Sicherheitskalkülen nicht verschwinden. Vielmehr wird die »neue Geographie« des Informationszeitalters als potenziell bedrohlich wahrgenommen. So lässt die 1996 vom damaligen US-Präsidenten Bill Clinton ins Leben gerufene President’s Commission on Critical Infrastructure Protection in einem Bericht mit dem vielsagenden Titel Critical Foundations verlauten: »We must learn to negotiate a new geography, where borders are irrelevant and distances meaningless, where an enemy may be able to harm the vital systems we depend on without confronting our military power.« (PCCIP 1997, S. ix) Der Bericht kann in vielerlei Hinsicht als Blaupause kommender Bemühungen um den Schutz Kritischer Infrastruktur angesehen werden. In aller Deutlichkeit wird die Bedeutsamkeit der Infrastrukturen für westliche Gesellschaften und damit ihre Kritikalität betont. Infrastrukturen werden als die Grundlagen, die »critical foundations« der Gesellschaft ausgezeichnet: »Reliable and secure infrastructures are thus the foundation for creating the wealth of our nation and our quality of life as a people.« (Ebd., S. 5) Wobei zu diesen »lifelines on which we as a nation depend« (ebd., S. vii), »transportation, oil and gas production and storage, water supply, emergency services, government services, banking and finance, electrical power, information and communication« (ebd., S.  3f.) gehören. An diesen Beschreibungen der Infrastruktur und ihrer Kritikalität hat sich seitdem wenig geändert. Sie tauchen fast wortgleich in Sicherheitsstrategien einer ganzen Reihe westlicher Industrienationen auf. Allerdings hat sich seit dem 11. September 2001 das Spektrum an Bedrohungen erweitert. Der Fokus auf die Sicherheit von Informationsinfrastrukturen hat sich verschoben. Es wird wieder stärker die sehr physische Bedrohung durch »Naturereignisse, technisches/menschliches Versagen, sowie durch Terrorismus, Kriminalität und Krieg« betont, wie es in der »Nationale[n] Strategie zum Schutz Kritischer Infrastrukturen« des Bundesministerium des Innern (BMI 2008, S. 7) unter Berufung auf den »All-Gefahren-Ansatz« heißt. Die Kritikalität der Infrastruktur wird verstanden als »relatives Maß für die Bedeutsamkeit einer Infrastruktur in Bezug auf die Konsequenzen, die eine Störung oder ein Funktionsausfall für die Versorgungssicherheit der Gesellschaft mit wichtigen Gütern und Dienstleistungen hat« (ebd., S. 5). »Kritisch« wird also etymologisch durchaus korrekt verwendet: Kritisch sind die Infrastrukturen, weil sie »entscheidend« sind, einen »Unterschied« machen. Scheinbar fehlt jedoch die Widerspenstigkeit und Reflexivität, die »Kritik« im emphatischen Sinne ausmacht. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass der Blick auf Kritische Infrastrukturen einige Eigenschaften besitzt, die mit der Geste der Kritik durchaus verwandt sind. So gehört es zu den grundlegenden Einsichten des kritischen Denkens über Technik, dass die Bedeutsamkeit der Technik für uns lebensweltlich solange unsichtbar bleibt, bis ein Störfall unsere Verwiesenheit auf die Technik beziehungsweise das technische Verweisungs156

Kritische Infrastruktur

gefüge unserer Lebensform offenbar werden lässt. Immer wieder rufen die Beschützer_innen der Infrastruktur gemäß einer wohlkalkulierten rhetorischen Dramaturgie die unhinterfragte Vertrautheit im Umgang mit der Infrastruktur auf – »Life is good in America because things work. When we flip the switch, the lights come on. When we turn the tap, clean water flows« (PCCIP 1997, S. 3) – um sodann den dunklen Schatten möglicher Bedrohungen aufziehen zu lassen, der das elektrische Licht des guten Lebens trüben und Routinen in Frage stellen könnte: »Disruption of any infrastructure is always inconvenient and can be costly and even life threatening. […] The threat is real enough.« (Ebd., S. 5f.) Der erste Schritt zum Schutz Kritischer Infrastruktur muss daher in der Vergegenwärtigung möglicher Bedrohungen bestehen, denn das Gefühl der Sicherheit ist selbst eine Gefahr. Dabei offenbart diese Vergegenwärtigung, die in Gedankenspielen, Gefahrensimulationen und Katastrophenschutzübungen systematisch praktiziert wird, nicht nur die Gefährdung durch äußere Bedrohungen, sondern auch das endogene Gefährdungspotenzial, das von den Infrastrukturen ausgeht: »Durch die große Abhängigkeit von infrastrukturellen Dienstleistungen ist die Gesellschaft sehr verletzlich geworden, wobei diese Verletzlichkeit nicht nur durch Gefahren und Risiken von außen, sondern auch aufgrund der hohen Interdependenzen zwischen den einzelnen Infrastruktursystemen im Inneren stark angewachsen ist.« (BMI 2008, S. 7) In dieser Erkenntnis liegt der zweite Sinn, in dem der Blick auf Kritische Infrastruktur kritisch ist. Risiken werden nämlich nicht mehr nur der Umwelt oder dem Anderen zugeschrieben. Vielmehr wird die »Dialektik der Aufklärung«, also die Verschlingung von Fortschritt und Rückschritt, Rettendem und Gefahr, im Prozess der modernen Rationalisierung explizit berücksichtigt. Im einschlägigen Jargon heißt das »Verletzlichkeitsparadoxon«: »In dem Maße, in dem ein Land in seinen Versorgungsleistungen weniger störanfällig ist, wirkt sich jede Störung umso stärker aus.« (Ebd., S. 8) Diese endogene Gefährdung äußert sich in Form von »Domino- und Kaskadeneffekten« (ebd.), durch die sich Störungen blitzschnell von einem Ort zum anderen fortsetzen können. Im Kalten Krieg konnte die Verwundbarkeit der Infrastruktur noch durch das »vulnerability mapping« ermittelt und damit eingehegt werden. Heute scheint dies nicht mehr möglich zu sein: »In the networked world of today, the effects of such physical attacks could spread far beyond the radius of a bomb blast.« (PCCIP, S. 5) Während die exogene Gefahr also in der Unterbrechung liegt, besteht die endogene Gefahr in der Ausbreitung dieser Unterbrechung. Das heißt aber auch, dass schon kleine Irritationen große Störungen hervorrufen können und somit die Unterscheidung von exogener und endogener Gefährdung flüssig wird. Gleichwohl kann die hohe Übertragbarkeit von Störungen nicht gänzlich unterbunden werden. Schließlich besteht die wesentliche Tugend der Infrastrukturen ja gerade darin schnelle Übertragung, ja Ansteckung zu gewährleisten: Der »space of flow« (Castells 157

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

1996, S.  376) ist immer auch ein viraler Raum – im Guten wie im Schlechten. Die schwierige und häufig grotesk misslingende Aufgabe besteht darin gefährliche Zirkulationen zu regulieren, ohne damit die erwünschten flows zu unterbrechen. Disziplinarische Maßnahmen der Stillstellung, Einsperrung, Abgrenzung, Blockierung und Unterbrechung sind zwar de facto wesentlicher Bestandteil gegenwärtiger Sicherheitsmaßnahmen, treten aber immer wieder in Konflikt mit der Logik der Kontrolle, der es gerade darum geht, Unterbrechung beziehungsweise disconnectedness zu unterbinden. Der Raum der Kontrolle ist nicht der parzellierte und einschließende Raum der Disziplin, sondern ein »Milieu der Zirkulationen« (Foucault 2004, S. 40). Paradigmatischer Ort ist hier nicht mehr das Gefängnis, sondern vielmehr der freeway, dessen größte Gefahr in der Unterbrechung besteht: »A control is not a discipline. In making freeways […] you don’t enclose people but instead multiply the means of control. […][P]eople can drive infinitely and ›freely‹ without being at all confined yet while still being perfectly controlled.« (Deleuze 1998, S. 18) Entgegen dem Phantasma der Körperlosigkeit und Unverwundbarkeit, das in der Beschwörung einer grenzenlosen und gewissermaßen atopischen new geography der Informationsgesellschaft ebenso zum Vorschein kommt, wie in vielen sozialwissenschaftlichen Analysen der Gegenwartsgesellschaften, stellt die Sorge um den Schutz der Kritischen Infrastruktur eine Akzentverschiebung dar. Gerade weil die für unsere Gesellschaften lebenswichtigen Zirkulationen einen zwar vernetzten, aber nichtsdestotrotz materiellen Raum durchschreiten müssen, sind die Gesellschaften gefährdet und verwundbar. Das heißt freilich nicht, dass die Bemühungen um den Schutz Kritischer Infrastruktur – als »down to earth-gekommene« Star Wars-Phantasie der Macht – nunmehr unproblematisch sind. Fraglich ist, ob Schutz gleichverteilt wird, fraglich ist, wer oder was »kritisch« und das heißt entscheidend genug ist, um geschützt zu werden. Trotz ausgiebiger Rückgriffe auf die Logik des Netzwerkes, die ja mit dem Versprechen der Hierarchielosigkeit einhergeht, fällt auf, dass die Realpolitik des Infrastrukturschutzes vor allem auf eine Sicherung der Knotenpunkte setzt. Schutz soll vor allem bekommen, wer »too big to fail« ist. Wer kein Knotenpunkt und klein genug zum Scheitern ist, verschwindet schnell von der Landkarte der Kritischen Infrastruktur, national und vor allem international, wo ganze Landstriche und Kontinente als nicht kritisch und schützenswert wahrgenommen werden. Gleichwohl liegt die Entscheidung darüber, wer oder was kritisch ist, nicht nur bei Militärstrateg_innen und Sicherheitsexpert_innen. Vielmehr bleibt diese Frage umstritten und damit im eigentlichen Sinne kritisch. In Tarifauseinandersetzungen zeigt sich immer häufiger die große Verhandlungsmacht von Arbeiter_innen, wie Fluglot_innen, Hafenarbeiter_innen oder Lokomotivführer_innen, die durch ihre Position an bestimmten Punkten der Infrastruktur zum kritischen Faktor werden können. Auch anarchistischen 158

Kritische Infrastruktur

Sabotagephantasien lässt die Kritische Infrastruktur Raum. So heißt es bei der Aktivist_innengruppe Comitée Invisible: »The technical infrastructure of the metropolis is vulnerable. […] Information and energy circulate via wire networks, fibres and channels, and these can be attacked.« (Invisible Committee 2009, S. 111f.) Man muss die Zielsetzung und Strategien dieser Vorhaben und Bewegungen nicht teilen, um zu sehen, worauf es ankommt: Die Kritische Infrastruktur ist in der Tat kritisch, insofern es auf konkrete Entscheidungen ankommt, wer oder was einen Unterschied macht und des Schutzes bedarf. Kritik besteht in diesem Sinne in einem geräuschvollen Kritisch-Werden bestimmter Teile der Infrastruktur. Deshalb eignet sich die Infrastruktur auch nicht dazu, zu einer neuen Unter- oder Grundlage der Gesellschaft, zu einer Struktur erklärt zu werden. Kritische Infrastrukturen sind nicht nur immer in Aktion, sondern vor allem auch umkämpft und insofern kein ruhiger Grund, sondern ein Kraftfeld. Andreas Folkers

L ITER ATUR Bundesministerium des Innern (Hrsg., 2008), Nationale Strategie zum Schutz Kritischer Infrastrukturen (KRITIS-Strategie), Berlin. Castells, Manuel (1996), The Information Age: Economy, Society, and Culture. Volume 1: The Rise of the Network Society, Oxford und Malden: Blackwell Publishers. Collier, Stephen und Andrew Lakoff (2008), Distributed Preparedness: The spatial logic of domestic Security in the United States, Environment and Planning D: Society and Space 26(1), S. 7-28. Deleuze, Gilles (1998), Having an Idea in Cinema, in: Deleuze and Guattari. New Mappings in Philosophy, Politics and Culture, hg. v. Eleanor Kaufmann und Kevin Jon Heller, Minneapolis: University of Minnesota Press. Dunn Cavelty, Myriam (2008), Like a Phoenix from the Ashes: the Reinvention of Critical Infrastructure Protection as distributed security, in: Securing »the Homeland«. Critical Infrastructure, risk and (in)security, hg. v. Myriam Dunn Cavelty und Kristian Søby Kristensen, Abingdon und New York: Routledge, S. 40-62. Foucault, Michel (2004), Geschichte der Gouvernementalität 1: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Galison, Peter (2001), War against the Center, Grey Room (4), S. 5-33. Invisible Committee (2009), The Coming Insurrection, Los Angeles: semiotext(e). The President’s Commission on Critical Infrastructure Protection (1997), Critical Foundations. Protecting America’s Infrastructure. Washington. 159

Labor

Labore sind Lehr-, Arbeits- und Forschungsstätten, deren Geschichte bis in die Frühe Neuzeit zurückreicht. Es sind Orte der Gegenwart in Ausbildung, Forschung und Dienstleistung. Sie gibt es an akademischen Institutionen und anderswo, zum Beispiel in Unternehmen. Sie variieren in Größe und Zweck und finden sich eingebettet in jeweils historisch spezifische kulturelle Umwelten. Dass es nicht nur einen Labortypus gibt, liegt auf der Hand, eine Gesamtdarstellung oder vergleichende Geschichte des Labors, so Henning Schmidgen (2011, S. 2), existiert jedoch nicht. Wie würden Sie ein Labor malen oder beschreiben? Es scheint sich das Bild eines Raumes, in welchem der Wissenschaftler – in der Regel vorgestellt als Mann – in enger Verbundenheit mit seinen Dingen laboriert, hartnäckig in unserer Vorstellungswelt festgesetzt zu haben. Sogar von einer »Ikonographie« (ebd., S. 1) des Labors ist die Rede. Das Faszinosum Labor als Ort wissenschaftlicher Praxis ist Gegenstand sozial- und geisteswissenschaftlicher Arbeiten. Seit den 1980er Jahren ist es ein beliebtes Unternehmen in naturwissenschaftliche Labore zu blicken, um dort das Laboratory Life (Latour und Woolgar 1986), das Interagieren der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Dingen und die »Entdeckung/Erfindung/Konstruktion« (Latour 1996, S.  107) von Natur zu beobachten. Aus verschiedenen Interessenslagen und Fragestellungen heraus sind unzählige Laborstudien entstanden. Etwas vergessen ist der sehr viel frühere Einsatz Ludwik Flecks (1980 [1935]), der bereits in den 1930er Jahren ein Buch zur Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache schrieb und anhand der Syphilis die soziale Bedingtheit wissenschaftlicher Erkenntnis und deren Wandel untersuchte. Hatte Max Weber (1991 [1918]) von einer Entzauberung der Welt aufgrund einer »intellektualistische[n] Rationalisierung durch Wissenschaft und wissenschaftlich orientierte[n] Technik« gesprochen, so ließen sich die Laborstudien als ein Versuch der Entzauberung der Naturwissenschaften lesen: Der wissenschaftshistorische oder sozialwissenschaftliche Blick hinter die Labormauern entzaubert gewissermaßen das Labor als »Zentrum rationaler Aufklärung« (Latour 2004, S. 19). Die Objektivität naturwissenschaftlicher Erkenntnis wird durch die Untersuchung sozio-kulturel160

Labor

ler Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis dekonstruiert. Natürliche Entitäten sind den sozialen Prozessen nicht mehr äußerlich. Sie sind nicht mehr die stummen Objekte der Wissenschaft. Zum einen werden Vorstellungswelten in die Dinge integriert und Handeln wird an Dinge delegiert, in diesem Sinne kann man davon sprechen, dass Dinge handeln. Zum anderen besitzen die natürlichen Entitäten eine eigene Materialität, die beizeiten dazu führt, dass der Forschende auf Widerstand stößt. Labore sind die prominenten Orte des Forschens in der Moderne, die Experimentalsysteme beherbergen. Nach dem Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger (2002, S. 22) sind es solche Systeme, die eingerichtet werden, um »unbekannte Fragen auf Antworten zu geben, die der Experimentator ebenfalls noch gar nicht klar zu stellen in der Lage ist«. Man könnte auch sagen, dass Labor und Experimentalsystem zusammen ein historisch spezifisches Ensemble aus Menschen und Dingen, aus Wissenspraktiken und institutionalisierten Rahmungen bilden, in welchem wissenschaftliche Tatsachen hervorgebracht werden. War Wissenschaft lange Zeit ohne das Labor kaum vorstellbar, so ist Wissenschaft heute ohne Computer kaum mehr möglich. Das Labor, heute ein »Computerlabor« (Gramelsberger 2010, S. 276); ein »Dry Lab« (Merz 2006)? Die Computational Sciences mit ihren digitalen Forschungsinfrastrukturen ermöglichen eine vernetzte Forschung auf neuem Niveau. Mit dem Internet sind neue Beteiligungsmöglichkeiten für Menschen außerhalb der Wissenschaft an Forschungsprojekten entstanden (Stichwort Crowdsourcing, siehe beispielsweise www.galaxyzoo.org). Internationale Großprojekte wie das CERN und sein Teilchenbeschleuniger sind darauf angewiesen, dass die Petabytes an in Experimenten produzierten Daten zeitnah in weltweit verstreuten Projekten weiterverarbeitet werden. Die Computational Sciences wandeln Wissenschaft und damit verändern sich auch die Räume des Wissens. Das betrifft nicht nur die Verwaltung und Archivierung von Daten, sondern auch die Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse mittels des Experimentierens mit »in-silico Experimentalsystemen« (Gramelsberger 2010, S.  157) im Computer als neuem »Forschungs-, Experimentier- und Prognoseinstrument« (ebd., S.  105). Entsprechend gewinnen Computational Departments und Rechenzentren an Bedeutung. Das Labor kennt aber – neben der Gewinnung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse – noch eine andere Praxis, nämlich die der Labordienstleistung. Jeder hat in seinem Leben schon einmal einen Teil seiner Körpersubstanzen an einen solchen Ort schicken lassen oder eine Probe selbst verschickt. Aber wer kennt ein Labor von innen? Man könnte das Argument anführen, dass dies auch nicht nötig sei, da man in einer so ausdifferenzierten Gesellschaft wie der unsrigen nun einmal arbeitsteilig vorgehen müsse. Was im Labor geschieht, sei deshalb irrelevantes Wissen (so wie man auch nicht wissen muss, wie ein 161

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Auto funktioniert, um Auto zu fahren). Diese Strategie der Trennung, die auf Komplexitätsreduktion setzt, muss als Strategie und nicht als nicht in Frage zu stellender Zustand begriffen werden. Das wäre die Voraussetzung dafür, das Dienstleistungslabor in das Feld gesellschaftlicher Aufmerksamkeit zu integrieren und an Laborpraktiken spezifisch zu verhandeln, was als Wissen von Bedeutung zu gelten habe. Nun bleibt die Black Box Labor in der Regel verschlossen. Wir interessieren uns nicht dafür, wie in routinierten und standardisierten Verfahren Materialproben unter Einsatz von Maschinen abgearbeitet werden. Am Ende steht ein Ergebnis, welches das Labor verlässt, zum Auftraggeber gelangt und in dortige Prozesse eingespeist wird – wo das Ergebnis vermittelt durch einen Experten auf uns trifft, uns betrifft, da hören wir hin. Labore im medizinischen Bereich führen unzählige Routineuntersuchungen durch. Privatunternehmen bieten seit einigen Jahren DNA-Analysen für Mensch und Tier an. Andere Unternehmen verkaufen Labordienstleistungen im Umwelt- und Lebensmittelbereich. Wenn eine Blutprobe in ein Labor geschickt wird, um ein Blutbild zu erhalten, also eine standardisierte Zusammenstellung wichtiger Befunde, dann geht man davon aus, dass dies kein Prozess mit ungewissem Ausgang ist. Doch gerade die Offenheit der »epistemischen Dinge« (Rheinberger 2002, S. 24ff.), der ungewisse Ausgang des Experiments und die Möglichkeit zum Scheitern, machen – neben den »technischen Bedingungen« (ebd.) – Laborforschung aus. Arbeits- und Raumteilung, die Differenzierung zweier unterschiedlicher Modi der Wissensproduktion (Forschung und Service) und eine entsprechende Topologie des Labors (Wissenschaftsraum und Dienstleistungsraum) erscheinen einleuchtend, oder? Im Folgenden will ich dies anhand einer Fallstudie zu Brustkrebs-Genen etwas genauer beleuchten. Schauplatz ist das Labor der Tumorgenetik (das heute nicht mehr besteht) am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin. Die Tumorgenetik war kein abgeschlossener Ort, sondern Teil sowohl einer internationalen wissenschaftlichen Suche nach den beiden Genen BRCA1 und BRCA2 als auch Teil eines Zentrums, das die BRCA-Diagnostik mit einer humangenetischen Beratung und einem intensivierten gynäkologischen Früherkennungsprogramm verbindet. Dieses Zentrum wiederum ist Teil eines überregionalen Verbundprojektes »Familiärer Brust- und Eierstockkrebs« in Deutschland. Man kann also sagen, dass das Labor der Brustkrebs-Gene von Anfang an keine Grenzen im Sinne der Labormauern kannte. Das Experiment zog größere Kreise, denn es brauchte einen Rahmen, um die prädiktive Medizin am Testfall Brustkrebs-Gen zu erproben und mögliche gesetzliche Regelungen einer Gen-Diagnostik zu diskutieren. Hierzu die Äußerung der damaligen Mitarbeiterin im Bundesgesundheitsministerium: »Wir deklinieren es jetzt am Brustkrebs einmal durch, um zu wissen, woran man denken muss, was man machen muss, was notwendig ist.«1 162

Labor

Es ist nicht unwichtig darauf hinzuweisen, dass dieses Experimentierfeld unmittelbar an Frauen gekoppelt war (und ist). Auch wenn Männer Träger von Mutationen sein können, so stehen sie doch im Abseits und werden als Adressaten der Gendiagnostik kaum angesprochen. Doch nun zur Nahaufnahme des Laboralltags in der Brustkrebsgen-Analyse: Hier zeigt sich ein Bild, welches die angenommene Trennschärfe zwischen Testroutine und Forschung in Schwingung versetzt: »Bei uns liegt der Fokus darauf, ob das Protein o.k. ist oder nicht. Dass das natürlich dann im Endeffekt Krankheit beziehungsweise Gesundheit bedeutet, ist einem klar, aber für die Fragestellung jeden Tag ist das nicht so relevant. Also ich denke, das zeigt sich auch immer so ein bisschen darin, dass, wenn wir eine Mutation finden, wir uns freuen. Weil wir etwas gefunden haben, weil wir da sagen können: ›Oh ja und ach mein Gott, das ist ja vielleicht sogar spannend. Das ist ja was, was wir noch nie hatten.‹ Wenn man sagen würde, der Mensch ist krank, wird man sich so erst einmal wahrscheinlich nicht freuen. Also vielleicht in wissenschaftlicher Hinsicht schon. Das sieht möglicherweise nicht so gut aus, aber es ist eben wahnsinnig spannend zum Beispiel. Das mag für den Menschen selber oder die Krankheit selber gravierend sein.«2 Wir sehen nicht nur, dass vom Menschen da draußen, dessen DNA ins Labor gewandert ist, abstrahiert wird, sondern auch, dass das Hereinbrechen von Unerwartetem zur Arbeit dazu gehört. Dass etwas Abweichendes im Verlauf eines Arbeitsgangs als spannend erlebt werden kann, weist auf die Überlagerungen von Forschung und Testung in einem Labor hin. So gesehen ist das Labor ein Ort für Passagen (Palfner 2009). Eine geteilte Geschichte von BrustkrebsgenForschung und Diagnostik, personelle Überschneidungen unter einem Dach und das Zirkulieren der Substanzen zwischen Forschung und Testung legen es nahe, über die wechselseitige Bedingtheit der zwei Modi der Wissensproduktion in Wissenschaft und Service nachzudenken. Nun mag räumliche Nähe wichtig sein, aber ob aus der interessanten Mutation ein Forschungsgegenstand wird, hängt nicht nur von der Fähigkeit des Laborarbeiters, überhaupt etwas Interessantes (und nicht nur eine lästige Störung) zu sehen, ab, sondern von einer Vielzahl anderer Faktoren, wie von der Bereitschaft der eigenen Institution oder von Förderorganisationen, für bestimmte Themenfelder Geld auszugeben. Mit anderen Worten: Nur weil das Unerwartete in die Labordiagnostik einbricht, heißt das noch nicht, dass die testende Hand zur forschenden Hand wird, freies Spiel hat und mal eben die interessante Substanz zum Forschungsgegenstand umwandeln kann. Aber es gibt Bedingungen, die dies erleichtern. Verharrt man in der Nahaufnahme des Laboralltags, dann fängt man an darüber nachzudenken, was warum und mit welcher Konsequenz arbeitsteilig aus dem Alltag der Brustkrebsgen-Diagnostik herausgeschnitten wird. Und damit sind wir beim Thema Delegation von Arbeit und der Rolle, die dabei Maschinen übernehmen. Betrachten wir das Auswerten der DNA-Sequenzen 163

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

per Hand und Auge. Dies ist eine zeitaufwändige und anstrengende Arbeit. Zwar gibt es eine Software, welche die Auswertung übernehmen könnte, jedoch will man sich in der Brustkrebsgen-Analyse nicht darauf verlassen: »Man wird zwar müde, also birgt es auch Risiken, aber man sieht doch einiges mehr. Anstatt einfach einer Auswertungssoftware zu vertrauen und zu sagen, wenn die was gefunden hat, ist gut und sonst nicht«3 . Nehmen wir eine andere Tätigkeit, die des Pipettierens. Dies kann von Hand geschehen oder durch einen Roboter. Einen Roboter wird man sich nicht leisten können, wenn der Durchsatz von Proben nicht entsprechend hoch und die Maschine ausgelastet ist. Mit der Automatisierung geht nicht nur eine Veränderung der Verteilung von Arbeit zwischen Menschen und Maschinen einher, sondern auch eine auf Zentralisierung strebende Raumordnung des Labors. Outsourcing an mit entsprechenden Maschinen ausgestattete Großlabore als ökonomische Konsequenz ist hier das Stichwort. Gerade im medizinischen Bereich ist die Kombination von Diagnostik, Therapieberatung und Forschung etablierte Praxis unter dem Dach der Klinik. Eingefasst in allgemeine Spardiskurse im Gesundheitssystem, sind es ökonomische Argumente, die in Anschlag gebracht werden, wenn es um die Frage des outsourcing von Laborleistung geht. Dieser Umverteilung begegnet die Medizin mit dem Argument, dass eine Auslagerung höchst problematisch sei, da kommerziell orientierte Unternehmen eben nicht »die Bedürfnisse der Wissenschaft […] verstanden haben« und die Qualität der Laborarbeit leide (Lackner 2012). Damit ist eine spannungsreiche Entwicklung des Labors als Ort des Forschens und der Dienstleistung beschrieben, die auf Wachstum und Zentralisierung ausgerichtet ist. Was für die Wissenschaft als Big Science beschrieben wird, findet sich hier spiegelbildlich als Big Service wieder. Es sind zwei Seiten einer Medaille in einer Konkurrenzsituation, in der es um die Formierung von Wissenspraktiken um kostspielige Maschinen herum und einer daran hängenden Verteilung von Ressourcen, von Menschen und Dingen, geht. Sonja Palfner

A NMERKUNGEN 1 | Interview im Jahr 2005 mit einer Mitarbeiterin im Bundesgesundheitsministerium von 1976 bis 2005. 2 | Interview im Jahr 2006 mit einer Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Tumorgenetik, Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin. 3 | siehe Anmerkung 2

164

Labor

L ITER ATUR Fleck, Ludwik (1980 [1935]), Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, hg. v. Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Gramelsberger, Gabriele (2010), Computerexperimente. Wandel der Wissenschaft im Zeitalter des Computers, Bielefeld: transcript. Lackner, Karl (2012), Labormedizin im Outsourcing – Ei des Kolumbus oder Luftnummer (Interview mit Karl Lackner), www.management-krankenhaus.de/topstories/labor-diagnostik/labormedizin-im-outsourcing-ei-deskolumbus-oder-luftnummer (Juni 2012). Latour, Bruno und Steve Woolgar (1986), Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts, Princeton: Princeton University Press. Latour, Bruno (1996), Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin: Akademie Verlag. Latour, Bruno (2004), Von »Tatsachen« zu »Sachverhalten«. Wie sollen die neuen kollektiven Experimente protokolliert werden?, in: Kultur im Experiment, hg. v. Henning Schmidgen, Peter Geimer und Sven Dierig, Berlin: Kulturverlag Kadmos, S. 17-36. Palfner, Sonja (2009), Gen-Passagen. Molekularbiologische und medizinische Praktiken im Umgang mit Brustkrebs-Genen. Wissen – Technologie – Diagnostik, Bielefeld: transcript. Rheinberger, Hans-Jörg (2002), Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen: Wallstein-Verlag. Schmidgen, Henning (2011), Labor, Europäische Geschichte Online (EGO), http://www.ieg-ego.eu/de/threads/crossroads/wissensraeume/henningschmidgen-labor (Juni 2012). Weber, Max (1991 [1918]), Schriften zur Wissenschaftslehre, hg. v. Michael Sukale, Stuttgart: Reclam.

165

Lager

Das Musikvideo zum Song Born Free (2010) der britischen Künstlerin M.I.A., das vom französischen Regisseur Romain Gavras produziert wurde, beginnt damit, dass eine schwerbewaffnete Polizeieinheit eine Plattenbausiedlung in einer US-amerikanischen Großstadt durchsucht und alle rothaarigen Jungen und jungen Männer verhaftet, um sie mit Gefangenentransportern in ein eingezäuntes Wüsten-Areal zu deportieren. Dort werden die Jugendlichen laufengelassen und – wie nervenaufreibend unsubtil in Zeitlupe gezeigt wird – brutal erschossen oder von Landminen zerfetzt. Die Polizei handelt in dem Clip nach einer untergründigen Logik, die der Zuschauerin aber intuitiv verständlich ist: Die nach rassistischen Selektionskriterien ausgewählten Opfer werden weder aufgrund einfach rechtlicher noch einfach außerrechtlicher Prozeduren verfolgt und liquidiert, sie werden weder vor Gericht gestellt noch werden sie Opfer eines Pogroms. Die Polizisten sind nicht einfach Agenten eines Rechtsstaates, aber auch nicht einfach ein Lynchmob oder eine marodierende Verbrecherbande. Die politische Rationalität, die hier vorgeführt wird, verortet sich zwischen Recht und Unrecht, zwischen Staats- und Naturzustand. Dieses »Zwischen« scheint etwas mit der eigentümlichen Geometrie des Tatorts selbst zu tun zu haben: Warum bedarf es dieses Territoriums außerhalb der »normalen« räumlichen Ordnung? Welche Bedeutung hat dieses spezifische architektonische Arrangement? Alles spricht dafür, dass hier – in geradezu peinlicher Spektakularität – alle Charakteristika eines Lagers versammelt sind. »Was ist ein Lager?«, fragen Joel Kotek und Pierre Rigoulot in ihrem Standardwerk Das Jahrhundert der Lager, und sie definieren: »Ein eilig und oberflächlich ausgestattetes, zumeist hermetisch abgeriegeltes Gelände, auf dem massenhaft, unter prekären Umständen und fast ohne Rücksicht auf elementare Rechte Einzelne oder Gruppen, die als schädlich oder gefährlich gelten, eingesperrt werden. Der wichtigste Zweck eines Lagers ist die Eliminierung im Wortsinn: das lateinische eliminare bedeutet ›aus dem Haus treiben‹. Das Lager macht es möglich, alle Personen, die als politisch, rassisch oder sozial verdächtig oder als objektiv (oder subjektiv) gefährlich eingestuft werden – zum Beispiel wehrfähige Männer –, abzusondern, 166

Lager

verschwinden zu lassen (lateinisch: exterminare), aus dem sozialen Gefüge auszuschließen.« (Kotek und Rigoulot 2001, S. 11) Das Lager ist also sowohl ein geographischer als auch ein gesellschaftstheoretischer Begriff; einen Ort als Lager zu bezeichnen impliziert eine These zu seiner topologischen Struktur ebenso wie zu seiner politischen Funktion. Hannah Arendt hat in ihrer Untersuchung zu den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft das Phänomen der Lager in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext gestellt. Sie beschreibt die Konzentrationslager als Laboratorien, in welchen der Anspruch auf eine totale Beherrschbarkeit von Menschen experimentell erprobt wird (Arendt 1986 [1951]). Für Arendt steht die in den Konzentrationslagern terroristisch hergestellte conditio inhumana in einem konstitutiven Zusammenhang mit einer allgemeineren politischen Logik, die eben totalitär ist und auf die Eliminierung jeglicher Spontaneität zielt. Ein Lager ist daher eine »Gesellschaft des Sterbens«, weil hier jegliche Möglichkeit von Initiative oder Neuanfang radikal ausgeschlossen ist. Arendt bemerkt dabei allerdings, dass Lager zwar eine spezifisch moderne, aber gerade keine spezifisch totalitäre Erscheinung sind: Bereits Ende des 19. Jahrhunderts setzte England Lager gegen die Buren ein, auch in Indien und Afrika wurden Lager zur Internierung »unerwünschter Elemente« verwendet, wie Arendt protokolliert. Es waren demokratische ebenso wie undemokratische Staaten, welche die politisch-rechtlichen Prozeduren vorbereitet haben, die dann in der millionenfachen Vernichtung von Menschenleben kulminierten. Diese Erkenntnis haben Kotek und Rigoulot in Bezug auf das 20. Jahrhundert bestätigt: »So genannte Konzentrationslager begegnen einem allenthalben.« (Kotek und Rigoulot 2001, S. 11) Von Giorgio Agamben (2002) stammt die Analyse, dass das Lager als »verräumlichter Ausnahmezustand« zu verstehen ist. Er weist darauf hin, dass weder die Konzentrationslager in Kuba noch die der Engländer Ende des 19. Jahrhunderts ihren Ursprung im »normalen« Recht hatten, sondern im Kolonial- beziehungsweise im Kriegsrecht. Im Lager kreuzen sich eine zeitliche und eine räumliche Dimension der Ausnahme; in der spezifischen Topologie des Lagers ist dauerhaft verwirklicht, was der juristische Ausnahmezustand nur als temporäre Kaprize vorsehen konnte: die Suspension des Rechts mit rechtlichen Mitteln. Im Lager handeln sowohl die Subjekte als auch die Objekte dieser Exklusion an der Grenze des Rechts: Aufseher_innen, Wärter_innen, Mediziner_innen sind Angehörige staatlich autorisierter Exekutivorgane, die aber dennoch nicht auf Grundlage eines Gesetzes oder eines richterlichen Erlasses, sondern provisorisch selbst als Souveräne agieren; und spiegelbildlich dazu sind die Insass_innen des Lagers auf spezifische Weise einem Gesetz unterworfen, das sie nicht selbst in Anspruch nehmen können. Dieser Analyse zufolge ist das Lager ein Versuch, all diejenigen Elemente lokal zu fixieren, welche die Fiktion des Zusammenhangs von Nativität und Nationalität unterlaufen und daher innerhalb der konventionellen nationalstaatlichen Ordnung 167

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

nicht mehr repräsentiert werden können. Das Lager ist deshalb der »nomos der Moderne«, weil erst in der Moderne die biopolitischen Technologien zur Verfügung stehen, die notwendig sind, um die Produktion von homines sacri, von straffrei tötbaren Menschen also, in großem Maßstab überhaupt verwirklichen zu können. Insofern die These von der Gegenwart der Lager eine Prognose beinhaltet, ist sie methodologisch hyperbolisch, das heißt, sie ist offenbar nicht wörtlich zu verstehen. Die meisten der Eigenschaften, die Agamben dem Lager strukturell zuschreibt – etwa, dass darin »alles möglich« sei – gilt für einen Großteil der real existierenden Lager gerade nicht: Nicht einmal Flüchtlinge oder Terrorist_innen in Internierungslagern dürfen wie die homines sacri straflos getötet werden, von den gated communities der amerikanischen Städte, die Agamben ebenfalls erwähnt, ganz zu schweigen. Gleichzeitig würde man Agambens Anspruch unterschätzen, ginge man davon aus, er wolle in einem rein diskursstrategischen Sinne »provozieren« oder gar »schocken«. Die These von der Gegenwart der Lager läuft natürlich in der Tat Gefahr, die nazistischen Konzentrationslager zu relativieren, aber sie vollstreckt zugleich das Testament Walter Benjamins, wonach die Geschichte aus der Perspektive der Unterdrückten zu betrachten sei – bereits Benjamin hatte daraus ja den Schluss gezogen, dass der Ausnahmezustand die Regel ist (1991 [1942], S. 697). Diese Einsicht ernstzunehmen heißt dann, wie Agamben selbst explizit sagt, eine Reihe von Phänomenen »intelligibel zu machen«, welche dem Blickwinkel der Mainstream-Geschichtsoder Politikwissenschaft bislang verborgen geblieben waren. Tatsächlich spricht Agamben mit dem emblematischen Hinweis auf den Fortbestand von Lagerstrukturen ein »Betriebsgeheimnis« der liberalen Demokratie aus – und jede politische Theorie, die zu dieser Kontinuität schweigt, verkennt systematisch ein strukturelles Kennzeichen souveräner Herrschaft. Zugleich ist unentschieden, ob die Zukunft eben der hier inkriminierten polizeilichen Logik tatsächlich auf die spezifische Topologie des Lagers angewiesen bleiben wird. Anzeichen für einen Paradigmenwechsel sind etwa die von der Obama-Administration für legal erklärten extrajudicial killings, wonach selbst amerikanische Staatsbürger_ innen getötet werden dürfen, wenn exekutive Instanzen sie als Terrorist_innen ansehen. In der Kombination damit, dass auch amerikanisches Festland als battlefield definiert wird, könnte tatsächlich die Internierung als ortsgebundene Sicherheitsstrategie überflüssig werden. Agambens Herangehensweise ist freilich auch unter kritischen Intellektuellen nicht unwidersprochen geblieben. In der Interpretation des politischen Paradigmas, das Michel Foucault »Biopolitik« genannt hat – wonach in der Moderne das biologische Leben selbst in den Brennpunkt des politischen Kalküls gerückt ist – standen sich von jeher zwei Fraktionen gegenüber: Wenn auf der einen Seite Agambens radikal negativistische Geschichtskonzeption eine epochenund gesellschaftsformübergreifende Latenz der eliminatorischen Exklusion zu 168

Lager

rekonstruieren können glaubt, hat auf der anderen Seite etwa Antonio Negri insbesondere den produktiven Aspekt der Biomacht betont und eine aus der kreatürlichen Eigenkraft des Lebens der Multitude resultierende strukturelle Distanz zum Staat behauptet. Dem korrespondieren zwei konkurrierende Einschätzungen zum Phänomen des Lagers: Während an Agamben geschulte Kritiker_innen und Aktivist_innen diejenigen Aspekte heutiger Lagerstrukturen hervorheben, durch die Menschen entrechtet und missachtet werden, weil sie im Lager der Willkür anderer ausgesetzt sind, ohne sich faktisch gegen Machtmissbräuche zur Wehr setzen zu können, sehen etwa die postoperaistisch inspirierten Vertreter_innen der These von der Autonomie der Migration im Lager auch einen Ort des findigen Unterlaufens etablierter Machtbeziehungen, des Kontakts, der Vernetzung unterschiedlicher Routen und Strategien und der politischen Subjektivierung. Lager können somit paradoxerweise selbst zu Orten nicht der Immobilität sondern der Mobilität werden. Dieser Einwand zielt nicht nur darauf, Agambens Position die empirische Akkuranz abzusprechen, sondern hat auch eine genuin politisch-strategische Pointe: Keinesfalls lassen sich die realen Effekte staatlicher Institutionen auf ihre offiziellen Funktionen reduzieren, sie werden von den Akteur_innen immer auch eigenständig angeeignet und umgedeutet. Mehr noch: Migrant_innen und andere Lager-Betroffene auf den Status als Opfer oder Objekte zu reduzieren betreibt Viktimisierung und verlängert somit ihre Passivität. Postkoloniale Theoretiker_innen haben zudem auf den impliziten Eurozentrismus der These vom »Jahrhundert der Lager« hingewiesen. Denn im genuinen Sinne »neu« an der den Lagern zugrunde liegenden politischen Rationalität ist lediglich ihre Übertragung auf den Westen; die systematische rechtliche Entrechtung oder »einschließende Ausschließung« von großen Menschengruppen mit bio- oder besser nekropolitischen Mitteln ist außerhalb Europas bereits lange vor dem 20. Jahrhundert praktiziert worden und wird in großen Teilen der Welt weiterhin praktiziert. Achille Mbembe hat etwa die Sklaverei auf den karibischen Plantagen als Vorläufer der europäischen Lager dechiffriert und auch auf die prekären Konsequenzen einer solchen Diagnose für politisches Handeln hingewiesen: Wenn im nekropolitischen Zeitalter große Territorien den Charakter solcher »Todes-Welten« annehmen, so ist Protest immer potenziell lebensgefährlich, und dann verschwimmt die Grenze zwischen Opposition und Opfer, zwischen Widerstand und Märtyrertum (Mbembe 2003). In der Politik zeigt auch der Titel von M.I.A.s Song erst seine volle Bedeutung: »I am born free« ist nicht allein eine Referenz auf die Bindungs- und Schutzlosigkeit des bloßen Lebens (von der Hannah Arendt sagt, sie sei »wie eine Aufforderung zum Mord«, 1986 [1951], S. 624), sondern in erster Linie eine Erinnerung an den historisch kontingenten Charakter von Unfreiheit und Exklusion und somit ein Aufruf zur Rebellion – »man made powers/stood like a tower, higher and higher, hello/and the higher you go, you feel lower/I was close 169

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

to the end/staying undercover, staying undercover/with my nose to the ground I found my sound«. Daniel Loick

L ITER ATUR Agamben, Giorgio (2002), Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Arendt, Hannah (1986 [1951]), Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München und Zürich: Piper. Benjamin, Walter (1991 [1942]), Über den Begriff der Geschichte, in Gesammelte Schriften, Band I.2, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kotek, Joel und Pierre Rigoulot (2001), Das Jahrhundert der Lager. Gefangenschaft, Zwangsarbeit, Vernichtung, Berlin: Propyläen. Mbembe, Achille (2003), Necropolitics, Public Culture 15(1), S. 11-40.

170

Land Grabbing

2008 erwarb der südkoreanische Mischkonzern Daewoo 1,3 Millionen Hektar Land zum Anbau von Nahrungsmitteln in Madagaskar, etwa die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche der Insel. Dies führte kurze Zeit später zu landesweiten Unruhen, die im Sturz des madagassischen Präsidenten gipfelten. Die neue Regierung annulierte den Vertrag mit Daewoo – der land-deal war geplatzt. Das indische Unternehmen Karaturi Global erscheint da erfolgreicher, hat es doch in den letzten Jahren nach eigenen Angaben 311.000 Hektar an Land zur Kultivierung von Nassreis, Palmöl und Mais in verschiedenen Regionen Äthiopiens erworben. Beides sind eindrucksvolle Einzelereignisse, die jedoch auf einen globalen Trend verweisen, der seit einem einschlägigen Bericht der Nichtregierungsorganisation Grain (2008) als Land Grabbing bezeichnet wird. Der Begriff beschreibt eine spezifische Raumpraxis: den großflächigen und langfristigen Erwerb (Kauf, Pacht, Konzessionen) von Agrarland durch globale Finanzinvestoren, Agrarkonzerne und Staaten mit dem Ziel, dort Nahrungsmittel, Holzkulturen oder Biokraftstoffe anzubauen oder im Namen des Klimaschutzes (carbon offsetting) in Konservierungsprojekte zu investieren (green grabs). Dabei ist Land für Finanzinvestoren auch von spekulativem Interesse. Nach Angaben der Weltbank wurden zwischen Oktober 2008 und August 2009 46,6 Millionen Hektar an Agrarland zu diesen Zwecken erworben (Deininger und Byerlee 2011). Das Gros der Investitionen entfiel dabei auf Afrika, der Rest auf Teile Amerikas, Osteuropas und Asiens, auch wenn es durchaus Landerwerb in westeuropäischen Staaten gab. Kapitalismus- und Globalisierungskritiker verurteilen den globalen Ansturm auf Agrarland scharf. Sie verweisen auf die potenzielle Enteignung und Ausgrenzung von Millionen von Menschen im Globalen Süden im Zuge der Privatisierung von Land, zu erwartender Nahrungsmittelknappheit und ökologischer Degradation in den Anbauländern durch eine industrielle und exportorientierte Landwirtschaft. Die Bühnen des Spektakels sind dabei insbesondere in Afrika Staaten, die oftmals selbst nicht nahrungsmittelsouverän sind (zum Beispiel Äthiopien, Mali, Sudan, Kenia). Land Grabbing ist ein politischer Streitbegriff, der analytisch diffus ist. Zum einen ist die damit konnotierte Raumpraxis umstritten, zum anderen die Be-

171

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

grifflichkeit selbst. Während Kritiker damit semantisch auf die ethisch verwerfliche Aneignung von Ressourcen hinweisen möchten, sprechen Investoren und kapitalaffine Entwicklungsorganisationen wie die Weltbank in diesem Zusammenhang lieber von »großflächigem Landerwerb« (Deininger und Byerlee 2011). Solche Begrifflichkeiten depolitisieren freilich den globalen Ansturm auf Agrarland, lassen sich aber geschmeidig in ein neoliberales Weltbild einpassen. In globalisierungs- und kapitalismuskritischen Kreisen wurde Land Grabbing zunächst medial wirksam als neue Phase des Kapitalismus gerahmt, in der wirklich alles kapitalisiert wird – jetzt auch Agrarland, Wasser und Nahrungsmittel. Gängige Interpretationen dieser Raumpraxis variieren in einzelnen Punkten, rekurrieren jedoch häufig auf ein Narrativ, das unterschiedliche Krisen der globalen Ökonomie als Haupttriebkräfte identifiziert. Dies ist zunächst die globale Finanzkrise. Während Finanzakteure bereits seit einigen Jahren spekulativ mit Nahrungsmitteln Handel betrieben und damit auch zur Nahrungsmittelpreiskrise 2007/8 beitrugen, kam es im Zuge des Subprime-Shocks 2007/8 zu einer Hinwendung zu neuen, als stabil konstruierten Anlageformen. Im finanzialisierten globalen Kapitalismus zählen eben nicht nur spekulative Gewinne, sondern auch stabile Renditeflüsse aus Wertpapieren (securities). Investitionen in Land sowie die Primärproduktion von Nahrungsmitteln ließen auf stabile Einkommen hoffen, denn essen muss schließlich jede_r. Als zweite Triebkraft wird generell die globale Nahrungsmittelpreiskrise 2007/8 identifiziert. Diese ist unmittelbar mit spekulativen Dynamiken auf Finanzmärkten für Nahrungsmittel verknüpft, darüber hinaus aber auf viele weitere Faktoren zurückzuführen. Während das Erreichen von Nahrungsmittelsouveränität historisch gesehen für viele Regierungen ein wichtiges Politikziel darstellte, gewann das Thema für einige Staaten in Nordafrika (zum Beispiel Libyen, Ägypten), dem Nahen Osten (zum Beispiel Katar) und Asien (zum Beispiel Südkorea, China) in jüngster Zeit eine neue Relevanz. Diese fürchteten nun, dass bei steigenden Nahrungsmittelpreisen sowie den gegebenen globalen Angebots- und Nachfrageverhältnissen, Produktionsbedingungen und demographischen Trends die nationale Versorgungssicherheit nicht mehr gewährleistet werden kann. Im Rahmen einer neo-merkantilistischen Politik (McMichael 2010, S. 4) investieren sie seitdem über private und (halb-)staatliche Unternehmen sowie Staatsfonds weltweit in Offshore-Landwirtschaft um das »nationale Wohl« zu sichern. Staatsfonds von Ländern wie Libyen, den Golfstaaten und China sind darüber hinaus Vehikel, um überschüssige Petro-Dollars beziehungsweise Devisen zu recyceln. Als dritte Triebkraft führen viele Interpretationen die Konvergenz aus Klima- und Energiekrise an. Diese lässt den Globalen Süden zum Anbaugebiet nachwachsender Rohstoffe werden. Natürliche Ressourcen im Globalen Süden werden dabei durch Biokraftstoff- und Klimaschutzprojekte als Werte gerahmt. Damit werden diese Teil eines Bioenergieregimes, das mit den grundlegenden 172

Land Grabbing

Mechanismen des globalen Kapitalismus kompatibel ist, temporär aber die ökologischen Grenzen kapitalistischen Wachstums neu zeichnet. Die Kommodifizierung von Natur im Namen von (alternativer) Energiesicherheit wird nicht nur von Agrarunternehmen vorangetrieben, sondern auch von Finanzinvestoren, Staatsfonds, Mineralölkonzernen, internationalen Stiftungen, Forschungseinrichtungen und Nicht-Regierungsorganisationen. Insgesamt, so eine gängige Lesart (McMichael 2010), diente die Dreifachkrise des Kapitalismus einerseits als Rechtfertigung, im Namen der Nahrungsund alternativen Energiesicherheit offshore zu investieren; anderseits bewirkte sie auch neue Investitionen in Agrarland, um die Überakkumulationskrise des Finanzkapitals zu bewältigen. Dieses gängige Narrativ erscheint attraktiv, macht es doch Land Grabbing zu einem greifbaren Totalphänomen, das es zu bekämpfen gilt. Dennoch ist hier wohl eine vorsichtige analytische Perspektive angebracht, die Unsicherheiten anstelle von Sicherheiten in den Vordergrund rückt. Denn trotz eines gewaltigen Medienechos sowie unzähliger Berichte von Nichtregierungsorganisationen und Forschungsinstituten ist nicht wirklich klar, wie die neue Landnahme qualitativ und quantitativ zu bewerten ist. Triebkräfte, Pfade, Ausmaß sowie die sozialen, ökonomischen, ökologischen, institutionellen und territorialen Effekte sind umstritten oder in vielerlei Hinsicht unklar. Allein die Tatsache, dass unterschiedliche Begriffsdefinitionen beziehungsweise Historisierungen der neuen Landnahme vorliegen, lässt den Begriff des Land Grabbings analytisch verwässern. Unsicherheit 1 – Triebkräfte: Die angeführten Entwicklungen haben sicherlich zum globalen Ansturm auf Agrarland beigetragen. Gegen eine einfache Historisierung, die die Aufmerksamkeit auf Land Grabbing als »außergewöhnliches« Ereignis in einer spezifischen historischen Phase des Kapitalismus lenkt, spricht jedoch erstens, dass die Aneignung beziehungsweise Kommodifizierung von Land von jeher mit der Geschichte des Kapitalismus verwoben war; aus einer longue durée-Perspektive erscheint die neue Landnahme beispielsweise in einem anderen Licht. Zwar sind Qualität und Umfang neu, nicht aber die Kommodifizierung beziehungsweise großflächigen Einhegungen von Agrarland per se. Diese nahmen bereits in England ab dem 15. Jahrhundert ihren Anfang und läuteten das kapitalistische Zeitalter ein. Der europäische Kolonialismus in seinen unterschiedlichsten Ausprägungen – vom Frühkolonialismus in Amerika und Südostasien bis zum Spätkolonialismus in Teilen Afrikas und Asiens – weitete diese Einhegungen oftmals unter Anwendung von Gewalt auf Kosten indigener Bevölkerungsgruppen und institutioneller Landarrangements aus (Bernstein 2010). So wurden etwa Landnahmen ab Mitte des 20. Jahrhunderts mit Beginn des (formal) postkolonialen Zeitalters, zum Teil im Rahmen exportorientierter Plantagenkulturen, in vielen Ländern des Globalen Südens fortgeführt. Im Zuge neoliberaler Strukturanpassungen gab es neue Einhegungen, als viele Staaten des Südens sich für neue ausländische Direktinvestitionen 173

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

in Agrarland (zum Beispiel Mexiko) und andere Bodenschätze (zum Beispiel Indonesien) öffneten und durch Landregistrierungsprogramme neue Akkumulationschancen für ausländisches Kapital und lokale Eliten geschaffen wurden. Wer diese Entwicklungen unberücksichtigt lässt, negiert die spezifischen ontologischen Bedingungen kapitalistischer Akkumulation, in deren langer und regional spezifischer Geschichte Prozesse der ursprünglichen Akkumulation und der erweiterten Reproduktion oftmals Hand in Hand gingen (Glassman 2006). Unsicherheit 2 – Kommodifizierungspfade: Das gängige Narrativ vom Land Grabbing wird den vielfältigen Dimensionen der Kommodifizierung von Land beziehungsweise Natur in vielen Ländern des Globalen Südens nicht gerecht. Angetrieben durch demographischen Druck, sozialen Wandel und Vermarktlichungsprozesse finden solche Prozesse in vielen Ländern bereits seit mehreren Dekaden statt. Die Herausforderung besteht gerade darin, die regional, materiell und institutionell sehr unterschiedlichen Manifestationen der Vermarktlichung von Land und Natur offenzulegen. In diesem Zusammenhang gilt es herauszuarbeiten, welche dieser Prozesse Teil alltäglicher Akkumulationsdynamiken, sozialer Differenzierungs- und Dislokationsprozesse sind und welche Formen und Kanäle der Enteignung, sozialen Differenzierung und Dislokation Effekte des rezenten und kriseninduzierten Land Grabbings sind (Borras und Franco 2012, S. 46). Will man etwa die Expansion einer Bananenplantage des seit langem in Lateinamerika tätigen Unternehmens Chiquita unter dem gleichen Terminus wie die Investition eines Pensionsfonds in Agrarland abhandeln? Fanden viele neue Einhegungen nicht auch unabhängig von den rezenten Krisen statt, etwa im Rahmen von Investitionen in Tourismus, Holzwirtschaft und Bergbau? Selbst das kriseninduzierte Land Grabbing artikuliert sich wohl eher inter-lokal spezifisch als heterogenes Projekt mit unterschiedlichen Objekten und Modi der Kommodifizierung und Aneignung. Dabei fungieren staatliche und private Gewalt, klassische und gesetzlich forcierte Einhegungen, globale Abkommen und unterschiedliche Akteurskonstellationen als Transmissionsriemen. In diesem Zusammenhang sei auch darauf verwiesen, dass sowohl bei alltäglichen Kommodifizierungsprozessen als auch bei der kriseninduzierten Landnahme in vielen Ländern lokale Eliten entscheidende Akteure sind, eine Tatsache, die beim gegenwärtigen diskursiven Fokus auf ausländische Investoren oft aus dem Blick gerät. Unsicherheit 3 – Ausmaß: Von definitorischen Grenzziehungen hängt maßgeblich ab, welches Ausmaß man dem kriseninduzierten Land Grabbing zuschreibt. Diese betreffen sowohl die Untersuchungseinheit als auch den Betrachtungszeitraum. Die Global Land Matrix (2012) geht davon aus, dass zwischen 2000 und 2011 203 Millionen Hektar im Rahmen von großflächigen Landtransaktionen gehandelt wurden. Davon konnten Transaktionen über 71 Millionen Hektar definitiv bestätigt werden. Die Weltbank spricht von 46,6 Millionen Hektar Agrarland für 2008/9, wobei nur auf 21 Prozent der erworbenen 174

Land Grabbing

Flächen auch tatsächlich produziert wurde (Deininger und Byerlee 2011). Freilich ist streitbar, was als »großflächig« zählt. Einige Studien legen 200 Hektar zu Grunde, andere 1000 Hektar, wieder andere gar 10.000 Hektar. Werden Landallokationen in Zusammenhang mit Tourismus-, Holzwirtschafts- und Bergbauprojekten hinzugerechnet oder nicht? Wie verlässlich sind staatliche Quellen und wie groß ist die Schattenwirtschaft in einem Feld, das oftmals durch intransparente Abmachungen zwischen Investoren, Regierungen und lokalen politischen Akteuren gekennzeichnet ist? Die häufig medial als sehr fassbar vermittelte Raumpraxis des Land Grabbings (etwa »afrikanischer Kleinbauer versus Deutsche Bank«) erscheint damit als Rhizom: Während aktuelle Statistiken trotz dünner Datenlage den vermeintlich sichtbaren Teil bilden, verbirgt sich unter der Oberfläche ein undurchsichtiges Netz an Akteuren, Praktiken und Prozessen. Unsicherheit 4 – Effekte: Gegenwärtige Interpretationen des kriseninduzierten Land Grabbings folgen oftmals einem Impact-Modell der Globalisierung. Überspitzt formuliert könnte man folgende Formel aufstellen: Kapital + Macht + Land = Enteignung + exportorientierte Produktion + ökologische Degradation. Bei näherem Betrachten ist jedoch unklar, welche neuen sozio-ökonomischen, sozio-ökologischen und institutionellen Konfigurationen in den Investitionsregionen entstehen und mit welchen Territorialisierungen sie einhergehen. Ressourcen sind nicht einfach da, sie werden »gemacht«. Dasselbe ließe sich für Enteignungsprozesse postulieren. Die Einhegung und Produktion von Ressourcen kann im globalen Kapitalismus nicht mehr durch orthodoxe Kapital-, Macht- und Raumbegriffe gefasst werden; die frontiers der kriseninduzierten Landnahme müssen vielmehr als relationale Orte gedacht werden, an denen Autoritäten, Souveränitäten, Verfügungsrechte und Hegemonien der Vergangenheit durch neue Einhegungen, Besitzregime und Territorialisierungen herausgefordert werden (Peluso und Lund 2011, S. 667). Mitunter sind solche frontiers durch neue Arbeits- und Produktionsprozesse, Akteure und Subjektivitäten konstituiert – etwa wenn (semi-)proletarisierte Kleinbauern zu Arbeitern in Agrobusinessbetrieben werden. Solche frontiers müssen als relationale Effekte heterogener Netzwerke gedacht werden. Im Rahmen solcher Netzwerke, die sich wohlgemerkt klassischen Nord-Süd-Geographien entziehen, werden etablierte Landarrangements durch neue legale und gewaltförmige Mittel herausgefordert beziehungsweise disloziert. Trotz der vielen Unklarheiten, die es in Bezug auf die Raumpraxis des Land Grabbings gibt, lässt sich relativ sicher sagen, dass der globale Ansturm auf Agrarland bei einer Fortsetzung des gegenwärtigen Trends wohl lokale Bauern, Viehhirten und Fischer in vielen Ländern in ihrer Existenz bedrohen wird. Es entstehen neue Abhängigkeiten und Arbeitsteilungen, die aber jenseits klarer Nord-Süd-Muster verlaufen. Diese Gefahr haben auch große Entwicklungsorganisationen wie die Weltbank erkannt, die über freiwillige globale Abkommen, 175

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

land governance-Programme sowie transparente und sichere (das heißt meist individualisierte) Eigentumsrechte ausländische Direktinvestitionen in Land sozial, ökonomisch und ökologisch verträglich gestalten wollen. Entsprechend einem neoliberalen Ökonomieverständnis sollen »Investitionen in Land« erklärtermaßen zu »Win-win-Situationen« führen. Staaten könnten sich Investitionen in eine lange vernachlässigte Landwirtschaft sichern, die zudem mit Technologietransfer und anderen Trickle-Down-Effekten einhergehen, während gleichzeitig die Ertrags- und Energielücken (yield gaps, energy gaps) dieser Welt geschlossen würden. Zentral ist dabei der koloniale Topos des idle beziehungsweise marginal land, der Flächen beschreibt, die angeblich ungenutzt sind. Durch die Mobilisierung eurozentrischer Konzeptionen von Verfügungsrechten werden oftmals komplexe indigene Landnutzungssysteme simplifiziert; nur weil Flächen nicht aktiv genutzt werden bedeutet dies nicht, dass keine lokalen verfügungsrechtlichen Ansprüche bestehen. Lokale Bevölkerungsgruppen sind aber keine bloßen Statisten im globalen Ansturm auf Agrarland. Bereits jetzt produziert Land Grabbing sowohl subtilen als auch offenen Widerstand in den betroffenen Regionen. In Indonesien etwa begehren seit 2008 die Bauern und Bäuerinnen des Dorfes Pandan Lagan (Sumatra) kollektiv gegen ein Palmölunternehmen auf. In Ländern wie Mali, Sierra Leone und Honduras formiert sich ebenfalls kollektiver Widerstand gegen Agrarinvestoren. Der Widerstand gegen kapitalistische Landnahmen ist nichts Neues. Historisch gesehen haben Kleinbauern, vor allem auch im Globalen Süden, immer wieder verschiedene Taktiken des alltäglichen und außergewöhnlichen Widerstands gegen solche Entwicklungen mobilisiert (Bernstein 2010). Der Widerstand wird auch über transnationale Bauernbewegungen wie Via Campesina mobilisiert. Letztere streitet seit 1996 unter dem Konzept der Ernährungssouveränität für die Interessen von Kleinbauern. Im Zuge des Weltsozialforums in Dakar 2011 verabschiedeten mehr als 900 Organisationen den »Dakar-Appell gegen Land Grabbing«. Denen taugt Land Grabbing zu Recht als politischer Kampfbegriff. Analytisch hingegen bleibt der Begriff diffus. Stefan Ouma

L ITER ATUR Bernstein, Henry (2010), Class Dynamics of Agrarian Change, Halifax und Sterling: Fernwood Publishing und Kumarian Press. Borras, Saturino M. und Jennifer C. Franco (2012), Global Land Grabbing and Trajectories of Agrarian Change: A Preliminary Analysis, Journal of Agrarian Change 12(1), S. 34-59.

