Übersetzung als Erinnerung: Sachbuch-Übersetzungen im deutschen Diskurs um NS-Verbrechen in den 1950er-Jahren 9783839452899

In den 1950er-Jahren spielten übersetzte Sachbücher eine Schlüsselrolle bei der Etablierung von Diskursräumen zu den NS-

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Übersetzung als Erinnerung: Sachbuch-Übersetzungen im deutschen Diskurs um NS-Verbrechen in den 1950er-Jahren
 9783839452899

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Einleitung
2. Wie erinnern Übersetzungen? Die Autonomie des abgeleiteten Textes
3. Wilhelm und Modeste Pferdekamps Übersetzung von Alan Bullocks Hitler. A Study in Tyranny
4. Roswitha Czolleks Übersetzung von Lord Russell of Liverpools Scourge of the Swastika
5. Johann Wolfgang Brügels Übersetzung von Gerald Reitlingers The Final Solution
6. Synthese
7. Fazit
Bibliografie
Personenverzeichnis

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Georg Felix Harsch Übersetzung als Erinnerung

Public History – Angewandte Geschichte  | Band 5

Georg Felix Harsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Edition »The Persecution and Murder of the European Jews by Nazi Germany, 1933-1945« am Leibniz Institut für Zeitgeschichte München-Berlin. Vor seiner Promotion war er lange Jahre freier Übersetzer und Mitarbeiter verschiedener KZ-Gedenkstätten.

Georg Felix Harsch

Übersetzung als Erinnerung Sachbuch-Übersetzungen im deutschen Diskurs um NS-Verbrechen in den 1950er-Jahren

Gedruckt mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Inhalt

Vorwort ............................................................................ 9 1.

Einleitung.....................................................................13

2.

Wie erinnern Übersetzungen? Die Autonomie des abgeleiteten Textes ...................................... 25 2.1. Übersetzung.................................................................. 27 2.1.1. Autonomie, Geschichte und Vorschein: Walter Benjamin ................ 27 2.1.2. Babel und Vertrag: Jacques Derrida .................................... 33 2.1.3. Normen, Ableitung und Rewriting: Translation Studies .................. 38 2.2. Erinnerung ................................................................... 48 2.2.1. Inhalt und Gedanken: Sigmund Freud ................................... 48 2.2.2. Kollektives und soziales Erinnern ...................................... 52 2.2.3. Übersetzung als Erinnerung: Übersetzungsgeschichte und historische Diskursanalyse ............... 56 2.3. Methodische Synthese: In vier Schritten zur historischen Diskursanalyse von Übersetzungen ........................................... 60 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 3.6.

Wilhelm und Modeste Pferdekamps Übersetzung von Alan Bullocks Hitler. A Study in Tyranny ............................................................. 65 Das Original und seine Rezeption in Großbritannien ............................ 65 Die NS-Menschheitsverbrechen als Nebenaspekt von Hitlers Biografie .......................................................... 69 Die Rezeption in Großbritannien............................................... 73 Verlag und ÜbersetzerInnen in Deutschland ................................... 75 Die Übersetzung .............................................................. 80 Die Rezeption in Deutschland ................................................. 87

4. 4.1. 4.2. 4.3.

4.4.

Roswitha Czolleks Übersetzung von Lord Russell of Liverpools Scourge of the Swastika ...................................................... 95 Das Original .................................................................. 95 Der Autor und die Kontroverse um die Veröffentlichung in Großbritannien ...... 97 4.2.1. Die Rezeption des Originals in Großbritannien ......................... 100 Die deutsche Übersetzung Geißel der Menschheit von Roswitha Czollek .........107 4.3.1. Verträge und Vorbereitungen...........................................107 4.3.2. Die Übersetzerin: Roswitha Czollek .................................... 109 4.3.3. Der deutsche Text ..................................................... 111 Die Rezeption der Übersetzung in Deutschland ............................... 129 4.4.1. Rezeption in der DDR-Presse .......................................... 129 4.4.2. Rezeption durch staatliche Stellen: Der Fall Dr. Kurt Heißmeyer ........................................... 135 4.4.3. Veröffentlichung in der Bundesrepublik ............................... 138 4.4.4. Rezeption in Westdeutschland ........................................ 140

5.

Johann Wolfgang Brügels Übersetzung von Gerald Reitlingers The Final Solution .................................... 145 5.1. Das Original und der Autor ................................................... 145 5.1.1. The Final Solution ...................................................... 147 5.1.2. Rezeption in Großbritannien .......................................... 152 5.2. Die Endlösung. Hitlers Versuch der Ausrottung der Juden Europas 1939-1945 ................................................. 155 5.2.1. Vorfelddebatten und Vorbereitungen .................................. 155 5.2.2 Der Übersetzer Johann Wolfgang Brügel .............................. 159 5.2.3 Der deutsche Text .................................................... 162 5.3. Die Rezeption in Deutschland ................................................. 174 5.3.1. Der Fall Richard Korherr – ein vergangenheitspolitischer Ringkampf .... 174 5.3.2. Rudolf Hagelstanges Einleitung und die Rezeptionsvorstellungen der Bundeszentrale für Heimatdienst ......... 182 5.3.3. Die öffentliche Rezeption in der Bundesrepublik ....................... 185 6. Synthese..................................................................... 191 6.1. Nach Belsen: Die NS-Massenverbrechen im britischen Gedächtnis und öffentlichen Diskurs der 1950er-Jahre......................................... 191 6.1.1. Übersetzbarkeiten: Die Anfänge einer Historiografie der NS-Verbrechen in Großbritannien ................................. 195

6.2. Die ÜbersetzerInnen ......................................................... 208 6.2.1. Die Pferdekamps ..................................................... 209 6.2.2. Johann Wolfgang Brügel ............................................... 212 6.2.3. Roswitha Czollek ...................................................... 214 6.2.4. ÜbersetzerInnen im intertextuellen System .............................215 6.3. Die Übersetzungen.............................................................216 6.3.1 Hitler. Eine Studie über Tyrannei ........................................216 6.3.2 Geißel der Menschheit ................................................. 218 6.3.3. Die Endlösung ......................................................... 221 6.3. Rezeption in Deutschland .................................................... 223 6.4.1. Hitler Eine Studie über Tyrannei........................................ 225 6.4.2. Die Endlösung ........................................................ 227 6.4.3. Geißel der Menschheit ................................................. 228 6.4.4. Erinnerungseffekte: Heißmeyer und Korherr ........................... 232 7.

Fazit ........................................................................ 237

Bibliografie....................................................................... 245 Primärliteratur .................................................................... 245 Archivalische Quellen, Quellensammlungen......................................... 245 Aufsätze und Zeitungsartikel ...................................................... 246 Monografien und Sammelbände ................................................... 249 Personenverzeichnis ............................................................. 253

Vorwort

Diese Studie geht auf Fragen zur Wissensformation des Holocaust in Übersetzungsprozessen zurück, die sich mir über knapp zehn Jahre während meiner Arbeit an vielen verschiedenen Ausstellungs- und Publikationsprojekten für die KZ-Gedenkstätten Neuengamme, Bergen-Belsen und Ravensbrück gestellt haben, und die ich mit KollegInnen in diesen Projekten diskutiert habe. Deshalb gebührt mein Dank zuallererst ihnen. Stellvertretend für viele will ich hier die nennen, deren Nachfragen und Hinweise mich über längere Zeit immer wieder dazu gebracht haben, die eigenen Übersetzungen zu hinterfragen, sie zu präzisieren und über das Übersetzen jenseits der konkreten Projekte nachzudenken: Anat Frumkin, Maren Vosshage, Alyn Bessmann und Diana Gring, aber vor allen anderen meine engste Kollegin, Lektorin, Mitübersetzerin und Freundin Jessica Spengler. Dass ich mich so ausführlich übersetzerisch mit Fragen der Erinnerung an die NS-Verbrechen beschäftigen konnte, verdanke ich natürlich auch dem Vertrauen und den wiederholten Empfehlungen der ProjektleiterInnen an den Gedenkstätten: Detlef Garbe, Wilfried Wiedemann, Habbo Knoch und Insa Eschebach. Aus meinen beruflichen Erfahrungen und verschiedenen Versionen der Frage, was mit dem Wissen um die NS-Verbrechen eigentlich geschieht, wenn es übersetzt wird und den nationalen Publikationskontext wechselt, konnte aber erst nach intensiven Gesprächen und Korrespondenzen im vorwiegend akademischen Kontext ein Promotionsprojekt werden. Diese fanden zuerst im Jahr 2009 bei der vom britischen AHRC finanzierten Workshop-Reihe Holocaust Writing and Translation bei einer Reihe von Treffen mit vor allem britischen WissenschaftlerInnen statt. Meine ersten, noch sehr weitläufigen Ideen wurden dann in ermutigenden und erhellenden Gesprächen mit Habbo Knoch und ab 2012 bei den überaus produktiven Sitzungen eines selbst organisierten Kolloquiums nicht nur

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Übersetzung als Erinnerung

konkretisiert, sondern auch auf eine Übersetzungsrichtung und eine erinnerungsgeschichtliche Epoche zugespitzt. Die Mitglieder dieses Kolloquiums, Moritz Lautenbach-von Ostrowski, Arne Offermanns und Dennis Bock haben am Zustandekommen und an der konkreten Form dieser Arbeit einen unschätzbaren Anteil, weil wir von der Anfangsphase bis zur Abgabe immer wieder unsere jeweiligen Probleme, Konzepte, Formulierungs- und auch Finanzierungsfragen miteinander besprechen und lösen konnten. Für diese nachhaltige Kollegialität bin ich allen drei zutiefst dankbar. Dass ich dieses Promotionsprojekt im Alter von 40 Jahren überhaupt noch beginnen konnte, verdanke ich zuerst meiner Doktormutter Susanne Rohr, die das Projekt an ihr Institut holte und mir mit der Anbindung an mein altes Fach Anglistik/Amerikanistik sowie durch ihre geduldige und verlässliche Betreuung in der Interdisziplinarität meines Ansatzes immer wieder Orientierung gab. Auf der anderen Seite der Interdisziplinarität sorgte mein Zweitgutachter Habbo Knoch während des gesamten Projektes mit ausführlichen Hinweisen und Hilfestellungen dafür, dass es auch wirklich eine historiographische Arbeit wurde. Dass aus dem Projekt eine fertig geschriebene Studie werden konnte, verdanke ich der Auswahlkommission und meinen MitstipendiatInnen der Hans-Böckler-Stiftung sowie dem engagierten Gutachten meines Berufsverbandes VdÜ, das mir die hochgeschätzte Kollegin Brigitte Große ausgestellt hat, und der Unterstützung des Projekts durch meine Vertrauensdozentin Heike Deckert-Peaceman. Nach über einem Jahrzehnt im Berufsleben, als Gewerkschafter und als Vater hätte es für mich kein passenderes Umfeld geben können. In meiner gesamten Ausbildung und in meinem Berufsleben habe ich keine Organisation oder Institution erlebt, in der realistische Vorstellungen von einem demokratischen Arbeitszusammenhang so praktisch und produktiv gelebt worden wären wie in der Studien- und Promotionsförderung der Hans-Böckler-Stiftung. Und nicht zuletzt war auch die Arbeit in meiner Böckler-Mikro-AG von großer Bedeutung für diese Arbeit. Ihren Mitgliedern Anne Mielke, Bodo Kahmann, Steffen Klävers und Christian Kelch verdanke ich nicht nur entscheidende inhaltliche Hinweise, sondern auch viele gute Anregungen zu Arbeitsorganisation und Selbststrukturierung. Ebenso wichtig war selbstverständlich die Unterstützung, die ich in den verschiedenen Archiven und Bibliotheken erfahren habe: im Archiv der Akademie der Künste in Berlin, in dem der einzigartige Schatz des Verlagsnachlasses von Volk und Welt liegt, im Archiv der Sozialen Demokratie in Bonn, im Hausarchiv des Instituts für Zeitgeschichte in München, dessen Leiter Klaus

Vorwort

Lankheit mich eigens auf das anonyme Gutachten aus dem Nachlass Krausnick hinwies, das für mein Verständnis der Rolle von Übersetzungen zu den NS-Verbrechen so wichtig war, im Archiv der Wiener Library in London sowie in der British Library, und nicht zuletzt im Deutschen Literaturarchiv in meiner Geburtsstadt Marbach a.N., wo ich bei zwei mehrwöchigen Aufenthalten weniger geforscht aber dafür umso mehr geschrieben und über die Reben auf den Neckar geschaut habe. Für die aktuelle Form der Arbeit waren die Erstlektorate von Bernd Schroller, Birgit Utz und Maja Rettig sehr wichtig. Insbesondere Bernd Schroller hat den finalen Überarbeitungsprozess mit weitläufiger und vielseitiger historischer Expertise und großer Stilsensibilität entscheidend geprägt. Wichtige inhaltliche Hinweise und Ermutigungen verdanke ich außerdem Annette Kretzer, Matthias Stöbe, Corinna van Niekerk und Matthias Glatzer. Aber all das wäre über die fünf Jahre der Arbeit an diesem Text nicht genug gewesen ohne die Liebe, die Freundschaft, die Musik, das Essen, den Wein, den Urlaub und die Kinderbetreuung, die ich von meiner Familie und den Menschen in meinem engsten Umfeld bekommen oder mit ihnen genossen habe. Meine Partnerin Birgit Utz, die immer wieder gesagt hat: »Mach doch jetzt einfach diese Diss fertig!«, und meine Tochter Lydia, die zurecht und zum Glück immer wieder gesagt hat: »Jetzt hör endlich auf zu arbeiten!« waren entscheidend. Ebenfalls sehr wichtig waren Jörg Wagner, Elisabeth Schmidt, Sylke Jehna, Andrej Reisin, Ute Niemeyer, Corinna Gerhardt und Anna von Villiez. Ihnen allen danke ich auch dafür, dass sie mich in unterschiedlichen Zuständen der An- und Abwesenheit während dieser Zeit ertragen haben.   Gewidmet ist dieses Buch dem Andenken an Corinna van Niekerk (1971-2020). Dass ich es ihr nicht mehr schenken kann, ist unerträglich.

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1. Einleitung

Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Massenverbrechen, sei sie juristisch, politisch, historiografisch oder autobiografisch, war von Anfang an ganz zentral auf die Übersetzung aus dem und ins Deutsche als Medium angewiesen. Zwischen der deutschen Spezifik der NS-Verbrechen und ihrer globalen Bedeutung bestand ebenso von Anfang an eine dynamische dialektische Beziehung. Die globale Dimension zeigte sich in der weltweiten medialen Verbreitung des Wissens um diese Verbrechen ebenso wie im Wunsch des Internationalen Gerichtshofs, den die Alliierten in Nürnberg einrichteten, die Sprachbarrieren zwischen den Angeklagten und dem Gericht, aber auch zwischen den verschiedenen Vertretern von Anklage und Richterschaft so weit wie möglich aufzuheben. Dieses Bestreben resultierte im erstmaligen praktischen Einsatz dessen, was wir heute als System des Simultandolmetschens in großen internationalen Einrichtungen wie der UN-Generalversammlung oder dem Europäischen Parlament kennen.1 Mit dem Sprechen und Schreiben über die nationalsozialistischen Verbrechen beginnt also auch die Geschichte der Übersetzung von Texten und gesprochener Sprache über diese Verbrechen. Gleichzeitig war die deutsche Spezifik dieser Verbrechen auch immer von entscheidender Bedeutung, wenn über sie gesprochen oder an sie erinnert wird und wurde. Der Holocaust wurde wie auch die anderen Verbrechen der Nationalsozialisten auf Deutsch geplant, organisiert und zum größten Teil durchgeführt. Die Opfer dieser Verbrechen sprachen viele verschiedene überwiegend europäische Sprachen, diejenigen, die sie beendeten und Europa

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Francesca Gaiba hat die Geschichte der Entwicklung und erstmaligen Anwendung des modernen Simultandolmetschens bei den Nürnberger Prozessen detailreich aufgeschrieben: Francesca Gaiba: The Origins of Silmultaneous Interpretation: The Nuremberg Trial. Ottawa 1998.

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Übersetzung als Erinnerung

vom Nationalsozialismus befreiten, sprachen vor allem Englisch und Russisch. Zu den Sprachen, die für die Konstitution einer Nachgeschichte der NS-Verbrechen von besonderer Bedeutung waren, trat dann nach der Befreiung und insbesondere nach der Gründung Israels 1948 noch das Hebräische als Sprache des Staates hinzu, der die jüdischen Opfer Nazideutschlands weltweit vertrat. Für den deutschen Sprach- und Publikationsraum war diese Vielsprachigkeit ebenso entscheidend bei der Formierung eines Diskurses über die NSVerbrechen wie für den Rest der Welt. Bei der Konfrontation mit der Realität dieser Verbrechen und mit der Mitverantwortung der Mehrheit der deutschen Gesellschaft spielte das Übersetzen vom Englischen ins Deutsche eine sehr wichtige Rolle. Spätestens mit den Reden, die britische Offiziere während der ersten organisierten Besuche deutscher AnwohnerInnen und Würdenträger in den gerade befreiten Konzentrationslagern hielten, kam dem Übersetzen diese konfrontierende Funktion zu. In der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre gab es zweierlei politisch-diskursive Prozesse, die eine kritische Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus in der deutschen Öffentlichkeit zum Ziel hatten. Einerseits waren dies die Stimmen der überlebenden deutschsprachigen jüdischen und anderen Opfer des Nationalsozialsozialismus, die vor allem vor den Staatsgründungen in Ost und West noch vergleichsweise häufig zu hören waren. Andererseits waren es die kurzlebigen Reeducation- und Entnazifizierungsversuche der Westalliierten, die mit konkreter politischer Macht ausgestattet waren, aber sehr schnell als nicht mehr zielführend angesehen wurden. Auch diese Bemühungen, die inhaltlich auf Englisch konzipiert wurden, waren nur mithilfe von Übersetzungen umzusetzen. Es war also vom Moment der Befreiung 1945 an immer wieder die Übersetzung, die den Diskurs über die auf Deutsch begangenen Verbrechen wieder in die deutsche Sprache einschreiben musste. Dieser Prozess verlief in den 1950er-Jahren stets gegen einen sofort einsetzenden deutschsprachigen Diskurs der Relativierung, Schuldabwehr und Verdrängung, auf den zutrifft, was Habbo Knoch über die ikonographische Verwendung von Fotografien geschrieben hat: »Gegen die Zumutung der Nähe zur Tat etablierte sich in den Gründungsjahren der Bundesrepublik ein […] Erinnerungsprogramm, mit dem sich

1. Einleitung

die Deutschen als doppelte Opfer von Nationalsozialismus und Krieg vergemeinschaften konnten.«2 Nach den beiden Staatsgründungen 1949 konnten die Deutschen dieses »Erinnerungsprogramm« dann deutlich ungehinderter installieren, und es nahm in den beiden Staaten eine jeweils sehr unterschiedliche diskursive Gestalt an. In der DDR gab es im Vergleich zur Bundesrepublik eine etabliertere öffentliche Erinnerung an die Lager- und Kriegsverbrechen des NS-Regimes, jedoch wurde diese diskursiv so konstruiert, dass das zentrale deutsche Massenverbrechen, der Mord an den europäischen Juden, in ihr gar keinen Platz hatte. Dieser Ausschluss wurde noch dadurch befördert, dass die ultimative Verantwortung für den Nationalsozialismus und seine Verbrechen ausschließlich im »Kapitalismus« verortet und damit diskursiv in Richtung Westen externalisiert wurde. In der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit wurde eine ehrliche und informierte Erinnerung an die NS-Verbrechen zur selben Zeit von anderen diskursiven Prozessen und Setzungen verhindert. In den späten 1940er- und frühen 1950er-Jahren manifestierte sich die gesellschaftliche Erinnerungsabwehr vor allem entlang von Themen und Tropen wie der Betonung deutschen Kriegsleids, dem Diskurs über Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen Mitteleuropa, der Thematisierung der fortdauernden Inhaftierung der von Sowjetischen Sondergerichten als Kriegsverbrecher verurteilten ehemaligen deutschen Soldaten sowie in der Konstruktion und darauffolgenden Abwehr der sogenannten Kollektivschuldthese Den öffentlichen Diskursen in beiden deutschen Staaten war gemeinsam, dass sie einerseits »einer sozialpsychischen Schuldentlastung auf sozusagen breitester Front«3 und andererseits der Konstruktion eines unbelasteten nationalen Kollektivs für die neuen Staaten dienten. Diese diskursiven Bedingungen trennten die »auf Deutsch« begangenen Verbrechen von ihrer Anerkennung und Aufarbeitung fast vollständig ab, ebenso wie von fast sämtlichen sprachlich manifestierten Formen der Trauer um die Millionen Opfer. Sie schufen eine Leerstelle in der Sprache, oder sorgten dafür, wie Theodor

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Habbo Knoch: Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur. Hamburg 2001, S. 13. Norbert Frei: »1945 und wir. Die Gegenwart der Vergangenheit« in ders.: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München 2005, S. 11.

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W. Adorno es 1959 formulierte, dass sich um die Erinnerungen an »Deportation und Massenmord« ein »Hohlraum der Rede«4 bildete, der die Deutschen als Kollektive in Ost und West vor der »Zumutung der Nähe der Tat«5 (Knoch) schützen sollte. Unter diesen diskursiven Bedingungen blieb die Übersetzung als eines von nur ganz wenigen Instrumenten übrig, mit denen eine breitere öffentliche Rezeption für das etablierte Wissen um die Verbrechen im deutschen Sprachraum geschaffen und dieser »Hohlraum« gefüllt werden konnte. Ich habe diese Arbeit aus mehreren Gründen »Übersetzung als Erinnerung« genannt. Der eigentliche Anlass, diese spezielle deutsch-englische Übersetzungsgeschichte zu schreiben, war die oben skizzierte Erkenntnis, dass Übersetzungen ins Deutsche bis in die Gegenwart einige der wichtigsten Diskursanlässe für öffentliche Debatten über die NS-Verbrechen lieferten und es teilweise erst möglich machten, dass das auf Deutsch Begangene auch auf Deutsch erinnert wurde. Vor allem ab den 1960er-Jahren waren es immer wieder englischsprachige kulturelle Produkte, die durch ihre Übersetzung ins Deutsche öffentliche Debatten in der Bundesrepublik anstießen. Diese Werke aktualisierten Wissen über die NS-Verbrechen und verankerten es im kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik. In all diesen Fällen fungierte die Übersetzung zuallererst als Erinnerung im Sinne einer Mahnung oder, etwas nüchterner, im Sinne des englischen Wortes »reminder«. Diese Übersetzung schuf zunächst einen deutschsprachigen und deshalb in Deutschland breit rezipierbaren Text. Dieser Text konnte dann vorhandenes Wissen aus der Obskurität der Schuldabwehr und Verdrängung holen und es mit neuen Erkenntnissen, anderen Wissensbeständen und moralischen Urteilen kontextualisieren. All diese Anlässe sind mittlerweile, etwa 25 Jahre nach dem Beginn der intensiveren Auseinandersetzung mit der Erinnerungsgeschichte des Holocaust, sehr gut erforscht, zwar nicht als Übersetzungen, aber doch was ihren Einfluss auf den öffentlichen Diskurs und die gesellschaftliche Erinnerung in Deutschland angeht.6

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Theodor W. Adorno: »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit« (1959) in: Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfurt a.M. 1964, S. 126. Habbo Knoch: Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur. Hamburg 2001, S. 19. Siehe dazu z.B.: Aleida Assmann, Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999. Außerdem: Frei, 1945 und wir.

1. Einleitung

Weil diese Werke und ihr Einfluss bereits so ausführlich als Verflechtungsgeschichte untersucht worden sind, wollte ich mich in dieser Studie mit den Übersetzungen befassen, die vor diesen kanonischen Originalen und ihren ebenso kanonischen Übersetzungen ins Deutsche erschienen sind. Ich untersuche hier also Texte, die zwischen den beiden Staatsgründungen und den frühen 1960er-Jahren geschrieben, übersetzt und veröffentlicht wurden. Um einen meiner zentralen Befunde vorweg zu nehmen: Diesen Übersetzungen gelang es nicht, zu Diskursanlässen zu werden und breite gesellschaftliche Aufklärung zu leisten. Dies lag an der diskursiven Formation der Restauration in der Bundesrepublik, am Stalinismus in der DDR und an der heißen Phase des Kalten Krieges und hatte darüber hinaus noch andere, vor allem textimmanente Gründe. Gleichzeitig waren sie aber in einem anderen Sinn Übersetzungen als Erinnerung: Sie bildeten Reservoirs für Wissen aus der und über die Vergangenheit. In sehr kleinen Rezeptionsräumen oder als Marginalien öffentlicher Diskurse um Krieg, Nationalsozialismus und deutsches Leid in der BRD oder um Kapitalismus und »Junkerkaste« in der DDR bewahrten sie das Wissen um die zentralen Verbrechen der Nationalsozialisten kodifiziert in Monografien auf, bis dieses in einem veränderten Diskursklima etwas breiter diskutiert und aktualisiert werden konnte. Für meine Untersuchung habe ich eine britisch-deutsche Binarität konstruiert, die selbstverständlich nur durch Auslassungen zustande kommen konnte. Spätestens nach der Veröffentlichung von Brigitte Granzows Übersetzung von Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem, also einem Buch, das aus dem Amerikanischen übersetzt wurde, wird diese Binarität in der deutschenglischen Übersetzungsgeschichte zu den NS-Verbrechen endgülitg obsolet. Darüber hinaus blendet sie wichtige Übersetzungen aus anderen Sprachen aus. Das für das kulturelle Gedächtnis im Bezug auf die NS-Verbrechen in beiden deutschen Staaten einflussreichste übersetzte Buch, Das Tagebuch der Anne Frank, kommt in diesem binären Konstrukt ebensowenig vor, wie die teilweise aus dem Französischen übersetzte Quellensammlung Das Dritte Reich und die Juden von Léon Poliakov und Joseph Wulf. Beide sind in Deutschland in den 1950er-Jahren erschienen. Beide gehören unter anderem mit den originalsprachlich deutschen Büchern von Eugen Kogon und Hermann Langbein aus den späten 1940er-Jahen zu einem Netzwerk von Texten, das die gesellschaftliche Erinnerung an die NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik so maßgeblich prägte, wie dies unter den gegebenen diskursiven Bedin-

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Übersetzung als Erinnerung

gungen möglich war.7 Dass ich diese Bücher hier nur als Teile eines textlichen Netzwerkes berücksichtigen kann, liegt zunächst an meinem Fokus auf Übersetzungen. Ein weiterer wichtiger Faktor ist aber auch meine sprachliche Kompetenz, die es mir nicht erlaubt, Übersetzungen aus dem Niederländischen zu analysieren und zu beurteilen. Darüber hinaus gehört Het Achterhuis, also das Tagebuch der Anne Frank, zu den Schlüsseltexten zum Holocaust, deren Übersetzungs- und Versionsgeschichte intensiv aufgearbeitet worden ist.8 Als Korpus von Originalen und Übersetzungen erschienen mir Alan Bullocks Hitler. A Study in Tyranny, Gerald Reitlingers The Final Solution und Lord Russell of Liverpools The Scourge of the Swastika9 aus mehreren Gründen besonders geeignet für meine Fragen nach den Wechselwirkungen und Gemeinsamkeiten von Übersetzung und Erinnerung: Die in Großbritannien veröffentlichten Originale bilden gemeinsam als Monografien den Beginn der britischen Historiografie der NS-Verbrechen, und zwar zu einer Zeit, als die bundesrepublikanische Zeitgeschichtsschreibung noch weit davon entfernt war, Monografien über die Verbrechen der Nationalsozialisten zu produzieren. Jedes der drei Bücher ist ein erstes: Bullocks Buch ist die erste Biografie Hitlers, die nicht von einem Nationalsozialisten geschrieben wurde. Russells Buch ist das erste relativ umfassende populäre Sachbuch, das die Ergebnisse der britischen juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen zusammenträgt. Und Reitlingers Buch ist die erste Monografie über den Mord an den europäischen Juden überhaupt. Hinzu kommt, dass zumindest Bullocks und Russells Bücher in Großbritannien in den 1950er-Jahren breit rezipiert wurden und den dortigen Diskurs über den Nationalsozialismus und die NS-Verbrechen wesentlich mitprägten. Alle drei Bücher basierten außerdem weitgehend auf demselben Quellenbestand, nämlich auf den Protokollen und Prozessunterlagen aus den Nürnberger Prozessen. Russell und Reitlinger nutzten darüber hinaus noch die Un7

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Anne Frank: Das Tagebuch der Anne Frank. A. d. Niederländischen v. Anneliese Schütz, Heidelberg 1950. Léon Poliakov, Joseph Wulf: Das Dritte Reich und die Juden. Dokumente und Aufsätze. Berlin 1955. Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. München, 1946. Hermann Langbein: Die Stärkeren. Ein Bericht aus Auschwitz und anderen Konzentrationslagern. Wien 1949. Siehe S. 44, S. 272. Alan Bullock: Hitler. A Study in Tyranny. London 1952. Gerald Reitlinger: The Final Solution. Hitler’s Attempt to Exterminate the Jews of Europe. London 1953. Lord Russell of Liverpool: The Scourge of the Swastika. London 1954.

1. Einleitung

terlagen aus den britischen KZ-Prozessen zwischen 1945 und 1949. Die Bücher eint darüber hinaus noch, dass sie sich auffällig wenig mit Quellen von jüdischen oder anderen Überlebenden der NS-Verfolgung beschäftigten. Dabei befinden sie sich durchaus im Einklang mit dem Quellenverständnis der zeitgenössischen Historiografie sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland, das die Perspektive von Opfern und »Betroffenen« als wenig geeignetes weil zu subjektiv gefärbtes Material für die Geschichtsschreibung ansah. Besonders augenfällig ist diese Abwesenheit der Perspektive der Opfer in Reitlingers Text: Er ist mit der erklärten Intention verfasst, die von jüdischer Seite immer wieder kommunizierte Zahl von ungefähr sechs Millionen jüdischen Opfern nach unten zu korrigieren. Reitlingers Intention ist dabei aber keineswegs, den Massenmord an den europäischen Juden zu relativieren, sondern er möchte so vorauseilend einen möglichen Vorwurf der Übertreibung von revisionistischer Seite entkräften. Eine weitere Gemeinsamkeit der drei Bücher ist, dass sie alle relativ schnell ins Deutsche übersetzt wurden und auch in der Übersetzungsgeschichte Anfangspunkte markieren. Die Übersetzungsgeschichte zu den NS-Verbrechen zwischen den beiden Sprachen beginnt mit den ersten Verbrechen der Nationalsozialisten als Geschichte von Übersetzungen mit der Zielsprache Englisch und findet bis zum Kriegsende 1945 überwiegend im Journalismus sowie in der Politikwissenschaft und der Soziologie statt. Mit der Befreiung der Konzentrationslager beginnt eine zweite Phase, in der das Englische sprachliche Formen für die Dimension der nationalsozialistischen Verbrechen sucht und journalistisch und juristisch mit dem Themenkomplex umgeht. In dieser Zeit ist die deutsch-englische Übersetzungsgeschichte zum Thema auch stark von politischen und juristischen Dolmetschprozessen geprägt. Mit der Übersetzung von Bullocks Hitler-Biografie und damit dem Beginn einer übersetzten Historiografie zu den NS-Verbrechen verschiebt sich die Hauptrichtung dieser Übersetzungsgeschichte wieder hin zum Deutschen als Zielsprache. Das Englische hat nun Texte zu bieten, die im Deutschen fehlen und an ganz verschiedenen Punkten an deutsche Diskurse anschlussfähig und von ganz unterschiedlichen AkteurInnen in Deutschland erwünscht sind oder teilweise auch dringend benötigt werden. Diese englisch-deutsche Übersetzungsgeschichte der 1950er-Jahre und ihre Bedeutung für die deutsche Erinnerungskultur soll im Folgenden in drei Schritten Gestalt annehmen: in einem theoretisch-methodischen, einem empirischen und einem synthetischen. Der theoretisch-methodische Teil, das Kapitel 2, wird zunächst darlegen, wie sich das Konzept von Übersetzungen

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Übersetzung als Erinnerung

als autonomen Texten konstituiert, warum ich das Übersetzen als abgeleitetes Schreiben fasse, und worauf meine Wahrnehmung der ÜbersetzerInnen als historische AkteurInnen der transkulturellen Wissensbearbeitung beruht. Diese drei entscheidenden Grundannahmen basieren auf einer Auseinandersetzung mit Schlüsseltexten der kontinentalen Übersetzungstheorie von Walter Benjamin und Jacques Derrida sowie mit Konzepten, die in den Translation Studies seit Ende der 1970er-Jahre von TheoretikerInnen wie Gideon Toury, André Lefevere, Susann Bassnett und Lawrence Venuti entwickelt wurden. Im zweiten Unterkapitel des theoretischen Teils meiner Untersuchung befasse ich mich mit Konzepten aus Psychoanalyse, Sozialpsychologie, Erinnerungsgeschichte und Memory Studies, um daraus einen Begriff von gesellschaftlicher Erinnerung zu entwickeln, in dem die Übersetzung in zweierlei Hinsicht als Element und Instrument Platz hat. Ich werde zeigen, dass die Übersetzung für die Art und Weise, in der sich eine Gesellschaft erinnert, als Medium und Depot von Wissen über die Vergangenheit von Bedeutung sein kann, wie auch als transkulturelle und epistemologische Praxis. Im dritten Schritt arbeite ich aus den theoretischen Überlegungen zu Übersetzung und Erinnerung zunächst die strukturellen Ähnlichkeiten und konkreten Beziehungen zwischen den beiden Praxen (des Erinnerns und des Übersetzens) heraus, um die intrinsische Verbindung von Übersetzungs- und Erinnerungsgeschichte deutlich machen zu können. Dafür führe ich ein Konzept einer historischen Diskursanalyse ein, mit dem ich zeigen kann, wo ÜbersetzerInnen und ihre Netzwerke an Grenzen gesellschaftlicher Sagbarkeit stoßen oder wo sie neue semantische und Wissensräume eröffnen können. Ebenfalls an diesen Schritt angebunden habe ich einen kurzen Abriss der bisherigen Forschung zur Bedeutung von Übersetzungsprozessen für die Historiografie und gesellschaftliche Erinnerung an die NS-Verbrechen und den Holocaust. Schließich entwickle ich aus den Überlegungen zu den Komplexen Übersetzungsgeschichte, Erinnerungsgeschichte und historische Diskursanalyse ein methodisches Gerüst, mit dem ich in vier konkreten Schritten zu empirischen Ergebnissen kommen möchte. Dabei geht es mir zuerst um die Übersetzbarkeit des Originals und seine Rezeption, also um die Vorbedingungen der Übersetzung oder, wie Derrida es formuliert, das »Sehnen« des Originals nach der Übersetzung.10 Im zweiten methodischen Schritt geht es 10

Siehe zu diesem Begriff S. 31.

1. Einleitung

um die konkrete Rolle der ÜbersetzerInnen und ihrer Netzwerke als historische Akteure, die Wissen transferieren und aktualisieren können. Der dritte Schritt ist die Rekonstruktion des konkreten Übersetzungsprozesses, also der Entscheidungen, die die ÜbersetzerInnen bei ihrer Arbeit getroffen haben. Konkret ist das eine Mikroanalyse der so entstandenen Texte auf lexikalischer, syntaktischer, semantischer und stilistischer Ebene und eine Suche nach editorischen Entscheidungen, um zu zeigen, wie sich der übersetzte Text zu Diskursen und sprachlichen Regeln der Zielkultur verhält. Der letzte methodische Schritt ist dann eine Untersuchung der Rezeption der veröffentlichten Übersetzungen und damit der Einbindung in die Vergangenheitsdiskurse und erinnerungskulturellen Prozesse in den beiden deutschen Staaten der 1950er-Jahre. Im empirischen Teil, dem Herzstück dieser Untersuchung, unterziehe ich dann die Originale und Übersetzungen den im Theorie- und Methodenteil beschriebenen vier Untersuchungsschritten in der Reihenfolge des Erscheinens der Übersetzungen, nicht der Originale. In den drei Kapiteln zu den drei Büchern von Bullock, Russell und Reitlinger finden sich entsprechend Auswertungen von Quellen zur Genese und Rezeption der Originale und der Übersetzungen, kurze biografische Abrisse über die jeweiligen ÜbersetzerInnen, detaillierte Analysen der textlichen Gestalt der Übersetzungen und Abrisse über die Rezeption vor allem in der Presse, aber auch in der akademischen und politischen Öffentlichkeit. Im letzten Teil, der Synthese, fasse ich die Ergebnisse aus den vier Analyseschritten zu den drei Büchern noch einmal kurz zusammen, um dann den Schritt über die Fallstudie hinaus machen zu können. So entwickle ich aus den Analysen der Gestalt und Rezeption der Originale ein Bild von der Erinnerung an den Holocaust im Großbritannien der 1950er-Jahre und deren Verhältnis zur gesellschaftlichen Erinnerung in BRD und DDR. Aus der gemeinsamen Betrachtung der biografischen Skizzen über die ÜbersetzerInnen Wilhelm und Modeste Pferdekamp, Roswitha Czollek und Johann Wolfgang Brügel möchte ich das Bild einer sehr disparaten Gruppe von professionellen ÜbersetzerInnen zeichnen, deren Zugänge zum Übersetzen noch viel biografischer geprägt waren, als dies heute bei LiteraturübersetzerInnen meist der Fall ist. Vor allem aber waren alle drei biografisch direkt mit dem Gegenstand ihrer Übersetzungen, also der Geschichte des Nationalsozialismus verbunden: die Pferdekamps als ehemalige Mitglieder der nationalsozialistischen Kulturelite einerseits und Roswitha Czollek und J.W. Brügel als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung andererseits.

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Übersetzung als Erinnerung

Nicht zuletzt die Frage, wie sich diese Verflechtung auf das deutsche Schreiben der ÜbersetzerInnen ausgewirkt hat, ist Gegenstand des synthetischen Teils zur sprachlichen Gestalt der Übersetzungen. Darüber hinaus versuche ich in diesem Teil anhand der konkreten deutschen Texte Sagbarkeitsgrenzen in beiden deutschen Staaten in den 1950er-Jahren genauer zu identifizieren und diskursive und politische Formungen der deutschen Texte zu beschreiben, die nicht von der sprachlichen Form der Originale bestimmt sind. Abschließend gehe ich dann noch dem diskursiven Einfluss und den Spuren nach, die die von mir untersuchten Übersetzungen als Texte in der zeitgenössischen Öffentlichkeit und in den gesellschaftlichen Erinnerungen an die NS-Verbrechen hinterlassen haben. Denn trotz der nachweislich in den meisten Fällen sehr eng gesteckten Grenzen, innerhalb derer sich Diskurse über den NS-Massenmord in den 1950er-Jahren in Bundesrepublik und DDR bewegen konnten, konnten die Übersetzungen von Czollek und Brügel zumindest in zwei konkreten Fällen mit einer gewissen Zeitverzögerung als Erinnerungen an skandalöse personelle Kontinuitäten wirken und zur Beendigung von zwei Nachkriegskarrieren von NS-Verbrechern beitragen. Insgesamt zeichnet diese Studie ein Bild von drei Übersetzungen, die als autonome Texte in der Nachkriegszeit einen wichtigen Wissenstransfer leisteten. Es ist nicht zuletzt der von Adorno diagnostizierte »Hohlraum der Rede«, der für überlebende Opfer der NS-Verfolgung und andere antinazistische Kreise im deutschen Sprachraum wie ein tatsächliches Vakuum wirkt. Innerhalb dieser kleinen Zirkel zieht dieser Hohlraum Informationen über die NS-Verbrechen, die im Original verfügbar sind, in die deutsche Sprache hinein. In der Mikroanalyse auf der Textebene wird sich zeigen lassen, wie die Übersetzungen mit semantischen und idiomatischen Konventionen der deutschen Sprache der 1950er-Jahre brachen und so ein diskurserweiterndes Potenzial entstehen ließen. Dass und warum sie dabei nicht die diskursprägende Wirkung späterer transkultureller Prozesse zum Holocaust entwickeln konnten, soll durch eine Analyse ihrer Rezeption in beiden deutschen Staaten nachvollziehbar gemacht werden. Als Texte von Opfern der NS-Verfolgung sind die deutschen Texte Die Geißel der Menschheit und Die Endlösung außerdem auch Teil des Prozesses, der die Stimmen der Opfer des Nationalsozialismus wieder als Teil eines deutschsprachigen öffentlichen Diskurses etablierte. Ungeachtet ihrer Marginalität handelt es sich bei ihnen um die ersten Schritte auf dem Weg zur Etablierung der Übersetzung als einem entscheidenden Me-

1. Einleitung

dium für die Schaffung von Wissen und Erinnerung über und an die Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus.

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2. Wie erinnern Übersetzungen? Die Autonomie des abgeleiteten Textes

Die Weitergabe und Kodifizierung von Wissen über die während des Zweiten Weltkriegs von Deutschen begangenen Verbrechen durch Übersetzung ist das Thema dieser Studie. Ich möchte einerseits beschreiben, wie Übersetzungen innerhalb der gesellschaftlichen Erinnerung an die NS-Verbrechen funktionierten und auf die deutschsprachige gesellschaftliche Erinnerung wirkten, wie sie gesellschaftliches Wissen über diese Verbrechen aktualisierten und wie sie eine wenn auch beschränkte Öffentlichkeit für diese Themen schaffen konnten. Andererseits möchte ich zeigen, wie einzelne AkteurInnen sich der Übersetzung als epistemologischer Technik bedienten, um die Diskussion über die Verbrechen im deutschen Sprachraum auf festere Grundlagen zu stellen, den Blick der deutschsprachigen Gesellschaften auf die Größe und historische Dimension dieser Verbrechen zu lenken und um den Verdrängungsprozessen entgegenzuwirken, die diese Verbrechen aus dem kollektiven Gedächtnis in den deutschsprachigen Ländern heraushielten. Dazu muss ich zunächst bestimmen, was Übersetzungen eigentlich tun können. Und wenn ich danach frage, bedeutet das, dass ich Übersetzungen als autonome Texte betrachte, nicht als sekundäre Erscheinungsformen eines monolithischen, kanonischen Originals. Übersetzungen sind abgeleitete Texte. Sie stehen in einer engen, zeitlich nachgestellten Beziehung zu einem anderen Text in einer anderen Sprache, den sie durch ihre Existenz als Übersetzung zum Original machen. Und sie stehen in vielfältigen intertextuellen Beziehungen zu Texten in derselben Sprache, mit denen sie sprachlich, inhaltlich, diskursiv und historisch verbunden sind. Aber auch die Originale, um die es in meiner Studie gehen soll, sind abgeleitete Texte (und sie sind dies wohl noch deutlicher, als es fiktionale Texte sind): Als zeitgeschichtliche Sach- bzw. Fachbücher haben sie eine klare, mehr oder weniger deutlich kommunizierte Quellengrundlage, aus der sie

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Übersetzung als Erinnerung

das Wissen extrahieren, das sie dann wiederum organisieren, kontextualisieren, extrapolieren und kodifizieren. Die drei englischsprachigen Originale, die ich hier näher betrachten möchte, haben zu einem nicht geringen Teil sogar dieselbe Quellenbasis: die publizierten Protokolle und Ermittlungsakten der Nürnberger Prozesse und der KZ-Prozesse der Alliierten, die zwischen 1945 und 1949 stattfanden. Man könnte also diese Quellenbasis der Originaltexte ebenso als Originale beschreiben, die durch einen Prozess des ableitenden Schreibens zu zeitgeschichtlichen Publikumstexten geformt wurden. Dies ist ein Prozess, der einer Übersetzung nicht unähnlich ist. Zumal diese Quellen selbst zu einem großen Teil erst durch Übersetzungen zustande kamen oder mindestens stark von Übersetzungen geprägt sind. Um aber nicht in einen Strudel der Semiose zu geraten, werde ich diesen Beziehungen zwischen den englischsprachigen Originalen und ihren Quellen in dieser Arbeit nicht intensiv nachgehen, sondern mich auf die Beziehungen konzentrieren, in denen die deutschen Übersetzungen zu ihren Originalen und zu anderen deutschsprachigen Texten stehen. Entscheidend für meinen Ansatz ist, dass es sich sowohl bei den Originalen als auch bei den Übersetzungen um (unterschiedlich ausgeformte und -geführte) abgeleitete Texte, also um Ergebnisse geführter Textproduktion handelt, die von konkreten historischen Akteuren produziert wurden und konkrete intertextuelle Effekte in ihren jeweiligen Sprachsystemen produzierten. Im Folgenden möchte ich skizzieren, wie ich diese Grundkonzeption des Übersetzungsprozesses für die Untersuchung der Übersetzungen in meinem Korpus begründet und hergeleitet habe. Wichtige Impulse kamen dabei zunächst aus der kontinentalen Übersetzungstheorie des 20. Jahrhunderts, insbesondere von Walter Benjamin und Jacques Derrida, sowie aus aktuelleren Ansätzen aus den Translation Studies von Lawrence Venuti, Anthony Pym und Susan Bassnett. Darüber hinaus spielen für meine theoretische Konzeption Modelle von gesellschaftlicher und textlicher Erinnerung, Vorstellungen einer strukturellen Ähnlichkeit von Erinnerung und Übersetzung sowie diskursanalytische Ansätze eine Rolle. Unter Einbeziehung des historischen, generischen und gesellschaftlichen Kontexts der Bücher in meinem Korpus möchte ich dann aus dieser theoretischen Basis einen methodischen Zugriff auf die Übersetzungen entwickeln, die ich hier untersuche. In dieser methodischen Konzeption werde ich versuchen, Übersetzungsgeschichte und historische Diskursanalyse praktisch miteinander zu verbinden.

2. Wie erinnern Übersetzungen? Die Autonomie des abgeleiteten Textes

2.1.

Übersetzung

2.1.1.

Autonomie, Geschichte und Vorschein: Walter Benjamin

Für meine Fragestellung bietet es sich an, mit den sprachphilosophischen und übersetzungstheoretischen Texten eines Theoretikers zu beginnen, der zu den vergleichsweise frühen Opfern der Verbrechen wurde, um deren übersetzerische Beschreibung es hier gehen wird, und der entscheidend dazu beigetragen hat, dass wir heute von einer Autonomie der Übersetzung überhaupt sprechen können: der Philosoph Walter Benjamin, der sich 1940 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten das Leben nahm. Für Benjamin war die Übersetzung während seines ganzen Schaffens als Technik, als Methode und als Metapher von zentraler Bedeutung. Bereits sieben Jahre vor seinem wegweisenden Aufsatz »Die Aufgabe des Übersetzers« betont er diese im Text »Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«: »Es ist notwendig, den Begriff der Übersetzung in der tiefsten Schicht der Sprachtheorie zu begründen, denn er ist viel zu weittragend und gewaltig, um in irgendeiner Hinsicht nachträglich, wie bisweilen gemeint wird, abgehandelt werden zu können. Seine volle Bedeutung gewinnt er in der Einsicht, daß jede höhere Sprache (mit Ausnahme des Wortes Gottes) als Übersetzung aller anderen betrachtet werden kann. […] Die Übersetzung ist die Überführung der einen Sprache in die andere durch ein Kontinuum von Verwandlungen. Kontinua der Verwandlung, nicht abstrakte Gleichheits- und Ähnlichkeitsbezirke, durchmißt die Übersetzung.«1 Diese enorme Bedeutung der Übersetzung für jede Art von Mitteilung und Erkenntnis ergibt sich für Benjamin daraus, dass sich der Mensch zwar nichts vorstellen kann, was nicht sprachlich mitteilbar ist, dass es aber trotzdem ein Außen der Sprache gibt, von dem aus etwas durch seine Mitteilbarkeit wiederum benannt und in Sprache verwandelt werden kann. Bereits die Benennung, die Benjamin analog zum biblischen Schöpfungsmythos sieht und die für ihn die erste Stufe in einer hierarchisch gegliederten, aufsteigenden

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Benjamin, »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« in ders.: Gesammelte Schriften Bd. II-1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 140-157. Hier und im Folgenden zitiert nach ders.: Sprache und Geschichte. Philosophische Essays. Stuttgart: Reclam 1992, S. 42.

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Übersetzung als Erinnerung

Reihung von Sprachen ist, fasst er metaphorisch als Übersetzung der unbenannten »Sprache der Dinge in die Sprache des Menschen« (ebd.). Jede weitere Darstellung, Erkenntnis, Kontextualisierung oder Interpretation, in der das Benannte vorkommt, ist dann eine Übersetzung in eine andere Sprache. Diese jeweils anderen Sprachen, in die das »geistige Wesen der Dinge« (wie Benjamin es später im Zusammenhang mit der Übersetzung nennt)2 übersetzt werden kann, sind für Benjamin nicht nur hierarchisch aufsteigend angeordnet, sondern auch konvergent, das heißt, sie führen aufeinander zu. Sie zielen auf eine höchste, reine Sprache, der sie sich in den oben zitierten »Kontinua der Verwandlung« annähern. Diese »höchste« Sprache ist dann keine Übersetzung mehr, sondern ein utopischer oder messianischer sprachlicher Zustand, in dem sich die Fragen und Widersprüche des menschlichen Verstehens von selbst beantworten und auflösen. In diesem Konzept der Sprache von 1916 ist die Übersetzung bei Benjamin noch eine Metapher. In seinem einflussreichen Aufsatz aus dem Jahr 1923, »Die Aufgabe des Übersetzers«, beschäftigt er sich dann mit dem konkreten Vorgang der Übersetzung, also der Produktion eines Textes in einer Sprache, der sich als Übersetzung auf einen Text in einer anderen Sprache als Original bezieht. Dabei meint er zunächst vor allem Übersetzungen kanonisierter Werke in vergleichsweise großer historischer Distanz, nicht zuletzt, weil der Aufsatz als Einleitung seiner eigenen Übersetzungen von BaudelaireGedichten erschien. Benjamin beginnt seine Überlegungen, indem er betont, die Übersetzung diene nicht primär dem Publikum, sondern sei Ausdruck einer Eigenschaft des Originals, nämlich dessen Übersetzbarkeit. Damit ist die Übersetzung auch kein Abbild des Originals, sondern sie »verdankt ihm ihr Dasein«. In der Übersetzung »erreicht das Leben des Originals seine stets erneute späteste und umfassendste Entfaltung«, sie ist das »Fortleben« des Originals (ebd., S. 53). Die Übersetzung kann nach Benjamin ebenso wenig eine Abbildung des Originals sein, wie die Erkenntnis eine Abbildung der Wirklichkeit sein kann. Im Unterschied zum Original, dessen Sprache in der Quellsprache nachlebt, muss die eigene Sprache der Übersetzung erst erfunden werden. Damit macht Benjamin deutlich, dass die Übersetzung ein eigenständiger

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Benjamin: »Die Aufgabe des Übersetzers« in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. IV-1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 9-21. Hier und im Folgenden zitiert nach ders.: Sprache und Geschichte. Philosophische Essays. Stuttgart: Reclam 1992, S. 51. Im Weiteren zitiert als DAdÜ.

2. Wie erinnern Übersetzungen? Die Autonomie des abgeleiteten Textes

Text ist, der zwar mit dem Original verbunden ist, der aber in dem, was sich in ihm ausdrückt, Teil der Zielsprache ist. Seine Funktion ist für Benjamin nicht primär, einem Publikum die Rezeption eines fremdsprachigen Textes zu erlauben, sondern auf die grundlegende Verwandtschaft aller Sprachen hinzuweisen, also die Möglichkeit der Verständigung über sprachliche Grenzen hinweg anzudeuten. Die reine Sprache in Benjamins Konzeption ist überhistorisch, weil sie sowohl den mythischen, vorbabylonischen Zustand beschreibt als auch einen messianisch-utopischen, in dem die Sprache, von Mitteilung und Bedeutung befreit, den Konflikt und das menschliche Leiden auflösen kann. Wo also übersetzt wird, arbeitet der Mensch gegen die babylonische Zerstreuung und lässt dabei die reine Sprache, die Sprache der Offenbarung erahnen. Die ÜbersetzerInnen produzieren demnach den Vorschein eines utopischen Zustands. Aus einer sehr viel profaneren Perspektive heraus würden zeitgenössische ÜbersetzungstheoretikerInnen wie Bassnett oder Gentzler dazu sagen, dass die Übersetzung immer wieder aufs Neue die grundsätzliche Existenz von Transkulturalität beweist. Benjamin stattet die Übersetzung so zwar mit sehr viel theologischem Gehalt aus. Dennoch nehmen die Menschen, die konkret an Übersetzungen arbeiten, einen prominenten Platz in seiner Konzeption ein. Wie auch der Titel des Aufsatzes andeutet, geht es ihm nicht nur darum, die Rolle der Übersetzung im Verhältnis des Menschen zur Sprache und zur Welt zu bestimmen, sondern auch ganz konkret darum, wie die ÜbersetzerInnen übersetzen sollen. Benjamin entwirft ein klares Programm für die Übersetzung, in dem er fordert, dass die Übersetzung die Grenzen der Sprache erweitern solle, ohne dabei unverständlich zu werden, ebenso wie ein Jahrhundert vor ihm bereits Schleiermacher und Goethe. Dies erinnert zunächst sehr an Schleiermachers »feine Linie«, mit der dieser die Grenze beschreibt, über die in der Übersetzung das »Bestreben, den Ton der Sprache fremd zu halten« nicht hinausgehen sollte, damit die ÜbersetzerInnen später nicht »lokkeres gesezwidriges Wesen, […] wahre Unbeholfenheit und Härte, [sowie] Sprachverderben aller Art« zu verantworten haben.3 Wie der Kulturwissenschaftler Boris Buden beobachtete, ist diese »feine Linie« hier vor allem die Identitätsgrenze, also die Grenze einer nationalen Identität, die Schleiermacher 1813 konstruieren wollte. »Die Produktion 3

Friedrich Schleiermacher: »Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens« (1813) in: Hans Joachim Stoerig (Hg.): Das Problem des Übersetzens. Darmstadt 1983, S. 46.

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des Fremden in der Übersetzung« so beschreibt es Buden, »[spielt hier] eine gemeinschaftsbildende Rolle.«4 Wie Schleiermacher fordert auch Benjamin, dass die Übersetzung nicht zum Publikum, sondern zum Original hin orientiert sein soll. Die eigene Sprache der ÜbersetzerInnen soll »wachsen«, eine Übersetzung darf sich nicht wie ein zielsprachliches Original lesen und das Original nicht »verdecken«. Ganz konkret fordert er sogar eine weitgehende »Wörtlichkeit in der Übertragung der Syntax« (DAdÜ, S. 61), um die Fremdheit des Originals darstellen zu können. Das Ziel aber, das Benjamin mit dieser Strategie verfolgt, ist möglicherweise sogar das Gegenteil von dem, was Schleiermacher Anfang des 19. Jahrhunderts wollte. Benjamin möchte vor allem, »daß die große Sehnsucht nach Sprachergänzung aus dem Werke spreche« (ebd.), dass also eine Aufhebung der Grenzen zwischen den Sprachen auch zum gewünschten Gehalt der Übersetzung gehört. Diese Aufhebung der Grenzen ist das, was die Sprache für Benjamin der reinen Sprache annähert und sie damit in seinem hierarchischen Bild erhöht. Eine solche Erhöhung ist für ihn das eigentliche Ziel einer Übersetzung. Diejenigen, die auf dieses Ziel hinarbeiten, sind in dieser Konzeption nicht halb anonyme SekretärInnen von klar nach Nationen geschiedenen Philologien, sondern historisch klar positionierte, eigenständige Akteure, die im Idealfall »liebend vielmehr und bis ins Einzelne hinein« die »Art des Meinens« eines anderen Textes neu formulieren. (DAdÜ, S. 60) Im Unterschied zur »reinen Sprache«, auf die die ÜbersetzerInnen hinarbeiten und die überhistorisch ist, sind die ÜbersetzerInnen selbst und ihre Sprache in einen eindeutigen historischen Kontext eingebunden. Dadurch, dass die Übersetzung dem Original zeitlich nachsteht und nie gleichzeitig mit ihm entsteht, ergibt sich ein hierarchisches zeitliches Verhältnis zwischen den beiden Texten, in dem die ÜbersetzerInnen ihre Arbeit verrichten. Benjamin geht sogar so weit, zu behaupten, »bedeutende Werke« fänden »ihren Übersetzer niemals im Zeitalter ihrer Entstehung«. (DAdÜ, S. 52). Was Benjamin in diesem Zusammenhang vor Augen hat, sind natürlich kanonisierte Übersetzungen bereits kanonisierter Werke vor allem der Antike und der europäischen frühen Neuzeit aus dem 19. Jahrhundert. Bereits zum Zeitpunkt des Erscheinens von Benjamins Aufsatz 1923 hatte sich dieses zeitliche Verhältnis bei der Mehrheit der übersetzten Werke deutlich verengt. Der Buchmarkt in Deutschland reagierte in den 1920er-Jahren bereits deutlich schneller auf ökonomische und diskursive Erfolge in fremdsprachigen Märkten, als 4

Boris Buden: Der Schacht von Babel. Ist Kultur übersetzbar? Berlin: Kadmos 2004, S. 42.

2. Wie erinnern Übersetzungen? Die Autonomie des abgeleiteten Textes

dies im 19. Jahrhundert der Fall gewesen war. Trotzdem bleiben in Benjamins hierarchischem Verständnis diese aktualisierenden (Neu-)Übersetzungen maßgeblich Ausdruck des »Fortlebens« eines Werkes, nicht zuletzt, weil sie eine längere Geschichte, also ein weiter entferntes historisches Verhältnis zwischen Original und Übersetzung beinhalten. Denn für Benjamin kann man nur das als Leben (und damit auch als Fortleben) bezeichnen, »wovon es Geschichte gibt und was nicht allein ihr Schauplatz ist«. (DAdÜ, S. 53) Die Übersetzung ist für Benjamin nicht nur Objekt der Geschichte, vielmehr wird sie auch von Subjekten der Geschichte produziert und weist darüber hinaus noch auf deren weiteren Verlauf und ihr utopisches Ende hin. Für meine Fragestellung nach der englisch-deutschen Übersetzungsgeschichte von Sach- und Fachtexten zu NS-Verbrechen in den 1950er-Jahren ergeben sich aus Benjamins Übersetzungskonzepten drei grundlegende Ausgangspunkte: Der erste ist die Annahme einer Autonomie der Übersetzung. Die deutschen Texte in meinem Korpus sind keine sekundären Versionen ihrer englischen Originale. Sie sind nicht primär ihrem deutschsprachigen Publikum oder dem englischen Original verpflichtet, sondern sie sind autonome Texte mit einer eigenen Geschichte und einem eigenen Platz in verschiedenen historischen und intertextuellen Verhältnissen. Erst durch sie werden die englischen Texte zu Originalen, zu denen sie in einem dieser Verhältnisse stehen, und in ihnen manifestiert sich das Fortleben der englischen Texte. Gleichzeitig stehen sie eigenständig als Übersetzungen in historischen und intertextuellen Verhältnissen zu deutschsprachigen Texten, insbesondere zu deutschsprachigen Texten aus ähnlicher Zeit und zu ähnlichen Themen. Ich setze mich damit ein wenig über Benjamins generische Konzeption hinweg, denn seine Thesen beziehen sich primär auf kanonisierte Werke der Weltliteratur und heilige Texte. Er bezeichnet sogar im letzten Satz seines Aufsatzes die »Interlinearversion des heiligen Textes«, also eine Textwiedergabeform, in der zwei Sprachen gleichzeitig erscheinen, als »Urbild oder Ideal aller Übersetzung«. Die Texte, die ich hier untersuchen möchte, sind dagegen historische Sach- und Fachbücher und nach Benjamin vermutlich vor allem »Mitteilung«. Trotzdem hoffe ich aber, Folgendes zeigen zu können: Ebenso wie in Benjamins Konzept die Übersetzung literarischer Werke vor allem auf die Sprache des Literarischen an sich zielt und damit das Literarische selbst markiert, und ebenso wie die Übersetzung heiliger Texte vor allem das Heilige selbst verortet, markieren die Übersetzungen der Texte in meinem

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Übersetzung als Erinnerung

Korpus das historische Wissen und die Erinnerung selbst, indem sie beiden etwas Fundamentales hinzufügen: Historiografie über und Erinnerung an die deutschen Massenverbrechen. Ihre historische Position und das Ziel ihrer Mitteilung machen ihre Übersetzung wichtig oder sogar dringlich. Damit ist ihnen nicht nur Übersetzbarkeit zueigen, sondern sie zielen auch auf eine in Benjamins Sinne höhere Sprache ab, nämlich auf eine Sprache, in der sich ein offenerer, ehrlicherer, weniger verdrängender und abwehrender Diskurs über diese Verbrechen im Deutschen formieren kann. Auch die zweite Grundannahme, die ich für meine Arbeit aus Benjamins Konzeption ziehe, ist die einer zumindest teilweisen Autonomie, und zwar die der ÜbersetzerInnen. Wenn ich von den fertigen Übersetzungen als autonomen Texten ausgehe, dann müssen diejenigen, die sie produzieren, auch bereits über eine gewisse Autonomie verfügen. »Liebend«, also in einer auf Lustgewinn ausgerichteten Zugewandtheit zum Original, sollen sie sich laut Benjamin dessen »Art des Meinens« aneignen (DAdÜ, S. 55f), um dann wiederum ihren Text zu produzieren. Das macht sie zu textlichen und diskursiven AkteurInnen ihrer Zeit. Für meine Konzeption der Übersetzung möchte ich die Vorstellung von diesen AkteurInnen noch ein wenig erweitern und die Netzwerke derer miteinbeziehen, die am Zustandekommen, an der Veröffentlichung und an der Rezeption bzw. Kritik einer Übersetzung beteiligt sind, das heißt FörderInnen, VerlagsmitarbeiterInnen, ÜbersetzerInnen und KritikerInnen. Sie sind die Menschen, die im erweiterten, gesellschaftlichen Sinne »liebend«, nämlich ihren ökonomischen, inhaltlichen und politischen Interessen folgend, an der Produktion einer Übersetzung beteiligt sind. Sie entscheiden, welchen Texten sie ein Fortleben in der Übersetzung angedeihen lassen wollen und welchen nicht, sie entscheiden über die sprachliche Form der Übersetzung und sie haben Teil am öffentlichen Diskurs über die so entstandenen Texte. Sie sind an der Produktion von Geschichte und Erinnerung aktiv beteiligt. Der dritte Ausgangspunkt, der sich für meine Arbeit aus Benjamins Übersetzungskonzeption ergibt, schließt an die Vorstellung von der Übersetzung als Vorschein einer »höheren« Sprache an. Ich werde hier unter anderem zu zeigen versuchen, wie die hier untersuchten Übersetzungen im Laufe der 1950er-Jahre die Grenzen des Sagbaren über die deutschen Menschheitsverbrechen innerhalb der deutschen Sprache erweitert haben und wie sie Reservoirs expliziten kodifizierten Wissens schaffen konnten. Diese Wissensbestände konnten teilweise erst deutlich nach der Veröffentlichung der Übersetzungen aus ihren extrem begrenzten Rezeptionsräumen hinaustreten und ei-

2. Wie erinnern Übersetzungen? Die Autonomie des abgeleiteten Textes

ne (ebenfalls eingeschränkte) gesellschaftliche Wirkung entfalten. Dabei sind sie teilweise die ersten deutschsprachigen Publikumstexte, die bestimmte Aspekte der deutschen Verbrechen beschreiben. Mit Johann Wolfgang Brügels Übersetzung von Gerald Reitlingers The Final Solution befindet sich unter ihnen auch die erste in deutscher Sprache erschienene Monografie über den Mord an den europäischen Juden. Diese Texte bilden Keimzellen für einen deutschsprachigen Diskurs über die NS-Verbrechen, der weniger von Mechanismen wie Schuldabwehr, Bestrafungsangst und Verdrängung sowie in der DDR dazu noch von der gebetsmühlenartigen Wiederholung der parteioffiziellen Faschismus-Interpretationen geprägt war. Die langsame Entwicklung eines solchen Diskurses nahm in Deutschland aber erst sehr lange nach Veröffentlichung der Übersetzungen in meinem Korpus eine größere gesellschaftliche Bedeutung an und verlief über Jahrzehnte parallel zur generationellen Verschiebung und entlang zentraler diskursprägender historischer und medialer Ereignisse und Prozesse. Die Texte, mit denen sich diese Studie befasst, sind somit auch, wie ich im Weiteren hoffe zeigen zu können, ein Vorschein einer »höheren« Sprache über die deutschen Massenverbrechen im Sinne einer offeneren, gesellschaftlich breit geführten Debatte über diese Verbrechen, wie sie sich in der BRD ab etwa Ende der 1970er-Jahre teilweise und verstärkt ab Mitte der 2000er-Jahre etablieren konnte. Zum Zeitpunkt seines Freitods konnte Benjamin diese Verbrechen nur erahnen und fürchten, nicht von ihnen wissen. Das Fortleben seiner Thesen zum Übersetzen führt mich aber auch zur Annahme, dass eine offene Benennung dieser Verbrechen, die weder Opfer noch TäterInnen beschweigt oder den Charakter der Massenverbrechen relativiert, in seinem Sinne eine höhere Sprache wäre als wir sie in der teilweise verschleiernden, euphemistischen oder noch suchenden Sprache der meisten deutschsprachigen Texte über die NS-Verbrechen aus den 1950er-Jahren finden.

2.1.2.

Babel und Vertrag: Jacques Derrida

62 Jahre nach Benjamin nahm sich der französische Philosoph Jacques Derrida der Frage nach den Grundlagen der Übersetzung an. In seinem Aufsatz »Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege« (»Les Tours de Babel«) nähert er sich der Benjamin’schen Übersetzungskonzeption zunächst über den

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Mythos und die biblische Erzählung vom Turmbau zu Babel an.5 Derrida beginnt seine Überlegungen damit, dass er Voltaires Übersetzung des Namens »Babel« mit »Gott Vater« referiert. Nach Benjamin sind die beiden Einheiten, die keine Übersetzbarkeit in sich tragen, der Name und die Übersetzung. Der Name aufgrund der unauflösbaren Verbindung zwischen sprachlicher Form und Sinn, und die Übersetzung aufgrund der sehr losen Verbindung zwischen beidem. Im Fall von »Babel« lässt sich dieser Name aber nach Voltaire noch aufspalten in die »altorientalischen« Wörter »Ba« (Vater) und »Bel« (Gott).6 Die Menschheit, die noch eine gemeinsame Sprache spricht, begibt sich also an einen Ort, der »Gott Vater« heißt, um sich durch den Turmbau »einen Namen zu machen« und wird dafür von Gott, vom Namensgeber des Ortes, mit der Sprachverwirrung bestraft, die zum Abbruch des Turmbaus führt. Als Ort der Sprachverwirrung und der unvollständigen Konstruktion heißt »Babel« dann, durch den Mythos, auch »Verwirrung«. Und mit dieser Verwirrung macht Gott die Übersetzung gleichzeitig notwendig und demonstriert ihre Schwierigkeit bzw. Unvollkommenheit: »Gott dekonstruiert« (BT, S. 125). Derrida beschreibt mit diesem Satz das Scheitern des menschlichen Strebens nach Eindeutigkeit, festgelegter Textform und letztgültiger Erklärung. Das Ziel der Menschen beim Turmbau war ja, »sich einen Namen zu machen« und sich damit gleichzeitig fest zu verorten.7 So wie in Derridas Konzeption der différance das Signifikat der Sprache immer differenziell im Verhältnis zum System der Signifikanten bleibt, wird die Übersetzung notwendig, um die Grenzen zwischen den Sprachen zu überwinden, muss aber gleichzeitig vollständig differenziell zum Originaltext bleiben, da sie in einem anderen System von Signifikanten konstruiert ist. Aus diesem Grund steht die Übersetzung in einer Beziehung zu den Signifikaten des Originals, die noch fluider ist als die des Originals. Diese Beziehung weist immer Zugewinne, Verluste, andere intertextuelle Verbindungen und historische Positionen auf, die sich von der Beziehung zwischen den Signifikaten und dem Original deutlich

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Jacques Derrida: »Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege«. Aus d. Französischen von Alexander Garcia Düttmann. In: Alfred Hirsch: Übersetzung und Dekonstruktion. Frankfurt a.M. 2001, S. 119-165. Im Weiteren zitiert als BT. Derrida zitiert hier aus dem Dictionaire Philosophique von Voltaire und nimmt damit auch eine semiosebegrenzende Setzung vor. »Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde.« Lutherbibel 2017, 1 Mose 11, Vers 4.

2. Wie erinnern Übersetzungen? Die Autonomie des abgeleiteten Textes

unterscheiden. Darüber hinaus beinhaltet die Tätigkeit des Übersetzens jederzeit die Möglichkeit, diese Beziehung durch eine andere Übersetzung neu und different zu konstruieren. Bevor er sich der Benjamin’schen Übersetzungskonzeption zuwendet, geht Derrida die Übersetzung vom Mythos der babylonischen Sprachverwirrung und damit zuerst auf der lexikalischen Ebene von der Frage der Benennung und der Eigennamen her an. Zunächst betont er, dass der Eigenname scheinbar der unübersetzbare Kern der Sprache ist, weil er »strenggenommen nicht zur Sprache oder deren System gehört« (BT, S. 126) und in der Übersetzung wieder als er selbst auftaucht. Doch diese Identität des Eigennamens mit sich selbst besteht nicht so, wie man zunächst annehmen könnte. Denn auch er ist intertextuell eingebunden und verweist zumindest auf Reste von Signifikaten, dabei ist seine Anbindung an das System der Sprache weniger fest als die anderer lexikalischer Einheiten. Die Bedeutung, die Derrida bei der Auseinandersetzung mit dem Übersetzen dem Eigennamen zukommen lässt, zeigt, wie wichtig auch er die lexikalische Ebene im Zusammenhang mit dem Transfer von einer Sprache in eine andere findet. Schon Benjamin schlägt ja eine gewisse Wörtlichkeit als zu bevorzugende Übersetzungstechnik vor, in der das Original nicht verdeckt wird. Bei Derrida allerdings kommen den einzelnen Wörtern als Namen keine zwingenden Äquivalente mehr zu, sondern sie haben, wie der Name Babel als ihr Ausgangspunkt, immer mehrere Bedeutungen, die historisch und diskursiv formiert sind. Außerdem verweisen alle Versuche, »etwas zu heißen und zu rufen« (BT, S. 127) eben wieder auf den unfertigen Turmbau und damit auf etwas Abgebrochenes, Unvollständiges. Beim Versuch, »sich einen Namen zu machen«, hat sich den Turmbauern die Welt, in der sie sich einen festen und mit größtmöglicher Autorität ausgestatteten Platz schaffen wollten, durch die Nicht-Identität der Signifikanten in den verschiedenen Sprachen entzogen. In der Übersetzung von Eigennamen (und in Analogie in der Übersetzung von allen Namen) »stoßen wir […] auf eine Grenze, die das formale Aufreißen im Innern durchzieht, wir stoßen auf das Unvollendete und Unvollständige der Konstruktur.« (BT, S. 120) Derrida sieht im Projekt der Benennung auch das Projekt, die Welt der menschlichen Vernunft zu unterwerfen, was einerseits notwendig ist, um Wissen und Kommunikation zu ermöglichen, was aber andererseits unmöglich ist, weil es eine bleibende, stabile Einheit von Sprache und Gehalt voraussetzt, die nicht gegeben sein kann.

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Von dieser Diskussion der Rolle des Namens in Sprache, Mythos und Übersetzung wendet sich Derrida der Eigenschaft von sprachlichen Zeichen und Texten zu, die Walter Benjamin als eine grundlegende Übersetzbarkeit gefasst hat, die allen sprachlichen Einheiten mit Ausnahme von Namen und Übersetzungen eigen ist. Bei Benjamin ist die Übersetzung immer zuerst Ausdruck der Übersetzbarkeit des Originals. Derrida übernimmt diese Annahme und betont dabei den Aufforderungscharakter der Übersetzbarkeit. Das »Fortleben« des Originals ist für ihn das Ergebnis einer Eigenschaft, die nach Ausdruck verlangt und dadurch ein Vertragsverhältnis mit einer anderen Sprache und mit möglichen ÜbersetzerInnen eingeht: »Das Original ist der erste Schuldner, der erste Bittsteller, es ist das, was zuerst fordert und verlangt, es fängt an mit einem (Ver-)Fehlen, einem Ermangeln – es beginnt damit, sich nach der Übersetzung zu sehnen, um das Vermißte zu trauern und zu flehen.« (BT, S. 140) Dieses Vertragsverhältnis, das zwei Sprachen ausgehend von den Forderungen eines Textes oder sprachlichen Zeichens miteinander eingehen, ist aber wiederum den Gesetzmäßigkeiten des Sprachverhältnisses, also der Unmöglichkeit der Eindeutigkeit und Identität unterworfen. Im Bild des Mythos repräsentiert der unvollendete Turm den Vertrag, unterzeichnet von denen, die sich einen Namen machen wollen, und die Gesetzmäßigkeit, also der juristische Ramen des Vertrags, liegt bei der höheren Macht, die die Vollendung dieses Projekts verhindert. Auch hier ist es wieder Gott, der dekonstruiert. Die Übersetzung entsteht so Derrida zufolge aus der Dynamik des Wunsches nach Kommunikation, Erkenntnis und Eindeutigkeit und dem begrenzenden höheren Gesetz, das die Sprachen gegeneinander abgrenzt und die Eindeutigkeit verhindert. Dabei ist diese Dynamik nicht willkürlich, sondern sie geht von der Übersetzbarkeit des Originals aus. Diese Rückführung auf ein juristisches Verhältnis, das sich aus einem mythologischen Ursprung heraus erklärt, führt Derrida zum (französischen) Urheberrecht und damit zur Definition der Übersetzung als einem »abgeleiteten« Text mit eigenen originären Anteilen: »Es ist ja wirklich immer anerkannt worden, daß der Übersetzer seine Eigenständigkeit und Originalität bezeugt, indem er bestimmte Ausdrücke wählt, um auf die bestmögliche Art und Weise den Sinn, den ein Text in einer Sprache hat, in einer anderen Sprache wiederzugeben.« (BT, S. 155)

2. Wie erinnern Übersetzungen? Die Autonomie des abgeleiteten Textes

Diese »Verpflichtung«, die die ÜbersetzerInnen dem Original gegenüber haben, verdeckt laut Derrida die Verpflichtungen, die »der angebliche Schöpfer des Originals« anderen Texten, der eigenen Erfahrung und Wahrnehmung gegenüber hat. Auch sein Text ist »abgeleitet«, auch er ist »a priori ein Übersetzer«. (BT, S. 157). Die Übersetzung als Text wiederum hat auch Eigenschaftsanteile dessen, was gemeinhin als Original bezeichnet wird: eine Aura des Authentischen und Eigentlichen, die aus der kompositorischen Leistung der ÜbersetzerInnen entsteht. Die Summe dieser Eigenschaftsanteile formt dann das, was man als die Originalität der Übersetzung bezeichnen kann. Auch bei Derrida finden wir also starke Argumente für die Autonomie des übersetzten Textes. Derrida greift in diesem Zusammenhang auch wieder direkt auf Benjamins Konzeption der Übersetzung als Vorschein der reinen Sprache zurück und argumentiert, dass die Übersetzung als Text in der Lage ist, eine »Ahnung des Abwesenden zu vermitteln und es sich zu vergegenwärtigen«. (BT, S. 161) Das bedeutet einerseits, dass sie das vermitteln oder ausdrücken kann, was eigentlich in einer anderen Sprache formuliert wurde, und dass damit in beiden Sprachen ein Wachstum, also ein Zugewinn an Reichweite hier und Semiose dort entsteht. Andererseits bedeutet es, dass die Übersetzung auch etwas ausdrücken kann, was aufgrund von sprachlichen, historischen oder diskursiven Bedingungen bisher in einer Sprache nicht formuliert worden ist. Diese aufklärerischen Anteile, die Derrida (und weniger explizit Benjamin) der Übersetzung zuschreibt, bilden einen für meine Studie zentralen Ausgangspunkt. In den Texten, die ich hier untersuche, geht es um Verbrechen, die in einer Sprache (Deutsch) geplant, organisiert, befohlen und ausgeführt wurden, die aber nach dem Ende des Krieges und der Kriegsverbrecherund KZ-Prozesse der Alliierten in derselben Sprache deutlich weniger und deutlich gehemmter historiografisch und monografisch bearbeitet wurden als in anderen Sprachen. Das Schuldverhältnis zwischen Original und Übersetzung, mit dem sich Derrida so ausführlich beschäftigt, erscheint im Zusammenhang mit Texten über die deutschen Massenverbrechen besonders akut: Das Fehlen deutscher und die Existenz englischer historiografischer Monografien in den frühen 1950er-Jahren lässt die englischen Texte eine deutsche Übersetzung schulden. Ihre Übersetzbarkeit im Sinne Benjamins wird nicht nur manifest, sondern dringend. Das, was man mit Derrida hier als Schuldverhältnis zwischen dem Englischen und dem Deutschen fassen kann, verweist in meinem Fall auch direkt auf Adornos metaphorisches Bild vom

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Übersetzung als Erinnerung

»Hohlraum der Rede«. Dieser Hohlraum bildet sich dort, wo eigentlich von Deportation und Massenmord gesprochen werden müsste. Adornos Bild beschreibt eine Art Vakuum, das gefüllt werden muss. In beiden Bildern, dem Schuldverhältnis und dem Hohlraum, haben wir es mit einer Bewegung zu tun, die von der Quellsprache zur Zielsprache hinführt. Im Falle der drei englischsprachigen Monografien aus den 1950er-Jahren standen der Möglichkeit ihrer Übersetzung ins Deutsche sowohl international als auch innerhalb der beiden deutschen Staaten politische und gesellschaftliche Prozesse entgegen, die das Schuldverhältnis noch intensivierten. Der dritte entscheidende Hinweis, den Derridas Benjamin-Lektüre für meine Arbeit liefert, ist der auf die Bedeutung der lexikalischen Ebene von Übersetzungen. Wenn wir von der Autonomie der ÜbersetzerInnen ausgehen, innerhalb ihres Sprachsystems bei der Produktion ihrer Texte zu »benennen und zu rufen«, dann bedeutet das, dass sie auf der Ebene einzelner Begriffe und Benennungen die Sprache bereits entscheidend »wachsen lassen«: Da, wo es für etwas noch keinen oder nur einen unzureichenden Namen gibt, schaffen die ÜbersetzerInnen einen. In der konkreten sprachlichen Analyse der Übersetzungen in meinem Korpus muss ich also darauf achten, wie die ÜbersetzerInnen die deutschen Massenverbrechen nennen, welche Substantive, Verben und Adjektive sie für ihre Beschreibung benutzen. Denn für das Sprechen über die NS-Massenmorde steht im Deutschen in den 1950er-Jahren noch direkt das Vokabular der Tat zur Verfügung, also Begründungen, Euphemismen und Umschreibungen, die vom nationalsozialistischen Staat, seinem Verwaltungsapparat und seinen Exekutivorganen bei der Umsetzung der Verbrechen verwendet wurden. Darüber hinaus steht den ÜbersetzerInnen auch das Vokabular der Gerichtsbarkeit zur Verfügung, aus dessen englischem Pendant sich ja bereits die Originale bedient haben, und selbstverständlich auch das gesamte deutsche Vokabular zu Verbrechen und Mord, aus dem sich endlose Semiosemöglichkeiten ergeben. Um also zeigen zu können, wie die ÜbersetzerInnen der von mir untersuchten Texte ein explizites Wissen um diese Massenverbrechen wieder in die deutsche Sprache einsetzen, kommt es auch darauf an, für welche Namen, für welche der möglichen Benennungen sie sich entscheiden.

2.1.3.

