Verteidigung als Angriff: Apologie und Vindicatio als Möglichkeiten der Positionierung im gelehrten Diskurs 9783110434507, 9783110437973

The provocations for scholarly disputes during the early modern period are as diverse as their objects of contention. Ye

268 27 3MB

German Pages 306 Year 2015

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Verteidigung als Angriff: Apologie und Vindicatio als Möglichkeiten der Positionierung im gelehrten Diskurs
 9783110434507, 9783110437973

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Verteidigung als Angriff. Apologie und Vindicatio als Möglichkeiten der Positionierung im gelehrten Diskurs – zur Einleitung dieses Bandes
Infamie und historische Wahrheit. Johannes Löwenklaus Apologia pro Zosimo (1576)
Apologie der Indifferenz. Zur Adiaphorie im Streit um die ‚neuen Propheten‘
A Vindication of Apologists and Antapologists – Zur Frage, ob hier eine Gattung zu definieren ist
Wahres Wissen für die République des lettres. Gabriel Naudé als Methodologe der historischen Kritik – zur Apologie pour tous les grands personnages (1625)
„Zur Rettung derer bißher unter dem Nahmen des Unkrauts unschuldig verfolgeten Kinder Gottes“. Friedrich Brecklings Rettungen von ‚Wahrheitszeugen‘ im Kontext von Toleranzdiskurs und Ketzergeschichte
Pietas et Apologia. August Hermann Francke’s 1689 Defensions-Schrift and the attack of Pietism
Befreiung aus dem Netz der Tradition. Lessings Rettung des Hier. Cardanus zwischen Religionsphilosophie und Mikrologie
Wielands Agathodämon als Apologie des Trugs
Johann August Eberhards Neue Apologie des Sokrates
Die nicht ganz uneigennützige Rettung Schillers. Zwei Apologien Friedrich von Hardenbergs
Register

Citation preview

Verteidigung als Angriff

Frühe Neuzeit

Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt

Band 197

Verteidigung als Angriff

Apologie und Vindicatio als Möglichkeiten der Positionierung im gelehrten Diskurs Herausgegeben von Michael Multhammer

ISBN 978-3-11-043797-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-043450-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-043398-2 ISSN 0934-5531 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: TIESLED Satz Service, Köln Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

In memoriam Karl Eibl (1940–2014)

Vorwort Wer sich verteidigt, der ist angegriffen worden. Ist er mit Worten angegriffen worden, muss er sich rechtfertigen. Dann greift er zur Feder und schreibt eine Apologie. Dieser Vorgang, so einfach er erscheint, ist doch etwas komplizierter, als man erwartet. Denn in der Verteidigung wird oft sichtbar, was vorher nicht explizit war, was unausgesprochen und in seiner kontroversen Natur unthemati­ siert blieb. Sie ermuntert den Apologisten dazu, aktiv zu werden und seine pole­ mischen Kräfte anzuspannen. Sie lässt Taktiken erblühen, die vom dringlichen Appell über kühle Sachlichkeit bis zur ironischen Florettfechterei reichen. Symptomatisch wird Apologie immer dann, wenn es der Verteidiger nicht mit einem einzelnen Angreifer, sondern mit der großen Menge aufnimmt, der fama, der mentalen Gewohnheit. Zu rechtfertigen, was in der Frühen Neuzeit „paradox“ genannt wurde, nämlich das nicht der geläufigen Meinung entsprechende, war nicht jedermanns Sache, es erforderte Weitblick und Mut. In diesem Rahmen hat die Textsorte einige der schillerndsten Denkstücke der Epoche hervorge­ bracht. Girolamo Cardanos Encomium Neronis beispielsweise ist eine abgründige Ehrenrettung des römischen Kaisers, weil sie die denunziatorischen Historiker in Frage stellt, Henri Estiennes Apologia pro Herodoto und Montaignes Apologie de Raymond Sebonde schwimmen beide couragiert gegen den Strom zeitgenössi­ schen Denkens. Gabriel Naudés Apologie krempelt die Gedächtnisgeschichte des Abendlandes um und vermutet politische Abkanzelung als Zauberer dort, wo in Wirklichkeit Philosophen und Wissenschaftler unbequeme Erkenntnisse verbrei­ tet hatten. Peter Friedrich Arpes Apologia pro Vanino wagt es sogar, einen offen­ kundigen Atheisten als nicht gefährlich für die Gesellschaft zu verteidigen. Und selbst Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie kann man als eine Aneinan­ derreihung von Apologien lesen. Im frühen 18. Jahrhundert wurde das apologetische Unternehmen zuweilen geradezu enzyklopädisch. So unternahm es der Züricher Theologe Johann Jakob Zimmermann in den 1720er- und 30er-Jahren alle gelehrten Männer, die seiner Ansicht nach über die Jahrhunderte hin zu Unrecht des Atheismus beschuldigt worden waren, zu vindizieren. Doch er blieb schließlich in Tausenden von Seiten Apologie stecken. Veröffentlicht wurde nichts davon. Als Lessing wenig später seine Rettungen verfasste, war er klüger und wählte bezeichnende Fälle aus, um an ihnen die Macht des „Paradoxen“ zu demonstrieren. Nimmt man den bunten Strauß von frühneuzeitlich Apologien, Rettungen und „Vindicationes“, wie er in diesem Band aufgeblättert wird, als Symptom und Spiegel der Epoche, dann lassen sich Ursachen erkennen. Das 16., 17. und 18. Jahrhundert sind eine Zeit der konkurrierenden Weltsichten und Wahrheits­ ansprüche. Nicht nur konfessionelle Differenzen prallten aufeinander, sondern

VIII 

 Vorwort

auch Antike und Neuzeit, Alte und Neue Welt, Wissenschaft und Aberglaube, Orthodoxie und Freigeistigkeit. Ist die Zunahme an Apologien an sich schon ein Reflex solcher frühneuzeitlicher Pluralisierung – aus dem einfachen Grunde, dass dort, wo eine Vielzahl von Wahrheitsansprüchen unvermittelt nebenein­ ander steht, auch Angriffe und Verteidigungen gewechselt werden – so ist das Auftreten der Apologien gegen die geläufige Meinung mehr. Sie ist ein Spiegel der sich entwickelnden kritischen Distanz zur Tradition und damit ein Charakteristi­ kum entstehender Modernität. Der vorliegende Band entstand aus einer Tagung am Forschungszentrum Gotha, dem ich vorstehe und das sich die Erforschung des heterodoxen „Unter­ grundes“ auf die Fahnen geschrieben hat, aus dem manche „vindicationes“ hervorgegangen sind. Er entstand aber auch in Kooperation mit der DFG-Kolleg­ forschergruppe Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive, in der ich zusammen mit Jörg Rüpke als Sprecher fungiere und die die Drucklegung des Buches finanziell unterstützt hat. Der Zusammenhang liegt auf der Hand: Die Vielzahl von Rechtfertigungsschriften spiegelt nicht zuletzt eine gewisse reli­giöse und weltanschauliche Individualisierung wider, die sich in der pluralisierten Welt entwickelt hat. Der sich seiner selbst bewusst gewordene Einzelne nimmt es mit den Ansichten der anderen auf. Er wird angegriffen, doch er schießt zurück und erschließt sich dabei eine neue Explizitheit seiner Weltsicht.

Martin Mulsow

Inhalt Martin Mulsow Vorwort  VII Michael Multhammer Verteidigung als Angriff Apologie und Vindicatio als Möglichkeiten der Positionierung im gelehrten Diskurs – zur Einleitung dieses Bandes   1 Asaph Ben-Tov Infamie und historische Wahrheit Johannes Löwenklaus Apologia pro Zosimo [1576]  Anika Höppner Apologie der Indifferenz Zur Adiaphorie im Streit um die ‚neuen Propheten‘  Olaf Simons A Vindication of Apologists and Antapologists – Zur Frage, ob hier eine Gattung zu definieren ist 

 9

 27

 51

Herbert Jaumann Wahres Wissen für die République des lettres Gabriel Naudé als Methodologe der historischen Kritik – zur Apologie pour tous les grands personnages (1625)  

 75

Guido Naschert „Zur Rettung derer bißher unter dem Nahmen des Vnkrauts unschüldig verfolgeten Kinder Gottes“ Friedrich Brecklings Projekt einer Verzeichnung von ‚Wahrheitszeugen‘ im Kontext von Toleranzdiskurs und Ketzergeschichte    95

X 

 Inhalt

Peter J. Yoder Pietas et Apologia August Hermann Franckes 1689 Defensions-Schrift and the attack of Pietism    121 Eric Achermann Befreiung aus dem Netz der Tradition Lessings Rettung des Hier. Cardanus zwischen Religionsphilosophie und Mikrologie   145 Marco Bunge-Wiechers Wielands Agathodämon als Apologie des Trugs 

 201

Andrew McKenzie-McHarg Johann August Eberhards Neue Apologie des Sokrates  Michael Multhammer Die nicht ganz uneigennützige Rettung Schillers Zwei Apologien Friedrich von Hardenbergs   263 Register  

 293

 229

Michael Multhammer

Verteidigung als Angriff Apologie und Vindicatio als Möglichkeiten der Positionierung im gelehrten Diskurs – zur Einleitung dieses Bandes Der vorliegende Band stellt den Versuch dar, eine Gruppe von bisher wenig beachteten Texten, die sogenannten Apologien und Rettungen (lat. vindicationes), in ihrer Verbreitung, Funktion und Reichweite näher zu untersuchen. Die exemplarischen Analysen an Einzeltexten versuchen dabei die Spezifika der Textsorte in ihrer jeweiligen Ausprägung zu bestimmen. Seit geraumer Zeit ver­ größert sich das Spektrum der Gattungen, die die Literaturwissenschaft in syste­ matischer Weise in den Blick nimmt. Gerade die Frühe Neuzeit verfügt über einen enormen Reichtum an Formen und Möglichkeiten des schriftlichen Ausdrucks und damit einhergehend einer institutionalisierten Art und Weise der Positionie­ rung im gelehrten Diskurs. Die akademische Dissertation und Disputation etwa folgen ritualisierten Regeln, die sich auch auf das gedruckte Werk auswirken.1 Ein eigenes Feld der Gelegenheitsschriften und Kompilationen, die Buntschriftstelle­ rei, Florilegien und die Noctes-Literatur folgen alle eigenen Formvorgaben, ohne dass diese einer ausbuchstabierten Poetik bedürfen. Sie basieren ebenso wenig auf präskriptiven Poetiken wie die Apologien und Rettungen. Die Herausforderung besteht gerade darin, die Texte als eine Gruppe zu begreifen und die sie einenden Eigenschaften herauszustellen, ohne im gleichen Atemzug eine festgefügte Gattung zu postulieren, die es als solche historisch viel­ leicht gar nicht gab. Eine adäquate Annäherung kann demnach nur schrittweise erfolgen: Es gilt die Kontexte und Textstrategien zu erarbeiten, um das Profil der Verteidigungsschriften schärfen zu können.

1 Dissens und Wahrheit Seit einigen Jahren rückt die Erforschung der Streitkulturen in der europäischen Gelehrtenrepublik deutlicher in den Blick unterschiedlicher Disziplinen. Die

1  Siehe hierzu jetzt ausführlich Anita Traninger: Disputation, Deklamation, Dialog. Medien und Gattungen europäischer Wissensverhandlungen zwischen Scholastik und Humanismus. Stutt­ gart 2012 (= Habil.-Schrift: Freie Universität Berlin 2010).

2 

 Michael Multhammer

frühneuzeitliche Gemeinschaft der Gelehrten war im Selbstanspruch ein elitärer, aber auch egalitärer Zusammenschluss, der sich einzig der Wahrheit verpflichtet sah. In der Anmerkung „D“ des Artikel Catius bemerkt Pierre Bayle in seinem Dictionaire historique et critique dazu: Diese Republik ist ein ungemein freier Staat. Man erkennt in ihr nur die Herrschaft der Wahrheit und der Vernunft an, und unter deren Schutz führt man auf unschuldige Weise Krieg gegen wen auch immer. In ihm müssen Freunde vor ihren Freunden, Väter vor ihren Kindern und Schwiegerväter vor ihren Schwiegersöhnen auf der Hut sein; […]. Jeder ist zugleich Herrscher und der Gerichtsbarkeit eines jeden unterworfen. […] In dieser Hinsicht hat jede Privatperson das Recht des Schwertes und kann es ausüben, ohne die Herrschen­ den um Erlaubnis zu bitten. Es ist sehr leicht zu begreifen, warum die höchste Gewalt jeder­ mann das Recht belassen mußte, gegen Autoren zu schreiben, die sich täuschen, aber nicht das Recht Satiren zu veröffentlichen. Denn Satiren zielen darauf ab, einem Menschen seine Ehre zu nehmen, was eine Art bürgerlicher Totschlag ist und folglich eine Strafe, die nur vom Herrscher auferlegt werden darf; aber die Kritik eines Buches beabsichtigt lediglich zu zeigen, daß einem Verfasser ein bestimmter Grad an Einsicht fehlt. […] Solche Kritiker haben nichts mit den Verfassern von Schmähschriften gemeinsam; sie tragen nichts ohne Beweis vor, sie treten als Zeuge und als Ankläger auf und unterliegen der Strafe der Wieder­ vergeltung; sie gehen das gleiche Risiko ein, dem sie andere aussetzen. Aber ein Pasquillant versteckt sich, damit er nicht verpflichtet ist, Beweise für das anzuführen, was er veröffent­ licht, und damit er Übles anrichten kann, ohne sich dafür verantworten zu müssen.2

Zwei Themenfelder dominieren hier in der Darstellung Bayles: zum einen das des Krieges,3 zum anderen das der Gerichtsbarkeit. Zwischen diesen beiden Polen, dem offenen Kampf gegeneinander und dessen gleichzeitiger Regulierung durch bestimmte Gesetze, denen sich die Beteiligten freiwillig zu unterwerfen haben, bewegt sich der Prozess der Wahrheitsfindung in der Gelehrtenrepu­blik. Dass diese Darstellung weniger die Praxis beschreibt, als ein Ideal derselben, versteht sich. Mit der geforderten Härte der Kritik ging nicht immer auch die erwünschte Höflichkeit in der Suche nach Wahrheit einher.4 Konflikte brachen aller Orten auf – Kritik kann eben oft verletzend sein. „Die Gabe sich widerspre­ chen zu lassen, ist wohl überhaupt eine Gabe, die unter den Gelehrten nur die

2  Pierre Bayle: Historisches und kritisches Wörterbuch. Hg. v. Günter Gawlik und Lothar Krei­ mendahl. Bd. 1. Hamburg 2003, S. 21 f. [Reprint basierend auf der 8. Aufl. Amsterdam u. a. 1740]. 3  Marian Füssel: Die Gelehrtenrepublik im Kriegszustand. Zur bellizitären Metaphorik von ge­ lehrten Streitkulturen der Frühen Neuzeit. In: Kai Bremer/Carlos Spoerhase (Hg.): Gelehrte Pole­ mik: Intellektuelle Konfliktverschärfungen um 1700. Frankfurt a. M. 2011, S. 158–175. 4  Siehe hierzu exemplarisch Anne Goldgar: Impolite Learning: Conduct and Community in the Republic of Letters, 1680–1750. New Haven (CT)/London 1995.



Verteidigung als Angriff 

 3

Toten haben“, bemerkt Lessing in seinen Rettungen des Horaz.5 Diese Span­ nung zwischen Widerspruch, Verteidigung und Legitimierung der eigenen (oder einer fremden) Position als vernünftig und wahr kann man in hervorstechender Weise an den Apologien und Rettungen beobachten. In ihnen kann der ‚Schlag­ abtausch‘ in methodisch angeleiteter Art stattfinden. Es gilt demnach Formvor­ gaben zu erfüllen und sich nach ihnen zu richten. Schlägt man in Zedlers Universallexicon den Begriff Widerlegungsmethode nach, wird man auf das Lemma Methodus polemica verwiesen. Dort steht zu lesen: Methodus polemica […] ist der Vortrag einer Wahrheit, da dieselbe wider ihre Feinde gerettet wird. Solchemnach erfordert dieselbe, daß 1) die Feinde namhaft gemacht werden, 2) ihre Argumente aus richtigen Quellen aufrichtig angeführet, derselben anscheinende Kraft entdecket und auf das höchste getrieben werden; endlich aber 3) dieselben mit tüchtigen Gründen widerleget werden. Dabey aber hat man mit allem Fleisse dahin zu sehen, daß man nicht den Zanck-Geist herrschen, und ihm die Direction der Feder überlasse: gleichwie man auch dahin zu sehen hat, daß man nicht mit den Personen, sondern mit denen Sachen selbst zu thun habe.6

Diese Form des Kampfes, der Rechtfertigung einer ‚umstrittenen Wahrheit‘ deckt sich mit den Forderungen Pierre Bayles. Die ‚methodus polemica‘ ist gleichsam die Anleitung zum Streit in der Gelehrtenrepublik. Wohl nicht von Ungefähr bemüht der Autor des Artikels die Tätigkeit des ‚Rettens‘ einer Wahrheit. Er ver­ weist damit auf die Textsorte der Vindicatio, die ursprünglich dem juristischen Bereich entstammt und die Klage auf die Herausgabe eines Eigentums bezeich­ nete.7 Allein hier geht es nun nicht länger um materielle Güter, die eingeklagt werden sollen, sondern um das Eigentum an der Wahrheit. Wer hat rechtmäßigen Anspruch, im Besitz der Wahrheit zu sein? Wir befinden uns mit dieser Textsorte in einem weiten Feld frühneuzeitlicher Streitkulturen, deren Ausdifferenzierung breit gefächert ist,8 der Plural – Streitkulturen – ist dabei historisches Programm, dem es auch in der Analyse gilt, Rechnung zu tragen. Eine einzige Streitkultur anzunehmen wäre ebenso falsch wie von nur einer Öffentlichkeit auszugehen.

5  Gotthold Ephraim Lessing: Rettungen des Horaz. In: Ders.: Werke und Briefe. 12 Bde. Hg. v. Wilfried Barner u. a. Frankfurt a. M. 1985–2003, hier Bd. 3, S. 158–197, Zitat S. 158. 6  [Art.] „Widerlegungsmethode“. In: Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universal­ lexicon aller Wissenschaften und Künste. 64 u. 4 Bde. Leipzig 1731–1754, hier Bd. 20, Sp. 1337 (Hervorh. d. Verf.). 7  Zur Begriffsgeschichte siehe Michael Multhammer: Lessings Rettungen. Geschichte und Gene­ se eines Denkstils. Berlin/Boston 2013, S. 58–62. 8  Siehe hierzu beispielsweise Henning P. Jürgens/Thomas Weller (Hg.): Streitkultur und Öffent­ lichkeit im konfessionellen Zeitalter. Göttingen 2013.

4 

 Michael Multhammer

In gelehrten Auseinandersetzungen kommen die Parteien nicht umhin, Standpunkt zu beziehen. Weltanschauungen spielen ebenso eine Rolle wie der Fortgang des ‚Prozesses‘ und die je eigene Dynamik, der Streit unterliegen kann. Von der sachlichen Auseinandersetzung bis hin zu polemischen Ausfällen, ja gar Beleidigungen oder Angriffen auf die Ehre des Opponenten kann die Spann­ weite reichen. Diese jeweiligen Determinanten des Streites nicht aus den Augen zu verlieren ist für das Verständnis essentiell. Erst vor dem Hintergrund eines breiten Kontextes – ideengeschichtlich ebenso wie in der konkreten historischen Situation – gewinnen die Texte ihre genuine Bedeutung. Wer argumentiert gegen wen? Gibt es überhaupt einen status controversiae, auf den sich die Streitenden einigen können oder reden sie vielmehr aneinander vorbei? Ist Konsens möglich oder wird er überhaupt angestrebt? Und vielleicht eine der wichtigsten Fragen, gerade im Hinblick auf die Spielregeln der Gelehrtenrepublik: geht es überhaupt um Wahrheitsfindung in der Sache oder im Gegenteil um Macht? Alle diese Fragen schwingen mit, wenn Gelehrte ihre Position in Verteidigungs­schriften beziehen. Denn es ist durchaus möglich, dass Verteidigungsschriften entstehen, deren Anlass gerade kein vorausgehender, expliziter Angriff ist. Der Dissens wird dergestalt erst in der Verteidigung eindeutig greifbar. Wahrheiten, die auf einem breiten Konsens beruhen, können so erstmals unter Legitimationsdruck geraten. Dies gilt insbesondere für den großen und immer umstrittenen Bereich der Vorur­ teile und deren Kritik. Als Vorurteil gilt ja gerade das, was ohne vorangegangene, kritische Prüfung als Wahrheit angenommen wird und unter den gegebenen Bedingungen als solche firmiert.9 Die Verteidigungsschriften bergen die Möglich­ keit der Vorurteilskritik in sich. Indem scheinbar überkommene, aber an und für sich vernünftige Positionen, die bisher marginalisiert oder gar verdammt waren, eine Rettung provozieren, kann eine neue Dynamik im gelehrten Feld entstehen. Unhinterfragte Wahrheiten können sich als Vor-Urteile entpuppen, die einer Revision bedürfen. Rettungen und Apologien vermögen diese Operation in her­ ausragender Weise zu leisten, gerade weil sie zahlreiche Möglichkeiten der Rela­ tivierung und Abstufung der Wahrheit in Szene setzen können. Am deutlichsten tritt diese Funktion zu Tage, wenn Wahrheiten in einzelne Teilwahrheiten auf­ gesplittet werden, d. h. in einem ersten Schritt die Komplexität des zur Debatte stehenden Gegenstandes erhöht wird. Hieran knüpfen sich nun neue Kontexte an, die das Bild und damit auch die Sachlage neu perspektivieren können.

9  Rainer Godel: Vorurteil – Anthropologie – Literatur. Der Vorurteilsdiskurs als Modus der Selbstaufklärung im 18. Jahrhundert. Tübingen 2007. Zu Begriff und Diskurs siehe insbes. S. 1–40.



Verteidigung als Angriff 

 5

2 Personenbezogene Apologien Gegenstand einer Verteidigung kann zunächst einmal jedwede zuvor geäußerte oder existierende Position im gelehrten Diskurs sein. Man könnte sich mit Recht in erster Instanz sogar fragen, ob ‚verteidigen‘ nicht mehr ist als eine quasi-logi­ sche Operation wie etwa die Verneinung. Blickt man allerdings auf das konkrete historische Material, also die einzelnen Texte, so ergibt sich doch ein Bild, das von deutlich mehr Vorannahmen gekennzeichnet ist. Alle Apologien und Ret­ tungen folgen in ihrem Aufbau – in unterschiedlicher Ausprägung – dem Modell eines Gerichtsprozesses. Diese Anleihen aus der Sphäre des Rechts sind nicht nur additiv, sondern konstitutiv für die hier zu besprechenden Texte. Die Inszenie­ rung einer Prozesslogik zeitigt Folgen für die Argumentationsstrategien, die sich besonders deutlich dort zeigen, wo Personen und die ihnen eigenen Meinungen verhandelt werden. Denn werden diese zum Kristallisationspunkt der Streitigkei­ ten, ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten der Verteidigung. Aus rhetorischen Traditionen allein lässt sich die Textgestalt weder begründen noch darüber hinaus erklären. Basis aller dieser Zugänge ist die Trennung der moralischen Inte­ grität der Person von den Meinungen und Positionen, die diese Person vertritt. Diese Herangehensweise eröffnet eine Vielzahl an Möglichkeiten der Vertei­ digung. Denkbar ist die dezidierte Ablehnung einer bestimmten, als unhaltbar angesehenen Position, die aber keinerlei Auswirkung auf die Einstufung der moralischen Qualität der Person zulässt. Lebenswandel und Lehrmeinung sind unter Umständen durchaus zu unterscheiden. Der Zweck dieser Unterscheidung erschließt sich in seiner ganzen Tragweite erst, wenn man die Motivation des Ver­ teidigenden – gerade wenn dieser nicht mit dem Beschuldigten identisch ist – mit in Anschlag bringt. So finden sich ebenfalls Spielarten, die die moralische Ver­ urteilung der inkriminierten Person zwar für gerechtfertigt halten, allein den Gehalt der Überlegungen nicht in Bausch und Bogen verwerfen wollen. Ferner ist denkbar, Dritte zum Vehikel der eigenen Positionen zu machen und diese zu instrumentalisieren oder aber umgekehrt die eigenen, nicht von vornherein mehrheitsfähigen Überzeugungen einer dritten (vielleicht schon verstorbenen) Person unterzuschieben – sei es direkt oder durch eine tendenziöse Lesart von deren Werken respektive Schriften. Verteidigungsschriften sind, und das ist eine einfache aber keineswegs triviale Beobachtung, immer anlassbezogen und interessegeleitet. Diesen beiden Parame­ tern gilt es in der Analyse Rechnung zu tragen, d. h. danach zu fragen, wie sich der unmittelbare historische Kontext darstellt (sofern er sich rekonstruieren lässt) und daran anschließend, welche Ziele mit der Verteidigung verfolgt wurden. Erst vor diesem Hintergrund entwickeln die Verteidigungs­schriften ihr volles Potential

6 

 Michael Multhammer

als genuine Möglichkeit der Einflussnahme auf Meinungsbildungsprozesse in der Gelehrtenrepublik. Unterstellte man ein rein altruistisches Interesse der Verfas­ ser – verfemte oder zu Unrecht Beschuldigte von falschen Vorwürfen reinzuwa­ schen – so griffe das eindeutig zu kurz. Auch wenn diese Art der Verteidigung nicht ausgeschlossen werden soll, als Motiv immer auch mitschwingen kann, so zeigt sich doch, dass dies eher die Ausnahme, denn die Regel darstellt. Verschiedene Abläufe eines Streites im Meinungsbildungsprozess sind denk­ bar, die jeweilige Positionierung einer Verteidigungsschrift unter strategischen Gesichtspunkten dabei bedenkenswert. Die einfachste und erwartbare Variante stellt dabei die Antwort auf eine zuvor erhobene Beschuldigung dar, die dieser begegnet und sie zu entkräften bzw. zu widerlegen versucht. Eine vorangegan­ gene Attacke ist aber keineswegs unerlässlich, so kann eine Verteidigung einer Position auch unmittelbar erfolgen und damit eine Kontroverse zu aller erst eröff­ nen. In diesem Falle könnte man von einer Zumutung für das gelehrte Publikum sprechen, die eine bisher nicht in Frage gestellte Position verwirft, um für eine bereits unterlegene Meinung Partei zu ergreifen. Dergestalt initiiert die Verteidi­ gung eine hoffentlich daraus resultierende Auseinandersetzung. Sie wäre dem Titel des Bandes entsprechend eine Verteidigung als Angriff auf bestehende Mei­ nungen. Verteidigungsschriften sind ferner nicht notwendig auf bipolare Streit­ konstellationen eingeschränkt. Als Replik auf einen Streit kann ein Dritter sich parteiergreifend zu Wort melden, oder aber ganz alternative Lösungen des zur Diskussion stehenden Fragekomplexes anbieten oder auch aufdrängen. Das gilt für zeitgenössische Kontroversen ebenso wie für bereits vergangene. In histori­ scher Perspektive lassen sich Korrekturen anbringen, ein bereits geführter Streit kann wieder aufgegriffen werden und unter der Berücksichtigung mittlerweile gewonnener Erkenntnisse neu konturiert und akzentuiert werden. Die Korrektur von in der Geschichtsschreibung tradierten Irrtümern und Vorurteilen fällt in den Kernbereich aufklärerischer Tätigkeit. Die dabei vorherrschende Form der Kritik findet in der Apologie und Vindicatio Gestaltungsmöglichkeiten, die ihre Zwecke unterstützen: die Inszenierung eines Gerichtsprozesse, bei dem die Vernunft den Vorsitz innehat, eignet sich vortrefflich für das Geschäft der Kritik. Werden nicht nur divergente Positionen verhandelt, sondern werden überdies die Personen selbst in den Prozess involviert, entsteht eine Dynamik, die einer rein ‚sachlichen‘ Diskussion nicht zu eigen ist. Dynamik lässt sich aber auch beobachten, wenn es in einem gelehrten Streit zu einem regelrechten Schlagabtausch kommt, wenn also Verteidigungen in schneller Folge unter Bezugnahme auf die vorangegan­ genen Publikationen erscheinen.10 Hier gilt es erneut die Kontextualisierung der

10  Siehe hierzu insbes. den Beitrag von Olaf Simons in diesem Band, S. 51–74.



Verteidigung als Angriff 

 7

Schriften näher in den Blick zu nehmen. Gerade wenn sich die publizistische Fre­ quenz in gelehrten Streitigkeiten erhöht ist nach den Bedingungen dieser Mög­ lichkeit zu fragen. Wem nützt der Streit außer einer der Wahrheit verpflichteten Gelehrtenrepublik? Neben dem Eigeninteresse der Protagonisten sind auch Inte­ ressen von Verlegern zu bedenken: Sie können an den Publikationen verdienen. Gibt es eine interessierte Öffentlichkeit? Spielen kirchenpolitische Aspekte eine Rolle – wird von den zuständigen Obrigkeiten wie im Falle von Lessings Ausein­ andersetzung mit Johann Melchior Goeze im Fragmentenstreit interveniert oder gar mit Zensur gedroht? Im gleichen Moment gilt es daher nach dem Abbruch des Streites zu fragen, der nicht nur inhaltliche Aspekte haben kann, sondern eben auch ökonomische oder ganz und gar profane wie etwa den Zugang zu Drucke­ reien oder die enge Zusammenarbeit mit Zeitschriftenherausgebern. Interne und externe Motivationen für die Aufrechterhaltung oder das Ende eines Streites sind gleichermaßen zu berücksichtigen. Verteidigungsschriften, das bleibt festzuhal­ ten, können an verschiedenen Stellen eines Disputes als Möglichkeit zur Wahl stehen; die Analyse ihrer jeweiligen Funktion im Gesamtzusammenhang ermög­ licht zuerst die Bestimmung ihres Gehalts.‘

3 Gattung oder Methode? Eine Frage des Erkenntnis­interesses Ob die hier in diesem Band besprochenen Texte tatsächlich eine Einheit im Sinne einer feststehenden Gattung bilden, mag man mit durchaus guten Gründen bezweifeln. Die historische Diversität der Texte könnte man ebenso in Anschlag bringen wie die unterschiedlichen Modi der Präsentation: Traktatähnliche Schrif­ ten stehen neben Einleitungen zu Werkausgaben, Briefen und schöner Literatur selbst. Die Unterschiede scheinen die Gemeinsamkeiten zu überwiegen. Dennoch: nimmt man diese Zusammenstellung der Texte aus heuristischen Gründen unter gemeinsamen gattungsgeschichtlichen Aspekten an, ergeben sich Aufschlüsse für Phänomene frühneuzeitlicher Streitkultur, die ansonsten unsichtbar blieben. Die Frage, ob eine Gattung präskriptiv verfasst ist und sich eindeutige, ja, notwen­ dige Merkmale für eine literaturwissenschaftliche Einordnung finden lassen, steht demgegenüber hintan. Sie widerspräche nachgerade der Literaturauffassung in der Frühen Neuzeit, die wesentlich stärker Anlässen als Poetiken verpflichtet ist. Diversität in den Erscheinungsformen ist hier kein zu tadelnder Mangel, sondern bietet die Chance, argumentativen und polemischen Überzeugungsstrategien in der historischen Pluralität ihrer Manifestationen nachzugehen.

8 

 Michael Multhammer

Es handelt sich demnach primär um die Frage, auf welcher Ebene das Erkenntnisinteresse angesiedelt ist. Der Versuch im historischen Rückblick – ex post – eine einheitliche Gattung mit distinkten Parametern zu definieren, dürfte wohl zum Scheitern verurteilt sein.11 Versucht man hingegen komplexen geis­ tesgeschichtlichen Entwicklungen auf die Spur zu kommen, erweist sich dieser Ansatz – und damit auch die Zusammenstellung der Texte – als äußerst frucht­ bar.12 Denn eines wird unmittelbar ersichtlich: weltanschauliche Einengungen, wie sie zu vermuten wären, finden sich gerade nicht. Würde man die Apologie in ihrer frühneuzeitlichen Spielart allein auf Apologetik reduzieren, sieht man sich getäuscht. Zwar findet sich ein großer Teil der Apologien im Feld apologeti­ schen Schrifttums, allen voran des Protestantismus, eine strikte Beschränkung auf die Verteidigung von Glaubensfragen ginge indes fehl. Die Bandbreite ist deutlich größer und sogar konkurrierende Weltanschauungen bedienen sich der gleichen Form gelehrter Argumentation und Verteidigung. So stehen Verteidi­ gungen des lutherischen Glaubens pietistische Rechtfertigungsschriften gegen­ über, Deisten werden ebenso gerettet wie Personen, die des Atheismus bezichtigt wurden, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Dass diese Verteidigungen selbst wiederum darauf angelegt sind, oder dass die Autoren zumindest damit rechnen mussten, Widerspruch zu erzeugen, versteht sich. Am interessantesten sind die Verteidigungsschriften allerdings dort, wo sie über topische Argumenta­ tionsmuster hinausreichen und Neuland betreten wird. Hier kommen bisweilen erstaunliche Meinungsäußerungen zu Stande, die eine klassisch verfahrende, am Höhenkamm orientierte Ideengeschichte zumeist ausblendet. Es sind die feinen Filiationen in der gelehrten Auseinandersetzung, die diese Art von Schrifttum an die Oberfläche spülen kann. Indem hier nicht selten direkte Konfrontationen zwi­ schen zwei Parteien oder Personen ausgetragen werden, reichen stereotype und vielfach in Abhandlungen erprobte Argumente oftmals nicht aus, den entschei­ denden Stich zu setzen. Originalität wird somit zu einem entscheidenden Vorteil für den Kombattanten – und aus der Perspektive der Forschung eröffnet sich eine tieferliegende Ebene frühneuzeitlicher Zeugnisse, deren Entdeckung lohnt. Erst wenn der Kontext gelehrten Streitschrifttums den gleichen Stellenwert erhält wie die Schrift selbst, gibt sich diese Dimension zu erkennen.

11  Siehe hierzu auch Multhammer: Lessings Rettungen. (Anm. 7), S. 122–131. 12  Der Artikel Apologie im Historischen Wörterbuch der Rhetorik verfährt ebenfalls nach dieser Maßgabe. Siehe hierzu Eric Hilgendorf: [Art.] „Apologie“. In: Historisches Wörterbuch der Rheto­ rik. Hg. v. Gert Ueding u. a. 10 Bde. Tübingen 1992 ff., hier Bd. 1, Sp. 809–823.

Asaph Ben-Tov

Infamie und historische Wahrheit Johannes Löwenklaus Apologia pro Zosimo (1576) Das Heidentum der alten Griechen und Römer war im 16. Jahrhundert kein Geheimnis und in der Regel kein Gegenstand einer Apologie. Es stellte längst keine Bedrohung dar, und sogar die beliebte Frage, ob gerechte Heiden, wie Sok­ rates oder Cicero, in den Himmel gelangten, scheint im Laufe des 16. Jahrhunderts an Interesse verloren zu haben. Sie bedurften keiner Apologie, und kaum jemand kümmerte sich um ihre Rettung. Homer, so konnte der Wittenberger Reforma­ tor Philipp Melanchthon (1497–1560) erklären, sei ein großer Dichter gewesen, in dessen Werk sich das Naturgesetz (lex naturae) widerspiegele und der eine edle Sittenlehre ausspreche.1 Sein Werk, so in Melanchthons Universalgeschichte, beweise eine kulturelle Blüte unter den Griechen jener Zeiten.2 Der verehrte Dichter war nichtsdestoweniger ein Heide. Dies war für den lutherischen Erzie­ her schlicht und einfach eine Tatsache, die zu akzeptieren war.3 Ein ähnliches Desinteresse für antiheidnische Polemik ist in zahlreichen Schriften des Jahr­ hunderts zu finden. Ähnliches gilt unter protestantischen Gelehrten auch für die alte christliche Neigung, in heidnischen Werken eine in Allegorien verschlüsselte christliche Botschaft zu entdecken. So verlor die berühmte Geburt des Kindes in Vergils vierter Ekloge als eine heidnische Ankündigung der Geburt Christi in vielen Kreisen ihre Seriosität. Auch die Behauptung, antike Dichter wie Homer oder Hesiod schulden ihre sittlichen Erkenntnisse alttestamentlichen Zeitgenos­ sen, wie vermeintlich Homer dem Propheten Jesaja, wurde von Melanchthon und anderen als lächerlich verurteilt.4 Heidnische Dichter wie Pindar oder Theognis sollte man in ihrem antiken heidnischen Kontext akzeptieren. Damit zeigte sich keine Toleranz oder bewusste Relativierung des Wahrheitsanspruchs der christ­ lichen Religion (in ihrer zunehmend konfessionalisierten Prägung), sondern die Anerkennung, dass die moralische Lehre, das weltliche Wissen und die litera­

1  Philipp Melanchthon: Praefatio in Homerum [1538]. In: Philippi Melanthonis Opera quae supersunt omnia: Corpus Reformatorum. Hg. v. Karl G. Bretschneider (Bd. 1–14) u. Heinrich E. Bindseil (Bd. 15–28). Halle 1843–1860, Bd. 11, S. 397–413. Im Folgenden verweist die Sigle „CR“ und der Bandangabe in arabischen Ziffern auf diese Ausgabe. 2  Philipp Melanchthon: Chronicon Carionis [1558/1560]. In: CR 12, S. 712–1094, hier S. 771. 3  Melanchthon: Praefatio in Homerum (Anm. 1), S. 409. 4  Siehe z. B. Melanchthon: Explicatio sententiarum Theognidis [1551, postum gedr. 1560]. In: CR 19, S. 53–178, hier 58 f.

10 

 Asaph Ben-Tov

rischen Errungenschaften der antiken Heiden ihren eigenen Wert und Würde haben. Sie brauchten keine verschlüsselte christliche Botschaft zu enthalten, um lesenswert zu sein. Heidnische Autoren vor Christus und in der Regel auch heidnische Zeitge­ nossen der frühen Kirche bedurften keiner Apologie – dies galt auch für ‚harm­ lose‘ heidnische Werke der ersten Jahrzehnte nach Christus, deren Verfasser eine negative Haltung zum Christentum hatten oder sogar selbst an Christenverfolgung teilnahmen wie Plinius d. J., der als Statthalter in Bithynien für die Verhöre von Christen zuständig war5 und dessen berühmte Briefe sich nichtsdestoweniger einer breiten Leserschaft erfreuen durften. Diese relative Toleranz galt weniger für antichristliche Apologeten der Antike. Im Gegensatz zu Homer oder Cicero war die Veröffentlichung christenfeindlicher „Lästerer“ der Antike keine kulturelle Selbst­ verständlichkeit. Wenn ein solcher, wie Zosimos, doch der gelehrten Öffentlichkeit begegnen sollte, bedurfte er, oder vielmehr sein Herausgeber, einer Apologie.

1 Zosimos – ein christenfeindlicher Historiker der Spätantike Zosimos, ein Rechtsanwalt und hoher Beamter im oströmischen Reich der Spä­ tantike, der am Anfang des 6. Jahrhunderts seine Geschichte verfasste, warf ein Problem für christliche Leser auf.6 Die Tatsache, dass er ein dedizierter und kon­ servativer Heide war, war seinen zeitgenössischen und späteren byzantinischen Lesern als solches lästig. Das Unmögliche, das seine postume Infamie verur­ sachte, lag in der interpretativen Ansicht seines historischen Werkes, der Ίστορία Νέα („Neue Geschichte“ oder „Zeitgenössische Geschichte“), einer Geschichte des römischen Reiches in sechs Büchern, in denen nach einem kursorischen Abriss der Ereignisse in den ersten drei Jahrhunderten des Kaisertums die römi­ sche Geschichte ab Konstantin dem Großen bis zum Niedergang Westroms im Jahre 410 detailliert erzählt wird.7

5  Plinius: Ep. 10, 96. 6  Über Zosimos’ Leben sind kaum Angaben erhalten. Über sein Werk siehe François Paschoud: [Art.] „Zosimos“. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. 2. Reihe. Stuttgart 1972, Bd. 10, S. 795–841, sowie John Liebeschuetz: Pagan Historiography and the Decli­ ne of the Empire. In: Greek and Roman Historiography in Late Antiquity. Fourth to Sixth Century A. D. Hg. v. Gabriele Marasco. Leiden 2003, S. 177–218, hier S. 206–217. 7  Die Neue Geschichte, in ihrer uns bekannten Überlieferung, endet abrupt mit einigen Ereignis­ sen des Jahres 410, aber vor der Plünderung Roms durch Alarich.



Infamie und historische Wahrheit 

 11

Zwölf Jahrhunderte vor Edward Gibbon verstand Zosimos es als seine Aufgabe als Historiker, die düstere Geschichte von Roms Untergang zu erzählen. Obwohl er sein Leben in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts und am Anfang des 6. Jahr­ hunderts im oströmischen Reich verbrachte − wahrscheinlich in Konstantinopel − und von den meisten Umbrüchen seiner Zeit verschont blieb, sah der spätantike Heide in der relativen Sicherheit des Neuen Roms keine Fortsetzung der römischen Geschichte. Wie Zosimos im ersten Buch seines Werkes erklärt, versteht er sein Werk als trauriges Pendant zu Polybios, der im 2. Jahrhundert v. Chr. den Aufstieg Roms zur Weltmacht zu dokumentieren und erklären versuchte: „Denn wie Poly­ bios den raschen Erwerb des Weltreiches durch die Römer beschrieb, so gehe ich nunmehr daran, von seinem Untergang zu berichten, der sich in kurzer Zeit vollzog und an dem ihre Freveltaten schuld sind.“8 Keime des Untergangs sieht Zosimos bereits in den Bürgerkriegen und dem Fall der Republik im 1. Jahrhundert v. Chr.,9 die unmittelbare Ursache des Verfalls jedoch erkennt er drei Jahrhunderte später in dem ersten christlichen Kaiser, Konstantin. Ein Jahrhundert nach Augustins vehe­ menter Verteidigung des Christentums gegen heidnische Beschuldigungen für den Fall Roms in der Civitas Dei, von der Zosimos höchstwahrscheinlich nicht gehört hatte, wiederholt er den grundsätzlichen heidnischen Vorwurf: Die Römer verlie­ ßen die Götter ihrer Vorfahren und wurden von diesen selbst verlassen. Die Herrschaft Konstantins war für Zosimos nicht nur von einer verhängnis­ vollen Abkehr von den alten Göttern geprägt, sondern bot auch ein düsteres Bei­ spiel für autokratische Ungerechtigkeit und Grausamkeit. Ein christlicher Leser, sei er ein Byzantiner oder ein frühneuzeitlicher Europäer, hätte sich kaum ein anstößigeres Bild des ersten christlichen Kaisers vorstellen können. Zosimos’ Bericht über Konstantins Bekehrung macht keinen Hehl aus seiner Verachtung des „abtrünnigen“ Kaisers und seiner neuen Loyalität.10 Die Bekehrung Kons­ tantins, laut Zosimos, geschah erst während seiner Alleinherrschaft, als er sich seiner Schlechtigkeit zügellos hingeben konnte, und war die direkte Folge einer Gräueltat: Wie bereits erwähnt, hatte er Crispus, seinen Sohn, zur Würde eines Caesars erhoben; nun geriet dieser in den Verdacht mit seiner Stiefmutter Fausta Umgang zu haben, und deshalb ließ ihn Constantinus ohne jede Rücksicht auf das Naturrecht beseitigen. Helena, die Mutter des Kaisers, war tiefbetrübt über eine solche furchtbare Gewalttat und härmte sich

8  Alle Zitate Zosimos sind der deutschen Übersetzung von Otto Veh entnommen: Zosimos Neue Geschichte. Übers. v. Otto Veh u. komm. v. Stefan Rebenich. Stuttgart 1990, I. 57. 1. 9  Ebd., I. 5. 1–3. 10  Schon Konstantins ehemaliges Festhalten an den alten väterlichen Sitten stammte nach Zo­ simos eher aus zweckmäßigem Kalkül als Ehrfurcht den Göttern gegenüber (ebd., II. 29. 1).

12 

 Asaph Ben-Tov sehr über die Hinrichtung des jungen Mannes, doch gleich als wollte er ihr Trost gewähren, heilte Constantinus das Übel mit einem noch größeren: Er befahl nämlich, ein Bad zu über­ hitzen und Fausta [seine Gattin] dorthin zu bringen, worauf man sie nur noch als Leiche heraustrug.11

Nach diesem düsteren Bericht von Sohn- und Gattinnenmord, die Byzantiner und Europäer des 16. Jahrhunderts eher mit dem Hof Caligulas oder Neros als mit dem des ersten christlichen Kaisers assoziiert hätten, kommt die ultimative Beleidi­ gung mit der daran anknüpfenden Erklärung für Konstantins Bekehrung: Und da sich der Kaiser dieser Verbrechen und dazu derartiger Eidbrüche bewußt war, wandte er sich an die [heidnischen] Priester und verlangte Sühneopfer für seine Untaten. Als diese aber antworteten, es gebe keine Sühnungsart, welche solche riesige Gottlosigkeiten unge­ schehen machen könne, siehe, da kam ein Ägypter aus Spanien nach Rom, machte sich mit den Hofdamen bekannt und erhielt bei Constantinus Audienz. Dabei versicherte er dem Kaiser, der Christenglaube reinige von jeder Sünde und trage die Verheißung in sich, daß die Gottlosen, sofern sie ihn annähmen, auf der Stelle von jeder Schuld befreit würden.12

Christliche Quellen, vor allem Eusebios von Caesarea, lehnen die angebliche Schuld Konstantins natürlich ab und bieten eine grundsätzlich andere Erklä­ rung für seine Bekehrung an. Eine detaillierte Kritik widmet Zosimos auch der konstantinischen Steuerpolitik, insbesondere der Auferlegung einer neuen und belastenden Steuer, der collatio lustralis (χρυσάργυρον).13 Das Bild der Herrschaft Konstantins in Zosimos’ Neuen Geschichte ist ausgesprochen finster. Der erste christliche Kaiser und Begründer Konstantinopels, wo Zosimos seine Geschichte wahrscheinlich verfasste, sei er ein ungerechter und brutaler Herrscher gewesen, dessen Bekehrung nichts mehr war als der Opportunismus eines von Schuld­ gefühlen heimgesuchten Mörders. Um es noch schlimmer zu machen, wird der Kaiser Julian (ca. 331–363), der sog. Apostat, der das römische Reich zur Ahnen­ religion zurückzuleiten versuchte, von Zosimos reichlich gelobt,14 seine unmittel­ baren christlichen Nachfolger aber für ihr militärisches Dilettantentum getadelt. Dass Zosimos’ Werk in späteren byzantinischen Zeiten weiter kopiert wurde, ist interessant, und liegt wahrscheinlich daran, dass er für zentrale Ereignisse des aus­ gehenden 4. Jahrhunderts eine wichtige Quelle darstellt. Zu seinen byzantinischen Lesern (und Verächtern) zählte der bibliophile Patriarch Konstantinopels Photios (ca. 810–ca. 893), der Zosimos und die Neue Geschichte in seiner großer Samm­ lung von Notizen gelesener Bücher, der Bibliotheke erwähnt. Photios lobt zwar den

11  Ebd., II. 29. 2. 12  Ebd., II. 29. 3. 13  Ebd. II. 38. 1–2. 14  Ebd. III. 11–15.



Infamie und historische Wahrheit 

 13

reinen Stil des heidnischen Historikers, tituliert Zosimos schließlich aber als einen bellenden Hund, der die frommen Christen ankläfft.15 Der frühbyzantinische Kir­ chenhistoriker aus Antiochia Evagrios Scholastikos (ca. 536 – nach 594), der ein Jahrhundert nach Zosimus schrieb,16 widmete ihm mehrere beißende Absätze in seiner Kirchengeschichte: Zosimos, einer der Anhänger der verfluchten und verworfenen heidnischen Religion, der einen Groll gegen Konstantin hegte, weil er als erster Kaiser das Christentum angenommen und den abscheulichen Aberglauben der Heiden aufgegeben hatte, hat gesagt, daß Kons­ tantin der erste war, der das sogenannte Chrysargyron erfunden und festgesetzt hat, […] und hat den frommen und freigebigen Konstantin noch mit zahllosen anderen Schmähungen überhäuft. Er sagt nämlich, daß er noch andere ganz unerträgliche, gegen alle Wohlfahrt gerichtete Dinge ersann, daß er seinen Sohn Crispus heimtückisch ermordete und seine Frau Fausta umbrachte […] als er für diese abscheulichen Morde Entsühnung bei seinen Priestern suchte, aber nicht erhielt – denn die könne man nicht öffentlich nennen −, dann auf einen Ägypter traf, der aus Iberien gekommen war; von ihm sei ihm versichert worden, daß die Religion der Christen jede Sünde wegnehmen könne. […] Daß das erlogen ist, werde ich vor Augen führen.17

Für seine Widerlegung der Vorwürfe Zosimos’ gegen Konstantin bezieht sich Evagrios u. a. auf den Kirchenhistoriker Eusebios, der den Kaiser persönlich kann­te und seine Biografie verfasst hatte. Auch das heidnische Argument vom Niedergang des Reiches nach der Annahme des Christentums lässt Evagrios nicht unkommentiert: Du sagst auch, du verfluchter und verruchter du, daß von der Zeit an, als das Christen­ tum erschien, das Reich der Römer zerfiel und insgesamt zugrunde ging; entweder hast du nichts von den älteren Historikern gelesen, oder du entstellst die Wahrheit absichtlich.18

Für Evagrios, wie auch andere christliche Leser Zosimos’, entstammt dessen nega­ tive Bewertung Konstantins und der Rolle des Christentums im Reich einer verhass­ ten vom „heidnischen Aberglauben“ korrumpierten Person. Die Invektiven gegen

15  Die Editio princeps der Bibliotheka erfolgte erst 1601, obwohl Photios und sein bibliografi­ sches Werk mehreren Gelehrten durch Handschriften bekannt war. 16  Zu Evagrios siehe Karl Krumbacher: Geschichte der byzantinischen Litteratur von Justinian bis zum Ende des oströmischen Reiches (527–1453). München 21897, S. 245–247, sowie Barry Bald­ win: [Art.] „Evagrios Scholastikos“. In: The Oxford Dictionary of Byzantium. Hg. v. Alexander P. Kazhdan u. a. New York/Oxford 1991, S. 761. 17  Historia Ecclesiastica, III, 40–1. Zitiert hier in der deutschen Übersetzung von Adelheid Hüb­ ner. In: Evagrius Scholasticus: Historia Ecclesiastica. Kirchengeschichte Bd. 2. Übers. v. Adelheid Hübner. Turnhout 2007, S. 425–426. 18  Ebd. 431.

14 

 Asaph Ben-Tov

die „verruchte“ Person des Historikers sind ein Teil der Widerlegung seiner Argu­ mente. Der Kirchenhistoriker aus dem 14. Jahrhunderts Nikephoros Kallistos Xan­ thopu­los,19 widmete einen detaillierten Exkurs der Wiederlegung von Zosimos’ Schilderung Konstantins, die laut Kallistos, wie Evagrios vor ihm, von heidni­ schem Hass motiviert war. Bei Eusebios, der den christlichen Herrscher persön­ lich kannte, fuhr Kallistos fort, sei keine Spur von Sohn- und Gattinnenmord zu finden: Sie sei eine absurde und auf falschen Gerüchten basierende Anschuldi­ gung. Die Behauptung, dass der Niedergang des römischen Reiches durch das Auftreten des Christentums hervorgerufen wurde, findet Kallistos ebenso irr­ witzig: seit der Geburt Christi wurden doch mehrere neue Provinzen dem Reich unterjocht.20 Beide, Evagrios und Nikephoros Kallistos, wurden im 16. Jahrhun­ dert mehrmals in Griechisch und in lateinischer Übersetzung gedruckt.21 Photios’ Bibliotheke erschien zwar erst 1601 im Druck,22 wurde aber von europäischen Gelehrten schon im Laufe des 16. Jahrhunderts zitiert. Als Johannes Löwenklau 1576 Zosimos’ Werk ins Lateinische übersetzte, war die postume Infamie des spä­ tantiken Heiden auch im späthumanistischen Umfeld schon besiegelt.

2 Zosimos’ Apologet Johannes Löwenklau (1541–1595) 23

1576, in demselben Jahr, in dem Johannes Löwenklau eine lateinische Überset­ zung Zosimos’ Neuer Geschichte veröffentlichte, starb sein ehemaliger Lehrer,

19  Krumbacher: Geschichte der byzantinischen Litteratur (Anm.16), S. 291–293; Hans-Georg Beck: Kirche und theologische Literatur im byzantinischen Reich. München 1959, S. 705–707; Alice-Mary Talbot: Xanthopulos, Nikephoros Kallistos. In: The Oxford Dictionary of Byzantium (Anm. 16), S. 2207. 20  Nikephoros Kallistos: Ecclesiaticae Historiae libri xviii, xvi.41. 21  Siehe Frank Hieronymus u. a.: Griechischer Geist aus Basler Pressen. Online unter: www. ub.unibas.ch/cmsdata/spezialkataloge/gg/higg0414.html [Stand: 31.03.2015]. 22  ΒΙΒΛΙΟΘΗΚΗ ΤΟΥ ΦΟΤΙΟΥ Librorum quos legit Photius Patriarcha Excerptae et Censura. Hg. u. übers. v. David Höschel. Augsburg 1601. 23  Den ausführlichsten Bericht über sein Leben bietet Dieter Metzler: Johannes Löwenklau. In: Westfälische Lebensbilder 13 (1985). Hg. v. Robert Stupperich, S. 19–44. Die folgenden biografi­ schen Angaben basieren zum großen Teil auf diesem Aufsatz sowie auf ders.: [Art.] „Löwenklau, Johannes“. In: NDB 15 (1987), S. 95 f.



Infamie und historische Wahrheit 

 15

der Heidelberger Professor für Griechisch Wilhelm Xylander.24 Der mit 44 Jahren verstorbene Xylander, ein Schüler des Augsburger Gräzisten Hieronymus Wolf,25 war ein angesehener Kenner der griechischen Literatur und hatte, wie sein Lehrer Wolf und sein Schüler Löwenklau, einen Beitrag zur abendländischen Kenntnis der nachantiken griechischen Geschichte und Literatur geleistet.26 In diesem Jahr hätte man erwarten können, dass Johannes Löwenklau den Lehrstuhl seines verstorbenen Lehrers übernehmen würde. Obwohl der 36-jährige Löwenklau ein angesehener Gräzist war und die Stelle offensichtlich anstrebte, wurde seine Hoffnung vereitelt. In vielerlei Hinsichten war die im selben Jahr erschienene Apologia pro Zosimo das Produkt eines Außenseiters. Geboren 1541 im westfälischen Coesfeld, wurde Löwenklaus frühe Bildung durch seinen Onkel, den Domherrn von Münster geprägt. Löwenklau begleitete ihn 1551 als Zehnjähriger auf eine lange Reise ins Baltikum – Vorzeichen für eine Karriere, die ihn in späteren Jahren u. a. nach Wien, Ungarn, Italien, und Kons­ tantinopel führte.27 1555 begann er sein Studium in Wittenberg, wo er bei Melan­ chthon studierte. Sieben Jahre später wurde er in Heidelberg immatrikuliert. Außer dem akademischen Ruf der Universität war es wahrscheinlich auch die konfessionelle Zugehörigkeit der Pfalz unter dem reformierten Friedrich III. (reg. 1559–1576) sowie Xylanders reformierter Glaube, die die Universität dem jungen Löwenklau intellektuell und religiös attraktiv machte.28 1563 wurde er als Magis­ ter Artium in der juristischen Fakultät immatrikuliert, und bereits zwei Jahre später bekleidete er das Amt des Dekans der philosophischen Fakultät. Als Xylander und der reformierte Kurfürst beide im Jahr 1576 verstarben und sich Löwenklaus Aussichten auf die Heidelberger Professur zerschlugen, war er schon seit elf Jahren nicht mehr in Heidelberg. Bereits 1565 verließ er diese Univer­ sität aus unbekannten Gründen und trat in den Dienst des kaiserlichen Diploma­ ten Lazarus von Schwendi (1522–1583) und einer Reihe anderer kaiserlicher Diplo­ maten, wie Hieronymus Beck von Leopoldsdorf (1525–1596) und des reformierten

24  Zu Xylander siehe Conrad Bursian: Geschichte der classischen Philologie in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart. München/Leipzig 1883, S. 228 f., sowie Rudolf Pfeiffer: His­ tory of Classical Scholarship. Bd. 2: From 1300 to 1850. Oxford 1978, S. 140 f. 25  Hans-Georg Beck: [Art.] „Hieronymus Wolf“. In: Lebensbilder aus dem bayerischen Schwa­ ben 9 (1966). Hg. v. Wolfgang Zorn, S. 169–193. 26  Hans-Georg Beck: Die byzantinischen Studien in Deutschland vor Karl Krumbacher. In: ΧΑΛΙΚΕΣ: Festgabe für die Teilnehmer am XI. internationalen Byzantinistenkongreß München 15.–20. September 1958. Hg. v. dems. Freising 1958, S. 66–119, hier S. 77 f. 27  Zu Löwenklaus Herkunft und frühen Jahren siehe Franz Babinger: Herkunft und Jugend Hans Lewenklaw’s. In: Westfälische Zeitschrift 98/99 (1949), S. 112–127. 28  Metzler: Johannes Löwenklau (Anm. 23), S. 25.

16 

 Asaph Ben-Tov

mährischen Adligen Karl von Zierotin (1564–1615). Kontakte zu verschiedenen För­ derern waren für die Erlangung von Handschriften von zentraler Bedeutung. Unter den Letzteren war der Wiener Hofhistoriograf und kaiserliche Rat Johannes Sambu­ cus (1531–1584) von besonderer Bedeutung. Die Zosimos-Übersetzung, wie manch anderes Werk Löwenklaus, wurde Sambucus gewidmet.29 Löwenklaus Karriere als vielgereister Gelehrter sowie Begleiter und Informant seiner Patronen führte ihn in Handlungsbereiche, die den meisten seiner gelehrten Mitstreiter unbekannt waren. Diese facettenreiche Karriere, die sich in der thematischen Vielfalt seines Schaf­ fens spiegelt, führte ihn u. a. nach Italien, Köln, Wien und der Hohen Pforte. In den letzten Jahren seines Lebens gehörte er zum Kreis des reformierten mährischen Adligen Karl von Zierotin. 1593 begleitete ihn Löwenklau zur langen (und erfolg­ losen) Belagerung der osmanischen Festung in Gran. Schwer erkrankt kehrte er zurück nach Wien, wo er im Sommer 1594 starb.30 Als Löwenklau 1576 seine lateinische Übersetzung der Neuen Geschichte und die Apologia pro Zosimo veröffentlichte, hatte er schon eine Reihe anderer phi­ lologischen Arbeiten vorzuweisen, darunter eine lateinische Übersetzung der Werke Gregors von Nyssa (1567), eine Edition der Gesamtwerke Xenophons mit lateinischer Übersetzung (1569), eine lateinische Übersetzung der Werke zwei byzantinischer Historiker des 12. Jahrhunderts, Michael Glykas (1572) und Kon­ stantin Menasses (1573), sowie eine Edition der wichtigen Quelle der byzantini­ schen Jurisprudenz, der Basilika (1575). In seinen späteren Jahren arbeitete er weiter an seiner Xenophon-Edition wie auch an einer lateinischen Übersetzung (einer griechischen Version) von Abu Ma’schars Traumdeutung (1577) sowie, nach seinem Aufenthalt in Konstantinopel in der Gesandtschaft Heinrichs von Löwen­ stein (1584/85), an Werken über die osmanische Geschichte. Iuris Graeco-Romani tam canonici quam civilis tomi duo, sein großes Werk zum byzantinischen Recht, erschien postum im Jahr 1596. Die Übersetzung der Neuen Geschichte machte Zosimos’ Werk, das im Origi­ nal noch nicht erschienen war, einer breiten gelehrten Leserschaft zugänglich.31 Wie die Widmung an Johannes Sambucus deutlich macht, hatte Löwenklaus Beschäftigung mit dem spätantiken Heiden einen breiteren Kontext: vornehmlich das Interesse für nicht-christliche Berichte aus der Spätantike. Löwenklau erzählt

29  Zu Sambucus siehe Gábor Almási: The Uses of Humanism. Johannes Sambucus (1531–1584), Andreas Dudith (1533–1589), and the Republic of Letters in East Central Europe. Leiden 2009, Kap. 4 u. 5. 30  Metzler: Johannes Löwenklau (Anm. 23), S. 42, sowie Franz Babinger: Johannes Lewenklaus Lebensende. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 50 (1951), S. 5–26. 31  Die erste Edition des griechischen Originals wurde erst 1590 in Frankfurt a. M. von Friedrich Sylburg herausgegeben.



Infamie und historische Wahrheit 

 17

von seinem kürzlich jung verstorbenen Gönner, dem Juristen Thomas Redinger (1540–1576), den er wahrscheinlich schon während seiner Studienzeit in Wit­ tenberg kennengelernt hatte. Dieser hatte gehofft, dass es Löwenklau gelänge, eine Handschrift der Geschichte des heidnischen Historikers Eunapios von Sardes (345–420) in der Vatikanischen Bibliothek zu finden. Löwenklau suchte diese Handschrift und hörte damit auf, als der Bibliothekar und Handschriften­ sammler Fulvio Orsini ihm versicherte, dass dort keine Eunapios-Handschrift zu finden sei. Im Gegensatz zu Eunapios’ Leben der Philosophen und Sophisten32 ist eine Handschrift seiner Geschichte tatsächlich nicht erhalten. Redinger ist kurz vor dem Erscheinen von Zosimos Übersetzung gestorben. Bezeichnend ist, dass Redinger Löwenklau auf die Suche nach Eunapios schickte, also nach einer – wie Zosimos – heidnischen Quelle für die Ereignisse des späteren römischen Reiches. Eunapios, der auch christenfeindlich gesinnt war, diente Zosimos, ungefähr ein Jahrhundert nach ihm, als eine zentrale Quelle für Teile seines Werkes. Dass mehrere Abschnitte in Zosimos’ Werk Eunapios als Grundlage haben, konnten Löwenklau und Redinger aus Photios’ Bibliotheke erfahren. Für seine Zosimos-Übersetzung bediente sich Löwenklau einer Abschrift der Handschrift des Werkes in der Vatikanischen Bibliothek – eine Handschrift, der wir die Überlieferung dieses Werks verdanken.33 Die Übersetzung er­schien 1576 in Basel bei Pietro Perna34 zusammen in einem Band mit den historischen Werken Prokops von Caesarea, Agathias und Jordanes sowie Leonardo Brunis Rerum gothicarum commentarii. Der unmittelbare gedruckte Kontext der Zosimos-Über­ setzung war ein Sammelband spätantiker und früh­byzantinischer Historiker mit einem Anhang aus dem Quattrocento, der sich, wie Jordanes, mit den Goten beschäftigte. Der berühmte Genfer Gräzist und Drucker Henri Estienne (1531– 1598), mit dem Löwenklau im Kontakt stand, veröffentlichte 1581 den griechi­ schen Text der ersten zwei Bücher der Neuen Geschichte zusammen mit Löwen­ klaus Übersetzung35 – ohne allerdings Löwenklau als Übersetzer zu nennen. Seit

32  Eine lateinische Übersetzung von Hadrian Junius erschien 1568 in Antwerpen. 33  Vat. Graec. 156. Siehe Paschoud: Zosimos (Anm. 6), S. 836–838. 34  Pietro Perna (1519–1582) wurde in Lucca geboren und musste seine Heimat wegen seines protestantischen Glaubens verlassen. Ab 1544 war er in Basel tätig. Unter den Veröffentlichun­ gen seiner Presse sind Machiavellis Fürst (1560 und 1580), Castelvetros italienische Übersetzung von Aristoteles Poetik (1576) und eine deutsche Übersetzung von Petrarcas Wesen und Ende des menschlichen Lebens (1582). Siehe Charles William Heckethorn: The Printers of Basle in the xv. & xvi. centuries: their Biographies, Printed Books, and Devices. London 1897, S. 193 f. 35  Der Text von den ersten zwei Büchern der Neuen Geschichte kommt bei Estienne als Anhang (mit eigener Paginierung) zu seiner Herodian-Ausgabe: Herodiani Histor[iarum] lib. viii Cum An­ geli Politiani interpretatione, & huius partim supplemento, partim examine Henrici Stephani:

18 

 Asaph Ben-Tov

der Erscheinung von Sylburgs Edition des griechischen Originals (1590) wurde der griechische Text von Löwenklaus Übersetzung begleitet – und war, so darf man vermuten, die Fassung, die von den meisten Lesern gelesen wurde. Der Übersetzung von Zosimos’ Neuer Geschichte stellte Löwenklau eine Apologia voran, die bis tief ins 18. Jahrhundert bei Editionen von Zosimos gedruckt wurde und Löwenklau die frühneuzeitliche Ehre verlieh auf den Index prohibitorum librorum zu gelangen.36

3 Apologia pro Zosimo Mit vollem Titel heißt die Apologie: Apologia pro Zosimo adversus Euagrii, Nicephori Callisti, & aliorum acerbas criminationes (‚Apologie für Zosimos gegen die heftigen Verleumdungen von Evagrios, Nikephoros Kallistos und anderen‘).37 Am Anfang der Apologie behauptet Löwenklau, es sei für ihn eine undankbare Aufgabe, einen Heiden, der die Wahrheit der himmlischen Lehre nicht aner­ kannte, gegen die Vorwürfe seiner Glaubensgenossen zu verteidigen. Im gleichen Atemzug setzt er aber fort, dass einige unter dem Vorwand christlicher Pietät einen äußerst nützlichen Historiker angegriffen haben.38 Zosimus sei zwar blind für das Licht der wahren Religion, aber: […] solche ist die Macht der Wahrheit, dass aufrichtige Menschen sie billigen auch wenn sie beim Feinde gefunden wird. Wir sind uns dessen sicher, dass nachdem das Folgende, das wir über Zosimos sagen werden, gehört wird, so werden alle die nicht allzu stur sind, zugeben, dass die historische Wahrheit (veritas rerum gestarum) auch durch diejenigen im guten Glauben schriftlich überliefert werden kann, die sonst, von der Religion, anders als wir gesinnt sind.39

utroque margini adscripto. Historiarum Herodianicas subsequentium libri duo, nunc primum Graece editi. Genf 1581. 36  Metzler: Johannes Löwenklau (Anm. 23), S. 33. 37  Hinweise zu der Apologia sind zu ihrem Nachdruck in der zweisprachigen Edition Zosimos’ Neuer Geschichte (griechischer Text nach Friedrich Sylburgs Edition 1590 mit Löwenklaus latei­ nischer Übersetzung) Zosimi Comitis ex advocato fisci Historia Nova. Hg. und kommentiert von Christoph Cellarius (Zeitz 1691), S. *r–***2v. Übersetzungen aus der Apologia stammen vom Verf. 38  Ebd. S. *r. 39  Ebd.: „Sed quando cum omnis virtutis in genere, tum veritatis ea vis est, ut istam viri boni etiam in hoste cognitam probent: futurum, non nulla in spe sumus, ut auditis, quae pro Zosimo paucis dicenda suscipimus, libenter homines non nimium pertinaces fateantur; posse veritatem rerum gestarum ab iis quoque bona fide litterarum monumentis prodi, qui ceteroquin a nobis in sententia de religione dessideant.“



Infamie und historische Wahrheit 

 19

Zosimos wird, laut Löwenklau, aus zwei Gründen angegriffen: als Heide und wegen seiner beißenden Beschreibung der Herrschaft Konstantins. Was den ersten Vorwurf betrifft, betont er den Unterschied zwischen weltlicher und reli­ giöser Weisheit; eine Blindheit dem himmlischen Licht gegenüber nimmt nichts von der Urteilskraft weltlicher Angelegenheiten weg. So kann ein weiser Heide wie Zosimos ein guter Beobachter historischer Vorgänge sein und über die Ver­ waltung des Staates gut urteilen.40 Es mag sein, gibt er zu, dass Zosimos’ Beschreibung der konstantinischen Herrschaft durch seinen anti-christlichen Standpunkt verschärft wurde. Demge­ genüber seien die meisten christlichen Berichte panegyrische Lobreden, die es nicht verdienen, als historische Quellen betrachtet zu werden. Man dürfe, auch als Christ, Konstantin der historischen Kritik nicht entziehen. Während Zosimos’ Widersacher seine Kritik an der belastenden Steuer als heidnische Verleumdung bezeichneten, erachtet Löwenklau Zosimos’ Quellen als glaubwürdig.41 Dass die Quellen, derer sich Zosimos bediente, christenfeindlich waren, nimmt nichts von ihrer Glaubwürdigkeit ab. Man darf die Gründung Konstantinopels feiern, aber, argumentiert Löwenklau, es ist nur zu erwarten, dass ein solches grandioses Bauprojekt durch ungerechte und bedrückende Besteuerung finanziert wurde.42 Dass der heidnische Historiker neben der Zuschreibung von Grausamkeit und Ungerechtigkeit auch Gutes über den ihm verhassten Herrscher berichtet, ist für Löwenklau Indiz für dessen Ehrlichkeit. Im Gegensatz zu Zosimos ist Löwenklau bereit, Konstantin als einen großen Herrscher anzuerkennen. Der erste christliche Kaiser setzte der Christenverfol­ gung ein Ende und versuchte ernsthaft den theologischen Streit in der Kirche zu lösen.43 Aber sogar sein Eintreten für den christlichen Glauben dürfe ihm keine Immunität vor dem forschenden Blick des Historikers gewähren. Auch christli­ che Schreiber haben ihn kritisiert, u. a. für ein Gesetz, das nützliche Magie vor dem Gerichtsverfahren schützte, und vor allem wegen seiner Annahme der arian­

40  Ebd. *v: „Ego vero in hoc libertatem hominis ingenuam probo, iudicium desidero; qui, quum excellentis vir esset ingenii, more mundanorum, ut sacrae litterae loquuntur, sapientum in magna diuinae veritatis luce caecutiret. Sed quum nihil istud impediat, quo minus de iis, quae in administratione reipublicae vel recte, vel sequitur gererentur, prudenter ac vere statueret.“ 41  Ebd. *v­–**r. 42  Auch wenn Konstantin die neue belastende Steuer nicht erfand, sondern von seinen Vor­ gängern erbte, argumentiert Löwenklau, nähme dies von seiner Verantwortung nicht ab. Als Herrscher sei er sowohl für die von ihm erfundenen als auch für die von ihm übernommenen Maßnahmen verantwortlich gewesen. 43  Ebd. **3r.

20 

 Asaph Ben-Tov

schen Lehre am Ende seines Lebens.44 Evagrios’ Vorwurf, Zosimus hätte Eusebios’ Konstantin-Vita (in der sich keine Erwähnung des Mordes an Crispus und Fausta befindet) zu Rate ziehen sollen, lehnt Löwenklau ab. Eusebios’ Vita sei kein histo­ risches Werk, sondern eine Schmeichelei, die sich für Bischöfe und Mönche und nicht für Historiker zieme.45 In einem weniger polemischen Ton setzt er fort, dass Eusebios als Zeitgenosse, der die Konstantin-Vita wahrscheinlich unter dessen Sohn Constantius II. verfasste, möglicherweise die schlimmen Verbrechen seines verstorbenen Gönners aus Vorsicht verschweigen musste − eine Sorge von der Zosimus, der anderthalb Jahrhunderte später schrieb, befreit war.46 Auch die Reaktion der christlichen Apologetik auf Zosimos’ Behauptung, Konstantin bekehrte sich zum Christentum, um sein mit Mord beladenes Gewis­ sen zu beschwichtigen, überzeugt Löwenklau nicht. Ein Gegenargument christ­ licher Historiker war, dass sich Konstantin erst am Ende seines Lebens taufen ließ; seine Taufe fand also mehrere Jahre nach den vermeintlichen Verbrechen statt und hat mit einem schlechten Gewissen nichts zu tun. Der erste christliche Kaiser habe keine üblen Verbrechen zu sühnen. Hier greift Löwenklau zu einem historischen Argument: Diejenigen, die so argumentieren, konstatiert er, ver­ stehen die Praxis der alten Kirche nicht. Die christliche Taufe im 4. Jahrhundert müsse im Kontext der Gebräuche ihrer Zeit verstanden werden. Die damalige Sitte, sich erst kurz vor dem Tod taufen zu lassen, beruhte auf der Überzeugung, die Taufe sei die letzte Absolution von Sünden, nach der keine weitere Verge­ bung möglich sei. Die Verschiebung der Taufe bis kurz vor dem Tod ist, wie Löwenklau richtig anerkennt, kein Zeichen eines unbeschwerten Gewissens, sondern eine damals gängige religiöse Praxis. Auf jeden Fall kann sie nicht als Beweis für Konstantins reines Gewissen angenommen werden.47 Nach dieser polemischen Beurteilung Konstantins erwägt Löwenklau die kurze Herrschaft Julians, und bestätigt, dass dieser, trotz seines heidnischen Glaubens, ein kom­ petenter und in vielen Hinsichten aufrichtigerer Herrscher als der christliche Konstantin gewesen sei.48 Denn Julian, der mit so vielen und großen körperlichen und geistigen Gaben dotiert wurde, an dem das göttliche Licht seines Geistes aus seinen Äußerungen ersichtlich wurde, wie seine Bildung aus seinen Werken über die Erziehung der Jungen, seine juristischen Kennt­ nisse aus seinen Reskripten, sein militärisches Geschick aus seinen Taten, seine Beschei­

44  Ebd. **3v. 45  Ebd. 46  Ebd. **4r–v. 47  Ebd. **5r–v. 48  Ebd. **6v–**7v.



Infamie und historische Wahrheit 

 21

denheit aus seinen friedlichen Sitten und seine Keuschheit aus seiner ständigen Mäßigkeit. Wer, frage ich, auch wenn er ihm äußerst feindlich gesinnt ist, würde dies nicht offen und gern loben? Trotzdem finden sich einige, von jedem menschlichen Gefühl entfremdet, die sich, wegen seiner Abweichung von der christlichen Religion, nicht gescheut haben, ihm unverschämt all sein Lob abzusprechen, und ihn weiter als einen untauglichen, dem Staate verderblichen Herrscher zu nennen.49

Löwenklaus ikonoklastische Einstellung zu Konstantin und seine großzügige Bewertung Julians wären an sich genug gewesen, um viele seiner Leser zu verär­ gern. Auch seine Missachtung Eusebios gegenüber würde für eine Missbilligung reichen. Das Riskanteste in seiner Apologia kommt allerdings an der Stelle, an der er angeblich mit Zosimos nicht einverstanden ist. Wie schon erwähnt sah Zosimos im Aufstieg des Christentums die Ursache für Roms Niedergang. Dies bestreitet Löwenklau. Jedoch akzeptiert er Evagrios’ oben erwähntes Argument ebensowenig. Dass nach der Geburt Christi dem römi­ schen Reich neue Provinzen hinzugefügt wurden, betont Löwenklau, sei keine richtige Antwort auf die Herausforderung Zosimos’ − die sich nicht auf die Nativi­ tät bezieht, sondern auf die Ausbreitung der neuen Religion unter der imperialen Elite. In der Regel – gibt er zu – wurden die christlichen Herrscher nach Julian ihren militärischen Pflichten nicht gerecht. Nach der entschlossenen Ablehnung verschiedener christlicher Antworten auf Zosimos wirkt Löwenklaus Verteidi­ gung des Christentums halbherzig: Die Einführung der reinen Religion ist nie Ursache solcher Umbrüche, wie diejenigen meinen, die an den alten korrupten Sitten festhaltenden – in der Antike wie zu seiner Zeit.50 Im Gegensatz zu Zosimos’ christlichen Gegnern ist Löwenklau bereit zu akzeptieren, dass es dem römischen Reich unter christlichen Herrschern nicht besser ging. Es kann sein, dass er, wie Melanchthon, dessen Schüler er war, als dieser seine universalhistorisches Chronicon Carionis am Ende seines Lebens veröffentlichte, das Christentum als das

49  Ebd. **7v: „Tot tantisque corporis & animi dotibus illustrem Iulianum, in quo diuinum inge­ nii lumen ex dictis, doctrina de librorum monumentis, cognitio iuris ex rescriptis, rei militaris usus ex factis, modestia placidissimis ex moribus, ex continentia perpetua castitas enituit; quis obsecro vel infestissimus hostis non ingenue lubenterque praedicet? Nihilominus inuenti sunt tam alieni ab omni sensu humanitatis homines, ut eos solo discessionis a religione Christiano­ rum praetextu de veris eius laudibus impudenter detrahere, parum felicem, immo perniciosum reipublicae principem dicere non sit veritum.“ 50  Ebd., S. **6v: „Quippe nequaquam talium malorum origo restitutae diuini cultus puritati debet accepta referri, sicut ab imperitis, & errores a maioribus haustos obstinatae contumaciae tuentibus, quum antea saepe factum ex monumentis historiarum cognoscimus, tum in ista luce temporum nostrorum quotidie fieri videmus.“

22 

 Asaph Ben-Tov

zentrale und notwendige Geschehnis der Heilgeschichte sah − aber eine heilsge­ schichtliche Tatsache, die die Welt, vom Standpunkt der Politik betrachtet, nicht unbedingt zu einem besseren Ort machte.51

4 Versuch einer Kontextualisierung Es bleibt die Frage nach Löwenklaus Intentionen. Wozu diente eine ausführli­ che und polemische Apologie für Zosimos? Um ein philologisches Unternehmen zu rechtfertigen, hätte eine viel kürzere und einfachere gereicht. Einer solchen brisant argumentativen Apologie bedurfte die Veröffentlichung nicht. Die erste Übersetzung eines bis dahin nur durch eine Handschrift in der Vatikanischen Bibliothek bekannten griechischen Autors war eine durchaus respektvolle Leis­ tung. Wenn Löwenklaus Anliegen nur darin bestanden hätte, für die Nützlichkeit seines Autors zu plädieren, hätte ein knappes Vorwort genügt, in dem er argu­ mentieren konnte, der spätantike Christengegner biete eine interessante Ergän­ zung zu dem bisher Bekannten. Um die Frage zu wiederholen: worum geht es hier? Zwei sich gegenseitig nicht ausschließende Erklärungen sind bisher in der Forschung vorgetragen worden: 1. D ie Apologia pro Zosimo sei ein gelehrtes Plädoyer für religiöse Toleranz. 2. Die zweite Erklärung, die in den 1950er-Jahren von dem Althistoriker Santo Mazzarino vorgeschlagen wurde, sieht in Löwenklaus Apologie ein histori­ sches Argument, das die Hauptzüge und Dynamik der spätantiken Wandlun­ gen im römischen Reich zu charakterisieren versucht.52 Für Mazzarino spielt die Konstantin-Julian-Polarität in Löwenklaus’ Apologia, die sich bei Zosimos nicht wiederfindet, eine zentrale Rolle. Die Apologia pro Zosimo sei eine his­ toriografische Leistung vor allem durch die Erkennung der epochalen Cha­ rakteristik des 4. Jahrhunderts. Das Toleranz-Argument, wie es Marie-Pierre Burtin formuliert,53 gewinnt an Plau­ sibilität, nicht nur durch die Tatsache, dass Löwenklau im selben Jahr der Apolo­

51  Asaph Ben-Tov: Lutheran Humanists and Greek Antiquity: Melanchthonian Scholarship bet­ ween Universal History and Pedagogy. Leiden 2009, S. 44–46. 52  Santo Mazzarino: Das Ende der antiken Welt. Übers. v. Fritz Jaffé. München 1961, S. 110 53  Marie-Pierre Burtin: Un Apôtre de la Tolérance: L’Humaniste allemand Johannes Löwenklau, dit Leunclavius (1541–1593?). In: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance 52 (1990), S. 561–570.



Infamie und historische Wahrheit 

 23

gie wegen seiner konfessionellen Zugehörigkeit von dem begehrten Heidelberger Lehrstuhl ausgeschlossen wurde, sondern auch und insbesondere, durch seine Beziehungen zu Vertretern der Irenik, wie z. B. dem oben genannten Lazarus von Schwendi. Sowohl der Inhalt der Apologie als auch die Umstände, in denen sie verfasst wurde, sprechen für eine irenische Haltung oder mindestens eine Ableh­ nung der konfessionellen Intoleranz seiner Zeit. Zum Schluss möchte ich einen dritten, ergänzenden Kontext andeuten, der für Löwenklaus gelehrte Zeitgenos­ sen evident gewesen sein muss. Jede Katalog-Recherche für Werke aus dem 16. und 17. Jahrhundert, die im Titel das Wort Apologia tragen, ergibt eine lange Liste an Treffern. Die überwie­ gende Mehrheit dieser Titel gehört in den Bereich theologischer Werke: Apologiae verschiedener Glaubensbekenntnisse, eine Anzahl Apologiae pro Luthero, wie auch eine Reihe katholischer und evangelischer Apologien für die „wahre Reli­ gion“. Es wäre keine Übertreibung zu behaupten, dass die Apologia im konfessi­ onellen Zeitalter zu einer theologischen Gattung geworden war. Unter der relativ bescheidenen Anzahl der Apologien, die aus einer philologisch-historischen Beschäftigung mit der Antike stammten, steht zehn Jahre vor Löwenklaus Zosi­ mos-Apologie eine der berühmtesten und gewiss eine der schönsten HumanistenApologien: Henri Estiennes Apologia pro Herodoto (1566).54 Wie Zosimos bedurfte im 16. Jahrhundert auch Herodot einer Apologie.55 Im Fall Herodots waren es keine religiösen Empfindlichkeiten, die seinen Ruf belasteten, sondern der schon in der Antike verbreitete Vorwurf, sein Werk sei nicht historisch im ernst zu neh­ menden Sinn, sondern ein Potpourri fantastischer Anekdoten – er sei kein „Vater der Geschichte“,56 sondern der „Vater der Lügen“. Unter seinen Verächtern stand keine mindere antike Autorität als Plutarch, der der vermeintlichen Unzuver­ lässigkeit und Schlechtigkeit [!] Herodots eine Abhandlung widmete.57 Herodots Nachleben in der frühen Neuzeit ist ein faszinierendes Thema, welches viel mehr als ein Kapitel der Philologiegeschichte aufschließt. Es genüge hier zu bemer­ ken, dass Herodot im 16. Jahrhundert drei wichtige Fürsprecher hatte, alle drei

54  Für eine zweisprachige Edition (Latein/Deutsch) des Werkes siehe Henrici Stephani Apolo­ gia Pro Herodoto. Henri Estienne Apologie für Herodot. Hg. u. übers. v. Johannes Kramer. Mei­ senheim 1980. 55  Siehe z. B. Arnaldo Momigliano: The Herodotean and the Thucydidean Tradition. In: Ders.: The Classical Foundations of Modern Historiography. Berkeley 1990, S. 29–53. 56  Mit dem Kranz des Pater historiae wurde Herodot von Cicero gekrönt, in: De Legibus 1.5. 57  De malignitate Herodoti. In diesem Werk verleiht Plutarch Herodot den fragwürdigen Titel des Vaters der Lügen.

24 

 Asaph Ben-Tov

Protestanten: Joachim Camerarius (1500–1574),58 David Chytraeus (1531–1600)59 sowie der oben genannte Genfer Gräzist und Drucker Henri Estienne. Estiennes Anliegen in seiner Apologia pro Herodoto war es, die historische Glaubwürdigkeit seines Helden zu retten. Um dem Vorwurf des Fantastischen entgegenzutreten, dämpft Estienne die fantastischen Elemente in Herodot überhaupt nicht, wie man es vielleicht erwarten könnte. Seine Strategie ist, ganz im Gegensatz, das Fantastische in seiner eigenen Zeitgeschichte hervorzuheben. Wenn die Episoden in Herodot zu fantastisch sind, um historisch ernst genommen zu werden, wie erklären die Skeptiker dann eine Reihe unbestrittener zeitgenössischer Berichte, darunter z. B. die in unseren Zeiten berühmt gewordene Affäre von Martin Guerre,60 die, neben anderen Merkwürdigkeiten, von Estienne benutzt wird, um die relative Natur des Fantastischen zu beweisen. Als Löwenklau, der Estienne kannte, 1576 (zehn Jahre nach dem Erscheinen der Apologia pro Herodoto) seine Übersetzung von Zosimos’ Neuer Geschichte veröffentlichte, dürfen wir vermuten, dass er Estiennes berühmtes Präzedens im Sinne hatte. Wie Estiennes’ Apologie für Herodot war auch diejenige für Zosimos ein Rettungsversuch des Wahrheitsanspruchs eines angegriffenen antiken His­ torikers. Zosimos stellte eine andere Herausforderung als Herodot vor, und das Leitmotiv von Löwenklaus Verteidigung bildet, wie wir gesehen haben, die pro­ testantische Lex Evangelium-Unterscheidung: Ein Heide, der die offenbarte Wahr­ heit leugnete, könne nichtsdestoweniger als glaubwürdiger Zeuge historischer Ereignisse dienen. Und umgekehrt: Der erste christliche Herrscher des römischen Reichs konnte – trotz seines Verdienstes – seinen eigenen Sohn und seine Frau töten lassen und die Untertanen mit einer ungerechten Steuerpolitik belasten. Es geht Löwenklau (im Gegensatz zu Zosimos) nicht darum Konstantin zu entlarven, sondern ein nuanciertes, nicht idealisiertes historisches Bild zu gewinnen. Darüber hinaus hat Löwenklau in seiner Apologie auch ein methodologisches Anliegen. Hier wenden wir uns zum Schluss seinem späteren Interesse für eine andere, nicht-christliche Kultur zu: den Osmanen. 1588 erschien Löwenklaus Annales Sultanorum Othmanidarum (‚Die Annalen der Osmanischen Sultane‘) und 1591 folgte die Historiae Musulmanae Turcorum, de Monumentis ipsorum exscriptae libri xviii (‚Die muslimische Geschichte der Türken, entnommen von ihren eigenen Schriften in 18 Büchern‘), eine Auswahl osmanischer historischer Berichte. Eine Kompilation oder ein historischer Bericht, der im Titel verspricht, die heimischen Quellen benutzt zu haben, ist keine Seltenheit. Um die Apolo-

58  Praefatio. In: Herodoti Libri novem. Basel 1541, S. a2r–b1v. 59  In Herodotum commentarius acuratus. Halle 1597. 60  Natalie Zemon Davis: The Return of Martin Guerre. Cambridge (MA) 1983.



Infamie und historische Wahrheit 

 25

gia pro Zosimo besser kontextualisieren zu können ist der erste Anhang zu den 1591 erschienenen Historiae Musulmanae aufschlussreich: Apologeticus − ein Plädoyer für die historiografische Benutzung osmanischer Grabinschriften als glaubwürdige Quellen.61 Er richtet sich gegen die geläufige Ablehnung osmani­ scher Quellen als glaubhafte Zeugen. Es sei dieselbe Böswilligkeit (malevolentia), erklärt Löwenklau, einiger christlicher Schreiber, die den griechischen Historien keinen Glauben schenken und die auch nur über die Osmanen berichten wollen, aber deren eigenen Quellen nicht zuzuhören bereit seien.62 Osmanische epigrafi­ sche Quellen, wie Grabinschriften (die Löwenklau allerdings nur in Übersetzung lesen konnte), waren eine solche Stimme, der man lauschen müsse, um verstehen zu können. Wie im Fall der Osmanen, konnte für Löwenklau auch die Spätantike63 erst dann richtig verstanden werden, wenn deren eigene Stimmen wahrgenom­ men wurden. Eine solche war für ihn der konservative Heide Zosimos und seine bittere Geschichte von Roms Untergang. Eine für christliche Leser unangenehme Stimme, die einer Apologia bedurfte und die Löwenklau für sein konfessionell geprägtes Zeitalter retten wollte. Die Rettung des antiken Historikers Zosimos, oder besser, die Rettung seines Werks, war für Löwenklau eine Bestrebung um die Autonomie der historischen Wahrheit. Wie die Osmanen, deren militärische Bedrohung Löwenklau später in Wien als Augenzeuge erfuhr, musste auch die Spätantike außerhalb der Schranken der religiös akzeptablen Berichte studiert und nur so auch verstanden werden. Dies an sich bedeutete für Löwenklau, der wegen seiner angeeigneten konfessionellen Zugehörigkeit benachteiligt war, keine Befürwortung eines religiösen Relativismus, sondern eine Unterscheidung zwischen religiöser und historischer Wahrheit. Die Wahrheit könnte sich auch in einem virulent anti-christlichen Werk befinden. „Denn wie mit der Macht der Tugenden im Allgemeinen, so ist auch die Macht der Wahrheit eine solche, dass aufrichtige Menschen sie billigen, auch wenn sie beim Feind gefunden wird.“64

61  Johannes Löwenklau: Apologeticus prior sive libitinarius index osmanidarum, quo fides his­ toriae gentiliciis e thecis & titulis eorum funebribus adstruitur. In: Historiae Musulmanae Turco­ rum, de Monumentis ipsorum exscriptae, libri xviii. Frankfurt 1591, S. 803–824. 62  Ebd., S. 803: „Huius hominum generis maleuolentiae maturis vt consiliis occurramus, ip­ samque Turcorum historiam veritate fultam probemus: visum est vno loco spectanda lectori­ bus exhibere monumenta libitinaria totius osmaneae gentis, vt quum plerauqe supersint adhuc omnia, non geanologiae tantum modo superius oculis subiectae, sed etiam vniuersae huic his­ toriae certum & indubitatum testimonium perhibeant.“ 63  Ein Terminus, den Löwenklau und seine Zeitgenossen nicht kannten. 64  Siehe Anm. 39.

Anika Höppner

Apologie der Indifferenz Zur Adiaphorie im Streit um die ‚neuen Propheten‘ Für die lutherische Konfessionskultur lassen sich theologische Auseinanderset­ zungen um das religiöse Bekenntnis als maßgebende kulturbildende Faktoren lesen. Agonalität und Pluralität sind bekanntlich entscheidende Kriterien für die kulturelle Konfiguration des frühneuzeitlichen Protestantismus. Auch das, was seit den 30er-Jahren des 17. Jahrhunderts eine lutherische Visionskultur ausma­ chen sollte, bestimmte sich in nicht geringem Maße durch einen später unter der Bezeichnung ‚Gesichtsstreit‘ bekannt gewordenen Theologenstreit.1 Der lutherisch-orthodoxe Theologe Jacob Stolterfoht (1600–1668) hatte es sich in dieser Kon­troverse zur Aufgabe gemacht, den seit Kurzem zahlreich auf­ tretenden Visionären im Alten Reich Einhalt zu gebieten.2 Nachdem zuvor Super­ intendent Nicolaus Hunnius im Namen der Geistlichen Ministerien von Lübeck, Hamburg und Lüneburg einer „[e]nthusiastischen Schwermerey“ publizistisch entgegentrat,3 setzte sich auch Stolterfoht gegen den neuen visionären Ansturm zur Wehr. Als Pastor der Lübecker Marienkirche sah er sich in der Amtspflicht, zu den vermeintlich großen Geheimnissen, englischen Erscheinungen und gött­ lichen Gesichten seiner Zeit kritisch Stellung zu nehmen. Gleichsam stellver­ tretend für das lutherisch-orthodoxe Mini­sterium Tripolitanum begegnet seine Schrift Consideratio Visionum von 1634 wiederholt der vermehrten Veröffentli­

1  Den Begriff ‚Gesichtsstreit‘ prägte der lutherischen Theologe, Erbauungsschriftsteller und Su­ perintendent von Lübeck August Pfeiffer (1640–1698). Er übernimmt ihn aus den Streitschriften selbst. Vgl. August Pfeiffer: Antienthusiasmus. Oder: Schrifftmäßige Offenbahrung/ Was von denen Enthusiasten/ neuen Propheten und Visionisten/ und ihren Offenbahrungen insgemein/ sowol auch von denen dieser Zeit In einem Send-Schreiben Ausgesprengten Offenbahrungen einer adel. Person insonderheit zu halten sey. Lübeck 1692. 2  Stolterfoht wurde am 20. Juli 1600 in Lübeck geboren, wo schon sein Vater Johannes an der Marienkirche Pastor war. Er studierte in Rostock, Wittenberg und Greifswald, nahm 1624 in Ros­ tock die Magisterwürde an und wurde 1626 Diakon an der Marienkirche in Lübeck. Seit dem Jahr 1649 bis zu seinem Tod war er Pastor dort. Er starb am 4. März 1668 mit 68 Jahren. Als sein Hauptwerk kann gelten: Conscientia In Genere, Das ist Gründlicher Bericht Vom Gewissen ins gemein/ Daß es sey; Was es sey; Warumb es sey; Vnd wie es recht zu prüfen vnd zu forschen sey. Lübecke 1654. Vgl. Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrtenlexikon. Bd. 4. Hildesheim/ Zürich/New York 2003 [ND der Ausg. Leipzig 1751], Sp. 858 f. 3  Nicolaus Hunnius: Außführlicher Bericht von der Newen Propheten […] Gestellet durch Das Predigamt der Christlichen Gemein zu Lübeck/ Hamburg/ vnd Lüneburg. Lübeck 1634, Bl. biijv.

28 

 Anika Höppner

chung von Visionsberichten.4 Im Gegensatz zur Schrift des Hunnius setzt Stol­ terfohts Gründliches Bedencken allerdings vornehmlich auf die Kraft eines diffe­ rentiellen Akts. Um dem Anspruch ‚neuer Propheten‘5 auf die Verbreitung neuer christlicher Glaubensgrundsätze entgegenzuwirken, ruft er eine Unterscheidung zwischen immediaten und mediaten Offenbarungen auf. Wohl in Anlehnung an Philipp Melanchthons Erklärung zu den zahlreichen Gütern, die Gott den Gläu­ bigen sowohl durch Mittel als auch ohne Mittel zukommen lasse, leugnet Stolter­ foht zwar grundsätzlich nicht: daß Gott der HErr noch heutiges Tages Offenbarungen gebe […]. Ob aber solche Offen­ barungen immediate vnd ohn Mittel/ in sonderlichen Gesichten/ oder aber mediate, ver­ mittels dem gepredigten vnnd fleissig betrachteten Worte geschehen sollen? Davon ist die Frage […].6

Am Anfang der wohl bedeutendsten innerprotestantischen Kontroverse um reli­ giöse Visionen steht damit eine quasi-medientheoretische Unterscheidung. Mit der Gegenüberstellung zweier verschiedener Übertragungsverhältnisse entfacht

4  Jacob Stolterfoht: Consideratio Visionum. Oder Gründliches Bedencken/ Was von Gesichtern heutiges Tages zu halten sey. Lübeck 1634. Bekannt von Jacob Stolterfoht ist aus der Zeit vor diesem Streit die Meckelnburgische AusszugsPredigt, Oder Christlicher Sermon, Als Der Durch­ leuchtige Hochgeborne Fürst und Herr, Herr Adolph Friedrich, Hertzog zu Meckelnburg, […] den 17 Julii des jetztlauffenden 1631 Jahres von Lübeck […] auffgebrochen, sich wiederumb in dero ErbLand zu begeben. Lübeck 1631. Des Weiteren gab Stolterfoht – neben der Publikation verschiedener Predigten – die Lebensgeschichte des David Joris heraus: HISTORIA von David Geörgen/ einem heillosen Mann/ vnd Gotteslästerlichen ErtzKetzer. Lübeck 1635. In dieser Schrift artikulierte Stolterfoht eine deutliche Absage an alle ‚Ketzer‘, ‚Lügenpropheten‘ und ‚Irr­ geister‘, die wie z. B. David Joris die Gutgläubigen verführen würden, deren Lebensgeschichte aber immerhin noch als schlechtes Beispiel für die Lesenden dienen könnte (ebd., S. 7). 5  Die Bezeichnung „neue Propheten“ rekurriert bei Stolterfoht auf Personen, die mit ihren ‚Ge­ sichten‘ im 16. und 17. Jahrhundert den gleichen, aber unmöglichen Anspruch auf die Errichtung von zusätzlichen Glaubensgrundsätzen erheben, wie es die biblischen Propheten in ihrer Zeit getan haben. Nach Festschreibung der christlichen Lehre stehen ‚neue Propheten‘ nach Stol­ terfoht in der Opposition zu biblischen Sehern. Jacob Stolterfoht: Consideratio Visionum, Oder Gründliches Bedencken/ Was von Gesichtern heutiges Tages zu halten sey. Lübeck 1634, S. 19 ff. 6  Ebd., S. 346. Zur Unterscheidung bei Melanchthon vgl. z. B. Corpus Doctrinæ Christianæ. Das ist Gantze Summa der rechten waren Christlichen Lehre des heyligen Evangelij. Frankfurt a.M. 1560, Bl. 215v: „So man nuh etlicher massen verstehet/ was Danckbarkeyt ist/ sol man auch be­ trachten/ warumb sie vonn Gott/ ernstlich gebotten ist/ nemlich/ daß wir in vnser vbung lernen warheyt gegen Gott erzeigen/ vnnd bekennen/ daß wir so viel Güter von jhm empfahen/ etliche ohne mittel/ vnd etliche durch mittel/ von jhm geordnet/ darnach auch/ daß vnser hertz jhm zu dienste verpflicht sey […].“ Vgl. zur Unterscheidung der verschiedenen Geistgaben auch 1 Kor 12–14.



Apologie der Indifferenz 

 29

der Lübecker Theologe Streitigkeiten, die noch bis in die 90er-Jahre des 17. Jahr­ hunderts währen sollten.7 Seine programmatische Grenzziehung zwischen visi­ onären Bildern und gepredigtem Wort, zwischen ‚ExtraordinarGaben‘ und ‚Ordi­ narGaben‘, stellt den religiösen Wert neuen visionären Schrifttums von Grund auf infrage. Stolterfoht dementiert die Wahrheit zeitgenössischer Visionen und Pro­ phezeiungen mit der Abfassung einer medialen Historiografie, die einen notwen­ digen Einsatz von Medien in Religionsfragen begründet: Während Gott in frühen Zeiten die christliche Lehre noch in räumlicher und zeitlicher Präsenz ergänzt habe, wäre der Kanon seit dem Ende der apostolischen Zeit vollständig und würde keiner Gesichte mehr bedürfen. Die Zeit der Unmittelbarkeit wäre demge­ mäß vorbei. Es gelte im Glauben und in der Theologie, den Blick auf die von Gott verordneten, ‚ordentlichen‘ Medien des Heils zu richten: Nur die Sakramente und das Wort Gottes, in biblischer und gepredigter Form, könnten den Menschen selig machen und seien deshalb den Gesichten vorzuziehen. Insofern diese Grenzziehung und die damit entstehende neue Auffassung von Medien auch ein neues Verständnis von Theologie nach sich ziehen, führt Stolter­ fohts Consideratio einen entscheidenden Paradigmenwechsel in der Betrachtung von Visionen vor.8 Sie markiert den Abschied von dem traditionellen theologischen Denksystem, welches auf dem Konzept der discretio spirituum beruht – also auf der Lehre von der kritischen Bestimmung des Ursprungs von Visionen.9 Besonders betroffen von diesem Abschied von der ‚Unterscheidung der Geister‘ zeigt sich der lutherische Theologe Jacob Fabricius (1593–1654), Hofpredi­ ger in Stettin beim Herzog von Pommern, Bogislaw XIV., und Superintendent der

7  Wichtige Hinweise zu einer historischen Betrachtung dieser Kontroverse liefert Jonathan Strom: Jacob Fabricius, Friedrich Breckling und die Debatte um Visionen. In: Der radikale Pietis­ mus. Perspektiven der Forschung. Hg. v. Wolfgang Breul, Marcus Meier u. Lothar Vogel. Göttin­ gen 2010, S. 249–269. 8  Der Begriff „Paradigmenwechsel“ soll hier in Anlehnung an Thomas S. Kuhn einen grundsätz­ lichen Wandel von Denkmustern bzw. eine Veränderung der Rahmenbedingungen für wissen­ schaftliche bzw. theoretische Aussagen (gleich Paradigmen) bezeichnen. Vgl. Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a. M. 2003. 9  Im Streit um die Visionen ging der neuen medientheoretischen Differenz lange Zeit die Leit­ unterscheidung zwischen ungleich-übersinnlichen Einsichten voraus: Göttliche Visionen seien von teuflischen Verführungen abzugrenzen. Üblicherweise wurde diese Unterscheidung mehr durch die Prüfung der Personen und ihrer religiösen Integrität, weniger durch die Prüfung der Visionen herbeigeführt. Zur Theologie der discretio spiritium in der Bibel und in der christlichen Tradition, wie sie später v.a. durch den Kanzler der Pariser Sorbonne, durch Johannes Gersons De probatione spirituum bekannt wurde, vgl. Cornelius Roth: Discretio spirituum. Kriterien geist­ licher Unterscheidung bei Johannes Gerson. Würzburg 2001, S. 30–60.

30 

 Anika Höppner

Feldprediger Gustav Adolfs.10 Trotz massiver Kritik aus dem eigenen Geistlichen Ministerium verteidigt Fabricius die Visionen vehement gegen Stolterfoht. Als Herausgeber von visionären Berichten, wie z. B. die des Johann Warner, behaup­ tet Fabricius in seiner Probatio Visionum von 1642 die anhaltende Existenz von göttlichen Offenbarungen in Anlehnung an die discretio spirituum des Johannes Gerson und also nach der traditionellen kategorialen Bestimmung.11 Sein Ziel ist die Etablierung untrüglicher Kennzeichen, durch die göttliche Offenbarungen von teuflischen Verführungen abgegrenzt werden können. Anhand zahlreicher biblischer und zeitgenössischer Beispiele führt er die potenzielle Rechtmäßigkeit von Visionen und die Notwendigkeit einer discretio vor. Gegen diese Form der discretio setzt sich Stolterfoht in den kommenden Jahren öffentlichkeitswirksam zur Wehr.12 Als direkte Offensive gegen die Posi­ tion seines Widersachers formuliert er für die Neuauflage der Consideratio im Jahr 1645 eine umfassende Apologia. Oder christ= gebür= vnnd bescheidentliche Beantwortung dessen/ was für die heutigen Gesichter hat wollen durch öffentliche

10  Auf Wunsch von Gustav Adolf begleitete Fabricius den König ab 1631 auf dessen Zügen durch Deutschland. Dabei trat Fabricius vor allem in der Funktion als Hofprediger, Beichtvater und Be­ rater für Gustav Adolf auf. Vgl.: [Art.] „Fabricius, Jacob“. In: NDB  4 (1959), S. 735. Literarisch hat er sich durch eine Reihe exegetischer und homiletischer Schriften, besonders durch die Leichen­ predigten auf Gustav Adolf und auf Herzog Bogislaw XIV., hervorgetan. Ob der Text des womög­ lich von Gustav Adolf angeregten Liedes Verzage nicht, du Häuflein klein! von Fabricius oder von M. Altenburg stammt, ist nicht eindeutig geklärt, wurde aber z. B. von Berthold Kitzig zugunsten von Fabricius entschieden. Vgl. Berthold Kitzig: Gustav Adolf, Jacobus Fabricius und Michael Altenburg. Die drei Urheber des Liedes „Verzage nicht, du Häuflein klein!“ Göttingen 1935. Vgl. ebd., außerdem Gottfried von Bülow: [Art.] „Fabricius, Jacob“. In: ADB 6 (1968), S. 514 f. Friedrich Wagnitz: Jacob Fabricius (1593–1654). Herzoglicher und Königlicher Hofprediger im Dreißigjäh­ rigen Kriege. In: Persönlichkeiten aus der pommerschen Herzogszeit. Teil 2. Kiel 2003, S. 28–51. 11  Seine Bezugnahmen sind titelgebend. Vgl. Jacob Fabricius: Probatio Visionum: Das ist: Christliches, in Gottes Wort unnd bewährten Schrifften reiner Theologen wolgegründetes Be­ dencken Von Gesichtern, Deren etliche können Göttliche Offenbarungen, etliche aber Teuffli­ sche Veführungen seyn. Nümberg 1642. 12  Das Allgemeine Gelehrtenlexikon des Christian Gottlieb Jöcher von 1751 weiß über Stolterfoht außer über die wichtigsten Stationen seines Lebens und seine bekanntesten Schriften nur den „langwieriegen Streit“ mit Fabricius zu berichten: „Er gab 1632 Considerationem visionum, oder ein schrifftmäßiges Bedencken von Gesichtern heraus, welches D. Jac. Fabricius in der proba­ tione visionum angriff; Stolterfoht aber 1647 in der Consideratione visionum apologetica ver­ theidigte; worauf Fabricius invictam visionum probationem schrieb; Stolterfoht aber 1647 eine nothwendige Wahrheit und Ehren-Rettung gegen D. Fabricium, ingleichen nochmalige Wieder­ holung der Streitigkeit von neuen Gesichten edierte.“ (Jöcher: Allgemeines Gelehrtenlexikon [Anm. 2], Sp. 858 f.)



Apologie der Indifferenz 

 31

Schrifften hat eingewand werden.13 Darin artikuliert er als Auftakt zur Verteidi­ gung seiner früheren Arbeit eine deutliche Kampfansage: Als kan ich nicht vmbhin/ sondern muß nochmahlen/ als ein guter Streiter JEsu Christi/ mit dem Harnisch Gottes angethan/ mich ins Feld wagen/ vnd für die Warheit in dieser Sachen/ mit getrostem Muth vnd Hertzen kämpffen/ nicht zweiffelend/ dieweil auch meine Sache des HErrn/ vnd mein Ampt meines Gottes ist/ er werde dazu seines H. Geistes Gnadenkrafft reichlich verleihen/ daß alles zu seines grossen Nahmens Ehrenbeforderung […] wol auß­ geführet werden möge.14

Im weiteren Verlauf der Apologia, so könnte man meinen, geht Stolterfohts Vertei­ digungsschrift jedoch weniger beherzt gegen die ‚Unterscheidung der Geister‘ vor. Insofern die immediaten Offenbarungen kein Heil versprechen würden, so ließe sich das defensiv anmutende Hauptargument zusammenfassen, seien diese nicht notwendiger Bestandteil des lutherischen Glaubens. Der Versuch einer Unter­ scheidung zwischen göttlich und nicht-göttlich gewirkten immediaten Offenba­ rungen wäre zwar keine Sünde, doch auch keineswegs erforderlich.15 Stolterfoht kommt zu dem Schluss, „daß keine Nothwendigkeit vns obliege/ die heutigen Gesichter mit so grosser Mühe zu prüfen/ wie gut oder böse sie seyn“.16 Als das schlichtweg Andere der amtlich verordneten Medien könnten die Gesichte unun­ terschieden getrost geglaubt oder schlichtweg vernachlässigt werden, so „daß man hierin einem jeglichen seine Freyheit gantz gern gönne.“17 Angesichts der behaupteten Gleichgültigkeit von Gesichten wirken die rhe­ torische Vehemenz der nachfolgenden Verteidigungsschriften, die Dauer und Ergebnisoffenheit der Streitigkeiten und die zunehmende Polemik, mit der um die Rechtmäßigkeit von Gesichten in den Folgejahren gestritten wird, unverhält-

13  Jacob Stolterfoht: Apologia. Oder christ= gebür= vnnd bescheidentliche Beantwortung dessen/ was für die heutigen Gesichter hat wollen durch öffentliche Schrifften hat eingewand werden. In: Consideratio Visionum Apologetica, Das ist schriftmässiges Bedencken, Was von Gesichtern heutiges Tages zu halten sey. Lübeck 1645, S. 185–512. 14  Ebd., S. 199 f. 15  Auch Stolterfoht schließt prinzipiell an die gängige Unterscheidung der Gesichte nach den wirkenden Ursachen in göttliche Gesichte, teuflische Gesichte und natürliche Gesichte an. Zu den letzteren seien auch die natürlichen Träume gezählt worden. Ebd., S. 11 ff. 16  Ebd., S. 272. 17  Ebd., S. 234.

32 

 Anika Höppner

nismäßig. Dass das Postulat der Adiaphorie18 tatsächlich als schlagkräftiges Argu­ ment einer Offenbarungskritik hat greifen können, wird hingegen klar, wenn man die theoretischen Ausführungen der Apologia als Replik im doppelten Sinne liest: Sie sind nicht nur Gegenrede in einem kodierten Streitverfahren, sondern wie­ derholen zudem eine prominente Rechtfertigungsstrategie protestantischer Kon­ fession, die das religiöse Bekenntnis ein halbes Jahrhundert zuvor schon einmal maßgeblich geprägt hat. Beleuchtet man die Aussagenlogik der Apologia in ihrer historischen Dimension, so wird verständlich, wie die Seher im vermeintlichen Versprechen auf Freiheit erfolgreich der Häresie bezichtigt wurden. Mit Blick auf die Geschichte dieser Argumentationsstrategie muss der Freibrief für die Visio­ näre als rhetorisches Kalkül gewertet werden. Dennoch, so ist anschließend zu zeigen, wird der Paradigmenwechsel, der sich in der Apologia abzeichnet, nicht einfach durch die Wiederholung einer Rechtfertigungsstrategie vorbereitet. Er fußt stattdessen auf einem gänzlich anderen, nämlich unentschiedenen Verhältnis zur Adiaphorie. Bedingung der Möglichkeit des Paradigmenwechsels in der lutherischen Offenbarungslehre ist ein radikales Außerkraftsetzen alter Unterscheidungsmuster und Paradigmen, mit Roland Barthes gesprochen, „das Dazwischentreten eines dritten, komplexen Terms und nicht des neutralen Nullterms.“19

18  Die Bezeichnung „Adiaphorie“ (griech. αδιάφορα, „pherein“, dt. „tragen“, und „dia“, dt. „durch“) wird verwendet für eine Sphäre von „nicht Unterschiedenem“ oder „Unausgezeich­ netem“. Zwischen erlaubten und unerlaubten, zwischen gebotenen und verbotenen, zwischen richtigen und falschen Dingen angesiedelt, sind die Adiaphora nicht schon von jeher durch das alles entscheidende Wort Gottes als gut oder böse deklariert, sondern erfordern eine gewisse Gleichgültigkeit. Die deutsche Übersetzung des Begriffs lautet „Mitteldinge“. Vgl. [Art.] „Adia­ phora“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter. Bd. 1. Basel/Stuttgart 1971, Sp. 83–85. 19  Roland Barthes: Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977–1978. Hg. v. Eric Marty. Übers. v. Horst Brühmann. Frankfurt a.M. 2005, S. 107. Das Paradigma bestimmt sich bei Roland Barthes in Anlehnung an die strukturale Linguistik anders als bei Thomas S. Kuhn durch eine sinnstiftende Opposition: „Was ist das Paradigma? Es ist die Opposition zweier virtueller Terme, von denen ich einen aktualisiere, wenn ich spreche, wenn ich Sinn erzeugen will. […]. [W]o ein Paradigma (Opposition) besteht, gibt es Sinn. […] Das eine auswählen und das andere zurück­ weisen heißt stets dem Sinn opfern, Sinn hervorbringen, verfügbar machen.“ (Ebd., S. 32 f.)



Apologie der Indifferenz 

 33

1 Das Urteil der Adiaphorie Obwohl Stolterfoht schon in der Erstausgabe seiner Consideratio darauf verzichtet, über die ‚neuen Propheten‘ und ihre zahlreichen Anhänger zu urteilen, führt er die christliche Freiheit zum ersten Mal explizit in der Apologia ins Feld. Schon in deren „Eingang zur Verantwortung“ kommt er darauf zu sprechen, dass er „niemand/ der auff die Gesichter/ so weit sie mit Gottes Wort zustimmen/ vnd überein kommen/ etwas hält/ seine Freyheit begehre zu nehmen/ noch ihn so bald zu richten vnd zu verdammen.“20 Diese Freiheit ist für Stolterfoht grundsätzlich im Hinblick auf das persönliche Seelenheil des Einzelnen gedacht; sie steht in der Tradition des luthe­ rischen Freiheitsverständnisses21 und meint eine Gewissensfreiheit des Gläubigen gegenüber äußerlichen Dingen, wie etwa Gesichten. Auf einer solchen Gewissens­ freiheit baut Stolterfohts Argumentation auf, wenn mit der Apologia eine allge­ meine Notwendigkeit der visionären Erfahrungen bestritten werden soll. Begrün­ det wird die christliche Freiheit, genauer, die Absenz einer Heilsnotwendigkeit von Gesichten, durch die Anhäufung mannigfacher Facetten von Ungewissheit: Gesichte seien, so Stolterfoht in seinen Ausführungen, nicht eindeutig von Gott geboten noch verboten worden und daher ein „vngewisses Ding/ dieweil mans je auff Gottes Wissenschaft/ die vns in diesem Stück vnwissend ist/ verstellen muß“.22 Frei von Zweifel ist für Stolterfoht hingegen nur das Wort Gottes; „[m]it den zeitgenössischen Gesichtern vnd vnmittelbaren Erscheinungen aber ists nicht also beschaffen/ die sind nicht gewiß vnd ausser allem Zweiffel; sondern man findet Zweiffel vnnd Vngewissheit darin auf allen Ecken.“23 Da sich durch das ‚ideale‘ Medium der Offenbarung, durch die Heilige Schrift und ihrer Auslegungs­ praxis, kein eindeutiges Urteil über die neuartigen Gesichte fällen lasse, sei einem epochentypischen verstärkten Medien-Werden der Gesichte entgegenzuwirken.24

20  Stolterfoht: Apologia (Anm. 13), S. 200. 21  Luther versteht unter christlicher Freiheit, die Tatsache, dass der Gläubige einzig im Glauben an Christus frei von Gesetzen, Geboten oder dem Zwang zu guten Werken ist. Vgl. Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen [1520]. In: WA 7, 12–38. 22  Stolterfoht: Apologia (Anm. 13), S. 220. 23  Ebd., S. 209. 24  Vgl. Joseph Vogl: Medien-Werden. Galileis Fernrohr. In: Mediale Historiographien 1 (2001), S. 115–123. Vogl vertritt die Annahme, dass Medien nie im substantiellen und historisch dauer­ haften Sinn existieren: Medien sind stets als Dispositive zu denken, die erst durch bestimmte Transformationsprozesse hervorgebracht werden. Sie zeichnen sich nach Vogl dadurch aus, dass sie das, was sie speichern, verarbeiten und vermitteln, jeweils unter Bedingungen stellen, die sie selbst schaffen und sind. Vgl. auch Lorenz Engell/laus Pias u. a. (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart 1999, S. 8–11, hier S. 8.

34 

 Anika Höppner

Stolterfohts Apologia fordert also mit der Berufung auf den Zweifel eine Umdeu­ tung der Gesichte von einem komplexen Faktor des Glaubens zur Nebensache ein.25 Infolge dieser produktiven Transformation, so Stolterfoht an späterer Stelle ausdrücklich, sei aber auch eine indifferente Haltung gegenüber den Adiaphora einzuklagen. Es sei in diesem strittigen Punkt „einem jeglichen seine Freyheit [zu] lassen/ vnd dem Gewissen darin keinen Nothzwang [zu] machen/ darüber Gottes Wort keinen Nothzwang gemacht hat.“26 Mit dem Verweis auf Ununterscheidbarkeit zwischen den ‚guten‘ und den ‚bösen‘ Geistern spart Stolterfohts Apologia hier jedoch nicht nur das Urteil über den Wert der Gesichte aus. Als rhetorische Volte erweckt dieser Befund auch den Anschein einer Absage an apodiktische Zustände. „Rettet, worauf es nicht ankommt! Rettet die Adiaphora“, schreit es an dieser Stelle unverhohlen aus dem Text, denn umgekehrt gilt, die „Adiaphora retten die Freiheit“: Sie sind „Indizien der Gelassenheit angesichts absoluter Begriffe. Sie sind Momente von Freiheit.“27 Mit der Berufung auf Freiheit durch Adiaphorie suspendiert die Apologia vor­ herrschende Denkmuster zugunsten einer dritten Position, durch die Befürworter und Gegner der Gesichte in einen Dialog treten könnten und die somit Gemein­ schaft stiften könnte. Damit weist die Schrift den von Fabricius formulierten Vorwurf des unhinterfragten Einspruchs gegen die Gesichte zurück. Sie verfasst stattdessen ein Plädoyer für eine Entscheidungsverweigerung, nach der weder Anhänger noch Gegner zu tadeln wären. Wichtigster Gewährsmann für diese For­ derung ist Stolterfoht dabei Martin Luther, dessen Schrift Wider die himmlischen Propheten von 1525 verschiedentlich zur Beglaubigung herangezogen wird.28 Dass sich jedoch theoretisch gleichgültige Dinge, wie sie Stolterfoht hier ent­ wirft, in der religiösen Praxis als hochgradig prekär erweisen, weiß man spätes­ tens seit den 40er-Jahren des 16. Jahrhunderts. Damals schlägt die indifferente Haltung gegenüber Adiaphora deshalb binnen weniger Jahrzehnte in strikte

25  Stolterfoht: Apologia (Anm. 13), S. 339: „Was aus der Schrifft keinen Beweißthumb hat/ wird eben so leicht verworffen/ als probieret.“ 26  Ebd., S. 235, S. 275: „Wann dann die Gesichter auch in solchen Dingen/ die doch Gottes Wort nicht zu wieder lauffen/ gantz zweifelhafftig seyn/ so mag sie annehmen/ wer sie wil; es mag sie auch fahren lassen/ wer sie will/ niemand wird sich so groß daran versündigen.“ 27  Wilhelm Schmidt-Biggemann: Sinn-Welten, Welten-Sinn. Eine philosophische Topik. Frank­ furt a.M. 1992, S. 91. 28  Vgl. Stolterfoht: Apologia (Anm. 13), z. B. S. 235: „Vnd ist nicht zu gestatten/ daß man Sünde vnd Gewissen mache/ da keins ist/ vnnd Seelen ohn Noth gemordet werden; spricht D. Luther im 1 Th wieder die Himlischen Propheten.“ Vgl. Martin Luther: Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament [1525]. In: WA 18, 37–214.