176

Land Grabbing

Deininger, Klaus und Derek Byerlee (2011), Rising Global Interest in Farmland: Can It Yield Sustainable and Equitable Benefits?, Washington: The World Bank. Glassman, Jim (2006), Primitive Accumulation, Accumulation by Dispossession, Accumulation by ›Extra-economic‹ Means, Progress in Human Geography 30(5), S. 608-625. Grain (2008), Seized: The 2008 Land Grab for Food and Financial Security, www.grain.org/article/entries/93-seized-the-2008-landgrab-for-food-andfinancial-security (Juni 2012). Global Land Matrix (2012), Public Data Base of Large-scale Land Deals, www. landportal.info/landmatrix (Juni 2012). McMichael, Philip (2010), Interpreting the Land Grab, www.tni.org/article/interpreting-land-grab (Juni 2012). Peluso, Nancy Lee und Christian Lund (2011), New Frontiers of Land Control: Introduction, Journal of Peasant Studies 38(4), S. 667-681.

177

Lounge

Lounge – schon der Klang des Wortes schlägt eine synästhetische Brücke zu Gefühlsassoziationen des Weichen, Warmen und Bequemen. Eine Lounge ist ein atmosphärischer Raum. Seine kommode »Vitalqualität« (Dürckheim 2005 [1932]) drückt sich in einer leiblich spürbaren Raumästhetik aus, die nicht nur individuellen Wünschen gerecht wird, sondern auch gesellschaftliche Funktionen erfüllt. Die Vielfalt Lounge-artiger Räume ist so groß, dass einfache Definitionsversuche fehlschlagen müssen. Das deutsche Universalwörterbuch von 1989 kennt die Lounge allein als »Hotelhalle« oder »Gesellschaftsraum in einem Hotel«. Zwanzig Jahre später nennt der Duden darüber hinaus die Lobby, die Bar und den Club »mit anheimelnder Atmosphäre« sowie den luxuriös ausgestatteten Aufenthaltsraum auf Flughäfen, in Bahnhöfen und großen Stadien. Aber auch darüber hinaus hat sich die Lounge als Prinzip räumlicher Vergesellschaftung in vielen kulturellen Bereichen etabliert. Kurz nach ihrem vermehrten Auftreten im urbanen Raum der Stadt charakterisierte Jörg Lau (2000) die Lounge noch als einen für jedermann zugänglichen »Transitraum der Nacht«. In der Zwischenzeit hat sich ein schillernder Gegenwartsort (aller Tageszeiten) herausgebildet, der als Milieu des »Faulenzens« (von to lounge) nur unzureichend charakterisiert wäre. Wenn die infla178

Lounge

tionäre Inanspruchnahme des Namens Lounge auch zur Ausfransung von Bedeutungsrändern geführt hat, so lassen sich doch vier Gruppen von Lounges unterscheiden. Die Lounge assoziiert man zunächst mit Warte- und Transiträumen, wie sie Fahrgästen der Ersten Klasse an 15 großen Hauptbahnhöfen der Deutschen Bahn offenstehen. Trotz »besserer« Möblierung, gehobener Ausstattung, Getränke-Service und kleinen Snack-Angeboten ist die DB-Lounge letztlich aber nur ein »besserer« Warte-Raum – weder eine Bar noch eine Cocktail-Lounge. Dennoch lässt sich auf dieser Dehnungsfuge der Dauer »kommod die Zeit verkürzen. […] Aber dann auch irgendwann – weiterreisen« (N.N. 2001, S. 48). Die Situation des Wartens disponiert die Art der Raumatmosphäre und damit auch die performative Dynamik des Ortes. Die sich im Warten öffnenden Spielräume der Zeit lassen sich kontemplativ ver-dämmern, konzentriert ver-arbeiten oder in der gemeinsamen Situation eines Meetings für die Einfädelung unternehmenspolitischer Strategien nutzen. Aber nur der behagliche Warteraum veredelt die Zeit des (relativen) Wartens zu einem Dazwischen, das sich vom Ausharren an Allerweltsorten vor allem ästhetisch unterscheidet. Dennoch bleibt die DB-Lounge ein pragmatisch-nüchterner Ort. Eine Nische dämmrigen Zwielichts und sedierender Klänge ist eine DB-Lounge nicht. Diese finden sich im zweiten Lounge-Typ, in den Entspannung offerierenden Relax-Räumen der Gastronomie. Die atmosphärischen Milieuqualitäten der Behaglichkeit, des gediegenen Luxus und der sattsamen Bequemlichkeit sind der Bar und der Cocktail-Lounge ähnlicher als dem Wartezimmer eines Zahnarztes. Wegen des zeitlichen Rhythmus der abendlichen und nächtlichen Nutzung ist die Bar jedoch nicht selten mit pejorativen Bedeutungen belegt. Dennoch spitzt sich an ihrem Beispiel zu, was jede Relax-Lounge ausmacht: eine affektiv immersive Raumatmosphäre, deren innenarchitektonische Dramaturgie den je besonderen Charakter des Ortes stimmt. Neben »gestenreichen Sitzgeistern« (Schriefers 2010, S. 95) kommuniziert sich die Vitalqualität des Ortes auch über die beruhigende Wirkung gedämpften Lichts und sonorer Klänge sogenannter Lounge-Musik, die in beinahe narkotisierenden Endlosschleifen mittlerer Frequenzen pausenlos dahin schwappt wie eine Welle ohne Antrieb: »alles ist im Fluss« heißt es in der Selbstbeschreibung der Yellow Lounge der Deutschen Grammophon. Das atmosphärische Milieu der Relax-Lounge ist ein medialer Raum der Ent-Sorgung des täglichen Lebens, dessen Ernst vom Spielraum der Entspannung eingeklammert wird. Wie es nicht »die« Lounge gibt, so nicht »die« Relax-Lounge. Das Spektrum spezifischer Situationsräume ist nicht nur variantenreich, sondern auch heterogen: Mit ultramoderner Innenarchitektur und fluoreszierenden Lichteffekten stellt sich eine ICE-Club Lounge in Baku (Aserbaidschan) als Kultstätte des jung-dynamischen Jet-Set dar. Eine beinahe gleichnamige ICE-Lounge in Dover wirbt mit einem adult entertainment179

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Programm, das an einen Night-Club erinnert. Summer-Lounges, die sich in Metropolen des tertiären und quartären Sektors unter anderem auf Parkhausdächern etabliert haben, schaffen in der Simulation karibischer Traumwelten Bühnen des Lifestyles und imaginäre Räume der Überblendung von Alltagszwängen. Im dritten Lounge-Typ veredelt sich die Atmosphäre der Behaglichkeit zu einem exklusiven Milieu der Vermittlung soziokultureller und -ökonomischer Inklusionseffekte. Der selbstbewusste bis exzessive Luxus einer Club-Lounge garantiert nicht nur Bequemlichkeit und Genuss, wenn die besondere Ästhetik des Raumes auch von urbaner »Hyperästhesie« (Simmel), Stress und täglicher Hektik entlastet. Das sozial exklusive Milieu bietet sich vor allem als Bühne der Distinktion an. Deshalb ist die Club-Lounge auch oft kein public space, sondern ein closed shop für Mitglieder. Daher ist sie auch kein Illusionsraum schönen Lebens, sondern eine Sphäre gelebter Exklusivität. So persönlich und behaglich der arrangierte Luxus auch sein mag, letztlich ist er nur Mittel zum Zweck. Die Club-Lounge ist ein Ort des symbolischen Tauschs, ein Milieu für die Vermittlung soziokultureller und -ökonomischer Inklusionseffekte. Nicht vergessen werden darf schließlich die »Null«-Lounge. Sie ist keine Lounge im engeren Sinne, bedient sich (als Raucher-Lounge, Hair-Lounge, Bäcker-Lounge, Tea-Lounge, Beauty-Lounge usw.) aber des Labels Lounge, um über deren Klischee der Exklusivität in einer Ökonomie der Aufmerksamkeit Beachtung zu finden. Zu den Null-Lounges zählt auch die sogenannte Bibliotheks-Lounge, die nur eine zeitgeistgemäße Aktualisierung jener Ruhebereiche darstellt, die es schon in den späten 1970er Jahren gab. Was ehemals »Ruhezone« hieß, beeindruckt nun in vielen Bibliotheken als Business-Lounge mit Laptop-Anschluss, und – in Zeiten der Universität des »Dritten Lebensalters« – als Senioren-Lounge mit altersgerechtem Sitzmobiliar (Hennig 2008). Wo die Lounge schließlich die Dimension eines ganzen Hauses hat, erfindet sie sich neu. So entwarf die Star-Architektin Zaha Hadid im Wolfsburger Kunstmuseum die nach ihr selbst benannte Zaha Hadid-Lounge – unter anderem zur Präsentation eigener Arbeiten. Indes steht die Vielzahl weiterer Funktionen dieses Ortes ganz und gar nicht für eine Lounge. Vorträge, Lesungen, Seminare, Workshops, Events, DJ-Abende, Partys und vieles andere vermitteln kaum die performative Dynamik einer Warte- oder Relax-Lounge. Die verlässliche Wiederkehr kommunaler Veranstaltungen dieser und ähnlicher Art weckt eher die Assoziation eines »Dörfergemeinschaftshauses«. Das Prinzip Lounge ist – auch wenn es so scheint – keine postmoderne Innovation. Es hat seine Wurzeln in der Kulturgeschichte städtischer Räume des 19. Jahrhunderts. Die in den 1880er Jahren und im frühen 20. Jahrhundert im repräsentativen Stil errichteten Großstadtbahnhöfe waren als zentrale Verkehrsweichen zugleich Orte des Wartens und vorübergehenden Aufenthalts. Die sich im Zuge der boomenden Industrialisierung kontrastierende Klassen180

Lounge

gesellschaft sollte sich auch in einer nach vier Klassen differenzierten Wartesaal-Architektur widerspiegeln. Zu den Wartesälen des Hamburger Hauptbahnhofs merkt Ulrich Krings (1985, S. 339) an: »Im Wartesaal I. und II. Klasse ist das Eisen [der Eisentragkonstruktion der Hallen, J.H.] in silbergrauen, durch Vergoldung gehobenen Tönen gehalten, die Wände zeigen ein Muster in tief braunroter Farbe. Weniger prächtig, aber ansprechend wirkt der Wartesaal III. und IV. Klasse mit bronzegelbem Eisenwerk und hellgrauen Wand- und Deckenfeldern. […] Der ›vornehmere‹ Wartesaal hatte übrigens eine historische Stilfassung erhalten: ›Flandrische Renaissance‹; der von Wilhelm II. gewünschte Stilwechsel hatte sich hier noch einmal auswirken können.« Den Charakter einer Prä-Lounge hatten nur die Wartesäle der I. und II. Klasse. Das seit 1997 durch die Deutsche Bahn AG vorgehaltene Angebot einer DB-Lounge nimmt mit der Institution sozial »sortierten« Wartens die Tradition der alten Wartesäle wieder auf. Wo sich im 19. Jahrhundert Marmorsäulen, Edelholzvertäfelungen und Kronleuchter als Medien der Ästhetisierung anboten, sind es heute die »natürlichen Materialien« Holz, Leder, Glas und Stein: »Denn diese Werkstoffe stehen für Wärme und Wohlbefinden, wirken gleichzeitig freundlich und frisch und sorgen für angenehme Helligkeit.« (Lepper 1998, S. 13) Die typische Prä-Lounge der oberen Luxus-Klasse aber ist das Palast-Hotel des 19. Jahrhunderts, das sich in seiner Monumentalität an die Schlossbauten des 16./17. Jahrhunderts, den Palastbau der italienischen Renaissance und des französischen Barock anlehnte (Schmitt 1982, S. 135, 146). Der Typ des prunkvollen Palast-Hotels war in gewisser Weise eine Mega-Lounge. Im Unterschied zum transitorischen Ort des Passanten-Hotels war es eine Weiche des symbolischen Tauschs und Bühne der Selbstdarstellung. Auf dem mikrologischen Niveau seines Inneren reproduzierte sich der Glamour und Luxus des Hauses in der ästhetischen Gestaltung unterschiedlichster Kommunikations- und Begegnungsräume. Ein anspruchsvolles Palast-Hotel, wie das 1907 in Berlin eröffnete Adlon-Hotel, verfügte neben Vestibül, Halle, Frühstücks- und Restaurationssälen, Wintergarten, Palmenfoyers und Veranden über eine Vielzahl weiterer exklusiver Räume (Musik-, Rauch- und Spielsalon, Konversationssalon, Damenzimmer, Schreibsalon und andere). Wenn diese vieldimensionale Lounge-Welt auch dem komfortablen Verweilen in einem luxuriösen Milieu diente, so war sie doch auch medialer Raum der habituellen Selbstverortung in einem sozialen Kosmos Autochthoner. Nicht alle Räume des Wartens waren oder sind atmosphärische Zonen des Luxus und der Distinktion. So hatten die Wartehallen der Auswanderer, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit Dampfschiffen über Bremerhaven nach Nordamerika übersiedelten, nicht den Charakter einer Lounge, viel eher den funktionaler und nüchterner Warteräume. Der gleichsam schicksalhafte Rahmen der gemeinsamen Situation der bevorstehenden Auswanderung gab kaum

181

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Spielräume frei für habituelle Praktiken gesellschaftlich-hierarchischer Selbstverortung. Atmosphärisch gehobene Nischen des vorübergehenden Aufenthalts boten und bieten schließlich die Verkehrsmittel selbst – Züge, Schiffe und Flugzeuge. Auch hier finden exklusive Lounge-Bereiche ihre Vorbilder in historischen Formen. Die Ruhe-Lounge im abgetrennten Sitzbereich vor dem Lokführerstand des ICE-3 gab es in ähnlicher Form nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA schon im Streamliner und California Zephur und in Italien im Settebello. Und die geradezu aristokratische Atmosphäre der Salons der Luxusdampfer des frühen 20. Jahrhunderts sollte im Zeitalter des Massentourismus auf den Kreuzfahrtschiffen der Freizeitgesellschaft als profaner Luxus »für alle« in klischeehafter Reduktion wiederkehren. Mit einem Bekenntnis zum uneingeschränkten Luxus präsentiert die Gesellschaft Private Jet Charter ihre Flugzeuge nach dem Slogan relax peacefully1 ihrem Kundenkreis – den Siegern unter den Globalisierungsgewinnern. Auch die fliegende Lounge im Privat-Jet hat ihre Vorläufer in der jüngeren Technikgeschichte: Im Speisesaal des Graf Zeppelin oder in den Lounge-Zonen der großen Passagierflugzeuge der 1930er und 40er Jahre. Wie der Garten, so suggeriert sich auch die Lounge als Raum der Kompensation und Erfüllung von Wünschen. Die Lounge für jedermann blendet im atmosphärischen Schaum »kleiner« Illusionen den unaufhebbaren Fortbestand weltlicher Sorgen psychologisch ab. Sie ist ein Garten im weiteren Sinne, der mit der Sorge in die menschliche Welt kam und in seiner Pflege auf sie bezogen bleibt. Im Unterschied zur profanen Lounge, die über ihre Atmosphäre die Zugehörigkeit zu einem Milieu der Exklusivität nur verspricht, intensiviert die Lounge definierter Mitglieder soziologisch bereits bestehende Exklusivität. Der Garten der Upper-Lounge ist kein mythischer Raum zur Kompensation der Sorge, sondern ein Milieu soziokultureller Selbstbeglaubigung und Vernetzung. Zum politisch korrekten Programm der Upper-Lounge gehört die gesellschaftliche Unbewusstmachung ihres exkludierenden Garten-Charakters durch das öffentliche Bekenntnis zu demokratischer Offenheit. Deshalb heißt es über die VIP-Lounge in der Frankfurter Commerzbank-Arena auch: »Hier trifft sich die Prominenz aus Sport, Gesellschaft und Wirtschaft aus der Rhein-MainRegion, aber auch alle anderen, die das Flair der großen Fußballereignisse in diesem besonderen Umfeld erleben möchten.«2 Die Praktiken der Verdeckung sozialer In- und Exklusionseffekte geben sich am Beispiel der Airport-Lounges zu erkennen. Unter dem Titel »Lounges für Jedermann« listet der Frankfurter Flughafen zwanzig Airport-Oasen auf, von denen tatsächlich aber nur drei unabhängig von einem First-Class-Ticket (gegen Zahlung eines Entgeltes) in Anspruch genommen werden können. Auch eine vierte Lounge, der von der Deutschen Bank und Deutschen Lufthansa betriebene »Frankfurt Airport Club«, ist nur theoretisch frei zugänglich, tatsächlich aber ein closed shop für Mitglieder mit komfortablen monetären Spielräumen.3 Sie ist eine Art barocker Garten 182

Lounge

und vermittelt den unbeschwerten Genuss, ebenso aber auch die Pflege wie kommunikative Herstellung von Netzwerken. Wie jeder ubiquitäre Raum-Typ, so spiegelt auch die Lounge in ihrer funktionalen Differenzierung die Dynamik gesellschaftlicher In- und Exklusionsprozesse auf soziokulturellen Subduktionszonen wider. In der kommoden Atmosphäre der Lounge für jedermann verwirklicht sich die Utopie einer »Demokratisierung« des Luxus auf raumzeitlichen Inseln der Illusion. In der neoliberalen Gegenwart, in der die individuelle Zukunftsperspektive flüchtig und die ökonomisch mittelfristige Sicherung des täglichen Lebens prekär wird, fungiert sie als Transitraum zwischen Traum und Realität. Deshalb muss sie sich als atmosphärisch umschäumter Raum der Selbstverinselung, als Milieu ästhetischer Kompensation bewähren (Sloterdijk 2004). Indes kündet die inflationäre Verbindung des Namens Lounge mit den profansten Orten des täglichen Lebens bereits von ihrem Ende – und damit dem Beginn einer neuen Geschichte autosuggestiver Orte der Selbst- und Fremdzuschreibung von Identität. Jürgen Hasse

A NMERKUNGEN 1 | www.privatejetcharter.com (Januar 2012) 2 | www.commerzbank-arena.de/service/hospitality (Dezember 2011) 3 | www.frankfurt-airport.de (Januar 2012)

L ITER ATUR Dürckheim, Graf Karlfried von (2005 [1932]), Untersuchungen zum gelebten Raum, hg. v. Jürgen Hasse (Natur – Raum – Gesellschaft, Bd. 4), Frankfurt a.M.: Selbstverlag des Instituts für Didaktik der Geographie. Hennig, Wolfram (2008), Die Bibliothekslounge – gepflegte Lümmelei oder neues Konzept?, B.I.T. online 3/2008, www.b-i-t-online.de/heft/2008-03/ bau1.htm (Juni 2012). Krings, Ulrich (1985), Bahnhofsarchitektur. Deutsche Großstadtbahnhöfe des Historismus, München: Prestel. Lau, Jörg (2000), Glück in tiefen Sesseln, ZEIT online, www.zeit.de/2000/19/ 200019.aussehen_lounges.xml (Juni 2012). Lepper, Martin (1998), Die Revitalisierung von Bahnhöfen – Neue Projekte im Paket schnell realisieren, in: Werkstattbericht. Bahnhof der Zukunft, hg. v. DB AG Station & Service, Frankfurt a.M.

183

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

N.N. (2001), Schaufenster Bahnhof, in: Menschen bei der Bahn, Deutsche Bahn AG, Berlin, S. 44-51. Schmitt, Michael (1982), Palast-Hotels. Architektur und Anspruch eines Bautyps 1870-1920, Berlin: Gebrüder Mann Verlag. Schriefers, Thomas (2010), LoungeWelten, Bramsche: rasch Verlag. Sloterdijk, Peter (2004), Sphären. Plurale Sphärologie, Band III: Schäume, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

184

Maquiladora

Ich nähere mich den neuen Foxconn-Produktionsanlagen von Santa Teresa, New Mexico kommend. Die erste Barriere ist schnell überwunden, der berüchtigte Grenzzaun, der seit 9/11 dort, wo bisher nur Sand, Stein und Staub war, die US-Südgrenze sichtbar macht. Die Ampel der mexikanischen Grenzschützer schaltet wie gewöhnlich auf grün und ich bin in Mexiko. Ein großes Schild signalisiert, dass es rechts zum Foxconn Campus geht. Ich bleibe am Straßenrand stehen. Man sieht nur einen mehrere Meter hohen Metallzaun. Keine Fabrik weit und breit. Nur ein unbemanntes Sicherheitstor durch das soeben ein FedEx-Truck die Anlage verlässt. Ich lenke mein Auto durch das Tor und folge einer breiten geteerten Straße, die auf beiden Seiten von drei Meter hohen Metallzäunen begrenzt wird. Noch immer keine Fabrik. Nach drei, vier Kurven taucht plötzlich eine Steinmauer auf. Ich halte an einem winzigen Parkplatz, biege um die Ecke und stehe vor einem enormen Sicherheitstor, dieses Mal bewacht von mehreren privaten Sicherheitskräften. 45 Minuten verwirrender Diskussionen mit den Wachen am Tor und mit unsichtbaren Verantwortlichen jenseits des Zauns scheinen im Sande zu verlaufen. Plötzlich hält ein Pkw mit vier Sicherheitskräften auf der Innenseite, eine Tür wird geöffnet, man winkt mich auf den Beifahrersitz und ich werde zum Fabrikeingang gebracht. Die Fahrt dauert fünf Minuten. Grenzauflösung. »A whole lot of things have to happen correctly to make that border invisible. So, if our client is producing in Mexico, the fact that the plant is

185

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

in Mexico should not create anymore challenges than if the plant was in Texas. And we do everything that’s required to make that happen. We are what’s called a ›certified company‹ in Mexico. We get fewer red lights at the border.« (Plant Manager 03.11.2011) Als periphere Knoten globaler Produktionsnetze verbinden Maquiladoras mexikanische Grenzstädte mit den Kathedralen des globalen Konsums. Zurzeit baut das taiwanesische Unternehmen Foxconn in Ciudad Juárez eine Megamaquiladora. Auf einer Fläche von 140.000 Quadratmetern stehen vier identische Produktionshallen und ein Logistikzentrum. Foxconn plant dort insgesamt vier solcher Komplexe; mit über 30.000 Beschäftigten entstünde die größte Maquiladora in Mexiko. Produziert werden iPhones für Apple und Computer für Dell. In den Lagerhallen auf beiden Seiten der Grenze stapeln sich Vorprodukte, die von Trucks und der Eisenbahn aus Werken in den USA und Kanada und über die Seehäfen aus Asien und Europa transportiert werden. Im Gegenzug warten fertige End- und Zwischenprodukte darauf, just-in-time an die Betriebe der Hauptabnehmer und die Konsumentinnen und Konsumenten ausgeliefert zu werden. Wenn irgendwo in den USA ein DellRechner online konfiguriert und bestellt wird, dauert es keine 48 Stunden bis FedEx ihn anliefert. Wert(e). Zu Zeiten der spanischen Herrschaft bezeichnete maquila den Teil des Mehls, den ein Müller als Lohn für seine Arbeit einbehalten durfte. Mexiko als armer Müller, die USA als reicher Bauer. »Yo traté muchas veces de cambiarle el nombre. Yo quería el nombre de production sharing, producción compartida.«1 So erinnert sich einer der Pioniere der Maquiladoraindustrie im Interview.2 Geteilte Arbeit klingt besser als Lohnfertigung, twin plant besser als sweatshop, Zwillingsstadt besser als Dritte-Welt-Agglomeration. Maquiladoras wecken Träume. »The Foxconn factory complex rises suddenly from the desert floor like an industrial oasis in a sea of sand and cactus.«3 Die Fabriken bringen Mexiko auf Augenhöhe mit den USA, katapultieren Städte wie Ciudad Juárez in eine neue Zeitrechnung. Es ging aufwärts, von Beginn an. Zeitweise arbeiteten etwa 300.000 Menschen allein in den Maquilas von Ciudad Juárez. Am Anfang verrichteten sie ausschließlich einfache manuelle Fließbandarbeit, dann kamen anspruchsvollere Produkte, moderne Produktionsanlagen und japanische Managementkonzepte. »Maquiladoras have come a long way in forty-five years. The early maquiladora plants were low investment, labor-intensive operations […]. In the 90’s, the industry experienced a decade of strong growth and consolidation, a significant technological leap.«4 Maquiladoraarbeit ist vielschichtig. Viele operador@s arbeiten nicht ungern in den Fabriken. »Viví en el rancho, en mi pueblo. No me pagaban nada, y trabajaba de sol a sol. Aquí, trabajo en la sombra. Poco hago con los años, y me pagan. ¿Está mejor no?«5 (Arbeiterin 12.10.1999) Grenzziehung. »Die Stadt selbst ist eigentümlich gebaut. […] Das kommt aber hauptsächlich daher, daß durch unbewußte, stillschweigende Überein186

Maquiladora

kunft wie durch bewußte ausgesprochene Absicht die Arbeiterbezirke von den der Mittelklasse überlassenen Stadtteilen aufs schärfste getrennt oder, wo dies nicht geht, mit dem Mantel der Liebe verhüllt werden.« (Engels 1972 [1845], S.  278) Die Grenze zwischen den USA und Mexiko, zwischen Nord und Süd durchzieht vielfach multipliziert die Maquiladora-Städte. In Ciudad Juárez teilt sie die Stadt der modernen Industrieparks, der Wohngebiete und Freizeiteinrichtungen gehobener Bevölkerungsschichten vom »anderen« Ciudad Juárez mit seinen semilegalen colonias populares am Stadtrand und den colonias im hügeligen Westteil der Stadt. »Los operadores están asentadas en toda la periferia. En la periferia. Llamamos la Guadalajara Izquierda, Lomas del Poleo, Anapra, osea, todos esos lugares que son los más pobres, ahí están establecidos.«6 (Aktivist 23.03.2011) »Ellos viven, lejos, lejos, lejos, por Anapra, […] todos los días están luchando por vivir.«7 (Personalleiterin 11.09.2000) Aber die Grenze verläuft auch kreuz und quer durch die Industrieparks, auf der einen Seite die »mexikanischen« sweatshops der ersten Maquila-Generation, auf der anderen die hochmodernen Anlagen der neuesten Betriebe. Und sie macht auch nicht an den Betriebstoren halt: Sprachgrenzen teilen US-amerikanische Führungs- und mexikanische Produktionsbereiche, wo sich wiederum alte Fließbandfertigung auffällig von neuer, computergesteuerter Produktion abhebt. Auf dem Shopfloor werden Angehörige moderner Produktionslinien häufig mit Ablehnung durch ihre Kollegen und Kolleginnen konfrontiert. »Y nos dicen que nos damos mucha importancia. […] Y, así nos pusieron: ›la jaula de las locas‹, ›los pitufos‹.«8 (Arbeiterin 27.02.2002) Entwertung und Ausgrenzung. »When the maquila spits you out, drug-dealing becomes a way of staying, a way of living. You stay and survive the best you can.«9 Als Wächter der Grenze zwischen modernen, nördlichen Produktionswelten und einem »rückständigen«, »undisziplinierten« Süden markieren Entscheidungsträger unerwünschte Elemente, entwerten, verweigern Zutritt, schieben ab. Aufsehenerregende Frauenmorde, feminicidio, alltägliche Gewalt in den Familien, über 10.000 Opfer des derzeit tobenden Drogenkrieges, die Maquiladoras wollen nichts mit der murder city zu tun haben. »Some guy coming in and having some bandana on his head, tattooed from head to foot. And he just doesn’t look like he would fit in our family. Why hire?« (Plant Manager 20.10.1999) »If they were assassinated they were involved in the drug industry, in some form.« (Plant Manager 03.11.2011) Die Opfer bezahlen aus dieser Sicht für ihren unsteten Lebenswandel. »They were killed at two-thirty in the morning and it was in a back alley of a strip club and there was a gun-fight.« (Ebd.) Die vergewaltigten und gefolterten Frauen scheinen deshalb selbst für ihr Schicksal verantwortlich zu sein. »Freitags, du müsstest mal kucken, wie die Damen sich anziehen, weil sie am Freitagabend alle tanzen gehen und so weiter. They know how to enjoy life, they really do.« (Plant Manager 05.10.2000) Schwanger, allein187

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

erziehend, vergnügungssüchtig, unmotiviert, unverantwortlich, solche Frauen stören den reibungslosen Ablauf standardisierter, grenzenloser just-in-time-Produktion. Als wertloser Ausschuss moderner Produktion werden sie aussortiert. »[Wal-mart] got upset with us, because we do pregnancy tests on the ladies.« (Plant Manager 03.11.2011) Aber es besteht Hoffnung. »Some of them are good workers, some of them will stay. And they change, once they get married.« (Personalleiter 25.10.1999) Ausgeblendet wird, dass sich die Maquiladoras die Stadt nach ihren Bedürfnissen gestaltet haben. Bis zu einem Viertel der Bevölkerung in Ciudad Juárez arbeitet in den Fabriken, der Alltag der Menschen ist ohne die Maquilas nicht zu denken. Man stiehlt sich aus der Verantwortung und zieht sich in die exklusiven Schutzräume transnationaler Produktionsnetze zurück. »Executives can drive across the border in a controlled zone in five minutes and drive back again.« (Plant Manager 03.11.2011) »I spend the night in the closest safe and secure place possible – in this case, El Paso – and commute over the border daily.«10 Arbeit am Menschen. »Our workers should be proud to work for the company. They should see the company as being part of their lives.« (Human Ressource Manager 04.11.2011) Es genügt nicht mehr der Arbeit am unteren Ende der Supply Chains allein durch tayloristische Disziplinierung Form zu geben. Die Qualitätsansprüche der Konsumentinnen und Konsumenten sind viel zu hoch. Die Körper der Beschäftigten nur möglichst effizient auszurichten und zu positionieren ist zu wenig, es gilt den ganzen Menschen zu binden und anzurufen. Dazu werden Drehbücher geschrieben und zur Aufführung gebracht, die sich nur wenig von den Skripten unterscheiden, die an privilegierteren Schauplätzen unserer globalen Wissensökonomie inszeniert werden. Totale Qualität, continuous improvement, six sigma, upgrading, Lernen, skilling. Solche Appelle fallen auf fruchtbaren Boden, dienen der Selbstidentifikation als individualisierte Subjekte moderner Produktionswelten. »Hay que buscar un poquito más. […] hay que superarse.«11 (Arbeiterin 06.03.2002) »Sobrellevarse más. Subir, más.«12 (Arbeiterin 27.09.2000) Im Benchmarking-Korsett aus Qualitätskennziffern und Produktivitätsraten anderer Betriebe im Produktionsnetz wird individuelles Aufstiegsstreben durch die Einbettung in ein Kollektiv homogen-heterogener Menschen kanalisiert. »One intends to create a family, mediated through the company.« (Manager 15.09.2000) »This company is like a big family.« (Human Ressource Manager 12.09.2000) »Aquí […] como somos una familia, es como una casa que uno ya sabe lo que va a hacer.«13 (Vorarbeiterin 27.09.2000) Aber gleichzeitig werden feine Unterschiede gemacht, die für eine produktive Spannung in der Unternehmensfamilie sorgen. Manager und Vorarbeiter fungieren als Schiedsrichter betrieblicher Schönheitswettbewerbe. »Anspruchsvollere« Arbeiten, vor allem wenn sie den Einsatz von Maschinen erfordern, sind Männern vorbehalten. Männer, die in frauendominierten Bereichen arbeiten, werden demgegenüber von Kolleginnen und ihren 188

Maquiladora

Peers außerhalb feminisiert. »Sí, está bien mixto, hombres y mujeres, porque el trabajo lo realiza tambien un hombre como una mujer. […] Hay areas que no quieren hombres, pero, osea, no hay opción: o hombres o no hay personal.«14 (Vorarbeiterin 09.10.2000) Wie an anderen Arbeitsorten im neoliberalen Kapitalismus herrscht in den Maquilas eine eigentümliche Spannung aus Selbstinszenierung und Selbstausbeutung. Und zwar nicht nur auf der Ebene des Managements. Bei der Herstellung von Dell-Notebooks und iPhones werden verschiedene Differenzdimensionen produktiv und gewinnbringend in Wert gesetzt. Gender, Ethnizität oder Nationalität dienen als Marker für flexible und effiziente Unternehmenskulturen und geben arbeitenden Subjekten neue Form. Übergänge und unbestimmte Grenzräume. Als obligatorische points of passage trennen Maquiladoras Insider und Outsider moderner Produktionswelten. »A border is a dividing line, a narrow strip along a steep edge.« (Anzaldúa 1987, S. 45) Menschen, Dinge und Orte werden zu mobilen Grenzgängern, in deren Spiegel die jeweils andere Seite ihre jeweilige Form erhält. Gleichzeitig durchbrechen diese Entitäten als hybride atravesad@s die Grenzen und entziehen sich diesen Positionierungen immer wieder. So entstehen instabile Borderlands zwischen marktförmigen und nicht-marktförmigen Beziehungen, patriarchalischen und emanzipatorischen Gender-Verhältnissen, Ausbeutung, Selbstidentifikation und Widerstand. Schauplätze, an denen Kämpfe um Umverteilung und Kontrolle toben, die sich nicht einseitig auf eine Kapitalverwertungslogik reduzieren lassen. »A borderland is a vague and undetermined place created by the emotional residue of an unnatural boundary. It is in a constant state of transition. The prohibited and forbidden are its inhabitants.« (Ebd.) Nach ziemlich genau 30 Minuten Interview mit einem Mitarbeiter der Personalabteilung werde ich wieder zum Eingangstor zurückgefahren. Einer der Security Guards erzählt mir, dass er vor knapp drei Jahren aus Durango nach Juárez gekommen ist und im Südosten der Stadt lebt. Sein täglicher Arbeitsweg zu Foxconn dauert etwa 2 Stunden, er steht um 4 Uhr auf und ist selten vor 22 Uhr zurück. Wir reden auch noch kurz über Lomas del Poleo, eine Community in der Nähe der Fabrik, die ins Kreuzfeuer mächtiger ökonomischer Interessen geriet, als die ehrgeizigen binationalen Entwicklungspläne in Verbindung mit der Ansiedlung von Foxconn bekannt wurden. Da sich die Anwohnerinnen und Anwohner weigerten ihre Häuser zu verlassen, wurden bezahlte Provokateure angeheuert, die der Forderung mit Gewalt Nachdruck verliehen. Es gab Tote und Verletzte. Als ein »harter Kern« den Widerstand auch nach diesen Übergriffen nicht aufgab, wurden ihre Häuser kurzerhand eingezäunt und Wachtürme aufgestellt. Der Zugang wird seitdem von privaten Sicherheitskräften kontrolliert, ohne dass es irgendeine rechtliche Grundlage dafür gibt. Ich mache auf dem Rückweg kurz bei Lomas del Poleo Halt. Von den ursprünglich etwa 250 Familien leben derzeit (November 2011) nur noch 13 in der 189

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

colonia, fünf davon innerhalb des Zaunes. Schließlich erreiche ich Ciudad Juárez und überquere nach knapp zweistündiger Wartezeit die alte Grenzbrücke nach El Paso, Texas. Christian Berndt

A NMERKUNGEN 1 | »Ich habe immer wieder versucht, den Namen zu ändern. Ich wollte den Namen production sharing, producción compartida.« 2 | Schmidt, Samuel (1998), En busca de la decisión: La industria maquiladora en Ciudad Juárez, Ciudad Juárez: Colección Sin Fronteras. 3 | Roberts, Timothy (2010), Inside Foxconn: Electronics giant grows in the Mexican desert, El Paso Inc., 15. Juni 2010. 4 | Ornelas, Sergio L. (2011), Threats and opportunities abound, MexicoNow 9(53), July/August, S. 23. 5 | »Ich lebte auf dem Land, in meinem Dorf. Sie zahlten mir nichts, und ich arbeitete von früh bis spät. Hier arbeite ich im Schatten. Ich mache recht wenig, und sie bezahlen mich. Ist besser so, oder nicht?« 6 | »Die Arbeiter leben überall in der Peripherie. In der Peripherie. Guadalajara Izquierda, Lomas del Poleo, Anapra, genauer gesagt alle diese Orte, die am ärmsten sind, hier haben sie sich niedergelassen.« 7 | »Sie leben weit weit weit weg, in Anapra, [...] Tag für Tag kämpfen sie um das Überleben.« 8 | »Und sie sagen uns, wir würden uns sehr wichtig nehmen. [...] Und so machen sie sich über uns lustig: ›Der Käfig der Närrinnen‹, ›die Schlümpfe‹.« 9 | Vulliamy, Ed (2010), The Wachovia whistleblower, The Nation, 9. Dezember 2010. 10 | Thompson, Rick (2011), Juárez moves on despite violence, El Paso Times, 3. April 2011. 11 | »Man muss immer ein bisschen mehr suchen. [...] Man muss sich verbessern.« 12 | »Mehr auf sich nehmen. Aufsteigen, weiter.« 13 | »Hier [...] sind wir wie eine Familie, ein Zuhause, in dem jeder weiß, was er zu tun hat.« 14 | »Es ist ganz gut verteilt, Männer und Frauen, die Arbeit können sowohl Männer wie Frauen machen [...] Es gibt Bereiche, die keine Männer wollen, aber, genauer gesagt man hat keine Wahl: entweder Männer oder es gibt kein Personal.«

190

Maquiladora

L ITER ATUR Anzaldúa, Gloria E. (1987), Borderlands – La Frontera: The New Mestiza, San Francisco: Aunt Lute. Engels, Friedrich (1972 [1845]), Die Lage der arbeitenden Klasse in England. MEW Band 2, Berlin: Dietz Verlag, www.mlwerke.de/me/me02/me02 _256.htm (Juni 2012).

191

Nano

Nano ist ein Nicht-Ort. Dennoch ist Nano an unzähligen Orten präsent. Doch diese Präsenz ist ohne eine fortlaufende diskursive Arbeit der Ver- und Entortung von Nano nicht zu denken. Slogans wie »Alles Nano« finden sich heute an vielen Orten: so in Titeln populärwissenschaftlicher Bücher (zum Beispiel Boeing 2011), wissenschaftlicher Konferenzen oder von Bürgerdialogen zu den Chancen und Risiken der Nanotechnologie (zum Beispiel im Deutschen Museum im September 2011). An diesen Orten steht Nano zunächst für den Nanometer (nm) als Maßeinheit für einen milliardstel Meter. Bekanntlich bezeichnet ein Maß noch keinen Raum und keinen Ort. Als Vorsilbe von Nanotechnologie verweist Nano auf ein höchst vielschichtiges Feld an Forschungen und Entwicklungen, deren Ergebnisse und Produkte durch Manipulationen von Materie in einer Dimension im Größenbereich von < 100 nm erreicht werden. Dies kann für Verfahren und Produkte in so unterschiedlichen Technologiebereichen und Branchen wie der Material-, Bio-, Medizin-, Computer- oder Umwelttechnologie, als auch der Reinigungs-, Lebensmittel-, Textil- und Automobilindustrie gleichermaßen zutreffend sein. Angesichts dieser Heterogenität ist es naheliegend, dass die Vorsilbe Nano an sehr vielen und unterschiedlichen Orten in der Gegenwartsgesellschaft zu finden ist. Wie findet man diese Nano-Orte? Bei der Suche nach Orten von Nano hilft tatsächlich eine Art »Ortsregister«, die »nano-map«1 , weiter: Bei nano-map handelt es sich um einen Kompetenzatlas für Nanotechnologie in Deutschland, der vom VDI-Technologiezentrum in Düsseldorf, gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) erstellt wurde. Dieser Atlas verzeichnet auf Landkarten die Orte, an denen sich Forschungsinstitute, Unternehmen, Netzwerke, Behörden, Verbände, aber auch Museen und Medien befinden, die sich in irgendeiner Form mit Nanotechnologie beschäftigen. Das registrierte Spektrum ist breit: Es umfasst unter anderem Orte nanotechnologischer Forschung und Entwicklungen aus der Energieforschung, Umwelttechnik, Medizin, Pharmaindustrie, Optik, Textilindustrie, Informations- und Kommunikationstechnologie. Verzeichnet sind Orte der physikalischen und chemischen Forschung, der Begleitforschung durch Technikfolgenabschätzung und ethische Bewertung, der Produktent192

Nano

wicklung und der Kommunikation von Chancen und Risiken der Nanotechnologie in der Öffentlichkeit (zum Beispiel durch Museen und Massenmedien). All die Tätigkeiten an den registrierten Orten haben etwas mit Nanotechnologie zu tun, wenn auch in höchst unterschiedlicher Art und Weise. An all den Orten der nano-map, so lässt sich als deren gemeinsamen Nenner festhalten, wird etwas betrieben, was einen expliziten Bezug zu Nanotechnologie hat. Jenseits solcher Ortsregister wird man bei der Suche nach den Orten von Nano doch recht verwirrt. Mit einer Google-Recherche stößt man auf eine Fülle von Nano-Orten, die kaum einen systematischen Zusammenhang untereinander erkennen lassen. Ein paar Beispiele: Naheliegend mag es sein, dass Unternehmen wie NanoConcept oder Nano-X, die nach ihren Aussagen nanotechnologische Produkte wie Versiegelungen, Lacke, Reinigungsmittel, Farben, Beschichtungen herstellen und vermarkten, Nano in ihrem Firmennamen tragen. Der TV-Sender 3sat bietet eine Wissenschaftssendung namens Nano an. Die Beiträge der Sendung behandeln sehr unterschiedliche Themen neuerer Wissenschaften und Technologien; Nanotechnologie ist hier ein Thema unter vielen anderen. Bei anderen Treffern der Google-Recherche ist der Bezug zu neuen Wissenschaften und Technologien uneindeutig. So kurvt durch die indische Metropole Mumbai ein Kleinstwagen, der Tata Nano. Bei der schweizerischen Supermarktkette MIGROS erhält man ab einer bestimmten Einkaufssumme kleine Sammelfiguren für Kinder, die Nanos. Der Betriebskindergarten auf dem Campus Nord des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) heißt ebenfalls nanos. Das Wort Nano ist damit an allen möglichen Orten präsent. Nano ist mehr als eine Vorsilbe und muss sich schon gar nicht auf Nanotechnologie beziehen. Nano steht eher undifferenziert für vieles Kleine. Damit bliebe als einzige die etymologische Referenz auf das altgriechische Wort für Zwerg – eben nános – übrig. Wie aber lässt es sich erklären, dass so viele kleine Dinge und Wesen unter dem Label Nano geführt werden, sekundär, ob sie mit Nanotechnologie in einem Zusammenhang stehen? Woher rührt die Attraktivität von Nano als mächtigem »leeren Signifikanten« (Jacques Lacan) der Gegenwartsgesellschaft? Nanotechnologie lässt sich nicht plausibel nur als Oberbegriff für ein Technologiefeld beschreiben. Vielmehr ist sie ein gesellschaftlich-kommunikatives Produkt, das den Effekt einer zu einer bestimmten Zeit etablierten und stabilisierten »diskursiven Formation« (Michel Foucault) darstellt. Als Diskursprodukt bleibt die Nanotechnologie dynamisch. Sie kann sich aufgrund von Umordnungen gesellschaftlicher Erwartungskonstellationen an erwünschte oder auch unerwünschte Potenziale von Nanotechnologien jederzeit wieder destabilisieren und neu konfigurieren. Nanotechnologie existiert nicht aufgrund einer besonderen und für alle nanotechnischen Forschungen und Entwicklungen gemeinsamen sachtechnischen Identität oder Funktion. Sie ist ein erfolgreiches Diskursprodukt mit vielen wirklichkeitskonstituierenden Effekten, die sich an 193

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

ihren unzähligen technischen Materialisierungen und Handlungsstrukturierungen zeigen. Für diese Erfolgsgeschichte der Nanotechnologie sind Visionen und Zukunftserwartungen aller beteiligten Akteure konstitutiv. Welche Rolle spielen Visionen von Zukunftsräumen der Nanotechnologie und Strategien der Verortung und Entortung für die Omnipräsenz von Nano in der Gegenwartsgesellschaft? Die Diskursgeschichte der Nanotechnologie gibt darüber Aufschluss. Die Zukunftsvisionen zur Nanotechnologie waren von Beginn an, so auch beim Auftakt der politischen Forschungsförderung der Nanotechnologie Ende der 1990er Jahre, durch räumliche Semantiken geprägt, die Entscheidungen und Handlungen in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik orientieren, indem sie Evidenzen für Orte aussichtsreicher Forschung und auch Investition erzeugen. So dominierte die Programmstrategien der US-amerikanischen Forschungsförderung Ende der 1990er Jahre die Vision von Nanotechnologie als einer Eroberung neuer und bislang dem Menschen verschlossener Räume. Diese räumliche Semantik ändert sich ab ca. 2005. An die Stelle der Imagination zukünftiger Räume treten Strategien der Lokalisierung und Verortung von Nanotechnologie in der Forschungs- und Entwicklungslandschaft der Gegenwart (Lösch 2013). Die hier erzeugten Orte sind es, welche die genannte nano-map zu kartieren sucht. Mit Blick auf die heutige Entkopplung von Nano von der Nanotechnologie und der Verstreuung ihrer Orte wird solch eine Kartierung von Nano-Orten zu einem unmöglichen Unterfangen. Aus den Visionen von neuen Räumen der Nanotechnologie über die forschungspolitische und gesellschaftliche Verortung eines Innovationsfeldes namens Nanotechnologie scheint, losgelöst von Nanotechnologie, eine allgemeine Chiffre einer Gesellschaft geworden zu sein, der das Kleinste so attraktiv erscheint, dass es, verstreut an allen möglichen Orten, fast schon als universelle »Marke« auffindbar ist. Für was steht diese Chiffre? Wie ist ihre Emergenz erklärbar? Welche Rolle spielen hierfür die räumlichen Semantiken der Zukunftserwartungen an die Nanotechnologie? Ende der 1990er Jahre erzeugt die räumliche Semantik in Zukunftsvisionen zur Nanotechnologie Aufmerksamkeiten und Vertrautheiten für etwas Neues und noch Unbekanntes. »Neue Räume« für wissenschaftlich-technische Interventionen und Gestaltung werden imaginiert. Rekonstruktionen der Geschichte der Nanotechnologie beginnen zumeist mit der Initialrede There is plenty of room at the bottom des zum Vater der Nanotechnologie erhobenen Physikers Richard Feynman (1960). Feynmans Vortrag lenkt den Blick auf neuartige Forschungsmöglichkeiten im Größenbereich von Nanometern. Seine Rede stellt einen wichtigen Referenzpunkt für den Auftakt der US-amerikanischen Forschungsförderung zur Nanotechnologie dar. In einem ihrer Schlüsseldokumente, Nanotechnology. Shaping the World Atom by Atom (NSTC 1999), wird die Nanotechnologie als Aufbruch in den von Feynman markierten Raum vorgestellt. Der Raum wird zum Nanokosmos erhöht; die Bedeutung seiner Erforschung mit der Eroberung des Makrokosmos Weltraum durch die US-amerikanische 194

Nano

Mondfahrt gleichgesetzt. Der imaginierte Nano-Raum wird als Möglichkeitsraum präsentiert, in dem sich durch Verschiebungen von Atomen unbegrenzte Optionen der technischen Neugestaltung der Welt eröffnen (Nordmann 2007). Zur Erzeugung von Evidenz für die technische Funktion der Nanotechnologie wird Don Eiglers Platzierung einzelner Atome mit dem Rastertunnelmikroskop zum IBM Schriftzug referiert; schließlich habe sich sein Unternehmen damit – in Analogie zum Setzen der US-amerikanischen Flagge auf dem Mond – auf der Oberfläche des neuen Nano-Raumes verewigt. Das Motiv der nanotechnischen Weltgestaltung, ausgehend von Atomen, stammt aus den Visionen des Nanofuturisten Eric Drexler. In Engines of Creation (1986) entwarf Drexler die Vision von »Nanoassemblern«, kleinen Maschinen aus Molekülen, die ausgehend vom Nanometerbereich alle möglichen makroskopischen Stoffe und Materialien erzeugen können. Raumimaginationen prägen viele Visionen zur Nanotechnologie. So werden bis heute Zukunftspotenziale der Nanotechnologie in der Medizin durch aus Science Fiction bekannten Raumszenarien von in den menschlichen Blutbahnen operierenden Minirobotern visualisiert (Lösch 2013). Die räumliche Semantik der Visionen der Formierungsphase der Nanotechnologie erzeugt damit Aufmerksamkeiten und zugleich Vertrautheiten für eine unbegrenzte Anzahl an Orten neuer wissenschaftlich-technischer Interventionen, durch die sich unterschiedlichste Verfahren und Produkte mit neuen Eigenschaften und Funktionalitäten entwickeln lassen. Die Visionen der imaginären Räume zukünftiger Nanotechnologien erzeugen Evidenzen in Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und den Massenmedien und sind als Medien der Kommunikation über die Zukunftspotenziale der Nanotechnologie für die anfängliche Konsolidierung des Feldes Nanotechnologie konstitutiv. Ab ca. 2005 aber ändert sich mit den ersten als wirtschaftlich verwertbar geltenden Erfolgen die räumliche Semantik der Zukunftserwartungen an die Nanotechnologie. Beispielsweise versuchen Broschüren des BMBF nicht mehr Aufmerksamkeiten für Innovationsmöglichkeiten in fernster Zukunft zu erzeugen. Sie lenken den Blick auf die Potenziale gegenwärtig stattfindender Forschungen und Entwicklungen. Bei gegenwärtigen Produkten wie beschichteten Oberflächen, Nanopartikeln in Kosmetika oder sich selbst reinigenden Textilien bleibt die Nanotechnologie für den Betrachter unsichtbar. Die meisten Produkte sind kaum von herkömmlichen Produkten zu unterscheiden. Für diese Innovationen der Nanotechnologie in der Gegenwart wird Sichtbarkeit und Evidenz dadurch erzeugt, dass diese in der bestehenden Forschungs- und Entwicklungslandschaft geortet und als Anfänge weitreichenderer Durchbrüche der Zukunft verortet werden. Die diskursive »Verortung« führt zur Kondensierung eines höchst differenzierten Feldes, in dem unterschiedliche Forschungen und Entwicklungen aus Medizin, Biotechnologie, Materialwissenschaften, Informationstechnologien und viele mehr ihren Platz finden können. Das Feld wird 195

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

als Feld der Nanotechnologie kommuniziert. Das Feld stellt den temporär stabilisierten Effekt von Ergebnissen kommunikativer Aushandlungen zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Massenmedien dar. Ob eine bestimmte Forschung und Entwicklung im Größenbereich < 100 nm tatsächlich als Nanotechnologie bezeichnet wird, kann von den Präferenzen jeweils vorherrschender forschungspolitischer Programmatiken, Investitionsabsichten von Wirtschaftsunternehmen oder auch massenmedialen Inszenierungen gleichermaßen abhängen. Zu den Diskursen der Feldkonstitution sind auch die Risiko-, Regulierungsund Sicherheitsdebatten zu den unerwünschten Folgen der Nanotechnologie zu rechnen. Das anfängliche Zögern von Wirtschaftsunternehmen, ihre Produktentwicklungen als Nanotechnologie zu etikettieren, begründet sich auch über die Ungewissheiten bezüglich potenzieller Gesundheits-, Umwelt- und Akzeptanzrisiken der Nanotechnologie. Unter Berufung auf das vielseitige Nichtwissen über mögliche unerwünschte Folgen der Nanotechnologie, werden seit einigen Jahren von Politik, Wissenschaft und NGOs runde Tische für Dialogverfahren eingerichtet, an denen sich Vertreter der unterschiedlichen Bereiche des Feldes Nanotechnologie über ihr Wissen, über Innovationspotenziale und potenzielle Risiken austauschen sollen (zum Beispiel über Codes of Good Practice, Verfahren integrierter Risiko-Governance, Möglichkeiten der Bürgerpartizipation). All diese Verfahren sind Elemente der diskursiven Produktion von Orten der Nanotechnologie. Die nano-map stellt ein Ergebnis dieser Verortungsarbeit dar. Nano wird im Modus sozio-politischer Aushandlungsprozesse in der Gegenwartsgesellschaft verortet und doch gleichsam aufgrund der Dynamik eines diskursiven Feldes immer schon potenziell entortet. Heute, Anfang 2012, erscheinen die Orte von Nano derart verstreut, dass von einem kartierbaren Feld nicht mehr die Rede sein kann. Die räumliche Semantik der Verortung transformiert sich in eine »Entortung«, die an der gegenwärtig beobachtbaren Verstreuung des Labels Nano sichtbar wird. Diese Verstreuung stellt aber keinen Bruch in der Diskursgeschichte von Nano dar; sie wird in der konstitutiven Verortung des Feldes Nanotechnologie vorbereitet. Man erinnere sich an MagicNano. 2006 kam es zu Gesundheitsschädigungen von Konsumenten bei der unsachgemäßen Nutzung des Oberflächenversiegelungs- und Badreinigungssprays MagicNano. Der Vorfall fungierte als Katalysator für die Erhebung der Risiko- und Sicherheitsforschung zur Nanotechnologie auf eine breitere gesellschaftliche Agenda (Lösch 2013). Für die Ver- und Entortungen von Nano ist es entscheidend, dass an diesem problematischen Produkt deutlich wurde, dass selbst Experten des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) zuerst nicht wussten, ob dieses Produkt etwas mit Nanotechnologie zu tun hat – außer, dass es Nano in seinem Produktnamen trägt. Im Rahmen ihrer Aufklärungsarbeit stellte sich schnell heraus, dass das Produkt gar keine Nanopartikel enthielt. Zur Nutzung 196

Nano

in Spraydosen und zudem in geschlossenen Räumen war die Substanz ähnlich einem Imprägnierspray für Leder schlicht ungeeignet. Markant ist der Vorfall deshalb, weil sich an ihm eine Debatte über die Möglichkeiten, Chancen und Risiken der Produktkennzeichnung formierte: Darf ein Produkt, was gar keine Nanotechnologie enthält, überhaupt als Nano bezeichnet werden? Was charakterisiert ein Nanoprodukt? Aber auch: Wie hoch ist das Risiko eines Imageschadens für die gesamte Nanotechnologie, wenn ein einzelnes Produkt aus einem einzigen Bereich des Feldes sich als schädlich erweist? Diese Fragen und Bedenken scheinen heute vergessen. Nano klebt als Label auf allen möglichen Produkten, auch dann, wenn sie wie das indische Kleinstmobil oder die Sammelfiguren der schweizerischen Supermarktkette keinen expliziten Bezug zur Nanotechnologie haben. Das eben erst stabilisierte Feld der Nanotechnologie verflüssigt sich. Aber Nano verschwindet nicht, sondern verstreut sich erfolgreich über die gesamte Gesellschaft. Nano scheint so begehrenswert, dass unzählige Produkte seinen Namen tragen. Die Verortung unterschiedlichster Forschungen und Entwicklungen in einem Feld namens Nanotechnologie verkehrt sich in eine Entortung. Ist dies die Realisierung der Eroberung unbegrenzter Räume durch Nano, auf die die Nanovisionen der 1990er Jahre aufmerksam machten? Nano ist heute wirklich ein »leerer Signifikant« nicht nur für forschungspolitische und sozioökonomische Hegemoniestrategien (Wullweber 2008), sondern vielmehr für die Matrix des Konsums in der Gegenwartsgesellschaft. Nano, der Zwerg ist überall; jeder und jede kann an Nano teilhaben. Aufgrund seiner Unbestimmtheit wird Nano zu einem Integrationsmedium einer durch Konsum als Egalitäts- und Distinktionsprinzip (Schrage 2009) integrierten Gesellschaft. Nicht umsonst stehen die kleinen iPhones zunehmend höher im Begehrlichkeitskurs als die großen Mittelklassewagen der Automobilindustrie. Nicht umsonst soll demnächst auch ein iPhone nano auf den Markt kommen. Andreas Lösch

A NMERKUNG 1 | www.nano-map.de

197

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

L ITER ATUR Boeing, Niels (2011), Alles Nano?! – Technik des 21. Jahrhunderts, Reinbek bei Hamburg: Rowolth. Drexler, K. Eric (1986), Engines of Creation. The Coming Era of Nanotechnology, New York: Fourth Estate. Feynman, Richard (1960), There’s Plenty of Room at the Bottom. An Invitation to Enter a New Field of Physics, Caltech Engineering and Science 23(5), S. 2236. Lösch, Andreas (2013), Die diskursive Konstruktion technologischer Wirklichkeit. Eine Analytik der Feldformierung im Fall Nanotechnologie, Baden Baden: Nomos. Nordmann, Alfred (2007), Gestaltungsspielräume in der Nanowelt: Eine SpaceOdyssee, in: Zukunftspotentiale der Nanotechnologien. Erwartungen, Anwendungen, Auswirkungen, hg. v. Dieter Kroczak und Anton Lerf, Kröning: Asanger, S. 159-184. National Science and Technology Council (1999), Nanotechnology. Shaping the World Atom by Atom, Washington: NSTC. Schrage, Dominik (2009), Die Verfügbarkeit der Dinge. Eine historische Soziologie des Konsums, Frankfurt a.M. und New York: Campus. Wullweber, Joscha (2008), Nanotechnology – An Empty Signifier à venir? A Delineation of a Techno-socio-economical Innovation Strategy, Science, Technology & Innovation Studies 4(1), S. 27-45.