Normen, Ableitung und Rewriting: Translation Studies

In der internationalen Übersetzungswissenschaft bildeten sich ab Mitte der 1970er-Jahre zwei voneinander klar abgegrenzte Forschungsperspektiven

2. Wie erinnern Übersetzungen? Die Autonomie des abgeleiteten Textes

heraus: Auf der einen Seite arbeiteten ForscherInnen dabei an naturwissenschaftlich orientierten linguistischen Modellen und normativ-präskriptiven Setzungen, vor allem anhand von verschiedenen Konzepten von Äquivalenz. Hier ging es darum, Mechanismen bei der Übersetzung zu identifizieren und so datenbankgestützte Übersetzungsalgorithmen sowie digitale Übersetzungshilfsmittel zu entwickeln. Diese äquivalenzorientierte Forschung war gleichzeitig auch zentral daran interessiert, Qualitätskriterien für gute und richtige Übersetzungen zu definieren, die nicht zuletzt für die Ausbildung professioneller ÜbersetzerInnen benötigt wurden. Auf der anderen Seite etablierte sich unter dem Einfluss strukturalistischer und poststrukturalistischer Theorieentwürfe eine kulturwissenschaftlich informierte Forschungstendenz hin zu einem Konzept des Übersetzens als sozialem und interkulturellem Handeln. Diese Bewegung weg von präskriptiven Modellen wurde insbesondere von WissenschaftlerInnen wie Gideon Toury in Israel, Susan Bassnett in Großbritannien und Lawrence Venuti in den USA betrieben, fand im Lauf der 1980er- und 1990er-Jahre statt und wird heute allgemein als der cultural turn in den Translation Studies bezeichnet. Ein wichtiger früher Motor dieses Prozesses war Gideon Tourys einflussreiches Konzept der Descriptive Translation Studies, das er ab den späten 1970er-Jahren entwickelte und das in seinem Buch Descriptive Translation Studies and Beyond 1995 seine letztgültige Form erhielt.8 Toury zufolge waren die präskriptiven Modelle, die sich vor allem darauf konzentrierten, wie Sinneinheiten von einem grammatischen System in ein anderes gebracht werden konnten, nicht in der Lage, die historischen Bedingungen oder die spezifische Wirkung eines übersetzten Textes in der Zielkultur in den Blick zu nehmen. Dem stellte Toury nun ein deskriptives, produktorientiertes Modell entgegen, das Übersetzungen nicht danach beurteilte, wie sie sein sollten, sondern erklären sollte, warum sie so waren, wie sie waren, und was sie im Rahmen der Zielkultur bedeuteten. Dabei interessierte Toury insbesondere, wie sich der übersetzte Text zu den sprachlichen und diskursiven Normen der Zielkultur verhält und welche »Funktion« er in der Zielkultur erfüllt. Im zentralen Fokus der Forschung stand bei Toury also nicht mehr primär die Beziehung von Original und Übersetzung, sondern vielmehr die Beziehung zwischen dem

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Gideon Toury: Descriptive Translation Studies and Beyond. Amsterdam: John Benjamins, 1995.

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übersetzten Text und dem sprachlichen System sowie der Literatur der Zielkultur. Als heuristische Kategorien nutzt Toury hier die Konzepte aus der Systemtheorie und fasst sowohl die jeweiligen Sprachen als auch die jeweiligen Kulturen, die Literaturen und das Verlagswesen, die Übersetzungen hervorbringen, als Systeme und Untersysteme. Diese Wahrnehmung des Übersetzens als Textproduktion innerhalb verschiedener sprachlicher und kultureller Systeme und Subsysteme führt ihn zur Formulierung eines zentral an der Zielkultur orientierten Ansatzes in der Übersetzungsforschung: »Thus, the [prospective] position (or function) of a translation within a recipient culture (or a particular section thereof) should be regarded as a strong governing factor of the very make-up of the product, in terms of underlying models, linguistic representation or both. After all, translations always come into being within a certain cultural environment and are designed to meet certain needs of, and/or occupy certain ›slots‹ in it. Consequently, translators may be said to operate first and foremost in the interest of the culture into which they are translating, however they conceive of that interest. In fact, the extent to which features of a source text are retained in its translation […] is also determined on the target side, and according to its own concerns: features are retained and reconstructed in target-language material not because they are ›important‹ in any inherent sense, but because they are assigned importance from the recipient vantage point.«9 Es entsteht so ein Ansatz, bei dem, weit über die Fragen nach möglicher Äquivalenz zwischen korrespondierenden Textteilen in Original und Übersetzung hinaus, erstmals sowohl die kulturellen Bedingungen der Zielkultur (Verlagsökonomie, Ideologie, Diskurse, Sozialisation des Lesepublikums etc.) in den Blick genommen als auch die ÜbersetzerInnen selbst als Handelnde beschrieben werden. Tourys Konzentration auf die Normen, die die Textproduktion innerhalb eines sprachlichen Systems regeln, scheint dabei aber noch ein Überbleibsel aus der Zeit der präskriptiven Übersetzungswissenschaft zu sein: Es geht bei seinem Konzept implizit an vielen Stellen darum, festzustellen, wo eine Übersetzung die Normen der Zielkultur verletzt oder mit ihnen in Konflikt gerät, beziehungsweise darum, welche Inhalte sie aufgeben muss, damit dies nicht geschieht. Diese Hinwendung zum Produkt der ÜbersetzerInnen, also die Wahrnehmung des Übersetzens primär als Textproduktion, später auch als »re9

Toury: Descriptive Translation Studies, S. 12.

2. Wie erinnern Übersetzungen? Die Autonomie des abgeleiteten Textes

writing«, und das Wahrnehmen übersetzerischen Verhaltens bildeten entscheidende Voraussetzungen für eine Weiterentwicklung der Übersetzungswissenschaften. Ohne sie wäre der Disziplin der Anschluss an die modernen und postmodernen philosophischen Konzeptionen von sprachlichen Zeichen, symbolischen Ordnungen und der Übersetzung selbst gar nicht möglich gewesen, und einen cultural turn hätte es vermutlich auch nicht gegeben. Zu Beginn der 1990er-Jahr formulierten dann Susan Bassnett und André Lefevere gemeinsam und in jeweils eigenen Publikationen klar die Forderung an die Übersetzungswissenschaft, sich mit kulturwissenschaftlichen Kategorien wie politischer Macht, Ideologie, literarischen und textlichen Systemen sowie den an ihnen beteiligten AkteurInnen zu befassen. In seinem einflussreichen Band Translation, Rewriting and the Manipulation of Literary Fame, der 1992 erschien, kategorisiert Lefevere das Übersetzen erstmals als eine von vielen Formen des rewriting, also des Neuschreibens, Umschreibens oder, im Begriffsgerüst dieser Studie: des abgeleiteten Schreibens: »The same basic process of rewriting is at work in translation, historiography, anthologization, criticism, and editing. It is obviously also at work in other forms of rewriting, such as adaptations for film and television […]. […] [T]ranslation is the most obviously recognizable type of rewriting, and […] it is potentially the most influential because it is able to project the image of an author and/or a (series of) work(s) in another culture, lifting that author and/or those works beyond the boundaries of their culture of origin […].«10 Hochinteressant ist hier, dass sich in dem Buch, in dem zum ersten Mal in der Übersetzungswissenschaft die Übersetzung ganz konkret als »rewriting«, also als (ab-)geleitete Textproduktion bezeichnet wird, auch der erste mir bekannte Aufsatz findet, der sich ganz konkret mit dem Zusammenhang zwischen Übersetzung und der gesellschaftlichen Konstruktion von HolocaustErinnerung befasst. In Translation, Rewriting and the Manipulation of Literary Fame ist eine Fallstudie enthalten, in der Lefevere die verschiedenen Lektoratsprozesse und die Übersetzungen von Anne Franks Tagebuch aus dem Niederländischen genauer untersucht. Systematisch beschreibt er zunächst die verschiedenen Lektoratsarbeiten, die an dem Tagebuch vorgenommen wurden: die Änderungen, die Anne Frank selbst an ihrem Tagebuch in Erwartung einer möglichen Veröffentlichung vornahm, die Änderungen, die ihr Vater Otto 10

André Lefevere: Translation, Rewriting and the Manipulation of Literary Fame. London 2017, S. 7.

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Frank nach dem Krieg vornahm, und diejenigen, die beim niederländischen Verlag Contact vor der Erstveröffentlichung gemacht wurden. Diese kategorisiert er und stellt sie sodann neben Auslassungen und semantische Verschiebungen, die sich in der ersten, jahrzehntelang einzigen deutschen Übersetzung von Anneliese Schütz finden, und kann dann konstatieren, dass beide Prozesse einander in dem sehr ähnlich sind, was sie auf der inhaltlichen und ideologischen Ebene mit dem Text machen. Sie unterscheiden sich lediglich auf einer inhaltlichen Ebene: Sowohl in den Lektoratsentscheidungen als auch in der Übersetzung finden sich Abmilderungen oder gar Löschungen von Äußerungen Anne Franks über Körperfunktionen, Sexualität und das Verhältnis zu ihrer Mutter. Aber lediglich in der deutschen Übersetzung werden immer wieder die konkreten Deutschen, beispielsweise die Gestapo, vor denen sich die Familie verstecken musste, zur abstrakten Bedrohung, die durch das Generalpronomen »man« repräsentiert werden. Auch antideutsche Haltungen, die die Autorin im Niederländischen offen äußert, werden in der deutschen Übersetzung immer wieder ganz gelöscht.11 Lefevere wendet hier seine Vorstellung von der Übersetzung auch als transkulturelle Projektion einer AutorInnen-Persönlichkeit ganz konkret an. Seine Fallstudie zeigt aber vor allem ganz konkret, dass die verschiedenen Formen des rewriting, des Umschreibens, Wiederschreibens und Neuschreibens eines Textes (Selbstlektorat, Lektorat, Übersetzung) in vielerlei Hinsicht sowohl strukturell als auch inhaltlich kaum voneinander zu unterscheiden sind. Und anhand der semantischen und narrativen Abweichungen, die er zwischen verschiedenen niederländischen Fassungen und der deutschen Übersetzung konstatiert, kann er zeigen, dass sich weder Übersetzerin noch Verlag 1950 in Deutschland trauten, die konkrete Täterschaft der NSVerbrechen deutlich zu benennen, obwohl man sich von dem Tagebuch einen großen Verkaufserfolg erhoffte.12 11 12

Siehe Lefevere, S. 45-54. In diesem Umfeld der englischsprachigen Translation Studies und ihrer Rezeption in Deutschland fanden auch die bisher größten Bemühungen um die Erforschung der Bedeutung von Übersetzungen für Verständnis des und Erinnerung an den Holocaust statt. Zu nennen wären hier einmal der von Peter Davies und Andrea Hammel von März 2010 bis Februar 2011 in Großbritannien organisierte und vom AHRC finanzierte Research Workshop »Holocaust Writing and Translation«, eine Reihe von vier eintägigen Konferenzen, die sich vor allem mit der Übersetzung von Überlebendenberichten und deren Verwendung befasste. Details sind auf der Homepage des Workshops zu finden: http://gtr.ukri.org/projects?ref=AH %2FH033653 %2F1 (Zugriff Juli 2020).

2. Wie erinnern Übersetzungen? Die Autonomie des abgeleiteten Textes

Lefeveres Arbeiten (ebenso wie die der hier nicht ausführlich zitierten Susan Bassnett) bringen uns einem Verständnis des Übersetzens als abgeleitetem Schreiben deutlich näher. Ihm folgend kann man das Übersetzen also als Textproduktion in der Zielkultur definieren, die wiederum nach Toury überwiegend von den Entscheidungen getragen wird, die die TextproduzentInnen in einem Entscheidungsraum treffen, der vom Originaltext, den Regeln und Normen der Zielsprache und dem Verhältnis der beiden Sprachen und Kulturen zueinander bestimmt wird. Die Aufgabe der ÜbersetzerInnen in dieser Konzeption ist es dann, Entscheidungen zu treffen, die die konkrete Form des übersetzten Textes bestimmen und die Endpunkte der Semioseprozesse definieren. Demnach müssen wir im Netzwerk von Beziehungen, in denen der übersetzte Text steht, noch die ÜbersetzerInnen als entscheidenden Knotenpunkt erkennen. Die ÜbersetzerInnen sind die konkreten echten Menschen, die UrheberInnen der Übersetzungen und AkteurInnen der interkulturellen Transferprozesse, die in der übersetzungs-wissenschaftlichen Draufsicht die Grenzen zwischen den Konzepten von Quell- und Zielkultur, Quell- und Zielsprache verwischen. Sie existieren zwischen den angeblich so klar voneinander abgetrennten Sprachen und Kulturen in einem Spektrum, das vom professionellen Beherrschen mehrerer Sprachen als im Rahmen der Berufsausbildung erlernte Fähigkeit über verschiedene biografische Formen der Mehrsprachigkeit, der Multikulturalität, der Migration und des Exils reicht. Der Übersetzungswissenschaftler Anthony Pym hat dargelegt, dass die diskursive oder professionelle Figur »des Übersetzers« nicht ausreicht, um die Rolle der ÜbersetzerInnen zu verstehen, die Übersetzungen als Bestandteile eines Diskurses produziert haben. Auch ist ihr Produkt als Text sicherlich Teil der Zielkultur, wie Toury, Lefevere und Venuti nicht müde werden zu betonen,

Im deutschsprachigen Raum hat sich die Übersetzungswissenschaft unter der Leitung von Alisa Schippel an der Universität Wien bei zwei Konferenzen ausführlicher mit dem Nationalsozialismus und der Übersetzung befasst. Dabei ging es ebenso um Fragen der nationalsozialistischen Übersetzungspraxis und -politik wie um übersetzungsgeschichtliche und Erinnerungsfragen. Ein erster Tagungsband ist bereits erschienen: Dörthe Andres, Julia Richter, Larisa Schippel (Hg.): Translation und »Drittes Reich«. Menschen – Entscheidungen – Folgen. Berlin 2016. Auf der zweiten Tagung mit demselben Titel im Oktober 2016 habe ich einige Ergebnisse aus dieser Arbeit unter dem Vortragstitel »Translating Across the Fault Lines of Collective Memory and the Cold War: Roswitha Czollek’s German translation of Edward Russell of Liverpool’s Scourge of the Swastika« vorgestellt. Siehe http://translation-thirdreich-2016.univie.ac.at/home/ (Zugriff Juli 2020).

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auch wenn dieser Text als Gefäß für Inhalte aus der Quellkultur dient. Die ÜbersetzerInnen selbst sind aber in der Produktionsgleichung einer Übersetzung zwischen Quellkultur und Zielkultur das Element, das sich zwischen beiden bewegt. Auch auf der Ebene der Sprachkompetenz unterscheiden sich die ÜbersetzerInnen von der Mehrheit der Mitglieder der mit Kultur 1 oder Kultur 2 assoziierten Gemeinschaften. Deshalb hat Pym die Körper der ÜbersetzerInnen als die konkreten Orte der Interkulturalität selbst beschrieben. In ihren Körpern manifestiert sich das, was die Übersetzung auch künstlich trennt, nämlich der Übergang von einer Sprache, einer Kultur in eine andere. Die Übersetzbarkeit, auch im Benjamin’schen Sinne als Grundlage jeder Übersetzung, setzt ja die Kommunizierbarkeit von kulturellen Elementen aus Sprachsystem 1 in Sprachsystem 2 voraus und zeigt somit an, dass die beiden Kulturen eben nicht naturgegeben voneinander vollständig abgetrennt sind. Die »höhere Sprache«, die sich in der Übersetzbarkeit andeutet, manifestiert sich also im Körper der ÜbersetzerInnen selbst, die in ihrer Person den Ort tragen, der Teil beider Sprachen oder Kulturen ist: »Thanks to their material bodies, translators can move. And thanks to their knowledge of foreign languages and cultures, they can often move further and more easily than many who depend on their translations. This could mean translators are never simply ›in‹ a culture or a society, not even if they appear more French than the French.«13 ÜbersetzerInnen gehören zu einer größeren Gruppe von Menschen, die sowohl körperlich als auch ideell zwischen Kulturen und Nationen arbeiten. Andere solcher interkulturellen Berufe, deren geografischer Ort heutzutage nicht mehr nur die Grenzen zwischen Staaten sind, sondern vor allem die multi- und transkulturellen großstädtischen Räume, sind beispielsweise DiplomatInnen, AkademikerInnen, JournalistInnen, VerlegerInnen und Geschäftsleute. Diese Menschen arbeiten oft mit ÜbersetzerInnen zusammen und bilden aus der Perspektive der translation studies Übersetzungssysteme. Das kulturelle Übersetzungssystem, also die AuftraggeberInnen und VerwerterInnen von Übersetzungen sowie das kritische System, zwingt die ÜbersetzerInnen laut Pym oft, eine besondere Loyalität zur Zielkultur nach außen zu kommunizieren, weil sie sich das Vertrauen der anderen Mitglieder dieser Gruppe erwerben müssen. Die in ihnen verkörperte Interkulturalität löst

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Anthony Pym: Method in Translation History. Amsterdam 1998, S. 227.

2. Wie erinnern Übersetzungen? Die Autonomie des abgeleiteten Textes

gesellschaftlich in beiden Kulturen Misstrauen und Zweifel aus: Auf der quellkulturellen Seite und konkret bei den AutorInnen der Originale selbst besteht die Angst davor, dass die Übersetzung einen Text »verfremdet« und sowohl seine Quellkultur als auch seine Autorin oder seinen Autor gewissermaßen enteignet. Diese Angst wird häufig dadurch noch größer, dass die SprecherInnen der Quellsprache zum größten Teil nicht die sprachliche Kompetenz in der Zielsprache haben, um die Qualität einer Übersetzung beurteilen zu können. Auf der zielkulturellen Seite besteht gegenüber den ÜbersetzerInnen Misstrauen, weil sie eine Abgrenzung nach außen negieren, indem sie die Übersetzbarkeit und somit die Existenz von Interkulturalität beweisen. Pym impliziert, dass die meisten literarischen Übersetzungssysteme so eng an Diskurse angebunden sind, die aus den Nationalismen des 19. Jahrhunderts entstanden sind, dass sie bereits die Existenz von Interkulturalität negieren müssen. Aus diesem Grund haben Pym zufolge literarische Übersetzungssysteme und Diskurse über die Übersetzung häufig die Tendenz, die konkrete Interkulturalität der Übersetzung als Artefakt abzuschwächen oder zu verstecken. Diese teilweise versteckte Interkulturalität sichtbar zu machen und zu zeigen, wie sie sich in den Körpern der ÜbersetzerInnen verortet und wo sich ihre Effekte in der Übersetzung manifestieren, ist Pyms Ansicht nach eine der Aufgaben der Übersetzungsgeschichte. Deshalb schlägt er vor, Übersetzungen immer auch vom konkreten Ort der Interkulturalität, also vom Leben und Handeln der ÜbersetzerInnen her zu untersuchen, und nicht nur als Prozess zwischen zwei als mehr oder weniger monolithisch angenommenen Kulturen. Hier kommt nun für diese Studie sehr wichtige Aspekt des Handelns der ÜbersetzerInnen und ihrer Netzwerke ins Spiel. Die interkulturellen Orte der ÜbersetzerInnen, also konkret ihre professionellen Biografien, sind von zentraler Bedeutung, wenn es darum geht, einen Wissensimport zu beschreiben und zu untersuchen, der mit dominanten Diskursen und Verdrängungsmechanismen konfrontiert ist, die ganz konkret gegen ihn gerichtet sind. Die ÜbersetzerInnen zweier der drei hier untersuchten Bücher waren selbst Opfer nationalsozialistischer Verfolgung und in den 1950er-Jahren Mitglieder von Netzwerken, die mit der Veröffentlichung der Übersetzungen ganz konkrete (erinnerungs-)politische Ziele verfolgten. Alle vier ÜbersetzerInnen, deren berufliche Biografien hier eine Rolle spielen, waren für die erste Hälfte der 1950er-Jahre vergleichsweise intensiv interkulturell sozialisiert und hatten sich als ZivilistInnen vergleichsweise weit in der Welt bewegt, zwei als VertreterInnen der deutschen Eliten und zwei als Verfolgte des NS-Regimes und

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ExilantInnen. Bei der konkreten Arbeit am Text sind es die übersetzerischen Entscheidungen zwischen verschiedenen Möglichkeiten, die den scheinbar endlosen Semioseprozess beenden und dem Text seine ganz konkrete Form und seine inhaltlichen Eigenheiten verleihen. Diesen Entscheidungen vorgelagert sind aber bereits andere Entscheidungen dieser historischen AkteurInnen, die das Zustandekommen der Übersetzungen und ihre sprachlichen und inhaltlichen Formen prägen: Entscheidungen darüber, wo man nach dem Krieg leben wollte, die Entscheidung dafür, die eigene Fremdsprachenkompetenz beruflich zu nutzen, die Entscheidung dafür, in den Netzwerken mitzuwirken, die die Übersetzungen hervorbrachten. Darüber hinaus haben wir es aber auch mit anderen biografischen Faktoren zu tun, die nicht als Entscheidungen, sondern als Erfahrungen Einfluss auf die Form und Sprache der Übersetzungen hatten. Zu solchen Faktoren gehören Verfolgungserfahrung im Nationalsozialismus und das Exil auf der einen Seite ebenso wie die Erfahrung, als privilegierte Mitglieder einer bürgerlich-nationalsozialistischen Kulturszene den Krieg zu verlieren, auf der anderen Seite. Dass solche Faktoren den übersetzten Text bei seiner Produktion, beim abgeleiteten Schreiben der Übersetzungen beeinflussen, liegt nach Lawrence Venuti nicht nur in den aktiven Entscheidungen der ÜbersetzerInnen, sondern auch im »übersetzerischen Unbewussten« (»the translator’s unconscious«) begründet.14 Die sehr reflektiert getroffenen Entscheidungen sowohl im Leben als auch in der Arbeit der ÜbersetzerInnen, die sie entweder nach längerer Abwägung oder intensiver Recherche getroffen haben, sind Venutis Ansicht nach vor allem im Prozess des Übersetzens selbst in der Minderheit: »Many choices [translators make] seem to be based either on linguistic and cultural values that remain unstated or on sheer personal preference.« (Venuti, S. 32) Die sprachlichen und kulturellen Normen, anhand derer ÜbersetzerInnen ihre Entscheidungen oft treffen, sind von den ÜbersetzerInnen im Zuge ihrer Sozialisation internalisiert worden, deshalb un- oder vorbewusst, und entsprechend werden die Entscheidungen, die die Textgestalt am meisten prägen, oft automatisch und ohne ausführliche kritische Reflexion getroffen. Dem gegenüber stehen übersetzerische Entscheidungen, die meist sehr bewusst und anhand von bestimmten rationalen Überlegungen getroffen werden. Dazu gehören beispielsweise Entscheidungen dafür, an bestimmten Publikationsprojekten mitzuarbeiten, oder die Entscheidung für oder gegen bestimm14

Lawrence Venuti: »The Difference That Translation Makes. The translator’s unconscious« in: ders.: Translation Changes Everything. London 2012, S. 32.

2. Wie erinnern Übersetzungen? Die Autonomie des abgeleiteten Textes

te Rechercheschritte. Die bewussten, aktiven Entscheidungen liegen also eher im Bereich der Berufspraxis, der Ökonomie und dem mehr oder weniger vorhandenen Verständnis der eigenen Arbeit als aktiver kultureller Intervention. Die un- oder vorbewussten Entscheidungen, die ÜbersetzerInnen treffen, liegen wiederum häufiger im Bereich der konkreten Textproduktion, des geführten, abgeleiteten Schreibens. Beide Bereiche sind für diese Studie von großer Relevanz und haben ihre jeweiligen Entsprechungen in zwei unterschiedlichen kulturellen Rollen, die ÜbersetzerInnen einnehmen: Die als aktive kulturell Handelnde, und die als als TextproduzentInnen. Spätestens hier sind wir bei einer fundamentalen Veränderung dessen angkeommen, was wir unter Übersetzungswissenschaft verstehen. Eine wissenschaftliche Praxis, die die politischen Machtverhältnisse und ökonomischen Bedingungen, unter denen Übersetzungen entstehen ebenso untersucht wie die Netzwerke und interkulturellen Prozesse, die sie hervorbringen, und die kulturellen, politischen und historischen Effekte, die sie erzeugt, ist nach Meinung des amerikanischen Germanisten und Übersetzungswissenschaftlers Edwin Gentzler nur noch bedingt eine Übersetzungswissenschaft. Viel besser sei sie mit dem Begriff »Post-Translation Studies« beschrieben. Nicht zuletzt auch deshalb, weil eine solche Disziplin die gesellschaftlichen und kulturellen Effekte einer Übersetzung, also ganz konkret das, was nach der Übersetzung geschieht, erforschen soll. Genzler betont, dass die Bedingungen und Motivationen für Übersetzungen sehr häufig konkret politische oder kulturelle sind: »The revolutionary war leaders of the Americas were not translating Locke, Rousseau, or Montaigne because they wanted scholars at Harvard to review favourably their translations in learned journals; no, they wanted to introduce new ideas regarding democratic systems and human rights into their cultures that were not free and were governed by European powers. […] The purpose was not to better represent European texts, but to change the receiving culture, to alter the way people think about politics, liberty, individual freedom and their relationship to the absent monarchy. […] [T]he subsequent revolution in art, politics, science, or any disciplinary analysis, may be interpreted as post-translation effects.«15

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Edwin Gentzler: Translation and Rewriting in the Age of Post-Translation Studies. London 2016, S. 2.

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Während ich Genzlers Perspektive auf die Aufgaben von Übersetzungsgeschichte bzw. auf die wissenschaftliche Erforschung von Übersetzungen durchaus teile, bin ich doch mit der Benennung nicht einverstanden. Eine Übersetzungswissenschaft, die die Effekte und intertextuellen Bezüge von Übersetzungen ebenso in den Blick nimmt, wie die transkulturellen Prozesse, in denen sie stehen, ist lediglich eine genauere, vollständigere Übersetzungswissenschaft. Im Zeitalter einer globalisierten Wissenschaft sollte es dabei umgekehrt selbstverständlich sein, dass alle Disziplinen, die primär die Sprache als Medium nutzen, auch eine Vorstellung von den Funktionen und Wirkungsweisen von Übersetzungen benötigen. Diese Studie soll als Übersetzungswissenschaft, Historiografie und Literaturwissenschaft funktionieren und soll insgesamt gern als Beitrag zur Kulturwissenschaft verstanden werden, ohne dabei den Bezug zu den anderen Disziplinen zu verlieren. Vor allem verfolgt sie zunächst keinen Ansatz, der über die drei hier genannten Disziplinen im Sinne eines Präfix »Post- » hinausgeht. Das Ziel dieser Studie ist vor allem die Synthese von Ansätzen aus verschiedenen Disziplinen.

2.2.

Erinnerung

2.2.1.

Inhalt und Gedanken: Sigmund Freud

Da es in meiner Untersuchung um Übersetzungen gehen soll, die gegen eine Verdrängung gerichtet sind, beziehungsweise verdrängtes oder unerwünschtes Wissen über die NS-Verbrechen in den deutschsprachigen Diskurs integrieren sollen, halte ich es für dringend notwendig, mir auch Übersetzungsbegriffe aus der Psychoanalyse anzusehen. Wichtige Hinweise kommen in diesem Zusammenhang von dem Kulturwissenschaftler und BKS-Freud-Übersetzer Boris Buden. Er weist auf zwei entscheidende Textstellen hin, in denen Freud Analogien zwischen psychischen Prozessen und der Übersetzung herstellt: auf eine Passage aus der Traumdeutung und auf einen Brief an Wilhelm Fließ vom 6. Dezember 1896, der in der Übersetzungswissenschaft relativ häufig zitiert wird.16 Für die Argumentation dieser Studie entscheidend ist, dass Freud in beiden Texten die Übersetzung als Analogie dort verwendet, wo es um seine Konzeption der Verdrängung, also 16

Boris Buden: Der Schacht von Babel. Ist Kultur übersetzbar? Berlin 2005, S. 78-85.

2. Wie erinnern Übersetzungen? Die Autonomie des abgeleiteten Textes

im erweiterten Sinne um Erinnerung und Verarbeitung von Ereignissen und Gefühlen geht. Diese Auffassung von der Übersetzung als Technik zur (besseren) Verarbeitung biografischer Ereignisse möchte ich mir etwas genauer ansehen, bevor ich mich der für mich entscheidenden Bedeutung der ganz konkreten, unmetaphorischen Übersetzung für kollektive bzw. gesellschaftliche und kulturelle Gedächtniskonzepte und Erinnerungsformen annähern kann. In der Traumdeutung argumentiert Freud mit einer Übersetzungsanalogie für eine komplexere Praxis der Interpretation von Träumen und gegen die Vorstellung einfacher analoger Entschlüsselungen. Dafür gliedert er den Traum in drei Ausdrucksebenen und entwirft ein Modell, das dem ebenfalls in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen Modell der Semiose von Charles Sanders Peirce auffällig ähnelt. Der Trauminhalt ist die semiotische und bildliche Form des Traumes (analog zum Repräsentamen bei Peirce), während die Traumgedanken die darunterliegende Struktur der im Traum erlebbaren Gefühle und Wünsche sind (analog zum Interpretant bei Peirce). Darunter wiederum liegt – sozusagen als Peirce’sches Objekt des Zeichens – die unbewusste Wunsch- und Gefühlsstruktur. Das Verhältnis dieser beiden Elemente des Traumes, Trauminhalt und Traumgedanken, beschreibt Freud nun als das zwischen zwei Sprachen, von denen eine in die andere übersetzt wird: »Traumgedanken und Trauminhalte liegen vor uns wie zwei Darstellungen desselben Inhalts in zwei verschiedenen Sprachen, oder besser gesagt der Trauminhalt erscheint uns als eine Übertragung der Traumgedanken in eine andere Ausdrucksweise, deren Zeichen und Fügungsgesetze wir durch die Vergleichung von Original und Übersetzung kennenlernen sollen.«17 Das, was den emotionalen Prozessen und verdrängten Wünschen aus der Kindheit die Gestalt der Träume gibt, ist also nach Freud analog zur Übersetzung eines bestimmten Inhalts aus einer Sprache in eine andere. Wie bei der nicht metaphorischen Übersetzung von einer Sprache in eine andere haben hier auch beide Sprachen dieselben Objekte, auf die sie auf unterschiedliche Art verweisen. In dieser Analogie ist die Übersetzung Bestandteil der Verdrängung: Die Mechanismen, die die Traumgedanken in die Trauminhalte übersetzen, die Verdichtung, die Verschiebung etc., sind auch die Mecha-

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Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Studienausgabe Bd. 2, Frankfurt a.M. 1989, S. 280.

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nismen, die in den Trauminhalten verhindern, dass sich die Wünsche und Bedürfnisse, die sie bedeuten, konkret manifestieren. Vier Jahre vor der Veröffentlichung der Traumdeutung, im Dezember 1896 sah Freud den Mechanismus, der ihn an eine Übersetzung gemahnte, noch als viel zentraler für den Erinnerungs- und Verdrängungsprozess an. In einem Brief an Wilhelm Fließ, in dem er ein Modell des menschlichen Gedächtnisses entwickelt, schreibt er der Übersetzung sogar die entscheidende Rolle nicht für die Verdrängung, sondern für die erfolgreiche, nicht neurotische Integration von Erinnerungen zu: »Ich will hervorheben, daß die aufeinander folgenden Niederschriften die psychische Leistung von sukzessiven Lebensepochen darstellen. An der Grenze von zwei solchen Epochen muß die Übersetzung des psychischen Materials erfolgen. Die Eigentümlichkeiten der Psychoneurosen erkläre ich mir dadurch, daß die Übersetzung für gewisse Materien nicht erfolgt ist, was gewisse Konsequenzen hat. Wir halten ja an der Tendenz zur qualitativen Ausgleichung fest. Jede spätere Überschrift hemmt die frühere und leitet den Erregungsvorgang von ihr ab. […] Die Versagung der Übersetzung, das ist das, was klinisch ›Verdrängung‹ heißt. Motiv derselben ist stets eine Unlustentbindung, die durch Übersetzung entstehen würde, als ob diese Unlust eine Denkstörung hervorriefe, die die Übersetzungsarbeit nicht gestattet.«18 Freuds wienerisches Ärztedeutsch aus dem späten 19. Jahrhundert benötigt hier möglicherweise selbst ein wenig diachrone Übersetzung, damit es nicht überinterpretiert wird. Der entscheidende Satz »Die Versagung der Übersetzung, das ist das, was klinisch ›Verdrängung‹ heißt« hat in der Literaturwissenschaft immer wieder Anlass zu Spekulationen gegeben. Auch Boris Buden rätselt ausführlich darüber, wer hier wem etwas versagt oder ob es hier sogar um eine angedeutete reflexive Bedeutung geht, bei der sich das Original, also das intensive Erlebnis, einer Übersetzung versagt (Buden, S. 79f.). Tatsächlich allerdings bildet Freud schlicht ungewöhnliche Substantivierungen mit dem Suffix -ung, wie er auch kurz zuvor, hier ebenfalls zitiert, »Ausgleichung« statt

18

Freud an Wilhelm Fließ, 6. Dezember 1896. In: Sigmund Freud: Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ, Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887-1902. Hg. von Marie Bonaparte, Anna Freud und Ernst Kris. Frankfurt a.M. 1962, S. 152. Im Folgenden: AdAdP.

2. Wie erinnern Übersetzungen? Die Autonomie des abgeleiteten Textes

des üblicheren »Ausgleich« verwendet. Es geht hier also einfach um das Versagen, das Scheitern der Übersetzung von einer Erinnerungsschicht in eine andere, das Freud hier als Verdrängung fasst. Freud stellt die Erinnerung als »Aufeinanderschichtung« von »Erinnerungspuren« (AdAdP, S. 151) dar, die in unterschiedlichen Lebensphasen aufgeschrieben werden. Dabei sind diese »Niederschriften« aber keine fortdauernde Anhäufung von Erinnerungsspuren, sondern konkreten Phasen zugehörige Schichten, die – wie unterschiedliche Sprachen – klar voneinander abgegrenzt sind. Die Übersetzung von Erinnerungsspuren über diese Grenzen hinweg ermöglicht es Menschen, mit Erinnerungen altersgemäß umzugehen. Wo diese Übersetzung aus Angst vor Unlust nicht funktioniert, also wo Verdrängung stattfindet, wird ein Ereignis in der psychischen Sprache einer früheren Phase und damit unangemessen erinnert und es kann zu Neurosenentwicklung kommen. Im Brief an Fließ konkretisiert Freud die Erinnerungen (es müssen Erinnerungen an sexuelle Erfahrungen sein) und die daraus resultierenden Neurosen. Diese Elaborationen sind jedoch für diese Studie nicht von Bedeutung. Entscheidend ist, dass sich im Brief an Fließ der Beginn einer Denkfigur findet, die die Übersetzung nicht nur als kommunikatives Hilfsmittel zwischen Sprachen oder als epistemologische Technik konzipiert, sondern sie zwar metaphorisch, aber dafür umso essenzieller als Mechanismus einer aufgeklärten Erinnerung betrachtet. Wenn nämlich das Versagen der Übersetzung eine psychopathogene Situation ist, dann ist die gelungene Übersetzung (in Gestalt der therapeutischen Deutung von Erinnerungen) der Weg zur Gesundung, analog zur funktionierenden Therapie. Aus dieser Perspektive stellen die Übersetzungsprojekte, um die es hier gehen soll, auch therapeutische Eingriffe gegen eine Sprachlosigkeit im Umgang mit den NS-Massenverbrechen in den deutschsprachigen Ländern in den 1950er-Jahren dar. Das fast vollständige Fehlen monografischer, autoritativer Sachtexte in deutscher Sprache, die das in den Kriegsverbrecherund KZ-Prozessen gewonnene Wissen gebündelt, vermittelt und in Gedächtnismedien kodifiziert hätten, erinnert an das Versagen der Übersetzung in Freuds Gedächtnismodell. Ihr Motiv wären in dieser Analogie die Abwehr der Unlustgefühle Schuld und Bestrafungsangst der Tätergesellschaft. Um genauer zu beleuchten, wie diese teilweise Sprachlosigkeit entstand, was konkret beschwiegen wurde und wie Verdrängungsprozesse und Erinnerung im Zusammenhang mit den NS-Massenverbrechen auf einer überindividuellen, gesellschaftlichen Ebene im Deutschland der 1950er-Jahre wirkten,

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müssen wir uns im Folgenden ein wenig von der Übersetzungstheorie und -metaphorik abwenden und uns Fragen des kollektiven Gedächtnisses und der Erinnerungskulturen widmen.

2.2.2.

Kollektives und soziales Erinnern

Um zu einer Analogie wie der zwischen Therapie und Übersetzung für die Gesellschaft der 1950er-Jahre zu kommen, wie ich sie oben angedeutet habe, muss man die Freud’sche Übersetzungsanalogie, die sich auf individuelle Erinnerung bezieht, auf eine kollektive Erinnerung übertragen. Wie sich überindividuelle Erinnerungen konstituieren und in welchen kollektiven Gedächtnisformen sie aufbewahrt werden, ist seit etwa zwei Jahrzehnten ein zentraler Diskussionspunkt der sich in Deutschland erst herausbildenden kulturwissenschaftlichen Forschung. Ausgangspunkt dieser wissenschaftlichen Debatten ist fast immer die Feststellung des französischen Soziologen Maurice Halbwachs in den 1920er-Jahren, dass individuelle Erinnerungen immer nur in sozialen Bezugsrahmen entstehen.19 Nach Halbwachs wird das individuelle Gedächtnis durch Interaktion und Dialog erst mit Wissensbeständen und Konzepten wie der Zeit versorgt, die einen Vergangenheitsbezug überhaupt möglich machen. Damit wird »jedes individuelle Gedächtnis [zu einem] ›Ausblickspunkt‹ auf das kollektive Gedächtnis«. (DkG S. 31) Das kollektive Gedächtnis spielt in Halbwachs’ Konzeption vor allem für die Herausbildung kollektiver Identitäten eine zentrale Rolle: Gemeinschaften konstituieren sich durch gemeinsames Erinnern, durch Überlieferung von Wissen, also Tradition. Gleichzeitig formen die Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen die Erinnerungen des Individuums. Kollektives Erinnern als Handeln ist darüber hinaus etwas, das immer in einer konkreten Gegenwart geschieht und von Bedeutung vor allem für die Gegenwart und die kurzfristige Zukunft der Handelnden ist. Für die Diskussion rund um das gesellschaftliche Gedächtnis in Deutschland von besonderer Bedeutung sind die Arbeiten der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die ab Ende der 1980er-Jahre gemeinsam mit ihrem Mann Jan Assmann das Wachsmann’sche Konzept des kollektiven Gedächtnisses konkretisierte und ausdifferenzierte. Insbesondere die Arbeiten, in denen sie sich ganz konkret mit der Erinnerung an die Zeit des Nationalso19

Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Aus dem Französischen von Holde Lhoest-Offermann. Frankfurt a.M. 1991. Im Folgenden DkG.

2. Wie erinnern Übersetzungen? Die Autonomie des abgeleiteten Textes

zialismus in Deutschland beschäftigte, informieren das theoretische Gerüst dieser Studie. In ihrem von der Walser-Bubis-Debatte 1998 angeregten Buch Geschichtsvergessenheit, Geschichtsbesessenheit, das sie gemeinsam mit der Historikerin Ute Frevert verfasste, entwirft sie ein Modell von drei ineinander verschränkten und sich überlappenden überindividuellen Gedächtnistypen: das kommunikative, das kollektive und das kulturelle Gedächtnis. Das kommunikative Gedächtnis ist Aleida Assmann und Ute Frevert zufolge das Gedächtnis lebendiger Erinnerung und direkter Weitergabe, das ungefähr drei Generationen zurückreicht und »in einem Milieu räumlicher Nähe, regelmäßiger Interaktion, gemeinsamer Lebensformen und geteilter Erfahrungen«20 entsteht. Es ist auf ein Generationengedächtnis bezogen und hilft in der Gegenwart bei der Bildung generationeller, subkultureller oder regionaler (Erinnerungs-)Gemeinschaften. Den zweiten Gedächtnistyp, den Assmann und Frevert identifizieren, nennen sie das kollektive Gedächtnis. Es verbindet politisch definierte größere, generationenübergreifende Gemeinschaften durch geteilte Erinnerungen mit einer klaren gesellschaftlichen und politischen Zukunftsperspektive und Handlungsaufforderung. Es ist ein »soziales Langzeitgedächtnis«, das sich meistens auf einzelne Ereignisse bezieht und sich durch »inhaltliche[n] Minimalismus und symbolischen Reduktionismus« auszeichnet. (GVGV, S. 41f) Als größte und zeitlich längste Einheit des überindividuellen Gedächtnisses definieren Assmann und Frevert das kulturelle Gedächtnis. Es ist gleichzeitig das am stärksten mediatisierte und kodifizierte dieser überindividuellen Gedächtnistypen und auch die Form des gemeinschaftlichen Vergangenheitsbezugs, die am stärksten in der Gegenwart zwischen Individuen und gesellschaftlichen Gruppen ver- und ausgehandelt werden muss. Verschiedenste generische Formen kultureller Verdinglichungen wie Gedenktage, Denkmäler, bildende Kunst, ikonografische Fotografien und Filmbilder, Literatur und Historiografie bilden gemeinsam dieses gesellschaftliche Großgedächtnis. Gegenstand der gesellschaftlichen Verhandlung rund um das kulturelle Gedächtnis ist die Frage, was dazugehört und in welcher Form es erinnert werden soll, aber auch, was vergessen werden darf. In späteren Arbeiten geht Assmann dann nur noch von einem zweiteiligen

20

Aleida Assmann/Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit der deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999, S. 36. Im Folgenden GVGV. Zu den jüngeren Entwicklungen der Assmann’schen Gedächtniskonzeptionen siehe: Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart 2017.

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Modell eines kollektiven Gedächtnisses aus, das aus dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis besteht, die beide jeweils Elemente des dritten Typs enthalten, den sie in »Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit« als kollektives Gedächtnis bezeichnet hat. Angewandt auf die Texte und die historische Situation, mit denen sich diese Studie befasst, kann das Assmann’sche Modell helfen, die diskursiven Formationen und Prozesse konkreter zu benennen, die sowohl rund um die Publikation der Originale und der Übersetzungen in beiden nationalen Erinnerungskulturen als auch zwischen Original und Übersetzung stattfinden. Dabei haben wir es hier mit einer Situation zu tun, die das Assmann’sche Modell teilweise auf den Kopf stellt: Das explizite Wissen um die nationalsozialistischen Massenverbrechen nahm in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nicht den Weg vom kommunikativen Gedächtnis der Erlebnisgeneration in das kulturelle Gedächtnis. Vielmehr musste implizites Wissen erst explizit gemacht und über eine Phase der Latenz hinweg in Gedächtnismedien und Akten teilweise subversiver Vergangenheitspolitik kodifiziert und gespeichert werden, bevor es in der Bundesrepublik in einen marginalen Bereich des Diskurses einer entstehenden demokratischen Öffentlichkeit eintreten konnte. Mit dem Auftauchen des Themas im kulturellen Gedächtnis, insbesondere in der Presse und bei Ansprachen anlässlich früher Gedenkveranstaltungen, wurden teilweise erst die Traditionsprozesse in Gang gesetzt, die Assmann als kommunikatives Gedächtnis fasst. Insgesamt erscheint es für die 1950er-Jahre kaum möglich, die divergenten Prozesse des sozialen Erinnerns und Vergessens der NS-Verbrechen den klar unterscheidbaren Gedächtnistypen aus der Assmann’schen Theorie zuzuteilen. Vielmehr haben wir es im Familien- und Generationengedächtnis ebenso wie in weiten Teilen des gesellschaftlichen Gedächtnisses im Westdeutschland der Adenauer-Zeit mit einem auf die nationalsozialistischen Massenmorde bezogenen Verdrängungskonsens zu tun, motiviert von Bestrafungsangst, Scham und dem Angebot, durch wirtschaftlichen Erfolg den militärischen und politischen Misserfolg kompensieren zu dürfen. Diese konsensuelle Verdrängung ist aber gleichzeitig äußerst fragil und permanent bedroht. Eine Gefahr für diese Verdrängungen stellt vor allem die Größe der beschwiegenen Verbrechen dar. Sie verschafft sich insbesondere in den marginalisierten Gruppen der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung innerhalb der westdeutschen Gesellschaft in sehr begrenzten, aber doch existenten Diskurs- und Erinnerungsräumen Ausdruck. Ebenso war sie in den 1950erJahren teilweise im gesellschaftlichen Diskurs der Siegermächte präsent

2. Wie erinnern Übersetzungen? Die Autonomie des abgeleiteten Textes

und konnte von dort im Zuge einer Fahrt aufnehmenden Globalisierung von Wissen Zugang zum westdeutschen öffentlichen Diskurs erhalten. Die Frage, wie sich gesellschaftliche Erinnerung an die NS-Verbrechen in den 1950er-Jahren in (West-)Deutschland konstituierte, ist also primär eine Frage nach dem diskursiven Erfolg derjenigen AkteurInnen, die gegen den Verdrängungsdiskurs anschrieben und ansprachen. In einem Aufsatz aus dem Jahr 2005 beschreibt die Historikerin Ulrike Jureit etwas allgemeiner, warum die Analyse kollektiver, sozialer und kultureller Erinnerung zuerst Diskursanalyse sein sollte: »Die inzwischen schon fast formelhafte Rede vom kollektiven oder kulturellen Gedächtnis erweckt häufig den Anschein, die gesamte Gesellschaft sei daran beteiligt, indem sie Denkmäler errichte, Feste feiere oder Prozessionen organisiere. Im Zweifelsfall bleiben die beteiligten Subjekte als Masse anonym. Doch der Vorgang symbolischer Repräsentation ist weitaus komplizierter und letztlich nur als diskursiver Prozeß nachzuvollziehen. Dabei haben wir es mit sozialem Handeln zu tun, an dem unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen Interessen und Aufgaben beteiligt sind. Die Gedächtnisträger variieren in Zahl und Professionalität; es sind manchmal Spezialisten oder Eliten, oder aber kleinere soziale Einheiten, die sich als besonders geeignet erweisen oder fühlen, kollektives Erinnern zu initiieren oder zu organisieren. Sie verfügen vielleicht über ein spezielles Wissen oder über außergewöhnliche Fähigkeiten, was ihre besondere Rolle rechtfertigt.«21 Wie in den biografischen Abrissen in dieser Studie deutlich werden wird, treffen auf die ÜbersetzerInnen der Texte in meinem Korpus viele von Jureits Charakterisierungen der »Gedächtnisträger« zu: Sie alle sind SpezialistInnen, die über besondere Fähigkeiten, nämlich die Fremdsprachenkenntnisse und die berufliche Fähigkeit des Übersetzens, verfügen; zwei von ihnen, Roswitha Czollek und J. W. Brügel, sind darüber hinaus selbst NS-Verfolgte und erscheinen, erweisen oder fühlen sich deshalb als besonders geeignet, das Wissen über die NS-Verbrechen, das in den englischen Büchern kodifiziert wurde, in den deutschen Diskurs einzuschreiben. Über das Wissen hinaus, das sie ins Deutsche übertragen, verfügen sie außerdem über konkrete biografische Erfahrung mit den Verbrechen des NS-Regimes. Aber auch die anderen 21

Ulrike Jureit: »Generationen als Erinnerungsgemeinschaften. Das ›Denkmal für die ermordeten Juden Europas‹ als Generationsobjekt« in: U. Jureit, M. Wildt (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hamburg, 2005. S. 254.

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beiden ÜbersetzerInnen, um die es hier gehen soll, Modeste und Wilhelm Pferdekamp, verfügen über biografische Erfahrungen mit den Herrschaftsmechanismen des NS-Regimes, allerdings auf dessen reproduktiver Seite als erfolgreiche ProduzentInnen kultureller Erzeugnisse.

2.2.3.

Übersetzung als Erinnerung: Übersetzungsgeschichte und historische Diskursanalyse

Wenn man die ÜbersetzerInnen als ErinnerungsträgerInnen versteht, zeigt sich noch einmal ganz konkret die Parallelität von Erinnern (gesellschaftlichem und individuellem) und Übersetzen als Handlungen. Diese Parallelität entsteht nicht aus rhetorisch postulierten Analogien oder dem Gebrauch des Letzteren als Metapher für Ersteres, sondern aus strukturellen Ähnlichkeiten zwischen beiden Handlungen. Bei beidem werden Wissens- und Erfahrungsbestände über eine Grenze geholt und dabei rekontextualisiert und transformiert. Beim Erinnern ist die Grenze ein zeitlicher Abstand zwischen der Gegenwart des Erinnerns und früheren mentalen oder kollektiv-medialen Verarbeitungen eines Ereignisses oder eines Erlebnisses. Wissen und emotionale Erfahrung aus der Vergangenheit werden in der Gegenwart neu verarbeitet. Dabei verlieren sie Teile ihres Kontextes, andere Bestandteile ihrer Kontextualisierung werden bestätigt und affirmiert, teilweise erhalten sie neue Bezüge zueinander und zu anderen Ereignissen, Erfahrungen, Urteilen und Konzepten. Bei der Übersetzung ist die Grenze die zwischen zwei Sprachsystemen. Auch hier werden (in diesem Falle textlich) einmal fixierte Wissens-, Emotions- und Erfahrungsbestände über die Grenze zwischen den Sprachen geholt und dabei neu geschrieben, also vollständig neu kontextualisiert, während sie gleichzeitig große Teile ihrer alten Bezüge ostentativ behalten, weil sie nach außen kommunizieren, derselbe Text wie das Original zu sein. Eine weitere strukturelle Ähnlichkeit ist, dass jeder Akt der Erinnerung auch von Akten des Vergessens begleitet wird, ebenso wie jede Entscheidung für eine bestimmte Übersetzung auch immer eine Entscheidung für Auslassungen im semantischen Gehalt des Originals ist. Darüber hinaus hält die mehr oder weniger bewusste Fortschreibung von vergangenem Geschehen in der Erinnerung eine Version der erinnerten Ereignisse anstelle aller möglichen anderen fest, wie die Übersetzung auch immer die Niederschrift einer von vielen möglichen Versionen ist. Übersetzung und Erinnerung sind also auch immer teilweise bewusste, teilweise unbewusste Entscheidungsprozesse. Besonders augenfällig ist diese strukturelle Ähnlichkeit und konkrete

2. Wie erinnern Übersetzungen? Die Autonomie des abgeleiteten Textes

Überschneidung zwischen gesellschaftlicher Erinnerung und Übersetzung im Fall von Neuübersetzungen kanonisierter Werke. Indem die Neuübersetzung nicht nur sprachliche, sondern auch Epochengrenzen überschreitet, bestätigt sie bestimmte Werke als unverzichtbare Bestandteile der rückwärts blickenden Gegenwartskonstruktion. Die Übersetzung ist damit eine essenzielle mediale Technik, mit der das kulturelle Gedächtnis geformt wird. Dieser Zusammenhang ist für das Unterfangen dieser Studie jedoch weniger relevant, da sich diese Untersuchung ausschließlich mit explizit nicht kanonisierten übersetzten Werken befassen möchte, die auch lediglich in einem Fall, nämlich dem der Bullock-Übersetzung, eine aktualisierende Überarbeitung erfahren haben. In seinem viel rezipierten Buch Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization22 beschäftigt sich der Literaturwissenschaftler Michael Rothberg mit den Zusammenhängen zwischen der gesellschaftlichen Erinnerung an den Holocaust und dem Ende des Kolonialismus in den westlichen Gesellschaften der ersten drei Nachkriegsjahrzehnte. Rothberg fordert darin eine multiperspektivische gesellschaftliche Erinnerung ein, die sich nicht an einer Logik der Knappheit orientiert und die Erinnerung an die NS-Verbrechen und die an die Kolonialverbrechen nicht als sich gegenseitig ausschließende Bewegungen fasst. Er postuliert, dass es diese multiperspektivische Erinnerung in den 1950er-Jahren bereits als minoritären Erinnerungsdikurs gegeben habe und dass daraus eine marginalisierte, aber vorhandene langjährige Tradition »dekolonialisierter Holocausterinnerung« (MM, S. 22) entstanden sei. Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Holocaust-Erinnerung und Dekolonialisierung spielen für mein Projekt zwar keine zentrale Rolle, hochinteressant ist aber Rothbergs Postulat, dass sowohl die Erinnerung an den Holocaust als auch die Dekolonialisierungskämpfe zentral gegen das Nationalstaatsdenken aus dem 19. Jahrhundert gerichtet seien und dass beide deshalb grundsätzlich auch transkulturelle Eigenschaften brauchten. Der Hinweis darauf, dass Holocaust-Erinnerung in den 1950er-Jahren notwendigerweise transkulturell war, ist bei Rothberg sozusagen ein Nebenprodukt seiner Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Holocaust-Erinnerung und Dekolonisierung:

22

Michael Rothberg: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Redwood City 2008.

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»[T]hinking of memory as multidirectional instead of competitive does not entail dispensing with a notion of the urgency of memory, with its life-anddeath stakes. Rather, these examples alert us to the need for a form of comparative thinking that, like memory itself, is not afraid to traverse sacrosanct borders of ethnicity and era.« (MM, S. 17) Die Transkulturalität der frühen Holocaust-Erinnerung, die Rothberg in diesem Zitat und in seinem ganzen Buch immer wieder betont, ist sicherlich richtig beobachtet. Dabei kommt hier aber ein auffälliger blinder Fleck zum Vorschein: An keiner Stelle erwähnt Rothberg die zentrale Rolle der Übersetzung in der Konstitution solcher minoritärer und transkultureller kollektiver Erinnerungen. Was die Abwesenheit einer Diskussion über die Übersetzung so augenfällig macht, ist, dass ein sehr großer Teil der Werke, mit denen er sich befasst, Übersetzungen von Texten frankophoner AutorInnen (Aimé Césaire, André Schwarz-Bart, Marguerite Duras) sind. Völlig zu Recht diskutiert Rothberg die Erinnerung an den Holocaust und die Dekolonialisierung als globale Phänomene, die über die engen Grenzen nationaler oder einsprachiger Diskurse hinaus gesellschaftlich verhandelt und erkämpft werden. Beides sind politische und kulturelle Prozesse, die sich über Nationalstaats- und Sprachgrenzen hinweg und explizit gegen diese Grenzen entwickeln. Dabei wäre es aber von Bedeutung, darauf hinzuweisen, wie eng diese globalen politischen und kulturellen Phänomene mit der Übersetzung als einer ihrer Antriebskräfte, mindestens aber als ihr zentrales Werkzeug verzahnt und dass ÜbersetzerInnen zentrale AkteurInnen dieser Prozesse sind. Wenn ich also sowohl das Erinnern als auch das Übersetzen als einerseits strukturell ähnliche, andererseits miteinander konkret verbundene Handlungen verstehe, so folgt für mein Projekt daraus, dass ich einerseits die historischen Akteure dieser Übersetzungsprozesse (die ÜbersetzerInnen und ihre Netzwerke) benennen und beschreiben muss. Andererseits muss ich ihr übersetzerisches Handeln als abgeleitetes Schreiben und damit als kulturelles, mediales, mnemotechnisches und soziales Handeln beschreiben. Das ist der übersetzungshistorische Aspekt meiner Fragestellung, und seine konkreten Fragen lauten: Wer hat was wann warum und in wessen Auftrag wie übersetzt? Um aber die Rollen dieser Übersetzungen innerhalb der und für die umkämpfte gesellschaftliche Erinnerung an die NS-Verbrechen im Deutschland der 1950er-Jahre beschreiben zu können, müssen diese übersetzungshistorischen Fragen mit historisch-diskursanalytischen Fragestellungen zusam-

2. Wie erinnern Übersetzungen? Die Autonomie des abgeleiteten Textes

mengedacht werden: Was war zu diesem Zeitpunkt in welchen sozialen Gruppen und in welchen Medien sagbar und was nicht? Wo kommen übersetztes Wissen und übersetzte Aussagen zu den NS-Verbrechen mit den Verdrängungsmechanismen oder den hegemonialen Diskursen über diese Verbrechen innerhalb der deutschen Gesellschaften in Konflikt und wo können sie sich einen Platz in einem weiteren öffentlichen Diskurs sichern und sogar gesellschaftliche Veränderungen anstoßen? Welche intertextuellen Effekte tragen zur Form der Übersetzungen bei beziehungsweise welche intertextuellen Effekte lösen sie innerhalb deutschsprachiger Diskurse selbst aus? Der Historiker Achim Landwehr hat in seiner Einführung in die historische Diskursanalyse in einer kurzen Formel zusammengefasst, wie Gesellschaften seiner Konzeption nach Wissensbestände aufbauen und sortieren: »[…] Wissen und Wirklichkeit [sind] Ergebnisse sozialer Konstruktionsprozesse, das heißt Gesellschaften statten ihre Umwelt mit bestimmten Bedeutungsmustern aus, erkennen bestimmte Sichtweisen auf diese Umwelt als Wissen an (während andere als Aberglaube oder Unsinn abqualifiziert werden) und objektivieren Elemente zu einer Wirklichkeit, der man nicht mehr ansehen kann, dass sie historisch entstanden und alles andere als naturnotwendig ist.«23 Übersetzungsprozesse sind solche sozialen Konstruktionsprozesse, mit denen in anderen kulturellen und sprachlichen Kontexten bestehende Wissensbestände, Interpretationen und Narrative neu verortet und rekontextualisiert werden. Sie werden so zu neuen Teilen eines Diskursraumes und können bestehende Narrative und Diskurse beeinflussen und verändern. In Kombination mit historischen Umbrüchen und Veränderungen (Kriege, Marktprozesse, technologische und mediale Neuerungen, religiöse Entwicklungen etc.) nehmen sie direkt Einfluss auf Wissensbestände und Narrative der Zielkultur. Da sie zwischen zwei narrativen Ordnungen stattfinden, die durch verschiedene Sprachen voneinander abgegrenzt sind, können sie auch gesellschaftliche Veränderungen und politische Neuordnungen begleiten, affirmieren und legitimieren. Den ÜbersetzerInnen übergeordnete AkteurInnen sind dann möglicherweise Institutionen und Organe, die Politik machen, ebenso aber auch einfach Individuen, die auf verschiedene Arten zum Entstehen von Übersetzungen betragen können: als VerlegerInnen, LektorInnen oder als FörderInnen und Finanziers von Übersetzungen. 23

Achim Landwehr: Historische Diskursanalyse. Frankfurt a.M. 2008, S. 18.

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2.3.

Methodische Synthese: In vier Schritten zur historischen Diskursanalyse von Übersetzungen

Die Analyse der Übersetzungen, mit denen sich diese Studie befasst, verlangt nach einer empirischen und deskriptiven Methode, die es erlaubt, sowohl die Übersetzungsprozesse selbst zu rekonstruieren als auch die übersetzten Texte in ihrem historischen und publizistischen Kontext zu verorten. Darüber hinaus muss sie die drei verschiedenen Perspektiven, die die zugrunde liegende Fragestellung verlangt, nämlich die historische, die textanalytische und die diskursanalytische, so zusammenbringen, dass sich eine handhabbare Forschungsstrategie ergibt. Besonders fruchtbar für meine Vorstellung einer übersetzungshistorischen Arbeitsweise war Anthony Pyms Buch Method in Translation History. Pym teilt die Übersetzungsgeschichte in drei Arbeitsschritte ein: Archäologie, Kritik und Erklärung (Archaeology, criticism and explanation, MiTH, S. 64ff), die sich jeweils sehr gut mit meinen Leitfragen verbinden lassen. Nach Pym beinhaltet der archäologische Schritt die Antworten auf die Fragen, wer was wann in wessen Auftrag übersetzt hat und wer wann und wo diese Übersetzungen dann rezipiert hat. Im zweiten Schritt, den er vorschlägt, geht es dann um die konkrete Kritik einer Übersetzung: Wie ist sie sprachlich gestaltet, wo weicht sie von sprachlichen und inhaltlichen Normen der Zieloder Quellkultur ab und genügt sie aktuellen oder historischen Kriterien für eine angemessene Übersetzung? Der Schritt »Erklärung« beinhaltet dann die interpretatorische Arbeit mit dem Material, das in den ersten beiden Scritten gewonnen wurde: Wie fügt sich eine Übersetzung in die Zielkultur ein? Wie hat sie in der historischen Perspektive innerhalb der Zielkultur gewirkt? Für mein Projekt habe ich ein ähnliches praktisches Modell entwickelt, das jedoch aus vier Schritten besteht. In diesen vier Schritten sollen die Pym’schen Prinzipien von Archäologie, Kritik und Erklärung und die mit ihnen verbundenen Fragen keine eigenen Schritte darstellen, sondern sie sollen mehr oder weniger in jedem einzelnen Arbeitsabschnitt vertreten sein. Bei aller Anerkennung der Bedeutung des zielkulturellen Kontexts für die Analyse einer Übersetzung und ihrer Wirkung will ich den Fragen, wie sie Pym formuliert, noch Fragen zur gesellschaftlichen und erinnerungskulturellen Bedeutung der Originaltexte in der Quellkultur und zum Handeln und biografischen Hintergrund der ÜbersetzerInnen und ihrer Netzwerke hinzufügen.

2. Wie erinnern Übersetzungen? Die Autonomie des abgeleiteten Textes

Im ersten Schritt ginge es entsprechend darum, zunächst die Bedingungen für eine bestimmte Übersetzung zu identifizieren. Nach Toury (1995) ist ein explizites oder implizites Bedürfnis nach bestimmten Informationen oder narrativem Inhalt in der Zielkultur eine von zwei entscheidenden Vorbedingungen für eine Übersetzung. Die zweite ist die kulturelle und ökonomische Bedeutung, die dem Quelltext in der Quellkultur zukommt und die unter bestimmten Umständen in der Zielkultur ein »Übersetzungsbedürfnis« erzeugt. Eine dritte mögliche Bedingung für eine Übersetzung, die Toury nicht erwähnt, vor allem außerhalb des Buch- und Filmmarktes, ist ein konkreter, zwischen Quell- und Zielkultur stattfindender politischer Prozess, der interkulturelle Kommunikation in Verwaltung, Justiz oder Militär notwendig macht. Wir haben es hier mit dem Verhältnis zwischen Quelltext und Zielkultur zu tun, das Derrida als »Schuldverhätlnis« beschrieben hat, und das sich im konkreten Kontext der Erinnerung an die NS-Verbrechen in Deutschland auch in Adornos Bild vom »Hohlraum der Rede« findet. Die Originale im Korpus dieser Studie sind allesamt britische Sach- bzw. Fachbücher, die zwischen 1952 und 1955 veröffentlicht wurden. Und sie gehörten zu den ersten nicht-autobiografischen Sachbüchern, die sich mit den NS-Verbrechen befassten. Dabei waren sie aber sehr unterschiedlich in die gesellschaftliche Erinnerung an Krieg und NS-Verbrechen in Großbritannien eingebunden, waren auf sehr unterschiedliche Weise mit tagesaktuellen Debatten verbunden und mit sehr unterschiedlich großer Reichweite ausgestattet. Wie sie in diese intertextuellen Beziehungen eingebunden waren, war von großer Bedeutung dafür, wie sich ihre Übersetzbarkeit manifestierte und was sie dem deutschen Diskurs an Wissen und Informationen schuldeten. Um diese Übersetzbarkeit und das Schuldverhältnis beschreiben zu können, soll im ersten Schritt vor allem die Position der Originale im öffentlichen Diskurs und im kollektiven Gedächtnis Großbritanniens (immer im Verhältnis zu den deutschsprachigen Ländern) bestimmt werden. Auf die Untersuchung der Vorbedingungen einer Übersetzung und damit der Originalwerdung der englischen Texte folgt im zweiten Schritt ein Blick auf die ÜbersetzerInnen selbst als historisch-kulturelle AkteurInnen und interkulturelle KommunikationsträgerInnen, ihren biografischen und gesellschaftlichen Hintergrund und ihre Verbindungen und Vernetzungen zu anderen AkteurInnen. Gerade in den ersten Nachkriegsjahrzehnten, bevor für die Übersetzung von Texten zum Holocaust auf eine feste Struktur professioneller Literatur- und Fachübersetzerinnen zurückgegriffen werden konnte, waren die Lebenswege der ÜbersetzerInnen selbst oft eng mit den interkul-

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turellen und translatorischen Fragen verbunden, zu denen sie arbeiteten. So trug die Übersetzung hier auch dazu bei, dass sich im Prozess des geführten autonomen Schreibens, als das ich die Übersetzung fasse, die Stimmen von NS-Verfolgten wieder in den deutschen Diskurs einschrieben. Gaiba dokumentiert dies recht ausführlich für die DolmetscherInnen bei den Nürnberger Prozessen, denen sie ausführliche biografische Skizzen widmet. Ähnliche Grundlagenarbeit, das heißt das Schreiben kurzer kontextueller Biografien, ist für die Texte im Korpus dieser Studie noch zu leisten, damit der Beitrag dieser kulturellen Akteure zum Holocaust-Diskurs im Deutschen und Englischen adäquat gewürdigt und die spezifischen Entstehungsumstände der Übersetzungen genau beschrieben werden können. Hier muss auch nach den Motivationen und Qualifikationen der ÜbersetzerInnen gefragt werden: Warum konnten und/oder wollten sie Wissen über die NSMassenverbrechen in die deutsche Sachliteratur einschreiben? Und an welchem kulturell-historisch-politischen Ort fand ihre Arbeit statt? Welche Rolle spielte das Verhältnis, in dem die ÜbersetzerInnen zu den Massenverbrechen standen, die in ihren Übersetzungen beschrieben wurden? Und mit wem arbeiteten sie wie intensiv zusammen, um diese Übersetzungen zu schaffen? Den dritten methodischen Schritt stellt eine Rekonstruktion des konkreten Übersetzungsprozesses sowie der editorischen Entscheidungen bei der Veröffentlichung des Zieltextes dar. Anhand vergleichender Lektüre ausgewählter Passagen auf verschiedenen Ebenen (vom Vergleich korrespondierender einzelner Morpheme und Wörter über Sätze und Absätze bis hin zu editorischen Aspekten wie Titelgebung) lassen sich die Entscheidungen identifizieren, die von ÜbersetzerInnen und Verlag getroffen wurden. Von besonderem Interesse sind hier für mich, wie oben erwähnt, lexikalische Entscheidungen, die Frage nach der Benennung der Verbrechen und ihrer Konsequenzen im Deutschen. Aber auch andere Fragen nach sprachlicher Form einerseits und verlagsseitiger Formung andererseits sind hier für mich von großem Interesse, nicht zuletzt, weil sie einen klaren Einfluss auf die Rezeption in Deutschland haben. Im direkten Vergleich mit dem Original kann dann auch eine Gewinnund Verlustrechnung über Wissensbestände aufgemacht werden, die die hier untersuchten Übersetzungen vom Englischen ins Deutsche übertragen oder eben auch nicht. Um den sprachlichen Rahmen auszuloten, der für die Diskussion über und die Erinnerung an die NS-Verbrechen im Deutschen vorhanden war, ist es notwendig zu bestimmen, was für die ÜbersetzerInnen in ihrem Schreiben sagbar war und was nicht. Wichtig ist in diesem Zusam-

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menhang dann auch ein Vergleich mit kulturellen und editorischen Normen, die im Deutschen in den 1950er-Jahren wirkmächtig waren. So lassen sich Schlussfolgerungen zum übersetzerischen Verhalten treffen und die einzelnen Aspekte dieses Verhaltens wie die Schaffung von Neologismen, Auslassungen oder Übertretungen von sprachlichen oder kulturellen Normen der Zielkultur vor ihrem historischen, zielkulturellen Hintergrund interpretieren. Außerdem wird zu überprüfen sein, welche Normen und Sagbarkeitsregeln nur für Übersetzungen gelten und welche für das Deutsche im Zusammenhang mit den NS-Verbrechen in den 1950er-Jahren generell galten. Von dieser möglichen Bestimmung des Sagbaren ist es nur ein kleiner Schritt hin zur Frage nach den möglichen Rezeptionsräumen für die deutschen Texte. Im vierten Schritt wird dann die Position und Wirkung der Übersetzungen im (erinnerungs-)kulturellen und diskursiven Feld der beiden deutschen Staaten untersucht. Dies beinhaltet eine Einschätzung ihres relativen Erfolgs oder Misserfolgs auf dem kulturellen Markt, ihre weitere Publikationsgeschichte sowie die Reaktionen in Presse, Wissenschaft und anderen gesellschaftlichen Sphären wie beispielsweise bei der Strafverfolgung von in den Übersetzungen konkret benannten TäterInnen. Der vierte Schritt soll aufzeigen, wie, in welchen Kollektiven und in welchem Umfang es tatsächlich zu einem gesellschaftlichen Wissens- und Erinnerungstransfer gekommen ist, nach dessen Vorbedingungen ich im ersten Schritt gefragt habe. Außerdem will ich hier nach der Bedeutung eines solchen Wissenstransfers für die Erinnerungskultur in den beiden deutschen Staaten fragen und die Übersetzungen als autonome Texte im öffentlichen Diskurs und innerhalb der deutschen Erinnerungskultur verorten. Der vierte Untersuchungsschritt blickt also auf das, was Walter Benjamin das »Fortleben« des Originals genannt hat.

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3. Wilhelm und Modeste Pferdekamps Übersetzung von Alan Bullocks Hitler. A Study in Tyranny

3.1.

Das Original und seine Rezeption in Großbritannien

Das erste groß angelegte historiographische Werk, das ausgiebig die Akten des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses auswertete, war Alan Bullocks Biografie Hitler. A Study in Tyranny. Das 800-seitige Buch erschien in Großbritannien im Herbst 1952 und in Deutschland in der Übersetzung von Modeste und Wilhelm Pferdekamp im Herbst 1953. Bullock war ein Bildungsaufsteiger, der aus einer kleinbürgerlichen Familie mit Bildungsambitionen kommend es über die Zulassung zum Altsprachen- und Geschichtsstudium in die britische Oberschicht geschafft hatte. Nach seinem Abschluss in Geschichte arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Neuseeland-Kapitel von Winston Churchills History of the English-Speaking Peoples mit. Vom Wehrdienst aus Krankheitsgründen befreit, verbrachte er die Kriegsjahre als Journalist beim europäischen Dienst der BBC. Nach dem Krieg übernahm er eine Professur am New College in Oxford und trat für die BBC im Radio als Mitglied der Expertenrundensendung The Brains Trust auf. Bullock war also in den 1940er- und 1950er-Jahren ein typischer public intellectual, ein routinierter Vermittler komplexer historischer und politischer Zusammenhänge, der einer breiten Öffentlichkeit aus den Medien bereits bekannt war. Aus diesem Grund erhielt er 1945 die Anfrage von Odhams Press, ob er eine Biografie Hitlers schreiben wolle. Neben seiner

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Professur am New College Oxford widmete er sich die nächsten sechs Jahre diesem sehr umfangreichen Projekt.1 Bullocks Hitler-Biografie war also als Auftragsarbeit von Anfang an ein kalkulierter Bestseller, verfasst von einer öffentlichen Figur, die den Nimbus der akademischen Koryphäe mitbrachte. Als Labour-Mitglied und ehemaliger Mitarbeiter von Winston Churchill verfügte Bullock darüber hinaus über beste Beziehungen zu PolitikerInnen beider Parteien und Vertretern beider britischer Regierungen der frühen 1950er-Jahre. Bullock gehörte damals dem liberalen Flügel der Labour Party an, hatte sich aber auch beispielsweise kritisch über die Wiederbewaffnung der BRD geäußert.2 Entsprechend breit wurde das Buch in Großbritannien rezipiert und überwiegend positiv aufgenommen. Die britische Presse lobte insbesondere Bullocks Aufarbeitung des unübersichtlichen Quellenmaterials bestehend aus den Akten des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses und einer großen Menge von deutschsprachigen nationalsozialistischen Veröffentlichungen, die so breit in Großbritannien bis dahin noch nicht ausgewertet worden waren. Dazu gehörten neben Hitlers Mein Kampf auch gesammelte Reden und theoretische Schriften von Goebbels, Göring, Hess, Rosenberg und Darré sowie autobiographische Texte von Politikern, Diplomaten und Journalisten aus ganz Europa über das »Dritte Reich«. Die Einschätzung des Rezensenten der Times kann charakteristisch für das Urteil stehen, das in der britischen Qualitätspresse relativ einstimmig über Hitler. A Study in Tyranny gefällt wurde: »Mr. Alan Bullock has drawn upon virtually the whole of these new sources of information to date for a closely documented work of some 750 pages, which is an impressive feat of organization and arrangement.«3 Dieses Lob für Bullocks Fleiß und seine handwerklichen Fähigkeiten im Umgang mit den Quellen zieht sich durch sämtliche Rezensionen in der ernstzunehmenden britischen Presse rund um den Erscheinungstermin. Selbst in Rezensionen, die mit Bullocks Fokussierung auf die Person Hitlers und der Idee von seiner »historischen Größe« überaus kritisch umgehen, findet sich

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Biografische Angaben aus: Wilfrid Knapp: »Bullock, Alan Louis Charles, Baron Bullock (1914-2004), historian and college head«, Oxford Dictionary of National Biography. Oxford 2004 Ebd. »The Dictator.« Times, 29 Oct. 1952, S. 8.

3. Wilhelm und Modeste Pferdekamps Übersetzung von Hitler. A Study in Tyranny

immer wieder die Erwähnung seiner detailreichen Quellenkenntnis und -auswertung. Ebenso breit gelobt wird Bullocks lesbarer, kommunikativer Stil.4 Auch Bullocks zentrale These, dass Hitler ein rein machiavellischer Stratege und ideologieloser Machtmensch war, der es besonders gut verstanden hatte, politische Chancen zu nutzen, fand damals in Großbritannien großen Anklang. Die Perspektive auf Hitler ist bei Bullock und oft in der zeitgenössischen britischen Rezeption seines Buches von der ersten heißen Phase des Kalten Kriegs geprägt, und von der noch andauernden Herrschaft Stalins, dem, wie Bullock selbst später titeln würde, »parallelen« Diktator.5 Sein Fazit in der Erstausgabe beginnt gar mit dem Satz: »In this age of unenlightened despotism Hitler has had more than a few rivals, yet he remains, so far, the most remarkable of those who have used modern techniques to apply the classic formulas of tyranny.«6 Entsprechend konzentriert sich Bullock auf fast 800 Seiten vor allem auf Hitlers Verhältnis zur und seine Ausübung von Macht. Es geht bei Bullock um Propaganda, Charisma, politisches Kalkül und politische Schachzüge, Machterhaltungsstrategien und Kriegführung. Mehr oder weniger nebenbei spielen Fragen wie der Antisemitismus, das System der Konzentrationslager, das nationalsozialistische Zwangsarbeits-programm und die Ermordung der europäischen Juden in die biografische Erzählung hinein. In der britischen Presserezeption entsteht aus dieser Interpretation immer wieder das Bild von Hitler als einem dämonischen Genie der Macht von fast übermenschlicher Größe, wie beispielsweise in der Rezension des Observer von Harold Nicolson: »Astonishing certainly was his achievement. As we read this careful history, we are amazed at the skill of Hitler’s method, his combination of calculation with recklessness, his ability to oblige others to do things which they regarded as impossible, his cunning exploitation of the fears or cupidity of

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Beide Punkte werden beispielsweise in folgenden Rezensionen lobend erwähnt: Hugh Trevor-Roper: »First Power, then Revolution«, The New York Times, 22. Februar 1953; Rohan Butler: »Hitler’s Pursuit and Use of Power«, Times Literary Supplement, 21. November 1952; A.J.P. Taylor: »The Great Dictator«, The Manchester Guardian, 28. Oktober 1952. Bullock: Hitler and Stalin. Parallel Lives. London 1991. Bullock, Hitler. A Study in Tyranny, London 1952, S. 735. Im Weiteren HASiT.

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those with whom he dealt, his gift for turning even his misfortunes into opportunities, his undeviating concentration.«7 Diese Interpretation provoziert und stützt Bullocks Text durch sein zentrales Narrativ, das Hitler die alleinige Verantwortung für den Krieg und den Massenmord zuschreibt und die NS-Ideologie vor allem als Produkt von Hitlers Biografie ohne größere gesellschaftliche Wirkmächtigkeit darstellt. Diese Sicht auf Hitler macht den Text überaus anschlussfähig an einen bestimmten Diskurs über den Diktator, wie er in der deutschen Öffentlichkeit mit großer Breitenwirkung ab den frühen 1950er-Jahren geführt wurde und teilweise bis heute geführt wird: Wer Hitler als übermenschliche, dämonische Figur von riesiger Macht imaginiert, hat sich lediglich in der moralischen Wertung vom Bild des »Führers des deutschen Volkes« entfernt, das eines der Kernelemente nationalsozialistischer Ideologie war. Für das britische Lesepublikum war eine solche Wahrnehmung aus anderen Gründen ebenfalls attraktiv, da viele Briten Hitler als Verkörperung der deutschen Bedrohung während der Angriffe auf britische Städte oder als Oberbefehlshaber der gegnerischen Streitkräfte im Krieg wahrgenommen hatten. Diese Sicht, die das Verbrecherische, Dämonische in der Person Hitlers kondensierte, erlaubte im Großbritannien der frühen 1950er-Jahre eine Wahrnehmung des erst vor wenigen Jahren zuende gegangenen Zweiten Weltkriegs als verleichsweise »normalen« Krieg, in dem sich Soldaten beider Länder nach soldatischer Manier und mit einer gewissen Ritterlichkeit ausgestattet gegenüberstanden. In dieser Auslassung oder Marginalisierung entscheidender Aspekte der nationalsozialistischen deutschen Gesellschaft, nämlich der von Teilen dieser Gesellschaft begangenen Massenverbrechen, sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland liegt ein zentraler Grund für den großen kommunikativen und finanziellen Erfolg von Bullocks Original und seiner deutschen Übersetzung. Das in Großbritannien bereits ab Ende der 1940er-Jahre abnehmende Interesse an den NS-Massenverbrechen und das Verdrängungsbedürfnis bezüglich dieser Verbrechen in Deutschland bildeten in beiden Ländern zunächst optimale Voraussetzungen für eine erfolgreiche interkulturelle Kommunikation und Wissensvermittlung. Gleichzeitig bestand parallel zur Verdrängung und Überlagerung in beiden Gesellschaften auch ein Druck nach Äußerung, der von den Tatbestän-

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Harold Nicolson: »Adolf Hitler«. The Observer, 2. November 1952, S. 9.

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den der deutschen Massenverbrechen selbst ausging. Die Grundlage für diesen Druck war das einmal erworbene und in verschiedenen Dokumenten und Medien kodifizierte gesellschaftliche Wissen um diese Verbrechen, das sich nicht einfach wieder löschen ließ. Und dieser Druck machte sich immer dann bemerkbar, wenn die einsetzende Historiografie zum Zweiten Weltkrieg und dem Nationalsozialismus sich mit den Akten der Nürnberger und anderer alliierter Prozesse gegen deutsche Verbrecher beschäftigte. Da die Akten der Nürnberger Prozesse eine wichtige Quellengrundlage für Bullocks Buch bildeten, machte sich dieser Druck auch in Bullocks Text deutlich bemerkbar: In Hitler. A Study in Tyranny werden die NS-Verbrechen zwar marginalisiert, es zeigt sich aber auch, dass es unmöglich ist, sie vollständig zu verdrängen.

3.2.

Die NS-Menschheitsverbrechen als Nebenaspekt von Hitlers Biografie

Die nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen, aus Bullocks Perspektive vor allem die Verbrechen, die in Nürnberg als »Crimes against Humanity« definiert worden waren, handelt er im Unterkapitel VI des Kapitels XII, »The Unachieved Empire« auf insgesamt acht Seiten ab.8 Es geht in Hitler. A Study in Tyranny explizit um die Person Hitlers, sein Leben und seine Rolle als Herrscher bzw. Tyrann. Diese Gewichtung macht deutlich, dass Hitlers Anteil an den deutschen Menschheitsverbrechen und der Zusammenhang zwischen Hitlers Antisemitismus, seiner Führung des deutschen Staates und den Massenverbrechen für Bullocks Erzählung vollkommen evident und deswegen von nachgeordneter Bedeutung waren. Gleichzeitig muss man aber feststellen, dass es Bullock gut gelingt, die zentralen großen Komplexe der NS-Verbrechen während der Kriegszeit in diesem kurzen Text sehr kondensiert und präzise darzustellen. Vergleichsweise ausführlich widmet er sich zu Beginn des Abschnitts der Behandlung der sowjetischen Bevölkerung und der Rolle des antislawischen Rassismus im 8

HASiT, S. 636-644. In der Erstauflage unterläuft Autor und Verlag hier ein Gliederungsfehler. Auf das Unterkapitel XII/V folgt erneut ein Unterkapitel mit der Gliederungsnummer V. Es ist dieses zweite Unterkapitel V, in dem Bullock die NSMassenverbrechen behandelt. In späteren Auflagen ist dieser Fehler korrigiert, das Unterkapitel wird korrekt als XII/VI bezeichnet. Interessanterweise wird dieser Fehler aber von den ÜbersetzerInnen und dem deutschen Verlag in die Erstauflage der deutschen Übersetzung übernommen.