Apologie der Indifferenz 

 35

Ablehnung um. Während Luther seinerzeit noch dazu rät, gesellschaftlichen und religiösen Zwängen, solange sie nicht im Widerspruch zu Gottes Wort stehen, nachzukommen, regelt der zehnte Artikel der Konkordienformel seit 1577 das protestantische Bekenntnis zur strikten Ablehnung zweifelhafter ‚Mitteldinge‘: Wir gläuben, lehren und bekennen, daß zur Zeit der Verfolgung, wann eine runde Bekennt­ nis des Glaubens von uns erfordert, in solchen Mitteldingen den Feinden nicht zu weichen, wie der Apostel geschrieben: So bestehet nun in der Freiheit, damit uns Christus befreiet hat […] Denn in solchem Falle ist es nicht mehr um Mittelding, sondern um die Wahrheit des Evangelii, um die christliche Freiheit und um die Bestätigung öffentlicher Abgötterei […] zu thun …29

Was zu dem Bruch mit dem lutherischen Toleranzdenken und speziell zum zehnten Artikel der Konkordienformel geführt hat, sind die innerprotestanti­ schen Lehrstreitigkeiten, die mit dem sogenannten adiaphoristischen Streit ein­ setzen.30 Anlass dieses prominenten Streites sind die Leipziger Artikel, eine 1548 herausgegebene kaiserliche Kirchenordnung, mit der Protestanten, allen voran Philipp Melanchthon, deutliche Zugeständnisse an die Katholiken formulieren. Nach der Niederlage im Schmalkaldischen Krieg sollen um des Friedens willen Zeremonien, Rituale und Traditionen, die für die Protestanten keinen Wert haben (z. B. Heiligenverehrung, Firmung, Ölung, Elevation oder lateinische Gesänge), (wieder) in den protestantischen Glauben einkehren. Diese Kompromisse wären einigermaßen erträglich, so die Meinung der Wittenberger Philippisten, da sie lediglich Adiaphora, also gleich-gültige Dinge betreffen und daher keine Sünde darstellen würden. Heftige Kritik am ‚Leipziger Interim‘ und dessen Verteidigern kam hingegen aus Magdeburg, und besonders vom Gnesiolutheraner Matthias Flacius Illyri­ ������� cus (1520–1575). Dessen Schriften definieren Adiaphora ebenfalls als durch den Menschen frei verfügbare Dinge,31 doch entziehe sich laut Flacius nichts der Zuordnung zu Gutem oder Bösem, wenn es in statu confessionis gelte, den

29  „Von Ceremonien oder Kirchengebräuchen, welche in Gottes Wort weder geboten noch ver­ boten, sondern von guter Ordnung und Wolstands willen in der Kirche eingeführet, das sich auch zwischen den Theologen Augsburgischer Confession ein Zwiespalt zugetragen.“ In: For­ mula Concordiae X. Von Kirchengebräuchen so man Adiaphora oder Mitteldinge nennet (1577). 30  Vgl. z. B. Ernst Koch: [Art.] „Adiaphoristischer Streit“. In: Religion in Geschichte und Gegen­ wart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 1. Bd. Hg. v. Hans Dieter Betz u. a. Tübingen 1998, Sp. 119. 31  „Adiaphoron/ auff Latein Indifferens, auff Deudsch Mittelding genant/ heist ein solch ding/ an welchem seiner natur halben nichts sonderlichs gelegen ist/ es werde gehalten oder nicht gehalten/ man handel/ halte/ oder begehe es auff diese oder auff jene weise.“ Matthias Flacius

36 

 Anika Höppner

wahren Glauben zu verteidigen. Da religiöse Veränderungen stets den Anschein einer Notwendigkeit erwecken und dadurch den Glauben der einfachen Leute erschüttern würden, da sie also „den schwachen ein Ergernis“32 wären, gäbe es schlichtweg keine Adiaphora in Religionsfragen: Alle Caeremonien vnd kirchengebreuch/ sie sind an ihnen selbst so frey/ als sie immer wollen/ Wenn zwang/ falscher wahn als weren sie ein Gottesdienst vnd müsten gehalten werden/ Verleugnung/ ergernis/ öffentlicher anfang zum Gottlosen wesen darzu kompt/ vnd wenn sie die Kirche Gottes/ in waserley weise solchs geschehen mag/ nicht bawen/ sonder verstören vnd Gotte verhönen/ so sinds nicht mehr Mittelding.33

Statt eine Gleich-Gültigkeit auszuhalten, setzt sich Flacius in seinen Schriften wiederholt für eine regelrechte Verteufelung der Indifferenz ein. Zwar wäre die Existenz eines Indifferenzbereiches nach dem göttlichen Gesetz begründet, aber gleichermaßen wären spezielle Adiaphora durch dasselbe Gesetz nicht ohne Ärgernis konstituierbar.34 Im Grunde geht der Adiaphorie bei Flacius somit die Unterscheidung zwischen dem wertneutralen Ding an sich und seiner reprä­ sentativen, bekenntnishaften Funktion voraus. In beiden Funktionen müsse die Indifferenz gewährleistet sein, um keine Kluft zwischen der theoretischen und praktischen Existenz der Adiaphora zu verursachen. Das Gebot der Adiaphora wäre demnach zwar generell notwendig, ihr spezielles Gebotensein dagegen unmöglich. Vor allem aber angesichts der Bedrohung durch die Feinde der Augs­ burger Konfession wäre es keinesfalls zulässig, Freiheit über die Mitteldinge zu gewähren. Stattdessen müsse man die Adiaphora wegen der versöhnlichen Konsequenzen, die mit ihrem praktischen Einsatz verbunden wären, ablehnen und den „Adiaphoristen vnerschrocken widderstehen […]/ ein jder nach seinem vermögen. Denn sie wandeln furwar nicht richtig nach der warheit des Evange­ lij/ Ja/ sie verraten vnd verkeuffen die ware Religion.“35 Diese unbeugsame Posi­

Illyricus: Ein buch/ von waren vnd falschen Mitteldingen/ Darin fast der gantze handel von Mit­ teldingen erkleret wird/ widder die schedliche Rotte der Adiaphoristen. Magdeburg 1550, Bl. Iij. 32  „Adiaphoron/ auff Latein Indifferens, auff Deudsch Mittelding genant/ heist ein solch ding/ an welchem seiner natur halben nichts sonderlichs gelegen ist/ es werde gehalten oder nicht gehalten/ man handel/ halte/ oder begehe es auff diese oder auff jene weise.“ Matthias Flacius Illyricus: Ein buch/ von waren vnd falschen Mitteldingen/ Darin fast der gantze handel von Mit­ teldingen erkleret wird/ widder die schedliche Rotte der Adiaphoristen. Magdeburg 1550, Bl. Iij. 33  Ebd., Rückseite des Titelblatts. 34  Vgl. Reimund B. Sdzuj: Adiaphorie und Kunst. Studien zur Genealogie ästhetischen Den­ kens. Tübingen 2005, S. 142. Ausführlicher zu den interimistischen und adiaphoristischen Kon­ troversen und zur Position des Matthias Flacius vgl. ebd., S. 127–171. 35  Flacius: Ein buch/ von waren vnd falschen Mitteldingen (Anm. 31), Bl. Vr.



Apologie der Indifferenz 

 37

tion, durch die den Adiaphora in der Folgezeit der Schein der Falschheit und der Arglist anhaften wird, kommt einem unwiderruflichen Urteilsspruch gleich. Der historische Fall nimmt all die Dinge, die nicht schon in der Bibel verhan­ delt werden, nachträglich ins Gericht, beschuldigt sie des Verrats an der Refor­ mation und schickt sie im Namen der Bibel ins Exil. Zumal das adiaphoristische Gerichtsverfahren in der Öffentlichkeit mit besonders großen Erwartungen ver­ knüpft gewesen war, erlangte auch das abschätzige Urteil in der Folgezeit enorme Breitenwirkung und Suggestivkraft. Flaciusʼ Votum gegen die Adiaphora schreibt sich – wie zuvor gesehen – in die Konkordienformel und damit schließlich in die lutherische Theologie ein.36 Auch der Gesichtsstreit zwischen den Lübecker und den Stettiner Theologen zehrt von dieser Debatte. Ganz offensichtlich kennt Stolterfoht die Diskussio­ nen um die strittigen Adiaphora, denn seine Apologia nimmt verschiedentlich Bezug darauf. Schon die ersten Worte des ersten Kapitels schlagen die Brücke zu jenem Gelehrten, der durch seinen Einsatz gegen die Mitteldinge im adiapho­ ristischen Streit einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht hatte.37 Mit einem Zitat von Flacius Illyricus wird an prominenter Stelle des Textes dessen Konzept von Notwendigkeit aufgegriffen und auf den strittigen Sachverhalt übertragen. In der anschließenden Beantwortung der Frage, „[o]b die heutigen Gesichter nothwen­ dig müssen angenommen werden“, wird über die Behauptung einer Ähnlichkeit ein erster Bezug zwischen den Gesichten und anderen Adiaphora hergestellt. Im Verweis auf zahlreiche weitere Mitteldinge, also „[d]ieweil auch sonsten viel Ding an sich selbst nicht vnrecht/ noch Gottes Wort zu wiedern seyn“,38 subsumiert der fünfte Unterpunkt schließlich auch die Gesichte unter die Adiaphora. Als wichtigste Übereinstimmung zwischen Gesichten und anderen Adiaphora gelten Stolterfoht vor allem eine grundsätzliche Rechtmäßigkeit der Gesichte und ihr Nicht-Gebotensein sowie ihr Nicht-Verbotensein durch die Heilige Schrift. Da Gottes Wort als oberstes Gesetz auch zu den Gesichten keine eindeutige Stellung­ nahme abgebe, würden sie in der Verantwortung und Entscheidungsgewalt des

36  Der von Heinrich Moller verfasste Endliche[ ] Bericht und Erklerung der Theologen beider Universiteten Leipzig und Wittemberg […] belangend die Lere […] von anfang der Augspurgischen Confession bis auff diese zeit […] (Wittenberg 1570) enthält dagegen beispielsweise noch eine „Warnung/ […] von den streittigen Artikeln/ so Flacius Illyricus mit seinem Anhang nu lange zeit her vielfeltig […] vnd dadurch die Kirchen Gottes in Deudschland jemerlich vervnruhiget/ betrübt vnd zerrüttet hat“. 37  Vgl. Stolterfoht: Apologia (Anm. 13), S. 202. 38  Ebd., S. 242.

38 

 Anika Höppner

Menschen liegen: „Was aus der Schrifft keinen Beweißthumb hat/ wird eben so leicht verworffen/ als probieret.“39 Dieses allgemeine Verständnis von Ununterscheidbarkeit, bei dem die Apologia wie gesehen an den meisten Stellen stehenbleibt, wird dann in der Beantwor­ tung der Frage allerdings maßgeblich erweitert. Denn im Sinne der flacianischen Konkretisierung werden die Gesichte hier nun im zweiten Kapitel der Apologia erstmals und einzig auf ihre praktischen Auswirkungen und ihre Folgeerscheinun­ gen hin untersucht. Insofern auch andere Adiaphora existieren würden, „die doch vmb einer bösen consequentz vnd Nachfolge wille[n]/ nicht zugelassen/ sondern vielmehr verboten werden“,40 wäre auch hier die genaue Prüfung der Umstände nötig. Stolterfoht betont so jene Situationsgebundenheit der neuen Gesichte, durch die schon die strittigen „Kirchengebräuchen so man Adiaphora oder Mittelding nennet“41 verboten worden sind. Das, was dabei nach Stolterfoht unter einer ‚bösen consequenz’ zu verstehen ist, tritt durch Musterbeispiele aus der Bibel oder der griechischen Mythologie als geschichtstheologische Denkfigur in Erscheinung. Die keusche Lucretia, die nach ihrer Vergewaltigung durch Tarquinius lieber sterben will, als dass daraus für unzüchtige Frauen eine Entschuldigung entstünde, ist Stolterfoht ebenso beispielhaft wie der kritische Standpunkt Hannos bei Hannibals Wahl zum Feldherrn.42 Als Musterbeispiele erzeugen die historischen Fälle eine Evidenz, die an der Notwendigkeit einer Prüfung des historischen Kontextes von Gesichten und an den möglichen gefährlichen Auswirkungen der Gesichte keinen Zweifel mehr lässt. Diese Einsicht bestätigt der Text, wenn er ein Geflügeltes Wort des Livius hinzusetzt.43 Im Anschluss an die Beispiele folgt die Konkretisierung dieses Wissens für die Gesichte: Nun laß die heutigen Gesichter vnd Offenbarungen noch so gut vnnd mit GTOtes [sic!] Wort zustimmig seyn/ so hat man sie doch nicht eben nothwendig anzunehmen/ sondern mit gantz gutem Gewissen kann man dieselben an einen Ort stellen/ vmb der bösen conse­ quentz vnd Nachfolge willen.44

39  Ebd., S. 339. 40  Ebd., S. 242. 41  Formula Concordiae X (Anm. 29). 42  Vgl. Stolterfoht: Apologia (Anm. 13), S. 243 f. Stolterfoht verweist an dieser Stelle auf die Römische Geschichte des Titus Livius, in der Hanno trotz rechtmäßiger Ansprüche Hasdrubals wegen befürchteter erzieherischer Konsequenzen davon abrät, den jungen Hannibal ins Amt zu setzen (Liv. 21,3). 43  Ebd., S. 244: „Zumalen es dan[n] also gehet/ wie jetzt genandter Livius lib. 35. c. 17. schreibt/ Initium semper per jus injusta impetrandi fieri, Das wan[n] man etwas Vnrechts will erhalten/ allewege der Anfang dann durchs Recht gemacht wird.“ 44  Ebd.



Apologie der Indifferenz 

 39

Die Wiedergabe von allgemein bekannten Stoffen antiker Historie ermöglicht Stolterfoht also konkret die Beantwortung seiner Quaestio und den Einspruch gegen die Gültigkeit und die Autorität der neuen Gesichte. Indem Stolterfoht durch universelle Beispiele aus der Überlieferung antiker bzw. biblischer Fallge­ schichten die Gesichte in die Nähe zu Verbotenem rückt,45 weicht er entschieden von der vormals geäußerten neutralen Position ab. Die Historien werden zum Spiegel der eigenen Zukunft; sie geben eine Ahnung von möglichen Folgen der Gesichte und davon, dass „man [nicht] wissen [kann]/ was für Grewel dahinder verborgen liegen. Vnd ist es sicherer vnd besser/ daß man hie nicht trawe/ als daß man zu viel trawe. Dann Traw wol/ reitet das Pferd weg/ sagen die Deutschen im Sprichtwort.“46 Historische Texte und sprichwörtliche Redensarten dehnen das biblische Gesetz auf die Visionen aus; die Geschichte erscheint hier als erster kon­ kreter Einwand gegen die andernorts behauptete Wertneutralität der Gesichte. Vor allem jedoch spezifischere Beispiele einer religiös motivierten Beanstan­ dung der Adiaphorie liefern dem zweiten Kapitel der Apologia Argumente gegen eine indifferente Haltung gegenüber Gesichten. Mit einem Verweis auf die „Evan­ gelischen KirchenOrdnungen“, die in solchen Fragen zu konsultieren wären, richtet der Text das Augenmerk auch auf normative Texte, die wie die Konkor­ dienformel in Lübeck auch andernorts (und in Stettin) das lutherische Bekennt­ nis und die lutherische Lehre festschreiben.47 Die jüngere protestantische Kir­ chengeschichte zeige zudem, dass „auch sonsten vnser Kirchen viel Dinge/ die doch Gottes Wort eben nicht zu wiedern seyn […] biß dahero nicht haben wollen noch können annehmen.“48 Verschiedene argumentative Parallelen weisen hier den Vorbildcharakter des adiaphoristischen Streites aus. So wiederholt Stolter­ foht z. B. die flacianische Forderung nach der „Warheit des Evangelij“49 oder die

45  Stolterfoht behauptet, dass „[d]as jenige was vergönnet ist/ […] vermietten werden [muss]/ wegen der nahen verwandniß mit dem/ das nicht vergönnet ist.“ (Ebd., S. 242) Wiederholt argu­ mentiert er im semantischen Raster der Ähnlichkeit, hier über die convenientia. Zur Figur der convenientia, welche die Ähnlichkeit durch Nachbarschaft beschreibt, vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M. 2003, S. 47. 46  Stolterfoht: Apologia (Anm. 13), S. 244. 47  Ebd., S. 242. Während die Konkordienformel seit 1577 in Lübeck emphatisch befürwortet wor­ den war, hatte Pommern (Provinzhauptstadt: Stettin) wiederholt abgelehnt zu unterzeichnen. In das pommersche Corpus doctrinæ fand die Konkordienformel daher keinen Eingang. Vgl. HansGünter Leder: [Art.] „Pommern“. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 27. Hg. v. Gerhard Mül­ ler. Berlin/New York 2000. S. 39–54, S. 45. 48  Stolterfoht: Apologia (Anm. 13), S. 244. 49  Ebd., S. 245. Vgl. Anm. 25.

40 

 Anika Höppner

Metapher vom „knechtisch Joch“,50 mit der in der Konkordienformel die religi­ öse Zwangslage beschrieben wird. An anderer Stelle übernimmt er Flaciusʼ Argu­ ment vom Ärgernis der Schwachen, wenn er über die Gesichte behauptet, dass „einfältige Leute dadurch leichtlich vom geoffenbarten Göttlichen Worte können abgeführet werden.“51 Zitate von Tacitus oder Paulus assoziieren obendrein „Falschheit und Betrug“ und fungieren als Warnung vor dem Schein der Unver­ fänglichkeit.52 Als wichtigstes Argument für die Kritik an Gesichten und zugleich als deut­ lichste Reminiszenz an den adiaphoristischen Streit hat jedoch die Unterstellung des statu confessionis im Gesichtsstreit zu gelten. Ausführungen zu drei muster­ gültigen Fällen eines statu confessionis führen dem Leser der Apologia zunächst wieder eine Gesetzmäßigkeit vor Augen und erzeugen den Eindruck von Kohä­ renz. Die Verweise auf das sakramentale Brotbrechen in der reformierten Kirche, auf die Speisegesetze der Altgläubigen und auf die Beschneidung des Timotheus lassen für Stolterfoht die Schlussfolgerung zu, dass der Zwang zu „Adiaphoris vnnd freyen Miteldingen/ die Gottes Wort nicht zugegen seyn“ ebenfalls immer eine entschiedene Absage erfordere.53 Da aber die adiaphoristischen Gesichte unter eben demselben ‚Notzwang‘ aufgebürdet worden seien, wären auch sie in Analogie zu diesen Fällen unerbittlich zu reklamieren. Denn hier gelte jene Ein­ schätzung, die Stolterfoht als missbilligendes „Urtheil Lutheri“ ausgiebt: Wo sich ein Thun oder Lassen findet/ da Gott nicht von gelehret/ geboten noch verboten hat sol mans frey lassen seyn/ wie es Gotte hat selbst frey lassen seyn. Wer aber drüber fähret/ vnd gebeut/ oder verbeut/ doer fället in Gottes eigen Ampt/ beleidiget die Gewissen/ machet Sünde vnd Jammer/ vnd verstöret alles/ was GOtt frey vnd sicher geben hat/ vnd verjaget dazu den H. Geist mit alle seinem Reich/ Werck/ vnd Wort/ daß eytel Teuffel nach bleiben.54

Wo nach Flacius im adiaphoristischen Streit die ‚Papisten‘ als provokative Wider­ sacher zu gelten hätten, geht es Stolterfoht nun darum, die ‚neuen Propheten‘ als eine Sekte und damit als die Feinde des wahren Glaubens auszuweisen. Die angeblich von jenen vorgenommene Unterstellung der Notwendigkeit von Gesich­ ten würde „auf einen Enthusiastischen/ Widertäufferischen/ vnd Weigeliani­

50  „So bestehet nun in der Freiheit, damit uns Christus befreiet hat, und laßt euch nicht wie­ derum in das knechtische Joch fangen.“ (Formula Concordiae X [Anm. 29]; Stolterfoht: Apologia [Anm. 13], S. 245) 51  Ebd., S. 244. 52  Ebd., S. 237 ff. 53  Ebd., S. 245. 54  Ebd., S. 246.



Apologie der Indifferenz 

 41

schen Schlag hinaus lauffen/ mit welcher Leute abschewlichen Irrthümben kein rechter gewissenhafter Christ sich wird beschmitzen.“55 Erst durch die Einbettung der Adiaphora in diesen konkreten, negativen Gebrauchszusammenhang nach flacianischem Vorbild lässt sich aber die christliche Freiheit zum entschiedenen Argument gegen die ‚neuen Propheten‘ und die neutrale Position in eine kritische ummünzen: Mit den heutigen Gesichtern vnd Offenbarunge ists gleichermassen beschaffen/ sind sie Gottes Wort nicht zu widern/ sondern demselben gemeß/ vnd man lässet sie dann zu Christlicher Freyheit stehen/ daß man sie möge gläuben oder nicht gläuben/ annehmen oder nicht annehmen/ so hat es seinen geweiseten Weg/ vnd bedarff keines Streits noch Weitläufigkeit. Wann man aber dieselben nothwendig zu gläuben vnd anzunehmen den Leuten einpredigen will/ so hat ein jeglicher seine Christliche Freyheit in acht zu nehmen/ daß er sie da nicht binden lasse/ da er vngebunden sein kan/ nicht zwingen lasse/ da er keines Zwangs benötiget ist.56

Damit vollzieht auch Stolterfoht im zweiten Kapitel einen Registerwechsel, der darauf beruht, dass nicht nur die Gesichte selbst, sondern auch ihre repräsen­ tative Funktion berücksichtigt wird. Eine indifferente Haltung gegenüber dem, was zuvor als Adiaphora beschrieben worden ist, wird hier durch die Bildung einer Analogie zwischen den Repräsentationsverhältnissen eindeutig zurück­ gewiesen. Die Notwendigkeit eines Einwands gegen Gesichte ist hier keine, die aus den Gesichten selbst heraus bestünde. Sie konstituiert sich erst mittels einer Bedrängnis durch die Feinde der christlichen Freiheit, die ein Bekenntnis uner­ lässlich werden lasse. Christliche Freiheit wird hier also in einer argumentativen Wende gegen poli­ tische Freiheit ausgespielt. Als ihr Verteidiger bemächtigt sich Stolterfoht durch die Bewegung ins Politische der Entscheidungsgewalt über die Sphäre des Indif­ ferenten, um diese anschließend durchzustreichen. Insofern aber dadurch die Adiaphora jene negative Bestimmung erhalten, wie sie ihnen schon Flacius einst im statu confessionis hat zukommen lassen, erfahren sie hier zwangsläufig auch die gleiche, nämlich negative Beurteilung. Damit erweist sich der adiaphoristi­ sche Streit schließlich als Präzedenzfall für den Gesichtsstreit. Als solcher hat er dem Streit um die Gesichte wie der gesamten protestantischen Theologie eine neue Begründung gestiftet, die sowohl die Unterscheidung zwischen Gut und Böse als auch die Opposition von Angriff und Verteidigung unterläuft. Er hat der Apologetik des 17. Jahrhunderts damit ein unschlagbares Argument geliefert: In

55  Ebd., S. 217. 56  Ebd., S. 245.

42 

 Anika Höppner

Gedenken an den adiaphoristischen Streit ist unter dem Deckmantel der Adia­ phorie noch jahrzehntelang eine Freiheit in Aussicht gestellt worden, die sich erst bei genauerer Hinsicht als entschiedene Abwehr entpuppt.57 Das Wissen um den historischen Siegeszug gegen die Adiaphorie relativiert auch eine Zusicherung visionärer Freiheit erheblich.

2 Zwischen Urteil und Adiaphorie Was Stolterfohts Apologia mit der Berufung auf Adiaphorie zunächst theore­ tisch gegen die Gesichte ausführt, wendet sie gegen Ende hin ins Konkrete. In der Gegenrede zu Fabriciusʼ fünftem Argument stellt die Apologia ausführlich die Rechtmäßigkeit des Propheten Georg Reichard infrage. Bei Stolterfohts Feldzug gegen diesen zeitgenössischen Visionär, wohnhaft in Rösa bei Leipzig,58 kommt das von Flacius gestiftete Anti-Adiaphorie-Argument anschaulich zum Einsatz. An dem Propheten führt Stolterfoht exemplarisch vor, was von all den von Fa­bricius aufgeführten Beispielen von Prophetie zu halten sei. Ausführlich legt er dar, „[v]on welchem Geiste Reichards Gesichter herrühren“.59 Was der Text hier bezeichnenderweise in die Rhetorik einer ‚Unterscheidung der Geister‘ hüllt, führt beispielhaft vor Augen, dass die Rede von der Adiaphorie in statu confessionis nicht nur theoretisch auf die Visionen bzw. auf die religiöse Integrität der Propheten bezogen bleiben soll.60 Stattdessen kommt sie auch in der kritischen

57  Dass Adiaphora wenn überhaupt meist eine negative Bewertung erfahren, ändert sich spä­ testens mit dem sogenannten Zweiten adiaphoristischen Streit. Vgl. dazu Sdzuj: Adiaphorie und Kunst (Anm. 34), S. 220 ff. Zur Relevanz der Adiaphorie nach dem Streit um die Leipziger Artikel vgl. auch Markus Friedrich: Orthodoxy and Variation. The Role of Adiaphorism in Early Modern Protestantism. In: Orthodoxies and Heterodoxies in Early Modern German Culture. Order and Creativity 1550–1750. Hg. v. Randolph C. Head u. Daniel Christensen. Leiden/Boston 2007, S. 45– 68, hier S. 58 ff. 58  Zu den Texten und Schreibweisen Georg Reichards vgl. Jürgen Beyer: George Reichard und Laurentius Matthæi. Schulmeister, Küster, Verfasser, Buchhändler und Verleger im letzten Jahr­ zehnt des Dreißigjährigen Krieges. In: Lesen und Schreiben in Europa. 1500–1900. Vergleichen­ de Perspektiven. Hg. v. Alfred Messerli u. Roger Chartier. Basel 2000, S. 299–333. 59  Stolterfoht: Apologia (Anm. 13), S. 428. 60  Ebd., S. 268 f.: „Denn man hat hierin nicht auff die Personen zu sehen/ wie gerecht oder wie gottloß die seyn/ sie mögen stehe[n] oder falle[n]/ wie gerecht oder wie gottloß die seyn/ […] sondern man muß auff die Sache[n] sehen/ welche sie vorbringen/ daß man nicht aus Einfalt dadurch betroge[n] werde.“



Apologie der Indifferenz 

 43

Auseinandersetzung mit den von Reichard veröffentlichten Visionsberichten tat­ sächlich zur Anwendung. In diesem Sinne weist Stolterfoht auch in Reichards Visionen (1637–1642) als ersten und wichtigsten Kritikpunkt eine fälschlich aufgestellte Behauptung der Heilsnotwendigkeit seiner Gesichte nach. Um seine Auslegung zu beweisen, führt er verschiedene Passagen aus den Schriften an, durch die sich Reichards Geist als provokativ und aggressiv erweist: In der 100. Vision Anno 37. den 25. Martij geschehen/ schreyet er [Reichard] abermahl sehr hefftig das Wehe über die jenigen/ so seine Wort nicht wollen annehmen/ sie werden mit Schrecken vntergehen/ vnd zu nichte werden/ vnd vom Geiste des HErrn trostloß gelas­ sen werde[n][…] In den zwey schönen warhafftigen Visionibus Anno 39. Heraus gegeben/ spricht er abermahl von den Verächtern seiner Offenbarungen: O weh/ O weh/ denen were besser/ daß sie nie geboren weren/ welche sie verachtet haben.61

Hier und an anderen Stellen der Visionen bewahrheiten sich für Stolterfoht die frevelhaften Vergehen des vermeintlichen ‚neuen Propheten‘. Er beginge in der Verkündigung der Gesichte sogar „die grösseste Sünde/ da keine Sünde ist/ in dem er vorgiebet/ daß wer seine Wort vnnd Offenbarungen nicht annimmet/ eine Sünde wider den H. Geist begehet/ vnd Gottes zeitliche vnd ewige Straffe auf sich lade“.62 Indem Stolterfoht mit seiner Interpretation der visionären Schriften das Moment einer geistigen Nötigung herausarbeitet, macht er auf eine Form der Befehlsgewalt Reichards aufmerksam und überträgt damit den statu confessionis auf den vorliegenden Sachverhalt. Auch gegenüber Reichard wäre demnach das durch die Konkordienformel anbefohlene Bekenntnis zum Nicht-Gebotensein der Gesichte erforderlich. Folgt man Stolterfoht in seinen Ausführungen, so rufen die Visionen Reichards im Hinblick auf den adiaphoristischen Streit unweigerlich einen ‚defensiven Angriff‘ auf den Plan. Obendrein sehr fragwürdig und prekär wäre für Stolterfoht die mögliche widrige Folgeerscheinung bzw. die ‚böse con­ sequentz’ aus einer Akzeptanz von Reichards Gesichten: Denn trotz zahlreicher „Contradictiones“ müssten die Visionen im Fall ihrer Rechtmäßigkeit doch „frey­ lich Artikel des Glaubens seyn: Dann niemand wird verdam[m]et/ ohn der Glau­ bensArtikel verachtet vnd in Wind geschlagen.“63 Dennoch, und darin spiegelt die Untersuchung von Reichards Schriften schließlich die Apologia im Ganzen, fällt das Urteil über den ‚neuen Propheten‘ schließlich überraschend unentschieden aus. Eine endgültige Weisung, wie der

61  Ebd., S. 430. 62  Ebd., S. 429. 63  Ebd., S. 443 u. 442.

44 

 Anika Höppner

Umgang mit den ‚neuen Propheten‘ und ihren Gesichten zu gestalten sei, sucht der Leser auch in den Passagen über Reichard vergebens. Vielmehr bewegt sich Stolterfoht mit seiner Einstellung zu Reichards Gesichten und Prophezeiun­ gen auffallend oft in einem Bereich zwischen Gleichgültigkeit und Ablehnung, zwischen indifferenter und kritischer Haltung. Einerseits, so muss Stolterfoht zugeben, „wollen wir niemand hierin sein Gewissen binden“,64 andererseits ver­ gleicht er die Gesichte ohne Umschweife mit „Mäusedreck“.65 An keiner Stelle setzt Stolterfoht eindeutig darauf, Reichard den Prophetenstatus abzuerkennen oder seine Visionsberichte verbieten zu lassen. Alle seine Aussagen bleiben in höchstem Maße ambivalent. Während die meisten der langen Zitate aus Rei­ chards Schriften im Verfahren der Evidenzerzeugung gänzlich ohne erklärende oder bewertende Kommentare auskommen müssen, bleiben die wenigen Aus­ künfte andernorts auffallend vage. Rhetorische Fragen ersetzen in den Textab­ schnitten, die schließlich auf eine Stellungnahme des Theologen hoffen lassen, kurzerhand die erwarteten Schlussfolgerungen: Wo haben wir nun aber in H. Göttlicher Schrifft Verheissung/ daß gott in diesen Zeiten Extraordinar Propheten senden/ durch welche er vns zur Busse ruffen wolle? Wo haben wir Befehl/ daß wir dieselbigen hören sollen? Wo haben wir Dräwungen/ da wir ihr Wort nicht werden annehmen?66

Mit einem Verweis auf die Heilige Schrift ist dem Leser oftmals selbst anheimge­ stellt, welche Schlüsse er aus Stolterfohts Interpretation der Visionen Reichards ziehen will. Zwischen einer Ununterscheidbarkeit von Gesichten und der Ent­ scheidung gegen sie, zwischen Freiheit und Bekenntnis angesiedelt, geben die Ausführungen des Theologen lediglich die Tendenz zur Kritik an den neuen Visi­ onen vor. Sie liefern z. B. mit einem Verweis auf Reichards Selbstüberschätzung die Beweise gegen die Rechtmäßigkeit; die nötigen Schlussfolgerungen, die zum Postulat seiner Unrechtmäßigkeit führen würden, werden aber schließlich den Lesern überlassen: Aus welchem allem dann leichtlich ist zusehen/ daß Reichards Geist kein guter sey. Vnnd sage man nun noch/ daß in solchen Visionibus keine Phantastische Grillen/ noch erdich­ tete Fabeln/ viel weniger Teuffelswercke stecken; da doch dieselben damit allenthalben durchspicket vnd durchflicket seyn. Vnd ist gleich solches von etlichen ohn grund fürgege­ ben/ so vrtheile nun ein jeglicher/ ob hie nicht Grundes genug sey?67

64  Ebd., S. 474. 65  Ebd., S. 428. 66  Ebd., S. 430. 67  Ebd., S. 447 f.



Apologie der Indifferenz 

 45

Diese allgemeingültigere Form von Indifferenz, die nicht wie an anderen Stellen der Apologia als Argument auftritt, sondern die dem Text als Schreibverfahren zugrunde liegt, lässt sich zum wesentlichen Charakteristikum der Apologia insge­ samt erheben. Immer wieder treffen Passagen der Gleichgültigkeit direkt auf jene der entschiedenen Ablehnung und des Widerspruchs, wie sie im Rekurs auf den adiaphoristischen Streit deutlich zutage getreten sind. Nicht-Gebot und Verbot liegen bei Stolterfoht so eng zusammen, dass seine Schlussfolgerungen als wider­ sprüchliche Antworten, als schiefe Antworten verstanden werden müssen. Weder Sinn noch richtiges Verhalten lässt sich daraus ableiten. Vnd folget also/ daß keine Nothwendigkeit vns obliege/ die heutigen Gesichter mit so grosser Mühe zu prüfen/ wie gut oder böse sie seyn; viel weniger annehmen vnnd gläuben müsten. Vnd das ist in Specie vnnd insonderheit vnser Antwort auff einen jeglichen einge­ führten Spruch. Es kan aber zum Beschluß dieses Capittels in acht genommen werden/ daß die heutigen Gesichter vnd Offenbarungen/ wan sie gleich GOttes Wort nicht zu wieder/ doch nicht eben nothwendig dürffen gegläubet noch angenommen werden […].68

Das Nicht-Müssen wird in der hier zitierten Zusammenfassung am Kapitelende kurzerhand in ein Nicht-Dürfen überführt, ohne dass dieser semantische Wechsel sprachlich markiert oder entwickelt worden wäre. In pointierten Formulierungen, nach denen die Gesichte nicht „dürffen noch müssen angenommen werden“,69 erscheinen Verbotenes und Erlaubtes schließlich gleich‑gültig. Solche Konfusio­ nen sind aber durchaus typisch und daher entscheidend für die Apologia. Auch nach Meinung von Stolterfohts Widersacher Fabricius ist diese extreme Widersprüchlichkeit durchaus zentral für den Text, denn in vielen Passagen stellet er [Stolterfoht] sich/ als wen er etliche Gesichthabende Leute nicht eben wolle für Enthusiasten/ Ketzer/ Schwermer vnd dergleichen ausschreyen: sondern lassen sie gern für fromme Leute passieren. Aber an etlichen andern orten spricht er: Sie können wol alle vom Teuffel seyn.70

Wiederholt bringt Fabricius zum Ausdruck, welche Irritationen durch die argu­ mentativen Inkonsequenzen des Textes entstehen. Das Unbehagen angesichts einer Unbestimmtheit, das auch den heutigen Leser der Apologia immer wieder befällt, lässt sich mit Roland Barthesʼ Beschrei­

68  Ebd., S. 272. 69  Ebd., S. 277. 70  Jacob Fabricius: Invicta Visionum Probatio. Das ist Wollbefästigte Wiederlegung der nichti­ gen Scheingründe/ mit welchen ein Streitsüchtiger Sophist mein hiebevor gedrücktes Büchlein von Prüfung der Gesichter zwar bestürmet/ aber mit nichten vberwunden hat. Stettin 1646, Bl. C.

46 

 Anika Höppner

bungen zum Neutrum genauer ergründen. Barthesʼ strukturalistischer Versuch einer ‚Klassifizierung von Unklassifizierbarem‘ gibt Aufschluss über den Effekt und die argumentative Durchschlagskraft der textuellen Ambivalenz, wie sie durch die Schreibweise der Apologia hervorgerufen wird. Denn auch in Barthesʼ Notizen zur Vorlesung über die Figuren des Neutrums ist es die Annullierung der Opposition […] zwischen Unterscheidung und Ununterschiedenheit, […] genau darum geht es beim Neutrum, genau darum ist das Neutrum schwierig, provokant, anstößig; weil es ein Denken des Nichtunterschiedenen beinhaltet, die Versuchung des letzten (oder ersten) Paradigmas: des Unterschiedenen und des Nichtunterschiedenen.71

In einer Überblendung der Beschreibungen Barthesʼ zum Neutrum und der argu­ mentativen Ambivalenz der Streitschrift lässt sich die Apologia in ihrer Beson­ derheit erkennen. Insofern Stolterfoht das im zweiten Kapitel ausgeführte flaci­ anische Anti-Adiaphorie-Argument nicht bis in letzter Konsequenz vertritt, er im Folgenden der Schrift wieder dahinter zurückbleibt und seine Argumentation somit immer wieder zwischen Adiaphorie und Kritik oszilliert, kommt darin die Denkfigur des Neutrums zum Ausdruck. Diese setzt den alten Konflikt aus, der mit der Prüfung der Geister verbunden ist, und hebt zudem die Apologie der Indifferenz auf ein neues Niveau. Die Streitschrift markiert mit ihrer ambivalen­ ten Haltung eine übergeordnete, nämlich strukturelle Form der Indifferenz, eine Nicht-Achtung des alten Paradigmas, wie sie das Neutrum kennzeichnet.72 Zwar geht sie zunächst nur von einer Ununterscheidbarkeit zwischen den Geistern aus, doch scheint auch zwischen den Zeilen der stolterfohtschen Apologia unentwegt das Neutrum auf. Subtil unterläuft und suspendiert Stolterfohts Unentschie­ denheit den alten Konflikt,73 hebt ihn aus den Angeln und setzt dagegen einen Nicht-Konflikt, die Ununterscheidbarkeit zwischen dem Konflikt und der Abwe­ senheit von Konflikt. Obwohl Stolterfoht beteuert, „wie über die massen vngern [er] [s]ich in Streitschriften einlasse“,74 erörtert er mehr als ausgiebig nichts als Gleichgültigkeiten und suggeriert damit nichts mehr als deren sinnhafte Dimen­ sion. Damit geht die Logik der Streitschrift weit über die Adiaphorie als Rhetorik

71  Barthes: Neutrum (Anm. 19), S. 101. 72  Ebd., S. 32: „Neutrum nenne ich dasjenige, was das Paradigma außer Kraft setzt.“ Bei dieser Benennung folgt Barthes inhaltlich Maurice Blanchot: L’entretien infini. Paris 1969, S. 450: „Le neutre: cela qui porte la différence jusque dans l’indifférence à son égalité définitive. Le neut­ re, toujours séparé du neutre par le neutre, loin de se laisser expliquer par l’identique, reste le surplus inidentifiable.“ Zit. n. Alois M. Haas: Roland Barthes’ ‚Neutre‘ – auch ein mystisches Verfahren. In: Ders.: Mystik im Kontext. München 2004, S. 483–493, S. 483. 73  Vgl. ebd., S. 33. 74  Stolterfoht: Apologia (Anm. 13), S. 196.



Apologie der Indifferenz 

 47

des Weder-Noch hinaus. Stolterfohts argumentative Inkonsequenzen übertreffen die Behauptung der Adiaphorie, denn das Weder-Noch ist nur „ein lächerlicher Abklatsch des Neutrums“; „das Weder-Noch“ stellt nach Barthes die „verzerr­ ten Züge des Neutrums“ dar.75 Im Gegensatz zur Argumentationsfigur des Neu­ trums ist die reine Adiaphorie, wie es sich im adiaphoristischen Streit gezeigt hat, selbst schon wieder systematisch. Unvermeidlich scheint ihre Rückkehr in ein Paradigma, wird sie selbst zum Zeichen „das heißt: wird eingebunden in ein Paradigma“.76 Das Neutrum hingegen ist nicht an ein Paradigma gebunden. „Alles Neutrale ist ein Ausweichen vor der Affirmation“,77 bemerkt Barthes und macht damit klar, in welchem Modus die Apologia Stolterfohts operiert. „Wollte daraus nicht eine Wiedertäufferische Confusion vnd Vnordnung erwachsen/ wann nur ein jeglicher vnbescholtener frommer Mann/ dem ein sonderlich Gesicht gesche­ hen/ damit zu lehren möchte aufftreten“, lautet eine typische Suggestivfrage, mit der der Text Stolterfohts das Auftreten ‚neuer Propheten‘ verdächtigt. Als Tertium verbleibt die Apologia sehr viel deutlicher als die zu vertei­ digende Consideratio Visionum in der Schwebe zwischen Ungewissheit und Gewissheit.78 Sie löst den unerbittlichen Binarismus des Paradigmas des Fabri­ cius auf, weicht ihm konsequent aus und entthront ihn. Nicht nur mit einer Ver­ neinung der Opposition, sondern durch die beinahe skeptizistisch anmutende Absenz der Festschreibungen in dieser Angelegenheit bricht der Text scheinbar mit einer orthodoxen Dogmatik.79 In einem Zeitalter, das heute auch als „Ära der Konsensbildung“80 gilt, entspricht dieses Außerkraftsetzen des Paradigmas dem zeitgenössischen Bedürfnis der lutherischer Orthodoxie nach theologischen Identitäten und Übereinstimmungen. Obwohl sich die Apologia durch Rekurs auf

75  Barthes: Neutrum (Anm. 19), S. 145. 76  Ebd., S. 64. 77  Ebd., S. 92. 78  Ebd., S. 45: „Das Neutrum ist dieses unbeugsame Nein: ein Nein, das gegenüber den Verhär­ tungen des Glaubens und der Gewißheit gleichsam in der Schwebe bleibt, unbestechlich gegen­ über dem einen wie der anderen.“ 79  Für Barthes kulminiert die Geschichte des Neutrums im Skeptizismus: „Historisch betrach­ tet, ist der ‚offizielle‘ Raum des Neutrums der Skeptizismus.“ (Ebd., S. 132) Dieser historische Ort sei der Grund für das zum Teil schlechte Image des Neutrums, gegen welches Barthes in seiner Vorlesung angeht. Als seine „schlechte Verkörperung“ rücke der Skeptizismus das Neutrum in die Nähe eines bloßen Zweifels oder eines Fehlers, weil der Skeptizismus darauf verzichte, vom Begriff zu sprechen, und sich damit der Philosophie fremd macht. Ebd., S. 131 f. Barthes bezieht sich in seiner Bestimmung des Skeptizismus auf den französischen Philosophiehistoriker Victor Brochard: Les Sceptiques grecs. Paris 1959. 80  Kenneth G. Appold: Orthodoxie als Konsensbildung. Das theologische Disputationswesen an der Universität Wittenberg zwischen 1570 und 1710. Tübingen 2004, S. 15.

48 

 Anika Höppner

den adiaphoristischen Streit deutlich in die lutherisch-orthodoxe Streitkultur einschreibt, entsagt sie allen damit verbundenen politischen Spannungen und einer wie auch immer gearteten Parteilichkeit, wie sie im adiaphoristischen Streit am Werk gewesen ist. Gleichwohl, so lässt sich auch mit Barthes konstatieren, macht sich bei Stolterfoht mit dem Neutrum kein Toleranzdenken breit: Das „Neutrum bleibt konflikthaft“.81 Stolterfohts Apologia zeichnet sich nicht durchgängig durch Neutralität aus. Stattdessen ist die eingangs zitierte Kampfansage durchaus Programm. Obwohl Stolterfoht der Möglichkeit von Gesichten nicht eindeutig widerspricht, bleibt seine Apologia unvermindert „empfänglich für den Kampf der wütend gegeneinander gerichteten Kräfte“.82 Stolterfoht erkämpft sich mit seinen rhetorischen Ausweichmanövern einen deutlichen Abstand zu jenem Denksystem, in dem Fabricius argumentiert. Wie sich in den folgenden zahlrei­ chen Streitschriften des Fabricius und denen anderer Theologen zeigt,83 stellt sein Verfahren der Argumentation eine enorme Herausforderung für die gegne­ rische Seite dar. Als Gegengewicht zur discretio spirituum ist es widerspenstig, „als Begehren ist es Gewalt“.84 Nach Fabricius werde es denn auch „ein jeglicher befinden/ das M. W. [d. i. Jacob Stolterfoht] […] mit grossem Betruge auff [s]eine gründe geantwortet habe“.85 Seine Verteidigungsschrift schafft das traditionelle Unterscheidungsmuster radikal ab, annulliert das Paradigma im Sinne Barthesʼ und verkörpert dadurch einen „starken, aktiven Wert“86 einer orthodoxen Offen­ barungskritik. „‚Das Paradigma außer Kraft setzen‘ ist eine leidenschaftliche, inbrünstige Aktivität“,87 hält Barthes in den Ausführungen seiner Vorlesung fest. Sie offenbart eine außerordentliche „Vitalität des Neutrums“, die zugleich Stol­ terfohts Apologia als Ärgernis begreiflich macht.88

81  Barthes: Neutrum (Anm. 19), S. 107. 82  Ebd. 83  Vgl. z. B. auch Samuel Plasterus: Kurtze Entdeckung und Hintertreibung des Irrhumbs, welchen M. JACOBUS STOLTERFOTH, Prediger zu Lübeck in seiner Consideratione Visonum Apologetica, hat ausgesprenget, In Drey Capittel abgetheilet und Chistliebenden Hertzen zum guten Nachdencken für Augen gestellet. Stettin 1646. Vgl. allgemein zum apologetischen Offen­ barungstraktat in der protestantischen Theologie Gerhard Heinz: Divinam chirstianae religionis originem probare. Untersuchung zur Entstehung des fundamental-theologischen Offenbarungs­ traktates der katholischen Schultheologie. Mainz 1984, S. 111 ff. 84  Barthes: Neutrum (Anm. 19), S. 43. 85  Fabricius: Invicta Visionum Probatio (Anm. 70), Bl. Yiijv. 86  Barthes: Neutrum (Anm. 19), S. 342. 87  Ebd., S. 34. 88  Vgl. ebd., S. 132.



Apologie der Indifferenz 

 49

Als strikte Protestbewegung tritt die Apologia vor allem deswegen radikal gegen die Notwendigkeit einer Prüfung der Geister an, da dieses Verfahren grund­ sätzlich die Möglichkeit eröffnet, dass die ‚neuen Propheten‘ im Fall einer posi­ tiven Bewertung den Vertretern des offiziellen Predigtamts den Rang ablaufen können. Denn mit dem Anspruch auf gottgegebene Autorität stünde vor allem die Amtsgewalt der Kleriker, insbesondere die des Ministerium Tripolitanum auf dem Spiel: „Man hebe doch vmb Gottes Ehre/ vnd der Evangelischen Warheit willen/ solche Leute nicht so hoch/ von deren Beruff vnd Sachen man noch nichts gewis­ ses vnd vnfehlbares schliessen kann/ damit nicht das ordentliche Ministerium vnnd Predigtamt in verachtung gebracht werde“, mahnt Stolterfoht.89 Die Visio­ nen und andere immediate Offenbarungen haben sich durch weiträumige druck­ technische Verbreitung mehr und mehr der Befehlsgewalt durch Ordination ent­ zogen und sind stattdessen der ‚Industria des Buchdrucks‘90 unterworfen. Daher betont die Apologia des Lübecker Theologen gegen ‚ExtraordinarGaben‘ vor allem die ebenfalls vom Heiligen Geist verliehenen ‚OrdinarGaben‘, über die sich aber weiterhin problemlos verfügen und entscheiden ließ.91 „Wo bleibet denn das Wort? Wo bleiben die Sacramenten? Wo bleibet das Ministerium vnd Predigtampt?“,92 fragt Stolterfoht vorwurfsvoll. Diese andere Ausrichtung seiner Aufmerksamkeit, in der sich ein wesentlicher Perspektivwechsel zu erkennen gibt, kündigt eine neuartige Grundeinstellung der lutherisch-orthodoxen Theologie in Bezug auf Visionen an. Von dessen Andersartigkeit gegenüber der discretio-Frage zeugt Stolterfoht selbst, nachdem er sein eigentliches Interesse durchblicken lässt: Dan[n] daß der H. Geist vnauffhörlich wircke/ ist zwar in Genere wahr/ aber wie folget daraus/ das solche Wirckung des H. Geistes eben in specie vnd insonderheit zu diesen zeiten durch ExtraordinarGesichter/ Offenbarungen/ vnd Weissagungen geschehen müssen? das ist aber eine ander Frage/ darauff auff eine ander Art auch muß geantwortet werden.93

Mit der in diesem Zitat aufgeworfenen Inkommensurabilität der theologischen Fragen fordert die Apologia schließlich auch eine Divergenz im Untersuchungs­ verfahren ein: Nicht der inhaltliche Wert der Visionen steht in einer solchen Untersuchung zur Disposition, sondern ihr Übertragungsverhältnis wird zum zentralen Gegenstand der Befragung erhoben. Während Fabricius den Botschaf­

89  Stolterfoht: Apologia (Anm. 13), S. 331. 90  Vgl. Leander Scholz: Die Industria des Buchdrucks. Eine Diskursgeschichte der Vervielfäl­ tigung. In: Einführung in die Geschichte der Medien. Hg. v. ders., Albert Kümmel und Eckhard Schumacher. Paderborn 2004, S. 11–33. 91  Vgl. Stolterfoht: Apologia (Anm. 13), z. B. S. 407. 92  Ebd., S. 402. 93  Ebd., S. 377.

50 

 Anika Höppner

ten der Gesichte nachgeht, steht bei Stolterfoht die Medialität der verschiedenen Offenbarungen im Zentrum des erkenntnisleitenden Interesses. Die mediaten und immediaten Offenbarungen werden von Stolterfoht nach ihren je eigenen Voraussetzungen befragt, so dass eine besondere Medienspezifik zutage tritt, nach der sie sich unterschiedlich bewerten lassen. Infolge dieser neuen Medien­ sensibilität, die mit der Apologia erstmalig im Gesichtsstreit auf den Plan tritt, geraten die lutherischen Gesichte schließlich argumentativ ins Hintertreffen: Nur die an das (göttliche) Wort gebundenen mediaten Offenbarungen wären legitimer Gegenstand der „seligmachenden Wissenschafft“,94 nur die Bezeichnungen, Ver­ mittlungen und Figurationen durch das (göttliche) Wort stiften nach Stolterfoht das Wissen der lutherischen Offenbarungslehre. Gesichte und andere immediate Offenbarungen zu untersuchen, obliege dagegen nun der „Historischen Wissen­ schafft“, sei also nicht länger heilsrelevant.95 Die mit diesen Zuordnungen ver­ bundene Kritik an der Gewissheit religiöser Visionen und ihre eindeutig negative Bewertung setzen sich nicht zuletzt deshalb durch, weil auch die Wittenberger Theologen für diese neue Sichtweise Partei ergreifen.96 Stolterfohts Apologia hat in diesem Sinne also nicht nur responsorischen Cha­ rakter als Verteidigung seiner Consideratio, sondern trägt auch programmatische Züge für eine neue protestantische Visionslehre. Ohne dass der Gesichtsstreit für sich genommen auch gleich zu einer neuen Streitpraxis geführt hätte, beruht Stolterfohts Visionslehre doch auf gänzlich neuen Annahmen. Mit der Argumen­ tationsfigur des Neutrums hebt er, wie gesehen, die Lehre von der ‚Unterschei­ dung der Geister‘ aus den Angeln und setzt neue Maßstäbe, religiöse Werte und Problemlösungsansätze im Gesichtsstreit durch. Obwohl Stolterfohts Visions­ theologie fest in der althergebrachten protestantischen Tradition verankert ist, aber auch gerade weil sie diese Tradition bekräftigend im Rücken hat, kann sie zu einer langfristigen Austreibung des Geistes aus der orthodoxen Visionstheo­ logie führen. Stolterfohts Hinwendung zu den Bedingungen der Möglichkeit von Offenbarung überhaupt ist also Manifestation einer entscheidenden Kehre in der lutherischen Theologie, die in die Offenbarungslehre, aber auch in die Visionen selbst ein neues, spezifisch protestantisches Wissen von Medien eingetragen hat.

94  Ebd., S. 323. 95  Ebd. 96  Stolterfoht berichtet von einem an ihn gesendeten Schreiben der theologischen Fakultät der Universität Wittenberg (07.07.1643), in dem sie der Consideratio Visionum zustimmen und dessen Inhalt er folgendermaßen wiedergibt: „Lieber Bruder in dem HErrn Christo/ ewer Schreiben/ nebenst beygefügtem Deutschen Büchlein/ durch euch von den heutigen Gesichtern verfertiget/ vnnd zum Druck heraus gegeben/ haben wir zu recht empfangen/ in vnserm Collegio verlesen/ davon geurtheilet/ vnd es im Satz vnnd Gegensatz probiret vnnd gut befunden/ etc.“ Ebd., S. 187.

Olaf Simons

A Vindication of Apologists and Antapologists – Zur Frage, ob hier eine Gattung zu definieren ist Dieser Artikel verdankt sich entscheidend einer bestrickenden wie verwirrenden Vorarbeit seines Herausgebers, der ich ohne Gesichtsverlust schwerlich hätte entkommen können. Ein gesamtes Thema wurde mir auf den Tisch gelegt „ganz wie ich es selbst angegangen wäre“, in Form eines Papierstapels, der mich zu allen deutschen Zeitschriftenartikeln der Aufklärung führen würde, in denen das Wort „Apologie“ fiel.1 Das Thema sei, wie ich zugeben müsse, überschaubarer als mein eigenes. Hier ginge es nicht darum zu klären, wie der Gegenstand, den wir als „Literatur“ betrachten, in sekundären Diskursen definiert wurde. Am viel kleineren Wort „Apologie“ würde ich nachweisen können, dass tatsächlich stets sekundäre Diskurse die Definitionshoheit hielten und erzeugten, was wir sehen. In einer „positivistischen“ Arbeit bliebe es mir, zu klären, ob und wie dabei eine Textgattung definiert wurde – eine Arbeit im Sinne jenes Methodenkapitels, in dem ich dafür plädierte, Worte als Befunde eines zu klärenden Gebrauchs von Dingen und von Sprache zu lesen.2 Das Angebot trug Züge der Herausforderung. Ich ging davon aus, dass das, was wir heute als „Literatur“ betrachten, weitgehend ein Konstrukt sekundärer Diskurse ist. Andere Gegenstände wie den Roman hatte ich jedoch gerade weit eher in primärem Austausch verstrickt gesehen. Kaum etwas dürfte den Roman so verändert haben wie der Umbruch zwischen 1740 und 1830, der ihn zur literari­ schen Gattung erhob und damit zunehmend sekundären Diskursen aussetzte. Es wird uninteressant sein, die Definition im sekundären Diskurs als Normalfall zu betrachten. Spannend dürften gerade die Gegenthesen sein, die den sekundären Diskurs und die Definition zum historischen Ausnahmefall erklärt. Die Frühe

1  Die provisorische Bibliografie bestand aus Artikeln des Bielefelder Projekts Retrospektive Digitalisierung wissenschaftlicher Rezensionsorgane und Literaturzeitschriften des 18. und 19. Jahrhunderts aus dem deutschen Sprachraum (online unter: www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufklaerung [Stand: 31.03.2015]), die die Stichworte „Apologie“, „Defensio“, „Vindicatio“ und ihre nächsten Varianten und Entsprechungen in ihren Überschriften führen. „Apologie“ führt hier mit 122 Ein­ trägen, auf „Defensio“ entfallen drei Einträge, auf „Vindicatio“ einer – um hier nur die groben Zahlenverhältnisse gegenüber den nachmalig eruierten des englischen Marktes zu geben. 2  Olaf Simons: Bausteine einer positivistischen Methode, (nicht nur) Literatur zu betrachten. In: Ders.: Marteaus Europa oder der Roman, bevor er Literatur wurde. Amsterdam/Atlanta 2001, S. 81–114.

52 

 Olaf Simons

Neuzeit bricht mit einer ganzen Wissenschaftskultur mutmaßlich statischer Information, als sich in den 1480er-Jahren die „res publica literaria“ konstitu­ iert und mit dem Aufbau der heutigen Landschaft sekundärer Diskurse beginnt. Wissen, das bislang der Fixierung durch bewährte Autoritäten unterlag, wird mit dem Aufbau der „historia literatura“3 zum Gegenstand einer neuen „republika­ nischen“ Handhabe: In der „Geschichte des Wissens“, eben der „Literaturge­ schichte“, soll von nun an fortlaufend notiert werden, was aktueller Fachstand ist. Sekundäre Diskurse gründen sich in den einzelnen Wissenschaften und gewinnen in neuen Medien Raum, in denen laufend nachgeschaltet, beobach­ tend, diskursiv erfasst wird, wie das Wissen in seiner momentanen Konstellation zustande kam: Kataloge, kommentierte Bibliografien, das Wissen aus Büchern sammelnde Lexika, vor allem aber das Journal als Begleiter und Werbeplattform der primären Wissensproduktion werden die neuen Medien des sekundären Dis­ kurses. Mit der These, jedes Wort werde in sekundären Diskursen definiert, ver­ liert man den Blick auf diese speziellen sekundären Diskurse. Zwei große Felder des von nun an Primären werden hier im neuen Feld des Sekundären definiert: die der „Kunst“ als Gesamtheit aller menschlicher Techno­ logie und die der „Literatur“ als Inbegriff allen tradierten Wissens. Um 1750 bilden sich auf diesen beiden größeren Plattformen der sekundären Diskussion neue spezielle Diskurse heraus, die im Verlauf die alten Definitionen von „Kunst“ und „Literatur“ obsolet machen – die Wissenschaften ziehen sich aus den beiden um sich greifenden Debatten als bisherige primäre Literatur- und Kunstproduzenten zurück. Künstler liefern wenig später die primären Objekte der Kunst und der Literatur, über die neue wissenschaftliche sekundäre Diskurse ringen. Der Endpunkt des Prozesses ist in die Bildungssysteme und der Medienre­ alität der westlichen Industriegesellschaften eingeschrieben: Geistes- und Sozi­ alwissenschaften wurden im 19. Jahrhundert auf die Felder der öffentlichen Meinung ausgerichtet, mit Angeboten, Meinungen theoretisch zu untermauern und als gesellschaftliche Realität zu erfassen. Dass Worte definiert werden, sollte man (man mag diesen Schritt mit Ludwig Wittgenstein tun4) als eher irregulären Fall sprachlicher Kommunikation erfas­ sen. Worte können durchaus fraglos und undefiniert auf Gegenstände bezogen

3  Christophorus Mylaeus: De scribenda vniversitatis rervm historia libri qvinqve. Basel 1551. 4  Über unseren Umgang mit „Kunst“ als ein historisch genauer zu erfassendes „Spiel“ denkt Wittgenstein in seinen Lectures & Conversations on Æsthetics, Psychology and Religious Belief ([1938]; hg. v. C. Barret. Oxford 1966) eingehender nach. Über die Option, ob es überhaupt Meta-



A Vindication of Apologists and Antapologists 

 53

werden. Wo man uns von der Leiter herab um einen „Hammer“ bittet, wissen wir, dass die erhoffte Reaktion keine Frage nach der aktuellen Definition des Wortes ist. Wir sollten hier in der Lage sein mitzudenken und den erbetenen Hammer zu reichen. Das Gegenteil gilt für ein Wort wie „Literatur“ – hier üben wir mit Schü­ lern über Jahre hinweg ein, von Literatur nicht ohne eine Problematisierung des Literaturbegriffs zu sprechen, den sie in Anschlag bringen wollen. Zwar vermittelt der Literaturunterricht eher hartnäckig, dass die Literatur selbst die Frage nach ihrer Definition aufwirft. Ein anderes dürfte jedoch viel eher zutreffen: Vom Gegenstand, vom einzelnen literarischen Text, geht die Ver­ pflichtung, ihn als Literatur definieren zu können, nicht unbedingt aus. Robinson Crusoe ist ein Werk unermesslicher Komplexität, wenn wir seine „literarischen Qualitäten“ würdigen. Dort, wo Robinson Crusoe als „Belletristik“ in die Vermark­ tung gelangt, erzeugt dasselbe Werk keine Schwierigkeit. Mit dem kompetenten Sprechen von „Literatur“ bestehen Institutionen der „Literaturwissenschaft“ und „Literaturkritik“ und von ihnen gedecktes Wissen der „Literaturtheorie“ und der „Literaturgeschichte“, mit dem über die „Literaturen“ der Welt zu sprechen ist. Das Wort „Belletristik“ erlaubt keinen Plural von „Belletristiken“, es steckt allen­ falls einen internationalen Markt ab. Es gibt keine „Belletristikwissenschaft“, keine „Belletristiktheorie“, keine „Belletristikgeschichte“, keine „Belletristikbe­ griffe“ – vergleichsweise einfach ist es darum, von „Belletristik“ zu sprechen und Texte im Konsens mit den Kunden ins Angebot zu bringen. Ob „Apologien“ irgendwo als „Gattungen“ definiert wurden, ob sekundäre Diskurse festlegten, was „Apologien“ sind oder ob dies eher die Verfasser von „Apologien“ selbst taten, ob es überhaupt einen substanzielleren Austausch über das Wort gab oder sehr viel eher eine Benutzung des Wortes, in der es Plausi­ bilität behauptete – all dies sollte sich weniger von der Sache her denn in einer Beobachtung des Austauschs entscheiden, in dem das Wort fällt. Dass es hier um die „Benennung“ von „Gegenständen“ geht, wird anzuzwei­ feln sein. Wir gehen nicht davon aus, dass „Verteidigungsminister“ die „Kriegsmi­ nister“ ersetzten, da man keine Angriffskriege mehr führte. Die Worte „Apologie“, „Defensio“, „Vindicatio“ heben wie das des „Verteidigungsministers“ Legitimati­ onsdefizite auf. Hier dürfte weit weniger gattungstypologisch bezeichnet werden, was Apologie, Defensio, Vindicatio de facto ist. Hier wird vermutlich weit eher ein Spiel um Statthaftigkeit der Intervention zu beobachten sein. Die Artikel, die in deutsche Zeitschriften der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun­ derts das Wort „Apologie“ in die Titel brachten, machen es als Wort des primären

diskurse geben kann und ob die Philosophie, respektive die Erkenntnistheorie ein solcher sein kann vgl. Über Gewissheit. Hg. v. G. E. M. Anscombe und G. H. von Wright. Frankfurt a. M. 1969.

54 

 Olaf Simons

wie des sekundären Diskurses greifbar. Hier sind zum einen Rezensionen von Büchern erfasst, in deren Titeln das Wort fällt – es ist damit aus der Perspektive des Journals ein Wort des primären Diskurses. Hinzu kommen indes eigenstän­ dige Artikel, deren Verfasser im Journal zu „Apologien“ ausholen. Unter den Rezensionen sind die zu Adam Weishaupts Apologie des Misvergnügens und Uebels (Frankfurt a. M./Leipzig 1787) symptomatisch konstel­ liert5 – ein Buch, das in der zweiten Auflage 1790 von 136 auf über 450 Seiten erweitert werden sollte hier wird sein Erfolg vorbereitet. Weishaupts Name fesselt die Rezensenten. Da spricht ein Angegriffener, von dem man eine „Apologie“ erwarten kann. Weishaupts Illuminaten-Orden ist seit 1784 aufgelöst, er selbst fand 1786 in Gotha Zuflucht. Sein Angebot, das Missvergnügen zu rechtfertigen, irritiert – wird hier jemand, der das Missvergnügen kennenlernte, dieses als neuen Zielpunkt des Lebens verteidigen, oder wird er nur die Chance nutzen, mit seinen Verfolgern abzurechnen? Dann indes schreibt Weishaupt eher in der Programmatik seines Ordens: Es geht ihm um die Perfektionierung des Men­ schengeschlechts, und was könnte da, so seine Prämisse, wichtiger sein, als das Missvergnügen – falls es nicht in Stoizismus und Ataraxie ertragen wird, sondern zum Ansporn wird, die eigene Lage zu verbessern und an der Perfektionierung des menschlichen Geschlechts teilzunehmen. Die Rezensenten sind angetan, lassen sich aber im selben Moment nicht über das Wort „Apologie“ aus. Es zeigt sich in Weishaupts Buchtitel verwendet, um Spannung zu schaffen, eine Erwartungshaltung, der dann anders begegnet ist als gedacht, auf einem für Autor und Leser befriedigenden Weg. Wo der Titel ihn zum Widerspruch reizte, bleibt am Ende am ehesten Konsens mit dem Autor, der das Missvergnügen so wenig liebt wie man selbst. Um die Gattung der „Apologie“ ging es hier indirekt, sie schuf die Spannung, die die Rezensenten in den Rekapitulationen auflösen. In der größeren Masse der Artikel zeigt sich, dass das Wort ein Repertoire an Optionen zur Verfügung stellt: Man kann sich für Dinge entschuldigen, die keiner Entschuldigung bedürfen. Man kann sich für Dinge entschuldigen, die niemand entschuldigt sehen möchte. Man kann sich als Verteidiger anderer profilieren, und muss dabei nichts mit ihnen teilen – es genügt, dass man mit eigener Ehre Angegriffenen beispringt. Die Worte „Apologie“, „Verteidigung“, „Rechtfertigung“ erlauben ein Ethos des eigenen Auftritts. Wer zur Verantwortung gezogen wird, muss sprechen. Wer Bedrängten

5  Vergleiche die Rezensionen von Adam Weishaupt: Apologie des Misvergnügens und Uebels Frankfurt, Leipzig 1787. In: Beiträge zur Beruhigung und Aufklärung 1 (1789), S. 167–219, und All­ gemeine deutsche Bibliothek, Anh. 1771–1791 (1791), Anh. 53–86, 4. Abt., S. 2012–2023.



A Vindication of Apologists and Antapologists 

 55

beispringt, handelt ehrenvoll. Hier liegt ein Feld von Spielzügen offen, in dem die Grenzen zwischen realer und inszenierter Verteidigung laufend verschwimmen. Der Wortgebrauch wird, das zeichnet sich ab, nicht im Feld sekundärer Dis­ kurse allein zu untersuchen sein. Da sich der breite öffentliche Austausch gegen­ wärtig nicht germanistisch untersuchen lässt, ist es sinnvoll, hier das englische Textkorpus mit heranzuziehen.

1 Eine Bestandsaufnahme im Feld englischer Publizistik Der VD16 und der VD17 haben zwar in den letzten Jahren die Bibliografien des deutschen Buchangebots für die Jahrhunderte zwischen 1500 und 1700 erschlos­ sen, allerdings gelangt man mit beiden Katalogen nicht in die Texte selbst. Für das 18. Jahrhundert, das hier das spannende Jahrhundert sein wird, steht eine detaillierte Verzeichnung noch aus. Günstiger sieht die Lage im englischsprachigen Raum aus. Hier verfügt man nicht nur mit dem ESTC, dem English Short-Title Catalogue, über die Gesamtbi­ bliografie für den Zeitraum 1473 bis 1800. Die Digitalisierungsplattformen Early English Books Online (EEBO) und Eighteenth Century Collections Online (ECCO) bieten zudem den Zugriff auf die Titel selbst. Die Plattform für das 18. Jahrhun­ dert erlaubt dabei die Suche quer durch das Textcorpus von 180 000 Titeln. Dem öffentlichen Sprachgebrauch lässt sich hier in fast beliebiger Tiefe nachgehen.

1.1 Gattung und Gattungsbegriff In das Gelände, das mit den Texten selbst zu betreten ist, führt Michael Multham­ mer sensibel ein.6 Wie von ihm eruiert, kursieren hier verschiedene Begriffe eng nebeneinander: „Verteidigungsschrift“, „Schutzschrift“, „Rettung“, „Apologie“, „Vindicatio“. Der Gattungsbegriff wird eher auf einer Metaebene der Interaktion gebildet: Unter Apologie subsumiert man alle Texte, die Charakterzüge einer Verteidigung tragen, wo hingegen für die Rettung die Inszenierung eines Gerichtsprozesses – mit Nennung der Anklagepunkte und deren Widerlegungen – konstitutiv ist. Daher kann die Rettung eher

6  Michael Multhammer: [Art.] „Apologie“. Unpubliziert. Manuskriptfassung des Autors.

56 

 Olaf Simons Gattungsstatus für sich beanspruchen, bei Apologie sollte man hingegen vielmehr von einer Schreibweise oder Textsorte sprechen. Die Apologie ist nicht mit der theologischen Disziplin der Apologetik identisch, wenngleich gerade in diesem Feld ein Großteil der Texte zu situieren ist.

Ein besonderes Phänomen fällt dabei auf, das sich im Textfeld vielfältig bestätigt finden wird: Die verschiedenen Begriffe schließen einander nicht aus, sie finden Kombinationen: Abgesehen vom Gebrauch des Begriffs innerhalb der Apologetik zeigt sich im 17. Jahr­ hundert eine zunehmend synonyme Verwendung von Apologie, Rettung, Vindicatio und Schutz-Schrift. Gerade in zweisprachigen barocken Titeln (lateinisch/deutsch) gehen die Bedeutungen durch die Übersetzungen ineinander über.

Mit dem ersten Erkundungsgang durch die englischen Titel befindet man sich inmitten des Problemfeldes. Nicholas Lesse übersetzt Philipp Melanchtons De justificatione (Köln 1531) als Iustification of man by faith only (London 1548) und gibt dem hinzu An apologie or defence of the worde of God, declaringe what a necessary thynge it is, to be in all mennes hands – „apologie“ und „defence“ stehen hier synonym. Der Obertitel setzt beiden ein Legitimationsdefizit hinzu – eine „justification“ muss eigentlich nur dort gegeben werden, wo sie angegriffen ist. Die Gleichstellung von „apology“ und „defence“ ist nicht ungewöhnlich. In Robert Crowleys Apologie, or defence of those Englishe writers & preachers which Cerberus the three headed dog of hell, chargeth wyth false doctrine, vnder the name of predestination (London 1566) taucht sie wieder auf. Mit der „apology“ lässt sich jedoch nicht minder die „vindication“ gleichstel­ len: The Saints apologie, or, a vindication of the churches (London [1644]). Statt des plumpen „or“, das Ober- und Untertitel trennt, kann man die Doppelung auch mit Verbalisierungen arrangieren – so tut das etwa An apology vindicating the Cavaleers from a partiall, or rather a passionate aspersion too rigorously put upon them for making churches prisons and stables (London 1643). Man kann, und das müsste im größeren Feld der „Verteidigungen“ eigent­ lich unmöglich sein, die „apology“ indes auch als Reaktion auf eine „defence“ schreiben. Das tut An apology against the defence of schisme. Lately written by an English diuine at Doway, for answere to a letter of a lapsed Catholicke in England his frend: who hauing in the late co[m]mission gone to to [sic!] the Church, defended his fall ([London 1593]). Nicht minder will jedoch möglich erscheinen, dass die „apology“, die „Ent­ schuldigung“, gleichzeitig ein „Gegenbeweis“, ein „counterproof“ ist, der die „Zurückweisung“, den „reproof“ einer „Verteidigung“ angreift:



A Vindication of Apologists and Antapologists 

 57

The trve ancient Roman Catholike. Being an apology or covnterproofe against Doctor Bishops Reproofe of the defence of the Reformed Catholike. The first part. Wherein the name of Catholikes is vindicated from popish abuse, and thence is shewed that the faith of the Church of Rome as now it is, is not the Catholike faith, nor the same with the faith commended in the Epistles of St. Peter and St. Paul, and that confirmed by the testimony of the ancient Bishops of Rome, and other writers of that church. By Robert Abbot Doctor of Diuinity, Master of Balioll Colledge in Oxford. (London 1611)

Die Schrift will das Wort „Katholizismus“ in Schutz nehmen, „vindizieren“, gegen den päpstlichen Missbrauch – Belege all dies am ehesten für ein Feld der taktischen Interaktionen, die allesamt Rechtfertigungen benötigen und aus vor­ geblichen Angriffen Anderer beziehen. Die Verteidigung ist hier die erstrebens­ werte Position, da sie die Reaktion selbst entschuldigt, und sie kann dabei hart und mit triumphaler Überlegenheit gegenüber dem Angriff ausgeführt werden. James Wilcock veröffentlicht in Verachtung der Angreifer und in Antizipation seiner Überlegenheit: The true English Protestants apology, against the blackemouth’d obloquie of ignorance and innovation. Necessary to support the weak, to confirm the strong, to instruct the ignorant, and stop the mouth of the adversary. Wherby the Church of England is in some part vindicated from the oduous accusations of popery, supersitions, and idolatry (London 1642) – eine Verteidigungs­ schrift, die den Gegnern das „Maul stopfen“ soll. Wer zur Verteidigung ausholt, kann sich genauso als Mensch größter Be­scheidenheit stilisieren: A defensive vindication of the publike liturgy, established ceremonies, and setled patrimony, of the Church of England; against such as (putting themselves to an ill occupation) have unjustly impeached, or oppugned them. By a peaceable sonne of the same church, no way addicted to novelty or innovation (London 1641). Apart wird es, wenn die machtvollste Instanz den Ton der Schwäche wählt. Karl I., der König, schreibt 1646 um sein Leben, da er The Scotish dove sent out the last time, with her apology and vindication, as her last farewell zur Publikation bringt. Am Ende ist er der erste Monarch des frühneuzeitlichen Europa, der sein Haupt ver­ liert. Vier Jahre vorher publizierte er His Maiesties proclamation and declaration to all his loving subjects, occasioned by a false and scandalous imputation laid upon His Maiesty, of an intention of raising or leavying war against his Parliament and of having raised force to that end (Oxford 1642) – eine Verteidigungsschrift muss nicht als eine solche gekennzeichnet werden. Fazit bis hier hin: – ­Die Worte „vindication“, „apology“, „defence“ werden bereits in den 1640erJahren in flirrenden Synonymien verwendet. Man wird das präziser fassen können: Die Titel nutzen die verschiedenen Worte regelmäßig, als ob mit

58 

 Olaf Simons

ihrer konkurrierenden Verwendung ein Mehrfaches an Wirksamkeit erreicht wird. – Zu den Nominalisierungen kommen Verbalisierungen – hier ist eher an einen Sprechakt, denn an eine Gattung gedacht. – Über den Charakter der „Verteidigungsschrift“ ist mit ihrer Auszeichnung als einer solchen nichts gesagt – sie kann als massiver Schlag auf die Gegner vor­ gebracht werden. – Man wird sich eingestehen müssen, dass es neben der Auszeichnung der Ver­ teidigungsschrift auch deren effektiven Akt ohne Auszeichnung und damit ohne jedes Label gibt.

1.2 Quantitäten und Entwicklungen Für den folgenden Abschnitt nutze ich Zahlenangaben des ESTC. Die Recherche­ ergebnisse sind nicht ganz präzise. Man erhält bei der Suche nach Worten auf Titelblättern zum Teil verschmutzte Resultate: Titel, die das Wort nicht aufwei­ sen, bei denen die Bearbeiter es aber hinzusetzen. Logische Operatoren fehlen, mit denen man Überschneidungen je nach Bedarf aussondern kann. Dies sind die ESTC-Treffermengen bei einem Versuch, auch Verbalisierungen (durch Trun­ kierung) zu erfassen: Suche Defence Defended

Treffer 4702 846

apolog*

2079

vindicat*

6942

Insbesondere das Wort „defence“ wirft im formidablen Textcorpus (es übersteigt bequem das der Romanproduktion) Probleme auf: In den 1790er-Jahren kommt es mit Aufrufen zur „Landesverteidigung“ in Anbetracht einer drohenden französi­ schen Invasion in weiteren Umlauf. Der Bibliografie fehlen auf der anderen Seite alle effektiven Verteidigungsschriften, die sich keiner expliziten Begriffe bedienten. Die Befunde fordern eine Relativierung gegenüber dem Gesamtmarkt ein – das Phänomen wird im Anteil an der Gesamtproduktion klarer zu erfassen sein.



A Vindication of Apologists and Antapologists 

 59

Die nachfolgende Statistik (Abb. 1) bietet den Graphen für die gesamte Pro­ duktion an Titeln und Auflagen nach ESTC-Angaben.7 1641 wird die Zensur durch die Star Chamber aufgehoben. Die Menge produzierter Titel schnellt von durch­ schnittlich 600 auf über 4 000 empor.

Abb. 1: Zahlen für den anglophonen Markt publizierter Titel nach dem English Short Title Catalogue 1600–1800. Zwischen 1641 und 1720 boomt tagesaktuelle Publizistik im Schatten der religiös-politischen Kontroversen.

Man wird diese Zahl mit Vorsicht lesen. Hier werden nicht auf einen Schlag sie­ benmal so viele Bücher produziert – die Papierkontingente hätten dafür nicht zur Verfügung gestanden. Eine Produktion neuartiger Titel setzt hier ein: die politischer Kleinschriften, die von nun an in Pressekampagnen erscheinen. Die Spitzenwerte sind politisch signifikant: 1642 der Beginn des Bürgerkriegs, 1648 dessen Zuspitzung wie sie zur Enthauptung Karls I. 1750 führen wird, 1660 die Restauration der Monarchie, in den 1670ern die außenpolitischen Kontroversen im laufenden Kriegsgeschehen, 1689 die Glorious Revolution, 1701 der Beginn des Spanischen Erbfolgekriegs und die Kontroverse um den Act of Settlement, der 1714 die Hannoveraner auf den Thron und eine jakobitische Rebellion ins Land holen wird. Die Phase zwischen 1720 und 1750, die Walpole-Ära, ist von politischer Kon­

7  Die Werte mussten manuell gereinigt werden, da der Katalog undatierbare Publikationen auf weniger kontrovers erscheinende Jahre legt. Man erhält Spitzen für 1600, 1610, 1620 etc. Ich ersetzte sie mit Mittelwerten aus den jeweils benachbarten beiden Jahren. Der Wert für 1610 ist so aus den Werten für 1609 und 1611 gebildet.

60 

 Olaf Simons

solidierung geprägt. Mit den 1750er-Jahren beginnt eine Marktumstrukturierung, die unter anderem stark vom Aufstieg der Belletristik bestimmt ist, jedoch nicht minder von der geografischen Ausweitung des Drucks. Nahezu die gesamte eng­ lischsprachige Buchproduktion wird bis in die 1720er-Jahre in London verlegt (die Zensur konnte hier in der Folge ganz anders greifen als auf dem politisch zersplit­ terten Kontinent). Mitte des 18. Jahrhunderts gewinnen Städte wie Edinburgh und Dublin als Druckorte an Bedeutung, nach 1770 addieren sich nordamerikanische Bücher in die Gesamtstatistik.

Abb. 2: Vergleich der deutschen und der englischen Titelproduktion 1500–1700: Der deutsche Markt wird bereits in der Reformation zum Ort kontroverser Öffentlichkeit. Weitgehend sich miteinander entwickelnde Begriffsfelder, die in den 1640er- und 1710er-Jahren Produktionsspitzen aufweisen.

Der Vergleich mit dem deutschen Markt lässt sich partiell durchführen. Die nach­ folgende Statistik (Abb. 2) legt die Werte des ESTC 1500 bis 1700 auf die des VD16 und des VD17. Deutlich wird sichtbar, dass der deutsche Markt mit seinen ver­ streuten Druckorten schon um 1500 im puren Titelausstoß die virulentere und massivere Produktion bot. Was sich auf dem englischen Markt mit dem Bürger­ krieg vollzieht, seine Ausrichtung auf das politische Tagesgeschehen, vollzog sich auf dem deutschen früher, ab 1521 mit der Reformation. Man sieht gemein­ hin England – im Rückgriff auf Jürgen Habermas’ Thesen vom Strukturwandel der Öffentlichkeit – als den Hort der freien Presse und der von ihr ausgehenden kriti­ schen öffentlichen Diskussion. Der deutschsprachige Raum erlangte tatsächlich in der territorialen und konfessionellen Zersplitterung eine virulente Öffentlich­



A Vindication of Apologists and Antapologists 

 61

keit, weit bevor eine liberale Zensurgesetzgebung sie abzusichern begann. Was die Zensur auf sich zu ziehen drohte, publiziert man in der Frühen Neuzeit im Nachbarterritorium und gegebenenfalls ohne Verlagsangabe. Man müsste Statistiken der Papiervolumina ausarbeiten, wollte man klarer sehen, was die Zählung von Titeln verdeckt: Ein Titel kann ein Blatt von zwei Seiten in kleiner Auflage sein, die Produktion an Titeln kann anschwellen, während das Volumen verkaufter und gelesener Ware tatsächlich einbricht. Der Exkurs in die Gesamtzahlen verlegter Titel sollte die folgenden Statisti­ ken zu Titeln unter den Worten „apology“, „defence“ und „vindication“ (mit den entsprechenden Verbalisierungen) relativieren. Die erste Grafik (Abb. 3) bietet die Zahlen für die ausgewiesenen Suchbegriffe getrennt und in Jahrzehntblö­ cken zusammengefasst mit dem Ziel, die Beziehung der Worte zueinander klarer ansprechbar zu machen.

Abb. 3: Apologies, Defences und Vindications nebeneinandergestellt

Von „Apologie“ zu sprechen ist bis in die 1610er-Jahre die bevorzugte Option. Der gelehrte Buchmarkt findet hier sein klassisches Wort, wobei hier keine dominant auf Latein verfasste Produktion zu notieren ist. Weitaus gewichtiger werden im Verlauf die Bildungen zu „defence“ und „vindication“. Ich ließ in der obigen Statis­ tik die Grauzone unangetastet, in der das Wort „defence“ in den 1790er-Jahren zum Wort für die Verteidigung im militärpolitischen Sinne wird. Eine manuelle Säube­ rung von 600 Listungen ist hier nötig. Die nachfolgende Statistk (Abb. 4) summiert die Werte aller drei Such­ vorgänge und ich korrigierte nun die 1790er-Werte für „defence“ oberflächlich und approximativ – statt alle Titel durchzugehen, sah ich die der Jahre 1796 und

62 

 Olaf Simons

1798 durch und reduzierte die Zahlen der übrigen Jahre des Jahrzehnts propor­ tional. Eine Menge von 350 Titeln dürfte ungefähr der Wert sein, der sich bei kon­ sistenter Durchsicht ergeben wird.

Abb. 4: akkumulierte Werte

Die Statistik, die das Begriffsspektrum summiert, weist einen deutlichen Anstieg mit der Wende in die 1640er-Jahre auf. Über 1 200 Verteidigungschriften, werden in den 1640er-Jahren verfasst. Im folgenden Jahrzehnt fällt der Wert auf etwas über 800 zurück. Die beiden Jahrzehnte nach der Restauration von 1660 zeigen sich mit um die 500 Titeln pro Jahrzehnt als verhältnismäig ruhige Phase. Zwischen 1680 und 1710 Jahren wird das Niveau der 1650er wieder erreicht. Das Jahrzehnt 1710 bis 1719 bringt den Spitzenwert von insgesamt an die 1 300 Titeln aller drei Begriffsfelder. Die weiteren Jahrzehnte bleiben bei um die 800 Titel pro Jahr­zehnt. Die Schwankungsbreiten sind interessanter als die Durchschnittswerte – sie sind hoch. 1639 erschienen 13 „Apologien“, 1640 nur eine mehr. 1641 sind es dagegen 93 und 1642 plötzliche 265, der Spitzenwert in der gesamten Produktion. Im frühen 18. Jahrhundert sind es 1706 niedrige 57 und 1720 ähnlich niedrige 65. Im Jahr 1710 dagegen 161 Titel, 1718 noch einmal 159 und 1719 weitere 186 Titel. Wir stoßen hier auf eine Produktion, die in öffentlichen Kontroversen greift. In ihnen wird es inter­ essant, Angriffe auszumachen und sich mit „Entschuldigungen“, „Verteidigungen“ und „Rechtfertigungen“ gegen sie zu verwahren.



A Vindication of Apologists and Antapologists 

 63

1.3 Publizistische Wellenreiter Im Vergleich mit der Entwicklung des Gesamtmarktes zeigt sich, dass der abge­ steckte Bereich der Verteidigungs- und Rechtfertigungsschriften von der Mark­ tumstrukturierung der 1640er-Jahre profitierte, jener, die den englischen Buch­ markt der politisch-religiösen Kontroverse öffnete. Von der Umstrukturierung, die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzt, und die den bislang eher schmalen belle­ tristischen Markt zum Wachstumsfeld der Literaturproduktion und der mit dieser konkurrierenden Trivialliteratur erhebt, profitieren die Verteidigungsschriften jedoch nicht mehr.

Abb. 5: Der Gesamtmarkt und die Verteidigungsschriften auf vergleichbare Niveaus skaliert. Apologien schießen mit den kontroversen Kleinschriften empor, die vor 1720 die temporären Produktionsanstiege verursachen.

Prozentual machen explizit ausgewisene Verteidigungsschriften in den 1640erJahren 6,3 Prozent des Gesamtangebots aus, und dieser anteilige Wert sinkt im Verlauf. Eine Statistik, die die Kurven proportinal für die 1670er als ‚normale‘ Jahre, als Jahre gemeinsamer 100 %-Werte, skaliert macht sichtbar (Abb. 5), dass die Verteidigungsschriften vor 1730 Reiter auf den Konjunkturwellen des Gesamt­

64 

 Olaf Simons

marktes sind. Wenn der Titelausstoß wächst, steigt ihr Anteil an ihm schnel­ ler – das hat im Wesentlichen damit zu tun, dass der Markt hier vor allem im Wellengang politischer Kontroversen anwächst. Anders sieht die Lage nach 1730 aus: Die Produktion, die nun exponentiell wächst, entfernt sich von den Vertei­ digungsschriften. Dass die politisch-religiöse Kontroverse sich im Lauf des 18. Jahrhunderts vom Schlagabtausch der einzelnen Titel verabschiedet und in den Journalismus, in die periodische Publizistik, übertritt, macht es nach 1730 zunehmend entbehr­ lich, das Wort noch auf Titelblättern zu notieren. Man verfolgt nun Journale seiner Wahl und behält mit ihnen Debattenstränge im Blick. Vormals musste der Buch­ handel einzelne Titel jeweils in einzelne Stränge des Schlagabtauschs einordnen und hierzu waren die Worte „apology“, „defence“, „vindication“ praktisch wie neutralere Angebote von „Antworten“ (auf jüngst erschienene Traktate). Regel­ mäßig konnte mit der „apology“ auch gleich notiert werden, welcher Angriff ihr vorweg ging und nun die Erwiderung forderte. Mit dem Gentleman Magazine das 1731 anhebt und den ihm folgenden „Magazinen“ gewinnt der Journalismus ein eigenes erstes Medium interner Reflexion, das Debattenstränge noch viel härter konturiert: Magazine drucken im Monatsrückblick die besten Artikel aus allen Zeitschriften ab und ordnen sie dabei in Strängen der Debatten, die zwischen den Journalisten stattfanden. Spätestens nun wird die Interaktion in Einzeldrucken, die aufeinander individuell Bezug nehmen und dazu Worte der Reaktion brau­ chen, unattraktiv – so die Antwort, die im Blick auf die Titel zu geben sein wird, die sich in enge Kontroversen einschrieben.

2 Apologies, Vindications, Defences Es gibt geniale Texte unter den Verteidigungsschriften. Die spannendste ist sicherlich John Bulwers Anthropometamorphosis man transform’d; or, The artificial changeling. Historically presented, in the mad and cruel gallantry, foolish bravery, ridiculous beauty, filthy finenesse, and loathsome lovelinesse of most nations, fashioning & altering their bodies from the mould intended by nature. With a vindication of the regular beauty and honesty of nature. And an appendix of the pedigree of the English gallant. By J. B. sirnamed, The Chirosopher (London: J. Har­ desty 1650). Das Werk (Abb. 6) bietet – und das hat nichts Ungewöhnliches an sich – sich selbst nur nebenbei als Rechtfertigung an: hier der Schönheit, wie die Natur sie hervorbringt. Bulwer holt zu einer breitgefächerten Untersuchung des menschlichen Erscheinungsbildes aus, an dem ihn die kunstvollen Deformatio­



A Vindication of Apologists and Antapologists 

 65

nen interessieren, die Körpermodifikationen. Wenig am Menschen ist, wie sich bei näherer Betrachtung zeigt, Natur.

Abb. 6: Titelkupfer zu John Bulwers Anthropometamorphosis […]. With a vindication of the regular beauty and honesty of nature (London 1650).

Körpergröße, Kopfform, Bewegungsapparat, Haut, Haar und äußere Erschei­ nung  … an allem gestalten wir herum, schon wenn wir Säuglinge wickeln und bandagieren. Bulwer vergleicht unsere Gestaltungsinteressen mit denen von Naturvölkern. Wo diese sich tätowieren und Vernarbungsmuster herstellen, tragen wir bunte Kleidung mit kunstvollen Schlitzfalten. Vieles unterliegt natio­ nalen Moden wie die Kopfform, auf die wir bei der Bettung von Säuglingen bereits Einfluss nehmen. Anderes folgt bestimmten Zielen, uns selbst eine bestimmte beeindruckende Form zu geben. Dem Natürlichen stellt Bulwer in seiner Apologie der natürlichen Erscheinung das Unnatürliche als Feindbild gegenüber. Die fran­ zösischen Moden, denen sich ganz Europa verpflichtet, rücken in den Bereich der gewaltsamen Transformationen, denen die Körpermodifikationen der Urwaldvöl­ ker in nichts nachstehen. Die aktuelle Forschung sah bereits, dass es hier vor allem um eine Diffamierung des französischen Absolutismus und seines Gestal­ tungswillens geht.8

8  Kim F. Hall: Things of Darkness: Economies of Race and Gender in Early Modern England. Ithaca, NY 1995, S. 68 ff.; Dominic Montserrat: Introdution. In: Ders. (Hg.): Changing Bodies,

66 

 Olaf Simons

Bekannt sind am anderen Ende der Chronologie die beiden Vindications Mary Wollstonecrafts – A Vindication of the Rights of Men, in a letter to the Right Honourable Edmund Burke; Occasioned by his reflections on the revolution in France (London 1790) und spektakulärer noch ihre Vindication of the Rights of Woman: with strictures on political and moral subjects (London 1792). Kurioses liegt zwischen diesen Eckpunkten von abenteuerlicher religiöser Publizistik à la Quirin Kuhlmanns 32-seitigem A. Z! Quirin Kuhlman a Christian Jesuelit his Quinary of slingstones, against the Goliah of all kindreds, people, and languages: to be placed before his writings, as an invincible love-apology for, and defence of them. For an eternal memory set down the same day which two years before, he departed from the Rose-lilly Bromley by Bow, near London, towards Constantinople, otherwise called, Eastern-Rome, in the lilly city Paris, the 3. day of March and published at Amsterdam, May, 168[?] (London/Oxford 1683) – bis zu hanebüchenen Kriminalfällen. 1684 erscheint auf diesem Markt The maidens plea: or, Her defence, and vindication of her self, against all objections; notwithstanding, Mr. Harris’s dying in bed with her, July the 26th. 1684. Shewing, that she ought not at all to be condemned, but rather to be much commended for her prudent carriage, and kindness to that gentleman. Together, with a word or two to the wife in behalf of the sisterhood in general. All in order to a through reformation, and setting the saddle upon the right horse. And written by a person of qualities (London: Printed by G. Croom, for the author 1684). Die sechs Seiten bieten in der ersten Person Singular das Plädoyer, der vom Todesurteil bedrohten Frau, die mit einem Mann ins Bett ging, der dabei starb – ihr Herr war betrunken, sie kam gegen ihren Willen in die missliche Lage. Sie selbst ist nicht die Autorin, sondern ein Gentleman eine „Person von Qualität“, und zu diesen Qualitäten gehört, dass die Verteidigung sich an männliche Juroren richtet, die wissen, wie betrunkene Männer sind. Genüsslich wird erzählt, wozu es angeblich gerade nicht kam. Für das Gros der Titel sind die heute spannend erscheinenden nicht reprä­ sentativ. Das quantitative Zentrum beanspruchen Apologien in der Nachfolge der christlichen Apologetik, Verteidigungen des Christentums – nun nicht länger

Changing Meanings: Studies on the Human Body in Antiquity. London: Routledge, 1998, S. 1–12; William E. Burns: The King’s Two Monstrous Bodies: John Bulwer and the English Revolution. In: Peter G. Platt (Hg.): Wonders, Marvels, and Monsters in Early Modern Culture. Cranbury (NJ) 1999, S. 187–204; Mary Baine Campbell: Wonder and Science: Imagining Worlds in Early Modern Europe. Ithaca 1999, S. 221–256; Elisabeth Stephens: Queer Monsters: Technologies of Self-Trans­ formation in Bulwer’s Anthropometamorphosis and Braidotti’s Metamorphoses. In: Nikki Sul­ livan/Samantha Murray (Hg.): Somatechnics: Queering the Technologisation of Bodies. Surrey 2009, S. 171–186.



A Vindication of Apologists and Antapologists 

 67

Abb. 7: Titelblatt der zweiten Auflage von Mary Wollstonecrafts A Vindication of the Rights of Men (London 1790).

68 

 Olaf Simons

gegen die heidnischen Angriffe, sondern gegen die namenlosen Attacken des um sich greifenden Atheismus. Ein größerer Teil der Titel verstrickt sich in das Gewirr der Kontroversen – Titel wie Vincent Alsops A vindication of the faithful rebuke to a false report against the rude cavils of the pretended defence (London 1698) sind hier typisch. Schon allein eine Eröffnung wie diese setzt einen Leser voraus, der weiß, auf welche Schriften hier Bezug genommen ist. Wo man es nicht weiß, erhält man die Argumente, die hin und her gegangen sein sollen, mitgeliefert, was die Lektüre nicht einfacher macht. Am Ende kommt es zu seltsamen Titelblättern wie dem der Vindication of the antapologist, against the Defence of the Dean of St. Paul’s apology (London 1695). Im Gewirr der in Schlagabtäuschen verfassten Titel verkaufen sich „curieuse“ und vergnügliche Verteidigungsschriften, die zeigen: Hier besteht ein Bewusst­ sein für die tendenziell mühselige Gattung – für eine Gattung, die nun mit Überra­ schungen ausgekostet werden kann. Eine eigene Gruppe bilden unter diesen die Verteidigungsschriften des weiblichen Geschlechts, die mal galant bis ernst und mal satirischer ausfallen. Wo man die Ehrbarkeit der Frauen gegen alle infamen Angriffe verteidigen kann, kann man gerade zur Verteidigung der Frauen aus­ holen, denen man unter der Hand im Manöver die Ehre aberkennt: Die Answer to the Character of an Exchange-Wench: or A Vindication of an Exchange-Woman (London 1675) bietet sich als Schutzschrift aller Prostituierten an – und diffa­ miert sie nach aller Kunst: Sie gehen, so die Eröffnung, einem ganz gewöhnli­ chen Gewerbe nach, das sie, wenn sie überleben wollen, natürlich mit Geschäfts­ sinn und Professionalität betreiben müssen. Nebenbei geschieht jedoch nichts anderes als die Entlarvung und Brandmarkung der noch immer illegalen Prak­ tiken. Ein Jungverheirateter rechtfertigt in Learn to lye warm, or, An apology for that proverb Tis good sheltring under an old hedge; containing reasons, wherefore a young man should marry an old woman (London 1672) seine Ehe mit einer älteren Frau – nicht minder Spott auf alle, die sich selbst für den materiellen Profit pro­ stituieren. Flugblätter bieten satirische Lieder auf vergleichbare Themen. Die Rechtfertigung ungleicher Ehebündnisse ist hier beliebt wohl dank der lustvoll peinlichen Situationsschilderungen.



A Vindication of Apologists and Antapologists 

 69

3 Spiele mit verschiedenen Ebenen des öffentlichen Urteils In der inhaltlichen Struktur folgen die „apologies“, „defences“ und „vindica­ tions“ keinem klaren Muster. Sie sind in der Regel nicht als Gerichtsprozesse verfasst. Im Verlauf beziehen fast alle Verteidigungsschriften ihre Spannung aus einem Spiel auf drei Ebenen, das zwischen implizit gerechtfertigten und implizit ungerechtfertigten Positionen aufgebaut wird. Die erste Ebene ist jeweils die des Angriffs. Autor und Leser teilen hier (vor­ geblich) Bewertungsmaßstäbe. Auf der zweiten Ebene erfolgt die Verteidigung, im Blick auf Positionen, die ihrerseits den öffentlichen Wertungen unterliegen. Auf einer dritten Eben bleibt stets die gesamte Verteidigungsschrift zu beurteilen auf einer Skala von Ernst bis Ironie: Man wird nachdenken müssen, ob der Autor wirklich verteidigen will, was er hier verteidigt, und ob er wirklich erhofft, dass man mit ihm die Wertmaßstäbe dieser Verteidigung teilt.

Abb. 8: Englisches satirisches Broadsheet aus dem 17. Jahrhundert: An Answere tot he forc’d Marrage: Or, the old mans vindication

70 

 Olaf Simons

Abb. 9: Zwischen Angriff, Verteidigung und Präsentation können Wertmaßstäbe gewechselt werden – Spiel der Ebenen.

Das Christentum kann das angegriffene Objekt sein. Autor und Leser sind sich regulär ohne weitere Ausführungen darüber einig, dass sich ins Unrecht begibt, wer es angreift. Wer das Christentum verteidigt, wird auf der Ebene der Vertei­ digung an die Werte appellieren, die er mit den Lesern teilen will und in Gefahr sieht. Man wird hier Ernst walten lassen – müsste man doch andernfalls sich selbst dem Verdacht aussetzen, das Christentum angreifen zu wollen. Die spannenderen Verteidigungsschriften riskieren einer solchen Polarisie­ rung gegenüber unerwartete Manöver: Epikur, der heidnische Philosoph, ver­ dient es nach aller öffentlichen Meinung, als hedonistischer gottloser Philosoph gebrandmarkt zu werden. Er war Atheist, plädierte gegen die Unsterblichkeit der Seele und für das Recht auf Selbstmord. Ihn zu verteidigen wird auf der öffentli­ chen Werteskala unter dieser Prämisse riskant, seine heutigen Anhänger greifen gerade die Religion und die Moral an. Auf der Ebene der Verteidigung lässt sich eine Gegenrechnung zugunsten des Philosophen aufmachen, die nun ihrerseits öffentlich gerechtfertigte Positionen in Anspruch nimmt: Epikur war ein Mensch hoher Moral, ohne Christ zu sein. All dies ernst zu tun, heißt, Lesern den einfachen Weg der Distanzierung vom Geschehen nehmen – sie müssen in diesem Beispiel Wertmaßstäbe miteinander abgleichen und sich von einfachen Verurteilungen distanzieren. Die Objekte des Angriffs und die Positionen der Verteidigung lassen sich indes in diesem Rahmen eben flexibel handhaben. Ein Autor kann die Frauen infam angegriffen sehen.



A Vindication of Apologists and Antapologists 

 71

Er kann in der Verteidigung indes gerade aus Sicht des Lesers verbrecherische Handlungen von Frauen rechtfertigen. Wenn der Leser das Manöver mit Sinn für Ironie liest, bestätigt er unter der Hand die Angriffe auf das weibliche Geschlecht und so fort. Die Verteidigungsschrift lebt im brisanten Fall vom Konflikt der Wert­ maßstäbe. Gespielt wird im selben Moment mit der vermeintlichen Homogenität des Publikums. Im Moment, da man eine Verteidigungsschrift publiziert, unterstellt man, so die Spielregel, dass dem Publikum der Angriff bereits vertraut ist. Nöti­ genfalls wiederholt man nochmal, wo der Angriff lag. Die Verteidigung ist unter den Wertmaßstäben der zweiten Ebene legitim. Prekär ist unter der Hand, und hier liegt der erste unterschwellige Angriff auf das Publikum, dass es diesem Angriff bislang offenbar nicht ausreichend entschlossen begegnete. Man könnte sich die Verteidigung des Christentums ersparen, wenn das Publikum diese Reli­ gion selbst verteidigte. Die Verteidigungsschrift stellt sich der Aufgabe, im homogenen Publikum ein Bewusstsein für den mutmaßlich nicht geführten Verteidigungsschlag zu erzeu­ gen. Das ist nicht weniger als die Unterstellung, dass die Leser die Angreifer ihrer Moral in den eigenen Reihen dulden. Gefordert ist im selben herben Nachweis die Bereitschaft der Leser, die als Feinde ausgemachten Gruppen aus der Mitte zu bannen. Der Verweis auf Interessenkonflikte, derer sich die Öffentlichkeit angeblich noch nicht zu genüge bewusst ist, ist das große Angebot der Verteidigungsschrift. Ihr publizistischer Charme liegt dabei in der Legitimation des publizistischen Auftritts. Der Angriff ist bereits erfolgt und die Verteidigung von einem selbst als Angegriffenem eingefordert und – wenn es Ehre gibt – einzufordern. Gab es hier eine Gattung? Nicht im poetologischen Sinn. Die notierten Titel teilen wenig an Sprache, Stil und Aufbau miteinander. Andererseits gab es hier ein klares Gefühl für den Interaktionsraum. Spiele mit Erwartungshaltungen sind hier an der Tagesordnung und umfassen die Persiflage und die satirische und ironische Schutzschrift als Reflexe auf die etablierten Publikationsoptionen.

4 Ein historisch eingegrenztes Phänomen Man wird für Apologien, Verteidigungsschriften und publizistische Rechtferti­ gungen kaum eine Gattungstypologie benötigt haben. Die bezeichneten Inter­ aktionen sind alltäglich, ob im Gedränge, in dem man unabsichtlich härter mit jemandem in Kontakt kommt und sich dafür entschuldigt, oder im Gerichtssaal, in dem man sich wohlerwogen einer vorliegenden Anklagschrift stellt. Die pub­

72 

 Olaf Simons

lizistische Nutzung der im Alltag gerechtfertigten Sprecherposition erweitert auf dem Printmarkt den Interaktionsraum. Dass sich Satiren, Persiflagen und Paro­ dien auf Apologien, Verteidigungsschriften und publizistische Rechtfertigungen finden, beweist, wie stark hier das Bewusstsein für einen Interaktionsspielraum, wenn nicht für Textgattungen ist. Wenn die poetologische Gattungsdefinition schwierig ist – die historische ist es nicht. Wir haben hier ein hi­sto­risch eingrenzbares Phänomen. Im Feld laufen­ der Kontroversen brechen sich Apologien, Verteidigungsschriften und publizisti­ sche Rechtfertigungen im 16. Jahrhundert (in England klarer erst im 17. Jahrhun­ dert) die Bahn. Sie eignen sich hervorragend dazu, Bezüge zwi­schen isolierten Publikationen her­zu­stellen, Texte als Verteidigungen vor­geblichen Angriffen ent­ gegenzusetzen und dabei Ketten der Interaktion zu erzeugen. Auf einem Markt kurzer Schriften werden hier Textmarker ge­setzt, die Debattensträngen, threads, im Extremfall überaus mühselig auswiesen. Diese Form der Interaktion weicht im 18. Jahrhundert neuen Optionen der In­teraktion, die nun im Journalismus über publizistische Plattformen organisiert wird – über Zeitungen und Zeit­schrif­ten, die fortgesetzt erscheinen und Debattenstränge herstellen. Eine freiere Form der Ver­tei­digungs­schriften überlebte besser – jene, der wir am Ende des 18. Jahrhunderts noch Publikationen wie die Vindication of the Rights of Men und die Vindication of the Rights of Woman verdanken. Eine Kette von schrittweisen Grenzerkundungen und Tabubrüchen durchzieht dieses besondere Textfeld: die Kette der Erprobungen öffentlicher Toleranz gegenüber der angreifbaren Verteidigung. Harmlos ist hier die Apologie des Missvergnügens, brisant sind hier die sukzessiven Apologien von Ketzern und Tabubrüchen bis zu der Apologie der Knabenliebe.9 Die Gattung erweist sich hier als Medium der Aufklärung indes auch als Medium rhetorischer Schaugefechte. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist an selber Stelle zunehmend zu überlegen, ob die Apologie noch attraktiv ist, um Positionen kontrovers auszutes­ ten. Es wird zunehmend interessant, Roman- und Dramenhelden heikle Positio­ nen einnehmen zu lassen und nun auf deren Verteidigung in der sich umgestal­ tenden Literaturkritik zu spekulieren. Der rhetorische Gestus der Verteidigung wird gegenüber den neuen Insze­ nierungsoptionen unattraktiv. Die gesamte Legitimation, die Autoren von Apolo­ gien, Verteidigungsschriften und publizistische Rechtfertigungen für sich bisher beanspruchten, wird mit der Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts fragwürdig. Mit dem Rückhalt größerer Erudition längst vergessene Häretiker verteidigen zu können, ist im breiteren öffentlichen Diskurs eher eine prekäre Übung. Sich selbst

9  Siehe hierzu den Beitrag von Andrew McKenzie-McHarg in diesem Band, S. 229–261.



A Vindication of Apologists and Antapologists 

Abb. 10: Worte, die sich dem Schlagabtausch anbieten. Titelblatt der Vindication of the antapologist, against the Defence of the Dean of St. Paul’s apology (London 1695).

 73

74 

 Olaf Simons

verteidigen zu müssen, vor 1730 ein Gebot der Ehre, wird mit der Empfindsamkeit der Jahrhundertmitte zunehmend anstößig – wer angegriffen wird, sollte erröten und scheu reagieren, kaum jedoch die Öffentlichkeit mit Widerreden beanspru­ chen, so die neue Regel. Im Feld literarischer Gattungen, das nach 1750 gebildet wird, gewinnen die Verteidigungsschriften erst einmal keinen Raum. Gattungen des Fiktionalen werden hier gebündelt unter der Forderung, dass sie sich der sekundären Wür­ digung sprachlicher Kunst und neuen Interpretationsangeboten stellen. Der Roman, das Drama, das Gedicht werden Primärliteratur. Die Literaturkritik und die Literaturwissenschaft liefern in der neuen Aufgabenteilung die Sekundärlite­ ratur. Der neuen Arbeitsteilung zwischen schöpferischen Individuen, Künstlern, auf der einen Seite und der öffentlicher Diskussion ihnen gegenüber, boten sich Verteidigungsschriften kaum an. Waren sie selbst nicht ostentativ sekundärer Diskurs gewesen – Antworten auf vorgebliche Angriffe? Das Drama, der Roman und das Gedicht bieten sich weit komplexere Partei­ nahmen an als die Ehrenrettung je suchte – Parteinahmen für Künstler, die hier Freiräume austesten, Parteinahmen für die Kunst als den größeren Freiraum, dem wir Debattenimpulse entnehmen. Spannender als rückwirkend eine Gattung zu definieren, könnte es sein, hier andere Optionen der Diskurslegitimation und -teilnahme ausgespielt zu sehen und zu fragen, wie der Austausch, der hier zwischen 1500 und 1750 bestand, unserer eigenen Organisation von Debatten wich. Auch Beschreibungen dieses Prozesses werden Austausch, wie er vor 1750 bestand, eingrenzen, definieren.

Herbert Jaumann

Wahres Wissen für die République des lettres Gabriel Naudé als Methodologe der historischen Kritik – zur Apologie pour tous les grands personnages (1625) Qui plura novit, eum maiora sequuntur dubia

Gabriel Naudé: Addition à l’histoire de Lovys XI, 16301

Douter des choses douteuses

Pierre Desmaizeaux über Pierre Bayle, 17322

Dass man mit Kant die Unwissenheit, eines der größten unter den Hindernis­ sen für die Aufklärung und eine Grundlage der „Unmündigkeit“, als „selbstver­ schuldet“ dem aufklärungsbedürftigen und Aufklärung suchenden Menschen selbst zurechnet, war auch um 1784, als Kants Essay erschien, noch längst nicht Gemeingut. In Andrea Alciatos Emblemata (1531) ist die Unwissenheit eine Sphinx,3 und ihre Attribute: das unschuldige Gesicht einer Jungfrau usw., verwei­ sen auf die Gründe des Unwissens, zu denen jedenfalls nicht eine Selbstverschul­ dung des nach wahrem Wissen strebenden Subjekts gehört, und wenn Gabriel Naudé (1600–1653), der Philologe und Bibliothekar unter den Gelehrten des späthumanistischen libertinage érudit, fast ein Jahrhundert später sich auf die Sphinx des humanistischen Juristen und Dämonologen Alciato beruft, betont er

1  „Wer mehr weiß, hat größeren Anlaß zu zweifeln.“ Naudé, der den Satz zitiert (Addition, S. 38), schreibt ihn der Rhetorik des Aristoteles zu. In seinem Xenophanes-Artikel (Anm. L) im Dictionnaire (ed. 1740) meint Bayle, andere Autoren würden ihn Enea Silvio (Piccolomini) zuschreiben. 2  Pierre Desmaizeaux: La vie de Monsieur Bayle. 2 Bde., 2. Ausg. La Haye: Gosse et Neaulme 1732, Zitat: Bd. 2, S. 339. Der nach England emigrierte hugenottische Autor publizierte die Bio­ grafie zuerst anonym in englischer Sprache: The life of Mr. Bayle. In a letter to a peer of Great Britain. London 1708, u. ö. Die vielzitierte Wendung soll den Autor Bayle und seine kritischen Ur­ teile kennzeichnen und ihn darüber hinaus (wohl gegenüber den Theologen) von dem Vorwurf der Pyrrhonischen Skepsis entlasten, indem seine Kritik zum Erkenntnisideal überhaupt erklärt wird. Dazu heißt es in der englischen Version: Bayles Urteilsreserve „brought him under a charge of Pyrrhonism. […] If it only means that he doubted of things which appeared doubtful […], this is the greatest Honor can be done him. This kind of Pyrrhonism is the perfection of the Human Understanding“ (1708, S. 204 f.). 3  Andreas Alciatus: Emblematum liber. Augsburg: Heynricus Steynerus 1531, fol. C3v–C4r. Re­ print mit Holzschnitten von Jörg Breu. Hildesheim/New York 1977.

76 

 Herbert Jaumann

noch mehr als dieser das Fremdverschulden, genauer: die Einflüsse des „gemei­ nen Pöbels“ und die Autorität der von diesem nachgefragten und immer wieder gestützten Vorurteile und darauf fußenden Fehlinterpretationen als Hauptursa­ che der Unwissenheit. Und es sollte klar sein, dass mit ignorantia nicht irgend­ ein Informationsdefizit, sondern geradezu der Gegenbegriff dessen gemeint ist, was humanistische Philologie und irdische Erkenntnis überhaupt versprechen, nämlich Wissen, „wahres Wissen“, „sana mens“ – weshalb von Naudé deutli­ cher als bei Alciato auf die grausame Gewohnheit der Sphinx verwiesen wird, die Unwissenden, die ihr Rätsel nicht lösen können, vom hohen Felsen in den Tod zu stürzen. Es geht also um Gefahren für geistige Gesundheit und Leben, wo es um wahres Wissen geht, und Naudé ist bemüht, diesen Ernst des Themas seiner Apologie pour tous les grands personnages qui ont été faussement soupçonnés de magie dem Leser von Anfang an so drastisch wie möglich vor Augen zu stellen.4 Wie er dabei die Wirksamkeit der Sphinx in ihrer spezifischen Mischung aus Infantilität,

4  Die Schrift ist zuerst 1625 in Paris bei François Targa („au Palais, à l’entrée de la Gallerie des Prisonniers“) erschienen; ein Reprint bei Farnborough: Gregg Intern. Publ. 1972. Weitere Drucke, mit leichten Modifikationen im Titel: Den Haag 1653, Paris 1669, Amsterdam 1712. Wir zitieren nach der Pléiade-Ausgabe, die dem Druck von 1625 folgt: Apologie pour tous les grands personnages qui ont été faussement soupçonnés de Magie. In: Libertins du XVIIe siècle. Édition établie, presentée et annotée par Jacques Prévot, avec, pour ce volume, la collaboration de Thierry Bedouelle et d’Étienne Wolff, 2 Bde. Paris: Gallimard 1998 (Bibliothèque de la Pléiade). Text: Bd. 1, S. 137–380; notices, notes et variantes: Bd. 1, S. 1287–1369 (im Folgenden zit. als „Apologie“). – Eine frühe deutsche Übersetzung unter dem Titel Gabriel Naudaei Schutz=Schrifft, Worin Alle vornehmen Leute, die der Zauberey fälschlich beschuldiget sind, vertheidiget werden, erschien in einer Textsammlung im Anschluß an die deutsche Version der berühmten Theses inaugurales de crimine magiae von Christian Thomasius (Disputatio pro licentia, resp. Johann Reiche, Halle 1701): Herrn D. Christian Thomasii […] Kurtze Lehr=Sätze von dem Laster der Zauberey, Nach dem wahren Verstande des Lateinischen Exemplars ins Deutsche übersetzet, Und aus des berühmten Theologi D. Meyfarti, Naudaei, und anderer gelehrter Männer Schrifften erleutert, auch zu fernerer Untersuchung des nichtigen Zauberwesens, und der unbilligen Hexen=Processe, nebst einigen Actis magicis heraus gegeben von Johann Reichen, beyder Rechten Licent. Halle: Renger 1704, darin S. 1–268 [gesondert pag.]. Die Übersetzung stammt wohl vom Hg. Reiche selbst, dem Respondenten der Thomasischen Disputation von 1701, sie zeigt allerdings in der Kapitelfolge einige Abweichungen von der Vorlage. Im Folgenden werden den im Text angeführten Zitaten aus Naudés Original die sprachlich gelegentlich reizvollen Übersetzungen Reiches, die natürlich manchen Aufschluß über die deutsche Rezeption zumal im Thomasius-Kreis erteilen, in den Fußnoten beigegeben. – Eine weitere deutsche Übersetzung der Apologie ist Ende des 18. Jahrhunderts erschienen: Über den Zauberglauben und andere Schwärmereien; oder Verteidigung berühmter Männer, die von ihren Zeitgenossen für Zauberer gehalten worden. Aus dem Französischen. Leipzig: Weygand 1787, nach dem Hinweis bei Martin Mulsow: Appunti sulla fortuna di Gabriel Naudé nella Germania del primo illuminismo. In: Studi filosofici XIV–XV (Napoli 1991/92), S. 145–156, hier S. 148, Fn 16.



Wahres Wissen für die République des lettres 

 77

Bosheit und grausamer Schadenfreude charakterisiert, dabei auch abweichend von der Version bei Hesiod und Apollodor, illustriert sowohl den Ernst der Sache als auch das Wissen von der Schwierigkeit der Aufgabe, die er sich vorgenommen hat: [C]omme icelui [le monstre] prenait plaisir de précipiter du haut de sa roche tous ceux qui ne pouvaient ou voulaient soudre ses énigmes, ainsi l’ignorance s’est toujours étudiée de faire choir et comme précipiter de leur crédit et réputation tous ceux qui pour avoir de meil­ leures occupations ne voulaient s’amuser à des puérilités et badineries.5

Darin, die geistige Tradition, ihre Symbolfiguren und großen Autoren von diesen eigentlich trivialen Mißdeutungen zu befreien bzw. sie endlich als das erkennbar zu machen, was sie noch immer bedeuten, besteht die stolze Aufgabe, die Naudé sich in diesem Buch gestellt hat. Dass er sich dabei aber nicht einmal in der Rolle des Sisyphos sehen möchte, der ja immerhin stets eine neue Chance bekommt, den Stein wieder hinaufzuwälzen, gibt er bereits mit dem ersten Satz seines Vor­ wortes zu erkennen: Dem lieben Leser werde die Geschichte des Polydamas ohne Zweifel bekannt sein, „lequel voulant arrêter un pesant caillou qui roulait du haut d’une montagne fut accablé sous icelui“;6 ebenso schwierig, gefährlich, und fast aussichtslos, müsse dem Leser sein eigenes Vorhaben erscheinen. Ich möchte mich im Folgenden vor allem auf diese Programmatik und Zweck­ setzung der Schrift des jungen Gelehrten konzentrierten, der dem methodischen Verfahren und dessen Zielen nicht zufällig mehrere Kapitel widmet: nach dem Vorwort zumindest die Kapitel I: Des conditions nécessaires pour juger des auteurs, et principalement des historiens und Kapitel II: De la magie et ses espèces sowie, die Ergebnisse auswertend, „Chapitre XXII et dernier: Par quels moyens toutes ces faussetés se maintiennent, et ce que l’on doit attendre d’icelles si on ne les reprime.“7

5  Apologie, S. 154. Wie auch bei den folgenden Zitaten hier die Übersetzung Reiches von 1704: „Denn gleichwie dasselbe [Ungeheuer] sich belustigte alle diejenigen von den hohen Felsen he­ runter zu stürtzen, die da nicht vermochten seine Rätzel auffzulösen; also ist die Unwissenheit allezeit bemühet gewesen, die jenigen aus ihren Ansehen und Würde zu setzen, und gleichsam zu stürtzen, welche besseren Verrichtungen obliegen, und sich bey diesen Kindereyen und Nar­ renspossen nicht haben auffhalten wollen.“ S. 16. 6  Apologie, S. 141. „[W]elcher, als er einen schweren Stein, so von einem hohen Berge herab lieff, auffhalten wollte, von demselben zerschmettert wurde.“ (Unpag. Vorrede) 7  Apologie, S. 147, 154 u. 375. „Durch was vor Mittel alle diese Lügen unterhalten seyn, und was man von ihnen zu gewarten habe, wenn man sie nicht widerleget.“, S. 262. In der Übersetzung Reiches trägt „Das siebenzehende und letzte Capitel“ diesen Titel. Die Kap. Naudés ab Nr. XVI sind bei Reiche folgendermaßen angeordnet: 16=XVII (Nr. 17 ist bei Reiche dann zunächst aus­

78 

 Herbert Jaumann

Bei Durchsicht der meisten Arbeiten der Forschung, sofern sie sich näher mit der Apologie befasst haben (die ja nicht zu den bevorzugten Werken Naudés gehört),8 kann man den Eindruck gewinnen, dass diese Kapitel fast umsonst geschrieben wurden. Das Werk wurde in der Tat primär als mehr oder weniger kritische Geschichte der Magie rezipiert, und der Titel der frühen Übersetzung ins Englische, The History of Magick by Way of Apology, For all the Wise Men usw. (London 1657), weist bereits in diese Richtung. Die Regel ist das Staunen über die umfassende Belesenheit des 25-jährigen Autors Naudé, das große Interesse an seiner Darstellung und Kritik der vielen meist apokryphen Autoren und Werke, die unter den Titeln des Hermetismus, Okkultismus und der Kabbala, der Magie und Prophetie aller Art, der Dämonologie, Alchemie, Astrologie usw. erneut ans Licht – eben in ein neues Licht gestellt und gewürdigt werden. Darunter scheinen Naudés Typologie mit knappen Definitionen und Erläuterungen der verschie­ denen Arten der Magie in Kapitel II von früh an die Quintessenz der Rezeption dieses wohl immer wenig gelesenen Buches zu bilden, weil sie kurz und leicht zu merken sind und man sie so ähnlich auch anderswo bestätigt finden konnte: die göttliche („sacrée et divine“, also religiös-biblische) Magie, die weiße („théur­ gique“), die schwarze („goéthique“, „perverse et défendue“) und die natürliche Magie („naturelle“, auf Naturphilosophie hinauslaufend). Interessant für die darauf gerichtete Forschung ist immer auch Naudés Einbeziehung der wich­ tigsten Werke und Autoren der neuzeitlichen Literatur: angefangen bei Marsilio Ficinos lateinischer Edition des Corpus hermeticum unter dem Titel des Pimander (gedruckt zuerst 1471) und Pietro Pomponazzis De incantationibus (postum 1528), dazu Isaac Casaubons Kritik in De rebus sacris et ecclesiastibus (1614) sowie die einschlägigen Bücher des Arztes Johann Weyer (1563) oder der Jean Bodin (1580)

gelassen), 18=XVIII, 19=XIX, 20=XX, 16=XXI, 17=XXII. Die Nr. 16 ist also zweimal vergeben und Naudés umfangreiches Kap. XVI „De Merlin, Savonarole, et Nostradamus“ (S. 301–318) ist ganz ausgelassen. 8  Hervorzuheben sind Ornella Pompea Faracovi: I libertini e le streghe. In: Rivista di filosofia quadrimestrale 69 (ottobre 1978), fasc. III, S. 367–395, sowie die Arbeiten von Anna Lisa Schino: Campanella tra magia naturale e scienza nel giudizio di Gabriel Naudé. In: Physis. Rivista inter­ nazionale di storia della scienza 22 (1980), S. 393–431; dies.: Incontri italiani di Gabriel Naudé. In: Rivista di storia della filosofia 44 (1989), S. 3–36, und bes. profund: Tradizione ermetica e astrologia giudiziaria in Gabriel Naudé. In: Atti e Memorie dell’Accademia Toscana di Scienze e Lettere La Colombaria, volume LVII, Nuova Serie XLIII, anno 1992. Florenz 1992, S. 133–227; vgl. auch Paul Nelles: Histoire du savoir et bibliographie critique chez Naudé: le cas de la magie. In: Corpus. Revue de philosophie N° 35. Paris 1999: Themenheft Gabriel Naudé. La politique et les mythes de l’histoire de France. Sous la direction de Robert Damien et Yves-Charles Zarka, S. 117–132, sowie die Beiträge von Zarka und André Pessel in diesem wichtigen Band, der der deutschen Forschung offenbar unbekannt ist.