198

Niemandsland

Wenn wir an ein Niemandsland denken, denken wir vielleicht an die Streifen zwischen den Armeen auf den blutdurchtränkten französischen Feldern des Ersten Weltkriegs oder vielleicht an den Todesstreifen, welcher der Berliner Mauer eine bedrohliche Fülle von Leere verlieh. Beispiele für heutige Niemandsländer könnten das Gebiet nördlich der US-mexikanischen Grenze, der Grenzstreifen zwischen Israel und dem Westjordanland oder auch Orte wie Guantánamo Bay sein. Diese Liste wirft allerdings zwei wichtige Fragen auf: Wer ist eigentlich Niemand, wer gehört in ein Niemandsland? Und welche Verbindung lässt sich zwischen dessen Existenz und einem Territorium ziehen? Soziales Leben, egal in welcher Gesellschaft oder historischen Epoche, wird immer zu Teilen dadurch organisiert, dass bestimmte Personen, Gegenstände oder Aktivitäten als irgendwohin gehörend (»in place«, Cresswell 1996) und als anderswohin nicht gehörend (»out of place«) wahrgenommen werden. Die soziale Strukturierung eines Territoriums resultiert hieraus: Ein Territorium kommt dadurch zustande, dass eine bestimmte Ordnung von Zugangs-, Durchgangs-, An- beziehungsweise Abwesenheits-, Ausgrenzungs- oder Aufenthaltsrelationen über ein bestimmtes Areal etabliert wird. Dies geschieht oftmals durch soziale Kämpfe oder Verhandlungen zwischen verschiedenen Gruppen. Die daraus resultierenden Ordnungen gelten immer nur vorübergehend, ganz gleich ob sie nur mittels informeller Gewohnheitsmuster, der Polizei oder in materialisierter Form einer Mauer beziehungsweise bebauter Landschaften für eine bestimmte Zeit aufrechterhalten werden. Und selbst die vermeintlich solidesten Formen von Ordnungen werden beständig durch oppositionelle, gegenläufige oder einfach »unpassende« Aktivitäten erodiert. Im Rahmen einer solchen Ordnung scheint Niemandsland wortwörtlich ein place, ein Stück eines Territoriums zu sein, wohin niemand gehört. Nun ist aber die Strukturierung eines Territoriums zugleich auch immer eine Strukturierung von Subjektivierungsmöglichkeiten. Stets sind es bestimmte Kategorien von Akteur_innen, die ihre Aktivitäten innerhalb einer territorialen Ordnung zu einem leiblichen (embodied) Leben zusammenschmieden. Wer ich bin, hängt

199

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

untrennbar damit zusammen, wohin ich in bestimmten Lebensphasen, an bestimmten Tageszeiten usw. (nicht) gehöre. Wie ich mit dieser »Architektur« der mir prinzipiell zugänglichen oder versperrten Lebenszonen umgehe, zum Beispiel ob ich, wie es nicht selten Teenager machen, die Grenze dieser Architektur von Zeit zu Zeit »experimentell« überschreite, stellt ein wichtiges Element meiner Identitätsbildung dar. Wer gehört in ein Niemandsland? Niemand ist nur selten eine allgemeine Abwesenheit, eine Negation von allen spezifischen Identitäten. Im ersten oben genannten Fall trägt Niemand eine Uniform, er (nur in seltenen Fällen sie) liegt im Matsch und atmet nicht mehr. Die Niemande in Guantánamo Bay leben noch, sie tragen orangefarbige Anzüge. Einige ganz spezifische andere Lebende dürfen mindestens vorübergehend die ikonischen Niemandsländer betreten: der Wächter mit Schäferhund, der Fahnenträger (solange die Fahne eine weiße ist). Hinzu kommen Tiere und Pflanzen, die zum Beispiel die Gegend um Tschernobyl oder die ehemaligen trans-europäischen Grenzstreifen des Eisernen Vorhangs in lebendige Naturreservate verwandelt haben (Weisman 2007). Wächter heben durch ihren speziellen Status sowie durch ihre Einsamkeit inmitten menschenleerer Weiten die Abwesenheit von vielen anderen hervor. Diese »Anwesenheit einer Abwesenheit« bildet einen wichtigen Pfeiler der klassischen Niemandsländer. Ohne die Möglichkeit einer Inkursion, also des Eingriffs oder Eintritts eines menschlichen Jemands, gäbe es kein Niemandsland. Zugleich wird ein Niemandsland zu einem großen Teil durch Abwesenheit oder Verlust konstruiert: die Abwesenheit beziehungsweise der Verlust von Leben, von Rechten, von Status, von Schutz. Daher gehört zu Niemandsländern auch immer ein hieraus hervorgehender »Repräsentationseffekt«. Die Insassen des Lagers in Guantánamo Bay verkörpern in besonders aufsehenerregender Weise diesen Demonstrationseffekt. Die Situation auf dem US-amerikanischen Militärgelände zeigt darüber hinaus, wie lebendige »Niemande« nirgendwohin anders als in ein Niemandsland gehören können. Dabei tritt eine neue Figur in Erscheinung: Sie heißt Nirgendwer, eine Person, deren Identität dadurch bestimmt wird, dass sie nirgendwohin gehört. Nirgendwer wurde implizit schon früh von Hannah Arendt (1986 [1951], S.  601-625) erkannt, als sie den Status der Staatenlosigkeit analysierte. Ebenso wird seit dem 11. September 2001 den Schriften von Giorgio Agamben (2002) große Aufmerksamkeit gewidmet. Agamben analysierte entlang einer ähnlichen Linie als grundlegende Bedingung politischer Macht die Möglichkeit von Staaten, Akteur_innen in eine Position der absoluten Ausgeliefertheit außerhalb des Rechts zu verbannen. Die Möglichkeit, irgendwohin zu »gehören«, besteht in einem politischen Sinne prinzipiell aus einem mehr oder weniger kompletten Bündel von Rechten (Recht auf Anwesenheit, Mobilität, leibliche Unversehrtheit etc.). In der Praxis haben diese Rechtsbündel räumliche Korrelate. Die leiblichen Folgen 200

Niemandsland

des Status »nirgendwohin gehörend« können als eine »Blasentopologie« vorgestellt werden. Es ist kein Zufall, dass die Folterpraxis in Guantánamo Bay und andernorts auch als Paradebeispiel für Agambens Analyse des »nackten Lebens« (2002) angeführt wird. Die praktische Ausgeliefertheit der Gefangenen als nacktes Leben, die Demütigungen und Folter, die von der Regierung George W. Bushs mit dem Verweis auf Terrorbedrohungen gerechtfertigt wurden, zeigt, wie die Verletzung von »Rechtsblasen« als Reaktionen auf gefürchtete »Wirkungsblasen« konstruiert wurde (das hierauf folgende Argument basiert auf Hannah 2006; siehe auch Reid-Henry 2007). Die »Terroristen«, wie sie von der Bush-Regierung genannt wurden, sind demnach Repräsentant_innen einer neuen expanding point-Topologie, das heißt, einer diskursiv-praktischen Konstruktion der sozialen Welt, in welcher jede Person beziehungsweise jeder Gegenstand unerwartet eine plötzliche, massive und möglicherweise tödliche Wirkungsblase in der unmittelbaren Umgebung verursachen könnte (paradigmatisch bei einem Selbstmordattentat). Die erste Phase des sogenannten Krieges gegen den Terror wurde durch eine allgemeine Furcht geschürt, dass altherkömmliche, alltägliche Annahmen über das Proportionsverhältnis zwischen der »normalen« Größe oder Geschwindigkeit einer Person oder eines Gegenstands einerseits und dem Maß ihrer möglichen physischen Wirkungen andererseits, über weite Strecken des US-amerikanischen Territoriums nicht mehr gälten. Diese Vorstellung von einer territorialen Allgegenwärtigkeit der Bedrohung wurde im US-amerikanischen Diskurs in Form des sogenannten ticking bomb scenario zusammengefasst. Wenn aber das US-Territorium durch die Brille des ticking bomb scenario verstanden wird, gehen althergebrachte Risikokalkulierungen aller Art (alltägliche, informelle sowie die statistischen Kalkulierungen von Versicherungsfirmen) verloren. Dieser Zustand wurde von der Bush-Regierung zunächst diskursiv-praktisch hervorgerufen und daraufhin für zutiefst inakzeptabel erklärt. Die Folterpraxis kann in diesem Kontext als eine kompensatorische Reaktion interpretiert (wohl aber nicht entschuldigt!) werden. Dabei wird den Gefahren einer solchen expanding point-Topologie dadurch entgegengetreten, dass die Rechtsblasen, vor allem die leibliche und seelische Unversehrtheit der gefangenen Verdächtigten, auf der Suche nach Informationen, die mögliche künftige Angriffe verhindern könnten, körpereinwärts verletzt werden. Ob es in der Tat solche Informationen unter den Gefangenen gab, wurde als eine zweitrangige Frage eingestuft (siehe auch Hannah 2010). Schon die geringste Möglichkeit, dass solche Informationen irgendwo unter den Gefangenen verborgen lagen, sollte (angesichts der Inakzeptabilität eines neuerlichen Angriffs) in den Augen der Regierung selbst die extremsten Mittel rechtfertigen. Die Obama-Regierung, hat es nicht vollbracht, diese schon vorher verbreitete diskursive Konstellation von Furcht zu überwinden und die Insassen freizulassen (beziehungsweise in 201

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

»normale« Gefängnisse in den USA oder auch in andere Länder zu transferieren). So bleibt Guantánamo als Paradebeispiel für ein Niemandsland bestehen, in welchem das nackte Leben der Nirgendwers dem Zugriff ausgesetzt bleibt. Zusammengenommen ist dieser Komplex eine Schande für das Gewissen der Regierung. Am anderen Ende der Skala des Komplexes Niemandsland-Nirgendwer stehen echte öffentliche Räume, das heißt Räume, die allen zugänglich sind, ohne geschlechts-, sexualitäts-, alters-, rassen-, ethnizitäts- oder fähigkeitsbezogene Einschränkungen. Da öffentliche Räume ohne solche Einschränkungen nur sehr selten zu finden sind, wäre es wahrscheinlich am besten, das Gegenteil von Niemandsland Jemandsland zu nennen. Jemandsländer sind ganz »normale« private wie auch öffentliche Areale, die zusammen die räumliche Infrastruktur des alltäglichen Lebens stellen. Im Anschluss an die Geschichte der modernen, westlichen Öffentlichkeit (Habermas 1990 [1962]; Sennett 2008 [1977]) können wir ein Jemandsland mit der Figur von »Jemand« verbinden, einer Person, deren Identität weniger wichtig ist, als die Tatsache, dass sie Zugangs-, Aufenthalts- oder Aktivitätsrechte zu verschiedenen Räumen genießt. Herkömmlicherweise denken wir in diesem Zusammenhang zunächst an Staatsbürger_innen. Wie aber bereits angedeutet sind Jemandsländer, die wortwörtlich allen offen stehen, kaum anzutreffen. Vielmehr ist es der Fall, dass jedes Jemandsland nur bestimmten Kategorien von »Jemanden« zugänglich ist. Private Grundstücke, die modernes Territorium im kapitalistischen Zeitalter strukturieren, gewähren zum Beispiel nur Eingeladenen Zutritt. Nun ist es möglich, ein privilegiertes Gegenüber zu Nirgendwer auszumachen: Nennen wir diese Figur »Jederwo«. Während Nirgendwer es schwer hat, überhaupt ein Bodenstück außerhalb eines Niemandslandes zu finden, wo er oder sie zumindest ein Bündel an Rechten genießen darf, trägt Jederwo alle seine/ihre Rechte überall mit, sogar Rechte, die traditionell in die Sphäre des Privaten verortet wurden. Ähnlich wie bei Nirgendwer gibt es relativ wenige Personen, die diesem Bild entsprechen. Das Verhältnis zwischen den körperlichen Grenzen und den körperrechtlichen Grenzen ist in beiden Fällen entscheidend. Die privilegierten Jederwos genießen einen rechtlich geschützten »persönlichen Raum«, der eine »Freiheitsblase« darstellt, innerhalb deren Grenzen sie sich bewegen dürfen. Wie oben schon bezüglich der enemy combatants illustriert, ist die Beziehung zwischen körperlichen und körperrechtlichen Grenzen bei Nirgendwer umgekehrt: Weil so viele Areale praktisch Niemandsländer sind, verschwinden als legitim anerkannte körperrechtliche Grenzen »körpereinwärts«. Nirgendwer wird rechtlich bloßgelegt und »nackt« dem Eingriff der Macht ausgeliefert. So lässt sich dann auch der Begriff des »nackten Lebens« von Agamben (2002) geographisch verstehen. Topologisch gewendet bedeutet dies, dass Nirgendwer es sich gefallen lassen muss, seine/ihre Körpergrenzen

202

Niemandsland

von den blasenartigen virtuellen Rechtsgrenzen der privilegierten Anderen, den Jederwos, wiederholt überschritten zu sehen. Trotz dessen Seltenheit in idealer Form dient Jederwo implizit häufig als regulative ideal, wie es Don Mitchell (2005) unter dem suggestiven Titel The S.U.V. model of citizenship veranschaulicht. Mitchell zeigt am Beispiel der Rechtsprechung in den USA zum sogenannten aggressive panhandling (»aggressives Betteln«) sowie am Beispiel der Rechte von Frauen, denen der Zugang zu Abtreibungskliniken von teils gewalttätigen Anti-Abtreibungsaktivist_innen versperrt wird, die Tendenz auf, dass die Rechtsblase um »normale« Staatsbürger_innen im öffentlichen Raum immer weiter gefestigt und verstärkt wird. S.U.V.s sind in den letzten zwei Jahrzehnten in den USA ikonische Verkörperungen dafür geworden, dass insbesondere Mitglieder der Mittelschichten in den US-amerikanischen Suburbs das Leben der Familie möglichst lückenlos von allen Bedrohungen abzukapseln versuchen, ohne dabei ihre Mobilität oder ihren Zugang zu öffentlichen Räumen preisgeben zu müssen. Die skizzierten Verhältnisse zwischen Nirgendwer und Jederwo lassen sich als ein komplizierter und zutiefst politischer Tanz beschreiben. Dieser Tanz besteht nicht nur aus den Bewegungen von Körpern durch materiell-menschliche Landschaften, sondern auch aus den unterschiedlichen räumlichen Ausdehnungen und Einschrumpfungen der Blasen von Aktivitäts- und Aufenthaltsrechten, die den jeweiligen Individuen je nach Zugangsberechtigungen »anhaften«. Es gibt, anders gesagt, eine rhythmische »Topologie von Körperrechten«, wobei sich die privilegierten Jederwos gewissermaßen »vorrausschicken«, während insbesondere die Nirgendwers fortschreitend den kopräsenten Anderen weichen müssen. Im Hinblick auf das Spektrum, das sich zwischen Niemandsland und Jemandsland entfaltet, sowie auf das damit verbundene Spektrum zwischen Nirgendwer und Jederwo, lässt sich nun fragen, wie sich in den letzten Jahren die politische Topologie des alltäglichen Lebens verändert hat. Sicherlich ist es nicht schwer, einen Trend Richtung Niemandsland/Nirgendwer auszumachen. Immer mehr Gebiete sind so reguliert, dass sie immer breitere Schichten von Akteur_innen ausschließen. Zur selben Zeit werden von einer immer kleiner werdenden Gruppe von Individuen immer weitreichendere spezifische territoriale Rechte abgedeckt. Diese Trends werden durch zwei Dynamiken vorangetrieben: durch die »Privatisierung des öffentlichen Raums« sowie durch fortschreitende Sicherheitsvorkehrungen aller Art; ob gegen den Terrorismus oder bloß gegen Störungen der Atmosphäre des Massenkonsums. Das Gesamtresultat hiervon spiegelt sich in der Tatsache wider, dass immer mehr Jemandsländer für eine immer kleinere Anzahl von Menschen geschaffen werden. Wie sich dieser Trend vollzieht, kann mit Hilfe der skizzierten Rechtsblasentopologie verstanden werden. Heutzutage lässt sich eine Entflechtung von ortsbezogenen Rechten beobachten, wobei ehemals gebündelte Zugangs-, Aufenthalts- oder 203

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Aktivitätsberechtigungen vereinzelt entzogen werden. Wie Katherine Beckett und Steve Herbert (2008) für nordamerikanische Städte festgestellt haben, verschwinden stückchenweise immer mehr Gegenden in der Innenstadt durch Aufenthaltsverbote aus dem rechtlich anerkannten »geographischen Repertoire« von Menschen, die schon einmal eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begangen haben. In eine ähnliche Richtung weisen sogenannte ASBOs (antisocial behaviour orders) in Großbritannien, welche Jugendliche aus bestimmten Stadtteilen ausschließen. Auch in Innenstädten lässt sich der Trend erkennen, dass politischer Protest durch eine zunehmend komplexer werdende Reihe von ortsbezogenen Einschränkungen erschwert wird. Durch diese Entwicklungen müssen selbst relativ privilegierte Jemande eine Erodierung ihrer Rechtsblasen erleben. Es sind Obdachlose, deren oft verzweifelte Situationen uns die Effekte dieser Entwicklungen veranschaulichen (Mitchell 2007). Durch »filigrane« räumliche Verbannungen und Filtertechniken entsteht eine immer komplexere Landschaft von verschiedenen, einander überlappenden Niemandsländern. Obwohl es vielleicht skandalös klingt, unterscheidet sich die Lage von Obdachlosen in vielen Städten nicht mehr wesentlich vom Status Nirgendwer, sie ist lediglich weniger extrem. Die Polizei darf zu jeder Tag- und Nachtzeit in ihren persönlichen Raum eingreifen, sie aufgreifen und aus einer ganzen Reihe von Arealen entfernen. Wie bei den Gefangenen im Lager, wird das Wegnehmen der sonst üblichen Rechtblase um Obdachlose dadurch legitimiert, dass sie angeblich eine schädliche Wirkung auf ihre Umgebung haben können. Dabei geht es hier nicht allein um »aggressives Betteln«: Schon die bloße Anwesenheit einer obdachlosen Person könne eine Verunsicherung von Konsument_innen verursachen. Dies wiederum stehe dem Ziel einer gewinnbringenden Konsumatmosphäre im Wege. Ähnlich wie bei den Guantánamo-Gefangenen müssen Obdachlose schon aufgrund der Unterstellung, dass ihre Entfernung Schaden abwenden könne, Rechts- und manchmal auch körperliche Verletzungen erdulden. Die Privatisierung des öffentlichen Raums vervielfältigt fortwährend die Orte, aus denen sie verbannt werden dürfen. Niemandsland ist längst nicht überall, außer für bestimmte Kategorien von Menschen. Aber die Tendenz weist eindeutig in diese Richtung, und es sollte uns immer bewusst sein, dass wir im alltäglichen Leben einen komplizierten Tanz vollziehen. Beim Tanzen werden einer steigenden Anzahl der Tanzpartner_innen (das in der Regel privilegierte »wir« nicht ausgenommen) teils unsichtbare, aber dafür nicht weniger effektive virtuelle Verletzungen zugefügt, Verbote auferlegt und Ausgrenzungen zuteil. Was dagegen zu tun wäre, zeigt die »Occupy«-Bewegung, die in vielen Städten ihren Protest gegen das spätkapitalistische System mit einem Beharren auf ein »Recht auf Stadt« verbunden hat. Dies kann in Zusammenhang gebracht werden mit Bewegungen, die sich für die Ausdehnung von Rechten von Asylsuchenden einsetzen, mit anti-rassisti204

Niemandsland

schen Kampagnen gegen die räumliche Marginalisierung von Sinti und Roma, mit Aktionen gegen die Schließung von Jugendzentren sowie mit Initiativen zur Unterstützung der Rechte von Obdachlosen. Quer durch diese verschiedenen Auseinandersetzungen verläuft ein roter Faden: der Kampf gegen die breite Tendenz Richtung Niemandsland. Matthew Hannah

L ITER ATUR Agamben, Giorgio (2002), Homo sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Arendt, Hannah (1986 [1951]), Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München und Zürich: Piper. Beckett, Katherine und Steve Herbert (2008), Dealing with disorder: social control in the post-industrial city, Theoretical Criminology 12(1), S. 5-30. Habermas, Jürgen (1990 [1962]), Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hannah, Matthew (2006), Torture and the ticking bomb: the war on terrorism as a geographical imagination of power/knowledge, Annals of the Association of American Geographers 96(3), S. 622-640. Hannah, Matthew (2010), (Mis)adventures in Rumsfeld Space, GeoJournal 75(4), S. 397-406. Mitchell, Don (2007), Die Vernichtung des Raums per Gesetz. Ursachen und Folgen der Anti-Obdachlosen Gesetzgebung in den USA, in: Raumproduktionen. Beiträge der Radical Geography. Eine Zwischenbilanz, hg.  v. Bernd Belina und Boris Michel, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 256-290. Mitchell, Don (2005), The S.U.V. model of citizenship: floating bubbles, buffer zones, and the rise of the »purely atomic« individual, Political Geography 24(1), S. 77-100. Reid-Henry, Simon (2007), Exceptional sovereignty? Guantánamo Bay and the re-colonial present, Antipode 39(4), S. 627-648. Sennett, Richard (2008 [1977]), Verfall und Ende des Öffentlichen Lebens: die Tyrannei der Intimität, Berlin: Berlin Verlag.

205

Offshore

In der Church Street 201 in George Town auf den Cayman Inseln steht das Ugland Haus. Es ist ein fünfstöckiges, mittelgroßes Haus mit einigen Palmen im Vorgarten. Man kann nichts Auffälliges daran finden – bis man lernt, dass es das Zuhause von 18.857 Firmen ist, die dort registriert sind (GAO 2008). Eine sehr beengte Angelegenheit, sollte man meinen. Diese Firmen passen in dieses kleine Gebäude nur aus einem einzigen Grund: Sie sind auf den Cayman Inseln zwar rechtlich anwesend, aber physisch abwesend. Sie sind gleichermaßen dort und nicht dort – sie sind, in anderen Worten, offshore. Diese seltsame Kombination von Abwesenheit und Anwesenheit wird noch gesteigert durch den besonderen rechtlichen Schutz der Anonymität, die Orte, wie die Cayman Inseln, garantieren. Jene 18.857 Firmen sind durch das Bankgeheimnis für Außenstehende jenseits ihrer Briefkastenadresse unsichtbar. Sie sind da, aber man kann nicht erkennen, was sich dort abspielt: anwesend und doch nicht erkennbar. Kein Wunder, dass das Phänomen Offshore eigentümlich ungreifbar ist. In den populären Bildern, die wir zumeist von Offshore-Plätzen haben, wird die ungreifbare Qualität der Offshores oftmals mit illegalen ökonomischen Praktiken assoziiert. Insbesondere finanzielle Offshores stellen wir uns als eine Mischung aus schmutzigem Geld, dubiosen Briefkastenfirmen, geheimen Nummern, Stränden, Steuerfahndern und Drogen, teuren Hotels und verstohlenen Geschäftspraktiken vor. In der Tat sind finanzielle Offshores beliebte Ankerplätze für Geldflüsse, die geheim gehalten werden sollen: vor Ehefrauen in Scheidungsprozessen, vor der Drogenpolizei, der Steuerfahndung oder der Terrorbekämpfung. Die politischen Debatten um Offshore konzentrieren sich zumeist auf diesen Aspekt des »schmutzigen Geldes«. Aber unsere populären Bilder von Offshores und die Ausrichtung der politischen Debatte sollten uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass die seltsame Örtlichkeit des Offshore nicht nur für die illegale Ökonomie attraktiv ist. Offshores sind auch ein beliebter Ankerplatz für legale, meistens globale ökonomische Investitionsstrategien (IMF 2007). Eine signifikante Menge von globalen Finanzflüssen verläuft über Offshore-Plätze. Pensionskassen, Universitäten, Hedge-Fonds, Versicherungsunternehmen, Banken und multinationale Unternehmen benutzen Offshore206

Offshore

Orte, um ihre Geldgeschäfte abzuwickeln, zu vergrößern oder zu globalisieren. Viele der Finanzprodukte, die im Zuge der letzten Finanzkrise zu unrühmlicher Bekanntheit gelangten, wie die Collateralized Debt Obligations oder die Credit Default Swaps, wurden in Offshores zum Einsatz gebracht. Offshores sind Laboratorien für komplexe Finanzinstrumente und globale Finanzflüsse (Sharman 2010). Sie sind ein Ort nicht nur für das illegale, sondern auch für das globale Geld. »Offshore is the global economy«, resümiert der Anthropologe Bill Maurer (2008, S. 160). Welche Qualitäten hat dieser Ort, der zugleich greifbar und ungreifbar erscheint und so eng mit der globalen Ökonomie verknüpft ist? In welches Ortsregister lassen sich diese Orte eintragen, die zugleich global und lokal sind? Mit welcher Kartographie kann man die eigentümliche Ungreifbarkeit des Attributs Offshore überhaupt registrieren? Man muss Schritt für Schritt vorgehen, um diese Fragen zu beantworten. Zunächst gilt festzuhalten: Offshores sind Orte der politischen Kartographie. Sie entstehen nur innerhalb und auf der Grundlage einer Welt, die in juridisch-territoriale Gebilde aufgeteilt ist. Offshores werden größtenteils durch politische Instanzen geschaffen, die ihre souveräne-territoriale Macht in Anspruch nehmen, um ihr eigenes Gebiet oder Zonen innerhalb ihres Einflussgebietes als besondere Jurisdiktion zu definieren (Palan 2003). In diesem Sinne handelt es sich bei Offshores um Sonderzonen oder Ausnahmeräume. Allerdings ist die Bezeichnung der Ausnahme hier nicht als eine Suspension von rechtlicher Geltung zu verstehen, sondern als eine Einrichtung eines differentiellen rechtlichen Raumes. Offshores sind nie rein geographische Räume. Es handelt sich immer um Jurisdiktionen. Manche Offshores existieren sogar nur als rechtliches Konstrukt oder rechtliches Schlupfloch, aber häufig bleibt die territoriale Grenzziehung wichtiger Teil eines Offshore (Hudson 1998). In jedem Fall ist die souveräne Geste der Einrichtung oder Nutzung eines solchen rechtlichen Raumes auf die Geographie souveräner-territorialer Macht bezogen. Innerhalb der territorialen Staatenwelt entstehen Orte, die dennoch anders sind. Offshores bringen unsere politische Kartographie durcheinander. Denn Offshores sind nicht als einzelner Fleck auf der Landkarte zu verstehen. Sie werden durch eine Relation bestimmt. Wie der Name schon sagt, Offshores sind off the shore: Sie sind immer auf etwas bezogen, von dem sie sich differenzieren. Es ist sehr einfach, die Komplexität dieses »off« zu unterschätzen. Aus Sicht der westlichen Industriestaaten sind heute die Financial Offshores hauptsächlich jene zumeist kleineren Länder, die durch andere Steuerregeln und das Bankgeheimnis eine größere Attraktivität für »globales« Geld produzieren. Die Errichtung eines derartigen Wettbewerbs um die Gunst des Geldes gilt als ungebührliches Benutzen von politischer Souveränität. Aber diese Perspektive unterschlägt erstens die Tatsache, dass Offshores auch innerhalb jener größeren Industriestaaten zu finden sind und von diesen protegiert werden. Durch eine solche Perspektive wird zweitens ebenso undeutlich, dass Offshore immer auch eine innere Differenz 207

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

bezeichnet. Offshore-Zentren wie die Cayman Inseln sind nicht nur off the shore gegenüber den USA. Sie sind auch off the shore in Bezug auf sich selbst, denn die Finanzinstitutionen, die dort ihre rechtliche Adresse finden, haben einen Ausnahmestatus auch gegenüber den Bewohnern der Insel. Jene Firmen sind durch diesen Status davon abgehalten, ihre besonderen finanziellen Dienstleistungen jenen anzubieten, die in diesem Staat leben. Die Relationalität des Offshore ist also komplexer als unsere übliche politische Kartographie uns nahelegt: Offshores sind durch Distanzen nach Innen und nach Außen markiert. Es ist ein Ort, der off the shore von sich selbst und von anderen Orten ist (Roberts 1995). Aufgrund dieser komplexen Relationalität des Offshore sind Definitionen des Offshore-Platzes äußert schlüpfrig. Fast jede Auseinandersetzung mit jener seltsamen Örtlichkeit des Offshore beginnt mit einer Reflexion über die Schwierigkeit überhaupt eine Definition zu finden (Sharman 2010). Der Internationale Währungsfond macht die innere Distanz zwischen der Offshore-Ökonomie und dem politisch-geographischen Ort gar zum definierenden Attribut des Offshore und schlägt vor: »Offshore is defined as a country or jurisdiction that provides financial services to nonresidents on a scale that is incommensurate with the size and the financing of its domestic economy.« (IMF 2007) Wenn man diese Definition ernst nimmt und generalisiert, dann könnte man sagen, dass ein Offshore-Ort hier nur noch als ein Verhältnis zwischen Mobilität und Fixierung, zwischen dauerhaft Anwesendem und Abwesendem, gefasst wird. Wir haben es mit einem Ort zu tun, der darauf ausgerichtet ist, mit dem umzugehen, was nicht dort wohnt. Wir sind gekommen, um zu gehen – so müsste man die Titelzeile von der Band Wir sind Helden umschreiben, um dem Offshore auf die Spur zu kommen: Es geht um das Geld, was kommt und geht. Langsam beginnt man zu verstehen, warum Offshore weit mehr ist, als eine exotische, aufregende und dubiose Szenerie für illegales Geld. Es geht um jene Orte, die das Verhältnis von Geld und politischem Raum modifizieren. Es geht um die Verhältnisse von Räumen und Ökonomien, die sie beherbergen. Wenn man Offshore als einen Ort versteht, an dem diese Verhältnisse von politischem Raum und Ökonomie modifizierbar werden, kann man jene seltsame Ungreifbarkeit von Anwesenheit und Abwesenheit besser begreifen, die jene Unzahl von Briefkastenfirmen unter Palmen auszeichnet. Es handelt sich um eine paradoxe Konstruktion, denn hier wird ein politisch-geographischer Ort in Anspruch genommen, um jene Beziehung zwischen monetärer Ökonomie und politisch-geographischem Raum zu ändern. Diese paradoxe Örtlichkeit ist für uns schwer zu denken, weil sie unseren Denkgewohnheiten entgegensteht. Das Geld, so hat die klassische Soziologie gelehrt, ist schon an sich ein flüssiges Medium, das nur Quantitäten aber keine Qualitäten kennt: Es überschreitet räumliche und politische Grenzen und zerstört persönliche Bindungen. Wir stellen uns vor, dass Geld festgehalten, markiert, domestiziert werden muss, um es an politische Räume zu ketten. Das Phänomen Offshore zwingt zu einer um208

Offshore

gekehrten Denkungsart: Hier haben wir einen juridisch-geographischen Raum, der es ermöglicht, Geld anonymer und mobiler zu machen, als es ist. Die Bedingung dafür ist allerdings ein rechtlich sehr genau definierter und abgesicherter Ort. Die großen und etablierten Offshore-Zentren zeichnen sich gerade durch eine besonders stabile rechtlich-politische Lage aus. Sie bieten eine rechtliche Adresse, gesicherte Eigentumsverhältnisse und transparente Regularien, die keine Unwägbarkeit offen lassen. Offshore ist in diesem Sinne ein juridisch-geographischer Ort, der paradoxerweise eine sehr enge Bindung zwischen Geld und politisch-rechtlichem Raum impliziert. Diese eindeutige Verortung geht allerdings einher mit bestimmten rechtlichen Regulationen, die eben gleichzeitig eine Distanz zwischen dem politischen Raum, aus dem das Geld stammt und in das es zurückkehrt, und monetärer Ökonomie ermöglichen. Diese Distanz besteht zum einen in den besonderen Regeln, die die Anonymität des Geldes sicherstellt. Das Vertrauensverhältnis zwischen der Bank und dem Kunden steht in vielen Offshores jenem zwischen Anwalt und Klient oder Arzt und Patient nicht nach. Die Informationsweitergabe seitens der Bank wird als Straftat geahndet und gebührend sanktioniert. Es wird damit unmöglich zu erfahren, woher oder wohin das Geld geht und aus welchen Beziehungen es stammt. Im Zuge der Bekämpfung von Geldwäsche ist diese Anonymität in den Fokus der Kritik geraten und Offshore-Plätze haben sich verpflichtet, die Identität ihrer Kunden zu prüfen, um sicherzustellen, dass diese Anonymität keine illegalen Ökonomien schützt. Dennoch bleiben jene Geheimhaltungsregeln ein zentraler Bestandteil des Offshore-Platzes. Sie ermöglichen jene Distanz zu den politisch-juridischen Räumen, die jene Geldflüsse als Einkommen, Gewinn oder Investition markieren und dementsprechend mit Pflichten versehen wollen. Diese durch ein striktes Bankgeheimnis gewährte Anonymität des Geldes nach Außen wird durch eine zweite Regulation ergänzt, die ebenfalls zur Anonymisierung und Flexibilisierung des Geldes beiträgt. Offshore-Zentren wie die Cayman Inseln verzichten auch innerhalb ihrer selbst darauf, Geldflüsse zu differenzieren und sichtbar zu machen. Das Geld wird nicht behandelt, als ob es aus verschiedensten Zahlungsverhältnissen stammt und aus diesem Grunde mit unterschiedlichen Verpflichtungen belegt wird. Keine Steuern zu erheben heißt in diesem Fall vor allem auch, Geld nicht sichtbar machen zu wollen und zu müssen. Man muss nicht wissen, ob es Geschenke, Gewinne, Einkommen, Investitionen sind, um die es hier geht. Das bedeutet nicht, dass die Regierungen dieser Offshores darauf verzichten, diese Geldflüsse für die öffentliche Kasse anzuzapfen. Aber das Staatseinkommen entsteht durch die Erhebung von Gebühren, die bei der Registrierung und Lizenzierung, bei der Erteilung von Arbeitserlaubnissen, für die rechtliche Beglaubigung von Eigentum inter alia fällig werden. Man könnte sagen, Geld wird hier behandelt wie ein pures Medium, das wie Wasser durch die Leitungen der Insel fließt. Allein die Gebühr wird fällig, um Teil des Leitungssystems zu werden. Wohin oder woher 209

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

es geht oder kommt steht diesem frei und bleibt unsichtbar. Offshores sind nicht umsonst der Ort, an dem Geld flüssiger und anonymer erscheint als sonst. Wir sind es gewohnt, Geld als ein immer schon der eigenen Bestimmung nach potenziell globales Medium zu verstehen. Wir neigen dazu, geographische Orte als Lokalität dem Globalen gegenüber zu stellen. Unsere Denk- und Sehgewohnheiten sind durch jene bunten Landkarten geprägt, in denen ein territoriales Staatsgebiet als innere Einheit erscheint. Offshores sind Orte, die alle diese Gewohnheiten unterminieren. Es sind Orte, die innerhalb und zwischen der staatlichen Territorialität Sonderzonen markieren. Es sind Orte, die eine größere Distanz zwischen politischer Sichtbarkeit und monetärer Ökonomie ermöglichen. Sie regieren nicht das Geld, sondern verlangen eine Gebühr, damit das Geld einen Nicht-Ort (Marc Augé) hat. Wenn man diesen Nicht-Ort in ein Ortsregister eintragen möchte, muss man eine neue Kartographie erfinden, um dessen Qualitäten sichtbar zu machen. Es gibt viele gute Gründe dies zu tun. Denn das Phänomen Offshore geht weit über den prominentesten, aber auch speziellen Fall der finanziellen Offshore-Zentren hinaus. Sonderzonen und Ausnahmeräume gibt es für Glückspiel, Information, Asylprozesse, Produktionen, Logistik, Universitäten und Technologie-Zentren. Wie die Architektin Keller Easterling (2008, S. 31) es formuliert hat: »The zone is breeding.« Wir brauchen neue Karten. Ute Tellmann

L ITER ATUR Easterling, Keller (2008), Zone, in: Urban Transformation, hg. v. Ilka Ruby und Andreas Ruby, Berlin: Ruby Press, S. 30-45. Hudson, Alan C. (1998), Placing Trust, Trusting Place: On the Social Construction of Offshore Financial Centres, Political Geography 17(8), S. 915-937. International Monetary Fund (IMF) (2007), Concept of Offshore Financial Centers: In Search of an Operational Definition, IMF Working Paper WP/07/87. Maurer, Bill (2008), Re-Regulating Offshore Finance, Geography Compass 2(1), S. 155-175. Palan, Ronen (2003), The Offshore World: Sovereign Markets, Virtual Places, and Nomad Millionaires, Ithaca: Cornell University Press. Roberts, Susan M. (1995), Small Place, Big Money: The Cayman Islands and the International Financial System, Economic Geography 71(3), S. 237-256. Sharman, Jason (2010), Offshore and the New Political Economy, Review of International Political Economy 17(1), S. 1-19. United States Government Accountability Office (GAO) (2008), Cayman Islands. Business and Tax Advantages Attract U.S. Persons and Enforcement Challenges Exist, GAO-08-778. 210

Outdoor

Outdoor-Trend; Outdoor-Magazin; Outdoor-Jacke; Outdoor-Sport; Outdoor-Laden; Outdoor-Messe; Outdoor-Ausrüster; Outdoor-Mahlzeit; Outdoor-Marke; Outdoor-Forschung; Outdoor-Erziehung (…) Outdoor ist Englisch. Oder auch Neudeutsch. Wörtlich übersetzt »vor der Tür«. »Draußen« würde im Deutschen auch funktionieren. Also: nicht drinnen, nicht hinter der Tür. Das ist der Raum des Outdoors, das Dort, das Andere, das, was draußen liegt und der Bewegung bedarf, will man es erreichen. Bezogen auf eine verstädterte Gesellschaft wie sie Lefebvre oder Simmel konstatierten, ist es das Andere des Städtischen, also das Ländliche, die unzivilisierte Natur, vor den Toren der Stadt gelegen. Zu Simmels Zeiten aber gab es wohl das Draußen, das Outdoor gab es indes noch nicht. Outdoor ist postmodern: Mal Sehnsuchtsort, mal Erholungsraum, mal schrecklich schöne Wildnis. Hier also ein wesentlicher Unterschied: Draußen arbeitet man, outdoor arbeitet man nicht. Die Nutzraum-Metapher, die etwa das ländliche Idyll der Impressionisten durchzog und später in den »blühenden Landschaften« für die Produktivität eines ganzen Landesteils bemüht wurde, taugt für das Outdoor nicht. Das Outdoor wirft altwirtschaftlich betrachtet nichts ab. Outdoor ist quartärer Sektor. Es vermag Ruheraum zu sein oder Sportarena, verheißt jedenfalls aber gerade das Gegenteil des städtischen Arbeitsalltags und seiner beschleunigten Lebensbedingungen. Insofern ist das Outdoor ein »anderer Raum«, der sich über die Differenz zum Alltags- oder auch »Normalraum« entwirft. Outdoor, das sind aber noch viele andere Räume, einige werden weiter unten erscheinen. Allen voran: Der Naturraum. Outdoor ist in vielen Kontexten ganz eng durchwirkt mit Natur. Gleich ist die Frage anzuschließen: Welcher Natur? Die Natur, also das, was als Natur verstanden wird, hat in ihrem Bezug zum Menschen viele symbolische Wendungen vollzogen: vom Täter (gefährlich) zum Partner (nützlich) zum Opfer (gefährdet) und dann – und dies ist der postindustrielle und spätmoderne Turn – zum verlorenen Selbst (heilsbringend) (Großklaus 1993). Entsprechend lässt sich in vier Variationen über das Outdoor als Naturraum nachdenken: Der »Naturraum als Wildnis«, unwirtlich und unheimlich, gar angsteinflößend, symbolisiert das ungezähmte, noch zu erobernde Terrain. Die

211

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Berge und Meere gehörten lange dazu. Wer sich hierher begab, kam vielleicht niemals wieder (antagonistisch: »heim«). Den »holte« das Meer oder der Berg. Das war besonders im 18. und 19. Jahrhundert so. In vielen Diskursen ist die Natur als Täter dann verschwunden, aber auch heute erscheint der Tsunami als »Monsterwelle« und wird die Annapurna zum tödlichsten aller Berge gerankt. Solche Subjektivierung, gepaart mit dem wohligen Gedankenschauder ob der potenziellen Gefahren, ist Teil des Outdoors. Der »Naturraum als fruchtbarer Boden«, als landwirtschaftliche Nutzfläche, symbolisiert hingegen das symbiotische Verhältnis des Menschen zu seinem Acker- und Weideland. Es findet ein Geben und Nehmen statt, die Arbeit ist das entscheidende verbindende Tun. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geben die Im- und Expressionisten diesem Naturraum ein Bild, allen voran Van Gogh. Wenn diesem Raum Emotionen entgegengebracht werden, dann am ehesten Dankbarkeit gegenüber der Krume, die durch harte Arbeit und Pflege ernährt. Diese Natur ist im heutigen Outdoor kaum sichtbar. Der »Naturraum als verletztes, zerstörtes Gelände« symbolisiert das geschundene Land, die erschöpfte Erde, Opfer rücksichtloser, technisch optimierter Ausbeutung, ein nunmehr schutzbedürftiges Gebilde. Seit den 1960er Jahren erscheint dieser Topos verstärkt und wird mit Rachel Carsons Buch Silent Spring (1962) assoziiert. Mit ihm verbunden: individualisierte Schuldzuweisungen, die jeden Einzelnen durch Gewissensdruck in die Pflicht nehmen. Müll trennen, für den Lebensraum der Robben spenden und für den Schutz des Regenwalds Bier kaufen! Dieser Naturraum erscheint im Outdoor, wenn nachhaltiges Trekking angesagt ist oder die European Outdoor Conservation Association die Naturschutzverpflichtung der Outdoor-Industrie anmahnt. Schließlich der »Naturraum als Erlebnisraum«, der durch die Abstraktion von Metrik und Distanzlogik zum Raumerlebnis, zur Sensation wird. Es ist die äußere Natur dieses Raumes, die zum Versprechen der Wiederfindung der inneren Natur wird. Die Wildnis wird hier nicht angstvoll gemieden, sondern lustvoll schaudernd gesucht, um die innere Wildnis zu erkunden und (wieder) zu erobern. Ein egozentrisches Konzept als Konsequenz der gesellschaftlichen Raumaneignung in Kulturen, in denen eine Entwicklung zur »Erlebnisgesellschaft« (Schulze 2000) um sich greift. Das Raumerlebnis. Outdoor – vor den Toren der Stadt also und lebensweltlich jenseits des Städtischen. Ein Ort, an dem Naturgewalten vorherrschen: Wind und Wetter, Eis und Schnee, Sturm und Hagel, Donner und Blitz. Ein Raum, für den man spezielle Ausrüstung braucht, will man in ihm sein. Irritierend aber dann: »urban outdoor«. Diesen Begriff hat die Bekleidungsindustrie geboren und vertreibt darunter Artikel wie Gore-Tex Jacken und Wanderschuhe für den Gebrauch im innerstädtischen Raum. Ein Marktfenster mit riesigen Margen und auch in Krisenzeiten stetig wachsenden Umsatzzahlen, wie die online-Zeitschrift TextilWirtschaft regelmäßig vermeldet. Und die Märkte expandieren, jüngst sind 212

Outdoor

China und Japan eingestiegen und veranstalten groß angelegte Outdoor-Messen. Firmen wie Globetrotter bauen Outdoor-Konsumtempel mit Beregnungsanlagen und Wildwasserrinnen zum Testen des Materials. Indoor, natürlich: Im Frankfurter Haus wurden 26 echte Bäume aus Südafrika angepflanzt, durch den Einsatz von Spiegeln und Glasscheiben entsteht der Eindruck eines dichten Waldes, durch den die Besucher schlendern können. Globetrotter-Highlights wie Kältekammer und Erlebnistoiletten dürfen nicht fehlen (TextilWirtschaft 2012). Das Shoppingcenter als Natur-Erlebnisraumsubstitut. Über den Ladentisch geht, was sich in der hauseigenen Kältekammer oder am Felswandimitat bewährt und dazu noch eine gute Figur macht. »Urban Outdoor« – nur eine höchst lukrative Modewelle also? Anders, neukulturgeographisch betrachtet: Der Mensch, der nicht den anderen Raum aufsuchen kann oder will, sucht (und erfährt) ihn durch eine Hülle, die den Leib wappnet für die imaginären Widrigkeiten des ungezähmten, unstrukturierten Raumes. Ob in der Fußgängerzone oder am Schreibtisch: Mit Outdoor-Wear trägt man einen Raumanzug, der metrische Distanzen und damit verbundene Ortsveränderung hinter sich lässt. In der North-Face Fleecejacke lässt sich auch der Büroraum als Basislager erleben. Das Outdoor als Erlebnisraum mutiert zum Raumerlebnis. Das Raumerlebnis wiederum wird in seiner materialisierten Form, der atmungsaktiven Softshell, den geländespezifischen Trekking-Stiefeln, zur Ware, zum Konsumgut, das sich symbolisch beliebig im Wert steigern lässt. Technikverliebtheit spielt dabei ebenso eine Rolle wie Distinktion über Marken. Da werden Wassersäulen gemessen, Membranqualitäten in Quotienten benannt und bewertet. Da werden Fuchs-, Bären und Adleraufnäher nach Statusgruppenzugehörigkeit klassifiziert. Am Ende aber, im Zuge des An- und Überzugs, steht ein Gefühl: »Ich bin wasserabweisend und atmungsaktiv. Ich trage die Wolfstatze. Ich fühl mich so …, nein, ich ›bin‹ Outdoor.« Die Werbeindustrie greift die Verschmelzung von Leib und Technik bildlich auf. Im Jahr 2005 wurden von der Firma bridgedale unter dem Slogan »sock-ology« Füße wahlweise mit Spiralen oder Heizelementen verbunden; die Marke event verpflanzte, einem Röntgenbild nachempfunden, einen Ventilator in den Bauch eines menschlichen Skeletts. Der Körper wird technisch optimiert, hier liegt der Begriff der Prothese nahe, erscheint aber mit seinem assoziativen begrifflichen Umfeld von Krankheit, Behinderung, gar Stigma fehl. Outdoor-Technik will sich visuell nicht unkenntlich machen. Im Gegenteil: Die mit dem Tragen von Outdoor-Marken verbundene Identitäts- und Distinktionsarbeit funktioniert nur, wenn diese Symbole wieder von Anderen beobachtet und eingeordnet werden können (Bette 2005). Kulturtheoretisch ist diese Verschmelzung, die Dualismen von Natur und Kultur und von Geist und Materie nicht in Frage stellt, aber doch sensationell konterkariert, durch den Begriff des »Cyborgs« von Donna Haraway (1991) beschrieben worden. Der bereinigte Raum. Noch in anderer Hinsicht lässt sich über Sicht- und Unsichtbarkeiten im Outdoor nachdenken. »Draußen zu Hause!«: Der Wer213

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

bespot zeigt junge Menschen im Trekkingdress sportlich dynamisch den Berg erwandern. Die Bilder der Outdoor-Bekleidungs-Werbung, zu finden in einer Vielzahl von Outdoor-Magazinen, zeigen noch immer überwiegend Männer in weiten, unberührten Landschaften. Da gibt es sie noch, die unverbauten Ebenen mit den fernen Horizonten, die biologisch vielfältigen Wälder und die nie gestiegenen Bergrouten. Am Kiosk erwerbbar und im Sessel konsumierbar. Im Sinne einer unerforschten und unberührten Natur ist Outdoor aber auch ein innerer Raum, der ein verloren gegangenes Lebensgefühl birgt. »Die Freiheit zu gehen, wohin ich will«, »Frei Atmen!«, »Zurück zur Natur« sind gängige Werbeslogans. Hier ist das Outdoor arkadischer Sehnsuchtsort, Heilsversprecher für ein Verlustempfinden. Verlust von Ursprünglichkeit, Freiheit und Beständigkeit. Gesucht wird innere Ruhe und Abgeschiedenheit. Das »Fern« in »Fernweh« ist dann metaphorisch zu verstehen: Herbeigesehnt werden die inneren Welten, die so nahe liegen und doch fern geworden sind. Metrische Raumlogik (»erfahren« im Sinne von bereisen) wird zu symbolischer (»erfahren« im Sinne von erleben). Wieder zu sich kommen, heim kommen sind zugehörige Topoi. Diese Verbindung von innerer und äußerer Heimkehr und dem Draußen als (spät-)modernem Lebensgefühl erscheint im Slogan »Draußen zu Hause« und lässt sich ganz offenbar vermarkten, ohne dass dabei eine despektierliche Ironie gegenüber all denjenigen aufscheint, für die mit »Draußen« eben doch ein sehr konkreter metrischer Außenraum gemeint ist: Obdachlose, von denen viele diesen Raum nicht gesucht haben, sondern in ihn gezwungen sind, für die er vielleicht Heim, aber nicht Heimat ist. Das Outdoor ist eben nicht nur frei von Arbeit und von menschlicher Einflussnahme oder Verunreinigung, es ist auch frei von gesellschaftlicher Differenz und von Machtgefügen. Vom sozialkonstruktivistischen Hochsitz betrachtet und anders formuliert: Das Outdoor ist kein reiner, sondern bereinigter Raum. Das Outdoor soll aber auch »Raum der Kinder« (und Jugendlichen) sein. Unter dem Begriff der »outdoor-education« firmieren Konzepte für das Lernen in, für und über Outdoor. Wurden Kinder früher zur Entlastung häuslicher Organisationsarbeit nach draußen geschickt, wird dem Draußen-Spielen im digitalen Zeitalter besonderer sozialisatorischer und (natur-)pädagogischer Wert beigemessen. Waldkindergärten etwa haben regen Zulauf; Das letzte Kind im Wald? (Louv 2011) ist ein Bestseller. Hier ist das Outdoor wieder Naturraum, konkret und objekthaft. Doch auch das ortsungebundene Raumerlebnis Outdoor gibt es in Kindergrößen. Die symbolische Aufladung der Mini-Raumanzüge wirkt indes vornehmlich bei zahlenden Vätern. Schließlich: Der beforschte Raum. Das Outdoor, verstanden als der jenseits des Städtischen liegende Containerraum von Geofaktoren, ist seit jeher das Feld naturwissenschaftlicher Forschung. Insbesondere Geographen, so ein geläufiges Alltagsimage, arbeiten draußen, bohren, vermessen, graben bei jeder Witterung. Ihr Raum, das »Feld«, besteht aus Wasser und Luft, Ton, Sand und 214

Outdoor

Schluff. Das symbolisch konstruierte Outdoor kommt als Gegenstand sozialwissenschaftlicher und humangeographischer Betrachtung dagegen erst seit dem cultural turn groß raus. Anfang 2012 veröffentlicht die Zeitschrift Area fast ein ganzes Heft zum Themenbereich »Exploring the Outdoors«. Nun ja, so hätte auch eine Überschrift für einen Reisebericht Georg Forsters lauten können. Heute aber geht es um ein anderes Outdoor. Die Herausgeber wollen nicht zurück zum Abenteuertum – zumindest nicht explizit. Das Outdoor ist für sie ein Ort der Grenzüberschreitung. Hier wollen sie mit Hilfe neuer, postdualistischer Netzwerkansätze eine Brücke zwischen Natur- und Sozialwissenschaft, namentlich zwischen den geographischen Teilbereichen schlagen. Ihre Perspektiven sind kaum zu übersetzen: »more-than-representational accounts and more-than-scientific encounters« (Couper und Yarwood 2012, S.  2); Ansätze, die sich vernehmlich inspiriert durch die Arbeiten von Bruno Latours Actor Network Theory entwickelt haben. Direkte Erfahrung wird demnach zur Methode der Raumerkundung, die nun nicht mehr Analyse zu nennen ist: Das Land begehen, von seiner Erde kosten, seinen Wind erspüren, seine Blumen im Frühling beobachten (Cloke und Jones 2001, S. 653). Geographie wird zur Kunst des Hervorrufens (»an art of evocation«) und als solche wieder lebendig. Der Bedeutungszuweisung, im Sozialkonstruktivismus noch großgeschrieben, kommt nun eine untergeordnete Bedeutung zu. Gesucht wird nach dem der Bedeutung vorangehenden Sinn in den Dingen. Es geht um das Nachspüren der Verbindungen im hybriden Netzwerk der menschlichen und nicht-menschlichen Akteure. Im Begreifen des Ganzen, das wir durch die dualistisch konstruierte Trennung von Natur und Gesellschaft verlernt haben, sollen wir neu verstehen lernen. Wissenschaftstheoretische Konsequenzen bleiben vorerst offen, methodische Konsequenzen zur Erkundung des Outdoors werden im zitierten Heft ersichtlich: Die wechselseitige Verbindung von Eiskletterern mit ihrem Equipment wird in Interviews erhoben, die von Mensch, Hund und den gültigen Richtlinien für das Hundewandern mit Hilfe von Videodokumentationen untersucht. John Wylie (2002) hingegen erwandert in einem viel zitierten Aufsatz einen Hügel in Devon und hält seine Erlebnisse in einem performativen Tagebuch fest – ganz ähnlich übrigens, wie es Petrarca bereits im 14. Jahrhundert getan hat. Dessen dokumentierte Besteigung des Mont Ventoux wird in der einschlägigen Literatur oft als Beginn der Bergbesteigung um des Erlebnisses des (kontemplativen) Besteigens willens gesehen. In der geographischen Wissenschaft folgten dann aber über Jahrhunderte eher Kartierung, Systematisierung und Analyse (von der Phase der Landschaftsgeographie einmal abgesehen), bis das Erlebnis wieder in den Vordergrund trat. Und so drängt sich aus der metakognitiven Vogelschau eine Parallele auf: Das Outdoor dieser Forschung ist also ein Erlebnisraum wie das Outdoor in der Werbung oder das Outdoor, das heute, unterstützt durch den Kauf entsprechender Raumanzüge, die Wiedererlangung äußerer und innerer Natur verspricht. 215

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Sind es also die heutigen Bedingungen einer Erlebnisgesellschaft, welche – konsequenterweise – nun zu einer Erlebniswissenschaft führen? Antje Schlottmann

L ITER ATUR Bette, Karl-Heinrich (2005), Risikokörper und Abenteuersport, in: Soziologie des Körpers, hg. v. Markus Schroer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 295-322. Carson, Robert (1962), Silent Spring, Boston: Houghton Mifflin. Cloke, Paul und Owain Jones (2001), Dwelling, place, and landscape: an orchard in Somerset, Environment and Planning A 33(4), S. 649-666. Couper, Pauline und Richard Yarwood (2012), Confluences of human and physical geography research on the outdoors: an introduction to the special section on »Exploring the outdoors«, Area 44(1), S. 2-6. Großklaus, Götz (1993), Natur – Raum. Von der Utopie zur Simulation, München: Iudicium-Verlag. Haraway, Donna (1991), Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, London: Routledge. Louv, Richard (2011), Das letzte Kind im Wald? Geben wir unseren Kindern die Natur zurück!, Weinheim und Basel: Beltz Verlag. Schulze, Gerhard (2000), Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M. und New York: Campus. TextilWirtschaft (2012), Globetrotter: Neustart in Frankfurt, www.textilwirtschaft.de (Juli 2012). Wylie, John (2002), An essay on ascending Glastonbury Tor, Geoforum 33(4), S. 441-454.