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deutschen Vernichtungskrieg (Bullock benutzt natürlich diesen Begriff nicht, beschreibt aber seinen Inhalt sehr genau). Er beschreibt in diesem Zusammenhang aber weniger die Verbrechen selbst, also die Behandlung der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten und die massenhafte Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener, sondern vor allem die Rolle, die Hitler bei der Durchsetzung der Vernichtungspolitik gegenüber den Menschen in der Sowjetunion zukam. Bullock beschreibt Hitler hier als den treibenden ideologischen Faktor, der sich gegen Rosenberg und Goebbels durchsetzt, als diese einen anderen Umgang mit der Bevölkerung vorschlagen, um mehr Kollaboration zu erreichen.9 Für den Diskurs über den Nationalsozialismus in Großbritannien (und erst recht in Deutschland) in den 1950er-Jahren ungewöhnlich bespricht Bullock auch das deutsche Zwangsarbeitsprogramm im Kontext der Verbrechen. In dieser relativ ausführlichen Passage macht er den verbrecherischen Charakter dieses Programms sehr deutlich. Dabei verwendet er, wie später auch Russell, konsequent den Begriff der Sklaverei, der für den weiteren englischsprachigen Diskurs eine feste Größe wurde und bis heute einen zentralen semantisch-lexikalischen Unterschied zwischen dem englisch- und dem deutschsprachigen Diskurs über die NS-Verbrechen darstellt: »The organisation of this new slave traffic was in the hands of Sauckel, and the brutality of the methods by which men, women, and children were rounded up, shipped to Germany and forced to work, often under unspeakable conditions, beggars description.« (HASiT, S. 637) Tatsächlich folgen auf diesen Satz zwei längere Absätze, in denen die Grausamkeit des Zwangsarbeitsprogramms und der Deportationen geschildert wird, bevor Bullock über ein Zitat aus Himmlers Posener Rede auf deren ideologische Grundlagen zu sprechen kommt. In der ausführlichen Passage über diese Rede (HASiT, S. 638f) beschreibt Bullock anhand mehrerer Zitate einerseits das Spannungsverhältnis zwischen Massenmord und Ausbeutung, das sowohl die deutsche Kriegspolitik als auch das Handeln der SS prägte. Andererseits sollen die Zitate zeigen, wie viel stärker dieses verbrecherische Handeln von der Ideologie des Nationalsozialismus als von den Notwendigkeiten des Krieges geprägt war. Himmlers Posener Rede ist eine wichtige Quelle für Bullocks Interpretation der NS-Verbrechen. Im weiteren Text 9

HASiT, S. 636: »Rosenberg’s attempts to plead for a friendly policy towards the Ukrainian people had no effect; […].«

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zitiert er noch zwei Mal sehr ausführlich aus ihr, und fügt noch ein drittes Zitat aus einer früheren Rede in Charkow ein. Ideologie und Praxis der SS spielen also für Bullock, ebenso wie Jahre zuvor für den Nürnberger Gerichtshof, eine große Rolle bei der Beurteilung der NS-Verbrechen. Diese Einschätzung der SS als eines von mehreren wichtigen Instrumenten der deutschen Regierung zur Durchsetzung mörderischer nationalsozialistischer Politik führt in Bullocks Text aber keineswegs zu einem Konzept einer breiteren, gesellschaftlichen Verantwortung für diese Verbrechen. Im Gegenteil muss er sogar bei der Hinleitung zu den Himmler-Reden einen sprachlichen Haken schlagen, um die Version von der alleinigen Verantwortung Hitlers aufrecht erhalten zu können: »To carry out these duties Himmler set up special departments of the S.S. and outlined his programme in a number of speeches to his S.S. commanders, which give an authoritative picture of Hitler’s plans for the future.« (HASiT, S. 638) Hier wechseln mitten in einem Satz die Subjekte: Das Genitivpronomen im Hauptsatz, »his programme«, bezieht sich noch auf Himmler, der zu Beginn des Satzes auch namentlich als Subjekt genannt wird. Im Relativsatz wechselt dann aber der Bezug hin zu »Hitlers« Plänen. Wie unten noch zu zeigen sein wird, übernehmen die ÜbersetzerInnen diese Volte und mithin explizit das Konzept der ultimativen Alleinverantwortlichkeit Hitlers. Im letzten Drittel des Textteils zu den zentralen NS-Menschheitsverbrechen beschreibt Bullock das System der Konzentrationslager und die Ermordung der europäischen Juden. Er fasst kurz zusammen, was in Nürnberg über das KZ-System, das Konzept der »Vernichtung durch Arbeit« und die Zusammenarbeit mit der deutschen Industrie bekannt geworden war und referiert summarisch die Ergebnisse des Nürnberger Ärzteprozesses. Dann fasst er das zeitgenössische Wissen zum Holocaust zusammen, indem er die Geschichte der Vernichtungslager und die Massenmorde der Einsatzgruppen kurz referiert. Auch in diesem Zusammenhang bezieht er sich dafür auf eine zentrale täterseitige Quelle, nämlich den autobiographischen Bericht von Rudolf Höss, aus dem er ausführlich zitiert. Aber auch für diese Vorgänge macht der Text in seiner letzten Wendung wieder Hitler allein verantwortlich: »It has been widely denied in Germany since the war that any but a handful of Germans at the head of the S.S. knew of the scope or savagery of these measures against the Jews. One man certainly knew. For one man they were

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the logical realization of views which he had held since his twenties, the necessary preliminary to the plans he had formed for the resettlement of Europe on solid racial foundations. That man was Adolf Hitler. Himmler organised the extermination of the Jews, but the man in whose mind so grotesque a plan had been conceived was Adolf Hitler.« (HASiT, S. 643) Diese für das Buch zentrale These von der alleinigen Verantwortung eines »dämonischen« Führers Hitler für den nationalsozialistischen Biologismus, Rassismus und Antisemitismus und deren praktische Umsetzung in Form der deutschen Menschheitsverbrechen hat das Buch für einen großen Erfolg in deutscher Übersetzung geradezu prädestiniert. Mit Thesen wie dieser und Überlegungen zu Hitlers strategischen Fehlern und seinem Versagen als Feldherr kann Bullocks Buch direkt an einen deutschen Diskurs andocken, der in der westdeutschen Presse der Zeit bereits sehr deutlich etabliert wird: Man versuchte in der Bundesrepublik, zwischen der großen Mehrheit der ehemaligen Soldaten und der Gesellschaft insgesamt und einer kleinen, bösen Machtclique von »Nazis« rund um den Hauptverantwortlichen, nun negativ »großen« Hitler zu unterscheiden. Die Mehrheit der Bevölkerung und insbesondere der Soldaten bis hin zur Generalität und sogar große Teile der SS sei »sauber geblieben«, während die unleugbaren Verbrechen von Hitler zu verantworten seien. Bei aller Marginalität der deutschen Menschheitsverbrechen in Bullocks Text und seiner inhaltlichen Anschlussfähigkeit an deutsche Schuldabwehrmechanismen ist der Text aber kein reiner Akt der Verdrängung oder Befriedung. Die konzise Zusammenfassung der Verbrechen, die der Text in Unterkapitel XII-V (in späteren Ausgaben XII-VI) liefert, bleibt diskursiv bestehen. Die Verbrechen sind damit zusammenfassend beschrieben, auch wenn sie nicht den Raum im Text bekommen, der ihnen aufgrund ihrer historischen Bedeutung eigentlich zustehen würde. Eine so präzise Aufzählung der Verbrechen in einem Bestseller mit echter Breitenwirkung hatte es bis 1952 noch nicht gegeben. Und mit der Übersetzung durch Modeste und Wilhelm Pferdekamp kam dieser Text in die Bücherregale eines signifikanten Teils des deutschen Bildungsbürgertums. Im Vergleich der Rezeptionen von Original und Übersetzung in Großbritannien und Deutschland zeigt sich ein interessanter Unterschied zwischen den Texten des konservativen Aristokraten Lord Russell und des Labour-nahen Oxford-Historikers Bullock. Russells Buch, in Großbritannien ebenso ein Bestseller wie zwei Jahre früher Bullocks Buch, konnte in Westdeutschland

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nur an einen äußerst minoritären Diskurs anschließen und wurde entsprechend wenig rezipiert. Im Fall Bullocks konnten wegen der Interpretation der NS-Verbrechen als Nebenaspekt und alleiniges Ergebnis des Lebens Hitlers sowohl der britische wie auch der deutsche Verlag für die deutsche Veröffentlichung bereits vor Fertigstellung der Übersetzung mit einer breiten Leserschaft und großem wirtschaftlichem Erfolg rechnen. Wie ich weiter unten zeigen werde, entsprach die deutsche Rezeption in der Presse und beim Publikum überwiegend genau dieser Diskurskompatibilität. Russels Buch dagegen, ein populäres Sachbuch, das sich ausschließlich mit den Verbrechen des NS-Regimes beschäftigt und den nationalsozialistischen Staat mit seiner Gesellschaft als grundsätzlich verbrecherisch darstellt, konnte in Großbritannien gegen politischen Widerstand zum Bestseller werden. Auf Deutsch ließ sich dieser Text ausschließlich in den autoritär gesteuerten DDR-Diskurs einpassen; in Westdeutschland konnte man für die Übersetzung nur einen sehr spezialisierten Verlag finden und nur ein paar Hundert Exemplare verkaufen. Bullocks Text hingegen, der Hitler in den Mittelpunkt stellt und ihm für alles, was im Krieg geschehen ist, die alleinige Verantwortung zuschreibt, wurde auf Deutsch in Westdeutschland nicht nur zu einem Best-, sondern auch zu einem Longseller, der sich durch viele Auflagen mehrere Jahrzehnte lang hielt10 und mit konkurrierenden, originalsprachlich deutschen Hitlerbiografien mithalten kann.

3.3.

Die Rezeption in Großbritannien

In der britischen Rezeption des Buches, sowohl in der Presse wie auch innerhalb der Akademie, werden die Thesen von der alleinigen Verantwortlichkeit Hitlers durchaus kritisiert und angegriffen. Bullocks Interpretation deckt sich relativ weitgehend mit dem öffentlichen Diskurs über Deutschland und den Nationalsozialismus, der in der Thematisierung der NSMenschheitsverbrechen eine latente Deutschfeindlichkeit sah, die wiederum für die außenpolitischen Interessen Großbritanniens kontraproduktiv sei. Diese offizielle Haltung war, wie auch der Skandal rund um das Buch von Lord Russell zeigt (siehe Kap. 4.2.), nicht gerade allgemeiner Konsens in Großbritannien, weder in der Bevölkerung noch unter einflussreicheren 10

Die letzte Neuauflage bei Droste erschien 1989, zwei Jahre vor der deutschen Übersetzung von Bullocks nächstem Buch, Hitler und Stalin, Parallele Leben, Berlin 1991.

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AkteurInnen des öffentlichen Diskurses. Der Einwand, dass ohne das politische Klima in Deutschland und die politischen Mentalitäten großer Teile der deutschen Bevölkerung Hitlers Herrschaft, der Krieg und die NS-Verbrechen nicht möglich gewesen wären, wird in der zeitgenössischen englischsprachigen Kritik verlässlich und regelmäßig geäußert. Relativ typisch tut dies der Historiker A. J. P. Taylor in seiner ansonsten überwiegend sehr positiven Rezension für den Manchester Guardian: »But Hitler was nothing in himself, a bag stuffed with straw as he finally became: he was technocracy come to life and cannot be separated from the vaster machine that was German power. It is not enough to ask How did Hitler do it? One must also ask, even in his biography, How did the German people allow it to be done?«11 Dabei konzentriert sich Taylor in seiner Kritik aber lediglich auf die Darstellung des Kriegs und der deutschen Kriegsmaschinerie. Er übernimmt hier selbst in seiner Kritik Bullocks These vom reinen Streben nach Macht als Hauptmovens und kann deshalb, ebenso wie Bullock auf den 700 Seiten seines Buches, die Massenmorde und andere NS-Verbrechen höchstens als Marginalie mit in den Blick nehmen. Die Frage nach der Akzeptanz der NS-Ideologie in der Bevölkerung, des Antisemitismus und des Rassismus als Voraussetzung für die deutschen Massenverbrechen wird in der britischen Kritik allerdings auffällig wenig gestellt. Dass die NS-Ideologie auch eine Motivation für diejenigen war, die in der SS, bei den Einsatzgruppen oder als Wachleute in den Konzentrations- und Vernichtungslagern ihren Dienst versahen, fällt wenigen Rezensenten auf. Etwas sensibler für dieses auffällige Fehlen der Deutschen als Täter scheint man teilweise in den USA gewesen zu sein. So findet sich in einer Rezension in einer politikwissenschaftlichen Zeitschrift der University of Utah, der Western Political Quarterly, tatsächlich einmal eine Erwähnung der Lager im Zusammenhang mit Hitlers Weltbild: »But it is the very intellectual bankruptcy of Hitler’s ideas that demands some explanation that goes beyond his own remarkable personality in order to explain his rise to power. There must have existed on the part of his audience either a hostility to logic or an eagerness to be deluded. […] Mr. Bullock’s book would be more satisfying if it sought an answer to this problem.

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A. J. P. Taylor: »The Great Dictator«, The Manchester Guardian, 28. Oktober 1952.

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Otherwise, the non-German reader, whose memory of Dachau is, on the evidence, somewhat more vivid than that of the German, will be tempted to insist that Hitler was wrong when he observed, during those last macabre days in the Führerbunker in Berlin, that the German people had proved unworthy of his genius.«12 In dieser amerikanischen Kritik an Bullocks britischer Perspektive, die in der Beurteilung Hitlers und des Nationalsozialismus über weite Strecken ohne die Konzentrationslager auskommt, klingt auch wieder der Grund für die enorme Anschlussfähigkeit des Buches an den deutschen Diskurs und den Erfolg der deutschen Übersetzung an. Das Angebot, die alleinige Schuld für den Massenmord an den europäischen Juden und den verlorenen Krieg auf (den toten) Adolf Hitler zu projizieren sowie die NS-Menschheitsverbrechen als Nebenaspekte der jüngsten deutschen Geschichte zu sehen, kam für die Mehrheit der Deutschen sehr gelegen. Die Frage, ob denn alliierte Perspektiven auf Hitler und den NS-Staat kulturell übersetzbar seien, wurde zum damaligen Zeitpunkt durchaus immer wieder gestellt, allerdings meist von deutscher Seite und im Zusammenhang mit der Abwehr von angenommenen Kollektivschuldvorwüfen von Seiten der ehemaligen Alliierten.13 Es ist also in diesem Zusammenhang durchaus bemerkenswert, dass die oben zitierte amerikanische Kritik mehr oder weniger offen suggeriert, Bullocks Text sei (auch) für ein deutsches Publikum geschrieben und die Perspektive auf Nazi-Deutschland müsste außerhalb Deutschlands eigentlich eine sein, die auch über Dachau sprechen kann.

3.4.

Verlag und ÜbersetzerInnen in Deutschland

Die Rechte an der deutschen Übersetzung von Bullocks Werk konnte sich der liberal-konservative Droste-Verlag aus Düsseldorf sichern, der sich damals als Verlag für zeitgeschichtliche Biografien zu etablieren versuchte. Daneben hatte Droste Belletristik von Irmgard Keun und Heinrich Spoerl im Programm. Der Droste-Verlag war 1933 von Heinrich Droste gegründet worden

12 13

Lewis Namier: »In the Nazi Era«, Western Political Quarterly, Vol. 6, No. 3, Sep. 1953, S. 573-579. Siehe dazu beispielsweise Norbert Frei: »Deutsche Lernprozesse«, in: 1945 und wir. München 2005, S. 23. Zur Funktion des konstruierten Kollektivschuldvorwurfs: S. 32f.

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und hatte durch die gesamte Zeit des Nationalsozialismus hindurch weiterbestanden. Verlagsleiter Heinrich Droste war NSDAP-Mitglied gewesen und führte den Verlag nach Kriegsende weiter. Er verlegte in den 1950er-Jahren Sachbücher, Memoiren und Biografien zum Zeitgeschehen sowie belletristische Werke der oppositionellen Schriftstellerin Irmgard Keun und anderer. Longseller und wirtschaftlicher Motor des Verlags war der 1933 veröffentlichte Roman Die Feuerzangenbowle von Heinrich Spoerl. Bereits während des Nationalsozialismus hatte der Droste-Verlag einen Schwerpunkt auf deutsche Übersetzungen ausländischer Sachbücher gelegt. Mit der Übersetzung wurden Wilhelm Pferdekamp und Modeste zur Nedden beauftragt, für die dieser Auftrag den Beginn einer langen gemeinsamen Karriere als Übersetzer-Team markierte, und die im Jahr des Erscheinens von Bullocks Buch in Deutschland heirateten. Bis kurz vor Wilhelm Pferdekamps Tod 1966 übersetzten die beiden über 20 populäre Sachbücher aus dem Englischen, Französischen und Spanischen für den Droste-Verlag und andere Häuser. Nach dem Erfolg der Hitler-Biografie wurde das Paar regelmäßig mit der Übersetzung bedeutender zeitgeschichtlicher und biografischer Werke beauftragt. Unter ihren gemeinsamen Übersetzungen sind politische Memoiren von Charles de Gaulle und Anthony Eden sowie William L. Shirers Aufstieg und Fall des Dritten Reiches und Alexander Dallins Deutsche Herrschaft in Russland.14 Die deutsche Ausgabe von Bullocks Buch stellt also den Anfang der gemeinsamen Übersetzerkarriere der Pferdekamps als Expertenteam für zeitgeschichtliche Sachbücher dar. Das Erscheinen des Buches fällt aber gleichzeitig auch in den Zeitraum, zu dem der Professionalisierungsprozess bei Übersetzungen im deutschen Verlagswesen beginnt. Im Verlauf dieses Prozesses in den 1950er-Jahren konnten sich einige ÜbersetzerInnen wie die Pferdekamps als hauptberufliche ExpertInnen für die Übertragung populärer Sachtexte mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten etablieren. Wilhelm Pferdekamp, geboren 1901 in Düsseldorf, war bereits ab Mitte der 20er Jahre als Journalist bei der Kölnischen Zeitung tätig gewesen.15 1930 14

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Charles de Gaulle: Memoiren 1942-46, aus d. Französischen von Wilhelm u. Modeste Pferdekamp, Düsseldorf 1961. Anthony Eden: Memoiren 1945-57, aus d. Englischen von Wilhelm u. Modeste Pferdekamp, Köln 1960. William L. Shirer: Aufstieg und Fall des Dritten Reiches, aus d. Amerikanischen von Wilhelm u. Modeste Pferdekamp, Köln 1963. Alexander Dallin: Deutsche Herrschaft in Russland, aus d. Amerikanischen von Wilhelm u. Modeste Pferdekamp, Düsseldorf 1958. Angaben zum beruflichen Werdegang und Biografie in: Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871-1945, Band 3 L-R, Paderborn 2008, S 468f.

3. Wilhelm und Modeste Pferdekamps Übersetzung von Hitler. A Study in Tyranny

hatte er unter dem Pseudonym Arnold Nolden seinen ersten Reisebericht Auf Schiffen, Schienen, Pneus veröffentlicht, der bis 1949 immer wieder aufgelegt wurde.16 In den 1930er-Jahren erschienen regelmäßig weitere Reiseberichte sowie eine Firmenchronik von ihm. Von 1935 bis 1943 lebte er in Mexiko, wo er Sekretär der Alexander von Humboldt-Gesellschaft war. 1938 war er in Mexiko in die NSDAP eingetreten. Vom Herbst 1942 bis zu seiner Einberufung zur Wehrmacht war Pferdekamp als »Wissenschaftlicher Hilfsarbeiter« in der Informationsabteilung des Auswärtigen Amtes in Mexiko tätig, wo seine Aufgabe in der Auswertung fremdsprachiger, in seinem Fall vermutlich lateinamerikanischer Presseorgane bestand. Trotz seines Auslandsaufenthaltes bis 1943 war Pferdekamp also keineswegs ein Exilant, sondern sogar in vierfacher Weise direkt mit dem nationalsozialistischen Staat verbunden und für ihn tätig: Als Mitglied der NSDAP, der Reichsschrifttumskammer und der Wehrmacht, sowie als Mitarbeiter des Auswärtigen Amts. Bereits im Nationalsozialismus hatte Pferdekamp Werke des mexikanischen Schriftstellers Gregorio Lopez y Fuentes und andere literarische Texte aus dem Spanischen übersetzt. Gleich nach dem Krieg, ab 1946, erschienen beim Drei-Eulen-Verlag, einer Übergangsgründung des Droste-Verlags17 , weitere Übersetzungen Pferdekamps aus dem Spanischen. Seine ersten Erfahrungen mit der Nachkriegspräsentation des Hitler-Sujets sammelte Pferdekamp bei der Übersetzung bzw. Überarbeitung des Buches Hitler Privat von Albert Zoller, das 1949 bei Droste erschien. Im Buch selbst wird Pferdekamps Beitrag nicht erwähnt, aber in einer Rezension im Spiegel wird der Produktionsprozess folgendermaßen geschildert: Albert Zoller, ein französischer Offizier, hatte 1945/46 als Vernehmungsoffizier der 7. US Army eine (von ihm nicht namentlich genannte) Sekretärin Hitlers verhört. Aus den Protokollen machte er ein französischsprachiges Buch, das er dann dem Droste-Verlag anbot, der wiederum Wilhelm Pferdekamp mit der Übersetzung und »Stilkorrektur« des Manuskripts beauftragte.18 Als Droste also Pferdekamp und zur Nedden

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Arnold Nolden: Auf Schiffen, Schienen, Pneus. Roman einer abenteuerlichen Reise. Berlin/Leipzig 1930. In einem mittlerweile gelöschten Artikel zur Verlagsgeschichte auf der Website des Droste-Verlags fand sich 2018 noch die Angabe, dass der Drei-Eulen-Verlag gegründet wurde, um weiter veröffentlichen zu können, während »die Alliierten die Rolle des Verlags im Dritten Reich prüften«. »Ohne Maske, ohne Mythos, privat«, Der Spiegel, 07.07.1949.

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1952 mit der Übersetzung von Bullocks Buch beauftragte, war Wilhelm Pferdekamp nicht nur bereits ein bei Droste veröffentlichter Übersetzer, sondern hatte für den Verlag sogar bereits ein Buch zum Leben Hitlers bearbeitet, war also doppelt qualifiziert. Auch die andere Übersetzerin, Pferdekamps Ehefrau Modeste zur Nedden-Pferdekamp, hatte sich bereits während des Nationalsozialismus kulturell betätigt, war aber bei weitem nicht so stark mit dem nationalsozialistischen Staat verbunden wie Pferdekamp. Modeste zur Nedden kam aus deutlich großbürgerlicheren Verhältnissen als ihr Mann. Ihr Vater war promovierter Ingenieur und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als Mitglied verschiedener Energie-Gremien viel international tätig. Deshalb besuchte seine Tochter von 1914 bis 1917 eine Grundschule in Staten Island, New York.19 Dort erwarb sie ihre profunden Englischkenntnisse, die in der Teamarbeit mit Pferdekamp wichtig waren, da dieser Alltagserfahrung vor allem mit dem Spanischen gemacht hatte. Von 1926 bis 1934 studierte sie Schauspiel, Musik und Bildende Kunst in Berlin am Max-Reinhardt-Seminar, dem Staatlichen Konservatorium für Musik und der Hochschule für Freie und Angewandte Kunst. Zwischen 1934 und 1945 war zur Nedden als bildende Künstlerin tätig und hatte mehrere Ausstellungsbeteiligungen, unter anderem auch im Kontext der ausschließlich für Künstlerinnen offenen Vereinigung GEDOK. Als Übersetzerin trat sie jedoch erst in der Zusammenarbeit mit ihrem zweiten Ehemann Wilhelm Pferdekamp in Erscheinung. Mit ihm gemeinsam zog sie in den 1950er-Jahren ins südbadische Markgräflerland. Nach dem Tod Wilhelm Pferdekamps 1966 arbeitete Modeste zur Nedden unter ihrem Geburtsnamen zunächst vorwiegend als freie Journalistin für die Badische Zeitung. Ab 1970 erscheinen dann wieder Übersetzungen von ihr unter ihrem zweiten Ehenamen Modeste zur Nedden-Pferdekamp. In dieser zweiten Phase ihrer übersetzerischen Arbeit fällt auf, dass sie die alten Auftraggeber und Fachgebiete ihrer Teamarbeit nicht übernommen hat bzw. nicht übernehmen konnte. Sie übersetzte nun bis zu ihrem Tod 1997 regelmäßig Ratgeber, Selbsthilfebücher, naturkundliche Sachbücher sowie Bücher zu Spiritualität, Religion und Judentum für kleinere Verlage, aber auch Kunstgeschichtliches für

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Einer der wenigen ausführlicheren biografischen Artikel mit verlässlicher Bibliografie findet sich unter http://wiki.frauengeschichtsverein.de//index.php?title=Modeste_zur_ Nedden (Zugriff: Juli 2020)

3. Wilhelm und Modeste Pferdekamps Übersetzung von Hitler. A Study in Tyranny

große Publikumsverlage.20 Das Übersetzen war in dieser Zeit ab 1970 offensichtlich ein wichtiger Teil ihrer Erwerbsarbeit. Zur Nedden engagierte sich im Berufsverband der literarischen ÜbersetzerInnen VdÜ und erhielt 1976 und 1980 Arbeitsstipendien vom Freundeskreis zur Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen. Für die Übersetzung von Bullocks Hitler-Biografie hatte der DrosteVerlag 1952 ein Übersetzerteam ausgewählt, weil zwei ÜbersetzerInnen den Arbeitsaufwand der Übersetzung von 800 Seiten mit hohem Rechercheaufwand besser und schneller bewältigen können. Derartige Teamarbeit ist bei der Übersetzung von umfangreichen Bestsellern bis heute in der deutschen Verlagsbranche üblich, da so mehrere ÜbersetzerInnen gleichzeitig arbeiten können und man beispielsweise Überraschungserfolge so schneller auf dem deutschsprachigen Markt platzieren kann.21 Mit Wilhelm Pferdekamp wurde dafür ein Übersetzer ausgewählt, der bereits an einer Buchveröffentlichung zu Hitlers Leben mitgewirkt hatte. Darüber hinaus hatten beide ÜbersetzerInnen langjährige professionelle Erfahrungen im Kulturbereich während des Nationalsozialismus gesammelt, ohne dabei als besonders belastet zu gelten. Diese beiden ÜbersetzerInnen schienen bei Droste also besonders geeignet, einen deutschen Text zu produzieren, der das große Publikumspotential ausschöpft, das eine englischsprachige Hitler-Biografie hatte, in der die NS-Verbrechen als Marginalie behandelt werden und in der Hitler die alleinige Verantwortung nicht nur für die Verbrechen, sondern auch für den von Deutschland verlorenen Krieg zugeschrieben wird. Der Unterschied in der Wahl der ÜbersetzerInnen zu den anderen in meiner Arbeit behandelten Werken, in denen die NS-Verbrechen das zentrale Thema sind, ist frappierend. Im Fall von Bullocks Hitlerbiografie wird der deutsche Text von ÜbersetzerInnen produziert, die vor dem Krieg Mitglieder nationalsozialistischer Organisationen gewesen und die im nationalsozialistisch geregelten Kulturbetrieb der 40er-Jahre tätig waren, mithin also von RepräsentantInnen einer bruchlosen Kontinuität in der kulturellen Produktion.

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In der oben angegebenen Online-Biografie zur Neddens findet sich auch eine sehr ausführliche Bibliographie ihrer Übersetzungen. Beispiele für dieses Vorgehen ließen sich viele finden, ein aktuelleres ist Jonathan Safran Foer: Tiere essen. Köln 2012, für das der Verlag Kiepenheuer und Witsch die renommierten Englisch-ÜbersetzerInnen Isabel Bogdan, Ingo Herzke und Brigitte Jakobeit jeweils mit einem Drittel der Übersetzung beauftragte.

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3.5.

Die Übersetzung

Die deutsche Ausgabe mit dem Titel Hitler. Eine Studie über Tyrannei erschien bei Droste im Herbstprogramm 1953. Die Übersetzung wurde also vermutlich zwischen dem Herbst 1952 und dem späten Frühjahr 1953 angefertigt.22 Die Wahl der Übersetzerinnen war sicherlich in zweierlei Hinsicht ein Erfolg: Im Team konnten die Pferdekamps das riesige Textvolumen besser bewältigen. Ihre Übersetzung ist außerdem zum allergrößten Teil stilistisch und formal nicht nur adäquat, sondern äquivalent, insofern ihnen und dem Lektorat mit der deutschen Fassung eine quellengesättigte, narrative, rezeptionsfreundliche Biografie gelungen ist. Ihre professionelle Qualifikation für eine solche Sachbuchübersetzung steht grundsätzlich außer Frage. Ich werde die konkrete Diskussion der sprachlichen Eigenarten der Übersetzung hier auf das Unterkapitel XII/VI beschränken, dem einzigen, in dem es konkret um die NS-Menschheitsverbrechen geht. Mein Ziel ist es dabei wie bei der Untersuchung der anderen Übersetzungen die Berührungspunkte auszuloten, die zwischen der Übersetzung und dem gesellschaftlichen Diskurs über die NS-Verbrechen in der BRD bestehen und zu prüfen, inwieweit die Übersetzung dadurch beeinflusst wurde. Auffällig ist in diesem Zusammenhang als erstes, dass (möglicherweise aufgrund der Schnelle der Arbeit) ein Gliederungsfehler in der Erstausgabe des Originals unkorrigiert Eingang in die deutsche Ausgabe gefunden hat: Das Unterkapitel von Kapitel XII, in dem Bullock sich mit den NSMassenverbrechen während des Krieges befasst, hat in der Erstausgabe des Originals und in der Übersetzung die Gliederungsnummer V, obwohl es direkt auf ein kürzeres Kapitel folgt, das ebenfalls die Gliederungsnummer V trägt. In späteren Ausgaben beider Fassungen des Buches ist dieser Fehler korrigiert23 und das Unterkapitel zu den NS-Verbrechen ist das Kapitel VI. Gleichzeitig kommt es im Text dieses Unterkapitels zu keinerlei weiteren

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Es war mir nicht möglich, Dokumente zur Entstehungsgeschichte der Übersetzung einzusehen. Der Droste-Verlag teilte mir am 16. Mai 2017 per E-Mail mit, dass es ihnen unmöglich sei, mir mit Paratexten zum Buch weiterzuhelfen. Die archivierten Nachlässe von Modeste zur Nedden-Pferdekamp in der Berlinischen Galerie und im Germanischen Nationalmuseum betreffen ausschließlich ihr künstlerisches Werk. Einen archivierten Nachlass von Wilhelm Pferdekamp konnte ich nicht finden. Beispielsweise in: Bullock: Hitler. Eine Studie in Tyrannei. Düsseldorf 1969.

3. Wilhelm und Modeste Pferdekamps Übersetzung von Hitler. A Study in Tyranny

solchen groben Fehlern oder Auslassungen, es handelt sich also vermutlich lediglich um leichte Nachlässigkeit bei den ÜbersetzerInnen und im Lektorat. Absichtliche oder unbewusst vorgenommene Auslassungen lassen sich bei der Übersetzung von Unterkapitel XII/VI nicht konstatieren. Auch finden sich in Sätzen, in denen nationalsozialistische Verbrechen beschrieben werden, keine Subjektverschiebungen von den Deutschen hin zu den Nazis, wie sie in den Übersetzungen bei Reitlinger und Russell nachzuweisen waren. Diese Verschiebungen der Verantwortung von einem deutschen Kollektiv hin zur Partei oder gar einer kleinen Gruppe von führenden Nazis muss die Übersetzung in Bullocks Fall gar nicht vornehmen, da sie der Originaltext bereits macht. Besonders auffällig ist dies bei dem bereits oben zitierten Satz Bullocks über die Reden Himmlers in Posen und Charkow.24 Im Original verschiebt sich hier innerhalb eines Satzes das Subjekt und damit die Verantwortlichkeit für die beschriebenen verbrecherischen Pläne von Himmler, der die Reden gehalten hat, hin zu Hitler, dessen Pläne angeblich in diesen Reden beschrieben werden. Diese irritierende grammatikalische Verschiebung übernehmen die Pferdekamps in ihre Übersetzung, und das sogar, obwohl sie, für eine Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche durchaus bemerkenswert, genau an dieser Stelle aus einem Satz zwei machen: »Um diesen Verpflichtungen nachzukommen, stellte Himmler besondere SS-Abteilungen zusammen. In einer Reihe von Reden umriß er vor seinen SS-Kommandeuren sein Programm, das ein authentisches Bild von Hitlers Zukunftsplänen gibt.«25 Es bedarf im Englischen wie im Deutschen einer gewissen sprachlichen Anstrengung, die Zukunftspläne, aus deren Beschreibung im Text auch ausführlich zitiert wird, ausschließlich Hitler zuzuschreiben, nachdem das Programm, auf das sich der Relativsatz bezieht, bereits unzweideutig über das Genitivpronomen Himmler zugeschrieben wurde. Diese Anstrengung wirkt aber lediglich wie eine subtile sprachliche Irritation, da sie inhaltlich vollkommen von der Diskursstrategie des Gesamttextes abgedeckt ist. Solche sprachlichen Irritationen sind in anderen Sachtexten dann oft die Stellen, die bei der

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Siehe dazu S. 84. Der Satz im Original lautet: »To carry out these duties Himmler set up special departments of the S.S. and outlined his programme in a number of speeches to his S.S. commanders, which give an authoritative picture of Hitler’s plans for the future.« (HASiT, S. 638) HeSüT, S. 699. Der englische Originalsatz findet sich auf S. 98, Fußnote 57.

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Übersetzung als Erinnerung

Übersetzung inhaltliche oder gar ideologische Veränderungen herbeiführen, weil sie sprachliche Markierungen inhaltlicher Widersprüche oder Verwerfungen darstellen. In diesem Fall geschieht das aber nicht, im Gegenteil, der deutsche Text baut diese Volte ganz nach dem englischen Vorbild nach, weil sie perfekt in den westdeutschen Diskurs über die NS-Verbrechen passt. Und was an dieser Stelle nur angedeutet wird, wird fünf Seiten weiter dann explizit zum Fazit des Unterkapitels über die NS-Verbrechen erklärt: »Himmler organisierte die Vernichtung der Juden, aber der Mann, der einen so monströsen Plan ausgebrütet hatte, war Hitler.«26 Teilweise scheint diese Schuldverschiebung allein auf Hitler aber selbst in Bullocks Buch für den deutschen Diskurs der frühen 1950er-Jahre noch nicht stark genug zu sein. Immer wieder finden sich in der Übersetzung subtile semantische Abschwächungen, wenn es um »Hitlers Besatzungspolitik«, also konkret das Verhalten der deutschen Soldaten und Besatzer in Osteuropa und ihre Verbrechen geht. So beschreibt Bullock Hitlers Politik gegenüber der sowjetischen Zivilbevölkerung zu Beginn des Unterkapitels als »harsh«. Die entsprechende Attribution im Deutschen Text nennt Hitlers Politik im Osten dann »schroff«27 . Diese Abschwächung, die aus einer brutalen, gnadenlosen Politik gegenüber der Zivilbevölkerung eine sehr unfreundliche macht, ist sicherlich teilweise aus einer Wörterbuchkonsultation heraus entstanden, wo »schroff« oft für »harsh« angegeben wird, allerdings natürlich nicht im Zusammenhang mit Politik, sondern im Kontext von zwischenmenschlichem Verhalten. Gleichzeitig passt eine solche Beschreibung sicherlich sehr viel besser zum Selbstbild der Kriegsheimkehrer in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, die ihr Verhalten gegenüber der sowjetischen Zivilbevölkerung selbst auch eher als »schroff« denn als »gnadenlos« oder »hart« – beides in diesem Zusammenhang mögliche Übersetzungen von »harsh« – beschrieben hätten. Auch bei der äußerst kurzen Beschreibung der Ermordung der europäischen Juden findet sich eine solche subtile semantische Abschwächung. Auf 26 27

HeSüT, S. 704. Der englische Satz lautet: »But, although he repeatedly described the war with Russia as an ideological conflict and counted on the overthrow of the Soviet Government by the Russian people, the harsh policy adopted in the east worked in the opposite direction.« HASiT, S. 633. In der deutschen Fassung steht er so: »Aber obwohl er wiederholt den Krieg gegen Rußland einen ideologischen Konflikt genannt und damit gerechnet hatte, daß das russische Volk die Sowjetregierung stürzen werde, verfolgte er im Osten eine so schroffe Politik, daß das Gegenteil bewirkt wurde.«

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S. 640 des Originals beschreibt Bullock die Nachkriegsziele der SS-Führung für ein Europa unter deutscher Herrschaft und kommt zu dem Schluss, dass schon während des Krieges einige dieser Ziele teilweise erreicht wurden: »By 1944, the extermination of the Jews, the first item on the programme, was well on the way to being accomplished.« In der Übersetzung der Pferdekamps wird daraus: »1944 war der erste Punkt des Programms, die Ausrottung der Juden, auf dem besten Wege, ausgeführt zu werden.« Wo also im Englischen deutlich wird, dass bis 1944 bereits ein großer Teil der europäischen Juden ermordet worden war, dieses zentrale Vorhaben der Nationalsozialisten also auf dem besten Wege war, abgeschlossen zu werden, ist es im Deutschen lediglich »auf dem Wege, ausgeführt zu werden«, hat also noch nicht einmal richtig begonnen. Ähnlich abgeschwächt ist auf S. 704 ein Adjektiv, das in einer konkreten Beschreibung der Tätigkeit der Einsatzgruppen vorkommt: »[M]an kannte kein Erbarmen für erschrockene Kinder und wahnsinnig verzweifelte Mütter.«28 Hier scheint der Mechanismus aber bei der zweiten Attribution wieder ausgesetzt. In der Übersetzung von »terrified« mit »erschrocken« wird die Tiefe der Angst, die diese Kinder verspürt haben müssen, nicht einmal angedeutet. Demgegenüber aber wird »distracted«, das Bullock hier synonym mit dem heutigen Gebrauch des englischen Adjektivs »distraught« für die Mütter benutzt, im Deutschen zur Attribution »wahnsinnig verzweifelt«, was die Tiefe des beschriebenen Gefühls zumindest ansatzweise auslotet. Man könnte hier eine gewisse Unsicherheit im Gebrauch der deutschen Sprache konstatieren, ausgelöst vom ungewohnten Schrecken der Beschreibung dessen, was die Einsatzgruppen in der Sowjetunion verübten. Diese Unsicherheit führt dann in diesem kurzen Nebensatz zu Konflikten zwischen den Sprachen auf gleich mehreren Ebenen: Zum sehr unterschiedlichen Umgang mit den beiden Adjektiven, zur ungewöhnliche Konstruktion »Erbarmen für« mit Akkusativ-Objekt statt des üblichen »Erbarmen mit« mit Dativ-Objekt, sowie zur Verschiebung des Subjektes vom englischen »the scenes described« zum handelnden »man«. Es scheint hier als hätte die nicht-euphemistische Beschreibung der NS-Massenverbrechen eine Schreckwirkung, die das wohlge-

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Im vorangegangenen Satz wird die Praxis der Einsatzgruppen beschrieben, ihre Opfer vor der Erschießung zu zwingen, Gruben auszuheben, in denen sie dann begraben werden konnten. Der englische Satz lautet: »At first, the victims were made to dig mass trenches into which they were thrown after execution by shooting: the scenes described of terrified children and distracted mothers are without pity.«, S. 643.

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ordnete Funktionieren der deutschen Sprache der Pferdekamps unterbricht oder stört. Gleichzeitig deutet sich hier auch ein unbewusst ausgedrücktes Wissen der ÜbersetzerInnen an: Das »man«, das die englische Passivkonstruktion ersetzt, liegt semantisch zwischen den Pronomen »wir« und »sie«, suggeriert also eine sehr viel größere Nähe zwischen der narrativen Perspektive des Textes und den LeserInnen, als dies der englische Text tut. Die drei hier zitierten Beispiele sind sicherlich keine grundsätzlich verfälschenden Übersetzungen und befinden sich noch im Bereich der semantischen Differenz und Variation. Entstanden sind sie vermutlich aus dem übersetzerischen Unbewussten, und sie markieren die Grenzen des Sagbaren im westdeutschen Diskurs über die NS-Massenverbrechen. Bei Inhalten, bei denen Entschärfungen im Übersetzungsprozess unbewusst oder ohne klar identifizierbare euphemistische oder gar revisionistische Absicht entstehen, liegt der Schluss nahe, dass genau dort eben diese Grenzen des Sagbaren verlaufen, und dass das Original sie möglicherweise sogar schon überschritten hat. In diesem Fall sind das die Themen »deutsche Besatzungsverbrechen in der Sowjetunion« und »Ermordung der europäischen Juden«. Wie der westdeutsche Erfolg von Bullocks Buch selbst und die hohe Frequenz zeigen, mit der in den BRD-Printmedien über den Krieg, die Wehrmacht, die Generalität oder die NS-Führungsriege geschrieben wurde, waren Nationalsozialismus und Krieg in der Bundesrepublik der frühen 1950erJahre feste Bestandteile des frühdemokratischen öffentlichen Diskurses und mit keinerlei Tabu belegt. Dasselbe gilt allerdings nicht für die offene Thematisierung der deutschen Massenverbrechen und die Benennung von Täterschaften. Letzteres zeigt das dritte oben angeführte Beispiel, wo ein Massenverbrechen ganz konkret beschrieben und Täterschaft (das »man« steht dort eindeutig für die Mitglieder der Einsatzgruppen) benannt wird. In diesem Fall scheint diese konkrete Benennung die deutsche Struktur des Satzes durcheinandergebracht zu haben. Auch die semantischen Verschiebungen von »harsh« zu »schroff« und von »accomplished« zu »ausgeführt« zeigen, dass an diesen Stellen ein unterschwelliger Konflikt zwischen dem englischen Text und dem deutschen Diskurs um die NS-Verbrechen besteht, den die ÜbersetzerInnen in einer euphemistischen Bewegung aufzulösen versuchen. Man kann also in Unterkapitel XII/VI anhand von Abschwächungen und anderen übersetzerischen Auffälligkeiten die inhaltlichen Punkte identifizieren, an denen beim deutschsprachigen Schreiben über die NS-Massenverbrechen Diskursgrenzen erreicht oder überschritten werden.

3. Wilhelm und Modeste Pferdekamps Übersetzung von Hitler. A Study in Tyranny

Natürlich sind nicht alle übersetzerischen Auffälligkeiten Indizien für derartige Grenzen. An vielen Stellen scheinen sie auch Resultat einer weniger intensiven Vertrautheit mit der Idiomatik des Englischen zu sein. So findet sich auf S. 694 eine wörtliche Übersetzung der Wendung »to put one’s finger on something«: »Goebbels wies mit dem Finger auf eine fundamentale Schwäche, aber seine Analyse war nicht erschöpfend.« Eine Seite vorher findet sich die Formulierung »Die Schlacht von Stalingrad bezeichnet den Höhepunkt der deutschen Versuche, Rußland zu unterwerfen.« Und auf S. 704: »Das Buch der Geschichte enthält kaum scheußlichere Seiten als diesen Versuch, eine ganze Rasse auszurotten.« Diese drei Beispiele lassen den Schluss zu, dass es bei den Pferdekamps an manchen Stellen auch eine Unsicherheit im Umgang mit der britischen Idiomatik des Originals gab und die beiden ÜbersetzerInnen sich an diesen Stellen dafür entschieden, Teilsätze wörtlich zu übersetzen. Modeste zur Nedden, die ja diejenige von beiden war, die mit der alltäglichen Idiomatik des Englischen vertrauter gewesen sein musste, hatte ihre Kenntnisse nachweislich in den USA und nicht in Großbritannien erworben. Eine dritte mögliche Erklärung für die idiomatischen und stilistischen Schwächen des deutschen Textes im Unterkapitel XII/VI wäre, dass der Verlag ursprünglich vorgehabt hatte, das Unterkapitel schlicht auszulassen. Dann wäre es gar nicht Teil der ursprünglich angefertigten Übersetzung gewesen und wäre möglicherweise nach einer kurzfristigen Umentscheidung nachträglich eilig eingefügt und auch möglicherweise von anderen ÜbersetzerInnen angefertigt worden.29 Zu einer solchen Umentscheidung hätte es nach einer Intervention des Autors oder des britischen Verlags ebenso kommen können, wie nach einem internen Diskussionsprozess im deutschen Verlag oder zwischen den deutschen ÜbersetzerInnen. Das würde nicht nur den auffälligen stilistischen Unterschied zum Rest des deutschen Textes erklären, sondern auch, warum der Gliederungsfehler erhalten blieb. Ob die Auffälligkeiten in Unterkaptiel XII/VI nun durch einen solchen tatsächlichen Zensurversuch, eine unterbewusste Irritation der ÜbersetzerInnen hervorgerufen durch Diskursgrenzen in der Bundesrepublik, durch Unkenntnis britischer Idiomatik oder durch Kombinationen aller drei Möglichkeiten entstanden sind, lässt sich ohne Einblick in das Archiv des Droste-Verlags nicht klären. Sicher ist, dass der einzige, 29

Den Hinweis darauf, dass die Abweichungen im Unterkapitel XII/VI möglicherweise auch Ergebnis eines Zensurversuchs sein könnten, verdanke ich meinem Zweitgutachter Habbo Knoch.

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kurze Teil des Buches, der sich mit den NS-Verbrechen befasst, textlich selbst die Grenzen der übersetzerischen Praxis zu diesem Thema im Deutschen markiert. Bei aller Marginalisierung der Massenverbrechen in Bullocks Buch und den Abschwächungen, die in der deutschen Übersetzung sprachlich entstehen, benennt das Unterkapitel XII/VI bestimmte Teilbereiche dieser Verbrechen auch ungewöhnlich präzise. Insbesondere die Beschreibung des Zwangsarbeitssystems auf S. 697 ist bei aller Kürze frei von Relativierung und Euphemismen. Dabei übernehmen die Pferdekamps (wie übrigens auch Roswitha Czollek und J. W. Brügel) den englischen Begriff slavery bzw. slave labour und bilden ihn im Deutschen als »Sklaverei« ab, anstatt den heute im deutschen Diskurs üblichen Begriff »Zwangsarbeit« zu benutzen. Dieser terminologisch-semantische Unterschied zwischen dem deutschen und dem englischsprachigen Teildiskurs über die Deportationen und den Arbeitszwang dieser Menschen, der sich seit ungefähr den 1970er-Jahren klar herausgebildet hat, ist in den 1950er-Jahren noch nicht etabliert. Immer wieder ist auch in originalsprachlich deutschen Texten aus der Zeit das semantische Feld der Sklaverei im Zusammenhang mit der Deportation von Menschen aus den besetzten Gebieten nach Deutschland zu lesen.30 Hier finden die Begriffe »Sklaverei« und »Sklavenarbeit« durch den Übersetzungsprozess in die deutsche Fassung von Bullocks Text sowie in zwei weitere in dieser Studie untersuchte Bücher Eingang und bringen eine gewisse Drastik mit in die Beschreibung, die dem Begriff »Zwangsarbeit« fehlt. Der Satz, mit dem das Zwangsarbeitsprogramm in der deutschen Fassung von Bullocks Text abschließend als Verbrechen charakterisiert wird, wirkt deshalb auch sehr deutlich: »Die Organisierung dieses neuen Sklavenhandels lag in den Händen von Sauckel, und die Brutalität, mit der Männer, Frauen und Kinder aufgegriffen, nach Deutschland verschickt und unter oft unvorstellbaren Bedingungen zur Arbeit gezwungen wurden, spottet jeder Beschreibung.«31 30

31

So wird beispielsweise noch fünf Jahre später Sauckel in einem Aufsatz in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte als »Sklavenjäger« bezeichnet. Heiber: »Der Generalplan Ost« in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 1958/3, S. 285. Bullock DE, S. 697. EN: »The organisation of this new slave traffic was in the hands of Sauckel, and the brutality of the methods by which men, women and children were rounded up, shipped to Germany and forced to work, often under unspeakable conditions, beggars description.« HASiT, S. 637.

3. Wilhelm und Modeste Pferdekamps Übersetzung von Hitler. A Study in Tyranny

Auch hier markiert die in diesem Fall nicht-euphemisierende Übersetzung eine Diskursgrenze: Es war in der Bundesrepublik der 1950er-Jahre leichter, die Drastik des Zwangsarbeitsprogramms ungeschönt darzustellen, als nicht-euphemistisch über die Massenmorde zu schreiben und zu sprechen. Im Unterschied zum Genozid an den Juden und den Massenmorden in Polen und der Sowjetunion war das Zwangsarbeitsprogramm in der Erinnerung der Westdeutschen auch weniger tabuisiert, weil durch die Zwangsarbeit in der Landwirtschaft und in Industriebetrieben, in denen auch deutsche ZivilistInnen tätig waren, ein größerer Teil der Bevölkerung direkt mit diesem Komplex zu tun gehabt hatte. Die deutsche Übersetzung von Alan Bullocks Buch enthält also ein im Verhältnis zur Gesamtlänge des Buchs sehr kurzes Unterkapitel, in dem der internationale Wissensstand über die NS-Menschheitsverbrechen, wie ihn der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess produziert hatte, zusammengefasst und dargestellt wird. Im Prozess des großen und langanhaltenden Verkaufserfolgs des Buches wird diese Zusammenfassung zu den Themenkomplexen »Zwangsarbeit«, »Besatzungsverbrechen«, »Kommissarbefehl«, »Konzentrations- und Vernichtungslager«, und »Völkermord an den Juden« auch Teil des breiteren öffentlichen Diskurses in Westdeutschland, wenn auch marginal und immer unter der Prämisse, dass letztendlich Hitler alleine Schuld an all diesen Verbrechen war. Der Text des Unterkapitels XII/VI in der deutschen Übersetzung von Bullocks Buch zeigt also sehr genau an, wie eine explizite Darstellung der NS-Verbrechen bei gleichzeitiger Relativierung der Verantwortung in der BRD der frühen 1950er-Jahre aussehen konnte.

3.6.

Die Rezeption in Deutschland

Wie bei einem kalkulierten Bestseller nicht anders zu erwarten wurde die deutsche Übersetzung der Pferdekamps in zeitlicher Nähe zu ihrem Erscheinen in sämtlichen Leitmedien der jungen BRD und meist von prominenten JournalistInnen und PublizistInnen besprochen. Der Spiegel hatte sogar schon eine enthusiastische, nicht namentlich gezeichnete Rezension des englischen Originals kurz nach dessen Erscheinen gebracht, sparte sich dann aber die Besprechung der Übersetzung.32 Für die FAZ besprach die Übersetzung die rechtskonservative Publizistin Margret Boveri am 24.10.1953, für die Zeit ihr 32

»Hitler. Platz neben Attila.« Der Spiegel, 47/1952.

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späterer Chefredakteur Josef Müller-Marein am 12. November 1953.33 Der Merkur bettete seine Besprechung in einen langen Essay über neuere Bücher zum Nationalsozialismus von Otto Heinrich von der Gablentz, Politikwissenschaftler und Mitglied des Kreisauer Kreises, ein. Der publizistische Diskurs in Deutschland rund um Bullocks Buch wurde also damals aus dem Zentrum der bürgerlichen Presse heraus geführt, und die ProtagonistInnen dieses Diskurses waren wie der Übersetzer Wilhelm Pferdekamp bis auf wenige prominente Ausnahmen ehemalige Mitglieder der Reichsschrifttumskammer, die ihre journalistische Ausbildung im »Dritten Reich« erfahren und ihre berufliche Laufbahn als ProduzentInnen von NSPropaganda begonnen hatten. Der Diskurs über das Buch fand demnach, anders als im Falle Reitlingers, überwiegend unter ehemaligen Nationalsozialisten und Mitgliedern der übernommenen neuen und alten Eliten statt. Dieser Hintergrund der RezensentInnen machte sich bei den Beurteilungen des transnationalen Wissenstransfers und der Übersetzung deutlich bemerkbar. Bei der Erwähnung des britischen Ursprungs des Textes verweisen alle hier genannten Texte geradezu reflexhaft auf eine angenommene »Kollektivschuldthese« und erwähnen mögliche »Verallgemeinerungen« über die Deutschen. Die Frage nach der Vorgeschichte der ProtagonistInnen des Diskurses rund um Bullocks Buch ist aber auch im Zusammenhang mit den auffallend großen Unterschieden wichtig, die zwischen den Positionen der einzelnen RezensentInnen insbesondere im Bezug auf die NS-Verbrechen und ihre Darstellung in Bullocks Buch augenfällig werden. Mit Margret Boveri, die als Tochter einer Amerikanerin zweisprachig aufgewachsen war und zeitweise in den USA gelebt hatte, stand der FAZ sogar eine Rezensentin zur Verfügung, die eine kompetente Übersetzungskritik (auch ohne Ansicht des Originals) leisten konnte. Dies ist für die 1950er-Jahre durchaus bemerkenswert. Boveri bezeichnet die Übersetzung einleitend gleich als »dankenswert«, nimmt dann aber später in einem Zitat sogar eine konkrete Verbesserung der Übersetzung vor, die sie auch noch transparent macht.34 Zweck dieses Einwurfs in ihrem Text scheint dabei zu sein, die Autorität der

33 34

Margret Boveri: »Studie über die Tyrannei«, FAZ, 24.10.1953; Josef Marein: »Im Brennpunkt des Gesprächs: Trommler, Führer, Teufel«, Die Zeit, 12.11.1953. »… und somit, als Magier bestätigt, wieder erscheinen konnte, versteckte er sich in seinem Hauptquartier (die Übersetzer verwenden an dieser Stelle die Worte ›rächender Zauberer‹, die jedoch den Intentionen, mit denen Bullock von »Vindicated Magician« spricht, nicht ganz entsprechen dürften).«

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Übersetzung nicht zu untergraben, sie aber doch zu schwächen, weil Boveri grundsätzliche Vorbehalte gegen den Vorgang des Wissenstransfers aus dem Englischen ins Deutsche hat: Bei allem expliziten Lob für Bullocks Buch ist sie nämlich mit bestimmten Grundannahmen Bullocks gar nicht einverstanden. Sie kritisiert explizit, dass Bullocks Deutschlandbild auf einem »zu engen Begriff der deutschen Nation […], nämlich dem kleindeutschen Staat Bismarck’scher Prägung« beruhe, und fordert immer wieder ein, dass sich die Deutschen doch selbst endlich ausführlicher zur Person Hitlers und zur Geschichte des »Dritten Reiches« äußern sollten. Positiv hebt sie demgegenüber hervor, dass Bullock eine »Haltung, die bemüht ist, weder anzuklagen, noch zu verteidigen« einnähme. Boveris ausdrücklicher Wunsch ist es, dass eine zukünftige deutschsprachige Historiographie des Nationalsozialismus also nicht mehr von Übersetzungen abhängig und in ihrem Urteil über die Person Hitlers sowie über Konzepte wie einem faschistischen Führerstaat oder einem Großdeutschen Reich gegenüber »neutral« sein sollte. Die Leerstellen, die Boveri in Hitler. Eine Studie über Tyrannei konstatiert, sind zu einem großen Teil in der Tatsache begründet, dass es sich bei dem Buch nicht um ein deutsches Original handelt. Die Einschränkung ihres positiven Urteils fasst sie in einem Satz zusammen: »Spätere Historiker, vor allem deutsche, werden manches zu berichtigen, manches anders auszulegen haben.« Daraufhin zeigt sie geradezu prophetisch den Weg vor, den die deutsche Hitler-Exegese von rechts in der Zukunft nehmen sollte und benennt den Kronzeugen dieser Lesart, den ehemaligen Reichsminister für Bewaffnung und Munition: »[…] Albert Speer, der in den letzten Monaten alles tat, um Hitlers Zerstörungsbefehle zu durchkreuzen, und der sich in seinem Zwiespalt doch nicht dem Glauben entziehen konnte, daß dieses hitler’sche Schicksal auch Deutschlands Schicksal sein müsse.«35 Boveri passt hier Bullocks Buch als Baustein in einen zukünftig deutscher zu gestaltenden konservativen Diskurs über Hitler ein, dessen Eckpunkte sie bereits benennt: die Leistungen Hitlers als Staatsmann nicht zu schmälern, eine gewisse Klassenverachtung für seine kleinbürgerliche Herkunft zu bewahren

35

Im Übrigen war neben Joachim Fest auf internationaler Bühne gerade Alan Bullock ein wichtiger Akteur bei Speers Rehabilitation. Auf Einladung der Zeit nahm er 1979 sogar an einem freundlichen Gespräch über »Das Rätsel Hitler« mit Speer in Berlin teil. Alan Bullock, Albert Speer: »Das Rätsel Hitler« in: Die Zeit, 2. November 1979.

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und den für Deutschland verlorenen Krieg als größtes Kainsmal auf seinem Charakter zu identifizieren. Aus dieser Perspektive auf das Buch und sein Sujet ergibt sich auch, dass Boveri keinerlei Verbrechen sehen kann. Sie nimmt also die Vorlage des Buches auf, das die NS-Verbrechen im Zusammenhang mit Hitlers Leben als eine Marginalie behandelt, und säubert den Massenmord gänzlich aus ihrem Text. Sie benennt lediglich »Vorurteile und Hass« bei Hitler, aber nur, um zu betonen, dass große Teile der konservativen deutschen Eliten diese nicht geteilt hätten. Und sie erwähnt an keiner Stelle explizit, wozu diese Vorurteile und dieser Hass in der politischen Praxis geführt haben. Damit zeigt sich auch, dass der kurze, zusammenfassende Textteil in XII/VI über die NS-Menschheitsverbrechen für Boveri (und das von ihr hier vertretene rechtskonservativ-deutschnationale Lager) die Grenzen des Sagbaren bereits überschritten hat: Dieser Aspekt des Buchs wird nicht kritisiert, wie beispielsweise Bullocks »Begriff von der deutschen Nation«, sondern er kommt in Boveris Kritik schlicht nicht vor. Bullocks Buch bleibt für Boveri anschlussfähig: Sie bezeichnet es als eine »imponierende Leistung« von »bleibendem Wert«, die nicht versuche, »Hitlers Begabungen und Erfolge zu verkleinern«. In ihrer identitären Argumentation bleibt dann als einzige aber zentrale Kritik an Bullocks Buch übrig, dass es eben kein »deutsches« Buch ist. Das Beschweigen der NS-Verbrechen ist jedoch kein Automatismus beim Sprechen über Bullocks Buch in Deutschland. Josef Müller-Marein, der wie Margret Boveri vor Kriegsende für nationalsozialistische Propagandazeitschriften wie Das Reich und den Völkischen Beobachter geschrieben hatte, erwähnt in seiner Rezension der deutschen Ausgabe von Bullocks Buch für die Zeit die Massenverbrechen bereits im ersten Absatz: »[V]on jenem Unheil nicht zu reden, das nie wieder zum Guten gewendet werden kann: Da war der Tod in den Gaskammern, der Tod an der Front, der Tod auf den Fluchtstraßen …« Nur einen Absatz weiter fühlt sich auch Müller-Marein genötigt, darüber zu spekulieren, wie eine Hitler-Biografie wohl ausgesehen hätte, wenn sie von einer oder einem Deutschen geschrieben worden wäre, und er kommt genau zu dem umgekehrten Schluss wie Margret Boveri: »Fraglich, ob ein Deutscher solchen Vorsatz einer kühlen Analyse hätte verwirklichen können.« Auch Müller-Marein hat Angst vor einer Kollektivschuldthese, die er hier als »Verallgemeinerung« codiert, und er findet auch eine solche Verallgemeinerung im Text, wo Bullock über die Kriegsbegeisterung der jungen Deutschen zu Beginn des Ersten Weltkriegs schreibt. Als Ganzes spricht er das

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Buch aber frei vom Vorwurf der Kollektivbeschuldigung, der sich im Diskursklima der frühen 1950er-Jahre breitenwirksam geäußert mit Sicherheit sehr negativ auf den Verkaufserfolg des Buchs ausgewirkt hätte. Müller-Marein übernimmt Bullocks These, dass für die Verbrechen des Nationalsozialismus Hitler allein verantwortlich ist und die Ausführenden immer nur »Mitschuldige« sind. Gleichzeitig zeigt seine Haltung, gerade im Vergleich zur nationalistischen Perspektive Margret Boveris, wie konkret man 1953 in der Benennung der NS-Verbrechen werden konnte, wenn man eine breite gesellschaftliche Verantwortung ausklammerte: Im selben Absatz, in dem Müller-Marein die Gaskammern erwähnt, schreibt er von »Verbrechen« Hitlers, an denen »wir« teilweise mitschuldig waren.36 Die Zeit-Rezension illustriert die diskursive Kraft, die die Beschreibung der NS-Verbrechen in Bullocks Buch entwickelt. Das Unterkapitel XII/VI bildet hier ein Depot, in dem das explizite Wissen über die NS-Verbrechen abgelegt ist, und von dem aus es seine Wirkung entfaltet, obwohl es im Gesamttext marginalisiert bleibt. Wo Margret Boveri sich bemüht, die NS-Massenverbrechen im Bereich des Impliziten zu belassen und die Hauptstoßrichtung von Bullocks Buch noch verstärkt, indem sie sie gar nicht erwähnt, ist in Müller-Mareins Text mit der Erwähnung der Massenverbrechen die Grenze zum expliziten Wissen überschritten. Nachdem im ersten Absatz bereits das Wort »Gaskammern« als Pars pro Toto für den Massenmord an den Juden, Sinti und Roma und anderen erwähnt wird, muss eine zumindest kurze Diskussion über Schuld und Verantwortung auf breiterer gesellschaftlicher Ebene folgen, und sie tut es in Müller-Mareins Text auch. Auch der klare juristische Begriff »Verbrechen« folgt auf die Erwähnung der Gaskammern sofort. Hier nimmt der Rezensent die Vorlage des marginalen aber konkret formulierten expliziten Wissens auf und lässt es in seinen Text einfließen. Wie bereits in der Übersetzung des Buches selbst auf der sprachlichen Ebene verursacht die Erwähnung des Massenmords auch hier eine Störung im ruhigen Diskursklima. In dem Moment, wo die Gaskammern erwähnt wurden, muss Müller-Marein auch über Verantwortung und Schuld sprechen, und das in der Rezension eines Buches, das diese Fragen weitestgehend vermeidet.

36

»Ob wir als einzelne mitschuldig an seinen Verbrechen sind, ob wir schon damals unter ihm litten, ob wir ohnmächtig zusahen oder nach mehr oder minder heimlicher Empörung gerade noch davonkamen, alles dies ändert das Ergebnis nicht: Der tote Hitler läßt uns nicht ruhen.«

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Dass die deutschen Leitmedien Bullocks Biografie so positiv aufnahmen und als besonders wissenschaftlich solide bewerteten liegt nicht nur an den historiografischen Fähigkeiten des Autors und dem flüssigen Stil der ÜbersetzerInnen, sondern auch am publizistischen Umfeld, in dem das Buch in Deutschland erschien. Mehrere Monate vor dem Erscheinen der Übersetzung von Bullocks Buch hatte der Stuttgarter Steingrüben-Verlag die erste originalsprachlich deutsche Hitler-Biografie seit Kriegsende herausgebracht: Adolf Hitler. Eine Biographie von Walter Görlitz und Herbert A. Quint.37 Diese populäre Biografie ist im Ton reißerisch und sentimental gehalten und der (teilweise zu negativer Größe) überhöhten Führer-Figur gegenüber vollständig unkritisch. Die Autoren referieren unhinterfragt Informationen aus Hitlers Mein Kampf, zitieren ihre Quellen ansonsten aber nicht, spekulieren immer wieder über Hitlers Gefühle und Motive und kommen zu dem Schluss, dass Hitler generell von allen immer unterschätzt worden sei. Görlitz war bereits im Nationalsozialismus als Autor von Biografien tätig gewesen und hatte unter anderem 1939 ein Buch über Mussolini veröffentlicht. Quint war das Pseudonym des Automobilrennfahrers und KfZ-Journalisten Richard von Frankenberg. Gleich zwei wichtige Monatsmagazine der jungen Bundesrepublik, Der Monat und der Merkur, besprechen die deutsche Übersetzung von Bullocks Biografie im Zusammenhang mit und im Kontrast zu Görlitz’ und Quints Buch. In diesem Zusammenhang wirkt Bullocks Perspektive auf Hitler offensichtlich distanziert und hochwissenschaftlich. Der schweizer Historiker Herbert Lüthy kommt im Monat daher zu dem Schluss: »Bullock schreibt über Hitler, wie dies vielleicht wirklich in Deutschland noch nicht möglich ist: so wie ein Historiker über Tut-ench-Amun oder Nebukadnezar schreibt, auf Grund des authentischen Materials und der kritisch aufgenommenen Überlieferung, unter fast völliger Enthaltung von Urteil und vor allem unter strenger Scheidung zwischen Urteil und Bericht, die bei den beiden deutschen Biographen immer wieder durcheinanderkollern.«38 Die noch in der unerwiderten Liebe zu und Ehrfurcht vor Hitler gefangene Biografie der beiden konservativen westdeutschen Autoren steht hier der nüchterneren und wissenschaftlicheren Perspektive Bullocks gegenüber. Und 37 38

Walter Görlitz, Herbert Quint: Adolf Hitler. Eine Biographie. Stuttgart 1952. Herbert Lüthy: »Der Führer persönlich. Gedanken beim Lesen zweier Biographien«, Der Monat, JG 6, Heft 62, November 1953.

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aus Sicht von Lüthy ist die Perspektive von Görlitz und Quint auch repräsentativ für das Hitler-Bild der Westdeutschen in den frühen 1950er-Jahren. Diese »Liebe zum Helden einer Biografie«, wie Otto Heinrich von der Gablentz in seiner Sammelrenzension verschiedener Neuerscheinungen zum Nationalsozialismus die Haltung von Görlitz/Quint beschreibt39 , verleiht der quellenkritischen Biografie des Oxford-Historikers zusätzliche Autorität. Ähnlich der Darstellung von Lord Russell in den Paratexten der DDR muss hier nicht die Angst vor dem Kollektivschuldvorwurf oder der Siegerjustiz erst entkräftet werden, bevor man die Bedeutung des im Buch enthaltenen Wissens betont. Im Gegenteil ist es die nationale Distanz, die laut Gablentz und Lüthy einen kritischen Umgang mit dem Sujet erst wirklich ermöglicht. Hier wird also indirekt die Übersetzung als Möglichkeit beschrieben, nicht nur Wissen, sondern auch kritische Fähigkeiten in den deutschen Diskursraum zu importieren. Diese kritischen Fähigkeiten halten Lüthy und Gablentz für wichtig, um die junge Demokratie aufzubauen und zu erhalten. Im Relief gegen die deutschsprachigen Publikationen derselben Zeit gesehen verblasst dabei auch Bullocks eigene Überhöhung Hitlers und seine Tendenz, ihn allein für alle Verbrechen und den verlorenen Krieg verantwortlich zu machen. Diese kann die zeitgenössische westdeutsche Kritik selbst dann nicht mehr sehen, wenn sie aus einer dezidiert kritischen Haltung gegenüber solchen Überhöhungen heraus argumentiert.

39

Otto Heinrich von der Gablentz: »Zur Geschichte des Nationalsozialismus. Über einige von vielen Büchern – und das eine, das fehlt«, Merkur, 9/1953.

93

4. Roswitha Czolleks Übersetzung von Lord Russell of Liverpools Scourge of the Swastika

4.1.

Das Original

Ein wichtiges Ergebnis der juristischen Aufarbeitung von NS-Verbrechen, die in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre von den Alliierten, insbesondere den Westalliierten, betrieben wurde, war die Schaffung sehr umfangreicher Archive dokumentierten Wissens über diese Verbrechen. Das veröffentlichte amtliche Protokoll des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses umfasst 42 Bände;1 hinzu kommen die Protokolle und Untersuchungsakten aus den Hauptverfahren zu den KZs Bergen-Belsen, Dachau, Neuengamme und Ravensbrück, die zusammengenommen noch viel umfangreicher sind und bis heute einen der zentralen Quellenbestände für die Erforschung der NS-Verbrechen bilden. Mit dem Ende dieser Alliierten-Prozesse gegen NS-Verbrecher 19492 und der Übergabe der juristischen Aufarbeitung an die westdeutschen Behörden stand so zum Dekadenwechsel ein riesiger Bestand an dokumentarischem Material bereit. Dieser bedurfte aber aufgrund seines Umfangs und seiner juristischen Textspezifika dringend der auswählenden Bearbeitung und der Übersetzung in ein breiter rezipierbares Format, wenn das in ihm enthaltene Wissen in den gesellschaftlichen Diskurs hineingetragen werden sollte. Die Akten allein legten kein Zeugnis ab.

1

2

Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg, 14. November 1945 bis 1. Oktober 1946. Amtlicher Wortlaut in deutscher Sprache, Nürnberg 1947-1949. Der letzte Kriegsverbrecherprozess, der von einer alliierten Macht geführt wurde, der Prozess gegen Generalfeldmarschall Erich von Manstein, endete im Dezember 1949 im Hamburger Curio Haus.

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Übersetzung als Erinnerung

Die deutschen Historiker, die sich in den frühen 1950er-Jahren erstmals mit dem Nationalsozialismus befassten, nahmen die Prozess- und Ermittlungsakten offensichtlich kaum als Quellensammlungen wahr oder misstrauten ihnen.3 Eugen Kogons Studie Der SS-Staat 4 wiederum war während einer Zeit entstanden, als die Prozesse noch andauerten. Vor diesem Hintergrund und angesichts des gesellschaftlichen Klimas in Deutschland zu Beginn der 1950er-Jahre ist es wenig überraschend, dass der Autor des ersten populären Sachbuchs, das einen Überblick über das bis dahin vorhandene juristisch dokumentierte Wissen zu geben versuchte, kein deutscher Historiker, sondern ein britischer Militärjurist war. Lord Russell of Liverpools Buch The Scourge of the Swastika. A Short History of Nazi War Crimes, das zugleich auch das erste Buch des Autors war, erschien 1954 in London bei Cassell & Company. Im Vorwort schreibt Russell explizit, dass dieses Buch versucht, eine Brücke zwischen dem in juristischen Dokumenten verschriftlichten Wissen und dem (möglichen) Informationsbedürfnis einer breiten (britischen) Öffentlichkeit zu schlagen: »As everyone knows, the ›authoritative judicial pronouncement‹ […] has been given. There have been numerous other war crime trials the proceedings of which have been published and are there for all to read. But many have no time to do so, and many would not wish to if they had. This book is intended to provide the ordinary reader with a truthful and accurate account of many of these German war crimes. It has been compiled from the evidence given and the documents produced at various war-crime trials and from statements made by eye-witnesses of war crimes to competent war-crime investigation commissions in the countries where they were committed.«5

3

4 5

Peter Rassow schrieb 1953 im Nachwort zur ersten Ausgabe von Hermann Mau und Helmut Krausnicks Buch Deutsche Geschichte der jüngsten Vergangenheit: »Dabei ist den Darstellern […] bewusst, daß für die Zeit seit 1918, besonders aber seit 1933, die Quellen noch trübe fließen. Die zahlreichen Memoiren und politischen Aktenpublikationen sind noch wilde Gewässer, und der Historiker weiß am besten, wie unsicher sein Urteil bleiben muß, wenn er nicht aus guten Quellen schöpfen kann.« Zitiert nach: Mau/Krausnick, Stuttgart 1956, S. 201. Kogon, Eugen: Der SS-Staat – Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1946. Russell 1954, S. viii.

4. Lord Russell of Liverpools Scourge of the Swastika

Diese hier formulierte Intention ist durchaus ernst zu nehmen. Russell kompiliert in seinem Buch in den Prozessen gewonnene Erkenntnisse zu den als verbrecherisch eingestuften Organisationen des NS-Staates, zu Kriegsverbrechen der Wehrmacht gegen Kriegsgefangene und Zivilbevölkerung, zu Verstößen der Wehrmacht gegen das Kriegsrecht, zum Zwangs- bzw. Sklavenarbeitssystem, dem System der Konzentrationslager sowie zur Ermordung der europäischen Juden. Jedem dieser Themenkomplexe sind eigene Kapitel gewidmet, sodass auf gut 250 Seiten ein Überblick über das Wissen der (westlichen) Alliierten über die bis 1949 juristisch aufgearbeiteten Verbrechen des NS-Regimes gegeben wird. Dabei arbeitet The Scourge of the Swastika durchgängig mit einigen zentralen Mitteln des populären Sachbuchs: Russell zitiert ausführlich aus seinem Material, gibt aber nach der allgemeinen Erwähnung der Prozess- und Ermittlungsakten in der Einführung keine konkreten Quellen mehr an. Zudem finden sich zwischen den Schilderungen von Verbrechen immer wieder kurze moralische Wertungen und Einordnungen des Geschilderten, die dem Text insgesamt durchaus den Charakter einer verdauerten, popularisierten Anklageschrift verleihen, wie er im Titel bereits angedeutet wird. Allerdings gibt Russell seinem Text keine kapitelübergreifende romanhafte Gesamtstruktur, wie es seit den 1930er-Jahren im populären Sachbuch in Großbritannien und Deutschland beliebt war6 , sondern er belässt es bei der Kompilation von dokumentierten Verbrechen.

4.2.

Der Autor und die Kontroverse um die Veröffentlichung in Großbritannien

Edward Frederick Langley Russell, Second Baron of Liverpool, geboren 1895, begann seine zweite Karriere als erfolgreicher Sachbuchautor mit der Arbeit an The Scourge of the Swastika. Vor der Veröffentlichung des Buches hatte Russell von 1945 bis 1950 als erfahrener Militärjurist den Posten des Deputy Judge Advocate General für die britische Besatzungszone im besiegten Deutschland inne. In diesem Amt war er direkt dem Judge Advocate General, dem obersten Militärrichter in London, und indirekt dem Lordkanzler unterstellt. In 6

Dieses Prinzip trug beispielsweise eines der meistverkauften Sachbücher der 1950erJahre in Westdeutschland bereits im Titel: C.W. Ceram: Götter, Gräber und Gelehrte. Roman der Archäologie. Reinbek 1949.

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Übersetzung als Erinnerung

seine Zuständigkeit fielen die Verfahrensaufsicht und die juristische Beratung sämtlicher Militärjustizverfahren einschließlich der Kriegsverbrecherund KZ-Prozesse in der britischen Zone. Russell war Rechtsberater des britischen Hauptanklägers Hartley Shawcross im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und ebenfalls als Rechtsberater sowie als übergeordnete Instanz der Anklage an den britischen Prozessen gegen Mitglieder des Personals der KZ Neuengamme und Ravensbrück sowie den Folgeprozessen zu BergenBelsen beteiligt. Er war also mit dem Material, das dem Buch zugrunde lag, bereits vor Beginn der Arbeit am Buch intim vertraut. Russells Karriere als Militärjurist war auf eine aktive Laufbahn in der britischen Armee während und nach dem Ersten Weltkrieg gefolgt, die er aus gesundheitlichen Gründen 1930 aufgeben musste.7 Nach einer kurzen Zeit als ziviler Rechtsanwalt trat er 1934 in das Büro des Judge Advocate General ein, wurde 1943 zum Deputy Judge Advocate General der britischen Rheinarmee befördert und leitete in dieser Funktion die Justizabteilung der Besatzungsbehörden in Deutschland. 1951 wurde Russell nach einem Konflikt mit deutschen Zivilisten nach London zurückbeordert und in den Rang eines Assistant Judge Advocate zurückversetzt. Um diese Zeit begann er, nach eigenen Angaben auf Anregung seiner Frau, mit der Arbeit an The Scourge of the Swastika: »For some months since our return from Germany my wife had been trying to persuade me to write a short history of German war crimes. Having been closely concerned with many war-crime trials the topic came up with monotonous frequency at every party we attended, and we had both been astonished at the widespread ignorance of the majority of people whom we met on those occasions regarding the scope and magnitude of these crimes.«8 Russell argumentiert hier zwar rein anekdotisch, macht aber deutlich, dass in seiner Wahrnehmung (und der seiner Frau) das Wissen, das in den NS-

7

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Basisdaten zu Russels Biografie und beruflicher Laufbahn aus: Davenport-Hines, Richard: »Russell, (Edward Frederick) Langley« in: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford, 2004. Sowie: »Lord Russell of Liverpool«, The Times, Obituaries, 10. April 1981 und »Lord Russell, wrote ›Scourge of Swastika,‹ anti-Nazi book, in ›54«, New York Times, Obituaries, 10. April 1981. Edward Frederick Langley Russell, 2nd Baron of Liverpool: That Reminds Me. London 1959, S. 210.

4. Lord Russell of Liverpools Scourge of the Swastika

Prozessen bis zu diesem Zeitpunkt gewonnen worden war, kaum Eingang in den öffentlichen Diskurs in Großbritannien gefunden hatte. Dies wird im Folgenden noch von Bedeutung sein. Kurz vor der Veröffentlichung übersandte Russell das fertige Manuskript an den damaligen Lordkanzler, Gavin Simonds, möglicherweise um sich beruflich abzusichern. Simonds sah in dem Text ein zweifach gravierendes politisches Problem: Zum einen verletze es das politische Neutralitätsgebot für Mitglieder der Judikative und zum anderen gefährde es das britische Vorhaben einer festen Integration der Bundesrepublik in die westliche Allianz als östlichstes Bollwerk gegen den sowjetisch kontrollierten Block. Als Vorgesetzter stellte Simonds Russell vor die Wahl, von allen öffentlichen Ämtern zurückzutreten und das Buch zu veröffentlichen, oder seine Stellung in der Militärjustizbehörde zu behalten. Russell entschied sich für die Veröffentlichung und trat von seinem Amt zurück.9 Mit diesem politischen Skandal, der in der Presse nicht zuletzt durch eine von Russell selbst mit dem rechtsnationalistischen Boulevardblatt Daily Express organisierte Kampagne breite Beachtung fand,10 wurde The Scourge of the Swastika vom Moment der Veröffentlichung an zum Politikum und damit mehr als ein populäres Sachbuch. Gleichzeitig war dieser Skandal auch eine der Grundlagen des großen Verkaufserfolgs des Buches, wie Russell in seiner Autobiografie schreibt. Dort gibt er an, dass der Verlag in den drei Tagen nach der Veröffentlichung des ersten Artikels im Daily Express am 11. August 1954, also vor dem Veröffentlichungstermin am 19. August 1954, bereits 40.000 Vorbestellungen erhalten habe und dass bis Jahresende sechs Auflagen des Buches gedruckt wurden.11 Das Buch erschien auf dem Höhepunkt der Debatten um die Wiederbewaffnung der BRD und eine mögliche Europäische Verteidigungsgemeinschaft. Sowohl in der konservativen britischen Regierung Churchills als auch in der Labour-Opposition sorgte man sich darum, dass das Buch »anti-deutsche Emotionen« in der britischen Bevölkerung bestärken und dadurch die 9

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Russell, That Reminds Me, S. 214-234. Siehe auch: Gerry R. Rubin: »Judicial Free Speech versus Judicial Neutrality in Mid-20th Century England: The Last Hurrah for the Ancien Regime?« in: Law and History Review, vol. 27, no. 2, University of Illinois, 2009. Russell beschreibt in seiner Autobiografie, wie er nach dem Einsenden seiner Kündigung seinen »Nachbarn und Freund« Chapman Pincher, Redakteur für Wissenschaftsund Verteidigungsthemen beim Daily Express, über die Vorgänge informierte. Russell, That Reminds Me, S. 224. Ebd., S. 225f.