Wahres Wissen für die République des lettres 

 79

und Johann Georg Gödelmann (1592) oder Pierre de l’Ancre, alles Juristen des 16. Jahrhunderts bzw. wie L’Ancre noch ein Zeitgenosse Naudés. Gewiß nehmen die Kapitel über die Gestalten der Magiehistorie den größten Teil der 22 Kapitel des Buches ein,9 doch ist die Aufmerksamkeit, die der methodischen Demons­ tration gilt, nicht zu übersehen und verdient eine gesonderte Beachtung. Zudem muss man deren Ausführlichkeit fast exemplarisch nennen, wenn man sie mit Autoren aus Naudés libertinem Umkreis vergleicht, die sich die größte Zurück­ haltung bei der Formulierung von derlei ‚theoretischen‘ oder gar programmati­ schen Auffassungen, von kritischen Urteilen oder Doktrinen überhaupt auferlegt haben, eine reservatio, die freilich ihrerseits offenbar nicht ohne prinzipielle Züge gewesen ist.10

9  Schon die Titel der Kap. III–XXI können einen Eindruck von Naudés materialen Fragestellun­ gen vermitteln, den man wohl haben muss, um einschätzen zu können, was die Gegenstände seines Verfahrens sind: III: Que beaucoup de grands personnages ont été estimés magiciens, qui n‘étaient que poli­ tiques; IV: Que la grande doctrine de beaucoup de galants hommes a été souvent prise pour magie; V: Que les mathématiques ont fait soupçonnér comme magiciens beaucoup de ceux qui les ont pratiquées; VI: Que les livres attribués à beaucoup de grands personnages ne sont suffisants pour les convaincre de magie; VII: De toutes les autres causes que l’on a pu avoir de ce soupçon; VIII: Que Zoroastre n’a été auteur ni fauteur de la magie goétique, théurgique, ou défendue; IX: Qu’Orphée n’a point été magicien; X: Défense de Pythagore; XI: De Numa Pompilius; XII: De Démocrite, Empédocles, et Apollonius; XIII: Des génies que l’on attribué à Socrate, Aristote, Plotin, Porphyre, Jamblique, Chicus, Scaliger et Cardan; XIV: D’Alchindus, Geber, Artephius, Thébit, Anselme de Parme, Raymond Lulle, Arnauld de Villeneuve, Pi­ erre d’Apono et Paracelse; XV: De Henry Corneille Agrippa; XVI: De Merlin, Savonarole, et Nostradamus; XVII: De Saint Thomas, Roger Bacon, Bungey, Michel L’Écossais, Jean Pic, et Trithème; XVIII: De Robert de Linolne, et Albert le Grand; XIX: Des papes Sylvestre II et Gré­ goire VII; XX: De Joseph, Salomon, et les Mages; XXI: Du poète Virgile. 10  Dazu en passant in dem wichtigen Beitrag von Lorenzo Bianchi: Érudition, critique et histo­ ire chez Gabriel Naudé. In: Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneu­ zeitlicher Philologie. Hg. v. Ralf Häfner. Tübingen 2001, S. 35–55, hier S. 43. Die erwähnte reservatio ist auch der Grund für die Verlegenheit, wenn es gilt, explizite Belege für etwas wie eine selbstformulierte Doktrin des libertinage érudit anzuführen. Das gilt auch für das im Übrigen so materialreiche Grundlagenwerk von René Pintard: Le libertinage érudit dans la première moitié du XVIIe siècle. Nouvelle édition Genève. Paris 1983 [zuerst Paris 1943]. Typisch für diese reser­ vatio ist die gewöhnlich Naudé zugeschriebene Devise: „Intus ut libet, foris ut moris est“ („nach innen frei, in der Öffentlichkeit streng nach den Regeln/nach der Sitte“), die er von seinem Pa­ duaner Lehrer Cremonini übernommen haben soll. Vgl. Naudaeana et Patiniana. Ou singularitez remarquables, prises des conversations de Mess. Naudé & Patin. Seconde Édition revue, corrigée & augmentée (hg. v. Pierre Bayle). Amsterdam: Van der Plaats 1703: „Cremonin cachoit finement son jeu en Italie: nihil habebat pietatis, & tamen pius haberi volebat. Une de ses maximes étoit: intus ut libet; foris ut moris est.“ (S. 56 f.)

80 

 Herbert Jaumann

Auch diese bewusst selektive Untersuchung von Naudés Apologie würde eine ausführliche Abhandlung erfordern, würde man sie durch alle ihre relevanten Kontexte hindurch verfolgen. Hier in Abschnitt 1 nur einige Aspekte der methodi­ schen ‚Systematik‘, wenn man so sagen kann; Hinweise auf Konvergenzen beson­ ders mit seiner Bibliotheksschrift Advis pour dresser une bibliothèque sollen in Abschnitt 2 die Kontinuierung seines methodisch-kritischen Projektes bis in die späten Werke belegen. Von der dabei sich ergebenden These ist zu hoffen, dass sie durch die vorgetragenen Überlegungen wenigstens im Ansatz als bedenkens­ wert erscheint.

1 Bereits die Kapitel III bis IX (vgl. Anm. 9 mit den Überschriften) verdanken sich dem zentralen Ansatzpunkt der Apologie, der auch im Buchtitel zum Ausdruck kommt: Ganze Gruppen wie auch einzelne mehr oder weniger mythische Figuren (Zoroaster/Zarathustra, Orpheus) wurden und werden falsch interpretiert, wenn sie als Magier gelten, und die Aufgabe besteht darin, die falschen durch zutref­ fende Charakteristiken und Zuordnungen zu ersetzen. Diese lauten dann „poli­ tiques“, „mathématiques“, „galants hommes“ usw. Unverzichtbar für das Ver­ ständnis der Alternativkategorien wäre hier natürlich die nicht ganz einfache historische Semantik der von Naudé verwendeten Kategorien.11 Doch müssen materiale Aspekte wie diese oder etwa der Unterschied zwischen Naudés Fra­ gestellung und derjenigen der Kritiker der Hexenprozesse (wie der reformierte Theologe Anton Praetorius oder der Jesuit Friedrich von Spee) oder gar die Frage, wie plausibel Naudés Vorstellung von Magie und seine Apologien jeweils sind, in diesem Zusammenhang ganz außer Betracht bleiben. Naudé folgt von Anfang an der libertinen Skepsis: Wie etwa für François La Mothe le Vayer und noch für den großen Bayle verbergen auch für ihn die Historiker die historische Wahrheit stets unter dem Mantel ihrer Vorurteile, ihrer Leidenschaften und Interessen. Aber wie

11  Aus der Fülle der Forschungen etwa zu den „politiques“ vgl. einzelne Beiträge in: Comparai­ sons, raisons, raisons d’État. Les Politiques de la république des lettres au tournant du XVIIe sièc­ le. Hg. v. Armelle Lefebvre. München 2010; zum Begriff des „galante homme“ in dieser Zeit vgl. etwa: Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. v. Ruth Florack. Berlin 2012.



Wahres Wissen für die République des lettres 

 81

später Bayle12 bleibt Naudé nicht bei der Skepsis stehen, sondern versucht metho­ dische Instrumente für eine wirksame historische Kritik aufzubieten und diese an konkreten Interpretationen zu testen: J’ai recherché les causes générales que l’on pu avoir de ce soupçon,“ heißt es im Vorwort über das Programm dieser fünf Kapitel, die auf die beiden ersten folgen, „savoir la politique, la doctrine profonde et extraordinaire, la connaissance des mathématiques, la composition des livres, les observations superstitieuses, l’hérésie, la haine, l’ignorance du siècle, la trop grande légèreté de croire beaucoup de choses fabuleuses, et le peu de soin et jugement des auteurs et écrivains; toutes lesquelles sont réduites et expliquées dans cinq chapitres.13

Kapitel VII bietet eine summarische Zusammenstellung von darin bisher nicht untergebrachten Phänomenen, Kapitel VI gibt ein Zwischenresümee mit weiteren Beispielen. Wie man sieht, ist die Systematik bis hierher etwas locker, man kann auch sagen: nicht ganz folgerichtig. Ab Kapitel X („Défense de …“) folgt dann ein sozusagen monografischer Neuansatz, der an der Fragestellung wenig ändert, aber auf die Benennung der Zuordnungsalternativen in den Titeln verzichtet: Es geht nun vordergründig um die „Verteidigung“ vieler einzelner großer Namen, mit denen die restlichen Kapitel bis Nr. XXI bestritten werden: von Pythagoras

12  Besonders ergiebig ist hier, darin ähnlich der Apologie für Naudés Projekt einer critique historique, die Programmschrift Bayles für den Dictionaire historique et critique (man muss die Im­ plikationen der Adjektive im Titel mitlesen): Projet et fragmens d’un Dictionaire Critique. Rotter­ dam 1692, mit Préface von M. Du Rondel: Nach der critique générale an Maimbourg ein Jahrzehnt zuvor ist das der wichtigste Text Bayles zur Grundlegung und Zielbestimmung seiner critique historique, die in dem Versuch besteht, „auf dem Gebiet der Historie ein funktionales Äquiva­ lent für den cartesianischen Zweifel und den anschließenden ‚Neuaufbau‘ der Wirklichkeit aus dem archimedischen Punkt des ego cogito zu entwickeln“, so Herbert Jaumann: Frühe Aufklä­ rung als historische Kritik: Pierre Bayle und Christian Thomasius. In: Frühaufklärung. Hg. v. Sebastian Neumeister. München 1994, S. 149–170, hier S. 167. Critique historique als „le genre de certitude“ für die Geschichte, eine „Chambre des assûrances de la République des Lettres“, wie Bayle (im Préface) sich ausdrückt. Erhellend dazu auch die Beiträge von Krzysztof Pomian: Le cartésianisme, les érudits et l’histoire. In: Archiwum Historii Filosofii i Myśli społecznej 12 (1966), S. 175–204, und von David Edward Curtis: Pierre Bayle and the Range of Cartesian Reason. In: Science, Language and the Perspective Mind. Studies in Literature and Thought from Campa­ nella to Bayle. Hg. v. Timothy J. Reiss. New Haven 1973 (Yale French Studies, 49), S. 71–81, sowie ders.: Progress and Eternal Recurrence in the Work of Gabriel Naudé. Hull 1967. 13  Apologie, S. 143: „Habe ich die allgemeinen Ursachen untersuchet, welche ich von solchem Argwohn finden können, nemlich die États-Klugheit, die gründliche und vortreffliche Gelehr­ samkeit, die Wissenschafft der Mathematic, das Bücherschreiben, die aberglaubischen Anmer­ ckungen, die Ketzerey, der Neid, die heutige Unwissenheit, die allzugrosse Unbedachtsamkeit so viele Fabeln zu glauben, und die gar zu geringe Sorgfalt und Beurtheilung derer Autoren und Scribenten, welche alle in fünff Capitel gebracht und erklähret worden.“ (Unpag. Vorrede)

82 

 Herbert Jaumann

und Numa Pompilius, den Vorsokratikern und dem spätantiken Apollonius (in Buch XII wie auch im Vorwort),14 den lachhaften Unterstellungen gegenüber den großen Philosophen und den großen Weisen von Geber, Lull und Arnold von Villanova bis zu Pietro d’Abano und dem zwiespältig eingeschätzten Paracelsus, bis schließlich zu Vergil. Dass man den augusteischen Klassiker, für Naudé das Modell des „homme de lettres“ überhaupt, mit Magie in Verbindung brachte, ist in seinen Augen der Gipfel der Absurdität und bildet deshalb, ein wenig auch als Verteidigung pro domo, das Ausrufezeichen am Ende der Kapitelfolge. Als erstes möchte die Apologie den Leser ausrüsten: „te présente de premier abord le moyen assuré et les conditions nécessaires pour juger des auteurs et principalement des historiens et démonographes, qui sont les deux principaux architectes de ce labyrinthe de fausses opinions“,15 und im XXII. Kapitel am Ende seines Untersuchungsganges versucht Naudé regelrecht systematisch zu zeigen, „durch was vor Mittel alle diese Lügen unterhalten seyn, und was man von ihnen zu gewarten habe, wenn man sie nicht widerleget“, wie es in der deutschen Übersetzung aus Halle heißt, die manchmal so rührend klingt.16 Dieses konsis­

14  Christoph Martin Wieland hat diesen Apollonios von Tyana, einen pythagoreischen Wander­ philosophen des ersten Jahrtausend, der früh mit Jesus verglichen wurde (und dieser mit ihm), zur Hauptfigur seines Dialogromans Agathodämon (1799) gewählt; als Gymnosophisten ließ ihn Wieland bereits im komischen Versroman Der neue Amadis (1771) auftreten, und Apollonius begegnet auch in dem ebenfalls dialogischen Roman Die geheime Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus (1791). An keiner Stelle bezieht sich Wieland dabei auf Naudés Apologie oder ein anderes Werk dieses Autors. Auch in Wielands Bibliothek befand sich kein Titel Naudés (vgl. Verzeichniß der Bibliothek des verewigten Herrn Hofraths Wieland. Weimar 1814), noch findet sich eine Notiz in dem von Beißner entdeckten sog. Handbuch, einem Arbeitsjournal, das auch einen Eintrag zum Agathodämon enthält. Dort wird neben den klassischen Quellen Damis und Philostratos besonders der Cambridge-Platonist Ralph Cudworth genannt: The True Intellectual System of the Universe (1678, Kap. IV, § 15), vgl. Neue Wieland-Handschriften. Aufgefunden und mitgeteilt von Dr. Friedrich Beißner. Abh. der Preußischen Akademie d. Wissenschaften 1937, Phil.-hist. Klasse, Nr. 13. Berlin 1938, S. 15 f. Dieser Befund ist für die Geschichte der deutsch-französischen Spätaufklärung in ihrem Ver­ hältnis zum frühen 17. Jahrhundert an der Schwelle zum Âge classique, vielleicht von Interesse. Wie und in welche Richtung, könnte man fragen, hat sich das Verhältnis zu der Tradition, für die Apollonius steht, in der Spätaufklärung gegenüber Naudé verändert? Von dem ganz anderen Verhältnis Lessings zu Naudé unterrichtet jetzt Michael Multhammer: Lessings ‚Rettungen‘. Ge­ schichte und Genese eines Denkstils. Berlin 2013, zu Naudé S. 93–101. 15  Apologie, S. 142 f. Die Apologie „zeiget dir nun gleich Anfangs ein bewehrtes Mittel, und die nothwendigen Bedingungen von denen Auctoribus, und sonderlich von denen Geschicht= und Teuffels=Schreibern zu urtheilen, weil doch diese beyde die vornehmsten Stiffter seyn von dem Labyrinth solcher falschen Meynungen.“ (Unpag. Vorrede) 16  Vgl. Anm. 7.



Wahres Wissen für die République des lettres 

 83

tent strukturierte Programm einer historischen Kritik besitzt auch deshalb den erwähnten Seltenheitswert, weil man derlei Überlegungen sonst auch in den Werken Naudés zwar nicht selten, aber nur in knappen Bemerkungen verstreut findet. Wie in der Kapitelüberschrift angekündigt und in deren Formulierung zum Ausdruck gebracht, verfährt Naudé in zwei Schritten: Der Beschreibung jeder der drei Ursachen folgen jeweils Hinweise auf bestimmte Operationen einer kritischen Methode, mit der dagegen anzugehen ist. Die drei Hauptursachen für den abwegigen Glauben an Magie und Hexerei sind die folgenden: erstens die leichtsinnige Unterstellung eines consensus omnium; zweitens die Charakterschwächen der Autoren, also der Historiker als Interpreten; drittens die Dekadenz der Polymathie, die ohne Sinn und Verstand zur Anhäufung nutzlosen Wissens tendiert, mit dem man zu billigen Erfolgen bei dem unwissenden und nach infantilen Kuriositäten gierenden Pöbel gelangt. (Wie man sieht, hätte Naudé heute das Zeug zum Medienkritiker.) [Q]ue tout le monde croit et se persuade asseurément que la plus forte preuve et la plus grande asseurance que l’on puisse avoir de la verité dépend d’un consentement général et approbation universelle, laquelle, comme dit Aristote dans le septième de ses Éthiques [Nikom. Ethik VII, 1145b] ne peut être du tout fausse et controuvée; joint que c’est chose plausible et qui a grande apparence de bonté et justice, que de suivre la trace approuvée d’un chacun ; […].17

Naudé zielt damit auf ein altes Argument der Tradition, das besonders für den alten Gottesglauben von größter Bedeutung gewesen ist: den Topos des consensus gentium. Dieser stützt sich auf die Annahme, die Idee von einem (Schöpfer-) Gott werde von allen Menschen auf Erden von Natur aus und immer schon geteilt, weshalb seine Existenz nicht zu bestreiten sei. Ein locus classicus steht bei Cicero, wonach es kein Volk gebe, das an keinen Gott glaube, so wild oder barbarisch es sein möge (De legibus 2 VIII). Der Abbau des Topos wurde mit den Entdeckun­ gen und Expeditionen im 16. Jahrhundert eingeleitet. So berichtet ein gewisser Pierre Richer, ehemaliger Karmelitermönch und Mitglied der berühmten Expe­ dition von Jean de Léry ins Gebiet des Río de la Plata, in einem Brief, die Ein­ wohner von Gallia Antarctica (wohl Tierra del Fuego, Feuerland) hätten schlicht

17  Apologie, S. 375: „Dass alle Menschen glauben und sicherlich davorhalten, es beruhe der al­ lerstärckeste Beweißthum und die allergröste Gewißheit, die man von der Warheit dieser Sachen haben könne, bloß auff der allgemeinen Übereinstimmung und Adprobation, welche, wie Aris­ toteles in dem siebenden Buche Ethicorum saget, nicht gantz falsch und erdichtet seyn könne; worzu noch kömmet, daß man sich einbildet, es sey gleichwohl eine wahrscheinliche Sache, und habe ein grosses Ansehen der Tugend und der Gerechtigkeit, wenn man dem Fuß=Steig folget, der von jederman betreten ist.“ (S. 263)

84 

 Herbert Jaumann

nicht gewusst, dass so etwas wie ein Gott existiere: „latet eos, an Deus sit.“ Diese Kritik an der Selbstverständlichkeit der Unterstellung eines Gottesglaubens und der Existenz des ‚Religiösen‘ überhaupt ist bekanntlich eine der unabweisbar gewordenen Konsequenzen der Entdeckungen seit dem ausgehenden 15. Jahr­ hundert, früher Einsatzpunkt des heutigen, seinerseits erneut problematischen ‚Kulturrelativismus‘.18 Im 17. Jahrhundert ist von dem topischen Argument der Theologen noch immer ein Volks- bzw. Aberglaube, z. B. an die Astrologie, übrig, den z. B. Bayle in seiner Kometenschrift19 angreift, woran Naudé hier anschließt. Aber die eigentliche Spitze seines Arguments von der ersten Ursache der Täu­ schungen, Irrtümer, Fehlinterpretationen erschließt sich erst, wenn man an dieser Stelle weiterliest: et pour cette raison il arrive toujours que les derniers [die den Allerweltsmeinungen nachlaufen] qui se mêlent d’écrire et faire des livres, autant les autres que les démono­ graphes, étants fondés sur cette maxime, ne tiennent compte d’examiner ce qu’ils voient avoir été cru et présupposé pour véritable pour tous ceux qui les ont précédés et qui ont écrit auparavant eux sur un pareil sujet; la fausseté duquel s’accroît ainsi par contagion et applaudissement donné non par jugement et connaissance de cause, mais à la suite de quelque’un qui a commencé la danse, sans considérer que celui qui veut être jugé sage et prudent doit tenir pour suspect tout ce qui plaît au peuple, pessimo veritatis interpreti [Seneca: De vita beata II 2], et est approuvé du plus grand nombre prenant bien garde de ne se laisser emporter au courant des opinions communes et populaires, vu que la plupart est ordinaire la plus grande, le nombre des fols infini, la contagion très dangereuse en la presse, que le grand chemin battu trompe facilement […], et qu’il est très certain que quand nous suivons l’exemple et la coutume sans sonder la raison, le mérite et la verité, nous tré­ buchons et tombons le plus souvent les uns sur les autres, nous faillons à crédit, nous nous attirons au précipice, et pour conclure en un mot, Alienis perimus exemplis.20

18  Beiläufig gesagt, handelt es sich bei dieser Kritik des consensus gentium auch um einen alten, gewissermaßen ethnologischen Einwand avant la lettre gegen das so philosophisch hoch­ tönende sog. religiöse Apriori, fundiert schon bei Augustinus (De vera religione) und explizit ver­ treten von Schleiermacher, im 20. Jahrhundert von Rudolf Otto und besonders Ernst Troeltsch. 19  Pierre Bayle: Pensées diverses sur la comète. Rotterdam: Leers 1683. 20  Apologie, S. 375 f.: „Daher kömmt es denn, daß die Letzten, die etwas schreiben und Bü­ cher machen wollen, es mögen Teuffels=Beschreiber oder andere seyn, indem sie sich auff diese Haupt=Regel gründen, gar nicht in acht nehmen, daß sie erst dasjenige untersuchen solten, was von ihren Vorgängern und von denen, die eben dergleichen Sachen beschrieben haben, vor wahr ausgegeben, und gehalten, dahero denn diese Unwarheit alsobald sich durch derje­ nigen Zuruff, wie durch eine Peste, vermehret, welche nicht nach der gesunden Vernunfft und nach der Erkäntniß der Sachen, sondern nur zur blinden Nachfolge desjenigen, der den Dantz zuerst angefangen, urtheilen, ohne daß sie vorher betrachten, daß einer, der vor einen klugen und verständigen Richter will gehalten seyn, alles dasselbe vor verdächtig achten müsse, was dem Volcke, pessimo veritatis interpreti, gefället, oder von der grösten Anzahl der Menschen



Wahres Wissen für die République des lettres 

 85

Naudé bewegt sich zum einen im Rahmen der topischen Kritik der opinio und hält ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, die Glaubwürdigkeit der überlieferten Fakten allein durch das Vernunfturteil zu prüfen (iudicium/jugement, scientia) und die populären Meinungen der Mehrheit dem Zweifel und der eigenen Klugheit auszusetzen. Die Besonderheit liegt jedoch in dem Ansatz zu einer fast epidemio­ logischen Beschreibung von Meinungsbildungsprozessen, die in diesem Diskurs noch stets auf (Selbst-)Täuschung hinauslaufen. Der deutsche Übersetzer hat diese Passage nicht ohne aufmerksame Anteilnahme wiedergegeben (vgl. Anm. 22). La seconde [cause] vient de ce que la plupart de ceux qui s’amusent à composer et mettre quelque pièce de leur façon en lumière, se flattent ordinairement afin de ne le faire qu’à leur aise; et comme ils n‘écrivent pas tant pour profiter au public, par une exacte recherche de la verité, que pour satisfaire à leur vaine ambition, ou à la necessité qui les contraint de servir, fami non famae, comme disait M. de Thou, aussi ont-ils coutume de ne travailler que le plus légèrement et au moins de frais qu’ils peuvent; […].

Man sollte sich dessen bewusst sein, betont Naudé in einem nicht nur für seine Schriften der 20er-Jahre typischen humanistischen Bildungsoptimismus,21 in welch großartiger Epoche man lebe und welche ungeahnten Möglichkeiten durch die Entdeckungen und Fortschritte in den Wissenschaften und der Kultur sich eröffnet hätten – gemeint ist die „instauration“, also renascentia litterarum (die man erst seit dem 19. Jahrhundert „Humanismus“ nennt), aber auch die Neue Welt, die Reformation und die neue Kosmologie: „la découverte d’un nouveau

adprobiret ist, und daß er sich wohl müsse in acht nehmen, damit er sich nicht von der gemeinen Meynung und der Menge des Pöbels einnehmen lasse, massen der meiste Theil fast jederzeit der schlimmste, die Anzahl der Thoren unendlich und die Peste bey einer grossen Menge Volcks am gefährlichsten ist, der betretene Weg auch leicht betrieget […], und es gewiß bleibet, daß wenn wir bloß dem Exempel und der Gewohnheit anderer nachfolgen, ihre Ursachen, ihre Verdienste und ihre Warheit aber nicht ergründen, so taumeln wir und fallen öffters einer über den andern, wir verlieren auch unsern eigenen Credit, verleiten uns selbst zu einem jähenen Felß. und damit wir alles in einem Worte zusammen fassen mögen, alienis perimus exemplis.“ (S. 263 f.) 21  Davon spricht im Hinblick auf den Advis, die Bibliotheksschrift von 1627, Hartmut Stenzel: Gabriel Naudé et l’utopie d’une bibliothèque idéale. In: Les lieux de mémoire et la fabrique de l’œuvre. Colloque Kiel 1993. Druck hg. v. Volker Kapp. Paris/Seattle/Tübingen 1993, S. 102–115: Es handle sich in diesen Jahren um „un courant résolument optimiste. ‚pré-cartésien‘, pour ainsi dire, et plein de confiance dans les possibilités de la raison“ (S. 105). Zum weiteren kulturellen und politischen Kontext der Positionen Naudés vgl. Hartmut Stenzel: Ein Gelehrter zwischen humanistischer Tradition, Politik und Öffentlichkeit: Gabriel Naudé und die Probleme des „Li­ bertinage érudit“. In: Intellektuelle in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Jutta Held. München 2002, S. 170–192, und ders.: Die französische „Klassik“. Literarische Modernisierung und absolutisti­ scher Staat. Darmstadt 1995, besonders Kap. V/1.

86 

 Herbert Jaumann

monde, les troubles survenus en la religion, l’instauration des Lettres“. Deshalb sei es umso dringlicher, den nun geschärften Verstand auch zu benützen: D’où chacun peut juger qu’il n’y a jamais eu saison plus propre que celle de maintenaint, pour dégourdir les esprits et les exerciter à la palinodie et au mépris d’une infinité d’opinions fausses et absurdes […].22

Von besonderem Interesse ist hier wiederum ein „esprit critique“, das Instrument der Kritik, das empfohlen wird und das die von ihren persönlichen Bedürfnissen abgelenkten Autoren, also die Historiker, notorisch verweigern. Es ist die Forderung einer rationalen Quellenkritik, des Rückgangs auf die Originale und deren Rekonstruktion, ihrer Sondierung durch das „Sieb der Vernunft“ („l’étamine de la raison“), wie Naudé so treffend formuliert, und des Ziehens von Schlüssen („résolution“), die der Vernunft und der Wahrheitsprüfung standhalten („solide et véritable“). Mit anderen Worten: Quellenkritische Philologie hat mit den altbekannten Mitteln der Dialektik zu verfahren und deren Ergebnisse zur Grundlage der Historiografie zu machen. Die Stelle lautet im Zusammenhang: Was die Historiker versäumen und unternehmen sollten, ist la recherche longue et difficile des premiers auteurs, et du sujet qu’ils ont eu de semer toutes ces fables et calomnies, ni géhenner aussi leur jugement des circonstances qui les accom­ pagnent pour les lui faire ruminer, recuire, et repasser par l’étamine de la raison, et en tirer 23 une résolution solide et véritable […]..��

22  Apologie, S. 376: „Die andere Ursache kömmt davon her, daß der meiste Theil derjenigen, die sich die Mühe nehmen, etwas zumachen, und einige Stücke von ihrer Arbeit an das Licht zu geben, gemeiniglich von grosser Einbildung seyn, und also alles nach ihrem eigenen Belie­ ben auffsetzen: ja weil sie nicht so wohl darum schreiben, daß sie dem gemeinen Wesen durch eine genaue Untersuchung der Warheit dienen mögen, als nur deswegen, daß sie ihrem eitelen Ehrgeitz ein Genügen thun, oder ihrer Nothdurfft abhelffen mögen, welche letztere sie nöthiget, fami non famae [wörtlich: dem Hunger, nicht dem Ruhm/ dem Fressen statt der Moral], wie Thu­ anus saget, zu dienen. daher sind sie auch gewohnt, so leichtsinnig und um so wenig Kosten zu arbeiten, als sie nur können, […] (in der jetzigen Zeit, in der) die neue Welt entdecket, die Religion in Streit und Zwistigkeit gesetzet, die Studia wider in Flor gebracht, […]. Woraus nun einjeder leicht urtheilen kan, daß niemahls eine Zeit so geschickt gewesen, als die itzige, die Gemüther aus ihrem Schlaffe wiederauffzuwecken, und sie anzufrischen, daß sie eine unendliche Anzahl falscher und ungereimter Meynungen wiederruffen und verachten möchten.“ (S. 264 f.) 23  Apologie, S. 376: „Mit allem Fleiß und mit aller Behutsamkeit die ersten Uhrheber dieser Fabeln und Verläumbdungen und aus was Ursachen sie selbige ausgestreuet haben, zu untersu­ chen, oder, daß sie sich einiger massen zwingen solten, die unterschiedlichen Umstände, die mit denselben verknüpffet seyn, zu betrachten, damit sie selbige gleichsam möchten wiederkäuen und durch das Sieb ihrer Vernunfft wider durchlauffen lassen, um also endlich einen beständi­ gen und warhafften Schluß da heraus zu ziehen.“ (S. 264)



Wahres Wissen für die République des lettres 

 87

Als dritte und letzte Ursache der üblen Gewohnheiten der Autoren, die nur die alten Absurditäten reproduzieren, ist schließlich zu nennen: [L]a coutume introduite depuis quelque temps, de faire valoir la polymathie, parler à chaque sujet de toutes choses, et à chaque chose de tous sujets, et n’avoir point d’autres but en écri­ vant que de ramasser et recueillir tout ce que l’on peut dire, et ce qui c’est jamais dit sur le sujet que l’on entreprend de traiter; n‘étant plus question de viser à qui mettra dedans, mais à qui fera des plus belles courses, plus longues et mieux diversifiées. De façon que ce n’est point merveille si ceux qui suivent exactement une telle méthode se trouvent chargés, comme les marchands qui veulent tout enlever, de beaucoup de choses de non-valeur, et qui ne servent qu’à corrompre et faire dépriser les autres, lesquelles se conserveraient bien mieux en leur crédit, si l’on voyait qu’elles fussent choisies et triés du cahos et de la confu­ sion de ces gros volumes.24

Auch diese dritte Ursache zielt wiederum auf die Kritik einer gewissermaßen dia­ lektikfernen Historie, die am Ende bei dicken Bänden voll beliebig angehäufter und vermischter Quisquilien landet. Die Verwendung von „Polymathie“ in diesem Zusammenhang dürfte sich kaum auf einen Diskurs über Polymathie-Konzepte, sondern viel eher auf den Typus einer Gelehrsamkeit der schweren Folianten beziehen, der in Frankreich zur Zeit Naudés für gänzlich unzeitgemäß gehalten wurde (das Gegenstück dazu war aus französischer Sicht immer Deutschland, wo ja auch noch immer auf Latein publiziert wurde).25 Vor allem bedient Naudé hier

24  Apologie, S. 377: „Die von einiger Zeit her eingeführete Gewohnheit, daß man in allen Wis­ senschafften zugleich will erfahren seyn, bey einer jeden Materie von allerhand Sachen, und bey einer jeden Sache von allerhand Materien redet, und in den Schrifften einzig und allein darauff siehet, wie man alles möge häuffen und zusammen lesen, was nur mag gesaget wer­ den, und was jemahls von denen Dingen gesaget ist, die man zu tractiren vorgenommen. Ja es wird itzo nicht mehr darauff gesehen, ob die Sachen selbst wohl ausgeführet seyn, sondern auff denjenigen, welcher die schönsten und weitläufftigsten Umschweiffe gemachet, und allerhand unterschiedliche Dinge am meisten mit einander vermischet hat. Dahero man sich nicht ver­ wundern darff, wenn diejenigen, die eine solche Methode so genau in acht nehmen, sich eben so überhäuffen, als die Handelsleute, die allerhand Waaren auffkauffen, so doch nichts gelten und zu nichts anders dienen, als daß die andern hierdurch verderbet, und in geringern Preiß gesetzet werden, welche sich in ihrem Credit viel besser erhalten könten, wenn man sähe, daß sie aus dem Mischmasch und aus der Verwirrung dieser grossen Wercke ausgelesen und abgesondert wären.“ (S. 265) 25  Zur Geschichte der Polyhistorie und Polymathie, die schon immer eine Kritik des beliebigen Vielwissens kennt, vgl. Herbert Jaumann: Was ist ein Polyhistor? Gehversuche auf einem verlas­ senen Terrain. In: Studia Leibnitiana XXII (1990), H. 1, S. 76–89, und vgl. jetzt die Überlegungen zur Polymathie im 17. Jahrhundert von Hole Rößler: Utopie der Bildung. Der Entwurf einer Poly­ mathia experimentalis in Johann Daniel Majors See-Farth nach der Neuen Welt/ ohne Schiff und Segel (1670). In: Polyhistorismus und Buntschriftstellerei. Populäre Wissensformen und Wis­ senskultur in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Flemming Schock. Berlin 2012, S. 191–220.

88 

 Herbert Jaumann

einen wissenschaftspolitischen Trend, der auf stärkere Fächerdifferenzierung usw. abzielt und mit „Polymathie“ und den entsprechenden Publikationsforma­ ten, die etwa in Deutschland bis um 1700 noch in voller Blüte gestanden haben, nur noch wenig anfangen kann. Überhaupt ließe sich in der Apologie wie auch in anderen seiner Schriften zeigen, wie nebenher immer auch mehr oder weniger kritische Referenzen auf andere Probleme hergestellt werden, wie diese also the­ matisch immer auch anderen Funktionen dienen. Jacques Prévot, der Herausgeber der Apologie im Rahmen seiner zweibän­ digen Edition der Libertins du XVIIe siècle, aus der hier zitiert wird, hat in der einleitenden notice zu seinem Kommentar vier methodische Empfehlungen zusammengestellt, die Naudé aufgrund seiner Ursachenanalyse der Magiehisto­ rie gegeben habe. Sie sollen hier in Kurzform wiedergegeben werden, um unsere Aufstellung zu ergänzen und zu präzisieren. a. „ne pas céder à l’opinion du ‚grand nombre‘“, b. „se former le jugement par la fréquentation des bons auteurs (c’est l’annonce de l’Advis pour dresser une bibliothèque)“, c. „reconstituer la chaîne des écrits propagateurs jusqu’au premier, que les autres n’ont fait que suivre et répéter“, d. „prendre soin alors de replacer ce texte dans son contexte: étudier la person­ nalité de ce premier ‚historien‘, sa valeur intellectuelle, son objectivité ou ses préjugés, la possibilité qu’il a eue de s’informer“ usw. – „sans un regard pour la vérité, c’est se conduire en imposteur. Naudé nous apprend à lire, et même entre les lignes.“26 Was in der Apologie Naudés fehlt, sowohl im Vorwort als auch in den ‚th����� eore­ tischen‘ Kapiteln, aus denen einige zentrale Passagen zitiert wurden, ist eine Begründung der Wahl des Gegenstands der Magiehistorie für die Applikation einer Methodologie der historischen Kritik. Dieser Umstand fällt mir deshalb auf und ist mir wichtig, weil ich auf die These zusteuere, diese Methodologie und ihre ansatzweise Systematik ist das eigentliche, das primäre Motiv für Naudés Schrift und nicht nur für diese.27 Aus diesem Grund hätte er (im Sinne meiner

26  Apologie, S. 1299. 27  Ein Vergleich mit Christian Thomasius kann die Spezifik der Themenwahl Naudés zusätzlich verdeutlichen. Thomasius, in Halle bis in die mittleren 90er-Jahre des 17. Jahrhunderts besonders unter dem Einfluss des ihm nahestehenden Leipziger Juristen Benedikt Carpzov vom Hexen- und Teufelsglauben usw. überzeugt, ließ nach langen Jahren des Umdenkens unter dem Einfluss von Spee, Pierre Poiret, Balthasar Bekker, Antonius van Dale u. a. erst 1701 seine kritische Unter­ suchung der Hexenproblematik als Disputation De crimine magiae verteidigen (vgl. Anm. 4 zur



Wahres Wissen für die République des lettres 

 89

These) für das gleiche methodologische Projekt auch ein anderes Thema wählen können, und diese unterstellte Kontingenz seiner Themenwahl läßt mich eben die Frage nach Naudés eigener Begründung stellen. Zwar dürfte sich die Frage nach mehr als den vordergründigen Motiven für die Themenwahl kaum jemals in seinen Schriften beantworten lassen (in der Apologie ist das die in der Vorrede formulierte Empörung über die Polemik von Garasse gegen die „beaux esprits de ce temps“), sehr wohl aber läßt sich die These einer Kontinuität des methodolo­ gischen Projektes plausibel machen, die ja jene zuerst genannte Frage motiviert. Das Projekt der Traditionskritik mit dem Ziel der Gewinnung „wahren Wissens“ für sich und Seinesgleichen, eine Verbindung von skeptisch-kritischer Destruk­ tion/Negation und Rekonstruktion aus dem Geist philologischer Rationalität also, beschäftigt, wie ich meine, den Philologen und Bibliothekar in allen seinen wichtigen Schriften. In der Apologie von 1625 nimmt er die Rolle eines Beobachters zweiter Ordnung ein: Sein kritischer Blick gilt Autoren, die über Autoren und Doktrinen der Über­ lieferung handeln, und sie tun dies seinem Urteil nach in den meisten Fällen in einer unzureichenden, verfälschenden Weise, sie produzieren Fehlinterpretatio­ nen der Tradition. Das vorausgehende, sein erstes größeres Werk, die Instruction à la France sur la verité de l’histoire des frères de la Rose-Croix von 1623, ist ein Protest im Namen der Vernunft gegen den neu aufgetretenen Okkultismus der „Rosenkreu­ zer“ (die beiden sog. Rosenkreuzer-Manifeste von Andreae waren 1613/14 in Kassel erschienen), für ihn eine üble Mischung aus Mystik, Wunderglauben und Esoterik, dem Versprechen ewiger Jugend und des direkten Zugangs zum Geist Gottes sowie adamitischer Freiheit von der Erbsünde, für die aktuell auf Plakaten in Pariser Straßen geworben wurde. Naudé, der sein Medizinstudium um diese Zeit noch nicht abgeschlossen hat, spricht in diesem Text als Beobachter erster Ordnung, aber die Auseinandersetzung mit der dazwischen liegenden Ebene der falschen

deutschen Übersetzung von 1704) und hatte darin wie auch in den folgenden Schriften zu dieser Frage als Nicht-Cartesianer und Nicht-Rationalist ein ganz anderes Motiv für sein kritisches In­ teresse als Naudé, nämlich unmittelbare Vorurteilskritik und den Erweis der These vom Betrug des Volkes durch die Priester und Theologen. Eine eindrucksvolle Bemerkung in einer Vorrede von 1719 gibt Auskunft über die Rolle, die Naudés Apologie für ihn gespielt hat: „[…] und muß ich selbst bekennen, daß, da ich diese Bekänntnisse zuerst in Carpzovio gelesen, mich dieselbe so sehr eingenommen, daß ich mich darüber hätte todt schlagen lassen. Nachdem ich aber des Naudaei seine Apologie dererjenigen, die man fälschlich der Zauberey beschuldigt […] mit atten­ tion durchlesen hatte, fiele mir das obgemeldete praejudicium gleichsam als Schuppen von den Augen meines Verstandes.“ Zu Thomasius ausführlich Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik. Tübingen 1992, S. 225–247, das Zitat S. 235.

90 

 Herbert Jaumann

Vermittler ist auch hier im Ansatz vorhanden. Ganz ähnlich verhält es sich mit einer späteren Schrift, die bis heute zu den am meisten beachteten gehört: Considérations politiques sur les coups d’État (Rom 1639). Naudé behandelt darin die großen Refor­ mer und Staatengründer und deren Spiele mit den Meinungen und Wünschen des leichtgläubigen Volkes um der Neuetablierung ihrer Herrschaft willen. Auch hier geht es um die Gewinnung und Vorführung einer kritischen Perspektive aus der Position eines Beobachters zweiter Ordnung. Die Kontinuität dieses Projekts ließe sich in weiteren Schriften Naudés verfolgen, etwa den Studienschriften De studio liberali syntagma (1632) und De studio militari syntagma (1637), der Bibliographia politica (1633) usw. Was Prévot für die Apologie festgestellt hat, gilt auch für andere Schriften: Sie werden präsentiert „comme un inventaire, le lieu d’élaboration d’une méthode, et l’occasion d’une leçon et de la proclamation de principes“.28 Hier soll nun noch kurz von der ebenso viel beachteten Bibliotheksschrift die Rede sein, die immer wieder auf ein frühes ‚Handbuch für das Bibliothekswesen‘ reduziert und unterschätzt wird und deren Bedeutung für den hier interessie­ renden Kontext noch niemand so deutlich wie Hartmut Stenzel herausgearbeitet hat29 (aber vgl. auch Prévots beiläufigen Hinweis in dem Zitat auf S. 9): Advis pour dresser une bibliothèque (1627).

2 Gabriel Naudé verfasste die Anleitung zur Einrichtung einer Bibliothek kurze Zeit nach dem Erscheinen der Apologie während seiner Jahre als Bibliothekar im Dienste des mächtigen Präsidenten Henri II. de Mesmes, seigneur de Roissy (1585– 1650), Berater des Königs wie schon der Vater und Großvater und Besitzer einer der bedeutendsten Privatbibliotheken, der Bibliotheca Memmiana.30 Naudé, von bescheiden bürgerlicher Herkunft in Paris, stand seit seinen Studien der Philoso­ phie und Medizin (an der Sorbonne, dann kurz in Padua bei Cesare Cremonini) das ganze Leben lang im Dienste ‚großer Herren‘, d. h. politischer Funktionsträ­ ger: nach de Mesmes, dem auch die Apologie und der Advis gewidmet sind, in den 1630er-Jahren in Italien im Haushalt des Kardinals Francesco Bagni, danach kurz bei Kardinal Francesco Barberini, anschließend in den 1640er-Jahren wiederum

28  Apologie, S. 1295. 29  Stenzel: Gabriel Naudé et l’utopie d’une bibliothèque idéale (Anm. 21). 30  Dazu die ausführliche und zuverlässige Beschreibung von Rudolf Blum: Bibliotheca Mem­ miana. Untersuchungen zu Gabriel Naudés Advis pour dresser une bibliothèque. In: Bibliotheca docet. Festgabe für Carl Wehmer. Hg. v. Siegfried Joost. Amsterdam 1963, S. 209–232.



Wahres Wissen für die République des lettres 

 91

in Paris als Bibliothekar im Dienste des Kardinals und Ministers Jules Mazarin, und infolge dessen Sturzes durch die Fronde um 1651 folgt er 1652 der Einladung Königin Christinas nach Stockholm, von wo er mit zerrütteter Gesundheit 1653 zurückkehrt und noch auf der Reise in Abbeville den Tod findet.31

Gabriel Naudé (1600–1653 – Radierung von Adolphe Forestier (ca. 1850)

31  Ein brauchbarer Überblick bei Jack A. Clarke: Gabriel Naudé 1600–1653. Hamden (CT) 1970; dazu Angelo S. Sassetti: Gabriel Naudé à Rieti (1635–1639). Rieti 1962; Giorgio Mirandola: Naudé a Padova. Contributo allo studio del mito italiano nel secolo XVII. In: Lettere italiane 19 (1967), S. 239–247; L’italianisme en France au XVIIe siècle. Congrès Grenoble-Chambéry 1966. Druck hg. v. Giorgio Mirandola. Turin 1968; Fabienne Queyroux: Recherches sur Gabriel Naudé. Thèse de l’École nationale des chartes 1990. Neue Beiträge vor allem Stenzel: Ein Gelehrter zwischen humanistischer Tradition, Politik und Öffentlichkeit (Anm. 21); Lorenzo Bianchi: Tradizione li­ bertina e critica storica. Da Naudé a Bayle. Mailand 1988; ders.: Rinascimento e libertinismo. Studi su Gabriel Naudé. Napoli, und ders.: Érudition (Anm. 10); ferner Pascal Hummel: Huma­ nisme et modernité. In: Gabriel Naudé. Œuvres complètes, publiées sous la coordination de Frédéric Gabriel. V. Traité sur l’éducation humaniste /1632–1633. Traduit, annoté et commenté par Pascal Hummel. Paris 2009, S. 185–219.

92 

 Herbert Jaumann

Der Advis konzipiert die Einrichtung und Organisation einer öffentlichen Biblio­ thek ohne Rücksicht auf irgendeine Art von Restriktionen, seien sie theologischreligiöser, sozialer, individueller oder politischer Art: die ideale Bibliothek als Ort der freien Ausübung des freien Denkens für alle, die sie benutzen wollen, weil sie über die intellektuellen Voraussetzungen und Interessen verfügen. Frei kann das Denken nur sein, wenn im Prinzip alle wichtigen Quellen des Denkens („les principaux Autheurs“) vollständig und ungehindert zugänglich sind. Dem öffentlichen Zugang entspricht daher die Universalität des Bücherangebots, die Anschaffung der Bücher und ihre Benutzung darf durch keinerlei Exklusion oder gar Zensur und andere Rücksichten begrenzt werden. Eine externe, gegenstands­ ferne Legitimierung für das Angebot und seine Nutzung kann es nicht geben, es gilt nur die interne Logik der ‚Sache‘, d. i. des Denkens und der Quellen, auf das es (nach humanistischem Verständnis) angewiesen ist: Es gibt kein Denken ohne Texte, Traditionen und Institutionen. Konsequent räumt Naudé deshalb auch die Zulassung heterodoxer Autoren ein, und sei es nur, um sie widerlegen zu können: „C’est pourquoy puis qu’il est necessaire que nos docteurs les trouvent en quel­ ques lieux pour les refuter“32 – was ja nicht möglich ist, wenn man sie vorher aus­ geschlossen hat. Derart pragmatische Überlegungen, zu denen auch die Rede von den „principaux Autheurs“ zählt,33 sind typisch für den Traktat, der bei aller Utopie die Konkretion der Bedingungen und Umstände nicht aus den Augen ver­ liert: Es sei schwierig, heißt es am Anfang, „de se delivrer de la servitude & escla­ vage de certaines opinions qui nous font regler & parler de toutes choses à nostre fantaisie.“34 Aber es geht im Advis (nach Hartmut Stenzel) um einen utopischen Ort der Totalität des Wissens und seiner Quellen, eine „bibliothèque comme le lieu de mémoire par excellence“,35 um die Idee, wie es Naudé formuliert, „qu’une Bibliothèque dressée pour l’usage public doit estre universelle, & qu’elle ne peut estre telle si elle ne contient tous les principaux Autheurs qui ont escrit sur la grande diversité des sujets particuliers“.36 Es sei zu bedenken, heißt es wiederum pragmatisch, „qu’il n’y a livre tant soit-il mauvais ou descrié qui ne soit recherché de quelqu’un avec le temps“, und deshalb wäre es ein „faute inexcusable à ceux qui font profession d’avoir tous les meilleurs livres, d’en négliger aucun.“37

32  Advis pour dresser une bibliothèque. Zit. n. der Edition des Drucks von 1644. Hg. v. Claude Joly. Paris 1990, S. 54. 33  Um quantitativ-statistische Vollständigkeit, an die ein wissenschaftspolitischer Dummkopf von heute denken mag, ist natürlich nicht gedacht und kann es sich auch nicht handeln. 34  Advis pour dresser une bibliothèque (Anm. 32), S. 3. 35  Stenzel: Gabriel Naudé et l’utopie d’une bibliothèque idéale (Anm. 21), S. 104. 36  Advis pour dresser une bibliothèque (Anm. 32), S. 31. 37  Ebd., S. 33 u. 59.



Wahres Wissen für die République des lettres 

 93

Naudé spricht hier nicht als Beobachter zweiten Grades, der eine katas­ trophale bis ridiküle Praxis der Fehlinterpretationen im Umgang mit „tous les grands personnages“ der Geschichte untersucht, diese reinterpretiert und – das Thema unseres Beitrags – seine Befunde für eine Methodologie der historischen Kritik auswertet. Er spricht vielmehr als Organisator eines (utopischen) Zustan­ des, in dem die Ressourcen für richtige Interpretationen ein für allemal gesichert sind, so wie das in Ordnungsutopien zu sein pflegt. Man könnte auch sagen, die Herbeiführung dieses Zustandes setzt die universelle Etablierung jener Methode im Grunde schon voraus: Oder ist eine historische Kritik überhaupt noch nötig, wenn es solche Bibliotheken gibt? Zumindest aber bietet eine universelle Biblio­ thek die Totalität der Quellen, aus denen zukünftig die Korrekturen aller Fehl­ interpretationen geschöpft und „wahres Wissen“ zuverlässig gewonnen werden kann, und die Zuverlässigkeit ist so total wie die Versammlung der Quellen. Der Konvergenzpunkt der Traktate von der Art der Apologie und des Advis ist also eben diese Sicherung der Ressourcen für „wahres Wissen“: Im ersten Fall werden sie demonstriert, indem sie angewendet werden, d. h., indem ihre wirksame Applikation bei der kritischen Destruktion von Fehlinterpretationen vorgeführt wird, der andere Fall beschreibt und begründet das Modell einer idealen Institu­ tionalisierung der Ressourcen, genannt „Bibliothek“. Aber Naudé ist kein utopischer oder idealistischer Schwärmer einer Mensch­ heitsbeglückung, das unterscheidet ihn fundamental von manchen Autoren der späteren Aufklärung nicht nur in Deutschland. Er spricht von der freien Aus­ übung der kritischen Vernunft oder der in einer Art Exterritorialität angesiedelten idealen Universalbibliothek nicht im luftleeren Raum. Dass auch der zu Beginn seiner Karriere noch so optimistische Gelehrte38 von einer gesellschaftlichen Position aus spricht und in den Grenzen und Zwängen einer bestimmten sozialen Praxis agiert, kurz in einem Verhältnis zur politischen Macht steht, ist selbstver­ ständlich. Stenzel: L’universalité et la liberté tant des objets que des sujets du savoir peuvent être construites abstraitement comme raison d’être de la bibliothèque; ces principes pourtant ne sauraient

38  Ich schließe mich ausdrücklich der Meinung Stenzels an, man sollte hier von Gelehrten statt von Intellektuellen sprechen, vgl. Stenzel: Ein Gelehrter zwischen humanistischer Tradition, Po­ litik und Öffentlichkeit (Anm. 21), hier S. 175, Fn. 13. Zu diesem Thema auch Herbert Jaumann: Die Fallgruben des Anachronismus. Rezension von: Was ist ein Intellektueller? Rückblicke und Vorblicke. Hg. v. Richard Faber. Würzburg 2012. In: literaturkritik.de, Nr. 1/Januar 2013; online unter: www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=17446 [Stand: 31.03.2015].

94 

 Herbert Jaumann

abolir les liens de dépendance réelle sans laquelle la vision de la bibliothèque qu’elles con­ stituent ne serait pas pensable.39

Diese realen Bindungen und Grenzen verleihen dem Projekt Naudés eine nicht weniger reale Zwiespältigkeit und verfallen der Ideologisierung, also auch der Fehlinterpretation, solange sie nicht beim Namen genannt und in die Analyse einbezogen werden (ganz so, wie dies mit anderen Begriffen auch Naudé gefor­ dert haben würde). Sie werden vor allem in den späten Schriften über den Verlust der Bibliothèque Mazarine und die Mazarinaden, besonders im Dialog Mascurat (1649/51), deutlicher greifbar und sind von keinem Forscher so eingehend unter­ sucht worden wie von Hartmut Stenzel (von dem man sich eine Monografie über Naudé wünschen möchte). Diese wichtige Frage ist auch für die Würdigung der Apologie und des Advis konstitutiv, sie kann aber im Rahmen dieses Beitrags nicht weiter verfolgt werden.40

39  Stenzel: Gabriel Naudé et l’utopie d’une bibliothèque idéale (Anm. 21), S. 111. 40  Gemeint ist Gabriel Naudé: Iugement de tout ce qui a esté imprimé contre le Cardinal Ma­ zarin, depuis le sixiesme Ianvier, iusques à la Declaration du premier Avril 1649. o. O. [1651], ein Dialog von über 700 Seiten zwischen zwei Kolporteuren von Flugschriften (Mazarinades), Saint-Ange und Mascurat, nach letzterem wird die Schrift gewöhnlich als Mascurat zitiert; fer­ ner: Considérations politiques sur la Fronde. La Correspondance entre Gabriel Naudé et le Cardinal Mazarin. Hg. v. Kathryn Willis Wolfe u. Phillip Jerrold Wolfe. Tübingen/Seattle/Paris 1991. Von Hartmut Stenzel vgl. neben den in Anm. 21 genannten Arbeiten hierzu vor allem: Apories de l’humanisme et raison d’état dans le Mascurat de Gabriel Naudé. In: Les Cahiers du Centre de Recherches Historiques, Nr. 20 (1998), S. 79–96, bei Stenzel auch wichtige Literatur zu weiteren Texten Naudés, zur Fronde und den Mazarinaden, zu den gelehrten Autoren, zur raison d’état usw., z. B. Robert Damien: Bibliothèque et État. Naissance d’une raison politique dans la France du XVIIe siècle. Paris 1995. Sonst gehen die Forschungen zur Bibliothek, Bib­ liografie, historia literaria u. ä. in der Frühen Neuzeit an diesen Fragen meist vorbei, darunter leider auch die u. a. Aspekten ergiebige Studie von Dirk Werle: Copia librorum. Problemge­ schichte imaginierter Bibliotheken 1580–1630. Tübingen: Niemeyer 2007, vgl. auch ders.: Zum Verhältnis von Skeptizismus und Enzyklopädistik bei Gabriel Naudé und Pierre Bayle. In: Un­ sicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550–1850. Hg. v. Carlos Spoerhase, Dirk Werle u. Markus Wild. Berlin 2009, S. 179–200.

Guido Naschert

„Zur Rettung derer bißher unter dem Nahmen des Unkrauts unschuldig verfolgeten Kinder Gottes“ Friedrich Brecklings Rettungen von ‚Wahrheitszeugen‘ im Kontext von Toleranzdiskurs und Ketzergeschichte Als der brandenburgische Kurfürst Friedrich III. im Juni 1700 der Forderung der Landesstände nachgab und anordnete, alle ketzerischen Lehrschriften zu verbie­ ten, die im Herzogtum Magdeburg kursierten, befand sich auch der im nieder­ ländischen Exil lebende lutherische Dissident Friedrich Breckling (1629–1711) auf der Liste verbotener Autoren.1 Breckling war vor allem durch sein kirchen- und obrigkeitskritisches Auftreten der 1660er-Jahre bekannt und geradezu berüch­ tigt geworden. In rüden Polemiken hatte er Könige und Kirchenfürsten ange­ griffen und eine Art Totalreform der Gesellschaft aus dem Geist einer mystischspirituellen Erneuerung gefordert. Brecklings Proteste fanden jedoch nur wenig Zustimmung. Gegen die meisten Erwiderungen von teils namhaften Theologen musste er sich seinerseits erwehren, so dass er im Laufe der Jahre zu einer durch und durch kontroversen Gestalt wurde. Wie bei vielen seiner Zeitgenossen ist auch bei Breckling die Vorstellung des Verteidigens dabei eng an das seman­ tische Wortfeld des ‚Rettens‘ gekoppelt. Oft zeigen die Schriften dies schon im Titel an. Besonders verbreitet waren im 17. Jahrhundert im nonkonformen Milieu die ‚Unschulds-‘ und die ‚Ehrenrettungen‘.2 Auch unter Brecklings Druckschrif­

1  Vgl. Verordnung des Brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III. vom 25. Juni 1700. In: Gott­ fried Arnolds Weg von 1696 bis 1705. Sein Briefwechsel mit Tobias Pfanner und weitere Quellen­ texte. Eingeleitet und hg. v. Jürgen Büchsel. Halle (Saale) 2011 (= Hallesche Quellenpublikatio­ nen und Repertorien 12), S. 237 f. Er wird neben Böhme, Weigel, Schwenkfeld und Joris an fünfter Stelle genannt, gefolgt von „Baumann“. Gemeint ist die unter dem Pseudonym „Bernhard Baw­ mann“ publizierte Schrift Christian Hoburgs: Teutsch Evangelisches aergerliches Christenthumb. […]. O. O. 1645. – Für die Möglichkeit, einige der in diesem Beitrag einschlägigen Quellen zu er­ schließen, danke ich dem Gothaer Herzog-Ernst-Stipendienprogramm der Fritz Thyssen-Stiftung. 2  Siehe z. B. Johann Winckler: Kurtze Rettung Seiner Unschuld/ Wider Die hefftige ungegrün­ dete Aufflagen/ Welche 20 unterschriebene Herren Ministerialen in Hamburg/ in Ihrer Andern Außfertigung Wider alle Wahrheit Ihm beygemessen. Hamburg 1694; dazu z. B. Martin Gierl: Pi­ etismus und Aufklärung. Theologische Polemik und Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997, S. 397; Philipp Jacob Spener: Rettung Der gerech­ ten Sache künfftiger Hoffnung/ Entgegen gesetzt Hn. D. Augusti Pfeiffers/ […] So genannten

96 

 Guido Naschert

ten finden sich Beispiele, welche zu dieser Textsorte gehören und ‚Rettung‘ als Bestandteil und Funktionsangabe ihrer Titelformulierung enthalten. Zu nennen ist etwa eine Schrift aus dem Jahr 1663, auf die später ausführlicher zurückzukom­ men sein wird: Religo libera Persecutio relegata, Tyrannis Exul & Justitia Redux. […] Von der Gewissens Freyheit und andern hochnötigen Sachen der Obrigkeit Ampt und Persohn anbelangend […]. Zur Rettung derer bißher unter dem Nahmen des Unkrauts unschuldig verfolgeten Kinder Gottes/ an die hohe Obrigkeiten in Europa. Auf dem Titelblatt seiner Verteidigungsschrift Veritatis Triumphus wird ausdrück­ lich vermerkt, dass sie zur „rettung seiner Unschuld“ verfasst wurde.3 Der Wildwuchs derartiger Titel ist aufschlussreich. Er belegt, wie gering das seit dem Ende des 16. Jahrhunderts, seit der Etablierung reformatorischer Kirchen­zucht stark anwachsende Feld der Verteidigungs- bzw. Verantwortungs­ schriften gattungsmäßig normiert war. Zugleich können die Formulierungen als Ausdruck eines Individualisierungsschubs von Religion und Frömmigkeit gewer­ tet werden. In ihnen wird nicht die Wahrheit des Christentums per se, sondern ein teils sehr persönlich gefärbtes Verständnis derselben verteidigt. Bei ‚nonkonfor­ men‘ Autoren, die etwa dem Spiritualismus oder Vor- bzw. Frühpietismus zuge­ ordnet werden, zeigt sich drittens, dass ihre ‚Rettungen‘ nicht ausschließlich als juristische oder quasijuristische Apologien, auch nicht primär als Repliken einer Injurie gesehen werden können. Vielmehr wurden sie von den Autoren aus dem Erfahrungszusammenhang religiöser Verfolgung heraus verstanden.4 In beson­

Gerechten Sache. Frankfurt a. M. 1696; zum Kontext Martin Brecht: Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen. In: Ders. (Hg.): Geschichte des Pietismus. Bd. 1: Das 17. und frühe 18. Jahrhundert. Göttingen 1993, S. 279–389, hier S. 364. – Zu Francke siehe den Beitrag von Peter Yoder in diesem Band, S. 121–143. 3  Friedrich Breckling: Veritatis Triumphus, Pro veris contra Preudo-apostolos, Euangelicos & Lutheranos, & eorum Antesignanum D. Stephanum Klotzium. [...] zu rettung seiner Unschuld/ und offenbahrung des beginnens eines frembden und stoltzen Hamans […]. [o. O.] [1660]. 4  Auch dafür gibt es Beispiele aus dem Kontext von Brecklings ‚Wahrheitszeugen‘, wie etwa Georg Heinrich Fergen: Waarhafftiger Bericht/ an statt einer gründlichen Beantwortung/ auff die unverdiente Beschuldigungen/ damit Er und unterschiedliche andere mehr in Gotha in einer Lästerschrifft/ genannt Ausführliche Beschreibung des Unfugs/ welchen die Pietisten zu Halberstadt gestifftet […] beleget worden/ aus denen Actis Publicis gestellet/ und Zu Ret­ tung der Unschuld mit Approbation der hochlöbl. Theol. Facultät zu Jena heraus gegeben. Jena 1694. Siehe zu ihm: Ernst Koch: Generalsuperintendent Henrich Fergen und die Anfänge des Pietismus in Gotha. In: Rezeption und Reformation. FS für Hans Schneider zu seinem 60. Geb. Hg. v. Wolfgang Breil u. Lothar Vogel. Darmstadt, Kassel 2001, S. 189–212; Justinus Töllner: Un­ rechtmäßige Absetzung/ Das ist: Außführliche und deutliche Beschreibung dessen/ wie man nemlich etliche Jahr her mit ihm um der Wahrheit willen sehr übel umgegangen/ ihn hefftig verfolget/ an vielem Guten in seinem Amt gehindert/ dreyviertel Jahr suspendiret und endlich gar removiret: Zu Rettung seiner Unschuld […]. Glaucha bei Halle 1697. Töllner war 1682 Pfarrer



„Zur Rettung derer bißher unter dem Nahmen des Vnkrauts ...“ 

 97

derem Maße gilt dies für den 1700 verbotenen Autor Friedrich Breckling. Von ihm lässt sich sogar sagen, dass nicht nur einzelne Titelformulierungen, sondern sein ganzes Werk von der Suche nach ‚Wahrheitszeugen‘, ihrer Verzeichnung und damit zugleich vom Gedanken ihrer Rettung vor Verfolgung, Marginalisierung und Ausgrenzung geprägt war. Die Idee der ‚Rettung des religiösen Unkrauts‘ durchdringt und verbindet daher, so die im Folgenden leitende These, zentrale Felder seines Wirkens.5 Zum besseren Verständnis dieses Zusammenhangs muss man allerdings den engen Rahmen einzelner Beispiele verlassen, das Gesamtwerk, die Drucke ebenso wie die Briefe,6 in den Blick nehmen und biografische, sozial- und theo­ logiegeschichtliche Kontexte hinzuziehen. Nur so gibt sich die Konfiguration von diskursiven und außerdiskursiven Faktoren zu erkennen, die der Semantik des

in Panitzsch geworden und wurde 1697 abgesetzt, weil er seiner Gemeinde das sog. Pfingstbier verboten hatte, vgl. Brecht: Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen (Anm. 2), S. 362. 5  Am Beispiel von Brecklings Schutzschriftstellerei für Jakob Böhme hat dies Steiger diskutiert; vgl. Johann Anselm Steiger: Jakob Böhmes Rettung. Friedrich Brecklings ‚Anticalovius‘ (1688) als Apologie des mystischen Spiritualismus. In: Offenbarung und Episteme. Zur europäischen Wir­ kung Jakob Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. v. Wilhelm Kühlmann u. Friedrich Vollhardt. Berlin/New York 2012, S. 283–294, hier S. 287. – Hier soll versucht werden, diesen Gedanken auf einer breiteren Quellenbasis auszuweiten. 6  Zu Brecklings Briefwechsel siehe Theodor Wotschke: Friedrich Brecklings niederrheinischer Freundeskreis. In: Monatshefte für rheinische Kirchengeschichte 21 (1927), S. 3–21; Der märkische Freundeskreis Friedrich Brecklings. In: Jahrbuch für brandenburgische Kirchengeschichte 23 (1928), S. 134–203; 24 (1929), S. 168–177 und 25 (1930), S. 193–226. – Zu weiteren Schriften Wotsch­ kes siehe Johannes Wotschke: Theodor Wotschke. Seelsorger und Geschichtsforscher. In: Jahrbuch Weichsel-Warthe 17 (1971), S. 46–49; Klaus-Gunther Wesseling: [Art.] „Wotschke, Theodor Otto Gustav“. In: Bio-Bibliographisches Kirchenlexikon XIV (1998), Sp. 73–80. Siehe außerdem Dietrich Blaufuß: Beziehungen Friedrich Brecklings nach Süddeutschland. Ein Beitrag zum Einfluß des ra­ dikalen Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 87 (1976), S. 244–279; ders.: [Art.] „Breckling, Friedrich“. In: Theologische Realenzyklopädie 7 (1981), S. 150–153; ders.: [Art.] „Breckling, Friedrich“. In: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. v. Walther Killy. 15 Bde. Gütersloh/München 1988–1993, Bd. 2, S. 188 f.; ders.: Korrespondierender Pi­ etismus. Ausgewählte Beiträge. Leipzig 2003, S. 255–277; Kühlmann: Frühaufklärung und chiliasti­ scher Spiritualismus (Anm. 12); Victoria Gutsche: „Vielgeehrter und sehr geliebter Herr Betulius …“ Die Briefe der religiösen Dissidenten Friedrich Breckling und Johann Georg Gichtel an Sigmund von Birken. In: Morgen-Glantz. Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft 23 (2013), S. 103–129. – Ein großer Teil der Korrespondenz wurde vom DFG-Projekt der Franckeschen Stiftun­ gen zu Halle Pietistische Kommunikationsnetzwerke. Erschließung der pietistischen Korrespondenz im Hauptarchiv der Franckeschen Stiftungen zu Halle und in der Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha, Forschungsbibliothek Gotha (Laufzeit 2008–2011) inzwischen online erschlossen und ist über die Website der Stiftungen recherchierbar.

98 

 Guido Naschert

‚Rettens‘ ihre zentrale Bedeutung gab.7 Das Zusammenwirken dieser Faktoren ist im Falle Brecklings schon früh angelegt. Seit dem Beginn seiner schriftstelleri­ schen Tätigkeit wurde er durch die Erfahrung eines Missbrauchs der Gerichtsbar­ keit seitens der Amtskirche in Gestalt des Flensburger Generalsuperintendenten Stephan Klotz (1606–1668) geprägt. Wie wir sehen werden, ließ Breckling nur das ‚Tribunal des Gewissens‘ in theologischen Fragen gelten (1). Dies ist Ausdruck der tiefen Verwurzelung seines Denkens in reformatorischen Toleranzdiskur­ sen. Um Brecklings apologetische Strategien besser zu verstehen, werden nach einem kurzen Überblick über die verschiedenen Phasen seiner Produktivität zunächst die wichtigsten Einwände vorgestellt, gegen die er sich zu wehren hatte (2). Brecklings Verteidigungen zielen keineswegs darauf ab, sich durch Inszenie­ rung eines Gerichtsprozesses zu rechtfertigen, sondern sie bestehen in einem auf Gottes Stimme im eigenen Gewissen gegründeten Angriff auf die Position seiner Gegner. Gerade durch die zentrale Bedeutung des Gewissenstribunals in Breck­ lings Argumentation kommt es in seinen Schriften zu einer bezeichnenden Rol­ lenvermengung der in der weltlichen Gerichtsbarkeit differenzierten Rollen etwa des Richters, Verteidigers, Angeklagten oder Zeugen. Diese Vermengung wird von Breckling ausdrücklich thematisiert (3). Auch sein zu großen Teilen unpublizier­ tes Projekt einer Fortsetzung von Matthias Flacius’ Catalogus Testium Veritatis (1556) kann als Akt einer universalen Rettung von ‚Wahrheitszeugen‘ gedeutet werden. Bekanntlich arbeitete er mit seinen zahllosen Katalogen und Entwür­ fen Gottfried Arnolds einflussreicher Unparteyischer Kirchen- und Ketzerhistorie (1699/1700) voraus. Breckling war jedoch am Ende mit Arnolds Ergebnis unzu­ frieden. Es erschien ihm ausdrücklich zu tolerant, während er selbst parallel zu den Wahrheitszeugenkatalogen ein neues Ketzerverzeichnis führte, in welchem er das Feld radikaler Spiritualität von Arnold abweichend bewertete (4). Der für seine Zeitgenossen oftmals anstößigen Inklusionsforderung ausgegrenzter Posi­ tionen im Zeichen der Gewissensfreiheit entsprach also eine erneute Exklusion im Zeichen des eigenen Wahrheitsanspruchs, mit deren dogmatischer Aporie sich Breckling allerdings, wie es scheint, nicht weiter auseinandergesetzt hat. Zum Schluss dieses Beitrags (5) werden die verschiedenen Dimensionen der breck­ lingschen ‚Rettungen‘ noch einmal zusammengefasst.

7  Breckling gehört ebenso wie Gottfried Arnold zur Vorgeschichte der lessingschen „Rettungen‘. Dazu neuerdings Michael Multhammer: Lessings „Rettungen‘. Geschichte und Genese eines Denkstils. Berlin/Boston 2013.



„Zur Rettung derer bißher unter dem Nahmen des Vnkrauts ...“ 

 99

1 Die Forschung rechnet den aus Handewitt bei Flensburg stammenden Friedrich Breckling gerne dem Spektrum des ‚Radikalpietismus‘ zu.8 Die Außenwahrneh­ mung als ‚Radikaler‘ verdankt Breckling vor allem seinem Auftreten als Obrig­ keitskritiker in den frühen 1660er-Jahren. John Bruckner hat dazu in zwei älteren Beiträgen wichtige Einschätzungen geliefert. Sie bestimmen unser Bild des Dissi­ denten bis heute. Breckling wird von Bruckner als „Polemiker“ charakterisiert, für den eine „explosive, in ihrem rhetorischen Stil von äußerster Vehemenz geprägte Kirchen- und Amtskritik (insbesondere Hofkritik) kennzeichnend“ sei. Noch bis ins frühe 18. Jahrhundert hinein, etwa in den Rezensionen des orthodox-luthe­ ranischen Superintendenten Valentin Ernst Löscher (1673–1749), sei dabei für seine Gegner die Ton- und Stilfrage wichtiger gewesen als die im engeren Sinne inhaltliche Auseinandersetzung.9 Wie Bruckner ausführt prangert Breckling in seiner Kritik des Staatswesens besonders die „Steuerbelastung der Untertanen“ an.10 Dem Staat werde keine positive Funktion zuerkannt, es bleibe bei bloßen Anklagen. Wenngleich Breckling nicht originell argumentiere, müsse man ihm zugutehalten, dass „zur positiven Bestimmung der rechten obrigkeitlichen Amts­ ausübung die Kategorien der mystischen Theologie bemüht werden.“11 Bruckners Charakterisierung ist von Wilhelm Kühlmann weitergeführt wor­ den. Dieser erkennt in Brecklings Protesten bereits den Typus des modernen ‚Sozial­revolutionärs‘.12 Brecklings mystischer Spiritualismus ebenso wie sein

8  Siehe zur aktuellen Diskussion um diesen Begriff die Beiträge in: Der radikale Pietismus. Hg. v. Wolfgang Breul, Marcus Meier u. Lothar Vogel. Göttingen 2010, sowie Douglas H. Shantz: Int­ roduction to German Pietism. Protestant Renewal at the Dawn of Modern Europe. Baltimore (MD) 2013, Kap. 6. – Für einen Überblick über die neuere Breckling-Forschung siehe meinen Beitrag: Knorr von Rosenroth als ‚Wahrheitszeuge‘ Friedrich Brecklings. In: Morgen-Glantz. Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft 23 (2013), S. 131–152, hier S. 134–137. 9  John Bruckner: [Art.] „Friedrich Breckling“. In: Biographisches Lexikon für Schleswig-Hol­ stein und Lübeck 7 (1985), S. 33–38, hier S. 36. 10  Ders.: Die radikale Kritik an der Obrigkeit im Vorpietismus: Friedrich Breckling. In: Eu­ ropäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Vorträge und Referate gehalten anläßlich des Kongresses des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Renaissanceforschung und des Internationa­ len Arbeitskreises für Barockliteratur in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 4. bis 8. September 1979. Hg. v. August Buck u. a. II. Referate der Sektionen 1 bis 5. Hamburg 1981, S. 217–222, hier S. 219. 11  Ebd. 12  Wilhelm Kühlmann: Frühaufklärung und chiliastischer Spiritualismus. Friedrich Brecklings Briefe an Christian Thomasius. In: Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kon­ text der Frühaufklärung. Hg. v. Friedrich Vollhardt. Tübingen 1997, S. 179–234.

100 

 Guido Naschert

polemisches Kritikverständnis seien weniger in der Theorie als vielmehr in der gesellschaftlichen Praxis verankert.13 Kühlmanns Auffassung, Breckling habe einen „Chiliasmus crassus“ vertreten, ist inzwischen modifiziert worden.14 Die Charakterisierung von Brecklings ‚Habitus‘15 bleibt jedoch zutreffend. Drei Argu­ mentationsschwerpunkte werden von Kühlmann unterschieden: 1. Der „Kampf gegen den staatskirchlichen Konfessionalismus“, 2. die totale „Revision der Kirchengeschichte“ und 3. die „Harmonisierung aller Wissensbestände“ im Konzept der Pansophie.16 Brecklings Publizistik zeichne sich durch das Spannungsverhältnis von aggressi­ ver Kritik bei gleichzeitiger Toleranzforderung aus. Nun ist die damit angesprochene Problemlage allerdings nicht neu. Um das Besondere Brecklings deutlicher herauszustellen, sollte man daher zunächst fragen, wann und wodurch eigentlich diese Spannung in Brecklings Biografie aufgetreten ist?17 Aus Mangel an aussagekräftigen Quellen über Kindheit und Jugend, seine Universitätsjahre (1646–1652) und anschließenden Reisen nach Straßburg und Amsterdam, den wichtigen Aufenthalt in Hamburg (1655–1656) sowie seine Zeit als Feldprediger (1657–1659) und Nachfolger seines Vaters in Handewitt (1659–1660) lassen sich hierfür erst ab 1660 gesichertere Aussagen treffen. Erst im Konflikt mit dem Flensburger Konsistorium gewinnt die Opposi­

13  Vgl. ders.: Wort, Geist und Macht – Unvorgreifliche Bemerkungen zu Formationen frühneu­ zeitlichen Intellektualität. In: Intellektuelle in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Jutta Held. München 2002, S. 18–29. 14  Dazu neuerdings Jonathan Strom: Krisenbewusstsein und Zukunftserwartung bei Friedrich Breckling. In: Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbe­ wegung. Hg. v. Wolfgang Breul u. Jan Carsten Schnurr. Göttingen u. a. 2013, S. 84–102, bes. 96, der Brecklings „Chiliasmus sanctus“ in der Nachfolge Seidenbechers herausarbeitet. Die Hinweise dazu finden sich bereits bei Johannes Wallmann: Reich Gottes und Chiliasmus in der lutheri­ schen Orthodoxie. In: Ders.: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Gesammelte Aufsätze. Tübingen 1995, S. 105–123, hier S. 121. 15  Kühlmann: Frühaufklärung und chiliastischer Spiritualismus (Anm. 12), S. 185. 16  Ebd., S. 195. 17  Siehe zur Biografie L[aust] J[evsen] Moltesen: Fredrik Brekling. Et Bidrag til Pietismens Ud­ viklings Historie. Kopenhagen 1893; Friedrich Breckling: Autobiographie. Ein frühneuzeitliches Ego-Dokument im Spannungsfeld von Spiritualismus, radikalem Pietismus und Theosophie. Hg. v. Johann Anselm Steiger. Tübingen 2005 sowie den gemeinsam vom Forschungszentrum Gotha und den Franckeschen Stiftungen zu Halle erarbeiteten Katalog der Ausstellung zum 300. Todestag: Friedrich Breckling (1629–1711). Prediger, „Wahrheitszeuge“ und Vermittler des Pietis­ mus im niederländischen Exil. Hg. v. Brigitte Klosterberg und Guido Naschert. Bearbeitet von Mirjam-Juliane Pohl. Halle 2011.



„Zur Rettung derer bißher unter dem Nahmen des Vnkrauts ...“ 

 101

tion von Kritik und Toleranzforderung an Schärfe und Kontur, wenngleich davon auszugehen ist, dass die Weichen dazu schon früher gestellt wurden und auch etliche Spuren in die Studienjahre zurückweisen. Die wichtigsten Quellen seines Flensburger Inquisitionsverfahren hat Breck­ ling selbst in seiner Schrift Triumphus Veritatis von 1660 zusammengestellt und mit einem ausführlichen Bericht über den genauen Hergang der Untersuchun­ gen versehen.18 Auf der Grundlage dieser Dokumente lassen sich der Konflikt und seine Eskalation genau nachzeichnen.19 Als Breckling von seinen langen Studienreisen in die Heimat zurückkehrte, wurde das Land durch den dänischschwedischen Krieg schwer in Mitleidenschaft gezogen. Sein Förderer und spä­ terer Hauptgegner, der Superintendent Stephan Klotz (1606–1668), hatte zum Krieg gegen die Schweden aufgerufen, war dann aber ängstlich nach Dänemark geflohen. Breckling hingegen musste seine Arbeit zunächst unentgeltlich über­ nehmen. Später klagte er den Eigennutz des Superintendenten an, der ihn nicht angemessen entlohnt hatte, und weitete diese Klage schließlich in seinem Aufruf Gottes Worte an das ehrwürdige Consistorium in Flensburg auf die Kirchenführung insgesamt aus.20 Das Schreiben, in welchem Breckling zudem die Absetzung von Klotz forderte, hat derselbe lange zu unterdrücken versucht und Breckling mit der Androhung eines Gerichtsverfahrens von weiteren Schritten abhalten wollen. Mit der Anfang 1660 in Amsterdam ohne Zensurerlaubnis des Konsistoriums gedruckten Schrift Speculum et lapis lydius pastorum heizte Breckling den Kon­ flikt weiter an. Nun sah sich Klotz zum Gerichtsverfahren genötigt. Als Beweis für seine Anschuldigungen ließ er zunächst Brecklings Schriften unter den Flens­ burger Predigern zirkulieren und Anfang Februar eine Versammlung einberufen. Nicht zufällig bezogen sich einzelne Fragen dieser Examination bereits auf Breck­ lings Verhältnis zum radikalen schlesischen Reformator Caspar von Schwenck­

18  Friedrich Breckling: Occasio Scriptorum & Modus procedendi. In: Ders.: Veritatis Triumphus (Anm. 3), Bl. B 6r–12v. Auszüge daraus werden in Mollers Breckling-Eintrag erneut abgedruckt, vgl. Johannes Moller: Cimbria literata sive scriptorum ducatus utriusque Slesvicensis et Holsatici historia literaria tripartita. Havniae 1744, T. III, S. 82–89, hier S. 73 f. 19  Siehe zum Kontext des Pietismus in Schleswig-Holstein: Manfred Jakubowski-Tiessen: Der frühe Pietismus in Schleswig-Holstein. Göttingen 1983 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 19); Martin Brecht: Die deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts. In: Ders. (Hg.): Geschichte des Pietismus. Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Göttingen 1993, S. 205–240; Jonathan Strom: Early Conventicles in Lübeck. In: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus 27 (2001), S. 19–52. 20  Siehe dazu den Beitrag von Viktoria Franke: „[…] sahe daß ich durch gleiche Flucht seine Wahrheit retten“. Brecklings Selbstdarstellung als verfolgter Anhänger Christi in seinen frühen Traktaten der 1660er-Jahre. In: Klosterberg/Naschert: Friedrich Breckling (Anm. 17), S. 49–60.

102 

 Guido Naschert

feld (1489–1561), von dem sich der Angeklagte jedoch nicht distanzieren wollte. Die Versammlung endete mit einer Aufforderung zum Widerruf und einem Schreibverbot. Mitte März schloss sich ein zweiter Konvent an. Breckling wurde erneut mündlich verhört, seine Bitte, sich schriftlich verantworten zu dürfen, abgelehnt. Die Standpunkte hatten sich jetzt endgültig verhärtet. Die Anklage­ punkte lauteten: Majestätsbeleidigung, Zensurverstoß, Lästerung des kirchlichen Predigtamtes, ‚Schwenckfeldianismus‘, Verstöße gegen die Kirchenordnung (Ablehnung der Privatbeichte, Schutz eines Ehebrechers), verdächtige Reden von der Kraft des göttlichen Wortes, Schmähung des Konsistoriums. In der Folge wurde Breckling nicht nur abermals ein Publikationsverbot auferlegt, sogar sein Wunsch, beim König Friedrich III. von Dänemark Einspruch zu erheben, wurde abgelehnt, ebenso die Fürsprache seiner Bürgen zurückgewiesen. Es drohte Fes­ tungshaft. Doch konnte Breckling rechtzeitig aus der unaufmerksamen Verwah­ rung des Stadtvogts nach Hamburg und von dort in die Vereinigten Niederlande fliehen, wo man, wie er schreibt, „jedermann seine Gewissens-Freyheit“ lasse.21 In den beiden Examinationen des Flensburger Konsistoriums berief sich Breckling wiederholt auf sein Gewissen. Welche Macht und Energie er daraus schöpfte, äußerte sich auch in seiner freimütigen und egalisierenden Anrede des Adels: „Wiewoll ich nicht allein unsern König Gnädig/ sondern auch Durchleuch­ tig/ auß der Freyheit meines Gewissens tituliere.“22 In seiner Berufung auf das Gewissen steht Breckling in lutherischen und wohl auch in schwenckfeldschen Traditionen, wenn der Gewissenszwang abgelehnt und die Freiheit des Christen vor allem als Gewissensfreiheit umschrieben wird. Mit der Autorität des Gewis­ sens als Ort einer göttlichen Ansprache im Menschen werden Staat und Kirche als weltliche Instanzen angegriffen.23 In der Schrift Religio libera von 1663 hat Breck­ ling diesen Zusammenhang ausführlich ausgearbeitet. Der Text beginnt mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Forderungen, die wie das politische Manifest des Exulanten gelesen werden kann:

21  Friedrich Breckling: Religio libera Persecutio relegata, Tyrannis Exul & Justtia Redux […]. Von der Gewissens Freyheit/ und andern hochnöthigen Sachen der Obrigkeit Ampt und Persohn anbelangend […]. Zur Rettung derer bißher unter dem Nahmen des Unkrauts unschuldig verfol­ geten Kinder Gottes/ an die hohe Obrigkeiten in Europa geschrieben und bezeuget/ durch Fride­ ricum Brecklingium, aus Holstein/ Evangelischen Prediger in Zwoll. Freystat [d. i. Amsterdam] 1663, S. 10. 22  F. Breckling: Ablehnung ihres falschen Urtheils über mich. In: Ders.: Veritatis Triumphus (Anm. 3), Bl. F 3r–G 12v, hier Bl. F 6r. 23  Ebd., Bl. B 8v.



„Zur Rettung derer bißher unter dem Nahmen des Vnkrauts ...“ 

 103

Im Nahmen Gottes des obersten Richters/ und Königes über alle Könige/ bezeugen wir/ als Legaten und Bohtschaffter an Christi statt/ an alle heutige Könige/ Fürsten und Obrigkei­ ten/ als Ampt-leuten und Haußhaltern Gottes auff Gottes Erdboden/ mit Gottes Wort/ deme alles gehorchen/ oder zu grunde gehen muß. 1. Daß die Obrigkeit nicht über die Gewissen herrschen/ noch jemand umb Gottes Worts willen verfolgen muß/ sondern einem jeden seine Religion und Gewissens-Freyheit lassen/ und in Glaubens-sachen/ auch das Unkraut biß zur Zeit der Erndte frey wachsen lassen muß: wofern sie nicht wieder Gottes Befehl sündigen/ und Gott in sein Gericht greiffen wil. 2. Daß die Obrigkeit keinen umb des Wortes Gottes willen Verfolgeten/ in seiner Verfolger Hände übergeben muß/ der bey ihnen in ihren Stätten und Ländern seinen Schutz und Zuflucht gesuchet. 3. Daß die Obrigkeit Gottes Diener/ Geist/ Wort und Reich/ die über alle Welt gehen/ so frey ungehindert wie das Liecht/ Wind/ Himmel und Regen durch ihre Erdreiche lauffen lassen/ und niemand Gottes Wort zu verkündigen verbieten muß. 4. Daß die Obrigkeit dem Straff-ampt des Geistes eben so wol als die Unterthanen unter­ worffen seyn/ weil Gottes Wort und Geist ohne unterscheid der Persohnen die gantze Welt straffen/ und gleich wie der Wind/ keines Menschen schonen; wie solches mit aller Prophe­ ten Zeugniß bewiesen wird. 5. Daß die Obrigkeit nicht Häupter der Kirchen/ noch Richter in geistlichen Sachen mit ihren Gesetzen seyn können/ weil Gottes Geist und Wort allein in geistlichen Sachen Richter seyn/ darnach so wol die Obrigkeit als alles in der Welt muß gerichtet werden. 6. Daß die Obrigkeit die Armen und Gerechten nicht wieder Gewissen verdammen/ noch den Ungerechten und Mächtigen umb der Menge der Zeugen beystehen und recht sprechen muß. Exod. 23. So lasset euch nun hierin unterweisen ihr Könige/ und lasset euch züchtigen ihr Richter auff Erden; dienet dem HErren mit Furcht/ und frewet euch mit zittern: küsset den Sohn/ daß er nicht zörne/ und ihr umbkommet auff dem Wege/ denn sein Zorn brennet nun an über die Welt/ aber wol allen Obrigkeiten und Frommen die auff ihn trauen/ Psal. 2.82. Esa. 2.34. Jer. 25.50.51. Sap. 6. Apoc. 19.24

Gefängnishaft und Todesstrafe werden als Sanktionen in Religionskonflikten zurückgewiesen.25 Asylsuchende Glaubensflüchtlinge dürfen nicht an ihre Ver­ folger ausgeliefert werden.26 Wanderprediger, „die nach der Propheten und Apostel Exempel/ ohne Menschen-beruff und eigen Gesuch herumb ziehen“, müssen geduldet werden.27 Denn die Obrigkeit muss „auch das Unkraut in ihren Stätten/ Ländern und Acker […] wachsen/ grünen/ blüen/ lehren und glauben

24  Breckling: Religio libera (Anm. 21), S. [A iv]. 25  Vgl. ebd., S. 3. 26  Ebd., S. 64. 27  Ebd., S. 69.

104 

 Guido Naschert

lassen.“28 Überhaupt gelte „für Gott […] keine Ansehung der Persohn“.29 Das Landrecht als Ganzes wird schließlich als weltliches Recht für unzuständig erklärt. Dieser Angriff auf den Schulterschluss von Staat und Kirche korrespon­ diert dem Vorwurf an die Konsistorien, dass sie „mehrertheils in lauter Weltli­ che Gerichte verändert seyn/ und die Göttlichen Sachen/ mehr nach Weltlicher Art/ Gewohnheit/ Gesetzen und Gerichten als nach Gottes Wort/ durch Gottes Geist richten und decidiren.“30 Es versteht sich, dass diese Forderungen enormen Sprengstoff enthielten. Breckling skizzierte ein Reformprogramm, das nicht nur der Entkoppelung von Staat und Kirche und ihrer beider Unterwerfung unter die Stimme Gottes bedeutete, sondern auch einen Angriff auf die sich etablierende Kirchenzucht der lutherischen Kirche darstellte. Mit seinen Forderungen nach Gewissensfreiheit und Duldung des religiösen Einzelgängers und Außenseiters sah sich der Zwoller Prediger gleichwohl in reformatorischer Tradition kämpfen: Wegweisend waren für ihn in diesem Punkt neben Luther und Schwenckfeld u. a. Melanchthon, Sebastian Franck und besonders Sebastian Castellio (1515­–1563), aus dessen Schriften er ausführlich zitiert.31 In seinen Protestschriften ebenso wie in seinen Traktaten beruft sich Breckling auf den biblischen Topos vom Gerichtshof des Gewissens, wie er im paulinischen Römer-Brief (2,15) angelegt ist.32 Systematischer Hintergrund für die Annahme, dass die Stimme des Gewissens der eigentliche Gerichtshof in religiösen Ange­ legenheiten sei, ist jedoch die auf Augustinus zurückweisende Zwei-Reiche-

28  Ebd. – Breckling bezieht sich hier auf das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Neues Tastament, Mt 13,24–30). 29  Ebd., S. 78. 30  Ebd., S. 117. 31  Vgl. Breckling: Religio libera (Anm. 21), S. 39; Majestas & Potentia, Libertas & Justitia, Spes & Victoria, Triumphus & Gloria Christianorum cum Capite Christo […]. An stat einer Apologi für die übrige Creutz-Christen/ die nichts mehr als ihr Eigenthumb/ Recht und Gerechtigkeit/ nach Gottes Wort/ mit Israel/ an der heutigen Welt wieder fodern/ im Nahmen seines Königes Chris­ ti/ und dessen Geistlichen Leibes. […]. Amsterdam: Christoff Cunrad 1663, S. 74. – Zum Kontext siehe Hans R. Guggisberg: Sebastian Castellio 1515–1563. Humanist und Verteidiger der religiö­ sen Toleranz im konfessionellen Zeitalter. Göttingen 1997, mit Hinweisen zu Brecklings CastellioRezeption. 32  Siehe Michael Wolter: [Art.] „Gewissen II. Neues Testament“. In: Theologische Realenzyk­ lopädie XIII (1984), S. 213–218, mit weiteren Belegstellen u. a. bei Philo, Polybios und Seneca.



„Zur Rettung derer bißher unter dem Nahmen des Vnkrauts ...“ 

 105

Lehre Martin Luthers,33 die im Gegensatz von ‚Forum Politicum‘ und ‚Forum Con­ scientiæ‘ aufgerufen wird.34 Dieses ‚Forum Conscientiæ‘ hat seine Besonderheiten. Auf den ersten Blick könnte man es für eine ‚irrationale‘ Instanz halten. Doch blicken wir zunächst auf Brecklings Beschreibung des Gewissens: Was das Gewissen in allen Menschen für ein gerechter/ unpartheyischer/ warhafftiger und ewiger Zeuge/ Ankläger/ Richter/ Rächer und Peiniger sey/ dem niemand in der Welt ent­ fliehen kann/ ja deme auch alle Könige/ Fürsten/ Richter/ Priester/ Bürgen und Bauren/ ohne einigen Unterscheid müssen unterworffen seyn/ und sich entweder von demselben anklagen/ richten und verdammen/ oder auch absolviren und entschuldigen lassen/ nach deme sie Gutes oder Böses auff der Welt gethan/ wofern das Gewissen nicht bey ihnen ein­ geschlaffen oder gar abgebrant ist/ dasselbe kan ein jeglicher Mensch auff der Welt/ in und bey ihm selbst mehr denn zu viel empfinden.35

Als Lutheraner36 deutet Breckling das Gewissen zudem als Himmel und Hölle auf Erden,37 als vorweggenommenen Ort eines göttlichen Endgerichts. „Vox Con­

33  Vgl. Bruckner: Die radikale Kritik (Anm. 10), S. 220. – Zu Martin Luthers Verständnis dieser Lehre Volker Manthey: Zwei Schwerter – zwei Reiche. Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund. Tübingen 2005; Volker Leppin: Das Gewaltmonopol der Obrigkeit. Luthers sogenannte Zwei-Reiche-Lehre und der Kampf zwischen Gott und Teufel. In: Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens. Hg. v. Andreas Holzem u. Bernd Wegner. Paderborn u. a. 2009, S. 403–414. 34  „Ich antworte darauff/ daß ein zweyfaches Gericht und Regiment von Gott in der Welt ge­ ordnet ist. 1. Forum Politicum das Weltliche Gericht und Regiment der Obrigkeit/ welches über die eusserliche/ Leibliche und Weltliche Sachen gehet/ die den Leib/ zeitliche Güter/ oder die eusserliche Gerechtigkeit betreffen/ davon auch alle Heyden richten können/ das hat Gott der Obrigkeit befohlen/ daß sie darin alles nach der Gerechtigkeit richten/ die armen und elenden vor den Gottlosen schützen/ und ihnen wie Väter/ Hirten und Häupter/ so in allen Dingen vor­ stehen sollen/ als sie ihnen selbst in dergleichen Noth wolten geholffen haben. 2. Forum Conscientiæ, das geistliche Regiment und Gericht Gottes/ darin Gott allein durch seinen Geist und Wort wil Richter seyn/ und alle Sachen die das Christenthumb/ Glauben/ Religion/ Gewissen/ Gottes Wort/ Lehre/ Gottesdienst/ Straff-ampt/ und andere Geistliche Dinge zum Reich Christi gehörig/ anbelangen/ allein durch seinen Geist/ nach seinem Wort wil gerichtet/ unterschieden und auß­ geführet haben.“ (Breckling: Religio libera [Anm. 21], S. 116 f.) 35  Friedrich Breckling: Tribunal conscientiæ Sive Prodromus Judicii Divini. Das ist: Vorfor­ derung aller Menschen von dem höchsten biß auff den niedrigsten/ für den Richterstuel ihres eigenen alles mit ihnen wissenden Gewissens […]. [Amsterdam 1661], S. 3. 36  Siehe zu Luthers Gewissensbegriff unter theologischem Gesichtspunkt Bernhard Lohse: Gewissen und Autorität bei Luther. In: Kerygma und Dogma. Zeitschrift für theologische For­ schung und kirchliche Lehren 20 (1974), S. 1–22. 37  Vgl. Kittsteiner: „Luthers Eschatologie ist aktualisiert und konzentriert auf das Gewissen der Gläubigen. Die Hölle ist für ihn nicht primär ein lokalisierbarer Ort der Strafe, sondern ein ge­

106 

 Guido Naschert

scientiæ vox Dei“ lautet zusammenfassend seine Formel.38 Diese supranaturale Stimme spricht nicht nur in der Rolle des Richters. Sie vereint viele pragmati­ sche Rollen, im Prinzip alle, die in der weltlichen Gerichtsbarkeit unterschieden werden können. Auf diesen Punkt wird später zurückzukommen sein. Ein ungewöhnlicher Vergleich mag begründen, warum dieses Durcheinander der Stimmen Brecklings Gewissen nicht zu einer komplett irrationalen Instanz macht. Matthias Knutzens (geb. 1646) naturalistische Gewissenskonzeption kann hier als Vergleichsfolie herangezogen werden.39 Knutzens Gewissen ist der Inbe­ griff einer von Natur gegebenen Moral.40 Anders als in Brecklings Gewissenstribu­ nal spielen Kategorien der mystischen Theologie oder eine Orientierung an einer göttlichen Stimme hier gerade keine Rolle mehr. Doch besteht jenseits der Dif­ ferenz von Naturalismus und Supranaturalismus eine normative Schnittmenge. Auch Breckling betont, dass man sein Gewissen anhand bestimmter „Regeln“41 daraufhin prüfen kann, ob Gott in ihm wirklich spreche. Und zu diesen Regeln gehören Gebote wie die Goldene Regel oder die Forderungen nach Anstand und Rechtschaffenheit, die ebenfalls zur Minimalethik Knutzens zählen.

fühlter Strafzustand des Sünders, der sich schuldig weiß.“ Heinz D. Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt a. M. 1991, S. 117. – „Das Gewissen in den Rechtslehren der protestantischen und katholischen Reformationen“ war jüngst ausführlicher Gegenstand einer interdisziplinären Tagung in Wittenberg vom 3.–6. April 2014, auf die hier ausdrücklich hinge­ wiesen sei; auch deswegen, weil der naturrechtliche Kontext von Brecklings Gewissenbegriff in meinen Überlegungen noch ausgeklammert bleibt. 38  Breckling: Tribunal conscientiæ (Anm. 35), S. 9. – Der mit der Formel zugleich aufgerufene spätantike und patristische Problemkontext soll an anderer Stelle detaillierter behandelt wer­ den. 39  „Der Schleswiger ist der erste als Person fassbare Atheist überhaupt.“ Winfried Schröder: Einleitung. In: Matthias Knutzen: Schriften. Dokumente. Mit einer Einleitung hg. v. Winfried Schröder. Stuttgart-Bad Cannstatt 2010, S. 8. – Siehe zu Knutzen außerdem Kittsteiner: Die Ent­ stehung des modernen Gewissens (Anm. 37), S. 101–116; Herbert Jaumann: „Wilder Libertinis­ mus?“ Der Fall Matthias Knutzen. In: Kriminelle – Freidenker – Alchemisten. Räume des Unter­ grunds in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Martin Mulsow unter Mitarbeit von Michael Multhammer. Wien/Köln/Weimar 2014, S. 457–478. 40  „Denn dieses Gewissen, welches die gütige Natur allen Menschen mitgetheilet hat, vertritt bey uns die Stelle der Bibel (Röm 2,14 u. 15), der Obrigkeit, (denn es ist der wahre und höchste Gerichtsstuhl […]) und aller Priester, denn es lehret uns niemanden zu beleidigen, rechtschaffen zu leben, und einem jeden das seinige zu geben. Thun wir Böses, so wird es uns statt tausend Henker, ja statt der Hölle selbst seyn; thun wir aber Gutes, so wird es uns statt des Himmels seyn, und zwar so lange dieses Leben dauert, außer welchem es kein anderes Leben gibt.“ Matthias Knutzen: [Amicus Amicis Amica!] übersetzt von Johann Christoph Adelung. In: Ders.: Schriften (Anm. 39), S. 39–42, hier S. 42. 41  Breckling: Tribunal conscientiæ (Anm. 35), S. 12.



„Zur Rettung derer bißher unter dem Nahmen des Vnkrauts ...“ 

 107

Seit den frühen 1660er-Jahren, seit Brecklings Konflikten mit dem Flensbur­ ger Konsistorium ist die Forderung nach Gewissensfreiheit und Duldung religi­ öser Außenseiter die politische Grundlage seiner aggressiven Proteste. Sie wird zur Messlatte für eine Gesamtreform der Gesellschaft, deren zentrale Idee in der Trennung von weltlicher und geistlicher Gerichtsbarkeit besteht. Die geistliche Gerichtsbarkeit soll zudem den Konsistorien aus der Hand genommen werden. Nur im individuellen, nach Regeln geprüften Gewissen spricht Gott über den Ein­ zelnen sein Urteil, nicht durch den ‚weltlichen‘ Arm der Institution. Nur dieses innere Gericht zählt. Daraus folgt auch: Apologien, die sich nur gegenüber den Menschen rechtfertigen, sind von keinerlei Wert, egal von wem sie stammen und vor wem sie sich aus Opportunismus behaupten können.42

2 Die radikale Negation staatlicher und kirchlicher Institutionen durch den Verweis auf die Bedeutung des Gewissenstribunals gehört zu den einschlägigen apologe­ tischen Strategien von Brecklings Druckschriften.43 Leider ist die Forschungslage zu diesen Drucken immer noch spärlich, und es fehlt vor allem an einem doxo­ grafischen Überblicksartikel, der Brecklings Schriften in ihren Inhalten und Kon­ texten leichter zugänglich machte.44 Auf einige Besonderheiten sei deswegen hier hingewiesen. Grundsätzlich fällt auf, dass Brecklings publizistisches Schaffen in klare Perioden zerfällt. Die irdische Apologie ist angeblich wertlos. Dennoch entstehen gerade zwischen 1660 und 1666 unter dem Druck der Flensburger Exa­ minationen und der Existenzssicherung im Exil45 sowie der anschließenden Strei­

42  „Ihr Heuchler in Holstein/ Hamburg/ und andern Oertern/ dürffet euch nicht einbilden/ daß ihr damit für GOtt entschuldiget sey/ wenn ihr euch mit Apologien und Schrifften für den Men­ schen rechtfertigen könnet/ wie ihr bißher gewohnet? Das wird euch nicht mehr angehen/ denn ihr habt es mit Gott und nicht mit Menschen zu thun/ der euch nun nach ewrem Hertzen/ Ge­ wissen/ Thaten/ Früchten/ Leben und Wercken richten will.“ (Breckling: Tribunal conscientiæ [Anm. 35], S. 61) 43  Siehe zum Kontext gelehrten Streitens: Gelehrte Polemik. Intellektuelle Konfliktverschär­ fungen um 1700. Hg. v. Kai Bremer u. Carlos Spoerhase. Frankfurt a. M. 2011 (=Zeitsprünge, For­ schungen zur Frühen Neuzeit 15, 2/3). 44  Zusammenfassungen einzelner Drucke sowie Hinweise auf ihren Kontext bieten Moller: Cim­ bria literata (Anm. 18), S. 80–89, und Johann Christoph Adelung: Friedrich Breckling: Geschichte der menschlichen Narrheit. Leipzig 1787, Bd. 4, S. 16–30. 45  Breckling war 1660 Nachfolger von Fabricius in Zwolle geworden, siehe dazu: Harm Klueting: Reformatio vitae. Johann Jakob Fabricius (1618/20–1673). Ein Beitrag zu

108 

 Guido Naschert

tigkeiten mit dem Amsterdamer Konsistorium46 eine ganze Flut an Schriften.47 Oft handelt es sich um Nebenschauplätze oder um nachlaufende Stellvertreter­ gefechte wie etwa die späte Ehrenrettung Gothofred Artus’ De Eere het Consistorium van Amsterdam gereddet (1669), auf die Brecklings Neffe Hermann Jung (1608/09–1678) in seiner Schrift Onschold, en dobbelter Verantwording tegen dat Consistorium to Amsterdam en dessen Eeren-Redder (belgisch, Amsterdam 1669) reagierte. Glücklicherweise sind die meisten Schriften Brecklings aus diesen Kon­ troversen erhalten geblieben.48 Einzelne finden sich außerdem in zwei Antho­ logien überliefert: 1675 gab der Hoburg und Breckling nahestehende Dissident Heinrich Ammersbach (1632–1691) eine Sammlung von Frühschriften der 1660erJahre heraus;49 1697 folgten noch Sechs geistreiche unterschiedliche Schrifften.50

Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung im Luthertum des 17. Jahrhunderts. Münster 2003. 46  Sie führten 1667 zu seiner Absetzung, vgl. Paul Estié: Die Auseinandersetzung von Charias, Breckling, Jungius und Gichtel in der lutherischen Gemeinde zu Kampen 1661–1668. In: Pietis­ mus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus 16 (1990), S. 31–52; ders.: Die Entlassung Friedrich Brecklings als Pfarrer der lutherischen Gemeinde zu Zwolle, 1667–1668. In: Ebd., 18 (1992), S. 9–39. 47  Es sind in Kurzangaben folgende: Speculum Seu Lapis Lydius Pastorum. 1660; Speculum repurgatum [erw. u. überarb. Ausg. des Speculum]. 1661; Das ewige Evangelium. 1660 u. 1686; Ankündigung des Rach-Tages und Gerichts Gottes. 1660; Veritatis Triumphus. 1660; Nosce teip­ sum, & cognosce Christum. 1660; Mysterium Magnum, Christus in nobis. 1662; Ruffende Stimme aus Mitternacht. 1661; Excidium Germaniae. 1661; Unterthänigste Supplication. 1660, 1662, 1663, 1664 u. ö.; Christus triumphans. 1661; Christus cum suis Prophetis. 1661; Tribunal conscientiæ. 1661; Biblia pauperum. 1662 u. 1664; Anatomia Mundi. 1660 u. 1661; Mysterium Inquietatis. 1662; Modus catechizandi. 1662; Christus Iudex. 1663 u. 1666; Biblia Sive verbum Diaboli. 1661, 1663 u. 1666; Regina pecunia. 1663 u. 1690; Mysterium Babylonis. 1663; Pharisaismus detectus. 1664; Majestas & Potentia, Libertas & Justitia. 1663; Libertas & Potestas Ecclesiae vindicata. 1663 u. 1664; Religo libera Persecutio relegata. 1663; Summa Summarum, Soli Deo Gloria. 1664; Liber Librorum. 1665; Synagoga Satanae. 1666; Widerlegung Ursini. 1666; Excidium Germaniae Bet­ kii. 1666; Prüfung der heutigen Quacker, Collegianten, Socinianer, Zwickerschen, Felgenhaueri­ schen und aller andern Geister. 1665; Türcken-Krieg. 1664. 48  In Bibliotheken bislang nicht nachzuweisen sind folgende Breckling-Titel, deren Existenz jedoch als gesichert gelten kann: Abfall der Lutherischen von der Augspurgischen confession. Amsterdam 1666; Ankündigung des Gerichts an Behemoth und Leviathan. Gorlici 1666; Schlüs­ sel der Erkäntniß; Biblia rediviva, cum suis testibus. Wesel 1687. 49  Friderici Brecklings unterschiedliche Schrifften. [Hg. v. Heinrich Ammersbach. Amsterdam] 1675. 50  Diese Sammlung enthält Der Heyden Licht, das Titelblatt von Europäisches Garaus sowie I. Ermahnung an die Obrigkeiten; II. Consultation / wie doch dem verfallenen Reich und Kirchen Christi wieder aufzuhelfen?; III. Bedenken auf Justiniani Buch von der neuen Jesus-liebenden Gesellschaft […]; IV. Schrifft an die Brüder zu N. wie sie sich zu dieser Zeit zu verhalten haben; V. Be-



„Zur Rettung derer bißher unter dem Nahmen des Vnkrauts ...“ 

 109

Nach einer längeren Pause beginnt in den 1680er-Jahren in Amsterdam Breck­ lings zweite Publikationsoffensive.51 Dieses Mal handelt sich meist um wenige Seiten starke, flugschriftenartige Kurztraktate, die erkennen lassen, dass der Exulant in einfachen Verhältnissen lebte. Mit den Texten wollte er offenbar stärker in die Öffentlichkeit der Welthandelsmetropole hineinwirken. Denn sie weisen ein breites Adressatenfeld auf und richten sich keineswegs nur an Gesinnungsfreunde.52 Während seiner Zeit in Den Haag schließlich, wohin Breckling 1690 aus noch unbekannten Gründen umgezogen war und bis zu seinem Tod 1711 lebte, ist nur noch wenig erschienen. Die wichtigsten Texte aus dieser Periode sind seine Beiträge zu Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie.53 In all den Jahren wurde Brecklings Publizieren von Zensurkonflikten beglei­ tet. Schon der Flensburger Skandal war im Kern ein solcher gewesen. Er selbst beklagte sich oft, dass seine Gegner seine und seiner Freunde Bücher zu confisciren und uns die Druckereyen zu versperren suchen/ darumb / daß wir einerley mit den Propheten und Aposteln von solcher Offenbahrung des Himmelsreichs Christi und endlicher Bekehrung der Juden dazu glauben/ lehren/ bekennen/ schreiben und drucken lassen.54

Doch ist das Thema ‚Breckling und die Zensur‘ erst noch aufzuarbeiten.55

dencken / was heute in dieser allgemeinen Seelen-Noth einen ieden Christen erwecken soll / sich solcher allgemeinen Noth äusserstes Vermögens anzunehmen. Außerdem die Texte: Soli Deo Gloria, Kurtzer Anhang von dem Türcken-Krieg sowie das Titelblatt der Ruffende[n] Stimme aus Mitternacht, die Unterthänigste Supplication sowie Herrmann Jungen: Hoffnung und Sinn von diesen Letzten Dingen (Angaben nach dem Exemplar der Forschungsbibliothek Gotha). 51  Europäisches Garaus, 1675; Compendium Apocalypseo reseratae, 1678; Leo Rugiens, 1681; Vis veritatis fidei (d. i. Gottes Ehre u. Lehre), 1681; Mysterium paupertatis, 1682; David Redivivius, 1682; Revelatio Absconditorum & Futurorum, 1682; Fridericus resurgens, 1683; Abominatio desolationis, 1682; Pseudosophia Mundi, 1682; Christus mysticus, 1682; Krieg und Sieg des Wortes Gottes, ca. 1682; Christliche Erinnerung, ca. 1682; Summa dicendorum, ca. 1682; Ausgang aus Babel, 1683; Consummatio praecisa, 1684; Verbum abbreviatum, 1684; Anti-Calovius, 1688; Paulus redivivus, 1688. 52  Siehe zur konfessionellen Zusammensetzung der Amsterdamer Öffentlichkeit die statisti­ schen Angaben bei Jonathan Israel: The Dutch Republic. Its Rise, Greatness, and Fall 1477–1806. Oxford 1995, S. 641. 53  Darunter die vier Texte: Vom Zustand und Beschreibung der Kirchen; Letzter Abschied und Ausgang; Vom Bösen Hertzen der Menschen und Secten; Ausgang aus Babel, und Eingang zu Gott durch Christum im Geist. In: Gottfried Arnold: Fortsetzung und Erläuterung Oder Dritter und Vierdter Theil der unpartheyische Kirchen- und Ketzerhistorie […]. Frankfurt a. M. 1729, S. 1110–1142. 54  Friedrich Breckling: Synagoga Satanae […]. Zwolle 1666, Bl. [2v]. 55  Siehe zum Kontext Gierl: Pietismus und Aufklärung (Anm. 2), S. 344–413.

110 

 Guido Naschert

Zu den apologetischen Strategien des Dissidenten gehörte es nicht, sich selbst im Sinne des genus iudiciale rhetorisch geschickt zu verteidigen. Vielmehr suchte er Schutz im Angriff auf das Gewissen seiner Gegner. So verfasst er z. B. in seiner Kontroverse mit Huybert Tolle die Schrift Pharisaismus detectus (1664) ausdrücklich, wie es im Titel heißt, anstelle einer Apologie.56 Apologie im rhetori­ schen Sinn ist nur ein Nebenaspekt der Polemik. Dies ist eine Folge des Umstands, dass der Dissident schon die Zuständigkeit der irdischen Gerichtshöfe, die ihn zur Rechenschaft fordern, rhetorisch gesprochen den status translationis, infrage stellt. Brecklings Druckschriften redeten ihren Lesern dazu nicht sanft und freund­ lich ins Gewissen, sondern mit Sprachgewalt und Rechthaberei. Sie haben deswe­ gen auch ein ganzes Spektrum von zum Teil ebenso heftigen Entgegnungen und Einwänden erfahren.57 Bestimmte Kritikpunkte orthodoxer Lutheraner lagen auf der Hand: Neben der Ehrenschändung der lutherischen Kirche wurde Breckling, etwa von Jacob Hieronymus Lochner, eine Neigung zum Separatismus unter­ stellt.58 Ein scharfer Kritiker aus den Reihen der Orthodoxen war Johann Heinrich Feustking (1672–1713). Er warf Breckling, den er für einen verwirrten Irrgeist hielt, vor, einen Gottesdienst nach seiner Phantasie zu praktizieren.59 Sehr verbreitet war die Anklage des Enthusiasmus und Fanatismus, für die Johann Moller gleich mehrere Autoritäten (Samuel Carpzov, Conrad Tiburtius Rango, Johann Friedrich Mayer, Franziscus Aepius) anzuführen weiß.60 Ehregott Daniel Colberg, Professor in Greifswald und Verfasser der Schrift Das Platonisch-Hermetische Christenthum (Frankfurt a. M./Leipzig 1690/91), warf Breckling eine Anhängerschaft an Weigel,

56  Friedrich Breckling: Pharisaismus detectus, convictus, judicatus; & Christianismus vindi­ catus. Der Phariseer Vrtheil und Grabschrifft/ Darinnen alle Phariseer unter den Nachfolgern Lutheri, insonderheit aber die offenbahrte Un-Luttersche Phariseer und Antichristen in den Unluterschen Consistoriis zu Amsterdam und Hamburg/ […] durch Gottes Wort/ und ihr eigen Gewissen verdammet werden. […] An statt einer Apologia […]. Amsterdam 1664. 57  Vgl. Moller: Cimbria literata (Anm. 18), T. III, S. 75–79. 58  Ebd., S. 77.  59  „Wer ist aber dieser Breckling? Ein Freygeist/ welcher/ wie sein letzter Abschied und Auß­ gang außweiset/ alle Religionen verlassen/ und einen Gottesdienst nach seiner Phantasie for­ miret hat/ worinn er auch noch ietzo lebet.“ D. Io. Henrici Feustkingii Arnoldus Elenchomenos, Oder Kurtze doch gründliche Wiederlegung/ Der vornehmsten Einwürffe/ Worinnen Gottfried Anrold […] Seinen Adeptis, Und begeisterten Weibes-Personen Das Wort hat reden wollen. [An­ hang zu:] Gynæceum Hæretico Fanaticum, oder Begeistertes FrauenZimmer aus der alten und neuen KirchenHistorie. Frankfurt a. M., Leipzig 1704, S. 76. 60  Moller: Cimbria literata (Anm. 18), T. III, S. 77.



„Zur Rettung derer bißher unter dem Nahmen des Vnkrauts ...“ 

 111

Böhme und die Wiedertäufer vor;61 Johann Müller, Bischof der Predigerschaft in Hamburg, gar Atheismus.62 Ursache vieler Einwürfe waren jedoch nicht Brecklings theologischen Über­ zeugungen im engeren Sinn, mit denen sich viele Orthodoxe gar nicht ernsthaft auseinandersetzen wollten. Was Breckling in Verruf brachte, war vor allem die Art und Weise, wie er sie vortrug. Seinem Stil warf man Geschwätzigkeit, einen Hang zur Tautologie, Maßlosigkeit im Eifer und arrogante Eigenliebe vor. Noch zu seinen Lebzeiten setzte sich der Dresdner Superintendent und Konsistorial­ rat Valentin Ernst Löscher (1673–1749) in seinen Unschuldigen Nachrichten mit Brecklings Schriften auseinander und fasste die alten Einwände zusammen.63 Der Pastor Joachim Lange aus Berlin hat Breckling zwar gegen Löscher verteidigt. In diese Auseinandersetzung hat der alte Breckling selbst jedoch nicht mehr eingrei­ fen können und sie nur noch im Austausch mit seinen Briefpartnern verfolgt.64 Die aptum-Verletzung der brecklingschen Polemik entspringt, wie wir sahen, nicht einfach aus Unrechtsbewusstsein, sondern aus dem Vertrauen auf die gött­ liche Stimme seines Gewissens. Natürlich war sie ebensosehr eine Charakter­ frage, wie Breckling selbst eingestand: Als ein guter Freund zu ihm sagte, daß er zwar seine gute Meinung, wenn er für die Ehre GOttes eiferte, lobete; könte aber nicht billigen, daß er so heftig redete; antwortete er, daß im Alten Testamente Propheten von sanftem und heftigem Geiste gewesen; weil ihm nun GOtt nicht hätte den ersten gegeben, müste er sich nothwendig des andern bedienen.65

3 In Brecklings Konzeption des Gewissenstribunals fallen die juridischen Instanzen zusammen.66 Dies gilt zugleich für sein publizistisches Selbstverständnis, da der

61  Ebd. 62  Ebd. – Dies ist nur eine Auswahl der von Moller genannten Kritiker Brecklings. 63  Sie erschienen in seiner Zeitschrift: Unschuldige Nachrichten von Alten und Neuen Theolo­ gischen Sachen/ Büchern/ Uhrkunden/ Controversien/ […]. Leipzig 1702–1721. – Dazu Klaus Pet­ zoldt: Der unterlegene Sieger. Valentin Ernst Löscher im absolutistischen Sachsen. Leipzig 2001. 64  Vgl. z. B. den Brief Balthasar Köpkes an Friedrich Breckling, Nauen, 26. Juli 1708. Standort: Forschungsbibliothek Gotha, Chart. B 198, Bl. 258r–259r. 65  Heinrich Ludwig Benthem: Holländischer Kirchen- und Schulen-Staat. Frankfurt a. M./ Leipzig 1698, Bd. 2, S. 343. 66  Auch in späteren Gewissenskonzeptionen wird diese Zusammenführung der Gerichtsin­ stanzen bemüht. Nur nebenbei sei auf Immanuel Kants Kritik daran hingewiesen: „Daß aber

112 

 Guido Naschert

‚Retter‘ (von Ehre, Wahrheit, Unschuld oder rechtem Glauben) die Stimmenvielfalt des innerlichen Gewissenstribunals nun in die Öffentlichkeit trägt: „Meine Schrif­ ten,“ schreibt er, waren „in eigener Sache, Kläger, Protocollirer, Zeugen, Richter, Verdammer und Referirer.“67 Brecklings ‚Rettungen‘ funktionieren also nicht mehr nach dem herkömmlichen Modell der Apologie und seinem Schwerpunkt auf der Verteidigung. Das Schreiben im Spannungsfeld von innerlichem Gewissenstribu­ nal und öffentlicher Kritik generiert darüber hinaus ein gegenüber der Gerichts­ rhetorik verändertes Autorschaftskonzept, welches sich durch einen Rollenplu­ ralismus auszeichnet. Mit dieser Rollenvielfalt trat Breckling immer wieder als Schutzschriftsteller unschuldig Verfolgter Gesinnungsfreunde und Autoren auf. Bei der Auswahl der zu Schützenden ließ er sich von einer radikalen Umwertung geltender Werte leiten: Nicht die vermeintlichen Rechtgläubigen, sondern die ihres Glaubens wegen Verfolgten sind ihm die besten Wahrheitszeugen.68 Dabei ist auch ein besonderes Verständnis von ‚Unpartheylichkeit‘ leitend, das man jedoch nicht mit Indifferentismus verwechseln, wie wir später noch genauer sehen werden. In einem Brief an den Augsburger Geistlichen Gottlieb Spizel (1639–1691) aus Amsterdam vom 1. August 1688 schreibt er: Ich hoffe Gott soll auch erwecken, die für der warheit aufftreten und die unschuldig verfol­ gete retten nach prov. 24 v. II. dazu Ich meine Augensalbe, Biblia Rediviva und nun zuletzt meinen Anticalovium herausgegeben. wie der S. Erasmus und Joh. Val. Andreas dem fal­ schen Pabstumb und Pseudolutheranis einen grossen stoß gegeben, so hoffe [ich] auch daß Gott lieben Br[uders] treffliche gaben dazu heiligen und gebrauchen solle, daß die Testes veritatis ans liecht gestellet und die falsch gelehrten weiter Confundiret werden.69

der durch sein Gewissen Angeklagte mit dem Richter als eine und diesselbe Person vorgestellt werde, ist eine ungereimte Vorstellungsart von einem Gerichtshofe; denn da würde ja der Anklä­ ger jederzeit verlieren.“ Ders.: Die Metaphysik der Sitten. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 91991 (Werkausgabe VIII), S. 573 (Tugendlehre § 13). 67  Breckling: Veritatis triumphus (Anm. 3), Bl. B 12a. 68  „Die von der Welt für Ketzer und Verführer gehalten werden/ die sind oft die besten Creutz­ diener Christi […]. Wer nun darauff von denen unter den Evangelischen bißher verketzerten und verfolgeten Zeugen Gottes einen Catalogum testium Veritatis zusammen samlen und heraußge­ ben wollte/ wie Matthias Flacius in seinem Catalogo testi Veritatis alle unter dem Pabstumb ver­ ketzerte und verfolgete zusammen gesuchet/ der würde eine nützeliche Arbeit thun; aber dazu gehören recht Göttliche und geistliche Augen/ die rechte Zeugen der Warheit zu erkennen; denn diejenige die von der Welt mit ihren Büchern verketzert/ verlästert/ und verfolget werden/ wie im Pabstumb/ die sind offt die ersten und besten Zeugen der Warheit nach Gottes Wort/ welches nicht liegen noch irren kann. Luc. 6. Joh. 15.“ (Breckling: Religio libera [Anm. 21]) 69  Brief Friedrich Brecklings an Gottlieb Spizel, Amsterdam, 1. August 1688. Standort: Augsburg SStB: 2° Cod. Aug. 407. – Siehe zu Brecklings Spizel-Briefwechsel ausführlich Blaufuß: Beziehun­ gen Friedrich Brecklings nach Süddeutschland (Anm. 6).