216

Palette

Vermutlich gibt es inzwischen auf der Welt mehr Paletten als Fahrräder, Autos und Schiffe zusammen. Doch die unauffälligen Transportbretter fallen erst dann auf, wenn sie vor Supermärkten, auf Rampen, an Bahnhöfen, bei Treppen, Aufzügen oder sonst wo liegen bleiben. Oder wenn sie zweckentfremdet werden – als Bettunterlage, Hundehütten, Fußweg, Parkplatzfreihalter oder sonst was. Seit siebzig Jahren tun sie duldsam ihren Dienst – als Lastträger, Lagerunterlage, Stapeleinheit und Transportbrett. Ihr Dienst ist derart geschätzt, dass in Kauf genommen wird, dass sie kostbaren Platz verschwenden und zusätzliches Gewicht beanspruchen, ohne selbst als Ware gehandelt zu werden. Sie sind zum austauschbaren Medium und sozio-technischen Bindeglied gewor-

217

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

den. Wie beim Geld erfüllt eine beliebige Palette genauso gut ihren Zweck wie jede andere, und die mit EUR gekennzeichnete Europalette vermochte lange vor dem Euro die Länder Europas über den Eisernen Vorhang hinaus zu vereinheitlichen und damit ein bisschen zu vereinen. Doch eigentlich stammt die Europalette aus Amerika. Im Jahr 1943 hatten die Army Service Forces, die bei der U.S. Army für den Truppen-und Materialnachschub in Europa und Asien verantwortlich waren, den Namen und die Gebrauchsanleitung dieses einfachen Holzbrettes und seines komplementären Gehilfen in Gestalt des mechanischen Gabelstaplers erstmals der weiten Welt bekannt gemacht: »This is a pallet« und »This is a fork truck« (Station Supply Procedure 1943, S. 77). Das Lager, das in der deutschen Sprache etymologisch im Ruheort und der Stelle zum Liegen verwurzelt ist, sollte nun ein aktiver Raum werden, dezidiert dreidimensional, die gelagerten Waren immerzu in Bewegung oder zumindest in Bereitschaft dazu. Flowcharts figurierten als Blaupause für Rationalisierungsprozesse mit dem Ziel, Handarbeit durch Material Handling zu ersetzen. Während des Zweiten Weltkriegs wurde mit der Palette ein neuer, mathematisch optimierter Lagerraum geschaffen. Die Palette legte nun das Maß für alle Dinge fest, für Lagerregale, Korridore und Verpackungsdimensionen. Begonnen hatten diese Prozesse allerdings viel früher. Architekturtheoretiker hatten Mitte des 19. Jahrhunderts damit begonnen, ein Gebäude als etwas zu denken, das einem menschlichen Körper gleicht und Fließbewegungen ermöglicht (Forty 1999, S. 213-231). Mit der Einführung der Zirkulationsmetapher in der Architekturtheorie ging ein neues verwissenschaftlichtes Verständnis von Bauten einher. Gebäude wurden nicht mehr als materielle Hülle, sondern als System betrachtet, in dem physikalische Bewegungen stattfinden, wo Personen, Dinge und Energien zirkulieren. Ingenieure entwickelten eine Reihe von mechanischen Hilfsmitteln zur Beförderung von Materialien und Techniken zur »Beherrschung von Raum und Zeit« im »Weltverkehr« für die fragilen Übergänge bei den Fabriken und Bahnhöfen (Buhle 1904, S. v). Mit dem Beton und den unterzugslosen Betondecken wurde eine Stapelung der Waren bis unter die Decken um 1900 baustatisch möglich. Schließlich setzte sich bei amerikanischen Betriebsingenieuren in den 1920er Jahren die Vorstellung durch, dass sich – der alten mechanischen Urmetapher gleich – im Zusammenspiel vieler kleiner Artefakte zur Bewegung von Materialmassen eine große Materialflusskette formieren könnte, welche die Warenströme zwischen dem Produzenten und dem Konsumenten verflüssigen sollte. Die von den Eisenbahn- und Schifffahrtsgesellschaften in den USA verwendeten neuen Transportbretter auf Stelzen waren ein solches Artefakt für die arbeitsintensiven Übergangszonen – Oasen der Handarbeit, Quellen hoher (Transport-)Kosten und der sozialen Widerständigkeit außerhalb der betrieblichen Kontrolle. Doch die im Geiste der Rationalisierung und des Scientific Management angestrebte Durchsetzung eines Standards ließ auf sich warten. Es fehlte eine zentrale Instanz, die einen Standard und 218

Palette

neue Layouts für Lager- und Produktionsräume durchsetzen konnte, was unabdingbar war, weil sich die Transportbretter nicht in die bestehenden Fabrik- und Lagerhallen mit ihren Türen, Korridoren und Brücken einpassen ließen. Erst die amerikanische Armee vermochte einen solchen Standard für die Militärlogistik und die nachgelagerte Kriegswirtschaft zu setzen. Doch auch die Diffusion der Palettierung durch das Militär führte in den USA nicht zur Herausbildung einer allgemeinen Industrienorm. Zwar veröffentlichte das National Bureau of Standards 1947 erstmals Empfehlungen für einheitliche Paletten, doch wurden Vereinheitlichungen bloß »innerhalb« des Militärs, bei Großunternehmen wie Coca Cola oder innerhalb von Branchen realisiert. Weil eine nationale Koordinationsinstanz fehlte, werden in den USA bis heute viele Einwegpaletten verwendet. Die Paletten, die sich dem Fußgänger in Amerika auf Gehsteigen, an den Rändern von Märkten und bei Lastwagenterminals entgegenstellen, sind einfacher zusammen genagelt, weit individueller gestaltet und wortwörtlich bunter, als die streng normierten Europaletten. Die europäischen Ingenieure, welche im Jahr 1951 während einer von der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD 1953) gesponserten Reise sich von der amerikanischen Industrie in die modernen Material Handling Techniken einführen ließen, zeigten sich beeindruckt von der transatlantischen Gastfreundschaft und den über hundert Industriefilmen zum Thema, die weltweit ausgeliehen werden konnten; von Automation Unlimited bis Be Wise – Palletize. Doch sie ließen zwischen den Zeilen auch durchscheinen, dass die Paletten zwar aus den USA kamen, inzwischen jedoch in Europa bereits viel weiter entwickelt worden seien. Der Frühstart des Transportbrettes in den USA hatte gegen einen Standard gewirkt, weil zu viele Gruppen, die früh einen eigenen Standard entwickelt hatten, die Kosten einer Umstellung nicht tragen wollten, während in Europa die Eisenbahngesellschaften nach dem Krieg den Standard setzen konnten. Während sich die Palettierung in den USA nach Kriegsende dezentral weiterentwickelte, weckte die Kriegsbotschaft This is a pallet in Europa bei den staatlichen Eisenbahngesellschaften ein großes Interesse an einer zentralen Standardisierung des Transportbrettes aus den USA. In Schweden wurde nicht bloß das normierte Tetrapak erfunden, Schweden war auch das erste Land, das 1947 den Austausch einheitlicher Paletten durch die Gründung eines nationalen Palettenpools organisierte. Ein Jahr später begannen internationale Standardisierungsgremien die Frage eines einheitlichen Transportbrettes zu diskutieren: Die 1947 gegründete International Organization for Standardization (ISO) setzte 1948 eine Kommission zur Palette ein (an der sich die USA nicht beteiligten) und der Internationale Eisenbahnverband (UIC) einigte sich 1950 auf UIC-Standards in den Dimensionen 80 x 120 und 100 x 120 Zentimeter. Die Schweiz gehörte nicht zur Avantgarde der Palettierung, doch entwickelte sie sich innerhalb eines Jahrzehnt zum europäischen Vorzeigemodell. Die 219

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Einführung eines nationalen Standards war eine planerische Großleistung, welche durch Kooperation diverser Akteure mit unterschiedlichen Interessenlagen zustande kam. Wie in Schweden initiierten auch in der Schweiz die staatlichen Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) den Aufbau eines nationalen Standards mit internationaler Anschlussfähigkeit. Indem Schreinereien in industriearmen Berggebieten in die Herstellung der Paletten involviert wurden, sollte die betriebliche Rationalisierungsmaßnahme politisch als Wirtschaftspolitik im Dienste der nationalen Volkswirtschaft abgefedert werden. Doch die Interessenlage der SBB war noch komplexer: In der Systemkonkurrenz zwischen Schiene und Straße im Güterverkehr, die sich in den 1950er Jahren im europäischen Raum markant intensivierte, avancierte die Palette zu einem »Kampfmittel« bei den Rationalisierungsmaßnahmen zur Kostensenkung. Doch Rationalisierungsgewinne ließen sich für die SBB nur verwirklichen, wenn ihre Kunden den Systemwechsel auch vollzogen. Nach ersten Versuchen mit der Palette auf Basis des UIC-Standards im Sommer 1951 wurden 1952 die Güterhallen in Bern, Luzern und Zürich auf Palettierung umgestellt. 1953 bewilligte der Verwaltungsrat der SBB 2,7 Millionen Franken für die Anschaffung von weiteren Handhubwagen, Paletten, Aufsatzrahmen, Stapelgestellen, Hubstaplern etc. Die Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit gegenüber den Lastwagen war dabei das zentrale Argument: »Da die Strassenverkehrsunternehmungen nicht für den Palettentransport organisiert sind, bildet dieses neue Umschlagssystem ein wichtiges Aktivum im Wettbewerb mit der Schiene.« (SBB 1953) Durch den Schweizerischen Palettenpool wurde der Modus des Austausches der Paletten mit den Verfrachtern geregelt. Die SBB übernahmen die Kontrolle und Reparaturarbeiten der Paletten. Sie verrechneten nur das Nettogewicht bei Verwendung von standardisierten Paletten und retournierten Paletten gratis. Im Februar 1953 zirkulierten bereits 16.000 Paletten auf 130 Bahnhöfen und Ende des Jahres waren schon 400 Bahnhöfe für die Palettierung ausgerüstet. Die Bemühungen der SBB, ihren Kunden die Palettierung nahe zu legen, waren sehr erfolgreich: 1956 hatten bereits 600 Firmen ein Palettenabkommen mit den Bundesbahnen abgeschlossen, im Jahr 1958 waren es 1.000 und 1962 zirkulierten in der Schweiz bereits eine Million Poolpaletten. Ähnlich wie die SBB in der Schweiz war die Deutsche Bundesbahn federführend bei der Errichtung des Deutschen Palettenpools im Jahr 1960. In der Vorbereitungsphase für ein Europäisches Palettenpool ging es um eine Vereinheitlichung von Holzart, Holzqualität, Toleranzen und Nagelung sowie um einen Entscheid zwischen den zwei weit verbreiteten Dimensionen 80 x 120 Zentimeter und 100 x 120 Zentimeter der ISO und der UIC. Die EuropäischePool-Palette (EPP) in der Abmessung 80 x 120 Zentimeter war fast identisch mit der SBB-Standard-Palette, sie umfasste jedoch statt 138 nur 78 Nägel. Diese reduzierte Nagelung verbilligte die Palette um 60 bis 90 Rappen. Das Paletten-

220

Palette

pool sollte zwar so zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk funktionieren, doch eine Schweizer Luxusuhr wollten sich die Europäer dann doch nicht leisten. Am 1. Januar 1960 zirkulierten erstmals Paletten zwischen der Schweiz und Deutschland auf Basis einer Vereinbarung zwischen den SBB und der Deutschen Bahn. Neben dem Internationalen Eisenbahnverband war auch die UNO-Wirtschaftskommission für Europa (Economic Commission for Europe, ECE) an der Vorbereitung eines Europäischen Palettenpools beteiligt, der am 1. Juli 1961 ins Leben gerufen wurde. Die Europaletten tragen seither als Qualitätszeichen, neben dem Verweis auf die nationale Herkunft, eine einheitliche Markierung mit Verweis auf Europa (EUR). Wie das Tauschmedium Geld geht das Transportmedium Poolpalette ins Eigentum des temporären Besitzers über. Das Kontrollinstrument der Palettierung ist traditionell bürokratisch: Die Anzahl der ausgetauschten Paletten werden im Frachtbrief festgehalten, Buchführung und Kontrolle obliegen den nationalen Eisenbahngesellschaften. Die Schweiz, Deutschland, Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande und die skandinavischen Länder gehörten zu den Gründungsmitgliedern des Europäischen Palettenpools. Die Europalette vermochte im Kalten Krieg auch die Grenzen des Eisernen Vorhangs zu durchqueren und etablierte einen europäischen Kooperationsraum qua technischer Norm zwischen den Blöcken, als 1964 die Tschechoslowakei und die DDR dem Europäischen Palettenpool beitraten. Doch obgleich in Europa mit der Schaffung von nationalen Pools und dem Europäischen Palettenpool die Normierung von Transportbrettern und die Verflüssigung des Warenstroms weit vorangetrieben wurden, kam es zu Rissen in den Transportketten, die der Zweckentfremdung von Paletten zugeschrieben wurden. Trotz der Verbuchung von Paletten auf Frachtbriefformularen und eines Kontrollsystems waren die Palettenverluste teilweise so groß, dass es zu Güterflussstockungen und Produktionsunterbrüchen der Bahnkunden kam. Die Standardisierung der Paletten war in Europa von den nationalen Eisenbahngesellschaften als Waffe im Systemwettbewerb zwischen Schiene und Straße lanciert worden. Doch die Stärke eines Standards besteht gerade darin, dass er von allen anschlussfähigen Partnern verwendet werden kann, auch gegen die Intentionen seiner ursprünglichen Schöpfer. Die Lastwagen setzten der Palettierung jedoch anfänglich Widerstände entgegen: technische – wegen der Vielzahl von Flurhöhen und der Varianz der Lastwagenbreiten – und wirtschaftliche – wegen des Verlusts an Laderaum bei Verwendung von Paletten, der bei Lastwagen im Vergleich mit der Eisenbahn stärker ins Gewicht fällt. Die Lastwagenbranche unternahm in den 1960er Jahren im Verband der Union Internationale des Transports Routiers Maßnahmen, um die Lastwagenbreiten zu normieren und den Lastwagenverkehr mit dem Palettensystem zu verbinden. Zu Beginn der 1970er Jahre war es dann der Lastwagenindustrie mit millimetergenauer Tüftelei gelungen, Lastwagen und Anhänger mit optimierten Pritschen-Abmessungen zu konstruieren. 221

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Ziemlich genau dann, als in Europa Architektur, Verpackungen, Technik und Arbeitsorganisation immer passgenauer mit den Paletten interagierten, kam aus den USA ein neues Transportmittel, das die standardisierte europäische Palettenharmonie beträchtlich störte und zu massiven Interessenkollisionen zwischen den USA (unterstützt von Großbritannien) und Kontinentaleuropa führte: der Container. Die Normierung der Innenabmessung des Containers durch die ISO war nicht kompatibel mit den Europaletten. Mit den neuen Transportbehältern aus den USA gelangten auch neue Forderungen an die ISO, die internationale Normierung von Verpackungen künftig auf Basis der Container statt auf Basis der Paletten vorzunehmen. Angloamerikanische Normierungssysteme, die auf den im Schiffsverkehr etablierten Container als Normierungsgrundlage setzten, standen der europäischen Normierungstradition, die auf der im Eisenbahnverkehr verankerten Palette basierten, unversöhnlich gegenüber. Die Amerikaner nahmen für ihr System Weltläufigkeit in Anspruch und disqualifizierten das System Europas als Regionalprojekt. Die Europäer waren zwar schnell gewesen bei der Adaption und Transformation einer amerikanischen Erfindung, doch ist kein Standard davor gefeit, durch technische Entwicklungen, politische Entscheidungen und wirtschaftliche Prozesse in Frage gestellt zu werden. Die Logistik ist eine Wissensformation, die mit Anschlussfähigkeit fürs Allgemeine operiert und den Anspruch und Sinn fürs Größere mit sich führt. Sie ist eine Ingenieurswissenschaft, die sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert damit beschäftigt, die Materialmassen der Industrialisierung und des globalisierten Warenflusses mittels Handling, das heißt mechanisierter Handhabung und materiellen Artefakten zu bewältigen. Die Paletten waren neben den vielen anonymen Hebewerkzeugen an Häfen, den Betondecken, den Flowcharts nur ein Glied in einer Kette, die als Hebel der globalen Beschleunigung von Warenmassen wirkte und gleichzeitig auch die Mittel bereitstellte, um diese überhaupt erst handhabbar zu machen. Sie sind bis heute die Geister einer beschleunigten Warenzirkulation, welche sie mittels mathematischer Modellierung, grafischer Repräsentation und standardisierten Artefakten zu kanalisieren und besänftigen suchen. Materielle Artefakte sind so bedeutsam für die Logistik geworden, weil sie bei einem gewissen Standardisierungs-, Formalisierungs- und Diffusionsgrad eine Eigendynamik entwickeln konnten. Sie vermochten an den fragilen Übergängen zwischen den Fabriken und den Bahnhöfen, den Schiffen und den Eisenbahnen einzugreifen, und erweiterten das Ford’sche Fließband über die Fabriktore hinaus. Die arbeitsintensiven Übergangszonen wurden mit technischen Artefakten durchsetzt, welche die Lücken in der Warenbewegung (von den Rohstoffen bis zum Konsum) mittels standardisierter Überbrückungsund Übertragungstechniken (wie Paletten und Container) schließen. Doch es gehört zu den Paradoxien hoch technisierter Gesellschaften, dass die Paletten ein Eigenleben entwickelten, das den ingenieurswissenschaftlichen 222

Palette

Visionen entglitten ist. Ob die Paletten nun in südamerikanischen Favelas in Beschlag genommen werden, ob sie an den Stadträndern Wiens zu Hundehütten umgebaut werden oder schließlich am Ende auf einer Ferieninsel in Südeuropa von den Menschen als Fußweg zurückerobert werden – sie sind längst weltweit zum verlässlichen Baumaterial einer wilden, lokalen Bedürfnissen entsprungenen, Infrastruktur geworden. Monika Dommann

A NMERKUNG Dieser Text entstand im Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Projektes (http://www.materialflow.ch/) und beruht auf zwei ausführlicheren Artikeln: Dommann, Monika (2009), »Be wise – Palletize«: Die Transformationen eines Transportbrettes zwischen den USA und Europa im Zeitalter der Logistik, Traverse 16(3), S. 21-35. Dommann, Monika (2011), Handling, Flow Charts, Logistik: Zur Wissensgeschichte und Materialkultur von Warenflüssen, Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 7, S. 75-103.

L ITER ATUR Buhle, Max (1904), Technische Hülfsmittel zur Beförderung und Lagerung von Sammelkörpern (Massengütern) II. Teil, Berlin. Forty, Adrian (1999), Spatial Mechanics: Scientific Metaphors in Architecture, in: The Architecture of Science, hg.  v. Peter Galison und Emily Thompson, Cambridge und London: MIT Press, S. 213-231. Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) (1953), Materials handling equipment and methods in the U. S. A. Report of a group of European Experts, Paris. Schweizerische Bundesbahnen (SBB, 1953), Protokolle des Verwaltungsrates. Sitzung vom 20. Januar 1953, Archiv, Bern. SBB 18_017_01 und SBB 18_018_01. Station Supply Procedure (1943), Procedure for the Requisition, Purchase, Receipt, Issue, and Shipment of Material (Execept for Subsistence). Headquarters Army Service Forces, 1 September 1943. Army Service Forces Manual M403 Supply, United States Government Printing Office: Washington.

223

Quarantäne

Auf Drängen der Kaufleute hat sich der Magistrat der Stadt Ragusa (das heutige Dubrovnik) 1377 für einen Kompromiss entschieden. Erst 1348, also eine Generation zuvor, waren der Pest ein Drittel der Bewohner_innen und 110 Mitglieder des Rates zum Opfer gefallen (Stuard 1973). Dennoch verzichtete die Stadt, angesichts beunruhigender Nachrichten eines erneuten Auftretens der Pest, auf die im westlichen Europa damals versuchte völlige Abschottung. Noch 1370 hatte das benachbarte Venedig ein vollständiges Einlaufverbot für Schiffe mit pestverdächtigen Matrosen verhängt. Um die Interessen der Kaufleute Ragusas zu wahren, wurden die der Stadt vorgelagerten Felseninseln zum Ort einer sowohl räumlich (Inseln) als auch zeitlich (30 Tage) klar abgegrenzten Pufferzone und damit einer neuartigen Form raumbezogener Gesundheitspolitik: der Quarantäne. Besatzung und Ladung ankommender Schiffe hatten vor Eintritt in die Stadt zunächst 30 Tage auf diesen Inseln zu verweilen. In der Folge verbreitete sich diese Technik aus Ragusa rasch in den Stadtstaaten Norditaliens und Hafenstädten Frankreichs, die als maritime Handelsknoten zu dieser Zeit die Transitstelle des globalen Güter- und Personenverkehrs nach Europa waren. Die in Ragusa ursprünglich festgesetzte Frist von 30 Tagen wurde in den norditalienischen Städten bald auf 40 Tage (italienisch quarenta) erhöht und damit der bis heute gebräuchliche Begriff geprägt. Die Frist resultiert übrigens weniger aus einem gesicherten medizinischen Wissen – die Pest war zu dieser Zeit in großen Teilen ein Mysterium –, sondern aus dem Rückgriff auf die Bibel. Moses und Jesus verbrachten jeweils diese Zeitspanne in Isolation in der Wüste. Die kargen Felseninseln in der Adria sind damit die Geburtsstätte eines bis heute geläufigen Verfahrens der Infektionskontrolle. Ganz offensichtlich handelt es sich bei der Quarantäne um die Verfeinerung einer politischen Machttechnik. Politische Macht setzt die Betroffenen zumindest zeitlich befristet fest. Die Geschichte dieser vergleichsweise harten Maßnahme der Infektionskontrolle ist auch eine Geschichte der Stigmatisierung und Diskriminierung, von ökonomischen Verlusten, von Widerstand, Protest und Rebellion. Die entscheidende Innovation der Quarantäne gegenüber der Verbannung war neben der zeitlichen Befristung auch der prophylaktische Ein224

Quarantäne

bezug von offensichtlich Gesunden. Dies war von Beginn an ein Einfallstor für rassistische Vorurteile. Schon im Mittelalter diente die Quarantäne vornehmlich der Abwehr »orientalischer Seuchen« und wurde insbesondere gegen Schiffe mit Heimathäfen in Afrika und Asien angewandt. Nicht selten kanalisierte die Quarantäne Ängste und Vorurteile gegenüber Migrant_innen und ethnischen Minderheiten in eine scheinbar rationale Maßnahme. Noch 1900 wurde in San Francisco nach einem Todesfall durch die Pest das gesamte Chinatown mit damals 14.000 Bewohner_innen unter Quarantäne gestellt und jedes Haus (wohlgemerkt mit Ausnahme der Häuser »inhabited by the wealthy and usually clean Chinese«, Trauner 1978, S. 78) vom Keller bis zum Dachboden desinfiziert. Im Detail markiert die modifizierte Infektionskontrolle in Gestalt der Quarantäne einen Wendepunkt in der Art und Weise, in der Individuen staatlich kontrolliert werden und ihr Verhalten reguliert wird. Generell bringt der Gegenstandsbereich staatlicher Regulierung un-/gesunder Körper das Charakteristische einer solchen Regierungsweise besonders prägnant zum Ausdruck. Infektionskontrolle vollzieht sich an der Schnittstelle der Individuen und einem vorgestellten Gesellschaftskörper, offenbart den Umgang mit Freiheitsrechten und die Verfahren der Grenzziehung. Prominent hat Michel Foucault konkrete Techniken des Regierens und insbesondere auch die Verfahren der Infektionskontrolle für die Frage nach der jeweiligen Regierungsweise fruchtbar gemacht. Foucault betrachtet die Quarantäne im Zusammenhang mit einem etablierten städtischen Pestregime im 17. Jahrhundert. Während der Umgang etwa mit Lepra noch in der direkten Verbannung der Kranken bestand, ein seit der Antike überliefertes Verfahren, wurde angesichts der Pest in den Städten ein dichtes Netz von Kontrollmaßnahmen etabliert. Ausgangssperren wurden verhängt und Gesundheitsinspektoren patrouillierten regelmäßig durch die Straßen. Die Bewohner_innen hatten sich zu einer festgesetzten Zeit an den Fenstern zu zeigen, damit Kranke identifiziert werden konnten. Im Verdachtsfall wurden alle Bewohner_innen eines Hauses unter Hausarrest, das heißt häusliche Quarantäne gestellt. Der letzte Versuch massenhafter Quarantäne zur Bekämpfung der Cholera in England 1831 verdeutlicht diese Ausweitung städtischer Kontrollen. In der offiziellen Bekanntmachung hieß es unter anderem: »And in case of refusal, a conspicuous mark, ›SICK‹ should be placed in front of the house, to warn people that it is in quarantine […] and it may become necessary to draw troops or a strong body of police around infected places, so as utterly to exclude the inhabitants from all intercourse with the country.« (Smith 1866, S. 62) Im Hintergrund dieser Maßnahmen identifiziert Foucault einen veränderten »politischen Traum«: den Traum einer disziplinierten Gesellschaft (Foucault 1976). Allerdings handelt es sich bei den Beispielen städtischer Hygienepolitik, auf die sich Foucault hier bezieht, streng genommen nicht um Verfahren der Quarantäne, sondern eher um Verfahren zur Isolierung und Abschottung bereits identifizierter Pest- oder Cholera-Patienten. Das charakteristische Versprechen 225

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

der Quarantäne ist hingegen eine bessere Handhabe zur Infektionskontrolle angesichts des möglichen Eindringens unbekannter oder unerkannter Vektoren. Entsprechend ist die Quarantäne Ausdruck eines anderen »politischen Traums«. Nicht der Traum lückenloser Disziplin innerhalb einer politischen Gemeinschaft, sondern der Traum einer Steuerung von Zirkulation. Die Innovation von Ragusas Felseninseln, die Bereitstellung eines zeitlichen und räumlichen Puffers zur Vermeidung von Krankheitsübertragung, stellt eine neue Figur ins Zentrum der Beziehung von Ansteckung, Krankheit und politischer Intervention: das Problem der Zirkulation. Entstanden aus dem Betreiben der Kaufleute Ragusas, zielt diese neue Technik nur zweitrangig auf den Schutz vor Infektionen (darauf waren die bisherigen Versuche der Abschottung zuvorderst gerichtet), sondern nun auf die möglichst störungsfreie Aufrechterhaltung von Schiffsverkehr und Warenhandel (Frati 2000). Im Kern geht es der Quarantäne um die Bearbeitung des Problems der Zirkulation, das heißt der Gewährleistung eines möglichst ungehinderten Umschlags von Waren und Personen, wobei diese Waren- und Personenströme zugleich Quelle von (Infektions-)Gefahr sind. Der politische Traum hinter der Praxis der Quarantäne ist damit ein sehr moderner. Wie ist Zirkulation möglichst ungehindert und unter Minimierung staatlicher Eingriffe (zeitlich befristete Quarantäne ersetzt völlige Abschottung) zu maximieren? Isoliert betrachtet markiert die Quarantäne somit eine der ersten gouvernementalen Techniken des Regierens. In ihrer reinen Form handelt es sich um ein Verfahren, das exakt das versucht, worum es sich auch bei gegenwärtigen Dispositiven der Sicherheit dreht: »die Zirkulation zu organisieren, das, was daran gefährlich war, zu eliminieren, eine Aufteilung zwischen guter und schlechter Zirkulation vorzunehmen und, indem man die schlechte Zirkulation verminderte, die gute zu maximieren« (Foucault 2004, S. 37). Die Thematisierung von Krankheit als ein Problem der Zirkulation, die dem Ratsbeschluss von Ragusa zugrunde liegt, erwies sich als idealer Kompromiss zwischen Infektionsangst und ökonomischen Interessen und wurde rasch kopiert. Die Erfindung der Quarantäne verweist aber nicht bloß auf eine verschobene politische Rationalität der Infektionskontrolle, sondern hatte schließlich weitreichende Folgen für die Herausbildung des modernen Staates. Die Inseln sind Ausgangspunkt einer von nun an zunehmenden administrativen Staatstätigkeit im Bereich der Gesundheitspflege und konkretisieren das erwachende biopolitische Interesse des Staates beziehungsweise den Ursprung des Aufgabenfeldes public health. Ragusa lässt sich als Keimzelle einer biopolitischen Staatlichkeit lesen. Die Inseln vor Ragusa, später die Lazarette vor den Toren der italienischen Städte oder Quarantänestationen an internationalen Flughäfen funktionieren als Instrumente der Zirkulationskontrolle erst vor dem Hintergrund eines umfangreichen institutionellen und rechtlichen Apparats. Die Orte der Quarantäne selbst müssen geschaffen, eingerichtet und unterhalten werden. Ihre Funktion 226

Quarantäne

bekommen sie jedoch erst, wenn Eintritt und Austritt lückenlos kontrolliert sind, wenn die in Quarantäne Festgehaltenen und deren Besitztümer penibel abgesondert bleiben und wenn möglichst präzise zwischen guter und schlechter Zirkulation unterschieden wird, also möglichst nur infektionsgefährliche Reisende belangt werden. Die Idee der Quarantäne erweist sich also als durchaus voraussetzungsvoll. Anders gewendet brach sich über die Quarantäne eine Ausweitung staatlicher Maßnahmen Bahn. Die Vorstellung einer kontrollierten Zirkulation führte zur Fixierung und militärischen Überwachung der territorialen Grenzen der norditalienischen Stadtstaaten untereinander. Nicht zuletzt der Bedarf an klaren »Gesundheitsgrenzen« hat die Etablierung und Fixierung von Staatsgrenzen notwendig gemacht. Entlang der Küsten Italiens etwa wurde ein cordon sanitaire errichtet, eine möglichst lückenlose Kette von Festungen und Wachtürmen unterstützt durch Kriegsschiffe zu See und Kavallerie auf dem Land, welche bis in das 17. Jahrhundert aufrecht erhalten wurde. Die letzte Steigerung dieses Effekts der Quarantäne-Idee lässt sich noch im 18. Jahrhundert an der österreichisch-ungarischen Ostgrenze beobachten. Auf 1.900 Kilometern, von den Karpaten bis zur Adria, wurde 1710 ein Pestkordon als seuchenpolitisches und militärisches Frühwarnsystem eingerichtet. Im Zuge dessen wurden lokale Bevölkerungen zu einem fünfmonatigen Militärdienst an dieser Grenze verpflichtet, die schließlich von 100.000 solcher Wehrdienstleistenden gesichert wurde. Auch jenseits der Grenzziehung kam es mit der Quarantäne zu einer administrativen Institutionalisierung der neu wahrgenommenen Verantwortung des Staates im Bereich der Gesundheit. Erstmals wurden Ärzte in den Staatsdienst gestellt, unter anderem um die zum Zweck der Quarantäne errichteten Lazarette und Pesthäuser zu organisieren und zu verwalten. Anfangs noch als ad hoc-Maßnahme eingesetzt, haben sich Sanitätsräte als eigenständige Verwaltungskörper im 16. und 17. Jahrhundert dauerhaft institutionalisiert. Ein System von Freibriefen entwickelte sich, womit die Abfahrt aus einer pestfreien Stadt dokumentiert und dem Mühsal Quarantäne bisweilen entgangen werden konnte: die erste Form heutiger Reisepässe. Erst mit der Quarantäne bündelte sich somit in der frühen Neuzeit ein erheblicher Teil öffentlicher Gelder zum Zweck der Gesundheitspflege. Getrieben von dem Schrecken und der medizinischen Hilflosigkeit gegenüber der Pest hatte die Praxis der Quarantäne damit einen wichtigen Anteil am Prozess der Herausbildung moderner Staaten in Europa. Mehr als zuvor prägen globaler Verkehr und Zirkulation die Gesellschaften der Gegenwart und die Sorge vor unbekannten Infektionskrankheiten mit dem Potenzial für eine globale Pandemie durchzieht die internationale gesundheitspolitische Debatte. In unterschiedlichen Problemstellungen der Biosicherheit ist die Zirkulation von Personen, Tieren und Gütern jeweils zentrale Problemursache und zugleich deren Aufrechterhaltung Gegenstand politischer Anstrengungen. Erleben wir also eine Konjunktur des ursprünglichen Verfahrens der 227

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Zirkulationskontrolle, der Quarantäne? Zunächst hat sich die Quarantäne im 20. Jahrhundert eher überlebt. Auch wenn das noch aus der Internationalen Sanitätskonferenz von 1851 hervorgegangene Sanitätsreglement mit seinen Quarantänebestimmungen bis 2007 Geltung hatte, waren Reisende im 20. Jahrhundert kaum mit der Erfahrung eines gesundheitspolitischen Ingewahrsams konfrontiert. In den USA etwa wurden noch in den 1960er Jahren an Flughäfen, Häfen, Grenzübergängen und in Konsulaten 55 Quarantäne-Stationen mit insgesamt 500 Mitarbeitern unterhalten. Im Jahr 2004 gab es nur noch acht dieser Einrichtungen mit 37 Festangestellten. Eine signifikante Ausnahme bildet höchstens Kuba, wo 1986 begonnen wurde, HIV-Infizierte und »Infektionsverdächtige« unter Quarantäne zu stellen. Kuba war das einzige Land, das auf die HIV/AIDS-Epidemie mit dieser Praxis der Infektionskontrolle zu reagieren versuchte. Seit 1993 ist die Einweisung in das zu diesem Zweck gebaute Sanatorium Santiago de la Vegas allerdings auch hier nicht mehr obligatorisch. Welche Bedeutung hat die Quarantäne also heute? Eine Reihe von Anzeichen deutet auf eine mögliche Renaissance dieser Praxis hin, allerdings in veränderter Gestalt. Einen Wendepunkt markieren die Ereignisse im Zusammenhang mit der SARS-Epidemie. Der Anfang 2003 in der südchinesischen Provinz Guangdong identifizierte hoch ansteckende Corona-Virus und die rapide Verbreitung einer damit verbundenen Atemwegserkrankung in einzelnen Städten rund um die Welt war der erste Testfall einer sogenannten emerging disease. Sich global verbreitende neuartige Krankheiten sind seit den 1990er Jahren zu einem wirkmächtigen Bedrohungsszenario in der internationalen Gesundheitspolitik geworden. Ausgelöst durch das Auftauchen von HIV/AIDS, Ebola und des Hanta-Virus aber auch antibiotikaresistenter Stämme bekannter Viren und verstärkt durch die politische Sorge vor einer intentionalen Herstellung und Verbreitung von Keimen (Bioterrorismus), ist Infektionskontrolle seitdem auch auf die sicherheitspolitische Agenda westlicher Staaten geraten. Befördert durch den Eindruck von SARS wurden schließlich 2005 die diesbezüglichen internationalen Abkommen angepasst. Das bestehende Sanitätsreglement, seit den Vorläufern 1851 Grundlage internationaler Quarantänebestimmungen, wurde 2005 grundlegend modifiziert. In den nun sogenannten International Health Regulations (IHR) taucht eine neue Begrifflichkeit auf, die erheblich für die zukünftige Gestalt der Quarantäne ist. Gegenstand international obligatorischer und durch die WHO koordinierter Kontrollen ist seit 2005 nicht mehr ein fester Katalog »quarantänefähiger« Krankheiten (Pest, Gelbfieber, Cholera, Typhus und einige weitere), sondern eine offene Kategorie unspezifischer Gesundheitsgefahren von internationaler Relevanz (public health emergencies of international concern). Die WHO ist nun ermächtigt, solche Gefährdungslagen selbst auch unabhängig von der Initiative des betroffenen Staates festzustellen, ein Interventionsteam zu entsenden und Reisewarnungen auszusprechen – eine Maßnahme, die im Endeffekt auf dem Gedanken der Quarantäne beruht. Betroffe228

Quarantäne

ne Gebiete sind temporär von einem globalen Reiseverkehr zu isolieren. Mit den modifizierten IHR wird der »emerging disease world view« (King 2002) Grundlage internationalen Rechts. In gewisser Weise ähnelt die damit fixierte Ausgangslage internationaler Infektionskontrolle der Situation damals in Ragusa. Wie früher die Pest sind auch neuartige Infektionskrankheiten heute eine zwangsläufig unbekannte Bedrohung. Wie damals ist die globale Zirkulation eine angenommene Ursache, deren Aufrechterhaltung zugleich das angestrebte Ziel. Bedingungen und Möglichkeiten einer Massenquarantäne werden derzeit zumindest neu diskutiert und neue gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen, so etwa in Kanada mit dem Quarantine Act von 2006. Zuvor hatte die Stadt Toronto im Frühjahr 2003 bereits über 14.000 Personen unter einen obligatorischen Hausarrest gestellt, um der SARS-Epidemie zu begegnen. Am 15. März 2003 beschloss das hessische Gesundheitsministerium nach Rücksprache mit dem Robert-Koch-Institut 155 Passagiere des aus New York in Frankfurt gelandeten Singapore Airline Fluges unter Quarantäne zu stellen. Zwei Tage später wurden die Passagiere aus der Quarantäne-Station des Frankfurter Flughafens entlassen. Bei der Einreise nach Hongkong und Singapur hat jeder Fluggast derzeit einen Temperaturscanner zu passieren und muss bei erhöhter Körpertemperatur mit einer zweitägigen Unterbringung in Quarantäne rechnen. Die konkreten Orte selbst, in der eigenen Wohnung oder am Flughafen, haben wenig Ähnlichkeit mit den Felseninseln vor Ragusa, auf denen die Reisenden einen Monat unter offenem Himmel ausharren mussten, oder mit den Lazaretten der frühen Neuzeit, in denen die gemeinsame Unterbringung von Pestkranken und Reisenden in Quarantäne auf engstem Raum die Maßnahme teils zu einem Beinahe-Todesurteil gemacht hat. Zudem stehen heute diskretere Techniken zur Kontrolle von Zirkulation zur Verfügung, beispielsweise die Früherkennung durch global integrierte Datenbanken oder die zunehmend unternommene Suche nach nicht-medizinischen Krankheitsindikatoren etwa in dem Monitoring von Google-Suchanfragen (Chen, Zeng und Yan 2010). Bemerkenswert ist allerdings die sich parallel abzeichnende Renaissance einer Idee der Infektionskontrolle, deren medizinischer Nutzen nach wie vor umstritten ist und deren Folgekosten in Bezug auf einzusetzende Ressourcen und das Schüren von Ängsten in der Bevölkerung hoch sind. Letzten Endes ist die Quarantäne damals wie heute auch ein Mittel der Symbolpolitik, die ein imaginäres gesundes Innen und ein krankes Außen trennt. Der Rückfall in eine Enklaven-Mentalität (Turner 2007) ist eine zu befürchtende Reaktion auf die globale Vernetzung und die mögliche Renaissance der Quarantäne ein Ausdruck dieser Entwicklung. Henning Füller

229

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

L ITER ATUR Chen, Hsinchun, Daniel Zeng und Ping Yan (2010), Public Health Syndromic Surveillance Systems, in: Infectious Disease Informatics: Syndromic Surveillance for Public Health and Bio-Defense, hg. v. Hsinchun Chen, Daniel Zeng und Ping Yan, Boston: Springer, S. 9-31. Foucault, Michel (1976), Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2004), Geschichte der Gouvernementalität 1: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Frati, Paola (2000), Quarantine, trade and health policies in Ragusa-Dubrovnik until the age of George Armmenius-Baglivi, Medicina nei Secoli 12(1), S. 103127. King, Nicholas B. (2002), Security, Disease, Commerce: Ideologies of Postcolonial Global Health, Social Studies of Science 32(5-6), S. 763-789. Smith, Southwood (1866), The Common Nature of Epidemics, hg. v. Thomas Baker, Philadelphia: J. B. Lippincott & Co. Stuard, Susan Mosher (1973), A communal program of medical care: medieval Ragusa/Dubrovnik, Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 28(2), S. 126-142. Trauner, Joan B. (1978), The Chinese as medical scapegoats in San Francisco 1870-1905, California History 57(1), S. 70-87. Turner, Bryan S. (2007), The Enclave Society: Towards a Sociology of Immobility, European Journal of Social Theory 10(2), S. 287-304.

230

Rechenzentrum

»Wer kontrolliert, wer bewacht, wer überwacht mein Gedächtnis? Das liegt ja nicht in Gottes Hand, in einer Wolke, sondern tatsächlich in einem Rechenzentrum irgendwo« – man mag über das Bild von irgendwo herumliegenden Gedächtnissen schmunzeln, dass Claus Kleber im heute journal (5. März 2012) gebrauchte, um dem Zuschauer das Cloud Computing zu erklären. Wo ist »irgendwo«? Es sind Rechenzentren, ohne die heute digital und damit in unserem Alltag nichts mehr geht, egal ob beruflich oder privat. In sie fließen – von der Hardwarebeschaffung bis zur Stromrechnung – enorme Geldsummen. Und trotzdem scheinen Rechenzentren häufig noch durch das Netz wissenschaftlicher und ganz allgemein gesellschaftlicher Aufmerksamkeit zu rutschen. Vielleicht liegt das an der vorgestellten Boden- oder Ortlosigkeit des Digitalen, die sich in Begriffen wie »Cloud« oder »Virtualität« widerspiegelt. Oder möglicherweise greift hier auch eine Profanisierung des Rechenzentrums als Dienstleistungseinrichtung und eine damit einhergehende Unsichtbarmachung von Arbeit in der Traditionslinie des »stummen Dienens«, ein Übersehen dieses Ortes. Das Rechenzentrum scheint im Nirgendwo zu liegen; vielleicht gerade weil es seit einigen Jahren immer machtvoller wird, Bestehendes herausfordert und immer drängender zur Reflexion der Gesamtstruktur gesellschaftlicher Machtverhältnisse quasi auffordert und über »institutionelle Entmischung« (Joerges 1977, S. 188) verhindert werden soll, dass Konflikte überhaupt als solche empfunden werden könnten. Stellen Sie sich einmal vor, alle Rechenzentren weltweit fallen aus … Nun wird es im Folgenden nur um den Typus des wissenschaftlichen Rechenzentrums gehen und nicht um rein kommerzielle Rechenzentren. Diese Engführung ist alleinig unserem besonderen Interesse am Wandel der Wissenschaften im Zusammenhang mit Computern geschuldet. Computer, mit denen wir es heute zu tun haben, durchdringen den Arbeitsalltag des Wissenschaftlers, wie auch die Wissenschaftsorganisation ohne sie kaum mehr vorstellbar ist. In vielen Disziplinen ist Forschung ohne Computer nicht mehr möglich; von der Suche in Datenbanken bis zur Durchführung großer Simulationen. Wenn wir gerade sagten, dass das Rechenzentrum der Ort ist, der Bestehendes herausfordert, dann muss die Frage gestellt werden, was

231

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

diesen Ort ausmacht. Wir wollen das Rechenzentrum nicht als Ursache für eine Modifikation epistemischer Praktiken verstehen, sondern als Teil eines wissenschaftlichen Gesamtsystems, dass keineswegs statisch ist, sondern sich entwickelt. So über diesen Ort nachzudenken, ist inspiriert durch die Arbeit Michel Foucaults, der in einer seiner Untersuchungen die Reorganisation des medizinischen Systems und darin die Geburt der Klinik verfolgt. Er beschreibt einen umfassenden Wandel der epistemologischen Reorganisation der Krankheit und hält fest: »Das Erscheinen der Klinik ist als historisches Faktum mit dem System dieser Reorganisation identisch.« (Foucault 1999 [1963], S. 16) So gesehen ist die Black Box Rechenzentrum eine »gebaute Umwelt« (Joerges 1977), die aber weder in sich, noch in einem Ursache-Wirkungszusammenhang (das Rechenzentrum als Ursache für wissenschaftliches Verhalten) zu behandeln ist. Vielmehr muss der Ort erstens für eine Untersuchung organisatorischer und sozialer Prozesse in den Wissenschaften aufgeschlossen und im Hinblick auf neue Topologien wissenschaftlicher Praxis untersucht werden. Des Weiteren muss die epistemologische Reorganisation wissenschaftlichen Wissens, die Transformation wissenschaftlicher Logik analysiert werden: Eine »Archäologie des Rechenzentrums« ist eine Archäologie des wissenschaftlichen Blicks, die danach fragt »was gesehen und gesagt wird« (Foucault 1988, S. 17). Sie erschließt die dazugehörigen epistemischen Praktiken mit ihren verschiedenen Wissenschaftssprachen und ihren spezifischen Blicken auf/in die Welt. Historische Entwicklung. Rechenmaschinen standen in den 1950er Jahren zunächst an Forschungsinstituten in sogenannten Rechenstellen. An Technischen Hochschulen gründeten sich erste Rechenzentren als neue Orte der Wissenschaft Ende der 1950er Jahre. Waren die Rechenstellen noch in der Disziplin verortet (Mathematik oder Physik), sollten Rechenzentren an Hochschulen zu zentralen Einheiten für (potenziell) alle Nutzer – mit Bibliotheken vergleichbar – werden. Zeitgleich mit der Einführung von Rechenzentren an Hochschulen kam die Diskussion um ein Großrechenzentrum auf. Es gab also nicht nur einen Sog zur Zentralisierung der Rechenstellen im Hochschulrechenzentrum, sondern auch ein Bestreben vom Hochschulrechenzentrum zum bundeslandübergreifenden Großrechenzentrum. Die Nutzung der Rechenmaschinen in den 1950er Jahren hing vom Know-how des interessierten Wissenschaftlers ab, der »nicht nur seine Programme alleine erstellen, sondern auch die Maschine selbst bedienen« (Grosse et al. 2009, S. 8) musste. Allerdings standen schon damals Helfer und Beratungsdienste dem Wissenschaftler zur Seite. Reorganisation des Systems. Mit der Auslagerung in Rechenzentren professionalisierte sich die Arbeitsorganisation: Personal wurde eingestellt, Zentren erhielten hauptamtliche Direktoren und sie wurden mit eigenen Haushalten ausgestattet. Allerdings war die Finanzierung unzureichend: »Wenn man Mangel verwalten muss, schafft man sich selten Freunde.« (Ebd., S. 15) Es ist entscheidend, dass Rechenzentren als zentrale Betriebseinheiten an Hochschulen 232

Rechenzentrum

entstanden und damit offiziell der generische Anteil an den Aufgaben eines Rechenzentrums stärker gewichtet wurde, als die Spezifik der jeweiligen wissenschaftlichen Nutzung. Damit knüpfte man an eine allgemeine Vorstellung von Bibliothek als unspezifischem Aufbewahrungsort von Büchern an, ohne die Ausprägungen der diversen Bibliothekstypen zu reflektieren. Man denke nur an die Geschichte der Göttinger Bibliothek, über die Elmar Mittler (2007, S. 40) schreibt: »Die Bibliothek war nicht mehr nur eine geordnete Sammlung von Büchern, sondern selbst ein so effizientes Hilfsmittel der Forschung geworden, dass Wilhelm von Humboldt sagen konnte: ›Göttingen verdankt der Bibliothek alles‹.« Dieser Bibliothekstyp wurde nicht zum Vorbild für das Rechenzentrum, ebenso wenig wie das Labor oder die Werkstatt. Damit wurde eine räumliche Trennung eingeführt, die das Rechenzentrum vom Wirken des Wissenschaftlers entfernte. Oder anders formuliert: Labore, Werkstätten und Forschungsbibliotheken sind Räume des Forschens, die von Wissenschaftlern und ihren Gegenständen bewohnt werden, Rechenzentren sollten dies nicht sein. Im Ergebnis bedeutet das, dass die epistemische Praxis der Wissenschaft vom Rechenzentrum und damit vom Rechner offiziell getrennt wurde. In dem Maße, in dem das Rechnen in der Erkenntnisproduktion an Bedeutung gewann, wurde es mehr und mehr für die Organisation wissenschaftlicher Arbeit zu einem Vorteil, gute Beziehungen zum Rechenzentrum zu haben und sich in räumlicher Nähe zu dieser Institution zu befinden. Oder man betrieb eigene Rechner, was mit einem hohen Kostenaufwand verbunden war. In Hamburg entstand Ende der 1970er Jahre ein gemeinsames Rechenzentrum des Instituts für Meteorologie und des Instituts für Meereskunde der Universität Hamburg sowie des Max-Planck-Instituts für Meteorologie. Das gemeinsame Betreiben eines spezifischen, nämlich auf die Klimaforschung ausgerichteten, Rechenzentrums über Institutsgrenzen hinweg war eine Besonderheit, da die Regionalrechenzentren und Universitätsrechenzentren in der Regel nicht fachspezifisch orientiert waren, sondern sich als allgemeine Serviceeinrichtungen verstanden. Man kann sagen, dass gleichzeitig mit der Zunahme der Bedeutung von Rechenzentren eine Gegenbewegung entstand, die versuchte, der Machtzunahme entgegenzusteuern. Innerhalb der Hochschulorganisation manifestierte sich der Einfluss von Rechenzentren beispielsweise in der Aufgabe, die Rechnerbeschaffung der Institute vor dem Kauf zu beurteilen. Professoren waren damit vom Urteil außerhalb ihres Faches stehender Akteure abhängig, was zu Konflikten zwischen Instituten und Rechenzentren beitrug. Eine andere Destabilisierung der alten Ordnung des Wissenschaftssystems zeigte sich in Diskussionen um die Rolle des Deutschen Klimarechenzentrums in Hamburg. Die Idee, das Zentrum zu einem Kompetenzzentrum zu entwickeln und am Zentrum nicht nur Services bereitzustellen, sondern auch Forschung zu betreiben, erfuhr massiven Widerstand (Palfner, im Erscheinen).