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Übersetzung als Erinnerung

geplante Einbindung der BRD in ein westliches Verteidigungsbündnis gefährden könnte.12 Gleichzeitig wollte man offensichtlich auch auf die öffentliche Meinung in Deutschland Rücksicht nehmen und dort keine Gefühle verletzen. Man nahm also an, dass, unabhängig von einer Übersetzung ins Deutsche, das Buch oder zumindest sein kommerzieller Erfolg in Großbritannien in Deutschland negativ rezipiert werden würde. In einem Gesprächsprotokoll aus dem britischen Außenministerium zu Russels Buch findet sich der Satz: »[T]here is no doubt that many Germans would now be frightfully hurt by this book.«13 In der Debatte um das Buch in Großbritannien spielte also die Rezeption in Deutschland bereits vor der Veröffentlichung des Originals eine zentrale Rolle. Auf der anderen Seite der öffentlichen Auseinandersetzung um The Scourge of the Swastika in Großbritannien befanden sich neben Lord Russell selbst The Daily Express und weitere Boulevardblätter sowie unter den Leserbriefschreibern auch Gerald Reitlinger. Sie kritisierten vor allem den Zensurversuch einer Geschichte deutscher Verbrechen vor dem Hintergrund der Wiederbewaffnungsdebatte.

4.2.1.

Die Rezeption des Originals in Großbritannien

Die Position der britischen Regierung gegenüber dem Buch und seiner angenommenen Rolle im Konflikt um den Umgang mit Deutschland sollen zwei Artikel illustrieren, die in der Woche der Veröffentlichung in britischen Leitmedien erschienen. Der Labour-Abgeordnete und spätere Verteidigungs- und Finanzminister Dennis Healy schrieb einen Gastbeitrag für die konservative Wochenzeitung The Spectator unter dem Titel »Lord Russell and the Germans«, in dem er der Dringlichkeit der Westeinbindung der BRD deutlich mehr Platz einräumt als dem Buch selbst: »[…] European policy towards Germany has been paralysed for years by emotional rigidities in public opinion. […] if the paralysis lasts much longer it

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13

Churchill selbst notierte in einem Vermerk vom November 1954 im Zusammenhang mit der ersten BBC-Serie über den Luftkrieg: »Compared to the harm done by Lord Russell of Liverpool’s book it is trivial.« Minute from the Prime Minister to the Foreign Secretary, 1 November 1954, FO 371/190343, zitiert in: Webster, Wendy: »›Europe against the Germans.‹ The British Resistance Narrative, 1940-1950« in: The Journal of British Studies 48, 2009, S. 958-982. Minute, 12. August 1954, FO 371/109733, ebd.

4. Lord Russell of Liverpools Scourge of the Swastika

may produce a split fatal to the Western alliance and destroy the possibility of solving the problem at issue without war. But for good and bad motives, politicians and Press lords are doing their best to perpetuate the paralysis by feeding the emotions which have produced it. Lord Russell’s compendium of Nazi war crimes, The Scourge of the Swastika, […] is a case in point.«14 Healy hält kurz fest, dass er die dokumentarische Intention von Russells Buch zwar für richtig hält, warnt aber vor dem Rückschluss, die Deutschen seien an den NS-Verbrechen allein schuld und unterschieden sich kulturell grundsätzlich vom Rest Europas. Er beschwört die Gefahr der totalitären Sowjetunion dabei ebenso wie die Instabilität der westdeutschen Demokratie und warnt schließlich paradoxerweise nicht nur vor einer Abwendung Westdeutschlands vom Westen, sondern auch vor einem Wiedererstarken des Nationalsozialismus in dem Fall, dass die BRD nicht vollständig und gleichberechtigt in die Westallianz eingebunden wird: »A continuation of the present paralysis will make the ultimate decision even more difficult and costly. And in the meantime German democracy may have died.«15 Die ebenfalls konservative Times wiederum konzentriert sich in ihrer Rezension zwar auf The Scourge of the Swastika und betont, dass Russell weder sensationslüstern noch unbelegt anklagend vorgehe. Gleichzeitig insinuiert die Besprechung aber, dass das Buch überflüssig und das Motiv, das Buch zu diesem Zeitpunkt zu veröffentlichen, fragwürdig sei: »The facts included are not new nor, for the most part, hard for English-speaking readers to find.«16 Russells Einschätzung, die deutschen Verbrechen seien noch nicht in ihrer ganzen Dimension verstanden worden, sowie seine Warnung, sie könnten vergessen werden, werden in der Times als »zweifelhaft« bezeichnet, insbesondere in Großbritannien und den ehemals besetzten Gebieten Europas, wo die NS-Verbrechen stark im kollektiven Bewusstsein verankert seien. Die Besprechung schließt mit der Suggestivfrage, ob Russell das Buch nicht eigentlich für ein deutsches Publikum geschrieben haben könnte: »And if Lord Russell is thinking in the first place of the Germans themselves, will their consciences be pricked by a book published in England?«17 Diese beiden Positionen illustrieren das Spannungsverhältnis, in dem The Scourge of the Swastika bei seinem Erscheinen in Großbritannien stand: Von 14 15 16 17

Healy, Dennis: »Lord Russell and the Germans«, The Spectator, 20. August 1954, S. 7. Ebd. »Catalogue of Nazi Crime«, The Times, 19. August 1954. Ebd.

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offizieller Seite, also in Staatsapparat, Regierung und Opposition, sowie von den seriösen Leitmedien wurde es weitgehend als Anklage gegen Deutschland und damit als Instrument oder gar Äußerung einer antideutschen Haltung angesehen, von der man annahm, sie sei in der Bevölkerung weit verbreitet.18 Durch diese antideutsche Haltung sahen Politiker wie Healy und Simonds ebenso wie die konservative Redaktion der Times das Projekt der Schaffung einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft und der dauerhaften Westintegration der BRD gefährdet, da sie fürchteten, dafür unter anderem wegen des Einflusses der medialen Thematisierung der deutschen Verbrechen auf Dauer keinen Rückhalt in der Bevölkerung zu bekommen. Entsprechend befassen sich ihre Rezensionen kaum mit dem Inhalt des Buches, sondern werben stattdessen ausführlich für das Integrationsprojekt oder sprechen Russells breit angelegter Darstellung nationalsozialistischer Verbrechen schlicht die Relevanz ab, da ja die »Fakten bekannt« seien. Inhaltlich wird das Buch interessanterweise dabei nicht angegriffen; es finden keinerlei Versuche statt, Russells Schilderungen als unwahr, falsch oder übertrieben zu charakterisieren.19 Stattdessen wird in der britischen Presse ganz offen versucht, den gesellschaftlichen Diskurs über die NSVerbrechen, zu dem The Scourge of the Swastika ein gewichtiger Beitrag ist, im Interesse der britischen Außenpolitik so klein und leise wie möglich zu halten. Wie oben zitiert, schätzte Russell das gesellschaftliche Wissen über

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Siehe dazu z.B. Wendy Webster: ›Europe against the Germans‹: The British Resistance Narrative, 1940-1950. S. 958-982. In der Einleitung zu einem Artikel des britischen Historikers Michael Davie in der Zeit vom 17. Mai 1956 schreibt die Redaktion explizit, man würde sich in Deutschland »ein falsches Bild vom Deutschlandbild der Engländer« machen, das in Wahrheit sehr viel negativer sei. Davie selbst erwähnt in seinem Text als Beleg für das negative Bild Deutschlands der britischen Bevölkerung dann auch unter anderem die Popularität von Russells Buch, damals noch nicht in Westdeutschland erschienen. Dies gilt für die Rezeption des Buches in den Leitmedien. Laut Russells Autobiografie hatte Lordkanzler Simonds in seiner ersten Reaktion auf das Buch durchaus auch den Wahrheitsgehalt von Russels Schilderungen angezweifelt: »He took the view that its publication at that time would inevitably be taken as intending to affect questions which were matters of acute public controversy. He also thought, though for the life of me I cannot think why, that the publication of such a book by me was inconsistent with my tenure of an appointment on the Judge Advocate General’s staff. Most surprising of all, he did not accept my contention that the book was solely factual and historical.« Russell: That Reminds Me, S. 214.

4. Lord Russell of Liverpools Scourge of the Swastika

die deutschen Verbrechen radikal anders ein, als es die Rezension in der Times tut. Tatsächlich war The Scourge of the Swastika in den 1950er-Jahren in Großbritannien ein großer Publikumserfolg. Darauf verweisen viele historische Einschätzungen des Buches, die sich ansonsten aber nicht weiter mit dem Inhalt auseinandersetzen. Im Eintrag zu Russell im Oxford Dictionary of National Biography schreibt Richard Davenport-Hines: »Over 250,000 copies of The Scourge of the Swastika were sold internationally after its publication in 1954. Its popularity displeased those seeking to restore the West German republic’s position in the international community, and a few complained of its sensationalism.«20 Genaue Verkaufs- oder Auflagenzahlen stehen für das Original nicht zur Verfügung, doch schon in der zeitgenössischen Debatte und insbesondere in späteren historischen Betrachtungen wird The Scourge of the Swastika regelmäßig als »Bestseller« verhandelt. Der Erfolg des Buches führte auch dazu, dass Russell bis Ende der 1960erJahre regelmäßig um Einleitungen für Publikationen zu den NS-Verbrechen gebeten wurde. Man ging bei den jeweiligen Verlagen offensichtlich davon aus, dass Russells Name Publikumswirkung erzielen würde, und warb mit Russells Einleitungen auch auf den Schutzumschlägen dieser Bücher. Zu diesen Publikationen gehörte die englische Übersetzung Harvest of Hate von Léon Poliakovs Bréviaire de la haine, eine Dokumentensammlung und damit in gewissem Sinne ein Überblickswerk wie Russells eigenes Buch; aber es finden sich darunter auch frühe autobiografische Berichte von Überlebenden wie Kitty Harts Buch I am Alive oder die Übersetzung der Autobiografie der norwegischen Widerstandskämpferin Sylvia Salvesen. 1964 schrieb Russell schließlich auch noch die Einleitung zur britischen Ausgabe von Melita Maschmanns Fazit. Kein Rechtfertigungsversuch (Account Rendered. A Dossier on my Former Self), eine Abrechnung einer ehemaligen BDM-Führerin mit ihrer Vergangenheit. Gemeinsamer Tenor all dieser Einleitungstexte ist Russells Warnung vor dem Vergessen, dem Relativieren und der Gefahr des Wiedererstarkens des Nazismus in Deutschland.21

20 21

Davenport-Hines, ODNB. Russell: »Introduction«. In: Poliakov, Léon: Harvest of Hate. The Nazi Programme for the Destruction of the Jews of Europe, London, 1956; Russell: »Foreword« in: Hart, Kitty: I am

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Besonders illustrativ für die Wahrnehmung des Buches im zeitgenössischen Großbritannien ist ein Gastbeitrag in der Zeit vom Mai 1956 von Michael Davie, der damals Redakteur beim liberalen Wochenblatt The Observer war. Davie warnt das deutsche Publikum vor einer Verkennung der nach wie vor prävalenten »Deutschenfeindlichkeit« in England, insbesondere unter Historikern, und führt unter anderem die Popularität von Büchern über britische Heldentaten im Krieg, des Tagebuchs der Anne Frank und eben Russels Buch als Beleg für seine These an: »Viele Leser fand auch die heftige Anklage des Lord Russell of Liverpool, Die Geißel des Hakenkreuzes.«22 Explizit spricht sich keiner der drei hier zitierten Texte gegen eine Erinnerung an die NS-Verbrechen aus. Stattdessen wird den Verbrechen, und ganz speziell dem Holocaust, eine universelle Dimension zugedacht, um eine konkrete Verantwortung der zeitgenössischen deutschen Bevölkerung relativieren zu können. Healy schreibt: »[Russell’s] closing words suggest that Germans as such suffer from an incurable criminal schizophrenia. Yet the real lesson of this terrible period in European history is that no nation is immune from the virus of barbarism.«23 Die Times kommt in ihrer Argumentation dem insbesondere in Deutschland von der direkten Nachkriegszeit bis heute weit verbreiteten Wunsch nach einem »Schlussstrich« am nächsten: Der Rezensent schreibt, in Europa seien diese Verbrechen ohnehin hinlänglich bekannt, fest im öffentlichen Bewusstsein verankert und bedürften deshalb keiner weiteren Dokumentation oder Vermittlung. Davie, der in der Zeit für ein deutsches Publikum schreibt, geht noch einen Schritt weiter: Für ihn ist die Darstellung und Aufzählung nationalsozialistischer Verbrechen (ebenso wie deren Andeutung im Tagebuch der Anne Frank) grundsätzlich eine »heftige Anklage« und ein Beleg für eine »deutschfeindliche« Einstellung.24 Mit dieser ablehnenden, teilweise zensierenden Haltung haben Politik und Presse in Großbritannien die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass

22

23 24

Alive, London 1961. Russell: »Foreword« in: Maschmann, Melita: Account Rendered. A Dossier on my Former Self, London 1964. Davie, Michael: »Wie die Engländer die Deutschen sehen«, Die Zeit, 17. Mai 1956, S. 3. Dass der Titel hier wörtlich übersetzt wurde, deutet darauf hin, dass Davie nichts von der geplanten Veröffentlichung der deutschen Übersetzung wusste, die zum Zeitpunkt des Erscheinens seines Artikels bereits kurz vor der Auslieferung stand. Healy, Spectator. Davie, Die Zeit.

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die deutsche Übersetzung von The Scourge of the Swastika beim DDR-Verlag Volk und Welt angefertigt und erstveröffentlicht wurde. Für die DDR war der politische Skandal im Zusammenhang mit der Wiederbewaffnung der BRD von großem propagandistischem Wert: Ein hoher Beamter, jeder kommunistischen Neigung unverdächtig, der in einem Buch die Verbrechen des NS-Regimes kompiliert, verliert aufgrund der Veröffentlichung seinen Posten. Der Fall war ein hervorragender Beleg für das auf der Dimitroff-These basierende Konzept vom latent faschistischen Charakter des kapitalistischen Westens und der BRD im Speziellen, weil er implizierte, die gesellschaftliche Erinnerung an und Erforschung der NS-Verbrechen wären mit dem Aufbau eines westlichen militärischen Bündnisses inkompatibel. Hier trafen sich dann auch die Interessen der DDR mit den Interessen des Autors und seines britischen Verlags, die das Buch möglichst ins Deutsche übersetzt sehen wollten. Aufgrund des Zensurversuchs in Großbritannien und der Art und Weise, wie über das Buch verhandelt wurde, wäre die Veröffentlichung einer deutschen Übersetzung von The Scourge of the Swastika für westdeutsche Verlage möglicherweise auch nicht nur wirtschaftlich uninteressant, sondern auch politisch riskant gewesen. Nicht zuletzt weil der Einfluss der Westalliierten und deren Vorbildfunktion in Verlagswesen und Medien Mitte der 1950erJahre noch relativ groß war. Die Rezeption von Russells Buch in Großbritannien zeigt deutlich die gemeinschaftsbildende Wirkung des gesellschaftlichen Gedächtnisses, in diesem Fall in einer negativen, interkulturellen Form:25 Es besteht der politische Wunsch, die Bundesrepublik in ein westliches Bündnis, also eine Form der Gemeinschaft, die über staatliche Grenzen hinwegreicht, zu integrieren. Damit dieses politische Ziel verwirklicht werden kann, braucht es auch eine gemeinsame soziale Erinnerung bzw. ein gemeinsames soziales Vergessen. Diese gemeinsame (Nicht-)Erinnerung soll es, zumindest in Abgrenzung gegen die Einwohner der sowjetischen Einflusssphäre, Briten erlauben, Deutsche aus der Bundesrepublik als Mitglieder eines gemeinsamen, westlichen

25

Peter Reichel beschreibt die Funktion des sozialen Gedächtnisses als »Medium der Vergemeinschaftung« in Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die Nationalsozialistische Vergangenheit, Frankfurt a.M. 1999, S. 13 f: »Gedächtnis schafft Kontinuität und überbrückt Zäsuren, die Diskontinuität von politischen und lebensweltlichen Entwicklungen.« Im Fall des Konflikts um Russell ist es aber das Nicht-Erinnern, das nach Willen der britischen Regierung die Zäsur überbrücken soll, die der Krieg im Verhältnis zwischen Briten und Deutschen darstellt.

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Kollektivs zu sehen. In diesem Fall gehen die britische Politik und die Leitmedien davon aus, dass eine gemeinsame Erinnerung an die NS-Verbrechen auf beiden Seiten zu Widerständen gegen die Bildung einer Gemeinschaft führen würde: Auf deutscher Seite antizipieren sie sowohl in der Politik als auch in der Bevölkerung, motiviert durch Schuldabwehr und Machtinteressen, eine Ablehnung der Erinnerung an die Verbrechen. Dort, wo die Menschen in der Bundesrepublik, die ja die Rechtsnachfolge des NS-Staates innehat, an diese Verbrechen erinnert werden, erwartet man in Großbritannien eine abwehrende Haltung gegenüber denjenigen, die diese Erinnerung produzieren, in diesem Fall gegenüber einem Repräsentanten der britischen Eliten, Lord Russell of Liverpool. Und eine derartige Ablehnung würde sich dann auf die Integration in ein gemeinsames Bündnis auswirken. Auf britischer Seite erwarten die Vertreter dieser Position durch die Erinnerung an den grundsätzlich verbrecherischen Charakter des NS-Staates eine längere Halbwertszeit der Ressentiments der von den Kriegserlebnissen geprägten eigenen Bevölkerung gegen einen deutschen Staat, in diesem Fall die BRD. Das gemeinsame Vergessen der NS-Verbrechen soll ein gemeinsames negatives Erinnerungsfeld schaffen, das von Briten und (West-)Deutschen geteilt werden kann und somit zu einem Instrument der Gemeinschaftsbildung werden soll. Dass sich diese politischen und erinnerungskulturellen Interessen so konkret an The Scourge of the Swastika manifestieren, hat auch mit der inhaltlichen Ausrichtung des Buches zu tun. Indem es sich nicht wie Gerald Reitlingers The Final Solution auf den Judenmord als das zentrale, präzendenzlose Verbrechen des NS-Staates konzentriert, sondern die Shoah als ein Element des insgesamt grundsätzlich verbrecherischen Charakters des nationalsozialistischen deutschen Staates und des von ihm begonnenen und geführten Krieges darstellt, zeichnet es auch das Bild eines viel größeren Täterkollektivs. Im Folgenden will ich versuchen zu zeigen, wie stark die politischen, inter- und erinnerungskulturellen Voraussetzungen, also die Bedingungen des Kalten Krieges und die Frage nach der Wiederbewaffnung der BRD sowie die Rezeptions- und Erinnerungsräume in Deutschland, nicht nur die Veröffentlichungs- und Rezeptionsgeschichte der deutschen Übersetzung von Russells Buch prägten, sondern auch die Übersetzung selbst inhaltlich sowie in Stil, Lexikalik und Idiomatik formten.

4. Lord Russell of Liverpools Scourge of the Swastika

4.3.

Die deutsche Übersetzung Geißel der Menschheit von Roswitha Czollek

4.3.1.

Verträge und Vorbereitungen

Dass die deutschsprachige Ausgabe von The Scourge of the Swastika in der DDR und nicht in der BRD erscheinen würde, war offensichtlich schnell klar. Aus einem Brief von Walter Czollek, damals Verlagsleiter bei Volk und Welt, an Russells Verlag Cassell & Co vom 22. September 195426 geht hervor, dass Volk und Welt schon während der Kontroverse kurz vor der Veröffentlichung des Buches in Großbritannien Interesse an den deutschen Rechten für The Scourge of the Swastika angemeldet hatte. In diesem Brief zitiert Czollek zwei frühere Telegramme an Cassell, eines vom 14. August 1954, also fünf Tage vor der Erstveröffentlichung des Buches, und das zweite vom 21. September 1954. Im ersten Telegramm bittet Czollek um ein Leseexemplar des Buches und die Einräumung einer dreimonatigen Option auf die Übersetzung, im zweiten um Vertragsentwürfe und weitere Leseexemplare. Das nächste Dokument zum Fortgang der Verhandlungen im Verlagsarchiv von Volk und Welt ist dann das »Memorandum über den am 29. Oktober 1954 abgeschlossenen Vertrag«,27 das eine vollständige Vertragsabschrift beinhaltet. Nur zweieinhalb Monate nach der Erstveröffentlichung hat demnach Volk und Welt also den Zuschlag für die deutsche Übersetzung erhalten. Dies legt den Schluss nahe, dass sich der DDR-Verlag nicht gegen Konkurrenten aus der Bundesrepublik durchsetzen musste, zumal solche sicherlich bei Verhandlungen im Vorteil gewesen wären, da sie die Lizenzen in leichter konvertierbarer Währung hätten bezahlen können. Wahrscheinlich war die Veröffentlichung von Russells Buch in der Bundesrepublik, nicht zuletzt aufgrund von Druck durch die britischen Behörden, politisch nicht opportun. Und da das Buch eindeutig als populäres Sachbuch und nicht als wissenschaftliches Werk positioniert war, beeinflussten sicherlich auch geringe Verkaufserwartungen die Haltung westdeutscher Verlage gegenüber The Scourge of the Swastika. Verhandlungspartner für Volk und Welt, im Vorfeld der Veröffentlichung ebenso wie in allen vertraglichen Dingen später, war Hans Hermann Hagedorn in Hamburg. Hagedorn war Repräsentant für deutschsprachige Buch26 27

W. Czollek an Cassell, 22.9.54, ADK, Archiv Verlag Volk und Welt, 2260. »Memorandum über den am 29. Oktober 1954 abgeschlossenen Vertrag«, undatiert, ADK, AVVW, 2260.

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und Presserechte der großen Literaturagentur Curtis Brown Ltd in London,28 bei der Russell unter Vertrag war. Die Korrespondenz zwischen Volk und Welt in Person von Verlagsleiter Walter Czollek und Hagedorn ist im Verlagsarchiv in Teilen überliefert und einsehbar. An ihr lassen sich auch trotz des sehr freundlichen und professionellen Tons immer wieder die Spannungen ablesen, die sich aus dem Verhältnis zwischen einem DDR-Verlag und dem westdeutschen Repräsentanten einer britisch-amerikanischen Literaturagentur unter den Bedingungen des Kalten Krieges ergaben. Zwei Paragrafen des Lizenzvertrags sind für die Übersetzungsgeschichte von Russells Buch von besonderer Bedeutung: In Paragraf 1 wird festgelegt, dass der Verlag Volk und Welt die »Rechte für die Verbreitung des Werkes in deutscher Sprache auf der ganzen Welt« innehat. Dieser Passus macht Volk und Welt zum Lizenzgeber für alle deutschsprachigen Veröffentlichungen des Buches sowie Auszügen daraus außerhalb der DDR und gibt damit der DDR die Kontrolle über die Verbreitung der deutschen Übersetzung. Für deren Anfertigung wiederum legt Paragraf 7 Folgendes fest: »Die Übertragung des genannten Werkes in die deutsche Sprache soll wahrheitsgetreu und sorgfältig vorgenommen werden. Streichungen oder Änderungen dürfen nur mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Autors oder seines Vertreters vorgenommen werden.«29 Vier Wochen nach Unterzeichnung des Lizenzvertrags wurde dann auch bereits der Übersetzervertrag zwischen Volk und Welt und Roswitha Czollek unterschrieben.30 Es fällt auf, dass der gesamte Vorbereitungsvorgang für die deutschsprachige Veröffentlichung sehr schnell voranging. Der Vertrag, am 25. November 1954 unterzeichnet, nennt nun den 15. Januar 1955 als Abgabetermin für die Übersetzung. Das heißt, dass Roswitha Czollek die Übersetzung, deren Umfang im Vertrag mit 360 Manuskriptseiten angegeben ist, innerhalb von lediglich gut acht Wochen anfertigen und in zweifacher Anfertigung abgeben musste.31 Ein solches Arbeitspensum von 45 Manuskript28 29 30 31

Briefkopf von Hans Hermann Hagedorn, ADK, AVVW, 2260. »Memorandum über den am 29. Oktober 1954 abgeschlossenen Vertrag«, undatiert, ADK, AVVW, 2260. Übersetzervertrag, 25.11.1954, ADK, AVVW, 2260. Vorausgesetzt, sie hat nicht schon vor Vertragsabschluss mit der Arbeit begonnen. Angesichts ihrer Position als Frau des Verlagsleiters ist es unwahrscheinlich, dass dies für sie ein Risiko gewesen wäre. Es gibt aber keinerlei dokumentierte Hinweise darauf, dass dies stattgefunden hat.

4. Lord Russell of Liverpools Scourge of the Swastika

seiten pro Woche setzt Routine sowohl bei der Übersetzung als auch bei der Recherche voraus. Nicht zuletzt die Recherche der vielen originalsprachlich deutschen Zitate im Buch zur Vermeidung von Rückübersetzungen war mit Sicherheit recht zeitaufwendig. Der Vertrag zeigt deutlich, dass Roswitha Czollek diese Übersetzung nicht unter besonders privilegierten Bedingungen angefertigt hat. Ebenfalls noch im Vorfeld der Veröffentlichung der DDRAusgabe im September 1955 wurde von Walter Czollek, wieder in Zusammenarbeit mit Hagedorn, auch die westdeutsche Lizenzfassung im RöderbergVerlag beschlossen und vertraglich festgelegt. Diese konnte dann nur wenige Wochen nach der DDR-Ausgabe im Spätherbst 1955 erscheinen.32

4.3.2.

Die Übersetzerin: Roswitha Czollek

Roswitha Czollek wurde 1925 geboren und war mit dem Verlagsleiter von Volk und Welt, Walter Czollek,33 verheiratet. »Geißel der Menschheit« war ihre zweite publizierte Übersetzung aus dem Englischen für den Verlag. Zum Zeitpunkt der Übersetzung stand Czollek am Anfang ihrer Laufbahn als Sachbuchübersetzerin für Volk und Welt. Bis Mitte der 1960er-Jahre erschienen dort insgesamt acht weitere Sachbuchübersetzungen von ihr.34 Überwiegend waren diese Bücher Werke von englischsprachigen Journalisten mit kommunistischen Parteibüchern bzw. expliziten kommunistischen Sympathien wie dem US-Autor Joseph Starobin oder dem Australier Wilfred G. Burchett. 32 33

34

Edward Frederick Langley Russell: Geißel der Menschheit. Kurze Geschichte der Nazikriegsverbrechen. Aus dem Englischen von Roswitha Czollek. Frankfurt a.M. 1955. Walter Czollek (1907-1972) war in der Weimarer Republik KPD-Mitglied. Er stammte aus einer jüdischen Familie und war Überlebender der KZ Lichtenburg, Dachau und Buchenwald. Nach seiner Ausweisung aus Deutschland 1939 leitete er eine KPDGruppe unter deutschen Exilanten in Schanghai. Nach seiner Rückkehr in die DDR war er zunächst Lektor, dann Verlagsleiter bei Volk und Welt. Quellen: Helmut MüllerEnberg (Hg.): Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien. Berlin 2010; Roland Links: »Walter Czollek, Verlagsleiter 1954 bis 1972« in: Simone Barck, Siegfried Lokatis: Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDR-Verlags Volk und Welt. Berlin 2005, S. 255ff. Joseph Starobin: 100 km durch Vietnam. Berlin (Ost) 1954; Gunther Stein: Amerika ist anders. Berlin (Ost) 1956; Derek Kartun: England zwischen gestern und morgen. Berlin (Ost) 1957; Wilfred G. Burchett: Korea kämpft für den Frieden, Berlin (Ost) 1953; ders.: An den Ufern des Mekong. Berlin (Ost) 1959; ders.: Land der Verheißung. Berlin (Ost) 1962; ders.: Partisanen contra Generale. Südvietnam 1964. Berlin (Ost) 1965; Alan Winnington: Die Sklaven der kühlen Berge. Berlin (Ost) 1961.

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Übersetzung als Erinnerung

Czollek selbst war studierte Historikerin. Ab Mitte der 1960er-Jahre erschienen bei Volk und Welt keine weiteren Übersetzungen mehr von ihr. Stattdessen publizierte sie von da an regelmäßig Artikel in historischen Fachzeitschriften, die sich mit deutscher Besatzungspolitik in der Sowjetunion beschäftigten. Ihre Doktorarbeit Faschismus und Okkupation: Wirtschaftspolitische Zielsetzung und Praxis des faschistischen deutschen Besatzungsregimes in den baltischen Sowjetrepubliken während des 2. Weltkriegs erschien 1974 in der Schriftenreihe des Zentralinstituts für Geschichte Berlin.35 Ebenfalls 1974 im Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte findet sich zu ihrem Artikel »Zur Vollendung der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus in den baltischen Sowjetrepubliken nach der Befreiung im Großen Vaterländischen Krieg« die folgende biografische Notiz: »Dr. Roswitha Czollek: Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Wissenschaftsbereichs Allgemeine Geschichte am Zentralinstitut für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR zu Berlin.«36 Ab Mitte der 1960er-Jahre war Czollek dann Berufshistorikerin im akademischen Betrieb der DDR. Wo und wie genau Roswitha Czollek ihre übersetzerischen Qualifikationen erlangte, ließ sich nicht erörtern. Sicher ist, dass sie für die Übersetzung des Buches von Russell in mehrfacher Hinsicht qualifiziert war: Sie hatte zum Zeitpunkt der Übersetzung ihren ersten Studienabschluss in Geschichte wohl bereits erlangt.37 Persönlich hatte sie selbst Verfolgungs- und Exilerfahrung, und sie hatte bereits eine Übersetzung aus dem Englischen veröffentlicht.

35

36 37

Roswitha Czollek: Faschismus und Okkupation: Wirtschaftspolitische Zielsetzung und Praxis des faschistischen deutschen Besatzungsregimes in den baltischen Sowjetrepubliken während des 2. Weltkriegs. Berlin (Ost) 1974. Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas, Bd. 18/1, Berlin 1974, S. 265. Eine weitere biografische Notiz im Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte von 1968 weist sie als »Diplomhistoriker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftsgeschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin« aus. (Akdademie der Wissenschaften der DDR, Institut für Wirtschaftsgeschichte: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Berlin (Ost) 1968, S. XI.) Wann genau sie ihr Diplom in Geschichte erlangt hat, konnte ich nicht feststellen. Die Vermutung liegt aber nahe, dass sie dies unmittelbar vor oder während ihrer Tätigkeit als Übersetzerin bei Volk und Welt tat. Sie war also zum Zeitpunkt ihrer Arbeit an Russels Übersetzung definitiv fachlich qualifiziert.

4. Lord Russell of Liverpools Scourge of the Swastika

4.3.3.

Der deutsche Text

Geißel der Menschheit ist eine hochgradig professionell angefertigte Übersetzung, die als Gesamttext den zeitgenössischen Normen für Sachbuchübersetzungen aus dem Englischen entspricht. Sowohl bei der Übersetzung selbst als auch im Lektoratsprozess wurde routiniert gearbeitet. Dennoch finden sich im Text allerhand Auffälligkeiten, die ihn nicht nur als Kommentar zu, sondern auch als Produkt der internationalen, gesellschaftlichen, historischen und juristischen Konflikte seiner Zeit ausweisen. Im Folgenden werde ich versuchen, Roswitha Czolleks übersetzerische Entscheidungen38 zu rekonstruieren und auf ihre Bedeutung für Produktion, Form und Rezeption des Textes zu untersuchen.

4.3.3.1

Recherche und Material

Die Übersetzung ins Deutsche eines englischsprachigen Buches zu den NSVerbrechen bringt einen hohen Rechercheaufwand mit sich. Czollek stand insbesondere vor der Aufgabe, originalsprachlich deutsche Titel, Begriffe, Bezeichnungen und Zitate, die für den englischen Text übersetzt worden waren, zu finden und korrekt im originalen Wortlaut zu verwenden. Russells Quellenmaterial bestand nach eigenen Angaben überwiegend aus Prozessprotokollen und Ermittlungsunterlagen aus den Nürnberger und den britischen KZ-Prozessen. Dies war ein Glücksfall für die Übersetzerin, da das Protokoll des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses in beiden Sprachen veröffentlicht zur Verfügung stand. Auch die Protokolle der britischen KZ-Prozesse zu Bergen-Belsen, Ravensbrück und Neuengamme existierten sowohl auf Englisch als auch auf Deutsch und hätten zumindest theoretisch eingesehen werden können. Es lässt sich nicht nachweisen, dass Czollek tatsächlich mit diesem Material gearbeitet hat, aber im Text finden sich immer wieder Indizien dafür. So zitiert Russell beispielsweise gleich zu Beginn des ersten Kapitels die englische Übersetzung der Formel für den Führereid für politische Leiter der NS-

38

Für die Zwecke meiner Übersetzungsanalyse subsumiere ich unter diese übersetzerischen Entscheidungen alle Entscheidungen, die zum gedruckten Text beigetragen haben, also auch die Lektoratsentscheidungen. Ich verfüge nicht über Archivmaterial, das mir erlauben würde, Roswitha Czolleks übersetzerische Entscheidungen von denen des Volk-und-Welt-Lektorats zu unterscheiden.

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Übersetzung als Erinnerung

DAP aus dem Organisationsbuch der NSDAP39 so, wie sie sich in den Unterlagen der amerikanischen Anklage und entsprechend an mehreren Stellen im englischsprachigen Prozessprotokoll findet: »I pledge eternal allegiance to Adolf Hitler. I pledge unconditioned [sic!] obedience to him and to the Führers appointed by him.«40 Im deutschsprachigen Prozessprotokoll findet sich die Originalformel aus dem Organisationsbuch an mehreren Stellen, und ebenso findet sie sich in Czolleks Übersetzung (DGDM, S. 17). Die Vermutung liegt nahe, dass Czollek sie aus den veröffentlichten Protokollen, die auch in der DDR in Bibliotheken vorhanden waren, entnommen hat. An zwei Stellen in Czolleks Text41 finden sich Rückübersetzungen aus dem Englischen, die mit einer Fußnote kenntlich gemacht sind: »Aus dem Englischen zurückübersetzt. (Der Verlag.)« (S. 168, 174). Beide Zitate werden Generalfeldmarschall Albert Kesselring zugeschrieben und im Zusammenhang mit der deutschen Besatzungspolitik in Italien erwähnt. Dass der Übersetzungsprozess hier mit Fußnoten transparent gemacht wird, während der Text sonst keine Quellenangaben enthält, lässt darauf schließen, dass die Rückübersetzung aus dem Englischen im deutschen Text einen Ausnahmefall darstellte. Mit der Kenntlichmachung der Rückübersetzung kommuniziert der Verlag darüber hinaus, dass die übrigen Zitate im Zuge der Übersetzungstätigkeit geprüft und in ihrem originalen Wortlaut verwendet wurden. Soweit sich dies verifizieren ließ, scheint das auch der Fall gewesen zu sein.

4.3.3.2

Fachkenntnisse und übersetzerische Routine

Im ganzen Text finden sich Hinweise darauf, dass Czollek bei der Arbeit an Russels Buch professionell und routiniert recherchiert hat und neben übersetzerischer Praxis auch über profunde Fachkenntnisse verfügte. So verwendet sie beispielsweise auf S. 27 bei der Beschreibung des Angriffs auf den Sender Gleiwitz das korrekte Deckwort »Konserven« und versucht nicht etwa, den von Russel im Original (S. 12) verwendeten Begriff »canned goods« anders zu übersetzen. Auch verwendet sie in den Kapiteln zu den Konzentrationslagern

39 40

41

Rusell: The Scourge of the Swastika, London 1954, S. 5. Im Folgenden »TSOTS«. Das Original findet sich in: Robert Ley (Hg.): Organisationsbuch der NSDAP, München 1943, S. 16. Nazi Conspiracy and Aggression, Volume IV, Document No. 1893-PS, Office of the United States Chief Counsel for Prosecution of Axis Criminality, Washington, DC, United States Government Printing Office, 1946. Im englischsprachigen Prozessprotokoll wird der Satz mit »unconditional« wiedergegeben. Russell: Geißel der Menschheit, Berlin (Ost) 1955. Im Folgenden »DGDM«.

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und dem Judenmord die Begriffe und Wendungen, die im KZ-System und für dessen Beschreibung nach dem Krieg im Deutschen üblich waren und lässt sich nicht von mehrdeutigen englischen Ausdrücken beirren. Dies lässt sich anhand von Czolleks Übersetzung eines einzelnen Satzes beispielhaft gut zeigen. Im Unterkapitel zu Buchenwald findet sich im Original der Satz »In many factories where parties from concentration camps worked, the technicians were not members of the armed forces and the foremen were not SS men.« (TSoTS, S. 183). Czollek gibt ihn folgendermaßen wieder: »In vielen Fabriken, in denen Arbeitskommandos aus den Konzentrationslagern eingesetzt waren, gehörten die Techniker und die Ingenieure nicht der Wehrmacht an, und die Vorabeiter waren keine SS-Leute.« Im Sprachgebrauch des KZ-Systems wurden Gruppen von Häftlingen, die Zwangsarbeit leisten mussten, als »Arbeitskommandos« oder kurz »Kommandos« bezeichnet und wurden »eingesetzt« oder befanden sich im »Arbeitseinsatz«. Diese Formulierungen aus der SS-Bürokratie durchdringen die schriftlichen (täterseitigen) Quellen zum KZ-System stark. Darüber hinaus haben sie die Erfahrungen von Überlebenden und anderen ZeitzeugInnen sprachlich geprägt und vorstrukturiert. Das führt dazu, dass sie im deutschsprachigen Diskurs zu den NS-Lagern immer hegemonial waren und das bis heute sind, obwohl sich konkretere und weniger neutrale Formulierungen aus dem semantischen Bereich »Zwangsarbeit« durchaus auch hätten durchsetzen können. Dass Czollek sich für keine der möglichen anderen Übersetzungen von »where parties from concentration camps worked« entscheidet, sondern die in der juristischen Aufarbeitung und der deutschen Historiografie üblichen Formulierungen wählt, zeigt, dass sie mit dem Diskurs zu den NS-Verbrechen intim vertraut ist. Auch dass sie »armed forces« nicht als »Streitkräfte« oder ähnliches übersetzt, sondern sich für die »Wehrmacht« entscheidet, legt diese Interpretation nahe. Weitere Beispiele für diese Fachkenntnis finden sich im gesamten deutschen Text.42

42

So auf S. 29, wo im Original (S. 14) vom »Gauleiter of Riga« die Rede ist, Czollek aber »Generalkommissar für Weißruthenien« schreibt, weil dies der tatsächliche Titel des hier gemeinten NS-Funktionärs Wilhelm Kube war. Ein weiteres deutliches Beispiel findet sich auf S. 350, wo Czollek Russels Formulierung »a small hut« mit der für den KZ-Kontext korrekten Bezeichnung »Baracke« übersetzt und sich gegen die anderen Möglichkeiten »Hütte« oder »Häuschen« entscheidet. Weitere solche Beispiele ließen sich zahlreich finden, die hier aufgezählten sollen aber zur Illustration von Czolleks Fachkompetenz genügen.

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Übersetzung als Erinnerung

Auch bei der Übertragung idiomatischer Wendungen beweist Czollek immer wieder großes übersetzerisches Geschick. Im Original schreibt Russell, ebenfalls im Abschnitt zum KZ Buchenwald, über die mangelnde Verschwiegenheit des KZ-Personals: »The bully is ever a braggart.« Czollek gibt dies auf S. 268 in ähnlich manieriertem Ton als »Der Menschenschinder ist stets ein Prahlhans« wieder. Etwas weiter im Text beschreibt Russell Willi Dreimann43 im Verhältnis zu seinem Vorgesetzten Thumann als »a lesser figure, but not a lesser scoundrel«. Czollek macht daraus elegant »ein Schurke von geringerem Format, aber nicht geringerer Bösartigkeit« (S. 276). Auch an Stellen, an denen Russell von der sachlichen Aufzählung von Verbrechen abweicht und einen emotionaleren, teilweise etwas archaisierenden Stil verwendet, produzieren Czolleks Entscheidungen also einen äquivalenten deutschen Text, der nicht gegen gültige Normen des Stilempfindens und der Idiomatik des Deutschen verstößt. Auch Russels populistische, teilweise sarkastische Töne übernimmt Czollek in ihrem deutschen Text. Diese Stilmittel setzt Russell vor allem ein, wenn er den wahnhaften und verbrecherischen Charakter des NS-Regimes, seiner militärischen und zivilen Organe und seiner Ideologie über die von ihm beschriebenen Verbrechen hinaus betonen möchte.44

4.3.3.3

Übersetzungsfehler

Manifeste Übersetzungsfehler finden sich durchaus auch in Czolleks Text, vor allem auf der lexikalischen und idiomatischen Ebene, sowie gehäuft in ganz bestimmten semantischen Kontexten. Czollek übersetzt beispielsweise auf S. 14 »That is the law of the jungle« wörtlich mit »Das ist das Gesetz des Dschungels«, anstatt die äquivalente deutsche Wendung »das Recht des Stärkeren« zu wählen. Und in einem Absatz über medizinische Experimente in Dachau entscheidet sie sich wieder für eine wörtliche Übersetzung: »Hier wurden die sogenannten medizinischen Experimente an Hunderten von Gefangenen durchgeführt, die man als menschliche Meerschweinchen benutzte« (S. 270), anstatt das übliche deutsche Idiom »Versuchskaninchen« 43

44

Rapportführer im KZ Neuengamme und an den Morden am Bullenhuser Damm beteiligt, siehe Wolfgang Kaienburg: Das Konzentrationslager Neuengamme 1938-1945. Bonn 1997, S. 218f. So beispielsweise auf S. 331, wo er ohne Quellenangabe aus Ernst Hiemers antisemitischem Kinderbuch Der Giftpilz zitiert, dem er fälschlicherweise den Titel »Poisonous Fingers« zuschreibt. Seine Analyse des Textes beginnt mit dem Ausruf »Poisonous Fingers? Poisonous fiddlesticks!« Hier übernimmt Czollek zuerst den falschen Titel und übernimmt dann auch den exklamatorischen Stil: »Giftige Finger? Giftiger Blödsinn!"

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zu verwenden. Ebenfalls auf S. 270 findet sich die wörtliche Übersetzung »… alle Deutschen, die Augen zum Sehen und Ohren zum Hören hatten, können kaum im Zweifel über die Verbrechen gewesen sein …« für die englische Wendung »who had eyes to see and ears to hear«. Auf der lexikalischen Ebene finden sich Fehler wie der Begriff »Torweg« für das englische »doorway« (S. 147), das korrekterweise mit »Eingang« oder »Hauseingang« übersetzt werden müsste. Die falsche Übersetzung von alltäglichen idiomatischen Wendungen und Begriffen wie »doorway« oder »the law of the jungle« deutet darauf hin, dass Roswitha Czollek, wie die meisten ihrer KollegInnen in Ost- und Westdeutschland der 1950er-Jahre, ihre englischen Sprachkenntnisse nicht durch intensive, regelmäßige Praxis in einem muttersprachlichen Kontext, sondern mehr oder weniger ausschließlich durch Unterricht in der Schule erworben hat. Auch dass diese Fehler im Lektorat nicht ausgebessert wurden, liegt höchstwahrscheinlich daran, dass es im Lektorat von Volk und Welt keine Routine bei der Arbeit mit Übersetzungen aus dem Englischen gab. Derartige Fehler sind also keine Auffälligkeit, kein spezifisches Charakteristikum von Czolleks Übersetzung, sondern typisch für Übersetzungen aus dem Englischen ins Deutsche in beiden deutschen Staaten in den 1950er-Jahren. Sehr ähnliche Fehler finden sich auch in der Übersetzung von Bullocks Buch bei den Pferdekamps (siehe S. 98). Zwei semantische Felder, in denen auffällig häufig inhaltliche Fehler in der Übersetzung entstehen, sind die christliche religiöse Praxis45 und die deutsche Besatzung Italiens.46 Dass in diesen Zusammenhängen immer wieder Übersetzungsfehler entstehen, deutet darauf hin, dass Roswitha Czollek und das Lektorat bei Volk und Welt weder mit Italien und speziell der jüngeren italienischen Geschichte noch mit kirchlichen Themen besonders vertraut waren. Weitere mögliche Interpretationen dieser Fehler sind, dass die Recherchemöglichkeiten zu diesen Themen in der DDR der 1950er-Jahre 45

46

Beispielsweise findet sich in der Übersetzung auf S. 165 der Begriff »Kommunionsbank« statt »Abendmahltisch« für das englische »communion table«; auf S. 231 wird der Kommandant des Außenlagers Schandelah als ehemaliger »Laienprediger« (engl. »lay preacher«) bezeichnet, der tatsächlich Mitglied der Schleswig-Holsteinischen Brüderschaft, also in der lutherischen inneren Mission tätig war. So finden sich auf S. 168 die unüblichen Bezeichnungen »Nationalregierung« für die italienische Militärregierung unter Badoglio und »republikanische Regierung« für Mussolinis Italienische Sozialrepublik. Auf S. 178 dann die fehlerhaft aus dem englischen übernommene Bezeichnung »Provinz Venezia« für die Provinz Venedig.

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Übersetzung als Erinnerung

eingeschränkt waren und aus politischen Gründen kein Zugang zu verlässlichen Nachschlagewerken bestand. Außerdem muss man angesichts der mangelnden Recherche zu diesen Themen auch von einem gewissen Maß an aktivem Desinteresse an den Themen zumindest im »übersetzerischen Unbewussten«47 sowohl bei Roswitha Czollek als auch im Lektorat ausgehen.

4.3.3.4

Interpretative Abweichungen

Von deutlich größerer Bedeutung für meine Untersuchung sind aber die inhaltlichen Verschiebungen zwischen Original und Übersetzung, also die interpretative Differenz in Quelltext und Zieltext. Zu weiten Teilen wird diese Differenz von den »Regeln des Sagbaren«48 bestimmt. Die Frage, welche Codes oder Regeln bestimmt haben, was in Czolleks Text stehen konnte und was nicht, ist nicht nur die Frage nach den historischen, ökonomischen, sprachlichen und politischen Bedingungen, unter denen er entstanden ist, sondern sie schließt auch Fragen nach Czolleks übersetzerischem Unbewussten ein. Dieser »Rest der Differenz« (Venuti) im Zieltext, ebenso wie die konkrete, im Vergleich feststellbare Differenz zum Originaltext, erscheint vor allem in drei Eigenschaften der Übersetzung: in der interpretativen Abweichung vom Original, in Auslassungen und Hinzufügungen. Bei den interpretativen Abweichungen, die sich in Czolleks Text finden, lässt sich eine wenig überraschende Tendenz identifizieren: Wo Russells Text Deutschland als Nation gegenüber eindeutig anklagende Töne anschlägt und explizit wenig zwischen den Nazis und einer Gesamtheit der Deutschen differenziert, entschärft oder relativiert Czollek diese Haltung immer wieder. Zwei Beispiele auf S. 11 übersetzt Czollek »During the Second World War, however, war crimes were committed by the Germans on an unprecendented scale« mit »… wurden von deutscher Seite Kriegsverbrechen in einem noch nicht dagewesenen Ausmaß begangen.« Aus »the Germans« wird hier das viel weniger konkrete und inklusive »von deutscher Seite«. Und auf S. 361 wird ganz konkret aus dem englischen »The murder by the Germans of over five million European Jews« das deutsche »Die Ermordung von mehr als fünf Millionen europäischer Juden durch die Nazis«. Diese Tendenz, die Schuld an den deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs, wie sie in englischen Texten beschrieben werden, in der Übersetzung »den Nazis«, »dem Hitlerregime« oder 47 48

Venuti, Lawrence: »The Difference Translation Makes, or: The Translator’s Unconscious« in ders.: Translation Changes Everything. Theory and Practice. London 2013, S. 32. Landwehr, S. 123.

4. Lord Russell of Liverpools Scourge of the Swastika

anderen Teilsegmenten der deutschen Gesellschaft zu- und einzuschreiben, findet sich fast gesetzmäßig in Übersetzungen aus dem Englischen bis in die späten 1990er-Jahre. Schon im Prolog wird aus der englischen Formulierung »That the German people did not all yield easily or willingly accepted the Nazi doctrine and programme, is not disputed« das deutsche »Daß das deutsche Volk in seiner Gesamtheit nicht ohne weiteres nachgab und die Nazidoktrin und das Naziprogramm nicht bereitwillig akzeptierte, wird nicht bestritten« (S. 12f). Hier wird die Betonung des Satzes von »allen«, also von den individuellen Mitgliedern der deutschen Bevölkerung, auf das deutsche Volk »in seiner Gesamtheit« verschoben. Der Satz deutet zwar in beiden Sprachen an, dass am Ende des geschilderten Prozesses ein deutsches Kollektiv steht, das schlussendlich die NS-Doktrin akzeptiert. Gleichzeitig legt Russels Version eher die Vorstellung von einzelnen nahe, die gegen den Nationalsozialismus opponierten, während Czolleks Version eine eindeutige Ablehnung jeglicher KollektivschuldVorstellungen zu beinhalten scheint. Eine solche Interpretation des Verhältnisses der deutschen Bevölkerung zum nationalsozialistischen Regime deckt sich mit der Linie der DDR-Führung, die sich in der Tradition des kommunistischen Widerstands sah und für diesen immer auch eine breite Basis in der deutschen Bevölkerung beanspruchte, den er in der Realität nie gehabt hatte. Diese leichten Abschwächungen des anklagenden Tons gegenüber einem Kollektiv der Deutschen durch Czollek fällt aber im Gesamtkontext der Übersetzung kaum auf. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sie Russels teilweise scharfen und an manchen Stellen gar sarkastischen Ton überall dort ohne jede Einschränkung übernimmt, wo sich der anklagende Duktus gegen Organe und Organisationen des nationalsozialistischen Regimes richtet. Russell macht explizit auch die Wehrmacht für NS-Verbrechen verantwortlich, und Czollek übernimmt diese Position, die in einem westdeutschen Text aus derselben Zeit äußerst unüblich gewesen wäre: Der Absatz »Und wie wurden diese verbrecherischen Pläne ausgeführt? Das deutsche Oberkommando und der Generalstab können sich nicht aller Verantwortung entziehen.« (S. 14; EN: »… cannot escape all responsibility.«) ist ein expliziter Bezug auf das Urteil von Nürnberg, in dem die Wehrmacht nicht als verbrecherische Organisation eingestuft worden war. Im weiteren Textverlauf, insbesondere in Kapitel IV, »Misshandlung und Ermordung der Zivilbevölkerung im besetzten Gebiet« wird immer wieder impliziert oder explizit dargestellt, dass die Wehrmacht an Verbrechen be-

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Übersetzung als Erinnerung

teiligt war. Gerade an Stellen, wo Russell im Original diesen Zusammenhang nur andeutet, wäre es ein Leichtes gewesen, die Implikation der Wehrmacht in die geschilderten Verbrechen übersetzerisch zu verschleiern, aber Czollek übernimmt diesen Gestus. Ein Beispiel dafür ist die Beschreibung von Verbrechen des Besatzungsregimes in Belgien in Kapitel IV, die mit folgendem Satz beginnt: »In Belgien erreichten die Verbrechen deutscher Truppen an Zivilisten […] im September 1944 ihren Höhepunkt.« (S. 144, EN: »… the crimes committed by German troops against civilians … ») Natürlich hätte es sich bei »deutschen Truppen« auch um Einheiten der Waffen-SS handeln können, aber die naheliegendere Interpretation ist doch, dass es vorwiegend reguläre Wehrmachtseinheiten waren, die diese Verbrechen begingen. Russell erwähnt die Verwendung von Dum-Dum-Geschossen durch deutsche Soldaten und dass ihnen hätte bewusst sein müssen, dass dies kriegsrechtswidrig war, weil es in ihrem Soldbuch stand. Damit ist klar, dass hier von Angehörigen der Wehrmacht die Rede ist (S. 144 f). Darauf folgt die Beschreibung eines Massakers an gefangenen Mitgliedern des belgischen Widerstands, in der wieder ausschließlich von »Deutschen« die Rede ist (S. 145). Erst bei der dritten Schilderung eines Verbrechens, eines Massakers im belgischen Dorf Bande, wird dann wieder explizit zwischen Wehrmacht, Waffen-SS, SD und Gestapo unterschieden: »Diese Soldaten, die der Wehrmacht angehörten, benahmen sich ordentlich und es kam zu keinerlei Zwischenfällen.« (S. 145 f; EN: »These soldiers, who belonged to the Wehrmacht, were well behaved and gave no trouble.«)

4.3.3.5

Einfügungen

Auslassungen und Einfügungen in der Übersetzung sind die deutlichsten Manifestationen der interpretativen Differenz zwischen Original und Übersetzung. Im Fall von Czolleks Russell-Übersetzung sind sie auch die deutlichsten Marker der politischen und gesellschaftlichen Codes, die das in dieser historischen Situation Sagbare und Zu-Sagende bestimmen. Und es sind die Auslassungen und Einfügungen, anhand derer sich die Konfliktlinien des Kalten Krieges am sichtbarsten in den deutschen Text einschreiben. Geißel der Menschheit enthält zehn Fußnoten mit zusätzlichen Angaben, die sich im Originaltext nicht finden (S. 35, S. 171, zweimal S. 85, S. 88, 89, 171, 188, 189, 277) sowie zwei Fußnoten, die sich in ihrem Informationsgehalt deutlich von ihren Äquivalenten im Original unterscheiden (S. 53, 202). Diese sind sämtlich mit »Der Verlag« bzw. »Anmerkung des Verlags« als Hinzufü-

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gungen gekennzeichnet, es findet also keine verdeckte interpretative Umformung des Originals durch die hinzugefügte Information statt. Sie sind, da sie nicht mit »Die Übersetzerin« gekennzeichnet sind, nicht im strikten Sinne Teil von Czolleks Russell-Übersetzung, sondern konkret als Produkte der verlagsseitigen Lektoratsarbeit markiert. Da aber im Sinne dieser Arbeit das veröffentlichte zielsprachliche Werk als die Übersetzung des Originals verstanden wird, gehören diese Äußerungen des Verlags auch essentiell zum Werk. In sieben der zehn Fälle enthalten diese Fußnoten Informationen über Nachkriegsbiografien von im Text erwähnten Tätern, die zum Zeitpunkt, als Russells Buch in der DDR erschien, in der BRD lebten. Die Fußnoten fügen dem Text eine zusätzliche Ebene der Skandalisierung und Anklage an die BRD hinzu, die dem Original fehlt. Auf S. 53 wurde die Fußnote über die Verurteilung des Kriegsverbrechers Nikolaus von Falkenberg zu lebenslanger Haft um die Information über seine frühzeitige Entlassung aus der Haft ergänzt. Auch die Verlags-Fußnote zu Otto Wöhler auf S. 89 weist auf die frühzeitige Entlassung eines verurteilten Kriegsverbrechers hin. Auf S. 85 wurden in Fußnoten Informationen zu gleich zwei hohen Wehrmachtsgenerälen, Alexander von Falkenhausen und Erich von Manstein, eingefügt. Über Falkenhausen schreibt Russell, dass dieser als Militärbefehlshaber von Belgien gegen Geißelerschießungen eingeschritten sei. Der Verlag fügt nun in der Fußnote die Information hinzu, dass Falkenhausen »1954 in einem Interview mit einem amerikanischen Korrespondenten« ein militärisches Vorgehen gegen die »Länder, die im 2. Weltkrieg der Naziaggression zum Opfer fielen« gefordert hatte. Russells Original und Czolleks Übersetzung betonen bereits das geringe Gewicht von Falkensteins Widerstandsleistung,49 der Verlag aber will seine LeserInnen zusätzlich darüber informieren, dass der ehemalige Wehrmachtsgeneral in der BRD öffentlich als Kalter Krieger auftrat. Die Fußnote zu General Manstein, ebenfalls auf S. 85, erwähnt neben seiner Verurteilung als Kriegsverbrecher zu 18 Jahren Haft und seiner frühzeitigen Entlassung auf Veranlassung hoher britischer Stellen auch seine Beratertätigkeit für die Adenauer-Regierung und betont darüber hinaus den feudalen Lebensstil, den Manstein nach seiner Haftentlassung pflegte: »Seit seiner Freilassung residiert er auf dem Schloß Freiberg in Allmendingen.« 49

»Es ist bezeichnend, daß […] die Einwände des Generals von Falkenhausen gegen die Geiselerschießungen in Belgien nicht aus Gründen der Humanität oder im Interesse der Gesetzlichkeit, sondern aus reinen Zweckmäßigkeitserwägungen erfolgte.« S. 85.

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Die Fußnote zu Generalfeldmarschall von Leeb auf S. 88 findet sich auch in Russells Original, sie wird aber bei Volk und Welt um die Information erweitert, dass Leeb das Geleitwort für den »Deutschen Soldaten-Kalender 1955« geschrieben und darin die Hoffnung auf Kontinuitäten zwischen der Wehrmacht und der neu gegründeten Bundeswehr ausgedrückt hätte.50 In eine ähnliche Richtung geht die vom Verlag auf S. 171 hinzugefügte Fußnote zum obersten SS- und Polizeiführer Karl Wolff, der im Text nur am Rande als Befehlsempfänger von Generalfeldmarschall Kesselring erwähnt wird. Hier werden die LeserInnen darüber informiert, dass Wolff in der Bundesrepublik 1953 »als Mitbegründer einer neuen Rechtspartei« in Erscheinung getreten war. Auf S. 35 wiederum besteht der Bezug auf die (west-)deutsche Gegenwart bereits, wenn Russell über »Stahlhelmtreffen« in »Deutschland« schreibt, auf denen SS-Apologeten auftreten. Hier fügt der Verlag in der Fußnote lediglich Informationen zur Organisation Stahlhelm hinzu und macht damit implizit deutlich, dass es hier nur um westdeutsche Verhältnisse gehen kann. Dass in der DDR keine Stahlhelmtreffen und im weiteren Sinne damit keine Apologie der Waffen-SS stattfanden, hält der Verlag nicht einmal für erwähnenswert. Sowohl die Information über die Milde der westdeutschen Justiz gegenüber verurteilten Kriegsverbrechern als auch die Andeutungen von erwünschten ideologischen und kulturellen Kontinuitäten zwischen dem NS-Regime und der BRD geben dem Text eine zusätzliche anklagende Dimension, die ausschließlich gegen die BRD als Nachfolgestaat des nationalsozialistischen Deutschlands gerichtet ist. Diese Tendenz wird vom Verlag aber nicht massiv bemüht, sondern der Übersetzung eher subtil hinzugefügt. Insgesamt ist die zusätzliche Textmenge keineswegs groß, und es wurde offensichtlich darauf geachtet, dass überwiegend Informationen hinzugefügt wurden, die Russell beim Schreiben des Originals noch nicht zur Verfügung gestanden haben konnten. Zudem hatte der Verlag Russell im Zuge des Lektoratsprozesses schriftlich um Erlaubnis gebeten, zusätzliche Fußnoten in den Text einzufügen. Der Autor hatte Volk und Welt diese Erlaubnis unter der Voraussetzung,

50

»Von Leeb, der wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu drei Jahren Haft verurteilt wurde, gab in seinem Geleitwort für den ›Deutschen Soldaten-Kalender 1955‹ der Hoffnung Ausdruck, daß die ›neue junge Truppe … von dem gleichen Geist beseelt sein möge, wie die Soldaten, die in den zurückliegenden beiden Weltkriegen die Waffen getragen haben‹.« S. 88.

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dass diese Fußnoten als Anmerkungen des Verlags kenntlich gemacht wurden, explizit gegeben.51 Auf den Seiten 188 und 189, auf denen es um die Frage der Gültigkeit des Völkerrechts für die Sowjetunion geht, hat der Verlag zwei Anmerkungen eingefügt. Diese sollen Russells Aussage stützen, das Völkerrecht und damit die Haager Landkriegsordnung habe entgegen anderslautenden deutschen Behauptungen durchaus für die Sowjetunion Gültigkeit gehabt. Russell führt an, dass die niederländische Regierung bereits 1939 »allen in Frage kommenden Staaten, darunter dem Deutschen Reich, eine Liste der Signatarmächte« der Haager Landkriegsordnung übersandt hatte, auf der auch die Sowjetunion aufgeführt wurde. Die Verweise, die Volk und Welt dem noch hinzufügt, gelten jedoch ausschließlich für die Zeit nach 1945 und zeigen nur, dass das Völkerrecht und die Haager Konvention zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buches in der DDR, also 1955, für die Sowjetunion galten: »In einer Note an die Regierung der Niederlande hat die Sowjetunion am 7. März 1955 noch einmal ausdrücklich bekräftigt, daß sie die von Russland ratifizierten Haager Konventionen und Deklarationen anerkennt. (Der Verlag.)« (S. 189). Diese Affirmation der internationalen Einbindung der Sowjetunion könnte allerdings durchaus auch ein Phänomen des Chrustschow’schen Tauwetters und der einsetzenden Entstalinisierung gewesen sein. Wie spannungsreich das Thema der Gültigkeit des Völkerrechts in der Sowjetunion zwischen Original und Übersetzung ist, zeigt sich auch noch einmal sehr deutlich bei der Diskussion der Auslassungen weiter unten (siehe S. 140). Eine weitere auffällige Einfügung findet sich gleich zu Anfang des deutschen Buches: eine fünf Absätze lange Textsequenz auf den Seiten 10/11 über den 1915 veröffentlichten Bericht eines Untersuchungsausschusses der britischen Regierung zu deutschen Verbrechen in Belgien und Frankreich in der Frühphase des Ersten Weltkriegs. Der Stil deutet an mehreren Stellen darauf hin, dass auch diese Textsequenz aus dem Englischen übersetzt ist und nicht von MitarbeiterInnen von Volk und Welt originalsprachlich auf Deutsch verfasst wurde. So heißt es auf S. 10: »Sie stellten fest, daß Offiziere der deutschen Armee im Rahmen einer Terrorisierungskampagne Plünderung, Brandstiftung und mutwilliges Zerstören von Eigentum befahlen […].«

51

Schreiben von Russell an Volk und Welt, 13. Juni 1955 (bei Volk und Welt angefertigte Übersetzung): »Ich bin mit der Einfügung von extra Fußnoten einverstanden, vorausgesetzt, dass betont wird, wie in Ihrem Briefe angegeben, daß es sich um Anmerkungen des Verlages und nicht um meine handelt.« ADK, Archiv Volk und Welt, 2260.

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Übersetzung als Erinnerung

In einem muttersprachlich verfassten deutschen Text wäre wahrscheinlich der offizielle Begriff »Deutsches Heer« statt des falschen Freundes »deutsche Armee« verwendet worden. Außerdem wäre bei einem muttersprachlichen Text sicherlich das Plusquamperfekt »befohlen hatten« verwendet worden. Diese fünf Absätze finden sich weder in der englischen Originalausgabe von 1954 noch in der 2002 erschienenen Neuauflage. Ob es sich hierbei um zusätzlichen Text von Russell handelt, den er für die deutsche Ausgabe eigens verfasst hat, ließ sich im Verlagsarchiv von Volk und Welt nicht überprüfen, da dazu keinerlei Korrespondenz oder Aktenvermerke vorlagen. Diese Sequenz wurde genau an der Stelle eingefügt, an der im Original betont wird, dass die Deutschen zwar auch im Ersten Weltkrieg Verbrechen verübt hatten, diese aber weder dieselbe Qualität noch denselben systematischen Charakter hatten wie die deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs. Damit deutet die Übersetzung mit dieser Einfügung eine kriminelle Kontinuität des deutschen Militarismus an, die zur offiziellen DDR-Interpretation passt: Die Generalität der Wehrmacht repräsentierte die »Junkerkaste« und gehörte in dieser Interpretation somit zu den Hauptverantwortlichen der deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Mit dem Verweis auf die Traditionslinien und Kontinuitäten innerhalb des deutschen Militärs wird hier die im Original klare Abgrenzung der NS-Verbrechen gegen militärische Exzesse im Ersten Weltkrieg relativiert und speziell der Generalität zugeschrieben. (Auf den im Zusammenhang mit deutschen Verbrechen in Belgien im Ersten Weltkrieg häufig erwähnten »Furor Teutonicus« geht die eingefügte Textsequenz mit keinem Wort ein.) Insgesamt wird deutlich, dass die Einfügungen durch Volk und Welt den Text inhaltlich und formal klar im Konfliktdiskurs des Kalten Krieges positionieren. Sie sollen ihn als diskursives Instrument der DDR in der Systemkonkurrenz in Stellung bringen, mithilfe dessen das »Erbe« des Nationalsozialismus, die Verantwortung für die deutschen Verbrechen, der BRD zugeschrieben werden kann. Eines der zentralen Anliegen von Russells Originaltext war es, deutlich zu machen, dass die Verantwortung für die deutschen Verbrechen nicht nur bei einigen wenigen »Hauptkriegsverbrechern« lag, sondern bei einem großen Teil der deutschen Bevölkerung. Genau diese Haltung war es, die das Original zum Objekt der Konflikte des Kalten Krieges werden ließ. Auch Hinweise auf den auffällig gnädigen Umgang der BRD-Justiz mit NSVerbrechern finden sich in Russells englischem Text, wenn auch in deutlich

4. Lord Russell of Liverpools Scourge of the Swastika

geringerem Umfang als in der Übersetzung.52 Die aufklärerische und anklagende Haltung bleibt zwar in der Übersetzung bestehen und wird keineswegs relativiert oder abgemildert, es wird dem Text aber eine leichte DDRÜberformung eingeschrieben. Indem der deutsche Text, historisch korrekt, die unangemessene Milde der BRD-Justiz gegenüber NS-Verbrechern betont, macht er deutlich, dass die Verantwortung für die NS-Verbrechen überwiegend in dem Teil Deutschlands zu suchen ist, der durch die BRD repräsentiert wird.

4.3.3.6

Auslassungen

Ebenso wie Einfügungen sind auch Auslassungen standardmäßiger Bestandteil jeder Übersetzung. Gleichzeitig sind die übersetzerischen Entscheidungen für Auslassungen, genau wie Entscheidungen für Einfügungen, starke Indikatoren für die »Codes des Sagbaren«. Auslassungen können anzeigen, was im zielsprachlichen Kontext nicht gesagt werden kann, soll oder muss. In vielen Fällen sollen die Auslassungen schlicht Redundanzen vermeiden, wo das Original Informationen zu Kultur oder Gesellschaft des Zielkontexts enthält, oder sie entstehen durch übersetzungsökonomische Überlegungen in Fällen, in denen Konstruktionen im Original im Zielkontext zu erklärungsbedürftig würden. Es ist nicht immer leicht, genau zu unterscheiden, welche Auslassungen lediglich solchen Kriterien geschuldet sind und welche durch politische oder gesellschaftliche Regeln, Codes oder Interessen entstehen. Im Folgenden möchte ich kurz zwei Stellen diskutieren, bei denen beide Erklärungsmuster möglich wären. Zwei Mal lässt Czollek Analogien wegfallen, die Russell im Original verwendet hatte, um Spezifika des NS-Systems zu erklären, und beide Analogien verweisen direkt auf kulturelle Praktiken der

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Das Original enthält genau eine Fußnote, die auf diese systematische Milde eingeht. Dabei handelt es sich aber um einen Fall, in dem die britischen Behörden die entscheidende Rolle spielten: den des Kriegsverbrechers Albert Kesselring, der für Geißelerschießungen und Massaker in Italien verantwortlich war. Kesselring war von einem britischen Militärgericht zum Tode verurteilt worden. Dieses Urteil wurde in lebenslängliche Haft umgewandelt und Kesselring wurde in einem britischen Militärgefängnis in Westdeutschland gefangen gehalten und aus diesem schließlich in einem Gnadenakt im Vorfeld der Gründung des westlichen Verteidigungsbündnisses von den britischen Behörden entlassen. Die von Russell in der Fußnote auf S. 114 des Originals beschriebene unangemessene Milde ging also von britischen und nicht westdeutschen Behörden aus. Allerdings verweist auch Russell im Original bereits auf die anschließende Karriere Kesselrings als Vorsitzender des Veteranenverbandes »Stahlhelm« in der BRD.

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Übersetzung als Erinnerung

britischen Oberschicht. Die Gründe für die Auslassungen könnten also sowohl im (angenommenen) Unwissen der intendierten Leserschaft bezüglich dieser spezifischen Praktiken liegen als auch im politischen Unwillen eines DDRVerlags, Praktiken der aristokratischen Oberschicht Großbritanniens durch Reproduktion zu affirmieren: Auf S. 36 fehlt eine Cricket-Analogie, mit der Russell den Unterschied zwischen der Allgemeinen SS und der Waffen-SS illustriert,53 und auf S. 260 fehlt eine Anspielung auf das britische Public-School-System, mithilfe derer das System der Funktionshäftlinge in den deutschen Lagern erklärt werden soll.54 Die Cricket-Analogie verweist auf einen sportlichen Ausdruck der britischen Klassengesellschaft: Im Cricket-Match Gentlemen v Players traten bis Mitte des 20. Jahrhunderts Cricketprofis, die Players, gegen Amateurspieler aus der britischen Oberschicht, die Gentlemen, an. Russell impliziert hier, dass in der Waffen-SS vor allem das Kriegshandwerk eine Rolle spielte und durchaus auch Vertreter des Bürgertums und des Adels in ihren Einheiten zu finden waren, also ein gewisser Rest von bürgerlichen oder soldatischen Tugenden erhalten geblieben war. Für die Allgemeine SS dagegen, die sich Russell zufolge vor allem aus Mitgliedern der unteren Bevölkerungsschichten zusammensetzte, galten keinerlei solcher Regeln mehr, und deshalb war das Verbrechen auch Teil ihrer Bestimmung. Die Entscheidung Czolleks, diese Analogie einfach wegfallen zu lassen, fußt höchstwahrscheinlich auf der (korrekten) Annahme, dass weder das Ligensystem des Cricket noch die Feinheiten des britischen Klassensystems einer deutschen Leserschaft vertraut genug waren, um diesen Vergleich im Deutschen nutzbar machen zu können.55 Der Vergleich der Funktionshäftlinge in den deutschen KZs mit den prefects in britischen

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Russell: »The professional criminals were the Allgemeine SS, the Gestapo, and the SD. Although the simile sounds singularly inappropriate and not a little distasteful, it would be correct to say that the Waffen-SS were the Gentlemen and the others were the Players.« (Original, S. 19) Dieser Absatz wird bei Czollek zu einem einzelnen, kurzen Satz: »Die Berufsverbrecher waren die Allgemeine SS, die Gestapo und der SD.« (S. 36) Russell: »The camp was staffed like any other, the master and prefect system being used […].« (Original, S. 178) Czollek: »Das Lager hatte dieselbe Verwaltungsstruktur wie alle anderen […].« (S. 260). Sicherlich wäre ein solcher positiver Bezug auf die britische Oberschicht in der DDR auch politisch nicht opportun gewesen, aber der Hauptgrund für die Auslassung liegt trotzdem im fehlenden Äquivalent und damit der mangelnden Verständlichkeit der Analogie für eine deutsche Leserschaft.

4. Lord Russell of Liverpools Scourge of the Swastika

Public Schools wiederum findet sich auch in britischen KZ-Prozessakten.56 Anscheinend war er für Mitglieder der britischen Oberschicht (aus denen sich der Rechtsapparat überwiegend rekrutierte) naheliegend und einleuchtend. Für deutsche LeserInnen der 1950er-Jahre fehlten dieser Analogie jedoch mit großer Sicherheit die Referenzpunkte, die sie hätten nutzbar machen können, was höchstwahrscheinlich der Grund war, warum Czollek sie wegfallen ließ. Insgesamt liegt für beide hier angeführten Stellen die Interpretation sehr viel näher, dass sich die Übersetzerin aus übersetzungsökonomischen Gründen für die Auslassungen entschieden hat, als dass sie durch irgendwelche politischen Codes bestimmt worden wären. Ganz anders verhält es sich bei anderen Auslassungen in Czolleks Text. An mehreren Stellen weist der deutsche Text im direkten Vergleich mit dem Original Lücken auf, die eindeutig durch DDR-Sprachregelungen, die spezielle Situation der DDR in der Systemkonkurrenz oder die spezifische Interpretation der NS-Vergangenheit durch die DDR-Regierung zustande gekommen sind. Ein illustratives Beispiel ist das Fehlen einer klassischen westlichen Trope des Kalten Krieges auf S. 144. Im Zusammenhang mit der Beschreibung der Praxis der deutschen Besatzer, widerständige französische ZivilistInnen nicht in den besetzten Gebieten zu internieren, sondern dem SD zu übergeben, schreibt Russell im Original: »Let free people consider what this meant.« Bei Czollek klingt dieser Satz ebenso empört, möglicherweise sogar noch appellativer, aber es fehlt die Trope von den »freien Menschen«: »Man stelle sich einmal vor, was das bedeutete!« Zwar bezieht sich Russell hier zuallererst auf die Besatzungssituation in Frankreich und meint mit »free people« diejenigen, die nicht (mehr) unter der NS-Besatzung leben müssen. Aber die Phrase von der »freien Welt« ist zu Beginn der 1950er-Jahre bereits so stark als antikommunistischer Kampfbegriff etabliert, dass es Czollek politisch wie idiomatisch unmöglich ist, in ihrer deutschen Übersetzung Wendungen wie »freie Menschen« zu benutzen. Auf S. 145 gerät Russells Beurteilung der Wehrmacht in Konflikt mit der offiziellen DDR-Interpretation der deutschen Truppen unterhalb der Genera-

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Anette Kretzer beschreibt diese Analogie als entscheidend für die Einstellung der britischen Anklage gegenüber den angeklagten Funktionshäftlingen im ersten britischen Ravensbrück-Prozess. Anette Kretzer: NS-Täterschaft und Geschlecht. Der erste britische Ravensbrück-Prozess 1946/47 in Hamburg. Berlin 2009, S. 176.

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Übersetzung als Erinnerung

lität.57 Im Original heißt es in einer Fußnote zur Verwendung von sogenannten Dum-Dum-Geschossen durch Wehrmachtssoldaten in Frankreich: »Every literate German Soldier knew that this practice was forbidden.« Das »literate« bezieht sich hier auf die »10 Gebote für die Kriegführung des deutschen Soldaten«, die im Soldbuch jedes Wehrmachtssoldaten abgedruckt waren. Mit diesem Adjektiv unterstellt Russell den deutschen Soldaten, entweder zu barbarisch gewesen zu sein, um lesen zu können, oder eben nicht lesen zu wollen. Einen solchen Ton will Czollek offensichtlich nicht übernehmen und lässt die Qualifizierung weg: »Jeder deutsche Soldat wußte, daß das verboten war.« Die Mannschaftsdienstgrade zu verunglimpfen passte nicht in das Bild der Wehrmacht, wie es in der DDR gezeichnet wurde. Zwar wurde von offizieller DDR-Seite im Unterschied zur offiziellen BRD-Linie der verbrecherische Charakter der Wehrmacht durchaus anerkannt, die Verantwortung dafür lag nach dieser Lesart aber ausschließlich bei der Generalität und in keiner Weise bei einfachen Soldaten. An gleich vier Stellen im deutschen Text fehlen konkrete Verweise auf völkerrechtliche Bestimmungen oder Interpretationen. Auf S. 179/180 geht es um das völkerrechtliche Verständnis des Begriffs »Repressalien« (im WehrmachtSprachgebrauch üblicherweise »Vergeltungsaktionen« genannt). Russell verweist hier, ebenso wie auf S. 187, in Fußnoten auf international anerkannte Auslegungen des Völkerrechts von Lassa Oppenheim in dessen Buch International Law. A Treatise.58 An beiden Stellen fehlt im deutschen Text eine Fußnote mit einem Verweis auf ein anerkanntes Werk zum Völkerrecht. Ein Hauptgrund für die Auslassung mag sicherlich darin liegen, dass Oppenheims Buch nie ins Deutsche übersetzt wurde. Es wird aber deutlich, dass sich der deutsche Text nicht um dieselbe juristische Eindeutigkeit in der Interpretation des geltenden Völkerrechts bemüht, wie sie sich im Original findet. Denn sicherlich wäre es möglich gewesen, äquivalente deutschsprachige Verweise auf völkerrechtliche Texte zu finden und im deutschen Text zu zitieren, wenn man dies für wichtig erachtet hätte. Offensichtlich ist das Thema des geltenden Völkerrechts ein Konfliktfeld zwischen Original und Übersetzung. In der bereits in 4.3.3.5 zitierten Passage auf S. 188/189, in der es um die Frage geht, ob die Haager Konvention

57

58

Eine Konfliktlinie, die sich in der Übersetzung immer wieder findet. Siehe die Analyse zur Einfügung der Textpassage am Anfang der Übersetzung (DGDM, S. 10/11), die ich auf S. 158 diskutiere. H. Lauterpacht (Hg.): Oppenheim’s International Law, Vol. II, War, London 1940.

4. Lord Russell of Liverpools Scourge of the Swastika

für den Krieg zwischen Nazi-Deutschland und der UdSSR gültig war, gibt es neben den eingefügten Fußnoten auch eine signifikante Auslassung in der Übersetzung. In der Passage zitiert Russell (allerdings ohne Quellenangabe) eine stark ideologische sowjetische Rechtsinterpretation, die er »two obscure Russian writers on International Law« zuschreibt. Diese hätten ein allgemeingültiges Völkerrecht mit dem Argument abgelehnt, ein solches sei »the thinly veiled instrument of capitalist expansion«.59 Bei Czollek fehlt der gesamte Bezug auf den Konflikt zwischen sowjetischer Ideologie und Völkerrecht.60 In dieser Passage wird der Text vor allem durch Einfügungen und Auslassungen sehr stark von der Staatsräson der DDR überformt. Es fehlt nicht nur der Verweis auf die ideologische Komponente (die ja von Russell im Original den obskuren Verfassern zugeschrieben, also letztlich als irrelevant dargestellt wird). Gleichzeitig wird mit den Zuschreibungen »russisch« und »sowjetisch« auch im Sinne der Staatsideologie gearbeitet: Wo es um die unzuverlässigen weil obskuren Juristen geht, wird die Zuschreibung »russisch« aus dem Original übernommen. Wo es aber um autoritative Juristen geht, die geltendes Recht richtig interpretieren, werden aus Russells »Russian jurists« bei Czollek »sowjetische Juristen«. Beinah exemplarisch zeigt diese Passage, dass es vor allem die Bedingungen des Kalten Krieges und die ideologischen Regeln der Ulbricht-SED sind, die in Czolleks Text die interpretative Differenz zum Original hervorbringen. Schuldabwehr und Bestrafungsangst spielen weder für die Form des deutschen Textes noch für die Publikationsgeschichte von Russells Buch in beiden deutschen Staaten eine große Rolle. Lediglich bei der Frage der Verantwortlichkeit in der deutschen Bevölkerung jenseits der Eliten61 sowie der niedrige-

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Die gesamte Passage im Original lautet: »The argument put forward and supported by two obscure Russian writers on Internatioanl Law, is that the idea that there was any natural law having internatinal force had for many years been under an official ban in the U.S.S.R. merely on the grounds that such a law represented ›the thinly veiled instrument of capitalist expansion‹. Nevertheless, all modern Russian jurists have stressed both the reality and the enforceability of International Law.« S. 127. Czolleks Übersetzung lautet: »Das Argument, das dabei geltend gemacht wurde und bei dem man sich auf zwei obskure russische Verfasser völkerrechtlicher Abhandlungen stützte, geht dahin, daß die Vorstellung von einem international gültigen natürlichen Recht viele Jahre hindurch von der UdSSR abgelehnt worden sei. Alle modernen sowjetischen Juristen unterstreichen indessen sowohl die Realität als auch die Gültigkeit des Völkerrechts.« S. 188. Beispielsweise auf S. 11 und S. 361.