„Zur Rettung derer bißher unter dem Nahmen des Vnkrauts ...“ 

 113

Die Stelle belegt, das viele Schriften, die nicht eigentlich als ‚Rettungen‘ betitelt sind, doch von Breckling ausdrücklich als solche verstanden wurden. Bei der Christliche[n] Augen-Salbe von 1687 handelt es sich um eine Schrift, die nicht in Brecklings bei Arnold gedrucktem Publikationsverzeichnis erwähnt wird, deren Autorschaft jedoch neben dem Spizel-Brief auch noch durch die Lebenschronik gesichert ist.70 Der Druck Biblia rediviva, cum suis testibus (Wesel 1687) hingegen scheint verloren. Seinen Inhalt können wir ungefähr aus Löschers Rezension von 1717 erschließen.71 Brecklings Schutzschrift für Jakob Böhme in der Kontroverse mit Abraham Calov ist jüngst eingehender vorgestellt und analysiert worden.72 In allen diesen Fällen wird aus der Breite des Erfahrungszusammenhangs von Ver­ folgung und ‚Rettung‘ geschöpft, wenn ebenso sehr die ‚Unschuld’ gerettet wird wie vor der Nachstellung durch ‚Seelen Mörder‘.73 Die Stelle aus dem Spizel-Brief ist zudem ein Beleg für den engen Zusammenhang von Rettung und ‚Wahrheits­ zeugenschaft‘. Hier handelt es sich um einen kollektiven Zusammenhang, nicht um die Verteidigung von Einzelfällen. In früherer Zeit hatte sich Breckling deswe­ gen auch mit dem Gedanken einer „General-Apologie“ beschäftigt, die alle religi­ ösen Einzelgänger vor der Obrigkeit in Schutz nehmen und rechtfertigen sollte.74 Der wiederkehrende Verweis auf die ‚verfolgende Obrigkeit‘ legt es nahe, die Genese der Textsorte ‚Rettung‘ aus dem Kontext des landesherrlichen Kirchen­ regiments heraus zu entwickeln und in der Bildung von Konsistorien, die seit den 1530er-Jahren in den verschiedenen Reichterritorien erfolgte, den zentralen

70  Vgl. Breckling: Autobiographie (Anm. 17), S. 60. 71  Vgl. Valentin Ernst Löscher: Frid. Brecklingii Biblia Rediviva cum suis Testib. Teutsch. Wesel, 1687. 8° 1 1/2 Bogen. In: Ders.: Unschuldige Nachrichten Von Alten und Neuen Theologi­ schen Sachen […]. Auff das Jahr 1717. Leipzig [1717], S. 420–423. 72  Siehe dazu Steiger: Jakob Böhmes Rettung (Anm. 5). 73  „Weil Jch nun solche bestraffet die des Sel. J. Böhmens Nahmen und Schrifften zur newen Abgötterey und Secte mißbrauchen: solte ich nicht den Sel. J. Böhm mit dessen Liebhabern/ welche alles in ihm prüfen/ und die Warheit und das gute annehmen/ wieder ihre Verfolger heissen verthätigen/ und von den Seelen Mördern retten/ die ihm auch nach dem Tode tödten wollen […]?“ Friedrich Breckling: Anticalovius […]. Dabey zugleich des sel. J. Böhmen und vieler anderer Zeugen der Wahrheit Vnschuld gerettet und verthädiget wird […]. [Wesel] 1688, Bl. B 2r. 74  „Aber weil wir alle unter einer Verdammnis sein, dazu Gott auch täglich mehr aus Babel zu uns ausführt und stößet, achte ich es nötig, einmütig eine solche Generalapologie mit einmüti­ gem Konsens aller Brüder aufzusetzen, die uns alle an allen Orten schützen und wider der Welt Verleumdung bei der Obrigkeit retten kann. Darauf wir uns einmütig beraten und ein jeder das Seine dazu beitragen muß.“ Brief Friedrich Brecklings an Gottfried zum Berge, Zwolle, 1.10.1663. Standort: SBB, Francke-Nachlass, Signatur: Stab F 7/7: 27. Zit. n. Theodor Wotschke: Der Streit in der lutherischen Gemeinde Cleve in den Jahren 1663 ff. In: Monatshefte für rheinische Kirchen­ geschichte 21 (1927), S. 353–372, hier S. 357 f.

114 

 Guido Naschert

Faktor für ihre Entwicklung zu sehen.75 Die Unschulds- und die Ehrenrettun­ gen scheinen dabei schon früh die Haupttypen zu bilden. Wie sich zeigte, ist er Erfahrungszusammenhang der Verfolgung für die Semantik des Rettens in diesen Texten maßgeblicher als ein spezifisches Bewusstsein für Gattungsregeln. Angeblich ist Brecklings Energie zur Schutzschriftstellerei am Ende seines Lebens erloschen und die eigene Seelenrettung wichtiger geworden. Der Ham­ burger Theologe und Orientalist Johann Christoph Wolf (1683–1739) überliefert, Johann Georg Meuschen (1680–1743) habe ihm versichert, dass Breckling kurz vor seinem Tod alles widerrufen hätte, was er gegen Klotz, Calovius und andere geschrieben habe. Nun habe er sich sogar zum Inhalt der Symbolischen Bücher bekannt. Ein Akt, der selbst für den Den Haager Kirchenrat und ihn, Meuschen, völlig unerwartet gekommen sei.76 Doch zählen derartige Gerüchte zu den subti­ len Formen der Unterdrückung.

4 Neben der öffentlichen Schutzschriftsteller legte Breckling für Publikations­ projekte und zum privaten Gebrauch einen immensen Fundus von Katalogen an, in denen er seine ‚Wahrheitszeugen‘ verzeichnete.77 Dieser vor allem in der Forschungsbibliothek Gotha aufbewahrte Nachlass gibt Breckling geradezu als den Topografen und Archivar der Dissidenz um 1700 zu erkennen. Der bekann­ teste Katalog erschien in Gottfried Arnolds großem Geschichtswerk.78 Doch ist die von Arnold gekürzte Vorstufe noch aufschlussreicher als der gedruckte

75  Vgl. Werner Heun: Konsistorium. In: TRE XIX, S. 483–488; Werner Krumwiede: Kirchenregi­ ment, Landesherrliches. In: Ebd., S. 59–68. 76  „Imo certo & ex indicio Venerandi, magnisqve in Ecclesiam & literas meritis illustris Io. Georg Meuschenii, qvi olim Hagæ Comitum salutaris doctrinæ præconem dextre egit, mihi constat, Brecklingium paulo ante obitum qvi ipsi Hagæ Comitum an. 1711. obtigit, Meuschenio & aliis præ­ sentibus, ea omnia, qvæ in Klotzium, Calovium & alios veritatis testes, acerbius scripserat, revo­ casse, fidemqve suam libris Symbolicis nostratibus penitus adstrictam professum esse.“ Johann Christoph Wolf: Conspectus supellectilis epistolicae literariae. Hamburg 1736, S. 198 f. 77  Siehe zum handschriftlichen Nachlass Brecklings in Halle und Gotha: Cornelia Hopf: Hand­ schriftliche Brecklingiana in der Forschungsbibliothek Gotha. In: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus 33 (2007), S. 48–53; Brigitte Klosterberg: Provenienz und Autorschaft. Die Quellen von, zu und über Friedrich Breckling in Bibliothek und Archiv der Franckeschen Stiftungen. In: Ebd., S. 54–70. 78  Friedrich Breckling: Catalogus testium veritatis post Lutherum continuatus huc usque. In: Arnold: Fortsetzung und Erläuterung (Anm. 53), S. 1089–1108.



„Zur Rettung derer bißher unter dem Nahmen des Vnkrauts ...“ 

 115

Text.79 Auch diese Projekte lassen sich als Akte der Rettung, einer Rettung durch Verzeichnung begreifen, soll doch das kollektive Gedächtnis nicht der offiziellen Geschichtsschreibung der ‚Verfolger‘ überlassen bleiben. So betrachtet muten Brecklings zahlreiche und in ihrer Anlage und Ausführung sehr unterschiedli­ chen Katalogprojekte wie eine sich ins Uferlose ausweitende ‚Generalapologie‘ an. Diese ‚Wahrheitszeugenkataloge‘ sind das Ergebnis einer langjährigen Netz­ werkarbeit.80 Der Gattung nach stehen sie in der Tradition der Märtyrerverzeich­ nisse, die eine wichtige Rolle in der protestantischen Geschichtsschreibung spielte. Spätestens seit Matthias Flacius’ Catalogus testium veritatis (1556)81 und den mehr an Prophezeiungen orientierten Johannes Wolffs (1537–1600) Lectiones memorabiles (1600, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1671)82 ist Wahrheitszeugenschaft bis hin zu Gottfried Arnold83 zum tragenden Moment einer separatistischen

79  Friedrich Breckling: Catalogus Theodidactorum et Testium Veritatis inter nos. Forschungs­ bibliothek Gotha, Chart. A. 306, S. 111–237, hier S. 186. Bei diesem Catalogus handelt es sich um eine solche Vorstufe zum Arnold-Katalog mit einem längeren autobiografischen Bericht Breck­ lings, der in der publizierten Fassung von Arnold stark zusammengestrichen wurde. 80  In einem DFG-Projekt des Forschungszentrums Gotha habe ich dieses Netz anhand eines to­ pografischen Dokuments untersucht: Erschließung, Auswertung und Analyse eines europäischen Netzwerkes des protestantischen Nonkonformismus um 1700 ausgehend von Friedrich Brecklings Catalogus testium veritatis (Laufzeit 2010–2012). Bei dem hiermit gemeinten Catalogus handelt es sich um: Friedrich Breckling: Catalogus testium veritatis, d. i. „Verzeichnis einzelner deutscher Städte und Länder mit Angabe der dort wohnenden Pietisten (ca. 1698 ff.)“. Forschungsbiblio­ thek Gotha, Chart. B 962, Bl. 2r–19v. Die titellose Quelle wurde erstmals von Zaepernick benannt. Vgl. [Gertrud Zaepernick:] Verzeichnis der Handschriftenbestände pietistischer, spiritualisti­ scher und separatistischer Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts in der Landesbibliothek Gotha sowie in anderen Handschriftensammlungen und Archiven in Gotha und Erfurt. [Typoskript, erstellt zwischen 1965–1968], S. 87. – Die Veröffentlichung der Projektergebnisse befindet sich für 2016 in Vorbereitung: Guido Naschert: Friedrich Brecklings ‚Wahrheitszeugen‘. Edition, Lexikon, Netzwerkanalyse. – Zu weiteren Details der Quelle siehe Guido Naschert: Breckling als Netz­ werker des protestantischen Nonkonformismus. In: Klosterberg/Naschert: Friedrich Breckling (Anm. 17), S. 3–17. 81  Siehe z. B. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Flacius Illyricus’ „Catalogus testium veritatis“ als kontroverstheologische Polemik. In Reformer als Ketzer. Heterodoxe Bewegungen von Vorre­ formatoren. Hg. v. Günter Frank u. Friedrich Niewöhner. Unter Mitarbeit von Sebastian Lalla. Stuttgart-Bad Canstatt 2004, S. 263–292. 82  Siehe Sabine Schmolinsky: Im Angesicht der Endzeit? Positionen in den Lectiones memora­ biles des Johannes Wolff (1600). In: Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Weltreligi­ onen. Hg. v. Wolfram Brandes u. Felicitas Schmieder. Berlin, New York 2008, S. 369–417. 83  Siehe Antje Mißfeldt (Hg.): Gottfried Arnold. Radikaler Pietist und Gelehrter. Jubiläumsaus­ gabe von und für Dietrich Blaufuß und Hanspeter Marti. Köln [u. a.] 2011.

116 

 Guido Naschert

Geschichtskonstruktion geworden.84 Es handelt sich um eine an Einzelgängern, Abweichlern und Außenseitern orientierte Gegengeschichte, die auch dem ‚Unkraut‘ Gerechtigkeit widerfahren lässt. War die Wahrnehmung Brecklings lange auf seine Mitarbeit an Arnolds Werk gerichtet, können wir heute die Genese dieser Katalogprojekte erheblich präzi­ sieren. Sie waren ursprünglich natürlich nicht für Arnold gedacht gewesen, wie gelegentlich zu lesen ist, sondern reichen in Brecklings intellektuellen Anfänge zurück. Vermutlich schon in seine Studienzeit, doch fehlen dafür bislang die Belege. Die Aufhellung seiner Universitätsjahre – etwa in Form einer Konstellati­ onsforschung – wäre ein wichtiges biografisches Vorhaben. Die Kataloge gehören in den von Kühlmann als „totale Revision der Kirchengeschichte“ angesproche­ nen Argumentationszusammenhang. Urtyp eines Catalogus testium Veritas ist für Breckling bereits die Bibel.85 1666 begann er in seiner Schrift Synagoga Satanae eine erste Gruppe von Wahrheitszeugen zusammenzustellen, die sich aus teils gemeinsam ausgefochtenen Konflikten mit den Konsistorien herauskristalli­ siert hatte. Zehn Jahre später kündigte er im Anhang zu seiner Flugschrift Compendium Apocalypseos Reseratae einen Zeugenkatalog an.86 In seinem Paulus Redivivus aus dem Jahr 1682 nannte Breckling neben Flacius und Wolff weitere Vorläufer seiner Kataloge von Johann Micrælius über Heinrich Ammersbach, Gottlieb Spizel, Joachim Betke und Spener bis zu seinen unmittelbaren Bekann­

84  Siehe Matthias Pohlig: Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lu­ therische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546–1617. Tübingen 2007. 85  „Weil nun die Bibel ein solcher Catalogus testium Veritatis, oder ein solches Buch ist/ darin­ nen aller derer Zeugnissen wieder die Welt/ uns zur Warnung in diesen letzten Zeiten beschrie­ ben sind/ die von Anfang her unter dem Schein des Gottesdienstes von der Kirchen und Volcke Gottes/ und am meisten von dessen Obrigkeiten und Priestern/ als die grössesten Ketzer/ Verfüh­ rer und Auffrührer verfolget/ getödtet und außgerottet sind; und über dem auß GOttes Wort/ und der täglichen Erfahrung offenbahr ist/ daß die Welt/ sampt ihren Secten/ Kirchen/ Obrigkeit und Pristern in diesen letzten grewlichen und allerärgsten Zeiten so Gottloß/ sicher und verkehrt/ als nie zuvor/ geworden; so folget darauß/ daß sie heut die Warheit und Zeugen GOttes am allerwe­ nigsten vertragen/ und am allermeisten für allen vorigen Zeiten verfolgen werden. Darumb ich alle solche von der Welt und unsern Vätern verbannete Ketzer/ Propheten/ Apostel und Martyrer nicht mehr einführen/ noch wieder diese Welt verthätigen darff/ damit es mir nicht eben so wie ihnen in der Welt gehe.“ Breckling: Religio libera (Anm. 21), S. 105. 86  „Darin die rechte / von Gott gelehrte / und zu uns gesandte Schrifftgelehrten / Weisen und Propheten / ein jeder in seinem Grad / nach dem Maaß seiner Gaben gestellet / bey einander / wie Glieder an einem Leibe geordnet / und wieder der Welt verlästerung verthätiget werden; sampt dem rechten Gebrauch und Mißbrauch ihres Nahmens und nachgelassenen Schrifften.“ Vgl. Friedrich Breckling: Compendium Apocalypseos Reseratae. Kurtzer Auszug Auß einem grös­ sern Tractat, oder Außlegung über die Offenbahrung Johannis. O. O. 1678, S. 13.



„Zur Rettung derer bißher unter dem Nahmen des Vnkrauts ...“ 

 117

ten Friedrich Petri und Johannes Picker.87 Nach seinen schweren Konflikten mit den Konsistorien hielt Breckling eine ‚richtige‘ Fortsetzung von Flacius für ein Zeitbedürfnis. Immer wieder unternahm er es, andere dafür zu gewinnen und schrieb das Projekt gewissermaßen öffentlich aus: Wer alle dergleichen Zeugen und zeugnissen zusammen samblen und außgeben will der Welt zum Zeugniß / wie Flacius Wolfius88 Lauterbach89 und andere gethan / der thut ein gut Werck. Ein jeder kann die ihm bekandte verfolgete / und außgestossene an seinen Ohrt offenbahren und hin zuthun.90

Als aber niemand auf seine Aufforderungen reagierte, sah sich der Dissident schließlich selbst genötigt, das Projekt in die Hand zu nehmen. 1683 stellte er in seinem Fridericus Resurgens eine erste Aufstellung von Namen zusammen, die schon in die Richtung des später für Arnold ausgearbeiteten Catalogus weist. Ein­ geleitet wird dieser frühe Versuch mit einem Aufruf an alle Leser, das Projekt mit ihrem Wissen um einzelne Zeugen zu unterstützen. Breckling war sich bewusst, dass eine Person allein dazu nicht imstande war, das Projekt die Kräfte und Mög­ lichkeiten eines Einzelnen übersteigen würde. Parallel zu den Personenkatalogen ging es ihm auch um die Rettung von Büchern bzw. Buchtiteln und Informationen zu marginalisierten und verbotenen Schriften. Diese sammelte er unter dem Titel einer Bibliotheca Bibliotekarum.91 Sich selbst soll er auch als ‚Bibliothekar Gottes‘ bezeichnet haben.92 Dieses hohe Selbstbewusstsein war nicht ganz unbegründet. Seine in der Mitarbeit bei Ams­ terdamer Verlagen gewonnene Literaturkenntnis war immens:

87  Friedrich Breckling: Paulus Redivivus […]. Amsterdam 1682, S. 9 f. 88  Gemeint ist Johannes Wolff, vgl. Anm. 82. 89  Sehr wahrscheinlich Conrad Lautenbach: Catalogus testium veritatis […]. Frankfurt a. M. 1573. 90  Breckling: Paulus Redivivus (Anm. 87), S. 10. 91  Friedrich Breckling: Bibliotheca Bibliotecarum […]. Forschungsbibliothek Gotha, Chart. A 310, S. 325–371. – Johann Moller verzeichnet es in seiner Cimbria literata mit der Titelbeschrei­ bung „Bibliotheca Bibliothecarum, die Summa aller Bücher, was ein ieglicher Mensch, in dieser kurzen übrigen Zeit, zu bedencken, glauben, thun, und lassen, hat“ unter Brecklings „Scripta in­ edita, affecta et promissa“. Johannes Moller: Cimbria literata sive scriptorum ducatus utriusque Slesvicensis et Holsatici historia literaria tripartita. Havniae 1744, T. III, S. 87. Offenbar gehört es in den Zusammenhang eines ebenfalls schon 1678 im Anhang zum Compendium Apocalypseos Reseratae angekündigten, jedoch unausgeführt gebliebenen Publikationsprojekts. 92  Siehe zu dieser Selbstbezeichnung Brecklings Johannes Wallmann: Der Pietismus. Göttin­ gen 2005, S. 47.

118 

 Guido Naschert

Kaum ein anderer Theologe oder Gelehrter des 17. Jahrhunderts sammelte, propagierte und verbreitete so hingebungsvoll wie Breckling die Denkschriften, Manifeste, die Klagen, War­ nungen, Mahnungen, Pamphlete, Visionen, Apologien und geistlichen Appelle der älteren und jüngeren Dissidenten, von denen er viele persönlich kennengelernt hatte oder kennen­ zulernen suchte.93

Grundstock seiner Bibliothek waren der Nachlass Gifftheils und seit 1655 die Bibliothek und der Nachlass Joachim Betkes sowie viele in Amsterdam gesam­ melte Manuskripte und Bücher. Auch in Den Haag, wohin er 1690 umgezogen war, wollte Breckling seine Bibliothek zur Verfügung stellen und etablierte daher mit der Zeit eine inoffizielle Winkelbücherei, von denen mehrere im nonkonfor­ mistischen Milieu Amsterdams existierten.94 Brecklings Diarien und Chroniken belegen eine hohe Frequenz von Besuchern und Nutzern.95 Später ist sein Buch­ bestand in alle Winde zerstreut worden. Einen Teil der niederländischen Bücher hat er dem halleschen Waisenhaus geschenkt,96 ein heikler Besitz, den Francke sogar gelegentlich verschweigen musste.97 Breckling war auf der Suche nach ‚Wahrheitszeugen‘ auch durch die hol­ ländischen „Gefangenen-, Zucht- und Tollhäuser“98 gegangen, um noch die ein­ fachsten Zeugen aufzuspüren. Seine Inklusionsbemühung war also weit über das gesellschaftlich anerkannte Maß hinausgestrebt. Gleichwohl kannte die Rettung von Menschen und Büchern ihre Grenzen. Durch seine Erfahrungen im niederländischen Exil ist Breckling immer wieder mit Personen und Gruppen in

93  Kühlmann: Frühaufklärung und chiliastischer Spiritualismus (Anm. 12), S. 183. 94  Dazu Naschert: Knorr von Rosenroth als ‚Wahrheitszeuge‘ (Anm. 8), S. 146–150. 95  Der Literarhistoriker Gottlieb Stolle war ein solcher Nutzer. Er berichtet davon in seiner Reisebeschreibung. Vgl. Martin Mulsow (Hg.): Gottlieb Stolles Reisejournal, 1703–1704. Edition in Vorbereitung. – Siehe zu Stolles Reise auch Frank Grunert: Selbstaufklärung der Aufklärer. Hollandreisen um 1700. In: Goldenes Zeitalter und Jahrhundert der Aufklärung. Kulturtransfer zwischen den Niederlanden und dem mitteldeutschen Raum im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. v. Erdmut Jost und Holger Zaunstöck in Zusammenarbeit mit Wolfgang Savelsberg. Halle (Saale) 2012, S. 79–93. 96  Vgl. Brigitte Klosterberg: Libri Brecklingici. Bücher aus dem Besitz Friedrich Brecklings in der Bibliothek des Halleschen Waisenhauses. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Bei­ träge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hg. v. Udo Sträter [u. a.]. Tübingen 2005, S. 871–881; Mirjam-Juliane Pohl: Die Bibliothek Friedrich Brecklings. In: Klosterberg/Naschert: Friedrich Breckling (Anm. 17), S. 103–151. 97  Vgl. zu Franckes öffentlichem Schweigen über Brecklings Buchschenkungen nach Halle Bri­ gitte Klosterberg, Mirjam-Juliane Pohl und Ole Fischer: Niederländische Buchbestände in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen. In: Goldenes Zeitalter und Jahrhundert der Aufklärung (Anm. 96), S. 109–127, hier S. 117. 98  Brief Friedrich Breckling an Johann Heinrich May, Den Haag, 3. Oktober 1703. StUB Hamburg, sup. ep. 4° 17,35.



„Zur Rettung derer bißher unter dem Nahmen des Vnkrauts ...“ 

 119

näheren Kontakt gekommen, die er als luthernaher Dissident ablehnte. Seine Überlegungen fasste er in den 1690er-Jahren in einem Ketzerkatalog zusammen, den er Arnold zum Druck übersandte. Als dieser unterblieb und seine Texte von Arnold vielmehr noch gekürzt oder ganz ausgelassen wurden, distanzierte sich Breckling von seinem früheren Weggefährten. In seinem Häretikerverzeichnis99 kommt er nach einer kurzen Einleitung zunächst auf die in seinen Augen wahren Christen (Luther, Böhme, Pufendorf u. a.) zu sprechen, ehe er mit der Aufzählung der neuen Ketzer beginnt. Es folgen einzelne, teils sehr biografisch geprägte Ausführungen zu den Labadisten, Antonietta Bourignon, Johann Rothe, Quirinus Kuhlmann,100 Poiret, Franciscus Mercur van Helmont sowie der Philadelphischen Gesellschaft um Jane Leade in London. Die Kritikpunkte sind sehr unterschiedlich. Van Helmont etwa wird wegen seiner Metempsychose-Lehre als Häretiker verworfen.101 Die Beurteilungen der aufgelisteten Personen besitzen eine noch genauer zu untersuchende Konti­ nuität in Brecklings Denken. Galt in der Anfangszeit das Interesse des Dissiden­ ten scheinbar der grenzenlose Rettung des ‚Unkrauts‘, so wird am Ende seiner Entwicklung dieses ‚Unkraut‘ wieder ‚lutherisch‘ gejähtet. Und insofern mag man Breckling vielleicht vorwerfen, dass er seine ‚modern‘ anmutende Radikalität nicht durchzuhalten vermochte. Wenn man nun fragt, was eigentlich ein brecklingscher „Wahrheitszeuge“ sei, wird man in Zukunft stärker beide Seiten der Inklusions- und Exklusions­ beziehung berücksichtigen müssen. Die individuelle Bedeutung des Begriffs erschließt sich nicht einfach positiv durch Hinweise auf Zeugenschaftsindi­ zien wie Verfolgung, Visionen oder besondere ‚Gottesgaben‘. Damit lässt sich keine Schnittmenge der weit über Tausend von Breckling identifizierten Zeugen umschreiben. Vielmehr gewinnt das Konzept erst durch den Blick auf Brecklings erneute Ausgrenzung von nonkonformen Positionen an Schärfe, erweist jedoch dadurch auch seine Vagheit und Instabilität.102

99  Friedrich Breckling: Catalogus Hæreticorum/Ketzer-Historie dieser Zeiten. Forschungsbib­ liothek Gotha, Chart. A 306, S. 215–237, hier S. 232. 100  Siehe Walther Dietze: Quirinus Kuhlmann. Ketzer und Poet. Berlin 1963, S. 187. 101  Siehe zur Seelenwanderungslehre: Helmut Zander: Geschichte der Seelenwanderung in Europa. Alternative religiöse Traditionen von der Antike bis heute. Darmstadt 1999, S. 257–273 (zu van Helmont); Rosmarie Zeller: Wissenschaft und Chiliasmus. Heterodoxe Strömungen am Hof von Sulzbach. Wissenschaft und Chiliasmus bei Christian Knorr von Rosenroth, Franciscus Mercurius van Helmont und Henry More. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Hartmut Laufhütte, Michael Titzmann. Tübingen, S. 291–307, hier S. 304–306. 102  Vgl. Naschert: Knorr von Rosenroth als ‚Wahrheitszeuge‘ (Anm. 8), S. 152.

120 

 Guido Naschert

5 Der Begriff der ‚Rettung‘ und die Bedeutung des ‚Rettens‘ bei Breckling weist, wie sich zeigte, ein erhebliches Spektrum auf: Es reicht von konkreten Hilfeleis­ tungen, über die Rettung der ‚unschuldig Verfolgten‘ vor den Nachstellungen der Obrigkeit bis zur publizistischen Rettung der eigenen Ehre und Unschuld, die sich nicht zuletzt in den Titeln der Druckschriften zu erkennen gibt. Im Falle Brecklings ist die Semantik des ‚Rettens‘ geradezu omnipräsent und verbindet unterschiedliche Teile seines Werkes und Wirkens. Die Interpretation der Druck­ schriften und Wahrheitszeugenkataloge, die in der von der Forschung bereits akzentuierten Spannung von Kritik und Toleranz stehen, zeigt, dass ‚Rettung‘ hier weniger eine gelehrte Textsorte als vielmehr eine ‚pietistische‘ Praxis ist. Sie ist bei Breckling eng geknüpft an das Wahrheitszeugen-Konzept, was bedeutet, dass die Rettung verbunden ist mit der wertenden Zuschreibung von Zeugen­ schaft. Oftmals kann man sogar von einer Rettung durch Anerkennung als ‚Wahr­ heitszeuge‘ sprechen. Wo Breckling zur Feder greift, schreibt er deswegen keine Apologien im gerichtsrhetorischen Sinne. Wohl hat er sich gelegentlich vor den Konsistorien zu verantworten, schreibt also Verantwortungsschriften, eine Gattung, für die noch keine Geschichte geschrieben worden ist. Statt sich vor den Gegnern zu rechtfer­ tigen, wählt Breckling die Strategie des Angriffs als bester Verteidigung. Dies ist Folge seiner Delegitimierung weltlicher und kirchlicher Gerichtsbarkeit gegen­ über dem göttlichen Gewissenstribunal. In allen ihren Formen hängt die ‚Rettung‘ schließlich eng mit der Konno­ tation ‚großer Gefahr‘ zusammen, aus welcher der zu Rettende befreit werden muss; eine Konnotation, welche der bloßen Verteidigung fehlt. Erst die große Gefahr etwa des drohenden Weltgerichts führt zu der mit apokalyptischer Panik aufgeladenen Rettungsrhetorik. Auch die Rettung des Unschuldigen impliziert wesentlich die Gefahr durch seine Verfolger. Es ist diese semantische Aufladung der ‚Rettung‘, die der Textsorte später noch ihren Bedeutungsraum sichert.

Peter James Yoder

Pietas et Apologia August Hermann Francke’s 1689 Defensions-Schrift and the attack of Pietism Its printing came without his „knowledge or desire“. So attested August Hermann Francke concerning the publication of his Apologia oder Defensions-Schrift an den Kurfürsten von Sachsen.1 Whether or not Francke intended it for a public audi­ ence, the written defense quickly went from a private document submitted to the elector in 1689 to a public witness of the early arguments made by Pietists in defense of their growing movement.2 It also signaled the beginning of Francke’s influence. He would go on from Leipzig to establish his well-known Stiftungen in Halle, where he would propagate Pietist doctrines through a number of networks involving education, missions, and book printing, to name a few. Nevertheless, the aggressive nature of Francke’s Defensions-Schrift established him as an early representative of Pietism, and offers us a fine example of the religious rhetoric and argumentation used in confessional disputes during the seventeenth century. The written apology as it appeared in late antiquity has been said to have lacked a rhetorical uniformity, and time does not appear to have cured the genre of its diversity.3 Nevertheless early modern apologies do tend to include both the defensive and accusatory elements that are characteristic of „forensic apolo­

1  Gustav Kramer: Beiträge zur Geschichte August Hermann Francke’s. Halle 1861, p. 168. The Leipzig Protocol, including Francke’s Apologia, can be found in August Hermann Francke: Streit­ schriften. Ed. by Erhard Peschke (TGP, II/1). Berlin/New York 1981. Kevorkian’s claim that Fran­ cke passed the Apologia around while still in Leipzig should be weighed in light of this statement made by Francke. See Tanya Kevorkian: Baroque Piety: Religion, Society, and Music in Leipzig, 1650–1750. Burlington 2006, p. 157. Peschke also references Francke’s later report about his Apologia in Francke: Streitschriften, p. 5. It would be to our benefit to consider Francke’s remarks concerning the publication of the Apologia in light of Luther’s desire to have his The Ninety-Five Theses read by a select few while avoiding a broader distribution. See Franz Posset: The Real Luther: A Friar at Erfurt and Wittenberg. Saint Louis 2011, p. 16. 2  The author recognizes the ongoing debate over the category „Pietism“. For the sake of brevity, the investigation of Francke and his followers in Leipzig will be understood as one of the clearest early outbreaks of the movement. 3  Bryan C. Hollon writes, „[w]hatever the numerous second-century apologies share in com­ mon, it is certainly not a uniform rhetorical approach“, in: Is the Epistle to Diognetus an apology? A Rhetorical Analysis. In: Journal of Communication and Religion 29 (2006), p. 127–146, here p. 136.

122 

 Peter J. Yoder

gies“ in antiquity.4 To the extent that this is true, the apology of early modernity betrays its name. It often served as a work intended not only to dispute accusa­ tions levied against individuals, groups, or ideas but also as a strategic writing that was to strike at the heels of those who represented the opposition. As the Reformation under Luther was beginning to take hold in surrounding territories, men like Lazarus Spengler in Nürnberg used the genre to both defend the Augus­ tinian friar’s ideas and assault the practices and beliefs of the Catholic Church.5 Thus, there is a sense that early modern apologies fall as much under the cat­ egory of polemics as they do under their own genre. They acted not only as a mirror, reflecting the author’s self-conception, but also as a periscope, redirecting the reader toward the assumed faults and failures of the accuser. These writings, therefore, offer valuable insight into the assumptions and belief systems of the apologists, those they championed, and those they maligned. Without an opportunity to redraft the Apologia before it appeared in print, Francke offers an unadulterated example of the genre as it appeared in the early modern period and a window into the early marks of Pietism. With this in mind, we approach Francke’s work with an interest in those events that culminated in the writing of the Apologia and in the ideas that formed both his defense of Pietism and his attack on the Lutheran leadership in Leipzig. The first section of this work will consider the early mystic, radical, and Pietist influences on Francke. It is fol­ lowed by an introduction into the period of unrest in Leipzig (Leipziger Unruhe) connected to Francke’s ministry. The final section will examine the two main attacks Francke laced into his personal defense of his theology and ministry. It will begin by taking up the Pietist’s claims to a specific knowledge of and obedi­ ence to God’s will, which he used to build an assault against the spiritual state of the theological faculty in Leipzig. Then we will consider how Francke employed his notion of piety to attack his accusers and the lifestyles they promoted. In both of these accusations we will see how Francke articulated the Reformation and Luther’s teachings in a manner that allowed him to critique the Leipzig clergy’s ministry. By approaching the Defensions-Schrift in this way, we will gain insight into the shape of Francke’s early Pietism and be provided a useful example of how writers used early modern apologies as weapons of attack.

4  Frances Young: Greek Apologists of the Second Century. In: Apologetics in the Roman Empire: Pagans, Jews, and Christians. Ed. by Mark Edwards, Martin Goodman and Simon Price. Oxford 1999, p. 90. Quoted in Hollon: Is the Epistle to Diognetus an apology? (Note 3), p. 136. 5  Ronald Rittgers discusses Spengler’s Apology for Luther’s Teachings in: The Reformation of the Keys: Confession, Conscience, and Authority in Sixteenth-Century Germany. Cambridge 2004, p. 58 ff.



Pietas et Apologia 

 123

1 Precipitating Events (Francke’s Mysticism, Radicalism, and Pietism) Born 1663 in Lübeck to Johannes Francke and Anna Gloxin, August Hermann moved with his family as a child to Gotha. Like the surrounding German terri­ tories, the Thirty Years War ravaged the region that included Gotha, and during the decades following the Peace of Westphalia many took the devastation left in the wake of the war to be a direct consequence of God’s judgment on the land. Disposed to this belief, Duke Ernst the Pious responded by instituting a religious program in Gotha and the surrounding region with the hope that it would result in a heightened concern for the Christian life.6 The lingering effects of the duke’s program, with its emphasis on catechizing and education, certainly played a role in the young Francke’s life, and it is likely that the two matriarchal figures in his house, his mother and sister, planted the spiritual seeds of what would later develop into Francke’s form of piety. While August Hermann was still a child, Johannes Francke died, leaving his son to the guidance of the two women. They, in turn, introduced Francke to a selection of seventeenth-century devotional works. His older sister Anna, for example, often read to her brother from Johann Arndt’s writings.7 These early experiences likely gave Francke a proclivity towards the reforming ideas circulating in the Lutheran church. Yet as Francke left Gotha as a teenager and began a life in academia, there were four vital periods involving mysticism, radicalism, and Pietism that shaped the character of his religious thought and led to his conflict with the theological faculty in Leipzig. Girded financially by a scholarship from the Schabbel Foundation, Francke traveled a path of learning that eventually led him to the University of Leipzig, where after a successful disputation in 1685, he received the title of magister.8 It was in Leipzig where he and his friend Paul Anton, who would later serve prominently with Francke in Halle, began leading a seminar on biblical exegesis

6  Mary Noll Venables: Pietist fruits from orthodox seeds: the case of Ernst the Pious of SaxeGotha-Altenburg. In: Confessionalism and Pietism, Religious Reform in Early Modern Europe. Ed. by Fred van Lieburg. Mainz 2006, p. 91–109. 7  Gustav Kramer: August Hermann Francke. Ein Lebensbild. 2 vols. Halle 1880–1882, vol. 1 (1880), p. 7. See also Martin Brecht (Hg.): Geschichte des Pietismus. Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Göttingen 1993, p. 440. 8  Kramer: Beiträge zur Geschichte August Hermann Francke’s (note 1 ), p. 60; Markus Matthais (Hg.): Lebensläufe August Hermann Franckes. Leipzig 1999, p. 15. Although it is often the case that the academic titles „magister“ and „master“ are used interchangeably, there are clear dif­ ferences in the training and preparation required for these two types of academic accomplish­ ments, and therefore the traditional German title of „magister“ will be maintained throughout.

124 

 Peter J. Yoder

called Collegium philobiblicum, which was initially made up of eight magisters.9 As was customary during these seminar meetings, Francke would explicate a section of the Old Testament, and then the group would turn to a New Testa­ ment text, which Anton would explain.10 Both magisters, along with their peers, specifically focused on a scholarly examination of the Hebrew and Greek texts, seeking to refine their understanding of the languages. It was common at this time that universities would allow for such academic meetings. These seminars provided small incomes for young magisters and needed courses for professors overwhelmed with their responsibilities. More importantly, for a young scholar like Francke, it allowed him to remain in academia. In 1687 while still holding seminars at the university on Leipzig, Francke was drawn to the ideas of Miguel de Molinos (1628–1696).11 His newfound interest in the Spanish mystic coincided with an on-campus disputation at the university concerning the dangers of Quietist theology. It was during these discussions that Francke decided to translate into Latin, and have printed, the mystic’s Guida spirituale and Della communione cottidiana.12 In doing so, Francke drew himself into the debate and caused alarm among some as to his theological leanings. In his defense, Francke claimed he provided the translation to aid the academic debate. Those involved in the discussion over Molinos’ theology did not have a complete version of the mystic’s work at their disposal, and Francke believed „many wished“ to read the Catholic priest for themselves.13 What lies behind these circumstances is the question as to whether Francke offered this translation out of the hope that parts of Molinos’ Quietist message would affect students and theologians in a similar way to how it had affected him. Molinos’ ideas concern­ ing faith, contemplation, and the problematic nature of scholarly approaches to the Christian life (that is, „head“ versus „heart“ knowledge) held some sway in

9  Kramer: August Hermann Francke (note 7), p. 19. 10  Kramer: Beiträge zur Geschichte August Hermann Francke’s (note 1), p. 60. 11  Robert P. Baird: Miguel de Molinos: Life and Controversy. In: Miguel de Molinos: The spiritual guide. Ed. by idem. Mahwah 2011, p. 1–15. For an early study on Francke and Molinos see Herbert Stahl: August Hermann Francke. Der Einfluss Luthers und Molinos’ auf Ihn. Stuttgart 1939. 12  Brecht: Geschichte des Pietismus 1 (note 7), p. 442 f. 13  Matthias: Lebensläufe August Hermann Franckes (note 8), p. 18 f.



Pietas et Apologia 

 125

Francke’s early theology.14 His thought nevertheless found his way into Francke’s theological system indirectly. At certain points Molinos affirmed particular teach­ ings of Johannes Arndt, and as a result, Francke was able to dismiss all of those questionable doctrines held by Molinos while at the same time incorporating ideas that reinforced mystical themes already present in Arndtian Lutheranism. The small controversy caused by his translation does not appear to have had any immediate consequences, and in the autumn of 1687 Francke found himself again in possession of a scholarship from the Schabbel Foundation, which allowed him to take up an undistracted study of biblical exegesis. With the new source of funding, Francke departed Leipzig only to be confronted with the religious expe­ rience that would shape his theology for the rest of his life. Superintendent Kaspar Hermann Sandhagen in Lüneburg offered Francke the opportunity to continue studies in Hebrew under his supervision, so in late September Francke traveled north „with great joyfulness“. He claims, „I hoped through such a path to gain a more full assurance of that which was my main aim, namely to become an upright Christian“.15 Whatever we might speculate con­ cerning the nature of Francke’s Christian faith before his trip to Lüneburg, it is clear from the magister’s subsequent accounts that he saw himself at that time as a student trapped in the enticements of academia; enticements that had drawn him away from a „true“ faith in Christ. The outward forms of Christianity Francke used to further his worldly faith and false spiritual comfort would all be upended shortly after his arrival. Almost immediately upon entering the town, the young magister was asked to preach at St. Johanniskirche, and he took the task to heart, desiring to „edify the listeners“.16 As he began to devote himself to the biblical text of his sermon (John 20:31), he abruptly came to the realization that the very faith he would be exhorting his audience to possess, he himself lacked. „I arose from meditating on the sermon, and found that it had much to do with me. For in the depths of my heart I came to see that I probably didn‘t possess true faith“.17 This realization struck at the very core of Francke’s psyche. It brought with it an intense period of spiritual struggle (Anfechtung) concerning his sin and the onset of what Francke claimed to be an atheistic disposition toward God and divine revelation.18 He could no longer confidently claim that the God of the Bible was

14  Erhard Peschke: Bekehrung und Reform. Ansatz und Wurzeln der Theologie August Her­ mann Franckes. Bielefeld 1977, p. 30–40. 15  Matthias: Lebensläufe August Hermann Franckes (note 8), p. 25. 16  Ibid. 17  Ibid., p. 26. 18  Francke’s reference to atheism should be seen as an expression of what was often termed by theologians at the end of the seventeenth century as „practical atheism“. See Peter James

126 

 Peter J. Yoder

any more valid than the deities extolled by Judaism or Islam.19 The unbearable weight of Francke’s inner dilemma brought him to his knees in prayer. He went on to write, „[t]hen [God] suddenly heard my prayers. Just as one flips a hand, so were all of my worries cast away. I was assured in my heart by the grace of God in Christ Jesus; I could call God not only ‚God‘ but also ‚my Father‘; all the sadness and unrest of my heart was at once taken away, and I was suddenly overwhelmed as if with a stream of joy so that out of complete confidence I praised and wor­ shipped God“.20 This dramatic conversion experience instantly became the center of Francke’s religious thought. His ministry would move forward from this point and yet always be reflexive on the event. What Francke underwent in that Lüne­ burg room determined how he would articulate the nature of the Christian faith, both in its corporate and individualistic expressions.21 From Lüneburg Francke headed down the Elbe River to Hamburg in early 1688, where he was to continue his studies under Esdras Edzard and Eberhard Anckelmann, while tutoring Johann Winckler’s children. Winckler was a friend of Philipp Jakob Spener and the senior pastor at the highly attended Michae­ liskirche.22 While Hamburg was important in the development of Francke’s inter­ est in educating children, it also provided him the opportunity to befriend radical Pietists in the area. He attended Eberhard Zeller’s conventicle and became close with Nikolaus Lange, both of whom the Hamburg ministerium banned from the Lord’s Supper for their radical beliefs.23 It was during his time in Hamburg that Francke likely indulged in notions perfectionism, adopting beliefs that reborn Christians could completely obey the law of God. Depending on the nature of Molinos’ influence on Francke, the magister’s perfectionism in Hamburg would likely have had a greater affinity to the passivism of the Quietists than the syner­ gism of John Wesley’s doctrine of sanctification, which would gain a foothold in England and America several decades later. Though we have yet to find extant writings by Francke to substantiate this early radicalism in his theological journey, there is much to be said for the nature

Yoder: Blood, Spit, and Tears: August Hermann Francke’s Theology of the Sacraments. Disser­ tation 2011, p. 81–90. 19  Matthias: Lebensläufe August Hermann Franckes (note 8), p. 26. 20  Ibid., p. 29. 21  This is confirmed in Erhard Peschke: Die Theologie August Hermann Franckes. In: August Hermann Francke: Wort und Tat, Ansprachen und Vorträge zur dreihundertsten Wiederkehr sei­ nes Geburtstages. Ed. by Dietrich Jungklaus. Berlin 1966, p. 42. 22  Claudia Tietz: Johann Winckler (1642–1705). Anfänge eines lutherischen Pietisten. Göttin­ gen 2008. 23  Kramer: August Hermann Francke (note 7), p. 40.



Pietas et Apologia 

 127

of the accusations brought against him and the admonitions he later received from Spener.24 After Hamburg, polemicists returned over and over again to accounts of Francke’s interaction with Edzard and Anckelmann. Secondhand testimonies claimed that the young magister had discussed perfectionism with Anckelmann and that Edzard had at one point believed his pupil to be possessed by the devil.25 These allegations would continue to haunt Francke well into his ministry in Halle. Even Spener felt it necessary to write Francke in 1693, encour­ aging him to clarify his theological position on perfectionism.26 Yet the magis­ ter’s theology during this period should not be reduced to singular controversial doctrine. Prominent themes in Francke’s articulation of conversion – a powerful Bußkampf and sadness over sin and a perceived breakthrough combined with joy – were apparent in his Lüneburg experience, as evidenced in both his Lebenslauf and his later Lebensnachrichten.27 Hamburg became a phase in Francke’s theological development where he began to openly articulate the social and reli­ gious implications of his budding theology of conversion. The final period that defined Francke’s early thought actually occurred shortly after Francke returned to Leipzig. Having been in the city for only eight days, Francke traveled to Dresden, where he spent two months with a former acquaintance, Philipp Jakob Spener. By this time, Spener had already fashioned himself as a dedicated reform-minded Lutheran, and his Pia Desideria (1675) established him as a father of a budding Pietist movement. Enjoying Spener’s fellowship and coming under his instruction, Francke began what would become a very intimate relationship with his „spiritual father“. In many ways, Spener acted as a well-trusted counselor to the young magister, something displayed in their lengthy correspondence that would continue until Spener’s death. Upon Francke’s return to Leipzig, he immediately evidenced Spener’s influence. In 1687, Spener had visited Francke’s seminar on biblical languages and criticized the scholarly approach the magisters took in their studies, believing it would be better if the Old Testament portion were limited.28 When Francke returned

24  Veronika Albrecht-Birkner und Udo Sträter: Die radikale Phase des frühen August Hermann Francke. In: Der radikale Pietismus: Perspektiven der Forschung. Ed. by Wolfgang Breul, Marcus Meier and Lothar Vogel. Göttingen 2010, p. 57–84. 25  Kramer: Beiträge zur Geschichte August Hermann Francke’s (note 1), p. 114. 26  Albrecht-Birkner/Sträter: Die radikale Phase des frühen August Hermann Francke (note 24), p. 61 f. Philipp Jakob Spener: Briefwechsel mit August Hermann Francke. 1689–1704. Ed. by Johannes Wallmann and Udo Sträter with Veronika Albrecht-Birkner. Tübingen 2006, p. 293. 27  Kramer: Beiträge zur Geschichte August Hermann Francke’s (note 1), p. 61. 28  Susanne Schuster: Johann Benedikt Carpzov und August Hermann Francke. „Orthodoxe“ und „pietistische“ Grenzziehungen im Zusammenhang der „Leipziger Unruhen“. In: Erudi­

128 

 Peter J. Yoder

from visiting Spener in Dresden in 1689 and took up seminars afresh in Leipzig, there was a noticeable change in the direction and disposition of his meetings. They focused solely on New Testament epistles and intentionally moved from an investigation of the text to its application. The lasting importance of this shift in Francke’s theology can be seen, among other places, in his continued habit of leading conventicles on the same Scriptural texts from which he taught in Leipzig (2 Corinthians, Ephesians, Philippians, and Titus).29 These books would form a trusted corpus to which he turned as he later ministered in places like Erfurt and Gotha. Thus it was most likely during Francke’s two-month stay with Spener that the importance of being attentive to the pastoral letters of the New Testament and the usefulness house visitations were impressed upon him.30 Yet Francke’s time with Spener should be understood as part of a body of early experiences that shaped his life Along with Francke’s Dresden visit, his translation of Molinos, his conversion experience, and his time in Hamburg came to form an important series of events that would overflow and result in the Leipzig Unrest of 1689.

2 The Leipzig Unrest of 1689 Francke’s return to Leipzig did not initially bring with it the fireworks that would later spark the flames of worry in the Leipzig leadership. Rumors that he might have participated in radical circles while studying and teaching in Hamburg had not yet reached the ears of the university and city leaders, and the authorities evidenced no initial caution toward the magister’s revived academic activities. Thus Francke took up his former role in the Collegium philobiblicum and in addition began holding morning and evening meetings, which focused on New Testament texts. In a rapid manner, attendance of these gatherings grew to such an extent that he was forced to reserve larger lecture halls normally set aside for faculty members.31 Meetings

tio – Confessio – Pietas. Kontinuität und Wandel in der lutherischen Konfessionskultur am Ende des 17. Jahrhunderts. Das Beispiel Johann Benedikt Carpzovs (1639–1699). Ed. by Stefan Michel and Andres Straßberger. Leipzig 2009, p. 183–202, here p. 185. 29  To this list of New Testament books Francke would add Paul’s epistles to Timothy. 30  Schuster: Johann Benedikt Carpzov und August Hermann Francke (note 28), p. 185 f. 31  Kramer: August Hermann Francke (note 7), p. 43 f. For a detailed study on the Leipzig period of Francke’s ministry see also Hans Leube: Orthodoxie und Pietismus. Gesammelte Studien. Ed. by Dietrich Blaufuß. Bielefeld 1975, p. 153–267; Royko Mori: Begeisterung und Ernüchterung in christlicher Vollkommenheit. Tübingen 2004, p. 15 ff.



Pietas et Apologia 

 129

overflowed with onlookers, and the popularity of these lectures quickly caught the attention of the faculty. The success of Francke’s activity had so changed the conversation in Leipzig about the direction and purpose of theological and biblical seminars that the students appeared at moments dismissive of their responsibil­ ity towards required studies. The faculty would later complain to the authorities, „[w]hen someone brings up the Collegiis philosophicis, logicis, metaphsicis, and so forth, they laugh about it with the belief that they knew it was easier to carry out their studies“.32 A story is told that one student associated with Francke’s meet­ ings burnt his copy of a text on metaphysics.33 Accounts like these emboldened the faculty to act against the growing disruption to their educational system. Whether or not their later investigation of Francke and his followers was stirred solely by a jealousy toward his seminar meetings is left in part to speculation, but the sudden success of Francke’s work was not the only reason for the city leader­ ship’s concern. Francke had also begun holding house meetings, visitations, and sermons in and around the city. A local baker, Martin Meinig, invited Francke to dine at his house. Around the dining table, Meinig found opportunity to inquire of Francke concerning spiritual matters, and in return Francke was provided a private space wherein he could approach pressing themes of the soul.34 Francke’s friends and followers did likewise, using living rooms and student dorms to discuss the characteristics of „true faith“. While house meetings allowed for more intimate con­ versations on matters of piety, they gained a reputation for, and inevitably created a sense of dividedness within, the early-modern community, directly challenging norms surrounding gender roles and the hierarchical structure of the Lutheran church in Leipzig. As such, these gatherings found just as many enemies willing to derogate the practices as allies willing to praise them.35 Rumors and stories began swirling about the nature of these activities, and they gave rise to an unreserved concern about Francke’s theology. Francke’s eventual mouthpiece in London, Anton Wilhelm Böhme, gave a glimpse into this when he later reported that „the Clamours against these private Exercises grew more hot and violent; both the Masters and Members thereof were charged with abundance of Heretical Opinions“.36

32  Kramer: August Hermann Francke (note 7), p. 46. 33  Ibid., p. 47. 34  Kevorkian: Baroque Piety (note 1), p. 156. 35  Ibid. 36  A. W. Boehm: A short Account of Some Persons who have been Instrumental in promoting the most Substantial Points of Religion in some Parts of Germany. In: Pietas Hallensis: Or, An Abstract Of The Marvellous Footsteps Of Divine Providence […] August Hermann Francke. Lon­ don 1707, p. 19. For a study of Böhme’s life, see Arno Sames: Anton Wilhelm Böhme: (1673–1722); Studien zum ökumenischen Denken und Handeln eines halleschen Pietisten. Göttingen 1990.

130 

 Peter J. Yoder

On 4 August 1689, the theological faculty’s attack on Francke and his minis­ try took on a decidedly public character. Johann Benedict Carpzov held a burial sermon for Martin Born, in which he sought to vilify Francke’s budding Pietist movement.37 Born, a theology student, suddenly died at a time when he was pre­ paring to preach for his homiletics exercises. His death might have gone rela­ tively unnoticed had he not served the brazen Carpzov well as an example of what the polemicist considered to be the ignorance of Francke and his followers. It was Born, according to Carpzov, who defied conventional actions by seeking to present his sermon among pious friends during a conventicle meeting instead of before an attentive congregation in the church.38 The theology student’s disposi­ tion, which he exhibited toward the institutional church, revealed the dangerous tendencies being encouraged by Francke’s private meetings. These conventicles were not merely causing students to neglect their studies but they were also stir­ ring up contempt for the ecclesiastical and civil authorities. Thus Carpzov took the liberty granted by the burial sermon to make an open critique of Francke’s theology. Framing his arguments within three points of contention, Carpzov focused on what he believed were the improper teachings these private meetings inculcated concerning Scripture. First, members of these gatherings falsely believed they could ascertain the meaning of a biblical text using merely the words contained therein. This, Carpzov pointed out, neglected the tradition of the church and the historical context of the passage. These overzealous magisters and students also invoked an inappropriate degree of emotionalism in their speech.39 The attractive­ ness of Francke’s own oratory style is well documented, and it would continue to draw in friends and dismay foes throughout his life.40 Lastly, Carpzov pointed out that Francke and his followers elevated a doctrine of morality (doctrina morum) above and against the foundational teachings on faith. At the same time that Francke was conducting seminars and holding private meetings, he also penned a short list of rules for godliness, which he claimed were intended for his own spiritual life but which also found its way to the printing press.41 Carpzov and his

37  Kramer: August Hermann Francke (note 7), p. 48. Johannes Carpzov: Doppelte Verthäidi­ gung Des Eben-Bildes Der Pietisterey. Freyberg 1692, p. 14. 38  Carpzov: Vorrede. In: Ibid., p. 15. 39  Ibid., p. 16. 40  One of the first remembrances Johann Anastasius Freylinghausen had of Francke, his fu­ ture coworker and father-in-law, was of his captivating speech. See Kramer: August Hermann Francke (note 7), p. 73. 41  Ibid., p. 47. For a recent reprint of Francke’s Lebensregeln see August Hermann Francke: Werke in Auswahl. Ed. by Erhard Peschke. Berlin 1969, p. 350–5.



Pietas et Apologia 

 131

colleagues used Francke’s Schriftmäßige Lebensregeln to accuse the magister of propagating a legalism and perfectionism that undermined the symbols of the Lutheran faith. The professor of theology attempted in this final point to show how Francke’s moralism had crept into and infected others through his private conventicles. By the fall of 1689, Francke’s and his followers’ activities caused enough of a distraction to elicit a special investigation by the Leipzig theological faculty into his teachings and practices. Students and townspeople alike were called in and interrogated as to the nature of the activities of these so-called „Pietists“. The shape and content of the faculty’s questioning reveals the underlying theologi­ cal concerns they held and confirms Christian Peter’s thesis that the conflict in Leipzig „announced not only the emergence of a new piety but also the rise of a new theology“.42 For the purposes of this study it is useful to note that the faculty’s interroga­ tion of Francke and his followers focused on three major themes.43 First, Francke’s work was seen as an affront to the authority of the Leipzig ministerium. The con­ venticles and private meetings both directly and indirectly subverted the spiri­ tual hierarchy established within the church, allowing for those who were neither ordained nor trained to undertake the pastoral care of others. In the view of the faculty, as pious churchgoers met around dinner tables and rehashed sermons or considered biblical texts, they ceded their spiritual wellbeing not to their pastor but to men like Francke. Secondly, by including common townspeople in these meetings and leading discussions in German, as opposed to the scholarly Latin, Francke’s conventicle work challenged divisions within the social structures of the city. The inclusive nature of these conventicles was not limited to social status but extended to gender. Women became active participants, and their involve­ ment brought with it the ire of men like Carpzov. According to supporters, the conventicles Francke propagated both in Leipzig and later in Erfurt properly rep­ resented the family of God, but for those claiming Lutheran orthodoxy they repre­ sented a divergence from proper, divinely ordained social structures.44 Lastly, the

42  Christian Peters: „Daraus der Lärm des Pietismi entstanden.“ Die Leipziger Unruhen von 1689/1690 und ihre Deutung durch Spener und die hallischen Pietisten. In: Pietismus und Neu­ zeit 23 (1997), p. 103–130, here p. 104. 43  The complete set of questions asked can be found in Francke: Streitschriften (note 1), p. 14– 18. 44  Defending against later attacks on Francke’s work in Erfurt, Jena professor Caspar Sagittari­ us included women along with men and children in the group of „true Christians“ who possessed a „spiritual anointing [that] taught them all“, in: Gründlicher Beweiß/ das seine Theologische Lehr-Sätze von dem Rechtmäßigem PIETISMO noch fest stehen […] (1691), C3v. For information

132 

 Peter J. Yoder

faculty questioned Francke’s orthodoxy, an area of concern that stood behind and engulfed the two previous themes. Those activities which were seen as affronts to the social and ecclesiastical structures arose, according to the investigators, from Francke’s heterodox teachings. Men like Carpzov assumed Francke’s spe­ cific form of biblicism and his concern for a „new Reformation“ were in conflict with the Church’s symbols and the historical significance of Luther’s reforming work. The magister was dismissing the dominant interpretive tradition of the church and in its place emphasizing personal responsibility in the study of Scrip­ ture; the individual came before the corporate body, the cart before the horse. To these suspicions of separatist-leaning ideas were added rumors of Francke’s mysticism and perfectionism. The role of Molinos’ Quietism and Francke’s time in Hamburg resurfaced in the questioning, evidencing the continued role Francke’s earlier activities played in later impressions of his ministry. To be sure, the faculty entered into this investigation already convinced that Francke was directly responsible for propagating heterodox beliefs.45

3 The Apologia and Attacks of Francke The faculty’s investigation was nothing less than an attack on the character of the Pietist magister. Beyond the bite of the insinuating questions asked to stu­ dents and townspeople, Francke’s own Defensions-Schrift shows he understood the investigation as such. Francke found it necessary to provide an apology of his activities in order to counter the accusations which he believed were brought against him „without forethought“ and which went against the biblical com­ mandment not to bear false witness.46 Through the help of philosophy professor and interim university rector Adam Rechenberg, a Pietist sympathizer and friend of Spener, Francke was allowed to examine the reports from the faculty’s special investigation.47 Following the faculty’s line of questioning closely, the young magister constructed a defense of his theology and practice and addressed it to

on Sagittarius see Johannes Wallmann: Der Pietismus an der Universität Jena. In: Pietismus und Neuzeit 37 (2011), p. 36–87. 45  For example, they asked participants leading questions like „What was intent toward which his new teachings were actually aimed?“; „How and from what place would he have come to such ideas?“ and „From what you have seen, wherein lie the particularities of Francke’s teachings?“ Francke: Streitschriften (note 1), p. 14–18. 46  Francke: Streitschriften (note 1), p. 83 and 89. 47  Kevorkian: Baroque Piety (note 1), p. 157.



Pietas et Apologia 

 133

the elector. In doing so, he reinvigorated the conflict over his thought and assured it would not remain within the walls of the academy. Yet the content of Francke’s Defensions-Schrift evidences a two-fold purpose. Francke not only employed it to explain his activity in and around Leipzig, but he also used the apology to establish a polemical front against what he believed to be the failings of the theo­ logical faculty. On the surface, the document reveals an organizational schema set out to prove Francke’s innocence of all accusations, but from the outset he adopted a mode of writing that wove into a self-proclaimed defense the threads of an attack. With this cord of arguments Francke hoped to build simultaneously a safety net for his ministry and a symbolic noose to hang the questionable faith and assumed orthodoxy of his attackers. The Apologia addresses three major arguments made against him by the faculty: the first concerning Francke’s orthodoxy, the second concerning his various seminars and private meetings, and the third concerning the disruption caused by his activities. He approached each of these accusations with a detailed defense, at times taking great pains to lay out the faults of their assumptions and the reasons for his actions. At moments these explanations run on to excess, so for the sake of clarity, we will concern ourselves with the two underlying argu­ ments that appear throughout his Defensions-Schrift. To prove that his opponents were disingenuous in their allegations and to attack the merits of their faith and ministry, Francke argued 1. that he had obediently carried out God’s will in accor­ dance with the testimony of his good conscience, and 2. that the outworking of his ministry was a piety not found elsewhere in the city. His opponents, on the other hand, had failed in both respects and thus proved themselves unfaithful to God and the Lutheran tradition.

3.1 Francke’s first attack: the will of God In light of what Francke called „procedures unfit of honor“ surrounding the initial investigation, he felt it necessary to defend against the attacks on his own char­ acter and more importantly the actions that „painfully suppressed God’s glory and His truth“.48 Hiding behind this seemingly noble claim was Francke’s belief that he „wholeheartedly did the will of God“ in seeking a spiritual awakening in the lives of students and local citizens.49 This presumption provided Francke with a personal, inner confirmation which compelled him forward in his minis­

48  Francke: Streitschriften (note 1), p. 83. 49  Ibid., p. 91.

134 

 Peter J. Yoder

try. Yet at the very moment that he claimed to have acted upon – and presumably known – the will of God, he indirectly attacked the spiritual state of the theologi­ cal faculty. Under Francke’s developing theological system, individuals were to follow certain spiritual steps if they were to know and please God; steps that Francke claimed to have undergone in Lüneburg.50 If the faculty misunderstood and misrepresented Francke’s ministry, as the magister believed, they revealed their own spiritual missteps and lack of understanding. Thus their attacks on him arose not from an earnest zeal to please God but from a desire to further a spiritual façade built upon the foundation of what Francke labeled later in his ministry an „historical faith“.51 By claiming God’s will in calling into question the faculty’s claims, Francke beckoned his audience to wonder, did these Leipzig theologians possess „true“ faith?52 In Francke’s theology, conversion – or the act of rebirth – embodies the initial spiritual step necessary to know and act upon God’s will. Important to this process is that conversion provides individuals with clear and healthy (or „good“) consciences, which allow them to determine how they might act in accordance with God’s desires. As noted above, Francke had gone through his own moments of self-doubt and rebirth in Lüneburg. This spiritual transition compelled him to turn to his conscience as a source of revelation and conviction concerning the divine law and his own eternal state. The conscience, in Francke’s theology, did not force individuals unto righteousness, but believers who sought the inner tes­ timony of this spiritual organ were provided knowledge of whether they acted in accordance with God’s will. A good conscience affirmed the believer’s actions while a bad conscience brought conviction of sin.53 This theological construct carries important weight for us in understanding Francke’s defense from, and attacks on, the Leipzig faculty. Addressing his seminar work, he claimed that he „sensed no unrest in [his] conscience, rather thankfulness to God for His grace that he has granted up until [this] point“.54 The most pressing vindication that Francke could possess with regards to his ministry was the inner testimony of

50  Erhard Peschke believes these steps to some degree structure Francke’s theology in: Studien zur Theologie August Hermann Franckes. 1. Vol. Berlin 1964, p. 59. 51  „Historical“ or „delusional“ faith is often used by Francke to describe those who place their trust solely on outward Christian confessions. See for example August Hermann Francke: Predig­ ten I. Ed. by Erhard Peschke (TGP, II/9). Berlin 1987, p. 187. 52  Francke’s deep-seated doubt concerning the faith of those who opposed him, whether fa­ culty or clergy, is boldly set forth in his 1698 sermon Von den falschen Propheten. See Francke: Predigten I (note 51), p. 438–84. 53  Yoder: Blood, Spit, and Tears (note 18), p. 93–95. 54  Francke: Streitschriften (note 1), p. 90.

Pietas et Apologia 



 135

a good conscience. It provided him with a personal substantiation and defense that his ministry was in accordance with God’s will. Yet it also armed him with ammunition against his foes. With the confidence of a good conscience and an awakened soul, Francke took to his university work in a decidedly different way. While he adamantly defended himself from accusations of distorting the purpose set out for seminars, in a moment of unexpected self-disclosure at the end of his Defensions-Schrift, Francke openly wished that God would use his mouth to „awaken some souls from the sleep [that came from] the safety of a worldly life“.55 In stating this, he made it clear that his Leipzig ministry was to some degree an effort to convert those „lost“ souls among his audience, whether it was during a seminar or in a private, house meeting. This admission conflicted to some degree with his repeated claim that he did nothing out of the ordinary for someone living according to the call of Scripture and the „overflow“ of God’s blessings.56 Francke claimed the faculty, in contrast, misrepresented his ministry, describing it as a „shameful innovation“, „Quakerism“, „Schwermerey“, or a „new sect“.57 In doing so, they revealed what he believed to be their ignorance of God’s will and the Christian obligation to act in neighborly love; they betrayed their own corrupted spiritual condition. To the degree that they did so and to the degree that Francke stood in a renewed posi­ tion before God, the young magister believed he was able to appraise their work through the inner testimony of his heart in accordance with the Scriptures. They had failed to see the will of God being worked out in his ministry and thus proved that they did not possess or live in accordance with the faculties of reborn Chris­ tians. By defending his ministry in this way, Francke mounted an attack against the sincerity of the faculty’s Christian faith. Moreover Francke framed this first attack on the spiritual state of the faculty within the doctrine of Christian liberty. If I have spoken incorrectly, someone please show me where in the Scriptures the ground is for these distinctions [concerning what can be addressed in seminars] and in what ways I have overstepped the boundaries of an acceptable Christian freedom. But if one desires to add constraints to that which God Himself bestowed to and bid of all Christians, and for which they have been sent, then he clearly places himself above God and His Word.58

55  Ibid., p. 109. 56  Cf. ibid., p. 86. 57  Ibid., p. 99. 58  Ibid., p. 91.

136 

 Peter J. Yoder

As Francke’s ministry unfolded in Leipzig he took hold of every available oppor­ tunity to act upon his „Christian freedom“ to „awaken“ those around him, and the most visible platform at his disposal were his seminars held with university students. They became a place not just for instruction and inculcation but for practice and „application unto piety“.59 When the faculty barred him from con­ tinuing these meetings, he saw it as an affront not only to his own work but to the doctrine of Christian freedom as established in the will of God.60 Thus when the faculty restrained Francke’s influence, they placed themselves above and against not just the magister’s ministry but the very God they claimed to serve. Out of this accusation, Francke assembled an assault on the very core of fac­ ulty’s claim to authority. Since these scholars had not obeyed God’s directive nor properly served the church, they no longer represented a ministerium uphold­ ing the theology of Luther. Instead they resembled the papal „monopoly“ seated in Rome.61 Just as the pope and his clerics had fought against the Wittenberg Reformer’s attempts to bring Christian liberty to what Luther believed to be an enslaved church, so too the Leipzig leadership subverted Francke’s attempts to build up the Lutheran church according to what he believed were the biblical means set out by its founder. In doing so, the ministerium forfeited their claim to Luther’s theological throne. One of the ways they evidenced this was what Francke labeled their „brotherhood“.62 The spiritual priesthood of all believers that Luther held up as a central symbol of the Reformation had become an exclu­ sive assembly consisting of the Leipzig clergy. They were the „learned Doctors“ who watched over the „lowliest laity“.63 They determined what could and could not be taught in the context of the faith, and to Francke’s dismay, they determined who had the authority to conduct spiritual instruction. The ministerium’s restric­ tions on what those outside the „brotherhood“ could do or say had so strangled the growth of godliness in Leipzig, that Francke would have his audience wonder whether this spiritual monopoly, which like the papacy was filled with „blind“ shepherds who „stuck the laity under the pews“, could earnestly follow God’s will and seek their neighbor’s wellbeing.64

59  Ibid., p. 90 and 95. 60  At this point in the Apologia Francke claims to have „wholeheartedly done God’s will“, and thus connects his arguments concerning the will of God with Christian freedom. 61  At several points Francke refers to his accusers as a „monopolium“. See Francke: Streitschrif­ ten (note 1), p. 101. 62  Ibid., p. 87. 63  Ibid. 64  Ibid., p. 101 and 107.



Pietas et Apologia 

 137

While the Leipzig clergy erected and maintained spiritual walls between themselves and those they called „common townspeople“, Francke claimed to stand most properly within the tradition of Luther.65 For, he took up the call to care for the souls of those whom the clergy had neglected. He had abided within the church’s teachings on Christian liberty, which offered him the right as a member of the spiritual priesthood to instruct others. In response to those like Carpzov, who worried about a „new Reformation“ under the Pietists, Francke claims, „I intended nothing other than to readily and sincerely lead my own Christianity for [the sake of] God and man. Included in this is that I also edify the Christians around me at the given opportunities. If that is a reformation, then all Christians should be reformers“.66 The ordination which he lacked, and which allowed the faculty to question his orthodoxy, became to some degree a moot point for Francke. „Must one first have the authority’s permission and hold special ceremonies to ordain and introduce a tutor, who is to privately educate children in Christianity (oftentimes with adults among the group)?“67 If not, then why, wondered the magister, should his instruction require that he be ordained? He was only carrying out the obligations set out in Scripture. Those ordained men who neglected the spiritual care of their congregants, on the other hand, were acting in a way not even found among the „heathens“ who lived by the „law of nature“.68 Even those completely cut off from God knew through the „light of nature“ that they should seek the welfare of those living in their „fatherland“, but Francke’s opponents denied the general biblical command to love one’s neighbor and allowed their parishioners to remain in their sickened spiritual state.69 By conducting themselves in this way, Francke argued that the theological faculty showed that they had rejected the teachings of Luther for the comforts of Catholic doctrines and thus neither knew nor followed God’s will – they lacked the essen­ tial elements of true faith.

65  Ibid., p. 102. Juxtaposing himself to what he claimed were the derogatory names used by the faculty, Francke employed Matthew 12:50 to defend calling a fellow Christian „brother“; see ibid., p. 87. 66  Ibid., p. 103. 67  Ibid., p. 102. Carpzov later reacted against this idea, claiming that if Francke were correct, then everyone should be allowed to teach. Carpzov: Doppelte Verthäidigung (note 37), p. 26. 68  Francke: Streitschriften (note 1), p. 93. 69  Ibid., p. 93 f.

138 

 Peter J. Yoder

3.2 Francke’s second attack: the pious life To this assault on the faculty’s relationship to the will of God, Francke added the cause of piety. Like the foregoing argumentation, Francke’s attack was built upon a personal defense. Reacting to the accusation of being the source of falsity and disorder, he countered that his adversaries should have taken note of his friends and family, „who followed my advice in their studies, just as in the course of their private godliness“ and thus offered witness in the special investigation to his innocence.70 What might seem a benign defense of his own activity was actually the platform for an expansive attack on the faculty’s misdirection and inaction. As Francke described it, he had championed the cause of God while his oppo­ nents had been abettors to a Noahic flood of sins.71 And the prongs of his attack were based upon the witness of godliness. Piety in accordance with Scripture, in Francke’s theological system, was the open proclamation of God’s true disciples. While Francke was able to look at his own followers and see a recognizable change in lifestyles, his purview of those outside of his network of like-minded believers was not nearly as positive. The townspeople and students gathered not to study Scripture or encourage each other in holy living, but to drink, smoke, and engage in unbecoming talk. „They gather by the fifties, the hundreds, or more so that one only sees a reveling in eating, drinking, [card] playing, dancing, pranc­ ing, [and] fighting (the secret sins go unspoken, from which such disorderliness [as these] undisputedly flow)“.72 Francke makes it a point to note that there is a decided difference in „meetings“ (collegia) occurring in Leipzig. Those under his guidance overflowed into a form of piety but those under the city leader­ ship’s watch were a hotbed for sin. It is at this point in the Defensions-Schrift that Francke set forth one of his earliest descriptions of the Christian life. In the midst of being seen as strangers and heretics, the godly are those, who do not go about in a disorderly, wild life (1 Peter 4:4), but rather walk honestly as in the day (Rom 13:13); who look forward to public worship on Sundays and other days. They seek their rest not in sinful and fleshly gatherings, but rather in godly and Christian conversations, in reading and studying the Holy Scriptures. They unite in heart-felt prayer, in praise and thanks of God, [and] they go thereafter refreshed and adroitly to their work. And they practice love toward their neighbors.73

70  Ibid., p. 86. 71  Ibid., p. 95. 72  Ibid., p. 98. 73  Ibid., p. 99.



Pietas et Apologia 

 139

In this way, Francke drew a dividing line between those who participated in „worldly“ meetings and those involved in his gatherings, and his later ministries in Erfurt and Halle would reflect his ongoing desire to implement this form of piety in his local community.74 This description of Christian conduct set out by Francke displayed the under­ lying logic supporting the furthering of his defense and the establishment of his second attack on the theology faculty. His followers evidenced biblical godli­ ness, while those under the direction of the faculty took to worldly pleasures, neglecting the things above. At the root of this divide was the use of Scripture. In Francke’s thought, the fervent study of the Bible inevitably led to godliness. „The students have shown that it is not enough to for one to critically examine the Scriptures, but rather through the reading and study of the Scriptures he must become more pious, like one who wanders in the Sun, and thereby is warmed“.75 Thus he claimed that parishioners should not only know the symbols of the church but also should be able to read (and interpret) the Bible.76 This was in contrast, according to the young magister, with the faculty’s program. They had neglected the diligent study of Scripture for the furthering of their own books. Francke puts the „sincere godliness“ of Johann Benedict Carpzov on display, pointing out that he had halted his seminar on the Old Testament book of Isaiah and instead held one on homiletics.77 This took place under the direction of the same Carpzov, who preached against „many lovers of the divine Word“.78 With the neglect of Scripture came the neglect of godliness, and inherent for Francke in this was the faltering of true faith and real salvation. To give a resounding tone to his attack, Francke again resorted to Luther. As Carpzov had shown, there was a tendency to place their theological works over the study of Scripture. This was in contrast to the Reformer, who „worried whether he should publish his books because he feared people would prefer not to diligently read the Bible“.79 Francke then openly questioned whether Luther’s disposition was still maintained in Leipzig. Carpzov served as a prime example,

74  See the description set out in Francke’s Glauchisches Gedenkbüchlein in Francke: Werke in Auswahl (note 41), p. 74–91. 75  Francke: Streitschriften (note 1), p. 90. 76  Ibid., p. 91. 77  Ibid., p. 83 and 88. 78  Ibid., p. 88. 79  Ibid., p. 88. In the critical notation provided, Peschke refers his readers to Luther’s introduc­ tion to the 1539 printing of the Bible (WA 50, p. 657 ff.).

140 

 Peter J. Yoder

dismissing the complaints of students who desired to study Scripture but found no one to guide them. This tasted to Francke like the „yeast of the pope“.80 It also led Francke to question the unnecessary attacks on his Lebensregeln.81 The small tract that made its way to the public without Francke’s initial knowledge had done nothing more than promote piety. He called the text „blameless“ and „righteous“, and wondered why such zealousness was not applied to root out the shameful books that filled most stores in Leipzig.82 Herein lay the kernel of Francke’s attack: the faculty looked more like the monopolizing papacy than those who belonged within God’s community. This was further demonstrated, according to Francke, in the faculty’s depen­ dency on the sermon. It is here where we find one of his more controversial state­ ments: „Our teaching carries with it [the understanding] that we can never do too much in [our] Christianity, but rather we always inherently have imperfection. How does one then come to believe that a public sermon is enough?“83 If the Word of God was to spread and grow among the people of Leipzig, a desire Carpzov had expressed from the pulpit, it could not happen „without godly and edify­ ing conversation“.84 Francke certainly had conversations that dealt specifically with God’s Word in mind when he made this claim, but he was treading a fine line. It offered his opponents even more ground to question whether he was, by subverting the traditional role of the sermon, straying from traditional Lutheran teachings. In Carpzov’s later rebuttal to Francke’s Apologia, he would claim that the meetings during which sermons were supposedly repeated were nothing less than platforms for subverting the role of the clergy and the importance of the means of grace.85 Nevertheless, it was Francke’s goal to claim piety, which was the outward exhibition of true faith, arose from the individual’s proper applica­ tion of Scripture to the heart. By focusing on their own written works and the sermon, the faculty was ignoring the Christian responsibility to cultivate godli­ ness. Their adherents, indulging in earthly activities, demonstrated the failures of the faculty. The Word was absent from their lives, and their own faith – danger­ ously similar to that found in Rome – could be called into question. Francke’s fol­ lowers, on the other hand, exhibited a life directed by the Scriptures and faithful to Luther’s teachings. Was his ministry a disruption to the church in Leipzig, as

80  Francke: Streitschriften (note 1), p. 88. 81  Ibid., p. 103 f. 82  Ibid., p. 104. 83  Ibid., p. 102. 84  Ibid., p. 107. 85  Carpzov: Doppelte Verthäidigung (note 37), p. 51–59. Carpzov’s accusations can be found in his twelve summary points.



Pietas et Apologia 

 141

his opponents claimed? Francke simply responded that the cross of Christ was a stumbling block to Paul’s opponents (1 Cor 1:23), and by association, the Leipzig faculty clothed themselves in the same spiritual attire of hypocrisy as Paul’s ene­ mies.86 Still my opponents should point out to me where I‘ve acted as a stumbling block. For it’s either false teaching or a bad example, by which others have become worse. But I can be attributed with neither of these, as the Acta [of the investigation] have thoroughly shown […].87

Whether the Leipzig theological faculty knew it or not, the former of their com­ plaints was contingent on the latter. Francke handled himself in what he per­ ceived to be a godly fashion, and in doing so proved his orthodoxy. This signals what some historians see as the subtle transition occurring during this period away from notions of faith voiced in the Reformation.88 The magister’s claim to godliness, though, should be measured by the words coming more than a decade later from his own agent in England: Francke’s con­ venticles grew „hot and violent“.89 There were disturbances in the city that arose from his ministry. Both sides of the debate would eventually agree on this. The investigation, therefore, reveals the lack of understanding the two parties had for their respective adversary’s underlying theological commitments. Francke’s two attacks on the theological faculty pointed to what he saw as a rampant dis­ regard for pious living, while the faculty’s own accusations were directed against Francke’s apathy toward the rule of spiritual authority. For this reason we find the young magister appealing to a greater authority: the will of God. To the right hand of this, Francke seated the rule of Luther. Both of these he confidently claimed to have followed. It is no surprise, then, that Francke used his assumed obedience to both God and the teachings of Luther as a catapult for his attack on the Leipzig clergy. What could bring a greater confirmation of the will of God and the words of Luther than godliness? Throughout his Apologia Francke would have his audi­ ence believe that the theological faculty and its ministry was in want of true piety and therefore had strayed from God and their spiritual forefather. They lacked the signs of true faith and in their place had constructed a second Basilica of St. Peter’s in the market square, to which only they held the keys. Christian liberty

86  Francke: Streitschriften (note 1), p. 105. 87  Ibid., p. 105. 88  James Turner: Without God, Without Creed: The Origins of Unbelief in America. Baltimore 1985, p. 28–34. 89  Boehm: A short Account (note 36), p. 19.

142 

 Peter J. Yoder

and the spiritual priesthood, doctrines Francke emphasized as central to Luther’s theology, were crushed under its foundation. What role Francke’s earlier dabbling in mysticism and radicalism played in this investigation is not altogether clear. Veronika Albrecht-Birkner and Udo Sträter offer substantial insight into how Francke applied the idea of Anfechtung in his early theology, but the concepts connected to spiritual struggle that he would use elsewhere in his writings are absent from his Defensions-Schrift.90 In fact, Francke does not even directly refer anywhere in his apology to what is understood as the core doctrine of his theology, conversion. Yet the attacks he foisted against the faculty clearly indicate that he questioned the state of his accusers’ souls. Their neglect of piety, especially in failing to further a personal application of the Scriptures and to measure the life lived accordingly, gave the impression that these men lacked what Francke would articulate in later writ­ ings and sermons as Bekehrung. Such boldness in confronting the authority of the faculty, as evidenced in the Apologia, could be traced to Francke’s early experi­ ences with the Hamburg radicals, who were banned from the Eucharist for their obstinate conventicle activities. We might also ask what role reforming Lutherans like Theophil Großgebauer played in Francke’s early theology.91 We know that he treasured Großgebauer’s writings in his Halle ministry, but had he already been impressed while in Leipzig by the Rostock pastor’s attack on the spiritual state of the Lutheran clergy as expressed in his Wächterstimme auß dem verwüsteten Zion?92 Francke’s attacks in the Apologia offer insight into his early connection between conversion and spiritual understanding, his application of Christian freedom to the biblical command to love one’s neighbor, and his growing assump­ tion that piety was the true mark of faith in Christ. The text itself provides us with a fine example of how written apologies, often mistaken for benign self-defenses, were used to strike at the heart of the opposition. When the Defensions-Schrift arrived on the elector’s doorstep, it almost assured a further investigation of the unrest in Leipzig. A death in the family prompted Francke to leave the city shortly before he was officially barred the

90  Albrecht-Birkner/Sträter: Die radikale Phase (note 24), p. 59 ff. 91  A. W. Böhme attributed a great deal of importance to Großgebauer in describing early Pietism and Francke’s ministry. See Peter James Yoder: Rendered „Odious“ as Pietists: Anton Wilhelm Böhme’s Conception of Pietism and the Possibilities of Prototype Theory. In: The Pietist Impulse in Christianity. Ed. by Christian T. Collins-Winn et al. Eugene 2011. 92  Theophil Großgebauer: Wächterstimme auß dem verwüsteten Zion. Franckfurt am Mäyn 1661. Considering Francke’s lifelong admiration of Großgebauer’s Wächterstimme, it is our opi­ nion that the Rostock pastor played a much larger role in the development of Francke’s theology than has been previously determined.



Pietas et Apologia 

 143

spring of 1690 from holding meetings in the city and seminars at the university. His departure meant not only the end of his ministry there but also signaled the rapid squelching of Pietism in Leipzig.93 Interestingly, for this to be fully accom­ plished, Carpzov felt it necessary to publish a defense in 1692 regarding the very accusations Francke leveled in his Apologia. Thus the change of scenery in Erfurt and Halle that Francke might have imagined would bring peace and quiet, instead brought further investigations into his theology and ministry. Yet these attacks became a badge of honor as his influence grew beyond the bounds of the German-speaking world.

93  Kramer: August Hermann Francke (note 7), p. 52.

Eric Achermann

Befreiung aus dem Netz der Tradition Lessings Rettung des Hier. Cardanus zwischen Religionsphilosophie und Mikrologie In der langen Liste italienischer Naturphilosophen, denen ein zweifelhafter Ruf beschieden ist, rangiert Girolamo Cardano (1501–1576) ganz weit oben. Seine ver­ werfliche Gesinnung und losen Sitten hatte bereits mancher Zeitgenosse erkannt, und auch die folgenden Generationen ließen von der einmal gefassten Meinung nicht ab. Wieso sollten sie auch? – gab Cardano doch mit seiner Vita propria sogar seinen Fürsprechern mehr als genug Anlass, ihn bestenfalls als Modell einer all­ gemeinen Verderbtheit der menschlichen Natur zu erachten: Alle Menschen sind ihrer Natur nach böse, dumm und unredlich; wenn sie nun aber schon öffentlich schlecht handeln, wie viele mehr von ihnen gibt es dann wohl im privaten Leben, die dem Cardano gleich sind? Wer diesen also aufgrund seiner privaten Schändlichkeiten hasst, dem steht es auch an, die restlichen Menschen zu hassen, falls er denn einmal in deren Inneres hinabsteigen sollte.1

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts stößt die beispiellose Selbstentblößung, die Cardanos Vita auszeichnet, auf eine erstaunliche Resonanz. Die rücksichtslose Aufrichtigkeit des Mailänder Arztes, Philosophen und Naturwissenschaftlers erscheint nun nicht mehr bloß als „psychologische Seltenheit“,2 sondern als eigentliches Signum einer neu entdeckten Form autobiografischen Schreibens,

1  Gabriel Naudé: Vita cardani ac de eodem iudicium (1643). In: Girolamo Cardano: Opera omnia. Hg. v. Charles Spon. Lyon 1663. Bd. I. Repr. hg. v. August Buck. Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, S. i1v: „Omnes enim homines suapte naturâ mali, stulti, improbi sunt, & si palam offendunt, quantò magis inter priuatae familiae septa Cardano similes existunt? Vnde qui eum odit, propter priuatas illas turpitudines, hunc etiam reliquos homines odisse conuenit, si in eorum intima semel descendat.“ – Zu Naudés iudicium und dessen traditionsbildenden Vorstellung eines zwischen Wahnsinn und Genialität zerrissenen Cardano vgl. Constance W. T. Blackwell: The Historiography of Renaissance Philosophy and the Creation of the Myth of the Renaissance Eccentric Genius – Naudé through Brucker to Hegel. In: Girolamo Cardano. Philosoph, Naturforscher, Arzt. Hg. v. Eckhard Kessler. Wiesbaden 1994, S. 339–369, hier S. 343 f. u. 355–358. 2  Johann Gottfried Herder: Briefe das Studium der Theologie betreffend (1781), 4. Theil, 48. Brief. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan. Bd. XI. Berlin 1879, S. 87.

146 

 Eric Achermann

deren Radikalität diejenige eines Rousseau (1712–1778) präludiere.3 Diese Form der Selbstdarstellung ist es denn auch, die in den Augen der ‚Erfahrungsseelenkund­ ler‘ die Eignung autobiografischer Zeugnisse als Dokumente einer Geschichte des menschlichen Geistes sowie einer psychologischen Diagnostik begründet.4 Lessing (1729–1781) nun kennt und schätzt Cardanos De vita propria. Davon zeugt die Rettung des Hier. Cardanus, in welcher er seinen Wunsch bekundet, „daß jeder große Mann mit eben der Aufrichtigkeit schreiben müßte!“;5 fast zwei Jahrzehnte später, im Mai 1772, sollte es gar heißen, „unter allen Büchern auf Erden hätte ihn keines mehr interessiert“.6 Bei dieser doch sehr außeror­ dentlichen Wertschätzung erscheint es einigermaßen verwunderlich, dass sich Lessing in seiner Rettung nicht der Lebensgeschichte Cardanos, die ja mehr als genug Anlass zu Rettungen bietet, sondern vielmehr einem unter den zahlrei­ chen Angriffen annimmt, der zwei Jahrhunderte zuvor von Julius Caesar Scaliger (1484–1558) gegen den Mailänder Naturphilosophen erhoben wurde. Sicherlich, der „Verdacht“ wiegt schwer und lautet auf „Atheisterei“; andererseits stellt – wie sich zeigen wird – der inkriminierte Passus für einen auch nur ansatzweise auf­

3  Johann Gottfried Herder: Über die Seelenwanderung. Erstes Gespräch. In: Ders.: Zerstreute Blätter. Erste Sammlung (1785). In: Sämtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan. Bd. XV. Berlin 1888, S. 248 (stellt Cardano in eine Reihe mit Petrarca, Montaigne, Luther und Rousseau). – Johann Wolfgang Goethe: Zur Farbenlehre [1810]. Materialien zur Geschichte der Farbenlehre. In: Ders.: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe. Bd. XL. Schriften zur Naturwissenschaft II. Hg. v. Max Morris. Stuttgart o.  J., S. 188 (= WA II, 3, S. 218 f.): „die Biographien oder Confessionen beider [i. e. Cardano u. Cellini], wie man sie wohl nennen kann, […]. Erinnern wir uns hiebei noch eines jüngern Zeitgenossen, des Michael Montaigne, der mit einer unschätzbar heitern Wendung seine persönlichen Eigenheiten, so wie die Wunderlichkeiten der Menschen überhaupt, zum Besten gibt; so findet man die Bemerkung vielleicht nicht unbedeutend, daß dasjenige, was bisher nur im Beichtstuhl als Geheimniß dem Priester ängstlich vertraut wurde, nun mit einer Art von kühnem Zutrauen der ganzen Welt vorgelegt ward.“ Zu Wielands Zitierung Cardanos in seiner Auseinandersetzung mit Jean-Jacques Rousseau vgl. den Beitrag von Marco Bunge-Wiechers in diesem Band, S. 201–228. 4  [Carl Friedrich Pockels:] Auszug aus dem Leben H. Cardans. In psychologischer Rücksicht. In: Gnothi sautón oder Magazin zur Erfahrungs-Seelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Bd. VI/2 (1788). Hg. v. Karl Philipp Moritz u. Carl Friedrich Pockels. Nörlingen 1986 (Reprint), S. 76–95 u. 150–176. 5  Gotthold Ephraim Lessing: Rettung des Hier. Cardanus. In: Rettungen. Schriften Dritter Teil (1754). In: Ders.: Werke und Briefe. Bd. 3: Werke 1754–1757. Hg. v. Conrad Wiedermann unter Mit­ wirkung von Wilfried Barner u. Jürgen Stenzel. Frankfurt a. M. 2003, S. 198. 6  Die Stelle ist überliefert bei Richard Daunicht: Lessing im Gespräch. München 1971, S. 323. Vgl. hierzu auch Helmut Göbel: Lessing und Cardano. Ein Beitrag zu Lessings Renaissance-Re­ zeption. In: Aufklärung und Humanismus. Hg. v. Richard Toellner. Heidelberg 1980, S. 167–186, hier S. 167.



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 147

geklärten Leser Mitte des 18. Jahrhunderts keine sonderlich schwere Probe der eigenen Toleranzbereitschaft dar. Im Folgenden soll es darum zu tun sein, die Beziehung zwischen Apologie und Anthropologie zu skizzieren. Sie ist von zen­ traler methodologischer Bedeutung, wenn es um das Verhältnis von Religions­ philosophie und Geschichte geht. Darüber hinaus lässt sich an diesem proble­ matischen Verhältnis zeigen, wie nahe Cardanos Überlegungen zu Religion und Geschichte denjenigen Lessings tatsächlich kommen.

1 Traditionsfäden und ihre Netze Wie es sich für eine Rettung gehört, reagiert der Apologet auf eine vorgängig erhobene Anklage. Er ist bemüht, den Reputationsverlust wiedergutzumachen, der aus dem Übergang von Anklage zu Urteil bereits erwachsen ist oder noch zu erwachsen droht. Mag die Anklage mit noch so polemischem und apodiktischem Verve vorgetragen sein, es gilt sie als eine bloße Meinung zu enttarnen. Die Apo­ logie impliziert so nicht nur die Vorgängigkeit, sondern auch die Gängigkeit einer Meinung – und dass es eben diese Gängigkeit sei, welche die bloße Meinung zum Urteil macht. Wir haben es also mit einer problematischen Beziehung zwischen der Begründetheit einer Meinung und deren Akzeptanz zu tun, genauer noch: Die Rettung verwirft den „consensus multitudinis“7 als Wahrheitskriterium. Konsens wird vielmehr als negative Bezugsgröße erachtet, die der Kritik ihren eigentlichen Gegenstand liefert. Diese hat die historischen Umstände und Gründe freizulegen, die den Irrtum in die Welt gesetzt und dessen Verbreitung zu verantworten haben. Aus dem Verdacht, dass Konsens die Wahrheit vertreibt oder vertreiben könnte, schöpft die aufklärerische Vorurteilskritik ihre Kraft: Denn nur wer zwischen dem feilen Wahn des Kollektivs und der hart erarbeiteten Erkenntnis des Einzelnen zu unterscheiden vermag, der zeichnet sich als denkendes Subjekt aus.

7  In einer dissertatio aus dem Jahre 1751 geht Johann Jacob Breitinger der Frage nach, inwiefern der Mehrheitsmeinung ein Wahrheitswert zukomme; Dissertatione logica vim argvmenti quod a consensv mvltitvdinis duci solet, expendit Jo. Jac. Breitingerus. Zürich 1751. Als Gewährsmann, der die trügerische Kraft der Mehrheitsmeinung demonstriere, führt Breitinger Bayle an (S. 6). Gestützt auf Autoritäten wie Arnauld, LeClerc und Wolff (S. 18) verwirft Breitinger die Mehrheit als Garant von Wahrheit, sei ja auch der ärgste Aberglaube (S. 21) mehrheitsfähig. Breitinger schließt mit zwölf Merksätzen (S. 23 f.), die für Vorurteilskritik, insbesondere die Prüfung von Traditionen, als vorbildlich gelten müssen, so etwa „Assensus ab intellectu pendet, non a volun­ tate.“ [„Beistimmung hängt vom Intellekt, nicht vom Willen ab.“]

148 

 Eric Achermann

Lessings Rettung des Hier. Cardanus kann in mancher Hinsicht als exemplarisch für aufklärerische Vorurteilskritik gelten. Mit aller Entschiedenheit begegnet der Apologet dem wider Cardano erhobenen Vorwurf des Atheismus. Es seien nament­ lich drei Punkte, auf denen diese Anklage „wie bekannt […] gründet“: Cardano soll ein Traktat De mortalitate animorum verfasst haben, sein Jesus-Horoskop sei ketzerisch und schließlich enthalte De subtilitate eine Stelle, die von einer ausge­ sprochenen Indifferenz gegenüber der christlichen Offenbarung zeuge. Als erste Verteidigungsstrategie wählt Lessing eine genetische Analyse der Überlieferungen, die ganz in der Façon eines Pierre Bayle (1647–1706) Faktizität und Widerspruchs­ freiheit angeblicher Quellen prüft. Hatte seit der lateinischen Übersetzung und Drucklegung von Diogenes Laertios’ Βίοι φιλοσόφων die Doxografie im Verbund mit der häufig konfusen Aufzählung biografischer Umstände im Wesentlichen die lexikalische Darstellung einzelner Denker bestimmt,8 so tritt spätestens mit Bayles Dictionnaire historique et critique das Überprüfen an die Seite des Sammelns.9 Der Rekurs auf die Quelle sowie die Zu- und Unfälle der Überlieferungsgeschichte ertei­ len gleichzeitig und etwas pointierter dem Leser eine skeptische Lektion, wie das Renommee einer Person trotz der angeblichen Faktizität textueller Befunde konst­ ruiert und polemisch instrumentalisiert werden kann. Doch bevor wir uns unsererseits der Prüfung dieser Anklagepunkt prüfend zuwenden, gilt es Lessings Auswahl selbst in den Blick zu nehmen. Kenner der einschlägigen Literatur dürften das zitierte „wie bekannt“ mit einem gewissen Erstaunen quittieren, „gründet“ die Anklage auf einem wesentlich umfassen­ deren Repertoire als den angeführten drei Punkten. So wird Cardano bezichtigt, sowohl Ewigkeit der Welt10 als auch ‚creatio spontanaea‘11 behauptet, alle Laster

8  Zu Diogenes Laertios’ kompilatorischem Verfahren vgl. Holger Sonnabend: Geschichte der antiken Biographie. Von Isokrates bis zur Historia Augusta. Stuttgart/Weimar 2002, S. 190–195. Weniger abwertend, dafür auf Diogenes’ Interesse an Anekdoten und Pointen hinweisend Olof Gigon: Das dritte Buch des Diogenes Laertios. In: Diogene Laerzio storico del pensiero antico. Neapel 1986 (Elenchos 7), S. 133–182, hier S. 181 f. 9  Zur Bedeutung von Diogenes Laertios für die frühneuzeitliche Philosophiegeschichte vgl. Luciano Malusa: Renaissance Antecedents to the Historiography of Philosophy. In: Models of the History of Philosophy. Bd. 1: From its Origins in the Renaissance to the ‚Historia philosophica‘. Hg. v. Giovanni Santinello u. a. Dordrecht 1993, S. 3–65, hier v. a. S. 7–9. 10  Marin Mersenne: Qvaestiones celeberrimae in Genesim, cum accvrata textus explicatione. Cap. I, Vers. 1, Obj. XXIV, Art. 1. Paris 1623, Sp. 441–444; François Garasse: La Doctrine cvrieuse des beavx esprits de ce temps, ov pretendvus tels. Paris 1623, S. 438. 11  Théophile Raynaud: Erotemata de malis ac bonis libris, de qve ivsta avt inivsta, § 45. Lyon 1653, S. 27; Parker seinerseits geht auf diesen Vorwurf, wie er sich in den Qvaestiones Mersennes findet, ein, verteidigt jedoch Cardano gegen den Vorwurf der Gottlosigkeit; Samuel Parker: Dis­ putationes de Deo et providentia divina. Oxford 1703, S. 68.



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 149

auf überschüssige Säfte12 sowie gar Teufelsbesessenheit auf schwarze Galle13 zurückgeführt, die Identität von Menschen- und Tierseele verteidigt,14 sich selbst hinwieder des Beistandes eines persönlichen Dämons gerühmt,15 darüber hinaus ein liederliches und nach eigenem Geständnis unfrommes Leben geführt zu haben,16 u. a. m. Nun mag man einwenden, dass all diese Punkte keinen Athe­ ismus im eigentlichen Sinne begründen, doch müssen wir mit Lessing – wie seine Punkte belegen – eine „weitläufigere Auslegung“ des Atheismus-Begriffs annehmen, dessen Bedeutungsumfang durch den jeweiligen Geltungsbereich der Dogmen sowie durch eine erkennbar religiöse Lebensführung bestimmt wird. Hingegen vermögen weder das Eingeständnis, dass ein Gott existiert, noch die andauernde Rede von diesem Gott, den Verdacht auf „Atheisterey“ zu verscheu­ chen.17

12  Mersenne: Qvaestiones celeberrimae in Genesim, Cap. I, Vers. 1, Obj. XIV, Sp. 393 f. 13  Ebd. 14  Garasse: La Doctrine curieuse des beavx esprits de ce temps (Anm. 10), S. 24–26 u. 1014. 15  Äußert sich Naudé in seinem iudicium negativ zu Cardanos gelegentlicher Behauptung (die dieser selbst öfters widerruft), so erkennt er in seiner vielgelesenen Apologie angeblicher Magier darin einen Erklärungsversuch, das Verdienst für die eigene wunderbare Vollkommenheit be­ scheiden nicht sich selbst, sondern einem Dämon zuzusprechen; Gabriele Naudé: Apologie pour tous les grands personnages qui ont été faussement soupçonnés de magie. In: Libertins du XVIIe siècle. Hg. v. Jacques Prévot. Bd. I. Paris 1998, S. 272. Sowohl Cardanos als auch Naudés diesbezü­ glichen Aussagen werden u. a. aufgegriffen von Thomas Bang: Caelum orientis et prisci mundi triade Exercitationum Literariarum repraesentatum. Kopenhagen 1657, S. 60 f.; Antonio Rusca: De inferno et statv daemonvm ante mvndi exitivm, libri qvinqve. IV, 15. Mailand 1621, S. 378. 16  Bayle kritisiert Teissier, der Cardano auf dessen eigene Aussage hin, nicht sehr fromm gewesen zu sein, schlicht mit „impie“ abstraft; Pierre Bayle: [Art.] „Cardan“. In: Dictionnaire historique et critique. Bd. I, Teil 2. Rotterdam 1697, S. 762; Teissier protestiert, indem er sein Urteil mit Verweis auf die von Cardano verwendete Litotes verteidigt; Antoine Teissier: Les Eloges des hommes savans, Tirez de l’Histoire de M. de Thou, avec des additions contenant l’Abbrégé de leur Vie, le Jugement & le Catalogue de leurs Ouvrages. Bd. III. Leiden 1715, S. 105. 17  Vgl. den Artikel Atheisterey in Zedlers Universal-Lexicon: „Es wird dieses Wort in unterschiede­ nem Verstande angenommen, wie aus denen mancherley Beschreibungen, welche Reimmann l. c. [Historia Vniversalis Atheismi, Sect. I, i, 1] § . 7. anführet, erhellet. Nach der weitläufftigern Ausle­ gung begreifft es, alle und iede Lehren unter sich, welche mit dem wahren Begriffe von GOtt, wenn sie gleich nur dessen Wesen betreffen, und gleich nicht dessen Seyn verneinen, nicht übereinstim­ men; Nach dem engern Verstande aber bedeutet es den Irrthum, nach welchem das Seyn eines höchsten Wesens verläugnet wird, oder nach welchem solche Lehren vorgetragen werden, welche zwar den Namen GOttes nennen, in der That aber dessen Daseyn widersprechen. Man muß dieses letztere insonderheit mercken: Ein Atheiste weiß, daß er vielen Widerspruch findet, er saget des­ wegen seine Meynung nicht frey heraus, er führet GOtt immer in Munde, seine Sätze aber bezeugen zur Genüge, daß dieser heilige Name nur seiner Schalckheit Deckel sey.“ (Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste. Bd. 2. Halle/Leipzig 1732, Sp. 2016)

150 

 Eric Achermann

Doch nicht nur die geringe Zahl der eingeräumten Gründe, auch deren Bekanntheitsgrad scheint nicht der Prominenz zu entsprechen, die Lessing unterstellt. Zurecht erkennt er zwar, dass das Gerücht vom verschollenen Traktat auf eine einzig Quelle zurückgehe, nämlich Martín Antonio Del Rios (1551–1608) Disquisitiones magicae; es sind jedoch nur wenige Autoren – sowohl unter den Anhängern als auch den Widersachern Cardanos –, die dem Jesuiten Glauben schenken.18 Nicht nur hatten die Unwahrscheinlichkeit dieser Behauptung bereits Bayle,19 Brucker (1696–1770),20 Budde (1667–1729),21 Nicéron22 und Reimmann (1668–1743),23 ja – wenn auch zaghafter – gar ein Raynaud (1583–1663)24 angezeigt, Lessing führt darüber hinaus Del Rios Standardwerk zur Dämonologie irrtümlich unter dem Titel Disputationes an und verkürzt die Quellenangabe angesichts des beachtlichen Umfangs dieses Werks derart unangemessen,25 dass wohl eher ein

18  Ohne kritische Anmerkung überliefert bei Teissier: Les Eloges des Hommes Savans III (Anm. 16), S. 109. 19  Bayle: „Cardan“ (Anm. 16), S. 762. – Zur Cardano-Rezeption bei Bayle vgl. Eugenio Di Rienzo: L’Aquila e lo scarabeo. Culture e conflitti nella Francia del Rinascimento e del Barocco. Rom 1988, S. 242–244; Lorenzo Bianchi: Beaucoup plus fanatique qu’athée. Cardan dans le ‚Diction­ naire‘ de Bayle. In: Materia actuosa. Antiquité, Âge classique, Lumières. FS für Olivier Bloch. Hg. v. M. Benitez, A. McKenna u. a. Paris 2000, S. 367–380; Göbel: Lessing und Cardano (Anm. 6), S. 171–174. 20  Jacob Brucker: Historia critica philosophiae a tempore resvscittarum in occident litterarum. Bd. IV/2. Leipzig 1744, S. 77. 21  Buddes Theses wurden seit ihrem ersten Erscheinen 1716 mehrfach aufgelegt, im Jahr danach in Dt., 1740 gar ins Frz. übersetzt. Johann Franz Buddeus: Theses theologicae de atheismo et superstitione, Cap. I, § 26. Hier zit. n. der Ausg. Utrecht 1737, S. 92; vgl. ders.: Lehr=Sätze Von der Atheisterey und dem Aberglauben mit gelehrten Anmerckungen erläutert/ und zum Behueff seiner Auditorum in lateinischer Sprache herausgegeben, wegen des daraus zu hoffenden Nutzens aber zu iedermanns Gebrauch ins Teutsche übersetzet […]. Cap. I, § 23. Jena 1717, S. 112. – Zum Cardano-Bild bei Naudé, Bayle, Budde und Brucker vgl. Blackwell: The Historiography of Renaissance Philosophy (Anm. 1), S. 350–365. 22  Jean-Pierre Nicéron: Mémoires pour servir à l’histoire des hommes illustres de la république des lettres avec le catalogue raisonné de leurs ouvrages. Bd. XIV, S. 255; das Werk wurde mit Ergänzungen von Siegmund Jacob Baumgarten in dt. übers. Die Stelle findet sich in ders.: Nach­ richten von den Begebenheiten und Schriften berühmter Gelehrten mit einigen Zusätzen. Bd. 10. Halle 1754, S. 469. 23  Jacob Friedrich Reimmann: Historia vniversalis Atheismi et Atheorvm falso & merito suspectorum apud Jvdaeos, Ethnicos, Christianos, Mvhamedanos, Ordine Chronologico descripta & a suis initiis usque ad nostra tempora deducta. Hildesheim 1725, S. 386. 24  Raynaud: Erotemata de malis ac bonis libris (Anm. 11), § 44, S. 26. Zu Raynauds CardanoRezeption vgl. Di Rienzo: L’Aquila e lo scarabeo (Anm. 19), S. 215 f. 25  Heißt es bei Bayle („Cardan“ [Anm. 16], S. 762) vollständig und korrekt „Disquisit. magicae. t. 1. l. 2. quaest. 26. sect. 2. p. m. 255.“, so gibt Lessing „Disput. Magic. Tom I. Lib. II.“ wieder. Es darf



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 151

flüchtiges Exzerpt – und zwar aus zweiter Hand –, denn die behauptete Kenntnis ‚dieses Spaniers‘ die Grundlage seiner kritischen Bemerkung bilden dürfte. Auch in puncto Horoskop bekundet Lessing, sich „hierbei nicht aufhalten“26 zu wollen. Mit Verweis auf Bruckers Historia critica27 wird die ehedem von Scali­ ger und anderen vehement geführte Attacke pariert, das Horoskop sei unmissver­ ständlicher Ausdruck eines skandalösen Determinismus, das sogar den Erlöser den Gesetzen der Natur unterwerfe.28 Bei Brucker nämlich ist das Blatt zitiert,29 aus welchem hervorgeht, dass Cardano weder das Schicksal des Heilands, noch die zentralen Momente der Offenbarung von der Konstellation abhängig macht, sondern vielmehr den Himmelsstand bei der Geburt Jesu als glanzvollen Aus-

vermutet werden, dass Lessing keine genauere Kenntnis von Del Rios Werk hatte, erscheint die Abqualifizierung dieses Autors als diskussionslos unzuverlässig („Wenn man es noch glauben will, so muss man diesen Spanier nicht kennen“; Lessing: Rettung des Hier. Cardanus (Anm. 3), S. 199) nicht nur aus heutiger Sicht fragwürdig. Zu Del Rios Disquisitiones vgl. Petra Nagel: Die Bedeutung der ‚Disquisitionum magicarum libri sex‘ von Martin Delrio für das Verfahren in He­ xenprozessen. Frankfurt a. M./Berlin 1995, insbes. S. 35–44 sowie auch S. 115–134. 26  Lessing: Rettung des Hier. Cardanus (Anm. 3), S. 199. 27  Brucker: Historia critica philosophiae (Anm. 20) IV/2, S. 75 f. 28  „[C]ymbalum hoc genethliacorum, ita Cardanum apposite vocat, Domini nostri Iesu Christi thema edidisse, et omnia, quae illi acciderunt, ex positu stellarum necessario contigisse, ratiocinatum esse.“ [„Diese Schelle der Sterndeuter“, so nennt er /i. e. Scaliger/Cardano an dieser Stelle, „habe unseres Herrn Jesus Christus Horoskop veröffentlicht und argumentiert, dass alles, was diesem wiederfuhr, sich notwendig aus der Sternenkonstellation ereignet habe.“] Brucker (Historica critica philosophiae [Anm. 20] IV/2, S. 76) zitiert hier eine Stelle aus Scaligers Prolegomena de astrologia veterum graecorum, die seit der dritten Ausgabe den Anfang zu Scaligers Manilius-Ausgabe macht; Marcus Manilius: Astronomicon. Hg. und komm. von Joseph Justus Scaliger. Straßburg 1655, S. a4v. – Näheres zu den Umständen und der geläufigen Kritik an Cardanos Jesus-Horoskop bei Germana Ernst: ‚Veritatis amor dulcissimus‘. Aspects of Cardanos Astrology. In: Secrets of Nature. Astrology and Alchemy in Early Modern Europe. Hg. v. William R. Newman u. Anthony Grafton. Cambridge (MA) 2006, S. 39–68, hier vor allem S. 52 f. Es handelt sich um die engl. Übers. von dies.: ‚Veritatis amor dulcissimus‘. Aspetti dell’astrologia in Cardano. In: Girolamo Cardano, S. 157–184, hier S. 172 f. 29  Das Horoskop findet sich eingefügt in die Opera omnia (Anm. 1) zwischen Passus 54 und 55 der Commentarii in Ptolemaeum, de Astrorum judiciis, II, 9; sei es aus Hast oder Verschlagenheit, die Seitenzahl wird einfach wiederholt, der durch das Jesus-Horoskop unterbrochene Text fort­ gesetzt; das Horoskop findet sich weder im Inhaltsverzeichnis, noch im Register; Cardano: Opera omnia (Anm. 1) V, S. 221 f. – Angaben zur Editionsgeschichte des Horoskops bei Markus Fierz: Gi­ rolamo Cardano (1501–1576). Arzt, Naturphilosoph, Mathematiker, Astronom und Traumdeuter. Basel 1977, S. 28 f. sowie Ernst: ‚Veritatis amor dulcissimus‘ (Anm. 28), engl. S. 40 u. 63 (Anm.) bzw. ital. S. 158.

152 

 Eric Achermann

druck übermenschlicher Vollkommenheit versteht.30 Doch ungeachtet dieser Umkehrung der Kausalabhängigkeit und ungeachtet eines Brucker sowie anderer Apologeten, die aus diesem Argument Cardanos wahre Intention herauszuhören glauben, bleibt die Horoskop-Affäre für die meisten Leser anrüchig. Dies belegt etwa die relative Schärfe des Tons, welcher der rührige, ja bis hin zur Absurdität31 bemühte Cardano-Apologet Johann Friedrich Christ (1701–1756) anschlägt. Les­ sings Leipziger Lehrer, der mit großer Wahrscheinlichkeit auch als Quelle für die Rettung erachtet werden darf, hält am Tadel von Cardanos Fürwitz fest, obwohl auch er dem Determinismusvorwurf mit eben demjenigen Argument begegnet, das Cardano ihm vorlegt: Wegen der nativität Christo durch Cardan gestellet, kan ich ihn nicht durchaus vertheidi­ gen. Die sache ist längst allzu verhast beschrieben, als daß man dagegen leicht zu seinem besten etwas ausrichten würde. Cardan hätte auch diesen fürwitz leicht können bleiben lassen. Allein, ich werde doch nicht irren, wenn ich seiner redlichkeit und religion so viel zutrauend, davor halte: er habe dabey eine gute meynung gehabt, und die schlimmen fol­ gerungen, die man ihm nachmahls daraus gezogen, keineswegs vorher gesehen, sondern geglaubt; der das menschliche geschlecht, nebst dessen fall und erlösung, nach seiner allwissenheit, ehe die welt gebauet war, vorher gesehen, und die menschheit des erlösers bestimmt gehabt: hätte auch wohl was Christo als menschen in der erniedrigung auf dem erdkreiß begegnen sollen, wie es die propheten hernach verkündiget, und die morgenlän­ dische weisen seine geburth aus den sternen gesehen haben, in die ordnung der sternen einschreiben können. worinnen wahrhafftig nichts für die Christliche religion schädliches steckt. Denn das argument, welches Thuan [de Thou], Naude und Bayle, wieder Cardan

30  Brucker: Historia critica philosophiae (Anm. 20)  IV/2, S. 76: „nec tamen me velle credas dicere, quod vel diuinitas in Christo vel miracula eius, vel vitae sanctitas, vel legis promulgatio ab astris pendeant.“ [„Und glaube nicht, dass ich sagen will, dass die Göttlichkeit in Christus, seine Wunder, die Heiligkeit seines Lebens oder die Verkündung des Gesetzes von den Sternen abhingen.“] – Zu Inhalt und Quellen des Horoskops vgl. Anthony Grafton: Cardanos Kosmos. Die Welten und Werke eines Renaissance-Astrologen. Berlin 1999, S. 287–289; Germana Ernst: ‚Veritatis amor dulcissimus‘ (Anm. 28), engl. S. 53–56 bzw. ital. S. 172–177. 31  Der Eindruck von Cardanos Spontaneität und Aufrichtigkeit, der aus seiner Vita entstehen mag, überträgt sich bei Christ ungebrochen auf Cardanos wissenschaftliche Leistung; dies zeitigt mitunter merkwürdige Argumente, so etwa: Cardano habe „seine gedancken aus dem kopf, ohne dabey nachzuschlagen, und geschwind entworffen: hernach aber immer daran gebessert, da er vorher vieles, in meinung es hernach zu ändern, stehen lassen. Weßwegen dann die in seinen wercken vorkommende wiedersprechungen, gar nicht zu verwundern, oder ihm übel auszudeu­ ten seynd. Ich nehme dieses vielmehr als ein zeichen einer edlen aufrichtigkeit an, wann iemand sich nicht so wohl darum bekümmert, was er vorhin gesaget habe, sondern darum vielmehr, was er gegenwärtig bey sich empfinde und glaube.“ (Johann Friedrich Christ: Pro Hieron. Cardano censvra Baelii male habito. In: Ders.: Noctium academicarvm libri sive specimina qvatvor. Halle 1729, S. 60)



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 153

gebrauchen, schliest keines wegs richtig, wie Christus als Herr der sternen sein verhängniß nicht in den sternen hätte haben können.32

Nichts weniger als der freie Wille Gottes und die substanzgleiche Göttlichkeit des Sohnes steht bei dieser Auseinandersetzung auf dem Spiel, und dennoch hält es Lessing wie schon amlässlich der angeblichen Leugnung der Unsterblichkeit der Seele für unnötig, den diesbezüglichen Aussagen in Werken Cardanos nach­ zugehen. Die erste Behauptung diskreditiert sich in seinen Augen offensichtlich selbst als eine bloße, da sie ohne alle Belege weitertradiert wird. Was aber seine Behandlung der Unsterblichkeit der Seele betrifft, so erscheint diese, ungeachtet all des guten Willens zur Rechtgläubigkeit, den wir Cardano einräumen mögen,33 in wesentlichen Punkten unorthodox – ein Punkt, den Lessing geflissentlich übergeht. Der Grund, sich bei diesen Punkten nicht länger aufzuhalten, dürfte zum einen darin liegen, dass so bekannte Autoren wie Naudé, Bayle und Brucker bereits deutlich gemacht haben, wieso derlei Indizien Cardanos Atheismus nicht zu belegen vermögen. Lessing verlässt ganz dezidiert die ausgetretenen Argumentationspfade und vermeidet so die bekanntesten Topoi von Cardanos skandalösen Leben und Meinungen, deren beider Erörterung schon lange zum festen Bestand libertiner Apologetik gehört. An ihre Stelle treten zum anderen ein Interesse und eine Methode, die für Lessing zeitlebens charakteristisch bleiben werden: die philologische Quellenkunde. Ganz wie in seinen späteren wesentlich bekannteren bibliothekarischen Entdeckungen aus der Wolfenbütteler Periode steht im Zentrum von Lessings Rettungen das Verhältnis von ursprünglicher,

32  Christ: Pro Hieron. Cardano (Anm. 31), S. 50 f. 33  Ian Macleans (Cardano and his publishers 1534–1663. In: Girolamo Cardano [Anm. 1], S. 309– 336, hier S. 323) Behauptung, „[t]here seems to be little reason to doubt the sincerity and veracity of these claims [i. e. Cardanos Bekenntnis, nie von der Orthodoxie abgewichen zu sein]“ kann wohl kaum zugestimmt werden; so lassen sich zahlreiche Provokationen, die Garasse Cardano vorrechnet, tatsächlich bei Cardano finden, und sie betreffen keine Nebensächlichkeiten: Er be­ zeichnet die Lebensführung der Epikuräer als tugendhafter als die der Stoiker und Platoniker, weil Menschen die Schlechtes vertreten, sich umso genauer aufführen (Garasse: La Doctrine cvri­ euse des beavx esprits [Anm. 10], S. 880–884; Girolamo Cardano: De animorvm immortalitate. Lyon 1545, S. 33 f., bzw. Opera omnia [Anm. 1] II, S. 465a f.); er lehrt, dass zwischen drei Klassen beseelter Lebewesen (Tiere, Menschen, Propheten) einzig der seelische Durchdringungsgrad des Körpers den Unterschied ausmache, wobei der psychisch vollständig durchdrungene Körper der Propheten die Spitze darstelle (Garasse: La Doctrine cvrieuse des beavx esprits [Anm. 10], S. 24 f.; Cardano: De animorvm immortalitate, S. 297 f., bzw. Opera omnia II, S. 533b); schließlich führt er kommentarlos mit Verweis auf Aristoteles einen äußerst merkwürdigen Beweis der Ewigkeit der Welt an (Garasse: La Doctrine cvrieuse des beavx esprits [Anm. 10], S. 436–438; Girolamo Carda­ no: De Svbtilitate libri XXI, II. Nürnberg 1550, S. 80 f., bzw. Opera omnia III, S. 408a).