233

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

In den 1990er Jahren entwickelten sich Bestrebungen weg von der zentralen Betriebseinheit und hin zur Eingliederung des Rechenzentrumspersonals in Fachbereiche, da »zentrale Rechner nicht mehr zeitgemäß seien« (Grosse et al. 2009, S. 14). Waren die Rechenstellen mit ihren Maschinen in den 1960er Jahren aus den Instituten herausgenommen und in zentrale Rechenzentren überführt worden, so änderte sich partiell die Strömung erneut in Richtung Disziplin. Für das fachspezifische Rechnen existieren heute eine Vielzahl an Computational Departments, beziehungsweise haben sich diese zu eigenständigen Forschungsrichtungen entwickelt (wie Bioinformatics and Computational Biology). Zudem hat sich das Wissenschaftliche Rechnen mit eigenen Abteilungen und Lehrstühlen herausgebildet. Heute existieren Höchstleistungsrechenzentren in einem bundesweiten Zusammenschluss der Landesrechenzentren für High Performance Computing (HPC), der fachgebundenen HPC-Zentren sowie das Gauss Centre for Supercomputing im Rahmen der Gauß-Allianz. Gleichzeitig ergänzen Rechenzentren als zentrale Betriebseinheiten, die generische Dienste und Ressourcen anbieten, weiterhin die wissenschaftliche Rechenzentrumslandschaft. Computational Sciences. Innerhalb weniger Jahrzehnte ist das Rechenzentrum als neue Einheit in der Wissenschaftslandschaft aufgetaucht und hat eine zentrale Position eingenommen. Die Ausbreitung der Nutzung ging mit steigenden Anforderungen an die Rechenzentren einher. Sie wurden als zentrale Betriebseinheiten der Hochschulen unentbehrlich und die IT-Ausstattung an Hochschulen wurde zu einem Standortvorteil. Hierbei geht es nicht nur um das Betreiben basaler Dienste, wie E-Mail und Internetzugang. Rechenzentren treffen das Herz der Wissenschaft: die Erkenntnisproduktion. Rechnen am Computer war zunächst keine selbstverständliche Wissenschaftspraxis und »noch 1965 musste man die Wissenschaftler informieren, wofür Rechenanlagen eingesetzt wurden, und sie überzeugen, dass sich mit ihnen neue Aufgaben lösen ließen und die Ergebnisse schneller vorlagen« (Grosse et al. 2009, S. 9). Mittlerweile ist nahezu das gesamte naturwissenschaftliche Wissen in Algorithmen transformiert und in Simulationsmodellen zur Anwendung gebracht. Der Computer wird dabei zum Forschungs-, Experimentier- und Prognoseinstrument, das völlig neue Möglichkeiten eröffnet. Der Vorteil von Simulationen ist, dass komplexere Modelle berechnet werden können als je zuvor und dass diese komplexeren Modelle realistischere Details berücksichtigen. In aktuellen Klimamodellen beispielsweise sind neben der Atmosphäre auch Ozeane, Vegetation und andere Teilsysteme, die zum Klimasystem beitragen, vorhanden. Erst dadurch wird es möglich, treffendere Vorhersagen zu errechnen. Dabei ist die berechnete Vorhersage eine epistemische Praxis, die sich allein der Rechengewalt der Supercomputer verdankt. Heutige Supercomputer berechnen Billionen von Operationen pro Sekunde, während menschliche Rechner gerade einmal ein paar Rechenoperationen pro Minute ausführen können. Doch es ist nicht nur 234

Rechenzentrum

die Vorhersage, die das Wissenschaftliche Rechnen interessiert. Der Computer als Experimentierinstrument erlaubt es, in neue Bereiche vorzudringen und so neue Eigenschaften von Materialien zu studieren, neue Moleküle oder Lebewesen zu designen. Von den 10100 potenziellen Molekülen sind bereits mehr als 17 Millionen berechnet und in Datenbanken gespeichert. Forschung bedeutet dann nicht mehr nur im Labor neue Moleküle zu synthetisieren und zu erforschen, sondern bereits im Vorfeld die berechneten Moleküle miteinander zu vergleichen und so auf mögliche Eigenschaften zu schließen. Danach kann sich der Forscher das Molekül dreidimensional und interaktiv darstellen lassen, um Veränderungen vorzunehmen, die sofort neu berechnet werden. Erst wenn das gewünschte Design erstellt ist, führt der Weg ins Labor. Daher sind Forschungsgebiete, die es mit komplexen Systemen, Design und Vorhersage zu tun haben, erst als Computational Sciences denkbar. Die Systembiologie, die Strömungsdynamik, die Chemie oder die Materialwissenschaften sind Beispiele hierfür. Doch auch die Geisteswissenschaften werden zunehmend digital erschlossen und Handlungen (beispielsweise das Durchsuchen von Texten unter spezifischen Fragestellungen) an den Computer delegiert (Digital Humanities). Voraussetzung hierfür ist das Vorhandensein von Texten in digitaler Form und von entsprechenden Werkzeugen. Allerdings ist zu bemerken, dass die Erschließung digitaler Methoden und Werkzeuge und die Zusammenarbeit mit IT-Experten in den Geisteswissenschaften nicht in der Breite vollzogen werden, wie es in den Natur- und Technikwissenschaften der Fall ist. »Digitale Protagonisten«, wie Editionswissenschaftler (wobei nicht alle Editionswissenschaftler gleichermaßen digital interessiert sind), stellen nach wie vor eine kleine Gruppe innerhalb der Geisteswissenschaften dar. Nichtsdestotrotz ist gegenwärtig festzustellen, dass das Digitale eine erhöhte Chance hat sich auszuweiten und analoge Forschungsfelder zu erschließen. Es ist zu erwarten, dass digitale Fertigkeiten zunehmend den Forschenden abverlangt werden. Auch in den Geisteswissenschaften ist die Rolle der Rechenzentren zu beachten. So wurden bereits Ende der 1960er Jahre am Zentrum für Datenverarbeitung der Universität Tübingen Vorlesungen und Programmierkurse für Geisteswissenschaftler angeboten. In den nächsten Jahren wird es interessant sein zu beobachten, wie sich das Verhältnis von Bibliothek, Archiv und Rechenzentrum entwickeln wird, da es um die Verteilung digitaler Kompetenzen und Ressourcen geht. Auch wenn die Rechenzentren in der extremen Trennung von Service und Forschung quasi aus den Wissenschaften herausgeschnitten wurden – an ihnen kommt dennoch kaum noch jemand vorbei, wenn er oder sie forschend tätig sein möchte. Insofern lautet das Stichwort, unter dem diese Orte zu betrachten wären, Re-Integration in die Wissenschaft und nicht institutionelle Trennung. Sonja Palfner und Gabriele Gramelsberger

235

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

L ITER ATUR Foucault, Michel (1999 [1963]), Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, 5. Auflage, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Gramelsberger, Gabriele (2010), Computerexperimente. Zum Wandel der Wissenschaften im Zeitalter des Computers, Bielefeld: transcript. Gramelsberger, Gabriele (Hrsg., 2011), From Science to Computational Sciences. Studies in the History of Computing and its Influence on Today’s Society, Berlin und Zürich: diaphanes. Grosse, Peter, Wilhelm Held, Jürgen Radloff und Franz Wolf (2009), Die Innovationszeit der IT und die Rechenzentren, in: Geschichte der Zusammenarbeit der Rechenzentren in Forschung und Lehre, hg. v. Wilhelm Held, www.zki.de/ fileadmin/zki/Publikationen/Chronik/0Chronik.pdf, (Juni 2012), S. 8-17. Joerges, Bernward (1977), Gebaute Umwelt und Verhalten. Über das Verhältnis von Technikwissenschaften und Sozialwissenschaften am Beispiel der Architektur und der Verhaltenstheorie, Baden-Baden: Nomos. Mittler, Elmar (2007), Bibliophilie und Wissenschaft. Die Faszination der Büchersammlungen des 18. Jahrhunderts, in: Frühmoderne Bücherwelten. Die Bibliothek des 18. Jahrhunderts und das hallesche Waisenhaus, hg. v. Bodo-Michael Baumunk, Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen zu Halle, S. 3145. Palfner, Sonja (im Erscheinen), Das Deutsche Klimarechenzentrum – Kartographie eines Rechenraumes, in: Zur Geschichte von Forschungstechnologien, hg. v. Klaus Hentschel, Diepholz, Stuttgart und Berlin: GNT-Verlag.

236

Reservat

Ein Reservat im gängigen Wortsinn ist ein begrenztes Gebiet, das einer bestimmten Verwendung vorbehalten ist. Dabei geht es oft um Ausschnitte der Natur oder naturnahe Gebiete, deren Nutzung Einschränkungen unterliegt. So gibt es Reservate zum Schutz von Wildtieren oder der gesamten Biosphäre, sowie Forst- und Jagdreservate mit je entsprechenden Regelwerken. Ebenso präsent ist in der deutschen Sprache eine zweite räumliche Bedeutung des Begriffs, in der einem Territorium eine ausgewählte Gruppe von Menschen zugeordnet wird. Dafür stehen beispielhaft die Reservate für American Indians in Nordamerika oder Aborigines in Australien. Wenn ein Gebiet einem definierten Zweck verschrieben wird, heißt das zugleich, dass andere mögliche Bestimmungen, andere Verfügungen und Nutzungsansprüche zurücktreten sollen. Reservate sind in diesem Sinne Partei, ihre Ausweisung kann Mittel in Konflikten sein, diese formen, zuspitzen oder erst auslösen. Das wird durch die dominante Rhetorik des Schützens und Bewahrens, welche die genannten Beispiele verbindet, kaum überdeckt. Ein kurzer Blick auf die beiden Haupttypen von Reservaten wird dies deutlich machen. Zunächst die Naturreservate: Als einziges konkretes Beispiel für ein Reservat überhaupt nennt der neu bearbeitete Schülerduden Geografie aus dem Jahr 2005 die »Serengeti (Lebensraum für zahlreiche Huftiere)«. Die Serengeti ist ein heute weltberühmter und vielfach filmisch ins Bild gesetzter Nationalpark in Tansania, und sie ist gerade deutschen Tierliebhabern besonders ans Herz gewachsen durch die bedeutsame Rolle, die der Frankfurter Zoodirektor und Tierfilmer Bernhard Grzimek für die Entwicklung des Gebietes von den 1960er bis in die 1980er Jahre gespielt hat. Noch heute ist die Zoologische Gesellschaft Frankfurt ein wichtiger Partner der tansanischen Nationalparkbehörde. Die Serengeti ist nicht nur ein herausragendes Naturreservat, welches seit 1981 offiziell zum »Welterbe« der UNESCO gehört. Sie ist zugleich ein treffliches Beispiel für die Konflikte, die solche Reservate in weiten Teilen der Welt mit sich bringen, und für die langwährenden Praktiken der Räumung und Reinigung, die für diese Territorien charakteristisch sind. Wie viele Tierschutzreservate war die Serengeti keineswegs ungenutzt oder leer, ehe sie in mehreren Schritten

237

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

von unterschiedlichen Akteuren und für wechselnde Zwecke reserviert wurde. Bis zur Durchsetzung des berühmten Nationalparks in seiner heutigen Form waren entsprechend zahlreiche Umdeutungen und Umsiedlungen notwendig. Diese waren aus heutiger Sicht als Maßnahme zum Schutz der charismatischen Großwildtiere Ostafrikas insgesamt erfolgreich. Sie waren zugleich von Willkür, Unrecht und Gewalt begleitet. Im Ngorongoro-Krater, dem »größten Zoo der Welt« (Grzimek), der seit 1981 Teil des übergreifenden Biosphärenreservates ist, lebten schon Anfang des 20. Jahrhunderts deutsche Viehzüchter, die sich dort im Zuge der Landnahme in der Kolonie Deutsch-Ostafrika niedergelassen hatten. In der benachbarten Serengeti richtete die Kolonialmacht zur selben Zeit ein Jagdreservat ein, das Ende der 1920er Jahre unter englischer Herrschaft stark vergrößert wurde. Die Begriffe Jagd- oder Wildreservat konnten dabei unterschiedliche Schutzgüter betreffen. So war nach der entsprechenden deutschen Verordnung aus dem Jahr 1903 in den Jagdreservaten »jede Art der Jagd für Jedermann« verboten, während spätere Regelungen das Wild häufig vor Nachstellungen durch einheimische »Wilderer« schützen sollten, um es so für die kolonialen Jäger zu »reservieren«. Das britische Jagdreservat wurde 1940 zu einem (Natur-)Schutzgebiet erklärt und nach weiterer Vergrößerung 1951 in einen Nationalpark umgewandelt. Dass es in der Region auch Menschen gab, darunter die in erdkundlichen Schulmaterialien nach wie vor beliebten »Massai« (bzw. Maasai), war auf diesem Weg kein erkennbares Hindernis. Viele unter den Maasai waren Anfang des Jahrhunderts gewaltsam von den Briten aus nördlicheren Gebieten im angrenzenden Kenia vertrieben worden; Krankheiten und Tierseuchen ebenso wie ihre halbnomadische Lebensweise schwächten Ansprüche auf Landbesitz in der Region. Mit dem sich abzeichnenden Ende der Kolonialzeit wurde ihre Präsenz schließlich nur noch in dem kleineren Ngorongoro-Gebiet und im Rahmen traditioneller Wirtschaftsformen geduldet. Naturschützern wie Bernhard Grzimek war schon dies zu viel: »Serengeti darf nicht sterben« lautete sein legendäres Credo, das Territorium selbst metonymisch zum Schutzgegenstand erhebend (Flitner 2006). Die Konflikte im Gebiet der Serengeti dauern bis heute an, wie in unzähligen Nationalparks und Naturschutzreservaten in aller Welt. Neue Erweiterungen des Parks nach Westen und neue Maßnahmen gegen »illegale Einwanderer« wurden in den letzten Jahren unternommen. Die Maasai, deren Zahl seit Etablierung des Nationalparks stark zugenommen hat, dürfen heute nur noch in einem Teil des ursprünglich zugebilligten Gebiets in der Ngorongoro Conservation Area leben, in einem Subreservat quasi, in dem nur eng definierte Landnutzungspraktiken erlaubt sind und bestimmte andere Gruppen von Bewohnern ausgeschlossen bleiben. Diese räumlich differenzierte Reservatsform ist in mancher Hinsicht typisch für die Biosphärenreservate, wie sie seit den 1970er Jahren von der UNESCO 238

Reservat

propagiert werden. Dabei werden regelhaft drei Zonen verschiedener Nutzungsform und -intensität bestimmt, die vom strengen Naturschutz in einem Kerngebiet über eine Pufferzone bis zu einer kaum noch eingeschränkten Entwicklungszone reichen. Konzeptionell ist dies eine vielversprechende Form des Gebietsschutzes, welche die alte Dichotomie von Schutz und Nutzung zu überwinden sucht; damit können sich in ländlichen wie in periurbanen Räumen interessante Wege eröffnen, ökologische und sozio-ökonomische Anliegen zu verbinden. Im konkreten Fall der Serengeti finden wir in der Umsetzung jedoch auch schon Übergänge zu dem zweiten Typ von Reservat, der nicht einfach Formen der Landnutzung unterscheidet, sondern in erster Linie bestimmten Menschen oder Gruppen von Menschen gilt und der im Folgenden erörtert werden soll. Die Praxis, ausgewählten lokalen, »autochthonen« oder »eingeborenen« Gruppen umgrenzte Territorien zuzuweisen, hat sich in der Neuzeit schon deutlich früher ausgebreitet als die Ausweisung von Reservaten zum Schutz von Wild und Wald. Doch gibt es etwa in den jungen Siedlergesellschaften Nordamerikas eine zeitliche Nähe und einen inneren Zusammenhang zwischen beiden Maßnahmen. So entstand die Mehrzahl der sogenannten Indianerreservate in Nordamerika in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, eben zur selben Zeit als auch die ersten Nationalparks und Forstreserven gegründet wurden. Die räumliche Nähe der frühen Schutzgebiete unterschiedlichen Typs in Teilen des US-amerikanischen Westens ist unmittelbarer Niederschlag der umkämpften Siedlerexpansion, der zugehörigen Kriege, Kontroll- und Einhegungsbemühungen. Das Yellowstone-Gebiet in Wyoming und Montana ist hierfür ein Beispiel, mit dem ältesten Nationalpark der Welt (gegründet 1872), umgeben von einer großen Forstreserve (1891), gleichzeitig Ort wichtiger Kämpfe (Schlacht am Little Bighorn River, 1876) und mit verschiedenen Indianerreservaten aus der Zeit im weiteren Umfeld (unter anderem Crow Indian Reservation, Wind River Indian Reservation, 1876). Die Indian Reservations sind ebenso wie die Forstreserven ein raumordnerisches Korrelat der Doktrin einer legitimen und notwendigen Expansion der Vereinigten Staaten oder manifest destiny. Sie finden ihre Vorläufer in der spanischen und portugiesischen Indigenenpolitik des 16. Jahrhunderts in Mittelund Südamerika. Treibende Kraft der frühen Maßnahmen waren dort Ordensgeistliche, die in der raschen Dezimierung der Indigenen ernsthafte Gefahren für ihren Missionsauftrag sahen. Ihr Ziel war damit durchaus der Schutz der indigenen Bevölkerung vor Epidemien, Sklavenhändlern und kriegerischen Siedlern; gleichzeitig waren räumlich konzentrierte und immobilisierte Indigene leichter zu kontrollieren und zu missionieren. Zum Zweck der sogenannten reducción wurden nun in weiten Teilen Mittel- und Südamerikas Indigenen-Dörfer (pueblos de indios) und Reservate (resguardos) eingerichtet, wobei die iberischen Herrscher in engem Verbund oder räumlicher Arbeitsteilung mit 239

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

den Missionsorden vorgingen. Die indigenen resguardos funktionierten nur in einigen Regionen als rudimentärer Schutz; dieser entfiel mit den Unabhängigkeitsrevolutionen im frühen 19. Jahrhundert (Rinke 2010). Angesichts dieser gut dokumentierten Zusammenhänge verblüfft es, wenn Reservate noch in jüngeren Lexika kurzerhand als »Schutzgebiet für autochthone Bevölkerungsgruppen« bezeichnet werden, die den »Resten von Naturvölkern die Möglichkeit geben, ihre eigene Kultur zu bewahren und nach althergebrachter Weise weiterzuleben« (Leser 1994, S. 456). In historischer Perspektive ist das Gegenteil richtig. So kommt Rinke (2010, S. 115) in Bezug auf die amerikanischen Indigenen zu dem Schluss: »In allen Fällen gingen damit der Verlust traditioneller Lebensweisen und meist auch die Verelendung einher.« Der Schutz vor Vernichtung, der in einigen Fällen mit der Ausweisung von Reservaten erreicht werden konnte, hatte jedenfalls einen hohen kulturellen und sozialen Preis. Es ist zugleich fast selbsterklärend, dass die erzwungene Zuordnung von Menschen zu bestimmten Territorien essentialisierende Perspektiven voraussetzt und verfestigt. Reservate für Menschen gehen mit verschiedenen Formen der Zuschreibung und gruppenbezogenen Abwertungen einher, von paternalistischen Anmaßungen bis zu todbringendem Rassismus. Das Paradebeispiel explizit rassistischer Reservate sind die südafrikanischen homelands aus der Zeit der Apartheid. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg wurden hier mit dem Natives Land Act (1913) gesetzliche Grundlagen geschaffen, um die schwarze Bevölkerung in African Reserves zu konzentrieren, indem ihr Landbesitz fast nur noch in diesen Gebieten erlaubt blieb. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte wurde die räumliche Segregation mehrfach umdefinierter »Rassen« in Süd- und Südwestafrika etappenweise verfeinert (zu den langfristigen Wirkungen im heutigen Namibia siehe Kössler 2000). Dabei spielten die homelands, in Südafrika zwischenzeitlich bantustans genannt, eine Schlüsselrolle. Einige unter ihnen, wie Transkei und Bophuthatswana, wurden in Südafrika sogar zu unabhängigen Staaten erklärt, wenn auch ohne erkennbare Wirkung. Erklärtes Ziel der Apartheidpolitik war es, alle schwarzen Südafrikaner zu Bürgern der homelands zu machen. Dies gelang zwar bis zum Ende der Apartheid nicht annähernd, doch wurden in Südafrika alle entsprechend definierten Personen schon 1970 mit dem Bantu Homelands Citizen Act jedenfalls formal einem Gebiet zugeordnet. Die extremste Zuspitzung eines rassistischen Reservatgedankens findet sich schließlich in dem sogenannten Nisko-und-Lublin-Plan, den die deutschen Nationalsozialisten kurz nach Kriegsbeginn 1939 entwickelten. Als Teil einer groß angelegten »rassischen« Neuordnung sollte unter Führung der SS ein »Judenreservat« in der Nähe von Lublin eingerichtet werden, am östlichen Rand des deutsch besetzten Polen. In wenigen Monaten wurden tatsächlich fast 100.000 Juden aus verschiedenen Ländern in das Gebiet deportiert. Die Umsetzung des Plans geriet jedoch aus verschiedenen Gründen ins Stocken und wurde im Ap240

Reservat

ril 1940 fallengelassen. In Erwartung baldiger militärischer Siege über Frankreich und England konzentrierten sich die Bemühungen zu einer territorialen »Endlösung« in den folgenden Monaten auf den sogenannten Madagaskarplan. Auf der aus französischem Kolonialbesitz zu übernehmenden Insel sollten alle europäischen Juden gesammelt und unter Kontrolle der SS verwaltet werden. Im Sommer 1940 waren diese Pläne nach heutigem Forschungsstand konkret und ernst gemeint. Mit der Niederlage im Luftkrieg gegen England wurden auch sie wieder aufgegeben; dennoch bereiteten sie »psychologisch den Weg für die sogenannte Endlösung« (Gutman 1993, S. 915). Zukünftige Machtbeziehungen: Der Begriff des Reservats kann nach dieser kurzen Betrachtung fraglos politisches und geographisches Interesse beanspruchen. Wir hatten eingangs festgehalten, dass ein Reservat im gängigen Wortsinn ein begrenztes Gebiet sei, das einer bestimmten Verwendung vorbehalten ist. Dies lässt sich nun in dreifacher Hinsicht qualifizieren. Erstens ist der Zweck dieses Vorbehalts in vielen Fällen keineswegs einfach der Schutz derjenigen, die dem Reservat seinen jeweiligen Namen geben. Die Einrichtung von Reservaten geht regelmäßig mit Einschränkungen und Ausschlüssen einher; sie kann daher Menschenrechte im weitesten Sinn verletzen; sie tut es zwangsläufig, wenn es um Reservate für Menschen geht, und wie wir gesehen haben, zielt sie in einigen historischen Fällen sogar darauf ab. Zweitens wird bei allen Verwendungsformen eine implizite zeitliche Dimension erkennbar. Der Schutz, das Bewahren, Konzentrieren, Zusammenpferchen, Unterwerfen geschieht immer im Hinblick auf einen Prozess, eine zeitliche Achse. Das Aufzubewahrende oder zu Unterjochende wird abgespalten und einem Territorium zugewiesen, in dem bestimmte Prozesse stillgestellt werden sollen für etwas, das »danach« kommt. Das kann Fortpflanzung sein (Tiere), schlichte Erhabenheit von Natur und Landschaft, Aneignung des Wachstums (Forst), Missionierung (Indigene Südamerikas), rassistisch optimierte Ausbeutung (homelands/townships) usw. Drittens schließlich zeigt sich im Reservat als Territorium der »Ausnahme« stets ein Niederschlag ungleicher gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. Dies klingt noch in einer weiteren, weniger geläufigen Verwendung des Begriffs Reservat als Bezeichnung für ein Sonderrecht an, etwa für die Entscheidungsprivilegien des Papstes. Die innere Verwandtschaft dieser Begriffsverwendung mit den beiden hier besprochenen Typen des Reservats ist unschwer zu erkennen. Denn eine machtdurchdrungene Position wohnt jedem Akt des Reservierens inne. So ist es wohl kein Zufall, dass der Soziologe Heinrich Popitz (1986) seine grundsätzlichen Überlegungen zur Herausbildung von Machtphänomenen ausgehend von der Reservierung von Liegestühlen auf einem Kreuzfahrtschiff entfaltet. Eine wichtige Erkenntnis seiner Analyse lässt sich auf die größeren Reservate übertragen: Ist der Besitz- und Verfügungsanspruch erst einmal etabliert, so schafft dies selbst einen entscheidenden Machtvorteil in den nach241

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

folgenden Situationen und verfestigt so die Ungleichheit der Positionen. Das Reservat ist in diesem Sinne nicht nur Ergebnis vorgängiger Kräfteverhältnisse, sondern vor allem auch Ausgangspunkt späterer Machtbeziehungen. Michael Flitner

L ITER ATUR Bergmann, Martin und Rüdiger Rößler (2005), Schülerduden Geografie. 4. neu bearbeitete Auflage, Mannheim u.a.: Bibliographisches Institut Flitner, Michael (2006), Inszenierte Natur, postkoloniale Erinnerung: »Serengeti darf nicht sterben«, in: Themenorte, hg. v. Michael Flitner und Julia Lossau, LIT-Verlag, Berlin u.a., S. 107-124. Gutman, Israel (Hrsg., 1993), Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Band 2, München und Zürich: Piper. Kössler, Reinhart (2000), From Reserve to Homeland: Local Identities and South African Policy in Southern Namibia, Journal of Southern African Studies 26(3), S. 447-462. Leser, Hartmut (Hrsg., 1994), Westermann Lexikon Ökologie und Umwelt, Braunschweig: Westermann. Popitz, Heinrich (1986), Phänomene der Macht. Autorität, Herrschaft, Gewalt, Technik, Tübingen: Mohr Verlag. Rinke, Stefan (2010), Reservat, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Band. 11, hg. v. Friedrich Jaeger, Stuttgart und Weimar: Metzler Verlag, S. 113-115.

242

Resort

Im Film Last Resort (Regisseur: Pawel Pawlikowski, 2000) kommt die Russin Tanja mit ihrem Sohn der Liebe wegen auf einem Londoner Flughafen an, um in England ein neues, besseres Leben zu beginnen. Vergebens wartet sie dort auf ihren Verlobten, der ihr die Heirat versprochen hat. Um nicht sofort am Flughafen ausgewiesen zu werden und für die Suche nach ihrem Verlobten Zeit zu gewinnen, beantragt sie politisches Asyl. Statt im sicheren Hafen der Ehe zu landen, strandet sie in der am Meer gelegenen, verlassenen Ferienanlage Stonehaven, in der sie wie andere Asylsuchende auch »zwischengelagert« wird. Last Resort steht für den »letzten Ausweg« und die »letzte Zuflucht«, aber auch für »Rettung« und korrespondiert mit »Asyl«. Last Resort steht zudem für den »(aller-)letzten Urlaubsort«, der Stonehaven einst war. Übriggeblieben sind nur noch heruntergekommene, eintönige Betonbauten, von denen einer – mit Blick auf das Meer – Auffangbecken für Außenseiter und gescheiterte Existenzen der britischen Gesellschaft sowie für Asylsuchende ist. Stonehaven ist zum »haven of rest« mutiert: zum vorübergehenden Zufluchtsort von Menschen und zum Transitort, an dem das Nicht-mehr und Noch-nicht das Bewusstsein prägen. Das ganz Andere beziehungsweise »Anormale« der Gesellschaft repräsentiert Stonehaven. Normalerweise meint Stonehaven die zu Stein gewordene Sicherheit beziehungsweise Gewissheit: Wer über das stürmische Meer des Lebens an diesem Ort zwischen Wasser und Land angekommen ist, dem eröffnet sich von hier aus die Chance, im Land ein anderes, besseres Leben zu beginnen. Kündet sich bereits am Flughafen ein verpasstes Lebensglück an, so endet in Stonehaven Tanjas Traum vom Glück: Ihr Verlobter verweigert die Hochzeit. Die gute Botschaft, die der Name der Ferienanlage verspricht, bestätigt sich nicht. Das Sinnangebot, das der Name mitteilt, steht im krassen Gegensatz zur Realität der Insassen dieser Anlage. Diese sind Gestrandete, die nach einem Schiffbruch auf einer Trennlinie (Stonehaven an der Küste) zwischen Inklusion (Aufnahme in das durch steinerne Vorschriften geregelte Auffanglager) und Exklusion (Abriegelung von der Außenwelt) leben. Inklusion erfolgt also durch Exklusion. Tanja verarbeitet ihren Schiffbruch; die Situation ihres Scheiterns nimmt sie als

243

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

einen möglichen Neuanfang wahr (so nach Blumenberg 1997, S. 15) und knüpft damit an die positive Seite des Hafens an: von dort aus etwas Tragfähiges zu entwickeln. Dass sich in der ganzen Welt Villages, Lodges und Hotels mit Stonehaven labeln und sie auch besucht werden, beweist (frei nach Goethe), dass diese damit verbundene Botschaft wohl gehört und auch geglaubt wird: Dort sicher vom stürmischen Alltag gelandet, werde ich, wenn nicht einen Neuanfang, so doch Möglichkeiten des Andersseins ergreifen. Ohne das »last« bei »resort« gibt dieser Film vor, von was die Rede ist: Resorts sind gleichermaßen Auswege und Ferien-/Urlaubsanlagen, in denen das aufgehoben werden soll, vor dem man dort Zuflucht sucht. Heidegger (2006 [1927], S. 184) begreift Flucht so: »Das Aufgehen im Man und bei der besorgten ›Welt‹ offenbart so etwas wie eine Flucht des Daseins vor ihm selbst als eigentlichem Selbst-sein-können.« Der Mensch gibt sich den alltäglichen Möglichkeiten (»Man«) hin; er existiert nach deren Seinsweisen und entsprechend dieses je »In-der-Welt-Seins« sorgt er sich um sein Dasein beziehungsweise seine Existenz. Das im Alltag herrschende Man macht einen zum Objekt, es treibt dem »Dasein einer Entfremdung zu, in der sich […] das eigenste Sein-können verbirgt« (ebd., S.  178). Kurzum, das Man verhindert, dass Möglichkeiten ergriffen werden, die uns das Andere, wenn nicht das »Wirkliche«, offenbaren, von dem wir sagen, dass es eigentlich immer so sein könnte. Sich zeitweilig vom Alltagsleben zu verabschieden und dessen Geschäftigkeit hinter sich beziehungsweise ruhen zu lassen (was ja der Sinn von Ferien und Urlauben ist), das heißt, sich über es zu erheben und sich woanders hinzubewegen, also zu verreisen, wird für das Bürgertum spätestens im ablaufenden 18. Jahrhundert eine präferierte Möglichkeit, Anderes, mithin das im Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung Verlorengegangene, für sich zu entdecken beziehungsweise wieder zu finden. In Relation zum Alltag wird dieses Andere als das Außergewöhnliche und Besondere wahrgenommen. Dies änderte sich mit der Demokratisierung des Reisens nicht: Außergewöhnlichkeit und Besonderes konstituieren das touristische Wahrnehmungsdispositiv, genauer: die Wahrnehmung des vom Alltagsleben abgesetzten Raumes (Urry 2002, S.  12ff.). Das »Eigentlichkönnte-es-immer-so-Sein« reduziert sich darauf und konfiguriert sich je nach dem Lebensstil der Reisenden/Touristen unterschiedlich. Das als besonders Wahrgenommene stellt – um mit Heidegger (2006 [1927], S. 130) zu sprechen – keinen vom alltäglichen »Man abgelösten Ausnahmezustand« dar; es ist vielmehr eine »existenzielle Modifikation des Man«. Demzufolge entledigen sich Touristen/Urlauber (dies sind auch wir als Leser und Verfasser dieses Textes) nicht ihrer Sozialisation, sondern hängen dieser das urlauberische Besondere/ Außergewöhnliche als temporären Zusatznutzen an. Weil dieser Zusatznutzen auf dieses Vorhandene aufbaut, ist es vorstellbar, dass zumindest ein wenig des urlauberischen Besonderen/Außergewöhnlichen integraler Bestandteil alltäglicher Praxen wird. 244

Resort

Dass solch ein Import in das Alltagsleben bereits seit geraumer Zeit im Gange ist, mag an seiner Mediterranisierung abzulesen sein. Der Alltag touristifiziert zusehends (Wöhler 2011, S. 36ff.); man – also im Sinne des Man – gönnt sich etwas Besonderes und ergreift zeitweilig Möglichkeiten des Andersseins. Dies sind kleine Erlösungen vom Alltagsleben. Doch es ist nicht durchweg danach strukturiert. Das Mögliche ist hier auf das Machbare beschränkt, währenddessen alltagsabgewandte Tourismusräume Möglichkeiten zum Ordnungsprinzip erheben. Dies besagt nicht, dass in ihnen Beliebiges möglich ist. Ihre Organisation begrenzt Möglichkeitsfelder, die aber durchaus andere Handlungsmöglichkeiten eröffnen, die dann wiederum der Strukturation beziehungsweise Organisation verfallen. So ist beispielsweise Vang Vieng in Laos in den 1990er Jahren für wenige Touristen eine Durchgangsstation nach Vientiane und weiter nach Südostasien gewesen. Was die (»paradiesische«) Struktur dieser Stadt vorhielt, definierte den Raum der touristischen Möglichkeiten. Für ihre kurze Bleibe wohnten diese Durchreisenden bei Einheimischen oder sie nächtigten und verbrachten den Tag auf deren Territorium, das mit dem Nam Song-Fluss, Seen, Karstfelsen und Höhlen sogenannte »Attraktionspunkte« besitzt. Im »cycle of resort evolution« (Andriotis 2006, S. 1080ff.) werden solche Reisende, die sich im sozialräumlich Gegebenen umschauen und sich ihm anpassen, als »drifter« bezeichnet. Einheimische erkennen sie an, bringen sie doch deren Normalität nicht oder kaum durcheinander. In dieses Möglichkeitsfeld schrieben sich vor dreizehn Jahren junge Touristen (Backpacker) mit tubing (Flussfahrten mit Schläuchen von Traktorreifen) auf dem Nam Song-Fluss ein. Die ehemalige Durchgangsstation wurde ob dieser Freizeitbeschäftigung, die sich noch um Wasser- und Seilrutschen sowie Seilschaukeln erweiterte, zu einem viel- beziehungsweise massenhaft besuchten Freizeitdomizil und Reiseziel junger Individualreisender (»individual mass-tourist«). Einheimische passten sich mit darauf zugeschnittenen Infrastrukturen (Strandbars, Schlafhütten, Partymusik, Lao-Branntwein, Merchandising, Verkauf von Schläuchen durch eine Kooperative, mithin auch Drogenhandel) an. In diese Geschäftsfelder stießen auch Ausländer beziehungsweise »liegen gebliebene« Rucksackreisende. Reiseagenturen und auf diese Low-Budget-Touristen zugeschnittene Läden sowie Unterkünfte etablierten sich in der nahe gelegenen Stadt. Dieser nun vollends touristifizierte Raum firmiert im Netz als »Tubing-Hauptstadt« oder »Water Fun Park« und ist über Portale buchbar. Der »organised mass-tourism« hat sich auf diesen Raum gelegt, der Inbild einer vollkommenen, ausschweifenden Freiheit der globalen Jugend vor ihrem Eintritt in das »richtige Leben« ist. Gemeinhin werden solche räumlichen Transformationsprozesse als ein natürlicher »cycle of resort evolution« beschrieben. Zweifelsohne hat die Stadtregion Vang Vieng durch Touristen ebenso eine morphologische Umwandlung wie jene Küstenresorts in Kreta erfahren, die Konstantinos Andriotis (ebd., S. 1090ff.) an der Eindringung 245

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

des Tourismus in die »Dingwelt« (Meer, Strände, Agrarflächen, Einzelhandel, Straßen, Architektur und Wohngebäude) festmacht. Doch sind Touristen die allmächtigen Transformatoren? Zugestanden, Touristen bewegen sich an einen Ort, dessen erhoffte und/ oder vorgestellte Andersartigkeit (in) ihnen Besonderes beziehungsweise Außergewöhnliches offenbart, das sie auch (zumindest temporär) als Modell für die Modifikation ihres Alltagsdaseins (»Man«) ansehen mögen. Wer Reisende/Touristen aufnimmt, der benötigt einen Raum, in dem diese zeitweilig bleiben und einen derartigen Ort für sich (vor-)finden. Wie das Beispiel Vang Vieng, aber auch Kreta zeigt, legen es ihre »Hausherren« respektive Einwohner letztlich darauf an, dass dies gewährleistet ist: Sie schufen und schaffen weiterhin über ihre jeweilige Normalität hinaus entsprechende Infrastrukturen, innerhalb derer die Möglichkeit der Wahrnehmung eines je bestimmten Besonderen beziehungsweise Außergewöhnlichen geregelt ist. Diese Strukturierung reduziert Kontingenz und verschafft den »Hausherren« die Möglichkeit des Regimes über den Gast, den Touristen. Dieses Regime oder diese Führung der Geführten läuft letzten Endes auf die Amortisierung seiner transformierten »Dingwelt« und infolgedessen seiner Investments hinaus (Erträge, Beschäftigung/Einkommen oder bei der öffentlichen Hand Einnahmen aus Steuern und Abgaben). Und damit sind Resorts Anlagen im doppelten Sinne: Einerseits speziell auf Touristen zugeschnittene, in Räumen angelegte und über die Normalität des je gegebenen Raumes hinausgehende Infrastrukturen und andererseits Geldanlagen, die einer gewinnbringenden Verwendung zugeführt werden. Das zieht inländisches und global wanderndes, lohnende Investments suchendes Kapital an. Die Transformation von Vien Vang oder von Küstenregionen auf Kreta in Resorts unterliegt demnach einer Rationaliät, nach der nicht-staatliche und staatliche Akteure wissen, wie sie einen Raum organisieren beziehungsweise anlegen müssen, damit er bei Touristen ankommt und Nutzen abwirft. Andriotis (ebd., S. 1084ff.) belegt, wie sich diese Akteure erst nach einem lang andauernden Prozess den Veränderungen durch den Tourismus unterwerfen und dabei erkennen, dass er für sie lohnend ist. Dieser Prozess mit seinen vielen vorgetragenen Bedenken, Kritiken und Ablehnungen sowie Zustimmungen veränderte nicht nur sie, sondern transformierte zugleich die räumliche »Dingwelt« und deren Anordnungen in Tourismusräume. Resorts verkörpern diese Verdinglichung. Dies sieht Papatheodurou (2004) mit vielen anderen nicht. Er macht räumliche Konfigurationen (Lage: Zentrum-Peripherie) und deren Attraktionen für das Touristenaufkommen und damit für den Lebenszyklus von Resorts verantwortlich. Gleichwohl verweist er auf »rational bubbles« (ebd., S. 225): Ohne einen lokalen Bezug könnten sich etwa Hotelanlagen, aufgrund des Kapitals, Marketingmanagementwissens und der Reputation ihrer erfolgreichen Mutterunternehmen, überall auf der Welt ausbreiten und reüssieren – vorausgesetzt, dass Politadministrationen Infrastrukturen für deren Betrieb 246

Resort

bereitstellen (etwa Straßen, Energie- und Kommunikationsanschlüsse). Weil dies für sie als lohnend erschien und nach wie vor erscheint, breiteten und breiten sich weiterhin um solche First-to-Market-Resorts andere followers aus. Deren Investitionsrisiko ist gering, lehnen sie sich doch in der Regel an die Geschäftsmodelle ihrer Vorgänger an. Im Endeffekt findet eine ausgedehnte touristische Urbanisierung statt, die selbst entfernte Peripherien erfasst und mithin – wie die Mittelmeerküstenlandschaften – nicht enden wollende, aneinander gereihte Urlaubs- und Ferienanlagen hervorbringt. Dubai und ebenso Bad Griesbach sind dagegen Beispiele räumlich konzentrierter Tourismusanlagen, deren Entstehungskern auf kapitalkräftige Investoren zurückzuführen ist, die mit eingekauftem Managementwissen (dort über einen Luxustourismus und hier über Kuren) neue Resortlandschaften entstehen ließen. Ostfriesische Inseln stellen ihre Kulturund Naturlandschaft und Rothenburg ob der Tauber all seine historischen, vom Alltagsleben erfüllten Ensembles unter ein touristisches Verdikt und konstruieren so ein zusammenhängendes Resort, das eines signalisiert: Innerhalb des schnelllebigen Alltags gibt es noch gelebte Orte der Langsamkeit. Und nahezu tagtäglich warten umgewandelte beziehungsweise umgelabelte und neu eröffnete Hotels als Resorts auf, die sich wie jegliche Resorts mit diesem Einen attraktivieren: der Diskrepanz zwischen dem nüchternen Alltag zu Hause und jenem im Resort. Der Aufenthalt in Resorts ist eine Art Lebensersatz, der in einer relativ kurzen Zeit vom wirklichen, aktiven Leben entfremdet. Durch die Transformation des Realen (Dingwelt) – basierend auf einem Wissen über die Erwartungen von Touristen – wird ein Raum geschaffen, der regelt, wie die positive Seite dieser Diskrepanz wahrgenommen wird. Dass derart dinglich konstruierte Resorts verwirklicht werden können, liegt nicht allein an den allokativen Ressourcen der Investoren (private und staaliche Akteure), sondern auch an autoritativen und symbolischen Ressourcen, die mit der Organisation der Resorts bereitgestellt werden. Diese Ressourcen stehen nicht für sich, sondern sind ineinander verschachelt und wirken netzhaft zusammen (Foucault 1987, S.  252). Die Resortdingwelt umfasst neben transformierten Bauten und Landschaften auch zum Beispiel lokal produzierte Produkte und »Einheimische«, die ein »Flamenco Beach Resort« mit Leben erfüllen. Dazu gehören ebenfalls das Design und die Technik, die etwa Wellness-, Erlebnis-, Öko-, Zweitwohnsitz- und orientalische Vitalresorts hervorzaubern oder auch historische Ensembles für Touristen bewohnbar machen. Mit solchen Realien wird zugleich Sinn fabriziert. Ihnen haften allgegenwärtige Zeichen an, die den Touristen auf Besonderes oder Außergewöhnliches hinweisen und deren Wahrnehmung steuern. Zeichen verleihen einer idealen Gesamtwelt eine Präsenz, die ebenso Vergangenes, Gegenwärtiges (Modernität) und auch Künftiges vermittelt. Design und Technik sind hierfür die wesentlichen Mittel, doch auch die ethnische Zusammensetzung der Resortgäste evoziert einen friedlichen Multi247

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

kulturalismus und bei der Gleichbehandlung der Gäste (dem Service) offenbart sich eine mögliche Welt, die ebenso strukturiert sein kann. Die Normalität der Welt wird in Resorts schlichtweg aufgehoben und dies bisweilen in einer gesteigerten Form wie den paradiesischen Tischlein-deck-dich-Mahlzeiten in Resorthotels. Diese den Dingen angelagerten Sinneigenschaften erschließen sich in einer Geschlossenheit der Resorts, wodurch sich eine einspinnende, nahezu kokonhafte Kraft entwickeln kann. Diese Hermetik ermöglicht die Konzentration auf Zeichen. Sie verführt Touristen zum Konsumismus, verzaubert sie durch Design, Architektur und mitunter Musik sowie der unverbrüchlichen Anordnung der Dinge, ermuntert zu Verhaltenssteigerungen, von denen man im Alltag nur träumt und letztlich vergeht die Zeit wie im Schlaf. Das Setting der Resorts entpuppt sich als Instrument der Einflussnahme und damit der Kontrolle – nach Foucault (1987, S.  255) als das der Machtausübung beziehungsweise der auf Wissen basierten Führung von Geführten. Offensichtlich wissen Konzeptionsentwickler und Financiers von Resorts, dass Menschen auf Modifikationen ihres »Man« aus sind und stellen zu diesem Zweck Resorts bereit. Der Aufenthalt in ihnen bedeutet für Touristen einen zeitlichen Einschnitt durch Bewegung im Raum; sie wissen, dass es mögliches Besonderes woanders in der (Welt-)Gesellschaft gibt. Medien organisieren diese Wahrnehmung und beteiligen sich damit an der Konstruktion von Heterotopien. Resorts stellen dagegen einen Einschnitt in die soziale und räumliche Verfassung dar. Vien Vang hat neuerlich einen von der Asiatischen Entwicklungsbank finanzierten, dem westlichen Credo verpflichteten Master-Plan bekommen. Er zielt unter anderem auf eine Purifizierung von den Partytouristen ab. Ein ökologischer, kulturerblicher und »zivilisierter« Aktivtourismus sowie Bungalows, ein dreistöckiges Hotel und ein Management stehen zur planmäßigen Implementation an – ein Resort wie aus einem Ei gepellt. Tanja befragte sich eingehend in Stonehaven und sah zeitweilig in einem anderen Heterotop – einem Bordell – eine Chance, Ressourcen für ein besseres Leben anzusammeln. Eine neue Liebe hielt sie davon ab. Offensichtlich hält das »wahre« Leben Möglichkeiten bereit, die erst über den Umweg in anderen Orten aufscheinen. Karlheinz Wöhler

L ITER ATUR Andriotis, Konstantinos (2006), Hosts, Guests and Politics. Coastal Resorts Morphological Change, Annals of Tourism Research 33(4), S. 1079-1098. Blumenberg, Hans (1997), Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 248

Resort

Foucault, Michel (1987), Das Subjekt und die Macht, in: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, hg. v. Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow, Frankfurt a.M. und Weinheim: Athenäum, S. 241-261. Heidegger, Martin (2006 [1927]), Sein und Zeit, 19. Auflage, Tübingen: Niemeyer. Papatheodorou, Andreas (2004), Exploring the Evolution of Tourism Resorts, Annals of Tourism Research 31(1), S. 219-239. Urry, John (2002), The Tourist Gaze, 2. Auflage, London, Thousand Oaks und New Delhi: SAGE. Wöhler, Karlheinz (2011), Touristifizierung von Räumen. Kulturwisenschaftliche und soziologische Studien zur Konstruktion von Räumen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

249

Spa

Frauen mit einem Handtuchturban, die auf dem Bauch liegen und sich genüsslich massieren lassen, die mit geschlossenen Augen in einem schaumigen Blütenbad liegen oder deren Gesicht mit einer Crememaske gepflegt wird – mit dem Begriff Spa sind im deutschsprachigen Raum Bilder totaler Regeneration und Entspannung verbunden. Weniger zentral ist dabei die kleine belgische Stadt Spa mit ihren Thermalquellen, die Namensgeberin für den Begriff ist. Von der ursprünglichen Bezeichnung eines geographisch definierbaren Ortes hat er sich gelöst und zu einem ortsunabhängigen Konzept gewandelt. Mittlerweile verwendet nicht nur jeder Kurort oder jedes Heilbad diesen Begriff, sondern sogar jeder Regenerationsraum, in dem kosmetische oder gesundheitsfördernde Behandlungen stattfinden, wird mit dem Zusatz des Spa versehen. So gibt es »Spa Lounges«, die kosmetische Behandlungen ebenso anbieten (»Beauty«) wie Massagen oder Bäder im Whirlpool (»Wellness«) sowie die ultimative Entspannung in der warmen Salzwasserlösung eines Floating Tank im urbanen »Day Spa«: Sole und Körper verschmelzen hier ebenso wie die verschiedenen Begrifflichkeiten. Ob im Kurort oder der Hotelanlage, der Schönheitsfarm oder in einer eigenständigen Wohlfühllandschaft, im Begriff des Spa bilden Aspekte von Fitness, Wellness und Kosmetik eine frei flottierende und daher schwer zu fassende Melange. Ursprünglich aus dem Englischen stammend, ist der Begriff im deutschen Sprachraum erst seit einigen Jahren gebräuchlich. Noch im Jahr 2004 bezeichnet Spa im Duden lediglich den belgischen Ort Spa, ohne weitere Angaben. Erst 2006 wird er als »Wellnessbad« benannt und im Universallexikon bezeichnet das oder der Spa heute eine »Anlage mit Badeeinrichtungen wie z.B. Sauna, Whirlpool, Schwimmbad usw. [zur therapeutischen Anwendung]«. Damit wird eine wichtige Linie des Begriffs deutlich: vom konkreten Ort zur allgemeinen Bezeichnung eines Heilbades bis hin zur weiteren Entgrenzung des Begriffs als Wellnessanlage. Wie bei Wellness spielt das Medium Wasser eine entscheidende Rolle. Die mythische Konnotation des Wassers als Ursprung des Lebens zieht sich durch vorderorientalische, keltische und griechische Kosmogonien. Quellen oder 250

Spa

Meere werden häufig zum Sitz von Nymphen oder Gottheiten. In der Antike bekommt das Wasser sowohl hygienische als auch religiöse Bedeutung, denn »durch Baden und Waschen wird man nach antiker Auffassung nicht nur körperlich, sondern auch rituell rein« (Alpers 1988, S. 78). Oftmals verlieren laut Křížek (1990, S. 7) aber auch hygienische Funktionen ihre Bedeutung und werden rein symbolhaft, wie es etwa an der christlichen Taufe zu beobachten ist. In den säkularen Spa- und Wellnessbehandlungen, aber auch bei Urlaubsreisen inklusive Baden am Meer spielen unterschwellig die sakralen Bedeutungen von Wasser als Medium des Lebens und der Erneuerung von Geist und Körper nach wie vor eine Rolle. Die Transformation des heilungsbedürftigen Selbst kann dabei von innen oder von außen stattfinden. Zwei Umgangsweisen mit Wasser sind in Bezug auf Körperpraktiken im Spa zentral: die innere Anwendung durch Trinken und die äußere Anwendung durch Abwaschungen oder Baden. Seit dem 5. Jahrhundert vor Christus begann man in Griechenland und Teilen Kleinasiens, Mineral- und Thermalwässer zum Baden sowie zum Trinken zu verwenden (Křížek 1990, S. 35). Als Heilmittel diente etwa frisches Wasser in Form von Übergießungen oder Umschlägen gegen hitzige Krankheiten, Fieber oder Entzündungen, wie es etwa der Medizinschriftsteller Celsus im 1. Jahrhundert nach Christus beschreibt (Schott 2004, S. 355): Die Hydrotherapie entstand. Im 17./18. Jahrhundert griffen die »Wasserdoktoren« Johann Sigmund Hahn (1664-1742) und seine Söhne sie wieder auf. Sie wurden zum Vorbild für Sebastian Kneipp, der sich ein Jahrhundert darauf nach deren Anweisungen von seinem »Lungenkatarrh« mit kalten Waschungen, Abreibungen, Bädern und Übergießungen heilte und später die bis heute angewandte »Wasserkur« entwickelte (ebd., S. 368). Im 19. Jahrhundert wurde die Wasserheilkunde zum Ausgangspunkt der Naturheilbewegung und etwa in Vinzenz Prießnitz’ 1826 gegründeter Kaltwasseranstalt in Gräfenberg (im damaligen Schlesien) mit anderen Naturheilmethoden wie Diätkuren von Schroth kombiniert. Die Umschläge, Abwaschungen, die Teilbäder und kalten Duschen hatten dabei vor allem ein Ziel: die Abhärtung und Kräftigung des gesamten Organismus. Ähnlich wie bei psychiatrischen Anstalten, Trinkerheilanstalten und Sanatorien handelte es sich bei den Wasseranstalten laut Schott um eine Mischform von Krankenhaus, Erziehungsanstalt und Erholungsheim (ebd., S.  357). Auch wenn die modernen Wasseranstalten die Vorläufer der heutigen Spas bilden, steht das Prinzip der Abhärtung in einem starken Gegensatz zum Entspannungsprinzip der Wohlfühlwelten heutiger Thermen und anderer Spa-Einrichtungen. Abhärtung und Askese sind hier gerade nicht gefragt, denn der Aufenthalt im Spa soll einen Gegenpol zum Alltag mit seinen harten Anforderungen der stetigen Effizienzsteigerung bilden. Daher werden heute auch im belgischen Spa die ursprünglich kalten »Säuerlinge«, die kohlendioxidhaltigen Sprudelquellen, auf Badewannentemperatur erhitzt, was im 19. Jahrhundert noch als verweichlichend galt. Abgesehen davon 251

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

gab und gibt es in anderen Kurorten auch heiße Thermalquellen; von Interesse dabei ist jedoch die Konnotation ihrer Verwendung. Kalte Abgüsse sind heute zumeist nur erfrischender Teil einer eher auf Wärme und Entspannung orientierten Körperpraktik in Saunen und Thermen. Auch die Trinkkuren sind bereits aus vorrömischer Zeit bekannt (Křížek 1990, S.  124); ihre therapeutische Wirkung zum Beispiel gegen Nieren- und Harnsteinerkrankungen werden bei Strabo erwähnt. Spa, Pyrmont, Schwalbach oder Vichy mit den kalten Säuerlingen kamen im 18. Jahrhundert in Mode, nachdem die Syphilis das Bäderwesen kontaminiert hatte. Die Mengen von Wasser, die dort getrunken wurden, sind nicht mit dem heutigen Maß zu vergleichen: Bis zu 20 Liter wurden am Tag getrunken, um gegen Gicht, Hautkrankheiten oder Magen-Darm-Krankheiten anzugehen. Im belgischen Spa wurden – neben Selters – auch die ersten Mineralwässer abgefüllt und zum Baden oder Trinken verschickt (ebd., S. 143): Die Trinkkur verlässt ihren Ursprungsort, wird mobil und durch die Erfindung des künstlichen Mineralwassers auch kommerziell. Der heutige inflationäre Gebrauch von Wasserflaschen in der Öffentlichkeit scheint daran anzuknüpfen. Stets mit der Wasserflasche im Rucksack oder der Outdoor-Umhängetasche unterwegs zu sein, weist den urbanen Globetrotter als Stadtnomaden aus, der immer mobil ist und daher seine Wasservorräte mit sich zu führen hat – andererseits erscheint dies als neue Form der alten Trinkkur to go und verweist auf das Bedürfnis, sich mit heilenden Wässern in kurzen Abständen zu stärken. Dieses stete Regenerationsbedürfnis wird heute weniger in einer mehrwöchigen Kur befriedigt – die angesichts eines kollabierenden Gesundheitssystems aus Kostengründen immer weniger in Anspruch genommen werden darf –, sondern durch schnell erwerbbare und jederzeit konsumierbare Wellness-Wässer. Der Spa-Gedanke hat sich längst aus den hier skizzierten historischen Zusammenhängen von Heilbad und Kur gelöst und verselbstständigt. Er hat sich mit dem Phänomen der Wellness verbunden und auf diese Weise neue Räume, Objekte und Körperpraktiken hervorgebracht. Vormalig selbst als Kuranlage gedacht – mit allen damit verbundenen gesellschaftlichen Vergnügungen wie Promenieren, Kurkonzerten und sportlichen Aktivitäten, die im 20. Jahrhundert das Angebot erweiterten – bezeichnet Spa selbst in Kuranlagen heute einen zusätzlichen Service und Räumlichkeiten, die ausschließlich der Entspannung dienen sollen. Im Gegensatz zur Entschleunigungsmaxime kann dies auch nur ein kurzer Day Spa-Aufenthalt sein. Die Spa Lounge wiederum kann ebenso die Bar vor dem Swimmingpool auf dem Dach eines Hotels bezeichnen wie eigenständige Räumlichkeiten im Stadtzentrum mit Kosmetik, Massage und Floating Tank. Der atmosphärische Raum der Lounge wird verknüpft mit Wellnessangeboten, die Gesundheitsvorsorge und Genuss miteinander verbinden. Der Deutsche Wellness Verband (2010) definiert Wellness als eine Form, »genussvoll gesund zu leben« und somit als eine »aktive Gesundheitsstrategie, 252

Spa

die den Einzelnen unterstützt, sein Leben durch wissenschaftlich gesicherte Maßnahmen gesund und produktiv zu gestalten und damit ein zufriedenes, von chronischen Krankheiten weitgehend freies Leben zu führen«. Dabei verbirgt sich hinter dem unscharfen Neologismus Wellness eine Kombination aus traditionellen, aus der Reformbewegung und Naturheilbewegung stammenden therapeutischen Anwendungen wie Trinkkuren, Hydrotherapie und speziellen Ernährungstechniken mit oftmals exotistisch anmutenden Massageformen und Behandlungen, die den Kunden in eine scheinbar archaische Zeit entführen sollen: Ayurveda, Yoga oder Lomi Lomi Nui Massage versprechen dem gestressten Bewohner postindustrieller Gesellschaften Entlastung und einen unmittelbar körperlichen Zugang zum Selbst. Der einstmals moderne utopische Traum vom goldenen Zeitalter weicht der pragmatischen Sehnsucht nach einer goldenen Auszeit (Scheller 2010, S.  39). Sie ist im Gegensatz zu sozialreformerischen Utopien, die mit der Reformbewegung verknüpft waren, Voraussetzung für die unbedingte Privatheit und Selbstbezüglichkeit. Dabei zielt der gesamte popularisierte Wellness-Diskurs, wie er in Deutschland hauptsächlich über Bilder geführt wird, im Gegensatz zu dem vom Wellness-Verband propagierten Konzept von aktiver Wellness, in Richtung Totalentspannung, verknüpft mit Psychodisziplin. Während das Konzept von Fitness die Disziplinierung des Körpers im Fokus hat, sorgt Wellness nun für die innere Balance und Harmonisierung der Gefühle. Für sie ist – ebenso wie für den fitten Körper – jeder selbst verantwortlich. Eva Illouz (2006) zufolge hat sich im »emotionalen Kapitalismus«, in dem wir leben, der Therapiediskurs als popularisierte Selbstsorge verselbstständigt. Im Anschluss an einen Begriff Michel Foucaults handelt es sich bei Wellness um eine neue Technologie des Selbst, die Gesundheitsstrategien mit einem Management der Gefühle verbindet. Für die Selbstoptimierung der eigenen Gefühle sorgt jeder allein; als langfristige Gesundheitsvorsorge haben Gefühle so zu strukturiert sein, dass innere Balance, Glück und Zufriedenheit erreicht werden. Der Idealzustand der Selbstdisziplinierung ist heute die Harmonie zwischen Körper, Geist und Seele. »Ich will selbst bestimmen, wie ich mich fühle«, so bringt Steffi Graf in einer Werbung für den Tee »Harmonie für Körper und Seele« die emotionale Optimierung auf den Punkt. Durch den Konsum von Wellnessprodukten und die Nutzung von Wellnessräumen mit den dazu gehörenden Körperpraktiken soll diese angestrebte Balance erreicht werden. Der leichte Zugriff auf billige Produkte, wie die Duschgels »Spa Dusche Zen« oder »Spa Dusche Hamam«, sollen das Kurzzeit-Spa-Erlebnis auch in den eigenen vier Wänden ermöglichen. Am vormals elitären Spa-Erlebnis kann und soll auf diese Weise jeder partizipieren und »sein Glück machen« (Duttweiler 2007). Das Spa gehört daher zu der Vielfalt heutiger Wellnesspraktiken und ist von den Wellnessräumen in Freizeitanlagen und Spaßbädern, in Hotels und Kuranlagen kaum mehr zu trennen. Ebenso wie das Phänomen der Wellness ist es zu einem Marketing-Instrument geworden, das die jeweiligen Räume, an die es an253

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

geschlossen ist, aufwerten und zusätzliche Einnahmequellen erschließen soll. Und ebenso wie Wellness hat es sich in unzähligen Produkten auf dem Markt vervielfältigt, die den Konsumenten eine kurze Auszeit gönnen – eine vermeintliche Pause, die letztlich von Arbeit an sich selbst geprägt ist. Doch selbst wenn sich hinter dem Begriff des Spa oft nur mehr handelsübliche Produkte, kosmetische Behandlungen und andere Entspannungstechniken verbergen, wie sie ebenfalls in Wellnessbehandlungen üblich sind, ist es im gleichen Zuge noch stärker als Wellness historisch mit der Kultur des Thermal- und Heilbades verknüpft. Während sich das Konzept von Wellness nur unter anderem auf die Badekultur bezieht, ist das Spa ein Teil eben jener Kultur. Es ist mit spezifischen Orten verknüpft, die ursprünglich ausschließlich öffentliche Räume und damit auch eigenständige Architekturen hervorgebracht haben: kleine Pavillons über Quellenaustritten, Wandelhallen oder Kolonnaden, die während der Trinkkur aufgesucht wurden. Das elitäre Spa als öffentlicher und kommunikativer Ort im 19. Jahrhundert war wie das popularisierte Kurwesen im 20. Jahrhundert stärker auf Gesellschaftlichkeit ausgerichtet. Damit knüpft es etwa an die Thermen der römischen Spätantike an, die neben dem Angebot an Massagen, Reinigung, Kosmetik und leichter sportlicher Betätigung auch gesellschaftliche Zentren mit Lesesälen, Bibliotheken und Theater bildeten (Křížek 1990, S. 59) und auf diese Weise den öffentlichen Raum des Forums entwerteten. Hingegen sind Wellnesspraktiken nicht in erster Linie räumlich kodiert, selbst wenn sie etwa dazu beitragen, private Räume wie das Badezimmer zur Wellnessoase zu entwickeln und auf diese Weise die Struktur von Räumen verändern. Zentral bleibt jedoch die Arbeit am und der Rückzug auf das Selbst unter dem Vorzeichen von Flucht und Entspannung. Zunehmend greift dieses Konzept auf das Spa über. Auf diese Weise wird auch das Spa zu einem Raum der kurzzeitigen Selbstsorge, in der man sich in Balance und Entspannung üben soll, um arbeitsfähig, leistungsstark und gesund zu bleiben und Zivilisationskrankheiten vorzubeugen: Die Selbstentlastung wird zur gesellschaftlichen Pflicht. Alma-Elisa Kittner

L ITER ATUR Alpers, Klaus (1988), Wasser bei Griechen und Römern. Aspekte des Wassers im Leben und Denken des griechisch-römscihen Altertums, in: Kulturgeschichte des Wassers, hg. v. Hartmut Böhme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 65-98. Deutscher Wellness Verband (2010), Wir über uns, www.wellnessverband.de/ wir_ueber_uns/leitbild.php (Juli 2010).