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Übersetzung als Erinnerung

ren Dienstgrade in der Wehrmacht kommt es zu einer leichten Abschwächung der Russell’schen Anklage in der Übersetzung.62 Auffällig ist, dass Russells Buch der DDR-Publikationspolitik vor allem im Kontext der Debatten um eine westdeutsche Wiederbewaffnung und um die sogenannten »Spätheimkehrer« zwar sehr gelegen kam, es aber gleichzeitig zwei der zentralen Elemente der gesellschaftlichen Erinnerung an den Nationalsozialismus nicht oder nur am Rande bedient: die Heroisierung des (kommunistischen) antifaschistischen Widerstands und die Befreiung Deutschlands durch die Rote Armee. Czolleks Text weitet auch im DDR-Kontext die Grenzen des Sagbaren deutlich aus: Es war möglich, eine Geschichte der NSVerbrechen in der DDR zu veröffentlichen und sehr weit zu verbreiten,63 in der sowohl die Verbrechen aller deutscher Truppenteile in den besetzten Gebieten als auch die Lagerverbrechen und die Shoah einen deutlich prominenteren Platz einnehmen als die Verfolgung von deutschen Kommunisten. Dies war möglich, weil es sich bei diesem Buch um eine Übersetzung handelte. Es wäre mit Sicherheit sehr viel schwieriger bis unmöglich gewesen, ähnliche thematische Gewichtungen in einem originalsprachlichen Buch vorzunehmen und es in der DDR zu veröffentlichen. In der BRD, wo Czolleks Text im kleinen Röderberg-Verlag in geringer Auflage erschien und weder von den wichtigen Presseorganen noch von der Wissenschaft wahrgenommen wurde, ist die Differenz des Textes zu den Hauptlinien der offiziellen gesellschaftlichen Erinnerung wieder anders gelagert und trotz der Konflikte zwischen dem Original und der DDR-Linie auch größer als in der DDR. Wie sich diese Bedingungen auf die öffentliche Wahrnehmung des Textes und die dadurch ausgelösten Diskurse in beiden deutschen Staaten ausgewirkt haben, soll die nun folgende Rezeptionsanalyse klären.

62 63

Beispielsweise auf S. 145. Eine Suche im Karlsruher Virtuellen Katalog zeigt, dass Czolleks Übersetzung heute noch in Ostdeutschland auch außerhalb von Fachbibliotheken für Geschichte in Universitäts- und Landesbibliotheken und sogar auch in Stadtbibliotheken weit verbreitet ist. Im Juni 2018 gab es beispielsweise noch mehrere Exemplare in den Berliner Öffentlichen Bibliotheken, den Stadtbibliotheken von Erfurt, Magdeburg, Cottbus und Potsdam. Gerade die Präsenz in den Stadtbibliotheken über 60 Jahre nach Erscheinen ist ein Indiz für eine sehr weite Verbreitung in vielen Exemplaren. http://kvk.bibliothe k.kit.edu, Sucheingabe Titel: Geißel der Menschheit, Autor: Russell (Zugriff: Juli 2020)

4. Lord Russell of Liverpools Scourge of the Swastika

4.4.

Die Rezeption der Übersetzung in Deutschland

4.4.1.

Rezeption in der DDR-Presse

Wie bei Volk-und-Welt-Titeln üblich wurde Geißel der Menschheit in der DDRPresse breit angekündigt und rezensiert. Bereits Russells Rücktritt war in den wichtigen Medien prominent vermeldet worden, allerdings erst nachdem Volk und Welt bei Cassell um die Übersetzungsrechte angefragt hatte. Laut einem Telegramm aus dem Volk-und-Welt-Archiv fand der erste Kontakt mit Cassell am 14. August 1954 statt.64 Am 18., 19. und 22. August 1945 berichtete das Neue Deutschland prominent über die Kontroverse in Großbritannien, und am 18. August titelte die Ostberliner Tägliche Rundschau: »Ganz England liest ›Die Geißel des Hakenkreuzes‹. Russells Buch schon vor Erscheinen vergriffen.«65 Der Tenor dieser Meldungen und Berichte ist stets ähnlich: Das Thema, das Russels Buch und den »Fall Russell« zur Nachricht werden lässt, ist primär die geplante Wiederbewaffnung bzw. die mögliche Gründung der EVG. Russells Buch sei in Großbritannien »unerwünscht«, da es Gegnern der westdeutschen Wiederbewaffnung, die eigentlich ein Wiedereinsetzen der NS-Militärelite sei, wichtige Argumente liefere. Der Fall Russell sei ein Beleg dafür, dass es im Westen keine freie Meinungsäußerung gäbe. Besonders interessant und illustrativ ist die Kontextualisierung mit einer anderen Personalie des Kalten Krieges, dem Fall des Überläufers Otto John, die das ND am 18. August 1954 vornimmt: »Während Dr. John auf Grund dieser Entwicklung Westdeutschland verließ und in die DDR kam, wurde auch aus England ein ähnlicher Fall bekannt. Lord Russell, einer der Vertreter der britischen Militärjustiz, sah sich zur Niederlegung seines Amtes gezwungen, um gegen das Wiedererstehen des Nazismus in Westdeutschland kämpfen zu können.«66 Diese Parallelisierung zeigt, wie offizielle DDR-Medien versuchten, jede Äußerung zur NS-Vergangenheit unter das offizielle Geschichtsbild zu subsumieren und für die Konfliktsituation des Kalten Krieges diskursiv zu nutzen: Russells Buch und John als Person finden in der DDR, die sich als das »antifaschistische Deutschland« geriert, Schutz vor dem »Wiedererstehen des Na64 65 66

W. Czollek an Cassell, 22.9.54, ADK, Archiv Verlag Volk und Welt, 2260. Tägliche Rundschau, Berlin, 18. August 1954. Neues Deutschland, 18. August 1954.

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zismus« im Westen. Ernstgenommen zeigt diese Parallelisierung aber auch, wie bedrohlich die Rehabilitierung der NS-Militäreliten in der Bundesrepublik nicht nur auf Russell selbst, sondern auf eine große Zahl von Menschen in Ost und West wirkte Im Verlagsarchiv von Volk und Welt finden sich über 30 Besprechungen aus den verschiedensten Presseorganen, von landesweiten Tageszeitungen wie dem Neuen Deutschland oder der Berliner Zeitung über Lokalzeitungen wie dem Erfurter Volk bis zu Wochen- und Monatszeitschriften. Diese Rezensionen sind innerhalb einer relativ langen Zeitspanne zwischen Oktober 1955 und Ende 1956 erschienen. Augenfällig ist dabei, dass nur etwa ein Drittel der Texte kurz nach dem Veröffentlichungstermin im September 1955 erschien. Etwa die Hälfte wurde zwischen Ende Februar und Ende März 1956 veröffentlicht, also ein halbes Jahr nach dem Erscheinungstermin des Buches. Fast alle Rezensionen aus dieser Zeit haben einen gemeinsamen aktuellen Aufhänger, über den die Rezensenten zu Russells Buch hinleiten: Die Frage der sogenannten »Spätheimkehrer«. Bei seinem Besuch in Moskau im September 1955, bei dem die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der BRD und der Sowjetunion beschlossen wurde, konnte Konrad Adenauer auch eine Vereinbarung über die Freilassung der letzten ca. 10.000 deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion erreichen. Diese Vereinbarung führte zu Verstimmungen zwischen der DDR-Regierung und der Sowjetunion, da die DDR den Anspruch hatte, Deutschland gegenüber der Sowjetunion allein zu vertreten. Gleichzeitig handelte es sich bei diesen letzten Kriegsgefangenen überwiegend um Angehörige der deutschen Truppen, die von sowjetischen Militärgerichten als Kriegsverbrecher verurteilt worden waren – ein Umstand, der von der westdeutschen Politik und Öffentlichkeit nicht als relevant anerkannt wurde. Bei der Ankunft dieser im Westen sogenannten »Spätheimkehrer« im Frühjahr 1956 in der BRD hatte die DDR-Führung also doppelten Anlass zur Empörung. Gleichzeitig bot die Rückkehr der verurteilten Kriegsverbrecher in die BRD erneut die Möglichkeit, die DDR propagandistisch als Heimat des deutschen Antifaschismus darzustellen, da die Beteiligung der Freigelassenen an NS-Verbrechen im Westen konsequent beschwiegen wurde.67 In der DDRPresse dient die Besprechung von Geißel der Menschheit zu diesem Zeitpunkt meist als Anlass, um den Komplex »NS-Verbrechen« einführen zu können und 67

Zum »Spätheimkehrer«-Komplex siehe z.B. Norbert Frei: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen. München 2005, S. 101f.

4. Lord Russell of Liverpools Scourge of the Swastika

mit den sogenannten »Spätheimkehrern« in Verbindung zu bringen. Ein typisches Beispiel für diese Verbindung beider Themen, mit der sowohl das Buch beworben als auch die Aufnahme der »Spätheimkehrer« als Teil der Rehabilitierung des Nationalsozialismus in der BRD dargestellt wird, ist die Rezension in der Tageszeitung Das Volk aus Erfurt vom 12. März 1956: »Die Art und Weise nämlich, wie man die aus der Sowjetunion freigelassenen Kriegsverbrecher in Westdeutschland als Märtyrer feiert und sie dabei von aller Schuld reinzuwaschen bestrebt ist, kann bei einem gerecht denkenden Menschen nur hellste Empörung auslösen. Und das um so mehr, wenn er dieses Buch liest und sich die darin enthaltenen Fotos anschaut, die für einen menschlichen Verstand kaum faßbaren Greueltaten der vom Faschismus vertierten Deutschen von neuem vernimmt – und diesmal aus dem Munde eines solchen Zeugen, der nur dokumentarisches Material vorlegt. Jeder Mensch, der von sich behauptet, er habe ein vaterländisches Gewissen, sollte dies Buch mit aller Nüchternheit lesen – und wer danach auch nur noch ein Wort zur Verteidigung der deutschen Kriegsverbrechen aussprechen kann, dem sei das Recht entzogen, sich Patriot zu nennen – der verdiene die Mißachtung aller, die ein deutsches Vaterland der Menschlichkeit lieben! Drückt dies Buch jedem denkenden Menschen in die Hand, damit er sich seiner als Waffe gegen die Unmenschlichkeit bediene!«68 Ein weiterer, weniger tagespolitischer Topos, der sich als Aufhänger in auffällig vielen Rezensionen in der DDR-Presse findet, ist die Betonung und Wiederholung der offiziellen, auf der Dimitroff-These und der sogenannten Agenten-Theorie69 aufbauenden Interpretation des Nationalsozialismus der DDR-Führung. Diese Rezensionen füllen damit eine von den AutorInnen angenommene Leerstelle in Russels Text: Sie fügen der Schilderung der NSVerbrechen, wie sie Russell und Czollek in Geißel der Menschheit vornehmen, eine Erzählung über die »wahren Verantwortlichen« für diese Verbrechen (nämlich die »Monopolkapitalisten« und die »Hochfinanz«) hinzu. Sie tun dies entweder, indem sie diese ideologische Interpretation einer kurzen Beschreibung von Geißel der Menschheit schlicht hinzufügen, oder indem sie in der Form der klassischen Literaturkritik das Fehlen dieser »Information«

68 69

Das Volk, Erfurt, 12.3.1956. Siehe Wolfgang Wippermann: Faschismustheorien. Zum Stand der gegenwärtigen Diskussion. Darmstadt 1989, S. 60f.

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im Buch monieren. Typisch für letztere Strategie ist eine Rezension aus der Monatszeitschrift Einheit vom Februar 1956: Leider unterläßt es der Autor in seinem Buch, den engen Zusammenhang der Monopolherren und Junker mit dem Faschismus aufzuzeigen, obwohl doch gerade die Kriegsverbrecherprozesse den Beweis lieferten, daß die deutschen Monopolherren und Großgrundbesitzer den Faschismus förderten, ihn an die Macht brachten und sich seiner bedienten bei der Ausplünderung der Arbeiterklasse und Knechtung anderer Völker zur Erzielung von Maximalprofiten. Es ist eine Tatsache, daß dieselben Leute, die damals die Faschisten finanzierten, auch heute wieder in Westdeutschland die Geldgeber der Adenauer-CDU und der faschistischen und militaristischen Revancheorganisationen sind.«70 Diese Strategie der DDR-Publizistik macht die Position von Geißel der Menschheit im gesellschaftlichen Erinnerungssystem der DDR deutlich: Die ausführliche Diskussion der NS-Verbrechen auf der Höhe der juristischen und historischen Erkenntnisse der Zeit, wie sie sich in Russells Buch findet, steht nicht in Konflikt mit der parteioffiziellen Linie zur Erinnerung an den Nationalsozialismus. Aus Sicht der SED-treuen Journalisten fehlten dem Buch aber zwei zentrale Elemente des DDR-Narrativs zum Nationalsozialismus: die Erlösungs- bzw. Siegeserzählung (»Sieg der heldenhaften Roten Armee«, »Selbstbefreiung des KZ Buchenwald durch deutsche Antifaschisten«) einerseits und die Darstellung des Nationalsozialismus als Faschismus im Dimitroff’schen Sinne, also als »terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals«71 andererseits. Ähnlich wie im Übersetzungsprozess dem Text mithilfe von Fußnoten Informationen hinzugefügt wurden, um 70

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Einheit Nr. 2, Februar 1956, Berlin. Typisch für die erste Strategie, der Vorstellung von Russells Buch schlicht die Agententheorie hinzuzufügen, ist ein Artikel in der Wochenzeitung Sonntag vom 10.10.1954, in dem das noch unübersetzte Buch vorgestellt wird (Sonntag Nr. 41, 10.10.1954, Berlin). Darin heißt es: »Das ist Lord Russells Anklage, eine Klage gegen den Nazismus und damit eine Klage gegen die Industriellen, die Generäle und die Politiker, die einst den Nazismus unterstützten und heute in Westdeutschland wieder an der Macht sind […].« »Die Offensive des Faschismus und die Aufgabe der kommunistischen Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus« in: Protokoll des VII. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, Moskau 25. Juli bis 20. August 1935, Band II. Stuttgart 1976, S. 985.

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ihn passgenauer in das DDR-Narrativ zum Nationalsozialismus einzufügen (siehe 4.3.3.5), fügt die DDR-Presse nun in ihren Rezensionen dem Text »fehlende« Elemente hinzu, um ihn fester in den gesellschaftlichen Erinnerungszusammenhang einzupassen. Neben den Rezensionen und Meldungen, die Russells Buch, seine Publikationsgeschichte in Großbritannien und Czolleks Übersetzung lediglich vor dem Hintergrund der tagespolitischen Auseinandersetzungen des Kalten Krieges behandeln und als Instrument dieser Konflikte verwenden, sind aber auch in der DDR durchaus Texte erschienen, die sich auf einer menschlichen Ebene mit dem Inhalt von Russells Text auseinandersetzen. Fritz J. Raddatz schreibt am 27. Oktober 1956 in der Berliner Zeitung eine Doppelrezension von Geißel der Menschheit und einer Sammlung letzter Briefe von europäischen Widerstandkämpfern, die aus dem Italienischen übersetzt wurde. Zu diesem Zeitpunkt, zwei Jahre bevor er die DDR verließ, war Raddatz stellvertretender Cheflektor bei Volk und Welt und daher sicherlich kein unabhängiger Rezensent. Aber sein Text kommt ohne die offene tagespolitische Propaganda anderer DDR-Rezensionen aus. Raddatz nimmt Russells Buch zum Anlass, um grundsätzliche moralische Fragen zu stellen: »Es ist ein Kommentar, dessen grausiges Panorama den Atem benimmt. Man liest gebannt von Furcht und Grauen, man legt es aus der Hand, von Ekel und Abscheu überwältigt – und man liest weiter. Die Horden der heute wieder salonfähigen SS – von Lord Russell als der »Kern des Nazismus« bezeichnet – erstehen vor den Augen des Lesers, man hört den dumpf-schwarzen Rhythmus ihrer Stiefel. Dieser Rhythmus war Jahre hindurch zum Lebensrhythmus – zum Todesrhythmus – Europas geworden. Es ist eine poetische Verkleidung, hier auch nur von einer Kollektivschuld zu sprechen: es ist eine individuelle, jeden einzelnen durchaus als Subjekt, in des Wortes doppelter Bedeutung treffende Schuld. Und man schämt sich, welche Bedeutung das Wort »Lebensstandard« schon wieder gewonnen hat, wie wichtig und selbstverständlich die Eisschränke oder Plüschsofas besessen werden.«72 An keiner Stelle bezieht sich Raddatz hier direkt und explizit auf die BRD. Seine Kritik kann auf beide deutschen Gesellschaften bezogen werden und ist sicherlich auch so gemeint. Ich zitiere diese Rezension hier so ausführlich, weil in ihr eine wichtige Funktion von Russells Buch sichtbar wird: Als 72

Berliner Zeitung Nr. 252, 27.10.1956.

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Übersetzung als Erinnerung

Zusammenfassung oder Kompendium der Ergebnisse der juristischen Aufarbeitung deutscher Verbrechen durch die Alliierten ist Geißel der Menschheit immer mehr als nur Werkzeug aktiver Geschichtspolitik. Russells Aufzählungen von Massakern, die relativ nüchterne Darstellung des Massenmords in den Konzentrationslagern und seine knappe, aber prominente Beschreibung der Vernichtung der europäischen Juden schaffen innerhalb bestimmter Rezeptionszusammenhänge ein kollektives Wissen, für das es zuvor nur wenige andere dokumentarische Quellen gab. Für die DDR, in der die Geißel in Haushalten wie in Bibliotheken sehr weit verbreitet war,73 müssen wir davon ausgehen, dass es sich hier nicht um einen stark eingeschränkten Rezeptionsraum gehandelt hat, wie es in der BRD der Fall war, sondern dass Czolleks Übersetzung tatsächlich von sehr vielen Menschen rezipiert wurde. Das so vermittelte Wissen über die NS-Verbrechen und ihr präzedenzloses Ausmaß ist nicht fest an die tagespolitischen Urteile und Propagandabedürfnisse des DDR-Regimes gekoppelt, sonst müsste die DDR-Presse nicht so vehement auf dieser Verbindung bestehen. Vielmehr ermöglicht es, wie Fritz J. Raddatz’ Text zeigt, individuelle Betroffenheit und Reflexionen über die moralischen und politischen Konsequenzen aus diesen Verbrechen. Die Fragen nach diesen Konsequenzen für ein wie auch immer geartetes deutsches Kollektiv wurden auch in der DDR anders gestellt und teilweise anders beantwortet, weil der Text als Übersetzung klar als ein von außerhalb dieses Kollektivs kommender zu erkennen ist. Dem englischen Aristokraten Russell haftet gerade für ein DDR-Publikum zunächst nicht der Ruch eines staatssozialistischen Propagandisten an. Raddatz verleiht hier der Hoffnung Ausdruck, dass Russells Buch in der DDR auch zu einer individuellen Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen und ihren Konsequenzen jenseits der tagespolitischen Bedürfnisse des Ost-West-Konflikts führen könnte. Die DDR und Großbritannien sind die beiden Staaten, in denen Russells Buch die größte Verbreitung erreicht hat. Und in beiden Staaten war es zuerst Politikum bzw. Instrument der Politik, bevor es als populäres Sachbuch oder gar Erinnerungsmedium funktionieren konnte. Das heißt aber nicht, dass es Letzteres nicht auch in eingeschränktem Maß getan hat. Sowohl der sehr rigide Rezeptionsrahmen, den der DDR-Kultur- und Medienbetrieb für »Geißel der Menschheit« vorgab, als auch die Verwendung des Buches als politisches Instrument haben sicherlich einschränkend auf den Erfolg des Buches bei der transkulturellen Wissensvermittlung gewirkt. Gleichzeitig hat Roswitha 73

Siehe Fußnote 136

4. Lord Russell of Liverpools Scourge of the Swastika

Czolleks Übersetzung eine wichtige populäre Quelle in deutscher Sprache geschaffen, die, wie Raddatz’ Text zeigt, auch Wissen und Reflexion produziert hat.

4.4.2.

Rezeption durch staatliche Stellen: Der Fall Dr. Kurt Heißmeyer

Einen ganz konkreten Wissensbestand, der zur Beendigung einer skandalösen Kontinuität und zu einem bis heute wichtigen NS-Prozess führte, schuf Czolleks Übersetzung im Ministerium für Staatssicherheit der DDR. Die Stasi hatte aus der Geißel der Menschheit von den TBC-Experimenten erfahren, die ein Dr. Kurt Heißmeyer im KZ Neuengamme an 20 jüdischen Kindern sowie einer unbekannten Zahl von Erwachsenen hatte vornehmen lassen. In der Geißel der Menschheit wird ferner im Detail geschildert, wie die Kinder und ihre Pfleger dann im Zuge der Räumung des Lagers am 20. April 1945 in den Räumlichkeiten einer ehemaligen Schule am Bullenhuser Damm in Hamburg von SS-Männern ermordet worden waren. Am 21. November 1958 schreibt ein Hauptmann Schäfer aus Magdeburg an die MfS-Zentrale in Berlin: »In der Vorlaufakte ›Profer‹ wird der Magdeburger Lungenspezialist Dr. med. Heissmeyer, Kurt, […] operativ behandelt. Dr. H. ist ein Feind der DDR und war Anfang 1958 Wortführer einer Provokation Magdeburger Ärzte. Wie jetzt bekannt wurde, wird in dem Buch ›Geissel der Menschheit‹, von dem englischen Politiker Lord Rüssellof, Liverpool, S. 197, erschienen 1956, ein Arzt namens Heissmeyer, aufgeführt. Dieser führte im KZ Neuengamme Impfungen mit Tbc-Erregern an Kindern durch. Es wird vermutet, dass der KZ-Arzt Heissmeyer mit dem von uns bearbeiteten identisch ist.«74 Hauptmann Schäfer bittet im Folgenden die Zentrale, »zur Beschaffung von Beweismaterialien« Erkundigungen über Heißmeyer bei Überlenden des KZ Neuengamme in der DDR sowie in der Umgebung seines ehemaligen Arbeitsplatzes, des Sanatoriums Hohenlychen in der Uckermark, einzuholen. Diese Ermittlungen verliefen aber zunächst erfolglos, wie der Zwischenbericht der Magdeburger Stasi-Bezirksleitung vom 12. Februar 1959 angibt.75 Vermutlich

74 75

BstU 8935/66, Bd. 1, Bl. 226. Kopie im Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. BstU 8935/66, Bd. 1, Bl. 249. Kopie im Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.

135

136

Übersetzung als Erinnerung

wurde Heißmeyer allerdings von der Stasi erpresst, nicht in die Bundesrepublik überzusiedeln. Im Zwischenbericht heißt es, er sei »einer der wenigen Röntgenologen in Magdeburg, der ein ausgezeichneter Facharzt ist«. Außerdem verfüge er bei Kollegen und Patienten über großes Renommee. Aus diesen beiden Gründen habe man sich entschlossen, trotz seiner Republikfeindlichkeit nicht weiter gegen Heißmeyer vorzugehen, zumal dieser seine lang gehegten Pläne zur Republikflucht »vorerst aufgegeben« hätte. Eine mögliche Interpretation dieser Formulierung ist, dass man Heißmeyer vonseiten der Stasi damit gedroht hatte, seine Verantwortung für die Experimente an den Kindern auffliegen zu lassen, wenn er in die BRD fliehen sollte, da man ihn als Arzt brauchte und seinen Einfluss auf Kollegen fürchtete. Auf jeden Fall konnten selbst das Bekanntwerden mehrerer Artikel über die Morde in der westdeutschen Presse sowie eine anonyme Anzeige gegen Heißmeyer im Sommer 1959 die DDR-Behörden nicht dazu bewegen, ihn zu verhaften.76 Dies geschah dann erst im Dezember 1963, als sich die Facharztsituation in der DDR verbessert hatte und durch generationelle Veränderungen ein anderes Erinnerungsklima entstanden war. Sowohl in Heißmeyers eigener Vernehmung als auch in den Aussagen seiner Frau im Zusammenhang mit seinem Prozess wird Russells Buch als die entscheidende Informationsquelle zu Heißmeyers Verbrechen genannt. Heißmeyer ging sogar so weit, das Buch in seine eigene Verteidigungsstrategie einzubauen, indem er behauptet, er selbst habe erst aus Czolleks Übersetzung erfahren, dass die Kinder ermordet wurden: »Ich weiß, dass alle 20 Kinder ermordet worden sind. Das habe ich aber erst nach Beendigung des 2. Weltkrieges durch die Veröffentlichung des Buches ›Geisel der Menschheit‹ von Lord Russell of Liverpool erfahren. […] Darüber hinaus war ich der Meinung, daß dieses Buch Unwahrheiten enthält, woraus ich wiederum schlußfolgerte, daß es möglicherweise auch nicht stimmt, daß die Kinder umgebracht worden sind.«77 Heißmeyers Strategie in diesem Verhör war es, die Versuche uneingeschränkt zu gestehen, aber jede Verantwortung für die Ermordung der Kinder zu bestreiten.

76 77

Siehe Groschek/Vagt: »… dass du weißt, was hier passiert ist …« Medizinische Experimente im KZ Neuengamme und die Morde am Bullenhuser Damm. Bremen 2012, S. 81-84. Heißmeyer in seiner Vernehmung am 13. März 1964. BstU MfS HA IX.11 ZUV Nr. 46 Bd 155 Bl 195. Kopie im Archiv der KZ-Gedenkstäte Neuengamme.

4. Lord Russell of Liverpools Scourge of the Swastika

Was genau Heißmeyer mit »Unwahrheiten« meint, die das Buch angeblich enthalten soll, lässt sich nicht sagen. Tatsächlich aber enthalten die beiden Abschnitte über die Morde am Bullenhuser Damm bereits im Original einige Ungenauigkeiten, die in der Übersetzung noch gravierender werden. So wird der Ort der Morde in Original und Übersetzung durchgängig »Bullenhausendamm« genannt, und die Pfleger der Kinder, im Original »nurses«. Sie werden in der Übersetzung zu »Krankenschwestern«, zu denen dann noch angegeben wird, sie seien eigentlich »Ärztinnen« (Original: »doctors«) gewesen.78 Diese Fehler sind ohnehin entschuldbar und in der Übersetzungsrichtung Englisch-Deutsch häufig, da bei den meisten Berufsbezeichnungen im Englischen den bezeichneten Personen nicht unbedingt ein Geschlecht zugewiesen wird. Aus den Ereignissen um Heißmeyers Überwachung und schlussendlichen Verhaftung erschließt sich dabei aber die Bedeutung, die die Geißel der Menschheit als einzige Monografie innehat, in der ein breites Publikum (vor allem in der DDR) etwas über die Ereignisse am Bullenhuser Damm nachlesen konnte. Denn die Monografie, erschienen in einem DDR-Verlag, hatte natürlich eine ungleich höhere Autorität als alle Presseartikel aus der BRD. Das heißt, das Buch war die Grundlage für die Verhaftung und Bestrafung Heißmeyers, auch wenn es mit seinen Plänen für die Republikflucht und seinen DDR-kritischen Äußerungen andere Anlässe gegeben haben mag. Es war als mediale Manifestation expliziten Wissens zudem Grundlage jeder Diskussion und aller öffentlichen Diskurse über die Verbrechen am Bullenhuser Damm in den 1950er- und 1960er-Jahren in beiden deutschen Staaten, da es das explizite Wissen, das in den Curio-Haus-Prozessen produziert worden war, aus den Akten holte und in einer monografischen Form vermittelbar machte. Hoch interessant ist dabei auch die Parallelität zu dem Fall Richard Korherr in der BRD, den ich in Kapitel 5.3.1. beschreibe. Der Statistiker, der in der zweiten Kriegshälfte für das Reichssicherheitshauptamt einen bekannten Bericht über den Fortgang der Judenvernichtung verfasst und regelmäßig aktualisiert hatte, war in gehobener Position im Bundesfinanzministerium tätig, als seine Arbeit für das RSHA zum ersten Mal auf Deutsch in J. W. Brügels Übersetzung von Gerald Reitlingers The Final Solution nachlesbar wurde. Auch Korherrs Nachkriegskarriere begann mit Veröffentlichung der Übersetzung zu wackeln. Korherr versuchte sofort, beim Autor selbst zu intervenieren und

78

GdM, S. 278.

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Übersetzung als Erinnerung

Änderungen an der Übersetzung durchzusetzen, um die Schaffung expliziten Wissens um seine Tätigkeit zumindest einzuschränken (siehe Kap. 5.3.1.). Ebenfalls wie bei Heißmeyer konnte das veröffentlichte Wissen über die Verwicklung in NS-Verbrechen die Karriere aber zunächst nicht beenden. Bei Heißmeyer war es wohl überwiegend der Fachärztemangel in der DDR, der dazu führte, dass er weiter praktizieren durfte. Im Fall von Korherr war es vermutlich der Unwille, etwas zu ändern, und die Unklarheit über die Funktion seiner statistischen Arbeit. Erst nach dem Beginn des Eichmann-Prozesses in Jerusalem 1961, im Zuge dessen auch der konkrete Nutzen des KorherrBerichts für Eichmanns Tätigkeit im RSHA zur Sprache kam, wurde Korherr dann schließlich vom Finanzministerium entlassen. Hier zeigt sich in beiden Fällen, wie die Schaffung des expliziten, auf Deutsch verfügbaren Wissens über die Verbrechen bzw. die Belastung von Heißmeyer und Korherr eine Phase der Latenz auslöste. Fünf bis sieben Jahre später, in den frühen 1960er-Jahren unter veränderten gesellschaftlichen und diskursiven Bedingungen, konnte dieses Wissen dann seine Wirkung entfalten und die skandalösen Nachkriegskarrieren des SS-Arztes, der an Kindern experimentierte, und des Statistikers, der den Fortgang der Judenvernichtung zum Zweck der Effizienzsteigerung dokumentierte, beenden.

4.4.3.

Veröffentlichung in der Bundesrepublik

In der Bundesrepublik erschien Czolleks Übersetzung in Lizenz und durch Vermittlung von Volk und Welt beim kleinen Röderberg-Verlag in Frankfurt a.M.. Der Röderberg-Verlag, benannt nach seinem Sitz in der Röderbergstraße in Frankfurt, war der Verlag der VVN und seit Februar 1950 vor allem für die Veröffentlichung der VVN-Wochenzeitung Die Tat verantwortlich. Volk und Welt hatte den Kontakt zwischen Röderberg und dem deutschen Repräsentanten von Russells Agentur, Hans Hermann Hagedorn, vermittelt. Trotz des direkten Kontakts bestand die Verlagsleitung aber darauf, dass Volk und Welt der Lizenzgeber für sämtliche deutschsprachigen Länder bleiben sollte. Wie aus der Korrespondenz zwischen Walter Czollek und Hagedorn hervorgeht, hatte Russells Agentur großes Interesse an einem direkten Vertrag mit Röderberg, weil man offensichtlich davon ausging, dass der BRDVerlag eine Art Dependance von Volk und Welt darstellte, mit der sich möglicherweise Geschäfte in konvertierbarer Währung, also in DM, machen lassen

4. Lord Russell of Liverpools Scourge of the Swastika

würden.79 Dafür war Röderberg aber zu klein, wurde nicht professionell genug geführt und war möglicherweise auch zu stark von der DDR abhängig. Dennoch gelang es dem Verlag mit der westdeutschen Lizenzausgabe von Geißel der Menschheit, die noch vor Jahresende 1955 erschien, sein potenzielles Publikum im VVN-Umfeld voll auszuschöpfen und sogar noch etwas darüber hinaus wahrgenommen zu werden. Wie aus einem Schreiben des Hamburger Agenten Hagedorn an Volk und Welt hervorgeht, konnte Röderberg bis 1958 4.221 Exemplare des Buches verkaufen.80 Zwar wurde es in den Leitmedien der BRD wie der FAZ, der Zeit, dem Spiegel etc. nicht rezensiert, dennoch wurde es auch jenseits der VVN-Zeitschrift Die Tat wahrgenommen. Text und Bilder der westdeutschen Ausgabe sind mit der Volk-und-WeltAusgabe identisch. Aus der Korrespondenz zwischen Hagedorn und Czollek geht auch hervor, dass Volk und Welt die Druckvorlagen an die Fuldaer Verlagsanstalt lieferte, die das Buch dann im Auftrag von Röderberg herstellte. Die Unterschiede zwischen den beiden Ausgaben beschränken sich vollständig auf die Schutzumschläge. Der Umschlag der DDR-Ausgabe zeigt auf kanariengelbem Hintergrund einen grauen Totenkopf, der über ein massives schwarzes Hakenkreuz gelegt ist. Diese Grafik nimmt etwa die- oberen zwei Drittel des Frontispizes ein. Im unteren Drittel steht in Schwarz der Name des Autors und größer in Rot der Titel des Buches. Das DDR-Cover stellt hier grafisch den Originaltitel »The Scourge of the Swastika« wieder her, indem es das dargestellte Hakenkreuz mit dem titelgebenden Idiom »Geißel der Menschheit« verbindet. Die starken Farbkontraste des Umschlagbildes zwischen Gelb, Schwarz und Rot signalisieren eine Dringlichkeit des Inhalts. Die Gestaltung des westdeutschen Umschlags ist dagegen deutlich zurückhaltender. Es zeigt auf der Vorderseite eine realistische, fast fotografisch anmutende Zeichnung von zwei patrouillierenden Wehrmachtssoldaten mit Gewehren im Anschlag, die in verschiedenen Grautönen gehalten ist. Ein Quellenhinweis für dieses Bild findet sich weder auf dem Schutzumschlag 79

80

W. Czollek an Hagedorn, 15.4.1955, ADK, Archiv Verlag Volk und Welt, 2260: »[…] Außerdem ist uns nicht recht verständlich, warum Curtis Brown einen Vertrag über die deutsche Ausgabe mit dem Röderberg Verlag abschließen soll, nachdem uns laut §1 alle deutschen Rechte bereits zugesprochen worden sind. Der Lizenzvergeber sind in diesem Fall wir, was natürlich nicht ausschließt, daß die Zahlungen in der von Ihnen vorgeschlagenen Weise erfolgen. […]« Hagedorn an W. Czollek, 30.6.1958, ADK, Archiv Verlag Volk und Welt, 2260: »[…] Der Röderberg-Verlag schreibt jetzt an Lord Russell, dass er 4221 Exemplare der westdeutschen Ausgabe verkauft hat. […]«

139

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Übersetzung als Erinnerung

noch im Buch. Der Name des Autors und der Titel sind in zwei verschiedenen Schrifttypen in Rot darübergelegt, ersterer in einer nüchternen Versalschrift, letzterer in einer Schreibschrift im Stil expressionistischer Plakate. Auf der Rückseite findet sich die fotografische Reproduktion einer Bekanntmachung des Höheren SS- und Polizeiführers im besetzten Frankreich, in der Erschießungen und Deportationen als »Strafen« für die Familienmitglieder von »Attentäter[n], Saboteure[n] und Unruhestifter[n]« angekündigt werden. Diese Gestaltung bezieht den Titel, also das Idiom »Geißel der Menschheit«, direkt auf die Wehrmacht und das deutsche Besatzungsregime in Europa. Wo im DDR-Cover das Hakenkreuz als Symbol für den gesamten nationalsozialistischen Komplex als Geißel der Menschheit erscheint, sind es im BRD-Cover Besatzungssoldaten der Wehrmacht, die für alle NS-Verbrechen ikonografisch einstehen. Das ist angesichts des Status der Wehrmacht in der Erinnerungskultur und Vergangenheitspolitik des Landes in den 1950erJahren durchaus bemerkenswert. Der Röderberg-Verlag macht hier keinerlei Versuch, Russells Text einem breiteren westdeutschen Publikum anzubieten, sondern wendet sich mit der Gestaltung des Buches gezielt an sein ureigenes Publikum, das VVN-Umfeld, in dem die Darstellung der Wehrmacht als verbrecherische Organisation im Unterschied zur Mehrheitsgesellschaft widerspruchslos akzeptiert wurde. Die so unterschiedlichen Gestaltungen eines textlich identischen Buches in BRD und DDR sind grafische Manifestationen der Unterschiede in Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur in den beiden deutschen Staaten. Die Verwendung des Hakenkreuzes ist in der BRD seit 1953 durch § 86 StGB verboten. In der DDR, wo man die Gefahr einer Wiederkehr des Nationalsozialismus ausschließlich in der BRD verortete, wurde dieses Verbot politischer gehandhabt, und es war bereits 1955 möglich, das Hakenkreuz in einem eindeutig antifaschistischen Kontext grafisch zu verwenden. In der BRD wäre die grelle und einfache Symbolik des DDR-Covers justiziabel gewesen, und es war deshalb für den Röderberg-Verlag sicherlich eine Selbstverständlichkeit, sich für ein subtileres Motiv zu entscheiden.

4.4.4.

Rezeption in Westdeutschland

In Westdeutschland waren nicht nur die politisch-ideologischen Voraussetzungen für eine breite Rezeption und einen größeren Verkaufserfolg von Geißel der Menschheit schlecht. Dem Röderberg-Verlag standen aufgrund seiner Größe sowie seiner Nähe zur VVN und deren öffentlichem Image als

4. Lord Russell of Liverpools Scourge of the Swastika

DDR-Marionettenorganisation kaum Möglichkeiten für eine breiter angelegte Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zur Verfügung. Entsprechend findet das Buch nach seiner Veröffentlichung auch keinerlei Beachtung in den noch jungen Leitmedien der Bundesrepublik, also der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dem Spiegel, der Welt oder der Zeit. Auch in der beginnenden zeitgeschichtlichen Forschung hält man Russells Werk nicht für beachtenswert oder attestiert ihm Ressentiment und mangelnde Objektivität, wie es Hans Buchheim in einer Rezension eines anderen Textes von Gerald Reitlinger tut, wo er schreibt: »[…] Die entsetzlichsten Wahrheiten sind bunt vermischt mit offensichtlichen Halb- und Unwahrheiten und ausgesprochenen Schauergeschichten, so daß der Leser auch beim besten Willen nicht den Eindruck gewinnen kann, der Autor habe sich um Sachlichkeit bemüht. […]«81 Wahrgenommen wurde das Buch vor allem im erweiterten kulturellen Umfeld der VVN. Außer einer Rezension in der Verbandszeitschrift Die Tat finden sich weitere in der links-sozialdemokratischen Anderen Zeitung aus Hamburg sowie in obskureren Blättern wie dem Freien Volk aus Düsseldorf, einer KPD-nahen Arbeiterzeitung, oder sehr spät (1961) in Kultur und Gesellschaft aus Frankfurt a.M.. Noch bevor die Rezension von Geißel der Menschheit in der zweiten Ausgabe des Jahres 1956 in der Tat erschien, schaltete der Verlag selbst Anzeigen in der Zeitschrift, die das Erscheinen ankündigten. Die erste besteht vor allem aus einer Reproduktion der Titelseite des Daily Express von 12. August 1954, die den Zensurversuch Russell gegenüber skandalisiert und grafisch mit einem kleinen Hakenkreuz um Aufmerksamkeit wirbt. Zwei weitere Anzeigen, die etwas später erschienen, sind kleiner und grafisch etwas zurückhaltender gestaltet. Sie weisen auf den Erscheinungstermin Ende November 1955 hin und referieren erneut den Skandal um Russells Amtsniederlegung. Die Rezension von Russells Buch in der Tat von Artur Seehof, erschienen am 14. Januar 1956, bleibt in einem ähnlich anklagenden Ton wie große Teile der DDR-Rezensionen. Konkret bezieht sie sich auf die Wiederbewaffnung: »(Und der [deutschen militärischen Führung] will die Regierung der USA, Großbritanniens, Frankreichs, der Benelux-Staaten und der Bundesrepublik

81

Hans Buchheim: Zur Geschichte des Dritten Reiches; zitiert nach Nicolas Berg: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker, Kap 2, FN 195.

141

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Übersetzung als Erinnerung

aufs Neue eine Armee überantworten! Ist es auch Wahnwitz, so --- Na ja …)«82 Seehof betont, wie deutlich Russell die Mitverantwortung der Wehrmachtsführung für Massaker und Kriegsverbrechen hervorhebt, und er erwähnt auch die ausführliche Schilderung des nationalsozialistischen Zwangsarbeitsprogramms in der Geißel. Beide Verbrechenskomplexe und ihre Verflechtung mit dem Programm zur Ermordung der europäischen Juden fanden in den 1950er-Jahren in der Bundesrepublik praktisch nirgends Beachtung. Die Rezension, die Russells Buch als »wahrhaftig« dringend zur Lektüre empfiehlt, benennt sehr konkret diese Themen, die das Buch dem deutschen öffentlichen Diskurs hinzuzufügen hätte. Gleichzeitig bleibt der Text den politischen Interessen der Systemkonkurrenz verhaftet und ist amateurhaft verfasst. Indizien dafür, dass Seehof kein professioneller Journalist war, sind sein unbeholfen hypotaktischer Stil, die Verwendung von Gemeinplätzen und der unpassend wirkende Sarkasmus wie in der oben zitierten Passage. Gleichzeitig ist er aber auch Verfasser der einzigen Schweizer Rezension von Russells Buch,83 die sich im Verlagsarchiv von Volk und Welt fand, hat also für mehrere vermutlich eurokommunistische Organe geschrieben. Bereits in den ersten Zeilen seines Textes bringt Seehof die Verbrechen des NS-Staates mit Kolonialverbrechen in Südamerika und dem armenischen Genozid in Verbindung, räumt den deutschen Verbrechen in diesem Zusammenhang jedoch einen prominenten Platz ein: Die Lektüre von Texten zu diesen Verbrechen sei für ihn aber nicht so erschütternd und berührend gewesen wie die von Russells Buch. Seehof deutet auch in einer klassischen verschwörungstheoretischen Trope an, es hätte in Westdeutschland einen ähnlich konkreten Zensurversuch gegen das Buch gegeben wie in Großbritannien: »Und das Buch von Lord Russel [sic!] ist – wie eigentlich jedes Dokument über die Schande und die Verbrechen von 1933 bis 1945 – in Westdeutschland so gut wie unbekannt, verfemt, gewissermaßen auf dem Index.«84 Aus der korrekten Feststellung, dass das Buch in der BRD unbekannt war, wird hier die eingeschränkte Behauptung extrapoliert, es stünde »gewisser-

82 83 84

Die Tat, 14.01.1956. Aufbau, Zürich, 27.01.1956. Die Tat, 14.01.1956.

4. Lord Russell of Liverpools Scourge of the Swastika

maßen auf dem Index«. Selbstverständlich tat es das nicht, schließlich wurde es ja im selben Text zum Kauf empfohlen. In seiner Rezension für den Schweizer Aufbau zwölf Tage später wiederholt Seehof fast identisch denselben Satz, erwähnt aber auch noch Das Dritte Reich und die Juden von Poliakov und Wulf, auf das sein Urteil angeblich auch zuträfe. Seehof sieht und benennt tatsächlich entscheidende Lücken im öffentlichen deutschsprachigen Diskurs über die NS-Verbrechen Mitte der 1950er-Jahre. Aber der mangelnde Einfluss seiner Sprecherposition und seine Verhaftung in den politischen Kategorien des Kalten Krieges machen Seehofs Texte wenig tauglich dafür, Russells Buch auf die Agenda des westdeutschen öffentlichen Diskurses zu den NS-Verbrechen zu setzen. Öffentlichkeitswirksamer war möglicherweise die zweimalige Erwähnung von Russells Buch in der linkssozialdemokratischen Wochenzeitung Die Andere Zeitung aus Hamburg in den ersten beiden Ausgaben des Jahres 1956.85 In der Ausgabe vom 5. Januar 1956 wird die Geißel gemeinsam mit Das Dritte Reich und die Juden anonym besprochen. Der relativ kurze Text erwähnt auch Russells Entlassung, geht sonst aber nicht weiter auf tagespolitische Themen des Kalten Krieges ein. Stattdessen nutzt er die Annahme, das Buch sei nur bei Volk und Welt erschienen, für eine Anklage gegen die Bundesrepublik: »Die Tatsache, daß es in Ost-Berlin erschienen ist, kann allenfalls als beschämend für die bundesrepublikanische Demokratie bezeichnet werden, jedoch nicht als billiges Argument, nun etwa an seiner Glaubwürdigkeit zu zweifeln.« Die Rezension betont auch die potenzielle emotionale Wirkung des Buches und der Fotografien, die dazu angetan seien, »den unbeschwerten Schlaf des deutschen Kleinbürgers zu stören«. Nur eine Woche später erschien dann in der Anderen Zeitung erneut ein Text zur Geißel der Menschheit, vermutlich nachdem die Redaktion darauf hingewiesen worden war, dass es auch eine bundesrepublikanische Ausgabe gab. In der zweiten Rezension wird der Skandal um Russells Entlassung noch einmal erwähnt, dem Röderberg-Verlag Mut für die Veröffentlichung attestiert und die hohe Glaubwürdigkeit des Buches betont. Darüber hinaus weist der Text explizit auf die »vom Verlag« hinzugefügten Fußnoten zu den BRDKarrieren einzelner Täter hin. Die politische Kritik, die in der Rezension der Anderen Zeitung geübt wird, bleibt also relativ konkret mit Inhalt und Form 85

Die Andere Zeitung, Hamburg, Nr. 1, 05.01.1956; Nr. 2, 12.01.1956.

143

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Übersetzung als Erinnerung

des Buches verbunden. Das macht sie auch innerhalb der Rezeption in der BRD-Presse zu einer Ausnahme, ähnlich wie den Text von Fritz Raddatz in der Berliner Zeitung in der DDR. Auch die Andere Zeitung kann aber nicht ausführlich und konkret über die von Russell und Czollek im Buch beschriebenen NS-Verbrechen und deren Bedeutung für Deutschland und Europa sprechen. Wie fast alle anderen Rezensionen aus der DDR und der BRD – mit Ausnahme derer von Raddatz – wählt die AutorIn den Ausweg über tagesaktuelle Anspielungen und kritische Bemerkungen, um nicht direkt über die Verbrechen sprechen zu müssen. Im Pressediskurs beider Länder findet im Zusammenhang mit Czolleks Übersetzung von Russells Buch also kein erwähnenswerter Wissenstransfer statt.

5. Johann Wolfgang Brügels Übersetzung von Gerald Reitlingers The Final Solution

5.1.

Das Original und der Autor

Russell war nicht der einzige Autor in Großbritannien, der sich Ende der 1940er und Anfang der 1950er-Jahre mit den Prozessunterlagen aus Nürnberg und den anderen Prozessen befasste. Über ein Jahr vor Russell und knapp zwei Jahre nach Poliakov und Wulf veröffentlichte Gerald Reitlinger im Frühjahr 1953 den ersten großen Gesamtüberblick über die Ermordung der europäischen Juden in englischer Sprache: The Final Solution. The Attempt to Exterminate the Jews of Europe 1939-1945.1 Im Unterschied zu Russell ist es Reitlingers Ziel, ein autoritatives, im Wortsinne maßgebendes Buch zu produzieren. Er macht seine Quellenbasis von Anfang an transparent und gibt dem Buch einen eindeutig geschichtswissenschaftlichen Charakter mit ausführlichen Zitaten und großem Fußnotenapparat. Gleichzeitig ist der Ton des Texts durchaus nicht bemüht nüchtern, sondern beschreibend und hin und wieder auch zynisch-bewertend.2 The Final Solution ist auch eines der ersten großen Produkte der Wiener Library, der von Alfred Wiener 1933 in London gegründeten Dokumentationsstelle für die Erforschung des deutschen Antisemitismus und der NSVerbrechen. Neben den Protokollen der Nürnberger Prozesse einschließlich aller Folgeprozesse sowie den Unterlagen, die im Niederländischen Institut für Kriegsdokumentation gesammelt wurden, beschreibt Reitlinger in seiner Danksagung die Sammlung der Wiener Library als wichtigste Grundlage seiner Arbeit. 1 2

Reitlinger, Gerald: The Final Solution. The Attempt to Exterminate the Jews of Europe 1939 – 1945. London, 1953. Zum Stil des Originals siehe Kap. 5.1.1.

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Übersetzung als Erinnerung

Wie Russell gehörte auch Gerald Roberts Reitlinger der konservativen britischen Oberschicht an. Sein Vater war Bankier und er besuchte eine der prestigeträchtigsten Privatschulen Englands, die Westminster School auf dem Gelände der Westminster Abbey, bevor er in Oxford Geschichte und später Kunstgeschichte studierte.3 Nach dem Militärdienst im Ersten Weltkrieg begann er eine Laufbahn als Journalist und Publizist zu kunstgeschichtlichen Themen und begleitete mehrere archäologische Expeditionen nach Vorderasien und China. Über diese schrieb er seine ersten beiden Bücher und erarbeitete sich einen Ruf als bedeutender Sammler islamischer Keramik. In den verfügbaren Quellen zu Reitlingers Biografie wird er nirgends als jüdisch beschrieben. Durch die Widmung an seine Tochter Venetia am Anfang von The Final Solution macht Reitlinger seine eigene Identifikation mit dem Judentum aber klar: »For Venetia/that one day she may read and know/the tragedy of her race.«4 Vermutlich 1948/49 begann Reitlinger mit der Arbeit an The Final Solution. Das Buch wurde 1953 im auf Judaika spezialisierten Verlag Valentine, Mitchell in London veröffentlicht. Im Anschluss schrieb er noch zwei weitere Bücher über nationalsozialistische Verbrechen: The SS. Alibi of a Nation (1956) und The House Built on Sand. The Conflicts of German Policies in Russia (1960). Danach wandte er sich wieder der bildenden Kunst zu und veröffentlichte eine dreibändige historische Studie über den Kunstmarkt unter dem Titel The Economics of Taste (1961-1970). Reitlinger war seit den 1930er-Jahren im Grenzbereich zwischen Wissenschaft und Publizistik als einkommensunabhängiger Privatgelehrter tätig und von keiner Institution abhängig. Der Blick auf Russells berufliche Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Publikation von The Scourge of the Swastika legt den Schluss nahe, dass diese unabhängige Position im Großbritannien der frühen 1950er-Jahre den Bereich des Sagbaren deutlich erweiterte, insbesondere wenn man zu NS-Verbrechen publizieren wollte. Reitlinger begann seine Arbeit bereits ohne Anbindung an eine Institution und konnte sie so ohne politische Konflikte durchführen. Diese Unabhängigkeit führte aber auch zur Veröffentlichung von The Final Solution in einem vergleichsweise kleinen und spezialisierten Verlag ohne große Marktreichweite. Zudem bedeutete diese Unabhängigkeit aber auch, dass Reitlin-

3

4

Biografische Details über Reitlinger aus: »Obituary Mr Gerald Reitlinger«, The Times, 11.3.1978; David A. Berry: »Gerald Roberts Reitlinger (1900-1979), writer and art collector«, Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004. Reitlinger, The Final Solution, S. V

5. Johann Wolfgang Brügels Übersetzung von Gerald Reitlingers The Final Solution

ger seine Arbeit an der ersten Monografie über die Ermordung der europäischen Juden ohne jede institutionelle Unterstützung und ohne Vorlektorat bewältigen musste. Zieht man den Pioniercharakter von Reitlingers Arbeit in Betracht und vergleicht die Rezeption mit dem skandalbefeuerten Erfolg Russells, kommt man wohl nicht umhin, von einer vergleichsweise geringen öffentlichen Resonanz zu sprechen.

5.1.1.

The Final Solution

Diese geringere öffentliche Resonanz ist aber nicht nur im fehlenden Skandal begründet, sondern liegt vor allem am wissenschaftlichen Charakter und dem großen Umfang des Werks. Die gebundene englische Erstauflage umfasste einschließlich Bibliografie, Fußnotenapparat und Index 622 Seiten. Das Buch ist in zwei Teile gegliedert, »The Search for the Final Solution« und »The Final Solution in Practice«. Der erste Teil beginnt mit einer Schilderung der antisemitischen Verfolgung in Deutschland von 1933 bis 1939 und geht dabei kurz auf die Schlüsselereignisse und Mechanismen ein: Nürnberger Gesetze, Novemberpogrome 1938, frühe Konzentrationslager und Auswanderungen. Jeweils eigene Unterkapitel widmet Reitlinger dann den ersten Deportationen nach Polen und später ins Baltikum und Russland, der Etablierung der Gettos, der Wannsee-Konferenz, dem Rückgriff auf die T4-Erfahrungen und der Entwicklung der Gaskammern als Tötungsmethode. Der zweite Teil ist geographisch-chronologisch gegliedert. Reitlinger beginnt mit einer ausführlichen Darstellung der Einsatzgruppen und ihrer Massaker in der Sowjetunion und schildert dann die Aktion Reinhard, die Liquidierung der Ghettos in Polen, dem Baltikum und der Sowjetunion. Die darauf folgenden Unterkapitel behandeln Deportationen und Verfolgung in Frankreich, Westeuropa, dem Balkan, der Slowakei, Rumänien und Ungarn. Das abschließende Kapitel beschreibt die Endphase der Judenvernichtung. Im Anhang präsentiert Reitlinger eine Zusammenfassung seiner Interpretation der Opferstatistiken sowie eine Liste mit sehr kurzen Nachkriegsbiografien von knapp 200 bekannteren Tätern aus NS-Organisationen, NS-Verwaltung, Regierung und Militär. Reitlingers Stil ist über weite Strecken nüchtern-beschreibend. Ein typisches Beispiel hierfür ist seine Schilderung der Quarantäne in Auschwitz auf S. 119: »Quarantine at Auschwitz was a sinister word. New arrivals who had escaped the gas chamber went into quarantine and also internees who were about

147

148

Übersetzung als Erinnerung

to be moved to other camps. Hoessler, the commandant of the Birkenau Frauenlager, declared at the Lueneburg trial that he also sent internees to the isolation block when it was proposed to change their work, but there is abundant evidence that the Revier was for these people only an ante-room for the crematoria.«5 Typisch für Reitlingers Stil ist, dass der einfache SPO-Satz den Absatz einleitet und das Thema »Quarantäne« präsentiert, aber auch bereits eine Wertung abgibt, die die RezipientInnen auf das vorbereiten soll, was folgt. Auf diesen einleitenden Satz folgt ein etwas komplexerer Aufzählungssatz mit zwei Nebensätzen, der die wichtigsten Gruppen von Häftlingen einführt, die von diesen Maßnahmen betroffen waren. Der dritte und längste Satz, mit insgesamt vier Nebensätzen, präsentiert kurz die Perspektive eines Täters in seiner Rolle als Angeklagter vor Gericht und widerlegt diese Perspektive dann im abschließenden Nebensatz. Im darauf folgenden Absatz erläutert Reitlinger, dass es trotz des zuvor beschriebenen Systems in Auschwitz eine große Zahl von Überlebenden gab, die diese Vorgänge in Berichten und Büchern schildern konnten, und versucht kurz zu erklären, warum sich die Überlebenschancen ab Ende 1943 für bestimmte Häftlinge verbesserten. Einen Untergegenstand einzuführen, ihn von verschiedenen Seiten zu beleuchten und dabei auch die Quellenlage transparent zu machen, ihn aber auch wertend bereits einzuordnen, ist die Methode, die sich Reitlinger zur Präsentation seines Themas idealtypisch vorgenommen hat. An keiner Stelle verfällt er in einen narrativen Modus, der über eine Geschichtsschilderung hinausgehend eine größere Geschichtserzählung versucht, wie das beispielsweise Bullock in Teilen seiner Hitler-Biografie recht erfolgreich tut. Auch gibt er seiner Schilderung keine andere übergeordnete Struktur, etwa wie Russell die einer Anklageschrift. Reitlinger hält sich durchgehend an sein Verfahren: Auf die Schilderung eines Vorgangs folgt eine Aufzählung von Opfern oder eine Diskussion von Opferzahlen; beide werden sodann auf ihre Belegbarkeit hin diskutiert. In vielen Abschnitten folgt darauf noch eine Einordnung in das Unterthema oder den Gesamtzusammenhang. Dieser Verzicht auf ein übergeordnetes Narrativ in Verbindung mit der zweiteiligen Struktur des Buches (»The Search for the Final Solution« und »The Final Solution in Practice«), die zwar eine Chronologie suggeriert, sie aber nur bedingt einhält, stellt an Reitlingers Publikum hohe Ansprüche. Der

5

Reitlinger, The Final Solution, S. 119. Im Folgenden: TFS.

5. Johann Wolfgang Brügels Übersetzung von Gerald Reitlingers The Final Solution

Text springt immer wieder in der Chronologie zurück und nach vorne. So schildert Reitlinger beispielsweise die Aufstände in Treblinka und Sobibor im ersten Teil (S. 144-145), während er die Rolle dieser beiden Lager im Kontext der Aktion Reinhardt erst im zweiten Teil (S. 261ff) abhandelt. Um sich über Unterthemen gründlich zu informieren, ist es deshalb bei der Lektüre oft sinnvoll, mithilfe des Index an verschiedenen Stellen des Buches nachzulesen. Eine weitere Lektürehürde stellt Reitlingers Eigenart dar, die Akteure seiner Erzählung nicht dort mit kurzen biografischen Skizzen einzuführen, wo sie im Text zuerst vorkommen, sondern dort, wo ihre Lebensgeschichten thematisch in die Gliederung passen, und sie an anderen Stellen zumeist lediglich mit Nachnamen zu benennen. Das führt dazu, dass mehr oder weniger alle wichtigen Täter, die Reitlinger benennt, bei ihrer ersten Erwähnung nicht oder kaum eingeführt werden. Das wiederum suggeriert, das Publikum müsse diese Personen bereits kennen. Bei Namen wie Himmler, Heydrich oder Goebbels mag dies auch in den 1950er-Jahren in Großbritannien durchaus funktioniert haben. Bei Figuren wie Odilo Globocnik oder Dieter Wisliceny kann Reitlinger aber nicht davon ausgegangen sein, dass sie den LeserInnen bekannt waren. Aus diesem Grund enthält der Text bei der ersten Nennung solcher Figuren oft Seitenverweise zu den Stellen, an denen sich ausführlichere biografische Informationen finden. Bei Globocnik beispielsweise ist dies in einer Fußnote auf Seite 43 der Fall, von wo die LeserInnen dann auf Seite 245/46 verwiesen werden.6 Insgesamt entsteht der Eindruck, Reitlinger habe das Buch nicht chronologisch geschrieben und es auch nicht als chronologisch zu lesendes Überblickswerk konzipiert. Vielmehr scheint The Final Solution als zusammenfassendes Nachschlagewerk gedacht zu sein, das, ähnlich wie Russells Buch, Erkenntnisse aus verschiedenen NS-Prozessen zusammenfast, Einzelaspekte des nationalsozialistischen Judenmords genauer behandelt und offene Fragen vor allem zu den Opferzahlen klären möchte. So enthält Teil 1 Kapitel zur Praxis der Deportation allgemein, den Gaskammern, der Wannsee-Konferenz

6

»He believed that these were ›wild deportations,‹, carried out in Vienna by party members and assisted by Globocnik, who had not yet been made Higher SS and Police Leader in Lublin. This introduction of the name of Globocnik, who was still in disgrace (see pages 245-46) is a little uncertain, since the purpose seems to have been (…)«. TFS, S. 43.

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Übersetzung als Erinnerung

und den Ghettos. Dies sind Kapitel, die als für sich stehende Texte thematische Überblicke bieten. In Teil 2 finden sich vor allem geografisch gegliederte Kapitel und Unterkapitel zur Verfolgung, Deportation und Ermordung von Juden in den verschiedenen deutsch besetzten Ländern, die ebenfalls als Einzeltexte klar umrissen und informativ sind. Es entsteht aber trotz der Ausführlichkeit, die manchen dieser Unterkapitel eigen ist, keine sie vereinigende narrative Gesamtstruktur. Gleichzeitig gibt es formal und strukturell im Buch keinen direkten Hinweis darauf, dass es als Nachschlagewerk konzipiert sei. Sicherlich zeigt die schwer nachvollziehbare narrative Struktur des Buches vor allem, wie schwierig es in den frühen 1950er-Jahren in Großbritannien gewesen sein muss, den nationalsozialistischen Judenmord monografisch in den Griff zu bekommen. Es fehlte Referenzliteratur, Reitlinger musste enorm viel Pionierarbeit bei der Erschließung von Quellen leisten. In seiner Bibliografie finden sich einige zentrale Texte, die heute immer noch als Grundlagentexte der Literatur zum und über den Holocaust zählen, wie Primo Levis damals noch nicht ins Englische übersetzter Bericht Si questo è un uomo oder Heinz Nordens Übersetzung von Kogons SS-Staat, The Theory and Practice of Hell von 1951 sowie Poliakovs damals ebenfalls noch nicht auf Englisch publiziertes Bréviaire de la haine.7 Was dem Buch allerdings auffällig fehlt, ist eine breitere Rezeption jüdischer und konkret jiddischsprachiger Quellen. Die Konzentration auf Quellen in den gängigen europäischen Sprachen (überwiegend Englisch und Deutsch) und die fehlende Berücksichtigung von weiterem, zum Zeitpunkt der Niederschrift verfügbarem Material wurde Reitlinger von zeitgenössischen KritikerInnen und ForscherInnen durchaus angelastet. Dieser Mangel war auch eines der Argumente, die von MitarbeiterInnen von Yad Vashem gegen eine Übersetzung des Buches ins Hebräische angeführt wurden.8 Ein weiteres zentrales Problem des Textes ist Reitlingers erklärte Motivation, die Opferzahlen zu überprüfen und nach unten zu korrigieren. Reitlinger erklärt diese mit dem Wunsch, die wahre, auch moralische Dimension des NS-Massenmordes an den Juden besser beleuchten zu können, wenn die

7 8

Reitlinger, TFS, S. 534ff. Zur Auseinandersetzung mit Reitingers Buch in Israel siehe: Roni Stauber: »Confronting the Jewish Response during the Holocaust: Yad Vashem. A Commemorative and a Research Institute in the 1950s«. Modern Judaism, Vol. 20, Nr. 3 (Oktober 2000), S. 277298.

5. Johann Wolfgang Brügels Übersetzung von Gerald Reitlingers The Final Solution

Opferzahlen über jeden Verdacht der Übertreibung erhaben wären. In seinem ersten Anhang erklärt er diese Motivation wie folgt: »In submitting the following estimates I realise that I may be accused of belittling the sufferings of persecuted communities, but I believe that the nature of this book is a guarantee of my good faith in that respect. The figure used at Nuremberg was supplied by the World Jewish Congress at a moment when little reputable data were available. Constant repetition of that figure has already given anti-semitic circles on the Continent and in Germany in particular the opportunity to discredit the whole ghastly story and its lessons.«9 Reitlinger sieht hier einerseits, aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar, ernsthaft die Gefahr, »zu hoch angesetzte« Opferzahlen könnten Wasser auf die Mühlen von Revisionisten und Leugnern sein. Gleichzeitig etabliert er die Frage nach der genauen Opferzahl als Hauptmovens für eine Erforschung des Judenmords. Viele dieser strukturellen und textstrategischen Schwierigkeiten sind auf Reitlingers Grundverständnis der »Endlösung« als der politisch-bürokratischen Umsetzung eines Führerwillens zurückzuführen. Dieses Verständnis ist auch dafür verantwortlich, dass die Perspektive der Opfer in Reitlingers Text kaum Platz hat. Nach Reitlingers Interpretation war die »Endlösung« die »praktische Lösung« eines »Problems«, das der deutsche Diktator als solches identifiziert hatte. Entsprechend spielen historische Entwicklungen vor Hitlers Regierungszeit, ideologische Strömungen in der deutschen Kultur seit der Romantik oder der Antisemitismus der Bevölkerung in den besetzten Gebieten kaum eine Rolle in seiner Darstellung. Auch deshalb sieht er keine Eskalation der NS-Judenpolitik, sondern eine relativ geradlinige Entwicklung, die nur immer wieder vom Kriegsverlauf unterbrochen oder umgeleitet wurde. Zu Beginn des ersten Kapitels schreibt Reitlinger: »It was not only that Hitler chose the easiest course but that, as he became immersed in the conduct of total war, he lost interest in the devilish thing that he had started. […] Only towards the end of the war he appears to have become aware of the extent to which his orders had been disregarded and of the scale on which European Jewry had survived, a fact which he acknowl-

9

TFS, S. 489.

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edged in the political testament which he dictated in the Reich Chancellory [sic!] bunker on April 30th, 1945 […].«10 Diese Interpretation, die den Holocaust unter anderem als ein gescheitertes bürokratisches Projekt betrachtet, färbt und formt Reitlingers gesamten Text und führt auch zu einigen der strukturellen Probleme. Es ist dies eine Position, die vor allem in der BRD in den ersten Nachkriegsjahrzehnten unter HistorikerInnen stark vertreten war, die aber in den letzten Jahrzehnten innerhalb der Holocaustforschung immer minoritärer wurde. Ihre prominente Funktion innerhalb Reitlingers Text ist ein weiterer Grund dafür, dass dem Buch seit den 1960er-Jahren kaum noch Beachtung geschenkt wurde. Gleichzeitig war diese täterseitige Perspektive sicherlich auch ein Grund für das Interesse an Reitlingers Buch in anti-nationalsozialistischen Kreisen in Westdeutschland.

5.1.2.

Rezeption in Großbritannien

Die oben angeführten Rezeptionshürden machen sich auch in der ansonsten durchaus positiven zeitgenössischen Rezeption von The Final Solution in der britischen Presse11 bemerkbar. So lobt R.H.S. Grossman im Labournahen New Statesman and Nation in seiner Rezension die Informationsfülle von Reitlingers Buch, insbesondere wo es um die Funktionsweisen der NS-Bürokratiemaschinerie und die Nachkriegskarrieren der am Massenmord beteiligten deutschen Bürokraten geht. Gleichzeitig moniert er den problematischen Aufbau des Buches:

10 11

TFS, S. 4 Dass das Buch kompositorische und stilistische Probleme birgt, scheint tatsächlich vor allem eine Position der Rezensionen in der Tages- und Wochenpresse gewesen zu sein. Im akademischen Kontext gab es durchaus auch andere Positionen, wie z.B. in der sehr lobenden Rezension der Zeitschrift der Royal Society for International Affairs, die dem Text attestieren, »a narrative pulsating with life from the first page to the last« zu sein. Dieselbe Rezension lobt allerdings auch Reitlingers Versuch, die Opferzahl von sechs Millionen, wie sie vom Nürnberger Gerichtshof angenommen wurde, nach unten zu korrigieren. Albert M. Hyamson: »Review«. International Affairs (Royal Institute of International Affairs 1944-), Vol. 29, No. 4 (Okt. 1953), S. 494-495.

5. Johann Wolfgang Brügels Übersetzung von Gerald Reitlingers The Final Solution

»Unfortunately, Dr Reitlinger’s book is almost as confused and confusing as the events he describes. In order to sort his material out, I have had to read it three times, and even now I am not sure that I have got it right.«12 Etwas gnädiger fällt das Urteil in der Doppelrenzension im Times Literary Supplement aus, in der Reitlingers Buch gemeinsam mit der englischen Übersetzung von Henry Pickers »Hitlers Tischgespräche« besprochen wird: »Mr. Reitlinger […] has made a brave attempt to piece together the whole story of these logical conclusions translated into action. No human being worthy of the name could read straight through this ghastly chronicle of the Nazi attempt to exterminate the Jews of Europe, but it will prove extremely useful that it should have been compiled.«13 Hier wird die Schwierigkeit der Lektüre noch hauptsächlich im Gegenstand des Buches verortet, der sich einer geordneten, einordnenden Bearbeitung durch seine Dimension und seine Grausamkeit zu entziehen scheint. Gleichzeitig lässt die Rezension keinerlei Zweifel daran, dass der Versuch, den Reitlinger unternommen hat, gescheitert ist. Auffällig ist aber sowohl in der Presse als auch im akademischen Kontext, dass niemand den Pioniercharakter von Reitlingers Arbeit anzweifelt. Es wird aus fast allen Texten deutlich, dass mit The Final Solution ein erstes englischsprachiges Buch zu einem schwierig zu behandelnden Thema vorliegt, auf das noch viele folgen werden. Im Vergleich zur Rezeption von Russells Scourge of the Swastika konzentrieren sich die britischen Rezensionen von Reitlingers Buch mehr auf die Qualitäten und den Inhalt des Werks. Insbesondere nutzt die Presse das Erscheinen des Buches, um das von Reitlinger Referierte noch einmal kurz zusammenzufassen, da ja bisher keine Monografie zum Thema vorlag. Ein extremes Beispiel hierfür ist die Rezension in der historischen Fachzeitschrift The 20th Century. In der Ausgabe vom August 1953 erschien ein sehr ausführlicher Artikel von G. F. Hudson, in dem er Reitlingers Ergebnisse ohne jede kritische Einordnung oder Bewertung referiert.14 Es geht dabei explizit auch um den konkreten Beginn einer Historiografie der NS-Verbrechen:

12 13 14

R. H. S. Grossman: »The Ethics of Extermination«, New Statesman and Nation, 31 October 1953. »Nazi Records«, Times Literary Supplement, 1. Mai 1953. G.F. Hudson: »The Trains to Auschwitz«, The Twentieth Century, August 1953, S. 108

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»The historians have entered the field after the lawyers have finished their work, and recently they have given us several works which combine a sufficiency of detailed research […] with a detachment and comprehensiveness of view which were hardly possible for a liberal and humane mind during and just after the Hitler epoch.« Hier wird wieder deutlich, dass Reitlingers Buch aufgrund seiner Anlage, Fragestellung und Quellenverwendung eindeutig als Historiografie wahrgenommen wurde, während Russells Buch als populäres Sachbuch und überwiegend im Zusammenhang mit aktuellen tagespolitischen Fragen diskutiert wurde. Doch auch Reitlingers Buch wird an vielen Stellen vor allem im Kontext aktueller politischer Konfliktlagen interpretiert. Der New Statesman beginnt seine Rezension mit einem Zitat aus dem Buch, in dem die Installation der Gaskammern beschrieben wird. Der Kritiker Grossman verknüpft dieses Zitat mit Informationen über Dr. Lohse, der zu diesem Zeitpunkt in Freiheit lebte und von der Bundesrepublik eine Rente bezog.15 Auch letztere Information entstammt dem zweiten Anhang von Reitlingers Buch, in dem die Nachkriegsschicksale bzw. -karrieren von über 200 Haupttätern und NS-Größen kurz zusammengefasst werden. Grossman referiert ausführlich mehrere Fälle von NS-Tätern, die 1953 in Freiheit, Sicherheit und hohen Ämtern waren. Diese Fragen nach den personellen Kontinuitäten zwischen Nazideutschland und dem neuen Bündnispartner BRD wurden in der britischen Öffentlichkeit auch aus politischem Kalkül heraus kaum in der aktuellen Debatte gestellt. So bot die Rezension eines historischen Werkes einen sehr guten Anlass, diese fortlaufenden Karrieren zu problematisieren. Von diesem aktuellen Aufhänger aus widmet sich Grossman dann aber sehr intensiv dem Buch und seinen Qualitäten, bevor er den nationalsozialistischen Judenmord schließlich wieder an eine aktuelle Frage anbindet: Die nach den Atomwaffen und ihrem Einsatz. Aus dieser aktuellen Perspektive bringt der Text den NS-Massenmord mit dem Atomwaffeneinsatz über Hiroshima und Nagasaki zusammen und endet mit der Frage nach Rechtskategorien und Moral: »Let us grant that anti-Semitism is an anti-social attitude which the Germans organised into mass murder. That is a clear crime. But the problem remains. If we condemn their mass murder, how do we defend our own?«16 15 16

Grossman, New Statesman. Grossman, New Statesman.

5. Johann Wolfgang Brügels Übersetzung von Gerald Reitlingers The Final Solution

Hier wird, wie schon bei der Rezeption von Russells Buch, deutlich, wie stark die Wahrnehmung dieser ersten Werke über den Holocaust von den außenund innenpolitischen Konfliktlinien des Kalten Krieges geprägt war. Gleichzeitig wird deutlich, dass der Autor des New Statesman einen deutlich größeren Bogen schlagen muss, um den direkten Bezug zur Tagespolitik des Kalten Krieges herzustellen, als es bei Rezensionen zu Russells Scourge der Fall war, da Russells Buch von Anfang an unabhängig von seinem Inhalt skandalisiert wurde. Reitlingers Buch ist weniger Politikum und damit mehr Historiografie. Als Artefakt hat es politisch einen sehr viel geringeren Stellenwert.

5.2.

Die Endlösung. Hitlers Versuch der Ausrottung der Juden Europas 1939-1945

5.2.1.

Vorfelddebatten und Vorbereitungen

Reitlingers Final Solution war in Großbritannien ein Jahr vor Russells Scourge erschienen, die deutsche Ausgabe kam aber erst einige Monate nach der von Russells Buch auf den westdeutschen Markt.17 Dies erklärt sich zunächst vor allem dadurch, dass der Umfang des Werks sowie sein wissenschaftlicher Umgang mit Quellen einen viel größeren übersetzerischen Arbeitsaufwand mit sich brachte. Zudem gingen der Unterzeichnung eines Übersetzungsvertrages intensive politische Hintergrundarbeiten voraus. Ebenso wie die deutsche Übersetzung von Russells Buch in der DDR war nämlich die Übersetzung von Reitlingers Buch in der BRD ein vergangenheitspolitischer Akt mit direkter Beteiligung verschiedener staatlicher Stellen bis hinauf ins Kanzleramt. Der Verlag, der das Buch im Deutschen veröffentlichen sollte, war – ebenso wie in Russells Fall Volk und Welt und der Röderberg-Verlag – ein publizistisches Organ, das im Kalten Krieg eine klare und aktive Position einnahm: Der Colloquium-Verlag ging aus einer Studentenzeitschrift gleichen Namens hervor, die mit intensiver Unterstützung amerikanischer Behörden eine wichtige Rolle bei der Gründung der West-Berliner Freien Universität gespielt hatte und die in den 1950er-Jahren zur offiziellen Studentenzeitschrift

17

Gerald Reitlinger: Die Endlösung. Hitlers Versuch der Ausrottung der Juden Europas 19391945. Aus dem Englischen von J.W. Brügel. Berlin, Colloquium Verlag 1956.

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der FU mit angeschlossenem Buchverlag avancierte.18 Geleitet wurden Zeitschrift und Verlag von Otto H. Hess, der in den späten 40er Jahren als Student Mitglied der SPD gewesen und an den Konflikten um die Gründung der FU beteiligt gewesen war. Er verstand sich sowohl als Antifaschist als auch als Antikommunist. Colloquium veröffentlichte seit den frühen 1950er-Jahren überwiegend subventionierte akademische Sammelbände, Festschriften und Monografien von WissenschaftlerInnen, die an der FU arbeiteten. Auf Anregung des deutsch-jüdischen Politikwissenschaftlers Ossip K. Flechtheim begann Hess bereits 1953, sich um die deutschen Rechte an Reitlingers Final Solution zu bemühen.19 Da eine so umfangreiche Übersetzung aus dem Englischen nicht in das universitäre Programm des Verlags passte und für Colloquium alleine nicht finanzierbar war, wandte sich Hess an die Bundeszentrale für Heimatdienst, die Vorläuferorganisation der heutigen Bundeszentrale für Politische Bildung, und bat um Unterstützung. Der erste Leiter der Bundeszentrale, Dr. Paul Franken, hatte ab den späten 1930erJahren Kontakt zu katholisch-konservativen Widerstandskreisen gehabt und war über ein Jahr lang in Schutzhaft im Gestapogefängnis Düsseldorf inhaftiert gewesen.20 Gegen Widerstand aus dem Kanzleramt und anderen Ministerien konnte Franken durchsetzen, dass sich seine Behörde finanziell und durch die garantierte Abnahme eines Teils der Auflage an Übersetzung und Publikation beteiligte. Schlussendlich bedurfte es für die Umsetzung des Projekts allerdings einer direkten Intervention von Bundespräsident Heuss, der den Innenminister Gerhard Schröder im Juli 1954 persönlich anwies, entsprechende Schritte bei der Bundeszentrale einzuleiten.21 Die Beteiligung der Bundeszentrale an der Publikation von Reitlingers Buch wird im Zusammenhang mit dem Fall Richard Korherr, der in den 1950er-Jahren Ministerialrat im Finanzministerium war, noch von Bedeutung sein (siehe Kap. 5.3.1).

18

19 20

21

Klaus Körner: »›Stürmt die Festung Wissenschaft!‹ Otto H. Hess und der ColloquiumVerlag 1947-1992.« In: Aus dem Antiquariat. Zeitschrift für Antiquare und Büchersammler, 6/2006, S. 415-432. Details zur Publikationsgeschichte der deutschen Übersetzung in ebd., S 423f. Michael F. Feldkamp: »Paul Franken (1903-1984). Direktor der Bundeszentrale für politische Bildung. In: Günter Buchstab, Brigitte Kaff, Hans Otto Kleinmann (Hg.): Christliche Demokraten gegen Hitler. Aus Verfolgung und Widerstand zur Union. Freiburg i.Br.. 2004, S. 172-178. Körner,»›Stürmt die Festung Wissenschaft‹«, S. 425

5. Johann Wolfgang Brügels Übersetzung von Gerald Reitlingers The Final Solution

Ein weiterer Schritt, von dem sich Hess Vorteile für seine Verhandlungen mit der Bundeszentrale erhoffte, war das Einholen eines positiven Gutachtens zu Reitlingers Werk und/oder einer Zusage zur Mitarbeit an Übersetzung und Publikation vom noch jungen, aber bereits sehr angesehenen Münchner Institut für Zeitgeschichte. So wurde auf der Kuratoriumssitzung des Instituts vom 25.6.1954 darüber diskutiert, eine Übersetzung von Reitlingers Buch herauszugeben, die Idee dann aber verworfen, weil man am If Z ein eigenes Überblickswerk zur Judenvernichtung schaffen wollte: »Rechtsanwalt H. Becker regt an, eine Übersetzung des Buchs von Reitlinger, The final solution, durch das Institut vorzunehmen. Die Erörterung des Vorschlages wird verknüpft mit dem Plan einer Gesamtdokumentation zur Judenpolitik des Dritten Reiches, den das Institut kürzlich in Zusammenarbeit mit der Wiener Library in London aufgenommen hat. Eine Übersetzung Reitlingers würde diesen Plan stören, und Professor Rothfels erklärt sich bereit, eine Besprechung von Reitlinger in Form einer Miszelle in der Zeitschrift vornehmen zu lassen. Hinsichtlich der Dokumentation zur Judenfrage wird der verpflichtende Auftrag des Instituts zu einem solchen Werk allgemein betont; es soll wohl in freundlicher Zusammenarbeit mit der Wiener Library, aber in seinem äußeren Gewande allein als Institutsunternehmen durchgeführt werden.«22 Eine solche Besprechung ist dann nie erschienen. Es drängt sich der Eindruck auf, der Unwille zur Mitarbeit an oder wenigstens zur publizistischen Unterstützung der Reitlinger-Übersetzung könnte nicht nur in der üblichen Konkurrenzsituation unter AkademikerInnen begründet gewesen sein. Vielmehr scheint immer wieder auch eine gewisse nationale Konkurrenz eine Rolle gespielt zu haben. Beim Institut für Zeitgeschichte war man in den ersten Nachkriegsjahrzehnten anscheinend grundsätzlich der Ansicht, dass das Fehlen einer originalsprachlichen deutschen Studie zu den NS-Verbrechen auch nicht ansatzweise durch eine Übersetzung ausgeglichen werden konnte, wie auch später das ablehnende Gutachten über Hilbergs The Destruction of the European Jews aus dem Nachlass von Helmut Krausnick zeigt.23

22

23

Ergebnisprotokoll über die gemeinsame Sitzung von Kuratorium und Beirat des Instituts für Zeitgeschichte München am 25.6.1954 (10.00 bis 16.15 Uhr) in München, Bayer. Staatsministeriumf. Wirtschaft. Institut für Zeitgeschichte München, Hausarchiv, ID 3-2-27. Negatives Übersetzungsgutachten ohne Autor, Nachlass Krausnick, IfZ, ED 419-1-112

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Der Übersetzer J.W. Brügel selbst konnte das If Z dann aber doch noch dazu bringen, ihn bei der Übersetzung zu unterstützen. Brügel stand wegen seiner Forschungen zur deutsch-tschechischen Geschichte bereits seit mindestens 1954 mit Helmut Krausnick, dem späteren Leiter des Instituts, in Kontakt. Im ersten Brief von Brügel an Krausnick, der im Hausarchiv des If Z zu finden ist,24 erwähnt Brügel einen Besuch im Institut und ein Treffen mit Krausnick im November 1954, bei dem beide auch darüber gesprochen hätten, dass Brügel möglicherweise die Übersetzung von Reitlingers Buch übernehmen würde. Der Kontakt zum Colloquium-Verlag muss allerdings über andere Kanäle, vermutlich über die Bundeszentrale für Heimatdienst, zustande gekommen sein, da Brügel es in seinem Brief vom April 1955 für nötig hält, Krausnick über den Namen des Verlages zu informieren. Im oben erwähnten Schreiben bittet Brügel Krausnick um Hilfe bei der Suche nach den deutschen Originaltexten von Quellen, die Reitlinger in englischer Übersetzung zitiert und die Brügel weder vom Autor selbst erhalten noch in Londoner Bibliotheken finden konnte. Aus dem Brief geht ebenfalls hervor, dass Brügel im November 1954 noch nicht mit den konkreten Übersetzungsarbeiten begonnen hatte, dass er aber zum Zeitpunkt des Schreibens, also im April 1955, »diese Übersetzung so gut wie fertiggestellt« hatte und nur noch auf den Korrekturdurchgang nach dem Lektorat wartete, bei dem er die fehlenden Originaltexte einfügen wollte.25 Der Colloquium-Verlag konnte die deutschsprachige Ausgabe Die Endlösung im Juli 1956 bei einer Veranstaltung mit Willy Brandt in Berlin präsentieren. Allein 1956 folgten darauf bereits zwei weitere Auflagen. Die Endlösung befand sich bis zur Auflösung des Colloquium-Verlags 1992 in Druck, damals in der 7. Auflage, und war, wie Klaus Körner in seinem verlagsgeschichtlichen Aufsatz schreibt, der »Longseller der wissenschaftlichen Veröffentlichungen des Verlages.«26 Nach den 1950er-Jahren mag sich die deutsche Fassung von Reitlingers Buch als Pionierwerk der Holocaustforschung ohne staatliche Unterstützung auf dem Buchmarkt gehalten haben. Aber seine Erstpublikation war ein subversiver vergangenheitspolitischer Kraftakt sozialdemokratischer, liberaler, konservativer und jüdischer antinazistischer Einzelpersonen in der

24 25 26

Brügel an Krausnick, 27. April 1955, IfZ/Hausarchiv, ID 103-30-138 Ebd. Körner, Stürmt die Festung Wissenschaft, S. 423f.