154 

 Eric Achermann

auktorialer Intention und nachträglichen Bearbeitungen, die durch Edieren, Kommentieren und Fragmentieren eine durchaus verdächtige und opake Schicht fremder Absichten über den eigentlichen Sinn legen. Die Tradierung wird zum Problem, weil sie verfestigend auf einen Sinn hinwirkt, der einer Verlust gegan­ genen unmittelbaren Erfahrung der Mitteilung nicht adäquat ist; sie isoliert ein­ zelne Inhalte und klammert die zum Verständnis unerlässlichen Kontexte aus. Keine Figur könnte prädestinierter sein als Cardano, um zum Demonstra­ tionsobjekt bibliografischen Scharfsinns zu avancieren, begründet er doch mit seinen ausführlich kommentierten Listen bereits verfasster, in Arbeit befindli­ cher und geplanter Werke eine Form der Gelehrtenautobiografie, die in der engen Verbindung von Lebensgeschichte und Schriftverzeichnis besteht.34 Kein Werk könnte zudem prädestinierter sein als dasjenige Cardanos, um zum Forschungs­ objekt mikrologischer Philologie zu werden; auch heute noch birgt es so manches ungelöstes Problem, das der Unzahl verfasster Titel, der Masse noch unveröffent­ lichter Manuskripte, der Häufigkeit der Übersetzungen, endlich der Existenz autorisierter Überarbeitungen neben unautorisierten Raubdrucken geschuldet ist. Was nun Scaliger betrifft, so verhält sich die Sache in Kürze so: Der ältere Scaliger verfasst gegen Cardanos De subtilitate einen dicken Band, die Exotericae exercitationes,35 worin er die seines Erachtens zahlreichen und gravieren­ den Irrtümer ‚castigiert‘.36 Unter den vielen findet sich nun diese eine Stelle,

34  Wie Francisco Socas (Einführung zu: Girolamo Cardano: Mis libros. Hg. u. übers. v. dems. Madrid 2002, S. 12–14) ausführt, lassen sich zwar bereits in der Antike, etwa bei Galen und Au­ gustinus, wie auch in der Renaissance (Johanes Trithemius, Erasmus, Conrad Gesner) solche Verzeichnisse ausmachen; Cardano aber baue diese aus, modifiziere sie konstant und versuche so eine Einheit von Werk und Lebensgeschichte herzustellen. Ein erster Versuch erscheint unter dem Titel Libellus de libris propriis, cuius titulus est Ephemerus im Jahre 1544; ab 1550 nennt Car­ dano das Werk Liber de libris propriis et de ordine legendi illos; Titel und Inhalt werden zu Lebzei­ ten Cardanos noch zwei mal verändert (1557 und 1562). Vgl. zudem Ian Maclean: Intepreting the ‚De libris propriis‘. In: Girolamo Cardano. Le opere, le fonti, la vita. Hg. v. Marialuisa Baldi und Guido Canziani. Mailand 1999, S. 13–33. 35  Julius Caesar Scaliger: Exotericarum exercitationvm liber qvintvs decimvs, De svbtilitate, ad Hieronymvm Cardanvm. Paris 1557. Dem Werk wird, und zwar im deutschsprachigen Raum, bis in die 60er-Jahre des 17. Jahrhunderts ein phänomenaler Erfolg zuteil, der denjenigen Cardanos klar übertrifft. Es erscheinen mindestens zwölf Auflagen, worunter drei in Wittenberg (zwei aus dem Jahr 1645, eine 1656). – Zum jeweiligen Erfolg vgl. Ian Maclean: The interpretation of natural signs. Cardano’s ‚De subtilitate‘ versus Scaliger’s ‚Exercitationes‘. In: Occult and Scientific Mentalities in the Renaissance. Hg. v. Brian Vickers. Cambridge 1984, S. 231–252, hier S. 233 f. 36  Zu Scaligers Angriffen auf Cardano vgl. Guido Giglioni: Girolamo Cardano e Giulio Cesare Scaligero. Il dibattito sul ruolo dell’anima vegetativa. In: Girolamo Cardano. Le opere, le fonti, la vita, S. 313–339; Ulrich G. Leinsle: Wie treibt man Cardano mit Scaliger aus? In: Spätrenaissance-



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 155

genauer dieser eine Satz, der nach Ansicht Lessings gestützt auf seine Weiter­ tradierung einen der drei wesentlichen Anklagepunkte im Fall von Cardanos ‚Atheisterei‘ darstelle: „igitur his arbitrio victoriae relictis“ – Lessing über­ setzt: „[E]r [Cardano] wolle es dem Zufalle überlassen, auf welche Seite sich der Sieg wenden werde.“ Betrachten wir Scaligers Äußerungen so erscheinen sie, gemessen an anderen seiner ‚Exercitationen‘, einigermaßen moderat. Ja, Scaliger räumt ein – oder tut zumindest so, als räumte er ein –, er könne Car­ danos Absichten nur erraten: Welchen Sieges? Einer der durch Macht und kriegerische Unterdrückung erworben wird? Ein solcher löscht die besseren Meinungen doch nicht aus. Ja oftmals werden die guten Sitten, die Gesetze, die menschlichen und göttlichen Satzungen durch blutige Siege geschändet, gar von Grund auf zerstört. Wie nämlich würde der Sieger beurteilt – Phrygier, Thraker, Kappadokier, Skythe, wen auch immer du magst –, wenn zusammen mit der Wahr­ heit der Unterdrücker dieser Wahrheit obsiegte? Falls du dich aber auf die argumentative Stärke bezogst, ist es dir denn verborgen geblieben, oder tatest du bloß so, als ob du nicht wüsstest, wem der Sieg zufallen werde? Doch ich zügle und halte zurück die Kraft meiner Rede und überlasse Gericht und Urteil hierüber den guten Christen.37

Natürlich lässt das unterstellte Urteil, das ein echter Christ zu fällen hat, in seiner Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig; und ebenso natürlich wird Cardano Sca­ liger diese und andere „Händel, Sophismen, Verwünschungen, Zänkereien und

Philosophie in Deutschland. Entwürfe zwischen Humanismus und Konfessionalisierung, okkul­ ten Traditionen und Schulmetaphysik. Hg. v. Martin Mulsow. Tübingen 2009 (= Frühe Neuzeit 134), S. 251–278; Georges Kouskoff: La Querelle entre Jérôme Cardan et Jules-César Scaliger. ‚De Subtilitate ad Hieronymum Cardanum‘. In: Acta Scaligeriana. Actes du Colloque International organisé pour le cinquième centenaire de la naissance de Jules-César Scaliger. Hg. Jean Cubelier de Beynac und Michel Magnien. Agen 1986, S. 207–220 (hauptsächlich zu Wissenstraditionen und naturwissenschaftlichen Streitpunkten); Kristian Jensen: Cardanus and his readers in the sixteenth century. In: Girolamo Cardano (Anm. 1), S. 265–308 (hauptsächlich zu Fragen der Me­ thode und der Sprache); Ian Maclean: Cardano’s eclectic psychology and its critique by Julius Caesar Scaliger. In: Vivarium 46/3 (2008), S. 392–417 (hauptsächlich zum 14. Buch von De subtilitate). 37  Scaliger: Exotericarum exercitationvm (Anm. 35), Exercitatio 258, § 1, S. 332r: „Cuius uictorię? Quae ui, atque oppressione bellica comparatur? At ea non efficit melioris opiniones? Quin sae­ penumero cruentis uictoriis boni mores, leges, instituta humana, diuináque uiolantur, atque etiam funditus delētur. Quod igítur arbitratus fuerit uictor, Phryx, Thrax, Cappadox, Scytha, ei tu perinde fauebis: ac si cum ueritate, ueritatis oppresor triūpharit? Quòd si ad disputationum robur uictoriā referebas: tum te latebat, aut dissmulabas scire te: cui nam esset cessura uictoria? Sed uim orationis meae temperabo, & comprimam: bonísque Christianis subsellia hęc, atque iudicium relinquam.“

156 

 Eric Achermann

Verleumdungen“38 mit gleicher Münze heimzahlen, bezichtigt er ihn in seiner Erwiderung nun seinerseits der Gottlosigkeit: Wie nämlich könne einer, der ständig Averroes und Aristoteles im Munde führt, anderen in Sachen Religion Vorhaltungen machen?39 Doch nicht um die Exercitationes, schon gar nicht um Cardanos Erwide­ rung in seiner Actio prima ist es Lessing zu tun, verschwindet Scaliger, einmal genannt, unter einer Schicht von Zitaten zweiter bis fünfter Hand, die dem einen oder anderen Werk christlicher Apologetik einen zusätzlichen Schuss Schärfe verleihen sollen. Geschickt zäumt Lessing die Sache vom Schwanz her auf, indem er die Tradierung einer Stelle aus De subtilitate dem Catalogvs historico-criticvs librorvm rariorvm des Pastors Vogt (1695–1764) entnimmt. Von da weist die Spur zurück auf eine der zahlreichen Additionen, die Bernard de la Monnoye (1641–1728) zu der Sammlung der Menagiana beigetragen hat. Und erst hier begegnen wir Scaliger, der in seinen Exercitationes der erste gewesen sei, Cardanos skandalöse Formulierung herauszustreichen. Weitere Vermittler geben dem Funken des Verdachts gehörig Nahrung und schüren dem Andenken Cardanos bald ein ansehnliches Feuer: Lessing nennt Marin Mersennes (1588– 1648) Quaestiones in Genesim und Daniel Georg Morhofs (1639–1691) Polyhis-

38  Girolamo Cardano: In calvmniatorem librorum de Svbtilitate, actio prima. In: Ders.: De Svb­ tilitate libri XXI. Ab authore plusquam mille locis illustrati, nonnullis etiam cum additionibus. Addita insuper Apologia aduersus calumniatorem, qua uis horum librorum aperitur. Basel 1560, S. 1275: „tricae, sophismata, maledicta, urgia, calumniae“. 39  Cardanus: In calvmniatorem librorum de Svbtilitate, actio prima (Anm. 38), S. 1268: „Quid postmodum de iudicio dicas, disputaturus de naturali philosophia, toties Aristotelis atq; Auerrois innixus principijs atq; autoritati, apud quos suppositia, quam illi probant mundi aeternitate, à Christo diuinitas, & ab omnibus spes remunerationis bonorum atque malorum aufertur, audet me de impietate insimulare?“ [„Und was wirst du von dem Urteile sagen, wo der über Naturphilosophie Disputierende, der sich so oft auf Aristoteles’ und Averroes’ Prinzipien und Autorität stützt (bei denen doch angenommen wird, dass sie die Ewigkeit der Welt beweisen, von Christus die Göttlichkeit und von uns allen die Hoffnung auf einen Lohn für das Gute und Schlechte wegnehmen,) es wagt, mich der Gottlosigkeit zu bezichtigen?“] – Zu Scaligers angeblicher Heterodoxie und seinen tatsächlichen Überzeugungen vgl. Adelin Charles Fiorato: Jules-César Scaliger bien ou mal pensant. In: Acta Scaligeriana, S. 13–33; zu Scaligers tatsächlich eher kühlen Haltung gegenüber averoistischer Aristoteles-Auslegung vgl. Giglioni: Girolamo Cardano e Giulio Cesare Scaligero (Anm. 36), S. 314 f.; zu Cardanos Kritik an Averroes vgl. José Manuel García Valverde: La crítica al Averroísmo en el ‚De immortalitate animorum‘ de Girolamo Cardano. In: Fragmentos de filosofía 5 (2007), S. 135–178.



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 157

tor, ohne eines „Reimann“ [sic!], der halleschen Observationes selectae ad rem literariam spectantes,40 Freytags (1687–1761),41 der „Bibliothek des Salthenius“ (1701–1750)42 und des „Herrn Adjunct Schwarz“ (1728–1786)43 zu vergessen. – Zahl­ reich sind also die Titel, die vorerst einmal auf ein primär bibliografisches Inte­ resse schließen lassen, und in der Tat kommt Lessing gleich zweimal auf eine bibliografische Merkwürdigkeit zu sprechen. Wie bereits erwähnt führt er die von Scaliger inkriminierte Stelle aus Vogts Catalogvs historico-criticvs librorvm rariorvm an, der seinerseits die entsprechenden Einlassungen aus den Menagiana wiedergibt. Lessing übersetzt also die begleitenden Zeilen Vogts zum rein bibliografischen Eintrag bezüglich der seltenen ersten Ausgabe von Cardanos De subtilitate aus dem Latein; er übersetzt zudem das darin enthaltene längere fran­ zösische Zitat aus einer Abhandlung, die de la Monnoye in seine eigene Ausgabe der denkwürdigen Äußerungen Gilles Ménages (1613–1692)44 gesetzt hat, den in

40  [Anon.:] Observatio IX. Seu continvatio I. observationis de libris raris. Σύνοψις. In: Observationvm selectarum ad rem litterariam spectantivm. Bd. X. Halle 1704, S. 220 f. 41  Friedrich Gotthilf Freytag: Analecta litteraria de libris rarioribvs. Leipzig 1750, S. 210 f. 42  Da der Kommentar von Conrad Wiedemann u. a. Lessings Anführung (S. 200 sowie S. 219) von Salthenius einfach übergeht und auch Göpfert in seinem ansonsten guten Kommentar den Verweis falsch ergänzt, sei die Sache hier kurz erörtert. Es handelt sich um den mit zahlreichen Erläuterungen versehenen Auktionskatalog: Bibliothecae viri, cvm viveret, svmme reverendi, atque excellentissimi Danielis Salthenii, S. S. theologiae doctoris et professoris ordinarii, scho­ laequve cathedralis rectoris, Libri, ad omne literarvm genvs spectantes, rariores et rarissimi, vni, si deo ita visvm fverit, emptori tradendi. Königsberg 1751. Zur Bedeutung solcher Kataloge als bibliografischer Hilfsmittel vgl. Archer Taylor: Book Catalogues. Their Varieties and Uses. Chica­ go 1957, zur Qualität des Salthenius-Katalogs vgl. S. 226. In diesem Katalog findet sich an der von Lessing korrekt angeführten Stelle „p. 272“ fast identisch eine der beiden Formulierungen, die Lessing direkt im Anschluss an die Erwähnung Salthenius’ als gängigen Urteilsspruch anführt: „locus quidam impius & scandalosissimus“. Zudem verweist der anschließende Eintrag auf die deutsche Übersetzung von Cardanos De subtilitate, worin sich der „scandaleuse Ort von den Religionen pag. 885. sq.“ finde. Gemeint ist die Sammelübersetzung weiter Teile von Cardanos De subtilitate und De varietate rerum durch Heinrich Pantaleon: Offenbarung Der Natur vnnd Natürlicher dingen auch mancherley subtiler würckungen. Basel 1559, S. 885 f. Hier kann man lesen: „Wolte Gott dz jre waffen so leichtlich überwunden möchten werden/ als dise argument vmbzestoßen seind. Aber der hāndel ist zu den waffen kom̅en/ da fast allzeit der gröste hauff den besseren überwindt. Darumb wollen wir dises dem sig heim setzen/ vnnd von vnderscheid der landtschafften sagen.“ 43  Friedrich Immanuel Schwarz: Exercitationes historico-criticae in vtrumque Samaritanorvm pentatevchum. Wittenberg 1756, S. 5. 44  Zu den Menagiana vgl. Francine Wild: Ménage et la conversation. In: Gilles Ménage (1613–1692), grammairien et lexicographe. Le rayonnement de son œuvre linguistique. Hg. v. Isabelle LeroyTurcan und Terence Russon Wooldridge. Actes du colloque international tenu à l’occasion du

158 

 Eric Achermann

ganz Europa verbreiteten Menagiana.45 Bei dieser Gelegenheit behauptet nun de la Monnoye, Cardano habe diese „Worte […] zwar selbst in der zweyten Ausgabe [verändert]; dennoch aber ward er drei Jahre darauf von dem Scaliger Exercit. 258. n. I. sehr bitter deswegen bestraft.“ Das verräterische „dennoch“ – „cependant“ im Original – wirft kein gutes Licht auf Scaligers Absichten, der die Selbstzensur Cardanos stillschweigend übergangen hätte. Aus einer allenfalls unglücklichen Formulierung wurde so unter der Feder Scaligers ein Zeugnis verstockter Boshaf­ tigkeit und unverhohlener Feindseligkeit gegen die alleinseligmachende Kirche. De la Monnoye, und Vogt mit ihm, irren; und dieser Irrtum legt bei der gele­ gentlich negativen Beurteilung des älteren Scaliger46 durch de la Monnoye nun seinerseits den Verdacht nahe, er diene strategischen Zielen. Doch auch diese Unterstellung ist mehr als zweifelhaft, ist es doch Cardano selbst, der aller Wahr­ scheinlichkeit nach den ansonsten zuverlässigen de la Monnoye in die Irre führt. In seiner Actio prima äußert er sich an zwei Stellen zu den zahlreichen Verbes­ serungen, die er schon drei Jahre zuvor in einer zweiten Ausgabe vorgenommen

tricentenaire du ‚Dictionnaire étymologique ou Origines de la langue françoise‘ (1694). Elek­ ����� tronische Ausgabe unter: http://homes.chass.utoronto.ca/~wulfric/siehlda/actesmen [Stand: 31.03.2015]. 45  In den ersten zwei Ausgaben, die kurz nach dem Tode Ménages erscheinen, beläuft sich die Auseinandersetzung mit dem sagenumwobenen De tribus impostoribus und dessen angeblichen Verfassern auf wenige Zeilen; vgl. Menagiana sive excerpta ex ore Aegidii Menagii. Paris 1693, S. 425 f.; Menagiana, ou bons mots, rencontres agreables, pensées judicieuses, et observations curieuses, de M. Menage. Bd. I. Paris 1695, S. 357 f. Erst in der Ausgabe von de la Monnoye, welche die bereits erweiterte zweibändige Ausgabe 1695 um weitere zwei Bände ergänzt, finden wir die Lettre a Monsieur Bouhier, Président au Parlement de Dijon, Sur le prétendu livre des trois Imposteurs, die stolze 30 Seiten aufweist und die Quelle für die von Vogt zitierte Stelle bildet: Mena­ giana ou les bons mots et remarques critiques, Historiques, morales & d’érudition, de Monsieur Menage, Recueillies par ses Amis. Bd. IV. Paris 1715, S. 305. Dass er der Verfasser der Lettre sei, hält de la Monnoye in seiner Einleitung zu Bd. I (S. [a4r]) unmissverständlich fest. Die Abhand­ lung bleibt alles andere als unbemerkt, wird sie doch schon ein Jahr später zum Anlass einer satirischen Attacke, der anonymen Reponse a la dissertation de Mr. de la Monnoie Sur la [sic!] Traité De tribus Impostoribus; vgl. hierzu Winfried Schröder: Einführung zu: Anonymus: Traktat über die drei Betrüger/Traité des trois imposteurs. Hamburg 1992, S. XIX; Georges Minois: The Atheist’s Bible. The Most Dangerous Book that Never Existed. Chicago 2012, S. 128 f. Zu den Angriffen gegen Cardano als angeblichem Verfasser des Traité vgl. vor allem François Berriot: Athéismes et athéistes au XVIe siècle en France. Bd. 1. Lille 1984, S. 483–492. 46  So kritisiert er Scaliger in seinen Zusätzen zu den Menagiana, nennt ihn gar einen Mann von wenig Geschmack; Menagiana ou les bons mots et remarques critiques (Ausg. de la Monnoye) I, S. 336.



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 159

habe.47 Er wirft Scaliger zum einen vor, diese Emendationen nicht beachtet zu haben,48 was ihm, Cardano, zum anderen erlaube, diese an sich unberechtigten castigationes auch stillschweigend zu übergehen.49 Und so kann der Umstand, dass Cardano sich zu der Exercitatio 258, n. 1, welche die Quelle für de la Monnoye, Lessing und all die anderen darstellt, nicht äußert, den Eindruck erwecken, er habe den anstößigen Satz bereits entfernt. Diese in der Tat höchst fordernden bibliografischen „Schwierigkeiten“ ringen Lessing, nachdem er die Stelle aus der Erstausgabe von De subtilitate in ihrem weiteren Kontext übersetzt und sich ausführlich mit dem Religionsvergleich auseinandergesetzt hat, eine minutiöse Richtigstellung ab: Ich will nur noch ein Paar Worte von der Ordnung, in welcher die verschiedenen Ausgaben der Bücher de subtilitate, auf einander gefolgt sind, beifügen, und alsdann mit einer Anmer­ kung schließen, die vielleicht von einigen Nutzen sein kann. Die erste Ausgabe ist ohne allem Streit die oben angeführte von 1550. in Nürnberg. Für die zweite hält Herr Freytag eine Ausgabe von Basel, ohne Jahrzahl in Folio; für die dritte, die von 1554. gleichfalls in Basel bei Ludovico Lucio, und für die vierte die von 1560. welche in 8vo an ebendemsel­ ben Orte herausgekommen ist. Über diese Folge wird er mir erlauben, einige Anmerkungen zu machen. I. Cardan sagt es ausdrücklich selbst, in seiner Actione prima auf der 728. S. daß die zweite Ausgabe seines Buchs, 1554, und zwar im Anfange des Jahrs erschienen sei. De la Monnoye, welchen Herr Freytag tadelt, könnte also doch wohl Recht haben, wenn er behauptet, daß die anstößigen Worte in derselben wären verbessert worden. Doch ich muß auch dieses zu Herrn Freytags Entschuldigung sagen, daß Cardan wenn er die Ausgabe von 1554 die zweite nennet, dadurch ohne Zweifel nicht sagen wolle, als ob die erste niemals nachgedruckt worden sei; er nennt sie die zweite, weil alle die vorhergehenden, als von einer einzigen Originalausgabe abgedruckt, nur für eine, in Ansehung des unveränder­ ten Inhalts, anzusehen sind. II. Weil aber doch auf der Baselschen Ausgabe in Folio ohne Jahrzahl, sehr vieler Verbesserungen gedacht wird, weil man auch so gar die Actio prima auf dem Tittel genennt findet, so irret sich Herr Freytag ganz gewaltig, wenn er sie für die zweite halten will. Wie ist das möglich? Hat dieser Bücherkenner vergessen, daß erst 1557. des Scaligers Exercitationes herausgekommen sind, und daß also die Actio prima, welches eine Antwort darauf sein soll, von noch späterm Dato sein muß? III. Warum aber auch nicht, nach des Herrn Freytags Art zu rechnen, die Ausgabe von 1554. die dritte sein kann, ist dieses der Grund, weil Cardan selbst, auf der 791. S. der Actio prima von einer prima et secunda Norimbergensi desgleichen von einer Lugdunensi und Lutetiana redet. Von der Lugdunensi nun weis ich es gewiß, daß diese 1551. in Octav ans Licht getreten sei, weil sie der Verfasser des in dem Xten Theile der Observationum Hallensium befindlichen Aufsatzes de libris raris ausdrücklich anführt. Überhaupt vermute ich, daß man aus diesen und vielen andern dabei vorkommenden Schwierigkeiten sich schwerlich jemals werde helfen können,

47  Cardanus: In calvmniatorem librorum de Svbtilitate, actio prima (Anm. 38), S. 1270. 48  Ebd. 49  Ebd., S. 1287.

160 

 Eric Achermann

weil die Buchhändler ohne Zweifel auch hier, ein Stückchen nach gelehrter Art gespielt, und um einerlei Ausgabe mehr als einen Titel gedruckt haben.50

Aller Wahrscheinlichkeit51 nach darf also zu der apodiktischen Härte von Scali­ gers Vorwurf nicht auch noch die Perfidie vorgetäuschter Unkenntnis aufaddiert werden. Nichtsdestotrotz wirft die ganze Filiation ein trübes Licht auf die Ernst­ haftigkeit all jener Kompilatoren, die sich in ihrem frommen Eifer jeden Anlass zu gezielter Empörung nur allzu gerne zu eigen machen. Auffällig bleibt, dass Lessing die irrige Angabe de la Monnoyes erst einmal anführt, um erst Seiten später die Sache richtig zu stellen. Diese Anordnung erlaubt ihm, die eigene Unbefangenheit durch Rückgriff auf die seltene Erstaus­ gabe und den unparteiischem Dank an den „Herrn Adjunct Schwarz“ unter Beweis zu stellen. Ohne dessen Original stünde die Überprüfung von Scaligers Angriff auf wackeligen Füßen. Noch auffälliger erscheint die indirekte Zitierung von de la Monnoyes Abhandlung mit Blick auf die Bekanntheit der Menagiana, welche die­ jenige eines Vogts bei weitem übersteigt, – eines Bücherkatalogs, der zum eigent­ lichen Thema im Grunde nichts weiter als die Epitheta „gottlos“ und „ärgerlich“ beiträgt. Die Auffälligkeiten schwellen schließlich zu eigentlichen Erstaunen an, wenn wir uns dem Inhalt von de la Monnoyes Abhandlung zuwenden. Das Sendschreiben gilt nämlich einem Gerücht, das bibliophilen Spürhunden seit

50  Lessing: Rettung des Hier. Cardanus (Anm. 3), S. 221 f. Lessing verweist auf Freytag: Analecta litteraria de libris rarioribvs, S. 211: „Non enim secunda in editione, quam nos inspeximus, sed in quarta Basil. 1560 in 8, editionem enim Basileensem 1554. apud Ludouicum Lucium editam, tertiam esse censemus, haec verba a cardano mutata fuerunt.“ [„Denn nicht in der zweiten, die wir eingesehen haben, sondern in der vierten Ausgabe Basel 1560 in Oktav (wir erachten nämlich die in Basel 1554 bei Ludwig Lucius herausgegebene als die dritte) wurden diese Worte von Cardano abgeändert.“] 51  Nach heutigem Kenntnisstand zählen wir drei Ausgaben aus dem Jahre 1550 (bei Johannes Petreius in Nürnberg, bei Guillaume de Roville in Lyon und bei Michel Fezandat in Paris), drei Ausgaben aus dem Jahre 1551 (Nachdrucke der Ausgabe Lyon und Paris sowie eine weitere Pari­ ser Edition bei Jacques Du Puis). Eine Emendation der von Scaliger inkriminierten Stelle findet sich auch in den Ausgaben 1554 nicht, die Cardano selbst als die zweite betrachtet: Sowohl die Ausgabe von Ludovicus Lucius in Basel (S. 354) als auch die Ausgabe von Guillaume de Roville in Lyon (S. 428) leiten mit besagten Satz zum nächsten Thema über. – Einen Überblick zu Aus­ gaben und Bearbeitungen von De subtilitate geben Ingo Schütze: Die Naturphilosophie in Giro­ lamo Cardanos ‚De subtilitate‘. München 2000 (Humanistische Bibliothek I/49), S. 163–169; Ian Maclean: Learning and the Market Place. Essays in the History of the Early Modern Book. Leiden 2009, S. 131–159; ders.: Cardano and his publishers (Anm. 33), S. 318–324. Zu ���������������� den inhaltli­ chen Veränderungen der drei Bearbeitungsphasen vgl. Paola Pirzio: Note sulle tre redazioni del ‚De subtilitate‘ di Girolamo Cardano. In: Girolamo Cardano. Le opere, le fonti, la vita. Hg. v. Marialuisa Baldi und Guido Canziani. Mailand 1999, S. 169–179.



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 161

dem Mittelalter in die Nase sticht: Es handelt sich um das berüchtigte Traktat De tribus impostoribus. Ganz im Stil eines Bayle,52 nach Aussage de la Monnoyes Anlass und Mitadressat eines früheren Entwurfs der Lettre,53 ist es hier darum zu tun, durch eine „fast vollständige Geschichte dieses berühmten Buches“54 den Beweis gegenwärtiger und vergangener Nichtexistenz eines solches Traktats anzutreten. Hierzu kritisiert de la Monnoye die Wahrscheinlichkeit all derjenigen Zeugnisse, die das Vorhandensein des Textes belegen, um schließlich auf eine seines Erachtens wahrscheinlichere, nichtsdestotrotz „imaginäre“55 Entdeckung zu sprechen zu kommen. Grund einer solchen Graduierung sind die Verdächti­ gungen, denen so prominente Autoren wie Boccaccio (1313–1375), Rabelais (ca. 1494–1553), Marc-Antoine Muret (1526–1585) oder gar Erasmus (ca. 1466–1536) ausgesetzt sind, denn all diese, und noch manch andere prominente Namen finden ihre Verleumder, die sie als Verfasser des anrüchigen Buches in die Welt werfen. Diesen Angriffen nun begegnet de la Monnoye mit der Wendung „il y auroit eu moins d’extravagance“ [es wäre weniger extravagant gewesen], um als

52  De la Monnoyes Verhältnis zu Bayle bedarf noch eingehender Erforschung. Als Verfasser einer vielgelesenen Bayle-Vita und aufmerksamen Korrektor des Dictionnaire, auf dessen Titel­ blatt zu einer späten Ausgabe (derjenigen von 1820) gar sein Name prangt, stellt sich die Frage nach de la Monnoyes eigener Haltung zu religiöser Toleranz. Zum einen kritisierte er Bayle aus­ drücklich und hart für seine protestantische Apologetik (Histoire de Mr. Bayle et de ses ouvrages. Genf 1715, S. 22–27), zum anderen lobt er ihn für seine im engeren Sinn irenischen Schriften; dies wiederum steht im Gegensatz zum feierlichen Lob, das er der Religionspolitik Ludwig XIV., am prominentesten in seiner von der Akademie Preis gekrönten Übersetzung einer neolateinischen Ode Jean de Santeuls entgegenbringt; Ode latine a la louange de Louis le Grand défenseur & protecteur de la religion catholique, a monsieur Pellisson. O. O. 1686. 53  De la Monnoye: Lettre à Monsieur Bouhier (Anm. 45), S. 283: „Un de mes amis me lisant il y a quelques années une lettre de M. Bayle, où il étoit parlé du dessein qu’un savant* d’Allemagne avoit de publier une longue Dissertation par laquelle il prouveroit qu’il y a eu véritablement un livre imprimé de tribus Impostoribus; je lui témoignai que je croyois pouvoir sans témérité entreprendre de produire des preuves du contraire. Comme il accepta l’offre que je lui fis de les lui communiquer, j’y satisfis peu de tems après par une lettre dont il envoia une copie à M. Bayle […]. [Als Fußnote] * Daniel George Morhof, mort le 30 Juillet 1691, sans avoir tenu parole.“ [„Als einer meiner Freunde vor einigen Jahren mir einen Brief von Herrn Bayle vorlas, in welchem von der Absicht eines gelehrten Deutschen* die Rede war, nämlich eine lange Abhandlung zu veröffentlichen, in welcher er beweisen würde, dass es tatsächlich ein gedrucktes Buch De tribus impostoribus gebe, teilte ich ihm mit, dass ich ohne Kühnheit Beweise des Gegenteils erbringen zu können glaubte. Da er das von mir gemachte Angebot annahm, ihm diese mitzuteilen, kam ich dem Versprechen wenig später in einem Brief nach, von welchem er eine Abschrift an Herrn Bayle sandte /…/. * Daniel Georg Morhof, gestorben am 30. Juli 1691, ohne das er Wort gehalten hätte.“] 54  Ebd., S. 284: „l’histoire presque complette de ce fameux livre“. 55  Ebd.

162 

 Eric Achermann

Beispiele geringerer Extravaganz sogleich Pietro Pomponazzi (1462–1525) sowie Cardano anzuführen. Beide seien durch unvorsichtige Äußerungen dem angebli­ chen Gegenstand De tribus impostoribus näher als all die anderen Beschuldigten gekommen. De la Monnoye behauptet also nicht, dass Cardano als Verfasser des Traktats in Frage komme, sondern dass er ebenso wie Pomponazzi einer macht­ theoretischen, und damit machiavellistischen Begründung von Religion Vor­ schub leiste.56 Seine Spitze gilt nicht den angeblichen Verfassern, sondern den Gerüchteköchen unter den Apologeten: Idiotische Kompilierer, die keinen Schimmer von demjenigen haben, was man Kritik nennt, packten kreuz und quer – wo sich auch nur schon der kleinste Anschein bot – jeden Erstbes­ ten in die gleiche Anklageschrift, einen Etienne Dolet aus Orléans, einen Francesco Pucci aus Florenz, einen John Milton aus London und irgendeinen Merula, einen falschen Moha­ medaner.57

Es ist kaum zu vermuten, dass Lessing die Menagiana in der Ausgabe de la Mon­ noyes, die er in späteren Jahren noch mehrfach zitieren wird, zu diesem Zeitpunkt nur dem Titel nach und einzig über Vogt gekannt hätte; oft zwingt der eigene Spürsinn Lessing in Gebiete, die weit abgelegener sind als der vierte Band dieses Erfolgswerkes. Hier aber finden sich auf engstem Raum zahlreiche der Themen, die ihn zeitlebens beschäftigen werden: Freidenker, Religionsvergleich, Boccac­ cios Ringparabel,58 Bücherkunde und schließlich ein Bekenntnis zur kritischen Methode.

2 Die Wahrheit der Religion Es ist eine schöne Pointe, dass die Suche nach der Wahrheit der Religion und der wahren Religion mit derjenigen nach der Echtheit eines Buches gegen die Echtheit

56  Was Cardanos Nähe zu Machiavelli betrifft, vgl. Di Rienzo: L’Aquila e lo scarabeo (Anm. 19), v. a. S. 38 f. 57  De la Monnoye: Lettre à Monsieur Bouhier (Anm. 45), S. 303: „Des Compilateurs idiots qui n’ont nulle teinture de ce qu’on appelle Critique, ont envelopé à tort & travers dans la même accu­ sation le premier que la moindre apparence leur a offert, un Etienne Dolet d’Olreans, un François Pucci de Florence, un Jean Milton de Londres, un je ne sais quel Merula faux Mahometan.“ 58  Zu Boccaccio als Quelle des Nathan, der Beziehung zu De tribus impostoribus und dem Reli­ gionsvergleich vgl. Friedrich Niewöhner: Veritas sive Varietas. Lessings Toleranzparabel und das Buch Von den drei Betrügern. Heidelberg 1988 (Bibliothek der Aufklärung 5), insbes. S. 30–32; Hugh Barr Nisbet: ‚De tribus impostoribus‘. On the Genesis of Lessings ‚Nathan der Weise‘. In: Euphorion 73 (1979), S. 365–387.



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 163

dieser Religionen in hartnäckiger bibliografischer Nachforschung konvergieren. Unter der Hand profitiert die Rettung des Hier. Cardanus so von den „Schwierig­ keiten“, aus welchen „man sich schwerlich jemals werde helfen können, weil die Buchhändler ohne Zweifel auch hier, ein Stückchen nach ihrer Art gespielt, und einerlei Ausgabe mehr als einen Titel gedruckt haben“.59 Schwierigkeiten, Buch­ händler, Ausgaben, Titel – es sind Dinge, die in der einschlägigen Forschung zur Rettung des Hier. Cardanus als Randthemen wenig Beachtung gefunden haben.60 Nach Ansicht der meisten Interpreten bilden die bibliografischen Präzisierungen bloß einen Rahmen für das Eigentliche.61 Dieser Ansicht gilt es den Truismus ent­ gegenzuhalten, dass ein Rahmen auch eine Funktion hat, mehr noch, dass die an sich schon riskante Metaphorik von ‚Rahmen‘ nicht dazu verleiten darf, Stra­ tegien der Disposition in eine feste und einfache Beziehung zur Hierarchie der Interessen zu setzen. Wie intrikat das Verhältnis von Anfang und Schluss zu dem eigentlichen Religionsvergleich ist, wird sich hoffentlich noch klären. Dazu ist es erforderlich, Lessings und Cardanos jeweilige Haltung in Fragen der Religion etwas genauer zu bestimmen. Hier soll hauptsächlich der Frage nachgegangen werden, welche Stelle die Religion in Leben und Geschichte des Menschen einnimmt. Nur am Rand wird im Folgenden auf die Toleranzproblematik und die Apologie des Islam eingegangen; bekanntlich ist beides eingehend untersucht.62

59  Lessing: Rettung des Hier. Cardanus (Anm. 3), S. 222. 60  Eine Ausnahme macht Göbel: Lessing und Cardano (Anm. 6), S. 171–175, der seine Quellenstudie jedoch auf Bayle und Christ beschränkt. 61  Deutlich bei Arno Schilson: Geschichte im Horizont der Vorsehung. G. E. Lessings Beitrag zu einer Theologie der Geschichte. Mainz 1974, S. 57–61; Johannes Schneider: Lessings Stellung zur Theologie vor der Herausgabe der Wolfenbüttler Fragmente. ʼs Gravenhage 1953, S. 105; Corsano: Lessing e il Cardano. In: Giornale Critico della Filosofia Italiana 46 (1967), S. 118–128 (eine zehns­ eitige Paraphrase der Rettung, welche die philologischen Untersuchungen mit keinem Wort er­ wähnt); Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. München 2008, S. 188 („sein eigentliches Interesse aber“). – Dass die zeitgenössischen Rezipienten den philologischen Aspekten in der Rettung des Hier. Cardanus mehr Aufmerksamkeit geschenkt haben, geht aus den Rezensionen hervor; so greifen die Jenaische Gelehrte Zeitungen (66 Stück, 24. Aug. 1754, S. 524) ganz selbst­ verständlich Namen wie de la Monnoy, Scaliger, Mersenne und Morhof auf; weitere Angaben zur Rezeption bei: Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 3 2010, S. 140 f. und S. 146. 62  Vgl. etwa Schilson: Geschichte im Horizont der Vorsehung (Anm. 61), S. 58–61; Monika Fick: Die ‚Offenbarung der Natur‘. Eine naturphilosophische Konzeption in Lessings ‚Nathan der Weise‘. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 39 (1995), S. 113–129; Karl-Josef Kuschel: Vom Streit zum Wettstreit der Religionen. Lessing und die Herausforderung des Islam. Düssel­ dorf 1998, S. 91–103.

164 

 Eric Achermann

Lessings Hinwendung zum Original von De subtilitate setzt mit einem Urteil ein, das zu einer Rettung Cardanos auf den ersten Blick wenig beitragen dürfte. Auch wenn er darauf verzichtet, Scaliger in diesem Punkte anzuführen, so teilen sie zumindest eine Einschätzung: Das Latein des Mailänder Arztes sei schlecht – und zwar so schlecht, dass der Leser wohl kaum etwas dabei verliere, wenn er, Lessing, den Vergleich der Religionen ins Deutsche übersetze.63 Bei näherer Betrachtung entpuppt sich die unvorteilhafte Bemerkung jedoch als Mittel apo­ logetischer Strategie; es greift Cardanos eigene Verteidigung gegen den Kriti­ kaster Scaliger auf, in welcher er sich für eine nutzbringende Wissenschaft der Sachen gegen eine sterile Wissenschaft der Worte stark macht.64 In einer schönen Stelle von De Libris propriis bringt er den ganzen Katalog attizistischer Tugen­ den gegen einen fehlgeleiteten ciceronianischen Purismus in Anschlag, um zu dem Schluss zu kommen: „Gedenke stets, die Worte sind für die Sachen, nicht die Sachen für die Worte gemacht“.65 Zu diesem aufklärerischen Topos66 gesellt sich das im weiteren Vorgehen implizierte Urteil, dass Scaliger einen methodologi­ schen Irrtum begehe, indem er auf der Grundlage seiner eigenen philologischen Methode einzelne Formulierungen über Maßen isoliere. Wer so verfährt, beraube

63  Zu den tatsächlich großen Problemen, die Cardanos Latein in De subtilitate, sowohl ‚in punc­ to‘ Terminologie als auch Syntax, damaligen sowie heutigen Lesern bereitet, vgl. Jensen: Carda­ nus and his readers in the sixteenth century (Anm. 1), S. 284–308. 64  Der Angriff gilt hauptsächlich der Dialektik, deren Nutzen an der Gewinnung und Anwendung neuer Erkenntnisse zu messen sei, zum zweiten der sinnlosen Jagd nach Barbarismen; Cardano: In calvmniatorem librorum de Svbtilitate, actio prima (Anm. 38), S. 1271–1273. 65  Girolamo Cardano: De Libris propriis. In: Opera omnia (Anm. 1) I, S. 123b: „Memineris semper, verba propter res ipsas facta esse, non res propter verba.“ Die Frage des Stils ist für Cardano, wie so viele andere Fragen, eine Frage der Lebensdauer; die rhetorischen Tugenden des Attizismus erachtet er als geeignet, eine bleibende Verständlichkeit zu garantieren: „Fugiamus autem obscuritatem, quae per se etiam nimis obrepit, & temporum successu, & vetustatis vitio, & linguarum defectu atque permutatione libros ipsos reddit inutiles. Sed & cuique suam reddamus consuetudinem, vt facilior & clarior euadat oratio. Familiaris autem sit: sermo: propter id enim inuentus est, vt ab omnibus & faciliè intelligaris.“ [„Meiden wir die Dunkelheit, die von sich aus sich allzu sehr einschleicht und durch den Lauf der Zeiten, die Fehler des Alters, die Mängel und Veränderungen der Sprachen die Bücher selbst unbrauchbar macht. Wir wollen aber ein jedes nach seiner Gewohnheit wiedergeben, damit die Rede einfacher und klarer hervorgehe.“] Was Eleganz und Ornat der Sprachen betrifft, so variiert Cardano seine Vorstellung in Anbetracht von Thema und Gattung vgl. ebd. S. 126a–127a. 66  Zum ‚ton de la chose‘ und der aufklärerischen Kritik an Wortklauberei vgl. Eric Achermann: Reisen zwischen Philologie und Empathie. Michaelis und die Niebuhr-Expedition. In: Wissen­ schaftliches Reisen – reisende Wissenschaftler. Studien zur Professionalisierung der Reisefor­ men zwischen 1650 und 1800. Hg. v. Christian von Zimmermann. Cardanus. Jahrbuch für Wis­ senschaftsgeschichte 3 (2002), S. 51–78, hier S. 57 f.



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 165

sich der Möglichkeit, die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks durch die Eindeutig­ keit des Kontextes zu beheben. Denn egal wie schlecht der sprachliche Ausdruck ist, der Exeget ist der Absicht des Autors verpflichtet, will er nicht als bloßer Ver­ leumder erscheinen. Eben darin besteht ja das Fällen eines gerechten Urteils, die Umstände zu erwägen und die ursprüngliche Absicht zu rekonstruieren, um so das Gesetz schließlich angemessen zu applizieren. Wie wir noch sehen werden, sind es solche Einsichten, die Cardano mit beeindruckender Eleganz und Provo­ kationslust in seinem Encomium Neronis zu Prinzipien apologetischer Verfahren und eines kritischen iudicium erhoben hat. Doch zurück zu unserer Rettung. Aller bekundeten Bescheidenheit zum Trotz liefert Lessing eine elegante Übersetzung, die darüber hinaus Cardanos Ausfüh­ rungen nicht nur vollständig, sondern in den allermeisten Fällen auch genau wie­ dergibt. Sein Exzerpt setzt bei den Unterschieden an, die unter den Menschen statthaben, wobei diese nicht geringer seien als der Unterschied von Mensch und Tier.67 Sowohl die Wahl des Ausgangspunktes als auch eine kleine Änderung im ersten Satz sind bedenkenswert. Lessing verkürzt zum einen die vier Kriterien, die Cardano nennt, auf drei: Sprache, Sitten und Gesetze – „provinciae“, die geografische Lage also, lässt er aus. Bei Cardano nun dienen diese Kriterien der Binnendifferenzierung der Gattung Mensch, die ihrerseits durch drei Fakultäten konstituiert wird: Erfindungsgabe, Sprachfähigkeit und Handfertigkeit.68 Diese allgemeinen anthropologischen Äußerungen, die sich nur wenige Zeilen zuvor finden, nimmt Lessing zum anderen nicht in sein Exzerpt auf. Bei einem Zitat, das sich über mehrere Seiten erstreckt, erscheinen die Fragen berechtigt, wieso Lessing mit einem Vergleich einsetzt, dessen Prämisse – die Distanz von Mensch und Tier – er nicht mitliefert, wieso das eine Wort, das dem Einfluss der geografi­ schen Lage gilt, weggekürzt wird.

67  Cardano: De Svbtilitate (Anm. 33), S. 253: „Dissidebant inter se enim homines, ac nunc etiam non minus quàm belluae ab illis […]“. [Die Menschen haben sich von einander unterschieden, und unterscheiden sich auch jetzt noch, nicht weniger als die Tiere von ihnen]; Lessing: Rettung des Hier. Cardanus, S. 201 f.: „Die Menschen sind von je her, an Sprache, Sitten und Gesetzen, eben so sehr unter sich von einander unterschieden gewesen, als die Tiere von ihnen.“ 68  Cardano: De Svbtilitate (Anm. 33), S. 253: „Sed quoniam nuditas obnoxia erat periculis & minus firma, tribus illum armauit praesidijs: ingenio ad inuentionem necessariorum: sermone ad auxilium: manibus ad perfectionem omnium erorū quae uel ingenio excogitasset, uel ser­ mone ab alijs didicisset.“ [„Weil aber die Nacktheit Gefahren ausgesetzt und wenig sicher war, wappnete sie diesen /i.e. den Menschen/ mit drei Schutzmitteln: mit dem Scharfsinn zur Erfin­ dung des Notwendigen; mit der Rede zu seinem Beistand; mit den Händen zur Vervollkomm­ nung all desjenigen, was er durch Scharfsinn ausgedacht oder durch die Rede anderer gelernt hatte.“]

166 

 Eric Achermann

Der Verdacht liegt nahe, dass Lessing die genannten Elemente in Cardanos Ausführungen für seine Apologie als wenig opportun erachtet. Dass beides jedoch von beträchtlicher Bedeutung für Cardanos Argumentation sein dürfte, zeigt die Folge. Für Cardano trägt die geografische Lage, insbesondere Klima, Bodenqua­ lität und Wasserversorgung, entscheidend zur Ausbildung beständiger Städte und Reiche bei, ja, er geht so weit, diese Faktoren zu notwendigen Bedingun­ gen politischer Stabilität zu erheben. Ab der zweiten Ausgabe präzisiert er seine Vorstellung, indem er Gesetz und militärische Stärke in Analogie zu Körper und Geist des Menschen setzt und für die Ausbreitung und Erhaltung der Macht eines Gemeinwesens verantwortlich macht.69 Die Reduktion von Gesetz und Kraft auf den Antagonismus von Geist und Körper ist Ausdruck, wie sich noch zeigen wird, eines fundamentalen Antagonismus, der nicht nur Cardanos gesamtes Denken, sondern auch den Plan seines gesamten Werkes mitbestimmt. Die Gesetze nun identifiziert Cardano in dem von Lessing übersetzten Auszug mit den Religionsformen,70 wobei er ganz konventionell deren vier kennt: die Vielgötterei, das Judentum, das Christentum und den Islam. Da nun die Unterschiede, die sich zwischen den Menschen aufgrund ihrer jeweiligen Religion ergeben, als von gleicher Größe erachtet werden, wie der Unterschied,

69  Girolamo Cardano: De svbtilitate libri XXI. Nvnc demum recogniti atq; perfecti. Basel 1554, S. 355: „Quod ad uiros attinet, horū duae sunt partes, corpora mensq́;. Corporibus utimur ad ea quae mens docet & imperat. Mens pura esse nequit, nec cui omnes libenter pareant, nisi quòd purissimum est illius separet̄ & imperet. Pars autem haec mentis lex uocatur. Sola igitur ciuitas in qua lex imperet, non homines, & coproa hominum miltari robore exercitata, situs q́; tum salubris tum tutus & aditu facilís aeterna in libertate manere, id est, diuturna potest.“ [„Was den Menschen betrifft, so hat er zwei Teile, Körper und Geist. Den Körper verwenden wir zu demjenigen, was der Geist lehrt und befiehlt. Der Geist kann aber nicht rein sein, und es gehorcht ihm nicht alles bereitwillig, wenn nicht derjenige Teil, der am reinsten ist, abgetrennt wird und herrscht. Diesen Teil des Geistes aber nennen wir das Gesetz. Nur die Stadt nämlich, in welcher das Gesetz, nicht aber die Menschen und in militärischer Stärke geübte Körper dieser Menschen herrschen, kann als ein kräftiger, sicherer und leicht zugänglicher Ort in Freiheit verbleiben, das heißt beständig sein.“] 70  Corsano (Lessing e il Cardano [Anm. 61], S. 119) macht darauf aufmerksam, dass Lessing Cardanos synonymer Verwendung von „Religion“ und „Gesetz“ ganz auffällig keine Beachtung schenkt, und folgert, wie mir scheint zurecht: „Ed è ben significativo che il Lessing non rivolga molta attenzione a questo criterio autenticamente cardaniano, che potrebbe dirsi antropologico, etnografico e pertanto strettamente naturalistico; […].“ [„Und �������������������������������������� so ist es bezeichnend, dass Les­ sing diesem echt cardanschen Kriterium keine große Beachtung schenkt, das anthropologisch, ethnografisch und also im eigentlichen Sinne naturalistisch genannt werden könnte.“] – Zur Be­ griffsgeschichte von Cardanos „lex“ für „religio“ vgl. Ernst Feil: Religio. Bd. II: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs zwischen Reformation und Rationalismus (ca. 1540–1620). Göttingen 1997, S. 55–69.



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 167

der den Menschen vom Tiere trennt, so liegt der Schluss nahe, Cardano messe den Lehrinhalten praktischer und spekulativer Theologie dieselbe Distinktions­ kraft bei wie Ingenium, Sprachfähigkeit und Handfertigkeit, die zu dritt das Menschsein konstitutieren. Wir scheinen hier also von einer grundlegenden Indifferenz, wie sie die Betrügerthese vorsieht, meilenweit entfernt. Doch bald wird deutlich, wie viel Ironie in dem kleinen Zusatz „ac nunc etiam non minus quàm belluae ab illis“ steckt: Als Hunde bezeichnen Christen und Mohamme­ daner sich gegenseitig und beide gemeinsam die Juden. Die Größe des Unter­ schieds besteht also nicht zuletzt darin, dass Menschen anderer Religion als Tiere behandelt werden. Die Verhältnisse zwischen Mensch und Tier und den Religionen untereinan­ der werden dadurch noch verworrener, dass Cardano kurz zuvor den Menschen nicht nur als theoretisch, praktisch und produktiv begabten, sondern auch zur Lüge befähigten bestimmt hat: Der Mensch selbst aber ist für vier Dinge gemacht: erstens, damit er das Göttliche erkenne; zweitens, damit er dieses als ein Mittler mit dem Sterblichen verbinde; drittens, damit er über das Sterbliche herrsche. Es musste nämlich in dieser gleichwie in der himmlischen Gattung etwas Vorzügliches und Edles geben, die Übrigen zu beherrschen, hier durch Macht, da hingegen aus freiem Willen. Viertens schließlich, damit er mit der ganzen Gabe des Denkens erfüllt werde und ein betrügerisches Lebewesen sei. Aufgrund ihrer Dummheit können nämlich die Tiere, aufgrund ihrer Rechtschaffenheit die Himmlischen nicht betrüge­ risch sein. Der Mensch ist durch seine Verstandestätigkeit dem Göttlichen ähnlich erschaf­ fen, durch seine Schlechtigkeit aber den Tieren. Dreifach also ist die Gattung der Menschen: Göttlich, da sie nicht betrügt und nicht betrogen wird; menschlich, da sie betrügt, aber nicht betrogen wird; tierisch, da sie nicht betrügt, jedoch betrogen wird. Was aber betrügt und betrogen wird und was den größten Teil des menschlichen Geschlechts ausmacht, ist nicht einfacher Art, sondern aus tierischer und menschlicher Gattung gemischt.71

71  Cardano: De Svbtilitate (Anm. 33), S. 250: „Homo uerò ipse propter quatuor factus est: primū ut diuina cognosceret: secundum ut illis mortalia medius existens connecteret: tertium ut mor­ talibus imperaret. Necesse enim erat & in hoc genere uelut & in coelesti aliquod esse optimum ac nobilissimum, quodq; imperitet caeteris, Hic autem ui, illic uerò sponte. Quartum ut omne cogitandi munus impleretur, essetq; animal fallax. Nam belluę fallaces esse non poterant ob stultitiam, superi uerò ob probitatem. Homo igitur intelligendo diuis similis efficitur, prauitate autem belluis. Triplex igitur hominum genus: Diuinū, quod non decipit nec deciptiur: Huma­ num, quod decipit & non decipitur: Belluinum, quod non decipit & decipitur. Quod uerò decipit ac decipitur, quodq; maximam solum occupat humani generis partem, non simplex modus, sed mixtus est hic ex belluino humanoq; genere.“

168 

 Eric Achermann

Mit Lust und Fantasie variiert Cardano seine zwei-, drei- und viergliedrigen Krite­ rienkataloge.72 Recht eigenwillig bestimmt er die Zwitterstellung des Menschen, indem er den Betrug zu dessen Signum erklärt. Einem Buch, das „Subtilität“ im Titel führt, erscheint eine solche Bestimmung nicht unangemessen, geht es doch nicht bloß um das Entdecken verborgener Wahrheiten, sondern auch um den erforderlichen Scharfsinn, von solcher Verborgenheit nicht betrogen zu werden.73 Dabei geht Cardano mit den Intellektualisten einig, dass die Vernunft selbst nicht betrogen werden kann, fügt jedoch hinzu, dass die Freiheit den Menschen ganz im Sinne des Genesis-Berichts dazu verleitet, kraft der Gabe des Denkens und des Sprechens zu betrügen.74 Es ist ein merkwürdiges Paradox, das Cardano entwickelt. Der Mensch unter­ scheidet sich vom Tier ja nicht nur durch seine Anlagen, sondern auch dadurch, dass er sich kraft dieser Anlagen durch Erfindung, Rede und Handwerk eine eigene Sphäre schafft; folglich steht diese im Zeichen der spezifisch menschlichen

72  Cardano ist überzeugt, dass die Unterteilungskunst den Weg zu eigentlicher Erkenntnis ebnet, da sie es erlaubt, Ordnung und damit die Partizipation der Welt am Geist freizulegen; vgl. Girolamo Cardano: Il prosseneta ovvero della prudenza politica/Proxenata sev de prvdentia civi­ li liber (erstmals 1627), I. Zweispr. Ausg. Übers. v. Piero Cigada, komm. v. Luigi Guerrini. Mailand 2 2002, lat. S. 519 f. 73  Zu Cardanos schwankenden Bestimmung von „subtilitas“ als schwer erkennbarer Sache und als geistiger Fähigkeit, schwierige Sachen zu erkennen, vgl. Pierre Magnard: La notion de subtili­ té chez Jérôme Cardan. In: Girolamo Cardano. Le opere, le fonti, la vita, S. 159–167, hier vor allem S. 159–161; Maclean: The interpretation of natural signs, S. 238 f. – Schütze (Die Naturphilosophie in Girolamo Cardanos ‚De subtilitate‘ [Anm. 51], S. 29–38) verkürzt Cardanos Argument, da er die Subtilität auf eine bloße Eigenschaft der Sachen beschränkt. – Natürlich hält Scaliger Cardano gleich zu Beginn der ersten Exercitatio (I, 1, S. 1r) diesen Fehler vor, und definiert seinerseits die Subtilität als geistige Fähigkeit, die „inter caussam penetrat, & effectum“ [„zwischen Ursa­ che und Wirkung dringt“]; Cardanos Verteidigung hingegen, hört sich merkwürdig an, will er doch die verschiedenen Verwendungsweisen nicht „homonym“, sondern vielmehr „paronym“ verstanden wissen; „nec est purè homonymum, sed potius paronymum, velut ens, de quo cōstat esse scientiam supernaturalem.“ [„Nicht bloß homonym, sondern viel eher paronym, gleichsam ein Seiendes, von dem abhängt, das eine Wissenschaft übernatürlich ist.“] Cardano: In calvm­ niatorem librorum de Svbtilitate, actio prima (Anm. 38), S. 1289. 74  Zu Cardanos sehr unorthodoxer Interpretation des Sündenfalls, dass es nämlich der Neid Gottes gewesen sei, der Adam aus dem Paradies vertrieben habe, vgl. Marco Bracali: Einleitung zu: Girolamo Cardano: De sapientia libri quinque. Florenz 2008, S. IX f. Diese Stelle wird, wen wundert es?, die Zensoren des Hl. Offiziums umtreiben; vgl. Ugo Baldini: L’edizione dei docu­ menti relativi a Cardano negli archivi del Sant’ufficio e dell’Indice. Risultati e problemi. In: Cardano e la tradizione dei saperi. Hg. v. Marialuisa Baldi und Guido Canziani. Mailand 2003, S. 457–515, hier S. 500 und S. 510.



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 169

Doppelnatur und damit unter Betrugsverdacht.75 Durch sein Denken und Reden vermag der Mensch seiner göttlichen Bestimmung folgend zu herrschen; gleichzeitig sind beide aber auch notwendige Bedingung seiner allfälligen Dep­ ravation. Nur in Gott nämlich sind Vernunft und Wille eins; das Tier reduziert sich auf den bloßen Willen, auf reine Triebsteuerung, die keiner leitenden Ver­ nunft gehorcht, sich damit aber auch einer moralischen Beurteilung entzieht; der Mensch hingegen kann seine Denkfähigkeit dazu missbrauchen, seine weltlichen Begierden zu befriedigen und die göttlichen Gebote zu missachten, schlimmer noch, der Mensch ist genötigt um seiner Selbsterhaltung willen, Strategien der Verstellung und des Trugs zu wählen.76 Die gesamte menschliche Wirksphäre ist also in ihrem spannungsvollen Verhältnis zu Vernunft und Wille problematisch, und so sind es auch die unter­ schiedlichen Formen des Gesetzes. Die Identifikation von Gesetz und Religions­ form sowie die argumentative Einbettung der Religionsformen zwischen mensch­ liche Natur und geografische Bedingungen staatlicher Organisation zeigt mit aller Deutlichkeit auf, unter welchem Gesichtspunkt Cardano die Religion hier betrachtet sehen möchte.77 Sie fungiert in einem Werk, das nota bene der Natur­ philosophie gewidmet ist, als Scharnier zu den eigenen moralischen und politi­ schen Schriften, in welchen er wiederholt auf die Adaptation der Religionsform an die jeweiligen politischen und örtlichen Bedingungen eingeht. In Anbetracht dieses stets intendierten Gesamtentwurfs haben wir es also nicht mit Problemen spekulativer Theologie zu tun, die der Wahrheit eines philosophischen, von menschlichen Angelegenheiten abgehobenen Gottesbegriffes gälte,78 sondern

75  Zur zentralen Bedeutung des Betrugs in Cardanos Anthropologie vgl. Alfonso Ingegno: Saggio sulla filosofia di Cardano. Florenz 1980, S. 102–133. 76  Vgl. Thomas Leinkauf: Philosophie, Religion und Politik bei Girolamo Cardano (1501–1576). In: Politischer Aristotelismus und Religion in Mittelalter und früher Neuzeit. Hg. v. Alexander Fidora u. a. Berlin 2007, S. 89–105, hier v. a. S. 97–104. 77  Zu den naturalistischen Implikationen von Cardanos Religionsbegriff vgl. Giancarlo Zanier: Cardano e la critica delle religioni. In: Giornale critico della filosofia italiana 54 (1975), S. 89–98. 78  Dieser philosophische Gottesbegriff ist Gegenstand einer Reihe weiterer kleiner Schriften wie Hymnus, De arcanis aeternitatis und De uno. Den programmatischen Unterschied äußert Cardano selbst gleich zu Beginn seines Hymnus (Girolamo Cardano: Hymnvs sev canticvm ad Devm. In: Opera omnia [Anm. 1] I, S. 695): „At nos hymnū non populo sed Diuinitati, non hominibus sed Deo canimus. Lumen igitur sapientiae, quod à Te solo habere licet, indulge, vt quantum homini fas est, de tua potestate, sapientia, aeternitate, beatitudine, amore, ac beneficiis erga nos non solùm, sed vniuersa quę genuisti; quae creâsti, quae fecisti, quae esse voluisti, vt meliús exprimam, verba habere possim: […].“ [„Diesen Hymnus aber singen wir nicht dem Volk, sondern der Gottheit, nicht den Menschen, sondern Gott. Das Licht der Weisheit nämlich, das einzig von Dir zu haben möglich ist, gewähre, damit ich, soweit es einem Menschen zukommt,

170 

 Eric Achermann

um eine Zwischenstufe zwischen Philosophie und Historie, in welcher Religion als instrumentum regni und als Realisierung des Geistes in die kontingente Sphäre des Menschen hineinwirkt. Es ist also alles andere als abwegig, sondern im Gegenteil naheliegend, dass Cardano die Religionsformen im Lichte, oder besser: im Schatten der impostura betrachtet. Ein Leben in göttlicher Wahrheit ist ein Gnadengeschenk, als solches entzieht es sich einer natur- oder gar moralphilosophischen Betrachtung, wie sie sich De subtilitate vornimmt. Und ebenso entzieht sich die Frage nach dem tat­ sächlichen, das heißt historischen Sieg der einen Religionsform über die andere einer solchen Betrachtung. Die allgemeinen Regeln nämlich, die hinsichtlich Sieg oder Niederlage im Bereich der politischen Sphäre gelten, sind ein Gegen­ stand, den Cardano in seinem moralischen Werk zu erhellen trachtet; die Analyse der jeweiligen verborgenen Ursachen ihrerseits ist Aufgabe historischer Untersu­ chung. So hängt denn die Beurteilung der Qualität einer Religionsform in De subtilitate nicht von der Richtigkeit der spekulativen Elemente der jeweiligen Theo­ logie ab, sondern von deren praktisch-moralischen Nutzen. Was auch immer für eine Religionsform betrachtet wird, keine ist für Cardano im Besitz einer reinen Wahrheit; sie stellt jedoch einen mehr oder minder angemessenen Ausdruck der Wahrheit unter den jeweiligen Bedingungen dar. Cardanos Anthropologie ist zutiefst pessimistisch. Die Tragik der conditio humana liegt in der unaufhebbaren Distanz, welche die noumenale, geistige und göttliche Glückseligkeit von dem zivilen Glück trennt, dass dem menschlichen Leben beschieden ist. Es sei zwar richtig, dass die Glückseligkeit des Einzelnen nicht aus dem Streben nach Lust und der Vermeidung von Unlust resultiere, sondern aus der Erkenntnis, die den Menschen Gott ähnlich mache;79 nichtsdes­

Worte finde, nicht nur deine Macht, Weisheit, Ewigkeit, Seligkeit, Liebe und Gnade gegen uns besser auszudrücken, sondern alles, was du erzeugt, was du erschaffen, was du gemacht hast; /…/.“] 79  Girolamo Cardano: De vtilitate ex adversis capienda, libri IIII. I, cap. 3. Basel 1561, S. 68: „Essentq; limaces absolutè felices cum ualerēt, palā énim est eos tunc affectibus corporeis nō torqueri, nec animi perturbationibus. Esset & summū bonum maximè stupidorum atq; imperito­ rum. Quod planè absurdum est. cum enim summum bonū nostrum à uerè summo bono defluat, id est Deo, palam est, id etiam eorum esse debere, qui summo bono aliquo modo magis similes sunt. nō igitur malorum stupidorum uel imperitorum.“ [„Die Schnecken wären, falls sie gesund sind, vollständig glückselig, da es offensichtlich ist, dass sie dann weder durch körperliche An­ fälle noch durch Trübungen des Gemüts gequält werden. So käme also das höchste Gute den im höchsten Maße Dummen und Unwissenden zu, was völlig absurd ist. Da nämlich unser höchstes Gut aus dem wahren höchsten Gut hervorgeht, das heißt aus Gott, so ist es offensichtlich, dass es denjenigen zukommen muss, die in gewisser Weise dem höchsten Gut ähnlicher sind, also nicht den Schlechten, Dummen und Unwissenden.“]



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 171

totrotz habe sich die Lebensweisheit dadurch zu bestätigen, dass sie nicht etwa in der Erkenntnis, sondern im Leben den göttlichen Attributen näher komme, und dies heißt größtmöglicher Bedürfnislosigkeit, größtmöglichem Wissen, größt­ möglicher Lebensdauer und größtmöglicher Sicherheit.80 Die Nähe zu dem uner­ reichbaren Ideal, bezeugt, ob das göttliche Licht in angemessener Weise unsere Entscheidungen geleitet hat.81 Kurz: Glückseligkeit ist in Gott absolut, im Menschen skalierbar. Bemes­ sen wird die Weisheit, und zwar als Verhältnis von Wissen und Klugheit.82 Der Mensch sieht sich im Reich des Körpers und der Gesellschaft Nötigungen ausge­ setzt, die eine sichere, gleichbleibende und konfliktfreie Harmonie von Erkennt­ nis und Moral verunmöglichen. Bezeichnenderweise, und alles andere als theo­ logisch unbedenklich, erscheint Jesus Christus als das große Vorbild einer zivilen Weisheit, die Wissen und Klugheit in sich vereint.83 Die Beweise hierfür liefern, folgen wir Cardano in De sapientia, die glücklichen Antworten, die Jesus auf drei Fangfragen gibt: Jesus spricht sich nicht für oder gegen das Steinigen von Ehe­ brecherinnen aus (Joh 8,7), Jesus spricht sich nicht für oder gegen den Tribut an den Kaiser aus (Mt 22,21) und Jesus antwortet nicht, ob er von Gott bevollmäch­ tigt ist (Mk 11,33), sondern findet in all den drei Fällen eine Parade, welche die intendierte „Infamie“ mit „Infamie“ für den Verleumder, die intendierte „Gefahr“ mit „Gefahr“ für den Verleumder begleicht. Mit „verbis cavillatoriis“ [spöttischen Worten] nämlich begegnet Jesus seinen Verleumdern und macht diese mundtot,

80  Girolamo Cardano: De sapientia libri quinque [1544], V. Hg. v. Marco Bracali. Florenz 2008 (Hyperchen 2), S. 290 f.: „Collocandum est ergo quicquid nobis ipsius concessum est in volupa­ tete firma. Est autem firma voluptas quae praesentium delectationem habet, futurorum indu­ biam spem absque praeteriti poenitentia. Sed cum non nisi his, qui ab initio sapientes fuerunt concessum sit praeteritorum non poenitere, sufficiet quoniam id levissimum sit in voluptate vel dolore satisfecisse praesentibus tantum atque futuris. Ea autem ratio est, ut hoc assequamur, ut quod in Diis optimum est imitemur. Est tamen in Diis optimum nullo indigere, omnia scire, diutissime vivere ac securitate frui.“ [„Es gilt also dasjenige, was uns gegeben ist, in einen be­ ständigen Genuss zu legen. Ein beständiger Genuss aber ist, was Vergnügen am Gegenwärtigen, unzweifelhafte Hoffnung ins Künftige und keine Reue gegenüber dem Vergangenen hat. Da es aber nur demjenigen, der von Anfang an weise war, gegeben ist, das Vergangene nicht zu be­ reuen, soll es genügen – da es das Leichteste ist – in Genuss oder Schmerz dem Gegenwärtigen ebenso wie dem Künftigen Buße zu tun. Auf diese Weise aber sind wir in der Lage, dasjenige, was in den Göttern das Beste ist, nachzuahmen. Das Beste in den Göttern ist, nichts zu ermangeln, alles zu wissen, am längsten zu leben und sich in Sicherheit zu wiegen.“] 81  Vgl. etwa Girolamo Cardano: Theonoston sev de tranqvillitate. In: Opera omnia (Anm. 1), II, S. 350. 82  Vgl. Guido Canziani: ‚Sapientia‘ e ‚Prudentia‘ nella filosofia morale di Cardano. In: Girolamo Cardano (Anm. 1), S. 11–47, hier S. 44. 83  Vgl. Ingegno: Saggio sulla filosofia di Cardano (Anm. 75), S. 118.

172 

 Eric Achermann

ja, die Wirkung seines scharfsinnigen Antworten ist so riesig, dass sie den Anwe­ senden wie Wunder erscheinen.84 So erklärt sich denn auch in den von Lessing übersetzten Seiten das große Gewicht, das Cardano der Moralität einer Glaubensgemeinschaft einräumt. Sie steht im Zeichen der menschlichen Doppelnatur und auf dem Fundament von Car­ danos Bestimmung des Menschen, intellektuelle Erkenntnis notwendig in einer von niederen Begierden geprägten Welt der Körper zu realisieren. Die ironische Bemerkung, dass der Unterschied zwischen Tier und Mensch ebenso groß ist, wie derjenige zwischen Menschen verschiedener Religion, erscheint nun da, wo die jeweiligen Rechtgläubigen die übrigen Irrgläubigen als Tiere bezeichnen als Aus­ druck der Verdunkelung menschlicher Vernunft, die ihrerseits ihren Ursprung nur in der sinnlichen, tierischen Natur des Menschen, nicht aber der Tiere selbst haben kann. Die Invektive, der sich Mohammedaner und Christ bedient, verkennt also, dass der Mensch als Betrüger genuin Mensch und eben nicht Tier ist. Sie verkennt zum zweiten, dass sie dem Menschen zwar dazu dient, seine unselige Grausamkeit zu legitimieren, dass er sich durch diese Grausamkeit aber selbst tierischer als das Tier macht, und zwar kraft der Schuldfähigkeit, die ihn als moralisches Wesen auszeichnet. Genau mit dieser Pointe beschließt Cardano die allgemeinen Ausführungen, die das elfte Buch De hominis necessitate & forma eröffnen, indem er die Grausamkeit des Tigers gar als Ausdruck väterlicher Liebe moralisch veredelt:85 Bei den Verehrern des Mahomets wird ein Christ, und bei beiden ein Jude nicht höher geschätzt, als der verworfenste Hund: er wird verspottet, verfolgt, geschlagen, geplündert, ermordet, in die Sklaverei gestoßen, durch die gewaltsamsten Schändungen gemißhandelt, und mit den unsaubersten Arbeiten gemartert, so daß er von einem Tiger, dem man die Jungen geraubet, nicht so viel auszustehen haben würde.86

Das mutmaßliche Thema von De tribus impostoribus ist also nicht allzu weit ent­ fernt. Sinnliche Verführbarkeit, fehlgeleitetes Handeln, Machtmissbrauch und Betrug stehen im Zentrum von Cardanos Anthropologie und bilden die Grund­ lage seiner Morallehre, die er als Antwort auf das Problem der Diversität versteht. Diese bedeutet dem Hymniker der Einheit immer schon einen Makel, denn Viel­

84  Cardano: De sapientia, III (Anm. 74), S. 221 f. – Zur libertinen Rezeption dieser Stelle vgl. die Angabe bei Eugenio di Rienzo: La Religione di Cardano. Libertinismo e Eresia nell’Italia della Controriforma. In: Girolamo Cardano (Anm. 1), S. 49–76, hier S. 76. 85  Leser Cardanos kennen dessen obsessive Fixierung auf die Vaterschaft, die – verstärkt durch die alles überwältigende Trauer nach der Hinrichtung seines Sohnes – immer wieder an oberster Stelle weltlicher Güter rangiert; davon zeugt vor allem – aber nicht nur – das gesamte De utilitate. 86  Lessing: Rettung des Hier. Cardanus (Anm. 3), S. 202.



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 173

heit bemisst die Gottesferne. Gut Plotinisch, wenn auch aller Wahrscheinlichkeit nach im hohen Maße von Avicenna beeinflusst,87 realisiert sich diese Vielheit im Schlechteren, in der Körperwelt, deren formbare Materialität das Gegenstück zum formenden Geist bildet.88 Unschwer lässt sich denn auch in den falschen Gründen bei der Beurteilung einer Religion, die Cardano anführt, die skizzierte Argumentationslinie erkennen: Die Götzendiener etwa rühmen sich ihrer kriege­ rischen Stärke, der Menge ihrer Götter, deren sinnlicher Erfahrbarkeit und – in gewissen Fällen – der Selbstvergottung. Diese Argumente vermögen offensicht­ lich ebenso wenig zu überzeugen, wie die Bildverehrung und die Lasterhaftigkeit ihrer Götter, da alle diese Charakterisierungen in den Bereich des Vielfältigen, des Sinnlichen und der Begierde fallen. Nichtsdestotrotz behaupten dieselben Heiden, in Ansehung der göttlichen Einheit und des Ursprungs der Welt den Christen überlegen zu sein, welche die Philosophie verachten – ein Argument, dem Cardano nicht widerspricht. Bereits in dieser ersten Religionsform erkennen wir also die Argumentations­ linie, welche die Folge prägen wird. Zwischen Vernünftigkeit und Echtheit einer Religion passe kein Blatt, da Gott im eigentlichen Sinne Vernunft ist. Es ist dies eine Einstellung, die Lessing mit großem Nachdruck hervor streicht: Cardan hätte es bei den historischen Gründen können bewenden lassen; denn wer weiß nicht, daß, wenn diese nur ihre Richtigkeit haben, man sonst alle Schwierigkeiten unter das Joch des Glaubens zwingen müsse? Allein er ist zu klug, diese Aufopferung der Vernunft, so gerade hin, zu fordern. Er behauptet vielmehr, daß die ganze Lehre Christi nichts enthalte, was mit der Moral und mit der natürlichen Weltweisheit streite, oder mit ihr in keine Ein­ stimmung könne gebracht werden: nihil continent praecepta Christi a philosophia morali aut naturali absonum, sind seine eigne Worte. Das ist alles, was man verlangen kann! Man sage nicht, daß er dadurch auf einer andern Seite ausgeschweift sei, und unsrer Religion ihre eigentümlichen Wahrheiten, auf welche die Vernunft, vor sich allein, nicht kommen kann, absprechen wolle. Wenn dieses seine Meinung gewesen wäre, so würde er sich ganz anders ausgedrückt haben; die Lehre Christi, hätte er sagen müssen, enthält nichts anders, als was die Moral und natürliche Philosophie enthält; nicht aber: was sie enthält, harmoniert mit diesen. Zwei ganz verschiedne Sätze!89

Zwei Verhältnisse sind es, denen Lessings Interesse gilt: Zum einen das Verhältnis von Glaube und Geschichte, zum anderen dasjenige von Glaube und Vernunft.

87  Vgl. José Manuel García Valverde: Einleitung zu: Girolamo Cardano: De uno/ Sobre lo uno. Zweispr. Ausg. Übers. und komm. von dems. Florenz 2009 (Hyperchen 3), S. XVII. 88  Cardano: De uno (erstmals 1663), hier nach der Ausg. Valverde: De uno/Sobre lo uno (Anm. 87), so etwa S. 2 u. 22. 89  Lessing: Rettung des Hier. Cardanus (Anm. 3), S. 210.

174 

 Eric Achermann

Wer neben den Fakten nur gerade den Glauben gelten lässt, der vertritt einen waschechten Fideismus, dem Lessing die Forderung nach der Erkenntnis notwen­ diger Zusammenhänge entgegensetzt.90 Vernunft ist ihm Wahrheits- und Echt­ heitskriterium einer Religion. Dass Cardano die Übereinstimmung von Vernunft und Glaube als Kriterium für die Qualität einer Religion erachtet, darüber kann kein Zweifel bestehen. Doch stellt sich die Frage, wie nahe Lessings Vorstellun­ gen bezüglich der Vernunft sowie der Übereinstimmung von Vernunft und Glaube tatsächlich denjenigen Cardanos kommen. Für Cardano ist eigentliche Erkennt­ nis im Wesentlichen ekstatisch,91 sie besteht in einer Befreiung des Intellekts von der körperlichen Diversität und dem Vollbesitz der Wahrheit.92 Diese Wahrheit ist die Wahrheit des theoretischen Philosophen, während der praktische Philosoph über die Erhaltung und Verwaltung des Guten in einer ihm feindlichen Welt sin­ niert. Dass Christus in seinen Lehren nirgends der Vernunft, genauer der Naturund Moralphilosophie, widerspreche, bedeutet – wie wir gesehen haben –, dass Jesus Weisheit in der List besteht, der Wahrheit den geringst möglichen Abbruch zu tun. Im Gegensatz zu dem verhassten Sokrates, der sich durch seine Philoso­ phie in unsinnige Gefahr begibt und schließlich um sein Leben bringt, erhält sich Jesus auch in größter Gefahr schadlos. Für Cardano ist Jesus also nicht so sehr der gekreuzigte Erlöser, sondern vielmehr Vorbild eines jeden guten Sophisten. Die Bedrohung, die vom Leben ausgeht, zielt nämlich immer auf einen Besitz, der nur durch eine hochsubtile Adaptationsfähigkeit im Hinblick auf die eigenen Begabung und die jeweiligen Umstände gesichert werden kann: Es liegt nämlich in unserem freien Willen, das Glück in eine beliebige Sache zu legen, sei sie gut oder nicht, wie Macht, Reichtum, Kraft. Daher ist der Mensch in eben dem Maße glücklich, äußerst weise und stark, wie fest er dies will. Legte er nämlich die Glückseligkeit in dasjenige, was schlicht das Seinige ist, das heißt was er bereits besitzt, so wäre er gewiss in allen Punkten glücklich. Müssten wir daher nicht besser statt „erkenne Dich selbst“

90  Leibniz’ Argumente richten sich gegen Bayle; zu dessen Fideismus vgl. Nicola Stricker: Die maskierte Theologie von Pierre Bayle. Berlin/New York 2003, v. a. S. 33–44.  91  Girolamo Cardano: De arcanis aeternitatis. Tractatus [erstmals 1663] III. In: Opera omnia (Anm. 1) X, S. 3a: „firma omnis cognitio nostra triplex sit, aut à principiis animae ab initio inditis, aut à sensibus atque ratione, quae nos longius abducit, aut afflatu, cum manifestè co­ gnoscimus, nos admoneri diuinitus.“ [„Alle unsere feste Erkenntnis ist von dreierlei Art, nämlich entweder durch die Anfangsgründe der Seele von Anbeginn weg eingepflanzt, oder durch die Sinne und die Vernunft, die uns gehörig fehlleitet, oder durch Inspiration, wenn wir evident erkennen, dass wir durch göttliche Eingebung gewarnt werden.“] 92  So z. B. Cardano: Theonoston sev de tranqvillitate. In: Opera omnia II, S. 350. – Vgl. Guido Canziani: L’immortalité de l’âme chez Cardan entre histoire naturelle et vision de Dieu. In: La pensée scientifique de Cardan. Hg. v. Jean-Yves Boriaud. Paris 2012, S. 161–184, hier S. 175.



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 175

„beherrsche Dich selbst“ sagen? In jenem nämlich ist ein großes Gut, in diesem aber das höchste. Dieses besitzt, wer klug und stark sowie durch sein Handeln gewohnt ist, sich nach und nach selbst zu beherrschen, und wir erreichen dies, indem wir unsere Begierden bändigen. Wer sich beherrscht, ähnelt einem, der ein Pferd durch den Zaum beherrscht, wer aber bereits gewohnt ist, seine Begierden zu beherrschen, ähnelt einem, der auf einem bereits gezähmten Pferd mit einem Zaum reitet, wer aber nicht gewohnt ist zu herrschen, oder seine Begierden nicht beherrscht, der ähnelt einem, der ein wildes Pferd ohne Zaum reitet. Der erste behütet sich mit größter Mühe, der zweite ist ohne Mühe und Gefahr freudig und geht mit Lust den gewählten Weg, der dritte schließlich wird entweder vom Pferd oder in den Abgrund geworfen. Nur der Weise kann also glücklich sein, weil er begehrt, was er besitzt, und zwar sicher, und nicht glaubt, dass ihm irgendetwas fehle.93

Das höchste Gut ist von der Vorstellung eines sicheren Besitzes nicht ablösbar. Dass für Lessing hingegen Wahrheit und Besitz keinen Reim bilden, ist genugsam bekannt; der Erwerb, nicht der Besitz, so Lessings meritokratische Einstellung, führen zu einer Verbesserung der Denkkräfte, die das alte klerikale Privilegien­ denken und die daraus abgeleiteten ständischen Besitzansprüche eines bornier­ ten Klerus in ihrer Entwicklung hemmen.94 Doch bereits in der Rettung des Hier. Cardanus begegnen wir einer Formulierung, die den Weg zu dieser späten Über­ zeugung weist: Man bediene sich des Gleichnisses nicht, daß, wenn man einmal den rechten Weg wisse, man sich nicht um die Irrwege zu bekümmern brauche. – – Man lernt nicht diese durch jenen, sondern jenen durch diese kennen. […] Der muß ein schwaches Vertrauen auf die

93  Cardano: De vtilitate ex adversis capienda, libri IIII. Basel 1561, S. 335: „Est enim arbitrij nostri, felicitatem in quacūq; re voluerimus, modo uel bona sit, uel differens; ut potētia, diuitiae, robur, collocandi. unde homo fermè semper tàm felix est, maximè sapiens & fortis, quātum se esse uult. Cum enim felicitatē in his collocauerit, quae prorsus sua sint: imò quae iā poßidet, planè is omnibus numeris felix erit. Vnde qui dixit, cognosce teipsum, melius forsan dixisset, tibi ipsi impera? in illo enim magnū est bonū, in hoc verò summū. Est aūt hoc illius qui prudens sit et fortis, usuq; assueuerit, paulatim sibijpsi imperare, atq; id assequimur cupiditates cōprimendo. Qui sibi imperat similis est equū freno regēti: qui aūt assueuit iā cupiditatibus imperare, equū mansuetū cū freno equitāti: qui nō imperare assuevit, nec imperat cupiditatibus, equitanti agrestē equum absq; freno. Primus igitur maximis cū difficultatib. seruabit se: Secūdus sine difficultatibus et periculo laetus, et cū uoluptate peraget propositū iter: tertius aut ab equo excutietur, aut agetur in praeceps. Solus ergo sapiens felix esse potest, quia quae cupit possidet & securus, nec putat sibi quicquā deesse.“ 94  Gotthold Ephraim Lessing: Eine Duplik (1778), I. In: Werke und Briefe. Bd. 8. Werke 1774–1778. Hg. v. Arno Schilson. Frankfurt a. M. 1989, S. 510: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz –“.

176 

 Eric Achermann

ewigen Wahrheiten des Heilandes setzen, der sich fürchtet, sie mit Lügen gegen einander zu halten. Wahrer als wahr, kann nichts sein; und auch die Verleumdung hat da keine Statt, wo ich auf der einen Seite nichts als Unsinn, und auf der andern nichts als Vernunft sehe.95

Ihre Brisanz verdankt die Stelle dem Vergleich mit den allgegenwärtigen PredigtTopoi, die der Beständigkeit im Glauben gelten und nicht zuletzt den Kern des apologetischen Schrifttums gegen das Freidenkertum bilden: Denn nicht zur Rechten, nicht zur Linken sollt ihr weichen (5 Mos 5,32), noch unbeständig sein in euren Wegen (Jak 1,8). Dagegen hält Lessing, dass es die Irrwege sind, die uns die Wahrheit lehren. Das abgewandelte Gleichnis präsentiert so Wahrheit als uneinholbarer Fluchtpunkt: Die Vernunft vermag einzig über die wahre und falsche Richtung zu urteilen. Über Vergleich und Reflexion aber kann sich der Mensch seines richtigen Weges versichern. Wem Lessing diese Haltung verdankt, verrät nicht zuletzt die Paraphrase, worin er Cardanos „nihil continent absonum“ wiedergibt: „was sie enthält, harmoniert mit diesen“. „Harmonie“ ist in diesem Zusammenhang kein schwaches Indiz; es verweist auf diejenige Quelle, die Lessing etwas näher liegen dürfte als Cardanos Religionsphilosophie, nämlich die berühmten und geschichtsträchtigen Überlegungen, die Leibniz unter dem Titel Discours de la conformité de la foy avec la raison seiner Theodizee voranstellt. Lessings theologische Haltung wird bekanntlich durch eine doppelte Dis­ tanzierung bestimmt, die sich in seiner Oppositionshaltung gegen eine engstir­ nige Orthodoxie sowie eine verwässernde Neologie äußert.96 Wie früh sich diese Haltung bereits ausprägt, zeigt die deutliche Anlehnung an Leibniz’ Discours in den Rettungen, und zwar in zwei Punkten: Zum einen kann der Glaube Dinge enthalten, die sich zwar der Erkenntnis im jeweiligen Zustand der Vernunft ent­ ziehen, dieser jedoch niemals widersprechen; zum anderen darf der vernünf­ tige Kern einer Glaubenswahrheit nicht mit dem kontingenten, ‚doxatischen‘ Gewand verwechselt werden, in dem er sich historisch präsentiert.97 Der Gläu­

95  Lessing: Rettung des Hier. Cardanus (Anm. 3), S. 207. 96  Für eine kurze und klare Darstellung vgl. Albrecht Beutel: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Göttingen 2009, S. 183–186. 97  Gottfried Wilhelm Leibniz: Essais de théodicée (1710). Discours preliminaire de la conformité de la foy avec la raison, § 23. In: Ders.: Die philosophischen Schriften. Hg. v. Carl Immanuel Gerhardt. Bd. VI. Berlin 1885, S. 64: „Une vérité est au dessus de la raison, quand nostre esprit (ou même tout esprit creé) ne la sauroit comprendre: et telle est, à mon avis, la Sainte Trinité, tels sont les miracles reservés à Dieu seul, comme, par exemple, la Création; tel est le choix de l’ordre de l’Univers, qui dépend de l’Harmonie Universelle, et de la connaissance distincte d’une infinité de choses à la fois. Mais une vérité ne sauroit jamais être contre la raison, et bien loin qu’un dogme combattu et convaincu par la raison soit incomprehensible, l’on peut dire que rien n’est plus aisé à comprendre, ny plus manifeste, que son absurdité. Car j’ay remarqué d’abord que par LA RAISON on n’entend



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 177

bige läuft Gefahr, zum einen blind zu sein für das Vernünftige im Offenbarten, indem er hinter den Phänomenen die notwendigen Zusammenhänge verkennt, zum anderen in einem angeblich widersinnigen Äußeren den Glaubensinhalt zu erkennen, indem er die Akkomodation98 des Offenbarenden an die Umstände der Rezipienten übersieht, insbesondere den jeweiligen Stand ihres intellektuellen Fassungsvermögens. Besonders deutlich wird dies etwa in Lessings Ausführung zu den Wundern, die er mit Cardano, aber durchaus im Sinne der Leibniz-Rezeption, in der Rettung auf die Mysterien Jesu beschränkt. Mysterien nun seien nicht wider die Vernunft und die Gesetze der Natur, sondern Ausdruck eines beschränkten Geistes. Unver­ kennbar ist es die leibnizsche Unterscheidung von „vérités de fait“ und „vérités de raisons“, die Lessings diesbezügliche Argumentation von den frühen Schrif­ ten bis in die Erziehung des Menschengeschlechts prägt: Das Wort Geheimnis bedeutete, in den ersten Zeiten des Christentums, ganz etwas anders, als wir itzt darunter verstehn; und die Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunfts­ wahrheiten ist schlechterdings notwendig, wenn dem menschlichen Geschlechte damit geholfen sein soll. Als sie geoffenbaret wurden, waren sie freilich noch keine Vernunfts­ wahrheiten; aber sie wurden geoffenbaret, um es zu werden. Sie waren gleichsam das Facit, welches der Rechenmeister seinen Schülern voraus sagt, damit sie sich im Rechnen eini­ germaßen darnach richten können. Wollten sich die Schüler an dem voraus gesagten Facit begnügen: so würden sie nie rechnen lernen, und die Absicht, in welcher der gute Meister ihnen bei ihrer Arbeit einen Leitfaden gab, schlecht erfüllen.99

pas icy les opinions et les discours des hommes, ny même l’habitude qu’ils ont prise de juger des choses suivant le cours ordinaire de la nature, mais l’enchainement inviolable des verités.“ [„Eine Wahrheit steht über der Vernunft, wenn unser Geist oder überhaupt jeder erschaffene Geist sie nicht zu begreifen vermag; und von solcher Art ist m. E. die heilige Dreifaltigkeit, von solcher Art sind die Wunder, die Gott vorbehalten sind, wie z. B. die Schöpfung; von solcher Art ist die Wahl der Ordnung des Universums, die sowohl von der universellen Harmonie als auch der distinkten sowie gleichzeitigen Erkenntnis einer unendlichen Zahl von Dingen abhängt. Eine Wahrheit wird aber niemals wider die Vernunft sein können; und weit davon entfernt, dass ein von der Vernunft bekämpftes und besiegtes Dogma unbegreiflich sei, lässt sich viel eher sagen, dass es nichts gibt, was einfacher zu begreifen und offensichtlicher ist als seine Absurdität. Wie bereits bemerkt, denken wir hier nicht an die Meinungen und Reden der Menschen, ja, nicht einmal an die Gewohnheit, die diese angenommen haben, um über die Dinge nach dem alltäglichen Verlauf der Natur zu urteilen, sondern an die unverbrüchliche Folgerichtigkeit der Wahrheiten.“] 98  Vgl. Walter Sparn: Nathan der Weise. Lessings Inszenierung religiöser Toleranz. In: Religious Turns – Turning Religions. Veränderte kulturelle Diskurse – neue religiöse Wissensformen. Hg. v. Andreas Nehring u. Joachim Valentin. Stuttgart 2008, S. 220–241, hier vor allem S. 233–235. 99  Gotthold Ephraim Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts [1780], § 76. In: Ders.: Werke und Briefe. Bd. 10: Werke 1778–1781. Hg. v. Arno Schilson u. Axel Schmitt. Frankfurt a. M. 2001, S. 94.

178 

 Eric Achermann

Bedenken wir das Gewicht, das Leibniz’ Verhältnisbestimmung von Vernunft und Glauben in Lessings Denken zukommt, so erscheint es alles andere als nebensächlich, dass Leibniz in seiner Theodizee sowohl Cardanos Priorisierung der Vernunfterkenntnis über das Tatsachenwissen100 als auch dessen morali­ schen Präzepte101 nachdrücklich lobt,102 und es dürften nicht zuletzt diese Erwäh­ nungen sein, die einen wesentlichen Anstoß zu Cardanos Rehabilitierung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gegeben haben. Während nämlich so mancher von Leibniz’ Zeitgenossen Cardano zu einem Libertin und damit zum Vertreter

100  Leibniz: Essais de Théodicée, III, § 254, S. 267: „Je n’entends pas un simple savoir des faits, sans celuy des raisons; mais tel que celuy de Cardan, qui étoit effectivement un grand homme avec tous ses défauts, et auroit eté incomparable sans ces défauts.“ [„Ich meine nicht ein bloßes Wissen der Tatsachen ohne dasjenige der Ursachen, sondern eines wie dasjenige Cardanos, der wirklich bei all seinen Fehlern ein großer Mann war, und ohne diese Fehler unvergleichlich gewesen wäre.“] 101  Leibniz: Essais de Théodicée, III, § 260, S. 271: „Et pour mieux juger de nos biens, et de nos maux, il sera bon de lire Cardan de utilitate ex adversis capienda, et Novarini de occultis Dei beneficiis.“ [„Um besser von unseren Gütern und unseren Übeln zu urteilen, empfiehlt sich, Cardanos De utilitate ex adversis capienda und Novarinis De occultis Dei Beneficiis zu lesen.“] Novarinis Werk erscheint deutsch in einer Übersetzung von Georg Philipp Harsdörffer: Göttliche Liebes=Lust/ Das ist Die verborgenen Wolthaten GOTTES/ Zu Erweckung himmlischer Liebe/ entdecket von Aloysio Novarino. Hambrug 1679. 102  Von der außerordentlichen Wertschätzung Cardanos zeugt bereits ein Sozietätsentwurf aus dem Jahre 1671; Gottfried Wilhelm Leibniz: Bedenken von Aufrichtung einer Akademie oder So­ cietät, § 20. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Briefe. Hg. v. der Akademie der Wissenschaften. Vierte Reihe. Politische Schriften. Erster Band. 1667–1676. Berlin 31983, S. 550: „Der berühmte Cardanus kan ein recht muster seyn eines solchen eigensinnigen wunderlichen extravaganten und doch mit unvergleichlichem ingenio, memoria et experientia begabten Kopfs, dem nichts gemangelt, als judicium oder vielmehr der wille und patienz, sich in die Welt zu schicken und seine Sachen judiciosè zu marck zu bringen. Schwehrlich ist einer zur selben zeit in der welt ihm an wissenschafft gleich gewesen, und schwehrlich ists einem übeler Gangen. Daß man wohl im Buch Pierii Valeriani de infelicitate literatorum ihn oben an sezen kan. Wenn man sein leben list, so er selbst geschrieben, wird man mit so vielen wunderlichen affecten gleichsam surprennirt, daß man sich des lachens, des zorns, der verwunderung, der erbarmung wechselsweise nicht enthalten kan. Zweene Söhne sind ihm unter des Henckers Händen gestorben, er selbst ist unter der inqvisition, und lange Zeit im gefängnüß gewesen, welches alles samt unzehligen anderen disgousten und verfolgungen ihn so wenig angefochten, daß er in hohen alter ruhig und content, und sua opinione felix gestorben. Seine beste wißenschafft hat er von Vaganten, alten Weibern, laboranten und dergleichen Leuten zusammen gelesen, deßen er sich selbst berühmt. Und bin ich der Meinung, daß wir ihm deswegen viel zu dancken, indem er viel stückgen auffgezeichnet, und zu gemeinem besten erhalten, so sonst verlohren gangen. Und hätte Scaliger, der ihm die­ ses übel deuten will, vielleicht beßer gethan, wenn er als er über den Theophrastum de plantis geschrieben, mehr mit Kräuter=männern und Gärtnern als Aristotele und Platone umbgangen were.“



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 179

einer ‚doppelten Wahrheit‘ macht,103 nimmt ihn Leibniz ganz offensichtlich von diesem Vorwurf aus. Dies ist umso auffälliger, da Leibniz das Verdikt der ‚dop­ pelten Wahrheit‘ nicht nur kennt, sondern auch wiederholt verwendet, und zwar auf Autoren wie Pomponazzi und Contarenus, die das apologetische Schrifttum gerne in den Dunstkreis Cardanos rückt. Als Quelle nennt Leibniz Naudé und dessen Naudeana.104 Tatsächlich finden wir hier eine der aussagekräftigsten und

103  Zum Prinzip der ‚doppelten Wahrheit‘, deren Assoziation mit dem Namen Averroesʼ und ihrer Geschichte vgl. Fernand Van Steenberghen: Une légende tenace. La théorie de la double vérité; in: Bulletin de l’Académie des Sciences Belge 56 (1970), S. 179–196; Alain de Libera: Ein­ leitung zu: Thomas d’Aquin: Contre Averroès. Paris 1994, S. 56–58; ders.: Einleitung zu: Averroès: Discours décisif. Paris 1996, S. 58–65; Luca Bianchi: Pour une histoire de la ‚double véritéʻ. Paris 2008, in unserem Zusammenhang vor allem S. 57–59 sowie S. 117–156. Zu Cardano und doppelter Wahrheit vgl. José Manuel García Valverde: Einleitung zu: Girolamo Cardano: De immortalitate animorum. Hg. v. dems. Mailand 2006, S. 36–43. 104  Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux Essais [1706, gedruckt erstmals 1765], IV, xvii, § 23. In: Ders.: Die philosophischen Schriften. Hg. v. Carl Immanuel Gerhardt. Bd. V. Berlin 1882, S. 477: „Aussi les personnes sages ont tousjours tenu pour suspects ceux qui ont pretendu qu’il ne fal­ loit point se mettre en peine des raisons et preuves, quand il s’agit de croire; chose impossible en effect à moins que croire ne signifie reciter, ou repeter et laisser passer sans s’en mettre en peine, comme font bien des gens, et comme c’est même le caractere de quelques nations plus que d’autres. C’est pourquoy quelques Philosophes Aristoteliciens du quinzieme et seizieme siecle, dont des restes ont subsisté encor long-temps depuis (comme l’on peut juger par les lettres de feu Mr. Naudé et les Naudeana), ayant voulu soutenir deux verités opposées, l’une philosophique et l’autre theologique, le dernier Concile du Lateran sous Léon X. eut raison de s’y opposer comme je croy avoir déja remarqué.“ [„So haben denn weise Personen immer diejenigen für verdächtig erachtet, die behaupten, es sei nicht nötig, sich um Ursachen und Beweise zu bemühen, wenn es um den Glauben gehe; ein Ding der Unmöglichkeit, in der Tat, es sei denn ‚glauben‘ bedeute soviel wie ohne sich zu bemühen aufsagen, wiederholen oder zulassen, wie es viele Leute getan haben und wie es gar dem Charakter gewisser Nationen mehr als anderer entspricht. Das ist der Grund, wieso einige Aristotelische Philosophen des 15. und 16. Jahrhunderts, von denen Reste noch lange Bestand gehabt haben, (wie man aus Briefen des gewesenen Naudé und den Naude­ ana urteilen kann), zwei einander entgegengesetzte Wahrheiten, eine philosophische und eine theologische behaupten wollten, hat das letzte Lateranische Konzil unter Leo X. sich dem mit Recht widersetzt, (…).“] Vgl. auch Gottfried Wilhelm Leibniz: Considérations sur la doctrine d’un Esprit Universel Unique [1702, gedruckt erstmals 1840]. In: Ders.: Die philosophischen Schriften  VI, S. 529: „Cette doctrine [i. e. d’un seul esprit universel] a esté celle de quelques Peripateti­ ciens depuis deux ou trois siecles, comme de Pomponatius, Contarenus et autres; et on en recon­ noist les traces dans feu M. Naudé comme ses lettres et les Naudaeana qu’on a imprimés depuis peu, le font connoistre. Ils l’enseignoient en secret à leur plus intimes et plus habiles disciples, au lieu qu’en public ils avoient l’adresse de dire, que cette doctrine estoit en effect vraye selon la philosophie, par laquelle ils entendoient celle d’Aristote par excellence, mais qu’elle estoit fausse selon la foy, d’où sont venues enfin les disputes sur la double verité, qui a esté condamné dans le dernier concile de Lateran.“ [„Diese Lehrmeinung /von dem einen universellen Geist/ ist

180 

 Eric Achermann

wirkungsmächtigsten Darstellungen, die den gesamten norditalienischen Aristo­ telismus u. a.m. zum Ausdruck italienischer Doppelmoral erklärt: In Italien verbarg Cremonini geschickt sein Spiel: nihil habebat pietatis, & tamen pius haberi volebat [„er hat keinerlei Frömmigkeit und dennoch wollte er als fromm gelten“]. Eine seiner Maximen war: intus ut libet; foris ut moris est [„drinnen, wie’s einem gefällt, draus­ sen, wie sich’s geziemt“]. Es gibt viele in Italien, die nicht mehr glauben als Cremonini. Er und Machiavelli waren gleichauf, und Epikur, Lukrez, Cardano, Castellani, Pomponazzi, Bembo, & all die anderen, die über die Unsterblichkeit der Seele geschrieben haben. Plinius war einer ihrer Anführer. Vanini sagt in seinem Amphitheater, es sei eine große Sekte die­ jenige der Atheisten, die vermehrt werde durch Fürsten utriusque ordinis [„weltliche und kirchliche“] und antike Gelehrte wie Polybos, Cicero, Sokrates, Caesar, Juvenal, Horaz, Homer, Euripides, Vergil etc.105

Obwohl Naudé, der große Vermittler italienischer Naturphilosophie und Sachwal­ ter des cardanschen Erbes,106 selbst dem Vorwurf ‚doppelter Wahrheit‘ wiederholt ausgesetzt ist, bezieht sich Leibniz auf die breit gestreuten Diffamierungen der Naudeana, um sein Urteil bezüglich der ‚doppelten Wahrheit‘ zu exemplifizie­ ren. Aus dieser ganzen Flotte von Naturphilosophen, die Naudé im Fahrwasser Machiavellis segeln lässt, steuert Leibniz einen Cardano jedoch raus. Die dop­

seit zwei, drei Jahrhunderten diejenige von gewissen Peripatetikern gewesen, wie Pomponazzi, Contarenus und anderen; und wir erkennen Spuren davon bei Herrn Naudé, wie es seine Brie­ fe sowie die Naudaeana, die vor kurzem gedruckt wurden, erkennen lassen. Sie unterrichteten diese Lehre im Geheimen ihren intimsten und gewandtesten Schülern, während sie öffentlich die Kunst verstanden, zu sagen, dass diese Lehre tatsächlich wahr sei gemäß der Philosophie, unter welcher sie vorzüglich diejenige des Aristoteles verstanden, dass sie aber in Ansehung des Glaubens falsch sei, woraus denn die Streitereien bezüglich der doppelten Wahrheit entstanden sind, die das letzte Lateran-Konzil verboten hat.“] 105  Naudaeana et Patiniana, ou singularitez remarquables, prises des conversations. Bd. I (Naudaeana). Paris 1701, S. 116 f.: „Cremonin cachoit finement son jeu en Italie: nihil habebat pietatis, & tamen pius haberi volebat. Une de ses maximes étoit: intus ut libet; foris ut moris est. Il y en a bien en Italie qui n’en croyent pas plus que Cremonin. Machiavel & lui étoient à deux de jeu, & Epicure, Lucrece, Cardan, Castellanus, Pomponace, Bembe, & tous ceux qui ont écrit de l’Immortalité de l’Ame. Pline a été un des chefs. Vanini en son Amphitheatre dit: que c’est la grande Secte que celle des Athées, qui est grossie de la plûpart des Princes utrisque ordinis, & d’un grand nombre de sçavants anciens, comme Plybe, Ciceron, Cesar, Juvenal, Horace, Socrate Homere, Euirpide, Virgile, &c.“ Zu Cremonini, insbes. auch dessen Darstellung bei Naudé, vgl. Martin Schmeisser: Einleitung zum Rakower Katechismus, S. 63 f.; Naudés Auswahl neuzeitli­ cher Autoren berücksichtigt hier offensichtlich die monografische Auseinandersetzung mit dem Problem De immortalite animae, zu der allen voran Pomponazzi, aber auch Cardano und der weniger bekannte Giulio Castellani zu zählen sind. 106  Zu Naudés zentraler Rolle bei der Vermittlung von Cardanos Werk vgl. Maclean: Cardano and his publishers (Anm. 33), S. 327–335.



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 181

pelte Erwähnung in der Théodicée belegt, dass Cardano in Leibniz’ Augen weder einer Freigeisterei fröne, die öffentlich die Dogmen des Christentums akzeptiere, insgeheim aber eine gegensinnige philosophische Wahrheit vertrete, noch in den Fehler eines Bayle verfalle, Glauben und Vernunft so weit zu trennen, dass die Vernunft jegliches Recht auf ein Urteil in Glaubensfragen verliere. In dieser goldenen Mitte scheint auch Lessing den Mailänder belassen zu wollen.107 Seine Kritik gilt einzig den allzu schwachen Argumenten, die Cardano dem Mohammedaner bei dessen eigener Verteidigung leihe. Betrachten wir jedoch, wie Lessing seinen Dissens formuliert, so lässt sich eine grundlegende Übereinstimmung der Positionen ausmachen. Die religionsphilosophischen Maßstäbe, die angelegt werden, bleiben die gleichen: Unsinnliche Reinheit der Vorstellungen, vernünftige Erkenntnis und tugendhafte Lebensführung.108 Besonders deutlich wird dies in der Behandlung der Wunder als Beweismittel des richtigen Glaubens. Lessing und sein Mohammedaner nehmen diese wesentlich dezidierter ins Visier, als es Cardano tut. Sicher, die Wunderkritik ist alles andere als neu; sie stellt – nicht zuletzt in leibnizschen und wolffschen Kreisen – eine eigentliche Lieblingsbeschäftigung der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts dar.109 In einem ersten Argumentationsschritt lobt Lessing Cardanos implizite Forde­ rung, ein Wunder habe wirklich und glaubwürdig zu sein.110 Er greift so auf ein Argument zurück, das in der aufklärerischen Wunderkritik gut etabliert ist. Die bekannteste Formulierung liefert wohl John Tillotson (1630–1694), seines Zei­ chens Erzbischoff von Canterbury, der Lessing seit seiner Kindheit bekannt sein dürfte, denn niemand geringerer als sein eigener Vater hatte sich als Übersetzer Tillotsons einen Namen gemacht: Wenn aber nun unsere Sinne nichts gewisses sagen können, so ist es um die Unbetrüglich­ keit der Tradition, welche auf die Gewißheit der Sinne ankömmt, geschehen. Ja lässet man solche Lehre zu, so entsteht daraus, die erschröckliche Folge, daß wir keine zuläßige Gewiß­ heit haben, wie die Christliche Lehre von GOtt geoffenbahret worden. Die Versicherung davon beruhet auf der Gewißheit derer Wunder, welche zu Bekräfftigung der Christlichen Religion geschehen seyn, alle gewisse Versicherung aber, welche wir von dieser geschehe­ nen Wunder haben mögen, beziehet sich hinwieder auf die Gewißheit unserer Sinnen, da es

107  Dazu Detlef Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ und die Leipziger Aufklä­ rung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart, Leipzig 1999, S. 44–82. 108  Lessing: Rettung des Hier. Cardanus (Anm. 3), S. 215. 109  Vgl. Martin Mulsow: Freigeister im Gottsched-Kreis. Wolffianismus, studentische Aktivitäten und Religionskritik in Leipzig 1740–1745. Göttingen 2007, S. 28 f. 110  Lessing: Rettung des Hier. Cardanus (Anm. 3), S. 209.

182 

 Eric Achermann

demnach eine ausgemachte Sache ist, daß solche Lehre die Gewißheit derer Sinne aufhebe, so wird eben dadurch die Gewißheit der Christlichen Religion zu Boden getreten.111

Die Kritik an der katholischen Transsubstantiationslehre, die hier im Visier steht, dürfte einen Katholiken wohl nur mäßig reizen. Der aufgeklärte Leser erfreut sich viel eher an Tillotsons elegantem Paradox: Nur die Sinne ermöglichen die Gewissheit des Übersinnlichen.112 Nur dann erscheint eine Tradition echt, wenn an ihrem Anfang das Zeugnis der Sinne steht. Bekanntlich ist es Tillotsons Argu­ ment, mit dem Hume (1711–1776) seine ausführliche Wunderkritik in der Enquiry eröffnet, wobei es natürlich Hume und nicht Tillotson ist, der ungemein gefährli­ chere Schlüsse daraus zieht: Our evidence, then, for, the truth of the Christian religion is less than the evidence for the truth of our senses; because, even in the first authors of our religion, it was no greater; and it is evident it must diminish in passing from them to their disciples; nor can any one rest such confidence in their testimony, as in the immediate object of his senses.113

Eher bewusst, vermutlich, denn unbewusst entzieht sich Lessing weder dem Paradox, noch dessen angeblichen Konsequenzen. Dienen in Cardanos Argu­ mentation die Wunder der Bekräftigung der christlichen Religion, da sie sich aus­ drücklich auf Augenzeugen berufen und damit das höchste Maß an Gewissheit liefern, das der historische Abstand zu den Ereignissen zulässt, so legt Lessing in einem zweiten Schritt dem Mohammedaner ein wesentliche schärferes Argument in den Mund, dass nämlich solche Wunder für die Beglaubigung einer streng monotheistischen Religion wie des Islam nicht „nötig“ sind. Zwei Gründe werden angeführt: Es sei einzig die Göttlichkeit Jesus, die solche Wunderüberlieferungen

111  Johann [John] Tillotson: Glaubens=Regel, Als der Erste Theil der Auserlesenen Sammlung derer vornhemsten und neuesten Streit=Schrifften, Welche in England wieder das Pabstthum herausgekommen. Übers. von Johann Gottfried Lessing. Dresden/Leipzig 1731, S. 315. – In einem frühen Schreiben an Michaelis stellt sich Lessing wie folgt vor: „Ich bin ein Oberlausitzer von Geburt; mein Vater ist oberster Prediger in Camenz. – – Welche Lobsprüche würde ich ihm nicht beilegen, wenn er nicht mein Vater wäre – – Er ist einer von den ersten Uebersetzern des Tillot­ sons.“ (Gotthold Ephraim Lessing: Brief an Johann David Michaelis vom 16. Oktober 1754. In: Ders.: Werke und Briefe. Bd. 11/1: Briefe 1743–1770. Hg. v. Helmuth Kiesel. Frankfurt a. M. 1987, S. 59) 112  Zu den Schwierigkeiten, die diese Stelle aufwirft, und der fragwürdigen Interpretation, die Hume davon gibt, vgl. Michael Levine: Belief in Miracles. Tillotson’s Argument against Transub­ stantiation as a Model for Hume. In: International Journal for Philosophy of Religion 23/3 (1988), S. 125–160. 113  David Hume: An Enquiry concerning Human Understanding [1748], Sect. X, Part I. In: Ders.: Essays and Treatisies. Bd. II. London 1777, S. 117.



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 183

erforderlich mache, denn diese Göttlichkeit widerspreche der evidenten Einheit Gottes, „deren Probierstein ein jeder bei sich führt.“

3 Mikrologie im Dienste der Apologie Wunder sind für Lessing bestenfalls historisch beglaubigte Tatsachen, deren bloße Kenntnis im Ansehen des aufgeklärten Kopfes deutlich unter der Erkennt­ nis einer Ursache rangiert. Trotz aller Kritik, die Lessing über sein Sprachrohr, den Mohammedaner, an Cardano übt, sieht dieser die Dinge hierin gleich, oder zumindest ähnlich. Man denke an die Stelle aus De sapientia, wo er in der Ver­ wunderung des Publikums über Jesu Scharfsinnigkeit das Wunder im Entstehen beobachtet. Hier nicht anders als in De subtilitate sind Wunder Phänomene einer an sich trügerischen Wirklichkeit, und so ist denn auch für Cardano der Wettstreit zwischen Christ und Mohammedaner ein Wettstreit, der nicht der Existenz und Anzahl angeblicher oder mutmaßlicher Wunder gilt, sondern primär deren Qua­ lität: Beglaubigung trennt das Echte vom Falschen, Vernünftigkeit das Wahre von einer bloßen Mär.114 Was jedoch Lessings bzw. des Mohammedaners Behauptung betrifft, es sei falsch, sich im Koran durch „blendende Allegorien […] verführen“ zu lassen und „dasjenige für Wunder zu halten, worüber wir [die Mohammeda­ ner] selbst sehr betroffen sein würden, wenn es in der Tat Wunder wären“, so hätte Cardano über die Qualität dieses Arguments wohl eher den Kopf geschüt­ telt. Falls es sich derart ‚offensichtlich‘ um blendende Allegorien handelte, so würde dies seines Erachtens und ganz entgegen der Absicht des Islam-Apologet belegen, dass der Prophet seine Aufgaben mit weniger großem rhetorischen Geschick als Jesus gelöst habe.115

114  Lessings Verhältnisbestimmung von Gewissheit historischer Tatsachen und notwendiger Wahrheit vernünftiger Erkenntnis wird sehr gut erfasst von Christoph Bultmann: ‚Improbissimae Calumniae‘ und ‚Pflichtschuldige Pastoralverhetzung der Obrigkeit‘. Toleranz und ihre Gegner bei Grotius und Lessing. In: Aufgeklärtes Christentum. Beiträge zur Kirchen- und Theologiege­ schichte des 18. Jahrhunderts. Hg. v. Albrecht Beutel, Volker Leppin u. a. Leipzig 2010, S. 213–231, hier S. 230: „Die positiven Religionen in ihren vielfältigen, historischen [sic!] gewordenen Gestal­ ten haben jeweils ihre gewisse (d. h. zweifelsfreie) Wahrheit für alle diejenigen, die in der jeweili­ gen Tradition leben, und sie haben ihre mögliche Wahrheit für alle, die außerhalb der jeweiligen Tradition stehen; […].“ Ausführlich hierzu Johannes von Lüpke: Wege der Weisheit. Studien zu Lessings Theologiekritik. Göttingen 1989, S. 80–88. 115  Nicht nur Jesus, sondern auch Moses und Mohammed werden von Cardano unter dem rhetorischen Gesichtspunkt der Scharfsinnigkeit betrachtet; alle drei erscheinen als Meister ihres Faches; Cardano: De sapientia (Anm. 74), S. 108. Vgl. hierzu Bracali: Einführung zu De

184 

 Eric Achermann

Wie dem auch sei: Jede Religionsform steht unter dem Druck der Verhält­ nisse, in beiden Fällen geht es um Akkommodation, um Geschichte, Politik und Moral also. Aus dem riesigen Werk Cardanos sticht das Encomium Neronis sowohl durch Themenwahl als auch durch beeindruckende Kenntnisse in römi­ scher Geschichte heraus. Der Text ist, hierin ist sich die Forschung mehrheitlich einig geworden, nicht als eine bloße Fingerübung in der Gattung der paradoxen Enkomiastik zu lesen116 – als eine solche wurde sie im Übrigen auch nicht verstan­ den117  –, sondern als ein Versuch, die in den politischen und ethischen Schrif­ ten, allen voran De sapientia, Proxeneta und De utilitate, gewonnenen Einsichten unter historisch deskriptivem Gesichtspunkt zu exemplifizieren. Das Encomium Neronis ist Sittengeschichte, und dies – wie sich noch zeigen wird – in doppelter Bedeutung. Dass die Wahl auf die verfemteste Figur der gesam­ ten Antike fällt, hat natürlich seinen Reiz, der dadurch noch reizender wird, dass es Cardano um Rehabilitation, und zwar der Humanität Neros zu tun ist. In Form einer Gerichtsrede wendet er sich gegen die Verleumder unter den Historikern, die bewusst die Ursachen hinter den Taten vernachlässigen und somit das subtile Wechselspiel von Tugend, Klugheit und Notwendigkeit verkennen. Die Ursachen aber sind das Verborgene, das nur derjenige richtig zu interpretieren versteht, der Umstände und Ereignisse mit genauster Aufmerksamkeit untersucht. Es handelt sich also um eine Apologie, in welcher der selbsternannte Anwalt das Gesamt von Neros angeblichen Verfehlungen in ein anderes Licht stellt. Hierbei wendet er eine Denkfigur an, die zu den wesentlichsten Elementen der

sapientia (Anm. 74), S. XXV. 116  Vielmehr fordert sie eine Lektüre, welche die offensichtliche Paradoxie im Lichte derjenigen betrachtet, die Machiavelli in seinem Principe entfaltet; vgl. dazu Stefan Hartung: Re­hierarchisierungen und Systemverschiebungen in der paradoxen Lob- und Tadelliteratur der Renaissance. In: ‚Varietas‘ und ‚Ordo‘. Zur Dialektik von Vielfalt und Einheit in Renaissance und Barock. Hg. v. Marc Föcking und Bernhard Huss. Stuttgart 2003 (Text und Kontext 18), S. 91–114, hier v. a. S. 108 f. Wenig erhellend hingegen ders.: Kontingenz des Spiels und des Geschichtsurteils bei Girolamo Cardano. ‚Liber de ludo aleae‘ (1526) und ‚Encomium Neronis‘ (1562). In: Spielwelten. Performanz und Inszenierung in der Renaissance. Hg. v. Klaus W. Hempfer u. Helmut Pfeiffert. Stuttgart 2002, S. 19–46, hier S. 32–40. 117  Als rezeptionsgeschichtliche Ausnahme kann Caspar Dornaviusʼ (1577–1632) große Sammlung paradoxer Epideiktik genannt werden, der im zweiten Band seines Amphitheatrum Sapientiae Socraticae Joco-Seriae (Repr. der Ausg. Hanau 1619. Hg. v. Robert Seidel. Goldbach 1995) nebst dem Neronis Encomium (S. 65–102) auch Cardanos Podagrae Encomium (S. 216–229) aufnimmt. Dieser zweite Text entspricht der Lukianischen Tradition, der mit gleichem Thema bereits so prominente Autoren wie Erasmus und Willibald Pirckheimer gefolgt waren. Von einer solchen Tradition entfernt sich die sehr eigenständige Nero-Apologie jedoch weit; ähnlich sieht dies auch Grafton: Einleitung zu Cardano: Il prosseneta/ Proxeneta (Anm. 72), S. XXXVII f.



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 185

cardanschen Methodologie zu rechnen ist: das Kleinste als Gegenstand und Aus­ gangspunkt wahrer Erkenntnis.118 Die Subtilität, wir haben es gesehen, hat viel mit dem Verborgenen zu tun, sei sie nun Eigenschaft der Dinge oder Grenzmarke der Erkenntnis, die einzig der ebenfalls subtil genannte Geist zu überschreiten vermag. Im Bereich der Naturphilosophie liegt der Grund für diese Verborgen­ heit in der Kleinheit und Masselosigkeit eines Gegenstandes, in dessen relativer Immaterialität also. Diese Kleinheit nun untersucht Cardano mit ebensolcher Hartnäckigkeit in moralia. Ganz wie in der Naturphilosophie steht sie in umge­ kehrter Proportionalität zu ihrem epistemologischen Gewicht: Es ist bisweilen zulässig, aus dem Kleinsten, vorausgesetzt es erweist sich als außergewöhn­ lich beständig, Schlüsse zu ziehen, da auf eben die Weise wie ein Netz aus Knoten alles im Leben der Menschen aus Kleinstem besteht, das wiederholt und in unterschiedlichen Figuren wie Nebelformationen auftritt. Nicht nur wird alles durch das Kleinste vermehrt, sondern es sollte dieses Kleinste sozusagen in unendliche Teile zerteilt werden, und nur derjenige wird in den Künsten, den Räten, den zivilen Geschäften vorzüglich sein und zur Spitze gelangen, der dies versteht und in seinen eigenen Taten zu befolgen weiß. Deshalb gilt es, ein solch Kleinstes in allen erdenklichen Ereignissen zu beachten.119

Die minima moralia dürfen also bei Urteilen und Entscheidungen – und um die eigene Lebensgeschichte ist es Cardano hier zu tun – nicht außer Acht gelassen

118  In der aufschlußreichen kleinen Schrift De minmis et propinqvis liber vnvs (Opera omnia [Anm. 1] I, S. 690–694, hier S. 690) spricht Cardano von „Dialectica mea“. Diese basiert auf der Größe der Wirkung im Verhältnis zur Größe der Ursache und der Dauer, in welcher diese ihre Wirkung entfaltet. Als Beispiel nennt er das Feuer, dessen Ursache, der Funke, in kleinster Zeit einen riesigen Brand entfacht. Und schließt daran an: „At minima esse in­ itia etiam maximarum rerum, adeò palàm est, vt nulla historia huiusmodi exemplis careat.“ [„Dass der Anfang auch der größten Dinge ausgesprochen klein ist, das ist so offensichtlich, da keine Geschichte solcher Beispiele ermangelt.“] – Von einer „skrupulösen“ Methode spricht im Zusammenhang mit Cardanos Encomium Patrick Dandrey: L’éloge paradoxal de Gorgias à Molière. Paris 1997, S. 67 f. Zur Behandlung des Kleinsten in Cardanos Morallehre vgl. den aufschlussreichen Artikel von Marialuisa Baldi: Minima Moralia. In: La pensée scientifique de Cardan (Anm. 92), S. 135–159. 119  Girolamo Cardano: De vita propria [erstmals 1643] XLI. In: Here I, S. 36: „Nonnunquam ex minimis, cum immodice perse­uerant, coniecturam facere licet: cùm ex minimis, […], ac vniusmodi velut retium maculis omnia apud homines constent, repetitis, & in diuersas figuras vt nebulae formatis: nec solum per minima augeantur, sed & illa minima sensim in infinitas partes, vt ita dicam, diuidere oportet; isque solus in artibus, in consiliis, in negociis ciuilibus praestan­ tissimus erit, & ad summum culmen perveniet, qui haec intelliget, & in opere ipso obseruare nouerit: quamobrem in quibus­libet eventibus talia minima erunt obseruanda.“ – Zu Cardanos Kunst der Kleinigkeiten vgl. die sehr schönen Ausführungen von Grafton: Einleitung zu Il prosseneta (Anm. 72), S. XXXVII–XLI.

186 

 Eric Achermann

werden. Dahinter verbirgt sich eine Kausalitätstheorie, die Cardano wiederholt auf die allgemeine Formel bringt: „Alles Große und Mittelmäßige erwächst aus dem Kleinsten, die Ursachen bleiben jedoch verborgen.“ Nur außergewöhnliche Geister sind in der Lage, den Nebel zu lichten, und so sind Historiker blind und verlogen, es sei denn, ihre Geschichte besinne sich auf den eigentlichen Nutzen, der immer aus dem Gesamten erwächst: „In der Geschichte ist also nichts Nützli­ cheres, als die wahrhaftige und genaue Erzählung auch des Kleinsten.“120 Soweit ich erkennen kann, fehlt uns eine umfassende Geschichte desjeni­ gen, was hier „Mikrologie“ heißen soll,121 doch gäbe es sie, so stünde Cardano eines der längsten Kapitel zu. Wo wir den Ursprung dieser Methode lokalisieren wollen, welche die allgemeine Lehre von den qualitates occultae122 mit einem ganz anderen Okkultismus, demjenigen der täuschenden Künste zu verbinden weiß, dürfte schwer zu beantworten sein; mit Sicherheit können wir aber behaup­ ten, dass sich knapp ein Jahrhundert nach Cardano ein Genre etabliert, das sich im Aufspüren signifikanter Details zu überbieten trachtet. Es scheint bezeichnen­ derweise Morhof (1639–1691) zu sein, der diesem Genre ein Etikett verleiht: Einen besonderen Teil der Literargeschichte bilden Verfasser von Lebensgeschichten. Es gibt nämlich zwei Wege, in der Gelehrsamkeit voranzukommen, durch Lehren der eine, der andere durch Exempel. Letzterer ist dem ersteren gänzlich vorzuziehen […]. So lernen wir

120  Cardano: Il prosseneta/Proxeneta (Anm. 72), LXX, S. 621: „Siquidem magna omnia et me­ dicora ex minimis ortum habent, sed causae illae occultae“; „nihil ergo utilius in historia quam vera et diligens narratio etiam minimorum.“ 121  Die Untersuchung der gelehrten Mikrologie, oder besser: der mikrologischen Untersuchung der Sitten und Schicksale bekannter Persönlichkeiten, ist ein Gegenstand, den die Literaturgeschichte noch nicht richtig in den Blick genommen hat. Eine bedeutende Ausnahme macht die Monografie von Hummel, die ein hervorragendes und wohl gewähltes Material präsentiert und in langen Auszügen wiedergibt: Pascale Hummel: Mœurs érudites. Étude sur la micrologie littéraire (Allemagne, XVIe–XVIIe siècles). Genf 2002. Hummel fokussiert hauptsächlich auf die Figur des Gelehrten. Mein Begriff der Mikrologie ist hier weiter; er entspricht dem Umfang, dem ihm Morhof im folgenden Zitat gibt. Zudem beschränkt Hummel die Tradition dieses Schrifttums auf Deutschland; dies scheint mir, mit Blick auf die in den vorigen Kapiteln genannten Quellen, zu restriktiv. Mikrologie ist keine deutsche Spezialdisziplin, sondern umfasst nebst der Kompilation auch all dasjenige, was als Quelle „kurioser“ Sammler in Frage kommt: Biografien, literarische Porträtsammlungen, Charaktere, „histoires secrèctes“, Ana, Briefe, Mélanges, Elogen u. v. m. – Aufschlussreiche Einblicke in die Verwendung von ‚Mikrologie‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewährt Volker Hoffmann: Johann Georg Hamanns Philologie. Hamanns Philologie zwischen enzyklopädischer Mikrologie und Hermeneutik. Stuttgart/Berlin 1972, S. 80–86. 122  Für einen korrekten Begriff desjenigen, was unter verborgenen Qualitäten zu verstehen ist, vgl. Keith Hutchison: What Happened to Occult Qualities in the Scientific Revolution? In: Isis 73/2 (1982), S. 233–253.