254

Spa

Duttweiler, Stefanie (2007), Sein Glück machen. Arbeit am Glück als neoliberale Regierungstechnologie, Konstanz: UVK. Illouz, Eva (2006), Gefühle im Zeitalter des Kapitalismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Křížek, Vladimír (1990), Kulturgeschichte des Heilbades, Leipzig: Kohlhammer. Miller, James William (2005), Wellness. The History and Development of a Concept, Spektrum Freizeit (1), S. 84-102. Scheller, Jörg (2010), Wellness den Anfängen. Bemerkungen über Verfestigungspraktiken in der Verflüssigungsbranche, Querformat. Zeitgenössisches, Kunst, Populärkultur. Themenheft Weichspüler. Wellness in Kunst und Konsum, hg. v. Alma-Elisa Kittner, Jörg Scheller und Ulrike Stoltz, S. 36-39. Schott, Heinz (2004), Die Quelle von Reinheit und Heilkraft. Zum Mythos des Wassers in medizinhistorischer Perspektive, in: Sei sauber. Eine Geschichte der Hygiene und öffentlichen Gesundheitsvorsorge in Europa, hg.  v. Musée d’Histoire de la Ville de Luxembourg, Köln: Wienand, S. 353-363.

255

Spekulationsblase

Es ist schon so eine Sache mit Spekulationsblasen: Dass sich eine Blase aufbaut, bleibt meist unentdeckt. Erst kurz vor oder gar mit dem Platzen wird sie zur Gewissheit. Vorher wird die Existenz einer Blase in aller Regel mit dem Verweis auf stabile ökonomische Daten geleugnet. Das gilt unabhängig davon, ob es sich um die Dot-Com-Spekulationsblase um 2000, um die Immobilienblase, die 2008 zur Subprime-Krise führt, oder um die Tulpenspekulation in den Niederlanden in den 1630er Jahren handelt. Etwaige Warnungen vor einem Platzen der Blase werden angesichts von stabilen Wachstumserwartungen immer als Unkenrufe, falsche Prophezeiungen oder einfach als unangemessener Pessimismus bezeichnet. Was nicht unbedingt wundert, denn bis zum Platzen der Spekulationsblase ist der Glaube an unermessliche Gewinne unerschütterlich und es scheint als ob sich die Wertentwicklung aller irdischen Zwänge entledigt habe. Was ist aber eine Spekulationsblase genau? Der Begriff Spekulationsblase ist umgangssprachlich ein Ausdruck dafür, dass sich eine unrealistische Bewertung von Vermögenswerten ergeben hat. Anders ausgedrückt ist eine Spekulationsblase das Resultat einer strukturellen und lang anhaltenden Kluft zwischen dem Börsenwert von Wertpapieren und dem realwirtschaftlichen Wert dieser Titel (Lordon 2000, S. 127). Damit unterscheidet sich der Begriff Spekulationsblase von dem des Schweinezyklus. Beim Schweinezyklus wird davon ausgegangen, dass zu einer bestimmten Zeit das Angebot gewisser Güter (eben Schweine, aber auch jedweder anderer Güter sowie Qualifikationen) knapp, aber die Nachfrage danach hoch ist, weshalb der Preis steigt. In der Folge beginnen viele dieses Gut herzustellen. Wenn dann viele zeitversetzt mit diesem Gut auf den Markt kommen, reduziert sich aufgrund des Überangebots der Preis. Auch hier gibt es eine Spekulation auf einen zukünftigen Preis, der sich nach einer gewissen Zeit nicht mehr realisieren lässt. Der feine Unterschied zwischen Spekulationsblase und Schweinezyklus ist aber, dass bei der Spekulationsblase das Gut nicht direkt, sondern in indirekter beziehungsweise abgeleiteter Form – nämlich in Wertpapierform wie Aktien, Schuldverschreibungen, Zertifikaten und weiterer Derivatformen – gehandelt wird. Nicht selten ist es so, 256

Spekulationsblase

dass Wertpapiere im Zuge der anziehenden Erwartungen auf Wertsteigerungen erst aufgelegt werden oder sich durchsetzen. Im Falle der Tulpenspekulation in den Niederlanden war es das Erstere und im Falle der Immobilienblase 2008 das Zweitere. Auf Tulpenzwiebeln bezogen gab es vor dem Hype keine Warentermingeschäfte (Legnaro, Birenheide und Fischer 2005, S. 8-13); auf Immobilien bezogen gab es bereits lange vor 2008 Verbriefungen, die aber eher eine exotische und nicht weitverbreitete Wertpapierform darstellten. Die Wertpapierform birgt also die Möglichkeit, aber nicht die Notwendigkeit, dass sich das Spiel mit Erwartungen dynamisiert. Was ist aber das Besondere an der Wertpapierform, sodass diese zu Spekulationsblasen beitragen kann? Das Besondere ist, dass die Wertpapierform ein Repräsentant des Werts eines Produktes ist und selbst wieder zur Ware werden kann. Denn Aktien, Anleihen etc. können gehandelt werden, wodurch ihnen ein eigenes Leben eingehaucht wird: Als papierne Duplikate des potenziellen Werts bekommen sie einen eigenen Wert. Es ist möglich, dass sich auf diesem Weg der Wert des Repräsentanten vom Wert des bezeichneten Produktes (Immobilien, Edelsteine, Unternehmen etc.) entfernt: Das Abbildungsverhältnis geht verloren. Dies verweist auf den fiktiven Wertcharakter des Repräsentanten, denn er kann erst realisiert werden, wenn der Repräsentant tatsächlich in Geld getauscht wird. Leider müssen im Falle einer Spekulationsblase viele, die zuvor »Gläubige« der unendlichen Wertsteigerung waren, feststellen, dass der Wert des Wertpapiers sich in wenig bis nichts auflöst. Unter diesen Bedingungen wird das »Fiktive« dieses Wertanzeigers besonders anschaulich. Warum ist es aber nun so, dass der Wert der Wertpapierform und der realwirtschaftliche Wert auseinanderdriften können? Immerhin ist es ja so, dass nach dem ehernen Glaubenssatz orthodoxer Wirtschaftswissenschaften dem Markt eine besondere Rationalität inne wohnt, wonach das freie Spiel von Angebot und Nachfrage zu einem Preis führt, mit dem der Markt geräumt wird. In dieser Vorstellung kann es zu keinem Auseinanderdriften von Wertpapierform und realwirtschaftlichem Wert kommen. Dennoch belegt die Geschichte das Gegenteil. Anlass dafür sind Spekulationen auf Wertzuwachs, die sich vom Glauben an steigende Wertpapierkurse nähren. Der Glaube entsteht aber nicht aus sich selbst heraus, sondern zu seiner Materialisierung ist eine ganze Industrie an Beratern, Bewertern und Analysten von Nöten, die die Erzählung von unglaublichen Wertpotenzialen zum Leben erweckt und am Leben erhält. In der Finanzindustrie, die auf Bewertungen angewiesen ist, um im Dickicht von Anlagemöglichkeiten zur begründeten Entscheidung zu kommen, gehört es zum Alltagsgeschäft, auf Interpretationen zurückzugreifen. Dies gilt nicht nur gegenwärtig, sondern in ähnlicher Weise auch für Kaufleute in den mittelalterlichen Städten, die sich entscheiden mussten, worein sie zur Gewinnerzielung investierten. Da den Erdenbürgern der Blick in die Zukunft sowohl im Mittelalter als auch in der Gegenwart verwehrt ist, ist die Vorhersage von Wertentwick257

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

lungen eine Wette auf die Zukunft. Möglich ist nur – und davon wird weidlich Gebrauch gemacht – eine gegenwärtige Vorhersage des zukünftigen Werts aus einer Extrapolation vergangener Preisentwicklungen. Gegenwärtig haben viele Unternehmen der Finanzbranche eigene Analysten, deren Einschätzungen mit externen Bewertungen abgeglichen werden. In größeren und angesehenen Unternehmen stricken die internen Analysten zusammen mit Vertretern entsprechender Informationsmedien (Zeitungen und Zeitschriften, Börsenblätter, elektronische Verteiler, Fernsehen etc.) am Bild des Ertragspotenzials von Anlagen. So können Hypes um bestimmte Anlagewerte geschaffen werden, die in Spekulationsblasen münden. Bedeutsam ist, dass die Beratungsindustrie – so unterschiedlich die Akteure und Medien in dieser auch immer sein mögen – eine Art Glaubensgemeinschaft bildet, die dazu beiträgt, dass sich Prophezeiungen – und nichts anderes sind vorausschauende Bewertungen – reproduzieren und im Prozess des Wiederholens immer realer werden. Bewertet werden Wertpapiere anhand verschiedener Indices. Es geht weniger um das Gut beziehungsweise das Produkt selbst, das mit einem spezifischen Gebrauchswert ausgestattet ist, als um eine Spekulation auf die Entwicklung des Tauschwertes zweiter Ordnung, das heißt, dass das Wertpapier nach einer gewissen Zeit im Verkauf einen höheren Preis erzielen kann. Die Schwierigkeit besteht darin, den optimalen Zeitpunkt für den Verkauf (exit) zu bestimmen. Dies ist Anlass für eine schwer kalkulierbare Hydraulik, die hektische Bewegungen in verschiedenste Richtungen mit sich bringt. Auch wenn diese Bewegungen in scheinbar sehr abstrakten und wenig greifbaren Sphären stattfinden, so sind sie nicht raumlos. Spätestens beim Platzen einer Blase beziehungsweise beim rapiden Wertverlust sind die räumlichen Konsequenzen unangenehm spürbar. In der Subprime-Krise führten Wertverlust und steigende Kreditbelastungen zu Zwangsräumungen in Vororten von New Jersey, Florida oder Südkalifornien sowie in Städten wie Boston, New York City oder Chicago (Martin 2011). Zum Teil wurden aus Vorstädten regelrechte Geisterstädte. Karl Marx erkennt den Anlass solch spekulativer Entwicklung im Versuch, ohne die Vermittlung des Produktionsprozesses das Geldmachen zu vollziehen. »Der Produktionsprozess erscheint nur als unvermeidliches Mittelglied, als notwendiges Übel zum Behuf des Geldmachens.« (Marx 1986 [1885], S. 61) Geld wird also aus Geld gemacht. Es wird auf die Preisentwicklung gestarrt, die von den Hohepriestern der Finanzindustrie als Wertentwicklung verkündet wird. Damit aus der Preisentwicklung von Wertpapieren zumindest potenziell Gewinn geschöpft werden kann, ist finanzielle Liquidität beziehungsweise sind Kredite von Nöten, die eine Verselbständigung des Finanzmarktes gegenüber dem Produktionsprozess stützen. Gerade bei der letzten Blase, nämlich der Immobilienblase in den USA, zeigte sich, dass im Vorfeld wirklich keine Knappheit an Krediten beziehungsweise an Geldzufuhr bestand. Ein Clou der sich entwickelnden Spekulationsblasen ist die Schaffung von Kreditgeld durch Fi258

Spekulationsblase

nanzinnovationen. Schuldverschreibungen, Aktien oder Verbriefungen sind Finanzinnovationen, mit denen Geld buchstäblich aus dem Nichts – oder anders ausgedrückt: aus dem Vertrauen der Käufer beziehungsweise Investoren heraus – generiert wird. Die Finanzinnovationen bergen Versprechungen auf zukünftige Zahlungen in sich, die wiederum als Stellvertreter von Geld gehandelt werden können. Mit diesen Stellvertretern wird Liquidität hergestellt, die eine unendliche Finanzierungs- und Verschuldungskette produzieren kann. Damit kann ein fiktiver Vermögenszuwachs finanziert werden, der aber nur so lange real ist, wie das Vertrauen in die Werthaftigkeit des Repräsentanten hält – also so lange das Wertpapier in Geldpapier gewechselt werden kann. Nichts anderes stellt das Instrument der Verbriefung dar, das die letzte Spekulationsblase in Gang gesetzt hat. Subprime mortgages, das heißt Hypothekendarlehen von Darlehensnehmern mit geringer Bonität, wurden in strukturierte Pakete – Verbriefungen – gebündelt und als Wertpapier von den kreditgebenden Banken verkauft. Der unschlagbare Vorteil für die Banken war, dass sie sich sowohl des Kreditausfallrisikos entledigten als auch den Wert der verkauften Forderungen als flüssige Mittel inklusive einer Gebühr von den Käufern zurückbekamen, sodass sie stetig über das Kapital verfügten, um immer neue Darlehen zu vergeben. Schlussendlich wurde das Risiko des Kapitalverleihs von der kreditgebenden Bank auf den Finanzmarkt, also auf Investoren beziehungsweise Anleger verlagert. In diesem Prozess wurde ein bis dahin rein amerikanisches Risiko internationalisiert: Investoren in Nordamerika, Europa und Asien erwarben die papiernen Geldversprechen. Mit einer attraktiven Bewertung durch Ratingagenturen versehen, verkauften sich die Verbriefungen wie heiße Semmeln. Die Teilnehmer am Rennen um Verbriefungen witterten bis zum bitteren Ende unglaubliche Gewinne. Das lässt sich nur mit einem tiefen Glauben erklären: Die Käufer verließen sich auf das Rating, ohne sich mit den realwirtschaftlichen Bedingungen hinter den Verbriefungen – und den zweischneidigen Interessen der Ratingagenturen selbst – auseinander zu setzen. Spätestens als die sehr realen Kreditnehmer in den USA ihre Darlehen aufgrund verschiedenster Bedingungen wie steigender Kreditzinsen und/oder sinkender Einkommen nicht mehr bedienen konnten, platzte die Blase. Geldversprechen lösten sich wie Seifenblasen in nichts auf oder anders ausgedrückt: platzten. »Platzen« bedeutet nicht nur, dass einzelne Investoren sich dummerweise verkalkuliert hatten und ihre Gewinne nun in den Wind schreiben konnten, sondern dass grundsätzlich das Vertrauen in die Tragfähigkeit und realwirtschaftliche Fundierung von Wirtschaftsbeziehungen abnahm. Da viele Finanzinstitute entweder als Käufer beziehungsweise Verkäufer oder als Kreditgeber zwischen Käufern und Verkäufern an dem Geschäft mit Verbriefungen beteiligt waren, war nicht klar, wer vom Platzen der Blase überhaupt noch unbehelligt war. Angesichts dieser Unsicherheit galt eine vorauseilende Vorsicht: Banken fürchteten sich vor Banken und Kreditnehmern. War der Kreditnehmer 259

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

möglicherweise nicht mehr zahlungsfähig? Da es keine Grundlage mehr gab, um das Risiko einschätzen zu können – Bewertungen hatten sich als Luftnummern erwiesen –, wurde die Kreditvergabe zeitweise eingefroren (credit crunch). Wie bei einer ansteckenden Krankheit wurde befürchtet, dass jeder den Bazillus in sich trägt. Der Crash ist in so einem Fall vorprogrammiert. Dies zeigt, dass die Folgen der Spekulationsblase weit über das Feld, in dem die Blase entstanden ist, hinausreichen. Schlussendlich verhält es sich bei allen Blasen gleich: Das Spiel mit Erwartungen und die Entkopplung der Erwartungen von realen Werten führt phasenweise zu einem Wachstum aus dem Nichts. Die Erwartung auf die Erwartung stärkt die Erwartung. Zwar sind die Prozesse, die zur Blasenbildung führen, ähnlich – was sich allerdings geändert hat, ist, dass das Platzen der Blasen in jüngerer Zeit zu einem Phänomen mit globaler Reichweite geworden ist. Blieb die Tulpenspekulation im 17. Jahrhundert auf die Niederlande oder der Landboom 1926 auf die USA begrenzt, so führte das Platzen der Dot-Com- oder der aktuellen Immobilienblase dazu, dass Schockwellen durch das globale Finanzsystem geschickt werden. Zwar ist der Beginn der Blasenentwicklung nach wie vor räumlich lokalisierbar – es sind Unternehmensaktien einer Branche in einer Region, es sind regionale Immobilien, Rohstoffe aus bestimmten Regionen etc. –, aber mit dem weltweiten Verkauf darauf bezogener Wertpapiere werden die Auswirkungen potenziell global. Der Hintergrund hierfür liegt in der Suche nach dem untrüglichen Geheimtipp mit hohen Gewinnerwartungen. Je mehr Akteure sich an diesem Spiel beteiligen, desto größer wird der Radius, in dem der Globus nach Möglichkeiten abgesucht wird. Aber es sollte dabei nicht vergessen werden, dass nicht nur der Wettbewerb zu internationalen Anlagen treibt, sondern vor allem liquides Kapital, für das nach einer ertragreichen Anlage gesucht wird. Ohne Zweifel wurde die globale Suche durch technische Möglichkeiten der Kommunikation und der Verbreitung/Erlangung von Informationen erleichtert; die Ursache für die rastlose internationale Spekulation liegt aber in der Liberalisierung von Finanzmärkten und im Streben nach Profitmaximierung. Diese Interpretation von Ursachen, Auswirkungen und Anlässen von Spekulationsblasen ist alles andere als hegemonial und unumstritten. Vielmehr gibt es Stimmen, die nach dem Motto »alle Information ist im Preis enthalten« davon ausgehen, dass es ausnahmsweise zwar zu irrationalem Überschwang kommen kann, dass aber auf längere Dauer der Markt zum Gleichgewicht tendiert. Diese Erklärung neigt zu einer Verabsolutierung des Marktes; Spekulationsblasen sind in dieser Wahrnehmung eine vernachlässigbare Störung, die mit manisch entglittenem Handeln zu erklären sind. Die Erklärung wird also auf wirtschaftsferne beziehungsweise der Wirtschaft äußerliche Faktoren zurückgeführt. Demnach waren es Emotionen, dilettantisches Tun, Spielerverhalten, Gier oder einfach nur mangelnde Vernunft, die als marktexterne Faktoren 260

Spekulationsblase

den rationalen Vollzug von Marktausgleichskräften störten. Der Markt bleibt vernünftig; Fehlentwicklungen sind nur vorübergehende Störungen, die durch die unsichtbare Hand des Marktes und rationale Marktentscheidungen wieder ausgeglichen werden. Man kann aber zusammenfassen, dass die wohl prägendste Eigenschaft der Spekulationsblase ist, dass sie keine lokale Anomalie, keine vorübergehende Fehlentwicklung, keine Klammer im Laufe einer ansonsten vernünftigen finanziellen Dynamik darstellt, sondern zu einem permanenten Wesensmerkmal des finanzialisierten Akkumulationsregimes geworden ist (Lordon 2000, S. 84). In Gesellschaften, in denen die Verwertungsregeln der Finanzindustrie zu gesellschaftlichen Regeln werden, sind Blasen sowohl Antwort als auch Folge der Notwendigkeit, Geld einer optimalen Verwertung zuzuführen und Geld aus Geld zu schöpfen. Darüber gibt die Anzahl und schnelle Abfolge von Spekulationsblasen in den letzten 20 Jahren Aufschluss. Beispiele hierfür sind die Tequila-Krise 1994/95, die japanische Immobilienkrise in den 1990er Jahren, die Asien- und Russlandkrise 1997/98, die Dot-Com-Krise etc. Susanne Heeg

L ITER ATUR Legnaro, Aldo, Almut Birenheide und Michael Fischer (2005), Kapitalismus für alle. Aktien. Aktien, Freiheit und Kontrolle, Münster: Westfälisches Dampfboot. Lordon, Frédéric (2000), »Aktionärsdemokratie« als soziale Utopie? Über das neue Finanzregime und Wirtschaftsdemokratie, Hamburg: VSA. Martin, Ron (2011), The local geographies of the financial crisis: from the housing bubble to economic recession and beyond, Journal of Economic Geography 11(4), S. 587-618. Marx, Karl (1986 [1885]), Das Kapital, Zweiter Band. MEW, Band 25, Berlin: Dietz Verlag.

261

Stall

Es stampft und trampelt, es saust und wirbelt. Ein Meer aus weißen Körpern wogt um mich. Die Hunde jagen außen am Zaun entlang, eine Herde Schafe an der Innenseite. Sie trudeln und stieben auseinander, als ich auf sie zulaufe, bilden neue Formationen, weiße Wellen klatschen gegen den Zaun, um mir auszuweichen. Ich renne in eine der weißen Wolken hinein – umsonst. Denn schon sind sie weg, sie preschen auseinander, hasten an mir vorbei, ballen sich zu neuen, kleineren Schafsfiguren zusammen, zerfallen, sammeln sich. Ihre Körper scheinen auf unsichtbare Weise aneinander zu hängen. Kopf an Bauch, an Schulter, an Ohr, an Schwanz, an Bein. Blitzschnell lösen sie sich auf, formieren sich neu, es blökt und mäht, kleine Erdklumpen fliegen durch die Luft. Ich stehe still. Langsam kommt auch der kollektive Schafskörper zur Ruhe. Verteilt sich an den äußeren Grenzen des abschüssigen Geländes. Weiter oben liegt der Stall, doppelstöckig, neu, ganz aus Holz, am Hang gebaut, nach einer Seite offen, sodass die Herde ihren Spielraum hat, die Menschen zu umkreisen, sie einzuschließen ohne sie zu berühren. Wenn man von der Straße her den Stall betritt, kommt man ins Futterlager. Es riecht nach Holz und Heu. In die Planken des Bodens sind große Luken eingelassen, direkt über den runden, 262

Stall

metallenen, hohen Futterkörben. Wir lassen Unmengen von Heu hinunterregnen und schauen in den Stall hinab. Sofort stürmen sie wieder heran, bilden kreisrunde Schafsinseln um die Körbe mit Heu. Sie drängeln, rangeln, raufen, schichten ihre Körper aufeinander nach strengen Hierarchien, deren Regelwerk ich nicht verstehe. Sie stoßen, schubsen, und quetschen, bilden schwankende, mehrstöckige Schafstürme um die Körbe herum. Was hält diese Gebilde zusammen? Das ununterbrochene Geblöke, das schäfische Gequassel, in das sich das ungeduldige Kläffen der Hunde mischt, die immer noch nicht auf das Stallgelände dürfen? Ganz hinten an der Wand des Stalls gibt es einige Buchten für die Mutterschafe mit den neugeborenen Lämmern, die unter Wärmelampen liegen, sonst finden sich im Innern des Stalls keine Abschrankungen. Es ist kalt, nicht nur im offenen Stall. Kurz nach Ostern liegt noch überall Schnee hier in den Bergen um Davos. Trotz der malerischen und romantischen Lage des Stalls, befinde ich mich nicht in einer Schafsidylle. Und ich bin auch nicht zufällig hier. Vor einem Jahr bin ich im Tal am Stadtrand von Davos in einen anderen Schafsstall gestolpert. Beide Orte sind auf spezifische Weise miteinander verbunden. Der Stall hier in den Bergen ist Teil eines komplexen Herdenmanagements für Versuchs- und Labortiere in der Unfallchirurgie. Der Stall im Tal ist Teil eines der weltweit führenden unfallchirurgischen Forschungsinstitute zur Entwicklung von Implantaten: So nennt man die Drähte, Schrauben, Platten und Nägel, die in gebrochene Knochen eingebracht werden, um die Heilung zu beschleunigen. Hier oben im Stall kreuzen sich verschiedene tierische Existenzweisen. Hier entstehen unterschiedliche Schafsontologien. Während der größte Teil der Böcke in die sogenannte Fleischproduktion geht, also geschlachtet wird, kommt ein Teil der weiblichen Tiere als »Projektschafe« in den Stall des Forschungsinstituts unten im Tal. Dafür müssen sie zunächst zwei Jahre hintereinander ablammen. Durch die Schwangerschaften verändert der Hormongehalt den Kalziumstoffwechsel und die Knochenstruktur der Mutterschafe. Da Schafe Grasfresser und Wiederkäuer sind, unterscheiden sich ihre Knochen vor allem durch den Kalkgehalt erheblich von menschlichen. Hier oben im Stall wird festgelegt, welche Schafe zu Fleisch- oder Knochenschafen werden, zu Nahrung oder zu Wissensproduzenten. Damals vor einem Jahr unten im Tal war ich zufällig in den Schafsstall geraten. Ich war auf der Suche nach Papier, nach Dokumenten oder einer Datenbank, für ein Forschungsprojekt zur Geschichte des Wissenstransfers zwischen Human- und Veterinärmedizin. Der Sinn stand mir eher nach Archiv denn nach Stallhistoriographie oder gar Stallethnographie. Im Forschungsinstitut schickte man mich zur neuen Postdoc, die zurzeit ihren Schreibtisch im Tierhaus habe. Dort bekäme ich sicher auch Zugang zur Datenbank. Ich fragte nach, was denn das Tierhaus sei. Na, der Stall, sagte eine Mitarbeiterin und zeigte auf ein größeres, weißes Gebäude, ca. 200 Meter vom Forschungsinstitut entfernt. Ich lief 263

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

den Weg entlang und betrat den Stall, der keineswegs so aussah, wie ich mir das vorgestellt hatte. Die Tür war offen. Es war hell und sah eher aus wie in einer Klinik. Die Wände und teilweise auch der Boden waren weiß gekachelt, alles ausgeleuchtet mit Neonlicht. Ich bog um die Ecke. Vor mir stand ein Röntgenapparat, die Bleischürzen hingen daneben, an der Wand ein Kleiderhaken voller weißer Kittel, vor dem Schuhregal standen einige weiße Gummistiefel. Was mich am meisten irritierte war die Stille. Nur leise Radiomusik drang an mein Ohr. Nichts und niemand waren zu hören, aber ein starker Tiergeruch stieg mir in die Nase. Ich ging einen langen Korridor entlang auf eine Tür zu, auf der linken Seite des Ganges sah ich große Schiebetüren. Doch ich hatte keine Zeit für Stallerkundungen. An der Tür angekommen, wandte ich mich nochmal um. Und dann sah ich sie: Nacheinander tauchten vereinzelte Schafsköpfe hinter den Schiebetüren auf, lugten um die Ecke, schauten mir hinterher. Ich drehte mich um und ging zurück. In jedem der Räume hinter den Schiebetüren standen Schafe. Von einem Gang in der Mitte lagen auf jeder Seite ca. zehn einzelne mit Gittern voneinander abgetrennte Boxen. Jedes Schaf hatte einen eigenen Zugang zu den Futterrinnen, die rechts und links an den Wänden entlangliefen. In jeder Bucht gab es Einzeltränken. Die meisten Schafe regten sich nicht sonderlich über meine Anwesenheit auf, schienen sich sogar mit mildem Interesse mir zuzuwenden. Nur in dem Raum, in dem Schafe in Gruppen von fünf bis zehn gemeinsam untergebracht waren, brach Hektik aus, heftiges Getrappel und Rückzug in den äußersten Winkel des Raums waren die Folge meines Erscheinens. Alle Schafe trugen Nummern am Körper, sowohl mit Farben aufs Fell gemalt als auch mit Steckern an den Ohren angebracht. An den Buchten baumelten Karten, die wie »Patientenakten« aussahen, bedruckt mit Zahlen und Kurven. Einige Schafe hingen in einer Art Netz oder in einer Hängevorrichtung, manche waren am Rücken geschoren, dort konnte ich ihre Operationsnarben sehen. Andere trugen Verbände an den Beinen. Sie wandten sich um und schauten mich an. Eine Welle höchster Verwunderung, Irritation und Beunruhigung erfasste mich. Alles erschien mir gleichermaßen vertraut und höchst fremd und eigenartig. Ich war ins Wunderland geraten. Während Alice dort vor allem damit kämpft, ihren wuchernden, aus der Fassung geratenden Körper den Räumlichkeiten und Orten anzupassen, erstaunte mich hier der Raum an sich, die ungewöhnliche Mischung aus Bauernhof, Klinik und Labor, der ungewöhnliche Anblick gewöhnlicher Schafe, die Art der Anordnung zueinander und zu mir, die ungewöhnliche Blicke erlaubte und gestattete. Es war dieser Moment der Verwirrung, der mir schlagartig klarmachte, dass ich an einem zentralen, verdichteten Ort meines Forschungsprojekts angekommen war. Wie konnte ich diesen »übersehenen« Ort und seine komplexen Beziehungen sichtbar machen? Wie waren klinische, operationstechnische, landwirtschaftliche Praktiken miteinander vernäht? Welchen losen Fäden, aufgetrennten Säumen und Nähten musste 264

Stall

ich historisch folgen, um die Praktiken zu verstehen, die diesen Ort ermöglichten und mit anderen Einrichtungen verbanden? Schafe tauchten erstmals 1967 als Versuchstiere in dem Davoser Forschungsinstitut auf. Das hatte vor allem emotionale Gründe. Denn der neue Leiter des Instituts und viele seiner Mitarbeiter waren leidenschaftliche Hundeliebhaber und -besitzer. Für sie war es nicht vorstellbar große Testreihen von Implantaten an Hunden durchzuführen, die bisher als Labortier in der Unfallchirurgie gedient hatten. Auf der Suche nach Ersatz wurde man rasch fündig, denn Schafe waren in Davos und den umliegenden Tälern und Bergen allgegenwärtige Nutztiere. In Interviews mit den Ärzten und Wissenschaftlern nannten sie mir verschiedene Gründe für ihre Wahl. Schafe seien unter biomechanischen Gesichtspunkten enger mit den Menschen verwandt als Hunde, weil sie trotz der unterschiedlichen Knochenstruktur ein ähnliches Gewicht hätten und ähnlichen biomechanischen Gesetzen unterlägen wie Menschen. Die Ergebnisse der Versuche seien daher leichter zu übertragen. Schafe seien billig und anspruchslos im Unterhalt. Zudem gäbe es ein bewährtes landwirtschaftliches Wissen über Schafshaltung. Der wichtigste Grund war aber wiederum ein emotionaler: Schafe seien »menschenferne« Tiere, sie seien an Beziehungen zu Menschen nicht interessiert und würden sich als Herdentiere lieber miteinander beschäftigen. Die Überführung der Schafe aus einer landwirtschaftlichen in eine wissensproduzierende Ökonomie erwies sich dann aber doch als wesentlich aufwändiger als angenommen. Anders gesagt gestaltete es sich als schwierig aus Fleisch- und Wollschafen Knochenschafe zu machen. Zunächst wurden nur wenige Tiere für Versuche gebraucht. Sie wurden bei lokalen Schafszüchtern und Bauern ausgeliehen und nur für die Operationen ins Forschungsinstitut transportiert, das damals noch in einer alten Villa im Stadtzentrum von Davos untergebracht war. Die Schafe lebten also weiterhin in der landwirtschaftlichen Ökonomie und waren Teil des alpinen Pastoralismus, bei dem Schafe im Sommer auf die Almen gebracht wurden. Die Ärzte mussten für Kontrollröntgenuntersuchungen in die Berge fahren und die entsprechenden Tiere suchen, um sie ins Tal zu transportieren. Das Klettern der Tiere in den Bergen wurde als Belastungstest für die Implantate verstanden. Nach einigen Jahren mietete man zunächst alte Schafsställe am Stadtrand von Davos. Ein Landwirt wurde als Cheftierpfleger eingestellt. Von ihm stammte die Idee, einen eigenen Schafsstall für das Forschungsinstitut zu bauen. Das erste Tierhaus, das Anfang der 1970er Jahre fertig gestellt wurde, verkörperte das gemeinsame Wissen von Landwirtschaft und schafschirurgischer Forschung. Denn es hatte sich herausgestellt, dass man zwar viel über Schafe als Nutztiere wusste. Aber niemals zuvor waren Schafe mehrstündigen Operationen unterzogen worden. Niemand wusste, wie Schafe anästhesiert werden konnten, wie Wiederkäuer Narkotika verarbeiten, wie man sie intubiert und be265

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

atmet, auf welche Weise man bewusstlose Schafe transportiert oder ihr Wohlbefinden nach den Operationen kontrolliert. Menschenferne erwies sich nicht als tragfähige Säule chirurgischer Forschung. Man musste sich gegenseitig kennenlernen und der Stall war Ausdruck dieser neuen Mensch-Schafs-Beziehung. So wurden beispielsweise die Netze und Aufhängungen, die ich bei meinem ersten Besuch gesehen hatte, entwickelt, um die operierten Beine der Schafe zu entlasten. Gleichzeitig ist das Stehen im Stall nicht einfach nur schäfisches Abhängen in einer gewohnten Umgebung, sondern Forschungsarbeit, die sorgfältig gemessen und überwacht wird. Die Einrichtungen des Stalls ermöglichen zudem den zentralen Vorgang, der notwendiger Bestandteil der Knochenschafswerdung ist. Ich nenne ihn Ent-Herdung. Durch diesen Prozess, der meist drei bis vier Wochen dauert, werden die Schafe langsam an ihre neue Existenz als Individuen, als Nicht-Herden-Subjekte, gewöhnt. Dies geschieht durch Fütterungstechniken, die individuelle Betreuung durch einen Tierpfleger und besondere Aufstallungen, die es gestatten, die Schafe zunächst in Gruppen zu halten, die dann immer kleiner werden, je mehr die Schafe sich an die Menschen gewöhnen, bis sie in Einzelboxen gehalten werden können. Menschenferne und schäfische Nähe zueinander kehren sich dann um: Ruhe zieht ein in den Schafsstall und Radiomusik statt lautem Geblöke, interessierte Blicke zwischen den Arten sind dann möglich. Wenn diese zu intensiv werden, wenn die Schafe plötzlich nicht mehr nur Nummern tragen sondern Namen, wurde erneut eine Grenze überschritten. Neue Anordnungen sind dann nötig. Tutsch, Miriam und Emma gehen der Forschung verloren. Als Leittiere kehren sie in einen Schafsstall in den Bergen zurück. Sie werden alt, sagen die Tierpfleger, sie sterben nicht an unserem Hunger und auch nicht an unserem Wissensdurst. Für die meisten Schafe gilt das nicht. Ihre Zahl wächst stetig. Mittlerweile ist das Forschungsinstitut den Schafen an den Stadtrand von Davos gefolgt. Neben dem Neubau entsteht auch ein neuer Stall, die Operationssäle werden jetzt dorthin verlegt. Der Stall in den Bergen dient fast nur der Zucht und Vorratshaltung von späteren Versuchstieren und ist damit Teil eines professionellen Herdenmanagements in der biomedizinischen Forschung. Ställe sind komplexe, hybride Orte. Wenn wir sie nicht nur als fertige Einrichtungen ansehen, in denen lediglich einige Tiere untergebracht sind, sondern als Materialisierungen gesellschaftlicher Praktiken, dann sind sie zentrale Orte gesellschaftlichen Handelns, an denen neue Beziehungen, Verwandtschaften und Distanzen produziert werden. Ställe sind Teil kollektiver Wunschmaschinen (Deleuze und Guattari 1974), die es unter anderem möglich machen, dass uns schäfisches Wissen, ein Stück Schafsleben in die Knochen fährt, wenn wir aus dem Gleichgewicht geraten, wenn wir stolpern und dann fallen. Martina Schlünder

266

Stall

L ITER ATUR Deleuze, Gilles und Félix Guattari (1974), Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

267

Standort

Ein Prinzip geht um die Welt. Der Standort hat einen kometenhaften Aufstieg von einer simplen Ortsangabe über einen wirtschaftsgeographischen Fachterminus bis hin zum Starlet der internationalen Politik hingelegt. Und er hat es faustdick hinter den Ohren: Avanciert zum politischen Leitmotiv sorgt er dafür, dass sich Staaten, Städte und Regionen mehr darum bemühen, Unternehmen mit Steuergeschenken anzulocken und den Lifestyle-Geschmack der heiß umworbenen »Leistungsträger« zu bedienen, als für die Aufrechterhaltung wohlfahrtsstaatlicher Errungenschaften und öffentlicher Infrastrukturen zu sorgen. Mit dem Verweis auf den Standort werden weltweit erkämpfte sozialstaatliche Standards zurückgenommen, Bildungssysteme im Hinblick auf ihre ökonomische Nützlichkeit grundlegend restrukturiert und Lohnsenkungen als alternativlose Notwendigkeit präsentiert. Wie viele Reden ließen sich an dieser Stelle anführen, in denen politische Entscheidungen jeglicher Couleur über die Sicherung des Standortes gerechtfertigt werden – schließlich müsse man wettbewerbsfähig bleiben, um sich gegenüber der Konkurrenz aus xyz behaupten zu können. Das Prinzip Standort lässt Städte, Regionen und Staaten diverse Strategien ausreizen, um möglichst attraktive Bedingungen für Wirtschaftsansiedlungen zu schaffen und um die Gunst von Jurys zu werben, die über die Austragung öffentlichkeitswirksamer und imagetauglicher Großevents entscheiden. Wie viele Jugendzentren wohl schon schließen mussten, wie viele städtische Betriebe veräußert wurden, weil ambitionierte Bürgermeister_innen ihre Städte mit blamabel gescheiterten Leuchtturmprojekten in den Ruin wirtschafteten – mit denen sie doch eigentlich Aufmerksamkeit für den Standort erzeugen und so Wachstum ankurbeln wollten? Die Geschütze, die für den Standort aufgefahren werden, sind von einer Tragweite, die in immer mehr Lebensbereiche hineinragt – weswegen es mehr als angemessen scheint, diese steile Karriere genauer zu inspizieren. Der erste Schritt des Standortbegriffs auf der Karriereleiter gestaltet sich noch recht einfach. Zum Aufstieg von der Ortsbestimmung zum Fachterminus verhalf ihm Alfred Weber (1909) in seiner Theorie der Industriestandorte. Darin stellte er fest, dass profitorientierte Unternehmen für die Errichtung 268

Standort

ihrer Produktionsstätten Orte bevorzugen, an denen sie besonders günstige Rahmenbedingungen vorfinden; etwa geringe Transportkosten, ein niedriges Lohnniveau oder einen besonders aussichtsreichen Absatzmarkt. In der Sprache der Wirtschaftswissenschaft verweist der Standort also analytisch auf den Zusammenhang zwischen betriebswirtschaftlichen Erwägungen und den entsprechend gewinnträchtigsten Niederlassungen im Raum. Schwieriger nachzuvollziehen ist hingegen der Sprung des Standortes aus der Welt der Betriebswirtschaft in die der Politik von Städten, Staaten und Staatenbünden: Was hat dazu geführt, dass sich staatliche Raumeinheiten Argumentationen zu eigen machen, die vorher Unternehmen vorbehalten waren? Wie kommt es, dass sie selbst als wettbewerbsorientierte Standorte ins Rennen gehen? Welche Umstände haben es zu einer Wahrheit werden lassen, dass dies unvermeidlich sei, will man nicht den natürlichen Gesetzen des Wettbewerbs zum Opfer fallen? Dem Durchmarsch des Prinzips Standort an die Spitze der politischen Totschlagargumente ist durchaus kritisch beizukommen, und zwar, indem man sich dem Postulat von Wettbewerb und Konkurrenz zuwendet: Darin scheint der Schlüssel zum Verständnis der argumentativen Kraft standortpolitischer Positionen (und damit der Ansatzpunkt der gebotenen Kritik) zu liegen. So erweckt unsere »globalisierte Welt« zwar den Anschein, der Wettbewerb der Standorte sei dem natürlichen Lauf der Dinge geschuldet, doch bei Lichte betrachtet ist er schlichtweg das Resultat menschlichen Handelns unter kapitalistischen Bedingungen. Dass Unternehmen stets auf die Steigerung ihrer Profitrate aus sind, gehört zur ureigenen Funktionslogik des Kapitalismus. Die Chancen, Profite zu maximieren, verbessern sich in dem Maße, in dem Umschlagszeiten abnehmen, was in eine ständige Weiterentwicklung von raumüberwindenden Transport- und Kommunikationstechnologien mündet. Daraus entsteht das, was Marx (1983 [1857], S. 430) als »Vernichtung des Raumes durch die Zeit« bezeichnet: Die Welt rückt näher zusammen und verschärft die Konkurrenz von Standorten in globaler Perspektive (Harvey 2007). Bei dieser Internationalisierung handelt es sich jedoch nicht einmal innerhalb der kapitalistischen Logik um einen automatisch ablaufenden Prozess. Dass der Markt bei entsprechenden gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen auch wieder »gefesselt« werden kann, demonstrieren die relativ abgeschotteten und politisch gesteuerten Nationalökonomien in der Zeit zwischen Ende des Zweiten Weltkrieges und Mitte der 1970er Jahre. Mit der Krise des Fordismus hat jedoch eine neoliberale Gegenbewegung Oberhand gewonnen, die die Transnationalisierung der Finanzmärkte in die Wege geleitet und der Internationalisierung von Produktions- und Wertschöpfungsketten den Boden bereitet hat. Durch das Wechselspiel zwischen der räumlichen Entbettung der Ökonomie und politischen Transformationen des Staates vollzog sich der Umbau der Bundesrepublik (wie auch anderer westlicher Staaten) vom keynesianischen Wohlfahrtsstaat zum »Nationalen Wettbewerbsstaat« (Hirsch 2005), mit dem wir 269

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

es heute zu tun haben. Dessen Bestimmung besteht nun darin, alle sozialen Sphären der Gesellschaft für den globalen Wettbewerb zu rüsten. Um beispielsweise sicherzustellen, dass auch Kommunen zu kompetitiven Höchstformen auflaufen, wurde durch die Erzeugung von finanzieller Knappheit und räumlicher Ungleichheit ein Wettbewerb politisch entfacht, der Städte in Konkurrenz zueinander setzt und sie so zu standortpolitischem Handeln anleitet (Brenner 2004). Weiterhin ist es ein lohnenswertes Unterfangen, sich auf die Argumentationen aus dem ideologiekritischen Lager einzulassen. Dem gelingt der Nachweis, dass die Übertragung des Wettbewerbsprinzips auf staatliche Raumeinheiten zu einer »dangerous obsession« (Krugmann 1994) geworden ist, die von mächtigen Interessensgruppen propagiert wird, jedoch auf logischen Fehlschlüssen beruht. Denn zum einen muss per Definition jeder Währungsraum »wettbewerbsfähig« sein, da bei flexiblen Wechselkursen der Zahlungsbilanzmechanismus automatisch eine ausgeglichene Handelsbilanz sicherstellt. Kein Währungsraum kann demzufolge dauerhaft mehr exportieren als importieren, da sich mit der daraus resultierenden Verteuerung der inländischen Währung auch die inländischen Waren im Ausland verteuern – und zwar so lange, bis die Handelsbilanz ausgeglichen ist. Zum anderen ist einzuwenden, dass Kapital in der unternehmerischen Wirklichkeit weitaus weniger flexibel ist als sein Ruf. Anders als es die Wettbewerbslogik suggeriert, verlassen Unternehmen nämlich mitnichten ihren Standort, sobald global irgendwo bessere Bedingungen gegeben sind. Vielmehr weist die räumliche Verankerung von Betrieben die reale Konkurrenz der Standorte in Grenzen (Jäger 2006). Beide Aspekte unterstreichen einmal mehr, dass die Karriere des Standortes nicht ausschließlich auf die kapitalismusimmanente »Vernichtung des Raumes durch die Zeit« zurückzuführen ist, sondern auch auf den Einfluss mächtiger Interessensgruppen, denen durch die Behauptung von unerbittlich konkurrierenden Standorten die Umverteilung von Löhnen hin zu Profiten gelingt. Verwunderung erzeugt die erfolgreiche und steile Karriere des Standortbegriffs nicht zuletzt auch angesichts der Tatsache, dass eine auf Exportkonkurrenz und Wettbewerbsfähigkeit fokussierte Politik unweigerlich mit Widersprüchen verhaftet ist, die eine dauerhaft stabile gesellschaftliche Entwicklung unmöglich machen. Ein kurzer Exkurs in die aktuelle Finanzkrise soll dies veranschaulichen. So sind als wesentliche Ursache der gegenwärtigen Krise unter anderem die strukturellen Ungleichgewichte eines globalen Akkumulationsregimes zu nennen, in welchem die erfolgreiche, exportorientierte und standortfokussierte Entwicklung der Einen notwendigerweise eine entsprechende Verschuldung der Anderen nach sich zieht. So hat der Standort Deutschland in den letzten Jahren die südlichen Standorte innerhalb der EU erfolgreich niederkonkurriert. Die negativen Leistungsbilanzsalden der südlichen EU-Länder und deren Wettbewerbsschwäche sind die logische Bedingung für die Leistungsbi270

Standort

lanzüberschüsse und die starke Wettbewerbsposition der deutschen Wirtschaft. Die Schuldenkrisen in Griechenland, Italien, Spanien, Portugal etc. wären ohne die standortpolitisch begründete Lohnzurückhaltung in Deutschland undenkbar (Sablowski 2011). Die Widersprüchlichkeit des Standortparadigmas wird nun gegenwärtig dadurch deutlich, dass die Auswirkungen der Verschuldungskrisen offensichtlich nicht nur auf die »Verlierer« des Wettbewerbs beschränkt bleiben, sondern angesichts eines drohenden Zusammenbruchs der Eurozone auch auf die vermeintlichen »Gewinner« negativ zurückschlagen. Bis hierhin lässt sich festhalten, dass es keine Naturgesetze sind, die die Karriere der Standortpolitik beflügelt haben, sondern dass der ihr zugrunde liegende Wettbewerb auf das Handeln gesellschaftlicher Kräfte unter kapitalistischen Bedingungen zurückzuführen ist. Das klärt jedoch noch nicht, warum die Standortlogik trotz ihrer fatalen sozialen Auswirkungen, logischen Fehlschlüsse und Widersprüchlichkeit kaum hinterfragt wird oder besser: geradezu gegen Kritik imprägniert zu sein scheint. Auf diese Frage halten diskurstheoretische Zugänge Antworten bereit: Sie befassen sich nicht damit, ob der Standortdiskurs die Realität »richtig« beschreibt oder auf (ideologisch motivierten) Fehlschlüssen beruht, sondern sie zeigen auf – und darin besteht der Clou – dass er die »Realität« selbst performativ hervorbringt. Oder anders: Die ständige ritualisierte Rede vom Standortwettbewerb führt demnach zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung, die immer realer und wirkmächtiger wird, je stärker Entscheidungsträger_innen in Politik und Verwaltung ihr Wahrnehmen und Handeln daran ausrichten – und das tun sie derzeit eben in einem Maße, als sei nichts anderes denkbar. Während die Rede vom Standort unentwegt durch eine entsprechende politische Praxis reproduziert wird, vollzieht sich unmerklich eine Umkehr von Ursache und Wirkung. So entsteht ein Sinnhorizont, der den Blick auf die gesellschaftliche Gewordenheit des Standortwettbewerbs verstellt, indem er den Wettbewerb als natürlich und politische Alternativen als aussichtlos erscheinen lässt. Die sich daraus ergebende, selbstverstärkende Bewegung verfestigt diesen Eindruck zusehends. Wobei noch erschwerend hinzukommt, dass die aus der Ökonomie stammende Metapher des Wettbewerbs Neutralität, Objektivität und wissenschaftliche Autorität suggeriert (Meyer zu Schwabedissen und Miggelbrink 2005). Diese Wirkung wird zwar durchaus auch bewusst strategisch genutzt, um bestimmte Interessen ihres politischen Gehalts zu entkleiden. Schließlich lassen sich selbige als »rein sachlich begründet« doch weitaus leichter durchsetzen. Da die Existenz des Wettbewerbs mittlerweile allerdings so weit internalisiert ist, dass sie als »ausgemachte Wahrheit« gelten kann, reproduziert sich die Behauptung vom Wettbewerb der Standorte vor allem unbewusst. Der Siegeszug des Standort-Prinzips aus dem Reich der Betriebswirtschaft an die Spitze politischer Prioritäten ist darauf zurückzuführen, dass Städte, Regionen und Staaten mit standortpolitischen Strategien auf die gesellschaftlich erzeugten polit-ökonomischen Anpassungszwänge reagieren und so eine 271

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

selbsterfüllende Prophezeiung ins Leben rufen, die ihnen dann als Naturgesetz der Globalisierung gegenüber tritt. Diese scheinbare Naturhaftigkeit zu entlarven und die beständige Reproduktion zu irritieren, machen sich progressive Kräfte und kritische Wissenschaft zum Auftrag. Denn die hier nur angedeuteten sozialen Konsequenzen von Standortpolitik unterstreichen bereits mehr als deutlich, dass politische Alternativen dringlich geboten sind. Und eben auch umsetzbar, schließlich haben dem Standortbegriff keine Naturgesetze, sondern politische Entscheidungen und entsprechende soziale Praxen zur Karriere verholfen. Was folgt nun daraus? Vielleicht, dass es an der Zeit ist, emanzipative gesellschaftliche Kräfte zu stärken, die den Standort von seinem Thron stoßen und progressive Prinzipien an die Spitze politischer Prioritäten befördern! Anika Duveneck und Sebastian Schipper

L ITER ATUR Brenner, Neil (2004), New state spaces. Urban governance and the rescaling of statehood, Oxford: Oxford University Press. Harvey, David (2007), Zwischen Raum und Zeit: Reflektionen zur Geographischen Imagination, in: Raumproduktionen. Beiträge der Radical Geography. Eine Zwischenbilanz, hg. v. Bernd Belina und Boris Michel, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 36-60. Hirsch, Joachim (2005), Materialistische Staatstheorie. Transformationsprozesse des kapitalistischen Staatensystems, Hamburg: VSA. Jäger, Johannes (2006), Globaler Standortwettbewerb: Realität oder Diskurs?, in: Zwischen Konkurrenz und Kooperation. Analysen und Alternativen zum Standortwettbewerb, hg.  v. ATTAC Österreich und Kritische Geographie, Wien: Mandelbaum Verlag, S. 33-43. Krugman, Paul (1994), Competitiveness: a dangerous obsession, Foreign Affairs 73(2), S. 28-44. Marx, Karl (1983 [1857]), Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. MEW, Band 42, Berlin: Dietz Verlag. Meyer zu Schwabedissen, Friederike und Judith Miggelbrink (2005), »Wo der Standort trompetet, geht die Freiheit flöten«. Bilder interurbanen Wettbewerbs am Beispiel der Bewerbung Leipzigs zur »Candidate City« für die Olympischen Spiele 2012, Social Geography 1(1), S. 15-27. Sablowski, Thomas (2011), Krise und Kontinuität des finanzmarktdominierten Akkumulationsregimes, Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie 55(1/2), S. 50-64. Weber, Alfred (1909), Über den Standort der Industrien. Erster Teil: Reine Theorie des Standorts, Tübingen: J.C.B. Mohr. 272

Terminal

»Der Mensch führt sein Leben und errichtet seine Institutionen auf dem festen Lande. Die Bewegung seines Daseins im ganzen jedoch sucht er bevorzugt unter der Metaphorik der gewagten Seefahrt zu begreifen.« (Blumenberg 1979, S. 9) Wenn das stimmt, sollten Analysen, die nach einem Zusammenhang von Erfahrungen und Institutionen suchen, in der Mitte, im Dazwischen ansetzen. Einer dieser Orte ist der (oder »das«) Flughafenterminal. Ein Obdach im Terminal. Terminals sind in der Regel nicht bewohnt, aber das liegt nicht an der fehlenden materiellen Ausstattung dieser Zwischenräume. In den 1960er Jahren haben sich an US-amerikanischen Großflughäfen mehrere hundert Obdachlose aufgehalten. Terminals bieten ein Obdach mit vielen Qualitäten: saubere Toiletten, abseits der Spitzenzeiten verwaist und darum für eine private Nutzung besonders geeignet; Lebensmittelreste oder Lebensmittelgaben durch die Flughafen-Mitarbeiter, die sich solidarisch zeigen; über 24 Stunden öffentlich zugängliche Räume, die im Sommer klimatisiert und im Winter geheizt werden (Hopper 2003, S. 124f.). Jenseits der materiellen Bedingungen sind Terminals Orte, an denen Obdachlose nicht auffallen. Auch Nicht-Obdachlose lassen sich auf dem Boden zum Schlafen nieder oder kramen in ihrer Wäsche; Flughäfen sind dafür ausreichend sauber; es ist völlig normal, Taschen, Gepäck und einen Gepäckwagen mit sich zu führen; wer also halbwegs sauber und rasiert ist, kann in einem Terminal unauffällig als Obdachloser leben (ebd.). Unabhängig davon, wie viele Personen in jüngerer Zeit an Flughäfen ein Obdach gefunden haben, hat eine Beobachtung zweifellos Bestand: Flughäfen (also Terminals) bieten ein Milieu, in dem sich auf sichtbare Weise Privatheit und Öffentlichkeit vermischen. Es überrascht daher etwas, dass Terminals Orte sind, die sich der qualitativ-sozialwissenschaftlichen Beschreibung weitgehend entzogen haben. Marc Augé (1994) hat die Probleme der historiografischen und ästhetischen Repräsentation zum Teil der Beschreibung gemacht. Flughafenterminals seien geschichtslose »Nichtorte«. Andere sind, teils entgegen ihrer Gewohnheiten, zu höchst introspektiven Schilderungen übergegangen. Terminals schwinden in solchen Schilderungen zu Variationen einer befremdlich kitschigen Geschichte