5. Johann Wolfgang Brügels Übersetzung von Gerald Reitlingers The Final Solution

deutschen Politik und Öffentlichkeit.27 Diese hatten ein aktives Interesse an einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen und versuchten mit durchaus pädagogischer Motivation den Verdrängungs- und Entschuldungskonsens in der BRD zu unterlaufen und wenn möglich auch zu öffnen. Dass sie dabei auch den Konsens in der westdeutschen Historikerzunft subvertieren konnten, die Deutschen wüssten naturgemäß am meisten über die NS-Verbrechen, ist durchaus bemerkenswert. Es zeigt, dass auch in den 1950er-Jahren der Diskurs über den Holocaust, wie er dann spätestens ab Ende der 1970er-Jahre in der BRD geführt wurde, in sehr begrenzten Rezeptions- und Diskursräumen in Latenz vorhanden war.

5.2.2

Der Übersetzer Johann Wolfgang Brügel

Johann Wolfgang Brügel war unter anderem Jurist, Publizist, Beamter, Sozialdemokrat, Mitglied der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei, Exilant und Übersetzer. Er wurde 1905 in Hustopece/Auspitz in Mähren geboren, promovierte in Rechtswissenschaft an der Deutschen Universität in Prag und war ab 1928 Beamter der tschechoslowakischen Staatsverwaltung. Bereits 1924 trat er in die Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik (DSAP) ein. Von 1930 bis zu seiner Emigration 1939 arbeitete Brügel als Privatsekretär des DSAP-Vorsitzenden Ludwig Czech, der von 1929 bis 1938 verschiedene Ministerposten bekleidete. Entsprechend war Brügel in hierarchisch untergeordneter Funktion ebenfalls Regierungsbeamter. 1939 emigrierte Brügel zuerst nach Paris und dann 1940 nach London. Im Exil begann er sofort mit seiner publizistischen Tätigkeit für Zeitschriften des deutschen und sudetendeutschen Exils. In London hatte er darüber hinaus von 1940 bis 1945 eine Position als Beamter der tschechoslowakischen Exilregierung unter Edvard Beneš inne. Nach der Befreiung der Tschechoslowakei 1945 wurde er nach Prag zurückberufen, überwarf sich aber schnell mit den neuen kommunistischen Machthabern und ging bereits 1946 wieder zurück nach London, wo er für den Rest seines Lebens blieb.28 Ab 1946 führte Brügel in London das Leben eines exilierten Publizisten. Er verdiente sein Geld mit journalistischen Beiträgen für deutschsprachige

27 28

Konkret waren das die oben erwähnten Otto Hess, Ossip K. Flechtheim, Paul Franken und J. W. Brügel. Biografische Eckdaten zu Brügel aus: Archiv der Sozialen Demokratie: »Lebenslauf Johann Wolfgang Brügel«, vorangestellt dem dort archivierten Nachlass Brügels.

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Übersetzung als Erinnerung

sozialdemokratische und gewerkschaftliche Zeitschriften29 sowie als Übersetzer und Dolmetscher. Bis 1955 hatte er darüber hinaus eine Teilzeitstelle bei der BBC, wo er Presseschauen für den deutschsprachigen Raum erstellte.30 Man muss also davon ausgehen, dass er mit der Arbeit des Übersetzens durchaus vertraut war. Dennoch ist aus seinem Lebenslauf nicht ersichtlich, dass er in irgendeiner Form Routine bei der Übersetzung von Sachtexten aus dem Englischen ins Deutsche gehabt hätte als er 1954/1955 den Auftrag zur Übersetzung von Reitlingers Buch erhielt Zu diesem Zeitpunkt liegen keine publizierten Übersetzungen ins Deutsche von ihm vor. Die Endlösung war also, soweit sich das anhand der Quellenlage beurteilen lässt, Brügels erste Übersetzung einer ganzen Monografie vom Englischen ins Deutsche. In der Folge übersetzte Brügel auch lediglich noch Reitlingers drittes Buch über den Nationalsozialismus, The House Built on Sand31 , und keine weiteren Monografien. Aus der Korrespondenz in seinem Nachlass geht allerdings hervor, dass er fast bis zu seinem Lebensende mit dem Übersetzen befasst blieb und es immer wieder als Einkommensquelle nutzte. So bekam er beispielsweise 1956 eine vertrauliche Anfrage vom britischen War Office bezüglich »employment where use could be made of your knowledge of languages«.32 Dieses Jobangebot hat Brügel vermutlich angenommen, da ein Vordruck für eine negative Antwort noch im Nachlass liegt. Noch im Januar 1977 bewarb sich Brügel um freie Mitarbeit bei einem größeren deutsch-englischen Wörterbuchprojekt des Verlags Collins. Ihm wurde daraufhin sogar eine Stelle angeboten, allerdings hätte er laut des Verlags eine Wohnung in Glasgow nehmen müssen, weswegen es dann nicht zur Zusammenarbeit kam.33 Aus dem Nachlass ergibt sich das Bild eines Journalisten und historisch-politischen Publizisten, der aufgrund seiner Kenntnisse dreier Sprachen (Deutsch, Tschechisch, Englisch) in Großbritannien immer wieder auch als Übersetzer und Lektor gefragt war, nicht zuletzt auch von Regierungsseite. 29 30 31

32 33

Darunter die Gewerkschaftlichen Monatshefte in Hamburg, Die Zukunft in Wien, und die Schweizerische Bau- und Holzarbeiterzeitung in Zürich. Das geht aus einem undatierten, nicht abgeschickten Brief mit unbekanntem Empfänger hervor. Archiv der Sozialen Demokratie, Nachlass Brügel, Ordner 27. Gerald Reitlinger: The House Built on Sand. The Conflicts of German Policy in Russia. London 1960. Deutsch von J.W. Brügel: Ein Haus auf Sand gebaut: Hitlers Gewaltpolitik in Russland. Hamburg 1962. Brief vom 27. August 1956 vom War Office an Brügel. AdSD, Nachlass Brügel, Ordner 27. Brief vom 18. Februar 1977 von Collins, Glasgow, an Brügel. AdSD, Nachlass Brügel, Ordner 24.

5. Johann Wolfgang Brügels Übersetzung von Gerald Reitlingers The Final Solution

Sein großes publizistisches Thema war ab den späten 1940er-Jahren die deutsche Minderheit in Tschechien und das deutsch-tschechische Verhältnis. Nicht zuletzt durch seine Übersetzung von Reitlingers Buch wurde in den 1950er-Jahren auch das Münchner Institut für Zeitgeschichte auf ihn aufmerksam und es begann eine regelmäßige Korrespondenz mit Helmut Krausnick, Martin Broszat und anderen Mitarbeitern, die bei ihm Expertise zur Geschichte der Tschechoslowakei und der deutschen Minderheit einholten.34 1957 veröffentlichte er seinen ersten Beitrag in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte.35 1967 erschien dann sein Hauptwerk, die Monografie Tschechen und Deutsche 1918-1938. In seinen Texten zu diesem Thema bemüht sich Brügel um ein differenziertes Bild. Er spricht deutlich die Demokratiefeindlichkeit großer Teile der sudetendeutschen Gemeinschaft in der Tschechoslowakischen Republik an und stellt Edvard Beneš in einem merklich positiveren Licht dar, als es in der bundesrepublikanischen Publizistik der Zeit üblich war. Diese Positionen brachten ihn immer wieder in Konflikt mit dem Vertriebenenfunktionär und Sozialdemokraten Wenzel Jaksch, der in den 1950er- und 1960erJahren in einem ähnlichen Umfeld zum selben Thema veröffentlichte. Brügel verstarb 1986 in London als sozialdemokratischer Exilant, der aber in der Bundesrepublik ausdrücklich hoch geehrt wurde. 1977 hatte ihm der damalige Bundespräsident Walter Scheel einen Ehrenprofessor-Titel verliehen. Seinen Nachlass übergab Brügel dem Archiv der Sozialen Demokratie in Bonn. Aus diesem Nachlass geht auch hervor, dass Brügel bei aller Identifikation als Tschechoslowake und deutscher Sozialdemokrat durchaus auch ein britisches Leben hatte. So nahm er regelmäßig an Sitzungen seines Ortsvereins der Labour Party teil und war in einer britischen Gewerkschaft organisiert.36 Brügels publizistische Karriere weist eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit mit der von Roswitha Czollek auf, der Übersetzerin von Russells Buch. Wie bei Czollek folgte auch bei Brügel auf die staatlich finanzierte Übersetzung einer wichtigen Monografie zu nationalsozialistischen Verbrechen eine Laufbahn als Fachpublizist und Historiker, die bei Brügel die Tätigkeit als Übersetzer zwar nicht beendete, sie aber doch deutlich einschränkte. Für beide war also

34 35 36

Briefe in: AdSD, Nachlass Brügel, Ordner 22, 23. J.W. Brügel: »Eine zerstörte Legende um Hitlers Außenpolitik«, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 4/195, S. 385. Mehrere Einladungen zu Sitzungen der Finchley Constituency Labour Party aus dem Jahr 1951 finden sich im AdSD, Nachlass Brügel, Ordner 28.

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Übersetzung als Erinnerung

die Übersetzungstätigkeit auch ein Schritt auf dem Weg, sich als ExpertIn zum Thema im akademischen und publizistischen Kontext zu etablieren.

5.2.3

Der deutsche Text

Mehr als alles andere war die deutsche Übersetzung von Reitlingers Buch wahrscheinlich eine Herkulesaufgabe für Brügel. Mit allen Anhängen umfasst The Final Solution in der Originalausgabe von Valentine, Mitchell 622 Seiten. Zwischen der Beauftragung Brügels durch den Colloquium-Verlag, die nach der Intervention von Bundespräsident Heuss im Juli 1954 erfolgt sein musste37 , und dem Erscheinen der deutschen Ausgabe im Juli 1956 lagen weniger als zwei Jahre. Aus dem oben zitierten Schreiben an Krausnick vom 27. April 1955 geht hervor, dass Brügel die 698 klein gedruckte und eng gesetzte Seiten lange deutsche Fassung zwischen Dezember 1954 und Ende April 1955 in Rohform produziert hat. Nach eigenen Angaben sowie nach dem oben zitierten Brief und nach Informationen von Klaus Körner stand Brügel während dieser Zeit in regelmäßigem Kontakt mit Reitlinger38 . Der deutsche Text zeigt außerdem, dass er weitestgehend über dieselben Quellen wie der Autor verfügte, zumal Reitlinger diese in der ausführlichen Bibliografie, die auch Teil von Brügels Übersetzung ist, genau auflistet. Brügel und das Lektorat bei Colloquium haben diese große Herausforderung bewältigt und eine nach zeitgenössischen Maßstäben angemessene Übersetzung produziert. Allerdings birgt diese deutsche Fassung auch sämtliche der strukturellen Probleme des Originals und fügt ihnen noch weitere, eigene Schwierigkeiten und Rezeptionshindernisse hinzu. Wie die übersetzerischen Entscheidungen Brügels sowie die Umstände der Übersetzung als Produkt westdeutschen staatlichen Handelns den Text geformt und geprägt haben und wie Brügel bei seiner Übersetzung mit den Grenzen des 37

38

Klaus Körner schreibt in »Stürmt die Festung Wissenschaft« (S. 424): »Bundespräsident Heuss schrieb im Juli 1954 an Innenminister Gerhard Schröder, dem die Bundeszentrale unterstand, er möge den Weg freimachen für eine ordentliche Übersetzung und Finanzierung des Buchs und den Ankauf einer Teilauflage durch die Bundeszentrale.« Brügel wandte sich am 27.4.1955 an Krausnick: »Leider hat der Verlag (ColloquiumVerlag, Berlin) so stark auf die Ablieferung des Manuskripts gedrängt, daß ich bei vielen Zitaten, die ich in der Eile im Urtext nicht auffinden konnte, zu Rückübersetzungen greifen mußte. Ich habe mir aber das Recht vorbehalten, diese im Wege der üblichen Korrekturen einzufügen.« IfZ, Hausarchiv, ID 103-30-138. Körner, «,Stürmt die Festung Wissenschaft‹«, S. 424.

5. Johann Wolfgang Brügels Übersetzung von Gerald Reitlingers The Final Solution

im Deutschen Sagbaren zu kämpfen hatte, möchte ich hier näher untersuchen. Allgemein lässt sich festhalten, dass Brügel sich an vielen Stellen für einen etwas überladenen, teilweise verschachtelten Stil entschieden hat, der möglicherweise auch in den Traditionen des deutschsprachigen Post-K.u.K.Verwaltungsapparates wurzelte, in dem Brügel teilweise schreibsozialisiert wurde. In diesem Zusammenhang lässt sich auch gut zeigen, wie dieser Stil dazu beiträgt, die Informationen, die der Text enthält, im Deutschen teilweise weniger deutlich zu formulieren, als das Original dies tut. Selbstverständlich soll die Diskussion dieser Probleme nicht den Pioniercharakter des Buches insbesondere im westdeutschen Kontext schmälern, wo es für mehr als ein Jahrzehnt eines der ganz wenigen Überblickswerke über das nationalsozialistische Menschheitsverbrechen bleiben sollte.

5.2.3.1.

Fachkenntnisse und übersetzerische Routine, Übersetzungsfehler

Die Analyse des deutschen Textes ergibt kein geschlossenes Bild, was die übersetzerische Professionalität und Routine Johann Wolfgang Brügels angeht. Gleichzeitig können keine Zweifel an seiner fachlichen Qualifikation bestehen. Bei der Arbeit mit Reitlingers Quellen ging Brügel mit der Professionalität des akademisch ausgebildeten Fachpublizisten vor. Es finden sich keine auffälligen Rückübersetzungen oder fehlerhafte Zuordnungen von Quellenmaterial in der Übersetzung. Aus der Korrespondenz zwischen Brügel und Krausnick geht hervor, dass Autor und Übersetzer direkt zusammenarbeiteten39 und Brügel so Zugang auch zu weniger leicht beschaffbarem Quellenmaterial hatte. Darüber hinaus wandte sich Brügel im April 1955 an Krausnick, um ihn darum zu bitten, die letzten noch fehlenden originalsprachlichen Quellen zu beschaffen, die Brügel nicht über die Londoner Bibliotheken, von Reitlinger selbst oder durch das Pariser Centre de Documentation Juive Contemporaine beziehen konnte. Er schickte am 7. Mai 1955 noch eine Liste mit 24 Stellen an Krausnick, bei denen er um Überprüfung des Originaltexts und/oder der Quellenangabe bat. Am 9. Juli antwortete Krausnick und schickte Reitlinger eine Liste mit 21 Originaltexten. Krausnick entschuldigte sich für die Verspätung und gab an, dass für drei der Quellen keine richtige Dokumentennummer gefunden werden konnte, und dass die Arbeit allgemein schwierig war, weil viele Angaben nicht ganz korrekt waren. 39

Brügel an Krausnick, 27. April 1955, IfZ/Hausarchiv, ID 103-30-138; siehe auch Körner, »Stürmt die Festung Wissenschaft«, S. 424.

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Übersetzung als Erinnerung

Die Korrespondenz mit Krausnick zeigt, dass Brügel auch als Übersetzer äußerst akribisch gearbeitet hat. Krausnick schrieb er, der Verlag habe »so stark auf die Ablieferung des Manuskripts gedrängt, daß ich bei vielen Zitaten, die ich in der Eile im Urtext nicht auffinden konnte, zu Rückübersetzungen greifen musste.« Dass er trotz des Zeitdrucks diese Recherchen noch unternahm, zeigt, wie gründlich er arbeitete, zumal es sich bei den noch fehlenden Originaltexten um, wie er selbst schreibt, einen kleinen »Rest nicht allzu schwerwiegender Zitate«40 handelt. Mit dem zeitgenössischen deutschen Diskurs über die NS-Verbrechen wiederum scheint Brügel dabei aber nicht intim vertraut gewesen zu sein. Dies zeigt sich vor allem an lexikalischen und idiomatischen Abweichungen und Fehlern, die im ganzen Text immer wieder auftauchen. Zwei Beispiele für ungewöhnliche Begriffsverwendungen sollen hier ausreichen: Vor allem im 5. Kapitel, wo es bereits in der Kapitelüberschrift vorkommt, aber auch an vielen anderen Stellen im ganzen Text übersetzt er »The Gross-Wannsee conference« mit »Wannsee-Besprechung« und »Besprechung von Wannsee«41 , obwohl der Begriff »Wannsee-Konferenz« in den frühen 1950er-Jahren im Deutschen Fachdiskurs allgemein eingeführt war.42 Ebenfalls fast durchgehend verwendet er den weniger üblichen Begriff »Einsatz Reinhardt« statt »Aktion Reinhardt«.43 Immer wieder lässt er auch inhaltliche Fehler unkorrigiert, die bei Reitlinger aufgrund mangelnder Vertrautheit mit dem Deutschen und möglicherweise falschen Informationen entstanden, und die ihm als Muttersprachler und Publizist, zumindest aber dem Lektorat hätten auffallen können. So wird beispielsweise der prominente SS-General und Höhere SS- und Polizeiführer Friedrich Jeckeln, der im Zusammenhang mit dem Ghetto von Riga, dem Massaker von Babyn Jar und anderen Verbrechen immer wieder erwähnt wird, durchgängig »Jäckeln« geschrieben (S. 243, 245, 247ff). Und auf S. 237 übersetzt Brügel den Begriff »extermination commando«, den Reitlinger hier als Synonym für eine Einsatzgruppe benutzt, mit »Sonderkommando«. Es ist offensichtlich weder ihm noch dem Lektorat bei

40 41 42

43

Brügel an Krausnick, 27.4.1955, IfZ/Hausarchiv, ID 103-30-138. Endlösung, S. 105ff, S. 173f. Er taucht beispielsweise in der ersten originalsprachlich deutschen Monografie über den Judenmord auf, die 1960 ebenfalls im Colloquium-Verlag erschien. Wolfgang Scheffler: Judenverfolgung im Dritten Reich 1933-1945, Berlin 1960, S. 35ff. Endlösung, S. 139, S. 259 etc.

5. Johann Wolfgang Brügels Übersetzung von Gerald Reitlingers The Final Solution

Colloquium bewusst, dass dieser Begriff im Deutschen im Zusammenhang mit den deutschen Lagern bereits für die spezifischen Arbeitskommandos in Auschwitz-Birkenau und anderen Vernichtungslagern vergeben ist, in denen Häftlinge an der massenhaften Ermordung anderer Häftlinge mitarbeiten mussten. Im achten Kapitel bei der biografischen Skizze über Otto Rasch unterlaufen Reitlinger zwei Fehler in einem Satz, die bei der Übersetzung oder im deutschsprachigen Lektorat hätten korrigiert werden können, was allerdings nicht geschah: »Quite late in the war, he refused the post of Higher SS and Police Leader for France-North Italy in favour of a peaceful life as Mayor of Wurttemburg and a director of the company, Continental Oil AG, proving that one could quarrel with Heydrich without being beheaded.« (TFS, 187) Rasch war vor dem Krieg Oberbürgermeister von Wittenberg (heute: Lutherstadt Wittenberg) gewesen, also nicht nachdem er den Posten abgelehnt hatte. Der Chronologiefehler wird im Deutschen von Brügel oder dem Lektorat bei Colloquium nicht korrigiert (DEL, S. 209). Dies liegt vermutlich daran, dass Raschs Verfahren beim Nürnberger Einsatzgruppenprozess aufgrund seiner schweren Parkinson-Erkrankung ausgesetzt wurde. Deshalb waren im Protokoll des Prozesses, mit dem Reitlinger und Brügel arbeiteten, keine biografischen Angaben zu Rasch zu finden, die über seine Tätigkeit als Kommandeur der Einsatzgruppe C hinausgehen.44 Aber auch der (nicht existierende) Ort »Wurttemburg« wird im Deutschen in den zwar existierenden aber inhaltlich falschen Ort »Wittenburg« (Kleinstadt in Mecklenburg) umgewandelt: »… und wählte das friedlichere Leben eines Bürgermeisters von Wittenburg sowie eines Direktors der ›Kontinental-Petroleum A.G.‹.« Im Deutschen kommt so zu den beiden aus dem Original übernommenen Fehlern noch die falsche Schreibweise des Firmennamens hinzu, die im Deutschen offiziell »Kontinentale Öl-Aktiengesellschaft« hieß. (DEL, S. 209) Die Auflistung dieser Beispiele zeigt, dass Brügel, im scheinbaren Unterschied zu Roswitha Czollek beispielsweise, nicht auf einer Metaebene mit dem Thema befasst war, also nicht genau mit der geringfügig bestehenden

44

Office of the United States Chief of Counsel For Prosecution of Axis Criminality (Hg.): Trials of War Criminals before the Nuernberg Military Tribunals, Vol. IV, »The Einsatzgruppen Case«, »The RuSHA Case«. https://www.loc.gov/rr/frd/Military_Law/NTs_war-crimi nals.html (Zugriff: Juni 2018)

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Übersetzung als Erinnerung

deutschsprachigen Historiographie zu den NS-Verbrechen vertraut war. Solche Fehler finden sich in den meisten Übersetzungen, und viele der mittlerweile fest im Diskurs über die NS-Verbrechen etablierten Begriffe waren in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre bereits in den allgemeinen Sprachgebrauch integriert. Diese lexikalischen Fehler zeigen oft auch an, bei welchen Themen das Fachwissen der ÜbersetzerInnen und der LektorInnen geringer war als bei anderen. Die hier angeführten Beispiele zeigen, was auch die Korrespondenz mit Krausnick belegt, nämlich, dass Recherchen, die über Reitlingers Primärmaterial hinausgingen, für Brügel von London aus und unter den gegebenen zeitlichen Bedingungen nicht einfach zu bewältigen waren. Sie deuten darüber hinaus darauf hin, dass Reitlinger in Großbritannien seine Informationen über die NS-Verbrechen nicht primär auf Deutsch bezogen hat, sofern sie auf Deutsch überhaupt vorhanden waren. Wir können davon ausgehen, dass Brügel von London aus mit einigem Recht nicht das Gefühl hatte, der relevante Diskurs über die NS-Verbrechen würde in Westdeutschland geführt. Trotz der übersetzerischen Routine, die Brügel mit Sicherheit hatte, finden sich im deutschen Text viele idiomatische Auffälligkeiten, die auf eine gewisse Distanz zum Schriftdeutschen der Zeit oder eine mangelnde Vertrautheit mit idiomatischen Gepflogenheiten des Deutschen in den 1950er-Jahren hindeuten. So entscheidet er sich beispielsweise auf S. 269 für eine wörtliche Übersetzung des Begriffs »collective farm functionaries«, die er als »Funktionäre von Kollektivfarmen« bezeichnet. Dass Brügel im Zusammenhang mit der Sowjetunion der Begriff »Kolchose« nicht geläufig war, könnte daran liegen, dass er sich über die Sowjetunion nicht üblicherweise aus der deutschen, sondern eher aus der britischen Presse informierte. Immer wieder verwendet Brügel auch antiquierte oder obsolete Begriffe in seiner Übersetzung, die auf seine sprachliche Sozialisation im deutschsprachigen Verwaltungswesen der Tschechoslowakei hindeuten, also auf ein sprachliches Umfeld, in dem Stil und Vokabular des KuK-Beamtenwesens weitergelebt hatte. Im gesamten Text verwendet er das Adjektiv »bodenständig« immer wieder als Übersetzung für Reitlingers »native« oder »local«45 , also synonym mit dem deutschen Adjektiv »ortsansässig«. Ein solcher Gebrauch von »bodenständig« ist zwar durchaus zulässig, seit dem späten 19. 45

z.B. S. 240: »In Wahrheit hatten die Russen jedoch in ihrer eigenen Deportationspolitik die Juden völlig mit der bodenständigen Mittelklasse gleichgestellt.« Hier für: »… native middle class«.

5. Johann Wolfgang Brügels Übersetzung von Gerald Reitlingers The Final Solution

Jahrhundert aber wenig gebräuchlich und ist bei Brügel vermutlich mit der Verwendung eines älteren Wörterbuchs oder mit einer eigenen Neigung zu leicht archaischen Wendungen zu erklären. Weitere Beispiele für solchen leicht abweichenden Gebrauch sind Brügels Verwendung von »gelegentlich« als Synonym für »anlässlich«46 oder »Unterschleife« für »Unterschlagungen« (S. 176). Auf S. 177 findet sich ein Satz, in dem »bewußt« als Synonym für »oben erwähnt« sowie »einvernehmen« statt »vernehmen« verwendet wird: »Leider wurde Thierack niemals über das bewußte Protokoll einvernommen.« für »Thierack was never cross-examined on the Goebbels minute.« Von letztlich größerer Bedeutung für die Rezeption des Buches als diese lexikalischen und idiomatischen Probleme ist Brügels Neigung, aus kurzen, aktivisch formulierten deutlichen Aussagesätzen von Reitlinger sehr viel längere hypotaktische, passive Sätze zu machen, die mit Partizipialkonstruktionen zusammengehalten werden. Auch hier könnte man wiederum den Einfluss des KuK-Verwaltungsstils vermuten. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die stark ausgeprägte Hypotaxe kein grundsätzliches Merkmal von Brügels Stil war. Betrachtet man beispielsweise seinen zwei Jahre nach Erscheinen der Endlösung verfassten Aufsatz »Das Schicksal der Strafbestimmungen des Versailler Vertrages« in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte47 , so findet man dort kaum Sätze, die mehr als zwei Relativsätze enthalten. Anscheinend ist es gerade das Übersetzen, das Brügel zur Produktion von hypotaktischen Sätzen verleitet. Zwei Beispiele aus dem Text seien hier zitiert. Auf S. 206 übersetzt Brügel: »Der Wirtschaftsminister Funk wußte überhaupt nicht, daß Ohlendorf Generalmajor der Polizei war oder daß er zwei Jahre vorher als Massenschlächter aufgetreten war, mit dem auch nur zu reden, Schobert von der 11. Armee ablehnte.«48 Der englische Satz ist klar vierteilig aufgebaut und leicht ohne mehrfache Lektüre zu verstehen. Der deutsche Satz hingegen ist so aufgebaut, dass die ers46 47 48

Z.B. S. 120: »Gelegentlich der nächsten Baubesprechung zwischen den Direktoren …« für »At the next building conference between …« J.W. Brügel: »Das Schicksal der Strafbestimmungen des Versailler Vertrages.« Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 1958/3, S. 263. EN: »Funk, the Minister for Economics, did not even know that Ohlendorf was a majorgeneral of police or that two years ago he had been a mass executioner, to whom General Ritter von Schobert of the 11th Army would not speak except in the passage.« TFS, S. 184.

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ten drei Teilsätze eine Einheit bilden, zu der der letzte Teilsatz oberflächlich zunächst nicht zu passen scheint. Das Objekt des letzten Teilsatzes, das das Pronomen »dem« repräsentiert, ist das Substantiv »Massenschlächter«. Aufgrund des hypotaktischen Aufbaus des Satzes wird ein großer Teil der Leserschaft dies vermutlich aber nicht beim ersten Lesen erkennen und den ganzen Satz mehrfach lesen müssen, um zu verstehen, wie er zusammenhängt. Eine rezeptionsfreundlichere Lösung wäre es hier gewesen, den Satz aufzuteilen und den letzten Teilsatz als eigenen Satz mit einem direkten Objekt zu formulieren. Dass General Ritter von Schobert von der 11. Armee hier nicht mit vollem Titel genannt wird, kann zwei mögliche Gründe haben: Brügel oder dem Lektorat war vielleicht bewusst, dass der Satz eine gewisse Überlänge hat, und deshalb wurden die Titel weggekürzt. Es ist aber auch möglich, dass Brügel davon ausging, dass Schobert dem deutschen Publikum als Name geläufig war. Unabhängig von der Begründung dieser Entscheidung fügt die unvollständige Benennung des Generals dem Satz ein weiteres potentielles Rezeptionshindernis hinzu. Als zweites Beispiel für den Mechanismus, durch den aus relativ präzisen englischen Sätzen bei Brügel verschachtelte, zu lange und schwer verständliche deutsche Sätze werden, soll hier ein weiteres genügen. Auf S. 259 werden das Sonderkommando 4a und sein Befehlshaber Paul Blobel mit folgendem Satz eingeführt: »In der Mitte der Linie stand das Kommando 4a, das unter dem Kommando des der Trunksucht verfallenen Düsseldorfer Architekten Paul Blobel später einzig dastehende Höchstleistungen im Massenmorden von Juden vollbrachte.«49 Brügel hat hier einen hypotaktischen englischen Satz mit einem deutschen hypotaktischen Satz übersetzt, der aber weit weniger präzise ist als der englische. Durch die Hypotaxe entsteht vor allem wegen der beiden aufeinanderfolgenden Artikel »des der« eine Barriere zwischen der ersten Hälfte des Relativsatzes und der Partizipialkonstruktion, die den Lesefluss merklich bremst. Am deutschen Text merkt man jedoch auch immer wieder, dass Brügel durchaus übersetzerische Routine besaß. Ein erneut relativ willkürlich ausgewähltes Beispiel soll zeigen, dass Brügel sehr wohl gut lesbare deutsche 49

EN: »In the centre of the line was Commando 4a, which, under the leadership of the drunken Duessldorf architect Paul Blobel, was to achieve a unique record for Jewish mass-executions.« TFS, S. 230.

5. Johann Wolfgang Brügels Übersetzung von Gerald Reitlingers The Final Solution

Sachprosa schreiben konnte, die zwar nüchtern, dabei aber gleichzeitig ansprechend und elegant ist: »Am 30. November 1941 wurde eine Reihe sorgfältig vorbereiteter Maßnahmen in Riga durchgeführt. Die Ghettos wurden umstellt, die jüdischen Arbeitskommandos unter Bewachung abgeführt, und eine lange Reihe von modernen blauen Rigaer Omnibussen stand vor den Ghettotoren. Tief im Wald in der Nähe der Eisenbahnhaltestelle Rumbuli hatten russische Kriegsgefangene Hinrichtungsgruben ausgehoben.«50 Geschickt weicht Brügel hier der englischen Konstruktion »November 30th, 1941, found …« aus, in der das Datum zum Subjekt des Teilsatzes wird und die im Deutschen kein etabliertes idiomatisches Äquivalent hat. Vom Ergebnis ausgehend konstruiert Brügel eine im Deutschen völlig unauffällige Passivkonstruktion. Im vorangehenden Abschnitt werden Walter Stahlecker und seine Einsatzgruppe A bereits deutlich als Handelnde identifiziert, sodass die Passivkonstruktion hier nicht verschleiernd wirkt. Brügel entscheidet sich, die kurzen Sätze des Originals beizubehalten, und auch im Deutschen macht der Text so den chronologischen Ablauf der Ereignisse gut nachvollziehbar. Wo dann aber im Englischen die Passivkonstruktion im letzten hier zitierten Satz (»… the execution pits had been dug …«) unvermittelt die Hinrichtungsgruben als Objekt einführt, entscheidet sich Brügel vermutlich des einfacheren Verständnisses wegen für eine aktive Formulierung. Hier produziert Brügel eine Prosa, die den Informationsbedürfnissen des Publikums möglicherweise mehr entgegenkommt, als es das englische Original in diesem Abschnitt tut. Zusammenfassend könnte man urteilen, dass Brügels Übersetzung die Rezeptionshindernisse, die sich im Original finden, nicht behebt und ihnen an manchen Stellen durch einen hypotaktischen, wenig lesefreundlichen Stil und teilweise ungewöhnliche Begriffsverwendungen weitere hinzufügt. Gleichzeitig übersteigen die Schwächen der Übersetzung mit Sicherheit nicht das in den 1950er-Jahren übliche Maß an Fehlern und idiomatischer

50

Endlösung, S. 245. EN: »November 30th, 1941, found the most elaborate measures prepared in Riga. The ghettoes were cordoned, the Jewish working commandos were marched out under guard, while rows of modern blue Riga motor-buses were drawn up outside the ghetto gates. Miles out in the forest, near the railway-halt Rumbuli, the execution pits had been dug by Russian prisoners of war.« TFS, S. 217.

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Unkenntnis bei Übertragungen aus dem Englischen. Brügels Text ist professionell angefertigt und erfüllt mit Sicherheit die Kriterien der Zeit für eine gelungene Fachbuchübersetzung. Dieser Faktor spräche ebenso wie der Pioniercharakter von Reitlingers Werk sowie die Unterstützung durch die Bundeszentrale für Heimatdienst dafür, dass die deutsche Fassung von The Final Solution auch breit rezipiert werden würde. Dass dies nicht geschehen ist, hat mehr mit dem gesellschaftlichen Diskurs als mit formalen und stilistischen Problemen des Buchs zu tun.

5.2.3.2.

Einfügungen und Lokalisierungen

An mehreren Stellen im Text hat es Brügel auch verstanden, den Text zu lokalisieren, wo dies nötig war. Auf S. 211 im Original findet sich die Beschreibung des Anblicks von deutschen Kriegsgefangenen im ländlichen Großbritannien in den 1940er Jahren, eine Situation, von der Reitlinger annehmen musste, sein britisches Publikum wäre mit ihr sehr vertraut: »That man with a cigarette in his mouth, a tommy gun on his knees and his feet dangling into the death pit – might he not have been just one of those mild-eyes corn-haired POWs, rather wistful in their patched tunics, who peopled the English countryside in the post-War years?«51 Für diese Situation braucht Brügel eine Entsprechung, die seinem deutschen Lesepublikum ähnlich vertraut sein sollte. Nun sind aber im Deutschland der 1940er- und 1950er-Jahre deutsche Soldaten keine vertraute, aber trotzdem auffällige Erscheinung in der Gesellschaft. Aber als Kriegsheimkehrer bilden sie einen integralen Bestandsteil der Mehrheitsgesellschaft und der gesellschaftlichen Normalität. Brügels intendierte LeserInnen sehen diese Menschen nicht gelegentlich bei der Feldarbeit im ländlichen Raum, sondern sie leben mitten unter ihnen. Das macht den Widerspruch zwischen dem harmlos scheinenden, wehmütigen ehemaligen deutschen Soldaten aus Reitlingers Beschreibung und der möglichen Monstrosität seiner Verbrechen deutlich größer und kann so beim Publikum auch ein noch größeres Unbehagen auslösen. Brügel ist sich dessen bewusst und formuliert dieses Unbehagen schon im ersten Satz seiner deutschen Version desselben Abschnitts: »Man wird den quälenden Gedanken nicht los, daß der Mann mit der Zigarette im Mund und der Maschinenpistole auf den Knien, der seine Füße

51

TFS, S. 211.

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über der Todesgrube baumeln ließ, unbehelligt von Behörden und Gerichten vielleicht wieder seinem bürgerlichen Beruf mit der größten Seelenruhe nachgeht.«52 Hier erkennt Brügel die Notwendigkeit für eine Lokalisierung, da die von Reitlinger beschriebene Erfahrung der Begegnung und des gesellschaftlichen Zusammenlebens mit möglichen NS-Verbrechern eine sehr spezifische des ländlichen Raums in Großbritannien in den späten 40er Jahren ist. Brügel ist die gesellschaftliche Relevanz der Aussage bewusst, die Reitlinger hier trifft, nämlich dass es eine konkrete Verbindung zwischen der Alltagsnormalität der Nachkriegszeit und dem unbehelligten, unbestraften Weiterleben der überwiegenden Mehrheit der Täter gibt. Und ihm ist ebenso klar, dass diese Verbindung in Westdeutschland sehr viel stärker und evidenter ist, gleichzeitig aber auch sehr viel aktiver verdrängt wird, als es sich von Großbritannien aus darstellt. Hier kommt auch möglicherweise Brügels Exilperspektive auf das Nachkriegsdeutschland ins Spiel, die es ihm ermöglicht, die Absorption der Täter in die westdeutsche Gesellschaft als weniger normal und weniger alltäglich zu sehen, als es AutorInnen vor Ort möglich war. Für Brügel ist der Gedanke daran, dass fast jeder Kriegsheimkehrer ein potentieller Massenmörder war, ein »quälender Gedanke«, weil diese Menschen in der neuen Bundesrepublik konstitutiver Teil der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft und keine Randgruppe waren. Die Absorption der Täter war also für Brügel zunächst ein Problem für den Aufbau des neuen westdeutschen Staats. Aus seiner Sprecherposition stellt Reitlinger dagegen relativ nüchtern fest, dass eine Begegnung mit denjenigen, die die monströsen Verbrechen des Nationalsozialismus verübt hatten, in der Nachkriegszeit in Großbritannien durchaus möglich war. Textstrategisch ist die Entscheidung für diese Lokalisierung ähnlich gelagert wie die Entscheidungen für die Einfügung von Fußnoten zum milden Umgang der BRD-Justiz mit NS-Verbrechern in mehreren Übersetzungen der Zeit, darunter auch bei Roswitha Czolleks Russell-Übersetzung. Beide Strategien binden die Übersetzung in den zielkulturellen Kontext ein und kommentieren ihn gleichzeitig im Rahmen eines übersetzten Textes. Indem sie dies tun, fügen sie dem Zieltext eine kulturelle Perspektive hinzu, die eher aus der Quellkultur kommt, die aber erst in der Übersetzung entsteht. Der Urheber des Textes ist hier nicht nur J.W. Brügel, der Übersetzer, sondern

52

DEL, S. 238.

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auch J.W. Brügel, der Exilant und das Opfer der NS-Verfolgung. Und dadurch wird die Perspektive der Überlebenden der NS-Verfolgung auf die Absorption der Täter in die BRD-Gesellschaft in die Übersetzung eingeschrieben. Auch in Brügels Übersetzung finden sich Fußnoten, die den Text inhaltlich aktualisieren und Informationen hinzufügen, die Reitlinger bis zum Zeitpunkt der englischen Erstpublikation nicht zur Verfügung standen. In einigen Fällen betrifft dies wie in Czolleks Übersetzung von Russells Scourge Informationen zum Stand der Strafverfolgung und zum Verlauf der Karriere prominenterer NS-Verbrecher in der Bundesrepublik. Ein typisches Beispiel hierfür ist die Einfügung einer Fußnote auf S. 165 im Zusammenhang mit der Beschreibung des Falls von Dr. Gerhard Peters, des Geschäftsführers der Degesch, einer der beiden Firmen, die das Giftgas Zyklon B herstellten und an die SS lieferten: »Im Wiederaufnahmeverfahren wurde das Urteil vom Frankfurter Schwurgericht am 27. Mai 1955 aufgehoben und Peters ›mangels an Beweisen‹ freigesprochen.«53 Im Unterschied zum Fall von Richard Korherr (s.u.) hatte dieser Hinweis auf die fast völlig ungebrochene Karriere Peters’ im deutschen Text keinerlei Auswirkungen auf dessen weiteres Leben. Dass aber in der deutschen Übersetzung eigens auf ihn hingewiesen wird, zeigt, dass er zu einer Gruppe von NS-Tätern gehörte, deren fortlaufende Karrieren Brügel oder auch dem Lektorat und der Bundeszentrale für Heimatdienst ein besonderer Dorn im Auge waren. Diese »white collar«-Täter wie der Statistiker Korherr und der Manager Peters kamen im zeitgenössischen Diskurs um die personellen Kontinuitäten in der BRD-Gesellschaft deutlich weniger vor als die ehemaligen Mitglieder von SS, Gestapo und Wehrmacht, die wie in Czolleks Russell-Übersetzung gerade von der Presse und Publizistik der DDR immer wieder benannt wurden. Auf S. 190 findet sich eine weitere für Brügel typische Einfügung. Reitlinger schreibt hier über die Deportation jüdischer Familien von Theresienstadt nach Auschwitz. In Theresienstadt wurde im Juli 1943 die sogenannte Sudetenkaserne sowie zwei weitere Gebäude geräumt, um dort Platz für die Unterbringung des Archivs des RSHA zu schaffen. Mit dieser Räumung setzten die Deportationen von Theresienstadt nach Auschwitz nach über einem halben Jahr Pause wieder ein, und das Ghetto war danach noch deutlich überbelegter als vorher, da nun diese drei Gebäude zur Unterbringung jüdischer Deportierter fehlten.54 Diese Information hatte Reitlinger offensichtlich nicht 53 54

DEL, S. 165. https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/chronicles.html?page=1 (Zugriff: Juli 2020)

5. Johann Wolfgang Brügels Übersetzung von Gerald Reitlingers The Final Solution

oder befand sie nicht für relevant, denn er schreibt im Original über diesen Vorgang: »In any case there was a change in Eichmann’s methods between September 7th and 14th, when 4,000 Czech Jews left Theresienstadt for Auschwitz.« (TFS, S. 169) Brügel korrigiert die Zahl der Deportierten und das Datum der beiden Transporte von Theresienstadt nach Auschwitz und übersetzt diesen Satz folgendermaßen: »Auf jeden Fall änderte Eichmann am 6. September seine Methode, als 5.000 tschechische Juden von Theresienstadt nach Auschwitz geschickt wurden.« Und er fügt eine Fußnote an: »Die Deportationen wurden wegen der Evakuierung von 6.000 Menschen aus der Sudetenkaserne in Theresienstadt wieder aufgenommen, die von da ab zur Aufbewahrung des RSHA-Archivs benutzt wurde.« (DEL, S. 190). Hier fügt Brügel dem deutschen Text Informationen aus seinem breiteren Kontextwissen zu Theresienstadt hinzu. Ob er die Zahl und das genaue Datum der Deportationen selbst aus denselben Quellen wie Reitlinger herausgearbeitet hat oder ob ihm andere Quellen zur Verfügung standen, lässt sich nicht rekonstruieren. Sicher ist, dass er den deutschen Text auf das bis heute maßgebliche Wissensniveau bringt, wie es sich im aktuellen Gedenkbuch des Bundesarchivs findet. Solche Einfügungen, die der deutschen Übersetzung zusätzlichen Informationsgehalt hinzufügen, konnte ich im gesamten Text an zwölf Stellen finden. Für Klaus Körner sind es vermutlich diese Einfügungen, die die Bezeichnung »erweiterte Fassung«55 rechtfertigen. Sie gehen aber nicht über das für Sachbuchübersetzungen übliche Maß hinaus. Zumal im Sinne der Wirkungsäquivalenz durchaus zu erwarten ist, dass die Übersetzung zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung auf den neuesten Wissensstand gebracht wird. Dennoch stellen sie auch, wie im Falle der Einfügung zu Peters und der Lokalisierung zu den Kriegsheimkehrern, textstrategische Instrumente einer subversiven vergangenheitspolitischen Intervention dar. Sie fügen dem deutschen Text an einzelnen Stellen die Perspektive des Exilanten Brügel auf die Kontinuitäten in der bundesdeutschen Gesellschaft hinzu (konkret bei der Lokalisierung, wo Brügel auf die westdeutsche Gesellschaft blickt), und sie verweisen auf Einzelfälle in Wirtschaft und Verwaltung, die auch im Ausland teilweise aus dem Blick geraten waren. Gleichzeitig machen sie deutlich, wie durchdringend diese Kontinuitäten in der westdeutschen Gesellschaft sind.

55

Körner: »Stürmt die Festung Wissenschaft«, S. 424.

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Übersetzung als Erinnerung

5.3.

Die Rezeption in Deutschland

5.3.1.

Der Fall Richard Korherr – ein vergangenheitspolitischer Ringkampf

Diese Textstrategie einer zusätzlichen, zielsprachlichen subtilen vergangenheitspolitischen Intervention grundiert allerdings den gesamten übersetzerischen Produktionsprozess des Buches und ist allem Anschein nach sowohl von Seiten der Auftraggeber, also der Bundeszentrale für Heimatdienst und dem Colloquium-Verlag, als auch vom Übersetzer J.W. Brügel intendiert. Einer der oben erwähnten Einzelfälle, der zwar nicht durch eine Fußnote gekennzeichnet, aber im Text relativ ausführlich diskutiert wird, ist der des Statistikers Dr. Richard Korherr. Korherrs Person und Biografie entwickelten eine sehr starke Wechselwirkung mit der deutschen Übersetzung, die man als einen vergangenheits- und übersetzungspolitischen Ringkampf bezeichnen kann. In diesem Konflikt nahm Korherr zunächst massiv Einfluss auf den Inhalt der Übersetzung, deren Rezeption dann aber trotzdem dazu beitrug, seine Karriere zu beenden. Korherr kam aus nationalkonservativen Kreisen, war ein großer Verehrer Oswald Spenglers, hatte Ende der 20er Jahre zum Geburtenrückgang unter den Deutschen promoviert und war sowohl in der späten Weimarer Republik als auch unter den Nationalsozialisten ein unermüdlicher Propagandist rassistischer und völkischer Vorstellungen von Bevölkerungspolitik.56 1939 hatte es Korherr zum Leiter des Statistischen Amtes der Stadt Würzburg gebracht, als Himmler ihn für den SS-Apparat rekrutieren wollte. Himmler konnte Korherr aber zunächst keinen festen Posten anbieten, weshalb Korherr anfänglich ehrenamtlich als Himmlers »Gefolgsmann« statistische Arbeiten für die SS übernahm. In die SS selbst trat Korherr jedoch nie ein. Im Dezember 1940 wurde er von Himmler dann zum Inspekteur für Statistik beim Reichsführer SS und zum Leiter der Statistischen Abteilung im SS-Hauptamt berufen. In letzterer Funktion erteilte ihm Himmler Anfang 1943 den Auftrag, einen statistischen Bericht über den Fortgang der »Endlösung der Judenfrage« zu

56

Details zur Biographie Korherrs während und nach dem Nationalsozialismus aus: Aly/Roth: Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus. Berlin 1984, S. 32ff; Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a.M. 2003; sowie Israel Gutman et al. (Hg.): Enzyklopädie des Holocaust, Berlin 1993.

5. Johann Wolfgang Brügels Übersetzung von Gerald Reitlingers The Final Solution

verfassen, dessen zwei Fassungen (Langfassung vom 23. März 1943 und Kurzfassung vom 19. April 1943) nach dem Krieg als »Korherr-Bericht« zu einer der meistverwendeten täterseitigen Quellen der Überblicksforschung zum Holocaust wurde57 , und der für die Mitarbeiter im RSHA von großem Nutzen war: »Anhand des von Korherr bereitgestellten Zahlenmaterials konnten der Personalaufwand zur Ermordung der Juden eines Ortes oder Landes kalkuliert, die Zahl der benötigten Eisenbahnwaggons festgestellt sowie der Zielort der Deportation bestimmt werden.«58 Angesichts von Reitlingers Interesse an den Zahlen des Holocaust ist es wenig überraschend, dass der Index der deutschen Ausgabe der Endlösung für Korherr 22 Erwähnungen auflistet. Als das Original in Großbritannien erschien, war Korherr im Rang eines Ministerialrats beim Bundesfinanzministerium in Bonn beschäftigt und musste offensichtlich um seinen Ruf und seine Stellung fürchten, sollte er als direkter Verwaltungstäter identifiziert werden. Zwar war der Korherr-Bericht bereits als Beweismittel bei den Nürnberger Nachfolgeverfahren aktenkundig geworden, hatte aber vor Reitlingers Buch weder als Beweismittel noch als Quelle Prominenz erlangt. Somit war das Erscheinen von The Final Solution Mitte der 1950er-Jahre das erste mediale Ereignis, das die Existenz und Funktion des Berichts der englischsprachigen und teilweise der Weltöffentlichkeit zugänglich machte. Dieselbe Funktion sollte in eingeschränkter Form der deutschen Übersetzung für die deutschsprachige Öffentlichkeit zukommen. Vermutlich Anfang September 1955, als Brügel mitten in den Arbeiten an der Übersetzung steckte, entspann sich eine Korrespondenz zwischen Korherr und Reitlinger. Initiiert wurde sie vermutlich von Reitlinger (überliefert sind nur die Briefe von Korherr), der Korherr anscheinend um Informationen und originalsprachlich deutsches Material zu seinem Bericht gebeten hatte. Es kam laut Korherrs Briefen zu einem kurzen Treffen der beiden in München Anfang September 1955 im Institut für Zeitgeschichte. Korherr, der zu diesem Zeitpunkt im Finanzministerium tätig war, versuchte nun massiv, Einfluss auf die deutsche Übersetzung zu nehmen und dafür zu sorgen, dass seine

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Faksimiles der beiden Berichte unter: www.ns-archiv.de/verfolgung/korherr/korherrlang.php und www.ns-archiv.de/verfolgung/korherr/korherr-kurz.php (Zugriff: Juli 2020) »Korherr, Richard« in: Gutman et al., Enzyklopädie des Holocaust – Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. München/Zürich 1998, S. 799f.

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Übersetzung als Erinnerung

Arbeit im RSHA und die Funktion seines Berichts für den Fortgang des Massenmordes in der deutschen Fassung deutlich harmloser dargestellt wurden, als es im englischen Original der Fall war. Er verfasste zwei Berichte, die er Reitlinger am 29. September und 11. Oktober 1955 als Briefe schickt. Im ersten Brief versuchte er seine verharmlosende Deutung seiner Arbeit im RSHA und seines Berichts ausführlich argumentativ zu belegen. Die Zahlen, die er für seinen Bericht verwendet hatte, habe er nie selbst recherchiert, sondern ausschließlich von anderen Stellen, darunter auch von dem Statistiker Dr. Simon, einem Mitarbeiter des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, erhalten. Und er habe zu keinem Zeitpunkt gewusst, was die Euphemismen »Umsiedlung« und »Sonderbehandlung« bedeuteten.59 In sehr ausführlich argumentierten, langen Absätzen versuchte Korherr Reitlinger davon zu überzeugen, er habe erst 1945 im automatischen Arrest vom Mord an den Juden erfahren, und bei der Anfertigung des Berichts sei er gezielt von Himmler getäuscht worden, der den Bericht als Alibi für sich selbst habe verwenden wollen. Einen anderen funktionalen Zweck für den organisierten Massenmord wollte er in seiner Arbeit für Himmler und das RSHA ebenfalls auf keinen Fall erkennen und kam diesbezüglich zu dem vorläufigen bizarren Schluss: »Durch die Verdeckung der Massenmorde durch die mir genannten ›Evakuierungen‹ bekam mein Bericht erst seinen schlechten Beigeschmack.«60 Seinen ersten Brief beendete er noch mit einer umständlichen Beschreibung ihm angeblich drohender »Angriffe von Leuten, welche die Zusammenhänge nicht kennen und sich auch darum nicht bemühen […].«61 Korherr baut also Reitlinger gegenüber ein Szenario auf, wonach er infolge dessen, was in der deutschen Übersetzung der Endlösung über ihn zu lesen sein würde, zu Unrecht seine extrem hohe berufliche und gesellschaftliche Position verlieren könnte. Kurz gesagt droht er Reitlinger (und damit den anderen an der deutschen Publikation Beteiligten) damit, sie könnten ihm gegenüber Schuld auf sich laden, wenn sie seine Interpretation der Vorgänge nicht übernähmen und in der deutschen Übersetzung konkret ausformulierten. Unter diesem Druck fertigten Reitlinger und Brügel eine zwei Absätze lange Einfügung für den deutschen Text an, die auf bestimmte Wünsche Korherrs eingeht, andere seiner Behauptungen aber auch explizit in Zweifel 59 60 61

Korherr an Reitlinger, 28.09.1955, S. 3. Wiener Library, WL 526, MF Doc 54/Reel 9. Ebd., S. 5 Ebd., S. 8

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zieht. Diese Einfügung ergänzt die eineinhalb Seiten über den KorherrBericht im Anhang I, »Statistische Zusammenfassung der Endlösung« (s. 559f) in der Erstauflage der deutschen Übersetzung. Der zusätzliche Text erwähnt, dass Korherr nie SS Mitglied war und dass ihm seine Zahlen teilweise vom RSHA zugeführt wurden. Außerdem wird Eichmanns Name gestrichen, der im Englischen noch erwähnt wird, und nur noch vom RSHA gesprochen. Der Passus lobt die Genauigkeit von Korherrs Arbeit sowie die Vielfalt seiner Quellen, weil er sich nicht nur auf die SS-Ressortleiter verließ, und zitiert ihn schließlich sogar direkt: »Insofern ist Korherrs Bericht vollkommen objektiv und stützt sich vielfach auf statistische Angaben aus der Zeit vor 1933 sowie aus Angaben aus jüdischen Quellen. Nur in dem Kapitel ›Evakuierung der Juden‹ und den folgenden Kapiteln, die sich mit Konzentrationslagern und Ghettos befassen, ist ein anderer Ton zu entdecken. Dr. Korherr führt das auf die Tatsache zurück, daß diese Kapitel ihm vom RSHA ›fix und fertig‹ geliert wurden.«62 In der zweiten Hälfte der ausführlichen Einfügung wird dann aber Korherrs Behauptung, von der Ermordung der Juden nichts gewusst zu haben, massiv in Zweifel gezogen. Der Absatz beginnt mit dem Satz »Nichtsdestoweniger gab es aber in den Angaben des RSHA viele Dinge, die einem gewissenhaften Statistiker hätten zu denken geben müssen.« (DEL, S. 559) Dann zitiert Reitlinger aus Korherrs Brief über dessen Versuch, »herauszufinden, was die Worte ›einschließlich Sonderbehandlung‹ bedeuten« (ebd.). Insgesamt gibt der Text kein explizites Urteil darüber ab, ob Korherrs Behauptung, er habe nichts von der Ermordung der Juden gewusst, glaubhaft ist. Er macht aber deutlich, dass doch erhebliche Zweifel daran angebracht sind. Reitlinger schickte diese Einfügung als Manuskript auf Englisch direkt nach ihrer Fertigstellung an Korherr zu nochmaligen Prüfung, bevor er in die Übersetzung ging. Dieser Überarbeitungsprozess war dann der Anlass für Korherrs zweiten Brief an Reitlinger vom 11.10.1955, in dem er dem Autor eingangs kurz dankt, um dann seinem Ärger darüber Luft zu machen, dass er nicht quasi als KoAutor des Buches fungieren darf. Er macht erneut deutlich, dass »auch nur ein leiser Zweifel über mich meinem Ansehen in Deutschland sehr schaden und meinem Herrn Minister viel Ärger bringen würde.«63 Am Ende der ein62 63

DEL, S. 559 Korherr an Reitlinger, 11.10.1955, S. 1. Wiener Library, WL 526, MF Doc 54/Reel 9.

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leitenden ersten Seite insistiert Korherr, man dürfe in Zukunft über seinen Bericht nur mit dem Hinweis »auf meine völlige Rehabilitierung« sprechen, wenn man sich nicht dem Vorwurf ausgesetzt sehen wolle, »anderen Unrecht vorzuhalten und selbst nicht gerecht zu sein.« In den ersten drei Absätzen seines zweiten Briefes bietet Korherr das gesamte Verteidigungsarsenal der ehemaligen NS-Eliten in der frühen BRD auf: Er wehrt jede Verantwortung mit dem Verweis auf angebliches Nichtwissen ab, stellt sich selbst stattdessen als Verfolgten dar (»Ebenso hielte ich es für nötig, darauf hinzuweisen, […] daß zahlreiche Anträge auf meine Verbringung in ein KZ vorlagen […].«64 ) und warnt davor, eine Auseinandersetzung mit seiner Rolle könnte als Siegerjustiz-Geste erscheinen. Diesen Drohungen folgen knapp 50 konkrete Formulierungsvorschläge, Änderungsvorschläge und Zahlenkorrekturen für das gesamte Buch, oft bereits in rudimentärem Englisch abgefasst, 16 davon alleine für die eineinhalb Seiten über den Korherr-Bericht im Anhang I. Überaus interessant für die Übersetzungsgeschichte von Reitlingers Buch ist in diesem Zusammenhang Korherrs konkreter Einfluss auf Form und Inhalt der Übersetzung sowie seine Selbsteinschätzung. Er sieht sich selbst weiterhin als maßgebliche Autorität für die Statistik der jüdischen Bevölkerung, wenn er an über 30 Stellen Reitlingers Umgang mit seinen Zahlen kritisiert (Bsp., S. 6: »S. 166 Text: Hier müßte die Zahl von 33,200 Juden aus dem Altreich, die nach Theresienstadt kamen, in 33,249 geändert werden.«), und er schreibt darüber hinaus, dass er sehr eng mit Dr. Simon, dem Statistiker des Centralvereins, zusammengearbeitet habe. Gleichzeitig will er aber über die wahren Umstände und Ziele der Transporte nicht informiert gewesen sein und stellt sich selbst als Verfolgten im engsten Umfeld Himmlers dar. Aus dieser paradoxen Haltung heraus leitet er aber den Anspruch ab, Inhalt und Form von Reitlingers Buch vor allem in der deutschen Übersetzung maßgeblich beeinflussen zu dürfen. Diese Haltung gründet letztendlich aber nur auf den Gewohnheitsprivilegien der Angehörigen der bürgerlichen Eliten, wie Korherrs Ton immer wieder zeigt. Reitlinger und die anderen an der deutschen Ausgabe beteiligten Akteure sind mit Korherr offensichtlich skeptisch umgegangen. Indem man Teile seiner Vorschläge in die Ergänzung im Anhang I der deutschen Übersetzung übernahm, zeigte man Professionalität, Interesse an der Sache und Korherr gegenüber guten Willen. Weder Reitlinger noch Brügel oder Dr. Franken 64

Ebd., S. 1.

5. Johann Wolfgang Brügels Übersetzung von Gerald Reitlingers The Final Solution

in der Bundeszentrale für Heimatdienst waren aber bereit, Korherrs Entlastungsfiktionen in ihr Buch zu übernehmen. Genau an den Stellen, wo es darum gehen könnte, dass Korherr nicht über die Ermordung der Juden informiert war und beispielsweise Theresienstadt, wie er später schreibt, »für ein wirkliches jüdisches ›Altersheim‹ gehalten hatte«, folgen sie seinen Vorgaben grundsätzlich nicht. Auch Korherrs Angebot, Reitlinger weiterhin mit Informationen für sein nächstes Buch über die SS zu versorgen, das er in seinem zweiten Brief macht, konnte daran nichts ändern. Die Erwähnungen und Darstellungen des Korherr-Berichts in der deutschen Ausgabe der Endlösung zeigen ihn korrekterweise als ein Verwaltungsinstrument, das im RSHA für die weitere Organisation des Massenmords benutzt wurde. Auch Korherrs angebliche Unwissenheit wird im deutschen Text ambivalent beschrieben. In einer eingefügten Fußnote zu Korherrs Nachkriegsbiografie, in der auch der erste Brief an Reitlinger erwähnt wird, kommt Reitlinger zwar zu dem Schluss: »Der Sinn von Himmlers Anordnung, das Wort ›Sonderbehandlung‹ durch ›Transportierung nach dem russischen Osten‹ zu ersetzen, scheint ihm überhaupt nicht aufgegangen zu sein.« (DEL, S. 560). Gleichzeitig leitet Reitlinger den zweiten Absatz der deutschen Einfügung zu Korherr mit dem Satz ein: »Nichtsdestoweniger gab es in den Angaben des RSHA viele Dinge, die einem gewissenhaften Statistiker hätten zu denken geben müssen.« (DEL, S. 559) Direkt nach dem Erscheinen der deutschen Ausgabe schreibt Korherr deshalb einen weiteren Brief, diesmal an Dr. Paul Franken von der Bundeszentrale, in dem er seine Kritik an der deutschen Übersetzung diesmal deutlich indignierter formuliert: »Meine Kritik an der deutschen Übersetzung konzentriert sich darüber hinaus auf zwei Punkte: 1) Herr Reitlinger hat verschiedene offenkundige Fehler beibehalten, die ich ihm angegeben hatte […], und 2) hat er meine persönliche Situation, die mit der Aufführung meines Berichts untrennbar verbunden ist, wenn man mich nicht bloßstellen will, nur völlig unzureichend klargelegt.«65 Franken gegenüber betont Korherr besonders das paradoxe Argument, dass sich Dr. Simon, der ehemalige Statistiker des Centralvereins, nach dem 65

Korherr an Franken, 24. 07.1956, S. 2. Wiener Library, WL 526, MF Doc 54/Reel 9.

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Krieg überall für ihn verwendet hätte und mehrfach »darauf hinwies, dass ich ihm unter eigener Gefahr das Leben gerettet«66 habe, obwohl er ja nach seinen eigenen Angaben gar nicht gewusst hatte, dass dieser in Lebensgefahr war. Er betont seine »weltanschauliche Herkunft und Einstellung« aus dem Spengler- und George-Umfeld, die ihn seiner Ansicht nach zum Opfer von NS-Verfolgung gemacht habe. Außerdem empört er sich in diesem Schreiben über Reitlingers Kritik am Umgang mit der NS-Vergangenheit in der BRD und am Verhalten der Bundesregierung im Zusammenhang mit der Verfolgung von untergetauchten NS-Verbrechern wie Eichmann. Hier wird wieder das autoritäre Verständnis Korherrs deutlich, dass es einem ausländischen Autor eigentlich nicht zustehe, die Bundesregierung zu kritisieren. Aus demselben Verständnis speist sich auch die oben skizzierte Vorstellung, Reitlinger hätte den Anweisungen eines deutschen Ministerialrats, also Korherrs, Folge zu leisten. Noch stärker als die Briefe an Reitlinger oszilliert das Schreiben an Franken im Ton zwischen ängstlicher Unterwürfigkeit und autoritärer Indignation, und Korherr inszeniert sich hier noch deutlicher als NS-Verfolgter, was in seinem geäußerten Anspruch auf Entschädigung gipfelt. Er kritisiert Franken gegenüber Reitlinger dafür, nicht alle seine Änderungen übernommen zu haben, was seiner Ansicht nach »nicht nur berechtigt wäre, sondern auch als eine Art ›Wiedergutmachung‹ erhofft werden konnte.«67 Korherr schreckt hier offensichtlich gerade noch davor zurück, sich mit Überlebenden der Konzentrationslager und rassisch Verfolgten auf eine Stufe zu stellen und verwendet deshalb die Uneigenlichkeitsanführungszeichen. Es kann aber kein Zweifel bestehen, dass er ganz grundlegend davon ausgeht, eine ihm zustehende Entschuldung seiner Person nicht erhalten zu haben. In der sprachlich vorglobalisierten Welt der 1950er-Jahre scheint es für Korherr zunächst wenig bedeutsam zu sein, was im englischen Original steht. Er wollte die Übersetzung so beeinflussen, dass man in Deutschland nicht den Eindruck bekommt, er sei ein Verwaltungstäter des Holocaust und deshalb keine geeignete Besetzung für einen Ministerialratsposten. Den Hauptteil seines Briefes an Franken leitet er mit dem oben zitierten Satz über seine Kritik an der deutschen Übersetzung ein. Diese Angst vor dem Informationstransfer war durchaus berechtigt. Vermutlich warteten Korherrs Vorgesetzte im Finanzministerium ab, ob Reitlinger Korherr in weiteren Auflagen der 66 67

Ebd, S. 5 Ebd., S. 1

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deutschen Übersetzung noch einmal anders darstellen würde und auf mehr seiner Änderungswünsche eingehen würde. Als dies nicht der Fall war, beschloss man nach Veröffentlichung der dritten Auflage, Korherr zu entlassen, offensichtlich weil sich aus Reitlinger/Brügels Darstellung ein deutliches Bild von der Funktion des Berichts ergab. In der Enzyklopädie des Holocaust kommen die AutorInnen explizit zu dem Schluss: »[Korherr] wurde 1961 entlassen, nachdem in Gerald Reitlingers Buch Die Endlösung die Bedeutung des KorherrBerichts für die Durchführung der ›Endlösung‹ offenkundig geworden war.«68 Diese Interpretation, die eine zumindest potentiell breitere Rezeption der Übersetzung in Deutschland annimmt und dem Buch eine instrumentelle Funktion bei der Beendigung von Korherrs Nachkriegskarriere zuschreibt, deckt sich mit der Angst Korherrs vor der Übersetzung, wie sie in seinen drei Briefen von 1955 und 1956 zum Ausdruck kommt. Ganz nachzuvollziehen ist diese Schlussfolgerung allerdings nicht. Warum sollte das Bundesfinanzministerium bis nach der Veröffentlichung der dritten Auflage gewartet haben? Hatte man dort tatsächlich noch mit Änderungen im Sinne Korherrs gerechnet? Wahrscheinlicher ist doch, dass der Bericht und seine Funktion (und damit auch Reitlingers Buch) im Zusammenhang mit einem weltweit wirksamen öffentlichen Großereignis im Frühjahr 1961, nämlich dem EichmannProzess in Jerusalem, wieder in den Blick der deutschen Öffentlichkeit und des Finanzministeriums geraten war. Die direkte politische Wirkmächtigkeit von Brügels Übersetzung im Fall Korherr mag tatsächlich kleiner gewesen sein, als sie sowohl von Korherr als auch von späteren HistorikerInnen angenommen wurde. Dennoch war Die Endlösung über Jahre das einzige in deutscher Sprache verfügbare wissenschaftliche Werk, das den Korherr-Bericht ausführlich erwähnte und ihn eindeutig als Ergebnis und Instrument verbrecherischen Verwaltungshandelns auswies. Damit war das Buch vielleicht nicht Auslöser der Entfernung Korherrs aus dem Ministerialdienst, aber doch bleibendes Zeugnis gegen ihn und damit instrumentell für die Beendigung dieser speziellen personellen Kontinuität zwischen dem RSHA und dem Bundesfinanzministerium.

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»Korherr, Richard« in: Gutman et al., S. 800.

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5.3.2.

Rudolf Hagelstanges Einleitung und die Rezeptionsvorstellungen der Bundeszentrale für Heimatdienst

Der wichtigste Faktor für die Verbreitung und Rezeption von Brügels Reitlinger-Übersetzung in der BRD der späten 1950er-Jahre war mit Sicherheit die Beteiligung der Bundeszentrale für Heimatdienst an der Publikation. Der Ankauf der halben ersten Auflage und deren Vertrieb sorgten dafür, dass Die Endlösung den Weg in viele Schul-, Betriebs- und Stadtbibliotheken fand sowie günstig an interessierte Einzelpersonen weitergegeben werden konnte. Das Engagement der Bundeszentrale, deren Auftrag es war, »den demokratischen und den europäischen Gedanken im deutschen Volke zu festigen und zu verbreiten«69 , die sich aber in den 1950er-Jahren schwerpunktmäßig auf die Kritik und Abwehr des Kommunismus konzentrierte, erhob das Buch in den Stand eines staatlich sanktionierten Grundlagenwerks und Instruments der politischen Bildung. Dass es zu diesem Engagement kam, war zum größten Teil das Verdienst des damaligen Leiters der Bundeszentrale, des Historikers Dr. Paul Franken, der im Nationalsozialismus verfolgt worden war und dem katholisch-konservativen Widerstand nahegestanden hatte. Letztlich ist die deutsche Übersetzung von Reitlingers Endlösung auch ein Produkt liberaler und konservativer Gegner der Restaurierungsbewegungen unter den BRD-Eliten, in diesem Fall konkret von Franken und Theodor Heuss, die personellen Kontinuitäten und aktiver Verdrängung der NS-Verbrechen in der politischen Kultur der BRD etwas entgegensetzen wollten, gleichzeitig aber davor zurückschreckten, die Mythen und Entschuldungsdiskurse der Kriegsgeneration direkt anzugreifen (nicht zuletzt, weil sie diese Entschuldung teilweise selbst brauchten). Sie betrieben den Wissensimport aktiv und unterstützten durch die Bundeszentrale auch die Verbreitung dieses Wissens. Allerdings konnten sie auf diesem Wege keine breite gesellschaftliche Rezeption und Auseinandersetzung erreichen und wollten dies möglicherweise auch gar nicht. Um das oben formulierte Interesse, die NS-Menschheitsverbrechen als relativ abstrakte historische Wahrheiten zu etablieren, ohne die Mythen und das Selbstbild der jungen Bundesrepublik anzugreifen, konkret in die deutsche

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Bundesminister des Innern: »Erlaß über die Errichtung der Bundeszentrale für Heimatdienst«, 25.11.1952. www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/geschichte-derbpb/152785/25-november-1952 (Zugriff: Juli 2020)

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Übersetzung einzuschreiben, beauftragte der Colloquium-Verlag den Schriftsteller Rudolf Hagelstange, eines von drei Vorwörtern für die deutsche Ausgabe zu verfassen. Dieses Vorwort sollte als Paratext den Import ins Deutsche erklären und dabei helfen, die Rezeption vorzustrukturieren. Hagelstange, der an der nationalsozialistischen Reichspresseschule ausgebildet wurde und während des Krieges in Frankreich und Italien als Kriegsberichterstatter der Wehrmacht gedient hatte, galt vor allem aufgrund eines kurz vor Kriegsende 1945 veröffentlichten Gedichtzyklus als Vertreter der »Inneren Emigration« und war einer der ersten von der öffentlichen Hand und dem Literaturbetrieb stark geförderten Schriftsteller der jungen BRD,70 eine Konsensfigur. Er setzte sich in den 1950er-Jahren mehrfach sowohl lyrisch als auch essayistisch mit der Frage der Schuld der Deutschen an der Ermordung der europäischen Juden auseinander, wobei er üblicherweise vage und verallgemeinernd blieb und stets versucht, die Darstellung der Nachkriegssituation in Sprache und Form an deutsche kulturelle Formen des 18. und 19. Jahrhunderts anzuknüpfen.71 Hagelstange entstammt demselben bürgerlichen restaurationskritischen Milieu wie Franken und Heuss und muss den beiden deshalb als idealer Kandidat erschienen sein, um ein deutsches Lesepublikum an die Lektüre der Endlösung heranzuführen. Hagelstange beginnt seine Einleitung mit einer scheinbaren Problematisierung des interkulturellen Wissenstransfers. Er nimmt bei einem breiteren Lesepublikum Vorbehalte gegen ein Buch über den deutschen Massenmord an, das von einem Engländer geschrieben wurde. Diese Vorbehalte legitimiert

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So war er beispielsweise Gewinner des deutschen Kritikerpreises 1951, der Ehrengabe der deutschen Schillergesellschaft 1955, einer der beiden ersten Nachkriegsstipendiaten in der Villa Massimo 1957 und 1959 Empfänger des Großen Bundesverdienstkreuzes. Walter Schmitz: »Rudolf Hagelstange«. In: Herrmann Korte (Hg.): Kritisches Lexikon zur deutschen Gegenwartsliteratur. München 2012. So beispielsweise in seinem Essay »Sühne und Ehre« in: Der Monat, Heft 42, März 1952. In diesem Essay fasst er die moralische Situation der Deutschen in eine Metapher, die er dem Philosophen Leopold Ziegler in den Mund legt: Ziegler hatte in Überlingen in einem Haus gewohnt, das oberhalb von unterirdischen Produktionsstätten eines KZAußenlagers gelegen war. Als nach der Befreiung die Stollen gesprengt wurden, wurde sein Haus schwer beschädigt. Ziegler habe dies, so zitiert ihn Hagelstange, »hingenommen gleichsam als Abtragung einer Schuld. Ich bin ja gelegentlich auf der Straße einem Trupp der ausgemergelten Gestalten begegnet […] und hatte so Kenntnis und Anteil an dem, was geschah.«

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er explizit und platziert sie damit im Diskurs um eine angenommene, ungerechte »Siegerjustiz« der Alliierten, um diesen Diskurs dann wiederum mit dem Verweis auf die kaum fassbare Schwere der NS-Verbrechen auszuhebeln: »Der Deutsche, der dieses Buch – das Buch eines Engländers – in die Hand nimmt, hat ein gewisses Recht darauf zu argwöhnen, die hier abgehandelte Frage werde erhoben und beantwortet, damit ein Schatten falle auf das, was man gemeinhin und sehr vage den deutschen Namen nennt. Wer den Mut hat – und jeder, dem das Deutsche mehr als eine unverbindliche Vokabel ist, sollte solchen Mut aufbringen –, dieses Buch zu lesen, wird es bald innewerden, daß es geschrieben wurde, damit ein Licht falle, ein Licht auf Vorgänge, die sich Jahre hindurch im Dunkel oder Zwielicht abspielten […]. Diese Vorgänge waren an sich so ungeheuerlich und im echten Sinn des Wortes unglaublich, daß jeder fühlende Mensch sich über sie entsetzen muß, und ihre Urheber und Akteure waren darum auch mit Fleiß bedacht gewesen, den Kreis der Wissenden so eng wie möglich zu ziehen.«72 Hagelstange wirbt hier für die Lektüre von Reitlingers Buch und für den Mut zu einer Auseinandersetzung mit seinem Inhalt, versucht ihr aber gleichzeitig alles Bedrohliche zu nehmen und sie als lohnende kathartische Beschäftigung darzustellen. Dabei legitimiert er die Zurückhaltung und Abwehr gegen das Thema seitens der Deutschen und bestätigt das gängige Verteidigungsargument, die überwiegende Mehrheit der Deutschen habe von der Ermordung und den NS-Verbrechen nichts gewusst. Diese Serpentinenbewegung hält er über die dreieinhalb Seiten seiner Einleitung konsequent durch. Eines nach dem anderen klopft er die Abwehrargumente der westdeutschen Nachkriegsbevölkerung ab und bestätigt sie zunächst: Man will sich nicht von den Siegern einen Schuldvorwurf machen lassen; man hat eigentlich von nichts gewusst; man stand im totalitären Nationalsozialismus unter zu großem Konformitätsdruck, um irgendetwas tun zu können. Dem gegenüber stellt er immer wieder den Ausblick auf die abstrakte historische Wahrheit und das Ausmaß der Verbrechen, wie sie sich aus der Lektüre von Reitlingers Buch ergeben, und stellt als Anreiz für die Auseinandersetzung mit diesen Verbrechen eine psychologisch-spirituell kathartische Wirkung für das »deutsche Volk« in Aussicht: »Unsere Seele, die Seele unseres Volkes wird ihren Frieden und die Gewißheit ihrer selbst nicht wiederfinden können ohne diesen Schattengang, der uns das Licht erst kostbar und rein machen wird, in dem wir 72

Rudolf Hagelstange: »Ein Vorwort«. DEL, S. XI.

5. Johann Wolfgang Brügels Übersetzung von Gerald Reitlingers The Final Solution

gehen.«73 Hagelstanges Doppelung, die Auseinandersetzung im Interesse einer allgemeineren, historischen Wahrheit einerseits zu fördern, andererseits aber auch die westdeutschen Entschuldungs- und Verdrängungsdiskurse zu bedienen oder zumindest nicht anzugreifen scheint in der Funktion der Einleitung auch das Interesse der Bundeszentrale für Heimatdienst zu repräsentieren. In dieser Form ist hier der staatliche Umgang der BRD mit dem Holocaust-Gedenken, wie er sich ab den späten 80er Jahren manifestieren sollte, in Latenz fast vollständig angelegt.

5.3.3.

Die öffentliche Rezeption in der Bundesrepublik

Der öffentliche Rezeptionsraum für Die Endlösung blieb trotz der Involvierung staatlicher Stellen sehr beschränkt. Im Unterschied zu Großbritannien, wo das Buch als erste Überblicksstudie zum NS-Judenmord breit in der allgemeinen und in der Fachpresse besprochen wurde, fand die Endlösung direkt nach ihrer Veröffentlichung 1956 kaum Resonanz in den westdeutschen Medien. Die erste Einzelrezension in einem Leitmedium erschien im April 1957 in der Zeit, volle neun Monate nach der Präsentation des Buchs in Berlin.74 Erst über ein Jahr später, im Sommer 1958, wurde das Buch zum ersten Mal im Spiegel zitiert,75 allerdings nicht in einer Rezension, sondern im Zusammenhang mit einem Bericht über den ehemaligen SS-Wachmann im KZ Mauthausen Peter Prücklmayer, der damals von der CSU zur Landtagswahl als Kandidat aufgestellt worden war. Der Spiegel-Autor führt hier Reitlingers Charakterisierung von Mauthausen als besonders mörderisches KZ an, um den Fall Prücklmayer noch weiter zu skandalisieren. Auch in der jungen Zeitgeschichtsforschung hatte man es nicht eilig, Reitlingers Buch zu rezensieren. Die Viertelsjahreshefte für Zeitgeschichte warteten bis zur dritten Ausgabe des Jahres 1961, bevor sie die »3. verbesserte Auflage« der Endlösung in einer längeren Sammelrezension kurz, aber sehr positiv erwähnen.76 Da die Publikation des Originals auch nicht, wie im Fall Russell, von einem konkreten politischen Skandal begleitet wurde, und weil der Wissensimport

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Ebd., S. XIV Marianne Regensburger: »Eine Studie des Grauens. Zu Gerald Reitlingers dokumentarischem Werk über die Ausrottung der Juden Europas«. Die Zeit, 11. April 1957. »CSU: SS im Landtag«. Der Spiegel 35/1958. Waldemar Besson: »Neuere Literatur zur Geschichte des Nationalsozialismus«. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jahrgang 9 (1961), Heft 3, S. 314-330.

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ins Deutsche, den die Übersetzung darstellte, in der BRD auf implizites, verdrängtes Wissen traf, reagierte man in den westdeutschen Redaktionen mit Zurückhaltung und Desinteresse. Ein wenig anders sah es im deutschsprachigen Ausland aus: J.W. Brügel selbst konnte 1954, also noch vor Fertigstellung seiner Übersetzung, eine Rezension von Reitlingers Buch sowohl in der Zeitschrift der Schweizer Sozialdemokraten, links, als auch in der Wiener sozialdemokratischen Zeitschrift Die Zukunft unterbringen.77 Diese allererste Rezension Reitlingers im deutschsprachigen Raum, die der Veröffentlichung der Übersetzung vorangeht, ist insofern interessant, als auch sie, genau wie Hagelstanges Einleitung, zunächst die deutschen Schuldabwehrmechanismen anführt, sie aber im Unterschied zu Hagelstange ganz konkret angreift und als Mythen kennzeichnet: »›Mit unendlichem Fleiß hat Reitlinger durch Jahre die Quellen studiert und alle Spuren verfolgt, aus denen sich die furchtbare Tragödie der Juden Europas ablesen läßt, die vielfach Opfer nicht nur der nationalsozialistischen Brutalität, sondern auch der Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit ihrer Mitmenschen wurden. […] Es ist schwer zu glauben‹, sagt der Verfasser, der nirgends die Vorstellung einer Kollektivschuld des deutschen Volkes vertritt, daß […] es einen vollbewußten Menschen gab, der es nicht wußte.‹ […] Reitlinger verkennt die Atmosphäre der Furcht und Einschüchterung nicht, die einen Polizeistaat charakterisieren, aber erklärt das die Trägheit der Herzen nach dem Verklingen aller Gefahren?«78 Im deutlichen Unterschied zu Hagelstange nimmt der NS-verfolgte Exilant Brügel, der ja auch nie deutscher Staatsbürger war, eine Position ein, die sich klar empathisch und solidarisch auf die Opfer der deutschen Menschheitsverbrechen bezieht. Brügels frühe Rezension bereitet die Rezeption der Übersetzung ganz anders vor, als es Hagelstanges Einleitung tut: Sie macht implizit deutlich, dass hier auch ein Informationsdefizit auf deutschsprachiger Seite vorliegt, das es durch eine Übersetzung auszugleichen gilt. Und er stellt die Auseinandersetzung mit dem Thema als mühevoll, aber notwendig, nicht aber als abstraktes eschatologisches Projekt dar, das ein angenommenes deutsches Kollektiv von irgendeiner Schuld erlöst. Brügel befindet in seiner Kritik, die ja für ein schweizer und österreichisches Publikum verfasst wurde, 77 78

J.W. Brügel: »Ein Katalog des Grauens. Hitlers Endlösung der Judenfrage«.Links, Zürich, März 1954 und Die Zukunft, Wien, März 1954. Brügel: »Ein Katalog des Grauens«.