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 187

viel, was zu diesen Wissenschaften gehört, aus der Art der Umstände [typos peristatikos], aus dem Singulären, worüber diejenigen nie nachdenken, die einzig Lehren entwerfen. Aus ihm kann ein gewisses Verborgenes gewonnen werden, das nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Klugheit eines Gelehrten vermehrt. Ebenso wie im bürgerlichen Leben, so ist nämlich auch im Leben eines Gelehrten die Klugheit in allen Geschäften vonnöten. […] Aus diesem Grund will ich, dass das Leben gelehrter und berühmter Männer, die entweder zur Gelehrsamkeit oder zum Staatsdienst gehören, nicht oberflächlich und kraftlos, sondern äußerst reich beschrieben wird, damit eine solche Mikrologie [μικρολογία] mir entweder Gefallen bereite, oder damit du aus den kleinsten Umständen der Dinge dasjenige erfassest, was dir zum Nutzen sein kann. Desmarests Satz aber missfällt, der im fünften Brief seines zweiten Buchs, die Aufzählung von Kleinigkeiten bei den Historikern entschuldigt, beim Aufschreiben des Lebens aber eine solche verurteilt. In dieser Sache bin ich ganz und gar nicht seiner Meinung.123

Die Flut von Sammlungen, Traktätchen, Dissertationen und Kollektaneen, die diesen Empfehlungen folgen, ist so gewaltig, dass sie ihrerseits bald zum Gegenstand der Kompilatoren und Bibliografen wird. Ihre Zielsetzung ist diffus; es geht um „allerhand“ zur „Gelehrsamkeit gehörige Sachen“,124 wobei das Augenmerk dem Merkwürdigen im Leben gilt, und zwar haupt­ sächlich der Gelehrten, seltener der Herrscher und Künstler. Treten Merk­ würdigkeiten gleicher Art mit einer gewissen Häufigkeit auf, so werden sie gesammelt und verglichen, um anschließend in alle möglichen Rubriken für

123  Daniel Georg Morhof: Polyhistor literarius, philosophicus et practicus (1688), I, 19. Lübeck 4 1747, S. 215: „Praecipuam Historiae literariae partem VITARUM SCRIPTORES constituunt: cum enim duplex proficiendi in literis via sit, altera per praecepta, altera per exempla; haec posterior priori praeferenda omnino est, […]; ita multa discimus, quae ad scientias illas spectant, e τύπῳ illo τερις[τ]ατικᾧ, singularia, de quibus nunquam, cogitarunt, qui praecepta tantum proponunt. Ex illis arcana quaedam colligi possunt, quae non scientiam tantum, sed & prudentiam homi­ nis literati augent. Ut enim in vita civili, ita quoque in vita hominis literati, prudentia quadam opus est in omni negotio. […] Quam ob causam ego vitas virorum doctorum & illustrium, qui vel ad Literas vel ad Rempublicam adhibentur, non superficiaria aliqua & jejuna opera, sed quam plenissime describi velim, ut vel ipsa μικρολογία in his mihi placeat. Nam vel ex minimis rerum circumstantiis, aliqua quae in usum tuum erunt, capies. Non placet sententia Maresii, qui lib. 2. Epist. 5. in Historicis minimorum recensionem indulget, in vitarum scriptione illam damnat: qua in re totus ab illo dissentio.“ 124  So der bezeichnende Titel der Gundlingiana Darinnen allerhand zur Jurisprudentz, Philosophie, Historie/ Critic/ Litteratur/ Und übrigen Gelehrsamkeit gehörige Sachen abgehandelt werden (Erstes Stück. Halle 1715).

188 

 Eric Achermann

alles Mögliche gepackt zu werden, ‚nota bene‘ mit der Aussicht auf mögli­ ches Weiteres.125 So gibt es Sammlungen zu Autoren gleichen Vornamens,126

125  Bernhards Haltung ist hierin so wunderbar nonchalant, dass sie zitiert zu werden verdient: „Wenn einer Lusten hat, mehrere Capita zu inseriren, der kan es nach Belieben thun, so wird auch mancher, der von einem capite in specie geschrieben, noch können beygetragen werden.“; Johann Adam Bernhard: Kurtzgefaste Curieuse Historie derer Gelehrten, Darinnen Von der Ge­ burth/ Erziehung/ Sitten/ Fatis, Schrifften etc. gelehrter Leute gehandelt, Und hin und wieder angewiesen wird was in diesem unter denen Teutschen zumal so beliebten studio gantz über­ flüßig, zum Theil auch einer bessern Untersuchung noch benöthiget. Frankfurt a. M. 1718, S. 15. 126  Büchner nennt hier Meursius (Johannes van Meurs) und Allatius; Johann Gottfried Büchner: Schediasma historico-litterarum de vitiorum inter eruditos occurrentium scriptoribus, additis insimul qvibusdam horum vitiorum causis specialibus exemplis, et horum librorum usu. Quibus adjecti sunt etiam copiosi Indices. Leipzig 1718, S. 24. – Die Quelle dürfte Bayle (Dictionnaire historique et critique [Anm. 16] I, S. 211) sein; Bayles Ausführungen seien hier hingesetzt, da sie ein gutes Beispiel für mikrologische Überbietung geben: „Voici comme il [Sallo] parle, après avoir observé que la principale piece d’un Ouvrage d’Allatius étoit une plainte de la Vierge. ‚Cette plainte a été composé par Metaphraste, d’où Leo Allatius … a pris sujet de nous donner un éloge de Metaphraste écrit par Psellus. Et comme Metaphraste s’appeloit Simeon, il a aussi pris de là sujet de faire une très-longue Dissertation sur la vie & sur les Ouvrages des grands hommes qui out eu le nom de Simeon. Des Simeons il a passé aux Simons, de ceux-ci aux Simonides, enfin ces derniers il est venu aux Simonactides. Ce genre d’écrire est du goût de Leo Allatius. Car il a dejà fait d’autres Dissertations sur la vie & les Ouvrages de quelques Auteurs qui ont porté des noms équivoques comme celui de George, celui de Methodius, celui de Nicetas, celui de Philon et celui de Psellus, sur tous lesquels il a fait divers écrits. Ces sortes de desseins sont d’une invention nouvelle, au monis ne nous reste-t-il rien de semblable dans les Ouvrages des anciens.‘ Diogene Laërce n’oublie gueres de marquer à la fin de chaque vie des Philosophes, ceux qui ont porté le même nom qu’eux. Allatius n’est pas l’inventeur de ces desseins; Meursius avant lui avoit publié divers Traittez de cette nature. Voyez Mr. Teissier dans sa Bibliotheque des Bibliotheques, où il donne la liste […].“ [„Nachdem er/ Sallo/ festgehalten hat, dass der hauptsächliche Gegenstand eines Werkes von Allatius eine Klage der Muttergottes sei, sagt er folgendes: ‚Diese Klage ist von Metaphrastes, was nun Leo Allatius … genügend Anlass bietet, eine Eloge von Metaphrastes wiederzugeben, die von Psellos verfasst wurde. Und da Metaphrastes Simeon hieß, so bietet dies wiederum genügend Anlass, eine sehr lange Abhandlung über das Leben und die Werke großer Männer zu liefern, die den Namen Simeon getragen haben. Von den Simeons geht Allatius zu den Simons über, von diesen zu den Simoniden, von letzeren schließlich gelangt er zu den Simonaktiden. Diese Art zu schreiben entspricht ganz dem Geschmack eines Leo Allatius. Er verfasste nämlich schon andere Abhandlungen über das Leben und die Werke einiger Autoren, die äquivoke Namen getragen haben wie Georg, Methodius, Nicetas, Philon, Psellos; zu all diesen hat er verschiedene Schriften verfasst. Diese Art von Projekt ist eine neue Erfindung, zumindest ist uns nichts ähnliches in den Werken der Alten überliefert.‘ Diogenes Laertius jedoch vergisst nicht, am Ende einer jeden Philosophen-Vita diejenigen zu verzeichnen, die den gleichen Namen getragen haben. Allatius ist nicht der Erfinder dieser Projekte; bereits vor ihm hatte van Meurs mehrere Traktate von gleicher Art veröffentlicht. Siehe Hr. Teissier in seiner Bibliothek der Bibliotheken, wo er eine Liste gibt.“]



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 189

zu Zwillingen in der Bibel,127 zu Gelehrten, die ehemals Schuster oder Bauern,128 geizig, eitel oder leichtgläubig waren, die viel, wenig oder gar nichts geschrieben haben,129 die plagiieren, an Dämonen glauben, des Atheismus bezichtigt werden etc etc.130 Kurz, das beherzte Stöbern, das ganz offensichtlich nicht nur mit größter Mühe, sondern mit unverhohlener Lust betrieben wird, geht ins Detail und aufs Abnorme, „auf besondere und allerbesonderste Dinge“.131 All diese kleinen Umstände und umständlichen Kleinigkeiten sollen das pro­ blematische Verhältnis erhellen, das zwischen dem hehren Ideal des Standes, allen voran des Gelehrten, sowie den jeweiligen „mores“ und „fata“ der dar­ gestellten Standesvertreter besteht.132 Die durch Häufung der Details erfassten Sitten und Schicksale lassen nämlich in der Hauptsache Hindernisse erken­ nen, die der ‚conditio humana‘ geschuldet sind. Das Private einer öffentlichen Figur bezeugt den Konflikt zwischen dem gesetzten Ziel und den beschränkten Mitteln. Das Ideal ist dabei ein uneinholbares; bezeichnenderweise sieht Morhof im zitierten Passus aus seinem Polyhistor zwei Wege, wobei er das Vorankom­ men den kleinen, tastenden Schritten überantwortet, und nicht den fordernden Präzepten, die das Ziel bereits zu kennen glauben. Ja, Weg und Wege dienen der mikrologischen Literatur geradezu als Leitmetapher für ein an den Umständen gebrochenes, wenn nicht zerbrochenes Ideal.133 Es liegt also in der Natur der Sache, dass die schwer fassbare Masse mik­ rologischer Literatur, worunter in den meisten Fällen nicht nur fertige Samm­ lungen, sondern alle Zulieferer solcher Merkwürdigkeiten, sprich: Ana, Indices und Kataloge, Beobachtungen, Philotheken oder Memoiren, Briefe und Journale, verstanden werden, dass diese Literatur also eine stark relativierende und skep­ tische Wirkung entfaltet. Jedoch: Geht es um den Menschen, so nutzt ein demas­

127  Mit Verweis auf einen „Superintend. Götzen“ angeführt bei Bernhard: Kurtzgefaste Curieu­ se Historie derer Gelehrten (Anm. 125), S. 11. 128  Mit Verweise auf denselben „Goeze“ bei Büchner: Schediasma historico-litterarum de vitiorum inter eruditos (Anm. 126), S. 8. 129  Z. B. Christoph August Heumann: Consepctvs Reipvblicae literariae (1718) sive via ad Historiam literariam ivventvti stvdiosae aperta a. C. A. H., VII, § 26–31. Hannover 31733, S. 382–391. 130  Vgl. etwa den abgedruckten Index bei Hummel: Mœurs érudites (Anm. 121), S. 58–60. 131  Johann Andreae Fabricius: Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit. Bd. I. Leipzig 1752, S. 674. 132  Bernhard: Kurtzgefaste Curieuse Historie derer Gelehrten (Anm. 125), S. 1: „[W]ir versthen dadurch [i. e. historia literaria curiosa] eine solche historia, darinnen von denen Moribus und Fatis wahrhafftig gelehrter Leuthe eine curieuse Nachricht gegebenen wird; was sich mit ihnen in ihrer Kindheit, Jugend, mänlichen= und hohen Alter, biß in ihren Tod, nebst ihren Büchern sonderbares zugetragen.“ 133  Aussagekräftige Beispiele bei Hummel: Mœurs érudites (Anm. 121), S. 120 f.

190 

 Eric Achermann

kiertes Ideal nicht nur dem Kläger, dem Verteidiger diskulpiert es Schwächen und Laster als allzu menschliche. In dieser doppelten argumentativen Funktion der Menschlichkeit liegt denn auch die beobachtbare Nähe von mikrologischer Methode, Skepsis und einer gewissen libertinen Praxis, da alle Autoren die conditio humana – egal, welche moralische Absicht jeweils verfolgt wird – als his­ torisch bedingte dem Reinen und Idealen entgegensetzen. Und so ist es alles andere als Zufall, dass das gesamte mikrologische Korpus in seiner Vorgeschichte um Figuren wie Montaigne (1533–1592)134 und Charron (1541–1603),135 in seiner bemerkenswerten Entwicklung ab 1700 aber um Bayles Dictionnaire zu kreisen scheint.136 Die skeptische Prüfung der Fakten, die in den ‚marginalen‘ Bereichen des Dictionnaires das Eigentliche ausmachen, wird nun ihrerseits einer skepti­ schen Prüfung unterzogen, um die eigenen mikrologischen Fähigkeiten ins Ver­ hältnis zu oder gar über diejenigen des allseits bekannten Vorläufers zu stellen. Und so reiht sich ganz wie bei Montaigne Digression an Digression im Gedan­ kenfluss des essayistischen Spaziergängers, der seine Wege frei zu wählen ganz

134  Zu den Gemeinsamkeiten von Montaignes und Balyes Strategien vgl. Emmanuel Naya: Les lois de la conscience. Bayle et Montaigne, In: Pierre Bayle et la liberté de consicence. Hg. v. Philippe Fréchet. Toulouse 2012, S. 73–106, vor allem S. 102 f. 135  Allen voran erkennt Charron den Zusammenhang zwischen der apologetischen Kraft menschlicher Schwäche und der Notwendigkeit der Akkomadition; vgl. Pierre Charron: De la sagesse (1601), I, 1 (Qui est la cognoissance de soy, et de l’humaine condition). Hg. v. Barbara de Negroni. Paris 1986, S. 46–48. – Kein Wunder, dass Charron bald mit Cardano in einen Topf geworfen wird, und zwar von Mersennne; vgl. hierzu Renée Kogel: Pierre Charron. Genf 1972, S. 144–147; zur Amalgamierung von Charron und Cardano in den Naudaeana vgl. Lorenzo Bianchi: Girolamo Cardano e Gabriel Naudé. Naturalismo e politica. In: Cardano e la tradizione dei saperi (Anm. 74), S. 405–426, hier S. 405 und 424 f. 136  Vgl. Jakob Friedrich Reimmann: Versuch einer Critique über das Dictionaire Historique & Critique des Mr. Bayle, darinnen I. Die Schreibart, Ordnung Jnnhalt desselbeben insgemein, II. Der daselbst befindliche Lebenslauff des Johannis Woweri insonderheit bescheidentlich un­ tersuchet, und nach denen Grund=Regeln der Geschicht= und Richt=Kunst auf das genaueste geprüfet werden. Halle 1711. – Vgl. dazu den aufschlussreichen Artikel von Herbert Jaumann: Jakob Friedrich Reimmanns Bayle-Kritik und das Konzept der ‚Historia litteraria‘. Mit einem Anhang zu Reimmanns Periodisierung der deutschen Literaturgeschichte. In: Skepsis, Provi­ denz, Polyhistorie. Jakob Friedrich Reimmann (1668–1743). Hg. v. Martin Mulsow und Helmut Zedelmaier. Tübingen 1998, S. 200–213. – Auch dem bereits genannten Lehrer Lessings, Johann Friedrich Christ, ist es ja, wie der Untertitel seiner kleinen Cardano-Apologie Pro Hieron. Cardano censvra Baelii male habito verrät, um eine Zensur des Zensors Bayle zu tun. Wie bewusst den deutschsprachigen Lesern die Bedeutung der Anmerkungen als die eigentliche Leistung Bayles ist, belegt Marie-Hélène Quéval: Le ‚Dictionnaire‘ de Bayle et la librté de consicence dans l’Allemagne des Lumières. In: Pierre Bayle et la liberté de conscience, S. 329–354, hier S. 340 f.



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 191

ebenso liebt, wie er die aufoktroyierten Marschrouten der Heerscharen verab­ scheut.137 Oder um dasselbe nochmals anders zu sagen: Es ist die Methode, die hier ein Unterscheiden von Kern und Rahmen verbietet. Sicher, Cardano entwickelt seine Interpretationskunst des Lebens, welche die Umstände der Taten138 sowie die Intention der Täter139 zu ihren Pfeilern macht, im Encomium Neronis nicht an der Vita eines Gelehrten, sondern eines römi­ schen Kaisers. Doch auch hier stehen Ideal140 und Notwendigkeiten, die aus den Umständen erwachsen, in einem nur annäherungsweise aufhebbaren Konflikt. Zusammen bilden sie die Grundlage eines quasi juristischen Verfahrens, das sich dem Geist und nicht dem Buchstaben des Gesetzes verpflichtet und so die Billig­ keit des Urteils zu garantieren sucht.141 Die Mikrologie dient also der Apologie, die in einer Welt der Lüge als mora­ lische Verpflichtung gegenüber der Geschichte und ihrer Tradierung erscheint. Denn ebenso wie es dem Zufall der Waffen überlassen ist, welche Religionsform den Titel der echten Religion in dieser Welt davon tragen wird, so ist auch die siegreiche fama häufig der Macht des Körpers über den Geist geschuldet. Der consensus multitudinis ist ein unzuverlässiges Ding, dessen Unvernunft durch die Zahl der Köpfe zu-, nicht abnimmt: Beim Fällen eines Urteils und bei der Einschätzung von Menschen und großen Fürsten kommt es oft vor, dass wie in den Sachen selbst – so in den Körpern wider die Seele, in den Sinnesreizen wider die Vernunft – der schlechtere Teil den besseren besiegt. Nachdem nämlich die allgemeine Meinung, Nero sei unredlich und grausam, aus dem Volk, aus den Stimmen der Unwissenden und Unredlichen geboren war, setzte sie sich in allen Gemütern fest, besiegte auch den Urteilsspruch der Weisen, und dies in einem solchem Maße, dass

137  Zu Vorgeschichte, Methode und Beliebtheit der Essayistik im 18. Jahrhundert vgl. Eric Achermann: Verbriefte Freiheiten. Zu Epistolarität und Essayistik bei Hamann. In: Hamanns Briefwechsel. Acta des Zehnten Internationalen Hamann-Kolloquium an der Martin Luther-Uni­ versität Halle-Wittenberg 2010. Hg. v. Manfred Beetz u. Johannes von Lüpke (im Druck). 138  Girolamo Cardano: Encomium Neronis (1562). Lat. Text nach der Ausg.: Nikolaus Eberl: Cardanos Encomium Neronis. Edition, Übersetzung und Kommentar. Frankfurt a. M., Berlin 1994, S. 26: „Nulla calumnia certior est, quam cum res ipsa accusatur, modus non adiicitur.“ [„Keine Verleumdung ist gewisser, als wenn die Sache selbst ohne Hinzutun der Art und Weise angeklagt wird.“] Vgl. auch ebd., S. 28. 139  So etwa, was die Verfolgung der Christen betrifft. Diese sei „fortuna et casu“ („Schicksal und Zufall“) geschuldet, nicht aber der bösen Absicht Neros, der den Christen wohlgesonnen war; ebd. S. 150. 140  Zum Herrscherideal vgl. ebd., S. 16–27. 141  Vgl. ebd. S. 56 f.

192 

 Eric Achermann

sie bald von allen vertreten wurde. Und wer zu widersprechen oder ihn zu loben versuchte, schien in Paradoxen zu reden.142

Aus den ersten Zeilen des Encomium Neronis wird klar, wohin sich der historische Blick zu richten hat, nämlich auf den Wert der Ereignisse und Akteure, wobei ohne historische Kontextualisierung weder ein Vergleich zulässig, noch das Urteil angemessen sein kann. Der Weise gedenkt der Umstände, um die allge­ meine Erkenntnis als gerechtes Urteil dem geschichtlichen Zufall zu entheben. Die Geschichte dient so der Vorurteilskritik mehr noch als diese der Geschichte. Die Wahrheit ist bloß über das Singuläre zu haben, das seine Sin­ gularität den Umständen verdankt. Das in Cardanos Encomium implizierte Geschichtsverständnis findet in dem apologetischen Bemühen von Lessings Rettungen nicht nur eine naheliegende, wenn auch oberflächliche Entsprechung, es koinzidiert darüber hinaus mit grundlegenderen Erwägungen, die für Lessing zeitlebens zentral bleiben, und zwar sowohl in der theologischen Reflexion über das Verhältnis von Offenbarung und Geschichte als auch in der Entwicklung eines Charakterbegriffs, der das Verhältnis von Welt und Figur in der Dichtung zu fassen versucht. Beide Bemühungen stellen sich der Aufgabe, das Singuläre als Tatsachenwahrheit durch Kontextualisierung, Vergleich und Urteil in ein Allge­ meines zu überführen, dem die Würde einer Vernunftwahrheit zukommt.143 Im Konzept des Charakters erkennt Lessing eine doppelte ethische Dimen­ sion, nämlich die Abhängigkeit des Einzelnen vom determinierenden Einfluss der Sitten sowie die Bedingung moralischer Zurechnungsfähigkeit. Erst unter dem Gesichtspunkt des Gesetzmäßigen verstehen wir, bis zu welchem Grad der Einzelne Teil, mehr noch Produkt eines Ganzen ist; und einzig unter diesem Gesichtspunkt erscheint es möglich, die Handlungen des Einzelnen als morali­ sche zu verstehen und zu bewerten. Wer also das Verhältnis von Einzelnen und Welt zu durchschauen vermag, der ist in der Lage, Charaktere zu schaffen, die sich gleichsam als Spiegel der großen Welt in der kleinen präsentieren. Sie wagen, um ein späteres Wort Lessings aufzunehmen, den „Sprung“ von der kontingenten

142  Ebd., S. 24: „Saepenumero accidit in iudicio ferendo habendaque existimatione de hominibus ac maxime principibus, quod etiam in rebus ipsis, velut corporibus erga animam, sensuum illecebris erga rationem, scilicet ut deterior pars meliorem vincat. Etenim orta a populi, ab imperitorum ac improborum vocibus vulgari opinione, quod Nero improbus esset ac crudelis, adeo permanavit in omnium mentes, adeo pervicit etiam sapientum sententiam, ut iam talis ab omnibus habeatur. Et si quis contradicere vel illum laudare tentet, paradoxa dicere videatur.“ 143  Zur deutlichen, an Leibniz geschulten Privilegierung der Vernunftwahrheit bei Lessing vgl. Schilson: Geschichte im Horizont der Vorsehung (Anm. 61), S. 92–94.



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 193

Wirklichkeit zu einer gesetzhaft bestimmten Ordnung der Zusammenhänge.144 Lessing nennt einen Dichter, der seinen Personen Charakter nach der „innern Wahrscheinlichkeit“ zu verleihen weiß, „Genie“. Dieses entwirft Charaktere, die ob sie schon nicht aus dieser wirklichen Welt sind, sie dennoch zu einer andern Welt gehören könnten; zu einer Welt, deren Zufälligkeiten in einer andern Ordnung verbunden, aber doch ebenso genau verbunden sind, als in dieser; zu einer Welt, in welcher Ursachen und deren Zufälligkeiten in einer andern Ordnung verbunden, aber doch ebenso genau ver­ bunden sind, als in dieser; zu einer Welt, in welcher Ursachen und Wirkungen zwar in einer andern Reihe folgen, aber doch zu eben der allgemeinen Wirkung des Guten abzwacken; kurz, zu der Welt eines Genies, das – (es sei mir erlaubt, den Schöpfer ohne Namen durch sein edelstes Geschöpf zu bezeichnen!) das, sage ich, um das höchste Genie im Kleinen nachzuahmen, die Teile der gegenwärtigen Welt versetzet, vertauscht, verringert, vermeh­ ret, um sich ein eigenes Ganze daraus zu machen, mit dem es seine eigene Absichten ver­ bindet.145

Der Charakter steht zwischen der Tatsachenwahrheit und der Vernunftwahrheit und garantiert die Autonomie der möglichen, poetischen Welt von einer allzu starren Bindung an die historische Wirklichkeit.146 Aus Sicht der Religionsphilo­ sophie findet das anthropologische Konzept des Charakters eine Entsprechung in der Offenbarung. Gott als höchstes Genie hüllt seine Botschaft in das Gewand einer historisch bedingten, und deshalb für den beschränkten Geist fassbaren Geschichte, worin die allgemeine und vernünftige Wahrheit in einem besonde­ ren, das heißt bedingten Weltzusammenhang dem Menschen entgegentritt. Natürlich verdankt Lessings Geschichtskonzeption ihre Hauptimpulse der zeit­ genössischen Schulphilosophie. Das Erkenntnisideal einer intuitiven Gesamtschau bei gleichzeitiger intuitiver Erkenntnis einer jeden einzelnen, weiter nicht mehr zer­ legbaren Sache als Teil eines geordneten Ganzen gehört seit der Veröffentlichung der Meditationes de cognitione, veritate et ideis von 1684 zum absoluten Kern derje­ nigen Lehrsätze, auf denen sowohl das leibnizsche als das wolffsche System beruht. Was jedoch den Menschen betrifft, insbesondere als Gegenstand historischer und ethischer Beurteilung, so dürfte der Lessing der Rettungen einiges Cardano zu ver­

144  Zum Bild von Sprung und Graben bei Lessing vgl. Gunter Scholtz: Sprung. Zur Geschichte eines philosophischen Begriffs. In: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 206–237, zu Lessing S. 215–217. Es ist festzuhalten, dass in der Popularisierung der leibnizschen Kontinuumsvorstel­ lung bei Wolff „Sprung“ synonym und pejorativ für „Wunder“ gebraucht wird, vgl. ebd. S. 208 f. 145  Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie [1767], I, 34. In: Ders.: Werke und Briefe. Bd. 6. Werke 1767–1769. Hg. v. Klaus Bohnen. Frankfurt a. M. 1985, S. 348. 146  Zu Leibniz’, Wolffs und Gottscheds Konzept möglicher Welten und deren Bedeutung für die Poetik vgl. Eric Achermann: Was Wunder? Gottscheds Modaltheorie von Fiktion. In: Gottsched. Philosophie, Poetik, Wissenschaft. Hg. v. dems. Berlin 2013 [in Druck].

194 

 Eric Achermann

danken haben, der in seiner Vita propria nicht nur das Modell, sondern auch den theoretischen Ansatz für die analytische und exegetische Nutzung der Mikrologie liefert. Wie wir gesehen haben, erachtet Cardano die Sphäre der Geschichte als ein Reich des Truges. Es sind die Umstände, die den Weisen dazu zwingen, die Ereig­ nisse im Lichte politischen Kalküls zu betrachten. Eine Moral, die sich aus falsch verstandenem Purismus situativer Erwägungen enthebt, hört auf Moral zu sein, da sie die konstitutive Geschichtlichkeit menschlichen Handelns verkennt. Diese durch und durch pessimistische Anthropologie im Reich des Veränderlichen und Vergänglichen findet ihr polares Gegenstück in einer optimistischen Erkenntnis­ theorie, die jenseits geschichtlicher Bedingtheit die Vollkommenheit göttlicher Ordnung und Vorsehung als Erkenntnisziel in Aussicht stellt.147 Auch Lessing geht bei all seinem Optimismus mit Cardano konform, dass der Graben, der die Vernunftwahrheit von den Geschichtswahrheiten trennt, mit einer Veränderung der Perspektive einhergeht, die das Gute nur noch als Opfer des Bösen zu erkennen gibt. So versäumt er es nicht, Angriffe auf die von ihm zur Klientel erwählten historischen Figuren in ihrer angeblichen Orthodoxie zu demaskieren und als Äußerungen blinden Fanatismus sowie niederer persönli­ cher Beweggründe zu denunzieren. Gerade die letzteren sind es, die in dem schil­ lernden Ausdruck der invidia – als Feindschaft, Missgunst, Neid und Hass – den anthropologischen Fundus übler Nachrede bilden. Den Anfangszeilen von Carda­ nos Encomium Neronis nicht unähnlich schließt Lessing auf eine eigentümliche Bosheit des Menschen, der dem Mitmenschen die wohlverdiente Ruhmesbeute abzujagen trachtet: Die Bosheit herrscht hier wie überall. Man lasse ihn die herrlichsten Sittensprüche, die erhabensten Gedanken, von Gott und Tugend vortragen; man wird sich wohl hüten sein Herz zur Quelle derselben zu machen; alles das Schöne, spricht man, sagt er [Horaz] als Dichter. Aber es entfahre ihm das geringste Anstößige, schnell soll der Mund von dem über­ geflossen sein, dessen das Herz voll ist.148

Am Beispiel Horaz zeigt sich drastisch, wie die Bosheit dazu verführt, in der Aus­ legung der Handlungen der Mitmenschen einem principle of malignity zu folgen. Die Unzuverlässigkeit des Dichters, die Autonomie des dichterischen Wortes, verleitet dazu, immer zu Ungunsten des Angeklagten zu entscheiden. Was Horaz widerfährt, zeichnet so exemplarisch den Raum der Geschichte aus: Der Mensch

147  In De uno (Cardano: De uno/ Sobre lo uno, S. 20) führt Cardano aus, dass es die Partizipati­ on der menschlichen Sphäre an der Ordnung ist, welche den Dingen eine, wenn auch bedingte, Wahrheit und Schönheit verleiht. 148  Lessing: Rettungen des Horaz (Anm. 3), S. 158–197, hier S. 171.



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 195

wird erst durch seine Beschränkung zu einem Subjekt, das einem moralischen Urteil unterzogen werden kann. Die Beschränkung bedeutet aber auch, dass dieses Urteil fragwürdig und unbillig ist, wenn es die Einzeltat und ‑aussage iso­ liert. Vor dem Tribunal der Geschichte aber müssen sich die Parteien, wollen sie denn billig sein, auf eine sowohl detaillierte als auch umfassende Prüfung des jeweiligen Modus dieser Beschränkung verpflichten. Cardano, sein Leben und seine Schriften, sind nicht bloß Gegenstände, an denen Mikrologie in einem Ausmaße betrieben wird, das seinesgleichen sucht; wie kein anderer steht der Autor selbst für eine detaillierte und schonungslose Offenlegung seiner eigenen Sitten und Umstände, die über die folgenden Jahr­ hunderte hinweg nun ihrerseits einer intensiven Prüfung unterzogen werden. Wie exzessiv Lessing in der Rettung des Hier. Cardanus „Schriften, die zur Gelehr­ samkeit gehören und dienen“,149 konsultiert, belegt nicht nur die Zahl der ange­ führten Quellen, sondern die relative Homogenität der Gattung gelehrter Bunt­ schriftstellerei, deren Lessing seine Informationen entnimmt. Weder hier, noch in den anderen Rettungen, distanziert er sich von einem übertriebenen Hang zu Kleinigkeiten,150 sondern einzig von falscher Auslegung. Im Gegenteil, seine philo­ logischen Streifzüge führen den Nachweis, dass einzig genauste Beobachtung die Begründetheit oder Unbegründetheit von Urteilen zu erweisen vermag. Lessing ist sich dabei der doppelten Funktion der Kleinigkeit als Mittel der Anklage und Verteidigung bewusst. Daraus erklärt sich die Paradoxie seines Cardano-Bildes, das er an den Anfang seiner Rettung stellt: „zu was hat man ihn nicht gemacht; oder vielmehr zu was hat er sich nicht selbst in einem Werke gemacht“; um gleich anschließend das gewagte und in seinem Erfolg durchaus fragwürdige Unterfan­ gen zu einem Ideal zu erheben: „dergleichen ich wollte, daß jeder große Mann mit eben der Aufrichtigkeit schreiben müßte!“151 Diese Haltung gegenüber dem Detail ist umso bemerkenswerter, da nicht wenige Zeitgenossen der Mikrologie kritisch begegnen, laufe diese doch Gefahr, in einen bodenlosen Bagatellismus zu versinken. Die Masse an kontingenten Geschichtsfakten drohe selbst einen Nebel zu bilden, der sich durch Häufung der Details verdichte und nicht etwa lichte. Dagegen halten die Verteidiger, dass die Haupttugend des Mikrologen eben darin liege, zwischen dem unbedeutenden

149  So der übergeordnete Titel, den Fabricius (Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit I [Anm. 131], S. 659) amlässlich der Behandlung von Lexika, Bibliotheken, Katalogen, Journalen, Ana, Lebensbeschreibungen, Briefen, schließlich auch Kompendien und systematischen Darstellungen gibt. 150  Lessing setzt im Gegenteil „Kleinigkeit“ gar in den Titel: Rettung des Cochläus aber nur in einer Kleinigkeit (In: Rettungen [Anm. 3], S. 244). 151  Lessing: Rettung des Hier. Cardanus (Anm. 3), S. 198.

196 

 Eric Achermann

und dem bedeutenden Kleinsten zu unterscheiden und durch Kontextualisierung und eine subtile ‚ars conjecturalis‘ Erkenntnisse zu gewinnen, die im Bereich des Biografischen den eigentlichen Herzensgrund, oder noch besser: die Triebfedern menschlicher Handlungen zu entdecken helfen. Noch 1784 wird Carl Friedrich Flögel (1729–1788), der Historiker der komischen Literatur, die Schwierigkeiten und die daraus sich ergebenden Ansprüche auf den Punkt bringen: Haben aber die Mikrologien Einfluß auf den menschlichen Verstand, auf das menschli­ che Herz, sind sie dem sittlichen Beobachter nützlich die Tiefen des Herzens auszuspähn, geben sie Aufschlüsse von dem Charakter einer Schriftstellers, von den Sitten der Zeit, vom Wachsthum oder Verderben des Geschmacks, dienen sie irgend zu einem Winke der Bes­ serung in der praktischen Klugheit des Lebens; denn sollen sie mir willkommen seyn; und denn behaupte ich, daß sie kein verächtlicher und unnützer, sondern nothwendiger und brauchbarer Gegenstand der Litteraturgeschichte sind.152

In seiner gesamten Einschätzung greift Flögel – mit einiger Verspätung zwar, jedoch in einer durchaus bemerkenswerten Anpassung der Lexik an die Moden der eigenen Zeit – auf das methodologische Hauptproblem, das in den meist zitierten Texten dieser mikrologischen Tradition zum Ausdruck kommt. Wann sind Kleinigkeiten bloßer Ausdruck von Pedanterie? Wann ist die Erwähnung des Kleinsten nicht erkenntnisfördernd, sondern einzig lächerlich? Erkennt Flögel zwar das Problem, das diese ganze subtile Kunst zu einer frag­ würdigen macht, so flüchtet er sich letztlich in eine tautologische Empfehlung, nämlich dasjenige richtig zu tun, was auch falsch getan werden kann: „Frey­ lich sieht mancher nichts, wo ein scharfes Auge etwas sieht.“153 Die Legitimie­ rung der während des gesamten Zeitalters so eifrig geübten Beobachtungskunst basiert letztlich auf einer Tautologie: Richtig beobachten kann nur, wer richtig beobachten kann. Dankbar werden zwar Argumente aufgegriffen, um dem nicht geringen Rechtfertigungsdruck, der auf der Mikrologen lastet, zu begegnen: Mit Morhof wird einem Desmarests (1594–1635), mit Bernhard (1688–1771) einem Bayle widersprochen,154 mit Reimmann (1668–1743) ein eigentlicher Prokop, eine „histoi­ re secrète et scandaleuse“ quasi antiken Ansehens also, herbei gewünscht.155 Es werden Kriterien genannt, wie die öffentliche Bekanntheit des

152  Carl Friedrich Flögel: Geschichte der komischen Litteratur. Bd. I. Liegnitz/Leipzig 1784, S. 260. 153  Ebd. 154  Vgl. das obige Zitat aus Morhofs Polyhistor. 155  Johann Friedrich Reimmann: Versuch einer Einleitung in die Historiam literariam so wohl insgemein als auch in die Historiam Literariam derer Teutschen insonderheit. Darinnen man die Liebhaber dieser höchstnötighien und nützlichen Wissenschafft/ auf einen neuen/ nähern



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 197

Gegenstandes, der moralische Nutzen, der aus den Beobachtungen fließt, die Verbesserung der Menschenkenntnis, die Korrektur unverbürgter Überlieferun­ gen etc. Und als ob dies alles nicht helfen könne, besinnen sich Büchner (1695– 1749) und seinesgleichen schließlich ureignener Mittel, Kritik zu bewältigen: Sie rubrizieren sie einfach.156 All diesen Versuchen gelingt es nicht, den Verdacht einer gewissen metho­ dischen Willkür aus der Welt zu schaffen. Wie wir gesehen haben, blieben, oder vielmehr bleiben auch die Rettungen davon nicht verschont; bei der Unterschei­ dung des Wesentlichen vom Unwesentlichen habe Lessing nicht immer eine glückliche Feder geführt. Die Ostentation, mit welcher Kleinigkeiten ausgebreitet werden, nährt den Vorwurf, dass weite Teile seiner Rettungen einer Revision um der Revision Willen dienen. Die Antwort, die Lessing darauf zu geben vermag, liegt nun auf einer ganz anderen Ebene als die erwähnten, theoretisch nicht son­ derlich fundierten Absichtsbekundungen. Gegen den Vorwurf der Blindheit, die dem Empirismus aufgrund seiner Reduktion auf Erfahrungen und Beobachtun­ gen inhäriere, und somit auf ein sowohl im Kleinen als im Großen unbegrenztes Feld, tritt er mit Leibnizʼ Unterscheidung von Tatsachenwahrheit und Vernunft­ wahrheit an, die ausgehend von der Prämisse der Vernünftigkeit der Schöpfung Beobachtungen dann als notwendige Mittel zur Erkenntnis ausweisen, wenn sie selbst in Zusammenhängen erscheinen, die als Zusammenhänge ‚per definiti­ onem‘ Vernünftigkeit erkennen lassen. Lessing will die „kleinen scandaleusen Umstände“157 nicht aus der Welt haben; diese gilt es – vorausgesetzt, sie sind zutreffend bzw. zutreffend interpretiert – durchaus ernst zu nehmen. Die Impon­ derabilien der Überlieferung aber, die Lückenhaftigkeit unseres historischen Wissens und die Beschränkungen, denen die Geschichte in ihrer angeblichen Zufälligkeit unterliegt, macht das Hinzufügen neuer Details und weiterer Verglei­ che zu einem Mittel, das es erlaubt, die Gängigkeit und Vorgängigkeit des Urteil als eines Vorurteils zu demonstrieren. Die Aufmerksamkeit wird so von der Sache

und bequemern Weg/ zu der Erlangung ihres Zweckes zuführen beflissen ist. [Bd. I.]. Halle 1708, S. 243. – Zur Rezeptionsgeschichte Prokops, namentlich im 17. und 18. Jahrhundert, vgl. das reichhaltige Material bei Felix Dahn: Prokopius von Cäsarea. Ein Beitrag zur Historiographie der Völkerwanderung des sinkenden Römerthums. Berlin 1865, S. 462–488. 156  Büchner: Schediasma historico-litterarum de vitiorum inter eruditos occurrentium (Anm. 126), S. 53–57. – Zu Büchners Schediasma vgl. Guillaume van Gemert: ‚Theatrum PseudoEruditorum‘. Johann Gottfried Büchners ‚Schediasma‘ (1718) und das Gelehrtenbild des 17. Jahr­ hunderts. In: Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. Hg. v. Sebastian Neumeister und Conrad Wiedemann. Wiesbaden 1987, S. 221–238. 157  Lessing: Rettungen des Horaz (Anm. 148), S. 172.

198 

 Eric Achermann

weggezogen und auf den voraussetzungsreichen, gleichzeitig beengenden Blick gerichtet, durch welche diese Sachen gesehen werden.158 Für Lessing liegt also Leibniz durchaus richtig, wenn er Cardano als Philo­ sophen anführt, der in der Ordnung der Welt die göttliche Vernunft am Werke sieht. Lessing präzisiert diese Einschätzung noch, indem er in Cardano eine Auto­ rität auf dem Gebiet der Vorurteilskritik erkennt und dessen eigene Aufrichtig­ keit zum Probierstein von Überlieferung macht. Auf diesem Hintergrund kann er nun den skandalösen Satz, „igitur his arbitiro victoriae relictis“, richtig deuten, als eine Aussage nämlich, die sich bloß auf den kontingenten Bereich bezieht, in welchem sich Religionsformen als Gesetze einer historischen, und deshalb unvollkommenen, unzuverlässigen und immer nur vorgängigen Ordnung artiku­ lieren. Denn nicht die Frage nach der Echtheit oder Wahrheit einer Religion, nicht die Frage, ob die eine Religionsform besser als die andere sei, hänge von Zufall oder Glück ab, sondern einzig der militärische Sieg der einen über die andere Religionsform. Ein Werturteil ist der Wahrheit verpflichtet, die Geschichte ist es in ihrer bloßen Faktizität nicht. So unbedenklich Lessing diese Haltung auch erschienen sein mag, so bedenklich wird sie, wenn wir uns an die Argumente der Parteien erinnern, die im Waffenglück eine Bestätigung der Wahrheit ihrer Reli­ gion zu erkennen vorgeben. Der Götzendiener fühlt sich dem Juden überlegen, da er den Sieg davon getragen hat,159 der Mohammedaner dem Christen.160 Dieser

158  Wie bewusst Lessing sich des Vorwurfs mikrologischer Willkür ist und mit welchem Geschick er sich zur Wehr setzt, belegt der Eingang zu dem wesentlich späteren Ehemalige Fenstergemäde im Kloster Hirschau (1773): „Man muß, auch in der gelehrten Welt, hübsch leben und leben las­ sen. Was uns nicht dienet, dienet einem andern. Was wir weder für wichtig noch für anmutig hal­ ten, hält ein andrer dafür. Vieles für klein und unerheblich erklären, heißt öftrer die Schwäche seines Gesichts bekennen, als den Wert der Dinge schätzen. Ja nicht selten geschieht es, daß der Gelehrte, der unartig genug ist, einen andern einen Mikrologen zu nennen, selbst der erbärm­ lichste Mikrolog ist: aber freilich, nur in seinem Fache. Außer diesem ist ihm alles klein: nicht weil er es wirklich als klein sieht, sondern weil er es gar nicht sieht; weil es gänzlich außer dem Sehwinkel seiner Augen liegt. Seine Augen mögen so scharf sein, als sie wollen: es fehlt ihnen zu guten Augen doch noch eine große Eigenschaft. Sie stehen ihm eben so unbeweglich im Kopfe, als dieser Kopf ihm unbeweglich auf dem Rumpfe steht. Daher kann er nichts sehen, als wovor er gerade mit dem ganzen vollen Körper gepflanzt ist. Von den flüchtigen Seitenblicken, welche zur Überschauung eines großen Ganzen so notwendig sind, weiß er nichts. Es gehören Maschinen dazu, den schwerfälligen Mann nach einer andern Gegend zu wenden: und wenn man ihn nun endlich gewandt hat, so ist ihm die vorige schon wieder aus dem Gedächtnisse.“ (In: Gotthold Ephraim Lessing: Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Zweiter Beitrag, X. In: Ders.: Werke und Briefe. Bd. 7: Werke 1770–1773. Hg. v. Klaus Bohnen. Frankfurt a. M. 2000, S. 505) 159  Lessing: Rettung des Hier. Cardanus, S. 202. 160  Ebd., S. 205.



Befreiung aus dem Netz der Tradition 

 199

schlechten Argumente bedienen sich aber weder die Juden, noch die Christen, und entheben so die Echtheit ihrer Religion einer Bestätigung durch den histori­ schen Zufall. Die schlechten Gründe bleiben jedoch an den christlichen Apologe­ ten des Buchstabens einer durch Akkommodation bedingten Offenbarung, mehr noch des unbedingten Glaubens an die historisch bedingten Wunder haften. Diese werden weder durch die Vernunft, noch durch die Kraft der unmittelbaren Erfahrung gestützt, sondern erscheinen einzig in dem fahlen Licht einer langen Kette von Tradierungen, das mit jedem einzelnen Glied nur noch schwächer wird. Die Frage nach der Echtheit einer Religion ist also eine Frage, die der Mittel einer philologischen und mikrologischen Vorurteilskritik bedarf. Das historische Engagement dient hauptsächlich dem Erweis der Fragwürdigkeit historischer Kenntnisse, die mangels sinnlicher Erfahrung, mehr noch mangels minutiöser Kenntnis der Umstände immer schon defizitär erscheinen. Einzig in der Erkennt­ nis der Zusammenhänge und den aus den Zusammenhängen resultierenden Regeln der Akkommodation geht dem Historiker ein Licht auf, das aus erkannter Beschränktheit leuchtet.

Marco Bunge-Wiechers

Wielands Agathodämon als Apologie des Trugs Moralische Epidemien lassen sich so wenig durch Vernunft­ gründe als leibliche Krankheiten durch Zauberworte heilen.1

Wieland im Rahmen einer Tagung zur Apologie zu situieren, bedarf keinerlei sophistischer Winkelzüge. So ist doch die Neigung und Sympathie Wielands für schlecht beleumundete Figuren der ‚Geistesgeschichte‘ seinen Werken mal mehr und mal minder deutlich abzulesen. Seine ‚Rettungen‘ oder zumindest ‚Richtig­ stellungen‘ erstrecken sich vom mittleren Schaffen – man denke hier an Hippias, Diogenes oder Peregrinus Proteus – bis weit hinein ins Alterswerk, mit Apollo­ nius von Tyana und Aristipp. Dennoch gilt es, hier eine Kautel zu formulieren. Im Verlaufe der Tagungsdiskussionen war immer wieder die Rede von der ‚Apologie‘ als Gattung, deren Existenz zwar aufgrund paratextueller Auszeichnungen für plausibel erachtet wird, obwohl deren Eigenschaften analytisch nicht benannt werden können. Die hier ins Auge gefassten Texte Wielands führen, mit einer Aus­ nahme, zwar den Begriff ‚Apologie‘, oder eines seiner Derivate und Äquivalente nicht im Titel, treffen aber dennoch den Kern der Fragestellung. Ich möchte daher einen pragmatischen Begriff der Apologie ansetzen, der auf die Frage antwortet „Wann ist man geneigt, etwas als apologetisch aufzufassen?“ Es muss allererst ein negatives Urteil über eine Person oder einen Gegenstand vorliegen, das als maßgeblich erachtet wird. Olaf Simons hat hierfür den Begriff einer „öffentlich gerechtfertigten Position“ verwendet.2 Rechtfertigung und Öffentlichkeit können näher bestimmt werden, durch das Wechselspiel von Autorität und Publikum, denn ohne die Macht oder das Ansehen, Dinge zu legitimieren, findet keine Rechtfertigung statt. Auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird eine solche Autorität wohl am klarsten von Kirche, Staat und Wissenschaft vertreten. Wie verhält sich die Sache nun bei Wieland? In seinen Darstellungen negativ beurteilter Personen teilt er regelmäßig die Verdammungsurteile nicht. Vielmehr lässt sich eine durchgehende Relativierung überlieferter Quellen und tradierter Bewertungen feststellen. Diese Neubewertung bzw. Richtigstellung von Sachver­ halten wird entweder durch eine auktoriale Erzählerinstanz geleistet, oder der

1  Christoph Martin Wieland: Antworten und Gegenfragen auf einige Zweifel und Anfragen eines neugierigen Weltbürgers (1783). In: Ders.: Von der Freiheit der Literatur. Kritische Schriften und Publizistik. Bd. 1. Hg. v. Wolfgang Albrecht. Frankfurt a. M. 1997, S. 635–652, hier S. 652. 2  Vgl. den Beitrag von Olaf Simons in diesem Band, S. 51–74.

202 

 Marco Bunge-Wiechers

Verurteilte sieht sich in einer Dialogsituation mit den Vorwürfen und mitunter auch mit dem Ankläger konfrontiert. Immer aber ist dem Leser die Rolle des Rich­ ters überantwortet. Es dürfte dabei nicht unbedeutend sein, dass Wieland für diese Relativierung stets den Roman wählt. Denn die Ausgangsquellen, so sehr wir auch heute von ihrer Falschheit überzeugt sein mögen, sind doch zumindest überwiegend mit einem Geltungsanspruch auf Wahrheit verbunden und eben keine ausdrücklichen Fiktionen. Gerade die Fiktionalisierung aber ermöglicht die Applikation anthropologischer und psychologischer Einsichten zur Erklärung bestimmter Sachverhalte. Ferner stellt sich dabei auch eine Historisierung des zu beurteilenden Gegenstandes ein, die auf eine Relativierung der hergebrachten Opinio communis zielt. Mustergültig vorgeprägt und systematisch ausgeführt hat Wieland sein ‚apologetisches‘ Verfahren in einer Verteidigung Jean-Jacques Rous­ seaus. Es verlohnt, diesen Text etwas näher in Betracht zu ziehen.3 Nun mutet es sicher auf den ersten Blick ein wenig seltsam an, dass gerade Rousseau sich durch Wieland protegiert findet.4 Hatte dieser doch zehn Jahre zuvor in mehreren Schriften durchaus polemisch gegen die anthropologischen und kulturtheoretischen Theoreme des Bürgers von Genf opponiert.5 Sicher, Wielands viel gerühmte Gerechtigkeit und Nachsicht auch gegen Intimfeinde ist bekannt. Dennoch wäre es verfehlt, ihn hier lediglich als Anwalt eines zu unrecht Verfemten zu sehen. Nicht also die Liebe zur „reine[n] Wahrheit“ und zum „reine[n] gerade[n] Menschensinn“6 befeuern den apologetischen Antrieb, sondern ein volksaufklärerisches Bemühen, das lieber das idealisierte Bild eines Tugendhelden in wesentlichen Belangen der Menschlichkeit bewahren möchte, als dass es seine völlige Annihilierung in Kauf nehmen würde. So gibt Wieland dann auch schon anfangs freimütig zu, dass ihm nicht um „J. J. Rousseau selbst

3  Den Hinweis auf diese systematische Begründung einer „rettenden Rekonstruktion“ verdanke ich dem Aufsatz von Horst Thomé: Religion und Aufklärung in Wielands Agathodämon. Zu Prob­ lemen der ‚kulturellen Semantik‘ um 1800. In: IASdL 15 (1990), S. 93–122, hier S. 98. 4  Ausgangspunkt und Anlass für Wielands Rettung bildet Wilhelm Gottlieb Becker: Eine Anek­ dote von J. J. Rousseau, aus seinen Memoiren gezogen. In: Ephemeriden der Menschheit, oder Bibliothek der Sittenlehre und der Politik 1 (1780), S. 121–125. 5  Vgl. hierzu Christoph Martin Wieland: Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschli­ chen Verstandes und Herzens. Aus den Archiven der Natur gezogen. In: Wielands Werke. Histo­ risch-kritische Ausgabe. Bd. 9.1: Text. Hg. v. Klaus Manger u. Jan Philipp Reemtsma. Berlin u. a. 2008–2010, S. 107–305. 6  Christoph Martin Wieland: Briefe an einen Freund über eine Anekdote aus J. J. Rousseaus Geheimer Geschichte meines Lebens [1780]. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Bd. XV. Hg. v. Hambur­ ger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Hamburg 1984, S. 169–231, hier S. 171.

Wielands Agathodämon als Apologie des Trugs 

 203

so sehr zu thun gewesen wäre“ und ihn vielmehr der „schwarze[ ] Schatten“ schmerze, den diese Anekdote auf dessen ganzen Charakter werfe: Es kränkte mich, daß für die Leute, die nicht an die Tugend glauben, ein Beyspiel we n i ge r in der Welt seyn sollte, welches sie, auch wider ihren Willen, genöthigt hatte, heimlich zu glauben und zu zittern.7

Es sind zwei Vorgehensweisen, die Wieland bezeichnet, um die Rettung Rousse­ aus ins Werk zu setzen: Ich glaube also, liebster Freund, daß wir vor allen Dingen das Geschehene (worauf doch alles ankommt) von allen fremden, oder wenigstens die Sache gar zu einseitig vorstellenden Ausdrücken und Einschiebseln reinigen müssen; und dann möchte es wohl auch Pflicht, nicht gegen Rousseau wenn Sie wollen, aber gewiß Pflicht gegen die Menschheit seyn, die wir an ihm so beleidigen können, als er sie an Marianen beleidigte – die Erzählung durch Hinzudenken alles dessen ergänzen, was uns eine lebendige und psychologisch wahre Vor­ stellung von der Lage und dem Gemüthszustande, worin Rousseau die That begangen, geben kann.8

Einer Ergänzung also, die auf anthropologisch-psychologische Einsichten rekur­ riert, korrespondiert eine Purgierung des Textes, die sich wertender und parteili­ cher Darstellungen entledigt. Die individuelle Perspektive des Anekdotenerzäh­ lers wird zugunsten einer allgemeinen des Menschenkenners verlassen. Unter Verweis auf das lukianische Präzept für den Geschichtsschreiber, nämlich nicht der „filosofische[n] Kälte“ zu entraten, habe Wieland die Anek­ dote noch einmal mit „kälterm Blute“ gelesen.9 Denn weder die „Wärme eines gefühlvollen Sittenpredigers“ noch der „Ton eines Advokaten, der die Sache eines beleidigten Mädchens vor Gericht zu führen gehabt hätte“, seien die angemes­ sene Darstellungsweise.10 Ferner unterzieht er den Text des Anekdotenerzählers einer kritischen Analyse und bemerkt dabei fünf ‚Fehler‘,11 die allgemein gewen­ det, die apologetische Strategie bezeichnen. Erstens, sei die problematische Fili­ ation der Anekdote in Rechnung zu stellen, da sie nicht aus der Quelle genom­ men, sondern durch Hörensagen verbreitet wurde. Zweitens, sei gerade durch die „Prosopopöie“ ein rhetorisch unangemessenes Mittel verwendet, das der unparteiischen Darstellung zuwiderliefe. Drittens, sei die Darstellung der konf­

7  Ebd., S. 178. 8  Ebd., S. 186. 9  Ebd., S. 179. 10  Ebd., S. 180. 11  Ebd., S. 182–186.

204 

 Marco Bunge-Wiechers

ligierenden Positionen nicht ausgewogen, sondern mit Hauptaugenmerk auf das ‚Opfer‘ Rousseaus verfasst. Viertens, sei der Berichterstatter durch einen ‚dop­ pelten Affekt‘ betroffen, der in der Abscheu vor der Tat und in seinem Mitleiden mit dem Opfer besteht. Dieses idealisiere er zudem noch. Fünftens, sei durch den externen Blick12 auf das Geschehen, der Eindruck erweckt, die Tat Rousseaus sei aus reiner Böswilligkeit erwachsen, der keinerlei innere Kämpfe vorhergegangen wären. Unsicherheit der Quelle, rhetorisch tendenziöse Überformung, Unausge­ wogenheit von Anklage und Verteidigung, affektive Involviertheit des Erzählers und mangelnde Psychologisierung des Inquisiten sind also jene Ansatzpunkte, der sich ein apologetischer Zugriff widmen muss. Während die ersten drei Punkte vor allem zur Beurteilung und Abwertung der Anekdote dienen, bilden Punkt vier und fünf die Leerstellen, die Wieland durch psychologisch-anthropologische Argumente füllt. Die Invarianz der psychologischen Natur des Menschen wird gegen die durch Irrtum, Lüge und Parteilichkeit verzerrte Tradierung ausgespielt. Die wenigen Punkte mögen hier genügen, um die grundsätzliche Strategie deut­ lich zu machen. Fassen wir nun kurz zusammen: Freilich, auch Wieland kommt nicht ohne Mutmaßungen aus, dennoch unterscheiden sich diese in gewichtiger Weise von denen des Anekdotenerzählers. Das Prinzip ‚hermeneutischer Billig­ keit‘ bleibt stets gewahrt, d. h. Wieland präsupponiert nur, was dem Angeklagten zur Entlastung gereicht und nicht die unbewiesenen Umstände, die den Vorwurf verschärfen könnten. Letztlich ist es der Anekdotenerzähler, der durch seine „rednerische sentimentalische Vergrößerungen“ mehr Unheil stiftet als Nutzen bringt.13 O ihr Anekdotenkrämer! welch ein schweres Gericht würde über euch ergehen, wenn ein Tag käme, wo die so oft von euch gemißhandelte, verunstaltete, und zur Lüge gemachte Wahrheit auftreten und um Rache wider euch schreyen würde! Wenn werdet ihr, von so häufigen täglichen Erfahrungen gewarnt, endlich einmahl Behutsamkeit lernen!14

Wir finden in der Auseinandersetzung mit Rousseau also einerseits ein apolo­ getisches Muster entwickelt. Andererseits zeigt sich ein volksaufklärerisch moti­ viertes Bestreben, das eher ein Trugbild zu bewahren sucht als durch dessen Preisgabe ein größeres Übel, nämlich die Entwertung einer breitenwirksamen positiven Rezeption, zu verursachen. Die schon für die Rousseau-Apologie zentrale Frage des richtigen Blicks gibt uns einen Hinweis auf ein Konzept, das sich für Wielands Texte insgesamt

12  Der Narratologe würde hier von externer Fokalisierung sprechen. 13  Ebd., S. 226. 14  Ebd., S. 225.

Wielands Agathodämon als Apologie des Trugs 

 205

als von höchster Relevanz erweist: das des Standpunkts bzw. der Perspektive.15 Dabei sind es in erster Linie die erkenntnistheoretischen Implikationen des Perspektivbegriffs,16 die hier von Bedeutung sind. Die relative Abhängigkeit des Betrachteten vom Standpunkt des Betrachters wird von ihrer rein optischen Bedeutung auf alle subjektbezogenen Bedingungen des Erkenntnisvorgangs metaphorisch erweitert.17 Wieland ist zwar weit davon entfernt, einem radikalen Relativismus das Wort zu reden, dennoch macht gerade die Insistenz, mit der er auf diese Abhängigkeit hinweist, deren zentrale Rolle für sein Denken sinnfällig. Dabei wird die Vorstellung einer absoluten Wahrheit aber immer noch als hypo­ thetischer Maßstab mitgeführt. In seinem kurzen Aufsatz Was ist Wahrheit?18 hat Wieland 1778 auf die nur diskursiv zu ermittelnde Wahrheit von Aussagen hinge-

15  Zur wichtigen Rolle des Standpunkts beziehe ich mich auf den mir vorliegenden unveröffent­ lichten Vortrag von Eric Achermann: Eine Frage des Standpunkts. Wieland und die Tradition des Libertinismus. Bochum 29.10.2003. „Eine gute Geschichte, sei es nun diejenige eines Romanciers oder eines Historikers, fügt sich aus individuellen ‚Sehe-Punckten‘ zusammen. Eine solche Ge­ schichte spricht dem Relativismus und einer eigentlichen Kritik der Weltanschauung das Wort. Der Wahrheiten sind mehrere, die eine Wahrheit mag es geben, sie liegt jedoch nicht in unserem Ermessensraum. In dem Konzept des Standpunkts tritt also die Forderung nach Schilderung der Individualumstände in direkte Beziehung zum Vorwurf der doppelten Wahrheit. Gott mag über einen ‚Allanblick‘ verfügen, nicht aber der Mensch. Wer andere Standpunkte einzuneh­ men lernt, der hebt die Voreingenommenheit auf und erkennt die Individualität und Relativität der Weltsicht und den Selbstbetrug, der hinter dem Allgemeingültigen steht.“ (Ebd.). In neue­ rer Forschung vgl. Laura Auteri: Erkenntnisstreben und Humanität. Zu Wielands Versuch einer Zusammenlegung verschiedener Begriffe der Religion im Agathodämon. In: Wissen, Erzählen, Tradition. Wielands Spätwerk. Hg. v. Walter Erhart u. Lothar van Laak. Berlin/New York 2010, S. 235–251. 16  Ich betrachte im Folgenden die Begriffe Standpunkt, Sehepunkt und Perspektive als relativ synonym bzw. als auf den je selben Problemkomplex verweisend. Eine theoretische Reflexion Wielands auf die Perspektive in der darstellenden Kunst findet sich bereits 1774 in einem kurzen Aufsatz (Christoph Martin Wieland: Über eine Stelle des Cicero, die Perspektiv in den Werken der Griechischen Mahler betreffend [1774]. In: Ders.: Sämmtliche Werke [Anm. 6], Bd. XIV: Supple­ ment 6, S. 92–101). 17  Bereits 1742 schreibt Johann Martin Chladenius über den „Sehe-Punct“: „Diejenigen Umstände unserer Seele, Leibes und unserer ganzen Person, welche machen, oder Ursach sind, daß wir uns eine Sache so, und nicht anders vorstellen, wollen wir den Sehe-Punct nennen.“ (Johann Martin Chladenius: Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften [1742]. Hg. v. Lutz Geldsetzer. Bd. 5. Düsseldorf 1969, S. 187) 18  Christoph Martin Wieland: Was ist Wahrheit? [1778] Aus: Fragmente von Beiträgen zum Gebrauch derer, die sie brauchen können und wollen. In: Ders.: Von der Freiheit der Literatur (Anm. 1), S. 373–378.

206 

 Marco Bunge-Wiechers

wiesen. Dieser diskursive Wahrheitsbegriff legt aufgrund seiner lediglich nähe­ rungsweisen Erfassbarkeit dem Einzelnen epistemische Bescheidenheit auf.19 Beziehen wir nun die Standpunktproblematik auf den beobachteten apo­ logetischen Grundzug, wie er vor allem systematisch am Beispiel Rousseaus deutlich geworden ist, dann lässt sich Folgendes formulieren: Die Beurteilung eines Gegenstandes, einer Person oder eben einer Handlung bedarf des richti­ gen Standpunktes, idealiter und uneinlösbar: einer Allansicht. Nur so lässt sich das „Zusammenspiel von Situation und Charakter“20 adäquat ermessen. Jener lässt sich jedoch immer nur partiell realisieren, d. h. nur unter Einnahme mög­ lichst vieler Perspektiven, deren Vielzahl allererst ein adäquates Bild ermöglicht. Diese Vereinigung der Standpunkte kann erzählerisch entweder durch eine inte­ grativ wirkende übergeordnete Erzählinstanz geleistet werden, deren Wirklich­ keitsbezug auch den einzelnen Perspektiven jeweils vorgeordnet ist oder – und das gilt speziell für das Spätwerk Wielands – dem Leser selbst zugemutet sein,21 da sich die einzelnen Perspektiven zueinander grundsätzlich gleichwertig ver­ halten und erst aus deren bewusstem oder unbewusstem Vergleich ist es dem Menschen möglich, eine adäquatere Anschauung hervorzubringen. Wielands apologetisches Schreiben versucht nun, erzählstrategisch diesen Anspruch ein­ zulösen und unterstellt damit, dass die tradierten negativen Einschätzungen sich falschen Gesichtspunkten bzw. verzerrten Perspektiven verdanken. Die Fiktion eröffnet allererst den Spielraum zur Einführung weiterer Perspektiven, die dann zur Auflösung bestimmter Ungereimtheiten beitragen können. Man kann also mit gutem Recht behaupten, dass Fiktionalisierung zu den notwendigen Bedingun­ gen von Wielands apologetischem Projekt gehört. Sie erlaubt es erst, zusätzliche Perspektiven einzuführen, die unter Rückgriff auf anthropologische und psycho­ logische Philosopheme, eine Neubewertung ermöglichen. Die ‚Rettung‘ versucht dabei nicht über die Maßen parteiisch zu sein, sondern eine angemessene Pers­

19  „Anstatt mit einander zu hadern, wo die Wahrheit sei? […] – laßt uns im Frieden zusammen­ gehen, oder, wenn wir des Gehens genug haben, unter den nächsten Schattengebenden Baum hinsitzen, und einander unbefangen und offenherzig erzählen, was jeder von ihr gesehen und gehört hat, oder glaubt gesehen und gehört zu haben; und ja nicht böse darüber werden, wenn sichs von ungefähr entdeckt, daß wir falsch gesehen und gehört, oder gar (wie es brünstigen Liebhabern, die ihr zu nah kommen wollen, öfters begegnet) eine Wolke für die Göttin umarmt haben.“ (Ebd., S. 378) 20 Thomé: Religion und Aufklärung (Anm. 3), S. 96. 21 Müller erkennt bereits im Agathon eine „Tendenz zur Mehrstimmigkeit“, die sich im Spät­ werk vollends als dominant erweist (Jan-Dirk Müller: Wielands späte Romane. Untersuchungen zur Erzählweise und zur erzählten Wirklichkeit. München 1971, S. 26).

Wielands Agathodämon als Apologie des Trugs 

 207

pektive zu ermöglichen – ja, den Blick auf eine ‚historische Wahrheit‘22 freizuge­ ben. Im Folgenden soll es um Wielands ‚Rettung‘ des Apollonius von Tyana gehen. Wie bereits erwähnt, wird der apologetische Charakter paratextuell zumindest nicht angezeigt, dafür aber, dass es sich um einen Roman handelt.23 Den inten­ tionalen Charakter der Apologie kann man schlechterdings nicht bestreiten. Es gilt zu klären, welche übergeordnete Absicht mit der Rettung des Apollonius ver­ bunden ist. Handelt es sich tatsächlich um eine personale Rechtfertigung oder ist sie lediglich Camouflage eines durch die Person exemplifizierten Konzeptes, der das Wort geredet werden soll. Illustriert also die gewählte Person lediglich ein Grundproblem, das an ihr vorgeführt und neu bewertet werden kann, oder geht es tatsächlich um die jeweilige Person selbst? Ferner ist zu fragen, was die Grund­ lage dieser Neubewertung bildet und in welchen diskursiven Kontext sich die ‚Rettung‘ verorten lässt. Gerade Letzteres ist hier von Belang, erlaubt die Kontex­ tualisierung doch das Ermessen, welche ‚Hypotheken‘ man in Kauf nimmt oder auch gezielt in Kauf nehmen will. Es soll keineswegs in Abrede gestellt werden, dass es sich bei Apologien auch um intellektuelle Fingerübungen handeln kann, deren Schwierigkeit, die sich an der Rechtfertigungsbedürftigkeit des Gegenstan­ des bemisst, gleichzeitig eine verlockende Herausforderung darstellt. Doch ist die Parteinahme in gewissem Sinne immer ein Bekenntnis und birgt damit ein Risiko, dass zumindest nicht ohne Bedacht in Kauf genommen wird. Die Unter­ scheidung von intellektuellem Spiel und philosophischem Ernst bleibt schwierig und auch eine Konvergenz ist dabei nicht auszuschließen.

22  Sicherlich erinnert nicht nur das Verfahren einer kritischen Sichtung und Neubewertung von Quellen, sondern auch die Emphase für ein vorurteilsfreies Studium der Quellen an Bayles Dic­ tionnaire: „Ein Historienschreiber, als ein Historienschreiber, ist wie Melchisedech, ohne Vater, ohne Mutter und ohne Stammbaum. Wenn man ihn fraget: Wo bist du her? So muß er antworten: Ich bin weder ein Franzose, noch ein Deutscher, weder ein Engländer, noch Spanier, u.s.w. ich bin ein Einwohner der Welt, ich bin weder in des Kaisers, noch in des Königs von Frankreich Diensten, ich bin nur in dem Dienste der Wahrheit; dieß ist meine einzige Königinn, dieser al­ lein habe ich den Eid des Gehorsams geleistet“ (Pierre Bayle: [Art.] „Usson“. In: Historisches und Critisches Wörterbuch. Nach der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt; auch mit einer Vorrede und verschiedenen Anmerkungen versehen von Johann Christoph Gottsched. Bd. 4. Hg. v. Johann Christoph Gottsched. Hildesheim/New York 1974, S. 492–497, hier S. 496). 23  Das gilt freilich nur für die Ausgabe von 1799. Die Veröffentlichung der ersten drei Bücher des Agathodämon erfolgte ohne Vermerk hinsichtlich der Fiktionalität des Textes im Attischen Museum. Sie wurden – in für Wieland typischer Weise – als Manuskript ausgegeben. Jutta Heinz: „Agathodämon“. In: Wieland-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Hg. v. Jutta Heinz. Stuttgart 2008, S. 314–322, hier S. 315.

208 

 Marco Bunge-Wiechers

Der eifrige Bayle-Leser Wieland dürfte schon im Dictionnaire Historique et Critique den Artikel zu Apollonius zur Kenntnis genommen haben und dabei auch auf den Hinweis zu einer Übersetzung des englischen Deisten Charles Blount gestoßen sein. Die inkriminierte Ausgabe findet sich zumindest in französischer Übertragung auch im Verzeichnis des Wieland-Nachlasses.24 Es waren vor allem Blounts Anmerkungen,25 die den Unmut der Zeitgenossen26 erregten. So schreibt Pierre Bayle in seinem Dictionnarie: Diejenigen, welche diese Noten gelesen, haben mich versichert, daß sie voller Gift stecken: ihr ganzer Endzweck geht dahin, die geoffenbarte Religion umzuwerfen und die heil. Schrift verächtlich zu machen. Der Urheber suchet solches nicht durch ernsthaft vorgetragene und scheinbare Gründe, sondern meistentheils durch gotteslästerliche Spitzfündigkeiten ins Werk zu richten.27

Wielands weitere Beschäftigung mit Apollonius von Tyana ist dann im Handbuch von 1774 bezeugt.28 Es ist naheliegend, die im Wieland-Nachlass vermerkte fran­

24  Der Besitz der Übersetzung ist unter der laufenden Nr. 661 belegt in Klaus-Peter Bauch/Maria Schröder: Alphabetisches Verzeichnis der Wieland-Bibliothek. Bearb. nach dem „Verzeichniß der Bibliothek des verewigten Herrn Hofraths Wieland, 1814“. Hannover 1993. 25  Die Behauptung, die Annotationen Blounts seien allesamt Herbert von Cherbury zuzu­ schreiben – auch Petzke behauptet dies – geht auf den Artikel „Apollonius“ in Bayles Diction­ naire historique et critique zurück und wird in neuerer Forschung zurückgewiesen. Ausführlich zur Person und zum Denken Charles Blounts vgl. Karl-Josef Walber: Charles Blount (1654–1693), Frühaufklärer. Leben und Werk. Frankfurt a. M. 1988. Walber hat ausführlich und minutiös die von Blount konsultierten Texte und Autoren aufgeführt. Blount integrierte in seine Anmerkun­ gen u. a. Teile aus Thomas Hobbes’ Leviathan, zu dem Blount über seinen Vater in freundschaft­ lichen Kontakt stand (vgl. dazu auch ebd., S. 26). 26  In England galt beispielsweise seit 1662 der sogenannte Licensing Act, der untersagte, „ein Buch zur Veröffentlichung frei zu geben, dessen Inhalt sich im Widerspruch zum christlichen Glauben oder zu den Lehren der anglikanischen Kirche befand“ (ebd., S. 20). 27  Pierre Bayle: [Art.] „Apollonios“. In: Historisches und Critisches Wörterbuch (Anm. 22) 1, S. 268–271, hier S. 270; Bayle hält seinen Artikel explizit kurz, da er auf die Arbeit von LouisSébastien Le Nain de Tillemont (1637–1698) verweisen kann, der im Rahmen seiner Histoire des Empereurs dem Apollonius eine eigene Abhandlung gewidmet hat. Vgl. Louis-Sébastien de Le Nain Tillemont: Histoire de Empereurs, et des autres princes qui ont regné durant les six pre­ miers siecles de l’Eglise, de leurs guerres contre le Juifs, des Ecrivains profanes, & des person­ nes les plus illustres de leur temps [1691]. Venedig 1732, S. 120–133. Insgesamt erscheinen Bayles Ausführungen der Person des Apollonius durchaus gewogen. Für „merkwürdig“ im Buch des Tillemont hält er den Umstand, dass dieser ihn für „eine[n] von den gefährlichsten Feinden, wel­ che die Kirche bey ihrer Geburt gehabt hat“, hält (Bayle: Historisches und Critisches Wörterbuch [Anm. 27], S. 269). 28  „Apollonius – ein Philosophischer Don Quischott. Damis – sein Sancho Pansa – und zum Unglück für Apollonius u. uns – sein Geschichtschreiber. Apollonius war ein großer, edler, in

Wielands Agathodämon als Apologie des Trugs 

 209

zösische Ausgabe der Blount-Übersetzung, die just im gleichen Jahr publiziert worden ist, als eine wichtige Quelle für die Apollonius-Bearbeitung anzunehmen. Im Jahr 1785 findet sich in der Wielandschen Korrespondenz eine weitere Erwäh­ nung des Stoffes. Johann Wilhelm von Archenholz ermuntert, enthusiasmiert durch die angekündigte Übersetzung der lucianischen Werke, zu einer Ausarbei­ tung von Apollonius’ Geschichte: Ihre Uebersezung der Lucianschen Werke erregt die froheste Erwartung. Alle Freunde denen ich es bereits gemeldet, frohlocken darüber. Möchten Sie doch den Gedanken wegen des Apollonius nicht fahren lassen! Eine Philosophie der Geschichte dieses Wundermanns // müste unter Ihren Händen etwas ganz ausserordentliches werden.29

Aber erst zehn Jahre später sollte Wieland dem ‚Wundermann‘ einen ausführli­ chen Roman widmen. 1795 entstehen die ersten drei Bücher, deren Veröffentli­ chung im Rahmen des Attischen Museums erfolgt. 1799 liegt dann Göschen die letzte und in Gänze noch einmal überarbeitete Fassung des Textes vor.30 Auf thematischer Ebene präludiert eine durchaus kontrovers geführte Debatte über Wunder im Teutschen Merkur die Entstehung des Agathodämon. In den Jahren 1787 bis 1788 erscheinen im Teutschen Merkur mehrere Beiträge eines Anonymus, der in Rekurs auf Hume und vor allen Dingen Rousseau und Spinoza gegen Wunderglauben und Offenbarungsreligion antritt. Der Verfasser,

aller Betrachtung außerordentlicher Mensch.“ Friedrich Beißner (Hg.): Neue Wieland-Hand­ schriften. Berlin 1938, S. 15. Die weiteren Anmerkungen werden regelmäßig nicht zitiert, sind aber dennoch beachtenswert: „Nur fragt wieviel ist an seiner Geschichte wahr? wieviel von dem Abentheurlichen und Ungereimten kommt dabey auf Seine Rechnung? wieviel auf Rechnung s. Geschichtsschreibers – des Damis? – des Philostratus? So dumpf u: Idiotisch Damis war, so wäre doch zu wünschen wir hätten s. Buch noch gerade so von Wort zu Wort wie ers geschrieben. Dann wäre es um viel leichter als izt klar darinn zu sehen; denn Damis war wenigstens ohne Schalkheit, ohne vorsezliche Absicht etwas zu verschönern oder zu lügen, und wenn er log, so war er, wie Sancho, mehr duppe [sic!] von sich selbst als frippon. Kan wohl bewiesen werden, daß Philostratus die Absicht gehabt, Apollon. Christo entgegen zu setzen. Hierokles, Präfectus von Bithynien, war der erste der eine solche Comparation machte. (Eusebios schrieb dagegen animadversiones) Tillemont, Cudworth, Bruker mischen den Teufel sehr mal à propos in die Sache. vid. Cudworth Syst.Intell. c. IV § 15. pag. 310.“ (Ebd., S. 16) 29  Von Johann Wilhelm von Archenholz an Wieland, 22. September 1785. In: Wielands Brief­ wechsel. Neunter Band. Hg. v. Berlin- Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Siegfried Scheibe. Berlin 1996, S. 68–69, hier S. 68. 30  Vgl. Heinz: „Agathodämon“ (Anm. 23), S. 314–315; Das Attische Museum wurde von Wieland zu Beginn 1796 begleitend zu einigen Übersetzungen antiker Autoren begründet. Ziel war die Popularisierung der griechischen Antike unter Rekurs auf altphilologische Gelehrsamkeit, vgl. Jan Cölln: Das „Attische Museum“ und das „Neue Attische Museum“. In: Wieland-Handbuch (Anm. 22), S. 391–393, hier S. 391–392.

210 

 Marco Bunge-Wiechers

bei dem es sich um Karl von Knoblauch31 handelt, zeigt sich überzeugt, „daß das Wesentliche der Religion gar nicht auf Wunder beruhet“ und „daß [deren] Wahr­ heit ihre eigenthümliche, von menschlichen Zeugnissen unabhängige Merkmale haben müsse“.32 Es sei eine „Thorheit“ zur Erklärung von Wirkungen in der sinn­ lichen Welt auf die „intelligible Welt hinüber zuspringen“, egal ob es sich um den „Ritt Mohammeds“ oder die „Verwandlung der Milischen Bauern in Frösche“

31 Karl von Knoblauch (1756–1794) entstammt einem verarmten deutschen Adelsgeschlecht, dessen schriftstellerische und publizistische Tätigkeit ab 1787 in den Zeitschriften Teutscher Merkur, Genius der Zeit und im Grauen Ungeheuer bezeugt ist. Während die politisch motivierten Dialoge ab 1790 im Neuen Teutschen Merkur allesamt mit „v. K.“ unterzeichnet sind, sind die religionskritischen Texte bezüglich Wunderglaube und -kritik jeweils anonym publiziert worden. Martin von Geismar führt in seiner Bibliothek der Deutschen Aufklärer des 18. Jahrhunderts Karl von Knoblauch als den „unermüdliche[n] Gegner des Uebernatürlichen und der Wunder“ an. Martin von Geismar: v. Knoblauch, der unermüdliche Gegner des Uebernatürlichen und der Wunder. In: Bibliothek der Deutschen Aufklärer des achtzehnten Jahrhunderts, V. Hg. v. Martin von Geismar. Leipzig 1847, S. 253–312, hier S. 253. Ferner gibt er Auszüge und Paraphrasen aus fünf Schriften, die jeweils anonym veröffentlicht wurden, aber von Geismar entsprechend zugeordnet worden sind: 1. Anti-Hyperphysik zur Erbauung der Vernünftigen (1789); 2. Die Nachtwachen des Einsiedlers zu Athos (1790); 3. Euclides anti-thaumaturgicus oder demonstrativer Beweis von der Unmöglichkeit hyperphysischer Begebenheiten nebst Anwendung dieses Beweises auf ein besonderes Mirakel (1791); 4. Das Uebernatürliche geprüft von einem Freiwilligen (1794); 5. Grundsätze der Vernunft und Erfahrung in ihrer Anwendung auf das Wunderbare (1791), ebd. Die Forschung zu Knoblauch war bislang eher spärlich. Die beiden Aufsätze Otto Fingers stellen die umfangreichsten neueren Arbeiten dar, kranken jedoch an ihrer tendenziösen marxistischen Lesart, die Knoblauch vor allem als politischen Denker akzentuiert, dessen Atheismus „aus einer zutiefst antifeudalen Haltung“ erwachse. Otto Finger: Karl von Knoblauch – ein deutscher Atheist des 18. Jahrhunderts. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 6 (1958), H. 6, S. 924–948, hier S. 928; vgl. zudem Otto Finger: Der Kampf Karl von Knoblauchs gegen den religiösen Aberglauben. In: Beitraege zur Geschichte des vormarxistischen Materialismus. Hg. v. Gottfried Stiehler. Berlin 1961, S. 255–297. Auch die These, Knoblauch interpretiere Spinoza in „revolutionär-demokratischer Weise“, scheint mir überzogen, Finger: Deutscher Atheist (Anm. 31), S. 936. Spinoza dient vor allem im Hinblick auf die Wunderkritik in Karl von Knoblauch: Anti-Taumaturgie oder die Bezweiflung der Wunder. Loretto 1790 als zentraler Bezugspunkt. In den politischen Dialogen spielen religionskritische Argumente eher eine marginale Rolle und trotz Ablehnung eines absolutistischen Despotismus wird keinesfalls einer ‚Demokratie‘ das Wort geredet: „Jan Hagel möchte eigentlich lieber gar nicht regiert werden, und bei alle dem ist er offenbar unfähig, sich selbst zu regieren“, spricht der deutsche Baron, der hier durchaus als Sprachrohr Knoblauch verstanden werden darf, vgl. Karl von Knoblauch: Politischphilosophische Gespräche. Erster Theil. Berlin 1792. In der aktuellen Forschung sind jedoch in näherer Zukunft neue Arbeiten zu erwarten. 32  Karl von Knoblauch: Ueber Wunder. In: Der Teutsche Merkur 2 (1787), S. 85–91, hier S. 85.

Wielands Agathodämon als Apologie des Trugs 

 211

handle.33 Knoblauch attackiert den Wunderglauben von zwei Flanken: Einer­ seits versucht er, die Unmöglichkeit von Wundern rein logisch zu erweisen und andererseits widerspricht er der Glaubwürdigkeit jedweden Wunderzeugnisses, das sich durch Lüge und Irrtum als besonders anfällig erweist. Beide Angriffs­ strategien verhalten sich dabei komplementär zueinander. Auch die Inspiration kann nicht als untrügliche Quelle der Wundererzählung angeführt werden, denn der Inspirierte kann nicht für sie zeugen, sondern lediglich ein Urteil fällen, das einer bestimmten Idee eine inspirative Ursache zuschreibt. Die Inspiration kann aufgrund ihrer Unsichtbarkeit „kein Objekt möglicher Erfahrung seyn“ und stellt selbst wiederum ein Wunder dar.34 „Das Resultat dieser Untersuchung ist, daß wir uns bey Vertheidigung der Thaumaturgien nothwendig in einem Zirkel her­ umdrehen müssen.“35 Knoblauchs Argumente sind keineswegs originell und ihre jeweiligen Urheber auch explizit genannt, dennoch lanciert er damit eine Debatte, die mehrere kritisch-polemische Repliken36 aber auch viel Zustimmung auslöst. In einer Apologie, zu der sich Knoblauch durch die Einlassung eines Pfarrers verpflichtet sieht, illustriert er die Lügenhaftigkeit der Wundererzählung an der Apollonius-Biografie des „Erzlügner[s]“37 Philostrat. Es ist unter anderem auch diese Debatte, durch die sich Wieland zu seinem im Teutschen Merkur erscheinenden Aufsatz „Gedanken von der Freiheit über Gegenstände des Glaubens zu philosophieren“ (1787/88) veranlasst sieht.38 Er legt dabei eine deutliche Sympathie für den Anonymus an den Tag. Ob Wieland zu

33  Ebd., S. 87. 34  Ebd., S. 90. 35  Ebd. 36  Folgende zwei Repliken erscheinen im Teutschen Merkur: J. G. Wichmann: Bemerkungen über den Aufsatz No. V. im August des Teutschen Merkurs d. J. von Rousseau’s Lehre von den Wundern. In: Der Teutsche Merkur 4 (1787), S. 107–125 und Jakob Christian Weland: Ueber Wunder in Rücksicht auf einen Aufsatz im TM. In: Der Teutsche Merkur 1 (1788), S. 62–76; Knoblauch Antwort auf die Kritik mit Karl von Knoblauch: Vertheidigung der in der Abhandlung über Wunder, im T. M. April, 1787 vorgetragenen Grundsätze. In: Der Teutsche Merkur 4 (1787), S. 97–107; Karl von Knoblauch: Apologie des Aufsatzes über Rousseaus Lehre von den Wundern. In: Der Teutsche Merkur 1 (1788), S. 53–61; Karl von Knoblauch: Fortsetzung der Apologie des Aufsatzes über Rousseaus Lehre von den Wundern. In: Ebd., S. 189–194; Karl von Knoblauch: Prüfung des Aufsatzes des Herrn Prediger Weland über Wunder. In: Ebd., S. 278–287. 37  Karl von Knoblauch: Apologie (Anm. 36), S. 55. 38  Christoph Martin Wieland: Gedanken von der Freiheit über Gegenstände des Glaubens zu philosophieren. In: Von der Freiheit der Literatur. Kritische Schriften und Publizistik. Hg. v. Wolfgang Albrecht. Frankfurt 1997, S. 464–524; Wielands Schrift steht ebenfalls im Kontext des Woellnerschen Religionsediktes von 1788. Vgl. zu diesem Edikt die ausführliche Darstellung von Uta Wiggermann: Woellner und das Religionsedikt. Kirchenpolitik und kirchliche Wirklichkeit im Preussen des späten 18. Jahrhunderts. Tübingen 2010.

212 

 Marco Bunge-Wiechers

diesem Zeitpunkt um die Identität des Schreibers wusste, kann weder mit Sicher­ heit behauptet, noch ausgeschlossen werden. Glauben wir dem Nachruf August Hennings auf Knoblauch, dann „schätzte und liebte“ Wieland ihn.39 Es ist an dieser Stelle nicht der Ort, ausführlich auf den Beitrag einzugehen. Es seien daher nur kurz die für unsere Frage wichtigen Punkte resümiert.40 In seinen Ausführungen betont Wieland in erster Linie jene anthropologischen Bedingun­ gen, die den Aberglauben befördern, dem nur durch unbedingte Freiheit des Räso­ nierens entgegengewirkt werden könne. Mit Knoblauch teilt er dabei die pessimis­ tische Einschätzung hinsichtlich der „Weltverbesserung“ allein durch Aufklärung. Denn solange „Menschen – Menschen bleiben“,41 d. h. ihr leicht verführbares auf Eigennutz berechnendes Wesen besitzen, ist ein fundamentaler Fortschritt durch­ aus unwahrscheinlich. Diese Vorsichtsmaßregel ist es, die eine Funktionalisierung der Religion allererst auf den Plan ruft. Denn das uneingeschränkte Räsonnement ist keineswegs in volksaufklärerischer Absicht eingefordert. Die Notwendigkeit von Wissensdistribution im Sinne esoterischer und exoterischer Wahrheiten bleibt dabei immer im Blick. Seine literarische Umsetzung sollte dieser Problemkomplex in Teilen schon im Peregrinus Proteus, seinen prädestinierten Ort jedoch erst in der Figur des Apollonius von Tyana finden.

39 August Hennings: Tod des Herrn von Knoblauch. In: Genius der Zeit. Ein Journal. Bd. 3. Hg. v. August Hennings. Altona 1794, S. 639–641, hier S. 640; An Wielands Briefwechsel lässt sich eine solche Wertschätzung nicht belegen. Knoblauch taucht hier jeweils nur in Briefen auf, die an Wieland adressiert sind. Ein Brief von 1791 belegt vielmehr, dass sich Knoblauch über eine Note im Merkur verärgert sah, so dass sein Schwager sich in diesem Schreiben an Wieland zu wenden genötigt fühlte, vgl. Von Ludwig Heinrich Friedrich von Brandenstein an Wieland, 21. Juli 1791. In: Wielands Briefwechsel (Anm. 29), Elfter Band, S. 124–125. 40  Vgl. hierzu ausführlich Carsten Jakobi: Zwischen französischem Materialismus und funkti­ onaler Rechtfertigung des Glaubens. Religionskritik in Christoph Martin Wielands Romanen. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 56 (2006), H. 4, S. 405–428. 41  Wieland: Gedanken von der Freiheit (Anm. 38), S. 484.

Wielands Agathodämon als Apologie des Trugs 

 213

Werfen wir einen kurzen Blick auf Das Leben des Apollonius von Tyana42 des Philostratus.43 Der Text, dessen Filiation sich als durchaus intrikat erweist,44 stellt vermutlich eine Auftragsarbeit für Iulia Domna, Ehefrau des römischen Kaisers Septimius Severus, dar und wurde selbst bereits in apologetischer Absicht im 3. Jahrhundert verfasst.45 Er stellt bis heute die eigentliche Quelle der Apollonius-

42  Apollonius von Tyana (≈40–120) Die älteste noch überlieferte Erwähnung findet sich etwa 180 bei Lukian in seinem Ἀλέξανδρος ἤ Ψευδόμαντις. Dort wird der als „gerissener Lügenprophet charakterisierte Alexander von Abonuteichos als Liebhaber und gelehriger Schüler eines aus Tyana stammenden Zauberers (γόης) bezeichnet […], der seinerseits zuvor ein Gefährte des Apol­ lonius gewesen sein soll.“ Matthias Dall’Asta: Philosoph, Magier, Scharlatan und Antichrist. Zur Rezeption von Philostrats ‚Vita Apollonii‘ in der Renaissance. Heidelberg 2008, S. 36; So heißt es in der deutschen Übersetzung bei Lukian, § 5 „Jener Lehrer und Liebhaber [des Alexander] stammte aus Tyana und gehörte zu denen, die zu dem großen Apollonius in enger Verbindung gestanden und um alle seine Auftritte und Machenschaften gewußt hatten. Du siehst, aus wel­ cher Schule der Mann ist, von dem ich hier zu reden habe.“ Lukian von Samosata: Alexandros oder der Lügenprophet. Hg. v. Ulrich Victor. Leiden/New York/Köln 1997, S. 85; ein Blick in den griechischen Text offenbart jedoch, dass „Auftritte und Machenschaften“ sich aus dem Wortlaut nicht direkt ergeben, sondern hier durchaus tendenziös übersetzt wurde: ἤν δέ ὁ διδάσκαλος ἐκεῖνος καὶ ἐραστὴς τὸ γένος Τυανεύς, τῶν Ἀπολλωνίῳ τῷ πάνυ συγγενομένων καὶ τὴν πᾶσαν αύτοῦ τραγῳδίαν εἰδότων. ὁρᾷς ἐξ οῖας σοι διατριβῆς ἀνθρωποῦ λέγω. (dt: Jener Lehrer und Lieb­ haber stammte aus Tyana – einer derjenigen, die mit dem berühmten [pány] Apollonius Umgang hatten und dessen ganze traurige Geschichte [tragōdían] kannten. Du siehst, aus welcher Schule der Mensch stammt, von dem ich dir erzähle.) Die Figur des Apollonius wird hier also eher en passant erwähnt und nicht wie häufig behauptet, besonders negativ ausgezeichnet, wie z. B. bei Maria Dzielska: Apollonius of Tyana in legend and history. Rom 1986, S. 87. 43  Flavius Philostratus: Das Leben des Apollonios von Tyana. Hg. v. Vroni Mumprecht. Mün­ chen, Zürich 1983. Die Suda spricht von drei Personen unter diesem Namen, zudem lässt sich in anderen Quellen noch eine vierte identifizieren. Der Text muss wohl dem sogenannten „zweiten“ Philostratus, einem Rhetor und Schriftsteller des 2./3. Jahrhundert, zugeschrieben werden, der zur Regierungszeit des Septimus Severus und der Iulia Domna, der mutmaßlichen Auftraggebe­ rin der Apollonius-Vita, in Rom ansässig war. Vgl. Vroni Mumprecht: Einführung. In: Das Leben des Apollonios von Tyana. Hg. v. Vroni Mumprecht. München, Zürich 1983, S. 973–1021, hier S. 984–985; sowie Ewen Lyall Bowie: [Art.] „Philostratos [5]“. In: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 9. Hg. v. Hubert Cancik u. Helmuth Schneider. Stuttgart/Weimar, Sp. 888–891. 44  Ein Versuch, die Filiation von Philostratus’ Text herauszuarbeiten und das Maß an Literari­ sierung zu bestimmen, unter gleichzeitigem Bemühen, die historische Gestalt des Apollonius zu konturieren, unternimmt die Arbeit von Ewen Lyall Bowie: Apollonius of Tyana: Tradition and Reality. In: Principat 16/2 (1978), S. 1652–1699. 45  Vgl. Michael Frede: [[Art.]] „Apollonios von Tyana“. In: Der neue Pauly (Anm. 43) 1, Sp. 887; die negativen Einlassungen von Basileios von Seleukeia (gest. um 468) lassen auf weitere Schrif­ ten zu Apollonius schließen, die den Vorwurf der Magie wiederholen und intensiviert haben, Wolfgang Speyer: Zum Bild des Apollonius von Tyana bei Heiden und Christen. In: Jahrbuch für Antike und Christentum 17 (1974), S. 47–63, hier S. 59.

214 

 Marco Bunge-Wiechers

Rezeption dar.46 Zumindest eine Absicht des Verfassers dürfte gewesen sein, Apol­ lonius vom Vorwurf der Scharlatanerie zu exkulpieren. Eine wichtige Gegenfolie bildet dabei die Darstellung des Moiragenes.47 Die wichtigste Quelle für Philostratus’ Darstellung ist das „Tagebuch des Damis von Ninive“,48 dessen Echtheit inzwi­ schen mit guten Gründen bezweifelt wird. Im Zuge der apologetischen Absicht relativiert schon Philostratus die Wundertäterschaft des Apollonius und stellt ihn stärker als Medium des Göttlichen dar, das dank seiner erhöhten Rezeptivität der Weissagung fähig ist. Vor allem eine begriffliche Akzentverschiebung weg vom γόης ist ihm dabei wichtig. Vielmehr akzentuiert er den pythagoreischen Philosophen, ein Umstand, der in der Instrumentalisierung der Figur durchaus in den Hinter­ grund getreten ist.49 Die Totenerweckung wird zumindest potenziell auch durch ein mögliches Scheintot-Phänomen erklärt.50 Dies sollte jedoch weniger als rationale

46  Vgl. Johannes Hahn: Weiser, göttlicher Mensch oder Scharlatan? Das Bild des Apollonius von Tyana bei Heiden und Christen. In: Literarische Konstituierung von Identifikationsfiguren in der Antike. Hg. v. Barbara Aland, Johannes Hahn u. Christian Ronning. Tübingen 2003, S. 87–109, hier S. 90. 47  Moiragenes (Anf. 2. Jahrhundert) schrieb vier Bände mit dem Titel:Τὰ Ἀπολλωνίου τοῦ Τυανέως μάγου καὶ φιλοσόφου ἀπομνημονεύματα (dt.: „Erinnerungen des Magiers und Philo­ sophen Apollonius von Tyana“). Weitere mögliche Quellen sind eine Schrift des Maximos von Aigeai über die Jugend des Apollonius in Kilikien; eine Sammlung von Briefen des Apollonius, deren Authentizität jedoch zweifelhaft ist, sowie zwei dem Apollonius zugeschriebene Werke: 1. Über Opfer und 2. Über Astrologie. 48  Das von Philostratus erwähnte und den Text über weite Strecken bestimmende Tagebuch des Damis von Ninive gilt in Teilen der Forschung als Autorfiktion. Wirkmächtig wurde die These vertreten bei Eduard Meyer: Apollonius von Tyana und die Biographie des Philostratos. In: Her­ mes 52 (1917), S. 371–424; aktueller vgl. Bowie: Apollonius of Tyana (Anm. 44), S. 1663–1667; vgl. Mumprecht: Einleitung (Anm. 43), S. 990–1008. Dagegen stellt Wolfgang Speyer, gegen den sich Bowie dezidiert wendet, diese These zwar nicht in Frage, legt jedoch nahe, dass nicht alles auf das Konto des Philostratus gehe. Eher sei anzunehmen, dass diesem eine solche Schrift durchaus vorgelegen habe. Bedenke man, dass es sich um eine Auftragsarbeit in apologetischer Absicht gehandelt hat, die durch die Verehrung am Kaiserhof einerseits und die Verunglimpfung durch beispielsweise Moiragenes andererseits angestoßen worden ist, dann ließe sich eine vorgängige gefälschte Version durchaus plausibel motivieren. „Die Erfindung der Memoiren des Damis wer­ den wir wohl deshalb eher in dem neupythagoreischen Kreis suchen, dessen Mitglieder Apollo­ nius als einem zweiten und noch größeren Pythagoras Liebe und Verehrung entgegengebracht haben.“ (Speyer: Zum Bild des Apollonius [Anm. 45], S. 50) 49  Vgl. Hahn: Weiser, göttlicher Mensch oder Scharlatan? (Anm. 46), S. 101. 50  Flavius Philostratus (Anm. 43), S. 459, Buch 4, Kap. XLV: „Ob er nun noch einen Lebensfun­ ken an ihr wahrgenommen hatte, der den Ärzten verborgen geblieben war – man erzählt sich nämlich, Zeus habe Tau auf sie fallen lassen und von ihrem Antlitz sei ein Dunst aufgestiegen –, oder ob er das erloschene Leben wieder zurückgerufen und angefacht hatte, dies vermag ich nicht zu ergründen, und auch die Anwesenden hätten es nicht ermitteln können.“

Wielands Agathodämon als Apologie des Trugs 

 215

Deutung der Wundererzählungen verstanden werden; vielmehr wird hier gezielt mit Vagheit als Verklärungsstrategie operiert. Die Ähnlichkeiten der Schilderun­ gen zum Leben Jesu dürften zwar beabsichtigt, aber noch keineswegs antichristlich motiviert sein.51 Seine erste und rezeptionsgeschichtlich folgenreichste Instrumen­ talisierung gegen das Christentum erfährt der Text erst rund 100 Jahre später bei Sossianus Hierokles, Statthalter Bithyniens. 52 Das Pamphlet, das in zwei Büchern unter dem Namen Philaletheis erschien, ist verloren, kann jedoch einerseits durch Äußerungen des Laktanz’53 und andererseits durch die Widerlegungsschrift des Eusebios von Caesarea54 rekonstruiert werden. Hierokles, dessen Präfektur55 mit der diokletianischen Christenverfolgung zusammenfällt, sah in Apollonius eine für seine polemischen Zwecke nützliche Gegenfigur. Sie erwies sich als geeignet, den Nimbus christlicher Wundertäterschaft zu schmälern, indem sie einen überlegenen heidnischen ‚Wundermann‘ darstellte. Hierokles inaugurierte damit eine Tradition, die den polemischen Wert der Apollonius-Figur als antichristlichen Gegenspieler nicht gering bemaß. Es ist auch keine Nebensächlichkeit, dass Wieland als Quelle seiner Apollo­ nius-Darstellung die französische Übersetzung der Vita Apollonii verwendet hat, die auf der Fassung des durchaus ‚berüchtigten‘ und weiter oben schon im bayle­

51  So befindet auch Frede, „Apollonios von Tyana“ (Anm. 45), Sp. 887. 52  Durch Schriftstücke belegt ist Hierokles’ Rolle als hoher Beamter in der römischen Adminis­ tration. Dabei war er weniger als Intellektueller, sondern mehr als Funktionär im Rahmen der Christenverfolgung wichtig. Bei Laktanz ist neben seiner Schrift auch seine Rolle in Prozessen gegen die Christen vermerkt, vgl. Marguerite Forrat: Introduction. In: Contre Hiéroclès. Hg. v. Marguerite Forrat. Paris 1986, S. 9–81, hier S. 11–18. 53   Vor allem in den Institutiones divinae des Laktanz: „Indem er die Wundertaten Christi ab­ wertete, ohne sie jedoch zu leugnen, wollte er zeigen, daß Apollonius Ähnliches oder sogar noch größere Wunder vollbracht habe.“ (Lakt., inst. V, 3, 7); dt. Übersetzung zit. n. Michael Fiedrowi­ cz: Apologie im frühen Christentum. Die Kontroverse um den christlichen Wahrheitsanspruch in den ersten Jahrhunderten. Paderborn 32000, S. 80; vgl. dazu auch Forrat, Introduction (Anm. 52), S. 19 f. 54  Vgl.: Eusèbe de Césarée: Contre Hiéroclès. Hg. v. Marguerite Forrat. Paris 1986; dabei ist die Einschätzung des Apollonius durch die Kirchenschriftsteller nicht durchgehend negativ be­ stimmt. Eusebios und Hieronymus beispielsweise schätzen ihn als „ausgezeichneten Philoso­ phen“, wenngleich sie ihn in polemischer Absicht als „Gaukler und Zauberer“ ablehnen (Spey­ er, Zum Bild des Apollonius [Anm. 45], S. 54). Augustinus dagegen hält es für „lachhaft“ einen „Schwarzkünstler“ wie Apollonius Christus zur Seite zu stellen (ebd., S. 55); zur paganen Rezep­ tion sowie zur volkstümlichen Bedeutung des Apollonius vgl. Hahn: Weiser, göttlicher Mensch oder Scharlatan? (Anm. 46), S. 99–109. 55  Die Datierung der Präfektur erweist sich als schwierig. Mit guten Gründen kann der Zeit­ raum 309 bis 310 angenommen werden. Ausführlich zu diesem Problem vgl. Forrat, Introduction (Anm. 52), S. 16–18.

216 

 Marco Bunge-Wiechers

schen Perspektiv betrachteten Deisten Charles Blount beruht. Blount hatte 1680 die ersten beiden Bücher der Apollonius-Biografie nebst Erläuterungen zu den ein­ zelnen Kapiteln herausgegeben. Das Buch wurde 1693 öffentlich verbrannt. Jean de Castillon56 übertrug auf Veranlassung Friedrich II. von Preußen dann die englische Übersetzung samt der Anmerkungen Blounts ins Französische und vervollstän­ digte die Ausgabe 1774.57 Die Übersetzung der Vita Apollonii des Philostratus wurde durch Charles Blount zwar vollständig abgeschlossen, jedoch hatte er aus Furcht vor Strafverfolgung nur die ersten beiden Bücher auch veröffentlicht.58 Erst 13 Jahre nach Veröffentlichung, 1693, wurde das Buch verboten und öffentlich durch Henkershand vernichtet. Vom partiellen Erfolg der Verbotsmaßnahmen zeugt sein Status als liber rarus im 18. Jahrhundert. Man geht jedoch davon aus, dass gerade in Freidenkerkreisen Abschriften zirkulierten.59 Noch Mitte des 18. Jahrhunderts findet Blount Eingang in John Lelands View Of the Principal Deistical Writers, der eine Zurückweisung des Apollonius/Christus-Vergleich für geboten hält. Blounts Schrift sei „manifestly intended to strike at revealed religion“60 und dabei geleitet

56  Castillons Sohn, Friedrich Adolph Maximilian Gustav von Castillon (genannt Frédéric de Castillon), sollte 1780 bezeichnenderweise die Preisfrage der Preußischen Akademie mit seiner Rechtfertigung des Volksbetrugs gewinnen. Friedrich II. hatte 1777 folgende Frage ausgelobt: „Est-il utile au Peuple d’être trompé, soit qu’on l’induise dans de nouvelles erreurs, ou qu’on l’entretienne dans celles où il est?“ [„Ist es dem Volk nützlich, betrogen zu werden, sei es, daß man es in neue Irrtümer führt oder in denen, die es unterhält, bestätigt?“] Hans Adler: Ist Aufklä­ rung teilbar? Die Preisfrage der Preußischen Akademie für 1780. In: Nützt es dem Volke, betrogen zu werden? Est-il utile au peuple d’être trompé? Hg. v. dems. Stuttgart 2007, S. XIII–LXX, hier S. XIII; mit dem Ruch des Opportunismus teilte man den Sieg im Wettbewerb auf eine bejahende und auf die nämliche verneinende Beantwortung auf, vgl. Eed., S. LII. 57  Vgl. Günter Petzke: Die Traditionen über Apollonius von Tyana und das Neue Testament. Leiden 1970, S. 11; Winfried Schröder: Athen und Jerusalem. Die philosophische Kritik am Chris­ tentum in Spätantike und Neuzeit. Stuttgart 2011, S. 41. 58  „The whole Translation I have already finish’d, and had proceeded thus far as you see in my Illustrations, when I found the Alarm was given in all parts what a Dangerous Book was coming out; such a Book as would unmask all practical Atheists, which [they being the greater number of men,] might therefore prove of pernicious consequence to the Publick. Above all, the Popish Clergy thought themselves chiefly concern’d herein, Who are so zealously revengeful and malitious, that I fear’d it might fare with me as it did with poor Esop, Who [notwithstanding he had broken Jests upon several great Kings and Potentates, without being punish’d for the same, yet] only speaking against the Priests of Delphos, cost him his Life.“ Charles Blount: The two first books of Philostra­ tus, concerning the life of Apollonius Tyaneus written originally in Greek, and now published in English: together with philological notes upon each chapter. London 1680, unpag. 59  Vgl. Walber, Charles Blount (Anm. 25), S. 23–25. 60  John Leland: A View Of the Principal Deistical Writers that have Appeared in England in the last and present Century. With Observations upon them, and some Account of the Answers that have beend published against them. London 1755, S. 67.

Wielands Agathodämon als Apologie des Trugs 

 217

durch ein „strong prejudice against the scripture“.61 Ob wir es bei Blount allerdings mit einem Atheisten zu tun haben, wie z. B. Walber insinuiert, muss zweifelhaft bleiben. Winfried Schröder schlägt ihn der Religionskritik „unterhalb der Schwelle des Atheismus“ zu, denn es erscheint unentscheidbar, ob Blount auch den Gott der Rationaltheologie als bloße Fiktion erweisen möchte.62 Explizit gilt ihm auch für das Christentum der „Test of Reason“63 als Lackmustest – womit er ganz im Fahr­ wasser deistischer Positionen verbleibt. Diese Unentscheidbarkeit mag durchaus auch auf den literarischen Stil Blounts zurückzuführen sein, dessen eklektisches Vorgehen und Schreiben geprägt ist vom Essayismus eines Montaigne und Charron.64 But on the contrary, those Authors, who (like Machiavil, Montaign, and all Writers of Satyr), give a true Description of what Men really do; shew that Man-kind in general, ever was, is, and will be the same, viz. Base, Treacherous, and False, studying nothing but their own Interest and Safety, to which they will attain by any means whatsoever; That he who makes himself a Sheep, becomes a Prey to the Wolf; and that if men are less vicious, or more honest, it is not out of manners, but fear […] Nevertheless, veritas odum parit; And he that gives this true Character of his Fellow-Citizens, shall be hated even unto death, for that most men are Dishonest, but few desire to be thought so. However, this is the way of Writing which I have endeavour’d (though imperfectly) to imitate; And if by shewing what ill men do, some malicious Persons (who would have their Hearts no more than their Chests of Trea­ sure, unlock’d by any but themselves,) should misinterpret my Design, as if I encourag’d others to do the same; Let this serve for my excuse, that I can be no more accountable for my Reader’s indiscretion herein, than any Fencing-master answerable, if his Scholars make use of the Skill he taught them, to the Destruction of their Friends; whose only aim was to instruct them how to Defend Themselves in a Just and Lawful Cause. 65

61  Ebd., S. 69. 62  Vgl. Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, S. 153; Blounts An­ merkung zur VA führt lediglich Hobbes Position an: „Mr. Hobbs tells us, that in these four things, opinion of Ghosts, ignorance of second causes, Devotion towards what men fear, and taking things casual for Prognosticks, consisteth the natural seed of Religion.“ (Blount: The two first books of Philostratus [Anm. 58], S. 32 f.) 63  „Let us Christians from hence learn to esteem our Religion the more, which stands the Test of Reason, bidding us give a Reason for our hope.“ Charles Blount: Great is Diana of the Ephesians: Or, The Original of Idolatry, together with the Politick Institution of the Gentiles Sacrifices (1695). In: Miscellaneous works. 1695. New York 1979, S. 26. 64  Eine ausführliche nach antiken und mittelalterlichen Autoren getrennte Auflistung, der von Blount zitierten Autoren findet sich bei Walber: Charles Blount (Anm. 25), S. 49–71. 65  Blount: The two first books of Philostratus (Anm. 58), unpag.; vgl. weiterhin Walber: Charles Blount (Anm. 25), S. 46.

218 

 Marco Bunge-Wiechers

Die Übertragung zeichnet sich in erster Linie durch den extensiven Anmerkungs­ apparat aus. Neben Worterläuterungen finden sich hauptsächlich religions- und wunderkritische Einlassungen. Blount montiert in seine Anmerkungen – größ­ tenteils ohne Kennzeichnung – eine Vielzahl von Zitaten, u. a. von Vanini, Cardano und Cherbury. Der scheinbar willkürliche Rückgriff auf andere Philoso­ phen hat ihm den Ruf eines intellektuell minderwertigen Plagiators eingebracht. Positiv gewendet lässt sich sein Vorgehen aber auch als Form der Popularisierung verstehen, so machte er bestimmte antike Quellen erstmals in englischer Über­ setzung für eine breitere Öffentlichkeit verfügbar.66 Blounts Übersetzung und Kommentierung erscheint als signifikanter Nachweis einer positiv-polemischen67 Indienstnahme der Apollonius-Figur, die über ihre Veröffentlichung hinaus auch in Deutschland produktiv weiterwirkte. Der Einfluss, den dieser Text auf die clandestine Literatur gehabt hat, kann gar nicht überschätzt werden. So hat er gerade für die Wunderdebatte den Fokus von einer metaphysischen und natur­ wissenschaftlichen Argumentation auf eine stärker religionskomparatistische verschoben.68 Er folgt grundsätzlich einem Argument Herbert von Cherburys,69 der die Wunder von Apollonius mit den Wundern Christi kontrastiert, „um zu zeigen, daß Betrug und wahre Wunder nicht voneinander unterscheidbar sind.“70 Wie bereits erwähnt, wusste Blount selbst um das kontroverse Potenzial seiner Philological Notes und sah sich schnell als Zielscheibe christlicher Polemik. Die Vorwürfe gegen Blount sind dabei vielfältig und decken das Standardrepertoire

66  Vgl. dazu ebd., S. 161. 67  Blount war durchaus ein Kenner der religionskritischen Tradition seit der Antike: Er las Lukrez, Cicero, Lukian, Euhemeros über Diodorus, Origenes Schrift gegen Celsus und Eusebios Schrift gegen Hierokles. Autoren der Neuzeit, die zu Blounts Gewährsmännern gezählt werden können, sind: Averroes, Cardano, Machiavelli, Agrippa, Montaigne, Vanini, Charron, Cyrano, La Peyrère, Stube, Thomas Burnet, Hobbes, Lord Herbert und Spinoza (vgl. ebd., S. 49–71). Ferner besorgte Blounts einige Lukian-Übertragungen, die einen eindeutig religionskritischen Schwer­ punkt haben. So hatte er für Dryden die Texte Alexander, Jupiter Tragoedus, Concilium Deo­ rum, Philopseudes, De Luctu und De Dea Syria übersetzt (vgl. ebd., S. 164). Darüber hinaus war Blounts Vater, Sir Henry, u. a. als ‚Reisender‘ prominent. Mit A Voyage into the Levant: A Breife Relation of a Iourney, Lately Performed by Master H. B. Gentleman (1636) legte er eine vielgelesene Beschreibung vor, an der vor allem bemerkenswert ist, dass „die kulturellen Beschreibungen mit einer skeptischen, relativistischen und religionskritischen Philosophie fusioniert sind“ (ebd., S. 17). 68  Vgl. zur Bedeutung des Textes die Ausführungen bei Schröder: Ursprünge des Atheismus (Anm. 62), S. 131. 69  Walber, Charles Blount (Anm. 25), S. 163; so zumindest eine starke Lesart der entsprechen­ den Stelle bei Lord Herbert, die, wenn auch nur implizit, durchaus naheliegend ist, vgl. Edward Herbert Herbert of Cherbury: A Dialogue between a tutor and his pupil. New York 1979, S. 182–183. 70  Walber: Charles Blount (Anm. 25), S. 163.

Wielands Agathodämon als Apologie des Trugs 

 219

orthodoxer Polemik ab. So wird er unter anderem der sogenannten ‚doppelten Wahrheit‘71 als Verhüllungsstrategie bezichtigt, da er sich einerseits auf Vernunft­ wahrheiten berufe, die der Orthodoxie entgegenstehen, und andererseits auf die Gültigkeit von Glaubenswahrheiten insistiere.72 Die mit einem solchen Vorwurf verbundenen Stellen im Werk Blounts beziehen sich jedoch eher auf eine Doktrin esoterisch-exoterischer Wissensdistribution bzw. der expliziten und polemischen Bezugnahme Blounts auf die klugheitsbedingte dissimulatio. Besonders markant erscheint eine Einlassung im Vorwort zur Vita Apollinii-Übersetzung: ’Tis a thing of most Dangerous Consequence to oppose any Doctrine that is publickly receiv’d, how sottish soever it be; […] Now for my Part, rather than incur the like Anathema, I think it much more safe to believe as the Church believes […]. Wherefore, if the Clergy would have apollonius esteem’d a Rogue, and a Juggler; that being risen from the Dead, he is one of the principal formenters of this Popish Plot; or than there never was any such Man as apollonius, with all my heart, what they please; For I had much rather have him decry’d in his Reputation, than that some grave Cardinal, with his long Beard, and Excommunica­ tive Ha, should have me burnt for a Heretick. Therefore for these Weighty Reasons I have thought fit to Prorogue the remaining part of this History till Interest have no longer need of a Holy Masque, and till there be discover’d some new Road to the Heavenly Jerusalem, where every honest Man may go without Leading-strings, or without being put to the Temporal charge of a Spiritual Guide, and till Men quit the thoughts of going to Heaven by the same means as they go to a Play-house, (viz.) by giving Mony to the Dore-keepers.73

Auch wenn Blount hier auf Zeiten hofft, in denen der Mensch den „leading strings“ spiritueller Führer entraten könne, erscheint er keineswegs als Kämpfer gegen die Religion an sich, der sich zum Anwalt menschlicher Selbstbestimmung erhoben hat.74 Ein solcher Befreiungsakt scheint, wenn überhaupt, nur einer aus­ gewählten Schar von Menschen möglich zu sein. Seine Meinung von der „credu­ lous multitude“75 gerade im Hinblick auf ihre Anfälligkeit für Aberglauben erweist sich als ausnehmend gering. Die Einsicht in die Nützlichkeit der Verstellung und

71  Zum Vorwurf und Gehalt der ‚doppelten Wahrheit‘ vgl. den Beitrag von Eric Achermann in diesem Band, S. 145–199. 72  So z. B. in John Harris: The Atheist’s Objection, that We can Have No Idea of God, Refuted. Second Boyle Lecture. London 1698, S. 6 f.; vgl. dazu auch die Übersicht aller Vorwürfe gegen Blount mit entsprechenden Quellenangaben bei Walber, Charles Blount (Anm. 25), S. 260. 73  Blount, The two first books of Philostratus (Anm. 58). 74  Walbers Darstellung deutet Blount in diesem Punkt etwas zu stark in sozialrevolutionärer Absicht. Gerade sein wiederholter Rekurs auf eine ‚realistische Anthropologie‘ in der Tradition Montaignes und Machiavellis scheint mir doch Indiz genug, ihm hier keinen übertriebenen Ide­ alismus zu unterstellen vgl. Walber: Charles Blount (Anm. 25), S. 158. 75  Blount, Great is Diana of the Ephesians (Anm. 63), S. F3.

220 

 Marco Bunge-Wiechers

damit auch des Truges wird schon dadurch unterstrichen, dass Blount sie schon bei den ‚weisesten‘ der Heiden rühmt, wenn er ihnen das Motto „Loquendum cum vulgo, sentiendum cum sapientibus; & si mundus vult decipi, decipiatur“ zuschreibt. Er steigert diese affirmative Haltung zum Trug noch, wenn er selbst Jesus als Vertreter einer solchen Lehre ausweist: „Our Saviour himself found how improper it was to unfold Sacred Mysterys to the ignorant Multitude“.76 Blount reduziert zwar in seiner Kritik die institutionalisierte Religion auf ein reines Machtmittel, das sich bestimmter anthropologischer Einsichten bedient, um Menschen zu beherrschen und zu steuern. Gleichzeitig korrespondiert dieser ernüchternden Erkenntnis aber die Einsicht in die Nützlichkeit einer vorrangig politisch-didaktisch orientierten Religiosität. Gleich eine der ersten Erläuterungen zum Begriff der „Self-Love“ bringt ihn auf das prekäre Verhältnis zwischen Christentum und der Rezeption der ApolloniusFigur. Mit Nachdruck betont er den unparteiischen Standpunkt, der überhaupt erst einmal erlaube, ein Urteil abzugeben. Dabei sei bei allen Parteigängern, egal welcher Couleur, mit durch die Eigenliebe verursachter Verzerrung zu rechnen: Self-Love is so predominant in mankind, that no person how good or how just soever can be exempt from partiality to himself and his profession […]. Apollonius is by many accused of Magick, and so was Christ himself by Celsus and others: Therefore whether one, both, or neither, did justly merit such accusation, ought to be impartially examinded without any regard either to Interest or Religion; since whatever person tryes matter of fact by his own Cat­ echise, gives the same reason to his enemies Negative as to his own Affirmative, and so leaves the contest in statu quo prius. Therefore he who would indifferently judge between both, must consider three things, 1. Their Doctrine. 2. Their Miracles. And 3. Their Evidence.77

Eine grundlegende Religionskritik unternimmt Blount dann in einem Text, auf den er sich gleich zu Beginn seiner Anmerkungen zur Vita Apollonii bezieht.78 In der 1680 veröffentlichten Schrift Great is Diana of the Ephesians: OR, the Original of Idolatry zielt Blount zwar vordergründig auf die Opferpraxis heidnischer Reli­ gion. Jedoch erweist er zudem den Priesterbetrug als einträgliches Geschäft und hinsichtlich der conditio humana als effektives Mittel, den ungebildeten ‚Pöbel‘ seiner Habseligkeiten zu berauben und ihn langfristig zu kontrollieren. Recht deutlich zeichnet sich in den Ausführungen die eminent politische Dimension79

76  Ebd., S. 23. 77  Blount, The two first books of Philostratus (Anm. 58), S. 5. 78  Vgl. ebd. 79  Blount zeichnete sich auch durch ein stark politisches Engagement aus. Die gesamte Familie Blount war u. a. Mitglied im Green Ribbon Club, der in Hauptsache antipapistisch und antika­ tholisch orientiert war. Er setzte sich für den „Ausschluß des katholischen Herzogs von York von

Wielands Agathodämon als Apologie des Trugs 

 221

der Religion ab. Seine Bekenntnisse zum Christentum, das von solchen Vorwürfen ausgenommen sei, wirken hingegen betont unambitioniert und ambivalent.80 Der Text kann daher als eine grundlegende Kritik institutionalisierter Religion gelten, der sich verschiedener religionskritischer Topoi bedient und in seiner Argumen­ tation wenig stringent verfährt. Die natürliche Religion erscheint als korrumpiert durch die allein auf ihren eigenen Nutzen bedachte Priesterschaft. Ermöglicht wird dies allererst durch eine grundlegende anthropologische Einsicht, die uns auch in der Philostrat-Übertragung weiter oben begegnet ist: „Self-Love, which like Fire covets to resolve all things into it self, makes Men they care not what Villany or what Impiety they act, so it may but conduce to their own advantage.“81 Eine esoterische Minderheit dominiert durch die Mittel des Truges82 zum Behuf ihres eigenen Vorteils die exoterische Mehrheit. Die Art und Weise bemisst sich an den intellektuellen Kapazitäten der Betrogenen83 und impliziert damit einen Zusammenhang zwischen Religionsentwicklung und Kulturisationsstand der Menschen. Neben religionsgenetischen Argumenten, die an die Ontogenese eines Volkes gebunden sind, bemüht Blount auch euhemeristische Argumente,84 d. h. er behauptet, dass besonders herausragende Herrscher und Könige mit der Zeit den Status einer Gottheit gewannen, deren Kult sich über Jahrhunderte hinweg verselbstständigte und seiner historischen Genese nicht mehr eingedenk war. Sicherlich geht es Charles Blount nicht darum, Apollonius zu rechtfertigen, sondern durch ihn vielmehr in effigie gegen die Offenbarungsreligion anzutreten. Er exemplifiziert in sicherer ‚heidnischer‘ Distanz ein anthropologisches Spezi­ fikum, nämlich die Anfälligkeit für Wunder- und Aberglauben und führt dabei das eigentlich christliche Bezugsfeld immer mit. Blounts Haltung zum Trug bleibt uneindeutig und nicht dezidiert ablehnend. Die Wunder des Tyaners bestehen freilich den ‚Test of Reason‘ nicht. Sie gründen einerseits in einer Täuschungs­

der Thronfolge“ und 1679 für die Aufhebung der Pressezensur ein, vgl. Walber: Charles Blount (Anm. 25), S. 33. 80  „Now if any Hypocrite to glorifie his own zeal, should pretend that a discourse of this nature does through the Heathen Sacrifices, reproach those of Moses, which resembled them but in outward appearance, he must retrieve himself from that error, if he rightly apprehends the dif­ ference: For the one justifies his Institutions as directed to the true God, and ordain’d as Typical by his appointment; whereas the other (viz. those of the Heathen) had neither of these Qualifi­ cations, and therefore no more ought to be spared for the resemblance to those of the Jews, than a Criminal ought to be pardoned for wearing the same coloured Garments with the the Judge.“ (Blount: Great is Diana of the Ephesians [Anm. 63], S. 2 f.) 81  Ebd., S. F3. 82  Vgl. Blount: The two first books of Philostratus (Anm. 58), S. 3. 83  Vgl. Blount: Great is Diana of the Ephesians (Anm. 63), S. 29. 84  Vgl. ebd., S. 7 f.