273

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

der Vereinsamung. Diese Flughäfen sind eine Erfindung schlechter Individualisierungsforschung, die sich für das mobile und moderne Subjekt interessiert und herausfindet, dass es in der Regel einsam und männlich ist. Für die Empirie dieser Arbeiten muss oft der Autor selbst herhalten, der am Flughafen seiner Neigung zur Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung nachgibt: »No carpeting, no cosy rooms, no indirect lighting. In the middle of the cold beauty of this airport passengers have to face their terrible truth: they are alone, in the middle of the space of flows, they may lose their connection, they are suspended in the emptiness of transition.« Soweit Manuel Castells (1996, S. 421), der am Flughafen von Barcelona nach einer ästhetischen Beschreibung sucht, die den unerhört abstrakten Vorgang vom Aufstieg der Netzwerkgesellschaft greifbar macht. Weitere Kostproben ließen sich anführen, die offensichtlich durch Selbstfindungsprozesse ihrer Autoren beherrscht und überformt sind. Es lohnt sich schon deshalb, den Problemen der Repräsentation nachzugehen, weil davon auszugehen ist, dass die Passagen und die Blickbeziehungen zwischen Luft und Land noch in ähnlicher Weise zur ästhetischen, literarischen und philosophischen Reflexion anregen werden wie das Verhältnis von Land und Meer. Für den Küstenverlauf gilt, dass er »nicht als einheitliches, sondern als vielheitlich wahrgenommenes Gebilde […] je nach Situation und Zeit zu betrachten [ist]« (Feldbusch 2003, S. 27). Diese Vielheit »stapelt« sich im Gestade. Hier »überlagern und verbinden« sich »Praktiken der Annäherung, der Überschreitung, der Ein- und Ausgrenzung, der Kontrolle und Inblicknahme, Gesten des Abschieds, der Sehnsucht und des Vergnügens zu einem Ensemble von Aussage- und Verhaltensweisen« (ebd., S. 29). »Insofern dabei das Schiff das Vehikel ist, um die Grenzüberschreitung zu vollziehen, um abzureisen oder anzukommen, stellt es laut Foucault ›das größte Imaginationsarsenal‹ dar.« (Ebd.) Im Fall der Küste blieb die ästhetische »Aufladung«, die damit einherging, nicht folgenlos: Sie hat ein von Angst besetztes »Territorium der Leere« zu einem Ort des Verlangens und der »Meereslust« transformiert (Corbin 1990). Ästhetische und ästhetisierende Projektionen zu Flughäfen sollten darum nicht abgetan werden, sondern eine topografische und historiografische Erforschung von Terminals weiter ermutigen. Vorerst lässt sich jedoch kaum bestreiten, dass die alte Ordnung der Räume und ihrer Zwischenräume noch intakt ist. Weder ist es so selbstverständlich, den Flughafen als ein »Zuhause« zu gewinnen, wie es die günstigen materiellen Umstände erwarten lassen (Hopper). Noch müssen unter diesen Bedingungen gleich alle Reisenden zu Obdachlosen erklärt werden (Castells). Die Schlange im Terminal. Der Flugverkehr bietet, viele Terminals eingeschlossen, ein spektakuläres Kapitel Designgeschichte. Etliche Terminals sind in der Tat so gestaltet, dass man in Ruhe vom Fliegen träumen könnte. Dieser Traum wird jedoch durch Unsicherheit und darauf reagierende Sicherheits274

Terminal

maßnahmen erheblich gestört (Molotch 2012). Ein Ort, an dem dies besonders deutlich wird, ist die Schlange vor den Sicherheitskontrollen. Auch anderswo, vor Museen, am Eingang von Stadien, vor stark frequentierten Klubs, müssen viele Leute in der Schlange auf Sicherheitskontrollen warten: aber am Flughafen warten »Passanten«, denen die Reise erst noch bevorsteht, und sie warten nicht auf eine gemeinsame Veranstaltung. Diese Schlangen sind (wie andere auch) potenzielle Anschlagsziele, wahrscheinlich gefährlicher als die Flugzeugkabinen »hinter« den aufwendigen Kontrollen, die den Passagieren noch bevorstehen. In der Schlange stehen also zum Teil noch nicht identifizierte Leute, die Waffen oder Sprengstoff mit sich führen können. In Erwartung der Sicherheitskontrollen sind viele Leute in der Schlange nervös. Selten kommt in diesen Schlangen so etwas wie intelligente Interaktion vor, fast nie gegenseitige Hilfeleistungen. Sehr viel verbreiteter ist Mimikry: In der Unsicherheit darüber, was genau zu tun ist, orientieren sich viele an ihren Vorgängerinnen und Vorgängern: die Brille ablegen, die Schuhe ausziehen, den Gürtel herausziehen. Die Schlange ist ein anschaulicher Beleg dafür, wie im Namen der Sicherheit Unsicherheit geschaffen wird (ebd.). Das hat wenig mit der kontemplativen Haltung zu tun, die in der sozialwissenschaftlichen Literatur an und über Flughäfen anzutreffen ist: Allein sitzen, warten, den Blick schweifen (Castells 1996) und einen geschichtslosen Nichtort auf sich wirken lassen (Augé 1994), sich auf ein ungewöhnlich persönliches Gespräch einlassen (Sennett 2000), sich treiben lassen, als sei der Flughafen eine Innenstadt (Gottdiener 2001). Selten einmal kommt die Perspektive der Engel und Boten selbst zum Zuge – also derer, die für Zirkulation sorgen und den Flugbetrieb am Laufen halten (Serres 1995). Aber auch dieser Text ist eine »Legende« und verströmt Zeitlosigkeit. Wenn es darum geht, Verkehr und Mobilität von ihrem spezifischen Gegenteil her zu beschreiben, dann sind Stillstand, Stau und Schlangen interessante Kandidaten. Die Interaktionsordnung in der Schlange ist dadurch geprägt, dass die entscheidende Interaktion mit der Autorität der Sicherheitskontrolle noch bevorsteht (Schwartz 1975). Bis dahin beschränkt sich Interaktion weitgehend auf Interaktionsvermeidung. Keine Scherze, keine Andeutung von Hilfsbereitschaft, kein Blickkontakt. Schlangestehen hat in dieser Hinsicht Ähnlichkeiten mit Aufzug fahren (Hirschauer 1999); auch die Schlange verlangt den Beteiligten ab, für längere Zeit auf (etwas weniger) engem Raum zusammenzustehen. Diese Kompetenz unterscheidet sich deutlich von der Großstadtkompetenz des Flaneurs. Es kommt hier weniger darauf an, in größter Nähe Unterschiede ertragen zu können; umgekehrt setzt das gekonnte Von-Unterschieden-Absehen (Blasiertheit) eine Beweglichkeit voraus, von der in der Schlange keine Rede sein kann. Die Zumutung, die echte Großstädter in Freiheit umzuwandeln wissen, findet womöglich irgendwo an Flughäfen eine Entsprechung – aber nicht in den Schlangen. Dort nähert sich die Herrschaftsform einer totalen Institu275

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

tion an. Alle sind darum bemüht, möglichst normal zu wirken und verstärken durch ihre Selbstdarstellungsarbeit noch diese Normalitätsaufforderung. Während sich Großstädte förderlich auf das Geistesleben auswirken, macht Schlangestehen dumm. Kaum jemand würde für sich in Anspruch nehmen, in der Schlange zu datenreichen und differenzierten Wahrnehmungen fähig zu sein; der Normalitätssinn ist so angespannt, dass er keine äußere Differenz mehr findet und sich tatsächlich nur noch an einer geschlossenen Situation orientiert. Wenn es stimmt, dass Schlangen vor den Sicherheitskontrollen den Charakter einer totalen Institution ausbilden, dann wäre das auch unter Sicherheitsgesichtspunkten eine zweifelhafte Entwicklung. Wie ließe sich Reflexivität zurückgewinnen? Was sind die interaktiven Grundlagen für effektive Wachsamkeit oder den sechsten Sinn (Potthast 2011) für eine tatsächlich gefährliche Situation? Je mehr Passanten in der Schlange nervös sind, desto unauffälliger und darum gefährlicher ein Passant, der tatsächlich böse Absichten verfolgt. Die erwähnten sozialwissenschaftlichen Berichte vergewissern sich eines Ortes der Gegenwart, um dann doch Texte abzuliefern, die im Modus der Nachträglichkeit (wenn nicht der Melancholie) verfasst sind. »Früher« (so lehrt uns der Flughafen) gab es Normalerwerbsbiografien, stabile Beziehungen, intakte Familien und so weiter. George Clooney hat dem eine vorerst unübertroffene, zynische Variante hinzugefügt (Up in the Air 2009). Dagegen fehlt es an einem ethnografischen Präsens, das auch Zustände verminderter Reflexivität einfängt und emotional eigentümlich flachen Erfahrungen gerecht wird. In der Schlange verhalten sich Passagiere so, als wären sie zum Schweigen verurteilt (ähnlich wie im Aufzug). Es stimmt, dass den Reisenden nicht immer eine gemeinsame Sprache zur Verfügung steht. Aber das allein erklärt nicht, warum die überwiegende Mehrzahl der Reisenden die Sicherheitskontrollen vollkommen wortlos passiert, ganz so, als hätte die Schlange ihr Sprachbewusstsein affiziert. Auch Berührungen sind selten; wenn sie passieren und bemerkt werden, werden sie rasch als unabsichtlich (und zum Beispiel durch mitgeführte Gepäckstücke verursacht) gerahmt. Das Terminal im Terminal. »The modern airport is an awesome space that speeds up this contemporary process of transient social interaction.« (Gottdiener 2001, S. 31) Viel Beweislast für diese Behauptung liegt auf der Beobachtung, dass unzählige Passagiere mit mobilen elektronischen Geräten hantieren, allesamt kleine Terminals im Terminal: »[T]he uncaring, detached, self-contained individual armed with laptop, Walkman, credit cards, cellular phone, Palm Pilot, and business agenda.« (Ebd., S. 34) Der Autor möchte die Frage, ob Flughäfen daran beteiligt sind, einen neuen Sozialcharakter zu schaffen, mit Ja beantwortet wissen: Beschleunigung, Individualisierung, Isolation und Anonymität: in dieser Hinsicht seien Flughäfen, zu riesigen Dienstleistungsinfrastrukturen herangewachsen, nicht nur ein Anhängsel von Städten, sondern Städte in Extremform (ebd., S. 37).

276

Terminal

Flughäfen als Orte zu entdecken, verschont offenbar nicht davor, gängige Individualisierungsthesen des Orts- und Raumverlustes einfach fortzuschreiben. Ein Vorschlag, die Topografie von Flughäfen ernster zu nehmen, setzt bei der doppelten Definition im Fremdwörterbuch des Dudens an, der zufolge Terminals erstens Umschlagplätze für Güter (Schiffs- oder Eisenbahnverkehr) oder Abfertigungshallen für Passagiere (Flugverkehr) sind (eher »der« Terminal) – und zweitens Ein- und Ausgabeeinheiten von EDV-Anlagen (eher »das« Terminal). Die Frage ist dann, wie sich beides aufeinander bezieht. Auf der einen Seite die Prozesse der Abfertigung von Personen und ihrem Gepäck: Parkplätze, CheckIn, Zoll, Passkontrolle, Immigration, Einzelhandel, Sicherheitsschleuse, Gepäckaufgabe, -sortierung und -ausgabe, Bahnanschluss mit jeweils beträchtlichem Raum- und Zeitbedarf; auf der anderen Seite der Aufbau und die Pflege von Datenbanken, die Verknüpfungen zwischen diesen Vorgängen möglich machen. Zum Teil betrifft dies Abläufe im Weltmaßstab, also zum Beispiel Reservierungssysteme und Datenbanken der Sicherheitsbehörden. Andere reichen nicht über das Flughafengelände hinaus, wenn etwa Daten, die bei Transaktionen an den Parkplätzen oder im zollbefreiten Einzelhandel anfallen, erfasst und für Sicherheitsprüfungen verfügbar gemacht werden (Shanks und Bradley 2004, Kapitel 7). Oder wenn angeregt wird, Bilder von Passagieren anzufertigen, um die Zusammenführung von Personen und Gepäckstücken vor dem Flug mit biometrischen Mitteln verlässlicher zu machen (ebd.). Umgekehrt wird Flughafenbetreibern empfohlen, die Nutzung privater Mobiltelefone nach dem Flug bis zur Gepäckausgabe einzuschränken, um auf diese Weise den Schmuggel mit verbotenen Gütern zu erschweren (ebd.). In den genannten Beispielen geht es um Geografien und Datengeografien – und um die Frage, ob sie sich ergänzen oder ins Gehege kommen. Wer dies untersuchen möchte, kann sich nicht darauf beschränken, die privat genutzten mobilen Computer und Telefone zu erwähnen, um dann im nächsten Satz von Beschleunigung, Vereinsamung und Individualisierung zu sprechen. Vielmehr ist das Geflecht aus Dateneingaben und -ausgaben, von Monitoren und Kameras und Kontrollräumen zu beschreiben. Das auffälligste Terminal im Terminal ist sicher die große Anzeigetafel: Hier fließen, in komprimierter Form und vielerorts durch sakrale architektonische Formsprache hervorgehoben, Informationen über Anschlüsse zusammen: als schrumpfte die vernetzte Welt in Echtzeit auf ein einziges Monitor-Terminal. Die zentrale Anordnung dieser visuellen Darstellung simuliert eine einheitliche Logik des Betriebs. Dabei setzt schon ihre Bereitstellung mehr als ein Terminal voraus. Hinter der Anzeigetafel sind weitere Bildschirme; die meisten davon stehen in Kontrollräumen mit Eingabe- und Ausgabeplätzen. Auch wenn in diesen Kontrollräumen, die mit ganzen Bildschirmwänden ausgestattet sind, mehrere Teilprozesse am Flughafen zusammenlaufen, kann auch hier von Einheit und Zentralisierung keine Rede sein. Flughafenterminals verfügen über mehrere 277

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Kontrollräume, die oft in der Nachbarschaft der zu überwachenden Prozesse angesiedelt sind; die Zahl der Kontrollräume und der Monitore multipliziert sich noch einmal bei Flughäfen, die sich auf mehrere Terminals verteilen. Kurzum: Die Terminalarchitektur mag auf ein Terminal (die Anzeigetafel) zugeschnitten sein; zugleich umfassen Terminals ausgedehnte Netzwerke von Orten und Ortsbeziehungen (Potthast 2007). Diese Netzwerke nun als Schaltkreise oder ähnliches abzubilden, bringt keinen Erkenntnisgewinn. Aufschlussreicher ist es, nachzuvollziehen, welchem Muster das Wachstum dieser Netzwerke in den letzten Jahren und Jahrzehnten gefolgt ist. Wenn ein »Terminal« einmal im wörtlichen Sinn ein Umschlagpunkt war, dann hat sich dieser Punkt sukzessive entlang dreier Schnittstellen ausgedehnt: Seit den 1980er Jahren rasch zunehmend als Infrastruktur »Luft/Luft«, das heißt zur Abfertigung von Transferpassagieren (»Hubs«); in der Folge, als Flughäfen um ihre Einzugsgebiete zu konkurrieren begannen, an der Schnittstelle »Land/Luft« (intermodale Verkehrsplattformen, zum Beispiel Flughafenbahnhöfe); schließlich an der Schnittstelle »Land/Land«, denn viele Dienstleistungen, die sich an den vorgenannten Schnittstellen anlagern, generieren auch ausschließlich landseitigen Verkehr. Diese Entwicklung macht laufend Neubestimmungen des »Küstenverlaufs« erforderlich. Immer wieder musste eine Passung zwischen territorialen und netzwerkbezogenen Operationen hergestellt werden. Die Voraussetzungen für das Wachstum des Flugverkehrs seit 1980 liegen darum weniger in der Luft (Reichweite, Geschwindigkeit und Kapazität der Flugzeuge), als vielmehr auf Flughöhe Null. Die üblichen Statistiken abstrahieren von den terrestrischen Infrastrukturen, die dieses Wachstum mitgemacht und ermöglicht haben. Eine gehaltvolle Erklärung dieses Wachstums kann diese Ortshaftigkeit nicht unterschlagen. Manuel Castells und andere haben unrecht, wenn sie behaupten, dass sich das Verhältnis von Netzwerk und Territorialität fundamental und wie folgt verändert hat: Technische Netzwerke dehnen sich in globalem Maßstab aus und unterwerfen Orte, die bis dahin für Identität und Geschichte gebürgt haben, einem Diktat der spaces of flow. Wie der globalisierte Finanzkapitalismus trägt der Flugverkehr zum Schrumpfen der Welt bei; dabei entstehen aber neuartige Ballungsräume mit eigenen Vernetzungsanforderungen. Das Problem der Vermittlung von Netzwerk und Territorialität taucht also auf der Ebene der Knotenpunkte wieder auf. Mikrofundierte Analysen der Globalisierung können sich dies zunutze machen. Ein Terminal ist, das zeigen die vorangehenden Ortserkundungen, viel mehr als »ein« Terminal. Einige Repräsentationsprobleme, die sich in sozialwissenschaftlichen Texten nachweisen lassen, gehen darauf zurück, dass sie eine rein technische Repräsentation für möglich halten: Als hätte ein Terminal jederzeit ein vollständiges Bild von sich selbst. Jörg Potthast 278

Terminal

L ITER ATUR Augé, Marc (1994), Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt a.M.: Fischer. Blumenberg, Hans (1979), Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Castells, Manuel (1996), The Information Age: Economy, Society, and Culture. Volume 1: The Rise of the Network Society, Oxford und Malden: Blackwell Publishers. Corbin, Alain (1990), Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste, 1750-1840, Berlin: Wagenbach. Feldbusch, Thorsten (2003), Zwischen Land und Meer. Schreiben auf den Grenzen, Würzburg: Königshausen & Neumann. Gottdiener, Mark (2001), Life in the air: surviving the new culture of air travel, Boston: Rowman and Littlefield. Hirschauer, Stefan (1999), Die Praxis der Fremdheit und die Minimierung von Anwesenheit. Eine Fahrstuhlfahrt, Soziale Welt 50(3), S. 221-246. Hopper, Kim (2003), Reckoning with homelessness, Ithaca: Cornell University Press. Molotch, Harvey (2012), Against security: How we go wrong at airports, subways, and other sites of ambiguous danger, Princeton: Princeton University Press. Potthast, Jörg (2007), Die Bodenhaftung der Netzwerkgesellschaft. Eine Ethnografie von Pannen an Großflughäfen, Bielefeld: transcript. Potthast, Jörg (2011), Sense and security. A comparative view on access control at airports, Science, Technology & Innovation Studies 7(1), S. 87-106. Schwartz, Barry (1975), Queuing and waiting: studies in the social organization of access and delay, Chicago: University of Chicago Press. Sennett, Richard (2000), Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin: btb Verlag. Serres, Michel (1995), Die Legende der Engel, Frankfurt a.M.: Insel. Shanks, Norman E. L. und Alexandre L. W. Bradley (2004), Handbook of checked baggage screening: advanced airport security operation, London: Professional Engineering.

279

Toleranzgebiet

Toleranz ist in. Weltweit verfolgen Städte unterschiedliche Strategien zur Förderung der »Kreativen Klasse«. Sie tun dies insbesondere, seit Richard Florida (2002) den tolerance index als Indikator für die ökonomische Prosperität von Städten propagierte: ein zusammengesetztes Maß aus Schwulen-, Migrant_innen- und Kreativindustrieanteil sowie sozialräumlicher ethnischer Mischung in der Stadt. Vorrangig »bunte«, konsumkompatible Formen der Abweichung von herrschenden sozialen Normen werden im Rahmen dieser neuen Toleranz als Diversität vermarktet. Dies sind zum Beispiel die Orte der schwul/lesbischen weißen Mittelklasse oder traditionsreiche zentraleuropäische Rotlichtviertel, wie sie in Amsterdam oder Hamburg zu finden sind. In Ausnahmefällen gilt sogar die Präsenz von Obdachlosen, also bittere Armut, als Wohnstandortfaktor (Füller und Marquardt 2008). Die neue Toleranz konkurriert im Rahmen städtischer Neoliberalisierung einerseits mit einer neuen Intoleranz. Unter dem Label zero tolerance erregte im Laufe der 1990er Jahre eine neue New Yorker Polizeistrategie unter Bürgermeister Rudolph Giuliani und Polizeichef Bill Bratton weltweit Aufmerksamkeit und stimulierte Nachahmungsversuche: das Polizieren bereits kleinster Normverstöße und Zeichen der »Unordentlichkeit« von Raum oder Verhalten. Legitimiert wird diese Politik mit der »Broken Windows Theory« (Wilson und Kelling 1982). Straßenprostituierte, Drogenkonsument_innen und/oder Obdachlose ebenso wie Müll oder Graffiti gelten demnach als Zeichen der »Unordnung«, die – doch das bleibt empirisch unbestätigt – schweres Verbrechen anziehen würden. Hintergrund der neuen Intoleranz bildet wie beim Toleranzindex eine ökonomische Rationalität. Angesichts verschärfter Städtekonkurrenz und Verunsicherung der Mittelschichten durch sozioökonomische Krisen verstärkten Städte im Laufe der 1990er Jahre die Bemühungen um ein hohes Sicherheitsund Sauberkeitsgefühl. Denn der Zuzug von Unternehmen, Mittelklassewohnen und Stadttourismus soll die Steuerbasis verbessern (Hubbard 2004). Andererseits koexistiert die Vermarktung von Diversität jedoch auch mit (und, so wird im Folgenden noch gezeigt, profitiert von) dem Erbe einer ganz alten (In-)Toleranz: sozialhygienischen Vorstellungen über die »Ansteckung« 280

Toleranzgebiet

an normabweichendem Verhalten durch räumliche Nähe. Sperrbezirke und Toleranzgebiete zur räumlichen Regulierung der Prostitution sind ein Ausdruck davon. Formen der räumlichen Ausgrenzung und lokalen Tolerierung von Prostitution sind spätestens seit der Antike dokumentiert. Doch die modernen Vorläufer und Wegbereiter der Toleranzgebiete entstanden nicht zufällig zu Zeiten der Industrialisierung und Verstädterung, zu der Armut wie Prostitution boomten. Im späten 18. Jahrhundert entwickelte sich in Deutschland ein System der »Reglementierung« nach französischem Vorbild. Dieses erlaubte Prostitution in staatlich kontrollierter Form (statt sie zu verbieten, aber informell zu tolerieren). Prostitution galt als »Sicherheitsventil« des vermeintlich nicht zu bremsenden männlichen Sexualtriebs – frei nach dem meist Thomas von Aquin zugeschriebenen Motto: »Entferne die Kloake, und der gesamte Palast wird von Krankheiten befallen.« (Frank 2003, S.  131) Zwecks moralischer Abgrenzung wurde Prostitution räumlich von der »bürgerlichen Welt« getrennt. Zur Verhinderung von Geschlechtskrankheiten unterlag sie medizinischer Kontrolle. Im Zuge der »Reglementierung« entstanden die Bordellgassen – kleine Orte der Tolerierung von Prostitution am sozialräumlichen Rand von Städten, welche Prostitution im Übrigen verboten. Modell stand in Deutschland die Bremer Helenenstraße. Am bekanntesten ist die Hamburger Herbertstraße (damals Heinrichstraße). Die »Kontrollmädchen« mussten entsprechend der lokalen sittenpolizeilichen Auflagen meist in Bordellen wohnen. Sie unterlagen Gesundheitskontrollen sowie vielerorts Verhaltensauflagen und Betretungsverboten für bestimmte öffentliche Räume. Räumliche Konzentration und sittenpolizeiliche Registrierung erlaubten zugleich eine Kontrolle aller Frauen im öffentlichen Stadtraum. Denn Frauen mussten ihren Aufenthalt auf der Straße, insbesondere nach Einbruch der Dunkelheit, gegenüber der Sittenpolizei erklären. Die Kontrollinstrumente dienten damit der Durchsetzung moderner Geschlechterverhältnisse auf der Basis der Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit (ebd.). Die abolitionistische – das heißt auf Abschaffung der (Kontroll-)Prostitution gerichtete – feministische Bewegung erwirkte in vielen westeuropäischen Ländern eine Reform des Prostitutionsrechts. In Deutschland wurde 1927 Prostitution ohne polizeiliche Registrierung erlaubt (vergleiche zu den Rechtsreformen Hartmann 2006). Eine Kasernierung in bestimmten Straßen oder Häusern verbot das Gesetz ausdrücklich (§ 17 GeschlKrG). Doch die lokalen Polizeien wollten das Kontrollinstrument nicht einfach aufgeben. Im Nationalsozialismus wurde das System der Kasernierung zunächst regional, ab 1940 deutschlandweit reinstituiert – wenngleich in versteckter Form: Die Bordellgassen erhielten Sichtblenden. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte das Strafrecht von nationalsozialistischem Gedankengut bereinigt werden. Zudem drängten die Städte auf eine Ermächtigungsgrundlage zur lokalen räumlichen Kontrolle der Prostitution. Denn in der Nachkriegszeit boomte die Prostitution erneut und der Bundesgerichtshof hatte städtische Verbotsverordnungen auf der Basis von Landesrecht 281

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

aufgehoben. Ein Verbot der Prostitution war laut Bundesgesetz nur in Gemeinden unter 20.000 Einwohner_innen möglich – eine Regelung, die zum Schutze der ländlichen Gemeinden nach Wegfall des Systems der Reglementierung gedacht war, denn, so dachte man, in Dörfern und Kleinstädten wirke »schon eine einzige Dirne verwirrend und sittlich schädigend auf die ganze männliche Jugend«. (Plenarprotokoll der III. Wahlperiode des Reichstags, S.  8705, zitiert nach: Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz 8. Senat, Urteil vom 17. Juli 2002, Aktenzeichen: 8A10692/02) In der Reformkommission konnten sich Stimmen, die eine Rückkehr zur Reglementierung oder den Erhalt des NS-Rechts der Kasernierung forderten, nicht durchsetzen (Hartmann 2006). Die Lösung war ein Kompromiss: Laut reformiertem § 361 Nr.6c StGB konnten die Landesregierungen die höheren Verwaltungsbehörden zum Erlass von Sperrgebietsverordnungen ermächtigen. Doch die Kasernierung in einzelnen Straßen oder Häuserblocks wurde erneut verboten. Ein gänzliches Verbot von Prostitution war weiterhin nur in Gemeinden mit weniger als 20.000 Einwohner_innen erlaubt. Doch auch größere Gemeinden konnten neuerdings Prostitution verbieten – allerdings nur in einzelnen Bezirken. Was als grundsätzliche Erlaubnis der Prostitution mit Ausnahmen formuliert war, kehrte sich in der Praxis bald ins Gegenteil um: Prostitution wurde in vielen Großstädten in weiten Teilen des Stadtgebiets verboten, mit kleinräumlichen Ausnahmen (oft vorrangig die in Zeiten der Reglementierung entstandenen Bordellgassen). So entstanden die Toleranzgebiete – als »Negativ« und Legitimation der Intoleranz im Sperrbezirk. Im Laufe der 1970er Jahre flexibilisierte der Bundestag das Regulierungsinstrument auf Druck von Städten wie Hamburg und etablierte die Toleranzgebiete damit zugleich: Geschaffen wurden Möglichkeiten zur tageszeitlichen und räumlichen Differenzierung (vor allem nur zum Verbot der Straßenprostitution, nicht aber der Bordellprostitution). Bis heute ist die räumliche Konzentration von Prostitution durch lokale (Sperrbezirks-)Verordnungen »zum Schutz der Jugend oder des öffentlichen Anstandes« – so der reformierte Art. 297 EGStGB – möglich. Toleranzgebiete gibt es seither in allen deutschen Großstädten – außer in den Städten Berlin und Rostock, die Prostitution überall tolerieren. Eine andere Geschichte darüber, wie die Toleranzgebiete – für Straßenprostitution – entstanden, stammt aus den Niederlanden. Ob sie in dieser Form stattgefunden hat, ist ungewiss. Doch als Narrativ macht sie Geschichte: »In the mid-1980s, in the city of Rotterdam, a police officer had finally had enough of the constant bickering with streetwalkers over their right to ply their trade in a thoroughfare near a residential area. In utter frustration he took a piece of chalk and literally drew the line. ›From now on, you can solicit clients only on this part of the Street. You’d better toe the line.‹ In one stroke, and on the spot, provisional solution for the problem of streetwalking was created. Later it became institutionalized in the so-called designated streetwalking zones or safe

282

Toleranzgebiet

areas. A Dutch policy innovation was born: the Tippelzone.« (Wagenaar und Altink 2009) Der Story entsprechend entstand die Tippelzone mit dem Ziel, Straßenprostitution aus Wohngebieten fernzuhalten – ähnlich den deutschen (allerdings häufiger Indoor-Prostitution erlaubenden) Toleranzgebieten. Doch zum Policy-Exportschlager wurde sie später unter Rückgriff auf ein anderes Narrativ: Das Modell versprach Sicherheit für alle; win-win. Anwohner_innen sollten vor Lärmemissionen und dem Anblick von Prostitution geschützt werden und Sexarbeiter_innen vor gewalttätigen Kund_innen und Zuhälter_innen. Von Rotterdam reiste die Idee in verschiedene niederländische Städte – besonders bekannt ist im deutschen Diskurs die Tippelzone der Stadt Utrecht von 1986. Als viele niederländische Städte ihre Tippelzonen bereits wieder abgebaut hatten, nahm die Stadt Köln 2001 das Utrechter Modell zum Vorbild. Sie verlagerte den Straßenstrich an den Stadtrand und schaffte ein Toleranzgebiet für Straßenprostitution. Kein Novum. Doch als erste deutsche Stadt installierte sie dort nach niederländischem Vorbild umfassende Infrastruktur: Es gab nicht nur die auch andernorts übliche sozialarbeiterische Betreuung sowie Duschen, Aufenthaltsräume und einen Getränkeautomat, sondern auch Garagen für die Ausführung sexueller Dienstleistungen im Auto. In den Medien firmierten die zum Schutze der Sexarbeiter_innen mit Sicherheitsalarm ausgestatteten halboffenen Scheunen bald als »Verrichtungsboxen«. Andere nordrhein-westfälische Städte folgten dem Beispiel: Dortmund erweiterte 2006 den schon 2000 verlagerten und legalisierten Straßenstrich um eine ähnliche Scheune (entfernte diese allerdings 2011 bereits wieder, erklärte das Gelände zum Sperrgebiet und begrenzte damit das »Dortmunder Modell« der Förderung einer hinsichtlich aller Rechtsbereiche legal operierenden und kontrollierten, statt im rechtlichen Graubereich tolerierten Prostitution auf den Indoor-Bereich). 2009 eröffnete ein ähnlich organisiertes Gelände in Essen, Anfang 2011 auch in Bonn – dort seit Mitte des Jahres 2011 inklusive Steuerautomaten. Vorrausgegangen waren der Einrichtung der Toleranzgebiete für den Straßenstrich – neben gewalttätigen Übergriffen auf Sexarbeiter_innen in Köln – regelmäßige Proteste von Anwohner_innen, vor allem gegen drogenkonsumierende und osteuropäische Straßenprostituierte im Sperrgebiet. Dementsprechend kombinieren die neuen Toleranzgebiete für Straßenprostitution in widersprüchlicher Weise Elemente der Fürsorge mit Elementen der Verdrängung in städtische Randgebiete. Toleranzgebiete haben also vielfältige Ursprünge und Gesichter. Meist tragen sie ausgrenzende bis wegschließende Züge, bestenfalls paternalistisch-fürsorgliche oder sorglos-vermarktende. Was heißt es also, von Toleranz zu reden? Vor dem Hintergrund der Erfahrung des Nationalsozialismus beschäftigte sich die Frankfurter Schule der Kritischen Theorie mit dem Verhältnis von Demokratie und Toleranz. Herbert Marcuse kritisiert in seinem berühmten Essay Repressive Toleranz von 1965 sowohl die Einschränkung von Toleranz gegen283

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

über oppositionellen Kräften als auch die Ausweitung einer passiven Toleranz der etablierten Politik gegenüber anti-demokratischen Kräften. Zu viel und zu wenig Toleranz werden demnach problematisiert. Doch ist mäßige Toleranz gut? Toleranz beruht qua Definition auf Abwertung, genauer: hierarchischen Kategorien der Unterscheidung von Selbst und Anderen. Aufgewertet wird das »tolerante« Selbst im gegenwärtigen westlichen Diskurs wahlweise gegenüber zwei Gruppen (Brown 2008): Erstens den »Intoleranten«. Diese gelten dann typischerweise als »barbarisch«, das heißt den westlichen zivilisatorischen Standards nicht entsprechend. Zweitens den »Tolerierten«, die als anders und störend abgewertet werden. Wer Menschen oder ihre Praktiken nicht als »anders« wahrnimmt oder Differenz wertschätzt, braucht nicht zu tolerieren. Toleranzgebiete sind die Verräumlichung einer solchen Abwertung. Doch welche Form diese Abwertung annimmt, unterliegt historischen Veränderungen. Und es ist grundsätzlich denkbar, dass die ausgegrenzten Räume Ausgangspunkt gesellschaftlichen Wandels werden. »Heterotopie« nannte Michel Foucault (2006 [1967]) den Ort ohne (legitime) Repräsentation – das Gegenteil der Utopie, der Idee ohne Ort. Das Land, das nicht sein darf. Bordelle galten ihm als zentrales Beispiel für eine Form der Heterotopie, die über (stadträumliche) Ausgrenzung des Anderen, Normalität (im Rest der Stadt) herstellt. Die räumlich vermittelte Herstellung von Normalität kann auf verschiedenen Mechanismen beruhen: Erstens »Verunsichtbarung«. Dies heißt im Falle des Sexgewerbes meist räumliche Verdrängung an den Stadtrand oder in die Wohnungsprostitution. Zweitens »ans Licht zerren«, das heißt die sichtbare Konzentration von Prostitution an stadträumlich zentralen, aber sozial marginalisierten Orten. In Der Wille zum Wissen zeigt Foucault (1991 [1976]), dass Sexualität in westlichen Gesellschaften keineswegs unterdrückt beziehungsweise aus dem Diskurs ausgeschlossen ist. Vielmehr wird sie in einer Doppelbewegung von Tabuisieren und Beichten beständig ans Licht gezerrt und als Dispositiv der Macht hervorgebracht. Eine weitere Form der Sichtbarmachung ist – drittens – die »Exotisierung«, also die Kategorisierung von Menschen als »fremd« und zugleich »interessant«. Letztere wird in der neoliberalen Stadt zunehmend monetär vermittelt. Denn die hegemoniale neoliberale Logik der Profitsteigerung durch Ausweitung von Marktrationalität, Wettbewerb und Eigenverantwortung ist opportunistisch, nicht moralistisch. Verschärfte Kontrolle und Verdrängung – paradigmatisch symbolisiert durch die Nulltoleranz-Politik New Yorks in den 1990er Jahren – finden in der neoliberalen Stadt dort statt, wo artikulations- oder kapitalstarke Interessengruppen sich an Prostitution stören (wie zum Beispiel der familienorientierte Disneykonzern bei seinen Investitionen am New Yorker Times Square). Soweit als ökonomisch relevant geltende Kräfte wie die »Kreative Klasse« normabweichende Sexualität »schick« finden – und dies ist dann selten besonders marginalisierte Prostitution, wie ein Drogenstrich – wird diese neuerdings toleriert oder gar 284

Toleranzgebiet

vermarktet. Der Toleranzindex steht symbolhaft für diesen Paradigmenwechsel zu Beginn der 2000er Jahre, der auch Teile der Prostitution berührt. Beispielsweise entdeckte in den letzten Jahren die Stadtentwicklungspolitik auch die Herbertstraße und ihre Umgebung in St. Pauli, ehemals sittenpolizeilich organisierte Bordellstraße, bis heute Toleranzgebiet, als Potenzial. Denn das Rotlichtviertel ist eine Attraktion für Tourist_innen wie für Partypublikum und zunehmend auch Schaffensort und Wohngebiet der Mittelschichten, nicht zuletzt der »Kreativen Klasse«. Ähnliches gilt für die Rotlichtviertel in Amsterdam und Frankfurt oder den Berliner Straßenstrich an der Oranienburger Straße. Vermarktet – und hier schließt sich der Kreis von neuer und alter (In-)Toleranz – werden hier die Ästhetik und sozialräumliche Struktur, die die alte Ausgrenzung von Prostitution hinterließ. Allerdings – und dieses Schicksal teilen jene Teile des Sexgewerbes, die als »schick« gelten, mit anderen Pionier_innen der Gentrifizierung – langfristig unter Zerstörung derselben. Was bleibt? Toleranzgebiete mögen vor allem dort, wo sie Bordellprostitution erlauben, einen gewissen rechtlichen Schutz für das ansonsten nur wenig regulierte Gewerbe bieten. Denn unter den Bedingungen der Legalisierung kann das Gewerbe lautstark für seine Rechte eintreten; und Sperrgebiete können nur unter Einhaltung rechtlicher Standards durchgesetzt werden (das heißt sie müssen dem Schutz von Jugend oder »öffentlichem Anstand« dienen). Tolerierte Straßenstriche mögen Soziale Arbeit erleichtern und bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen bieten als kriminalisierte. Doch insgesamt gilt: Sperrgebietsverordnungen sind ein Kontrollinstrument, das räumlich statt arbeitsrechtlich reguliert. Die deutsche Hurenbewegung kritisiert seit ihrer Entstehung: Die Kriminalisierung durch Sperrgebiete bedeutet Bußgelder und Haftstrafen für jene, die auf die Straßenprostitution angewiesen sind, vor allem die besonders marginalisierten Drogenkonsument_innen. Kriminalisierung bedeutet unsichere Arbeitsbedingungen auf dem Straßenstrich, weil Sexarbeiter_innen unter Zeitdruck Kund_innen nicht hinreichend auf ihre Gewaltbereitschaft abschätzen können. Die räumliche Konzentration steigert die Macht von Zuhälter_innen und treibt Mietpreise in die Höhe – auch und gerade in den Toleranzgebieten. Was bleibt? Ein freiwilliges Leben von Differenz zuzulassen und die gesellschaftlichen Bedingungen zu schaffen, dass Differenz nicht durch ökonomische Faktoren oder soziokulturelle Ausgrenzung erzwungen wird. Jenny Künkel

285

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

L ITER ATUR Brown, Wendy (2008), Regulating Aversion. Tolerance in the Age of Identity and Empire, Princeton: Princeton University Press. Florida, Richard L. (2002), The Rise of the Creative Class. And How it’s Transforming Work, Leisure, Community and Everyday Life, New York: Basic Books. Foucault, Michel (1991 [1976]), Der Wille zum Wissen, 5. Auflage, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2006 [1967]), Von anderen Räumen, in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg.  v. Jörg Dünne und Stephan Günzel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 317-329. Frank, Susanne (2003), Stadtplanung im Geschlechterkampf. Stadt und Geschlecht in der Großstadtentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts, Opladen: Leske + Budrich. Füller, Henning und Nadine Marquardt (2008), Mit Sicherheit zuhause. Master Planned Communities als Technologie der Exklusion und sozialen Kontrolle, in: Exklusion in der Marktgesellschaft, hg. v. Daniela Klimke, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 145-157. Hartmann, Ilona (2006), Prostitution, Kuppelei, Zuhälterei. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag. Marcuse, Herbert (1965), Repressive Toleranz, in: Kritik der reinen Toleranz, hg. v. Robert Paul Wolff, Barrington Moore und Herbert Marcuse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hubbard, Phil (2004), Revenge and Injustice in the Neoliberal City: Uncovering Masculinist Agendas, Antipode 36(4), S. 665-686. Wagenaar, Hendrik C. und Sietske Altink (2009), To Toe The Line: Street Prostitution as Contested Space, in: Safer Sex in the City. The Experience and Management of Street Prostitution, hg. v. David V. Canter, Maria Iannou und Donna Youngs, Aldershot: Ashgate, S. 155-169. Wilson, James Q. und George L. Kelling (1982), Broken Windows: The Police and Neighborhood Safety, The Atlantic Monthly 249(3), S. 29-38.

286

Übertragungsweg

Übertragbare Krankheiten sind stets von einer doppelten Räumlichkeit gekennzeichnet. Zum einen findet ihre Übertragung von Mensch zu Mensch und gelegentlich von Tier zu Mensch oder umgekehrt in einem sozialen Raum statt, dessen Konfiguration die Verbreitung, die Morphologie und die Definition der Krankheit bestimmt. Zum anderen wird die übertragbare Krankheit seit dem Ende des 19. Jahrhunderts für gewöhnlich durch einen Erreger, ein Bakterium oder einen Virus hervorgerufen. Dessen allgegenwärtige Anwesenheit in einer anderen, mikrobiologischen und natürlichen Räumlichkeit bringt aber auch die Konturen sozialer Welten wieder ins Spiel, wenn diese im Übertragungsweg der Erreger als begrenzte und – manchmal – bedrohte Räume erscheinen. Anhand der Geschichte der Klassifikation von AIDS als Immunschwächesyndrom, das durch einen kausalen Erreger, HIV, hervorgerufen wird, lässt sich nachvollziehen wie unauflösbar diese Räumlichkeiten miteinander verschränkt sind. Dass sich die Geschichte auch dieser Krankheitsklassifikation nicht als kontinuierliche Anhäufung von positivem Wissen darstellt, sondern von konkurrierenden Erklärungsmodellen und mitunter scharfen Auseinander-

287

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

setzungen durchzogen ist, zeigt die vorangestellte Karte. Das »Gallo-Modell« der Ausbreitung von AIDS ist einem AIDS-Atlas von 1992 entnommen, der sich vollständig auf die topologische und historische Ausbreitung des Immunschwächesyndroms bezieht (Smallman-Raynor, Cliff und Haggett 1992). Das Modell von Robert Gallo, einem US-amerikanischen Virologen, der zur Identifizierung von HIV in den frühen 1980er Jahren beigetragen hat, ist den zumeist geographisch ausgebildeten Herausgeber_innen des Atlas allerdings suspekt. Die problematischen Implikationen des Modells, das wahrscheinlich Mitte der 1980er Jahre zirkulierte, sind ihnen daher Anlass, um mit dem Bild die hohe Verfallsrate gültigen Wissens über AIDS zu illustrieren. Denn die darin verarbeiteten Annahmen sind zum großen Teil widerlegt worden. So sind beispielsweise die ersten Fälle in Haiti erst nach der Ausbreitung von AIDS in den USA registriert worden (ebd., S. 145). Das Bild ist also ein Artefakt veralteten und vergangenen Wissens über AIDS und HIV. Die im Gallo-Modell verarbeiteten Vorstellungen bieten sich aber für den vorliegenden Beitrag als ein gutes Beispiel umkämpfter Topologien in der Definition und Klassifikation einer sexuell übertragbaren Krankheit an, die heute in einigen Teilen der Welt längst den Charakter einer chronischen Krankheit angenommen hat. Die Karte, die wie viele andere Karten und Modelle die globale Ausbreitung von AIDS nachvollziehbar machen soll, zeigt zunächst die Bewegungen eines Virus im globalen Raum. Dazu installiert sie einen Raum der Herkunft von AIDS, der als ein anderer, afrikanischer Raum zugleich zum Ort des Zusammenbruchs der Natur-Kultur-Grenze wird. Die Bewegung des Virus von dieser »Urszene« (Herz 2002, S. 29) nach Haiti bedient eine postkoloniale Globalität, in der die Vorstellung von Haiti als historischem Zentrum des Sklavenhandels mit einer angenommenen Ortlosigkeit seiner gegenwärtigen Bewohner_innen verschränkt wird. Die Urlaubsgewohnheiten des US-amerikanischen Homosexuellen wiederum suggerieren tiefe Einblicke in dessen vermeintliche Begehrensstrukturen und die Ankunft des homosexuellen Mannes und der Epidemie im Herzen der USA reaktivieren die uralte Trope des todbringenden schwulen Sex. Die globale räumliche Ausbreitung von HIV benötigt in ihrer Realisierung eine ganze Kaskade sozialer und historischer Räumlichkeiten. Das Virus muss, um sich vom green monkey in das Herz der USA zu bewegen, neben den vermerkten Mutationen eben auch eine Reihe unterschiedlicher Übertragungen aneinanderreihen. Die Beschriftungen der Karte suggerieren soziale Räume, denen damit eine besondere Disposition der Ansteckung zugeschrieben wird. Die globale Szene der Ausbreitung eines Krankheitserregers, der Weg eines Virus über die Welt, wird damit eng mit den Bedingungen der Übertragung von Mensch zu Mensch und von Risikogruppe zu Risikogruppe verknüpft. Entscheidend ist, dass diese Risikogruppen oder -kategorien stets mit sehr konkreten Vorstellungen von Räumen verbunden sind, in denen sich die Übertragung vollzieht. Erweitert man die im Modell dargestellten Risikogruppen der Haitia288

Übertragungsweg

ner und Homosexuellen um Heroin-User und Hemophiliacs (Bluter), so sind nach Alex Preda (2005, S.  190) sämtliche der vom Center for Disease Control 1982 definierten Risikogruppen (die sogenannten »4 H«) an Narrative der Übertragung gebunden, die wiederum einen jeweils spezifischen Ort aufrufen. Die Risikogruppe der Haitianer wurde im Kontext der Slums von Port-au-Prince installiert und mit den schambesetzten Umständen homosexueller Prostitution verknüpft. Heroin-User wurden stets im räumlichen Kontext der sogenannten shooting galleries verortet und homosexuelle Männer als regelmäßige Nutzer von Saunen und Badehäusern porträtiert. Nur die Bluter finden sich im Kontrast dazu in einem klinisch reinen Kontext wieder, in dem verschmutzte Transfusionen das Virus übertragen. Aufschlussreich an diesen Orten und Praktiken ist nun, dass sie in den Fokus geraten, um nicht etwa den Ursprung der Krankheit zu bestimmen und sie gleichsam zu generieren, sondern um den Erreger, das Virus, wissenschaftlich und öffentlich plausibel zu machen. Preda (ebd., S. 209) schlussfolgert dahingehend, dass Räumlichkeit (spatial configurations) für die wissenschaftliche Anerkennung von Kausalität und virologischer agency notwendig sei. Die Stigmatisierungen, die in Gallos Modell stattfinden, sind daher nicht als Bestimmung der Ursache und Herkunft von AIDS misszuverstehen. Es geht dieser Karte eben nicht mehr darum, die alte Trope von AIDS als »Schwulenseuche« wieder neu aufzulegen. Stattdessen dient die Installation von sozial besetzten Übertragungswegen der performativen Hervorbringung des Virus als alleinigem und kausalem Agenten hinter der Epidemie. War AIDS noch Anfang der 1980er Jahr untrennbar mit den sozialen Identitäten, bei denen es zuerst registriert wurde, verbunden, so ist Gallos Modell schon als Einteilung der Epidemie in ganz verschiedene räumliche Klassen, Faktoren und Funktionen zu verstehen. Es ist damit als ein Instrument der Kontrolle einzuordnen, das Überblick verschafft, Herkünfte identifiziert und Übertragungswege kartiert (Foucault 1976, S. 251f.). Diese Verschiebung, die etwa in den Queer Studies als Wandel von einer (Seuchen-)Politik sexueller Identitäten zur Regulierung sexueller Praxen beschrieben wurde (Jagose 1991, S. 94), kann mit Canguilhem (1974) auch als eine Bewegung hin zur Ontologisierung von Krankheit begriffen werden. Ob Krankheit entweder als bloße Veränderung der Intensität des Lebens betrachtet wird, sich also nur quantitativ von einem normalen und gesunden Zustand unterscheidet, oder ob Krankheit als eine quasi eigene Lebensform betrachtet wird, die in eine qualitative Differenz zur Gesundheit tritt, ist für die Form ihrer sozialen und kulturellen Aushandlungsprozesse elementar (ebd.). Zur Disposition stehen im ersten Fall die Lebensführung, die soziale und kulturelle Identität und das ihr schon innewohnende Potenzial, die Krankheit hervorzurufen, weil die unscharfen Bereiche des Normalen und Gesunden schon längst verlassen wurden. Krankheit und Person werden untrennbar verknüpft, 289

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Stigmatisierung, Ausgrenzung und Schuldzuweisungen sind in der Regel sowohl Disposition für die Infektion als auch Effekt der Erkrankung. So ist in den Anfangsjahren von AIDS in der Vorstellung von Öffentlichkeit wie Fachwelt Homosexualität gleichsam ursächlich an dem Ausbruch der Immunschwäche beteiligt. Im Fall aber einer qualitativen Unterscheidung von Krankheit und Normalität/Gesundheit, die sich insbesondere durch die Etablierung eines infektiösen Erregers durchsetzen lässt, wird die Krankheit hingegen zur feindlichen Übernahme und Besetzung des Körpers stilisiert. Identität und soziale Praxen werden zu Aspekten der Übertragung und bilden lediglich die soziale Konfiguration des Übertragungswegs. Risikogruppen stellen nicht mehr den Ausgangspunkt eines Risikos für die Gesellschaft dar; ihre soziale und räumliche Struktur setzt sie nun einem verstärkten Risiko der Infektion und Übertragung aus (Weingart 2002, S. 41). Das Bild von Gallos Modell visualisiert damit das Virus und mit dem Virus zugleich die mächtigen und nicht selten problematischen Narrative seiner Verbreitung. Das Virus dabei zugleich als Wesenheit der Krankheit zu erzeugen, als eine »Wahrheit des Übels« (Canguilhem 1974, S. 66), gelingt dem Bild dabei auf zweifache Art und Weise: Erstens vermittelt es eine Ursprungserzählung, die den Ausbruch der Epidemie in den USA und dort in homosexuellen Communities mit dem Konzept eines sexuell übertragbaren Retrovirus erklären soll, das aus Afrika über Haiti in die USA gelangt ist. Zweitens erhält das Virus in den einzelnen Narrativen, die diese Herkunft plastisch machen, genau dadurch Materialität (und Räumlichkeit), indem es als Akteur von Grenzverletzungen stilisiert wird; denn soziale Grenzen sind und bleiben für das Virus selbst irrelevant. Der »Grenzgänger par excellence« (Weingart 2002, S. 75) durchbricht, so suggeriert die Karte, in einem ungenannten Land in Afrika zunächst die NaturKultur-Barriere, verlässt auf dem Weg nach Haiti heterosexuelle Kreise, springt in Haiti auf eine weiße Subpopulation homosexueller Männer über und bedroht von dort aus den Rest der Welt. Interessant ist, dass in dieser Darstellung des Virus diverse soziale Räumlichkeiten zunächst aufgerufen und greifbar gemacht werden, um sie anschließend in ihrer Durchlässigkeit und Verletzbarkeit darzustellen. Zur Disposition steht die Spezies Mensch in Afrika, die Heterosexualität der Haitianer und das Weiß-Sein der US-amerikanischen Homosexuellen. Der Übertragungsweg ist damit von einer Bewegung der Grenzüberschreitung gekennzeichnet, die neben globalen Grenzregimen auch die Grenzen sozialer Ordnungen durchbricht. Als ein Objekt mikrobiologischen Wissens und als Erreger einer tödlichen Immunschwäche verleiht das Virus der sozialen, menschlichen Besetzung des Übertragungsweges dabei eine Teilhabe an der Krankheitsausbreitung und fügt ihr zugleich einen Verlust von Integrität und Souveränität in Folge der Infektion zu. Dies geschieht allerdings nicht nur als Effekt der mikrobiologischen Entität HIV: Die Materialität des Virus selbst ist zugleich ein Effekt des Übertragungswegs. 290

Übertragungsweg

Das Virus, das im »Nanocinema der Mikrobiologie« zum funktionierenden Retrovirus wurde, wird so mit der Karte im »globalen Panoptikon der Epidemiologie« (Herz 2002, S. 25) sichtbar und real. Es erhält dort seine ganz spezifische Potenz, indem es im Moment der Verknüpfung eigentlich disparater Räume durch Grenzüberschreitungen wirksam ist. Der Übertragungsweg als ein sozial besetzter Raum garantiert damit paradoxerweise, dass die übertragbare Krankheit in einer qualitativen Differenz zur sozialen Wirklichkeit hervorgebracht wird und als ein eigener, anderer Raum der viralen Aktivität plausibel wird. Und auch wenn damit die Orte der Übertragung nicht mehr als Herkunft der Epidemie betrachtet werden können und ihre jeweiligen Konfigurationen nicht mehr ursächlich für die Krankheit sind, so bleiben sie dennoch in einem Verhältnis zur Krankheit selbst gefangen. In Gallos Modell fällt auf, dass sämtliche der verarbeiteten Identitäten nicht erst durch die Disposition einer neuen Seuche auffällig geworden sind. Sie alle waren in ihrer Wahrnehmung von Merkmalen des Ungewöhnlichen, Besonderen und Abnormalen schon durchzogen, bevor sie im Kontext der globalen Bewegungen von HIV erneut sichtbar wurden. Infektionskrankheiten bringen nun eine Problemstellung mit sich, die mit diesen sozialen »Auffälligkeiten« korrespondiert. Zwischen der Dichotomie von Gesundheit und Krankheit installiert die Infektion den problematischen Zustand der Latenz, der als Unsichtbarkeit von Krankheit schlichtweg unbemerkt bleiben kann und zugleich als drohender Ausbruch der Krankheit mit umfangreichen Sicherungsmaßnahmen kontrolliert werden muss (Weingart 2002, S.  37). Diesen Zustand fasst Canguilhem entweder als ein bloß biologisches Phänomen (Canguilhem 1974, S. 53) oder aber – und das ist hier deutlich aufschlussreicher – als eine »andere Normalität« (ebd., S. 121ff.) auf. Diese andere Normalität, die etwa in Kenntnis eines Testergebnisses aber in Abwesenheit einer erlebten Krankheit zur Geltung kommt, ist im Begriff des Übertragungsweges beständig präsent. Als ungeklärter Zustand zwischen den Polen der Gesundheit/Normalität und Krankheit/Pathologie bildet er eine beständige Zielscheibe der Regulierung, Strukturierung und Kontrolle. Schließlich bedingt die oft damit verknüpfte Unsichtbarkeit der Krankheit in Ermangelung von Symptomen vor allem eine beständige Notwendigkeit der Sichtbarmachung. Der Übertragungsweg ist der prototypische Ort der Latenz und stets ein Austragungsort anderer Normalität. Denn die Übertragung geschieht in der Regel ohne vorhandenes Wissen über eine Erkrankung oder bereits vorhandene Infektion und ihr Weg ist insbesondere im brisanten Feld der sexuell übertragbaren Krankheiten von nicht-öffentlichen und intimen Praktiken gekennzeichnet und bleibt immer zu einem guten Teil unkontrollierbar. Karten wie die des Gallo-Modells produzieren damit nicht nur das Virus als Grenzgänger, sie produzieren auch stets ein Schema der Sichtbarkeit zur Kontrolle und Eingrenzung der Epidemie. Die darin verhandelten Gruppen und Räume werden weder mit Krankheit noch mit der stillen Mehrheit der »normalen« Bevölkerung 291

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

gleichgesetzt: Sie sind Ausdruck und Träger einer anderen Normalität, deren Prekarität mit der Aktivität des Virus korrespondiert. Das Ereignis der Infektion in der Weltkarte als unendliche Serie anzuzeigen, zeigt die Epidemie als uneinschätzbare, unaufhaltbare Gefahr an. Die Karte funktioniert in diesem Sinn als Warnung und als Anzeichen einer drohenden Gefahr. Den Übertragungsweg zu kennzeichnen, ihm Bilder, Orte und Räume zu verleihen, bannt aber das Risiko der Epidemie in bestimmte soziale Welten, deren Anordnung dem Virus zum Durchbruch verhilft und es zugleich in Schach hält. So funktioniert die Karte auch als ein Instrument der Seuchenkontrolle, die aufteilt, in Klassen unterscheidet und Prävalenzen von Immunitäten scheidet. Der Übertragungsweg vermengt damit zwei Räumlichkeiten: Erstens assoziiert er einen Raum, in dem die Übertragung stattfindet und der durch seine Disposition für die Krankheit selbst in Frage gestellt wird. Zweitens zeigt der Übertragungsweg den ganz anderen naturalisierten Raum der Krankheit an, der über die Welten des Virus in eine radikale Differenz zum sozialen und menschlichen Leben versetzt wird und so die Krankheit ontologisiert. Die sozialen Räume werden zu Spuren des Virus, der Übertragungsweg zur Registratur der viralen Aktivität und so zu einem unverzichtbaren Instrument der Seuchenpolitik. Lukas Engelmann