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die Teile in Reitlingers Werk am relevantesten, die sich mit der mangelnden juristischen Aufarbeitung und den Nachkriegskarrieren von Tätern beschäftigen und findet es abschließend sogar bedauerlich, dass dieses erste Überblickswerk »nicht von einem Deutschen und Nichtjuden geschrieben wurde.«79 Er lässt also keinen Zweifel daran, dass er die Informationen, die das Buch enthält, explizit für die Deutschen »unentbehrlich« findet und skandalisiert damit die fehlende Auseinandersetzung in Westdeutschland. Man muss allerdings bedenken, dass zumindest die Hälfte des Publikums, für das dieser Text geschrieben wurde (nämlich die Mitglieder der Schweizer SP, die die Zeitschrift links erhielten) eine sehr große Distanz zum Nationalsozialismus hatten, und dass die andere Hälfte (nämlich die österreichischen Sozialdemokraten) ebenso im Vergleich zum Rest der Gesellschaft überdurchschnittlich viele Regimegegner und Opfer von NS-Verfolgung beinhaltete. Das Zielpublikum, das die Bundeszentrale für Heimatdienst und der Colloquium-Verlag mit Hagelstanges Text erreichen wollte, umfasste eine viel größere Zahl von ehemaligen Mitgliedern nationalsozialistischer Organisationen. Brügels Rezension zeigt also auch, wie sehr er (und die Herausgeber von links und der Zukunft) sich über die engen und sehr klar markierten Grenzen bewusst waren, die den möglichen Rezeptionsraum für Reitlingers Buch bildeten. Vor diesem Hintergrund ist es auch wenig überraschend, dass die erste Einzelrezension in einem westdeutschen Leitmedium spät und in der liberal-bürgerlichen Wochenzeitung Die Zeit erschien, und dass die Autorin eine Remigrantin war, die von den Nazis als Jüdin verfolgt worden war. Marianne Regensburger produziert hier den ersten Paratext zur deutschen Ausgabe der Endlösung, der vollständig ohne positive oder zitierende Verweise auf die westdeutschen Entschuldungsmechanismen auskommt. Stattdessen eröffnet sie ihren Text mit dem Zitat eines ermordeten Ghettokämpfers, der im schriftlichen Dialog mit Gott das Beschweigen des deutschen Massenmords als stille Zustimmung beschreibt und vom abwesenden Gott ein Urteil über die Schweigenden einfordert. Regensburger betont den Pioniercharakter von Reitlingers Arbeit ebenso stark wie die Bedeutung des Kulturtransfers als Aktualisierung oder Transfer von Wissen: »Was die Ausführenden betrifft, so ist auffallend, daß Namen auftauchen, die bisher auch jenen, die die Augen nicht verschlossen, weitgehend unbekannt sind.«80 In diesem Satz findet sich die ganze Ambivalenz des Wissenstransfers, den Brügels Übersetzung von 79 80

Ebd. Marianne Regensburger: »Eine Studie des Grauens«, Die Zeit, 11. April 1957

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Reitlingers Arbeit leistet. Diejenigen, die die Augen verschließen, wehren ein Wissen aktiv ab, das sie eigentlich haben könnten oder müssten, und das nun in Gestalt der Reitlinger-Übersetzung in ihrer Sprache gedruckt vorliegt. Sie haben also, auch als Nicht-RezipientInnen des Buches, eine Beziehung zu seinem Inhalt. Gleichzeitig konkretisiert und aktualisiert die Übersetzung das Wissen über den NS-Massenmord für diejenigen, die die Augen nicht verschließen, die also dieses Wissen annehmen können und wollen. Auch Marianne Regensburger beschreibt hier also sehr konkret die Grenzen der Rezeptionsräume für die Endlösung, wie sie in der BRD der 1950er-Jahre bestanden. Dabei äußert sie sehr subtil Kritik an Form und Aufbau des Buches, die sie aber jedes Mal direkt an den Zusammenhang der Form mit dem Inhalt anbindet: »Die Unmenschlichkeit des Subjekts formt selbst die Sprache Reitlingers. Sie zieht auch den Leser in ihren Bann. Wenn man nach einigen hundert Seiten dieser Lektüre auf den Satz stößt: ›Die Aufgabe, der sich die Mörder Anfang 1942 gegenübersahen, war gigantisch‹, dann muß man sich erst darauf: besinnen, wie inadäquat Sprache überhaupt vor diesen Tatsachen ist.«81 Wie bereits mehrere der britischen Rezensionen kommt auch Regensburger zu dem Schluss, dass es der Inhalt des Buches ist, nämlich der Versuch einer systematischen Beschreibung der Ermordung der europäischen Juden durch die Deutschen, der die formalen und sprachlichen Probleme in der Endlösung verursacht. Gleichzeitig spricht ihre Rezension eine Leseempfehlung aus, die einem moralischen Imperativ nahekommt, wenn sie das Beschweigen und Verdrängen des Judenmords 30 Jahre vor Ralph Giordano einem deutschen Publikum gegenüber als eine zweite Schuld beschreibt. Regensburgers Rezension ist kurz und zumindest teilweise ambivalent, aber sie bleibt der einzige Text in der Nachkriegs-BRD, der die Endlösung als Pionierwerk der Geschichtsschreibung über das deutsche Menschheitsverbrechen würdigt und das Buch nicht als reinen Anlass für die Diskussion deutscher Schuld und das Mobilisieren deutscher Schuldabwehr benutzt. Damit zeigt er nicht nur einen Wissensimport auf, sondern auch einen Diskursimport: Indem Regensburger über Reitlinger/Brügels Werk schreibt, wie sie schreibt, stellt sie auch die Notwendigkeit fest, ohne Abwehr über die NS-Verbrechen zu schreiben und zu sprechen, wie es sich der Exilant Brügel in seiner Rezension ebenfalls gewünscht hatte, als er seine Enttäuschung darüber ausdrückte, dass es den 81

Ebd.

5. Johann Wolfgang Brügels Übersetzung von Gerald Reitlingers The Final Solution

Deutschen zu diesem Zeitpunkt unmöglich ist, über diese Verbrechen angemessen zu schreiben. Die Übersetzung und Publikation von Reitlingers Buch alleine reicht in der BRD der späten 1950er-Jahre noch lange nicht aus, um einen öffentlichen Diskurs über den Mord an den europäischen Juden in Gang zu bringen. Wirklich gesprochen wird über Reitlingers Buch erst wieder, als ein anderes Ereignis von weltpolitischer Tragweite den Holocaust wieder ins öffentliche Bewusstsein bringt. Im 3. Quartal 1961, auf dem Höhepunkt des EichmannProzesses, findet man in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte Platz, Die Endlösung in einer längeren Sammelrezension unter dem Titel »Neuere Literatur zur Geschichte des Nationalsozialismus« kursorisch zu erwähnen und zu empfehlen. Der Rezensent Waldemar Besson bezeichnet das Buch als »die fürchterlichste Anklage gegen den nationalsozialistischen Unrechtsstaat, die je geschrieben wurde und die jetzt in 3. verbesserter Auflage vorliegt«82 , es ist ihm aber nicht Anlass, ausführlicher auf den Inhalt einzugehen. Besson erwähnt Die Endlösung lediglich, um im Zusammenhang mit einer ausführlicheren Diskussion des Buches Richter im Dritten Reich von Hubert Schorn auf die Implikation des Beamtenapparates in die deutschen Menschheitsverbrechen hinzuweisen. Insgesamt ist die Erwähnung von Reitlinger/Brügels Buch genau zwei Sätze lang. Auch wenn man bedenkt, dass sechs Jahre zuvor in der Kuratoriumssitzung des Instituts noch eine ausführliche Besprechung des Buchs angedacht worden war, wird deutlich, wie winzig der Resonanzraum für Brügels Übersetzung in der BRD-Gesellschaft war. Selbst in der Fachwissenschaft wollte man das, was Brügel übersetzt hatte, weil es auf Deutsch nicht sagbar gewesen war, nicht wirklich hören.

82

Waldemar Besson: »Neuere Literatur zur Geschichte des Nationalsozialismus«, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 3/61, S. 327.

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6. Synthese

6.1.

Nach Belsen: Die NS-Massenverbrechen im britischen Gedächtnis und öffentlichen Diskurs der 1950er-Jahre

Am 24. April 1945, neun Tage nachdem britische Soldaten das Konzentrationslager Bergen-Belsen befreit hatten, stand Kanonier James William Illingworth aus der Grafschaft Cheshire im befreiten Lager vor einer Kamera der Army Film and Photographic Unit und sagte mit starkem nordwestenglischem Akzent: »I am at present in Belsen camp, doing guard duty over the SS men. The things in this camp are beyond describing. When you actually see them for yourself, you know what you’re fighting for here. Pictures in the papers can’t describe it at all. We actually know now what has been going on in these camps, and I know personally what I’m fighting for.«1 Die Bewegtbilder und Fotografien von Leichenbergen und völlig ausgezehrten, dem Tode nahen Überlebenden erreichten über die Wochenschauen und die Presse in Großbritannien ein sehr breites Publikum und hinterließen in der gesamten britischen Gesellschaft einen bleibenden Eindruck. Für viele Jahre wurde »Belsen« in Großbritannien zur Chiffre für die deutschen Menschheitsverbrechen und zu einem entscheidenden Baustein des moralischen Fundaments dessen, was die britische Gesellschaft als ihre »Finest Hour« wahrnahm. Bei der Verbreitung dieser Bilder benannte die britische Presse ebenso wie staatliche Stellen die TäterInnen zwar klar als Deutsche, verschwieg aber meistens die jüdische Identität der Mehrzahl

1

Imperial War Museums, Film Archive, Belsen Concentration Camp, Germany, Interviews with Inmates, Reel 1, A700/514/97

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Übersetzung als Erinnerung

der Opfer. Stattdessen wurden sie als universelle Opfer eines deutschen Verbrechensapparats dargestellt.2 Diese öffentliche Darstellung von deutschen Verbrechen an mehr oder weniger willkürlich ausgewählten Opfern wurde auch noch durch den vielbeachteten Bergen-Belsen-Prozess gestärkt, den die britische Militärjustiz von September bis November 1945 in einer Turnhalle in Lüneburg abhielt. Da hier Angeklagte vor Gericht standen, die sowohl in Bergen-Belsen als auch in Auschwitz Verbrechen begangen hatten, wurde der Bergen-Belsen-Prozess zu einer ersten juristischen Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Lagersystem (und zu einer ersten Übersetzungsübung zur Verständigung über die deutschen Verbrechen zwischen dem Englischen und dem Deutschen, über die in einer anderen Arbeit noch viel zu sagen wäre). Aus juristischen Erwägungen heraus wurden in diesem Prozess aber nur Verbrechen verhandelt, die an StaatsbürgerInnen der alliierten Staaten begangen worden waren. Damit fiel auch in der britischen Berichterstattung über den Bergen-Belsen-Prozess die jüdische Identität der Mehrheit der Opfer unter den Tisch.3 Kurz nach Beendigung des Prozesses entspann sich darüber hinaus ein Konflikt zwischen der britischen Regierung und den organisierten jüdischen Überlebenden (nicht nur) in der britischen Zone. Die meisten jüdischen Überlebenden der Konzentrationslager, die auf deutschem Gebiet befreit worden waren, wollten Deutschland dringend verlassen. Die Mehrheit wollte sich in Palästina niederlassen, das zu dieser Zeit unter britischer Verwaltung stand, andere wollten in die USA, nach Kanada oder Großbritannien emigrieren. Die britische Regierung war aber nur bereit, kleine Gruppen von Waisenkindern nach Großbritannien zu lassen und verweigerten die Auswanderung nach Palästina gänzlich.4 In Palästina selbst waren britische Truppen sogar in militärische Auseinandersetzungen mit jüdischen paramilitärischen Organisationen verwickelt, die für die Gründung eines jüdischen Staates kämpften. Gleichzeitig begann auch der Kalte Krieg, der im staatlichen Handeln und 2

3 4

Zur Rezeption der Filme aus dem befreiten Lager Bergen-Belsen in Großbritannien siehe: David Cesarani: »Great Britain« in David S. Wyman: The World Reacts to the Holocaust, Baltimore 1996. Zum Belsen-Prozess und seiner Rezeption siehe: John Cramer: Belsen Trial 1945. Göttingen 2011. Zur Situation der jüdischen DPs in Deutschland und den Konflikten mit der britischen Regierung siehe: Atina Grossman: Jews, Germans, and Allies. Close encounters in occupied Germany. Princeton 2007.

6. Synthese

in der öffentlichen Wahrnehmung in Großbritannien den gerade erst zu Ende gegangenen Krieg gegen Deutschland stark überlagerte. In diesem Konflikt standen die westlichen Besatzungszonen Deutschlands auf einer Seite mit den Besatzungsländern USA, Frankreich und Großbritannien. Darüber hinaus war die Bevölkerung Großbritanniens in den gesamten 1950er-Jahren mit relativ großen wirtschaftlichen Härten konfrontiert. So dauerte die Lebensmittelrationierung noch bis zum Sommer 1954 an. In die späten 1940erund 1950er-Jahre fiel außerdem der von der britischen Öffentlichkeit vielfach als sehr plötzlich empfundene Beginn der Dekolonialisierung, also der weitgehenden Auflösung des britischen Weltreiches. In nationalistischen Identitätskonstruktionen konnten die damit einhergehenden Gefühle vom Verlust nationaler Größe zumindest teilweise durch die Narrative vom Zweiten Weltkrieg als »Finest Hour« Großbritanniens kompensiert werden. In diesen Erzählungen vermischten sich traditionell heroisierende Erzählungen mit dem Bewusstsein, durch den Sieg über Nazideutschland und die Befreiung Bergen-Belsens moralisch eindeutig auf der richtigen Seite gestanden zu haben.5 Aufgrund dieser Konstellation und des zumindest subkutan in Teilen der britischen Gesellschaft vorhandenen Antisemitismus kam die ab ungefähr 1989 einsetzende Erinnerungsgeschichtsforschung in Großbritannien meist zu einem mehr oder weniger eindeutigen Befund: Die Zeit zwischen den späten 1940er-Jahren und der Medienaufmerksamkeit, die der EichmannProzess in Jerusalem 1961 erfuhr, sei überwiegend eine Phase des Verdrängens und Verschweigens gewesen, in der die Erinnerung an die deutschen Massenverbrechen ausschließlich von der kleinen Minderheit der betroffenen Überlebenden und ExilantInnen getragen wurde. So beschreibt beispielsweise Tony Kushner 1994 in seiner ausführlichen Studie The Holocaust and the Liberal Imagination die 1950er-Jahre als eine Zeit des Schweigens, in der die NSVerbrechen und insbesondere der Massenmord an den europäischen Juden nur in Ausnahmefällen thematisiert wurden: »The Diary of Anne Frank was the only major exception to this general neglect of the Holocaust throughout the 1950s.«6 Interessant ist dabei, dass bereits in Kushners eigenem Text die The-

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6

Ein ausführlicher Überblick über die verschiedenen Faktoren, die zwischen 1948 und 1961 die Erinnerung in Großbritannien an die deutschen Menschheitsverbrechen (überwiegend negativ) beeinflussten, findet sich in: Andy Pearce: Holocaust Consciousness in Contemporary Britain, London: Routledge 2014, S. 11-17. Tony Kushner: The Holocaust and the Liberal Imagination. London 1994, S. 245.

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Übersetzung als Erinnerung

se, der Massenmord an den europäischen Juden sei in den 1950er-Jahren vor allem beschwiegen worden, ausschließlich im Zusammenhang mit ebendiesen Ausnahmen angeführt wird.7 Tatsächlich deuten diese Sonderfälle ebenso wie die drei in dieser Studie untersuchten Bücher eher darauf hin, dass eine so eindeutige Einschätzung des Diskursklimas in den 1950er-Jahren in Großbritannien auf die Dauer nicht haltbar ist. Wie Pearce es ausführlich beschreibt8 , gab es neben den verschiedenen Tendenzen, die die deutschen Verbrechen aus dem öffentlichen Diskurs und dem kulturellen Gedächtnis verdrängten, gleichzeitig auch stabile aber sehr eingegrenzte Diskursräume für das Sprechen über diese Verbrechen. Einerseits bestanden solche Räume innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Großbritannien und dort konkret in Medien wie der Jewish Chronicle oder dem Wiener Library Bulletin, sowie in und um andere ExilantInnen- und Flüchtlingszirkel. Gleichzeitig entstanden aber immer wieder auch zu bestimmten Anlässen und diskursiven Ereignissen, zu denen zwei der drei hier untersuchten Bücher (Bullock und Russell) besonders prominent gehören, kurze Zeitfenster, in denen ein öffentliches Sprechen über die deutschen Massenverbrechen in Großbritannien auch außerhalb dieser Zirkel möglich war. Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte und britische Rezeption der Werke in meinem Korpus zeigt, dass parallel zu den gesellschaftlichen Prozessen, die der Verdrängung der NS-Verbrechen Vorschub leisteten, in der britischen Gesellschaft der 1950er-Jahre sich noch zwei weitere diskursive Bewegungen vollzogen, die diesen Vergessens- und Überlagerungsprozessen entgegenwirkten. Die erste dieser Bewegungen kann man als eine Art intralingualer Übersetzung beschreiben: Auf die juristische Beschäftigung mit den deutschen Menschheitsverbrechen in den Nürnberger Prozessen und den KZ-Prozessen folgte die erste Auswertung der bei den Prozessen entstandenen Quellen- und Dokumentenbestände durch britische Historiker. Hierbei handelte es sich teilweise auch um eine Suchbewegung nach den richtigen sprachlichen und narrativen Mitteln, um diese Verbrechen angemessen beschreiben und vermitteln zu können. Es gab noch keinen Begriff wie »Holocaust«, der den Mord an den europäischen Juden durch die Deutschen prägnant und in seiner Komplexität ausdrücken konnte. Das Wissen über die deutschen Verbrechen, das in Großbritannien kodifiziert vor allem in der Berichterstattung über die Befreiung von Bergen-Belsen und in Form 7 8

ebd., S. 244/245. Pearce, S. 14-17.

6. Synthese

der Unterlagen aus den Prozessen vorlag, musste aus diesen Erinnerungsdepots in das kulturelle Gedächtnis Großbritanniens übersetzt werden. Es ging dabei auch darum, die zum Ende der 1940er-Jahre für Großbritannien beendete Phase der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen kulturell zu verdauern. An diesem intralingualen Übersetzungsprozess arbeiteten in den frühen 1950er-Jahren alle drei Autoren der hier untersuchten Bücher teilweise gleichzeitig und teilweise mit demselben Quellenmaterial, aber mit sehr unterschiedlichen Zielsetzungen, Gewichtungen und Ergebnissen. Die zweite Bewegung, die der Verdrängung der deutschen Verbrechen aus dem kollektiven Gedächtnis in Großbritannien entgegenwirkte, möchte ich als eine Dynamik beschreiben, die von den Tatbeständen selbst ausging. Man könnte es als ein Drängen des Wissens um diese Verbrechen nach Äußerung und öffentlicher Diskussion beschreiben. Das Wissen um die Größe und Brutalität der deutschen Verbrechen, das über die Bilder aus Bergen-Belsen mit der breiten britischen Öffentlichkeit geteilt worden war, ließ sich nicht einfach wieder löschen. Bei der Beschäftigung mit den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs, auch unter rein britischen Vorzeichen, oder mit dem Personal des NS-Regimes in der Presse oder dem Rundfunk sowie in der einsetzenden Geschichtsschreibung mussten sich die AutorInnen teilweise große Mühe geben, wenn sie den Massenmord an den europäischen Juden und die anderen Massenverbrechen der Deutschen nicht erwähnen wollten. Die Dimension der Verbrechen war zu groß, sie waren im kommunikativen Gedächtnis Mitte der 1940er-Jahre zu stark verankert worden, und sie hatten zu direkte Auswirkungen auf die politische Zusammensetzung der Gegenwart, nicht zuletzt durch die Gründung des Staates Israel, als dass die Überlagerungen und Verdrängungen, die sie aus dem kollektiven Gedächtnis heraushalten sollten, ungehindert wirken konnten.

6.1.1.

Übersetzbarkeiten: Die Anfänge einer Historiografie der NS-Verbrechen in Großbritannien

Anhand von Alan Bullocks Hitler-Biografie, dem ältesten hier besprochenen Original, lassen sich sowohl die allgemeine Tendenz zur Verdrängung der NS-Verbrechen im Großbritannien der frühen 1950er-Jahre sowie die beiden Bewegungen, die dieser Verdrängung entgegenwirkten, beispielhaft sehr gut darstellen. Ich habe im empirischen Teil die drei Werke in der Reihenfolge ihrer Übersetzung ins Deutsche behandelt. In diesem Unterkapitel sollen sie in der Reihenfolge ihres Erscheinens vorkommen, um ein etwas detailreicheres

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Übersetzung als Erinnerung

Bild der Erinnerungs- und Diskursentwicklung in Großbritannien zeichnen zu können. Obwohl Bullock keineswegs vorhatte, ein Buch über die Massenverbrechen der Deutschen zu schreiben, produzierte er mit dem Unterkapitel XII/VI einen weitverbreiteten, wenngleich auch kurzen Text über sie. Auf den erfahrenen Historiker und Autor Bullock ebenso wie auf die Abläufe im Verlag wirkten die Verbrechen scheinbar störend, als würden sie sich gegen den Fluss des Textes sträuben und nur schwer einen Platz in Bullocks Narrativ und innerhalb der tradierten Form der Herrscherbiografie finden. Es ist zumindest auffällig, dass ausgerechnet bei dem Kapitel, in dem es um den Mord an den europäischen Juden, das zivile Zwangsarbeitsprogramm und die Massenmorde an sowjetischen Zivilisten und Kriegsgefangenen geht, Autor und Verlag übersehen, dass der Gliederungspunkt XII/V zweimal vergeben wurde. In allen späteren Ausgaben ist dieser Fehler korrigiert, er findet zuvor aber noch Eingang in die deutschsprachige Erstausgabe. Hier bringen Konflikte zwischen den drei oben beschriebenen Prozessen – Verdrängung, Thematisierung in den Quellen und Drängen zur Sprache – die Gliederung eines Buchs mit hoher Auflage durcheinander. Der gesellschaftliche Verdrängungs- und Überlagerungsprozess manifestiert sich in Aufbau und Struktur des Buches: Bullocks Projekt räumt der Diskussion der Verbrechen zunächst 11 von 732 Seiten Text ein (in späteren Ausgaben wird das Unterkapitel um wenige Seiten erweitert). Auch die generisch vorgegebene Form der Herrscherbiografie, die Bullock weitgehend übernimmt, unterstützt diese Gewichtung. Hinzu kam vermutlich noch Bullocks eigene politische Überzeugung, die sich in Fragen der Deutschlandpolitik weitgehend mit den Positionen seiner Partei, der Labour Party, deckten, und aufgrund derer er die Thematisierung der Massenmorde als zumindest latent deutschfeindliche Haltung wahrgenommen haben wird. Es ist ihm aber aufgrund des verwendeten Quellenmaterials sowie wegen der Dimension der Verbrechen unmöglich, das Thema gänzlich aus dem Buch herauszuhalten. Sowohl die Akten des ersten Nürnberger Prozesses, als auch die ihm zugänglichen Dokumente der britischen Besatzungsbehörden in Deutschland mussten den erfahrenen Historiker Bullock immer wieder zu den deutschen Massenmorden führen. In seiner Interpretation ist ja gerade Hitler mehr oder weniger alleine für die Massenmorde verantwortlich, und deshalb könnten sie auch zumindest potentiell viel mehr Platz in einer Lebensgeschichte Hitlers einnehmen.

6. Synthese

Gleichzeitig verlangte auch das Wissen um die Dimension der deutschen Verbrechen, in Bullocks Fall die Erinnerungsablagerungen der Bilder aus Bergen-Belsen, nach einem Platz in der Darstellung des Lebens Hitlers. Im Schreiben allerdings lässt sich die kurze, in sich relativ abgeschlossene Darstellung der Verbrechen nicht in Bullocks Schema einfügen, wie auch die Vorstellung von Hitlers alleiniger Verantwortung durch die Schilderung der Taten und der Rolle der SS in ihnen immer wieder untergraben wird. Die deutschen Menschheitsverbrechen wollen nicht in Bullocks traditionelles Konzept von Historiografie passen, sie haben im Text eine Art Störfunktion: Sie lassen sich nicht marginalisieren, ohne zu stören. Durch diese Störung, das Durcheinanderbringen der Gliederung, die bei konzentrierten LeserInnen ja auch notwendigerweise Aufmerksamkeit generiert, verweist das kurze Unterkapitel XII/VI auch direkt auf das Fehlen und die Notwendigkeit einer anderen, auf diese Verbrechen konzentrierten Geschichtsschreibung. Basierend auf Bullocks Auswertung der Nürnberger Akten wird in seinem Text die Funktion der SS als eine treibende Kraft des verbrecherischen Handelns des NS-Staates sehr deutlich dargestellt, nicht zuletzt anhand von bis heute wichtigen täterseitigen Quellen wie den Himmler-Reden aus Posen und Charkow oder dem autobiografischen Bericht von Rudolf Höss. Dabei interpretiert Bullock diese aber nie im Sinne einer breiteren gesellschaftlichen Verantwortung der Deutschen. Im Gegenteil: Er wendet stets die Perspektive wieder auf Hitler, selbst da, wo es explizit um Verbrechen im KZ-System, den systematischen Massenmord an Juden, Sinti und Roma oder den antislawischen Rassismus als Movens der Invasion der Sowjetunion geht, deren Durchführung eindeutig nicht innerhalb eines geradlinigen Befehlsempfängersystems stattfand. Die hohe Kompatibilität von Bullocks Text mit Nachkriegsdiskursen, die Hitler eine übermenschliche Macht zuschrieben und die Verantwortung für die präzendenzlosen Massenmorde der Deutschen ausschließlich beim Diktator und eingeschränkt noch bei einer kleinen Clique einflussreicher Nazis verortet wissen wollten, war also nicht nur in Deutschland für seinen großen Erfolg verantwortlich, sondern auch bereits beim Original im britischen Kontext. In Großbritannien spielt nicht nur die Faszination für Hitler als Verkörperung des Bösen eine wichtige Rolle für den Anschluss an populäre Diskurse und kollektive Erinnerungen, sondern auch die Konzentration auf die Darstellung des Krieges nicht als von Deutschland ausgehendes Menschheitsverbrechen, sondern eher als ritterlicher Kampf zwischen zwei Armeen bei gleichzeitiger Marginalisierung der Massenmorde und einer Universali-

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sierung ihrer Opfer.9 Wir haben es bei Bullocks Buch also mit einem Text zu tun, der sofort einen prominenten Platz sowohl in den britischen wie auch den westdeutschen zeitgenössischen Diskursen über Hitler, den Nationalsozialismus und den Krieg einnehmen konnte. Diese Kompatibilitäten machten einen wirtschaftlichen Erfolg sowohl des Originals als auch der Übersetzung wahrscheinlich. Hitler. A Study in Tyranny brachte eine sehr große (Benjamin’sche) Übersetzbarkeit mit, die sich leicht in sprachliche, diskursive, politische und ökonomische »kleinere« Übersetzbarkeiten aufteilen lässt. Und scheinbar paradoxerweise sind es dann diese Kompatibilitäten, die zunächst auf Englisch und kurz darauf auf Deutsch für eine sehr weite Verbreitung eines relativ konzisen Unterkapitels über die NS-Verbrechen sorgen, das trotz aller Marginalität effektiv Wissen zu den Verbrechen zusammenfasst und dann durch seine weite Verbreitung auf die gähnende Leerstelle der fehlenden Historiografie zu diesen Schlüsselereignissen der Menschheitsgeschichte hinweist. Hier sehen wir wieder den Prozess, durch den die deutschen Menschheitsverbrechen zum Diskurs hin drängen und sich tradierten narrativen Formen wie der Herrscherbiografie widersetzen. Ihren Platz im Diskurs lassen sie sich dann nicht durch Verdrängung wieder nehmen, nachdem sie bereits einmal als Bild und als Erzählung im Zusammenhang mit Bergen-Belsen dort angekommen sind. Zum Zeitpunkt, zu dem Hitler. A Study in Tyranny veröffentlicht wurde und das Unterkapitel XII/VI diese Leerstelle markierte, arbeitete Gerald Reitlinger bereits an der weltweit ersten Monografie über die Ermordung der europäischen Juden. Dafür brachte Reitlinger zwei entscheidende Quellenbestände zusammen, die bis dahin nicht gemeinsam bearbeitet worden waren: Er arbeitete sowohl mit den Akten und Ermittlungsunterlagen aus den Nürnberger und den britischen KZ-Prozessen, als auch mit den Dokumenten zur Geschichte der Judenverfolgung und den Augenzeugenberichten, die in der Wiener Library gesammelt worden waren. Es kamen hier also beide Bewegungen zusammen: Der Transfer von Wissen aus dem Erinnerungsdepot der Prozessakten in einen relativ begrenzten öffentlichen Diskurs und die Dringlichkeit des Nichtvergessens nach den Belsen-Bildern. Es ist angesichts der oben geschilderten Erinnerungssituation wenig erstaunlich, dass der erste Versuch, das zentrale deutsche Menschheitsverbrechen historiografisch auf Englisch zu fassen, nämlich Gerald Reitlingers The 9

Siehe dazu David Cesarani: »Great Britain« in: David S. Wyman: The World Reacts to the Holocaust, Baltimore 1996, S. 602.

6. Synthese

Final Solution, kein uneingeschränkter Erfolg war. Als Privatgelehrter war Reitlinger von Institutionen des britischen Staates unabhängig, musste also keine Rücksicht auf die neue Allianz mit Westdeutschland nehmen. Ebenfalls aufgrund dieser Position war aber auch sein Zugang zu den diskursprägenden Institutionen und Medien entsprechend geringer, als dies bei Bullock oder Russell der Fall war. Das Urteil über den Einfluss des Buchs auf den öffentlichen Diskurs in Großbritannien ist innerhalb der Erinnerungsgeschichtsschreibung in Großbritannien einhellig: »In truth, Reitlinger’s book made less of a loud bang and more of dull thud« schreibt Andy Pearce (Pearce, S. 16), und David Cesarani befand 1996: »The paucity of attention paid to Reitlinger’s book was symptomatic of a wider malaise.«10 Auch Tony Kushner handelte den Einfluss von Reitlingers Arbeit pauschal in einem Satz ab: »The early attempts to historicise the subject by Reitlinger and Poliakov, while laying the foundations for future research, made little popular impact.«11 Die Gründe für diesen geringen Einfluss suchen diese Erinnerungsgeschichten aber nicht in Reitlingers Text, sondern konstatieren ihn lediglich aufgrund der im Vergleich zu Bestsellern wie denen von Russell und Bullock geringen Auflagen und der insgesamt etwas geringeren Zahl der Rezensionen. Dass die relativ verhaltene Rezeption auch mit strukturellen Rezeptionshürden innerhalb des Textes zu tun haben könnte, deutet lediglich Kushner an.12 Dabei war die zeitgenössische kritische Rezeption in der britischen Presse durchaus breit und fand in allen wichtigen Organen statt. Die Rezensenten waren sich auch einig in der Würdigung von Reitlingers Pionierleistung, die erste Monografie über den Massenmord an den europäischen Juden geschrieben zu haben. Aber sie wiesen teilweise auch auf die strukturellen Probleme des Buches hin, und mehrere Rezensenten führten die strukturellen Probleme und Rezeptionshürden im Text auf die Schwierigkeit des Themas zurück. Auch hier haben wir es also bereits aus der Sicht zeitgenössischer Rezensenten mit einem Text zu tun, bei dem die deutschen Verbrechen die Struktur 10 11 12

David Cesarani: »Great Britain« in: David S. Wyman: The World Reacts to the Holocaust, Baltimore 1996, S. 622. Kushner 1994, S. 244 Kushner interessiert sich dabei aber nicht für strukturelle oder stilistische Probleme in Reitlingers Text, sondern sieht vor allem aus seiner Perspektive der 1990er-Jahre grundsätzliche Probleme mit typischen Ansätzen der britischen Historiografie der 1950er-Jahre. Konkret nennt er die Konzentration auf »große Männer« und einen gewissen Klassensnobismus, der sich vor allem in einer Vernachlässigung von Zeugnissen der Überlebenden ausgedrückt hätte. Siehe Kushner 1994, S. 4.

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stören und sich gegen eine flüssige Erzählung wehren. In Reitlingers Text, in dem dieses Verbrechen der einzige Gegenstand ist, wirkt sich diese Störung natürlich entsprechend grundsätzlicher auf die Rezipierbarkeit aus, als es bei Bullocks Buch der Fall ist. Wo bei Bullock noch lediglich die Gliederung etwas durcheinander kommt, entstehen bei Reitlinger konkrete Rezeptionshürden aus dem Fehlen einer nachvollziehbaren übergeordneten Struktur. Diese Struktur fehlt auch, weil es fast keine intertextuelle diskursive Basis für sie gibt. Es existieren keine monografischen Texte, auf die der Autor rekurrieren könnte, die sich ausschließlich mit dem befassen, was wir heute den Holocaust nennen. Dies ist einer der wichtigsten Gründe für die strukturellen Probleme von Reitlingers Buch, wie sie die Rezensenten der Times und des New Statesman auch benennen: »Unfortunately, Dr. Reitlinger’s book is almost as confused and confusing as the events he describes.«13 Dass sich Reitlinger nur mit dem zentralen deutschen Verbrechen befasst und die Opfer ganz konkret als Juden benennt, ist ein weiterer wichtiger Faktor für diese Störung. Bereits bei der Verbreitung der Bilder aus BergenBelsen wurde die jüdische Identität der überwiegenden Mehrheit der Opfer weitgehend ausgeblendet, einerseits weil man wusste, dass es einen weitverbreiteten Antisemitismus in der britischen Bevölkerung gab und man keine antisemitischen Reaktionen auslösen wollte. Andererseits scheute man damals davor zurück, die Konflikte um das palästinensische Mandatsgebiet und die geplante israelische Staatsgründung zu diesem Zeitpunkt mit den Bildern aus den befreiten Lagern zu verknüpfen. 1952, ein Jahr vor The Final Solution und im selben Jahr wie Bullocks Hitler-Biografie, war im selben Verlag (Valentine Mitchell) die erste englische Übersetzung von Anne Franks Tagebuch erschienen, The Diary of a Young Girl von Barbara Mooyart-Doubleday. Diese Übersetzung aus dem Niederländischen gilt als meist rezipierter Text über die NS-Verbrechen im Großbritannien der 1950er-Jahre, und er fügt, wie Tony Kushner anmerkt, den Bildern aus Bergen-Belsen einen wichtigen Aspekt hinzu: Die Auswirkungen der Verfolgung der Juden durch die Deutschen auf eine konkrete Person. Diese Dimension verleiht dem Text ein hohes Identifikationspotential und macht ihn sehr breit anschlussfähig.14 Gleichzeitig fehlen den Anne-Frank-Texten – neben

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Grossman, »The Ethics of Extermination«, New Statesman and Nation, 31. Oktober 1953. Tony Kushner hat in The Holocaust and the Liberal Imagination eine präzise Positionierung von The Diary of a Young Girl innerhalb des britischen Diskurses über die deutschen

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dem Tagebuch auch der Theater- und der Filmadaption – zwei entscheidende Elemente für ein breiteres Verständnis des deutschen Hauptverbrechens: Sowohl durch eine Anlage im Originaltext selbst, als auch durch editorisches und marketingtechnisches Handeln wird der jüdischen Identität der Autorin beziehungsweise der Figur Anne Frank eine marginale Rolle zugewiesen. Außerdem bricht das Tagebuch aufgrund der Ereignisse an dem Punkt ab, an dem die Autorin verhaftet und in die deutschen Lager deportiert wird, der Text enthält also keinerlei Informationen über die Lager und die dort begangenen Verbrechen. Wenn wir The Final Solution also in einem Netzwerk von Texten zu den deutschen Verbrechen im Großbritannien der 1950er-Jahre verorten möchten, so gehen ihm die Bildberichte aus Bergen-Belsen, Bullocks Unterkapitel XII/VI und The Diary of a Young Girl voraus und sind mit ihm intertextuell wie diskursiv eng verbunden. Ihm direkt nachgestellt und ebenfalls in einer starken intertextuellen und diskursiven Beziehung mit den vorausgehenden Texten steht The Scourge of the Swastika, über das David Cesarani geschrieben hat: »[F]or generations of schoolchildren and adults in the late 1950s and early 1960s, the Holocaust meant two books: The Diary of Anne Frank and The Scourge of the Swastika.«15 Der inhaltliche neuralgische Punkt, an dem sich The Final Solution von allen anderen Büchern unterscheidet, ist das Vorhaben, ausschließlich das zentrale deutsche Verbrechen zu thematisieren, seinen Ablauf möglichst vollständig zu beschreiben und die jüdische Identität seiner Opfer klar zu benennen. Hier entfaltet das Thema dann sein Störpotential dahingehend, dass Reitlingers Werk bei weitem nicht so erfolgreich in öffentliche Diskurse integriert werden konnte, wie The Diary of a Young Girl und die vor und nach ihm kommenden historiografischen Werke, die ich hier bespreche. Sicherlich haben die Erinnerungshistoriker also recht, wenn sie konstatieren, dass The Final Solution keine große Breitenwirkung beim Lesepublikum erzielt und in der britischen Gesellschaft wenig zur Herausbildung dessen beigetragen hat, was Andy Pearce »Holocaust consciousness« nennt. Dass es als Text aber innerhalb der Entwicklung einer gesellschaftlichen Erinnerung an die Ermordung der europäischen Juden in Großbritannien von großer Bedeutung und Wirkmächtigkeit war, zeigt allein die Tatsache, dass es übersetzt

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Verbrechen sowie die Wirkungen der universalisierenden Tendenzen der Anne-FrankTexte verfasst: Kushner 1994, S. 245ff. David Cesarani: Justice Delayed. How Britain became a refuge for Nazi war criminals. London 1992, S. 179.

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wurde. Wenn ein Buch, das direkt nach Erscheinen zunächst wenig gekauft wird, und bei dem in der öffentlichen Rezeption deutlich auf strukturelle Probleme hingewiesen wird, relativ zügig ins Deutsche übersetzt wird, dann deutet das auf ein anders gelagertes sehr hohes diskursives Potential hin. Dieses Potential liegt schlicht in Reitlingers Leistung, als erster weltweit eine historische Monografie über das Thema verfasst zu haben. Bei allen inhaltlichen, stilistischen und ökonomischen Schwierigkeiten, mit denen The Final Solution belastet ist, bringt der Text also eine starke Übersetzbarkeit im Benjamin’schen Sinne mit, die sich sowohl in der Quellkultur, als auch in der Zielkultur gegen die in beiden Gesellschaften unterschiedlich starken und unterschiedlich motivierten Verdrängungsprozesse durchsetzen kann. Aufgrund seines Pioniercharakters und der diskursiven Kraft des teilweise gescheiterten ersten Versuchs, das zentrale Menschheitsverbrechen der Deutschen so klar wie möglich historiografisch auszuleuchten, wird Reitlingers Text zu genau dem Original, das Derrida beschrieben hat: »Das Original ist der erste Schuldner, der erste Bittsteller, es ist das, was zuerst fordert und verlangt […].« (BT, S. 140). Ganz anders gelagert ist die Übersetzbarkeit bei Lord Russell of Liverpools The Scourge of the Swastika. War Bullocks Hitler-Biografie ein traditionelles Wissensmedium mit hohem internationalem Marktwert, in das sich die deutschen Verbrechen gegen generische und diskursive Strömungen marginalisiert einschreiben, und The Final Solution ein Produkt des (ebenfalls marginalisierten) Widerstands gegen Universalisierungs- und Verdrängungstendenzen, so war Lord Russells Buch zuallererst Politikum, also Ereignis und Artefakt. Durch die Position und die Marketing-Fähigkeiten seines Autors, die Dynamik des öffentlichen Diskurses rund um die Deutschland-Politik der britischen Regierung und die Form des Textes als popularisierte Anklageschrift wurde The Scourge of the Swastika zu einem Kristallisationspunkt für verschiedene diskursive Bewegungen: Einerseits wurde das Buch von einem breiten Publikum in Großbritannien als Äußerung von negativen Gefühlen gegenüber den Deutschen gelesen, die große Teile dieser Leserschaft in Regierungspolitik und öffentlichem Diskurs nicht repräsentiert fand. Andererseits wurde rund um die Veröffentlichung des Buches eine diskursive Dynamik sichtbar, die die Erinnerung an die deutschen Verbrechen durch die tagespolitischen Prioritäten des Kalten Krieges überformte und einschränkte. Dass er in seiner Intention, den universell verbrecherischen Charakter des NS-Regimes und die Komplizenschaft großer Teile der deutschen Bevölkerung zu belegen, den Mord an den europäischen Juden lediglich als ein Teilverbrechen darstellt,

6. Synthese

bringt Russell vonseiten der britischen Erinnerungshistoriker den Vorwurf ein, die Universalisierung der Opfer der NS-Verbrechen im britischen Diskurs fortgeschrieben und verstärkt zu haben. Andy Pearce urteilt: »[…] [T]he huge popularity of the book is revealing: on the one hand of a public thirst for the melodramatic and anti-German, and on the other of readers being accustomed with the Jewish experience being subsumed beneath a more universal narrative. […] Though we can’t expect a historical record so close to the events to be faultless, the book nevertheless perpetuated much myth and misunderstanding.« (Pearce, S. 16f) Kushner und Cesarani kommen zu ähnlichen Urteilen, aber wie bereits bei Reitlingers Buch machen sie diese Kritik nirgends an konkreten Textstellen fest, sondern begründen sie lediglich mit ihrer Schilderung der Rezeption durch die Presse und das britische Lesepublikum. Es herrscht also in der aktuellen Historiographie der britischen Holocaust-Erinnerung Einigkeit darüber, dass The Scourge of the Swastika mindestens kein valider Beitrag zur Schaffung eines angemessenen Holocaust-Gedenkens war und teilweise auch schädliche, relativierende Effekte produzierte. Cesaranis oben zitierter Satz über den Einfluss von Anne Franks Tagebuch und Russells Scourge auf »generations of schoolchildren and adults« zeigt auch, wie negativ das Buch insgesamt gesehen wird. Vor diesem Hintergrund drängt sich mir das Urteil auf, dass Cesarani in seiner sehr kritischen Bewertung von The Scourge of the Swastika die Unzulänglichkeit des Buches überbetont. Sicherlich sind mit »generations« Jahrgänge gemeint, aber der Bezug auf die Erwachsenen im selben Satz deutet eine negative diskursprägende Wirkung an, die weit über den angegebenen Zeitraum von den späten 1950erbis in die frühen 1960er-Jahre hinausgeht. Die Beurteilung des Buches als »sensationsheischend« und seine Identifikation als Quelle von Fehlurteilen und Legenden über den Massenmord an den europäischen Juden beruht vor allem auf zwei Faktoren, einem extrinsischen und einem intrinsischen: Einerseits auf der Assoziation mit dem populistischen und unseriösen Boulevardblatt The Daily Express, und andererseits auf der Verknüpfung sämtlicher Verbrechen des NS-Regimes miteinander, bedingt durch den Anklage-Charakter des Textes, die dann in der narrativen Gliederung den Mord an den europäischen Juden auf dieselbe Ebene wie Verstöße gegen das internationale Seerecht setzen.

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Übersetzung als Erinnerung

Der Daily Express, der in den 1950er-Jahren noch die wichtigste konservativ-nationalistische Boulevardzeitung in Großbritannien war,16 spielte vermutlich tatsächlich eine zentrale Rolle bei der Popularisierung des Buches. In dem Blatt wurde der Text sowohl vorab serialisiert, als auch die Veröffentlichung des Buches mit Artikeln über den politischen Skandal um die Entlassung des Autors flankiert. Damit eröffnete der Express Russels Buch direkten Zugang zu seinem Publikum, das sich im weitesten Sinne aus der konservativen, nationalistischen unteren Mittelschicht rekrutierte. Hier konnte Russells Text an einen diskursiven und vergangenheitspolitischen Konflikt anschließen, der die ganzen 1950er-Jahre über in Großbritannien schwelte. Beim Erscheinen von Scourge war das Kriegsende gerade einmal neun Jahre her, und die Integration der Bundesrepublik in die sich neu formierende westliche Allianz war für viele Menschen in Großbritannien, die im Krieg aktiv gegen die Deutschen gekämpft hatten oder die deutschen Luftangriffe auf britische Städte miterlebt hatten, emotional nicht nachvollziehbar. Es war dieser Konflikt zwischen der Regierungslinie und großen Teilen der Bevölkerung um größere tagespolitische Entscheidungen, der die sehr spezifische Rezeptionsund Übersetzungsgeschichte von Russells Buch in Großbritannien entscheidend prägte. Die Politik der britischen Regierung im Kalten Krieg stand hier im direkten Konflikt mit der kollektiven Erinnerung eines großen Teils der Bevölkerung an die Deutschen als Angreifer und Feinde in einem Krieg, der in ihrer Erinnerung noch sehr präsent war. Diese Haltung beeinflusste deutlich den Teil des kollektiven Gedächtnisses in Großbritannien, den Aleida und Jan Assmann als kommunikatives Gedächtnis bezeichnet haben. The Scourge of the Swastika als kulturelles Artefakt bot nun zum ersten Mal einen starken Anknüpfungspunkt für diese Haltung in dem, was der Assmann’schen Konzeption folgend das kulturelle Gedächtnis Großbritanniens genannt werden müsste. Für die Übersetzbarkeit des Textes und die Dringlichkeit der Übersetzung spielte diese diskursive und erinnerungskulturelle Anknüpfung eine entscheidende Rolle. Sie bedingte einerseits den großen ökonomischen Erfolg des Buches in Großbritannien, was immer eine mögliche Voraussetzung

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Nach den Zahlen, die Tony Shaw in den 1990er-Jahren kompiliert hat, hatte der Express 1956 eine Auflagenhöhe von über vier Millionen Exemplaren und lag damit nur kurz hinter dem Labour-nahen Boulevardblatt The Daily Mirror mit einer Auflage von 4,6 Millionen und weit vor der ebenfalls konservativ-nationalistischen Daily Mail mit etwas über zwei Millionen Auflage. Siehe Tony Shaw: Eden, Suez and the Mass Media. Propaganda and persuasion during the Suez crisis. London, New York 1996, S. 197.

6. Synthese

für eine Übersetzung ist. Andererseits legte die Anknüpfung an diese Haltungen gegenüber den Deutschen den Übersetzungsweg über die DDR nahe, weil dort die offizielle staatliche Interpretation des Nationalsozialismus diskursiv kompatibler mit Russells Text war, als es sowohl öffentlicher Diskurs als auch offizielle Regierungslinie in der Bundesrepublik waren. Diese Diskurskompatibilität entstand aber nicht dadurch, dass sich in Russells Text Elemente der realsozialistischen Interpretation des Nationalsozialismus als »terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals«17 wiedergefunden hätten. Vielmehr war sie Ergebnis des anklagenden, immer wieder sarkastischen und populistischen Tons sowie der staatsanwaltlichen Haltung des Textes. Immer wieder liest sich Russells Text eher wie ein Plädoyer der Anklage vor einem Geschworenengericht und weniger wie populäre Historiografie. Aus einer anderen Perspektive ließen sich diese Textelemente auch als populistischer Boulevardstil beschreiben. Es sind diese inhaltlichen und strukturellen Elemente des Textes, die laut Andy Pearce bei der britischen Leserschaft einen »thirst for the melodramatic and anti-German« (Pearce, S. 16) bedienten, und die man in der DDR nutzen wollte. Die Programmverantwortlichen bei Volk und Welt und das Ministerium für Kultur der DDR wollten aus Russells Beweisführung für die vollständige Kriminalität des NS-Regimes, seiner Ideologie und weiter Teile der deutschen Bevölkerung eine Argumentationshilfe für die Behauptung machen, in der Bundesrepublik bestünden die Voraussetzungen für den Nationalsozialismus fort, beziehungsweise es würde dort allein das Erbe des Regimes verwaltet. In der aktuellen britischen Rezeption wiederum sind diese Verstöße gegen generische Regeln der populären Historiografie ein wichtiger Faktor für den weitgehenden Ausschluss von The Scourge of the Swastika aus dem Kanon der Holocaust-Historiografie und für die häufigen geringschätzigen Urteile über das Buch als »sensationslüstern«, wie sie die jüngeren Erinnerungshistoriker wie Pearce, Kushner und Cesarani treffen. In der zeitgenössischen Rezeption waren diese Stilelemente eher Grundlage für den konkreten politischen Vorwurf an Russell, antideutsche Ressentiments schüren zu wollen,

17

»Die Offensive des Faschismus und die Aufgabe der kommunistischen Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus« in: Protokoll des VII. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, Moskau 25. Juli bis 20. August 1935, Band II. Stuttgart 1976, S. 985.

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Übersetzung als Erinnerung

dadurch dem Aufbau einer effektiven Allianz gegen die Sowjetunion im Wege zu stehen und blind gegenüber dem universellen Charakter der deutschen Verbrechen zu sein. Ein zweiter Grund, warum The Scourge of the Swastika trotz seines Pioniercharakters als erstes weltweit veröffentlichtes Überblickswerk über alle Aspekte der nationalsozialistischen Kriminalität heute nicht im Kanon der Holocaust-Historiografie zu finden ist, liegt darin, dass dem Text eine Hierarchisierung der Verbrechen fehlt. Russell reiht sich gerade nicht in die britische Tradition ein, die mit den Bildberichten aus Bergen-Belsen begonnen hatte, in der die jüdische Identität eines großen Teils der Opfer der deutschen Massenverbrechen schlicht ausgeblendet wurde. Im Gegenteil lässt sein prominent platziertes letztes Kapitel VII, »The Final Solution of the Jewish Question« keinen Zweifel an der Identität der jüdischen Opfer und der Zentralität des Massenmordes an den europäischen Juden innerhalb des NS-Verbrechenskomplexes. Im Inhaltsverzeichnis des Buches steht dieses Kapitel allerdings auf derselben gliederungshierarchischen Stufe wie das Kapitel III, »War Crimes on the High Seas«, in dem es vergleichsweise ausführlich um einzelne Verstöße gegen das internationale Seekriegsrecht geht. Dadurch, dass er vor allem einzelne Verbrechen unter bestimmten Themenkomplexen kompiliert, entsteht zwar eine gewisse narrative Zielrichtung, die auf das KZ-System und den Massenmord an den europäischen Juden als letzte zwei Kapitel zuläuft. Durch die teilweise anekdotisch anmutende detaillierte Schilderung einzelner Verbrechen als Beispiele für größere Komplexe, die sehr eng an Zeugenaussagen aus Ermittlungs- und Gerichtsverfahren angelehnt sind, lassen sich die Strukturen und Strategien des NS-Regimes teilweise nicht mehr identifizieren. Durch diese Verknüpfung der verschiedenen Verbrechenskomplexe miteinander entsteht aber auch ein Gesamtbild vom Charakter des NS-Staates, wie es lange Zeit in der westlichen Historiografie zum Nationalsozialismus nicht gezeichnet werden konnte. Insbesondere die Verbrechen der Wehrmacht und der ebenfalls von der Wehrmacht zu verantwortende Massenmord an den sowjetischen Kriegsgefangenen bespricht Russell für seine Zeit und für einen westlichen Autor auffällig ausführlich und konkret. Die Diskussion dieser Aspekte wiederum trug ebenfalls entscheidend dazu bei, dass der Text in der DDR und nicht in der Bundesrepublik übersetzt wurde. Diese Themen berührten die Legende von der sauberen Wehrmacht, die in der Bundesrepublik Mitte der 1950er-Jahre von großer Bedeutung war, da sie die Diskussionen um die Wiederbewaffnung und damit die Gründung einer

6. Synthese

Nachfolgerorganisation der Wehrmacht flankierte. Auch der Massenmord an den sowjetischen Kriegsgefangenen wurde im Westen aufgrund der Konfliktkonstellation des Kalten Krieges tabuisiert und wenn überhaupt, dann nur in Texten aus der sowjetischen Einflusssphäre diskutiert. Es sind also teilweise dieselben Elemente in Russells Text, die dessen Anschlussfähigkeit an sowohl den populistisch-nationalistischen Diskurs des Daily Express und seines Publikums als auch an die Faschismusinterpretation der SED bedingten. Es sind dies auch dieselben Elemente, die das Buch in der aktuellen Erinnerungsgeschichtsschreibung so marginalisieren, da beide als Perspektiven auf die deutschen Menschheitsverbrechen diskreditiert sind. Und sicherlich ist es auch richtig, dass Russell durch seine populistischen Töne und die fehlende Quellenkritik hinter sowohl zeitgenössischen wie auch heutigen Kriterien für die Praxis populärer Historiografie zurückbleibt. Als kulturelles Artefakt und Instrument von Wissensproduktion kommt ihm aber doch auch für Großbritannien mehr Bedeutung zu, als ihm allgemein zugestanden wird. Durch den großen Publikumserfolg in Großbritannien wurde es Russells Text möglich, die Ermordung der europäischen Juden im Zusammenhang mit anderen Verbrechenskomplexen wie der Kriminalität der Wehrmacht, Kriegsverbrechen der Waffen-SS und dem KZ-System darzustellen und so in den öffentlichen Diskurs in Großbritannien einzubringen. Diese Kontextualisierung hatte vor Scourge kaum stattgefunden und in der westlichen Historiografie sollte es nach Scourge auch wieder Jahrzehnte dauern, bevor der Massenmord an den sowjetischen Kriegsgefangenen oder die Komplizenschaft breiter deutscher Bevölkerungsschichten und der Wehrmacht im zentralen NS-Verbrechen, dem Judenmord, wieder ausführlich und kontextualisiert diskutiert wurde. Für die Beurteilung des Platzes, den die drei hier ausführlich besprochenen Texte in der erinnerungsgeschichtlichen Entwicklung in Großbritannien bezüglich des Holocaust einnehmen ist es wichtig, sie nicht nur aus der Perspektive des heutigen anerkannten Wissens und aktueller Interpretationsmuster zu betrachten. Aus dieser Perspektive können sie nur als mangelhaft wahrgenommen werden. Es ist entscheidend zu wissen, was ihnen fehlt, wo die blinden Flecken und ideologischen Muster in ihrer Darstellung der Ereignisse liegen. Die extreme Marginalität der NS-Verbrechen in Bullocks Hitler-Biografie und die fehlende Zentralität des Holocaust darin; die fehlende narrative Struktur in Reitlingers Schilderung und sein ausdrücklicher Vorsatz, die Zahl der Opfer kleiner zu rechnen; Russells Populismus und Boulevardstil und seine Tendenz zum Anektdotischen und Nivellierenden – all das

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Übersetzung als Erinnerung

sind Mängel, die diese Texte nicht nur aus der historischen, sondern oft auch bereits aus der zeitgenössichen Perspektive haben. Als Objekte einer Übersetzungsgeschichte von Sachtexten zum Holocaust aus den 1950er-Jahren, also als Texte, die eine große Übersetzbarkeit, eine Anlage zur Originalwerdung mitbrachten, sind sie primär auch Produkte einer Sagbarkeitspraxis, die sich gegen gesellschaftliche Verdrängungs- und Vergessensprozesse durchsetzen konnten. Als historiografische Produkte der ersten Auswertungen eines bestimmten, zum damaligen Zeitpunkt relativ neuen Quellenbestands, nämlich der Unterlagen aus den Nürnberger Prozessen und den britischen KZ-Prozessen, bildeten sowohl ihr Pioniercharakter als auch ihr teilweise großer Publikumserfolg Voraussetzungen für eine Übersetzung ins Deutsche. Als Originale, die sich gegen Verdrängungs- und Vergessensprozesse durchgesetzt hatten, schuldeten sie nun dem Deutschen eine Übersetzung, also eine Übertragung des expliziten, neu kodifizierten und kontextualisierten Wissens über die NS-Verbrechen in die deutsche Sprache und damit die Schaffung von kulturellen Depots kodifizierten Wissens für den deutschen Sprachraum. Die Übersetzungen sind demnach auch Fortsetzungen der Bewegung, mit der das Wissen über die NS-Massenverbrechen und den Mord an den europäischen Juden zum Ausdruck drängt.

6.2.

Die ÜbersetzerInnen

Wie sich nun diese Übersetzbarkeiten als Übersetzungen manifestierten und wie sich die oben beschriebenen zwei Bewegungen gegen die kollektive Verdrängung der NS-Verbrechen in Großbritannien im deutschsprachigen Erinnerungskontext fortsetzten, hing zuallererst von der Arbeit der mit der Produktion der deutschen Texte beauftragten ÜbersetzerInnen und den VerlagsmitarbeiterInnen ab. Es war ihre Arbeit, die die Übersetzungen als abgeleitete Texte entstehen ließ, und es war ihr Schreiben, das die deutschen Repräsentationen der englischen Originale entscheidend prägte. Deshalb ist es von großer Bedeutung, wer diese TextproduzentInnen waren, wessen Deutsch wir lesen, wessen Stimme wir hören, wenn wir diese übersetzten deutschen Texte über die deutschen Verbrechen rezipieren.

6. Synthese

6.2.1.

Die Pferdekamps

Die erste der hier besprochenen Übersetzungen, die im Herbst 1953 bei Droste erschien, ist auch das deutlichste Beispiel der oben angedeuteten transkulturellen Fortsetzung des Prozesses, durch den sich die NS-Verbrechen trotz gesellschaftlicher Verdrängungsprozesse Ausdruck verschafften. Im Unterschied zu Reitlingers und Russells Texten wurde Bullocks Hitler. Eine Studie über Tyrannei nämlich nicht von Verfolgten des NS-Regimes übersetzt, sondern von ehemaligen Mitgliedern nationalsozialistischer Organisationen, die bereits unter der NS-Herrschaft etablierte Kulturschaffende waren. Auch der Verlag, in dem die Übersetzung erschien, war 1933 gegründet worden und hatte die zwölf Jahre der Diktatur hindurch erfolgreich verschiedene belletristische Titel verlegt. Nach dem Krieg konnte der Verlag die anhaltende Popularität ihres Longsellers, der Feuerzangenbowle von Heinrich Spoerl, wirtschaftlich nutzen. Gleichzeitig positionierte er sich mit der Neuauflage von Das kunstseidene Mädchen der exilierten Autorin Irmgard Keun auch als nicht ausschließlich nostalgisch und konservativ. Wir haben es bei Verlag und ÜbersetzerInnen also mit institutionellen, personellen und diskursiven Strukturen zu tun, die keine Geschichte von NS-Gegnerschaft hatten, die aber signalisierten, dass sie eine gewisse Offenheit für eine begrenzte Konfrontation mit der Geschichte der NS-Verbrechen mitbrachten. Darin ähneln diese Strukturen dem Aufbau von Bullocks Text, in dem ein bewährtes, konservatives Genre, die Herrscherbiografie, entgegen der eigenen generischen und narrativen Vorgaben einen marginalen und begrenzten Diskursraum für die Darstellung dieser Verbrechen fast widerwillig einräumt. Die Berufsbiografien von Wilhelm und Modeste Pferdekamp zeigen, dass das Ende des Nationalsozialismus für sie durchaus einen Einschnitt in ihrer Berufstätigkeit bedeutete. Modeste zur Nedden arbeitete nach 1945 nicht mehr hauptberuflich als bildende Künstlerin, sondern wandte sich dem traditionell schlecht bezahlten Übersetzen zu. Es liegen keinerlei Informationen über ihr Einkommen vor und nach dem Krieg vor, sodass sich nicht sicher sagen lässt, ob es sich bei diesem Karrierewechsel tatsächlich um einen wirtschaftlichen Abstieg gehandelt hat. Auf der Ebene der öffentlichen Wahrnehmung als Kulturschaffende war es allerdings mit Sicherheit ein Schritt von der ersten in die zweite Reihe. Ähnlich stellte sich die Entwicklung bei ihrem Mann Wilhelm Pferdekamp dar, dessen Karriere als breit rezipierter Reiseschriftsteller und Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes 1945 abrupt endete und der dann erst wieder ab 1950 als freier Verlagsmitarbeiter und später dann als

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gefragter Sachbuchübersetzer in Erscheinung trat. Ihr Erfolg als ÜbersetzerInnen drückte sich in der bis zum Tod von Wilhelm Pferdekamp 1966 nicht abreißenden kontinuierlichen Beauftragung durch verschiedene Verlage aus. Aus der Perspektive ihrer Auftraggeber, der Verlage, waren die Pferdekamps durch die Teamarbeit in der Lage, auch besonders umfangreiche Projekte in relativ kurzer Zeit zu bewältigen. Auch der dabei entstehende Prosastil war für das Genre des populären Sachbuchs für die Auftraggeber offensichtlich gänzlich auf der Höhe der Zeit. Die Pferdekamps wurden in der Folge ihrer Übersetzung von Bullocks Text zu SpezialistInnen für die Übersetzung erzählender zeithistorischer Sachbücher und zeithistorischer Biografien aus dem Englischen. Sie wurden dies aufgrund ihres übersetzerischen Könnens und der kurzen Bearbeitungszeiten, die sie bieten konnten. In allen Texten zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus wie William Shirers Aufstieg und Fall des Dritten Reichs oder den Lebenserinnerungen von Anthony Eden oder Charles de Gaulle, mit deren Übersetzung sie beauftragt wurden, blieben die deutschen Menschheitsverbrechen jedoch ebenso marginal, wie sie es in Bullocks Buch waren. Das übersetzerische Oeuvre der Pferdekamps zeigt ein für die Erinnerungslandschaft der Bundesrepublik in den 1950er-Jahren charakteristisches Phänomen: Man sprach, schrieb, übersetzte und publizierte sehr viel und ausführlich über die nationalsozialistische Diktatur, das Personal der deutschen Regierung von 1933 bis 1945 und über den Krieg, den sie begonnen hatte. Diese Themen waren weder tabubesetzt noch marginalisiert. Lediglich das Sprechen, Schreiben und damit auch das Übersetzen zu den präzendenzlosen Verbrechen, die von dieser Regierung und Teilen der deutschen Bevölkerung während des Krieges begangen worden waren, überließ man in beiden deutschen Staaten fast vollständig denjenigen, die von diesen Verbrechen betroffen gewesen waren. Bei Bullocks Buch wurde also der Übersetzungsprozess weitestgehend vom Markt bestimmt: Der große Publikumserfolg des Originals und die Anschlussfähigkeit an ein anhaltendes Interesse an der Person Hitlers und eine mehrheitsgesellschaftliche Geschichtsinterpretation in Deutschland, der zufolge die Verantwortung für den verlorenen Krieg und die NS-Verbrechen ausschließlich beim Diktator lagen, waren die zentralen Anlässe für die Übersetzung ins Deutsche. Dies führte zur Lizenzvergabe an einen etablierten Verlag mit wenig kontroversem liberal-konservativem Profil und einem Übersetzungsauftrag an zwei etablierte Kulturschaffende, die aber als ÜbersetzerInnen BerufsanfängerInnen waren. Trotz der Assoziation Bullocks mit Chur-

6. Synthese

chill fand hier keine politische Intervention von Regierungsorganisationen statt. Norbert Frei beschreibt in mehreren Texten die 1950er-Jahre als die »Phase der Vergangenheitspolitik«, die auf die noch maßgeblich von den Alliierten bestimmte »Phase der politischen Säuberung« von 1945 bis 1949 gefolgt sei.18 Charakteristisch für die 1950er-Jahre seien nach Frei die massiven politischen Bemühungen staatlicher Institutionen der jungen Bundesrepublik um einen »Schlussstrich« zumindest unter die Entnazifizierung und die Organisation der Amnestie und Integration von NationalsozialistInnen. Flankiert wurden diese politischen Bemühungen von medialen, religiösen und kulturellen Diskursen, die das Leid der Deutschen im Krieg, die Vertreibung aus Polen und der Tschechoslowakei sowie die angebliche Existenz und Ungerechtigkeit eines massiven, international immer wieder erhobenen Kollektivschuldvorwurfs betonten. Diese politischen und kulturellen Bewegungen organisierten oder begleiteten ab den frühen 1950er-Jahren die Wiedereinstellung eines großen Teiles des vormals nationalsozialistischen Beamtentums, die Integration der Führungselite der Wehrmacht in die neue Bundeswehr und die Einstellung praktisch aller Ermittlungsverfahren gegen NS-Täter aus dem Lagersystem, der Polizei oder der SS. Diese »weitgehend konsensuell praktizierte Vergangenheitspolitik« fand laut Frei »[…] ihr ethisch-moralisches Widerlager im 1949 verkündeten Grundgesetz und der darin postulieren normativen Abgrenzung zum Nationalsozialismus [und] in den Augen vieler ihre ›Rechtfertigung‹ in der von Adenauer betriebenen Politik der Wiedergutmachung und Aussöhnung mit Israel.«19 Im Medien- und Kulturbetrieb der jungen Bundesrepublik fand diese Entwicklung ihre Entsprechung in der Fortsetzung vieler Karrieren aus Journalismus, Verlagswesen, Film oder Theater, oft nach einer kurzen Unterbrechung während der »Phase der politischen Säuberung«. In diesem Zusammenhang sind die Entwicklung des Droste-Verlags und die Karrieren der Pferdekamps

18

19

Sehr ausführlich in: Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München 1999, S. 15ff. Die aufeinander folgenden Phasen im Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik hat Frei 2005 noch einmal konzise zusammengefasst in: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen. München 2005, S. 26f. Frei, 1945 und wir, S. 30.

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Übersetzung als Erinnerung

überaus typisch für die 1950er-Jahre in Westdeutschland: Sie stellten einerseits eine Kontinuität dar, waren aber andererseits diskursiv und aktiv auch um das »ethisch-moralische Widerlager« bemüht, indem sie eine kritisch zumindest grundierte Hitler-Biografie aus der Siegernation Großbritannien in den deutschen Diskurs einbrachten.

6.2.2.

Johann Wolfgang Brügel

Ganz anders verliefen die Entstehungsprozesse der beiden anderen hier untersuchten Werke: In beiden Fällen spielten politische Kontroversen und Interessen an Diskursinterventionen eine große Rolle beim Zustandekommen der deutschen Texte, in beiden Fällen unterstützten staatliche Institutionen die Distribution der übersetzten Bücher, und in beiden Fällen wurden Überlebende der nationalsozialistischen Verfolgung mit der Übersetzung beauftragt. Der hohe Grad an politischer Intervention durch die Bundeszentrale für Heimatdienst im Fall von Reitlingers The Final Solution zeigt, wie wenig eine Monografie über die Ermordung der europäischen Juden von einem britischen Autor trotz ihres offensichtlichen Pioniercharakters an den öffentlichen Diskurs in der Bundesrepublik Deutschland in der zweiten Hälfte der 1950erJahre anschließen konnte. Das Engagement für die Übersetzung und Veröffentlichung von Reitlingers Werk von Einzelnen in Institutionen wie der FU und der Bundeszentrale für Heimatdienst zeigt aber auch, dass es auch innerhalb staatlicher Institutionen, im Wissenschafts- und im Kulturbetrieb aktive vergangenheitspolitische Bemühungen gab, die den Schlussstrichtendenzen explizit entgegenarbeiteten. Allerdings gingen diese Bemühungen von einer sehr kleinen Gruppe von Individuen aus, die darüber hinaus mehr oder weniger ausschließlich aus Opfern nationalsozialistischer Verfolgung bestand. Nichtsdestotrotz gehören auch die Übersetzung und Veröffentlichung von Gerald Reitlingers Die Endlösung und der Vertrieb durch die Bundeszentrale für Heimatdienst zu den »Gegenkräften«, die laut Frei durch die »politisch-moralisch vielfach skandalösen« Ergebnisse der Vergangenheitspolitik der 1950er-Jahre mobilisiert wurden.20 Ähnlich wie bei den Pferdekamps erscheint auch im Fall von Johann Wolfgang Brügel die Rolle als Übersetzer im Verlauf seiner Karriere zunächst als Abstieg. Ganz anders allerdings wirkt sie bei ihm typisch für die Zäsuren, die

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Frei 2005, S. 35.

6. Synthese

das Exil oft in den Biografien von Mitgliedern der kulturellen und/oder politischen Eliten verursachte. Qualifiziert war er durch seine profunden Englischkenntnisse und seine Erfahrungen mit zeitgeschichtlicher und politischer Publizistik. Es steht aber zu vermuten, dass es für Otto Hess bei Colloquium und Paul Franken bei der Bundeszentrale noch andere Gründe gab, bei diesem beinahe subversiven vergangenheitspolitischen Projekt mit Brügel zusammenzuarbeiten. Brügel war weltweit eine der ganz wenigen öffentlichen Figuren aus einer zahlenmäßig sicherlich sehr kleinen Gruppe, die vor allem in der Bundesrepublik keinerlei Repräsentation hatte: Sudentendeutsche, die weder nationalsozialistisch belastet waren, noch eine revanchistische Agenda hatten. Das machte ihn für all diejenigen Institutionen und Individuen als Kooperationspartner interessant, die sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus und den Folgen für die Gegenwart der 1950er-Jahre einigermaßen ernsthaft und in nicht-revisionistischer Absicht beschäftigten. Die Involvierung Brügels in das erste höher profilierte publizistische Projekt seit Eugen Kogons Der SSStaat, das explizit zum Ziel hatte, den Mord an den europäischen Juden in den (west-)deutschen öffentlichen, politischen und akademischen Diskurs einzuschreiben, war ebenso wie seine lange publizistische Zusammenarbeit mit den sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Organen oder dem If Z in München auch Ausdruck eines Wunsches. Minoritär und teilweise marginalisiert wünschten sich antinazistische Kreise mehr Einfluss und Beteiligung in der Bundesrepublik nicht nur für sich selbst, sondern auch für nichtbelastete exilierte politische Akteure wie Brügel, die eindeutig antinazistisch eingestellt waren, gleichzeitig aber in der Systemkonkurrenz ebenso eindeutig auf der Seite des Westens standen. So, wie das politische System der Bundesrepublik in den 1950er-Jahren aber organisiert war, gab es für ihn dort keinen echten Platz, der einen Umzug aus London gerechtfertigt hätte. Durch seine übersetzerische Praxis, die sehr stark an seine transkulturelle Identitätskonstruktion als sudetendeutsches Londoner SPD-Mitglied angebunden war, leistete er einen grundlegenden diskursiven Beitrag dazu, dass das vergangenheitspolitische Schlussstrich-System der frühen Bundesrepublik über Jahrzehnte Schritt für Schritt geöffnet und das Wissen um die NS-Verbrechen und ihre Dimension in den politischen und öffentlichen Diskurs (West-)Deutschlands eingeschrieben werden konnte.

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Übersetzung als Erinnerung

6.2.3.

Roswitha Czollek

Unter den Vorzeichen der DDR erscheint der Beitrag, den Roswitha Czollek zu diesem Prozess von Diskursöffnung und Aufklärung geleistet hat, mindestens ebenso bedeutend. Auch Czollek war Überlebende der NS-Verfolgung und unter den ÜbersetzerInnen, mit denen sich meine Untersuchung befasst, die einzige Jüdin und die einzige Kommunistin. Ihr Mann, Walter Czollek, war der einflussreichste jüdische Verleger im deutschen Sprachraum zu dieser Zeit, und es ist vermutlich sein Verdienst oder das gemeinsame der Eheleute Czollek, die günstige Konstellation für die Veröffentlichung eines Überblickswerks zu den NS-Verbrechen, das die Dimension und die Bedeutung der Shoah nicht vollständig dem kommunistischen Widerstandnarrativ unterordnet, erkannt und genutzt zu haben: Der politische Konflikt um Russells Posten und die Einschätzung des Buches durch die britische und die Bundesregierung als deutschfeindlich,21 die eine Veröffentlichung in der Bundesrepublik unwahrscheinlich machten, bot der DDR die Möglichkeit, die diskursive Dynamik des Skandals und natürlich die Inhalte des Buches für ihre Propaganda gegen die Bundesrepublik zu nutzen. Diese Möglichkeit wog für das Ministerium für Kultur der DDR in der Frage der Veröffentlichung von Russells Buch vermutlich schwerer, als die Tatsache, dass seine Erzählung nicht direkt in das zentrale Narrativ der DDR über den Nationalsozialismus und seine Verbrechen passte. Die Propagandamöglichkeiten, die das Buch als Artefakt bot, erlaubten es Walter Czollek vermutlich, eine Veröffentlichung des Buches zu erwirken und seine Frau mit der Übersetzung zu beauftragen. Ähnlich wie bei den Pferdekamps bildete Roswitha Czolleks Übersetzung von The Scourge of the Swastika den Auftakt für eine Karriere als Übersetzerin für politische Sachbücher bei Volk und Welt. Es war ihre bleibende Leistung, das meistgelesene Sachbuch über die NS-Verbrechen in der DDR übersetzt zu haben, die ihr zunächst weitere Übersetzungsaufträge einbrachte. Diese Leistung etabliert aber auch ihre Expertise für den Themenkomplex NSVerbrechen und legt möglicherweise die Grundlagen für ihre spätere Karriere als Fachhistorikerin. Unter den Bedingungen der DDR-Publizistik und Wissenschaft konnte Roswitha Czollek mit ihrer übersetzerischen Leistung tatsächlich den Grundstein für eine Karriere legen.

21

Ulrich Brochhagen: Nach Nürnberg. Vergangenheitsbewältigung und Westintegration in der Ära Adenauer. Berlin 1999, S. 255.

6. Synthese

6.2.4.

ÜbersetzerInnen im intertextuellen System

Sicherlich sind vier ÜbersetzerInnen kein verlässliches Sample. Es wäre nötig, noch einen Blick auf die Berufsbiografien der ÜbersetzerInnen zu werfen, die für andere zentrale Übersetzungen zu den NS-Verbrechen im deutschen Diskurs der 1950er-Jahre verantwortlich waren: Anneliese Schütz, deren Übersetzung des Tagebuch der Anne Frank 1950 in der Bundesrepublik und 1957 im Ostberliner Unionsverlag erschienen war, ist hier sicherlich noch ein sehr interessanter Fall. Auch die sprachlichen Dynamiken zwischen Léon Poliakov und Joseph Wulf bei der Produktion ihrer Dokumentensammlung Das Dritte Reich und die Juden wären es in diesem Zusammenhang wert, genauer untersucht zu werden. Da diese beiden Werke jedoch nicht aus dem Englischen übersetzt wurden, konnte ich sie in dieser Arbeit nur als Teile der intertextuellen, diskursiven Netzwerke berücksichtigen, in denen sich die drei hier besprochenen Bücher befanden. Es bleibt festzuhalten, dass das Verhältnis, in dem die ÜbersetzerInnen biografisch zu den NS-Verbrechen standen, in allen Fällen für ihre Pionierarbeit als ProduzentInnen deutschsprachiger Historiografie über diese Verbrechen von Bedeutung war. Die Pferdekamps als Vertreter der deutschen Mehrheitsgesellschaft mit interkulturellem Hintergrund produzierten einen Text, der das Wissen über die NS-Verbrechen verdeckt und marginal in den populären Zeitgeschichtsdiskurs der frühen Bundesrepublik einschmuggelte. Es war vermutlich nie ihr explizites Ziel, oder das des Droste-Verlags, die Sagbarkeitsgrenzen im Zusammenhang mit den deutschen Massenverbrechen in der Bundesrepublik zu erweitern. Im Fall von Hitler. Eine Studie über Tyrannei war es die Perspektive auf Hitler eines britischen Historikers, die die Sagbarkeitsgrenzen etwas erweiterte und einen limitierten Raum eröffnete, in dem eine Fortschreibung des juristischen Blicks der Alliierten auf die NS-Verbrechen im deutschen Diskurs Anfang der 1950er-Jahre ermöglicht wurde. Dass diese Fortschreibung gemacht werden konnte, lag auch an der Professionalität, mit der die Pferdekamps den Publikumserfolg und damit die diskursive Dynamik des Originals im Deutschen in gleicher Intensität fortsetzen konnten. Die von den Nationalsozialisten Verfolgten Franke, Hess und Brügel hatten die ausdrückliche Absicht, dem marginalen Diskurs über die Ermordung der europäischen Juden in der Bundesrepublik größere Reichweite und Macht zu geben, indem sie ihm eine wissenschaftliche Monografie als eine Art Anker gaben. Dies gelang ihnen zwar nur eingeschränkt, aber der damit getane

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Übersetzung als Erinnerung

Schritt von der Abwesenheit einer Monografie zur langfristigen Verfügbarkeit einer solchen in der deutschen Sprache war doch objektiv ein sehr großer. Und die beiden Czolleks sorgten schließlich dafür, dass in der DDR ein Wissensmedium über die NS-Verbrechen entstand, das sich als Text der Überformung durch das DDR-Narrativ vom heldenhaften antifaschistischen Kampf des kommunistischen Widerstands weitgehend entzog.

6.3. Die Übersetzungen Wo genau die oben erwähnten Sagbarkeits- oder Schreibbarkeitsgrenzen verliefen und wie sie die Übersetzungen formten beziehungsweise wo die Übersetzungen sie überschritten oder gar erweiterten, lässt sich innerhalb der deutschen Texte auf der lexikalischen, idiomatischen und semantischen Ebene sowie anhand von inhaltlichen Differenzen zwischen Original und Übersetzung teilweise sehr genau markieren. Dabei verliefen diese Grenzen für die drei Verlage, die vier ÜbersetzerInnen, die Publikationskontexte und damit letztendlich für alle drei deutschen Fassungen der hier diskutierten Texte anders. Besonders produktiv für die Markierung solcher diskursiver Grenzen sind dabei immer wieder die Punkte, an denen das bestehende übersetzerische und historiografische System erweitert, reduziert oder gestört wird.

6.3.1

Hitler. Eine Studie über Tyrannei

Eine Konfliktlinie durchläuft bereits den Originaltext von Bullocks HitlerBiografie, deren Störpotential von der deutschen Übersetzung dann noch einmal deutlich erhöht wird: Bereits in der englischen Fassung passt die juristische Sicht auf die NS-Verbrechen, wie sie sich vor allem in Unterkapitel XII/VI manifestiert, nicht ohne Reibung in das Gesamtnarrativ von Hitlers alleiniger Verantwortung für diese Verbrechen, weil die kurze, aber nicht-euphemistische Beschreibung dieser Verbrechen automatisch ein relativ großes Täterkollektiv suggeriert. Im deutschen Diskurs der frühen 1950er-Jahre, also im Kontext des Kalten Krieges und der Abwicklung der Entnazifizierung, der Nachwirkungen der Bestrafungsangst, des Wirkens der »Kriegsverbrecherlobby« und der Forderungen nach einer Generalamnestie22 ist eine solche Benennung von Täterschaften noch schwieriger zu integrieren. 22

Siehe Frei 1996, S. 101ff.