222 

 Marco Bunge-Wiechers

absicht und andererseits in der ‚natürlichen‘ Leichtgläubigkeit des Menschen. Gerade in der prätendierten Unparteilichkeit des Kommentators liegt der Keim kritischer Indienstnahme. Denn die Summe des präsentierten Materials hat der Leser selbst zu ziehen. Blount entzieht sich der deutlichen Positionierung und liefert hingegen eine religionskomparatistische Perspektive, deren korrosives Potential vor allem der christlichen Polemik und Zensur nicht entgangen ist. Wieland ist nun durchaus nicht der Erste, der der Figur des Apollonius von Tyana Gerechtigkeit widerfahren lassen möchte.85 Den Fokus der positiven Bezugnahmen – seien sie nun polemisch gegen das Christentum ausgerichtet oder nicht – bilden die Wundergeschichten des Apollonius. Gerade aus christli­ cher Warte sind die heidnischen Wunder ein Ärgernis. Zudem bilden sie das zen­ trale Argument antichristlicher Indienstnahme, das die frappante Ähnlichkeit zwischen dem Leben Jesu und dem des heidnischen Wundertäters zu begründen vermag. Einerlei ob nun Polemik oder Apologie erzwingen die Wunder eine Stel­ lungnahme in die eine oder andere Richtung. Bezweifelt man die Authentizität der Beschreibung bzw. der Möglichkeit solcher Wundertaten, bedient man sich gleichermaßen der Argumente, die auch christlicher Thaumaturgie zu widerspre­

85  Gerd Petzke spricht von einer „polemisch-positive Betrachtungsweise“ des Apollonius, die sich bis ins 19. Jahrhundert nachweisen lässt. Polemisch sei sie insofern, dass sie sich dezidiert gegen das Christentum wende. Blount setzt er dabei an die erste Stelle. Allzu leichtfertig schlägt er jedoch alle nur irgendwie positiv gearteten Aussagen dieser polemischen Stoßrichtung zu. So lässt sich beispielsweise Voltaires kurze Erwähnung im Essai sur les moeurs et l’esprit des nations (1785) keineswegs so deutlich verorten. Er betont einerseits die moralische Integrität des Tyaners und schreibt andererseits die Wundererzählungen einer nachträglichen Verklärung durch seine Anhänger zu. Ähnlich argumentiert dann 1807 Legrand d’Aussy, der das Wunderhaf­ te Damis und Philostratus zuschreibt, vgl. Petzke: Die Traditionen über Apollonius von Tyana (Anm. 57), S. 11. Angemessen hingegen erscheint das Etikett der ‚polemisch-positiven‘ Betrach­ tung für Christian Ludwig Paalzow: Gewißheit der Beweise des Apollinismus oder Widerlegung der Prüfung und Vertheidigung der apollonischen Religion. Leipzig 1787. Unter dem Pseudonym A. L. Cotta legt der „Atheist“ Paalzow [Schröder: Athen und Jerusalem (Anm. 57), S. 39 f.] 1787 diese merkwürdige Schrift vor. Der Text, der eine Quellenfiktion darstellt, erscheint als Überset­ zung einer lateinischen Rechtfertigung des ‚Apollinismus‘ als einzig wahrer Religion. Er ist mit einer Vielzahl von Fußnoten versehen, die den Haupttext spöttisch zu widerlegen suchen und in ihrer Grundtendenz atheistisch ausgerichtet sind. Ein negativer Zugriff auf die Apollonius-Figur lässt sich unter Wielands Zeitgenossen bei Johann Balthasar Lüderwald 1793 finden (vgl. Johann Balthasar Lüderwald: Anti-Hierocles oder Jesus Christus und Apollonius von Thyana ihrer gro­ ßen Ungleichheit vorgestellt. Braunschweig 1793). Er insistiert vor allem auf den „Zusammen­ hang von Wunder und Lehre“, denn die Wunder des A. seien nicht vernunftgemäß, da sie nicht auf die ‚wahre Lehre‘ bezogen sind. Ferner seien auch die christlichen Wunder mehrfach bezeugt und damit glaubwürdiger als die lediglich von Damis bezeugten Wunder des Apollonius. Petzke: Die Traditionen über Apollonius von Tyana (Anm. 57), S. 12.

Wielands Agathodämon als Apologie des Trugs 

 223

chen vermögen. Bejaht man hingegen die Wunder des Apollonius, untergräbt man die Exzeptionalität des christlichen ‚Heilands‘. Wer nun Apollonius also zu verteidigen gedenkt, muss entweder die Wun­ dertaten rechtfertigen, sie einer Täuschungsabsicht bzw. eines Irrtums der Bio­ grafen zuschreiben oder aber sie als Täuschungen des Apollonius rechtfertigen. Wieland verbindet in seinem Roman die letzten beiden Optionen. Das erzählende Personal ist dabei übersichtlich: der wunderkritische Hegesias als retrospektiver Erzähler seiner Begegnung mit Apollonius sowie die ‚erzählten Erzähler‘ Apol­ lonius, Kymon und Hegesias selbst. Nachdem im dritten Buch die Identität des Agathodämon vollends gelüftet wird, bildet das „Tagebuch des Damis“ den fik­ tionsinternen Referenztext, an dem die Figur des Apollonius zu prüfen und zu rechtfertigen ist. Bereits das Motto des Titelblattes erscheint bemerkenswert. So lesen wir ein nicht ausgewiesenes lateinisches Zitat aus Ovids Fasti: „Est Deus in nobis, agi­ tante calescimus illo“.86 In seinem ursprünglichen Kontext erscheint der Satz als Beglaubigungsformel des vom Sprecher Vorgebrachten: Ungewiß sind auch bei diesem Monat die Gründe des Namens. | Die, die man nennt, stell’ ich vor – wähle nach deinem Geschmack! | Wahres sing‘ ich, doch mancher wird sagen, es sei nur erfunden: | Unglaubhaft sei’s, daß ein Mensch Götter zu sehen vermag! | In uns wohnt ein Gott, und wenn er sich regt, dann erglühen wir; | Dieser Drang trägt den Keim göttlichen Geistes in sich!87

Das Motto lässt sich so im Rahmen des Agathodämon einerseits als Ermächti­ gung des Lesers verstehen, dem alles zur unparteiischen Entscheidung vorgelegt wird und andererseits selbst über jenes Göttliche verfügt, das zum Verständ­ nis ihn allererst befähigt. Nun sind diese ‚semina sacrae‘ durchaus theologisch als Teilhabe am göttlichen Logos lesbar, im Kontext des Romans jedoch erfah­ ren sie durch Apollonius eine deutlich herabgestimmtere Deutung: „In diesem Sinne – und selbst dem gemeinen Sprachgebrauch gemäß, der das höchste in jeder Art göttlich nennt – pflegte ich die geistige Natur den Gott in uns zu nennen, und so verstand ich mich selbst, wenn ich von meinem Dämon sprach“88. Auch vor dem Hintergrund sonstiger wunderkritischer Äußerungen spricht alles dafür,

86  Christoph Martin Wieland: Agathodämon. In: Ders.: Werke. Bd. 2. Hg. v. Fritz Martini u. Hans Werner Seiffert. München 1964–1968, S. 459–704, hier Titelblatt. 87  „Hic quoque mensis habet dubias in nomine causas, | quae placeant, positis omnibus ipse leges, | facta canam ; sed erunt qui me finxisse loquantur | nullaque mortali numina visa putent. | est deus in nobis ; agitante calescimus illo: | impetus hic sacrae semina mentis habet.“ Ovid: Fasti VI,5. 88  Wieland: Agathodämon (Anm. 86), S. 495.

224 

 Marco Bunge-Wiechers

dass Wieland den „deus in nobis“ eben auch als Katalysator des unbezwingbaren Hangs zur Erfahrungstranszendenz verstanden wissen möchte. Dieser manifes­ tiert sich handfest in der Wirkung des Agathodämon und lässt sich – wie Hege­ sias immer wieder bestätigt – auch durch dessen Selbstentzauberung nicht nach­ haltig sabotieren. Die Geschichte des Agathodämon nimmt ihren Anfang mit der „märchenhafte[n] Erzählung“89 einiger „ungebildete[r] aber dafür auch unverkünstelte[r] Menschen“,90 deren Zeuge Hegesias, der Verfasser dieses „[a]us einer alten Handschrift“ entom­ menen Textes, ist. Die Texteröffnung erweist sich schon hinsichtlich der Trug-The­ matik als bemerkenswert. Präsentiert sie doch auf engstem Raum die paradigmati­ sche Problemkonstellation volksaufklärerischen Bemühens und deutet zumindest die grundsätzliche Nützlichkeit, ja, auch die Notwendigkeit wunderhafter Einklei­ dung an. Der Opposition gelehrter/naiver Mensch korrespondieren unterschiedli­ che Begründungsniveaus hinsichtlich berichteter Ereignisse. Hegesias vorsichtig formulierte Kritik an der Zuverlässigkeit von Augenzeugenberichten91 – ein klassi­ sches Argument aufklärerischer Wunderkritik – bleibt bei den Hirten wirkungslos. Mit dem expliziten Hinweis, man sei solcher gelehrten Fragen mangels Fähigkeit92 überhoben, bleibt dem gelehrten Zuhörer nur die Resignation und die reservatio mentalis gegenüber den Berichten über den angeblichen „Wundermann[ ]“ Aga­ thodämon. Dennoch muss auch der gelehrte Hegesias bei seiner ersten Begegnung mit jenem eingestehen, dass die Einbildungskraft ein „wunderlich Ding“ ist, die unter bestimmten Umständen wie der „Erzählung der Hirten“, der „Ermattung“, „das Schauerliche der Gegend und der Morgenluft“ und „der überraschende Eintritt in dieses stille […] kleine Elysium“ auch den Gebildeten geneigt macht, an solche Wundertäter zu glauben.93 Auch der Arzt und Naturforscher Hegesias zeigt eben diese menschliche Schwäche. Damit wird am Anfang jenes zentrale Thema dieses Textes eingeführt: die anthropologisch fundierte Neigung zum Aber- und Wunder­ glauben. Die Rückführung des Glaubens auf eine für den Menschen konstitutive Eigenschaft ist der Ausgangspunkt der gesamten apologetischen Bemühungen des Textes. Es ist ein „geheimnisvoller Instinkt“, „der uns zu glauben nötigt“ und letzt­ lich nicht auflösbar scheint.94 Diesen „Hang zum Glauben“ beschreibt der Agatho­

89  Ebd., S. 464. 90  Ebd., S. 460. 91  Ebd., S. 461. 92  „Wir sind nur einfältige Leute, sagte einer von ihnen, und verstehen uns nicht auf die gelehr­ ten Dinge, die du da vorgebracht hast.“ Ebd. 93  Ebd., S. 465. 94  Ebd., S. 474.

Wielands Agathodämon als Apologie des Trugs 

 225

dämon als eine „Schwachheit des Menschen“ und dessen „geheimen Feind“.95 Aus der Beschaffenheit der menschlichen Natur kann er im zweiten Buch, der Erzäh­ lung seiner Lebensgeschichte, dann die Notwendigkeit der Täuschung motivieren. Er unterscheidet dabei in positive Täuschungen, als solchen, die der allgemeinen Wohlfahrt dienen und die ihr Analogon in der Natur haben, und negativen. Ist es nicht auch in diesem Punkt die Natur selbst unsre Lehrerin? sie, die uns, vom ersten Augenblick unsers Daseins an, von außen mit Erscheinungen umgibt, die nicht sind, was sie scheinen, und von innen durch die magischen Wirkungen der Liebe und der Hoffnung, unser ganzes Leben durch aus den wohltätigsten Absichten täuschet?96

Die negative Täuschung hingegen ist machtstrategisch und auf eigenen Vorteil berechnet und eignet der institutionalisierten Priesterschaft. Beide Formen der Täuschung reüssieren bei der breiten ungebildeten Volksschicht, erstere hat jedoch in Perspektive des Apollonius einen ethischen Vorrang, da sie auf allge­ meine Wohlfahrt zielt und sich im Fortschritt, der durch die Täuschung entsteht, überflüssig macht. Sie ist eine Täuschung, „die ihr eigenes Gegengift bei sich führt“.97 In einer genetischen Erklärung der institutionalisierten Religion, die psychologisch und anthropologisch orientiert ist, betont Apollonius im negati­ ven Gegenbild der depravierten Priesterschaft die Notwendigkeit für ein solches Vorgehen. Der Index der Humanität einer Nation seien ihre Götter, d. h. der Fort­ schritt einer Gesellschaft macht über kurz oder lang eine religiöse Revolution not­ wendig.98 Eingedenk der positiven Möglichkeiten der Religion, die über den Trug realisiert werden, heißt das aber auch, die religiöse Institution selbst stellt sich als eine zu Überwindende dar. Vor der Folie von Damis’ Tagebuch erfolgt die Prüfung der überlieferten Wundergeschichten, deren Stellung im Roman als nicht unbedingt zentral erach­ tet werden kann. Indiz dafür ist die Tatsache, dass gerade nicht Apollonius der Gesprächspartner für die Erörterungen ist, sondern dessen Begleiter Kymon sich für diese Richtigstellung zuständig sieht. Der Chronist Damis wird schnell als ein schwärmerischer Enthusiast entlarvt und seine Erzählungen auf ihren rationalen Kern reduziert. Dabei werden einige, aber eben nicht alle Wundertaten herausge­ griffen. Die Bereinigung der Wundererzählungen wird dabei als regelhaft vorge­ stellt, sodass es gar nicht nötig ist, jede im Einzelnen zu besprechen. So resümiert Apollonius später: „Einiges hat der wackere Kymon bereits ins Reine gebracht,

95  Ebd., S. 481. 96  Ebd., S. 501. 97  Ebd., S. 523. 98  Vgl. ebd., S. 564–565.

226 

 Marco Bunge-Wiechers

und es wird dir ziemlich leicht sein, eine Menge ähnlicher Abenteuer auf dieselbe Weise zu berichtigen.“99 Als wesentlich zentraler im Romangefüge erscheint der für die Apollionus-Rezeption typische Vergleich mit Christus. Apollonius nimmt diesen zum Ausgangspunkt eines langen Exkurses, in dem er die Geschichte der ‚Christianer‘ entfaltet. Er scheidet dabei strikt zwischen den Jüngern und ihrem Meister, d. h. zwischen ursprünglicher Quelle und depravierter Weiterführung. Den klassischen Christus-Vergleich vermag er sogar noch zu überbieten, indem er die Evangelien und ihre Verfasser zumindest teilweise mit dem Elaborat des Damis gleichsetzt, das ihn – nachdem er es gelesen hat – ironisch auf den Text des Philostratus vorverweisen lässt: Es müßte ein seltsames Werk herauskommen, wenn, bei dem immer wachsenden Hang der Menschen zu übernatürlichen und unglaublichen Dingen, irgend ein redseliger Sofist sich in hundert Jahren einfallen ließe, aus dieser etwas unförmlichen Handzeichnung meines Assyrischen Freundes ein großes, reich zusammen gesetztes und mit üppiger Farbenver­ schwendung ausgeführtes Gemälde, zur Gemütsergetzung irgend einer wunderlustigen Dame, auszufertigen.100

In seinen Ausführungen zu Christus übernimmt nun Apollonius die Rolle des Apologeten. Das Christentum ist ihm wegen der Simplizität der christlichen Lehre eine „angemessene Lebensphilosophie“, die den Vorteil habe, die breite Volks­ schicht anzusprechen. Jesus sei der Wundermann, für den man ihn, Apollonius, immer gehalten habe, denn jener sei tatsächlich der Überzeugung gewesen, von den Toten auferstanden zu sein. Hier wird die Ambivalenz der Rechtfertigung deutlich: Apollonius negiert nicht explizit die Wunder Christi, jedoch relativiert er sie bzw. hält es für möglich, dass sich gleichermaßen eine natürliche Erklärung finden ließe. Diese liefert er dann auch in der Annahme, dass Christus keines­ wegs tot war, als man ihn vom Kreuz abnahm und ihn im Felsengrab bestatte­ te.101 Er sei aber gerade kein Manipulator, so wie er, Apollonius, einer sei, sondern völlig von der Wahrhaftigkeit seiner Wiederauferstehung und seiner Heilsmis­ sion überzeugt. Allenfalls habe er nicht eben betrogen, sondern sich lediglich über sich selbst geirrt – dies aber mit heilsamem Effekt. Denn das Christentum sei die Religion der Zukunft, in der sich das Humanitätsideal entwickeln könne. Dies behauptet Apollonius, wenngleich er in einem weissagenden Ausblick, der sich bis in die Gegenwart Wielands erstreckt, die teils katastrophalen Folgen der Chris­ tianisierung und der sich daraus entspinnenden Religionskonflikte aufzeigt. Das

99  Ebd., S. 577. 100 Ebd., S. 575. 101 Ebd., S. 662–665.

Wielands Agathodämon als Apologie des Trugs 

 227

institutionalisierte Christentum sei dabei aber ein „notwendiges Übel“,102 das auf lange Sicht jedoch ob seines humanitären Kerns zu einem positiveren Ergebnis führen müsse. Der sich in der gesamten Konzeption aufdrängende Widerspruch zwischen der relativen Unveränderlichkeit der menschlichen Natur und dem intendierten Fortschritt der Humanität, der durch die Religion realisiert werden soll, bleibt gleichwohl bestehen. Er erscheint lediglich gemildert in den einsichts­ vollen Personen, die diesem eingedenk bleiben, und damit den Ausgangspunkt einer Volksaufklärung anzeigen, die sich auch den Mitteln des Truges nicht ent­ schlagen kann. Im Vergleich der Struktur des Apollonius-Kultes mit der Sekte der ‚Christi­ aner‘ wiederholt sich das Verhältnis von Esoterik und Exoterik. Die Sekte des Tyaners erweist sich als konstitutiv esoterischer Geheimbund.103 Hingegen ist das Christentum grundlegend exoterisch ausgerichtet. Wenngleich sich die Christen anfangs nur im Verborgenen organisieren können, ist dennoch das Telos ihres ganzen Bestrebens wie ihrer Lehre eine unterschiedslose Ausbreitung. Dies zeigt sich auch in der Charakterisierung der Aussendung der Apostel, deren Verdienst eben nicht ihre Gelehrsamkeit ist, sondern die „Stärke der eigenen Überzeugung“ sowie die „unbewegliche Festigkeit und Beharrlichkeit bei der einmal gefassten Entschließung“.104 Der Vorteil der Natürlichkeit der Überzeugung und des Glau­ bens, der den ‚Christianern‘ eignet, lässt sich durch die Strategie und Klugheit esoterischen Denkens nicht überholen. Dennoch: Mag sich der nützliche Selbst­ trug auch zum nützlichen Kollektivtrug auswachsen, so ist er seiner Depravation hilflos ausgeliefert. Da liegt dann auch die Pointe: Allererst in einer esoterischen Perspektive kann ein solches Urteil eingeholt werden, ohne dass dabei automa­ tisch der wünschenswerte Schein decouvriert würde. Damit ist die Ausgangsfrage über den Zusammenhang von Gesellschaft und Religion nicht abschließend gelöst, aber es sind ganz im Sinne der perspektivi­ schen Darstellung, verschiedene Blickpunkte eingenommen worden.105 Apollo­ nius betont dann auch gegenüber dem nicht völlig zufriedengestellten Hegesias: „Übrigens gab ich dir von meinen Urteilen und Vermutungen immer die Gründe

102 Ebd., S. 695. 103  Zur Deutung des Agathodämons vor dem Hintergrund der Geheimbundliteratur vgl. Mi­ chael Voges: Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts. Tübingen 1987, S. 447–471. 104  Wieland, Agathodämon (Anm. 86), S. 677. 105  Auch Thomé stellt fest, dass sich aus dem Text keine „konkreten Handlungsanweisungen“ ablesen ließen Thomé, Religion und Aufklärung (Anm. 3), S. 101.

228 

 Marco Bunge-Wiechers

an, und die Sache ist jetzt in deinen Händen.“106 Die Wundererzählungen der Über­ lieferung sind ausgeräumt, der Trug zumindest begründet und das Christentum als effektivere, da breitenwirksamere Religion, akzentuiert. Dieser Umstand macht das religionskritische Potenzial des Textes besonders augenfällig. Denn im Ergebnis erscheint die institutionalisierte Religion als depraviert und ihrer eigentlichen Absichten zuwiderhandelnd. Wieland rehabilitiert hier also mit Apollonius eine Figur, die eindeutig im religionskritischen Diskurs, wie wir es bei Charles Blount gesehen haben, verortet ist. Die Parallelisierung von Apollo­ nius und Jesus wird zwar in Richtung einer positiven Wertung des christlichen Heilands verschoben, verbleibt aber dabei durchaus ambivalent. Auch einige Zweifel bezüglich der Wahrhaftigkeit seiner Person werden nicht ausgeräumt. Die kritischen Nachfragen des Hegesias werden nur ausweichend beantwortet. Was letztlich bleibt, ist die Erklärung und Rechtfertigung der Religion aus einem anthropologischen Bedürfnis, dem das Christentum am besten zu entsprechen in der Lage ist. Dies mag zwar kein Atheismus sein, aber zumindest eine Naturali­ sierung der Religion. Um auf das an den Eingang gestellte Motto dieses Aufsatzes zurückzukom­ men: Vernunftgründe vermögen vielleicht nicht ‚moralische Epidemien‘ zu heilen, aber vielleicht sind ja gerade hierfür die ‚Zauberworte‘ das adäquatere Mittel. Apollonius mag zwar als Idealtypus die „wesentliche Form“ seiner Natur ausgebildet haben, kann aber in volksaufklärerischer Zielrichtung sicher nicht den Maßstab bilden. Es ist die Wieland eigene Ironie, die den Wundermann seine letzte Wohnstatt in einer geräumigen „Grabhöhle“107 finden lässt und den Leser mit der Ahnung zurücklässt, dass es mit dem Bild des moderaten, altersmilden und auch ein wenig ‚zahnlosen‘ Aufklärers nicht ganz so weit her ist.108

106  Wieland, Agathodämon (Anm. 86), S. 701. 107  Ebd. 108  Eine umfangreiche Studie des Verfassers zum geistigen Profil Wielands findet sich in der Vorbereitung und geht der Frage eines spezifischen ‚Denkstils‘ speziell am Beispiel des Alters­ werks nach.

Andrew Mckenzie-McHarg

Johann August Eberhards Neue Apologie des Sokrates Wer sich mit der Aufklärung solidarisierte, sympathisierte aller Wahrscheinlich­ keit nach mit Sokrates. Demnach waren die Anklagen, auf die der antike Phi­ losoph im berühmten Prozess antworten musste und die ihm die Verführung der Jugend sowie die Anbetung neuer Götter zur Last legten, eigentlich von dem Ärgernis motiviert, das seine kompromisslose Wahrheitssuche verursacht hatte. Zugleich konnte einem im humanistischen Erbe versierten Menschen des 18. Jahr­ hunderts kaum das Augenzwinkern entgehen, mit dem bereits antike Autoren die erotischen Vorlieben Sokrates anzudeuten wussten. Laut den Gerüchten hat sich der Philosoph sehr wohl einer Verführung der Jugend schuldig gemacht ‒ und zwar in einem viel wortwörtlicheren Sinne, als unter dem Anklagepunkt in seinem Prozess gemeinhin verstanden worden war. Denn es stimmte, Sokrates musste sich in seiner berühmten Apologie für kein sittliches Vergehen verantwor­ ten. Dennoch war der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass die sokrati­ sche Liebe nicht immer eine rein platonische war. Die Knabenliebe, oder wie man auch sonst eine sexuelle Beziehung zwischen einem älteren und jüngeren Menschen zu nennen pflegte, stellte den aufgeklärten Menschen des 18. Jahrhunderts vor ein Problem. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Aber bei allem gleichbleibenden Problembewusstsein konstatiert man unter heutigen Intellektuellen einen doch eindeutigen Unterschied zu den Gelehr­ ten früherer Jahrhunderte. Kaum ein Intellektueller der Gegenwart sieht seine Aufgabe in der Abfassung von Apologien, die den Ruf einer historischen Gestalt wie den des Sokrates in Schutz nehmen oder wieder aufrichten sollten. 1772 sah das anders aus. Zu dieser Zeit war Johann August Eberhard Prediger am Berliner Arbeitshaus sowie ein Mitglied des Kreises der Berliner Aufklärer um Friedrich Nicolai. Mit der Veröffentlichung der Neuen Apologie des Sokrates im eben genann­ ten Jahre wurde er über diesen Kreis hinaus schlagartig bekannt ‒ und auch unbe­ liebt beim Berliner Konsistorium. Solchen Unannehmlichkeiten entkam er 1778, als er den Ruf als Professor der Philosophie an der Universität Halle erhielt.1 In diesem Jahr erschien auch der zweite Band seiner Neuen Apologie.

1  Zu Eberhards Leben vgl. Friedrich Nicolai: Gedächtnisschrift auf Johann August Eberhard. Berlin/Stettin 1810; Hans-Joachim Kertscher: „Allein was beweiset das Händeklatschen der Menge?“ – Johann August Eberhard und sein hallisches Tätigkeitsfeld. In: Literatur und Kultur in Halle im Zeitalter der Aufklärung. Hg. v. Hans-Joachim Kertscher. Hamburg 2007, S. 519–538;

230 

 Andrew McKenzie-McHarg

Allein der Titel scheint Eberhards Schrift zu einem Platz in der Gattungs­ geschichte der Apologien oder Rettungen zu berechtigen. Aber eigentlich ist in diesem Fall die Gattungszugehörigkeit nicht so selbstverständlich. Konstituie­ rend für eine Apologie sind zunächst das textexterne Moment einer Beschuldi­ gung, auf die sie dann antwortet, und dann zweitens die textinterne Orientierung an dem Modell einer Verteidigungsrede. Hier werden die Anklagepunkte aufge­ zählt und der Reihe nach widerlegt.2 Der vorliegende Kontext, den es besonders zu beachten gilt, ist eindeutig polemischer Natur. Natürlich ist ein Kontext in unterschiedlichem Sinne für jede Schrift – und für jedes Ding – vorhanden. Also hat ein Roman je nach dem spezifischen Inhalt und Sprachstil einen Kontext, der aus den Traditionen besteht, die der Schriftsteller fortführt, und aus den Vor­ bildern, an denen er sich orientiert. Aber gegenüber anderen Gattungen ist die konstituierende Rolle, die der Kontext im Fall der Apologie spielt, besonders aus­ geprägt. Im ersten Teil dieser Untersuchung soll kurz der Diskurs beschrieben werden, auf den Eberhard mit seiner Schrift reagiert. Warum aber hat Eberhards Schrift eine ambivalente Beziehung zu der Gattung, in die man sie sonst ohne Bedenken einordnen würde, vor allem wenn es allein nach dem Titel ginge? Wie gesagt, ist der Diskurskontext, in dem es zu einer Reihe von Anklage gegen Sokrates kommt, in jeden Fall vorhanden. Im Laufe der Lektüre von Eberhards Werk stellt man aber schnell fest, dass die ersten achten Kapitel, die 445 Seiten füllen und damit den bei weitem größten Teil des Buches ausmachen, der Vorgabe einer Verteidigungsrede nicht entsprechen. Vielmehr wird die allgemeine Frage nach der Seligkeit der Heiden im Rahmen einer Reihe von Briefen behandelt, die der Verfasser an einen Freund schreibt. Nach der äußerlichen Form orientieren sich diese Kapitel am Modell des Briefro­ mans, wobei man ebenfalls anmerken muss, dass diese Form wirklich nur sehr „äußerlich“ ist, da sie keinesfalls Handlung o.ä. einrahmt. Stattdessen liefert der eine Freund dem anderen eine Reihe von gelehrten Ausführungen, in denen sich Eberhard, dessen eigene Stimme wir hier eigentlich vermuten dürfen, mit einer Reihe theologischer Doktrinen auseinandersetzt. Deren kollektive Stoßrich­ tung hat Walter Sparn in einer Einleitung zu einer Neuauflage des Werkes auf die folgende prägnante Art und Weise charakterisiert: „Eberhard demontiert das gesamte augustinische Erbe im (westlichen) Christentum.“3

Gerda Haßler: Johann August Eberhard (1739‒1809). Ein streitbarer Geist an den Grenzen der Aufklärung. Halle 2000. 2  Zur Gattung siehe Michael Multhammer: Lessings Rettungen. Geschichte und Genese eines Denkstils. Berlin/Boston 2013, S. 55–68 u. 122–131. 3  Walter Sparn: Einleitung: In: Johann August Eberhard: Neue Apologie des Sokrates, oder Un­



Johann August Eberhards Neue Apologie des Sokrates 

 231

Erst auf Seite 446 lässt Eberhard den Leser dann wissen: „Es gehört mit zu meinem Plane, den Charakter des Sokrates zu retten.“ Es folgt dann die eigentli­ che Apologie, in der die Anklagepunkte durchgemustert und konsekutiv zurück­ gewiesen werden. Aber man kann dabei fragen, ob Eberhard die Gattungstradi­ tion fortschreibt oder viel eher zu deren Ursprung zurückkehrt. Was hat es mit diesem Unterschied zwischen Fortschreibung und Rückkehr zum Ursprung auf sich? Der Ursprung wird von der Apologie markiert, die Sokrates selbst hielt und die dann vor allem von Platon aber auch von Xenophon mit unterschiedlichen Graden der literarischen Überformung festgehalten wurden. Der Unterschied zur Gattungstradition liegt dann in der Rolle, die sich der Apologet im Lauf der Zeit aneignet. Vielmehr als der stumme Anamuensis schaltet sich der Apologet sozu­ sagen als der Anwalt ein, der seinen Mandanten gegen eine böse und ungerechte Verleumdung verteidigt. Eberhards Abweichung von dieser Tradition – und damit seine Rückkehr zu deren Ursprung – ist daran erkennbar, dass es nicht seine Stimme ist, die Sokrates verteidigt. Stattdessen lässt er Sokrates aus dem Jenseits sprechen, damit er auf die neuen Anklagepunkte antworten kann, die die Nachwelt in Umlauf gebracht hat. Eberhard kehrt gewissermaßen mit seiner Apo­ logie zu einer Stufe in der Rechtsgeschichte zurück, wo sich der Mensch selbst vor Gericht vertreten musste. Wenn also der größte Teil von Eberhards Werk den inhaltlichen Kriterien nicht entspricht, die eine Schrift als Apologie normalerweise ausweist, und sich das Werk sogar in dem Teil, wo die Bezeichnung Apologie gerechtfertigt scheint, mehr an dem spezifischen Vorbild von Platons Schrift als an den Konventionen der Gattung zu orientieren scheint, dann kann gefragt werden, inwiefern dieser Tatbestand mit dem anfangs angedeuteten Verschwinden der Gattung zu eben jener Zeit zusammenhängt. Ist die etwas ambivalente Beziehung von Eberhards Schrift zu der Gattung der Apologie symptomatisch für das Ausfransen, das sie im Laufe des 18. Jahrhunderts erlebt? Denn spätestens im 19. Jahrhundert verliert sie ihren Status als eine noch verwendete und wiedererkennbare Vorgabe für einen Teil der fortlaufenden literarischen Produktion.4 Der zweite Teil dieser Untersuchung behält diese Frage im Hinterkopf, während sie sich einer Untersuchung der Strategien widmet, deren sich eine Apologie möglicherweise bedienen kann. Die erste Strategie ist so einfach, dass sie vielleicht den Namen einer solchen gar nicht verdient. Wenn eine Beschuldi­

tersuchung von der Seligkeit der Heiden. Bd. 1 (1772). Bd. 2 (1778). Mit einer Einleitung hg. v. Walter Sparn. Hildesheim 2010, hier Bd. 1, S. VIII. 4  „Von einem ausgeprägten Gattungsbewusstsein kann spätestens seit der zweiten Hälfte des [19.] Jahrhunderts nicht mehr gesprochen werden.“ (Multhammer: Lessings Rettungen [Anm. 2])

232 

 Andrew McKenzie-McHarg

gung im Raum steht, dass eine Person etwas getan habe, dann kann eine Apo­ logie darum bemüht sein, dies rein faktisch zurückzuweisen, indem sie schlicht entgegnet, dass die beschuldigte Person die indizierte Tat nicht begangen hat.5 Eine etwas raffiniertere Strategie kann in einer Aufklärung über das angebliche Vergehen liegen, indem man zeigt, dass dieses Vergehen eigentlich gar nicht so schlimm oder böse ist, wie die Ankläger glauben machen wollen. Gewisser­ maßen liefert man damit statt einer Apologie einer Person eine Apologie der zu Unrecht diffamierten Handlung. Um das zu bewerkstelligen, bieten sich mehrere Optionen an. Zunächst kann man versuchen die falsche Beurteilung des Gegen­ stands zu korrigieren. Als ein Beispiel dafür fährt Lessing in seinen Rettungen des Horaz zweigleisig. Vordergründig will er den römischen Dichter von den konkreten Vorwürfen sinnlicher Ausschweifungen freisprechen, und dazu zieht er die Glaubwürdigkeit der Zeugnisse, die Horaz dies zur Last legen, in Zweifel. Aber dann tritt aus dem Hintergrund der Versuch einer Rettung oder wenigstens einer Verharmlosung der Sinnlichkeit hervor.6 Während die traditionelle christ­ liche Moral die Sinnlichkeit geringschätzte oder sogar verdammte, verschreibt sich Lessing einer Agenda, die als eine „Rehabilitation des Menschen als Sinneswesens“ beschrieben worden ist.7 Eine alternative Sub-Strategie erklärt die Irrelevanz des beanstandeten Gegenstands für die moralischen Kriterien, die dem Urteil zugrunde liegen. Gewissermaßen wendet Eberhard dieselbe Strategie an, um die Heiden von der vermeintlichen Schmach ihrer polytheistischen, aus

5  Friedrich Vollhardt spricht von dem „aus drei Komponenten bestehenden Muster der ‚vin­ dicatio‘: „Den Anlaß gibt eine aktuelle Publikation zum Thema, die sich als korrekturbedrüftig erweist; ein archivalischer Fund ermöglichte die Richtigstellung und erweitert unser Wissen; die gelungene Auslegung der historisch rekonstruierten Zusammenhänge geht über in deren nor­ mative Wertung, kurz die Applikation.“ Friedrich Vollhardt: Lessings Lektüren. Anmerkungen zu den Rettungen, zum Faust-Fragment, zu der Schrift über Leibniz, von den ewigen Strafen und zur Erziehung des Menschengeschlechts. In: Europhion 100 (2006), S. 359–393, hier S. 381. Die Korrektur zielt demnach auf die Ebene des Faktischen ab. Im Folgenden wird aber die Möglich­ keit in Erwägung gezogen, dass andere Strategien Anwendung finden, die nicht so sehr auf eine Berichtigung der Fakten und eher auf eine Verschiebung der Perspektive hinauslaufen. 6  Gottfried Ephraim Lessing: Rettungen des Horaz. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Wilfried Barner u. a. Frankfurt a. M. 1985–2003, Bd. 3, S. 158–197, hier S. 164. Der konkre­ te Vorwurf beinhaltet, dass sich Horaz „den venerischen Ergötzungen“ eines Spiegels bedient habe. Dazu Lessing: „Wo steckt denn die Unmäßigkeit? Ich sehe, die Wahrheit dieses Umstandes vorausgesetzt, nichts darinn, als ein Bestreben, sich die Wollust so reitzend zu machen, als mög­ lich.“ (S. 163) Nachdem Lessing es für plausibel hält, dass Horaz auch der Liebe mit allen Sinnen frönte, ruft er aus: „Himmel! Was für eine empfindliche Seele war die Seele des Horaz! Sie zog die Wollust durch alle Eingänge in sich!“ 7  So der Stellenkommentar zu der gerade zitierten Lessing-Edition (Anm. 6), S. 1002.



Johann August Eberhards Neue Apologie des Sokrates 

 233

Naturmythen zusammengesponnenen Religion freizusprechen. Er will zeigen, dass die christlichen Offenbarungswahrheiten keine Voraussetzung für tugend­ haftes Handeln darstellen.8 Als eine weitere Strategie zur partiellen Rehabilitierung eines verrufenen Gegenstandes kann man das Böse oder Schlimme, das ihm anhaftet, zugeben, aber dann auf dessen engen Konnex mit anderen, positiven Gegenständen verweisen. Beispielsweise passt dies auf Mandevilles Spruch: „Private vices, public virtues.“ Allerdings ging es Mandeville nicht so sehr darum, eine Apologie der Laster zu entwerfen, sondern eher ein Paradox zu formulieren – das Paradox nämlich, dass positive und wünschenswerte Aspekte der „commercial society“ ihren Ursprung im selbstsüchtigen Handeln der Individuen haben. Erst seine Kritiker unterstellten ihm eine Verteidigung der Laster. Zunächst sah Mandeville wenig Sinn darin, auf die Charaktersierung als ein „bare-faced champion for Vice“ zu antworten, denn „where Men are prejudiced, the best Apologies are lost.“9 Es fällt dann auf, dass eine spätere Edition des Texts doch eine „Vindication“ beinhaltet, in der sich Mandeville gegen die Unterstellung verteidigt, dass er menschliche Laster ver­ teidige.10 Die gerade aufgezählten Sub-Strategien dienen auf je eigene Art und Weise dem Ziel einer Neubewertung oder sogar Umwertung des vermeintlichen Verge­ hens. Eine andere denkbare Strategie enthält sich aller Rehabilitationsversuche und strebt stattdessen nach einer historischen Perspektivierung. Die Frage nach dem entweder guten oder bösen Charakter der Tat wird zweitrangig. Stattdessen kommt es auf den historisch spezifischen Kontext der Zeit an, in der sich die Tat ereignete und durch den sie zuerst verständlich wird. Sokrates hat selbst behaup­ tet, dass niemand willentlich Unrecht tut, und die historische Perspektivierung

8  Eberhard ist der Meinung, dass der Polytheismus einige Grundprinzipien unberührt lässt: „Bey allen Irrthümern der Vielgötterey können noch immer die Wahrheiten bestehen, und sie haben wirklich dabey bestanden: 1. Daß man Gott dienen müsse, 2. daß die Tugend, Frömmigkeit und Menschenliebe ihm der angenehmste Dienst sey, 3. das man durch aufrichtige Reue zu dem Wege der Rechtschaffenheit zurückkehren müsse, wann man ihn verlassen hat, 4. daß es Strafen und Belohnungen in dem gegenwärtigen und zukünftigen Leben giebt.“ Eberhard: Apologie 1772 (Anm. 3), S. 252. 9  Bernard Mandeville: The Fable of the Bees: or Private Vices, Publick Benefits [EA 1705/ 1714/1723]. Hg. v. F. B. Kaye, Oxford 1966, S. 10. 10  Mandeville: Fable [1723] (Anm. 9), S. 381–412. Dieser Anhang trägt den Titel A Vindication of the Book, from the Aspersions Contain’d in a Presentment of the Grand Jury of Middlesex And An Abusive Letter to Lord C.

234 

 Andrew McKenzie-McHarg

und Kontextualisierung erweisen sich als ein mächtiges Mittel, die Plausibilität dieses Satzes hervorzukehren. Wenn wir wieder an Eberhards Auseinanderset­ zung mit dem Polytheismus denken, dann geht es nicht nur um das Argument, dass diese Glaubensform das moralische Handeln nicht unbedingt beeinträch­ tigen musste. Darüber hinaus war sie Eberhard zufolge nach dem Maßstab des Monotheismus zwar eine Verirrung, aber eine, die den Menschen mehr oder weniger unvermeidlich unterlaufen musste, wenn man die historische Stufe der Erkenntnis berücksichtigt, auf der die Menschheit in früheren Zeiten stand. Der Polytheismus gehört in der Tat zu den Vorwürfen, auf die Sokrates in der von Eberhards verfassten Apologie antworten muss. Aber weil sich die Vorwürfe in der besonders schwerwiegenden und anfangs angerissenen Unterstellung der Päderastie zuspitzten, möchte ich den Blick in der folgenden Untersuchung darauf lenken. Im Kontrast zu den höchst verschiedenen Vorwürfen, auf die Apologien im Laufe der Gattungsgeschichte reagierten und die meistens Themen angingen, die − wie den Polytheismus − wir höchstens mit historischem Interesse betrach­ ten, verhält es sich im Fall der Päderastie anders. Der Vorwurf behält seine Brisanz – und besitzt sie vielleicht sogar im gesteigerten Maße, da Päderastie in einem immer schärferen Widerspruch zu den Normen geraten ist, die wir mit unseren Vorstellungen sowohl von Kindheit als auch von intimen Beziehungen ver­ binden. In Bezug auf die gerade diskutierten Strategien impliziert dies daher Argu­ mente, die vor dem Hintergrund moderner Sensibilitäten anrüchig sind. Vor allem scheint der Vorschlag in dem Fall bedenklich, wo man die Sache selbst verteidigt. Lässt sich in der Literatur der frühen Neuzeit gar eine „Apologie der Päderastie“ finden? Die Antwort ist: ja, obwohl die Erwartung, dass es sich um eine exponiert amoralische Schrift à la Marquis de Sade handelt, gleich in Abrede gestellt werden muss. Vielmehr wird die „Päderastie“ in einem anderen Sinne verteidigt, und die Spuren dieser Apologie lassen sich bis in Eberhards Werk hinein verfolgen. Aber dazu kommen wir, nachdem wir den konkreten Hintergrund von Eberhards Schrift und damit deren textexternes Moment etwas detaillierter nachgezeichnet haben.

1 Der polemische Kontext der Anklage Warum erwies es sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als notwendig, die Apologie des Sokrates fortzuschreiben? Wenn eine Apologie auf eine kon­ krete Anklage oder Unterstellung antwortet, dann finden wir sie für den Fall von Eberhards Werk in einer Schrift von Petrus Hofstede, ein Prediger in Rotterdam und Professor für Kirchengeschichte an der dortigen Akademie, wo einst Pierre



Johann August Eberhards Neue Apologie des Sokrates 

 235

Bayle eine Professur innehatte.11 Hofstedes Schrift wurde 1769 veröffentlicht und erschien im selben Jahr in deutscher Übersetzung mit dem Titel Des Herrn Marmontels herausgegebener Belisar beurtheilt, und die Laster der berühmten Heiden angezeigt, zum Beweise, wie unbedachtsam man dieselben ihrer Tugenden wegen selig gepriesen.12 Wie der Titel erkennen lässt, war Hofstedes Schrift ihrerseits eine Reaktion auf den Roman, den der französische Enzyklopädist und Freund Voltaires, Jean-François Marmontel, geschrieben hatte und dessen 15. Kapitel durch seine Anerkennung der Tugendhaftigkeit gewisser Heiden die allgemeine Debatte über deren Seligkeit wieder aufflammen ließ.13 Kurioserweise wird Sokrates in der Reihe von Heiden nicht genannt, die Mar­ montels Hauptcharakater ‒ der byzantinische Feldherr Bélisar ‒ als Menschen anführt, deren edle Seelen Gott unmöglich nach Belisars Auffassung der Ver­ dammnis hätte überantworten können.14 Dennoch widmete Hofstede in seiner allgemeinen Abrechnung mit den Heiden ein Kapitel der Entlarvung des Weltwei­ sen Sokrates. Es bezeugt den Ehrenplatz, den Sokrates als Identifikationsfigur im 18. Jahrhundert beanspruchte, dass die Debatte, obwohl sie anfangs von der Benennung anderer tugendhaften Heiden angestoßen wurde, unvermeidlich in das Gravitationsfeld seines Charakters und der Fragen nach dessen moralischer Aufrichtigkeit hineingezogen wurde. In den Niederlanden erhielt diese Debatte sogar den Namen des „sokratischen Kriegs“. Ihre lange Dauer – trotz Interven­ tionen von staatlicher Seite tobte sie bis 1780 – hing damit zusammen, dass sich die Parteien in der niederländischen Gesellschaft schon längst formiert hatten. Genau 150 Jahre vor dem Erscheinen von Hofstedes Schrift war auf der Dordrech­ ter Synode eine Spaltung der reformierten Kirche in ein Lager der calvinistischen Orthodoxen und eines der arminianischen Remonstranten erfolgt. Mit ihrer Ablehnung der strengen Lehre der Prädestination und ihrer eher latitudinari­ schen Glaubenshaltung war eine Prädisposition unter Fürsprechern der arminia­ nischen Partei gegeben, sich der Sache der Heiden anzunehmen. Die Opposition

11  Petrus Hofstede: De Belisarius van den Heer Marmontel beoordeeld, en de kwade zeden der vermaardste heidenen Aangetond, ten bewyze hoe onbedactsaam man dezelve om hunne deugdsaamheid, verhemeld heeft. Rotterdam 1769. 12  Aus dieser Übersetzung wird im Folgenden zitiert. Sie erschien 1769 in Leipzig. 13  Jean-François Marmontel: Bélisaire. Amsterdam 1768. Zur deutschen Rezeption, siehe Jost Eickmeyer: Ein Feldherr unter Metaphysikern. Marmontel, die „affaire Belisaire“ und ihre Wir­ kung auf Debatten der deutschen Aufklärung 1767–1772. In: Jahrbuch für internationale Germa­ nistik 41, (2012), H. 2, S. 9–70. 14  Marmontel: Bélisaire (Anm. 13), S. 130.

236 

 Andrew McKenzie-McHarg

zwischen den beiden Parteien schuf eine Situation, in der die Resonanz, die die Frage nach der Seligkeit der Heiden auslöste, noch lange nachklang.15 Auf die Einzelheiten dieser niederländischen Kontroverse, die sich mit Fragen über den sozialen und rechtlichen Status der Remonstranten verquickte, müssen wir nicht näher eingehen. Stattdessen gilt es festzuhalten, dass es sich in der europäischen, länderübergreifenden Debatte im Wesentlichen um drei Unterscheidungen und ihre gegenseitigen Beziehungen zueinander handelt. Die erste Unterscheidung war die zwischen Heiden und Christen, die zweite zwischen dem moralisch guten und moralisch bösen Handeln, und die dritte die zwischen Erlösung und Verdammnis. Auf die letzte und entscheidende Frage: wer wird erlöst und wer verdammt?, wurde die traditionelle Antwort mit Bezug auf die erste Unterscheidung mit erschreckender Eindeutigkeit formuliert: Alle Heiden werden verdammt. Extra Ecclesiam nulla salus. Wenn man von all den möglichen Nuancen absieht, dann schlossen sich orthodoxe Christen jedweder Konfession dieser Doktrin an, denn sogar nach der orthodoxen Auffassung unter Lutheranern und Reformierten blieb der Kirche eine entscheidende Rolle in der Vermittlung des Heils vorbehalten – eine Position, die der Kirche als Institution offenbar eine erhebliche Macht zusicherte.16 Mit Bezug auf die zweite Unterscheidung musste die Antwort nach einer strengen Auslegung der Prädestinationslehre lauten: zwi­ schen dem moralischen Betragen eines Christen und seiner eventuellen Erlösung bestehe keine Korrelation.17 Also herrschte nur unter getauften Christen Unge­ wissheit darüber, wer und wer nicht zur Seligkeit vorherbestimmt war.

15  Siehe dazu Ernestine van der Wall: Toleration and Enlightenment in the Dutch Republic. In: Toleration in Enlightenment Europe. Hg. v. Ole Peter Grell u. Roy Porter. Cambridge, 2000, S. 114–132, sowie Joris van Eijnatten: Liberty and Concord in the United Provinces. Religious To­ leration and the Public in the eighteenth-century Netherlands. Leiden 2003. Vor allem mit Blick auf die Bélisaire-Affaire und Eberhards Rolle darin, S. 358–360. 16  Um etwas vorzugreifen, kann hier Eberhard zitiert werden, der sich gegen die Doktrin und vor allem gegen ihre Übernahme vonseiten der Reformer wandte: „Es ist lange ein Grundsatz in der römischen Glaubenslehre, daß außer der Kirche keine Seligkeit sey. Dieser Grundsatz selbst ist bey der Glaubensverbesserung unverändert stehen geblieben; nur daß man dem Worte Kirche eine andere Bedeutung beygelegt hat. Anstatt den Glauben an die Aussprüche eines sichtbaren Oberhaupts für die erste Bedingung der Seligkeit festzusetzen, hat man von den Gliedern dersel­ ben die Annehmung aller Glaubensartikel, die sich auf die recht erklärte Schrift gründen, zur Se­ ligkeit erfordert. Hierbey war nichts natürlicher, als daß die außerchristlichen Völker, wie zuvor, von der Seligkeit ausgeschlossen blieben.“ Eberhard: Apologie 1772 (Anm. 3), S. 18–19. 17  Mit seiner Ablehnung der Werkgerechtigkeit wäre Luthers Antwort ebenfalls dergestalt aus­ gefallen. Siehe Björn Spiekermann: Socrates christanus – Socrates atheus. Zur Vorgeschichte von Eberhards Neuer Apologie in der Frühen Neuzeit. In: Ein Antipode Kants? Johann August Eberhard im Spannungsfeld von spätaufklärerischen Philosophie und Theologie. Hg. v. Hans-



Johann August Eberhards Neue Apologie des Sokrates 

 237

Die Härte, mit der diese Doktrin vertreten wurde, exemplifiziert das Schick­ sal der kleinen Kinder, die gestorben waren, ohne zuvor die Taufe empfangen zu haben. Der Kirchenvater Augustinus überantwortete sie ganz konsequent der ewigen Verdammnis.18 Vor diesem Hintergrund war es also nicht verwunderlich, dass man bei den Heiden trotz der exemplarischen Tugendhaftigkeit einiger Indi­ viduen sicher sein konnte, dass die ewige Verdammnis ebenfalls ihr gemeinsa­ mes Schicksal war. Die Frage stellt sich dann nach dem ganzen Aufwand, den Hofstede betrieb. Wenn der Heide von vornherein zur Verdammnis verurteilt war, warum war es dann nötig zu zeigen, dass er einen moralisch schlechten Charak­ ter hatte? Im Grunde genommen ging es Hofstede nicht um die Frage von Erlö­ sung und Verdammnis. Vielmehr nahm er Anstoß an der unter den Aufklärern verbreiteten, aber oft nur impliziten Meinung, dass die Heiden den Christen in ihren Tugenden überlegen gewesen seien.19 Dieser Meinung möchte er mit einer genauen Aufzählung der moralischen Verfehlungen exemplarischer Heiden, und vor allem Sokrates’, entgegenwirken. Am ehrenrührigsten war dabei die ver­ meintliche Verfehlung, die in Sokrates’ Hang zur Päderastie bestand. Diese Aufzählung der Laster und Sünden der Heiden soll, wie gesagt, nicht ihre Verdammnis begründen. Hofstede bemüht sich in der Hinsicht um Klarheit: „Man sage nicht, daß ich […] Millionen Heiden verdamme. Das gehöret nicht zu meiner Absicht“.20 Mit der Aussage gab sich Hofstede auf den ersten Blick als braver Orthodoxer. Und dennoch scheint er auch die Härte einer Verdammnis zu empfinden, die die Heiden ausnahmslos treffen sollte, bloß weil sie Heiden gewesen sind: „Ich wünsche von ganzem Herzen, daß viele Heiden Barmherzig­ keit finden mögen bey dem Herrn an jenem Tage. Auf welche Weise solches aber […] geschehen könne oder werde, ist mir gänzlich unbekannt. Die Geheimnisse sind für den Herrn unsern Gott; so viel weis ich inzwischen, […] daß in keinem

Joachim Kertscher. Berlin 2012, S. 131–160, hier S. 141. 18  Für Eberhards Empörung über diese Bestimmung, siehe Eberhard: Apologie 1772 (Anm. 3), S. 145–147. 19  „Um die Zulänglichkeit der Vernunft darzuthun, pflegte man sich sehr weitläuftig bey den Tugenden der heidnischen Philosophen überhaupt, und einiger unter ihnen insbesondere auf­ zuhalten. Immer sprach man über diese Materie mit Vergrößerung, niemals aber mit so viel Zuversicht, als in unseren Tagen. Man unterdrückt das Christenthum als eine Brut stumpfer, unverständiger, finstrer, fanatischer und unruhiger Köpfe (die alte Verläumdung der Feinde der Kirche!) und macht das Heidenthum zu einer fruchtbaren Baumschule der vortrefflichsten Tu­ genden. Was man den Heiligen der Schrift nimmt, das giebt man den Heiden.“ Hofstede: Laster der berühmten Heiden (Anm.12), S. 154–155. 20  Ebd., S. 281.

238 

 Andrew McKenzie-McHarg

Andern Heil ist, als in Jesus Christus […].“21 Einer Äußerung zur dritten Unter­ scheidung, d. h. zur Frage nach der Seligkeit, kann er sich zwar nicht ganz ent­ halten, und trotz allem Festhalten an der überlieferten Position der Orthodoxie spürt man, wie das Gebäude leicht ins Wanken kommt ‒ Hofstede besteht darauf, dass Heil nur in Christus zu finden ist, obwohl er zugleich die Möglichkeit doch nicht völlig ausschließt, dass den Heiden die Barmherzigkeit Gottes zuteilwerden kann. Das, was sich in Hofstedes Argumentation fast hinterrücks als vage Möglich­ keit einschleicht, obwohl sie doch den traditionellen Bedingungen des Seligwer­ dens widerspricht, will Eberhard durch rationale Argumentation zur Gewissheit erheben: Der Weg zum Heil stehe auch den Heiden offen.22 Und in der Tat wollen die ersten 445 Seiten seines Werkes die Unterscheidung zwischen Christen und allen Heiden einebnen. Bei der Frage: wer wird selig?, spielt diese Unterschei­ dung keine Rolle mehr. Entscheidend ist vielmehr die Unterscheidung zwischen dem moralischen guten oder schlechten Handeln. Im Endeffekt kann so eine Position den Stellenwert der Offenbarung nur reduzieren, denn das Privileg, sie empfangen zu haben, wird nicht länger als das entscheidende Kriterium des see­ lischen Heils verstanden. Auf das Kontinuum von Schwundstufen, die durch die fortlaufende Einwirkung der Aufklärung auf die überlieferten Glaubensbestände entsteht, ist Eberhards Position daher zwischen einer Auflösung des Bezugs­ punkts der Offenbarung und einer noch bestehenden Sorge um die Seligkeit zu verorten.23 Allerdings muss man das wohl in beiden Richtungen qualifizieren. Auf

21  Ebd., S. 282. 22  In seiner Rezension in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek (ADB) hat der Theologe Her­ mann Andreas Pistorius die Beziehung zwischen den Schriften Eberhards und Hofstedes so charakterisiert: „Die neuerlichen Angriffe des Herrn Hofstede, Predigers in Rotterdam, in seiner Beurtheilung des Bélisars vom Marmontel, auf die Tugend und Seeligkeit der vortrefflichsten Männer des heidnischen Alterthums, haben dem Verfasser [Eberhard] zu dieser Schrift die Ver­ anlassung, aber auch blos die Veranlassung gegeben.“ Pistorius: ADB 18/2 (1773), S. 418. In der Tat erstreckt sich das Anliegen Eberhards weit über eine Entgegnung auf Hofstede hinaus. Für einen sehr luziden Überblick über die intellektuellen Traditionslinien, die in Eberhards Schrift konvergieren, siehe Spiekermann: Socrates christanus (Anm. 17). 23  Nachdem Eberhard auf jene kritische Überprüfung des Offenbarungsbegriffs, die beispiels­ weise die historischen Untersuchungen von Johann Salomo Semler nach sich ziehen, aufmerk­ sam gemacht hat, schreibt er: „Selbst die Nothwendigkeit einer Offenbarung hat müssen anders vorgestellet werden, und ist wirklich anders vorgestelltet worden, nachdem man das Wesent­ liche der Religion mehr auf ihren begreiflichen moralischen Einfluß zurückgeführt hat“. Eber­ hard: Apologie 1772 (Anm. 3), S. 315. Ich glaube aber, dass man nach einer ausdrücklichen Verab­ schiedung vom Offenbarungsgedanken bei Eberhard umsonst sucht. Es fällt beispielsweise auf, dass die Offenbarung eine leere Stelle ist in Eberhards Vorbereitung zur natürlichen Theologie



Johann August Eberhards Neue Apologie des Sokrates 

 239

der einen Seite wird die Offenbarung als Quelle der Wahrheit nicht explizit verab­ schiedet. Auf der anderen Seite findet die Erlangung der Seligkeit jetzt ihren Platz im Rahmen einer aufklärerischen Version der Apokatastasis-Lehre.24 Demnach werden die höllischen Strafen der Sünder nicht ewig dauern. Die Vorstellung ewiger Höllenstrafen ist Eberhard zufolge mit der Vernunft unvereinbar. Sogar wenn man biblische Belege dafür liefern kann, ist dies eine Stelle, wo die Einsicht der Vernunft das offenbarte Wort übertrumpft.25 Störend für Eberhard musste es gewesen sein, dass ein Weltweiser wie Leibniz eine deutliche Stellungnahme zugunsten der Doktrin der ewigen Höllenstrafen abgelegt hatte  − Eberhards Versuch, diese Verlegenheit aufzuheben, wird ihn in einen etwas gehässigen Streit mit Lessing verstricken.26 Dabei wusste sich Eberhard im Schulterschluss mit anderen Aufklärern.27 Bereits vor dem Erscheinen von Eberhards Werk

zum Gebrauch akademischen Vorlesungen (Halle 1781) – zwar handelt es sich um die natürliche Theologie, aber es gibt keinen Versuch, deren Beziehung zu einer Offenbarungstheologie zu be­ stimmen. Man bekommt stattdessen eine systematische Abhandlung über den Gott der Philoso­ phen in seiner reinsten Form. 24  Siehe dazu Heinz Dieter Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt a. M. 1995, S. 134–150. Auch Wolfgang Sommer: Der Untergang der Hölle. Zu den Wandlungen des theologischen Höllenbildes in der lutherischen Theologie des 17. und 18. Jahrhundert. In: Politik, Theologie und Frömmigkeit im Lutherthum der Frühen Neuzeit. Hg. v. Wolfgang Sommer. Göt­ tingen 1999, S. 177–205 sowie D. P. Walker: The Decline of Hell. Seventeenth-Century Discussions of Eternal Torment. London 1964. 25  Eberhard: Apologie 1772 (Anm. 3), S. 370: „Man kann es ihnen [d. h. den Schriftgelehrten, der an die Ewigkeit der Höllenstrafen hält] nicht verwehren, daß sie ihren Glauben an eine Glück­ seligkeit auf die Offenbarung gründen; aber sie dürfen auch niemand verdammen, der den sei­ nigen zunächst auf erwiesene Vernunftwahrheiten bauet. Ja sie dürfen ihn nicht verdammen, wenn auch bey ihm diese Wahrheit der Offenbarung ihre erste Gewisheit nimmt, daß sie seine Vernunft als wahr erkennt“. 26  Zu diesem Streit siehe Vollhardt: Lessings Lektüre (Anm. 5), S. 380–387, der Lessings Ein­ satz auch als eine „Rettung“ charakterisiert (S. 380 – 381). Siehe auch Kittsteiner: Gewissen (Anm. 24), S. 145–149, sowie Karl Aner: Theologie der Lessingzeit. Halle 1929, S. 276–285. 27  Es wäre auch genauer danach zu fragen, wie die Beziehung dieser aufklärerischen Anwand­ lung der Lehre der Apokatastasis oder Wiederbringung aller Dinge zum radikalpietistischem Gedankengut en detail aussieht, denn in solchen Kreisen hatte sie sich am Ende des 17. und am Anfang des 18. Jahrhunderts einer hohen Beliebtheit erfreut. Vor allem wurde ein Interesse an dieser Lehre im Kreis um das Ehepaar Petersen kultiviert. Da das Ehepaar in der Nähe von Halberstadt wohnte, und Johann Wilhelm Petersen in seiner Lebensbeschreibung die Stadt aus­ drücklich zu seinen Wirkungsstätten zählt (Lebens-Beschreibung Johannis Wilhelmi Petersen, o. O. 1719, S. 236), könnte man fragen, ob Eberhard, der hier seine erste Lebensphase verbrachte, die Lehrsätze, die er später aufklärerisch-rationalistisch vertrat, wenigstens zum Teil radikalpie­ tistischen Gedankengut entnahm. Dies wäre eine nähere Betrachtung wert, sogar wenn Spieker­ mann richtig anmerkt, dass nach dem Fußnotenapparat der Neuen Apologie jene Vordenker, die

240 

 Andrew McKenzie-McHarg

hatte der schweizerische Aufklärer Isaak Iselin in seiner Rezension zu Hofstede gefragt: „Sollte es […] einem Christen, und sogar einem Theologen nicht erlaubt, ja anständig seyn, zu hoffen, daß einst alle seelig werden?“28

2 Apologetische Strategien jenseits faktischer Widerlegung 2.1 Verharmlosung bzw. Rehabilitation Der größte Teil von Eberhards Werk stellt eine Apologie oder eine „Rettung“ höchstens in dem Sinne dar, dass er die Heiden vor dem Schicksal einer automa­ tischen Überführung in die Verdammnis „rettet“. Aber den Sachverhalt so auszu­ drücken ist höchstens nachgeschobenes Wortspiel. Es kann sein, dass Eberhard eine pauschale Beschuldigung der Heiden aufgrund ihrer vermeintlichen las­ terhaften Lebensführung ablehnt, aber es gibt kaum Anzeichen, dass Eberhard seine Aufgabe für diesen Teil seines Werkes gattungsmäßig als eine Apologie ver­ stand. Und sogar wenn Eberhard für das Recht der Heiden auf eine Anhörung beim letzten Gericht argumentiert, ist dieses Gericht bei ihm von den bildhaften eschatologischen Überhöhungen gereinigt und weitestgehend mit den Bestim­ mungen der Vernunft gleichgesetzt worden. Das Modell der Anklage- und Vertei­ digungsrede lässt sich sowieso auf das jüngste Gericht nur schlecht übertragen. Wie Hofstede schreibt: „Es kommt keinem Geschöpf zu, die Völker zu richten. Der Herr wird es thun, und das recht“.29 Denn ein allwissender und allsehender Gott hat keinen Bedarf, die Argumente von menschlichen „Anwälten“ abzuwägen. Das Gericht, an das die Apologie im Lauf ihrer Ausgestaltung zu einer literarischen Gattung appelliert, ist daher nicht das jüngste Gericht, sondern das diesseitige Gericht, das über Ansehen und Ruhm befindet.30 Es ist daher nur konsequent,

„nichts ins Konzept einer aufgeklärten Vernunftreligion passen“ (Spiekerkann: Socrates christa­ nus (Anm. 17), S. 133) und zu denen man die Radikalpietisten zählen musste, eine geringe Rolle zu spielen scheinen. Leider sind, soweit ich sehe, Zeugnisse zu Eberhards Kindheit und zu den prägenden Einflüssen in seinen Jugendjahren nur spärlich überliefert. 28  Isaak Iselin: Rezension zu Hoftstedes Des Herrn Marmontels herausgegebener Belisar beurthielt, und die Laster der berühmten Heiden angezeigt, zum Beweise, wie unbedachtsam man dieselben ihrer Tugenden wegen selig gepriesen. In: ADB 13/1 (1770), S. 609. 29  Hofstede: Laster der berühmten Heiden (Anm.12), S. 281 f. 30  Insofern handelt es sich um eine eigentümlich profane Gattung insofern, als eher über den Ruf und den Ruhm als über das Heil eines verstorbenen Menschen gestritten wird. Dies ist zu



Johann August Eberhards Neue Apologie des Sokrates 

 241

dass, wenn Eberhard seinen Sokrates sprechen lässt, er seine Verteidigungsrede nicht vor Gott auf seinem Richterstuhl hält, sondern dass er sich aus dem Jenseits einem diesseitigen Publikum zuwendet. Eberhard teilt also mit Hofstede eine ähnliche Zuversicht bezüglich der Unfehl­ barkeit der göttlichen Gerechtigkeit – wenn auch aus ganz anderen Gründen. Für ihn ist die göttliche Gerechtigkeit mit der Vernunft selbst identisch.31 Aber wie gerade angemerkt: Sogar wenn die Orientierung an der Vernunft den Stellenwert der Offenbarung mindert, ringt Eberhard sich nie dazu durch, die letztere aus­ drücklich für überflüssig zu erklären. Diese heikle Implikation wird nur indirekt angedeutet, und zwar anhand einer Strategie, die einem wesentlichen Motiva­ tionsbestand der ganzen aufklärerischen Sokrates-Verehrung zugrunde liegt. Denn diese Verehrung impliziert eine Gegenüberstellung zu Jesus. Wenn diese Gegenüberstellung mit ihrer Aufrechnung der Aspekte moralischer Beispielhaf­ tigkeit für die jeweilige Seite nicht explizit und offen unternommen wird, wissen wir dennoch aus den in seinen Lebensbeschreibung ausgeplauderten Indiskreti­ onen des Aufklärungstheologen Carl Friedrich Bahrdts, dass die Gespräche zwi­ schen ihm und Eberhard um den Vergleich der zweier Figuren kreisten. Bahrdt berichtet: Ich gerieth mehrmal mit diesem großen Philosophen [Eberhard] (wenn ich ihn besuchte) in spekulative Gespräche und unter andern kam einmal die Rede auf den Vater Sokrates, von

berücksichtigen, wenn man fragt, inwiefern sich eine Apologie an das richtet, was später die „öf­ fentliche Meinung“ heißen soll. Gewiss dienen Apologien oft zur Vertretung eines Standpunkts im Rahmen des ephemeren Tagesgeschehens, siehe dazu den Beitrag von Olaf Simons in diesem Band (S. 51–74). Aber dass die Ausgestaltung zu einer literarischen Gattung den erhabeneren Blick auf den Ruf in der Nachwelt hat, deutet Lessing in seinen ‚Rettungen‘ an: „Ungerecht wird die Nachwelt nie sein. Anfangs zwar pflanzt sie Lob und Tadel fort, wie sie es bekömmt; nach und nach aber bringt sie beides auf ihren rechten Punkt. Bei Lebzeiten, und ein halb Jahrhundert nach dem Tode, für einen großen Geist gehalten werden, ist ein schlechter Beweis, dass man es ist, durch alle Jahrhunderte aber hindurch dafür gehalten werden, ist ein unwidersprechlicher.“ Lessing: Rettungen des Horaz (Anm. 6), S. 158 f. Ferner S. 159: „Ich selbst kann mir keine ange­ nehmre Beschäftigung machen, als die Namen berühmter Männer zu mustern, ihr Recht auf die Ewigkeit zu untersuchen, unverdiente Flecken ihnen abzuwischen, die falschen Verkleisterun­ gen ihrer Schwächen aufzulösen, kurz alles das im moralischen Verstande zu tun, was derjenige, dem die Aufsicht über einen Bildersaal anvertrauet ist, physisch verrichtet.“ Dabei ist nicht zu übersehen, dass die Apologie, vor allem wenn sie ihren Fokus von Menschen auf andere Gegen­ stände verschiebt, Verwendung im Dienste religiösen Zwecksetzungen findet, wozu die ganze christliche Apologetik attestiert. 31  Eberhard: Apologie 1772 (Anm. 3), S. 393: „Die göttliche Gerechtigkeit an sich selbst betrach­ tet folgt allezeit dem Urtheile von der wirklichen moralischen Beschaffenheit, welches auch im kleinsten untrüglich ist.“

242 

 Andrew McKenzie-McHarg

welchem Hr. Eberhard mit einem so ausserordentlichen Enthusiasmus sprach, daß mirs eine Art von Ehrgeiz ward, mich gegen die alzugroßen Lobsprüche dieses Mannes aufzu­ lehnen. Bei dieser Gelegenheit behauptete ich, daß denn doch des Sokrates moralische Weisheit mit dem Lehrgebäude des Christentums nicht zu vergleichen sey. Und Hr. Eber­ hard überführte mich, daß Christus keinem wesentlichen Lehrsaz vorgetragen habe, den Sokrates nicht ebenfals gelehrte hätte. 32

Dies bezieht sich auf die Zeit, in der Bahrdt Zuflucht auf preußischem Territorium in Halle gefunden hatte, also nach dem Jahre 1779. Offensichtlich war die starke Identifikation Eberhards mit Sokrates eine anhaltende: Denn bereits in seinem Erstlingswerk, der Neuen Apologie, hat sie ihn dazu veranlasst, sich des Rufes des antiken Philosophen anzunehmen, nachdem er die eigentliche Argumenta­ tion zugunsten eines möglichen Seligwerdens der Heiden abgeschlossen hatte. Eberhard will nicht nur zeigen, dass Sokrates als Heide auch selig werden kann. Darüber hinaus will er auch der Nachwelt beweisen, dass entgegen der alten und vor allem neueren Verleumdungen Sokrates nichts zu diesem Seligwerden im Wege steht. Wie bereits angemerkt, war die Päderastie der schwerwiegendste Vorwurf, vor dem Eberhard seinen Helden verteidigen musste und den Hofstede in seiner Schrift wieder aufgegriffen hatte.33 Wie hat Eberhard seine Verteidigung konstru­ iert? Natürlich basierten Eberhards Argumente nicht auf neuem archivarisch ent­ decktem Faktenwissen, das Sokrates von der Anklage freisprechen konnte. Die Argumente waren etwas raffinierter. An dieser Stelle wollen wir den vorhin fallen gelassenen Faden wieder aufgreifen und die strategische Option in Erwägung ziehen, durch die man den Angeklagten entlastet, indem man argumentiert, dass das durch die Anklage indizierte Vergehen eigentlich kein Vergehen – oder zumindest kein allzu schweres – sei. Der Angeklagte wird gerettet, weil sich der Apologet auf ein abstrakteres Niveau erhebt, um von dort aus die Anklage zu entkräften und das vermeintliche Vergehen vor seiner Infamie zu retten ‒ eine Strategie, die vor einem wirklichen Strafgericht natürlich kaum denkbar wäre, die aber sehr wohl in einer literarischen Apologie Anwendung finden kann. Es wurde oben auf Lessings Rettung der Sinnlichkeit im Rahmen seiner Rettungen des Horaz hingewiesen, und vor dem Hintergrund einer Tradition übertriebener Körperfeindlichkeit mag uns das durchaus plausibel erscheinen. In dem konkre­ ten Fall, mit dem wir es hier zu tun haben, würde das auf die anstößige Implika­ tion hinauslaufen, dass man eine Apologie der Päderastie entwürfe.

32  Carl Friedrich Bahrdt: Geschichte seines Lebens. Berlin 1791, Bd. IV, S. 112. 33  Hofstede: Laster der berühmten Heiden (Anm.12), S. 200–204.



Johann August Eberhards Neue Apologie des Sokrates 

 243

Es muss kaum gesagt werden, dass Eberhard dies nicht tut. Aber die Unter­ stellung, dass es eine Apologie der Päderastie gibt, findet man wohl, und zwar bei Voltaire. Wie viele Unterstellungen, die Voltaire seinen literarischen Feinden gegenüber machte, muss man sie nicht allzu ernst nehmen. Interessant bleibt, dass Voltaire dies in einer Schrift tut, die ihrerseits eine Apologie ist. Unter dem Pseudonym Abbé Bazin hat Voltaire 1765 seine Philosophie de l’histoire geschrie­ ben.34 Der Versuch des Gräzisten Pierre-Henri Larcher, das fehlende Faktenwissen Voltaires bloßzustellen, veranlasste Voltaire dazu, die Rolle des Neffen des Abbés zu übernehmen und 1768 die Replik Défense de mon oncle zu verfassen. Voltaire hat seine Autorschaft sozusagen um zwei Ecken versteckt. Die Lektüre offenbart sehr schnell, dass in Sachen der Strategie Voltaire ein Anhänger der Ansicht war, dass Angriff die beste Verteidigung sei. In seiner wüsten Diffamierung von Lar­ chers Charakter versteigt er sich zu der Behauptung, Larchers Kritik sei ihrerseits eine Apologie, in der Larcher den „péché du Sodome“ verteidigt. Den belasten­ den Hauptbeweis findet Voltaire in Larchers Anführung einer Schrift mit dem bizarren Titel: Socrates Sanctus Paederasta: Sokrates, der heilige Päderast. „Qui le croirait, mon cher lecteur?“35 Wer könnte das glauben, nämlich dass es eine solche Schrift mit einem solchen Titel gibt? Voltaire schwerlich, zumal er die nämliche Schrift höchstwahrscheinlich nie in der Hand gehabt hatte. Aber es gab sie tatsächlich.36 1752 hatte der Altphilologe Johann Matthias Gesner vor der Göt­ tinger Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften einen Vortrag gehalten.37 Aus ihm ging die nämliche Schrift hervor, deren Titel eigentlich die Aufgabe andeuten sollte, der sich Gesner als Neuhumanist zu stellen hatte. Denn der Humanismus umfasst einerseits die von Erasmus proklamierte Heiligsprechung des Sokrates und seine Stilisierung zu einem christusähnlichen Märtyrer für die Wahrheit als auch andererseits den schmunzelnden Hinweis eines Lucians auf Sokrates’ per­ verse sexuelle Veranlagung. Wie ließen sich diese Haltungen miteinander versöh­ nen? Dass Gesner davon weit entfernt war, der Päderastie im eigentlichen Sinne

34  Voltaire: La Philosophie de l’histoire [1765]. In: Les Œuvres Completes de Voltaire / The Com­ plete Works of Voltaire. Hg. v. J. H. Brumfitt. Bd. 59. Oxford 2004. 35  Voltaire: La Défense de mon Oncle [1767]. In: Ebd., Bd. 64, S. 204 (Fußnote). 36  Ebd., S. 293: „Voltaire ne paraît pas avoir lu l’ouvrage de Gesner.“ 37  Johann Matthias Gesner: Socrates Sanctus Paederasta. In: Commentarii Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis Bd. 2 (1753), S. 1–31. Die Abhandlung erschien dann als selbständige Schrift Io. Matthi. Gesneri V.C. Socrates Sanctvs Paederasta. Utrecht 1769 – gewiss stand das Er­ scheinen dieser Auflage in Verbindung mit dem oben erwähnten, in der niederländischen Öf­ fentlichkeit tobenden ‚Sokratischen Krieg‘. Zu Gesner siehe Paul Derk: Die Schande der heiligen Päderastie: Homosexualität und Öffentlichkeit in der deutschen Literatur 1750–1850. Berlin 1990, S. 59–60; sowie Daniel Orrells: Classical Culture and Modern Masculinity. Oxford 2011, S. 62–77.

244 

 Andrew McKenzie-McHarg

die Segnung zu erteilen, wie Voltaire vermutete, ging aus dem Titel der deut­ schen Übersetzung seines Vortrags hervor: „Vertheidigung des Socrates gegen die Beschuldigung, daß er ein Knabenschänder gewesen“.38 Also war Gesner in seiner Exegese der antiken Schriften darum bemüht, Sokrates von dem Makel einer körperlichen Liebe zwischen Menschen gleichen Geschlechts aber unglei­ chen Alters freizusprechen. Gleichzeitig konnte sich Gesner vor der Erkenntnis nicht verschließen, dass die griechische Kultur sehr wohl von sinnlichen Aus­ schweifungen geplagt war – an einer Stelle spricht er von einem Geschwür, das die griechische Zivilisation heimsucht.39 Es lässt sich also nicht behaupten, dass Gesner einer Rehabilitation der Sinnlichkeit das Wort redet, aber entsprechend einer der anfangs diskutierten Strategien ist er bereit, deren Exzesse in einem engen Zusammenhang mit der sonst so bewundernswerten griechischen Kultur zu sehen. Denn einerseits waren sie eine Begleiterscheinung dieser Kultur, die in der Kultivierung intensiver männlicher Freundschaften ein Mittel erkannte, militärische Tapferkeit und zivile Tugenden zu fördern.40 Andererseits demonst­ rierten die Ausschweifungen, dass nicht alle dem von dem Philosophen angeprie­ senem, aber höchst anspruchsvollem Streben nach dem Ideal einer vergeistig­ ten Liebe gewachsen waren. Indem er sich der attischen Jugend annahm, wollte Sokrates ihr dieses Ideal einer keuschen aber intensiven Liebe nahebringen, in der das sinnliche Verlangen sublimiert wurde. Das provokative Oxymoron des Titels spielt nach Gesner mit der ursprünglichen Bedeutung, die die Griechen zu dieser Zeit mit dem aus pais (Knabe) und erastes (Liebhaber) zusammen gesetzte Wort „Päderastie“ verbanden. Wenn man die nötige Sensibilität für den Sprach­ gebrauch mitbrachte, dann konnte man Gesner zufolge erkennen, dass eine unschuldige Verwendung des Wortes durchaus möglich war: „Cum enim fuerit, quod adhuc probatum est, in Graecia παιδεραστέια quaedam honestissima, et sancta adeo, qua ad virtutem, bellicam paesertim, et quidquid pulchrum est, incitari homines crederentur […].“41

38  Der Hinweis auf diesen Titel findet sich in einer Fußnote bei Benno Böhm: Sokrates im 18. Jahrhundert. Leipzig 1929, S. 157. Bis jetzt konnte ich aber kein Exemplar der deutschen Fas­ sung auffinden. 39  Gesner: Socrates (Anm. 37), § 25, S. 18. 40  Edb., § 30, S. 21: „Dann es existiert in Griechenland, wie wir gerade gezeigt haben, eine „Pä­ derastie“, die sehr anständig und heilig war und die sozusagen den Ruf hatte, die Menschen zur Güte und zur Tugend, und vor allem zur kriegerischen Tugend, anzuspornen.“ 41  Ebd., § 33, S. 23. Für die Forderung nach der nötigen Sensibilität: § 5, S. 4. „Platonis libri, unde pleraque Socratica peti hodie necesse est, certe oportebat, multos arcent ob Atticum illud sermonis genus, breve & acutum, floridum preaterea, ac semipoëticum, ipsamque differendi ra­ tionem subtiliorem saepe, quam ut mediocri attentione, non acutissimi homines illam statim



Johann August Eberhards Neue Apologie des Sokrates 

 245

Die Unterscheidung, auf der Gesner besteht, findet man wieder, wenn man den Artikel zur Päderastie aus dem entsprechenden, 1837 erschienen Band der Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste zu Rate zieht – ein Artikel, in dem der Verfasser Moritz Hermann Eduard Meier mit imposanter Akribie eine Fülle von Stellen aus den antiken Schriften zum Thema zusammenstellt. Meier behauptet: „[E]s gab in Griechenland eine reine und sittliche Knabenliebe neben einer unzüchtigen, die eigentlich Knabenschändung war […].“42 Zugleich stellt er fest, dass dasselbe Wort „Päderastie“ zu Bezeichnung der beiden Phänomene diente. In der Unterscheidung der Phänomene kommen aber Wertungen ins Spiel, die einer späteren Zeit entstammen, denn mit diesen Wertungen wird eine moralische Polarität zwischen einer sinnlichen und einer geistigen Formen der Päderastie konstruiert – eine Polarität, die der altgriechischen Denkweise nicht ganz entspricht, wie Meier selbst erkennen muss: [A]uch die edlere Knabenliebe war bei den Griechen nicht etwas rein Geistiges, ein Wohlge­ fallen an geistiger Schönheit […], vielmehr [war] etwas Sinnliches fast immer beigemischt, das Wohlgefallen an der körperlichen Schönheit, über welche und ihre Variationen die Lie­ benden nicht anders geurtheilt haben, als jetzt über weibliche Schönheit geurtheilt wird.43

adsequantur.“ In der Überzeugung, dass ein differenzierter Blick auf den Sprachgebrauch nötig war, stimmte Voltaire interessanterweise mit Gesner überein, obwohl er Gesners Dissertation nur vom Titel gekannt zu haben scheint: „Il est certain, autant que le science de l’antiquité peut l’être, que l’amour socratique n‘était point un amour infâme“. Voltaire: [Art.] „Amour Nommé Socratique“. In: Dictionnaire Philosophique [1764]. In: Les Œuvres Completes de Voltaire / The Complete Works of Voltaire. Oxford 1994, Bd. 35, S. 330. Die Verwirrung kommt Voltaire zufolge aus der Polyvalenz der Wörter: „C’est ce nom d’amour qui a trompé“. Bei allem Bedenken ge­ genüber der Ahistorizität, die durch die Inszenierung eines Gesprächs zwischen Geistesgroßen aus verschiedenen Epochen entsteht, ist man an dieser Stelle versucht, auf Freud zu verweisen. Denn Freud war gerade der Meinung, „daß die Sprache mit dem Wort ‚Liebe‘ in seinen vielfäl­ tigen Anwendungen eine durchaus berechtigte Zusammenfassung geschaffen hat und daß wir nichts Besseres tun können, als dieselbe auch unseren wissenschaftlichen Erörterungen und Darstellungen zugrunde zu legen.“ Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse [1921]. In: Sigmund Freud: Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey. Frankfurt a. M. 1974, Bd. IX, S. 85–84. Die Gleichheit der affektiven Bindungen, die daher rührt, dass sie alle dergleichen libidinösen Quelle entspringen, obwohl sie auch auf Men­ schen beiderlei Geschlechts und diverser Verwandtschaftsgraden gerichtet sein kann, gehört zu den grundlegenden Kenntnissen der Psychoanalyse. Daher überrascht es kaum, dass Freud mit einig Sätze später auf Platon kommt, mit dessen Philosophie des „Eros“ diese Einsicht Freud zufolge in Übereinstimmung stünde. 42  Moritz Hermann Eduard Meier: [Art.] „Päderastie“. In: Allgemeinen Encyclopädie der Wis­ senschaften und Künste. Dritte Section O-Z. Neunter Theil. Leipzig 1837, S. 153. 43  Ebd., S. 155.

246 

 Andrew McKenzie-McHarg

Die Unterdrückung des Sinnlichen geht mit einer Steigerung ins Geistige einher, stiftet aber keinen Wesensunterschied zwischen der sinnlichen und der rein geis­ tigen Form der Knabenliebe und impliziert keine moralische Abqualifizierung der erstgenannten Variante. Schließlich war Meier klar, dass die Griechen die Kna­ benliebe keinesfalls als eine besonders intensive Freundschaft sahen. Zwischen Knabenliebe und Freundschaft bestand sehr wohl einen Wesensunterschied.44 Zeitlich steht Eberhard zwischen Gesner und Meier. Wie ist seine Apologie zu charakterisieren? Kurz gefasst, übernimmt er die Apologie Gesners in einer halbierten Form, und dadurch gelingt ihm eine volle Rehabilitation des Wortes.45 Sein Sokrates beteuert: „In der Sprache und nach den Sitten meines Vaterlan­ des hatte der Namen eines Liebhabers im geringsten nicht einen Sinn, der ein keusches Ohr hätte empören können.“46 Auf eine gewisse Art und Weise wendet Eberhard hier eine Strategie der Rehabilitation an. Aber die Rehabilitation gilt dem Wort und nicht dem, was man inzwischen unter dem Wort versteht. Ein­ gedenk dieser semantischen Verschiebung kann Eberhard seinen Sokrates dann verkünden lassen: „[S]o mußte ich mich vorzüglich zum Liebhaber der athenien­ sischen Jugend aufwerfen.“47 Der entscheidende Unterschied zu den Verteidigun­ gen, die andere wie Gesner zugunsten Sokrates entworfen haben, besteht darin, dass Eberhard nur eine anständige Päderastie gelten lassen will. Die Möglichkeit, dass das Wort auch eine „unzüchtige“ Knabenliebe bezeichnen und dass diese Art von Beziehung ein geläufiger Aspekt der griechischen Gesellschaft gewesen sein konnte, wird aus Eberhards Verteidigung ausgeklammert. Für die Unschuld der Griechen im Allgemeinen appelliert Eberhard an die attische Gesetzgebung, die ihm zufolge eindeutig die sinnliche Knabenliebe unter Strafe stellte. Diese Gesetze suchten durch […] Verbrüderungen der feurigsten Freundschaft einen jeden Bürger mit stär­ kern Banden an sein Vaterland zu binden, indem sie durch das rührende Interesse eines geliebten Freundes ihm dasselbe theurer machten, als durch allen geringen Eigennutz.48

44  Meier: Päderastie (Anm. 42), S. 152. 45  Eberhard verweist auf Gesners Verteidigung des Sokrates auf S. 501 und S. 505 im Kommen­ tar, den Eberhard seiner Neuen Apologie anhängt. Ein Vergleich der relevanten Passagen (S. 479– 492) mit Gesners Abhandlung lässt erkennen, dass sich Eberhards Argumentation in weiten Stre­ cken an der von Gesner orientiert. 46  Eberhard: Apologie 1772 (Anm. 3), S. 487. 47  Ebd., S. 490. 48  Ebd., S. 487.



Johann August Eberhards Neue Apologie des Sokrates 

 247

Man kann die Richtigkeit dieses Bilds der griechischen Gesetzgebung in Zweifel ziehen, aber auf jeden Fall will Eberhard nicht zugeben, was Meier später nicht verschweigen will, – dass nämlich die Art von Beziehung, die für Sokrates zum Gegenstand des philosophischen Nachdenkens wird, etwas anderes ist als die Freundschaft. Der Grund, warum Eberhard das nicht zugeben will und warum er Gesners Argumentation modifizieren muss, ist klar, wenn man sich vergegen­ wärtigt, wie die eigentliche Apologie als ein Anhang auf eine philosophische Abhandlung folgt, in der sich Eberhard für die Teilhabe aller Heiden an der Selig­ keit einsetzt. Vor diesem Hintergrund konnte Eberhard Sokrates durch das Argu­ ment kaum „retten“, dass er sich als eine ehrenhafte Ausnahme in einer zu Päd­ erastie neigenden sozialen Umwelt von dieser abhebe. Vielmehr musste er jede Unterstellung einer ausgeprägten Prädisposition unter Heiden zu einem solchen besonders schändlichen Laster zurückweisen. Mit seiner gleichzeitigen Verteidigung des Menschen Sokrates und der Heiden im Allgemeinen verspielt Eberhard die Möglichkeit, das Eigentümliche und das Innovative an der Erscheinung Sokrates hervorzuheben. Das Individuelle wird eingeebnet.49 Aber gerade die Spannung zwischen dem Individuellen und dem Kulturell-Allgemeinen lieferte den Stoff, von der die anhaltende Diskussion über seine Person zehrt. Es lässt sich kaum leugnen, dass Sokrates Anteil an jenen homoerotischen Gefühlsbewegungen nahm, die die Kultur der antiken Griechen durchströmten und die auf einen unter dem Einfluss der christlichen Sitten erzo­ genen Menschen so befremdend wirkten. Andererseits erblickte Sokrates in der Sublimierung dieser Gefühle einen Teil seiner philosophischen Sendung. Mit dieser Enthaltsamkeit konnte sich der Christ wiederum identifizieren – aber sie blieb ambivalent, denn die Enthaltsamkeit galt nicht der allgemeinen Sinnes­ freude, sondern ihrer homoerotischen Spielart und daher einer Art von Sinnlich­ keit, die nach dem christlichen Sittenkodex nur als Perversion zu sehen war. Ihre asketischen Aspekte reichten jedenfalls für einen späteren Kulturkritiker aus, in der sokratischen Haltung ein Präludium für diese Verneinung des Lebens zu sehen, die dann im Christentum ihre konsequente Fortsetzung fand. Anstatt der Gegenüberstellung von Sokrates und Jesus, die von der aufklärerischen Faszi­ nation an dem ersteren impliziert wurde, rückte Nietzsche daher beide Figuren in eine Ahnenreihe des abendländischen Nihilismus.50 Erst in Dioynsos lag der

49  Wie wir unten sehen werden, gilt das nicht für die Verteidigung Sokrates’ gegen den Vorwurf des Polytheismus, wie sie von Eberhard formuliert wird. 50  Siehe für eine einschlägige Neubewertung vor allem das Kapitel „Das Problem Sokrates“ in Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung. In: Ders: Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. v. Gior­ gio Colli u. Mazzino Montinari. München 1967–1977, Bd. VI, S. 55–162, insb. S. 67–73.

248 

 Andrew McKenzie-McHarg

Gegenentwurf, der im Kontrast zu der sokratisch-christlichen Tradition „eine Apologie und Vergöttlichung des Lebens“ lieferte.51

2.2 Historisierung Eberhard hat also die Päderastie nur dem Wort und nicht der Sache nach „geret­ tet“. Insofern kann man nur in einem höchst qualifizierten Sinne davon spre­ chen, dass die erste der genannten Strategien zur Anwendung kam. Des Weiteren ist klar, dass, wenn Eberhard Päderastie sowohl als einen Aspekt des Lebens von Sokrates als auch eine kulturelle Praxis in seiner sozialen Umgebung leugnet, die Strategie der historischen Kontextualisierung kaum Anwendung finden kann. Es scheint nicht unfair zu behaupten, dass Eberhards Haltung zu dem Vorwurf der Päderastie von einer ahistorischen Prüderie gekennzeichnet ist. Aber weil sich Eberhards Denken in einem intellektuellen Umfeld entfaltete, in dem histo­ risches Denken ein eigenes Profil zu gewinnen begann, und weil dieses Denken tatsächlich Spuren in Eberhards Werk hinterlässt, wäre es voreilig, die Diskus­ sion über diese mögliche Strategie der Apologie sogleich abzubrechen.52 Die Strategie der historischen Kontextualisierung wirbt um Verständnis aufgrund der Annahme, dass die Normen und Kriterien, an denen sich der han­ delnde Mensch orientiert und an die der beurteilende Mensch appelliert, einer historischen Variabilität unterworfen sind. Gesner machte auf die historische Variabilität der Sprache aufmerksam, und an diese These konnte Eberhard anschließen. Damit wird aber die Frage aufgeworfen, ob diese Variabilität auf die Sprache beschränkt bleibt. Könnte es sein, dass sich die moralischen Bewertun­ gen auch verschoben hatten, so dass das, was inzwischen als verpönt gilt, einst eine breite Akzeptanz genoss? Im Vergleich zu der Darstellung Eberhards ließ sich dieser Verdacht leichter aus der Argumentation von Gesner herleiten, denn, wie bereits oben angemerkte, deutete Gesner an einigen Stellen in seiner Dissertation eine allgemeine Verbrei­

51  Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Anfang 1888 bis Anfang Januar 1889. In: Ebd., Bd. VIII, S. 58. 52  Stellvertretend für die Literatur zum großen Thema des historischen Denkens im 18. Jahr­ hundert, verweise ich auf die alte Arbeit von Dilthey: Das achtzehnte Jahrhundert und die ge­ schichtliche Welt. In: Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Bd. 3. Leipzig 1992 S. 209–268; sowie die neueren Arbeiten von Wolfgang Hardtwig: Geschichtskultur und Wissenschaft. Mün­ chen 1990; und Georg G. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft: eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart (vom Autor durchges. und erw. Ausgabe). Wien 1997.



Johann August Eberhards Neue Apologie des Sokrates 

 249

tung der Päderastie unter den Griechen an.53 Und bei einem orthodoxen Christen wie Hofstede, der wenig Sympathie für die Heiden übrig hatte, findet man natür­ lich die Behauptung wieder, dass die Päderastie eine gängige Erscheinung der antiken Kultur gewesen sei. Aufgrund dieser Annahme einer in der heidnischen Kultur selbst steckenden Veranlagung zur Päderastie kann Hofstede den apologe­ tischen Hinweis entkräften, dass Sokrates sogar von einem Komödiendichter wie Aristophanes keines unstatthaften Umgangs mit Jugendlichen bezichtigt wurde: Es ist wahr: Aristophanes, der dem Sokrates so viel zur Last geleget hat, wirft ihm diesen Gräuel nicht vor; aber das hatte seine Ursachen. Des Dichters Absicht war, […] den Weg zur Verurtheilung dieses Weltweisen zu bahnen; zur Erreichung dieser Absicht wäre es thö­ richt gewesen, ihn wegen einer Bosheit anzuklagen, die beynahe allgemein war, und wo ja vordem, doch jetzt nicht mehr in Athen bestrafet und für ein Verbrechen gehalten wurde.54

Wenn also die Feinde des Sokrates’ die Anklage der Päderastie nicht erhoben hatten, dann hing das nur damit zusammen, dass sie auch Päderasten waren.55

53  Wenn wir zu Meiers Lexikoneintrag kommen, dann hat sich diese Andeutung zu fester Er­ kenntnis verhärtet. Von Aberrationen konnte keine Rede mehr sein. Also schreibt Meier: „wäre nun hier von einer vereinzelten Handlung die Rede, so könnte man sich mit der Erklärung abfin­ den lassen, daß sie das Erzeugniß einer singulairen Abnormität und Unnatur sei; aber wenn wir bei einer ganzen Nation dieselbe Gesinnung, dieselbe Handlung wiederfinden, und sie bei der Ausübung solcher Handlungen, bei der Darlegung solcher Gesinnung nicht etwa das Tageslicht und die Nähe der Menschen meidet, sondern dies alles öffentlich und frank und frei thut, das Geschehene Niemand sich zur Schande, die Meisten zur Ehre anrechnen, und selbst der höchs­ te Grad leidenschaftlicher Zuneigung und daraus hervorgehendes Unheil als ein unfreiwilliges Unglück, als ein συμφορά entschuldigt wird, so müssen wir schon etwas weiter gehen, wenn wir die Sache begreifen wollen.“ Meier: [Art.] „Päderastie“, S. 156. 54  Hofstede: Laster der berühmten Heiden (Anm. 12), S. 201. Das Argument wurde keineswegs von Hofstede als erstem formuliert, denn man findet es schon bei Moses Mendelssohn in der Vor­ rede zurückgewiesen, die er dem Dialog Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele voraus­ schickt und die den Titel Leben und Charakter des Sokrates trägt: „Gesetzt auch, die damaligen Verderbniß der Sitten wäre so weit gegangen, daß man dieses widernatürliche Laster beynahe für natürlich gehalten, so hätten seine Feinde dennoch diesen Umstand nicht ganz verschwie­ gen, wenn es nicht offenbar unmöglich gewesen wäre, das Muster der Keuschheit und Enthalt­ samkeit [d. h. Sokrates]einer so viehischen Geilheit zu beschuldigen.“ Moses Mendelssohn: Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele [1767]. Hg. v. Dominque Borel. Hamburg 1979, S. 24. Eine ähnlich allgemeine Verbreitung der Knabenliebe im antiken Rom behauptet Voltaire: „L’amour des garçons était si commun à Rome, qu’on ne s’avisait pas de punie cette fadaise dans laquelle tout le monde donnait tête baissée.“ Voltaire: [Art.] „Amour nommé socratique“. In: Dictionnaire philosophique (Anm. 41), s. v. Allerdings bleibt Voltaire zuversichtlich, dass, wäh­ rend kulturelle Dekadenz solche Zustände hervorrufen mag, es für die Menschen unmöglich ist, widernatürlichen Praktiken den Status allgemeingültiger Gesetze zu verleihen. 55  Dass diese Deutung der historischen Wahrheit näher stand, muss man auf der Basis unse­

250 

 Andrew McKenzie-McHarg

Offenbar ging es Hofstede nicht um eine Apologie des Sokrates, sondern um eine allgemeine Verdammung der Heiden, unter denen dieser Erklärung zufolge die Päderastie eine gängige Beziehungsform gewesen sei. Wenigstens von der Logik her ist die Umkehrung dieses Arguments im apologetischen Sinne leicht denkbar. Sogar wenn die Konfrontation mit kultureller Andersartigkeit noch Befremden auslöst, sind wir es inzwischen gewohnt, uns dabei moralischer Urteile zu enthalten. Der gebotene Respekt vor der Andersartigkeit verlangt Tole­ ranz demgegenüber, was mit den eigenen Normen nicht übereinstimmt. Anderer­ seits stellt eine Praxis wie Päderastie diese Toleranz auf die Probe. Dies gilt sogar, wenn die kulturelle Andersartigkeit in der Vergangenheit liegt und erst durch eine historische Perspektivierung enthüllt wird. Eberhard ist offensichtlich auch in dem konkreten Anklagepunkt der Päd­ erastie von einem Argument weit entfernt, das eine unter den Heiden verbrei­ tete Praxis der Päderastie als historisch wahr zugibt und sie durch den Appell an einen moralischen Relativismus entschuldigen will.56 Wenn es um das historische Denken im Allgemeinen geht, ist die Stelle in der Vorrede zum zweiten Band der Neuen Apologie einleuchtend, wo Eberhard die Möglichkeit einräumt, „daß ich mich im ersten Theile zu sehr auf Vernunftschlüsse eingeschränkt“ habe.57 Im zweiten Teil will er darauf Rücksicht nehmen, indem er „die allgemeinen his­ torischen Grundsätze“ mehr zur Geltung kommen lässt.58 Den eher rationellen Charakter der Argumentation im ersten Band wird man im Gedächtnis behalten müssen, wenn man den Einfluss richtig einschätzen will, den der ebenfalls von Halle aus wirkende Theologe Johann Salomo Semler auf Eberhard ausübt – einen Einfluss, auf den u. a. Emmanuel Hirsch in seiner Geschichte der neuern evangelischen Theologie aufmerksam macht. Hirsch verweist beispielsweise auf Eber­ hards Hervorhebung einer irreführenden Ungenauigkeit in der Übersetzung von Röm 5,12, welche dann für Augustinus in der Begründung seiner Lehre der Erb­

rer fortgeschrittenen Kenntnisse über die athenischen Gesellschaft im 5. Jahrhundert vor Chris­ tus ebenfalls zugeben. 56  An einer Stelle in der Apologie, die Eberhard für Sokrates formuliert, heißt es allerdings: „Ueberhaupt kann es gefährliche Folgen haben, die moralischen Grundsätze eines entfernten Volkes nach etwas anders, als nach seinen Gesetzen und öffentlichen Denkmahlen beurtheilen zu wollen.“ (S. 486) Eberhard macht diese Aussage zur Verteidigung Sokrates, weil er der Über­ zeugung war, dass die attischen Gesetze ein eindeutiges Verbot gegen die Art von Beziehung verhängten, die Sokrates zur Last gelegt wurde. Diese Annahme wurde von späteren Gelehrten in Frage gestellt. 57  Eberhard: Apologie 1778 (Anm. 3), S. IX. 58  Ebd., S. X.



Johann August Eberhards Neue Apologie des Sokrates 

 251

sünde eine entscheidende Rolle spielen sollte.59 Obwohl das philologische Detail­ wissen in der Tat für Semler kennzeichnend war, war es selbst erst die Basis, auf der eine historisch sensible Spielart der Hermeneutik kultiviert wurde. Insbeson­ dere wies Semlers Akkommodationslehre eine Sensibilität gegenüber der Kon­ textabhängigkeit aller Aussagen auf. Diese Lehre schärfte das Bewusstsein für den Unterschied zwischen der überlieferten Schrift und dem geoffenbarten Wort: „Heilige Schrift und Wort Gottes ist gar sehr zu unterscheiden“.60 Beim Lesen der Schrift musste man den spezifischen historischen Umständen Rechnung tragen, in denen sich die Offenbarung erst manifestiert, denn ihr Inhalt war den kultu­ rellen Eigenarten des spezifischen Platzes ihrer Manifestation in der Geschichte angepasst.61 Wenn gerade die Justierung einer überzeitlichen Offenbarung gegenüber dem zeitlichen Kontext den Kern der Akkommodationslehre Semlers ausmacht: Was kann das für Eberhard bedeuten, dessen Vernunftreligion die Offenbarung ins gedankliche Abseits drängt? Interessanterweise findet man bei Eberhard an mehreren Stellen eine Art innerweltlicher Akkommodationslehre, die ohne Tran­ szendenz auskommt und stattdessen mit dem Gefälle zwischen der Einsicht über­ ragender geistiger Gestalten und dem dumpfen Durchschnittsverstand operiert. Auf die Art und Weise erklärt sich Eberhard die für ihn sonst störende Partei­ nahme Leibniz’ für die Doktrin von der Ewigkeit der Höllenstrafen: Da [Leibniz] so viel daran gelegen war, seine Philosophie allgemein zu machen: so suchte er sie den herrschenden Lehrsätze aller Partheyen anzupassen […]. Er nahm ihre Lehrsätze als Voraussetzungen an, und legte ihnen einen erträglichen Sinn bey […].62

Und in der Apologie, mit der der erste Band seinen Abschluss findet, gesteht Sok­ rates, dass er eine ähnliche Strategie verfolgt hatte. Angesichts der klar erkennba­

59  Emmanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie. Hg. v. Hans Martin Müller. Waltrop 2000, Bd. 4, S. 47–48. 60  Johann Salomo Semler: Abhandlung von freier Untersuchung des Canon [1771]. Hg. v. Heinz Scheible. Gütersloh 1967, §  15, S. 60. 61  Für einige Hinweise zu Semlers Akkommodationslehre, siehe Klaus Weimar: Historische Einleitung zur literaturwissenschaftlichen Hermeneutik. Tübingen 1975, S. 61–66, sowie Gott­ fried Hornig: Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Johann Salomo Semlers Schrift­ verständnis und seine Stellung zu Luther. Göttingen 1961, S. 211–236. Hornig weist darauf hin, dass wenigstens von der Motivationslage her die Akkommodationstheorie in der Tradition der christlichen Apologetik steht, denn sie ist „von dem apologetischen Interesse geleitet, die Einma­ ligkeit und die Historizität der Offenbarung Gottes in Jesus Christus gegenüber zeitgenössischen Angriffen zu verteidigen“ (S. 233). 62  Eberhard: Apologie 1772 (Anm. 3), S. 395 f.

252 

 Andrew McKenzie-McHarg

ren Vorurteile des Volks zeigte er sich als kein hitzköpfiger Gesinnungs-, sondern als ein methodischer Verantwortungsethiker: Er formulierte einen genauen Plan, nach dem diese Vernunftwahrheiten durchgesetzt und die Vorurteile schrittweise abgebaut werden sollten. Allerdings verschätzte sich Sokrates. Der Plan „war behutsam, und doch war er, wie ihr seht, noch zu kühn, doch habe ich ihn mit meinem Leben büßen müssen.“63 Die Rücksicht auf die Umstände bei der Verkün­ dung der Vernunftwahrheiten zeigt sich als im gleichen Maße erforderlich wie im Falle der Offenbarung. Genauso wie Leibniz musste Sokrates verfahren64 – und man fragt sich, ob Eberhards gelegentliche Lippenbekenntnisse zur Offenbarung in einer Lehre, die eigentlich auf sie verzichtet, ebenfalls als eine Art Anpassung an die Zeitumstände zu sehen sind. Obwohl es nahe liegt, Eberhards Strategie auf Semler zurückzuführen, war die Akkommodationslehre zu diesem Zeitpunkt weit verbreitet. Die Einsicht, die ihr zugrunde liegt, lässt sich sogar bei Eberhards Kontrahenten Hofstede finden, der über die Indienstnahme der Fabel zur Vermittlung moralischer Lehren Fol­ gendes schreibt: So gehet es aber nicht selten mit [den Menschen], als mit den Kindern: man kann ihnen ohne Betrug keine Arztneyen beybringen, und die bündigste Vorstellung des beredtesten Arztes […] ist nicht vermögend, ihnen den Mund zu öffnen, wo nicht einige mal etwas süßes darunter mischt.65

Das Wort Betrug, das hier gefallen ist, lenkt die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt der Akkommodationslehre, der, so wie es scheint, deren Anhängern kaum bewusst war. Denn die Spiegelseite dieser Lehre zeigt sich in der Annahme des Priesterbetrugs. Wenn Eberhard also erklären will, wie die Theologie auf die Abwege gekommen war, die sich in zentralen Dogmen wie dem der prinzipiel­ len Verdammnis aller Heiden und Ungetauften oder dem der Ewigkeit der Höl­ lenstrafen manifestierten, dann erscheint als immer wiederkehrendes Motiv der korrumpierende Einfluss der Priester. Obwohl die Abwege allgemein mensch­ lichen Irrtümern entspringen, sind die Priester deren Nutznießer. Zwecks der Sicherung und Festigung ihrer eigenen Macht wissen sie, diese Irrtümer zu kulti­ vieren. Also haben die heidnischen Priester polytheistische Tendenzen, die den

63  Ebd., S. 471. 64  Eberhard lässt Sokrates sagen: „Mein Ankläger ist sehr ungerecht, mir aus einem Betragen ein Verbrechen zu machen, daß gewiß nicht wenige unter den Lehrer seiner Religion, und gera­ de die besten und weisesten unter denselben zu beobachten pflegen.“ Eberhard: Apologie 1772 (Anm. 3), S. 471. Es ist zu vermuten, dass Eberhard Leibniz zu diesen „besten und weisesten“ rechnet. 65  Hofstede: Laster der berühmten Heiden (Anm.12), S. 2 f.



Johann August Eberhards Neue Apologie des Sokrates 

 253

ursprünglichen Blick auf den einen Gott trübten, kräftig gefördert.66 Ebenfalls geht die Doktrin, die den Heiden alle Aussicht auf jenseitiges Heil abspricht, auf ihr Konto.67 Ähnlich verhielt es sich mit der Ewigkeit der Höllenstrafen, die der „Herschsucht der Priester vortrefflich zu statten kam.“68 Ohne jemals in die histo­ rischen Details abzusteigen, verweist Eberhard immer wieder auf Priester, die die Schwäche der Vernunft und die Anfälligkeit der gemeinen Menschen für Aber­ glauben ausnutzen. Man könnte also die These einer Komplementarität formulie­ ren, die zwischen der Akkommodationslehre und dem Lehre des Priesterbetrugs besteht. Deren Plausibilität zeigt sich erst aus der Perspektive des Menschen, dessen begrenzte Verstandskräfte und Vorurteile berücksichtigt oder gar ausge­ nutzt werden. Woher soll dieser Mensch wissen, ob sein Schicksal in den Händen guter Aufklärer liegt − und nicht in den Händen böser Priester? Oder wenn man die Bildsprache Hofstedes mit einem etwas moderneren Bild kombiniert: Woher soll das Kind wissen, dass der, der ihm etwas Süßes anbietet, wirklich ein wohl­ meinender Arzt ist?

3 Das historische Denken und die apologetische Form Die gegenteilige Alternative, die das gerade angesprochene Szenario uns bietet, nämlich dass der, der etwas Süßes bietet, es mit dem Kind gar nicht gut meint, beschwört ein Schreckensbild herauf, dass man in der Kultur der Gegenwart mit dem Päderasten assoziiert. Wir nutzen daher die Gelegenheit, abschließend zu diesem Thema zurückzukehren. Offensichtlich kann eine Strategie der histori­

66  Mit Blick auf die abergläubischen Glaubenspraktiken in den heidnischen polytheistischen Religion schreibt Eberhard: „Solche widersinnige Gebräuche, konnten auch nur durch die Be­ trügerey ihrer Priester sich in die Religion mischen. Denn da sie in der Vernunft keine Stütze fanden: so mußten sie durch göttlichen Ausspruch Ansehen gewinnen. Dieser war aber allein in den Händen der Priester, die sich Tag und Nach in den Tempeln befanden. Die hatten allein ihren Vortheil, die Anzahl der Götter zu vermehren, und die Verehrung keines bereits eingeführten Gottes untergehen zu lassen.“ (Eberhard: Apologie 1772 [Anm. 3], S. 246) 67  Ebd., S. 32: „Diese Lehre, welche eine gänzliche Untrüglichkeit der Kirche voraussetzt, wurde mit der Zeit die herrschende, und auf ihrer Voraussetzung beruhen alle Bemühungen der Priesterschaft durch Kirchenversammlungen den Glauben zu bestimmen, und durch peinliche Gerichte diejenigen, welche im geringsten von dem herschenden Lehrbegriffe abgiengen, unter der Zucht zu halten.“ 68  Ebd., S. 374.

254 

 Andrew McKenzie-McHarg

schen Kontextualisierung nur greifen, wenn zunächst eingestanden wird, dass die als Vergehen indizierte Tat tatsächlich begangen wird. Im Anklagepunkt der Päderastie kommt Eberhard gar nicht dazu, den Ernst des Vergehens zu relati­ vieren, da er es weder als ein individuelles Vergehen des Sokrates noch als eine gängige und ansatzweise institutionalisierte Praxis der heidnischen Griechen gelten lässt. Wenn man nach Spuren historischen Denkens sucht, dann wird man, wie wir gesehen haben, in Eberhards Neuer Apologie an anderen Stellen fündig. In seiner Vorstellung von einem Weltweisen wie Sokrates, der dem Gebot der Klugheit folgt, indem er die Einführung einer gereinigten Lehre der Gottheit mit den existierenden Gebräuchen und Traditionen des Volkes abzustimmen ver­ suchte, kann man eine Sensibilität für den historischen Kontext erkennen. Was für die Abschaffung des Polytheismus postuliert wurde, hätte man – wenigstens von der Logik her – in einem parallel konstruierten Argument für die Päderastie behaupten können: wohlwissend, dass die Päderastie eine verbreitete Praxis in den vornehmen Kreisen der athenischen Bevölkerung war, hat Sokrates auf deren Abschaffung hingearbeitet, indem er sie zu einem wiederkehrendes Motiv und Thema seiner Gespräche machte. Aber wie bereits angemerkt ist Eberhard grund­ sätzlich abgeneigt, gleichgeschlechtliche Liebesverhältnisse, vor allem zwischen Männer unterschiedlichen Alters, als ein kulturelles Merkmal der heidnischen Griechen zu akzeptieren. Der Hang der heidnischen Griechen zu Polytheismus ist unbestreitbar und verzeihlich, einen Hang zur Päderastie im eigentlichen Sinne des Wortes will er dagegen nicht wahrhaben. Im Fall von Sokrates kann man allein aufgrund der dürftigen Faktenbasis im Zweifel für den Angeklagten argumentieren, denn man hat es schließlich mit einem Menschen zu tun, der vor zweieinhalb Millennien lebte, von dem selbst nichts Schriftliches überliefert ist und dessen Auffassungen von Sinnlichkeit und Geist alles andere als simpel war. Aber für die griechische Kultur ist ein solcher „Freispruch“ kaum haltbar – dort belastet die gesammelte Evidenz zu sehr. Genau an dem Punkt kann eine historische Perspektivierung, die eher an Verständnis als an Verurteilung interessiert ist, ansetzen, denn sie zieht die Möglichkeit in Erwägung, dass der Päderast in dem antiken Kontext der Vergangenheit nicht unbedingt die düstere Gestalt war, die ein Sakrileg an der kindlichen Unschuld begeht. Sogar wenn Eberhard keinen Anteil an einer solchen Perspektivierung hatte, lässt sich fragen, wie es zu einer solchen Perspektivierung kam. In dem abschließenden Teil dieses Beitrags wollen wir einige Stationen in der Entfaltung dieser Perspektive notieren, während wir die Fragen nach deren Bedeutung für die Gattung der Apologie im Hinterkopf behalten. Es ist zunächst interessant, dass Voltaire, nachdem er Larchers Text als eine Apologie für die „péché de Sodome“ beschrieben hat, meint, als nächstes Projekt



Johann August Eberhards Neue Apologie des Sokrates 

 255

Larchers gerade eine Geschichte der Sodomie verkünden zu können.69 Gewiss ist dies üble Polemik. Aber in ihr enthalten ist die Vorstellung, dass Sodomie über­ haupt eine Geschichte hat. An einer anderer Stelle zieht Voltaire – literarisch ver­ kleidet als der Neffe des abbé Bazins – die Möglichkeit einer anderen Geschichte in Betracht: „L’historie générale des bordels peut être fort curieuse“.70 Sogar wenn die frechen Zoten der Polemik im Vordergrund stehen, lässt sich im Hinter­ grund eine Annäherung an eine kulturelle Geschichtsschreibung erkennen, die solche thematischen Zugänge zur Vergangenheit überhaupt denkbar macht. Hat dann die Moral eine Geschichte? An einigen seiner Äußerungen zur Geschichte gibt Voltaire zu verstehen, dass moralische Vorstellungen von der spezifischen Kultur abhängen und daher von der einen zur anderen Kultur verschieden sind. Allerdings stehen diese neben anderen Äußerungen, deren universalistischer Charakter dem Postulat eines absoluten Standpunkts entspricht, von dem aus der moralische Charakter aller Handlungen objektiv und überzeitlich bewertet werden kann.71 Homosexualität wird als etwas Widernatürliches gesehen, da ihre Verbreitung Voltaire zufolge unvermeidlich in das Aussterben der Mensch­ heit münden müsste.72 Aus dem Grund liegt Voltaires Unterstellung, dass Larcher dabei sei, eine Geschichte der Sodomie zu schreiben, die Überzeugung zugrunde, dass Sodomie in jeder Kultur als etwas Infames und Verpöntes gilt. Trotz Voltaires naiver Überzeugung in solchen Konstanten gibt der Übergang von einer Apologie zu einer historischen Darstellung zu denken, vor allem wenn im Abklingen der Apologie als eigenständiger literarischer Gattung eine Übernahme der Funktion der Verteidigung durch die Geschichtsschreibung festzustellen ist.73 Allerdings hat man es mit zwei Widerstandsmomenten zu tun, die eine histo­ rische Perspektivierung erschwert haben – und dies ist vor allem der Fall, wenn man den Blick von der als Sodomie denunzierten Homosexualität auf das Thema Päderastie verschiebt, die den aus heutiger Sicht fundamentalen Unterschied aufweist, dass sie eine Beziehung zwischen Ungleichen ist. Sie gehört mit der

69  Voltaire: Défense de mon Oncle (Anm. 35), S. 204 f.: „Quoi, tu veux faire l’histoire de la sodo­ mie ? il aura, dit-il, occasion encore d’en parler dans un autre ouvrage“. 70  Ebd., S. 199. 71  Für eine Diskussion der ambivalenten Stellung zu den Alternativen des moralischen Univer­ salismus und Relativismus im Geschichtsdenken Voltaires, siehe Jerome Rosenthal: Voltaire’s Philosophy of History. In: Journal of the History of Ideas 16 (1955), Nr. 2, S. 151–178, vor allem S. 157 f. 72  Voltaire: Défense de mon Oncle, S. 203 f. Siehe auch Voltaire: [Art.] „Amour nommé socra­ tique“. In: Dictionnaire Philosophique (1764), wo die Rede ist von einem „vice, destructeur de genre humain s’il était général“ (S. 328). 73  Multhammer: Lessings Rettungen (Anm 2).

256 

 Andrew McKenzie-McHarg

Sklaverei zu jenen sozialen Beziehungsformen, deren Vorkommen sehr wohl his­ torisch belegt ist, die aber mit den Normen der Moderne inkompatibel sind. Weil aber beispielsweise Sklaverei – wenigstens in der Form einer öffentlichen aner­ kannten und akzeptierten Institution – aus der modernen Gesellschaft weitge­ hend verschwunden ist, erweckt sie nicht denselben Abscheu wie „Päderastie“, die offenbar nicht mehr als „eigenthümliches Institut“ der Gesellschaft, sondern als eine individuelle sexuelle Abweichung vorkommt.74 Diese Verbindung zu modernen Befindlichkeiten steht der emotionell desinteressierten Neutralität im Wege, die sonst die Betrachtung historischer Gegenstände charakterisiert. Wenn es zusätzlich dazu um den spezifischen Fall des Sokrates geht, dann hat man es mit einem weiteren Widerstandsmoment zu tun, denn sein Status als Identifikationsfigur machte ihn zu einem denkbar ungünstigen Fall, an dem das historische Denken sich entfalten konnte. Der Grad, in dem man von der über­ ragenden Persönlichkeit Sokrates’ gebannt blieb, erschwerte eine historische Kontextualisierung. Daher ist der Aussage Benno Böhms aus seiner Studie Sokrates im 18. Jahrhundert kaum zu widersprechen, dass Eberhard eher eine affek­ tive als neutral-historiografische Beziehung zur Gestalt seiner apologetischen Bemühungen gehabt habe: „[H]ätte Sokrates nichts anders zu bedeuten gehabt, als ein Mensch der Antike zu sein, wäre die Apologie vermutlich ungeschrieben geblieben“.75 Dieselbe Fokussierung auf die Gestalt Sokrates’ charakterisiert einen Vortrag, den der Chemnitzer Philologie Martin Wohlrab zu Sokrates als Erotiker über 100 Jahre nach dem Erscheinen von Eberhards Apologie lieferte. Obwohl der Vortrag keine Anzeichen verrät, dass er als eine Apologie konzipiert wurde, geht man in der Einschätzung nicht fehl, dass Wohlrab essentiell einen Frei­ spruch Sokrates’ anstrebt. Dazu gelangt er nach einer vorsichtigen Abwägung der verschiedenen Quellen. Eine Konzession macht er allerdings, nämlich „dass Sokrates nach Griechenart hinter der Körperschönheit die werthvollere Seelen­ schönheit vermuthete“.76 Über einen vagen Hinweis auf die „Griechenart“ kommt Wohlrab in der Entwicklung eines kulturhistorischen Ansatzes nicht hinaus. Allerdings gab es bereits am Ende des 18. Jahrhunderts schon sehr weit gedie­ hene Versuche, einen solchen Ansatz zu entwickeln. Eine bemerkenswerte Ausei­

74  Als „eigenthümliches Institut“ hat Meier die Knabenliebe der Griechen charakterisiert (Päd­ erastie [Anm. 42], S. 150). 75  Böhm: Sokrates (Anm. 38), S. 158. 76  Martin Wohlrab: Sokrates als Erotiker. In: Verhandlungen der fünfunddreissigsten Ver­ sammlung Deutscher Philologen und Schulmänner in Stettin vom 27. bis 30. September 1880. Leipzig 1881, S. 42–51, hier S. 48.



Johann August Eberhards Neue Apologie des Sokrates 

 257

nandersetzung mit den Verwicklungen von Kultur und Sexualität stammte aus der Feder des hannoverschen Diplomaten und Kunsttheoretikers Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohr und trug den Titel: Venus Urania. Über die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Nachdem Ramdohr im ersten Band eine Theorie der Geschlechtssympathie entwickelt hatte, wandte er sich im dritten Band der Analyse von deren verschiedenen historischen Erscheinungsformen in der Geschichte zu. Der erste Satz des Vorworts des dritten Bandes umreißt das Programm: „Das Wesen der Geschlechtsliebe ist unveränderlich: aber die Begriffe die wir darüber hegen, und die Wirkungen; die wir ihr zuschreiben, sind Zufällig­ keiten unterworfen.“77 Gerade die anthropologische Konstante in der Geschlechts­ liebe liefert dann die Folie, an der Ramdohr die Variabilität in den historischen Erscheinungsformen aufzeigen kann. Die Annahme der Geschlechtssympathie, die Bindungen der physischen Attraktion auch in gleichgeschlechtlichen und sogar familiären Beziehungskonstellationen stiftet, ermöglicht es ihm, zunächst eine beeindruckende Unbefangenheit gegenüber der Sexualmoral anderer Völker und vor allem der der Griechen an den Tag zu legen. Mit einem Ansatz, der an Mon­ tesquieu erinnert, stellt Ramdohr eine unüberbrückbare Differenz in den Kulturen fest: „Die veredelte Liebe der Athenienser zeigte sich in Verbindungen zwischen Männern auf eine Weise, die in unser Klima, zu unserer Organisation, zu unsern Sitten und zu unserer Staatsverfassung keineswegs passt.“78 Sein anthropologi­ scher Ansatz versetzt Rahmdohr in die Lage, die Homosexualität von dem Vorwurf der Naturwidrigkeit zu befreien. Sie ist natürlich, und gerade deswegen wird die zivilisierende Vernunft aufgeboten, die Geschlechtssympathie in die gesitteten Bahnen der außerfamiliären Heterosexualität zu lenken.79 Im Rahmen der antiken Verhältnisse war die homosexuelle Geschlechtssympathie – sogar im Zustand der reinen Latenz – eng mit Institutionen verschwistert, die zum Kern der griechischen Lebensform gehörten. Sokrates „mußte einsehen, und sah es ein, daß ein Zustand, worin körperliche Begierden verhalten, bekämpft und unterjocht werden, doch ganz andere Wirkungen hervorbringt, als ein Zustand, worin dergleichen Begier­ den sich gar nicht melden.“80

77  Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohr: Venus Urania. Über die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Leipzig 1798, Dritten Theils erste Abtheilung, S. 5. 78  Ebd., S. 134. 79  Man kann „die Begierden nach Verbindung solcher Körper, die äußern Kennzeichen nach zu einerley Geschlecht gehören, […] unter keinem Volke der Welt für bloße Folge einer Ausartung der Sinnlichkeit oder für eine Verwirrung der Natur erklären. Eine solche Lüsternheit ist nicht so wohl unnatürlich, d. h. den Gesetzen der physischen Natur widersprechend, als vernunftwidrig und unsittlich.“ (Ebd., S. 137) 80  Ramdohr: Venus Urania (Anm. 77), S. 172 f.