L ITER ATUR Canguilhem, Georges (1974), Das Normale und das Pathologische, München: Carl Hanser Verlag. Foucault, Michel (1976), Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Herz, Marion (2002), Die wunderbare Zwischenwelt des Virus, in: Krankheit und Geschlecht. Diskursive Affären zwischen Literatur und Medizin, hg. v. Tanja Nusser, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 23-35. Jagose, Annamarie (2001), Queer Theory. Eine Einführung, Berlin: Querverlag. Preda, Alex (2005), AIDS, rhetoric, and medical knowledge, Cambridge: Cambridge University Press. Smallman-Raynor, Matthew, Andrew Cliff und Peter Haggett (Hrsg., 1992), London International Atlas of AIDS, Oxford und Cambridge: Blackwell Publishers. Weingart, Brigitte (2002), Ansteckende Wörter, Repräsentationen von AIDS, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

292

Vertikale Farm

Wenn es in der Menschheitsgeschichte überhaupt so etwas wie anthropologische Konstanten gibt, so wäre die Fähigkeit, Artefakte jeglicher Couleur nur wenige Zeit nach ihrem Erscheinen auf der Welt bereits als selbstverständlich zu betrachten, sie routiniert zur Kenntnis zu nehmen und gegebenenfalls mit ebensolcher selbstvergessenen Routine zu benutzen, mit Sicherheit dabei. Eine Erinnerung davon bleibt fast einzig im naiven, kindlichen Blick auf die Welt

293

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

– im Erstaunen über die Dinge und ihr Funktionieren ist noch eine Ahnung davon aufgehoben, wie wenig eigentlich »gegeben« ist. Mit Vertikalen Farmen geht es um eine sogenannte Zukunftstechnologie, in diesem Fall um gebaute Umwelt, die in Wirklichkeit noch gar nicht oder kaum existiert. Ein Umstand, der es einem erlaubt, noch im Zustand des Erstaunens und Befremdens jene Orte zu sehen, die möglicherweise bald schon zum Alltag gehören. Es sind genauer genommen natürlich nicht die Orte selbst, sondern ihre Projektionen und Vorstellungen, die aus heutiger Sicht die Orte und ihre Technologie in irgendeiner Weise »vernünftig« erscheinen lassen. So lassen sich im Blick auf die Vertikale Farm – wie Sie einmal aussehen soll, wie sie einmal funktionieren soll – gerade auch aktuelle Routinen und Denkweisen, die selbstverständliche Vernunft, das Bestehende aus der Distanz betrachten. Farm-Utopien: Ginge es nach Dickson Despommier, einem US-amerikanischen Mikrobiologen und dem »geistigen Vater« der Vertikalen Farm, so würden dereinst, in nicht allzu ferner Zukunft, Felder und Plantagen schon von Weitem sichtbar sein: Obst, Gemüse und Getreide würden in etwa zwanzigbis dreißigstöckigen, doppelverglasten Hochhäusern angebaut – mindestens. In ambitionierteren Visionen würden darin auch Fisch, Geflügel und Vieh gezüchtet sowie umgehend an Ort und Stelle weiterverarbeitet. Außerdem produzierten diese Farmen nicht nur Nahrungsmittel; durch die Anwendung modernster Technologie und geschlossener Stoff- und Energiekreisläufe könnten die Farmen als selbstversorgende Wirtschaftseinheiten arbeiten. Gebrauchtes Wasser würde wiederaufbereitet, die in der Tierproduktion anfallenden Nährstoffe würden als Dünger verwendet und die Energie ausschließlich aus erneuerbaren Quellen, also Wind und Sonne gewonnen. So würden am Ende einzig die fertigen Nahrungsmittel die farmscrapers verlassen – eventuell sogar noch überschüssige Energie, die in externe Versorgungsnetze eingespeist würde. Neben dieser Zukunftsvision einer universellen Farm existieren bereits Entwürfe für spezielle Farmen: Winy Maas vom niederländischen Architekturbüro MVRDV (2012) etwa schlägt ein regelrechtes Schweinesystem vor: In der 640 Meter hohen PigCity würden 40 Schweinefarmen übereinander gestapelt, die den Schweinen jeweils allen erdenklichen Freiraum böten, »mit Bäumen, einer Bar, einem Restaurant, Duschen und einer Zone, um Sex zu haben« (WDR 2011) – dass zu den Annehmlichkeiten auch ein im ersten Stock untergebrachtes Schlachthaus gehört, wird nicht explizit hervorgehoben. Der erdenkliche Freiraum endet dort, wo die Farm ihren eigentlichen Zweck erfüllen soll. Schon ein wenig konkreter geht ein Forschungsprojekt der Universität Hohenheim die Vision der Vertikalen Farm an – hier wird an der Entwicklung einer Reisfarm gearbeitet, die in ihrem Inneren den Reis auf Fließbändern durch die klimatischen Bedingungen transportiert, die seine jeweilige Wachstumsphase benötigt. So kann in einer Zone (einer Etage) der Farm bereits geerntet werden, während in einer anderen der Reis erst keimt (BR 2012). Zugegebermaßen sind die 294

Vertikale Farm

Vorstellungen und Visionen von Vertikalen Farmen noch weit davon entfernt serienmäßige Wirklichkeit zu werden und doch, beziehungsweise gerade deshalb, stellt sich die Frage nach der Motivation. Welchem Denken entspringen solche Vorstellungen? Die drohende Katastrophe: Vor der vermeintlichen Innovation steht das Reden von selbiger. Dabei lebt die Kommunikation über Vertikale Farmen von der Kultivierung eines Alarmszenarios, das zugleich den Hintergrund für die vermeintliche Notwendigkeit der Technologie abgibt. Die heraufbeschworene Katastrophenstimmung durch diffuse Bedrohungen wie Bevölkerungswachstum, Städtewachstum, Klimawandel etc. stimmt auf einen Ausnahmezustand ein, der sich selbst nicht mehr erklären muss und noch jede Maßnahme rechtfertigen könnte: »Massive floods, protracted droughts, class 4-5 hurricanes, and severe monsoons take their toll each year, destroying millions of tons of valuable crops. […] The time is at hand for us to learn how to safely grow our food inside environmentally controlled multistory buildings within urban centers. If we do not, then in just another 50 years, the next 3 billion people will surely go hungry, and the world will become a much more unpleasant place in which to live.« (Despommier 2012) Klingt die Rhetorik der Notwendigkeit und Alternativlosigkeit hier noch einigermaßen episch, macht sie in anderen Formulierungen keinen Hehl mehr um ihre Herkunft und ihr Ziel. Für Peter Head, verantwortlich als Planungschef von Dongtan, einer am Reißbrett entworfenen »nachhaltigen Stadt« in China, ist die Frage nach der Notwendigkeit schon nicht mehr erlaubt: »Es wird keine Frage mehr sein, ob wir es ganz nett finden, urbane Landwirtschaft zu betreiben. Die Frage wird sein, ob wir überleben wollen.« (Vogel 2008) Abgesehen davon, dass stets Skepsis angebracht ist, wenn Fragen sich angeblich nicht mehr stellen und durch ein einschließendes »Wir« hindurch noch im Namen derer gesprochen wird, die nie gefragt wurden, entlarvt sich darin eine in Nüchternheit verkleidete Aggressivität, die schon wie selbstverständlich den Anspruch an ein selbstbestimmt gestaltetes »Leben« zugunsten des schieren »Überlebens«, in dem das Menschsein nur noch in seiner biologischen Verfasstheit begriffen wird, suspendiert hat. Noch bevor die erste Vertikale Farm gebaut ist, spiegelt sich in ihr eine Welt, die Alternativen nicht kennen will und in der bald nichts mehr verantwortet werden muss, weil verantwortliches Handeln ohnehin nur noch die Ausführung des Notwendigen bedeutet. Wie dreist die Rede von der Alternativlosigkeit ist, zeigt sich allein schon daran, dass die mehr oder weniger ernsthaften Erwartungen und Befürchtungen auf der Grundlage nur wenig nachvollziehbarer Ökobilanzierungen und störungsanfälliger Hochrechnungen vorgetragen werden – Hahlbrock (2011, S. 223) etwa nennt derartig konkrete Hochrechnungen »wissenschaftlich nicht akzeptabel«. Die Behauptung existenzbedrohender Verknappung steht außerdem in krassem Kontrast zu der offensichtlichen Tatsache, dass im Globalen Norden die zigtonnenweise Vernichtung von (noch genießbaren) Lebensmit295

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

teln derzeit an der Tagesordnung ist. Ganz im Gegenteil kann man also davon ausgehen, dass eigentlich genügend Lebensmittel produziert werden könnten. Genaue Zahlen sind dabei nicht nötig: Das Ausmaß der alltäglichen Vernichtung führte bereits zu dem absurden Phänomen, dass in entwickelten Industrienationen der ökologiebewegte Idealverbraucher sich aus Überzeugung von dem ernährt, was der erste Warenkreislauf übrig gelassen hat. Absurder ist in diesem Zusammenhang nur noch, dass ebenjenem das »Mülltauchen« oder »Containern« nicht erlaubt ist, weswegen zunächst genau die Lebensmittel verschlossen und bewacht werden, die im nächsten Moment als Abfall vernichtet werden – während gleichzeitig der Hunger in anderen Teilen der Welt schon längst katastrophale Ausmaße angenommen hat. Eine eindrücklichere Illustration dafür, dass Nahrung lediglich als Träger von Tauschwert dient – ist sie zum Tausch nicht (mehr) verwendbar, soll sie auch nicht mehr satt machen – ist kaum vorstellbar. Auch vor dem Hintergrund immer zahlreicherer und größerer Flächen, auf denen ausschließlich Pflanzen zum Zweck der Verbrennung als »Biosprit« angebaut werden, wird die These, es könnten bald nicht mehr genügend Flächen zur Ernährung aller Menschen bereitgestellt werden und urban farming werde »alternativlos« sein, nicht glaubwürdiger. Produktion und Konsumtion: So wenig nachvollziehbar die Furcht vor einem tatsächlich kurz bevorstehenden Ende der Zivilisation sein mag, so vehement müssen anscheinend die Grenzen der Verwertung verschoben und die Produktion intensiviert werden. Der am Hohenheimer Reisfarm-Projekt forschende Folkard Asch umreißt ziemlich genau, welche Leistung eine Vertikale Farm erbringen soll: Nahrungsmittel (in diesem Fall Reis) sollen permanent und stetig produziert werden können, unabhängig von äußeren Einflüssen wie Jahreszeiten, Extremwetterereignissen, Schädlingen etc. (BR 2012); das Gewächshausprinzip soll konsequent weiterentwickelt und im wahrsten Wortsinne auf die Spitze getrieben werden. Jenseits aller pragmatischen Begründungen steht hinter der Nutzungsintensivierung bewirtschafteter Fläche der Gedanke einer pausen- und atemlosen Produktion, die vor allem Eines sichtbar macht: ein Denken, dass sich stur an einem nicht weiter hinterfragten Effizienz-Begriff orientiert – eine Fläche, die ständig und stetig Output generiert, ist besser als eine, die zu bestimmten Jahreszeiten brach liegt. Wenn pro Jahr viermal geerntet werden kann, ist das besser, als wenn nur einmal geerntet werden kann usw. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht hier nicht darum, technisch Mögliches grundsätzlich in Frage zu stellen, »gegen den Fortschritt« zu argumentieren oder eine Natürlichkeit in der Produktion einzuklagen, die es nicht geben kann, sondern einzig um die Feststellung, dass Vertikale Farmen ganz und gar nichts neues unter der Sonne sind; sie sind lediglich ein weiterer Ausdruck der bereits heute hinlänglich bekannten ökonomischen Einfalt, deren größter vorstellbarer Horror »brachliegende Potenziale und Ineffizienz« sind. In Vertikalen Farmen liegen Felder niemals brach. 296

Vertikale Farm

Mit der Verschiebung und Ausdehnung der Produktionsgrenzen werden zugleich die Möglichkeiten der Konsumtion entgrenzt. Je unabhängiger von Zeit und Raum jedwede Pflanze angebaut und jedwedes Tier gehalten werden kann, desto entfesselter und beschleunigter können die jeweiligen Produkte konsumiert werden – der permanenten Produktion auf der einen Seite entspricht die permanente Verfügbarkeit von Gütern auf der anderen Seite. Wie das Motiv der durchgehenden Nutzung, Verwertung und Produktion, ist auch jenes der ständigen und stetigen Verfügbarkeit von Gütern Zeichen einer durch und durch marktvermittelten Gesellschaft, die sich selbst nicht versteht. Das Paradox einer solchen Gesellschaft ist, dass selbst lückenlose Produktion und Konsumtion durch selbsterhaltende Systeme niemals wirklich genügen kann. Während ein Teil der Bevölkerung seinen »Hunger« mutmaßlich nicht wird stillen können, weil er den Preis dafür nicht zahlen kann (die, die jetzt schon leiden, obgleich die materiellen Voraussetzungen für eine Versorgung aller längst gegeben sind), wird der andere Teil seine »Bedürfnisse« durch die gesteigerten Konsummöglichkeiten nicht befriedigen können, da diese sich im selben Maße steigern, wie sich die Möglichkeiten des Konsums ausdehnen. Gegenüber der (neo-)klassischen Erzählung, der zufolge das Bedürfnis den Konsum bestimmt, der wiederum die Produktion anleitet, steht der Befund, dass das Wort »Bedürfnis« sich erst im ausgehenden 18. Jahrhundert durchsetzte und vorher nahezu unbekannt war (Szöllösi-Janze 2003). Das Bedürfnis entstand mit der Durchsetzung des Tauschprinzips während es umgekehrt kein Bedürfnis gibt, das der Zirkulation von Waren vorgelagert ist (Schrage 2009). Die Vertikale Farm belegt und verfestigt das schon länger währende Missverständnis, welches die Garantie, jeden und jede mit dem physisch Notwendigsten versorgen zu können, mit dem Vermögen verwechselt, nahezu alles zu jeder Zeit an jedem Ort verfügbar zu machen. Geschlossene Kreisläufe und Ökobilanz: Die Beschränktheit des Denkens, aus dem Gebilde wie die Vertikalen Farmen erwachsen, sowie ihre äußere Form entsprechen einander nicht zufällig. Die Skyfarm hat hermetisch nach außen hin abgeriegelt zu sein, auf dass keine Keime, keine Insekten, keine Staubkörner eindringen und keine verwertbaren Stoffe oder Energiemengen unkontrolliert austreten mögen, kurz: auf dass der Ertrag und die Ökobilanz positiv sei oder bleibe. In der Isolierung der Farm und der strengen Kontrolle ihrer Hülle können sich weder Stoff- und Energieströme noch der »Bestand« an Pflanzen und Tieren dem bilanzierenden Blick entziehen, der im Namen von »Nachhaltigkeit« und Ertragssteigerung mehr und mehr daran gewöhnt, jegliche Qualität – und sei es die Erde selbst – als quantitatives Verhältnis von Soll und Haben, Aktiva und Passiva, Investition und Revenue etc. zu begreifen und auszudrücken. Der geschlossene Kreislauf, das unabhängige, autarke System, von dem Verfechter der Vertikalen Farm träumen, sind die Vor- und Abbilder eines sich langsam schließenden Denkens, das sich schon lange im Prozess der eigenen 297

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Einhausung befindet und immer mehr sich selbst zu genügen scheint. Seine formgebende Logik ist die der Bilanz, sein architektonisches Korrelat die Vertikale Farm. Vertikalität und Wirklichkeit: Die namensgebende Vertikalität ist über ihre geometrische Bedeutung hinaus mehrfach konnotiert und weckt gleichermaßen utopische wie dystopische Assoziationen, ist verheißungsvoll und regt dennoch Schreckens- oder zumindest Verfallsphantasien an: Le Corbusiers Stadt der Gegenwart oder Fritz Langs Metropolis erzählen davon im Reich der Vision und Fiktion ebenso, wie in der Realität der architektonische Höhenrausch in den Emiraten am Arabischen Golf oder diverse moralische Paniken, die die Ursachen gesellschaftlicher Desintegration und sozialer Kälte regelmäßig in Wohnhochhäusern am Rande großer Städte angesiedelt sehen. Dabei ergeben sich die gegensätzlichen Assoziationen direkt aus der dem vertikalen Streben innewohnenden Widersprüchlichkeit – es feiert die symbolische Überwindung der reinen Notwendigkeit, indem es sich über die erste Natur hinwegsetzt, während es sich zugleich der zur »zweiten Natur« gewordenen Vergesellschaftung unterwirft, indem es die Verknappung des Raums vorauseilend als natürliche anerkennt und eine vermeintlich notwendige Verdichtung verspricht. Die vertikale Form bringt unter diesen Bedingungen Eigentümliches zustande: Sie schafft eine Atmosphäre der Dichte und Bedrängnis, die sie in ein und derselben Bewegung durch die Demonstration von Weite und Überlegenheit zu lindern vermag; sie suggeriert beständig eine Problemsituation, die durch sie selbst nur zu lösen sei. Wundersamerweise stellt sich so ein paradoxes, dennoch stabiles Gleichgewicht ein, welches vor allem einen unschätzbaren Vorteil hat: Es muss nicht weiter hinterfragt werden. Insofern ist die Vertikale Farm oder die Idee von ihr nur der vorläufige Höhepunkt eines stehenden Fortschritts (es soll schon Ideen von vertical public spaces geben …), der aller utopischen wie dystopischen Momente entkleidet ist. Bei näherem Hinsehen entpuppt sie sich als schlichte Topie des Bestehenden. Die Firma PlantLab betreibt in den Niederlanden bereits eine Vertikale Farm mit drei Stockwerken, die allerdings unsichtbar bleiben. Sie wurden in die Tiefe gebaut. Yusif Idies

298

Vertikale Farm

L ITER ATUR Bayrischer Rundfunk (BR) (2012), Hightech-Farm im Wolkenkratzer (Radiofeature), www.br.de/themen/wissen/skyfarming-vertikaler-reisanbau100.html (Juni 2012). Despommier, Dickson (2012), The vertical farm, www.verticalfarm.com/more (Juni 2012). Hahlbrock, Klaus (2011), Szenario Ernährung, in: Perspektiven einer nachhaltigen Entwicklung, hg.  v. Harald Welzer und Klaus Wiegand, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 223-252. MVRDV (2012), Pig City, www.mvrdv.nl/#/projects/181pigcity (Juni 2012). Schrage, Dominik (2009), Die Verfügbarkeit der Dinge, Frankfurt a.M. und New York: Campus. Szöllösi-Janze, Margit (2003), Notdurft und Bedürfnis. Historische Dimensionen eines Begriffswandels, in: Der lange Weg in den Überfluss. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne, hg. v. Michael Prinz, Paderborn: Schöningh, S. 151-172. Vogel, Gretchen (2008), Wenn Wolkenkratzer Bauernhöfe werden, Spiegel-Online, www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,550832-2,00.html (Juni 2012). Westdeutscher Rundfunk (WDR) (2011), Pig City – Schweinemast im Hochhaus, www.wdr.de/tv/bab/sendungsbeitraege/2011/0615/pigcity.jsp (Juni 2012).

299

Zelt

2011 war ein Jahr der Demonstrationen, Aufstände und Revolutionen. Ständiger Begleiter der neuen Bewegungen war das Zelt. Zentrum der ägyptischen Revolution war ab Januar 2011 der über Wochen mit Zelten besetzte Tahrirplatz in Kairo. Unter dem Ruf »Yes we camp!« errichtete die spanische Protestbewegung im Mai auf den öffentlichen Plätzen der Großstädte des Landes gleich mehrere Zeltstädte. In Tel Aviv entstand ein mit Zelten gesäumter Boulevard von 1,5 Kilometern Länge und eine der größten Protestbewegungen Israels, nachdem die Filmemacherin Daphni Leef im Juli über Facebook dazu aufgerufen hatte, in Zelten gegen steigende Mieten und nicht vorhandene sozialpolitische Antworten zu protestieren. Und die Besetzung der Wall Street in New York schließlich begann mit dem Twitter-Aufruf »Are you ready for a Tahrir moment? On Sept 17th, flood into lower Manhattan, set up tents«. Dabei erschienen Trajektorie und timeline des Zeltes längst nicht so kohärent, wie hier dargestellt. Vielmehr wirkte es so, als würden die Zelte an allen Ecken des Globus plötzlich aus dem Boden schießen wie Pilze, die gleichwohl Teil einer gemeinsamen, untergründigen Wucherung sind. Inspiriert von Occupy Wallstreet entstanden im Herbst 2011 auch in einigen deutschen Großstädten kleine Zeltstädte. Das im Oktober errichtete Camp auf einer Wiese vor dem Bundestag in Berlin war indes nur von kurzer Dauer. Ein Zelt diene nicht der freien Meinungsäußerung, Campingartikel hätten keinen Bezug zu politischen Demonstrationen und eine Zeltstadt falle deshalb auch nicht unter das Versammlungsrecht, so die Polizei vor Ort. Schnell wurden die Zelte wieder geräumt und einige der Bewohner_innen festgenommen, denn »wer schläft, demonstriert nicht«. Die Stadt Frankfurt war dem ebenfalls im Oktober errichteten Camp im Schatten des EZB-Turms zwar etwas wohlgesonnener, doch auch hier gab es Zweifel am politischen Gehalt der Zelte. Nachdem viele Transparente und Plakate, die zu Beginn noch die Eingänge und Wege des Zeltstädtchens gesäumt hatten, von winterlichem Regen und Schnee weggespült worden waren, forderte das Ordnungsamt die Camper dazu auf, für Nachschub zu sorgen. Der »politische Charakter« des Zeltlagers müsse deutlich erkennbar sein, es ginge schließlich nicht an, dass Menschen hier »nur noch wohnen«.

300

Zelt

Die Reaktionen deutscher Behörden sind symptomatisch für das Unverständnis gegenüber den neuen Protestbewegungen, die oft so sparsam mit konkreten Forderungen und politischen Positionierungen umgehen. Gleichzeitig verweist das Unverständnis negativ darauf, was an der Protestwelle des Jahres 2011 und an ihrem zentralen Element – dem Zelt – so interessant ist. Gewiss lässt sich das Zelt als Symbol der Proteste verstehen, doch darin geht es nicht auf. Anders als der hochgehaltene Schuh, der ebenfalls ausgehend von den Protesten in Ägypten mittlerweile weltweit den Respektsverlust gegenüber politischen Eliten signalisiert, hat das Zelt einen konkreten sozialen Gebrauchswert, der – anders als die Frankfurter und Berliner Behörden meinen – nicht zu trennen ist vom politischen Ausdruck der Bewegungen. Als Operator der neuen Versammlungen eröffnet das Zelt die Möglichkeit der erneuten Gründung öffentlicher Räume an urbanen Orten, die ihren öffentlichen Charakter eingebüßt hatten. Die Zelte ermöglichten es den Bewegungen, ihrem Protest eine relative Dauerhaftigkeit zu verleihen, ohne gleich zur Institution oder gar Partei werden zu müssen. Schließlich antwortet das Zelt aber auch – am explizitesten zu sehen im Fall der Besetzungen in Tel Aviv – auf ganz existentielle Erfordernisse; es schafft Wohnraum, wo bestehender unbezahlbar geworden ist. Auch wenn das Zelt zuweilen in die luftigen Höhen der Symbolpolitik aufgestiegen ist und die Zeltwände gleichsam zu Leinwänden und Projektionsflächen für politische Forderungen wurden, so ist die Botschaft des Zeltes doch nie gänzlich von seiner Funktion abzulösen. Der von den Protestierenden so nachdrücklich in Szene gesetzte existenzielle Gebrauchswert des Zeltes als Unterschlupf und Behausung verweist auf seine Geschichte als eine der ältesten Wohnformen überhaupt. Funde von Tierknochen und Steinen, die als Verankerungen im Boden dienten, datieren das Alter nomadischer Zeltlager in Sibirien auf etwa 40.000 Jahre. Im Gegensatz zur Höhle ist das Zelt die erste ganz und gar von Menschen geschaffene Form der Behausung; es versammelt nicht nur seine Bewohner_innen, sondern auch eine eigene Baukunst, distinktes technisches Wissen zur Baukonstruktion und ein eigenes Handwerk. Die Kunst des textilen Bauens mit Membranen, die im Zelt ihren Ausdruck findet, hat eigene Phasen der Hochkultur, etwa im Rom der Antike, dessen Kolosseum von einem riesigen, flexibel beweglichen Zeltdach überspannt ist, oder im osmanischen Reich des 15. bis 18. Jahrhunderts, das eine unübertroffene Vielfalt an Zeltformen hervorgebracht hat (Burkhardt 2000, S.  960). Die verschiedenen Konstruktionstypen des Zeltes haben sich in ihren Grundzügen seither kaum modifiziert, lediglich die Materialentwicklung durchlief rasante Veränderungen. Auch die vielfältigen Nutzungsweisen des Zeltes weisen einige Kontinuitäten auf, die bis in die Gegenwart reichen – nicht zuletzt im militärischen Bereich, auf den sich der Zeltgebrauch in Europa historisch erweitert und verlagert. Vor allem in den häufig langwierigen kriegerischen Konflikten des Mittelalters dienen Zeltstädte als dauerhafte Unter301

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

bringung für die Streitkräfte wie auch für die große Entourage mitreisender Marketender_innen und entwickeln komplexe Infrastrukturen. Mit der Industrialisierung und Freisetzung von Bevölkerungsmassen im Rahmen der ursprünglichen Akkumulation in Europa wird die »Nichtsesshaftigkeit« zum regulatorischen Problem und die (Wieder-)Festsetzung der Bevölkerung – durch die »große Einsperrung« ebenso wie durch eine Reihe wohlfahrtstaatlicher Maßnahmen (Castel 2000) – zum politischen Projekt. In dem Maße, in dem die Sesshaftigkeit zur politischen Norm avanciert, wird auch dem Zelt als Wohnform zunehmend mit Skepsis begegnet. Die Flexibilität und der provisorische Charakter des Zeltes, die Ortsungebundenheit, die seine Qualitäten der Leichtigkeit, Faltbarkeit und Transportfähigkeit ermöglichen, werden verdächtig. Das Zelt, diese »Windstille«, flüchtiger Ort des Versammelns und Auseinanderstrebens (Flusser 2001, S. 69), dieses nicht in Eigenheim, Eigentum und Eigenschaften geronnene Wohnen passt nicht in das moderne Projekt des Festsetzens von Bevölkerungen, verkompliziert die separate Verortung des Einzelnen an seinem Wohnort, erschwert die biopolitische Erfassung von Gesetzmäßigkeiten und Kontrolle von Bewegungen. Der politische Siegeszug der Sesshaftigkeit bringt daher auch neue Einschätzungen des Zeltes und seiner legitimen Nutzungsweisen hervor: Wer zeltet, wohnt nicht – zumindest nicht länger in gesellschaftlich akzeptabler Form. Nomadische Lebensweisen, ihrerseits nicht selten eine durch Ausschluss von der Mehrheitsgesellschaft erzwungene Dauermigration, werden zur Zielscheibe von Erziehungsmaßnahmen und Versuchen der Einhegung, von Kriminalisierung und schließlich auch Verfolgung, wie die traurige Geschichte des europäischen Antiziganismus bis heute zeigt. Die Marginalisierung des wandernden Wohnens lässt auch das Wissen um den Zeltbau als Baukunst in Vergessenheit geraten. In der Architekturtheorie findet das Zelt kaum Erwähnung und bis heute wird das Bauen mit Membranen an nur wenigen Hochschulen gelehrt. Der Architektur gilt das textile Bauen lange Zeit geradezu als »Anti-Architektur« (Kuhnert und Oswalt 2001, S. 25). Das Zelt antworte schließlich nur in vorübergehender Weise auf gar nicht weiter »architektonisierbare«, unmittelbare Grundbedürfnisse; eine eigene Ästhetik des Wohnens wird dem Zelt nicht zugestanden. Die zunehmend restriktive Reglementierung des wandernden Wohnens lässt das Zelt gleichzeitig umso deutlicher in seiner akzeptierten Funktion als temporärer Ausnahmeraum in Erscheinung treten. Eine der bekanntesten Varianten solcher Ausnahmeräume ist das Zirkuszelt – hier darf das Fremde, Spektakuläre und Groteske sein Zuhause in »fliegenden Bauten« finden, die nur kurzfristig vor Ort siedeln, um anschließend weiterzuziehen. Auch das Campen im Urlaub als zeitlich überschaubare, räumlich klar eingehegte und mehr oder weniger abenteuerliche Unterbrechung einer sesshaft gewordenen Normalität bewegt sich in akzeptierten Bahnen. Im Habitat der bürgerlichen Kleinfamilie, dem Einfamilienhaus oder der geräumigen Eigentumswohnung, 302

Zelt

findet bisweilen ein »Indianerzelt« im Kinderzimmer seinen Ort (Foucault 2005, S. 10). Dort fungiert es, immerhin, als ein kleines »Reservoir der Fantasie« im geschlossenen Raum der Sesshaftigkeit. Es ist vor allem das politische Krisenmanagement der Gegenwart, das dem Zelt als temporärem Ausnahmeraum zu entscheidender Bedeutung verholfen hat. Im Mischfeld aus globalem humanitärem Engagement und militärischer Geopolitik ist das Zelt zum Element einer mobilen Interventionstechnologie geworden; es ist obligatorischer Bestandteil des standardisierten Notfall-Equipments, das sowohl humanitäre und medizinische Organisationen als auch die weltweit agierenden Streitkräfte für den Fall von Katastrophen aller Art in Reserve halten. Innerhalb weniger Tage können mit Hilfe dieses Notfall-Equipments für die Opfer von Naturkatastrophen, Krieg und Vertreibung provisorische Zeltlager errichtet werden, die häufig beachtliche Ausmaße annehmen, eigene Ökonomien und politische Strukturen ausbilden. Auch wenn diese Interventionen nur kurzfristig auf scheinbar plötzlich auftauchende Krisen reagieren sollen, wird der Ausnahmezustand doch immer wieder zur Regel und das Zelt damit vom kurzfristigen Unterschlupf zu einer dauerhaft prekären Zuflucht. Als Teil des Regimes des Humanitären steht das Zelt im Dienst einer Politik, die ihrerseits im Kontrast zur traditionellen westlichen Sozial- beziehungsweise Biopolitik steht. Ging es letzterer noch um die Mehrung des Wohlstandes nationaler Bevölkerung, also um die Förderung des guten Lebens – und im Hinblick auf das Wohnen hieß dies nicht zuletzt: Arbeitersiedlungen, sozialer Wohnungsbau und Eigenheimzulagen, die den Einzelnen an sein Eigenheim und einen Berg von Schulden ketten (Bourdieu 1998) – geht es ersterer lediglich um die Aufrechterhaltung des bloßen Überlebens im globalen Maßstab. Das Zeltlager ist keine auf den Globalen Süden begrenzte Technologie der Krisenbewältigung. Die aktuelle Wirtschaftskrise ist nicht zuletzt auch eine Krise des Wohnens, die vor allem in den USA etliche tent cities entstehen ließ. Ausgelöst wurde die Krise durch den Zusammenbruch des US-amerikanischen Immobilienmarktes. Durch die Verkopplung des Eigenheimerwerbs mit dem globalen Finanzmarkt mittels einer Reihe von mittlerweile als höchst gefährlich angesehenen Finanzprodukten erlebte der Immobilienmarkt bis 2007 einen unvergleichlichen boom. Der schlussendlich kollabierte Nexus von lokaler Eigenheimfinanzierung und globalem Finanzmarkt war dabei zunächst eine politisch ermöglichte und willkommene Entwicklung, die sich scheinbar perfekt in die Politik der Sesshaftigkeit einfügte. Neu an diesem politischen Projekt der »ownership society« (George W. Bush) war lediglich, dass die Re-Territorialisierung der Bevölkerung nun ausgerechnet durch die deterritorialisierende Dynamik der Finanzsphäre und nicht mehr durch staatliche Patronage und Zuwendungen gesichert werden sollte. Gerade weil Finanz- und Immobilienmarkt auf diese Weise verkoppelt waren, konnte der massenhafte Ausfall von Hypothekenkrediten das weltweite Finanzsystem ins Wanken bringen und die 303

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Ereigniskette in Gang setzten, die nun als Wirtschaftskrise bekannt ist. Diese Ausweitung der Krise verschärfte wiederum die angespannte Lage auf dem US-Immobilienmarkt, so dass bis heute Zwangsräumungen bei gleichzeitigem massiven Leerstand zum Alltag gehören. Bereits sechs Millionen Häuser sind seit Beginn der Krise zwangsgeräumt worden und Schätzungen gehen davon aus, dass in den nächsten Jahren weitere acht Millionen Zwangsräumungen folgen werden (Taylor 2011). Vollkommen neu sind die Zeltstädte nicht, die den Zwangsgeräumten derzeit Unterschlupf bieten. Historische Vorläufer haben sie in den Hoovervilles, die während der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre für Hunderttausende zur Zuflucht wurden. Damals wie heute werden die Wohnungslosen zumeist in periphere Stadtrandlagen verdrängt. Das Zelten ist für viele ein letzter Ausweg, gleichzeitig aber auch eine weitere Katastrophe, wie der Bewohner einer tent city bei Sacramento im Interview in der Oprah Winfrey-Show deutlich macht – auf die Frage, wie das Leben in Zelten denn so sei, antwortet er: »It’s like learning how to live all over again.« Wenn wir uns das Zelt als Speicher vorstellen, der Erfahrungen sammelt (Flusser 2001, S. 69), dann ist es auch das: ein übervoller Speicher der historischen wie aktuellen Erfahrung von Marginalisierung und Enteignung. Occupy Wallstreet bringt den Notstand dorthin, wo er gewiss nicht seinen einzigen Ursprung, aber doch einen bedeutenden Knotenpunkt hatte. Die wichtigste Technik der Demonstrierenden ist das Zelt, das nun nicht mehr genutzt wird, um politischen Eliten als Verkörperung einer ortslosen Globalisierung hinterher zu reisen, wie im Kontext der Anti-Globalisierungsproteste der vergangenen Dekaden. Vielmehr hat sich eine Protestform entwickelt, die ebenso global wie »bodenständig« ist, indem sie die vielen lokalen Punkte der global verwobenen Wirtschaftsmacht aufsucht. Gleichwohl konfrontiert die Bewegung nicht nur den globalen Kapitalismus, sondern adressiert auch – ganz praktisch – Fragen des Wohnens und Lebens, indem in den urbanen Protestcamps auf der ganzen Welt provisorische, aber nichtsdestotrotz funktionsfähige Sozialitäten aufgebaut werden. Gerade dieser Aspekt der Proteste stößt immer wieder auf Unverständnis und Ablehnung, artikuliert vom Frankfurter Ordnungsamt bis hin zu politischen Philosophen. Vergegenwärtigt man sich jedoch die Wirtschaftskrise auch als Krise des Wohnens und der Sesshaftigkeit, erscheint es grotesk, den Besetzer_innen vorzuwerfen, sie würden zu wenig protestieren und »nur wohnen« oder »nur schlafen« – als ließe sich noch so klar zwischen dem Bereich des Privaten und dem politischen Raum des Öffentlichen unterscheiden und als hätte diese Unterscheidung für Wohnungslose und Zwangsgeräumte irgendeinen Sinn. Judith Butler (2011) betont mit Blick auf die ägyptische Tahrirplatz-Bewegung und gegen eine gewisse politische Ordnungsamtphilosophie: »The bodies acted in concert, but they also slept in public, and in both these modalities, they were both vulnerable and demanding, giving political and spatial organization to elementary bodily needs.« Schaut man sich die teilweise 304

Zelt

doch sehr konventionellen und mitunter problematischen Forderungen der Occupy-Bewegung insbesondere in Deutschland an, dann sind vielleicht ihr Zelten und die Tatsache, dass sie sporadischen Unterschlupf für Wohnungslose und Junkies zur Verfügung gestellt hat, das Radikalste an ihr. Die Occupy-Bewegung ist nicht interessant, weil sie herrschende Symbolpolitiken subvertiert, sondern weil sie mit der hegemonialen Form der Politik als Symbolpolitik bricht. Sicher wäre es verfehlt, das Zelt als Ausweg aus dem betonharten Gehäuse der Sesshaftigkeit zu stilisieren. Nicht nur ist der romantische Eskapismus des Zeltens lediglich die Kehrseite seiner modernen Marginalisierung, vor allem ist die gegenwärtige politische Konjunktur der Zeltlager auch Symptom einer globalen Enteignungsökonomie; bei allen bedeutenden Unterschieden haben darin Flüchtlingslager des Globalen Südens und Zeltstädte in den USA eine gewisse Schnittmenge. Das Zelten als Protestform aber ist – auch wenn romantische Impulse gerade bei Occupy eine Rolle spielen mögen – keine Verklärung prekärer Lebensformen, sondern ein Schritt in Richtung einer Aneignung der Enteignung. Auf die Prekarität der Lebensverhältnisse antwortet diese Protestform mit einem ebenso provisorischen Unterschlupf, auf die Mobilität des globalen Kapitalismus mit der textilen Leichtigkeit und Reisetauglichkeit des Zeltes, auf Verdrängung und Zwangsräumungen mit dem immer neuen Aufbau von Zelten und dem Einräumen neuer Orte und Möglichkeiten. Nein, das Zelt ist nicht der Endpunkt einer Suche nach neuen Lebensformen, die auf die gegenwärtige Krise antworten – es ist ein Anfang. Nadine Marquardt und Andreas Folkers

L ITER ATUR Bourdieu, Pierre et al. (1998), Der Einzige und sein Eigenheim, Hamburg: VSA. Burkhardt, Berthold (2000), Geschichte des Zeltbaus, DETAIL. Zeitschrift für Architektur + Baudetail 40(6), S. 960-964. Butler, Judith (2011), Bodies in Alliance and the Politics of the Street, http://eipcp. net/transversal/1011/butler/en/ (Juni 2012). Castel, Robert (2000), Die Metamorphosen der sozialen Frage, Konstanz: UKV Universitätsverlag. Flusser, Vilém (2001), Zelte, ARCH+ (111), S. 68-69. Foucault, Michel (2005), Die Heterotopien. Der utopische Körper, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kuhnert, Nikolaus und Philipp Oswalt (2001), Ephemere Architektur, ARCH+ (107), S. 24-25. Taylor, Astra (2011), Occupy and Space, http://nplusonemag.com/occupy-andspace (Juni 2012). 305

Autorinnen und Autoren

Natascha Adamowsky ist Professorin für Medienkulturwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Direktorin des Instituts für Medienkulturwissenschaft. Aktuelle Forschungsprojekte: »Das Wunder in der Moderne am Beispiel der Entdeckung des Meeres«, »Dispositive des Findens und Zeigens in künstlerischen wie wissenschaftlichen Forschungsprozessen«, »Mobilität des Digitalen«. Suzana Alpsancar (Dr. phil.) ist Postdoc-Stipendiatin am Graduiertenkolleg »Topologie der Technik« und lehrt Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Technikphilosophie, insbesondere Technikdiskurse der Ersten Moderne, Digitalität, relationale Raumkonzepte sowie Technikethik. Bernd Belina ist Professor für Humangeographie am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Stadtforschung, Politische Geographie und Kritische Kriminologie. Christian Berndt ist Professor für Wirtschaftsgeographie am Geographischen Institut der Universität Zürich. Er beschäftigt sich aus einer heterodoxen Perspektive mit ökonomischen Prozessen, insbesondere mit der Herstellung und Ausdehnung von Märkten im Nord-Süd-Kontext. Empirisch arbeitet er seit längerem im mexikanisch-US-amerikanischen Grenzgebiet. Marc Boeckler lehrt und forscht als Professor für Wirtschaftsgeographie und Globalisierungsforschung am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Seine aktuellen Arbeiten betrachten aus kulturtheoretischer Perspektive performative Prozesse der Ökonomisierung des Globalen Südens. Monika Dommann ist SNF Förderungsprofessorin am Departement für Geschichte der Universität Basel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Kul-

307

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

turgeschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts, wobei die Zirkulation von Waren, Wissen und Zeichen zwischen der Alten und der Neuen Welt im Fokus des Interesses steht. Anika Duveneck, Geographin und Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung, promoviert derzeit an der International Research School Education and Capabilities an der Universität Bielefeld zum Thema Kommunale Bildungspolitik. Ihre Aufmerksamkeit gilt vor allem den Bereichen Kritische Geographie, Kommunalund Bildungspolitik sowie Capabilities-Forschung. Iris Dzudzek arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Sie promoviert zum Thema »Governing (through) Creativity and Diversity«. Hier untersucht sie die Rolle von Kreativ- und Vielfaltspolitiken für die Regierung von Städten. Darüber hinaus interessiert sie sich für diskurs- und hegemonietheoretische Fragen. Lukas Engelmann hat Geschichte und Gender-Studies an der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und verfolgt derzeit ein Promotionsprojekt mit dem Arbeitstitel »Krankheitsbild AIDS« im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs »Geschlecht als Wissenskategorie«. Neben Wissenschafts- und Medizingeschichte gehören Bildwissenschaften, GenderStudies und Queer Theory zu seinen Forschungsinteressen. Michael Flitner ist Professor für nachhaltige Regionalentwicklung in der Globalisierung und Sprecher des artec Forschungszentrum Nachhaltigkeit der Universität Bremen. Sein Interesse gilt der sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven auf Natur und Umwelt, laufende Forschungen beschäftigen sich mit politischer Ökologie und Klimawandel u.a. in Indonesien und Deutschland. Andreas Folkers ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Biotechnologie, Natur und Gesellschaft des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt a.M. und Promotionsstipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. In seinem Promotionsprojekt beschäftigt er sich mit dem Schutz Kritischer Infrastruktur als Teil einer »Regierung generischer Gefährdung«. Henning Füller arbeitet als Akademischer Rat am Institut für Geographie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. In seiner Forschung thematisiert er die Schnittstelle von Macht, Raum und Sicherheit auf der Ebene der Stadt. Sein aktuelles Projekt untersucht die städtischen Implikationen von Biosicherheit und Public Health.

308

Autorinnen und Autoren

Paul Gebelein M.A., hat Physik, Soziologie und Philosophie in Gießen und Frankfurt a.M. studiert. Zurzeit ist er Stipendiat im DFG-Graduiertenkolleg »Topologie der Technik« an der Technischen Universität Darmstadt. Seine Forschungsschwerpunkte sind die räumliche Dimension von Praktiken und die technologische Bedingtheit sozialer Phänomene. Mélina Germes forscht seit Oktober 2011 am Centre Marc Bloch, deutsch-französisches Forschungszentrum für Sozialwissenschaften in Berlin. Sie arbeitet zu städtischen Vororten und Sicherheitspolitik. Sie interessiert sich außerdem für die epistemologischen Probleme wissenschaftlicher Übersetzungen in den Sozialwissenschaften und in der Geographie. Georg Glasze ist Professor für Kulturgeographie am Institut für Geographie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Im Mittelpunkt seiner Forschung stehen neuere Ansätze der Kultur- und Sozialgeographie, der sozialgeographischen Stadtforschung sowie der Politischen Geographie. Darüber hinaus beschäftigt er sich aus der Perspektive der Kritischen Kartographie insbesondere mit Transformationen durch das GeoWeb. Gabriele Gramelsberger promovierte 2001 in Philosophie und arbeitet am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin als Wissenschaftsphilosophin. Sie beschäftigt sich mit dem Wandel der Wissenschaft durch den Computer. Armin Grunwald ist Leiter des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse am Karlsruher Institut für Technologie, Leiter des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag und Professor für Technikphilosophie in Karlsruhe. Matthew Hannah ist Professor für Humangeographie am Institute of Geography and Earth Sciences der Aberystwyth University in Wales, UK. Er beschäftigt sich mit Fragen der umstrittenen Artikulationen zwischen räumlichen Ordnungen und Staatswissen (insbesondere Statistik) in der westlichen Moderne sowie mit räumlichen Voraussetzungen und Implikationen von kritischen Theorien der Macht. Jürgen Hasse ist Professor am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Seine Forschung umfasst räumliche Vergesellschaftung, Mensch-Natur-Verhältnisse und phänomenologische Stadtforschung. Zuletzt erschien von ihm: Atmosphären der Stadt (Berlin 2012). Susanne Heeg ist Professorin für Geographische Stadtforschung am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Ihre Forschungsinte309

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

ressen umfassen zum einen die Neuordnung des Städtischen im neoliberalen Zeitalter sowie dagegen gerichteten Widerstand und zum anderen die Finanzialisierung der städtisch gebauten Umwelt. Leon Hempel studierte Politikwissenschaft und Komparatistik in Berlin. Er leitet den Bereich Sicherheit – Risiko – Privatheit am Zentrum Technik und Gesellschaft der Technischen Universität Berlin. Peter Hocke (Dr. phil.) ist Senior Fellow am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse am Karlsruher Institut für Technologie. Seit 2006 ist er Mitglied der Expertengruppe Schweizer Tiefenlager des Bundesumweltministeriums und Leiter der Redaktion der Zeitschrift »Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis«. Er forscht zu politischer Interessenvermittlung, Endlagerung als Technikkonflikt sowie Nanotechnologie. Yusif Idies lebt in Leipzig und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie der dortigen Universität. Seine besonderen Forschungsinteressen liegen im Gebiet der Geographien der Produktion und Konsumtion. Ute Kalender lebt in Berlin und ist Post-Doc in einem Forschungsprojekt zu Biological Citizenship. Ihre Forschungsinteressen sind Queer-Crip Theory, Feminist Cultural Studies of Technoscience und Materialistische Feminismen. Juliane Karakayali ist Professorin für Soziologie an der Evangelischen Hochschule Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migration, Rassismus, Geschlechterforschung und soziale Ungleichheit. Sie ist Mitglied im Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung. Alma-Elisa Kittner (Dr. phil.) ist Kunstwissenschaftlerin am Institut für Kunst der Universität Duisburg-Essen mit dem Schwerpunkt moderne und zeitgenössische Kunst. Zum Thema erschienen: Weichspüler. Wellness in Kunst und Konsum, Themenheft Querformat. Zeitgenössisches, Kunst, Populärkultur (hg. mit J. Scheller, J. Petri und U. Stoltz, 2010). Benedikt Korf lehrt Politische Geographie an der Universität Zürich. Seine Forschung beschäftigt sich mit Geographien der Gewalt in Südasien und am Horn von Afrika und ist in verschiedenen Fachzeitschriften erschienen, u.a. in Political Geography, Geoforum, Progress in Human Geography und in der Geographischen Zeitschrift.

310

Autorinnen und Autoren

Jenny Künkel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt »Policing American Style in Frankfurt am Main?« am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Andreas Langenohl ist Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Allgemeiner Gesellschaftsvergleich am Institut für Soziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er forscht und lehrt auf den Gebieten der Wirtschafts- und Finanzsoziologie sowie zu Prozessen transnationaler Zirkulation und der Epistemologie der Sozialwissenschaften. Daniel Loick ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Moralphilosophie und Ethik. Zuletzt erschienen von ihm: Der Nomos der Moderne. Die politische Philosophie Giorgio Agambens (Hrsg., Baden-Baden 2011) und Kritik der Souveränität (Frankfurt und New York 2012). Andreas Lösch (Dr. phil.) ist Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse am Karlsruher Institut für Technologie sowie Privatdozent am Fachbereich Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften der Technischen Universität Darmstadt. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Wissenschafts- und Techniksoziologie sowie Governance of Science & Technology. Nadine Marquardt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich von Stadt- und Sozialgeographie. Derzeit arbeitet sie an einem DFG-geförderten Postdoc-Projekt zu historischen und aktuellen Geographien der Wohnungslosigkeit. Stefan Ouma ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Gruppe Wirtschaftsgeographie am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Seine Forschungsinteressen umfassen die Themengebiete Finanzialisierung des Agrarischen, Globale Warenketten, Standards und Regulation sowie Prozesse der Vermarktlichung und Regionalentwicklung im Globalen Süden, insbesondere in Ost- und Westafrika. Sonja Palfner promovierte 2008 in Politikwissenschaft und arbeitet in der Wissenschafts- und Technikforschung. Derzeit leitet sie ein Projekt zur Forschungsinfrastrukturentwicklung in den E-Sciences & Digital Humanities an der Technischen Universität Berlin. Ihr Interesse gilt Institutionalisierungsprozessen und Wissenschaftswandel in Relation zu IT-Entwicklungen. 311

Ortsregister — Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart

Jörg Potthast ist Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin. Sein aktuelles Forschungsprojekt trägt den Titel »Technik außer Betrieb«. Jüngste Veröffentlichung: Symmetrical twins. On the relationship between ANT and the sociology of critical capacities, European Journal of Social Theory 15(2) (mit M. Guggenheim, 2012). Robert Pütz ist Professor für Humangeographie am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der sozial- und wirtschaftsgeographischen Stadtforschung. Conrad Schetter ist Research Fellow am Zentrum für Entwicklungsforschung der Universität Bonn und leitet die Forschungsgruppe »Governance and Conflict«. Er arbeitet zu verschiedenen Themen der Konflikt- und Entwicklungsforschung. Seine Forschungsschwerpunkte sind lokale Macht- und Gewaltstrukturen, internationale Interventionsstrategien und die Politisierung kollektiver Identitäten. Sebastian Schipper hat zum Thema »Genealogie und Gegenwart der unternehmerischen Stadt. Neoliberales Regieren in Frankfurt am Main zwischen 1960 und 2010« promoviert und arbeitet derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Kritische Geographie und Stadtforschung. Antje Schlottmann ist Juniorprofessorin am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der Konstitution von (Natur-)Raum in alltäglicher Sprach- und Bildpraxis. Daneben interessieren sie Fragen der raumbezogenen Image- und Identitätsbildung sowie transdisziplinäre Perspektiven in Forschung und Lehre. Martina Schlünder ist Ärztin und Wissenschafts- und Medizinhistorikerin. Zurzeit arbeitet sie am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin zur Geschichte des Verhältnisses von Kollektiv und Individuum in der Biomedizin. Sie ist Mitglied des Ludwik Fleck Kreises und interessiert sich für vergleichende Erkenntnistheorie, minoritäre Epistemologien und ambulante Wissenschaft und Tier-Mensch-Beziehungen in der Biomedizin des 20. und 21. Jahrhunderts. Verena Schreiber (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Ihr Forschungsinteresse gilt geographischer Stadtforschung sowie Raum- und Gesellschaftstheorien. 312

Autorinnen und Autoren

Nina Schuster (Dr. phil.) ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät Raumplanung der Technischen Universität Dortmund. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Soziale Ungleichheit und Stadt, Intersektionalitätsund Diversityansätze, queer/feministische Theorie, Soziale Bewegungen und Raumtheorie. Zuletzt erschien: Andere Räume. Soziale Praktiken der Raumproduktion von Drag Kings und Transgender (Bielefeld 2010). Ute Tellmann, PhD, ist zurzeit Vertretungsjuniorprofessorin für soziologische Theorie an der Universität Hamburg in Fachbereich Sozialwissenschaften. Sie hat an der Cornell University in Politischer Theorie promoviert. Ihre Forschungsinteressen gelten der Cultural Economy, Politischen Theorie und Historischen Epistemologie. Andreas Tijé-Dra ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Stadtgeographie, der Kulturgeographie sowie der Politischen Geographie. Anselm Wagner ist Kunsthistoriker und Professor für Architekturtheorie am Institut für Architekturtheorie, Kunst- und Kulturwissenschaften der Technischen Universität Graz. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt die Analyse von Reinheit und Schmutz im Diskurs der modernen Kunst und Architektur. Gisela Welz ist Professorin für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Seit ihrer Habilitation »Inszenierungen kultureller Vielfalt. Frankfurt am Main und New York« (1996) beschäftigt sie sich damit, wie die durch Migration erzeugte kulturelle Diversität von Städten im Rahmen von Standortmarketing und Tourismus kommodifiziert wird. Karlheinz Wöhler ist Professor am Institut für Stadt- und Kulturraumforschung der Leuphana Universität Lüneburg. Er forscht zu Verräumlichungsprozessen, Tourismus- und Kulturräumen. Neuere Publikationen hierzu: Tourismusräume. Zur soziokulturellen Konstruktion eines globalen Phänomens (hg. mit A. Pott und V. Denzer, Bielefeld 2010) und Touristifizierung von Räumen (Wiesbaden 2011). Claudia Wucherpfennig (Dr. phil.) war als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a.M. tätig. Sie arbeitet heute als Bildungsreferentin und ist im Netzwerk kritische Migrations- und Grenzregimeforschung und im Aktionsbündnis gegen Abschiebung Rhein-Main aktiv.

313

Abbildungsverzeichnis

Borderlands Foto: Marc Boeckler Deponie Foto: Lois Weinberger Friedwald Foto: Jürgen Hasse Lounge zeitgenössische Postkarte: Palmenfoyer im Adlon-Hotel Berlin um 1920 Maquiladora Foto: Christian Berndt Palette Das Holz auf dem der Nachschub nach Europa kam. Army Service Forces Manual M403 Supply: Station Supply Procedure. Procedure for the Requisition, Purchase, Receipt, Issue, and Shipment of Material (Except for Subsistence). Headquarters Army Service Forces, 1. September 1943. Washington 1943, S. 77. Stall Foto: Courtesy of AO-Foundation Übertragungsweg Quelle: Smallman-Raynor, Matthew, Andrew Cliff und Peter Haggett (Hrsg., 1992), London International Atlas of AIDS, Oxford und Cambridge: Blackwell Publishers, S. 144. Vertikale Farm Zeichnung: Uta Koslik

315

Sozialtheorie Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer, Carsten Keller, Franz Schultheis (Hg.) Bourdieu und die Frankfurter Schule Kritische Gesellschaftstheorie im Zeitalter des Neoliberalismus Dezember 2012, ca. 350 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1717-7

Wolfgang Bon , Ludwig Nieder, Helga Pelizäus-Hoffmeister Handlungstheorie Eine Einführung November 2012, ca. 280 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1708-5

Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Commons Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat April 2012, 528 Seiten, Hardcover, 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2036-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Sozialtheorie Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze März 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-89942-703-5

Stephan Moebius, Sophia Prinz (Hg.) Das Design der Gesellschaft Zur Kultursoziologie des Designs Februar 2012, 438 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1483-1

Ulrich Willems, Detlef Pollack, Helene Basu, Thomas Gutmann, Ulrike Spohn (Hg.) Moderne und Religion Kontroversen um Modernität und Säkularisierung November 2012, ca. 500 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1966-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Sozialtheorie Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde, Dagmar Freist (Hg.) Selbst-Bildungen Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung Februar 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1992-8

Pradeep Chakkarath, Doris Weidemann (Hg.) Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft Februar 2013, ca. 226 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1500-5

Bernd Dollinger, Fabian Kessl, Sascha Neumann, Philipp Sandermann (Hg.) Gesellschaftsbilder Sozialer Arbeit Eine Bestandsaufnahme Mai 2012, 218 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1693-4

Iris Dzudzek, Caren Kunze, Joscha Wullweber (Hg.) Diskurs und Hegemonie Gesellschaftskritische Perspektiven Oktober 2012, 262 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1928-7

Michael Heinlein, Katharina Se ler (Hg.) Die vergnügte Gesellschaft Ernsthafte Perspektiven auf modernes Amüsement September 2012, 320 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2101-3

Leon Hempel, Marie Bartels (Hg.) Aufbruch ins Unversicherbare Zum Katastrophendiskurs der Gegenwart

Konstantin Ingenkamp Depression und Gesellschaft Zur Erfindung einer Volkskrankheit Februar 2012, 370 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1930-0

Herbert Kalthoff, Uwe Vormbusch (Hg.) Soziologie der Finanzmärkte September 2012, 376 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1806-8

Sven Lewandowski Die Pornographie der Gesellschaft Beobachtungen eines populärkulturellen Phänomens Juni 2012, 316 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2134-1

Stephan Lorenz Tafeln im flexiblen Überfluss Ambivalenzen sozialen und ökologischen Engagements Januar 2012, 312 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2031-3

Christian Mersch Die Welt der Patente Soziologische Perspektiven auf eine zentrale Institution der globalen Wissensgesellschaft November 2012, ca. 460 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2056-6

Birgit Riegraf, Dierk Spreen, Sabine Mehlmann (Hg.) Medien – Körper – Geschlecht Diskursivierungen von Materialität Juli 2012, 290 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2084-9

November 2012, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1772-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de