6. Synthese

Wo die wiederholten plötzlichen Wendungen hin zu Hitler im englischen Text noch forciert und gegen den narrativen Fluss der Sätze im direkten Kontext gerichtet wirken, werden im deutschen Text dann Störungen der ansonsten flüssigen und rezeptionsfreundlichen Übersetzung deutlich. Die Themenbereiche, in denen nicht-euphemistische Beschreibungen deutscher Kriminalität im Text sichtbare Störungen verursachen, sind genau die, die unter den herrschenden westdeutschen Bedingungen möglichst implizit gehalten wurden: Einerseits die Verbrechen an der sowjetischen Bevölkerung und allgemeiner die Besatzungsverbrechen und andererseits die Ermordung der europäischen Juden. Dass genau an den wenigen Stellen im Text der Pferdekamps übersetzerische Auffälligkeiten auftreten, an denen diese Themen verhandelt werden, zeigt entweder, wie schwierig es auch in der Übersetzung 1952/53 war, offen und nicht-euphemistisch über diese Komplexe zu schreiben, oder es deutet einen später schnell korrigierten aktiven Zensurversuch an. In einer sehr marginalisierten und kurzen Form manifestiert sich hier aber auch das Prinzip, das Dennis Bock in seiner Arbeit über die Rolle von autobiografischer Literatur von Shoah-Überlebenden als Störung im literarischen System beschrieben hat:23 Die Unterbrechung des narrativen Flusses durch die Verwendung eines unüblichen Falls oder eines nicht ganz passenden Adjektivs in einer ansonsten an Auffälligkeiten armen Übersetzung markieren hier Stellen, an denen sich ein »Gegenwissen«24 bemerkbar macht, das sich im Widerspruch mit anderen Wissensformationen innerhalb desselben Textes befindet. In einem deutschen Text, der massenhafte Verbreitung erfährt, ist die Integration der juristischen Perspektive auf die deutschen Verbrechen, die aus den Akten der Nürnberger Prozesse als Quellenmaterial stammt, durchaus bemerkenswert. Sie führt auch zu explizit formuliertem Gegenwissen, wie dem Urteil über das Zwangsarbeitsprogramm oder der Beschreibung der Tätigkeit der Einsatzgruppen mit dem Generalpronomen »man« als Subjekt. Eine solche Verallgemeinerung von Täterschaft kann man sich in einem massenhaft konsumierten muttersprachlich deutschen Text aus der Bundesrepublik von 1953 nur schwerlich vorstellen.25 Innerhalb des Erzählflusses, der mit

23 24 25

Dennis Bock: Literarische Störungen in Texten über die Shoah. Irme Kertész, Liana Millu, Ruth Klüger. Frankfurt a.M., Berlin, Bern etc. 2017, S. 43f, 55ff. Ebd. S. 43. Auf S. 704 wird im Deutschen aus einer englischen Passivkonstruktion in der Beschreibung der Verbrechen der Einsatzgruppen eine aktive Formulierung mit dem General-

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Übersetzung als Erinnerung

dem Programm des Kalten Krieges, der westdeutschen Wiederbewaffnung und der Abwicklung der Entnazifizierung kompatibel ist, finden sich diese nicht-euphemistischen Beschreibungen wie Treibgut an. Ein Satz wie das Urteil über das zivile Zwangsarbeitsprogramm mag nur ein Satz in einem kurzen Unterkapitel innerhalb eines 800 Seiten langen Buches sein. Wenn dieses Buch aber massenhafte Verbreitung erfährt, wird er dabei mitverbreitet. Das Unterkapitel XII/VI mit allen Störungseffekten, die im Original schon vorhanden waren, oder die im Übersetzungsprozess entstanden oder verstärkt wurden, bleibt so der erste massenhaft verbreitete deutschsprachige historiografische Sachbuchtext, der Wissen aus der juristischen Aufarbeitung der NSVerbrechen auf Deutsch formuliert. Und es ist die Übersetzung, (vermutlich die der Pferdekamps, im Fall eines Zensurversuchs möglicherweise auch von anderen ÜbersetzerInnen) die dieses Wissen in einen breiteren Geschichtsdiskurs in Deutschland einschreibt, auch wenn dies nur bruchstückhaft, marginal und über Störungseffekte geschieht.

6.3.2

Geißel der Menschheit

Viel weniger euphemisierend ist die diskursive Tendenz in Roswitha Czolleks Übersetzung von Russells Scourge. Hier markieren die übersetzerischen Eigenheiten und Auffälligkeiten vielmehr häufig die Linien, entlang derer der Text in das DDR-Narrativ über den Nationalsozialismus ein- und an die Bedürfnisse der Propaganda gegen die Bundesrepublik angepasst wurde. Gleichzeitig wurde die Übersetzung neben diskursiven auch von materiellen Bedingungen geformt, wie die wiederholten Auffälligkeiten in den semantischen Bereichen »christliche Religionspraxis« und »Italien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts« sowie bei den trotz des aufklärerischen Impetus vielen Fehlern in Original und Übersetzung in der Passage zu den Verbrechen am Bullenhuser Damm zeigen. Fehlende Recherchemöglichkeiten und Abwesenheit aus dem öffentlichen Diskurs sind hier die Bedingungen, die, vom DDR-Regime aktiv geschaffen, die Auffälligkeiten in Czolleks Übersetzung und das Fehlen von Lektoratskorrekturen bedingen oder verursachen. Von diesen insulären Schwächen in einer ansonsten flüssigen, rezeptionsfreundlichen Übersetzung abgesehen sind es vor allem die Einfügungen

pronomen »man« als Subjekt: »[M]an kannte kein Erbarmen für erschrockene Kinder und wahnsinnig verzweifelte Mütter.«

6. Synthese

und Auslassungen, die die Linien markieren, entlang derer sich die Einpassung von Russells Text in die DDR-Interpretation der NS-Verbrechen vollzieht oder entlang derer es zu Störungen kommt, wo diese Einpassung sich nicht ohne Weiteres vollziehen lässt. Begleitet wird diese Strategie noch von einer sanften Form der aktiven interpretativen Differenz, die immer wieder die Verantwortlichkeit für NS-Verbrechen von einem »deutschen« Kollektiv in Russells Originaltext zu nationalsozialistischen oder militärischen Teilkollektiven hin verschiebt. Bei aller Kompatibilität mit der offiziellen DDR-Interpretation könnte diese Verschiebung durchaus auch aus dem übersetzerischen Unbewussten Roswitha Czolleks entspringen, da sie sich als jüdische Kommunistin in der DDR wahrscheinlich auch als Deutsche wahrgenommen hat, sich selbst aber sicher nicht als Teil eines nationalsozialistisch-verbrecherischen Kollektivs gesehen haben wird. Was auch immer die Ursachen für diese Differenz waren, stellt sie keine massive Verfremdung des Originaltexts dar und ist auch die einzige wiederkehrende inhaltliche Verschiebung dieser Art im deutschen Text. Sie bildet aber im Text einen Grundton, der die Einpassung in das offizielle DDR-Narrativ vor allem durch Einfügungen und Auslassungen vorbereitet. Insbesondere bei den zehn eingefügten Fußnoten produziert der Verlag Volk und Welt (und nicht die Übersetzerin, da sie nicht mit der üblichen Kennzeichung »die Übersetzerin« versehen sind) zusätzlichen Text, der nicht aus dem Englischen übersetzt, aber vom Autor vertraglich als Teil der deutschsprachigen Ausgabe seines Buches genehmigt wurde. Diese Fußnoten fügen dem Text eine Skandalisierung der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik hinzu und markieren diese als klaren Rechtsnachfolger des nationalsozialistischen Deutschlands. Hier verbindet sich das aufklärerische Anliegen, über den weiteren Werdegang einzelner NS-Verbrecher zu informieren, mit den Bedürfnissen der DDR-Propaganda gegen die Bundesrepublik. Begründet wurden diese Hinzufügungen dem Autor und seinem Verlag gegenüber damit, dass zum Zeitpunkt der Übersetzung und in der DDR Informationen vorlagen, über die der Autor nicht hätte verfügen können. Diese Hinzufügungen zeigen auch den Bereich auf, an dem die Produktion des deutschen Textes, mithin der Übersetzungsprozess, tatsächlich am produktivsten ist. Auf der zeitgenössischen Ebene, die Informationen über die Zeit enthält, in der die deutsche Ausgabe von Russells Buch erschien, fügt die Übersetzung dem Original hier Informationen über die fehlende Strafverfolgung von und juristische Milde gegenüber NS-Verbrechern in der Bundesrepublik so-

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Übersetzung als Erinnerung

wie über die völkerrechtliche Einbindung der Sowjetunion hinzu. Auf der historischen Ebene finden sich Einfügungen, die eine Kontinuität zwischen dem deutschen Militarismus vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg und den Besatzungsverbrechen der Wehrmacht aufzeigen bzw. konstruieren und diese Kontinuität wiederum auch für die geplante neue Bundeswehr andeuten. Einerseits stellt dies eine klare Indienstnahme des Buches durch das DDR-Regime im Sinne seiner Propaganda dar. Andererseits war der (fehlende oder zu extremer Milde tendierende) juristische Umgang mit NS-Verbrechern in der Bundesrepublik unabhängig von der DDR in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre beispielsweise in der britischen oder französischen Presse immer wieder Thema, insbesondere auch im Zusammenhang mit dem Übertritt des Geheimdienstleiters Otto John zur DDR im Sommer 1954. Es ging hier also um Verhältnisse, die in transkulturellen Prozessen außerhalb der Bundesrepublik regelmäßig viel Text produziert haben. Auch in Brügels Übersetzung von Reitlingers Final Solution führte dieser aus der Perspektive des Exilanten Brügel und des NS-Verfolgten Hess skandalöse Umgang zu Textproduktion im Übersetzungsprozess in Form von eingefügten Fußnoten. Die nicht stattfindende Strafverfolgung der NS-Täter war ein Thema, das direkt mit den beschriebenen Verbrechen zusammenhing, gleichzeitig aber auch viel näher an einer deutschen als einer britischen SprecherInnenposition angesiedelt war. Die Begnadigungen und eingestellten Ermittlungsverfahren fanden ja in räumlicher und sprachlicher Nähe statt, ohne dass dies allerdings in der Bundesrepublik im öffentlichen Diskurs breiter diskutiert wurde. Dies bedeutete, dass das Verhältnis zwischen dem britischen und dem westdeutschen Blick auf die Strafverfolgung von NS-Tätern stark auseinanderklaffte. Aus diesem Grund wiederum wirkte dieses Missverhältnis im Übersetzungsprozess in den 1950er-Jahren mehrfach produktiv und schaffte so in der DDR Text über Wissensbestände, die originalsprachlich in der Bundesrepublik nicht produziert wurden. Die Grenzen dessen, was über die NS-Verbrechen sagbar war, verliefen in den 1950er-Jahren in der DDR gänzlich anders als in der Bundesrepublik. Dies zeigen noch einmal die Auslassungen, die Czollek oder Volk und Welt vornehmen. Ganz oder teilweise ausgelassen, als klassische zensorische Praxis, werden Passagen, die den autoritären Charakter oder die fehlende Rechtsstaatlichkeit der Sowjetunion betreffen. Darüber konnte man in der DDR nicht sprechen. Die anderen Auslassungen bei Verweisen auf kulturelle Praktiken der britischen Oberschicht mögen von einer gewissen politischen Abneigung

6. Synthese

getragen gewesen sein, sind aber letztlich sicherlich der mangelnden Vermittelbarkeit für ein (ost-)deutsches Publikum geschuldet. Entscheidend ist, dass die Übersetzung von Scourge of the Swastika dem DDR-Diskurs über die NS-Verbrechen eine neue Perspektive hinzufügt, die sich durch andere Formen der Textproduktion in der DDR so nicht hätte schaffen lassen. Die Abwesenheit gleich mehrerer entscheidender Ideologeme der offiziellen Interpretation des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen (der Nationalsozialismus als politische Form der besonders reaktionären Kräfte, die Konzentration auf den kommunistischen Widerstand etc.) schaffte hier Platz für die Möglichkeit von alternativen Interpretationen. Sprachlich wurde der deutsche Text so zu einer Anomalie, da er die Verbrechen des Nationalsozialismus beschreibt, ohne die für die DDR üblichen Tropen zu bemühen. Dass er gleichzeitig der in der DDR am weitesten verbreitete nichtfiktionale Text über diese Verbrechen war, zeigt, dass die Übersetzung hier in der Lage war, einen sprachlichen Raum zu eröffnen, der sich teilweise dem Zugriff der diskursiven Macht des Staates entziehen konnte. Dass dies größtenteils nicht dazu führte, dass diese alternativen Interpretationen an gesellschaftlichem Einfluss gewannen, werde ich unten weiter ausführen. Wo der Text aber erweitertes Wissen schaffen konnte, beispielsweise im Zusammenhang mit der skandalösen Weiterbeschäftigung des NS-Verbrechers Heißmeyer, da konnte dies nur geschehen, weil sich die sprachliche Varietät und damit zumindest theoretisch der Diskursraum erweitert hatten.

6.3.3.

Die Endlösung

In Wolfgang Brügels Übersetzung findet die Erweiterung des Diskursraums, die die deutsche Fassung von Reitlingers Final Solution ganz sicher darstellt, ebenso hauptsächlich auf der inhaltlichen Ebene statt. Entscheidend für die Wirkung der Übersetzung ist hier, dass sie dem westdeutschen Diskurs eine Monografie über das zentrale Verbrechen des Nationalsozialismus, die Vernichtung der europäischen Juden, hinzufügt, die es zuvor nicht gegeben hatte. Dem englischen Text fügt Brügel in diesem Prozess auch noch die Perspektive des exilierten sudentendeutschen Sozialdemokraten hinzu, der die Gesellschaft, für die er seine Übersetzung produziert, nämlich die der Bundesrepublik, von außen betrachtet. Dadurch, dass er von Großbritannien auf Deutschland schaut, hat er ein Problem nicht, das sich in der Arbeit der Pferdekamps und Roswitha Czolleks sowie in Übersetzungen aus dem Englischen im Deutschland der 1950er- und 1960er-Jahre allgemein häufig findet: Die

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Übersetzung als Erinnerung

mangelnde Vertrautheit mit der zeitgenössischen Idiomatik des Englischen. Brügels Übersetzung ist die einzige unter den hier untersuchten, in der sich kaum Auffälligkeiten finden, die aus einem mangelnden Verständnis der idiomatischen Eigenarten des englischen Originaltexts heraus entstanden sind. Brügel war offensichtlich als Londoner, als Journalist und als Labour-Mitglied mit unterschiedlichen Dialekten und Soziolekten vertraut. In seinem Fall sind es aber seine deutsche Sprachsozialisation im Verwaltungsapparat der Tschechoslowakei und seine Entfernung vom öffentlichen Diskurs in Westdeutschland, die im Text Auffälligkeiten produzieren. Dass ausgerechnet die Sprecherposition des Exilanten Brügel zu einer der wenigen Lokalisierungen in den hier untersuchten Übersetzungen führt (siehe S. 196), verdeutlicht, wie komplex die transkulturellen Beziehungen zwischen Großbritannien und Westdeutschland vor allem dann werden, wenn es um NS-Verbrechen und den Umgang mit ihnen geht. Ebenso wie bei den Einfügungen von Fußnoten zur mangelhaften juristischen Aufarbeitung dieser Verbrechen sowohl in Geißel der Menschheit als auch in Die Endlösung kommt hier zur sprachlichen Dimension auch noch eine zeitliche Dimension hinzu. Bei beidem aktualisiert die Übersetzung nicht nur das Beschriebene, der deutsche Text verlässt auch zeitlich die Ebene der NS-Verbrechen und wendet sich dem Umgang mit diesen Verbrechen zu. Brügel stellt sich analog zu Reitlingers Erschauern beim Gedanken an die deutschen Kriegsgefangenen in England vor, wie ein ehemaliger NS-Massenmörder »vielleicht wieder seinem bürgerlichen Beruf mit der größten Seelenruhe nachgeht«. Dabei übersetzt Brügel das Unbehagen, das aus dem Blick auf deutsche Kriegsgefangene im ländlichen England bei Reitlinger entstand, in eines, von dem Brügel, Exilant und SPD-Mitglied, hofft, dass es auch Westdeutsche beim Blick auf die eigene Gesellschaft empfinden können. In dieser Wendung nutzt der Übersetzer das Verfahren gezielt, um den Bericht über vergangene Verbrechen an die Gegenwart seines Publikums, also des deutschen Lesepublikums, anzuschließen. Hier haben wir es mit einer besonders produktiven Form der Übersetzung zu tun, die mit der Intention entsteht, Einfluss auf die Zielkultur zu nehmen, wie sie Edwin Gentzler in Translation and Rewriting in the Age of Post-Translation Studies beschrieben hat.26 Diese Lokalisierung greift direkt in das Verhältnis zwischen Text und angenommenem Lesepublikum ein, um beim Lesepublikum eine bestimmte Reak-

26

Gentzler, S. 6ff.

6. Synthese

tion, nämlich das Unwohlsein beim Gedanken an unbestrafte, gesellschaftlich hervorragend integrierte NS-Massenmörder hervorzurufen. Bei den Einfügungen von Fußnoten mit Informationen zur Strafverfolgung bzw. zu Karrieren von NS-Tätern in der Bundesrepublik unterscheiden sich diejenigen in der Endlösung in einem interessanten Punkt von denjenigen in der Geißel der Menschheit: Die NS-Täter, über deren frühzeitige Begnadigung oder fortlaufende Karriere diese Fußnoten Auskunft geben, kommen weniger aus den Reihen von SS, Gestapo oder Wehrmacht, sondern eher aus dem zivilen Verwaltungsbereich und der Wirtschaft. Gerade die Nennung von White-Collar-Tätern wie dem ehemaligen Degesch-Manager Gerhard Peters oder dem Statistiker Richard Korherr führt eine Dimension der personellen Kontinuität ein, die in der Geißel fehlt. Insgesamt lässt sich sagen, dass die deutsche Fassung der Endlösung, also auch Brügels abgeleitetes Schreiben, weniger von Sagbarkeitsgrenzen der beiden deutschen Nachkriegsstaaten geprägt ist, als die beiden anderen hier untersuchten Texte. Bei Brügels Übersetzung sind es vor allem die Gesetze des Marktes, der Kommunikation und des öffentlichen Diskurses, die das in Reitlingers englischsprachigem Text enthaltene Wissen im Deutschen teilweise neu strukturieren und es daran hindern, diskursive Macht zu entwickeln. Als Produkt einer gezielten Intervention gegen die Sagbarkeitsgrenzen der frühen Bundesrepublik ist die Endlösung textimmanent relativ frei von diesen Grenzen, bleibt ihnen aber im öffentlichen Diskurs weitgehend unterworfen, was sich in geringer Rezeption und negativen Kritiken ausdrückt. Doch auch in der sprachlichen Form liegen noch Hindernisse für eine weniger marginale Rezeption dieses Pionierwerks. Insbesondere der streckenweise stark hypotaktische Stil, der gerade für Übersetzungen aus dem Englischen im 20. Jahrhundert ungewöhnlich ist, hat sicherlich auch zur geringen Rezeption des Buches beigetragen.

6.3.

Rezeption in Deutschland

In der deutschen Erinnerungsgeschichtsschreibung werden die Jahre zwischen Mitte und Ende der 1950er-Jahre häufig als Beginn einer langsamen Öffnung des Diskurses um die NS-Verbrechen und des »Endes der stillen Integration der Täter«27 in der Bundesrepublik beschrieben. Norbert Frei be27

Habbo Knoch: Die Tat als Bild, S. 533.

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Übersetzung als Erinnerung

schreibt das Straffreiheitsgesetz von 1954 als den letzten konkreten legislativen und verwaltungstechnischen Akt der Reintegration von nationalsozialistischen Funktionären und Tätern: »Mit dem zweiten Straffreiheitsgesetz endete im Sommer 1954 ein vergangenheitspolitischer Entwicklungsbogen, der von der ersten Bundesamnestie 1949 über die Empfehlungen des Bundestages und die Ländergesetzgebung zum Abschluß der Entnazifizierung bis zur praktisch vollständigen Wiedereinstellung der 1945 entlassenen Beamten reichte.«28 Der Abschluss dieser rechtlichen Absicherung für die ehemaligen Nationalsozialisten hatte für den öffentlichen Diskurs in der Bundesrepublik zur Folge, dass für einen großen Teil der Bevölkerung die Bestrafungsangst bzw. die Angst vor Konsequenzen für den eigenen beruflichen Werdegang als Faktor ausschied, wenn es darum ging, ob und wie man über den Nationalsozialismus und seine Verbrechen sprechen konnte. Diese Entspannungssituation auf Seiten der deutschen Mehrheitsgesellschaft fiel Mitte der 1950er-Jahre mit einer vorsichtigen Pluralisierung der deutschen Öffentlichkeit zusammen, die im Zuge der Ratifizierung der Pariser Verträge und den Debatten um die Wiederbewaffnung und den Grad der Westanbindung der Bundesrepublik entstand. Sie ersetzte aber keineswegs den weiterhin dominanten Schuldabwehrdiskurs und die Verdrängung beziehungsweise Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen, sondern etablierte parallel zu diesen das, was Habbo Knoch »nischenartige Erinnerungsmilieus und öffentlich-mediale Resonanzen«29 nennt. So entstand ab 1954/1955 in der Bundesrepublik ein Klima, in dem die öffentliche Thematisierung der NS-Verbrechen erstmals möglich schien, wenn auch immer in sehr eingeschränkten Diskursräumen und ohne größere gesellschaftliche Resonanz. Gleichzeitig entstand in der DDR durch die Westeingliederung der Bundesrepublik ein großer Bedarf an Argumentationshilfen, die das Bild von der Bundesrepublik als Nachfolgestaat des nationalsozialistischen Deutschland untermauern sollten. Beide dieser Konstellationen, die neue, zaghafte Öffnung des Diskurses in der Bundesrepublik und die kurzfristige Bedarfskonstellation in der DDR, die eine komplexere Darstellung des Nationalsozialismus jenseits der üblichen Narrative möglich machte, konnten die ÜbersetzerInnen und VerlegerInnen der Reitlinger- und der Russell-Übersetzung nutzen, um durch ihre Veröffentlichun28 29

Norbert Frei: Vergangenheitspolitik, S. 130. Knoch: Die Tat als Bild, S. 588.

6. Synthese

gen dem deutschsprachigen Diskurs über die NS-Verbrechen entscheidende Elemente in Form von Monografien hinzuzufügen. Wenn man Freis Periodisierung folgt, so liegt die Veröffentlichung von Modeste und Wilhelm Pferdekamps Übersetzung von Alan Bullocks HitlerBiografie vor und die der beiden anderen Übersetzungen in der Frühphase oder an den Anfangspunkten einer solchen Öffnung des öffentlichen Diskurses. Man kann die drei Übersetzungen auch als Markierungen und in bestimmten Konstellationen sogar als Auslöser erinnerungskultureller Entwicklungen beschreiben. Zum Abschluss möchte ich jetzt noch zusammenbringen, wie der öffentliche Diskurs in der Presse auf die Bücher (und auf ihre erinnerungs- und vergangenheitspolitischen Impulse) reagierte und an welchen neuralgischen Punkten die Bücher möglicherweise sogar einen konkreten vergangenheitspolitischen Effekt hatten.

6.4.1.

Hitler Eine Studie über Tyrannei

Die Reaktionen in der westdeutschen Presse auf die deutsche Fassung von Alan Bullocks Buch fanden 1953 noch mehr oder weniger ausschließlich von Seiten ehemaliger Nationalsozialisten mit hoher gesellschaftlicher Stellung in der Bundesrepublik statt. Und für diese RezensentInnen war die Tatsache, dass es sich bei dieser Biografie um eine Übersetzung handelte, ohne Ausnahme von großer Bedeutung. Dass es sich hier um die erste Hitler-Biografie nach dem Krieg handelte, die von jemandem geschrieben wurde, der nicht Nationalsozialist gewesen war, war auch aufgrund der zeitlichen Nähe der Veröffentlichung zu derjenigen des Buches von Görlitz und Quint in den Rezensionen Thema. Man war sich in den Leitmedien der Bundesrepublik einig, dass man es bei diesem Werk mit einem Beispiel für britisches fair play zu tun hatte und betonte emphatisch, dass das Buch frei von Vorstellungen einer kollektiven Schuld der Deutschen oder einer wie auch immer gearteten Siegerpose sei. Für diese Nachricht, von der die RezensentInnen annehmen mussten, dass sie vom deutschen Feuilletonpublikum erleichtert aufgenommen werden würde, war nicht zuletzt Bullocks auch formale Entscheidung für die traditionelle Herrscherbiografie verantwortlich Gleichzeitig war es aber allen RezensentInnen wichtig, auf den britischen Ursprung des Buches hinzuweisen. Dies wurde allerdings nicht nur getan, um betonen zu können, dass Bullocks britische Perspektive auf Deutschland eine andere ist, als die der Ankläger in den Nachkriegsprozessen, sondern vor allem auch, um die Aufmerksamkeit drauf zu lenken, dass die These von Hitlers

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Übersetzung als Erinnerung

alleiniger Verantwortlichkeit für Krieg, Zusammenbruch und NS-Verbrechen keine exklusiv deutsche war. Dieser Perspektive schloss sich von rechtsnationalistischer Seite in Gestalt von Margret Boveri das Urteil an, Bullocks Buch sei gut, ersetze aber kein originalsprachlich deutsches, weil man in Deutschland erkennen könne, dass Hitler eben auch »Begabungen und Erfolge«30 gehabt hätte. Was es in dieser Perspektive gar nicht geben konnte, sind die Verbrechen und das für sie verantwortliche Täterkollektiv aus ehemaligen Mitgliedern der SS, Wehrmacht, Polizei, Regierung, Verwaltung und Partei. In der deutschen Rezeption gelang es der marginalisierten Beschreibung der NS-Verbrechen in Kapitel XII/VI, die ja bereits im Originaltext deutlich gestört hatte, zumindest einen Rezensenten in einem Leitmedium dazu zu bringen, in seinem Text die Gaskammern zu erwähnen. Dies zeigt erneut, wie groß das diskursive Störpotential einer konzisen Beschreibung der Erkenntnisse aus den Nürnberger Prozessen 1953 in der Bundesrepublik war. Josef Müller-Marein stellte in seinem Text in der Zeit den Massenmord an den Juden in eine Reihe mit den Situationen des Krieges, in denen Deutsche leiden mussten (»der Tod in den Gaskammern, der Tod an der Front, der Tod auf den Fluchtstraßen«31 ) und war damit weit davon entfernt, die Dimension des zentralen deutschen Verbrechens anzuerkennen. Dennoch schrieb er einen Text, in dem der Massenmord an den europäischen Juden in den Gaskammern sprachlich einen Platz hat. Zu dieser Konstellation war es durch die Rezeption der Übersetzung des Unterkapitels XII/VI gekommen, das den NS-Verbrechen eine Nische im westdeutschen Erinnerungsdiskurs freimachte. Im Vergleich zu dem, was in den frühen 1950er-Jahren in der Bundesrepublik über Hitler und die Führungseliten des NS-Regimes originalsprachlich deutsch veröffentlicht wurde, betonte der Diskurs in der Presse die Nüchternheit und den akademisch korrekten Umgang mit Quellen. Von der faz über die Zeit und die damals gewichtigen Monatsmagazine Monat und Merkur bis in die akademischen Zeitschriften wird Hitler. Eine Studie über Tyrannei als beispielhaft für eine Historisierung des Nationalsozialismus wahrgenommen. Der Rahmen, in dem diese erste, marginalisierte und zaghafte Thematisierung der NS-Verbrechen seit dem Ende der juristischen Aufarbeitung durch

30 31

Boveri, FAZ, 24.10.1953. Müller-Marein, Josef: »Im Brennpunkt des Gesprächs: Trommler, Führer, Teufel.« Die Zeit, 12.11.1953.

6. Synthese

die Alliierten stattfand, war also auch die Hinwendung zu einer aufgeklärteren, demokratischeren Publikations- und Diskurskultur. Die Rezeption von Bullocks Buch und speziell dem Unterkapitel XII/VI zeigt, dass eine solche ohne die Thematisierung der NS-Verbrechen nicht möglich gewesen wäre.

6.4.2.

Die Endlösung

Dem gesamten Publikationsprojekt der Brügel’schen Übersetzung von Reitlingers Endlösung in der Bundesrepublik ist anzumerken, dass ihre ProtagonistInnen an die Art des Diskurses anschließen wollten, wie sie um Bullocks Buch geführt worden war. Franke, Hess und Brügel, die gemeinsam in unterschiedlichen Rollen federführend für die Veröffentlichung verantwortlich waren, hatten die Hoffnung, dass die Endlösung in ähnlichen Zirkeln und möglicherweise auch ähnlich breit rezipiert werden würde, wie Bullocks Hitler-Biografie. Sie wollten den historischen Feuilleton-Diskurs, wie er in den 1950er-Jahre überwiegend von Männern geführt wurden, die ihre journalistische Ausbildung im Nationalsozialismus erhalten und ihre berufliche Erfahrung unter den Nazis erworben hatten, um die Stimmen von ExilantInnen, RemigrantInnen und Opfern nationalsozialistischer Verfolgung erweitern. Deshalb stellten sie der Übersetzung das Vorwort eines solchen ehemaligen NS-Journalisten voran, der gleichzeitig über sämtliche Mitte der 1950er-Jahre verfügbaren demokratischen Credentials der jungen Bundesrepublik verfügte. Rudolf Hagelstange, Absolvent der Reichspresseschule, bot dem westdeutschen Lesepublikum Brügels Übersetzung von Reitlingers Monografie als Möglichkeit zur kathartischen Auseinandersetzung mit der Wahrheit an, bei der es auf einen Großteil seiner Entschuldungsargumente nicht einmal würde verzichten müssen. Trotz dieses Vorworts von einem der erfolgreichsten Schriftsteller der jungen Bundesrepublik und der intensiven publizistischen und logistischen Unterstützung durch die Bundeszentrale für Heimatdienst gelang es dem Buch aber nur in sehr eingeschränktem Maße, im öffentlichen Diskurs wahrgenommen zu werden. Von den Leitmedien der Bundesrepublik lies nur die Zeit Brügels Übersetzung rezensieren, und sie tat dies neun Monate nachdem das Buch auf einer gut besuchten Veranstaltung vom regierenden Bürgermeister Westberlins Willy Brandt offiziell vorgestellt worden war. Auch hier, wie bereits in den ersten deutschsprachigen Rezensionen in der österreichischen und schweizer sozialdemokratischen Presse, fiel das Schreiben über das Buch und das in ihm enthaltene Wissen mit Marianne Regensburger einer Remigrantin

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Übersetzung als Erinnerung

zu. Im Spiegel wurde die Endlösung zwei Jahre nach Erscheinen lediglich einmal erwähnt. Im akademischen Leitmedium der Geschichtsschreibung über den Nationalsozialismus, in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte, wurde das Buch sogar erst fünf Jahre später in einer Sammelrezension abgehandelt, obwohl das Institut den Übersetzer bei der Arbeit zunächst unterstützt und ursprünglich auch eine Rezension in den Vierteljahrsheften zugesagt hatte. Dies zeigt, dass den publizistischen AkteurInnen, die an der Veröffentlichung der Endlösung beteiligt waren, der Anschluss an das öffentliche Gespräch über den Nationalsozialismus, wie es überwiegend von ehemaligen NS-JournalistInnen geführt wurde, nicht gelang. Es erscheint schon als Erfolg, dass das Buch überhaupt in der Zeit rezensiert wurde und nicht wie die westdeutsche Ausgabe der Geißel in den extrem begrenzten Öffentlichkeitsräumen der kommunistischen Opfer der NS-Verfolgung bleiben musste. Aber so weit, dass die zentralen TrägerInnen des öffentlichen Diskurses der Bundesrepublik, also vor allem die AbsolventInnen der Reichspresseschule und die ehemaligen Kriegsberichter, über Reitlingers Monografie und das in ihr enthaltene Wissen schreiben konnten, war die Öffnung des Diskurses in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre noch nicht gegangen. Auch aus dem Institut für Zeitgeschichte, das zeigen die Protokolle der Kuratoriumssitzung und das Gutachten aus dem Nachlass Krausnick (siehe S. 209f), war für eine Monografie über die Vernichtung der europäischen Juden nur wenig publizistische Unterstützung zu erwarten. So entwickelte Brügels Übersetzung von Reitlingers Buch seine größte diskursive Wirkung auch erst Anfang der 1960er-Jahre, als im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozess der Mord an den europäischen Juden wieder in den Blick einer breiteren deutschen Öffentlichkeit geriet und Reitlingers Buch (neben Poliakov/Wulfs Dokumentensammlung) die einzige erhältliche Monografie zum Thema auf Deutsch war.

6.4.3.

Geißel der Menschheit

Von den hier untersuchten Büchern waren Lord Russells Scourge und Roswitha Czolleks Übersetzung diejenigen, die am intensivsten Politikum und am erfolgreichsten Instrument der Politik waren. Russells Bereitschaft zum Skandal und seine Zusammenarbeit mit dem Daily Express und der DDR halfen seinem Buch nicht dabei, in Großbritannien als seriöse Historiografie wahrgenommen und als Erinnerungsmedium genutzt zu werden. Dabei wurde The Scourge of the Swastika aber durch den großen Publikumserfolg vor allem in der konservativen unteren Mittelschicht durchaus zu letzterem. Insbeson-

6. Synthese

dere für die Kriegsgeneration in Großbritannien war Russells Buch ein wichtiges Medium, aus dem sich in diesen Schichten kollektives Wissen über die NS-Verbrechen und die grundsätzliche Kriminalität des NS-Regimes speiste. Gerade der Artefaktcharakter als Skandalbuch, das »unerwünschtes Wissen« enthielt, das dem pro-westdeutschen (und letztlich pro-europäischen) Kurs der Kabinette Churchills und Attlees zuwiderzulaufen schien, befeuerte diesen Erfolg und die Verbreitung des Buches. Es diente in Großbritannien auch einer alternativen Erinnerung an den Krieg, die nicht einfach zu normalen Beziehungen mit einem wiederbewaffneten Westdeutschland übergehen wollte. Hier fungierte eine Betonung des verbrecherischen Charakters des NS-Regimes und der deutschen Expansion während des Zweiten Weltkriegs auch als vergleichende Apologie des britischen Kolonialismus, der durch die in Fahrt geratene Dekolonisierung im öffentlichen Diskurs sowohl politisch wie auch moralisch ganz neu verhandelt werden musste. Diese alternative Erinnerung fand zu einem guten Teil in der rechtspopulitischen Presse und insbesondere im Daily Express statt, mit dem Russell direkt zusammengearbeitet hatte. Dort schenkte man auch den Warnungen vor einem Wiedererstarken des Nazismus im westdeutschen Verwaltungs- und Regierungsapparat große Beachtung, die der ehemalige Verfassungsschutzchef Otto John von Ostberlin aus lancierte. Durch diese Reaktionen in Teilen der britischen Bevölkerung aufgeschreckt, wurde auch die westdeutsche Regierung in Gestalt des Auswärtigen Amtes aktiv. Im Sommer 1954 begann die erste westdeutsche Rezeption von Russells Buch, das zu diesem Zeitpunkt noch nicht übersetzt war. Das Auswärtige Amt bemühte sich nun in der Kommunikation mit der britischen Regierung und der Hohen Kommission, eine deutschsprachige Veröffentlichung von Russells Buch zu verhindern, das es als ein »deutschfeindliches Greuelbuch« bezeichnete.32 Die westdeutsche Rezeption von Russells Buch beginnt also mit einem Akt der Abwehr vonseiten höchster Regierungsstellen. Nicht zuletzt deshalb blieb Roswitha Czolleks Übersetzung bis zum Ende der DDR in der Bundesrepublik ein politisch 32

Das Zitat stammt aus internen Aufzeichnungen des AA. Aufzeichnungen Schirner für Hallstein, 14.8.1954. PA AA StS Bd 347. Zitiert in: Ulrich Brochhagen: Nach Nürnberg. Vergangenheitsbewältigung und Westintegration in der Ära Adenauer. Berlin 1999, S. 255. Eine ausführlichere Beschreibung der Rezeption von Russells Buch im Auswärtigen Amt und die versuchte Abwehr einer Übersetzung findet sich ebd, S. 254-257. Dort heißt es auf S. 255: »Bonn suchte der Hohen Kommission klarzumachen, wie brisant die Veröffentlichung derartiger Werke im Zusammenhang mit der John-Affäre sei, zumal angesichts der unsicheren EVG-Ratifizierung.«

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Übersetzung als Erinnerung

unerwünschtes Buch, das mit der ebenfalls politisch unerwünschten VVN assoziiert wurde. Ähnlich wie die VVN als Organisation wurde auch die Geißel der Menschheit in den Nachkriegsjahrzehnten von offiziellen Stellen und in der Öffentlichkeit behandelt: Das Buch wurde weitgehend ignoriert und marginalisiert, vereinzelt wurden aber auch Versuche unternommen, es zu delegitimieren. Hier verstärkten sich der gesellschaftliche Antikommunismus in der Bundesrepublik und die Erinnerungsabwehr gegenseitig zum Nachteil des Buchs. Die Intervention des Auswärtigen Amtes zeigt auch die teilweise widersprüchlichen Tendenzen innerhalb der Bonner Regierung im Umgang mit der historiografischen Bearbeitung der NS-Verbrechen. Im Sommer 1954, während Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes gegen eine Veröffentlichung von Russells Buch in Deutschland arbeiteten, war Franke in der Bundeszentrale für Heimatdienst bereits mit Otto Hess gemeinsam auf der Suche nach einem geeigneten Übersetzer für Reitlingers The Final Solution. Dieses politische Handeln von Regierungsvertretern gegenüber britischer Historiografie war sozusagen das Spiegelbild des allgemeineren politischen Handelns der Adenauer-Regierung beim Umgang mit den NS-Verbrechen, wo man sich nach außen stark vom Nationalsozialismus abgrenzte, während man sich nach innen um eine möglichst reibungslose Integration der NS-belasteten Teile der Gesellschaft bemühte. Hier grenzte man sich nach außen von einer Anklage gegen das NS-Regime ab, während ein anderer Teil der Regierung nach innen um die Etablierung der NS-Verbrechen im öffentlichen Bewusstsein bemüht war. Dass sich diese Abwehr im Einklang mit den Bedürfnissen großer Teile der westdeutschen Öffentlichkeit befand und deshalb auch erfolgreich war, zeigt sich daran, dass die westdeutsche Veröffentlichung von Czolleks Übersetzung kaum über den Rezeptionsraum der VVN und der Überlebendenverbände hinauskam. Erst ab den frühen 1980er-Jahren, mit der Einrichtung der ersten Ausstellungen in KZ-Gedenkstätten, auf die die Überlebendenverbände maßgeblichen Einfluss hatten, tauchte das Buch in einem etwas erweiterten öffentlichen Kontext noch einmal auf, allerdings auch hier angebunden an das Umfeld der KZ-Überlebenden. Auch in der DDR beginnt die Rezeption des Buches schon vor der Übersetzung. Die Presse thematisiert im Sommer 1954 ausführlich den Skandal um Russells Kündigung und bringt sie zusammen mit dem Fall John und der geplanten Wiederbewaffnung. Auch nach der Veröffentlichung der Übersetzung wird die Rezeption in der Presse vor allem von den Propagandabedürfnissen

6. Synthese

der DDR bestimmt, was dem Buch auch eine erstaunlich lange Präsenz in der Presse bescherte, ungefähr von Oktober 1955 bis Dezember 1956. Diese Nachhaltigkeit des Buchs als Pressethema und die hohen Auflagen deuten darauf hin, dass die Geißel in der DDR ähnlich breit gelesen wurde, wie das Original in Großbritannien. Dabei wurden die Besprechungen in der staatlich kontrollierten Presse weitgehend dafür genutzt, die Rezeption in der Bevölkerung entlang der Konfliktlinien im Kalten Krieg nach innen vorzustrukturieren bzw. zu lenken, indem man die Rezensionen mit tagesaktuellen Themen wie der Rückkehr der verurteilten Kriegsverbrecher aus der Sowjetunion verband. In dieser Strategie einer staatlich gelenkten Rezeption war die Geißel der Menschheit einerseits Anlass, die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik oder die Rückkehr der sogenannten Spätheimkehrer zu thematisieren, andererseits diente das Buch in denselben Texten immer auch als Beleg für die Richtigkeit der offiziellen Interpretation dieser tagespolitischen Ereignisse. In diesem Zusammenhang war auch die Tatsache, dass es sich bei dem besprochenen Buch um eine Übersetzung aus dem Englischen und beim Autor des Originals um einen konservativen Aristokraten handelte, immer von relativ großer argumentativer Bedeutung, da sie den Ruch der reinen SED-Propaganda beseitigen half. In dieser Form der gelenkten Öffentlichkeit waren die Verbreitung des Buchs und des in ihm enthaltenen Wissens keine Funktionen einer gesellschaftlichen Debatte, sondern Belege für eine bestimmte parteiliche bis propagandistische Argumentation im Kalten Krieg. Direkt parallel zu dieser Funktion als Beleg, mit dem die Positionen des Kulturministeriums im Kalten Krieg gestärkt werden sollten, hatten die Besprechungen in der Presse aber noch eine zweite textstrategische Funktion: Sie sollten zusätzlich zu den vom Verlag eingefügten Fußnoten dabei helfen, das im Buch formulierte Wissen im Sinne der offiziellen Erinnerungspolitik interpretativ zu strukturieren. Dies taten die meisten der Besprechungen, indem sie die Textbausteine mitlieferten, aus denen sich die offizielle Faschismusinterpretation der DDR zusammensetzte und die in Czolleks Übersetzung notwendigerweise fehlen mussten. So konnte auch in der DDR das in Czolleks Übersetzung enthaltene Wissen nur in Einzelfällen wie in Fritz Raddatz’ Text in der Berliner Zeitung33 oder subversiv gegen die in der Presse vorgegebenen Interpretationen vom Nationalsozialismus als Produkt der »Junker- und Industriellenkaste« und 33

Berliner Zeitung Nr. 252, 27.10.1956.

231

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Übersetzung als Erinnerung

der BRD als Ort der Verantwortung für die NS-Verbrechen Eingang in kollektive Erinnerungen an diese Verbrechen finden. Die Motivation einzelner AkteurInnen wie des Verlagsleiters Walter Czollek, der Übersetzerin Roswitha Czollek oder auch des Cheflektors und Rezensenten Fritz Raddatz war es sicherlich auch, durch die Übersetzung zu einem differenzierteren Bewusstsein für die von Soldaten und anderen Organen des nationalsozialistischen Deutschland begangenen Verbrechen in der DDR-Bevölkerung beizutragen. Über diesen Motivationen stand aber immer die Nützlichkeit der Übersetzung als Propaganda-Artefakt gegen die BRD und als mittelmäßig tauglicher Beleg für die Agententheorie und die Rolle der DDR als Ort des »antifaschistischen Deutschland«. Diese Externalisierung der Verantwortung für die NS-Verbrechen schwächte die potentiell großen Möglichkeiten der deutschen Übersetzung von Russels Buch als Erinnerung (im Sinne des englischen Worts »reminder«) an die breite Beteiligung der deutschen Bevölkerung an den NSVerbrechen und die noch breitere Zustimmung zu den Zielen des Regimes in der DDR massiv. Obwohl also in der DDR im Unterschied zur Bunderepublik viele Menschen das Buch lasen, konnte es nur in Ausnahmefällen und marginalen Kontexten gesellschaftlich spürbare Erinnerungswirkung entwickeln, da der Staat einen vergleichsweise großen Aufwand betrieb, um die Rezeption des Buchs zu strukturieren. Immerhin aber gelang es dem Wissen, das Russell zusammengestellt und das Roswitha Czollek übersetzt hatte, in einem Fall ganz konkret subversiv der Legende entgegenzuwirken, in der DDR gäbe es keine ähnliche Kontinuität des Wirkens von NS-Belasteten oder NS-Verbrechern, wie in der Bundesrepublik.

6.4.4.

Erinnerungseffekte: Heißmeyer und Korherr

Wenn man sich die beiden Fälle ansieht, in denen hier untersuchte Bücher konkret zur Beendigung einer skandalösen Nachkriegskontinuität beigetragen haben, dann kann man die Wirkweise von Übersetzung als Erinnerung im Sinne des englischen Worts »reminder« gut nachverfolgen. Bei den Wechselwirkungen zwischen Russells und Reitlingers Monografien und den Nachkriegskarrieren von Richard Korherr und Kurt Heißmeier haben wir es nicht mit Übersetzung als Erinnerung im Sinne einer importierten breiteren kollektiven Erinnerung zu tun. Die Rezeption der beiden Werke fand in der BRD in sehr eingeschränkten Rezeptionsräumen und in der DDR in einer sehr formelhaften und die Verantwortung für die Verbrechen externalisierenden Weise statt. Nichtsdestotrotz trugen die Übersetzungen hier in zwei konkre-

6. Synthese

ten Einzelfällen auch dazu bei, dass implizites Wissen in beiden deutschen Staaten aktiviert, explizit gemacht und für konkrete Veränderungen in den gesellschaftlichen Eliten genutzt werden konnte. In beiden Fällen wirkten die Übersetzungen als Reservoir für ein konkretes, explizites Wissen, das im Original eingeschrieben war und durch die Übersetzung im Deutschen in einer Monografie, also einer Form mit relativ hoher kultureller Autorität, kodiert und eingeführt wurde. Darauf folgte eine Phase der Latenz, in der die bestehende diskursive und gesellschaftliche Ordnung versuchte, das neue Wissen weitestgehend zu domestizieren, also in die bestehende diskursive Ordnung einzupassen, und in der sich diese diskursiven Formationen gleichzeitig veränderten und erste Risse bekamen. Venuti beschreibt diese Reaktion auf Wissen, das durch Übersetzung verfügbar gemacht wird, als eine Funktion jeder Übersetzung und als einen Grund für den vergleichsweise niedrigen kulturellen und ökonomischen Status von Übersetzungen als Texten gegenüber dem Original: »[Translation] occasions revelations that question the authority of dominant cultural values and institutions. And like every challenge to established reputations, it provokes their efforts at damage control […].«34 Die etablierten kulturellen und diskursiven Ordnungen, die durch Czolleks und Brügels Übersetzungen in Frage gestellt wurden, waren folgende: Die geltenden Interpretationen der NS-Verbrechen in BRD und DDR, die gesellschaftliche Abwehr gegen das Wissen um die Dimension der NS-Verbrechen und um die Breite der gesellschaftlichen Verantwortlichkeit für diese Verbrechen sowie die Rolle der DDR als dem deutschen Staat in dem es angeblich eben keine Karrierekontinuitäten von NS-TäterInnen geben sollte. Besonders gefährlich wurden diesen Ordnungen die beiden Monografien, weil sie mit einer relativ hohen kulturellen Autorität und potentiell hoher Anschlussfähigkeit an bestimmte diskursive Formen in Deutschland ausgestattet waren, also mit einer sehr deutlichen Benjamin’schen Übersetzbarkeit. Bei der Geißel der Menschheit speisten sich die Autorität des Textes und die Anschlussfähigkeit an den staatlich gelenkten DDR-Diskurs aus der Konstellation, dass ein britischer konservativer Aristokrat mit der DDR zusammenarbeitete, und aus der Erzählung vom unterdrückten Wissen und versuchter Zensur, die sich aus den Vorfällen rund um Russells Entlassung aus dem Judge Advocate General’s Office konstruieren ließ. Bei der Endlösung war es 34

Lawrence Venuti, The Scandals of Translation. London 1998, S. 1.

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Übersetzung als Erinnerung

der ostentativ akademische Umgang mit den Quellen, der Autorität brachte, und die erklärte Motivation, die von Opferseite veröffentlichten Zahlen nach unten zu korrigieren, die ein Anschlussangebot an den relativierenden und rekonstruktiven Zeitgeist der BRD in den 1950er-Jahren machten. Beide Bücher verweigerten sich mehr oder weniger vollständig der Opferperspektive und nahmen stattdessen jeweils die Sprecherposition einer juristischen Anklage (Geißel) und die einer von Rachewünschen ungetrübten, akademischneutralen Untersuchung der Zahlen aus »seriösen« Quellen (Endlösung) ein. Diese Positionen stellten eine gewissen Gefahr für die etablierten diskursiven Ordnungen dar, da sie nicht von den Abwehrmechanismen abgedeckt waren, die sich in den beiden deutschen Gesellschaften gegenüber den NSVerbrechen und insbesondere gegenüber dem Massenmord an den Juden herausgebildet hatten. In der Bundesrepublik war der zentrale dieser Mechanismen die Schuldabwehr durch die Konstruktion einer sehr großen Gemeinschaft der Deutschen als Opfer von nationalsozialistischer Verführung, Bombenkrieg, Vertreibung und »Siegerjustiz« und die Zuspitzung einer Schuld auf Adolf Hitler und abgemildert auch auf einen sehr kleinen Kreis führender Nationalsozialisten. Dieser Abwehrmechanismus verhinderte einen gesellschaftlichen Zugang zu Wissen über die Ermordung der Juden und anderer Menschengruppen durch Empathie mit den Opfern der Deutschen. Er verhinderte auch, dass die Berichte von vor allem jüdischen und politischen Opfern der NS-Verfolgung, die in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre noch relativ zahlreich auch auf Deutsch erschienen waren, in der neugegründeten restaurativ ausgerichteten Bundesrepublik echte gesellschaftliche Resonanz erfuhren. In der DDR wiederum wurde das gesellschaftliche Wissen um die Ermordung der europäischen Juden im öffentlichen Diskurs zugunsten des heroisierenden Narrativs von Verfolgung und Widerstand der Kommunisten in ganz Europa so weit wie möglich marginalisiert. Dass die beiden Monografien überhaupt übersetzt und veröffentlicht werden konnten, lag nicht zuletzt daran, dass sie diese Abwehrmechanismen teilweise unterlaufen konnten. Die Akteure, die Übersetzung, Publikation und teilweise auch Rezeption der beiden Bücher aktiv betrieben (die Czolleks und zu einem gewissen Grad Fritz Raddatz im Fall der Geißel; Franke, Brügel und Hess im Fall der Endlösung) sahen sicherlich auch eine Chance in der Abwesenheit der Opferperspektive und empathischer Sprache in der Endlösung und der fehlenden textlichen Zentralität des Judenmords in der Geißel. Sie wollten die Übersetzung in diesem Fall als Erinnerung im Sinne einer Ermahnung nutzen. Sicherlich erhofften sie sich auch einen größeren gesellschaftlichen

6. Synthese

Bewusstseinswandel, bei dem die Übersetzung gar eine vollständigere Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsoziallisten produzieren helfen sollte. Dass letzteres trotz der größeren Anschlussfähigkeit der beiden Bücher an die deutschen Diskurse nicht gelungen ist, zeigt auch wie stark die Abwehrmechanismen gegen importiertes Wissen in den 1950er-Jahren in beiden deutschen Staaten waren. Vor dem Hintergrund der Marginalisierung der Endlösung in der Bundesrepublik und der massiven und konzertiert betriebenen Überformung des Diskurses um die Geißel in der DDR ist es aber durchaus beachtenswert, dass beide Bücher trotzdem ganz konkrete Auswirkungen auf skandalöse Kontinuitäten in den deutschen Nachkriegsgesellschaften nehmen konnten. Nach einer Phase der Latenz entfaltete das explizite Wissen, das in beiden Büchern codiert war, dann doch noch ein zwar begrenztes, aber sehr konkretes veränderndes Potential, indem es zur Beendigung der Karrieren von Korherr und Heißmeier beitrug. Diese konkrete Wirkung der Erinnerung auf personelle Kontinuitäten war in beiden deutschen Nachkriegsstaaten äußerst selten. Grundsätzlich gilt für Deutschland nach dem Krieg eher die umgekehrte Entwicklung: Es wurde immer mehr Erinnerung möglich, je weniger konkrete juristische oder persönliche Konsequenzen diese Erinnerung hatte. Für das Ende der Phase der Latenz in den frühen 1960er-Jahren waren mehrere Faktoren verantwortlich. Einerseits begann zu dieser Zeit der Rückzug der Generation der nationalsozialistischen Führungseliten aus dem öffentlichen Leben. Andererseits brachte der Eichmann-Prozess in Jerusalem als diskursives Ereignis von globaler Bedeutung eine Öffnung vor allem des westdeutschen Diskurses und breitere Reflektionen über das Konzept von »Schreibtischtätern« mit sich. Zu diesem Zeitpunkt, mehr als ein halbes Jahrzehnt nach ihrer ersten Veröffentlichung, konnten die beiden Übersetzungen dann konkret als Erinnerungen an skandalöse Kontinuitäten wirken. Ebenfalls zu dieser Zeit endete auch die deutsch-britische Binarität bei Übersetzungsprojekten zu den NS-Verbrechen. Mit dieser doppelten Öffnung im gesellschaftlichen Diskurs in Deutschland und für neue Diskursbeiträge aus den USA und auch aus anderen Sprachen beginnt auch eine neue Phase in der deutschen Übersetzungsgeschichte zum Holocaust, einem Begriff, der weitere eineinhalb Jahrzehnte später auch über einen Übersetzungsprozess, nämlich infolge der breiten Rezeption der so betitelten US-Miniserie,35 im Deut35

Holocaust – die Geschichte der Familie Weiß, USA 1978. Regie: Marvin J. Chomsky. Buch: Gerald Green. Mit Meryl Streep, James Woods, Sam Wanamaker u.a. Deutsche Erst-

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schen etabliert wurde. Über diese und spätere Phasen dieser speziellen, kulturell und gesellschaftlich für den deutschen Sprachraum äußerst produktiven Übersetzungsgeschichte wären nun weitere sicherlich auch erkenntnisreiche Bücher zu schreiben.

ausstrahlung: 22.–26. Januar 1979. In der direkten Folge der Ausstrahlung der Serie begann die Etablierung des Substantivs »Holocaust« für die Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland. 1979 wurde der Begriff von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum »Wort des Jahres« gewählt und 1986 dann als endgültig etablierter Begriff in die 19. Auflage des maßgeblichen Wörterbuchs Duden. Die Rechtschreibung aufgenommen. Siehe dazu: https://www.duden.de/rechtschrei bung/Holocaust (Zugriff: Juli 2020).

7. Fazit

Diese Studie sollte nachzeichnen, wie Übersetzungen die Prozesse, die in den frühen 1950er-Jahren in Großbritannien gegen ein Verschweigen und eine Verdrängung der deutschen Menschheitsverbrechen wirkten, in den deutschsprachigen Diskurs eingeschrieben haben. Dabei wurde die Übersetzung einerseits zum Medium eines Wissens, das in Deutschland (und teilweise in den Texten selbst) im Konflikt mit äußerst machtvollen gesellschaftlichen Tendenzen stand. Andererseits wurde die Übersetzung als Technik zum Instrument derjenigen, die den von Adorno diagnostizierten »Hohlraum der Rede« in Deutschland mit Wissen über die deutschen Verbrechen füllen wollten. In Großbritannien waren die gesellschaftlichen Tendenzen, die zur Verdrängung der deutschen Verbrechen führten, weniger stark wirksam, weil eine gesellschaftliche Erinnerung an sie im Unterschied zu Deutschland keine konkreten juristischen oder beruflichen Konsequenzen für einen großen Teil der Bevölkerung verlangt hätte. Darüber hinaus waren die Schreckensbilder aus Bergen-Belsen im kommunikativen Gedächtnis noch stark mit dem Sieg über die Täter dieser Verbrechen, der »Finest Hour« verbunden. So konnten sich die NS-Verbrechen als zu bearbeitender Wissensbestand in Großbritannien vergleichsweise schnell etablieren, nicht zuletzt auch, weil der Zugriff auf das verschriftlichte Wissen aus den NS-Prozessen im Land der Ankläger näherlag, als im Land der Täter. Nichtsdestotrotz war der Wissensbestand, der in den drei hier besprochenen Monografien verarbeitet wurde, auch in Großbritannien gesellschaftlich und diskursiv nicht zentral. In Bullocks Hitler. A Study in Tyranny zeigt sich diese andere erinnerungskulturelle Situation im Umgang mit den NS-Verbrechen. Sie sind zwar deutlich marginalisiert und werden innerhalb eines sehr langen Textes, der alle Ansprüche an die traditionelle Herrscherbiografie erfüllt, lediglich in einem kurzen Unterkapitel abgehandelt. Dennoch entsteht dabei ein konziser Text, der die Erkenntnisse aus den Nürnberger Prozessen kondensiert zusammen-

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fasst und TäterInnen klar benennt. Dieser Text bringt aufgrund seiner generischen Beschaffenheit eine hohe Anschlussfähigkeit an den deutschen Diskurs mit, die durch seinen großen Erfolg noch verstärkt wird. Außerdem enthält er aber an dezentraler Stelle konzentriertes Wissen über die NS-Verbrechen und kann dieses entsprechend massenhaft verbreiten, auch in der deutschen Übersetzung. Das große Übersetzungspotenzial von Gerald Reitlingers The Final Solution liegt zuallererst darin, dass es die erste Monografie über die Ermordung der europäischen Juden durch die Deutschen ist. Der nachvollziehbare Versuch, diesem ersten Überblickswerk über das deutsche Menschheitsverbrechen eine möglichst nüchterne, wenig emotionale Gestalt zu geben, führte zu einer Marginalität, die dem Pioniercharakter des Buches nicht entspricht. Der Verzicht auf opferseitige Quellen, das explizite Vorhaben, die Zahl von sechs Millionen Opfern zu widerlegen, und der beschreibende Stil machten das Buch für ein breites Publikum in Großbritannien wenig attraktiv. Gleichzeitig sorgten diese Ansätze aber dafür, dass das Buch für antinazistische Kreise im westdeutschen Establishment interessant wurde. Völlig anders gelagert waren die Voraussetzungen für die deutsche Übersetzung von Russells The Scourge of the Swastika. Russell artikulierte (und verbreitete) mit seinem Buch ein »Gegenwissen«, das in der britischen Bevölkerung stark vorhanden war: die Erinnerung an die Deutschen als Kriegsgegner und als Kriegsverbrecher. Der wirtschaftliche Erfolg des Buchs traf jedoch auf politischen Widerstand nicht nur vonseiten der britischen Regierung, sondern auch aus diplomatischen Kreisen in Westdeutschland. Entsprechend musste sich die hohe Benjamin’sche Übersetzbarkeit, die das Buch als skandalbefeuerter Bestseller mitbrachte, einen anderen deutschsprachigen Anschluss suchen, als den wirtschaftlich interessanten an etablierte westdeutsche Verlage. So ergaben sich die unwahrscheinliche Allianz zwischen einem konservativen aristokratischen Autor und dem DDR-Verlag Volk und Welt und der Anschluss von Russells Buch an einen realsozialistischen Diskurs über den Nationalsozialismus. Gleichzeitig bot der Übersetzungsprozess den AkteurInnen bei Volk und Welt die Möglichkeit, einen deutschen Text über die NS-Verbrechen zu schaffen, der nicht vollständig vom rigiden vorgegebenen staatlichen Narrativ überformt ist. Die publizistischen AkteurInnen auf der deutschen Seite verfolgten politisch und kulturell zwar sicherlich sehr verschiedene Ziele, sie hatten aber alle vor, Texte zu schaffen, die den Blick auf den Nationalsozialismus (und seine Verbrechen) erweiterten und veränderten. Beim Verlag Droste wollte man mit

7. Fazit

Bullocks Buch eine Perspektive auf Hitler etablieren, die für eine Einbindung Deutschlands in eine westliche Staatengemeinschaft angemessen wäre. Franken und Hess wollten eine deutschsprachige Monografie über die Ermordung der europäischen Juden schaffen, um ein Instrument zu haben, das bei der Etablierung einer gesellschaftlichen Erinnerung an dieses Menschheitsverbrechen in der Kultur der jungen Bundesrepublik hilfreich sein konnte. Und im Lektorat von Volk und Welt wollte man (vermutlich und nicht ausdrücklich) einen etwas pluraleren Text über diese Verbrechen, gleichzeitig aber auch ein Instrument schaffen, das die propagandistische Darstellung der Bundesrepublik als Hort des wiedererstarkenden Faschismus unterstützen konnte. Die ÜbersetzerInnen, die diese Texte schrieben, waren so heterogen wie die Originale, waren aber auch biografisch auffällig mit den politisch-kulturellen Intentionen hinter den Übersetzungen verbunden. Die Pferdekamps, ehemalige Mitglieder nationalsozialistischer Organisationen, schufen die erste deutschsprachige Hitlerbiografie, deren Autor kein Nationalsozialist war. Damit leisteten sie einen gewichtigen Beitrag zur Etablierung der Sprecherpositionen, die in den ersten Nachkriegsjahrzehnten den Diskurs über den Nationalsozialismus in Westdeutschland bestimmten. J.W. Brügel verfasste einen deutschen Text über das zentrale Verbrechen des Nationalsozialismus, der durchaus auch von der Perspektive des exilierten sudetendeutschen Sozialdemokraten geprägt war. Und die jüdische Holocaust-Überlebende Roswitha Czollek schrieb den einzigen in der DDR verfügbaren Text, in dem der Mord an den europäischen Juden eine einigermaßen prominente Stellung einnahm. In der Übersetzung von Bullocks Hitlerbiografie markieren Störungseffekte in einem ansonsten sehr flüssigen und an Brüchen armen Text die Sagbarkeitsgrenzen der westdeutschen Gesellschaft: Das Gliederungssystem des Buches kommt da durcheinander, wo der konzise Text über die NS-Verbrechen beginnt. Auch im weiteren Verlauf des Textes tauchen ungewöhnliche Fälle, unpassende Adjektive oder auffällige Begriffe an den Stellen auf, an denen es um Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung der besetzten Gebiete oder den Mord an den europäischen Juden geht. Das Unterkapitel XII/VI in der Übersetzung der Pferdekamps wird so nicht nur der erste historiografische Text, der die Erkenntnisse aus den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozessen massenhaft in Deutschland verbreitet, es markiert als dieser Text auch die semantischen Bereiche, die sich nicht einfach so in den deutschen Diskurs integrieren lassen.

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Übersetzung als Erinnerung

Viel weniger von Sagbarkeitsgrenzen geprägt ist J. W. Brügels Übersetzung von Reitlingers Endlösung. Wie bei Czolleks Geißel der Menschheit ist auch hier der Übersetzungsprozess sehr produktiv, schafft also größere Mengen Text, die im Original keine Entsprechungen haben. Für Brügels Text heißt das, dass er dem Original einerseits Wissen und Informationen sowie die Exilperspektive hinzufügt, andererseits aber auch Urteile über die deutschen Verhältnisse der 1950er-Jahre lokalisiert, also an den deutschen Diskurs anpasst. Wie Czolleks Übersetzung fügt auch Brügels Text dem Original Informationen über personelle Kontinuitäten von NS-Tätern hinzu, insbesondere zu Verwaltungstätern wie dem Statistiker Korherr. Auffällig ist aber, dass es in Brügels Übersetzung kaum zu Auslassungen kommt. Die Formung, die der Text im Deutschen erfährt, kann die kommunikativen Probleme des englischen Originals nicht ausgleichen, sie fügt ihnen mit Brügels hypotaktischem Stil vielmehr noch eine zusätzliche Ebene hinzu. In Roswitha Czolleks deutschem Text Geißel der Menschheit spielen die Sagbarkeitsgrenzen wieder eine deutlich größere Rolle, allerdings sind es in diesem Fall eher diejenigen, die der Diskurs in der DDR schafft. Hier gibt es tatsächlich zensorische Auslassungen über den autoritären Charakter oder Repressionen in der Sowjetunion. Gleichzeitig produziert der deutsche Text über Fußnoten, die mit »der Verlag« gekennzeichnet sind, eine Skandalisierung personeller Kontinuitäten vor allem im Staatsapparat und Militär der Bundesrepublik, die im Original fehlt. Der Übersetzungsprozess in der DDR schaffte so, auch durch die Veröffentlichung im westdeutschen RöderbergVerlag, einen Text, der Wissen über personelle Kontinuitäten in der Bundesrepublik enthält, das sonst im Westen nicht verfügbar und in Russells Original nicht enthalten war. Dadurch, dass der Text lediglich in Fußnoten an das DDR-Narrativ über den Nationalsozialismus angepasst wurde, entstand so auch in der DDR ein weitverbreiteter Text zu den NS-Verbrechen, der ungewöhnlich frei von den rigiden und viel bemühten Tropen des sonstigen Diskurses zum Thema war. Hitler. Eine Studie über Tyrannei wurde vom öffentlichen Diskurs in den Feuilletons der Bundesrepublik durchaus wahrgenommen und erregte vor allem in postnationalsozialistischen bürgerlichen Schichten Aufsehen. Bullocks kurze Zusammenfassung der Erkenntnisse aus den Nürnberger Prozessen im Unterkapitel XII/VI entfaltet nicht nur im Text, sondern auch in der westdeutschen Rezeption durchaus Störeffekte und bringt den Rezensenten der Zeit sogar dazu, in seinem Text die Gaskammern zu erwähnen. So wird dieser Text zu einem der ersten störenden kleinen Wissensdepots über die deut-

7. Fazit

schen Verbrechen, das Eingang in die Bücherschränke der bürgerlich-konservativen Schichten findet. Die Zeit war auch das einzige Leitmedium der jungen Bundesrepublik, das Brügels Übersetzung Die Endlösung rezensieren ließ. Man war dort offensichtlich der Ansicht, dass für die Rezension der ersten Monografie über den Mord an den europäischen Juden eine remigrierte jüdische freie Mitarbeiterin zuständig sein müsse, während die Bullock-Übersetzung der Pferdekamps noch von einem leitenden Redakteur besprochen worden war. Wie auch der abwehrende Umgang mit dem Buch vonseiten des Münchner Instituts für Zeitgeschichte zeigt, befasste sich die kulturelle Elite nur sehr widerwillig mit diesen Text. Diese Abwehrtendenzen und die Rezeptionshindernisse, die der Text selbst mitbrachte, konnte die Endlösung als kulturelles Artefakt trotz ihres Pioniercharakters nie überwinden und blieb damit in der Bundesrepublik in der Breite mehr oder weniger wirkungslos. Trotz der intensiven Rezeption durch die Presse der DDR und die weite Verbreitung, die die Geißel der Menschheit in Ostdeutschland erfuhr, wäre es falsch, davon auszugehen, dass sie als Text eine breitere Wirkung gehabt oder gar dazu beigetragen hätte, ein differenzierteres Bild der NS-Kriminalität in der Bevölkerung oder dem öffentlichem Diskurs zu etablieren. Dafür war der öffentliche Diskurs in der DDR zu stark durch Institutionen und Organe des Staates wie Schule, Presse, Universitäten und die Mahn- und Gedenkstätten vorstrukturiert. In der Bundesrepublik konnte die kleine Auflage des Röderberg-Verlags eine etwas größere, subversive Wirkung entwickeln. Sie bestand darin, dass sie zunächst nur für die VVN, später aber auch für ein sehr viel breiteres Spektrum von Initiativen und Gruppen, eine zitierfähige Monografie schuf, die verschiedene Aspekte der NS-Kriminalität konzise zusammenbrachte und die Ergebnisse einer ganzen Reihe alliierter NS-Prozesse aufbereitet zugänglich machte. Nicht zuletzt waren für diese Gruppen auch die vom Verlag Volk und Welt eingefügten Informationen über personelle Kontinuitäten von großem Wert für ihre Kampagnenarbeit. Entgegen aller Abwehrmechanismen und Verdrängungstendenzen konnten Die Geißel der Menschheit und Die Endlösung nach einer Phase der Latenz in beiden deutschen Gesellschaften skandalöse personelle Kontinuitäten beenden. Dies zeigt nicht nur, wie groß die diskursive Macht des Themas trotz aller Widerstände war, sondern auch, dass die Angst der postnationalsozialistischen Gesellschaftsmehrheit vor diesem offeneren Diskurs durchaus berechtigt war. Mit dem abnehmenden Einfluss der ehemaligen NSDAP-Mitglieder in der Bundesrepublik und der zunehmenden weltweiten Thematisierung der

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NS-Verbrechen ab Anfang der 1960er-Jahre öffneten sich nicht nur beschränkte Räume für einen offeneren Diskurs über die NS-Verbrechen. Je weniger Staat und Gesellschaft von ehemaligen Nationalsozialisten geprägt und geleitet wurden, desto geringer war auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Thematisierung von Verbrechen und die Benennung von TäterInnen für tragende Mitglieder beider deutscher Gesellschaften juristische oder persönliche Konsequenzen haben würde. So konnten sich im Laufe der Zeit immer größere Erinnerungsräume nicht zuletzt deshalb öffnen, weil die Erinnerung an die Massenmorde niemanden mehr ins Gefängnis oder um seine oder ihre Karriere brachte. Es sind drei Linien, entlang derer sich in Deutschland in den letzten 70 Jahren die Erinnerung an die Massenverbrechen des Nationalsozialismus entwickelt hat: die oben beschriebene Öffnung durch den sinkenden Einfluss ehemaliger Nationalsozialisten, der zunehmende Einfluss einer globalisierten Medienlandschaft, in der internationale Diskursereignisse zu den NSVerbrechen wie der Eichmann-Prozess oder die Fernsehserie Holocaust immer auch in Deutschland deutliche Effekte entwickelten, und die diskursive Macht des Themas selbst. Für die letzten beiden dieser Linien beginnt die Übersetzung als Technik und als Medium schon direkt nach der Befreiung Europas eine zentrale Bedeutung anzunehmen. Gerade die Übersetzungsrichtung Englisch-Deutsch zum Thema wird dann nach ihrer hier beschriebenen Frühgeschichte noch sehr viel wirkungsvoller. Sie trägt ab Ende der 1970er-Jahre immer mehr dazu bei, dass die »euphemistischen Umschreibungen« weniger werden und der von Adorno diagnostizierte »Hohlraum der Rede« auf der lexikalischen Ebene mit einem Begriff wie »Holocaust« zumindest teilweise gefüllt werden kann. Für die 1950er-Jahre kann man diagnostizieren, dass Übersetzungen innerhalb des Rahmens, in dem Erinnerung an die NS-Verbrechen im deutschen Sprachraum überhaupt stattfinden konnte, grundsätzlich intensiver und weniger euphemistisch an diese Verbrechen erinnert haben, weil sie in ihren Inhalten von den deutschen Diskursen nur überformt, nicht aber durchgängig geprägt waren. »Übersetzung als Erinnerung« heißt für diese Nachkriegsphase vor allem »Übersetzung als Mahnung«, aber eben auch die Schaffung von Wissensdepots, aus denen sich die gesellschaftliche Erinnerung später bedienen konnte, bis ausführlichere, vielschichtigere, historisch genauere und zugänglichere Wissensdepots vorlagen. Diese Übersetzungsgeschichte der Erinnerung an die NS-Massenverbrechen in Deutschland ist noch weiterzuschreiben. Hier habe ich versucht, ihre An-

7. Fazit

fänge in der deutschen Publizistik darzustellen. In den 1950er-Jahren war in beiden deutschen Staaten eine Situation entstanden, in der die Übersetzung für einige AkteurInnen aus den Reihen der Opfer von NS-Verfolgung zunächst die einzige Möglichkeit war, Texte auf Deutsch zu produzieren, in denen ihre Erfahrung zumindest ansatzweise repräsentiert wurde. So gehören die Übersetzungen von Czollek und Brügel neben Büchern von Kogon und Langbein zentral zu den frühen deutschen Texten über die nationalsozialistischen Massenverbrechen, die von Opfern der NS-Verfolgung geschrieben wurden. Sie bildeten Wissensdepots, die zwar außerhalb des breiteren gesellschaftlichen Diskurses blieben, aber doch noch Jahrzehnte lang als solche Depots verfügbar waren. Und sie tasteten die deutsche Sprache auf Möglichkeiten für nicht nationalsozialistisches, nicht euphemistisches Sprechen über die deutschen Verbrechen ab, zeigten Kompatibilitäten und Irrwege auf. Im Fall des deutschen Textes der Pferdekamps schuf die Übersetzung einen Text, der es versteckt in einem konservativen generischen Format in Rezeptionsräume schaffte, in denen das Sprechen über die NS-Verbrechen noch schwieriger war als im ohnehin beschweigenden Durchschnitt. Ich wollte die Übersetzungs- und Diskursgeschichte dieser eher wenig wirksamen Texte über die NS-Verbrechen auch deshalb schreiben, weil sie nicht durch ihre diskursive Wirkung bemerkenswert wurden, sondern bereits durch ihr Zustandekommen. Dass diese Übersetzungen überhaupt entstanden, dass sie als Versuche eines Wissenstransfers überhaupt unternommen wurden, und dass sie zu kulturellen Artefakten in Deutschland wurden, macht sie zu wichtigen Texten in einem Prozess, der zu diesem Zeitpunkt gerade erst langsam entstand. Wenn wir mehr darüber wissen wollen, was im Übersetzungsprozess mit Inhalten, kulturellen und sprachlichen Formen geschieht und was Übersetzungen als autonome Texte eigentlich tun, dann müssen wir auch Übersetzungsgeschichte schreiben. Und wenn wir Erinnerungs- oder Diskursgeschichte schreiben, sollten wir übersetzte Texte auch als Übersetzungen untersuchen, sonst verstehen wir einen entscheidenden Teil ihrer Genese nicht und ignorieren, wer sie in der Form, in der wir sie rezipieren, geschrieben hat. Diese Arbeit verstehe ich als einen Anfang einer solchen Geschichtsschreibung.

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Übersetzung als Erinnerung

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Personenverzeichnis

A Adenauer, Konrad, 130, 211 Assmann, Aleida, 52, 53 B Benjamin, Walter, 20, 26–28, 63 Besson, Waldemar, 185, 189, 247 Boveri, Margret, 87–90 Brandt, Willy, 158, 227 Broszat, Martin, 161 Brügel, Johann Wolfgang, 21, 22, 55, 86, 155, 158–176, 178, 186, 188, 189, 212, 213, 215, 220–222, 227, 234, 239, 243, 245, 247 Buchheim, Hans, 141 Buden, Boris, 29, 30, 48, 50, 250 Bullock, Alan, 18, 21, 57, 65–67, 69–72, 74, 80, 82, 83, 86, 88–90, 92, 148, 194, 196, 197, 199, 200, 241, 245, 247, 248, 250 C Cesarani, David, 192, 198, 199, 201, 203, 205, 247, 250 Churchill, Winston Leonard Spencer, 66, 100, 211

Czollek, Roswitha, 21, 43, 55, 86, 107–110, 115, 116, 161, 165, 214, 232, 239, 245 Czollek, Walter, 107–109, 138, 214, 232 D Davenport-Hines, Richard, 98, 103, 247 Davie, Michael, 102, 104, 248 Derrida, Jacques, 20, 26, 33–37, 61, 202, 248 Dimitroff, Georgi, 105, 131, 132 F Fest, Joachim, 89 Flechtheim, Ossip K., 156, 159 Frank, Anne, 41 Frank, Otto, 42 Franken, 156, 179, 180, 182, 183 Franken, Paul, 156, 178, 180, 182, 213, 239 Freud, Sigmund, 48–52, 250 Frevert, Ute, 53 G Görlitz, Walter, 92, 93, 225, 250 Grossman, R.H.S., 152–154, 192, 200

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Übersetzung als Erinnerung

H Hagedorn, Hans Hermann, 107–109, 138, 139 Hagelstange, Rudolf, 183, 184, 186, 227, 248, 249 Hart, Kitty, 103 Healy, Dennis, 100–102, 104, 248 Hess, Otto H., 66, 156, 157, 159, 213, 215, 220, 227, 230, 234, 239, 248 Heuss, Theodor, 156, 162, 182, 183 Hiemer, Ernst, 114 Himmler, Heinrich, 70–72, 81, 82, 149, 174, 176, 197 Hitler, Adolf, 18, 19, 65–77, 79–82, 87, 89–93, 112, 148, 151, 154, 156, 195–198, 200, 202, 207, 209, 212, 215–217, 225–227, 234, 237, 239, 240, 245–248, 250 Höss, Rudolf, 71, 197 Hudson, G. F., 153, 248 I Illingworth, James William, 191 J Jureit, Ulrike, 55 K Knoch, Habbo, 9, 10, 14–16, 85, 223, 224, 251 Kogon, Eugen, 17, 18, 96, 243, 251 Korherr, Richard, 137, 138, 156, 172, 174–181, 223, 232, 235, 240, 246 Körner, Klaus, 156, 158, 162, 163, 173, 248

Krausnick, Helmut, 11, 96, 157, 158, 161–164, 166, 228, 246 Kushner, Tony, 193, 199–201, 203, 205, 251 L Lefevere, André, 20, 41–43, 251 Levi, Primo, 150 Lüthy, Herbert, 92, 93, 248 M Maschmann, Melita, 103, 104, 249 Mau, Hermann, 96 Müller-Marein, Josef, 88, 90, 91, 226 Mussolini, Benito, 92 N Norden, Heinz, 150 P Pearce, Andy, 193, 194, 199, 201, 203, 205, 251 Pferdekamp, Modeste und Wilhelm, 21, 56, 65, 76–78, 80, 81, 83–87, 115, 209–212, 214, 215, 217, 218, 221, 225, 239, 241, 243 Picker, Henry, 153 Poliakov, Léon, 17, 18, 103, 143, 145, 199, 215, 228, 249, 251 Prücklmayer, Peter, 185 Q Quint, Herbert, 92, 93, 225, 250

Personenverzeichnis

R Raddatz, Fritz J., 133–135, 144, 231, 232, 234, 248 Rassow, Peter, 96, 249 Regensburger, Marianne, 185, 187, 188, 227, 249 Reichel, Peter, 105, 252 Reitlinger, Gerald, 18, 21, 81, 100, 141, 145–151, 153, 155, 157, 158, 160, 162–167, 170–173, 175–182, 186, 188, 189, 198–200, 222, 224, 245, 247 Rubin, Gerry R., 99, 249 Russell, Edward F. L., 2nd Baron Russell of Liverpool, 18, 21, 43, 70, 72, 73, 81, 93, 95–106, 108–112, 114, 117–131, 133, 134, 136, 139, 141, 142, 144–146, 148, 171, 172, 185, 194, 199, 202, 205–207, 224, 229, 232, 238, 245, 247–249, 252

S Salvesen, Sylvia, 103 Seehof, Artur, 141–143 Shaw, Tony, 204 Shawcross, Hartley, 98 Simonds, Gavin Turnbull, 99, 102

T Toury, Gideon, 20, 39, 40, 43, 61, 252

V Venuti, Lawrence, 20, 26, 39, 43, 46, 116, 233, 252 von Frankenberg, Richard, 92 Z Ziegler, Leopold, 183 zur Nedden-Pferdekamp, Modeste, 76–80, 85, 209

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Geschichtswissenschaft Sebastian Haumann, Martin Knoll, Detlev Mares (eds.)

Concepts of Urban-Environmental History 2020, 294 p., pb., ill. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4375-6 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4375-0

Gertrude Cepl-Kaufmann

1919 – Zeit der Utopien Zur Topographie eines deutschen Jahrhundertjahres 2018, 382 S., Hardcover, 39 SW-Abbildungen, 35 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4654-2 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4654-6

Sebastian Barsch, Jörg van Norden (Hg.)

Historisches Lernen und Materielle Kultur Von Dingen und Objekten in der Geschichtsdidaktik 2020, 284 S., kart., 22 SW-Abbildungen, 13 Farbabbildungen 35,00 € (DE), 978-3-8376-5066-2 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5066-6

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Geschichtswissenschaft Wiebke Reinert

Applaus der Robbe Arbeit und Vergnügen im Zoo, 1850-1970 2020, 414 S., kart., 10 Farbabbildungen, 55 SW-Abbildungen 45,00 € (DE), 978-3-8376-5106-5 E-Book: PDF: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5106-9

Frank Becker, Darius Harwardt, Michael Wala (Hg.)

Die Verortung der Bundesrepublik Ideen und Symbole politischer Geographie nach 1945 2020, 278 S., kart., 17 Farbabbildungen, 18 SW-Abbildungen 35,00 € (DE), 978-3-8376-5003-7 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5003-1

Verein für kritische Geschichtsschreibung e.V. (Hg.)

WerkstattGeschichte Differenzen einschreiben 2020, 178 S., kart., 26 SW-Abbildungen 21,99 € (DE), 978-3-8376-5299-4

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