258 

 Andrew McKenzie-McHarg

Die Kritik, die der Germanist Paul Derks an Ramdohrs Werk geübt hat und die darauf hinausläuft, dass Ramdohr aufgrund der üblichen Prüderie das Ver­ sprechen seines Ansatzes nicht einlöst, da er die Homosexualität doch nicht als legitime Erscheinungsform der Geschlechtsliebe würdigen kann, mag weitgehend berechtigt sein.81 Die Anerkennung der Homosexualität als eine natürli­ che Gefühlsäußerung reicht nicht aus, um sie von den negativen Assoziationen zu befreien. Ramdohr ist schließlich nicht so furchtlos, wie sein Ansatz zunächst hoffen lässt. Dennoch kann man in seinem Ansatz einen wesentlichen Fortschritt gerade in eine historische Perspektivierung auf das Problem erkennen. Diese Per­ spektivierung ist keine Leistung, die mit einem „Heureka“-Schrei ein für allemal gesichert wird. Der Gefahr, dass die Wertungen einer zeitgenössischen Moral nicht a posteriori erfolgen und stattdessen apriorisch den Blick auf das Phäno­ men verstellen, ist die Auseinandersetzung mit dem Thema immer wieder von Neuem ausgesetzt. Meier verspricht am Anfang seines Artikel zur antiken Päd­ erastie einen Mittelweg einzuschlagen, der zwischen dem Skylla der Verklärung und dem Charybdis der Idealisierung schifft: Unsere rein historische Aufgabe schützt uns vor beiden gefährlichen Extremen; wir brau­ chen uns weder im Interesse der allgemeinen Moral zu Anklägern der Griechen aufzuwer­ fen, noch, um eine Nation, die auch uns Gegenstand der Bewunderung ist, von jedem Fleck rein zu waschen, zu Beschönigungen, zu Reticenzen, zu Verkleisterungen unsere Zuflucht zu nehmen […].82

Also keine Anklagen, aber auch keine Apologien. Und dennoch ist die Frage danach berechtigt, inwiefern Meier mit seiner, wie bereits gesagt, äußerst akribi­ schen Untersuchung der wissenschaftlichen Norm der Objektivität gerecht wird. Wenn er beispielsweise behauptet, dass sowohl die reine als auch die unreine Knabenliebe als Päderastie bekannt war, dann muss man danach fragen, wie plausibel ist es, dass derselbe Name zur Nennung zweier Beziehungsformen dienen kann, die so unterschiedlich moralisch konnotiert waren. Oder importiert Meier in die Sache vielmehr Bewertungen, die einer späteren Zeit, nämlich seiner eigenen, zugehören? Vor dem Hintergrund einer sich entwickelnden Sexualwissenschaft lernte man das Thema etwas entspannter aufzugreifen. Also findet sich in den Seiten der von Magnus Hirschfeld herausgegebenen Zeitschrift Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen ein bemerkenswerter Artikel von O. Kiefer-Stuttgart zu unserem

81  Derks: Die Schande der heiligen Päderastie (Anm. 37), S. 390–392. 82  Meier: [Art.] „Päderastie“ (Anm. 42), S. 149.



Johann August Eberhards Neue Apologie des Sokrates 

 259

Thema.83 Der Schluss, zu dem der Autor gelangte und der den sowohl komple­ xen als paradoxen Charakter Sokrates’ plausibel würdigt, besteht einerseits in der Feststellung, dass Sokrates sehr wohl homosexuell veranlagt war, und ande­ rerseits in der entscheidenden Ergänzung dazu, dass seine Lebensphilosophie die Anwandlung der physischen Erotik in geistige Liebe forderte. Gerade durch diesen letzten Zug erhob er sich über das kulturelle Niveau der „ganz der reinen Sittlichkeit huldigenden athenischen Mitwelt“.84 Andererseits ging dies nicht mit einer Abqualifizierung oder moralischen Diskreditierung der sinnlichen Liebe einher, wie beispielsweise Meier in seiner Verwendung der Kategorien von ‚rein‘ und ‚unrein‘ zu implizieren scheint.85 Man könnte Kiefer-Stuttgarts Annahme einer angeborenen homosexuellen Veranlagung hinterfragen – damit ging er jedenfalls mit den herrschenden Ansichten im Kreis um Hirschfeld konform.86 Aber in historischer Hinsicht lief die Berücksichtigung der attischen Mitwelt auf eine Kontextualisierung hinaus, vor der man erst recht das Individuelle und Besondere an Sokrates würdigen konnte. Als eine letzte Stellungnahme zu diesem Thema verweise ich auf eine Stelle aus dem 1919 abgeschlossenen Werk Wilamowitz’ zu Platon, wo sich die Unter­ suchung der Knabenliebe zuwendet. Wilamowitz ist sich natürlich darüber im Klaren, wie befremdend dieser Aspekt der griechischen Welt auf seine Leser wirken kann. Daher kommt er mit einem Rat: Für die antike Päderastie „muss man das geschichtliche Verständnis mitbringen […].“ Denn „[d]iese Erotik wurzelt in Gefühlen […], die uns fremd bleiben, weil sie wider die Natur sind, und die wir doch geschichtlich nicht nur begreifen, sondern empfinden müssen, sonst bleibt uns Sokrates schlechthin unverständlich […].“87 Wilamowitz greift wieder zum absoluten Kriterium zwischen der Natürlichkeit oder Naturwidrigkeit eines Gebrauchs, um dessen Verurteilung zu begründen. Aber das Verständnis dafür,

83  O. Kiefer-Stuttgart: Sokrates und die Homosexualität. In: Jahrbuch für sexuelle Zwischen­ stufen 9 (1908), S. 197–211. 84  Ebd., S. 208. 85  Ebd.: „Denn hier fragt es sich […], welches waren für Sokrates die Motive seiner Stellungnah­ me zur Jünglingsliebe? Sah er in ihr etwas ein verdammenswertes Verbrechen, wie jahrhunder­ telang die irregeführte Menschheit nach ihm? Keine Stelle aus den Quellen erbringt dafür einen Schein von einem Beweis! Wünscht er gar staatliche Gesetze gegen die sinnliche Jünglingsliebe? In dem Athen seiner Zeit war die Hingabe des Körpers für Geld und die Gewalttat unter Strafe ge­ stellt, alles andere erlaubt. Kein Wort des Sokrates läßt sich beibringen, wonach er diese Gesetze verschärft gewünscht hätte!“ 86  Dazu und zu Freuds Kritik an diesem Erklärungsmodell Derks: Die Schande der heiligen Päde­rastie (Anm. 37), S. 100. 87  Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Platon. Erste Band. Leben und Werke. Berlin 1919, S. 44.

260 

 Andrew McKenzie-McHarg

dass der Standpunkt der Natur zweitrangig ist, da es sich um eine historische Wirklichkeit handelt, die dementsprechend nur historisch verstanden werden kann, überhebt ihn des Bedarfs, sich auf das Spiel der Anklagen und Apologien einzulassen. Offensichtlich sind nicht alle Probleme durch die Einbeziehung einer historischen Perspektive gelöst. Gerade dadurch spielt man sich eine Reihe neuer Folgeprobleme ein, die sich unter dem Begriff des moralischen Relativis­ mus subsumieren lassen. Solche Probleme sind nicht nur theoretischer Natur, sondern manifestieren sich praktisch im Rahmen interkultureller Begegnungen, und daher ist die Diskussion mit dem Vorgang der Historisierung bei weitem nicht zu Ende. Aber sie läuft nicht nach einer Logik der polemischen Angriffe und apologetischen Widerlegungen. Die anfängliche Annahme war, dass eine historische Kontextualisierung als eine Strategie der Apologie dienen könnte ‒ nach dem Motto: Dieser Mensch hat zwar so gehandelt, aber dieses Handeln muss man in seinem historischen Kontext verstehen. Vor dem Hintergrund der vorhergehenden Überlegungen stellt sich aber die Frage, ob diese Annahme mit einer gewissen Naivität behaftet ist. Denn gerade das Argument, das an historische Perspektivierung appelliert und damit dem angeklagten Menschen vor der Geschichte entlasten will, erodiert den eigentlichen Bedarf an Entlastung. Insofern mag man die Apologie als eine Gattung charakterisieren, die dem historischen Denken weitgehend fremd ist. Sie bezieht ihre Motivation aus der Überzeugung, dass die Worte und Taten von längst verstorbenen Menschen einen Bezug zu überzeitlichen Wahrheiten haben. Damit bürdet man sich die Anachronismen auf, die Unbehagen bei Eberhard aus­ lösten. Eberhard gibt zu, dass es bei seiner Apologie „nicht an Unbequemlich­ keiten und Widersprüchen [fehlt]. Die sind aber unvermeidlich, wenn man das Uebliche des Alterthums beybehalten will, und doch die redende Person als mit spätern Umständen bekannt vorstellen muss“.88 Natürlich ist der Ansatzpunkt für diese Historisierung nicht immer gegeben, denn Apologien können sich Menschen, die noch leben, oder Sachverhalten, die noch Aktualität beanspruchen, widmen. Aber wo eine Historisierung in ihrem vollen Ausmaße doch stattfindet, geht dies mit einer Verabschiedung von über­ zeitlichen Wahrheiten einher, unter deren Auspizien man einst längst verstor­ bene Menschen betrachtet hatte. Aus dem Grund sträubt sich die Gattungsform der Apologie gegen die Historisierung ihres Inhaltes. Denn wenn man Menschen wahrhaft historisch betrachtet, muss man keine Apologien mehr für sie anferti­ gen. Ja, wenn der grobe Umriss dieser Entwicklung stimmt, dann verhält es sich gerade umgekehrt: Durch eine Tendenz hin zur historischen Kontextualisierung

88  Eberhard: Apologie 1772 (Anm. 3), S. 447



Johann August Eberhards Neue Apologie des Sokrates 

 261

wird der Apologie als Gattungsform ihr eigener Boden entzogen. Auf diese Art und Weise wird ein Beitrag zu dem Prozess geleistet, durch den diese Gattung schließlich der Vergessenheit anheim fällt.89 Dies kann aber nur heißen, dass man heute die Gattung der Apologie nur völlig verstehen kann, indem man sie ihrer­ seits historisch kontextualisiert. Damit ist die Aufgabe angezeigt, vor der wir jetzt stehen.

89  In Lessings Bemerkung, dass er seine Rettungen 40 Jahre früher und lieber auf Latein hätte schreiben sollen, verrät sich ebenfalls ein Bewusstsein dafür, dass die Gattung bereits zu diesem Zeitpunkt historisch geworden war. „Es ist Schade, daß ich mit diesem Bändchen nicht einige zwanzig Jahre vor meiner Geburt, in lateinischer Sprache, habe erscheinen können! Die weni­ gen Abhandlungen desselben, sind alle, Rettungen, überschrieben. Und wen glaubt man wohl, daß ich darinne gerettet habe? Lauter verstorbne Männer, die mir es nicht danken können. Und gegen wen? Fast gegen lauter Lebendige, die mir vielleicht ein sauer Gesichte dafür machen wer­ den.“ (Lessing: Vorrede zu den Rettungen [Anm. 6], S. 154) Durch die Passage weht die leise Reue über das Unzeitgemäße an seinem Unternehmen.

Michael Multhammer

Die nicht ganz uneigennützige Rettung Schillers Zwei Apologien Friedrich von Hardenbergs

Vorbemerkung Mit Friedrich Schiller und seinem zeitweiligen Schüler Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, nimmt sich dieser Beitrag zweier kanonischer Autoren an, die, so dürfte man aus heutiger Sicht annehmen, keiner Rettung bedürfen und auch nie bedurften. Die Wertschätzung der beiden Autoren war schon zu Lebzeiten mehr als beachtlich, heute sind ihre Lebensumstände bis ins Detail erforscht, die Interpretationen ihre Werke regalfüllend. Beidem möchte ich hier nichts hin­ zufügen. Der Beitrag bemüht sich demgegenüber, Formen der Aneignung von Literatur und deren weitere Wirksamkeit im Werk zu untersuchen. Im Speziellen handelt es sich dabei um zwei Apologien, die der junge Friedrich von Hardenberg zu seiner Jenaer Zeit als Student verfasste und die, als dezidierte Auseinander­ setzung mit gelehrten Positionen seiner Zeit, für sein weiteres Werk gewichtig werden. Diese beiden Texte wurden bisher von der Forschung im einen Falle nicht, im anderen nur rudimentär berücksichtigt, was primär dem nicht ganz einfachen Zugang geschuldet sein mag ‒ sie verdanken sich beide einer weit älteren Tradition, die im ausgehenden 18. Jahrhundert eigentlich kein gängiges Mittel der Positionierung im gelehrten Diskurs mehr war. Die Regeln, nach denen diese Texte funktionieren, sind nicht diejenigen der am Ende des Jahrhunderts ja ebenfalls historisch gewordenen Geniezeit des Sturm und Drang. Die These lautet daher: Die Autoren der Frühromantik, hier im Besonderen Novalis,1 partizipieren noch an und schöpfen aus einer Form schulischer und akademischer Bildung, die weit älter ist als das zeitgenössische Umfeld ihrer lite­ rarischen Beiträge uns oft glauben machen. Auf dem Gebiet der Gelehrsamkeit sind sie Schüler der vorangegangenen 150 Jahre, und diese Praxis des Wissens­ erwerbs und des Umgangs mit diesem erworbenen Wissen ist für sie nach wie vor wirksam. Das Erbe frühneuzeitlicher Gelehr­samkeit hat sich auch am Ende

1  Man könnte hier auch weitere Namen nennen, die ebenfalls in den 60er-, 70er- und 80erJahren des 18. Jahrhunderts geboren wurden. So hat Johann Benjamin Erhard gar eine Apologie des Teufels (1795) verfasst.

264 

 Michael Multhammer

des Jahrhunderts noch nicht überlebt und die Autoren können auf diese Form der Bildung, wenngleich vielleicht nicht immer in die Öffentlichkeit getragen, zurückgreifen. Nicht zuletzt stehen die literarischen Bemühungen der Frühro­ mantiker auf einem Fundament oder vielleicht auch nur Abraum einer barocken humanistisch-gelehrten Tradition. Beide Apologien blieben zu Lebzeiten Novalis’ unveröffentlicht, dass sie überdies als fragmentarisch erachtet wurden, kann man nicht für die fehlende Kenntnisnahme verantwortlich machen. Viel eher kann man eine in der Forschung, insbesondere in der Literaturgeschichtsschrei­ bung, sich über die Jahrzehnte hin zur scheinbar unhintergehbaren Wahrheit ver­ dichtete Auffassung geltend machen, dass wir in der Mitte der 18. Jahrhunderts einer Wasserscheide begegnen, die kategorial zwischen einer an Regelpoetiken angelehnten Schreibweise und dem autonomen Schriftsteller der Nach-1750erJahre zu unterscheiden weiß. Gegen diese Auffassung versucht der vorliegende Beitrag Stellung zu beziehen, und dort Kontinuitäten aufzuzeigen, wo vermeint­ lich nur Brüche zu finden wären.

1 Die Götter Griechenlands (1788) im Kontext ihrer frühen Rezeption Als im Jahre 1788 das März-Heft des von Christoph Martin Wieland herausgege­ ben Teutschen Merkurs erscheint, ist der Skandal noch nicht abzusehen, den es verursachen wird. Das Heft wirkt auf den ersten Blick wie jedes andere der Reihe, es findet sich dort die ‚Probe einer Übersetzung‘ von Edmund Spenser Gedicht Die Feenkönigin, eine kurze Abhandlung, ‚[o]b die Testamente juris naturalis sind‘, ein weiteres Gedicht betitelt ‚An die Weisheit‘ sowie einige ‚Auszüge aus Briefen von Rom‘. Inzwischen dieser harmlosen und friedfertigen Rahmung enthält das Heft auf den Seiten 250 bis 260 aber auch einen Aufreger, der die Zeitgenossen für eine Weile in Atem halten und die ein oder andere Erwiderung provozieren wird. Am Eintrag im Inhaltsverzeichnis lässt sich das noch nicht ersehen, ein bri­ santes Thema verspricht der Titel nicht. Die Götter Griechenlands, so lautet dieser lapidar und lässt den zeitgenössischen Leser wohl am ehesten an eine Abhand­ lung denken. Nun kennt man unter diesem Titel natürlich eines der berühmtesten Gedichte Friedrich Schillers: Es ist vielfach interpretiert, ausgelegt, eingeordnet und erklärt worden.2 Mir soll es hier lediglich als Ausgangspunkt einiger Überle­

2  Zuletzt, soweit ich sehen kann durch Helmut Koopmann: Poetischer Rückruf. In: Gedichte von Friedrich Schiller (Interpretationen). Hg. v. Norbert Oellers. Neuaufl. Stuttgart 2008, S. 64–



Die nicht ganz uneigennützige Rettung Schillers 

 265

gungen dienen. Nur so viel zur Erinnerung: Das Gedicht besteht aus 25 Strophen in Stanzen und ist, was den Inhalt betrifft, genau in der Mitte, also durch eine Zäsur in der 13. Strophe, zweigeteilt. Die erste Hälfte feiert die griechische Götter­ welt, die zweite beklagt die Tristesse der von den ‚Naturwissenschaften‘ entzau­ berten christlichen Jetztzeit, der Bruch ist deutlich: Seiner Güter schenkte man das beste, Seiner Lämmer liebstes gab der Hirt, Und der Freudestaumel seiner Gäste Lohnte dem erhabnen Wirt. Wohin tret ich? Diese traurge Stille Kündigt sie mir meinen Schöpfer an? Finster, wie er selbst, ist seine Hülle, Mein Entsagen – was ihn feiern kann.3

Das Gedicht hat nicht nur eine bewegte Interpretationsgeschichte, auch Schiller selbst sah sich gezwungen, nach der ersten Veröffentlichung einige gewichtige Korrekturen vorzunehmen. Die Version, die 1800 im ersten Band der Gedichte (Gedichte I) abgedruckt wird, ist stark überarbeitet.4 Dies schien auch geboten, wenn man bedenkt, wie das Gedicht aufgenommen wurde. Es brachte dem Ver­ fasser nicht weniger als den Vorwurf des Atheismus ein, der auch gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch mehr als ‚unschön‘ zu nennen ist und bisweilen weitrei­ chende gesellschaftliche Konsequenzen haben konnte. Schiller wartete zu dieser Zeit sehnsüchtig auf eine feste Anstellung, die er am Ende des Jahres, wenngleich auch unbesoldet, an der Universität Jena in Form einer Professur für Geschichte erhalten sollte. Üble Nachrede in Bezug auf seine Person, die sein Gedicht provo­ zierte, konnte daher nicht in seinem Sinn sein.

83, sowie Hans Dieter Zimmermann: ‚Die Götter Griechenlands‘. Zu Friedrich Schiller und Fried­ rich Hölderlin. In: Schiller und die Antike. Hg. v. Paolo Chiarini. Würzburg 2009, S. S. 75–89. 3  Friedrich Schiller: Die Götter Griechenlands. In: Ders.: Sämtliche Werke in 5 Bänden. Auf der Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert herausgegeben von Peter-Andrè Alt u. a. München 2004, Bd. 1, S. 163–173, hier S. 166. 4  Siehe hierzu Kevin Hilliard, der der Kunst die Rolle zuschreibt, einen verlorenen ‚Geist‘ der Antike zu reaktivieren: „If nature was ‚de-divinized‘, as Schiller lamented, and if deism and me­ chanical philosophy between them had left the world ‚de-souled‘, then it was poetry’s mission to give the departed spirit a new dwelling-place in the imagination.“ Kevin Hilliard: Freethinkers, Libertins and Schwärmer. Heterodoxy in German Literature, 1750–1800. London 2011, S. 79. Ernst Osterkamp zeichnet die Motivation Schillers für die Änderungen überzeugend nach, siehe hier­ zu Ernst Osterkamp: Die Götter – die Menschen. Friedrich Schillers lyrische Antike. Münchner Reden zur Poesie. Hg. v. Ursula Haeusgen u. Frieder von Ammon. München 2006.

266 

 Michael Multhammer

Es ist nicht abwegig, dass, wenngleich vielleicht erste deutliche Risse die christliche Tradition ereilt hatten, viele Zeitgenossen Schillers das Gedicht als einen „Angriff gegen das geltende Weltbild“5 auffassen konnten. Noch war die Orthodoxie mächtig, nicht nur an den Universitäten. Es ist ‒ wie so oft in der Frühen Neuzeit ‒ nicht der unmittelbare Inhalt, der das Gedicht verdächtig machte, sondern vielmehr die Konsequenzen, die sich aus den zur Anschauung gebrachten Positionen ziehen ließen. Dieser Umstand lässt sich an zwei Publi­ kationen ablesen, die zeitnah auf Schillers Gedicht reagierten. Die erste findet sich sogleich in der darauffolgenden Nummer des Merkurs. Karl-Ludwig von Knebel (1744‒1834),6 der enge Freund Herders und Goethes in Weimar, bezieht sich in einem kleinen Essay mit der Überschrift Über Polytheismus auf die Pub­ likation Schillers.7 Er bietet auf gerade einmal acht Druckseiten eine Geschichte der Vielgötterei und deren Umschlag in einen dezidierten Monotheismus. Diese Religionsgeschichte in nuce lehnt sich eng an die Überlegungen Lessings an, die dieser in seiner Erziehung des Menschengeschlechts angestellt hatte. Aller­ dings mit einem gewichtigen Unterschied. Sieht Lessing den Fortgang als noch unabgeschlossen an, weiß von Knebel Schiller die väterliche Einschätzung mitzuteilen, dass das jetzige Zeitalter dem der Griechen, die wiederum in der Nachfolge der „Egypther“ gesehen werden, um Längen überlegen sei. Mit der Überwindung des Papsttums sei die letzte und entscheidende Hürde genommen und man wisse nun, „daß Geist und Licht doch die Vollkommenheiten seyen, zu welchen das Menschengeschlecht durch aller Zeiten Lauf und Umstände sich emporarbeiten müsse.“8 Damit ist freilich die momentane Situation des aufge­ klärten Zeitalters gemeint. Aus dieser Einsicht leitet sich auch der Vorwurf an

5  Melitta Gerhard: Schillers ‚Götter Griechenlands‘ in ihrer geistesgeschichtlichen Bedeutung. In: Monatshefte 38 (1946), H. 1, S. 32–42, hier S. 38. Gerhard liefert einen ‒ auch heute noch lesenswerten ‒ Vergleich der beiden Fassungen des Gedichts. Sie vermag genau jene Stellen deutlich zu benennen und in einen weiteren Kontext einzuordnen, die als Stein des Anstoßes fungieren konnten und von Schiller in der zweiten Version eliminiert wurden. Die Debatte um das Gedicht hatte eine große Reichweite, Widerlegungen wurden ebenso zahlreich geschrieben, wie Verteidigungen. Prominente Namen fanden sich auf beiden Seiten. Siehe hierzu die umfas­ sende Aufarbeitung bei Hans-Dietrich Dahnke: Die Debatte um ‚Die Götter Griechenlandes‘. In: Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Bd. 1. Hg. v. ders. u. Bernd Leistner. Berlin, Weimar 1989, S. 193–269. Novalis und dessen Apologie, auf die es uns hier ankommen soll, werden an einer Stelle erwähnt, aber als Aufsatz, der „allerdings über die ersten Absätze nicht nicht hinausgelangte[ ]“, nicht weiter behandelt. Siehe ebd., S. 205. 6  Für die Biografie siehe ADB 16, S. 275–278. 7  Karl Ludwig von Knebel: Über Polytheismus. In: Der Teutsche Merkur 2 (1788), S. 293–300. 8  Ebd., S. 298 f.



Die nicht ganz uneigennützige Rettung Schillers 

 267

Schiller ab: Seine Antikensehnsucht sei nur naiv, denn dieses Zeitalter der Grie­ chen sei bereits glücklich überwunden. Die antiken Götter „sind mit uns männ­ licher herangewachsen.“9 Eine freiwillige Rückkehr in ein vor-adoleszentes Alter ist nach von Knebel weder vernünftig noch wünschenswert: „Von dem Alter des Mannes die aufblühende Kraft der Jugend wieder zu verlangen, hieße das unmög­ liche von der Natur fordern.“10 Dabei schließt Knebel nicht aus, dass man sich an der antiken Götterwelt ergötzen darf ‒ sie hat ihren Sinn und ihre Daseinsbe­ rechtigung in der Kunst ‒ allein auf dem Gebiet der Entwicklung des Menschen liefert sie inkompetente, da überholte Rollenvorbilder. Knebel relativiert also salomonisch von zwei Seiten. Einerseits billigt er dem noch nicht 30 Jahre alten Schiller die Beschäftigung mit der Antike auf künstlerischen Gebiet zu, schränkt aber dahingehend ein, dass die Begeisterung nicht auf Kosten der wahren ‒ und das heißt hier christlich-protestantischen ‒ Religion gehen darf. Dieses doch sehr freundschaftliche und ausgewogene Urteil ist allerdings nicht repräsentativ für die unmittelbaren Reaktionen, meist ist der Ton deutlicher schärfer und weniger auf Versöhnung bedacht. Ebenfalls noch im Jahr 1789 liefert Karl Friedrich Benkowitz eine Reaktion in Form eines Journal- Beitrags, der Titel gibt dabei schon deutlich die Stoßrichtung an: Ein Gegenstück zu Schillers Götter Griechenlands.11 Das ebenfalls in Stanzen gehaltene Gedicht lehnt sich eng an die Vorlage Schillers an, geht aber insofern einen Schritt weiter, als dass zusätzlich in kommentierenden Fußnoten direkt auf die Versäumnisse und Missstände in Schillers Gedicht hingewiesen wird, indem er auf die entsprechenden Verse verweist. Konstatiert er einerseits die Kontinuität der Naturerscheinungen, die auch ganz wunderbar ohne eine Beseelung durch die alten Götter bestehen kann, dreht Benkowitz andererseits die schillersche Pointe, dass zu den Zeiten der alten Griechen die Menschen göttlicher gewesen seien, geradewegs um. Die Götter waren, so seine Kritik, höchstens menschli­ cher.12 Bereits zuvor verfällt er auf einen klassischen Topos in der Ablehnung der heidnischen Religion. Der gesamte Götterhimmel der Griechen war nicht mehr als ein unmoralischer Haufen. Dieses Argument, wenn man es in seiner lyri­ schen Form noch so nennen darf, hat eine größere Reichweite als man das auf

9  Ebd., S. 299. 10  Ebd. 11  Karl Friedrich Benkowitz: Ein Gegenstück zu Schillers Götter Griechenlands. In: Neue Lit­ teratur und Völkerkunde 3 (1789), Bd. 2, S. 262–279. Benkowitz ist der Literaturwissenschaft als Verfasser eines Faust-Dramas bekannt, darüber hinaus liegt seine Biografie im Dunkeln. Vgl. ders.: Die Jubelfeier der Hölle, oder Faust der jüngere. Berlin 1801; eine zweite, verbesserte Auf­ lage erschien 1802, ebenfalls in Berlin. 12  Ebd., S. 275.

268 

 Michael Multhammer

den ersten Blick erahnen kann. Ihm liegt die explizit ausgesprochene Prämisse zu Grunde, dass die gesamte Götterwelt seit jeher „[n]ur in der Gedankenwelt“ existiert habe. Sie ist und war schon immer ein Konstrukt der Dichter, die sich als Wahrheit ausgab: Doch der Wahn soll kühne Wahrheit werden, Götter sollen unter Menschen gehen! Machen sie es reizender auf Erden? Sind sie denn so unaussprechlich schön? Darf man ihnen hell ins Antlitz schauen? Ist ihr Wesen Huld und Liebe nur? Füllen sie mit Seligkeit die Auen? Heiligen Sie die Natur?13

Benkowitz artikuliert hier deutlich, dass es mit der Göttlichkeit der antiken Götter wenig Substanzielles auf sich hat. Sie vermögen es eben gerade nicht, die Natur zu heiligen. Vielmehr sind sie den niederen Trieben der eigentlich menschlichen Natur unterworfen. Sie handeln aus unlauteren Motiven wie etwa Rache, sie morden oder verspüren Schadenfreude gegenüber ihren Rivalen. Die Reihe ließe sich ohne Weiteres fortsetzen. Der Dichter sehnt sich nach dieser Vorführung denn auch: „Beßre Götter wünschen wir zu sehn.“14 Und selbst der Göttervater Zeus mag kein rechtes Vorbild sein: „Zeus, ich mag nicht länger von dir dichten, Götter müssen keine Frevler sein.“15 Letztlich kann man für die griechischen Götter, so man denn gerecht sein will, nur Spott übrighaben. Auch hier begeg­ net im weiteren Verlauf wiederum das Motiv des „Kinderglauben[s]“,16 der schon längst überwunden sei. Was den Antiken das Elysium mit seinen ewigen Freuden war, ist längst präziser zu benennen, ganz ohne eine abgeschmackte Ausstaffie­ rung der Szenerie. Unsre Lehre, unser Glauben bietet Tausend größre, schön‘re Bilder dar, Als so lange Phöbus Priest‘rin wüthet, Je das Fabelland gebahr.17

Das ist keine exklusive Erkenntnis. Benokowitz empfiehlt dementsprechend einen deutschen Dichter zu lesen, der dies schon längst für sich zu nutzen gewusst und die Wahrheit der Religion aufs Beste besungen hat: Klopstock. Die Lektüre des

13  Ebd., S. 264. 14  Ebd., S. 265. 15  Ebd., S. 266. 16  Ebd., S. 271. 17  Ebd., S. 275.



Die nicht ganz uneigennützige Rettung Schillers 

 269

Messias ist dann auch viel eher dazu geschickt, die Menschen moralisch zu erzie­ hen, als das abschreckende Beispiel der antiken Götter. Diesen Vorwurf muss sich Schiller gefallen lassen, er wählt schlichtweg den falschen Stoff und gibt ihm ‒ weitaus schlimmer ‒ auch noch den Nimbus der Überlegenheit. Benkowitz bringt, so lässt sich zusammenfassen, beinahe durchweg topische Argumente oder Einwürfe, die sich jedoch um Sachlichkeit bemühen. Direkte Ausfälle gibt es keine, ganz im Gegensatz zum nächsten Beispiel. Die ‚traurge Stille‘, die den Schöpfer in den Göttern Griechenlands vermeint­ lich ankündigt, wird in der auf Schillers Publikation folgenden Nummer des Deutschen Museums ebenfalls jäh durchbrochen. Es ist nicht der Schöpfer selbst, der sich zu Wort meldet, aber immerhin einer seiner treuen Apologeten: Graf Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg,18 im Jahre 1788 noch Gesandter des Fürst­ bischofs von Lübeck in Kopenhagen, fühlt sich durch das Gedicht Schillers nicht nur persönlich angegriffen – er habe, wie er selbst von sich sagt, „von Kindheit an die Poesie mit Leidenschaft geliebt“,19 sondern empfindet auch die Wahrheit und Wahrhaftigkeit der Christlichen Religion in ihrer Gänze diffamiert. Er sieht sich zu einigen Gedanken über Herrn Schillers Gedicht: Die Götter Griechenlands – so der Titel – veranlasst. Seine Gedanken nehmen ihren Ausgang von einem Lob der Poesie und welche Vorteile sie gegenüber der Philosophie bisweilen haben kann, doch schon bald kommen erste, bedeutungsvolle möchte man hinzufügen, Einschränkungen: „Blühende Fiktionen sind süße Morgenträume der Seele, aber die Wahrheit ist ihr wahres Leben.“20 Es hat den Anschein, als seien die Posi­ tionen geradezu vertauscht. Ist doch die Philosophie alleinig zuständig für die Belange der Seele, wenn es nicht mehr um Mußestunden geht? Ja und nein, das kommt gerade auf den Dichter an, dem es offensteht, die Seele auch vermittelst der Dichtung zu bilden. „Auch die Poesie komt [sic!] von Gott! dürfen wir kühn sagen; aber nur ihr wahrer Gebrauch heiligt sie. Ihre Bestimmung ist Wahrheit zu zeigen.“21 Denn: „Poesie, welche nicht der Wahrheit gewidmet ist, schimmert,

18  Zur Biografie von Graf Friedrich Leopold von Stolberg-Stolberg siehe ADB 36, S. 350–367; [Art.] „Stolberg, Friedrich Leopold Graf v.“. In: Killy Lieraturlexikon. Autoren und Werke des deutsch­ sprachigen Kulturraums. Hg. v. Wilhelm Kühlmann. 12 Bde. Berlin 2008–2011, Bd. 11, S. 218–220. Ferner, mit einem ausführlichen Schriftenverzeichnis und einer weiterführenden, umfassenden Bibliografie den Eintrag im Lexikon Westfälischer Autorinnen und Autoren 1750‒1950 (online unter: www.lwl.org, sub verbo [Stand: 31.03.2015]). 19  Friedrich Leopold Graf von Stolberg-Stolberg: Gedanken über Herrn Schillers Gedicht: Die Götter Griechenlandes. In: Deutsches Museum. 1776–88. (1788), 2. Bd., S. 97–105, hier S. 97. 20  Ebd., S. 98. 21  Ebd.

270 

 Michael Multhammer

ohne zu wärmen“.22 Was es mit dieser Wahrheit auf sich hat, bleibt zunächst noch unbestimmt, aber Stolberg nähert sich ihr in einem nächsten Schritt insofern an, als dass er ausschließt, was sie keinesfalls sein kann. Wenn „die Gottheit“ schon von Zeiten her immer der höchste und erhabenste Gegenstand der Poesie war, so darf man doch nicht außer Acht lassen, dass „[d]ie Künste […] über die Jahrhunderte gestiegen“ sind.23 Und mit ihr der zu besingende Gott. Indem sich Schiller diesem Prozess bewusst widersetzt, ist er nichts mehr als ein „Eiferer für die Götter Griechenlands“, was mit weitreichen­ den Konsequenzen verbunden ist. Blickt man auf das Tableau der griechischen Götter, so sind sie beinahe durch die Bank unmoralisch ‒ dieser Vorwurf wurde bereits in Verbindung mit Benkowitz’ Kritik erwähnt. Wie, so fragt sich auch Stol­ berg, soll aus dieser unmoralischen Versammlung, die die Griechen als Götter anerkannten und verehrten, eine Religion entstehen, die Tugenden fördert und das Laster bestraft? Und Schiller singt ihnen ein Loblied. Stolberg greift dabei eine Diskussion auf, die die gesamte Frühe Neuzeit geprägt hatte und auch noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts virulent bleibt. Es ist eine komplexe Diskus­ sion um die Moralität der Antiken, die immer zwischen Bewunderung einerseits und kategorischer Ablehnung andererseits oszilliert. Die jeweils vorgebrachten Begründungen oder Abstufungen sind weitreichend, auch für das eigene Ver­ ständnis der Zeitgenossen, was auf dem Gebiet von Glauben und Moral tolerabel sei. Dabei sind Dichtung und Philosophie gleichzeitig Gegenstand der Diskus­ sion. Kann etwa die Beschäftigung mit Horaz als Dichter und Person (und seine Dichtung) dem christlichen Leser auf dem Gebiet der Moral nützlich sein? Oder ist trotz aller ‒ freilich unbezweifelten ‒ Schönheit seiner Dichtung der Preis zu hoch, den sein Heidentum und die damit verbundene oder zumindest assoziierte Unmoral fordern?24 Gleiches gilt auf dem Gebiet der Philosophie. Niemand käme auf die Idee die genuinen Leistungen eines Sokrates oder Platon zu leugnen, aber auch hier lassen sich die moralischen Handlungsanweisungen nicht ohne weite­ res adaptieren. Es sind nun einmal Heiden, die einer gänzlich anderen Lebens­ welt entstammen, die ihrerseits wiederum erklärungs- und auslegungsbedürf­ tig ist. Bisweilen ist es sogar notwendig, ihnen eine Apologie zu widmen ‒ wie durch Johann August Eberhard geschehen.25 Die Aneignung der Antike bleibt, vor

22  Ebd., S. 99. 23  Ebd. 24  Für diesen Themenkomplex siehe Michael Multhammer: Lessings Rettungen. Geschichte und Genese eines Denkstils. Berlin 2013, S. 140–146. Überdies Burghard Damerau: Horaz oder Die Wahrheit der Literatur. Eine Anmerkung zum Umgang mit Horaz im 18. Jahrhundert. In: Gegen den Strich. Aufsätze zur Literatur. Hg. v. Burghard Damerau. Würzburg 2000, S. 125–132. 25  Siehe hierzu den Beitrag von Andrew McKenzie-McHarg in diesem Band, S. 229–261.



Die nicht ganz uneigennützige Rettung Schillers 

 271

allem wenn sie nicht mit distanzierender Kommentierung aus dem christlichen Kontext einhergeht, vermintes Terrain, das zu betreten zu unintendierten Reakti­ onen führt. Empfindliche Gemüter waren hier leicht zu beleidigen. Stolberg traf mit seiner Replik auf Schiller einen neuralgischen Punkt in der zeitgenössischen „weithin beachtete[n] Debatte über Kunst, Antike, Religion sowie Gewissensu[nd] Gedankenfreiheit des Dichters, an der sich neben den Kontrahenten auch Forster, Körner u[nd] August Wilhelm Schlegel beteiligten.“26 Doch damit nicht genug, Schiller verhöhnt in seinem Gedicht auch noch die Liebe des einzigen Gottes, wenn er glauben machen will, dass das Band zwischen Menschen und Göttern in der Antike enger geknüpft war.27 Stolberg vermag das aber gar nicht zu verwundern, was soll eine Religion ‒ und Schiller als ihr Pro­ pagator ‒, die sich aus tiefen naturalistischen und auch materialistischen Über­ zeugungen heraus entwickelt hat, mit dem erhabenen und wahren Begriff der Liebe anzufangen vermögen. Er geht aber noch weiter in seinem Angriff und folgert: Auch wenn Schiller nicht gläubig wäre, so müsste er doch einsehen, dass die christliche Sittenlehre die höchste sei, gerade nicht so wie bei den Grie­ chen, „deren Götterlehre die gröbste Abgötterei mit dem traurigsten Atheismus verband.“28 Es ist eben doch die Moralität, die als Prüfstein für die Wahrheit einer Religion angesehen werden muss. Die Restitution der antiken Götterwelt – und sei es nur in der Dichtung – „ist der abentheuerlichste Wunsch, dem sich ein Mensch überlassen kan, dessen Aeusserung sich nicht von dem Begriffe der Läs­ terung trennen läßt.“29 Was zu beweisen war, möchte man hinzufügen. Lästerung als moralisches Vergehen speist sich unmittelbar aus der falschen religiösen Vor­ stellung. Die Sittenlosigkeit, die Stolberg Schiller mit Begriffen wie „Neologe“, „Atheist“, „Materialist“, „Naturalist“ implizit unterstellt, ist keine, die durch Dichtung transportiert werden darf. Denn „[d]ie Entschuldigung des Scherzes findet in Absicht auf das Heilige nicht statt“.30 Und das Heilige findet sich nun einmal allein in der christlichen Religion. Das sind massive Anschuldigungen, denen sich Schiller hier ausgesetzt sieht, es kann daher kaum verwundern, dass er seinerseits an eine Beantwortung der Vorwürfe gedacht hatte. Am Weihnachts­ tag des Jahres 1788 scheint er aber bereits wieder Abstand von diesem Unterneh­ men genommen zu haben. In einem Brief an Christian Gottfried Körner, mit dem

26  Vgl. [Art.] „Stolberg“ (Anm. 18), S. 219. 27  Die entsprechenden Verse lauten: „Sanfter war, da Hymen es noch knüpfte, / heiliger der Herzen enges Band.“ 28  Ebd., S. 105. 29  Ebd. 30  Ebd.

272 

 Michael Multhammer

Schiller wohl die persönlichste aller seiner Freundschaften verband,31 stellt er die Frage, ob man hätte öffentlich antworten sollen. Zugleich wachsen sich die mög­ lichen Einwürfe zu einer Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen der Kunst schlechthin aus,32 die ich ausführlich wiedergebe: Ich hätte Dir so gern gleich meinen vollen Beifall über Deinen Aufsatz geschrieben, der mich in der That, außer seiner sehr lichtvollen und durchdachten Auseinandersetzung, durch das Verdienst eines sehr edeln und angenehmen Styls überrascht hat. Alles was mir zu wünschen übrig blieb, war, daß Du mit etwas mehr Ausführlichkeit in’s Detail gegangen sein möchtest, weil es nach Deiner Entscheidung immer noch streitig bleibt, wo die edle Kunstfreiheit aufhört, und die Übertreibung anfängt; denn natürlich wird jeder, dem es um Einschränkung dieser poetischen Freiheit zu thun ist, Deinem Raisonnement eine willkür­ liche Auslegung geben. Mir schien’s, daß Dir wirklich die Stolbergsche Sottise und mein Gedicht einige Details an die Hand gegeben haben würden, Deine allgemeine Richtschnur auf einen besonderen Fall anzuwenden. Überhaupt, glaube ich, ist hier die allgemeine Regel festzusetzen: der Künstler und dann vorzüglich der Dichter behandelt niemals das Wirkliche, sondern immer nur das Idealische, oder das kunstmäßig Ausgewählte aus einem wirklichen Gegenstande. Z. B. er behandelt nie die Moral, nie die Religion, sondern nur die­ jenigen Eigenschaften von einer jeden, die er sich zusammen denken will – er vergeht sich also auch gegen keine von beiden, er kann sich nur gegen die ästhetische Anordnung oder gegen den Geschmack vergehen. Wenn ich aus den Gebrechen der Religion oder der Moral ein schönes übereinstimmendes Ganze zusammenstelle, so ist mein Kunstwerk gut; und es ist auch nicht unmoralisch oder gottlos, eben weil ich beide Gegenstände nicht nahm, wie sie sind, sondern erst wie sie nach einer gewaltsamen Operation, d. h. nach Absonderung und neuer Zusammenfügung wurden. Der Gott, den ich in den Göttern Griechenlands in Schatten stelle, ist nicht der Gott der Philosophen oder auch nur das wohlthätige Traumbild des großen Haufens, sondern er ist eine aus vielen gebrechlichen schiefen Vorstellungs­ arten zusammengeflossene Mißgeburt. – Die Götter der Griechen, die ich in’s Licht stelle, sind nur die lieblichen Eigenschaften der griechischen Mythologie in eine Vorstellungsart zusammengefaßt. Kurz, ich bin überzeugt, daß jedes Kunstwerk nur sich selbst, d. h. seiner eigenen Schönheitsregel Rechenschaft geben darf und keiner anderen Forderung unter­ worfen ist. Hingegen glaub‘ ich auch festiglich, daß es gerade auf diesem Wege auch alle übrigen Forderungen mittelbar befriedigen muß, weil sich jede Schönheit doch endlich in allgemeine Wahrheit auflösen läßt. Der Dichter, der sich nur Schönheit zum Zwecke setzt, aber dieser heilig folgt, wird am Ende alle anderen Rücksichten, die er zu vernachlässi­ gen schien, ohne daß er’s will oder weiß, gleichsam zur Zugabe mit erreicht haben; da im Gegentheil der, der zwischen Schönheit und Moralität, oder was es sonst sei, unstät flattert oder um beide buhlt, leicht es mit jeder verdirbt.33

31  Siehe hierzu Klaus L. Berghahn: Enthusiasmus der Freundschaft: Schiller und Körner. In: Monatshefte 97 (2005), H. 3, S. 397–407. 32  Auf den besonderen Charakter der Briefe zwischen Schiller und Körner weist ebenfalls Berghahn hin, siehe ebd. 33  Friedrich Schiller an Gottfried Körner, 25. Dezember 1788, in: Friedrich Schiller/Christian Gottfried Körner: Briefwechsel. Hg. v. Klaus L. Berghahn. München 1973, S. 92 f. Körner hatte



Die nicht ganz uneigennützige Rettung Schillers 

 273

Nichtsdestotrotz müssen Schiller die Anfeindungen Stolbergs tief getroffen haben, das belegt allein schon die Tatsache, dass er auch noch am Ende des Jahres das Thema mit sich herumtrug. Sie berühren nicht weniger als die Grund­ festen seiner Überzeugungen als Dichter. Lassen wir diese harten Anschuldigun­ gen und die möglichen, elaborierten Einwände Schillers darauf zunächst einmal im Raum stehen und wenden uns in aller Kürze noch einer weiteren Antwort auf Die Götter Griechenlands zu, wenngleich diese weniger ernst zu nehmen ist. Im März 1789, genau ein Jahr nach der Veröffentlichung Schillers, tritt der gerade einmal 20 Jahre alte Franz Alexander von Kleist, ebenfalls im Teutschen Merkur, mit einem Lob des einzigen Gottes, ein Gegenstück zu den Göttern Griechenlands hervor.34 Dieses Encomium in 32 Strophen zu je neun Versen verrät leider deutlich wenig von dem dichterischen Talent, das in der Familie von Kleist auch zu finden ist.35 Schon die Eingangsstrophe ist in ihrer unfreiwilligen Komik kaum zu überbieten, wenn der „Gott der Harmonie“ als Muse missbraucht wird: Geist! Der des Gefühles Feuer, wann Entzücken ihn durchfloß bey der Liebe Wonne Feyer, in die Saiten meiner Leyer, Leben in die Sprache goß; auf! ergreif die Feuerpfeile der entflammten Phantasie, schwinge dich mit Flügeleile, zu dem Gott der Harmonie!

Auch die inhaltlichen Argumente, mit denen Franz von Kleist Schiller im Weite­ ren begegnet, sind im Vergleich zu den zeitgenössischen Debatten geradezu naiv zu nennen. Im Paradies, das er in eine unbestimmte, aber als gewiss angenom­

zuvor einen Artikel in der Thalia mit dem Titel Ueber die Freiheit des Dichter bei der Wahl seines Stoffes verfasst, der das Thema unter dem Eindruck von Schillers Gedicht aufgreift (in: Thalia 6 [1789], S. 59–71). 34  Franz Alexander von Kleist: Das Lob des einzigen Gottes, ein Gegenstück zu den Göttern Griechenlands. In: Der Teutsche Merkur 3 (1789), S. 113–129. 35  Diese Strophenform ist mehr als ungewöhnlich, vielleicht sogar einzigartig, zumindest ist mir und auf diesem Gebiete ausgewieseneren Kollegen, die ich um Rat gefragt habe, eine sol­ che Konstellation noch nicht begegnet. Die zwei Romanzenstrophen – so muss man es wohl lesen – sind um eine zusätzliche Verszeile erweitert worden, was dem Lesefluss nicht gerade zu­ träglich ist. Es drängt sich der Verdacht auf, dass Franz Alexander von Kleist nicht nur inhaltlich das letzte Wort gegenüber Schiller behaupten wollte, sondern ganz buchstäblich auch den letz­ ten Vers, und das in jeder Strophe, gleichsam um den höheren inhaltlichen Gehalt seiner Verse materiell zu unter­streichen.

274 

 Michael Multhammer

mene Zukunft verlegt, so ist sich Kleist sicher, trifft man entgegen der Erwartun­ gen Schillers auch die Familie wieder und zwar in einer durchaus sinnlichen Qua­ lität. Voraussetzung dafür ist freilich ein tugendhaftes und gottgefälliges Leben, die Heiden bleiben zwangsläufig außen vor. Dem Einwand Schillers, Gott sei im Finstern, kann Kleist die Standardargumente der Physikotheologie entgegenhal­ ten und lässt in der langen Kette der Wesen kaum etwas aus. Und einmal mehr natürlich das Problem der Moralität der griechischen Götter: „könnt ihr einen Gott verehren /der mit Lastern sich befleckt?“36 Und weiter: „Einem solchen Gott zu gleichen / wünscht die hohe Menschheit nicht!“37 Diese Verse sind nicht nur in ihrem Bau wesentlich weniger elaboriert als die bereits diskutierten Beispiele. Es holpert allerorten. Das Gedicht endet damit, dass man Gott nicht in den Tempeln, sondern in der Natur findet. Soweit eine recht unerquickliche Lektüre, wäre da nicht noch eine editorische, den vermeintlichen ‚Dichter‘ zurechtweisende Notiz Wielands am Ende eingerückt: Der edle Jüngling, dem es gefallen hat den T. M. mit diesem Gegenstücke zu dem von vielen auf eine seltsame Art mißverstandenen Schillerschen Gedichte zu beschenken, trägt einen von der ganzen Nation verehrten und geliebten Nahmen; einen Nahmen, der große Auf­ munterungen geben muß, aber auch schwere Pflichten auferlegt. Ich weiß, in Ansehung des poetischen Theils dieses kleinen Stückes dem Hrn. V. kein vortrefflicheres Muster zu empfehlen als den unsterblichen Dichter des Frühlings, dessen Nahmen er führt. Was aber die Causam Dei, oder das, weßwegen es ein Gegenstück der Götter Griechenlandes heißt, betrifft, so scheint mir die Sache damit noch nicht ganz abgethan zu seyn; und ich behalte mir deswegen vor, in einem der nächsten Monatsstücke, nicht sowohl im Nahmen der Grie­ chischen Götter, als in eigener Person, interveniendo vor Gericht zu erscheinen.38

Auch wenn dieses letzte Beispiel der vorgebrachten Kritik wenig Neues hinzu­ fügt, lehrt es doch eines. Die Aufmerksamkeit für den schillerschen Tabubruch war auch mehr als ein Jahr nach der Veröffentlichung nicht abgeklungen. Nicht anders lässt es sich erklären, dass Wieland als Herausgeber des Teutschen Merkurs diesem poetisch zweifellos minderwertigen Versuch Platz in seiner Zeit­ schrift gewährt. Entgegen seiner Ankündigung erschien Wieland in diesem Falle nie vor Gericht, aber ein anderer, noch wenig bekannter Student trifft Vorberei­ tungen für sein Plädoyer.

36  Ebd., S. 126. 37  Ebd., S. 127. 38  Ebd., S. 129.



Die nicht ganz uneigennützige Rettung Schillers 

 275

2 Friedrich von Hardenberg und Friedrich Schiller ‒ von Bewunderung zur Freundschaft Es ist Ende Oktober 1790, als sich der angehende Student mit einer stattlichen Handbibliothek von 125 Bänden von Eisleben nach Jena aufmacht, um sich dort an der Alma Mater Jenensis zu immatrikulieren. Im Gepäck, wie uns sein Biograf verrät, neben den Werken Hallers, Klopstocks, Lessings, Herders, Wielands, Bürgers und Höltys auch die Ausgaben Schillers.39 Letzterer ist gerade zu der Zeit das große Vorbild Friedrich von Hardenbergs und sein Gang an die Universität Jena auch von der Hoffnung auf persönliche Bekanntschaft mit dem dortigen Ex­traordinarius für Geschichte motiviert. Der ‚offizielle‘ Plan ist allerdings ein anderer, sein Vater schickt ihn nach Jena, um dort Jura zu studieren, der Abschluss wäre die Eintrittskarte in den Staatsdienst. Die Interessen des jungen Studenten gingen aber primär in eine andere Richtung – Philosophie und Literatur stellen sich als seine Herzensan­ gelegenheiten heraus. Dafür ist Jena der optimale Studienort im Ausgang des 18. Jahrhunderts. Der 18-jährige von Hardenberg hörte im Wintersemester 1790 Schillers Vor­ lesung über die Geschichte der Kreuzzüge und war begeistert.40 Erste Züge einer Freundschaft bahnten sich zwischen dem Dichter der Räuber und seinem Studen­ ten an. Die Identifikation mit dem 13 Jahre älteren Schiller nahm stetig zu.41 „Letzt­ lich begründet die Unbeugsamkeit von Schillers Persönlichkeit auch Hardenbergs Vertrauen in die Wahrheit seiner Überzeugungen, Urteile und Ratschläge, was offensichtlich auch sein um die berufliche Ernsthaftigkeit des Sohnes besorgter Vater verstanden hat.“42 Der seinerzeit schwer kranke Schiller war Novalis zu einer engen, vielleicht sogar zur engsten Bezugsperson in Jena geworden.43 Es kann daher

39  Peter-André Alt: Schiller. Leben – Werk – Zeit. Eine Biographie. 2 Bde. München ²2004, Bd. 1, S. 650. Siehe auch Florian Roder: Novalis. Die Verwandlung des Menschen. Leben und Werk Friedrich von Hardenbergs. Stuttgart 1992, S. 58. 40  In einem Brief an Karl Leonhard Reinhold vom 5. Oktober 1791 heißt es rückblickend auf die Begegnung mit Schiller in Jena: „Sein Blick warf mich nieder in den Staub und richtete mich wie­ der auf.“ Vgl. Novalis: Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe. 3 Bde. Hg. v. Hans-Joachim Mähl u. Richard Samuel München 1978. Bd. 1, S. 508–514, hier S. 510. 41  Siehe hierzu auch Ulrich Stadler: Novalis ‒ ein Lehrling Friedrich Schillers? In: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 50 (1990), S. 47–62. 42  Wolfgang Hädecke: Novalis. Biographie. München 2011, S. 53. 43  Das belegt nicht zuletzt ein Brief von Carl Christian Erhard Schmid (1761‒1812) an Schil­ ler. Schmid war ehemals Hauslehrer bei den von Hardenbergs (siehe hierzu NDB 23, S. 139 f.) und wurde vom Vater Ulrich Erasmus von Hardenberg gebeten, dass dieser dahingehend auf

276 

 Michael Multhammer

kaum verwundern, dass den jungen von Hardenberg Angriffe auf Schiller, denen er sich im Nachgang der Veröffentlichung der Götter Griechenlands ausgesetzt sah, und der damit verbundene Vorwurf der Gottlosigkeit schmerzen mussten. Er sah sich genötigt zur Feder zu greifen und eine Apologie von Friedrich Schiller zu ver­ fassen.44 Wann genau der Text entstanden ist, lässt sich nur schwer beantworten. Sicher ist, dass die Entstehung in das Jahr 1790 fällt, ob erst in die Jenaer Zeit, oder schon vor der persönlichen Bekanntschaft mit Schiller, ist hingegen ungewiss. Hans-Jürgen Balmes hält für den Entstehungszeitraum fest: „Die Apologie muß nach dem Januar (14. Januar 1790, Bekanntgabe der Ernennung Schillers zum Mei­ ninger Hofrath, […]) und vor dem Herbst 1790 verfaßt sein, als N[ovalis] Schiller in Jena persönlich kennenlernte; […].“45 Schillers Ernennung zum Hofrat als terminus post quem zu sehen, leuchtet unmittelbar ein, der von Balmers gewählte terminus ante quem ist hingegen diskussionsbedürftig. Novalis gesteht in der Apologie frei­ mütig ein, den Dichter nicht zu kennen. Das kann man so hinnehmen oder sich die Textumgebung ein wenig genauer ansehen, dann ergibt sich eine zweite Sicht­ weise, die der Aussage einen anderen Stellenwert beimessen kann. Der Apologet bekräftigt, „wenigstens unpartheyisch zu sey“ in Hinblick auf die Debatte, zu der er Stellung nimmt. Den Dichter nicht zu kennen, ist ein Moment dieser Unpartei­ lichkeit. Nun reklamiert beinahe jeder kritische Text (resp. der jeweilige Verfas­ ser) des späten 17. und das ganze 18. Jahrhundert hindurch für sich, gerade nicht parteiisch zu argumentieren. Es handelt sich um nichts weniger als einen Topos, der im Bereich der Kritik von allen denkbaren Positionen für sich vereinnahmt wird. Eine Einschätzung dieser Vorgehensweise und die Betonung der Indifferenz

Schiller einwirke, er solle den Sohn ermahnen, dass er sein Brotstudium, die Juristerei, nicht vernachlässige: „Der brave Vater des jungen Hardenberg freut sich, daß seines Sohnes ganzes Herz und Achtung und Vertrauen Ihnen gehört; und darauf stützt sich seine Bitte, die ich Ihnen vorzulegen Auftrag habe. Sie möchten das unbedingte Zutrauen, das dieser junge Mensch einem so würdigen Manne gewidmet hat, durch eine gelegentliche und gleichsam ungefähre Unterre­ dung, die ihm sein Rechtsstudium und die ernste Vorbereitung zum künftigen Geschäftsleben wichtig und interessant machte, zu seinem eigenen Besten und zur Beförderung des Wohls der Familie, die in seiner Person eine Stütze erwartet, nach Ihren besten Überzeugungen benutzen. Mehr als irgendein Mensch können Sie auf diesen guten und anlagenvollen Menschen wirken.“ In: Novalis. Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. v. Richard Samuel, Hans-Joachim Mähl u. Gerhard Schulz. Bd. 4: Tagebücher, Briefwechsel, zeitge­ nössische Zeugnisse. Stuttgart 21998, S. 570. 44  Novalis: Apologie von Friedrich Schiller. In: Ders.: Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe. 3 Bände. Hg. v. Hans-Joachim Mähl u. Richard Samuel. München 1978, Bd. 1, S. 103. Der Erstdruck fand erst knappe 100 Jahre nach Entstehung des Fragmentes statt, in: Germania. Vier­ teljahresschrift für deutsche Alterthumskunde 30 (1885). 45  Balmes: Kommentar. In: Novalis: Das dichterische Werk (Anm. 44) 3, S. 39 f.



Die nicht ganz uneigennützige Rettung Schillers 

 277

dieser Selbstzuschreibung finden sich schon in den 40er-Jahren bei Gottsched.46 Diese alternative Sichtweise gilt es zumindest in Betracht zu ziehen, wenn man die Textsorte bedenkt. Novalis befolgte demnach vielleicht auch nur die Spielre­ geln der Gattung. Eine Apologie ist ja geradezu darauf ausgelegt, die in ihr vor­ gestellten Argumente so stark als möglich zu machen: Die Betonung der Unpar­ teilichkeit und eine kleine ‚Korrektur‘ der wahren Verhältnisse kann also auch durchaus Teil der Strategie sein. Bedenken kann man diese Option, auch wenn feststeht, dass sich das genaue Entstehungsdatum nicht mehr ermitteln lässt. Persönliche Bekanntschaft ist ohnehin keine notwendige Voraussetzung für Sympathie. Der im Druck gerade einmal einseitige, Fragment gebliebene und erst postum veröffentlichte Text beginnt mit der Nennung der Anklage: Man hat fast überall über das vortreffliche Gedicht des Herrn Raths Schiller die Götter Griechenlands Weh und Ach geschrien, ihn für einen Atheisten und ich weiß nicht für was Alles erklärt und voll heiligen Eifers ihn geradezu der Hölle übergeben. Kluge und unpar­ theyische Köpfe haben größtentheils darüber mit mehr Gerechtigkeit geurtheilet, doch keiner außer Wieland, der einen Wink davon im deutschen Merkure gab, hat sich öffentlich erklärt, um die Frömmler und andre enthusiastische Köpfe, die vielleicht nur ein heiliger Enthusiasmus schnell übereilte, zu beschämen.47

Zwei für die Textsorte der Apologie typische Elemente sind hier zu finden. Zum einen eine ungerechtfertigte Anschuldigung, für die sich bisher niemand fand, der öffentlich dazu Stellung beziehen würde, auch wenn von mehreren Seiten die vorgebrachten Vorwürfe bereits als haltlos angesehen wurden. Gleichwohl

46  Der Ausdruck ‚unpartheisch‘ oder ‚Unpartheylichkeit‘ war eine wahre Modeerscheinung in der zweiten Hälfte des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, seine historische Seman­ tik harrt aber noch der Aufarbeitung. Alle denkbaren (religiösen und nichtreligiösen) Gruppie­ rungen reklamierten den Begriff und damit auch den Standpunkt für sich, ohne dass klar ist, wie man im Einzelnen gerechtfertigterweise dazu kam. Den Begriff als reinen ‚Kampfbegriff‘ anzusehen, scheint mir zu kurz gegriffen, auch wenn ich hier keine weiterführende, detaillierte Analyse anbieten kann. Einen Hinweis auf Abgrenzungsmöglichkeiten diesbezüglich gibt Gott­ sched in seiner Übersetzung des bayleschen Dictionnaires: „So löblich es ist, unparteyisch zu seyn, und die Verdienste einer Person ohne Absicht auf ihre Religion und besondre Meynungen in Glaubenssachen zu erkennen: so gefährlich ist es, die Unparteylichkeit bis auf solche Leute auszudehnen, die selbst so unparteyisch nicht zu seyn pflegen, daß sie Leuten von unserer Reli­ gion gleiches Recht widerfahren ließen.“ Johann Christoph Gottsched: Herrn Peter Baylens His­ torisches und Critisches Wörterbuch. Nach der neuesten Aufl. von 1740 ins Dt. übers.; auch mit einer Vorrede und verschiedenen Anm. […] versehen von Johann Christoph Gottscheden. 4 Bde. Leipzig 1741–1744, hier Bd. 2 (1742), S. 301, Anm. *. 47  Novalis: Apologie von Friedrich Schiller (Anm. 44), S. 103. Novalis spielt hier auf die oben zitierte editorische Notiz Wielands an.

278 

 Michael Multhammer

sich der Kasus als ungerechtfertigt darstellt, hat bislang noch niemand ein Pub­ likum adressiert, diese zu entkräften. Zum anderen ist die Motivationslage, aus der heraus die Vorwürfe zuerst lanciert wurden, eine, die bestimmten Interes­ sen verpflichtet ist und notwendig nur eine tendenziöse Sichtweise auf die Dinge liefert. Die Voreingenommenheit der Ankläger zu benennen ist ein weiterer kon­ stitutiver Zug der Textsorte. Demgegenüber steht die Bekräftigung der Unpartei­ lichkeit des Apologeten, die auch Novalis für sich reklamiert. Er selbst kann für sich in Anspruch nehmen, „wenigstens unpartheyisch zu seyn“:48 Er ist eben kein vermeintlicher Bundesgenosse Schillers, denn er ist weder „Atheist, Naturalist, Deist, Neolog oder strenger Orthodoxe[r]“, er zählt „überhaupt zu keiner Sekte“.49 Einer möglichen Entgegnung, die auf kongruente Gesinnungen zurückgreifen könnte, wird so der argumentative Boden entzogen. Die Einwürfe gewinnen an Gewicht, wenn man nicht von einer Parteigängerschaft ausgehen kann. Novalis bereitet sein Urteil dergestalt geschickt vor, indem er sich den Anschein gibt, die Meinung der Mehrheit zu vertreten und die Anschuldigungen gegen Schiller als Wertungen einer Minderheit darzustellen vermag: Ich glaube also wohl etwas recht zu haben, einen Mann, den Deutschland unter seine ersten Köpfe zählt, […] in einem andern Lichte zu weisen, das nach meiner innigsten Überzeugung das Wahre ist, in dem er betrachtet zu werden verdient.50

Das Wahre, von dem Hardenberg hier überzeugt ist, ist ein ganz anderes Wahres, als das Graf Stollberg und Franz von Kleist gefunden zu haben glauben. Novalis argumentiert, ähnlich wie Schiller in seinem Brief an Körner, bereits aus der Warte des Dichters. Obwohl er den beiden Poeten, als Poeten, ihr Recht zugesteht, sieht er sie in der Beurteilung Schillers irren. Die Apologie richtet sich explizit gegen beide und sie stellt ihnen eine alternative Sichtweise vor Augen. Religiöse Überzeugungen und moralisches Verhalten gehen nicht einfach Hand in Hand, lassen sich nicht in einem Kongruenzverhältnis abbilden. Die sittliche Vorbildfunktion der schönen Literatur, auf die der junge Friedrich von

48  Ebd., S. 103. 49  Ebd. Zur Bestimmung des Begriffes Atheismus in Novalis’ Jugendjahren siehe das Fragment: Kann ein Atheist auch moralisch tugendhaft aus Grundsätzen seyn? In: Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 2: Das philosophische Werk I. Hg. v. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mahl u. Gerhard Schulz. Revidiert von Richard Samuel und Hans-Joachim Mahl. Stuttgart/Berlin 1981, S. 18–19. 50  Novalis: Apologie von Friedrich Schiller (Anm. 44), S. 103.



Die nicht ganz uneigennützige Rettung Schillers 

 279

Hardenberg immer wieder verweist,51 ist nicht an eine Religion gebunden. Viel­ mehr streitet der junge Dichter für die freie Verfügbarkeit der religiösen Motivik für die Poesie auch jenseits einer lobenden Aneignung im Stile Klopstocks. Kon­ sequenterweise spart er die Kritik an der Dichtung der beiden Kontrahenten auch explizit aus: „den Gedichten dieser beyden Herrn [lasse ich] als Poehsie [sic!] alle Gerechtigkeit wiederfahren […].“52 Nun fehlen die Erwiderungen Novalis’ in diesem Fall und man wäre auf Spekulationen angewiesen. Bis zu einer inhalt­ lichen Auseinandersetzung konnte sich Novalis nicht vorarbeiten, die Apologie blieb Fragment. Auf solche Spekulationen will ich hier nicht verfallen, sondern einen weiteren Text heranziehen, der einen Fingerzeig in Hinblick auf das Ver­ hältnis von Religion, Moral und Poesie geben kann.

3 Novalis’ Apologie der Schwärmerey Eine zweite Apologie ermöglicht es, den „geistigen Ausgangspunkte des jungen Dichters im Kontext der aufklärerischen Schwärmerdiskussion“53 zu bestimmen. Wenngleich auch der Titel das Programm deutlich nennt – eine Apologie der Schwärmerey [1789] – so bleibt dieses doch uneingelöst, der Text wohl wiede­ rum nur Fragment, ein abgebrochener Versuch vielleicht, in jedem Fall aber mit einem offenen Ende. Hermann Kurzke, der sich in den 1980er-Jahren als bisher einziger näher mit der Apologie beschäftigte, folgerte aus diesem Umstand, dass für den jungen von Hardenberg „das Interesse an der Behauptung des Ich gegen­ über einer als übermächtig empfundenen Öffentlichkeit stärker ist als das an der Durchdringung einer Sache.“54 Hier möchte jemand in einer breit geführten Debatte, die er als von Einseitigkeiten und auch Kurzsichtigkeiten durchzogen empfindet, Position beziehen. Kurzke geht es dementsprechend auch darum, den jungen Dichter in der breiten Debatte zu verorten, sich seiner Quellen zu versichern und möglichen Lektüren nachzuspüren. Das ist nicht ganz einfach, war doch die Debatte um „Schwärmer“ oder die sog. Schwärmerei ein weites Feld, das sich um 1790 schon mindestens über ein ganzes Säkulum erstreckte. Trennscharf zu bestimmen ist dieser Begriff auch aus heutiger Sicht noch nicht,

51  Alt: Schiller (Anm. 39): „Bezeichnend ist der Nachdruck, mit dem der junge Hardenberg immer wieder auf die sittliche Vorbildfunktion der schönen Literatur hinweist.“ (S. 653) 52  Novalis: Apologie von Friedrich Schiller (Anm. 44), S. 103. 53  Hermann Kurzke: Friedrich von Hardenbergs ‚Apologie der Schwärmerey‘. In: Jahrbuch des freien Deutschen Hochstifts (1983), S. 132–146, hier S. 132. 54  Ebd., S. 134.

280 

 Michael Multhammer

lassen sich doch vielerlei Strömungen, die nicht in strenger Weise dem protes­ tantischen Prinzip ‚sola scriptura‘ folgten, mit gutem Recht darunter subsumie­ ren. Spätestens im 18. Jahrhundert war die Bezeichnung „Schwärmer“ zu einem Kampfbegriff der Orthodoxie geworden, der jegliches Abweichen von der reinen Lehre bezeichnen konnte.55 Kurzke sucht hingegen eher im unmittelbaren zeit­ lichen Umfeld und wird dort – das kann nicht verwundern – vielfach fündig. Seine primären Gewährsmänner, und damit die direkten Quellen für Novalis sind Wieland, Zimmermann und Garve sowie Johann Jacob Engel. Auch wenn die Genannten in erster Linie über ‚Enthusiasmus‘ handeln, so kann Kurzke doch eine gewisse Nähe der Gedanken Novalis’ konstatieren. „Er schwärmt nicht inno­ vativ, sondern nach Vorlagen, die er allerdings nicht gut beherrscht.“56 Dennoch geht die Adaptation nicht ganz auf, wie auch Kurzke freimütig zugesteht, der von ihm gewählte Kontext ist immer wieder einmal anschlussfähig, wenn auch auf Missverständnissen beruhend, alles in allem muss er aber doch gestehen: „Weder auf Wieland noch auf Zimmermann läßt sich seine [Novalis’] Apologie wirklich gründen.“57 Kurzke, so lässt sich festhalten, findet keinen wirklichen Schlüssel für seine Lektüre, am stärksten sind seine Beobachtungen dort, wo er sich der Textgestalt zuwendet. Dies kann als Einstieg dienen, um deutlich zu machen, wie sich Novalis die Apologie zu einer Positionierung im gelehrten Diskurs der Zeit nutzbar macht. Als Aufhänger für seine Apologie fungiert kein tagesaktueller Beitrag, der besonderes Aufsehen erregt hätte, wie im Falle des Angriffs auf Schiller. Sein Gegner ist unbestimmter, aber umso präsenter. „Jeder Gelehrte und Ungelehrte macht sich heut zu Tage zur dringendsten Pflicht, Schwärmerey zu verschreyen und sie mit dem blinden Fanatismus zu verwechseln.“58 Bereits mit dem ersten Satz ist der Anklagepunkt genannt. Er richtet sich gegen die vorherrschende Meinung, die längst nicht mehr nur unter Gelehrten verhandelt wird, sondern sich schon zur opinio communis verdichtet hat. Das ist ein wichtiger Punkt, den es festzuhalten gilt. Hier argumentiert jemand gegen bestehende Konventionen, die, und darauf geht der sogleich folgende Satz näher ein, nicht mehr hinterfragt, sondern als gewisse Wahrheit angenommen werden. Insofern handelt es sich mit der aufgeworfen Frage, ob man Schwärmerei verschreien sollte, in einem ersten

55  Kaspar von Greyerz spricht in diesem Zusammenhang von einer „Privatisierung der Fröm­ migkeit“. Siehe hierzu Kaspar von Greyerz: Religion und Kultur. Europa 1500–1800. Göttingen 2000, S. 285–324. 56  Kurzke: Apologie (Anm. 53), S. 138. 57  Ebd., S. 143. 58  Novalis: Apologie der Schwärmerey In: Novalis: Das dichterische Werk (Anm. 44), S. 100.



Die nicht ganz uneigennützige Rettung Schillers 

 281

Schritt um eine Zumutung für eine nicht näher bestimmte Öffentlichkeit. Der Apologet lässt es sogar auf eine Wette ankommen: Und doch getraut ich mir hundert gegen eins zu setzen, daß die mehrsten Aufklärungsapos­ tel und Vernunftprediger nie recht über Schwärmerey, über die Folgen ihrer Ausrottung und den Nutzen, den sie für die gesamte Menschheit hat, nachgedacht haben, daß die mehrsten Quasi hellen Köpfe sich selbst nicht recht von Grund aus kennen, andere nur nachlallen und mit den tausenderley Arten der Schwärmerey so unbekannt, wie mit dem menschli­ chen Herzen sind. Überhaupt scheinen Denker und Laien (doch erstere noch öfterer) darum oft gegen die Gesetze der Billigkeit zu handeln, daß sie eine Sache eher und scharfsich­ tiger von der schlimmen Seite betrachten und ihre wahren oder scheinbaren Folgeübel geschwinder zu berechnen wissen, als die Wohlthaten und herrlichen Vortheile, die daraus auf der andern Seite für die menschliche Gesellschaft entspringen.59

Der Einstieg in die Apologie ist unglaublich dicht und wartet mit so mancher neuen, ja überraschenden Sichtweise auf. Am deutlichsten fällt die antiaufklä­ rerische Note ins Auge, die sich in Variation gleich zweimal findet: als „Aufklä­ rungsapostel“ und „Vernunftprediger“. Mit dieser impliziten Abgrenzung bezieht Novalis Stellung. Die Vernunft ist, wenn nicht gar ein schlechter, so doch nicht der einzig legitime Ratgeber, wenn es um das Phänomen der Schwärmerei geht. Vielmehr zeitigt eine allzu sehr an der Vernunft orientierte Betrachtungsweise negative Folgen. Das einmal als scheinbar wahr erkannte wird ohne eigene, weitere Prüfung der Umstände tradiert. Es wird lediglich „nachgelallt“, obgleich die Prüfung der Wahrheit komplexer wäre, als es das pauschale und oft wieder­ holte Urteil anzuzeigen vermöge. Mit dieser Erhöhung der Komplexität in der Fra­ gestellung haben wir einen typischen Zug der Apologien und Rettungen vor uns, der insbesondere bei Lessing stark ausgeprägt war.60 Es gibt „tausenderley Arten der Schwärmerey“, mit der die Ankläger so wenig vertraut sind als „mit dem menschlichen Herzen“.61 Mit dieser angekündigten Ausweitung des diskursiven Feldes kann Novalis eine neue Basis schaffen, auf der die Fragestellung zukünftig zu diskutieren sein wird. Dabei gilt es nach dem Autor zu hoffen, dass die Diskussion und letztlich auch die damit einhergehende Beurteilung der Schwärmerei differenzierter und auch gerechter ausfallen mögen. Denn bislang wurde die „Sache eher und scharfsichtiger von der schlimmen Seite betrachte[t]“, mithin also bereits unter

59  Ebd., S. 100 f. 60  Multhammer: Lessings ‚Rettungen‘ (Anm. 24). 61  Novalis: Apologie der Schwärmerey (Anm. 58), S. 100. Der Verweis auf das ‚unbekannte menschliche Herz’ ist ein im 18. Jahrhundert vielfach zu findender Vergleich für eine völlige Un­ kenntnis der Sache. Das Herz ist pars pro toto für den Menschen und dessen Unergründlichkeit.

282 

 Michael Multhammer

bestimmten Vorannahmen. Novalis spricht hier von „Folgeübeln“62 und ruft mit diesem Begriff eine lange Tradition orthodoxer Verketzerungsstrategien auf. Vor allem die lutherischen Glaubenswächter kannten schon seit dem 17. Jahrhundert einen Tatbestand des ‚atheum per consequentiam‘. Gottlosigkeit, so die Idee, die dahintersteht, muss sich nicht zwangsläufig in einem direkten Bekenntnis mani­ festieren, sondern kann auch aus bestimmten Positionen zuallererst erwachsen. Es sind Thesen, die mit einer möglichen Gottlosigkeit, die sich aus ihnen auch folgern lässt, schwanger gehen. Man muss also die Existenz Gottes nicht direkt leugnen, um des Atheismus verdächtig zu sein. Es genügen Ansichten, die in ihrer Konsequenz zu Ende gedacht, ebenso zum Atheismus führen können.63 Hier ist einer Beliebigkeit in der Auslegung freilich Tür und Tor geöffnet. Auf exakt diese Praxis weist Novalis in Bezug auf die Schwärmer hin, die seit beinahe hundert Jahren sich immer wieder mit dem Vorwurf der Gottlosigkeit und allen negativen moralischen Zuschreibungen, die damit einhergehen, konfrontiert sahen. Novalis argumentiert im Folgenden überraschend, wenn er der Schwär­ merei einen genuinen Nutzen für die moralische Bildung des Menschen zuge­ steht oder zumindest deren Möglichkeit in Betracht zieht. Die Argumentation wirkt beinahe (proto-)utilitaristisch ‒ 1789 war Jeremy Benthams Introduction to the Principles of Morals and Legislation erschienen64 ‒ und greift eine Distinktion auf, die in der Debatte als neu bezeichnet werden muss. Selbst wenn, so Novalis, Schwärmerei dem Einzelnen schädlich sein könnte, so gelte es doch den mögli­ chen Nutzen für die Gesellschaft („Menschengeschlecht“) zu bedenken. Ob der Schaden den Nutzen überwiegt, sei noch nicht mit Sicherheit zu bestimmen und so ist es auch ein Gebot der Klugheit, sich mit vorschnellen Urteilen und Pau­ schalisierungen zurückzuhalten. Bis zu diesem Punkt hat Novalis lediglich seine Ausgangssituation aufgezeigt und er will in einem nächsten Schritt, so kündigt er an, die Untersuchung selbst führen, „so unpartheiisch, als es einem Sublunarier möglich ist“.65 Damit ist die Erhebung der Anklage abgeschlossen. In einem nächsten Schritt antizipiert Novalis die Einwürfe, die sein „freymüthige[s] Urteil“66 provozieren könnte. Er legt deutlich dar, dass er sich der Konsequenzen seiner Beurteilung bewusst ist und diese trotz der möglichen

62  Ebd. 63  Siehe hierzu ausführlich Winfried Schröders Kommentar zu Jakob Friedrich Reimmanns Atheistengeschichte. Einleitung. In: Jakob Friedrich Reimmann: Historia universalis atheismi et atheorum falso et merito suspectorum [1725]. Mit einer Einleitung hg. v. Winfried Schröder. Stuttgart-Bad Cannstatt 1992, S. 7–44, hier S. 22 f. 64  Ob der junge von Hardenberg die Schrift Benthams kannte, weiß ich nicht zu beantworten. 65  Novalis: Apologie der Schwärmerey (Anm. 58), S. 101. 66  Ebd.



Die nicht ganz uneigennützige Rettung Schillers 

 283

Unannehmlichkeiten, die ihm daraus entstehen mögen, nicht scheut. Waren mit den „Vernunftprediger[n]“ zunächst stellvertretend neuere Strömungen inner­ halb der lutherischen Orthodoxie, insbesondere die Neologen, benannt, weitet Novalis nun seinen Skopus der Untersuchung auch auf die katholische Seite aus. Mit der Nennung des Ex-Jesuiten Aloys(ius) Merz findet Novalis zielsicher einen Kandidaten, der die Allgemeingültigkeit der Vorwürfe auch über konfessionelle Grenzen hinaus unter Beweis stellt. Merz war einer der fruchtbarsten und schlagfertigsten katholischen Polemiker seiner Zeit, der in zahlrei­ chen populären Flugschriften die streng kirchlichen Grundsätze theils gegen die Protestan­ ten, theils gegen die auch in die katholischen Gebiete Deutschlands immer weiter eindrin­ gende sog. Aufklärung und die damit verwandte jansenistische und josefinische Strömung in der Theologie vertheidigte.67

Merz war ein scharfer Gegner, der sich nie scheute, offen in einen Konflikt zu treten. Insbesondere Freidenker und Schwärmer waren seine bevorzugten Opfer, in ihnen sah er alle Grundübel des vom wahren Glauben abgefallenen Menschen vereinigt,68 ein Produkt für das er letztlich die Aufklärung verantwortlich machte. Novalis erkennt in den Verdammungen Merzens und auch der Aufklärer, gleich welcher Provenienz, eine maßlose Selbstüberschätzung in der Beurteilung am Werk ‒ die genannten Namen erfüllen die Funktion von Chiffren, die distinkte Positionen bezeichnen. Sein „Vorschlag“ erscheint ihm selbst vor diesem Hin­ tergrund als „so lächerlich, so widersinnig, als ein Vorschlag an die Mönche und Cardinäle die Lukaszettelchen und Reliquien zu verbrennen und gegen Wunder und Pfaffenthum zu schreiben.“69 Der Apologet der Schwärmerei rechnet also nicht mit großer Zustimmung für seinen Vorstoß, zu weit sind die Vorurteile in das Bewusstsein der Zeitgenossen eingesickert. Er geht überdies sogar noch einen Schritt weiter, indem er sein Unterfangen in drastischer Bildlichkeit fasst:

67  Siehe hierzu: [Art.] „Merz, Aloisius“. In: ABD 21, S. 480. 68  Es seien hier nur zwei Titel aus einer Vielzahl von Schriften, Predigten und kleineren Trak­ taten genannt: Hat wohl die Hartnäckigkeit und Verwegenheit der Naturalisten, der Freydenker, und aller Unchristen eine ihres gleichen? Augsburg 1786. Sowie: Rede über den Sieg, den der hei­ lige Norbert, Stifter des weltberühmten Prämonstratenser-Ordens, dem verrufenden Schwärmer Tanchelin und seinen Anhängern aberhalten hat. Augsburg 1786. Tanchelm war ein berühmter Schwärmer an der Wende des 11. zum 12. Jahrhundert, der mit seiner Gemeinde in den Nieder­ landen und Belgien lebte. Der Hl. Norbert (Norbert von Xanten) wandte sich gegen diese Häresie und intervenierte gegen die vom Glauben Abgefallenen. Siehe hierzu S. Beulertz: [Art.] „Tan­ chelm“. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 8. Stuttgart/Weimar 1999, Sp. 455. Es gibt zwei bekannte bildliche Darstellungen dieser Szene von Cornelis de Vos. 69  Novalis: Apologie der Schwärmerey (Anm. 58), S. 101.

284 

 Michael Multhammer

Aber troz [sic!] allen diesen wage ich es doch Angesichts der Herrn ins Feld zu schreiten, als ein richtiger Degen meinen Fehdehandschuh hinzuwerfen und schauerte [sic!] nun auch die Menschlichkeit mich an wie den edlen Ritter von Mancha vor den Windmühlen beym ersten Anblick, den Kampf ritterlich zu bestehen.70

Die hier verwendete, bellizitäre Metaphorik kann bei Kenntnis der Gattungs­ geschichte kaum verwundern.71 Schon ungewöhnlicher ist der Rekurs auf das Rittertum, das sowohl mit dem „Fehdehandschuh“ als auch mit der Nennung von Cervantes Romanfigur Don Quichote dem Leser entgegentritt. Das Unange­ brachte dieser Apologie wird auf diese Weise in zweifacher Hinsicht markiert. Zum einen wird hier ein Konzept von Ehre und ‚ehr-würdigem‘ Kampf aufge­ rufen, das gegen Ende des 18. Jahrhunderts als überholt gelten darf. Es ist ein Kampf, der notwendig ausgefochten werden muss, aber schon lange nicht mehr den Regeln und Konventionen des ritterlichen Duells auf Augenhöhe gehorcht. Auch Don Quichotte, der Ritter von der traurigen Gestalt, ist ein Relikt vergange­ ner Zeiten, das sich auf den ersten Blick der Lächerlichkeit preisgibt, gleichwohl aber für eine gerechte Sache kämpft. Diese Doppelbödigkeit der Anspielung darf nicht übersehen werden. Zum anderen wird aber ferner darauf angespielt, dass das Unternehmen einer Rettung dieser Position oder gar die Form der Apologie selbst unzeitgemäß geworden ist. Schon der junge Lessing gestand in der Vorrede zu seinen 1754 erschienen Rettungen freimütig, dass er wohl besser 20 Jahre vor seiner Geburt, in lateinischer Sprache damit an die Öffentlichkeit hätte treten sollen. Die Apologie scheint sich am Ende des 18. Jahrhunderts bereits überlebt zu haben und aus der Zeit gefallen zu sein. Sie ist ein kommunikatives Instrument der Gelehrtenrepublik, die nicht länger in dieser Form existiert. Damit haben sich auch stillschweigend die Regeln des akademischen Diskurses geändert. Im Jahr 1789 eine Apologie zu schreiben, das klingt bei diesem Vergleich unterschwellig auch mit, ist ebenso unzeitgemäß wie die Tugenden eines Ritters im Spätherbst des Mittelalters.72 Gleichwohl will sich Novalis seinen ‚Windmühlen‘ stellen. An dieser Stelle findet sich ein deutlicher Bruch in der Apologie. Die Hin­ wendung an ein allgemeines Publikum, dem die allgegenwärtigen Vorwürfe prä­ sentiert wurden, wird zugunsten einer Ansprache an die eigenen Jugendfreunde

70  Ebd., S. 101 f. 71  Vgl. hierzu Marian Füssel: Die Gelehrtenrepublik im Kriegszustand. Zur bellizitären Me­ taphorik von gelehrten Streitkulturen der Frühen Neuzeit. In: Gelehrte Polemik. Intellektuelle Konfliktverschärfungen um 1700. Hg. v. Kai Bremer u. Carlos Spoerhase. Frankfurt a. M. 2011, S. 158–175. 72  Zeitgenössisch zu Novalis’ Publikation scheint dieser Vergleich nicht ungewöhnlich, denkt man nur an Goethes Götz von Berlichingen, der ebenfalls ein Ritter in einer Zeit ist, die keiner Ritter mehr bedarf.



Die nicht ganz uneigennützige Rettung Schillers 

 285

aufgegeben ‒ das im Text eingeschobene „Scherz bey Seite“73 trennt die beiden Abschnitte. Ganz entgegen der vormaligen Behauptung, die Untersuchung gänz­ lich „unparteyisch“ zu führen, erinnert Novalis seine einstigen Gefährten ‒ wohl zu verstehen als Rollen-Ich ‒ an die glückseligen Zeiten der Jugend und fordert sie auf: „schwärmt ein wenig mit mir“. Die evozierten Bilder dienen Novalis dazu, einen vom Verständnis der Ankläger gänzlich unterschiedenen Begriff der Schwärmerei einzuführen, dem nur schwerlich mit den gleichen Argumen­ ten begegnet werden kann. Wer, so kann man fragen, könnte mit guten Gründen etwas gegen schwärmerische Erinnerungen an die eigenen Jugendzeit vorbrin­ gen? Dieses Vorgehen verdankt sich der neu geschaffenen Basis des Diskurses, die weiter oben im Text vorbereitet wurde. Ein erster Schluss wird aufgrund dieser neuartigen Ausgangslage gezogen: Ihr sehet meine tiefsten Empfindungen, meine innersten Gefühle enthüllt, und mich als Verteidiger einer Sache auftreten, die die Menschheit veredelt, unendlich erhebt, Jünglinge und Greise beseligt, Männer und Weiber; die auf Jahrhunderte hinaus schafft, und doch von vielen für die Feindinn [sic!] der Menschheit und der Glückseligkeit und Moralität ver­ schrien, und als diese mit Witz, Despotismus, blinden Eifer und Laune angegriffen und verfolgt wir.74

Novalis koppelt den Begriff der Schwärmerei an die individuelle, alltägliche Erfahrungswelt und überführt ihn in den Bereich des Anthropologischen. Inso­ fern jeder Einzelne für sich schwärmen kann, wird Schwärmerei zu einem Bau­ stein der conditio humana. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die eingangs als proto-utilitaristische bezeichnete Überlegung nach dem Nutzen der Schwär­ merei genauer in ihrer Reichweite bestimmen. Schwärmerei wird einer Form der  ‒ modern gesprochen ‒ Erinnerungskultur (jedes Einzelnen)75 angenähert, die weitaus weniger auf einen auf Wahrheit begründeten Wissensbegriff zielt. Irrtum wird hier, ganz im Gegensatz zu den Ketzerdebatten der Orthodoxie, weitaus leichter tolerabel und damit auch anschlussfähig. Die so verstandene

73  Novalis: Apologie der Schwärmerey, S. 101. 74  Ebd. 75  Siehe zu diesem Komplex die Überlegungen Aleida Assmanns, die sich mit diesem Begriff der Aufarbeitung des Holocaust nähert. Das Konzept darf aber auch für andere Epochen ange­ nommen werden, die Nachkriegszeit dient der beispielhaften Illustrierung. Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006. Einen kurzen systematischen Aufriss gibt Christoph Cornelißen: Was heißt Erinnerungskultur? Begriff ‒ Methoden ‒ Perspektiven. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003), S. 548–563.

286 

 Michael Multhammer

Schwärmerei ist gerade nicht an einen bestimmten Glauben im Sinne einer Kon­ fession gebunden. Das Programm der Schwärmerei lässt sich nur in der Dichtung einlösen, wie der weitere Abschnitt verrät; Novalis selbst will hierzu zum „Einbildungsschöp­ fer“ werden, wie er ihn in den Worten Pindars vorgebildet findet.76 Die Schwär­ merei ist die „Trösterin der Unglücklichen“ und in ihrer in Poesie überführten Form kann sie die Funktion der Religion übernehmen. Hier schließt sich nun der Kreis, der eingangs mit der Verteidigung Friedrich Schillers und seinen Göttern Griechenlands eröffnet wurde: Beide Apologien weisen in die gleiche Richtung. Die poetisch gestaltete Erinnerung an glückliche Zeiten vermag Trost zu spenden und so ist auch einsichtig, dass es letztlich von nachrangiger Bedeutung ist, ob sich diese glücklichen Erinnerungen nun an der eigenen Jugend oder einer als glücklich imaginierten Vorzeit orientieren. Der Dichter wird zu einer Art Erlöser­ gestalt, die uns gleich noch näher beschäftigen wird. Denn die Apologie ist nicht zu Ende, wenngleich der Text auch keine weiteren Argumente liefert. Als Positi­ onierung im gelehrten Diskurs der Zeit liefert er keinen substantiellen Beitrag, Novalis hat ihn zu Lebzeiten nicht publiziert. Hätte man dieses Unternehmen auf gelehrtem Gebiet umsetzen wollen, wäre eine Vielzahl an Argumenten kritisch zu prüfen und gegebenenfalls zu widerlegen gewesen. Das hat Novalis nicht getan, stattdessen hat er die Diskussion in eine Richtung gelenkt, die eine andere Art der Verteidigung möglich macht: selbst dichtend schöpferisch zu werden und zu schwärmen.

4 Anverwandlung der verteidigten Positionen bei Novalis Was bleibt also von der Apologie Friedrich Schillers und der Apologie der Schwärmerey oder besser gesagt den Versuchen solcher? Inhaltlich fallen die beiden Schriften scheinbar hinter den gegenwärtigen Diskussionstand der Zeit zurück oder setzen zumindest ungewöhnliche Schwerpunkte. Sie sind, zumal wenn man

76  Am Ende der Apologie zitiert Novalis einen Abschnitt aus Pindars 9. Olympischer Ode: Götter! o führ ich stolz auf den Wogen Der Sprache, ein Empfindungsschöpfer Daher und begleitete mich Kühnheit und Unwiederstehliche [sic!] Suada. Novalis: Apologie der Schwärmerey (Anm. 58), S. 101.



Die nicht ganz uneigennützige Rettung Schillers 

 287

den späten Zeitpunkt der Entstehung gegenüber der Anklage im Falle Schillers bedenkt, völlig unspektakulär. Man könnte auch sagen, dass ein wenig mehr Gelassenheit ebenso das Gebot der Stunde hätte sein können. Den Grafen Stoll­ berg beispielsweise hat Goethe um einiges eleganter in die Schranken verwiesen als dies Novalis möglich war. Die Xenie mit dem Titel Der Ersatz ist im Umgang mit dem Kasus wesentlich souveräner und bemisst dem Konflikt nicht mehr Gewicht bei, als ihm vielleicht tatsächlich zukommen sollte: der ersatz Als du die griechischen Götter geschmäht, da warf dich Apollo Von dem Parnasse; dafür gehst du ins Himmelreich ein.77

Aber dennoch verdanken wir dieser kurzen Apologie Friedrich Schillers einen Mehrwert, den das kleine Distichon nicht zu leisten vermag. Wir gewinnen einen Einblick in die Positionierung des jungen Novalis innerhalb einer breit geführten Debatte; die Schriften eröffnen uns ferner die Möglichkeit nachzuvollziehen, wie sich der junge Dichter bestimmte seiner Stoffe aneignete. Unter dem Deckmantel der scheinbaren „Parteylosigkeit“ bezieht der Dichter Stellung. Und dies nicht aus rein altruistischen Motiven, vielmehr sind diese, und ich würde die These aufstellen, nicht nur diese sondern alle Apologien und Rettun­ gen, interessegeleitet. Deutlich wird dieser Umstand aber immer nur, wenn man den weiteren Kontext der jeweiligen Schrift in die Betrachtung miteinbezieht. Im vorliegenden Falle gibt es mehrere Linien, die es sich zu verfolgen lohnt. Die ver­ teidigten Positionen werden im weiteren Werk Novalis’ unmittelbar bedeutsam. Schon die beiden Gedichte Geschichte der Dichtkunst 78 und Geschichte der Poesie79 aus dem Jahre 1789 sind ganz offensichtlich unter dem Eindruck der Lektüre von Schillers Die Götter Griechenlandes entstanden. Eine Verteidigung Schillers ist insofern auch eine indirekte Rechtfertigung der ersten eigenen Ver­ suche im poetischen Feld.80 Ich möchte im Weiteren nicht näher auf diese beiden

77  Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausga­ be. Hg. v. Karl Richter u. a. Bd. 4.1. München 1988, S. 709. Für die Pragmatik der Xenien-Dichtung und deren satirische Funktion siehe Frieder von Ammon: Ungastliche Gaben. Die ‚Xenien‘ Goe­ thes und Schillers und ihre literarische Rezeption von 1796 bis in die Gegenwart. Tübingen 2005, insb. S. 26–49. 78  Novalis: Geschichte der Dichtkunst. In: Ders., Das dichterische Werk (Anm. 44) 1, S. 55. 79  Novalis: Geschichte der Poesie. In: Ebd., S. 56 f. 80  Interessant ist an dieser Stelle eine Notiz Novalis’ aus dem Jahre 1791, die seine Selbsteinschät­ zung und die damit einhergehende enge Bindung an die Gedanken Schillers zu illustrieren vermag. Dass es dem jungen Novalis nicht an Selbstvertrauen gemangelt hat, beweist diese Auflistung:

288 

 Michael Multhammer

frühen Versuche eingehen, sondern der Wirkmächtigkeit und vor allem der Langlebigkeit der in den Apologien angeeigneten Positionen nachgehen. Spuren dieser früh verteidigten Positionen lassen sich auch in den Lehrlingen zu Sais und Die Christenheit oder Europa 1799 wiederfinden,81 so dass deutlich wird, dass erst im erweiterten Kontext die Apologien ihre eigentliche Bedeutung gewinnen. Am deutlichsten tritt uns die Anverwandlung und Neuakzentuierung der Gedanken Schillers in Novalis’ Hymnen an die Nacht entgegen. Vor allem die fünfte Hymne nimmt das Moment der Menschheitsgeschichte in fruchtbarer Weise auf und bereichert es gleichzeitig um eine christliche Perspektive, wenn­ gleich direkte Verweise etwa auf Jesus Christus, Johannes den Täufer oder die Heiligen drei Könige fehlen.82 Die Nähe der beiden Gedichte, und auch die ihnen jeweils zugrunde liegenden Differenzen im Weltbild der beiden Dichter, wurden schon oft beschrieben, so dass man an dieser Stelle darauf verzichten kann. Ich möchte hingegen eine Gemeinsamkeit der beiden Gedichte herausgreifen, die bislang wenig thematisiert wurde. Beide Gedichte nehmen für sich in Anspruch, in der ästhetischen Gestaltung ihres Gegenstandes Trost zu vermitteln. Schiller stützt sich, wie in dem oben zitierten Brief an Körner ersichtlich wird, auf allge­ meine Überlegungen zu den Grundlagen der Ästhetik, und macht deutlich, dass ein Kunstwerk, sofern es sein Ziel erreicht und Schönheit vorstellt, zugleich eine Wahrheit vermittelt, die auch auf den Bereich der Moral ausgreift. Religion oder religiöse Vorstellungen sollen gerade nicht direkt vermittelt werden, sondern im Zuge einer Ästhetisierung im Kunstwerk aufscheinen. Nur so kann das Kunst­ werk seine Funktion erfüllen, über die Wirklichkeit hinaus zu weisen und letzt­ lich dadurch auch Trost spenden. Novalis nähert sich dem Moment des Trostes



Theater: Schiller, Göthe, Lessing, originell. Philosophie: Schiller, Herder, Lessing, Ich selbst, Kant. Jurisprudenz: Pütter. Staatsmann: Herzberg. Dichter: Wieland, Ossian, Klopstock, Göthe, Schiller, Bürger. Geschichte: Schiller, Tacitus, Ich. Roman: originell: Wieland, Ardinghello.

In: Novalis: Das dichterische Werk (Anm. 44) 1, S. 434. 81  So heißt es treffend in Das Christentum oder Europa: „Wo keine Götter sind, walten Ge[s] penster, und die eigentliche Entstehungszeit der europäischen Gespenster, die auch ihre Gestalt ziemlich vollständig erklärt, ist die Periode des Uebergangs der griechischen Götterlehre in das Christenthum.“ Novalis: Das dichterische Werk (Anm. 44) 2, S. 746. 82  Siehe hierzu sehr ausführlich und detailliert Wilhelm Große: Schiller, Novalis, Heine und die Götter Griechenlands – ein poetologischer Diskurs. In: Klassik-Rezeption. Auseinandersetzung mit einer Tradition. Festschrift für Wolfgang Düsing. Hg. v. Peter Ensberg u. Jürgen Kost. Würz­ burg 2003. S. 35–52. Zu Novalis: S. 43–48.



Die nicht ganz uneigennützige Rettung Schillers 

 289

unmittelbarer. Das belegen nicht zuletzt die Umarbeitungen der Hymnen an die Nacht für die im Athenäum abgedruckte Fassung. Die „Neudichtungen“ betreffen Abschnitte der vierten Hymne, die fünfte, sowie Teile der sechsten, also „eben die Partien, die den Trost der gefundenen Weltanschauung als religiöse Überzeu­ gung aussprechen.“83 Mit der Umdeutung der Nacht und der damit verbundenen Vorstellung einer möglichen Erlösung des Menschen gelingt es Novalis, die von Schiller als entgöttert beschriebene Welt neu zu beleben. Es ist wiederum eine Änderung des Blickwinkels, die eine positive Sichtweise erlaubt: Die zentrale Rolle in dieser Umdeutung kommt dabei dem „Sänger“ zu. Diese nicht eindeu­ tig bestimmte Figur in der fünften Hymne nimmt eine Schlüsselstellung ein. Der Sänger ist zweifellos ein Erlöser, der Kunde von einer neuen Zukunft geben kann. Auch wenn die Darstellung des Weges scheinbar eindeutig auf Christi verwei­ sen mag, so wird sein Name an keiner Stelle explizit gemacht ‒ und verbleibt so im Bereich des Unbestimmten. Die eindeutige Füllung der poetischen Vorlage bleibt dem Leser überlassen und gibt Raum für die eigene Interpretation, auch wenn zunächst die Konnotationen eindeutig erscheinen: „Von ferner Küste, unter Hellas heiterem Himmel geboren, kam ein Sänger nach Palästina und ergab sein ganzes Herz dem Wunderkinde:“ Dass hier keine Einzelperson ‒ eben auch nicht Christus ‒ gemeint sein kann, wird bereits dadurch erkenntlich, dass die Geburt „unter Hellas heiterem Himmel“ historisch nicht adäquat wäre. Hier geht es um mehr, um eine Entwick­ lung, die sich nicht allein im Christentum abbilden ließe. Noch weiter ins Allge­ meine zielen die direkt folgenden Verse: Der Jüngling bist Du, der seit langer Zeit Auf unseren Gräbern steht in tiefen Sinnen; Ein tröstlich Zeichen in der Dunkelheit -Der höhern Menschheit freudiges Beginnen. Was uns gesenkt in tiefe Traurigkeit Zieht uns mit süßer Sehnsucht nun von hinnen. Im Tode ward das ewge Leben kund, Du bist der Tod und machst uns erst gesund.84

Auch hier kann man Jesus Christus als Erlöser assoziieren, allein das ist nicht die einzige Lesart. Schon Max Kommerell wies darauf hin, dass die Figur des Sängers auch Novalis’ eigene „symbolische Anwesenheit“ in der Hymne präsentiere,

83  So der Kommentar von Hans Jürgen Balmes in: Novalis: Das dichterische Werk (Anm. 44) 3, S. 68. 84  Novalis: Das dichterische Werk (Anm. 44), hier S. 167.

290 

 Michael Multhammer

„so wie ein Maler sich selbst mit in sein Gemälde hineinmalt.“85 So wird der Dichter selbst zum Verkünder künftiger Erlösung. Er verbindet in seiner Person Menschheitsgeschichte mit den individuellen schwärmerischen Erinnerungen an glückliche Zeiten, die er erneut in der Poesie heraufbeschwören kann. Das deckt sich mit den zuvor erhobenen Befunden. Die Hymnen an die Nacht sind insofern poetologisches Programm und dessen gleichzeitige Einlösung. Wenn der Dichter die Stelle des Erlösers einnehmen kann, hat das auch unmittelbare Folgen für die Konzeption von Religion, wie sie im vorliegenden Fall gedacht werden muss. Novalis ruft hier ein weiteres Schmähwort frühneuzeitlicher orthodoxer Apolo­ getik auf: Synkretismus. Eine klare und nach einer bestimmten, einzig gültigen Lehre ausgerichtete Religion ist in dieser Vorstellung nicht mehr zu finden. Diese damit einhergehenden synkretistischen Tendenzen in der Auslegung der Heilsge­ schichte wurden schon mehrfach herausgestellt. Novalis „hebt […] Differenz von mythischem Deuten und rationalem Erkennen auf, die für Schiller den Fortschritt des Wissens bezeichnet hatte.“86 Insofern setzt Novalis hier gegenüber Schiller gänzlich neue Akzente. Das rationale Erkennen wird nicht mehr als alleiniges Zeichen der Götterferne interpretiert, sondern ordnet sich in den Kosmos heils­ geschichtlicher Vorstellungen als ein Element unter anderen ein. Dem Dichter obliegt es daher diesem Denken den richtigen Platz zuzuweisen. Der Selbstanspruch des Dichters als Erlöser zeitigt gewichtige Folgen, wenn man bedenkt, dass die Poesie die Funktion von Religion übernehmen kann und auch soll. An erster Stelle ist also nach den ethischen Dimensionen des Poeti­ schen zu fragen, die sich notwendig einzustellen haben, wenn eine progres­ sive Universalpoesie ins Werk gesetzt wird. Im § 139 des Allgemeinen Brouillon versucht Novalis das synkretistische Denken zu rechtfertigen. Nach der Frage: „W[as] i[st] Synkretismus?“ ist folgende Antwort unter dem Stichwort der Medizin zu lesen: „Auch Kranckheiten können Beförderungsmittel der Mischung und Universalisirung der nähern Bestandth[eile] der Menschheit (der Nationen und Raçen) werden“. Mit dem Synkretismus verhält es sich also ebenso wie mit der Schwärmerei, unter bestimmten Gesichtspunkten kann er durchaus nützlich sein. Benjamin Crowe weist in diesem Zusammenhang ganz zu Recht darauf hin: „Von Hardenberg […] made ethics the very center of his own philosophical endeavors. For Novalis, the self is never a fixed quantity, but a work in progress, and the moral life is an affair of fashioning the self in a coherent and compelling

85  Max Kommerell: Novalis’ „Hymnen an die Nacht“. In: Gedicht und Gedanke. Auslegungen deutscher Gedichte. Hg. v. Heinz Otto Burger. Halle 1942, S. 202–236, hier S. 232. 86  Hans Jürgen Balmes: Kommentar. In: Novalis: Das dichterische Werk (Anm. 44) 3, S. 73 f.



Die nicht ganz uneigennützige Rettung Schillers 

 291

character.“87 Die moralische Selbstvergewisserung ist ein nicht abschließbarer Prozess sowohl im Leben des Einzelnen als auch in menschheitsgeschichtlicher Perspektive. Und Poesie kann ein Vehikel für diese Selbstvergewisserung sein. Crowe verweist auf den § 687, der diese Sichtweise deutlich artikuliert: „Goodness is morality. Beauty is objektive goodness [‚Güte ist Moralität. Schönheit ist objek­ tive Güte‘].“88 Hier ist Novalis wieder nahe an Schillers Konzeption der ‚schönen Seele‘, wie er sie in Über Anmut und Würde entwickelt hatte. Allein der Weg, wie er zu dieser Überzeugung kommt, ist ein anderer. Für Novalis sind in den Hymnen an die Nacht weniger die kantischen Prämissen leitend für seinen Gedankengang, als eine bestimmte Auffassung von Gott oder Göttlichkeit. Die Gottheit wird zum Muster der Moralität, dem es nachzustreben gilt. Das Ziel ist eine Vergöttlichung des Menschen und der Weg dahin die Poesie. In der Artikulation der „ungeduldi­ gen Erlösungshoffnung“89 wird der Dichter zum Wegbegleiter der Selbstvervoll­ kommnung in Ausrichtung auf das Göttliche. Brechen wir diesen Gedankengang hier ab und versuchen uns an einem Fazit. Hätte sich Novalis die Position Schillers in der Verteidigung seiner Person nicht frühzeitig zu Eigen gemacht, wäre es auch nicht denkbar gewesen, dass er im Nachgang der Beschäftigung mit der Thematik darüber hinausging und neue Wege suchte, eine poetische Lösung der scheinbaren Desillusionierung und Entfremdung des Menschen vom Göttlichen zu formulieren. Gleiches gilt für die Verteidigung der als irrational und mitunter sogar als moralisch gefährlich erach­ teten Schwärmerei. Erst mit seiner deutlichen Parteinahme gegen den allgemei­ nen Zeitgeist stellte er den Blick frei für eine Form der Poesie, die zuvor in dieser Gestalt nicht existiert hatte. Nun lässt sich ein so komplexes literarisches Gebilde wie die ‚Hymnen an die Nacht‘ natürlich nicht auf wenige, noch zaghafte Gehver­ suche des jungen Studenten Friedrich von Hardenberg reduzieren oder sich gar aus ihnen erklären. Das war nicht die Intention der vorliegenden Überlegungen. Vielmehr sollte ein möglicher Modus der Aneignung vor Augen geführt werden, der über weite Strecken der Frühen Neuzeit Gelehrten gute Dienste erwiesen hatte. Die bewusste Parteinahme für bestimmte Positionen, von denen man über­ zeugt war, dass sie nicht verschüttgehen dürfen oder aber erneut ins Gespräch gebracht werden sollten, konnte in Hinblick auf die Textsorte gleichsam ‚insti­ tutionalisiert‘ vorgebracht werden. So unterschiedlich die Motive für eine Vertei­

87  Benjamin D. Crowe: Romanticism and the Ethics of Style. In: Archiv für die Geschichte der Philosophie 91 (2009), S. 21–41, hier S. 22. 88  Ebd., S. 36. 89  Jost Schneider: Zum Verhältnis von Weltliebe und Weltmüdigkeit in den „Hymnen an die Nacht“ des Novalis. In: Colloquia Germanica 24 (1991), H. 4, S. 296–309, hier S. 300.

292 

 Michael Multhammer

digung oder gar Rettung sein konnten, so vielfältig sind auch die Möglichkeiten der eigenen Indienstnahme der neukontextualisierten Positionen. Im Durchgang durch die Kritik, die ihren Platz auch in den Rettungen und Apologien hat, entste­ hen neue Sichtweisen, die mitunter gleichgültig aufgenommen werden können, oder aber als Angriff aufgefasst werden und erneuten Widerspruch provozieren. Novalis’ Hymnen an die Nacht sind ein solcher Fall, der nicht einfach hingenom­ men wurde: Die zunächst folgenden, bereits im Schlegelschen Athenäum abgedruckt gewesenen, Hymnen an die Nacht sind so durchsichtig, klar und gehaltlos, wie ein Sieb. Es ist erstau­ nenswürdig, wie man so, ohne Verstand zu brauchen, schwärmen kann. Mit jeder Periode glaubt man etwas zu fassen und festzuhalten; und wird zuletzt stets überzeugt, daß man einem Dunstgebilde nachgejagt hat.90

In Ansehung seiner Apologie der Schwärmerey müsste Novalis diese postume Kritik an seinen Hymnen an die Nacht wie Musik in den Ohren geklungen haben: Er hatte sein seit Studienzeiten verfolgtes Ziel erreicht. Der schwärmende Dichter wurde zum Verkünder.

90  Anonyme Rezension zu „Novalis Schriften. Herausgegeben von Fr. Schlegel und L. Tieck, 2 Thle.“ in: Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek 90 (1804), H. 1, S. 49–56, hier S. 53 (Hervorh. d. Verf.).

Register Abu Ma’schar   16 Aepius, Franziscus   110 Agathias   17 Albrecht-Birkner, Veronika   142 Alciatos, Andrea   75 Alsop, Vincent   68 Ammersbach, Heinrich   108, 116 Anckelmann, Eberhard   126 f. Andreae, Valentin   89 Anton, Paul 124 Apollodor 77 Apollonius von Tyana 82, 201, 207–209, 211–216, 218–223, 225–228 Archenholz, Johann Wilhelm von 209 Aristophanes 249 Aristoteles 156 Arndt, Johann 123, 125 Arnold, Gottfried VII, 98, 109, 113–117, 119 Arouet, François-Marie 235, 243 f., 254 f. Arpe, Peter Friedrich VII Artus, Gothofred 108 Augustinus von Hippo 104, 237, 250 Averroes 156 Avicenna 173 Bagni, Francesco 90 Balmes, Hans-Jürgen 276 Barberini, Francesco 90 Bahrdt, Carl Friedrich 241 f. Barthes, Roland 32, 45–48 Bayle, Pierre 2 f., 75, 80, 84, 148, 150, 152 f., 160, 180, 190, 196, 208, 215, 235 Beck von Leopoldsdorf, Hieronymus 15 Benkowitz, Karl Friedrich 267–270 Bentham, Jeremy 282 Bernhard, Adam 196 Betke, Joachim 116, 118 Blount, Charles 208 f., 216–222, 228 Boccaccio, Giovanni 161 f. Bodin, Jean 78 Böhm, Benno 256 Böhme, Anton Wilhelm 129 Böhme, Jakob 100, 113, 119 Bogislaw XIV. (Herzog von Pommern) 29 Born, Martin 130

Bourignon, Antonietta 119 Breckling, Friedrich 95, 97–102, 104–120 Brucker, Jacob 150–153 Bruckner, John 99 Bruni, Leonardo 17 Budde, Johann Franz 150 Büchner, Johann Gottfried 196 Bürger, Gottfried August 275 Bulwer, John 64 f. Burtin, Marie-Pierre 22 Caesar, Gaius Julius   180 Caligula (s. Gaius Caesar Augustus Germanicus) Calov, Abraham 113 f. Camerarius, Joachim 24 Cardano, Giralmo VII, 145–199, 218 Carpzov, Johann Benedict 110, 130–132, 137, 139 f., 143 Casaubons, Isaac 78 Castellio, Sebastian 104 Castillon, Jean de 180, 216 Charron, Pierre 190, 217 Cherbury, Herbert of 218 Christ, Johann Friedrich 152 Chytraeus, David 24 Cicero, Marcus Tullius 9 f., 83, 180 Colberg, Ehregott Daniel 110 Constantinus II. (Kaiser) 11 f. Contarenus, Petrus 179 Cremonini, Cesare 90, 180 Crowe, Benjamin 290 f. Crowleys, Robert 56 d’Abano, Pietro 82 de l’Ancre, Pierre 79 Del Rio, Martin Antonio 150 Derks, Paul 258 Desmaizeaux, Pierre 75 Diogenes Laertios 148, 201 Dolet, Etienne 162 Domna, Iulia 213 Eberhard, Johann August 229–261, 270 Edzard, Esdras 126 f. Engel, Johann Jacob 280

294 

 Register

Epikur 70, 180 Erasmus von Rotterdam 112, 161, 243 Ernst II. (s. Ernst der Fromme) Ernst der Fromme (Herzog) 123 Estienne, Henri VII, 17, 23 f. Eunapios von Sardes 16 f. Eusebios von Caesarea 12–14, 20 f., 215 Evagrios Scholastikos 13 Fabricius, Jacob 29 f., 34, 42, 45, 47–49 Feustking, Johann Heinrich 110 Ficino, Marsilio 78 Flacius Illyricus, Matthias 35–37, 40–42, 98, 115–117 Flögel, Carl Friedrich 196 Forster, Georg 271 Franck, Sebastian 104 Francke, Anna 123 Francke, August Hermann 118, 121–143 Francke, Johannes 123 Freytag, Friedrich Gotthilf 159 Friedrich II. (von Preußen) 216 Friedrich III. (Kurfürst von Brandenburg) 95 Friedrich III. (Pfalzgraf) 15 Friedrich III. von Dänemark (König) 102 Gaius Caesar Augustus Germanicus 12 Garasse, François 89 Garve, Karl Bernhard 280 Geber (latinus) 82 Gerson, Johannes 30 Gesner, Johann Matthias 242–248 Gibbon, Edward 11 Gifftheil, Ludwig Friedrich 118 Gloxin, Anna 123 Glykas, Michael 16 Gödelmann, Johann Georg 79 Göschen, Georg Joachim 209 Goethe, Johann Wolfgang (von) 266, 287 Goeze, Johan Melchior 7 Gottsched, Johann Christoph 277 Gregor von Nyssa 16 Großgebauer, Theophil 142 Guerre, Martin 24 Gustav II. Adolf (König)   30 Habermas, Jürgen 60 Haller, Albrecht von 275 Hardenberg, Friedrich von (Novalis) 263–292

Helmont, Franciscus Mercur van 119 Henning, August 212 Henri II. de Mesmes 90 Herder, Johann Gottfried 266, 275 Herodot 23 f. Hesiod 9, 77 Hirsch, Emmanuel 250 Hirschfeld, Magnus 258 f. Hölty, Ludwig 275 Hofstede, Petrus 235, 237 f., 240–242, 249, 252 Homer 9, 180 Horaz 3, 180, 194, 232, 242, 270 Hume, David 182, 209 Hunnius, Nicolaus 27 f. Iselin, Isaak 240 Jordanes 17 Julian (Kaiser) 12, 20–22 Jung, Hermann 108 Kant, Immanuel 75 Karl I. (engl. König) 57 Kiefer-Stuttgart, O. 258 f. Kleist, Franz Alexander von 273 f., 278 Klopstock, Friedrich Gottlieb 268, 275, 279 Klotz, Stephan 98, 101, 114 Körner, Christian Gottfried 271, 278, 288 Knebel, Karl-Ludwig von 266 f. Knoblauch, Karl von 211–213 Knutzen, Matthias 104 Kommerell, Max 289 Konstantin der Große (Kaiser) 10–14, 19–22, 24 Kühlmann, Wilhelm 99 f., 116 Kuhlmann, Quirinus 66, 119 Laktanz (d. i. Lucius Caecilius Firmianus) 215 La Mothe le Vayer, François 80 Lange, Joachim 111 Lange, Nikolaus 126 Larcher, Pierre-Henri 243, 254 f. Lauterbach, Conrad 117 Leade, Jane 119 Leibniz, Gottfried Wilhelm 176–181, 193, 197 f., 239, 251 f. Leland, John 216 Léry, Jean de 83

Register  Lesse, Nicholas 56 Lessing, Gotthold Ephraim VII, 3, 7, 145–153, 155–160, 162–166, 171, 173, 175–177, 180–183, 192–195, 197 f., 232, 239, 242, 266, 275, 281, 284 Livius, Titus 38 Lochner, Jacob Hieronymus 110 Löscher, Valentin Ernst 99, 111, 113 Löwenklau, Johannes 9, 14–25 Löwenstein, Heinrich von 16 Lucian 209, 243 Lull, Raimundus 82 Luther, Martin 23, 34 f., 40, 104 f., 119, 122, 132, 136 f., 139–142 Mandeville, Bernard 233 Marmontel, Jean-François 235 Marquis de Sade, Donatien-AlphonseFrançois 234 Mayer, Johann Friedrich 110 Mazarin, Jules 91 Mazzarino, Santo 22 Meier, Moritz Hermann Eduard 245 f., 258 f. Meinig, Martin 129 Melanchthon, Philipp 9, 15, 21, 28, 35, 104 Ménage, Gilles 157 Menasse, Konstantin 16 Mersenne, Martin 156 Merz, Aloys(ius) 283 Meuschen, Johann Georg 114 Micrælius, Johann 116 Milton, John 162 Moiragenes 214 Molinos, Miguel de 124–128, 132 Moller, Johann 110 Monnoye, Bernard de la 156–162 Montaigne, Michel de VII, 190, 217 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de la Brède et 257 Morhof, Daniel Georg 156, 186, 189, 196 Müller, Johann 111 Multhammer, Michael 55 Muret, Marc-Antoine 161 Naudé, Gabriel VII, 75–94, 152 f., 179 f. Nero (röm. Kaiser) 12, 184, 191 Nicéron, Jean Pierre 150 Nicolai, Friedrich 229

 295

Nietzsche, Friedrich 247 Novalis (s. Friedrich von Hardenberg) Numa Pompilius 82 Orsini, Fulvio 17 Ovid 223 Paracelsus (d. i. Philippus Theophrastus Aureolus Bombastus von Hohenheim) 82 Perna, Pietro 17 Peter, Christian 131 Petri, Friedrich 117 Philostrat 211, 213 f., 216, 221, 226 Photios 12, 14, 17 Picker, Johannes 117 Pindar 9, 286 Plinius d. J. 10, 180 Plutarch 23 Poiret, Pierre 119 Polybios 11 Pomponazzi, Pietro 78, 162, 179 f. Praetorius, Anton 80 Prévot, Jacques 88, 90 Prokop von Caesarea 17, 196 Pucci, Francesco 162 Pufendorf, Samuel von 119 Pythagoras 81 Rabelais, François 161 Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von 256–258 Rango, Conrad Tiburtius 110 Raynaud, Théophile 150 Rechenberg, Adam 132 Redinger, Thomas 16 f. Reichard, Georg 42–44 Reimmann, Jacob Friedrich 150, 196 Richer, Pierre 83 Rothe, Johann 119 Rousseau, Jean-Jaques 146, 202–204, 206, 209 Rüpke, Jörg VII Sambucus, Johannes 16 Sandhagen, Kaspar Hermann 125 Schiller, Friedrich 263–293 Schlegel, August Wilhelm 271 Schröder, Winfried 217 Schwarz, Friedrich Immanuel 157, 160

296 

 Register

Schwenckfeld, Caspar von 104 Schwendi, Lazarus von 15, 23 Scaliger, Julius Caesar 146, 151, 154–160, 164 Semler, Johann Salomo 250–252 Septimius Severus (Kaiser) 213 Simons, Olaf 201 Sokrates 9, 174, 180, 229–231, 233–235, 237, 241–244, 246–252, 254, 256–259, 270 Sossianus Hierokles 125 Sparn, Walter 230 Spee, Friedrich von 80 Spener, Philipp Jakob 116, 126–128, 132 Spengler, Lazarus 122 Spenser, Edmund 264 Spinoza, Baruch de 209 Spizel, Gottlieb 112 f., 116 Stenzel, Hartmut 90, 92 f. Stolberg-Stolberg, Graf Friedrich Leopold zu 269–273 Stolterfoht, Jacob 27–31, 33 f., 37–50 Sträter, Udo 142 Tillotson, John 181 f. Theognis 9 Tolle, Huybert 110 Vanini, Lucilio 180, 218 Vergil 9, 82, 180 Villanova, Arnaldus de 82 Vogt, Johann 156–158, 162

Voltaire (s. François-Marie Arouet) Walber, Karl-Josef 217 Warner, Johann 30 Weigel, Valentin 110 Wesley, John 126 Wieland, Christoph Martin 201–228, 264, 274 f., 277, 280 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 259 Wilcock, James 57 Winckler, Johann 126 Wolf, Hieronymus 15 Wolf, Johann Christoph 114 Wolff, Johannes 115 f. Wollstonecraft, Mary 66 f. Wohlrab, Martin 256 Xanthopulos, Nikephoros Kallistos 14 Xenophon 16, 231 Xylander, Wilhelm 15 Zeller, Eberhard 126 Zierotin, Karl von 16 Zimmermann, Johann Jakob VII, 280 Zosimos 10–25