Übergänge ohne Brücken: Kants Erhabenes zwischen Kritik und Metaphysik [Reprint 2015 ed.] 9783050070797, 9783050026893

In einer präzisen Rekonstruktion des Kantischen Begriffs des Erhabenen wird gegen das metaphysische Verständnis der Trad

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German Pages 207 [208] Year 1996

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Übergänge ohne Brücken: Kants Erhabenes zwischen Kritik und Metaphysik [Reprint 2015 ed.]
 9783050070797, 9783050026893

Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
Zur Einführung – Die Rezeption und Entwicklung des Kantischen Erhabenen
Das Metaphysisch-Erhabene – Von Schiller bis Vischer
Hehre Geistigkeit und kraftvolle Schönheit – Zwischen Idealismus und Nationalsozialismus
Nach dem Zweiten Weltkrieg – Adorno und Weischedel
Die Renaissance des Erhabenen
Rückkehr zu den Texten – Ziele einer Reaktualisierung des Kantischen Erhabenen
1. Das Erhabene in der Kritik der Urteilskraft
2. Zur systematischen Stellung des Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft
Exkurs: Der Übergang in den geschichtsphilosophischen Schriften und das Erhabene
3. Das Erhabene in der Kritik der reinen Vernunft
Statt einer Zusammenfassung – Kants Erhabenes zwischen Kritik und Metaphysik
Literaturverzeichnis
Namenverzeichnis

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Christine Pries Übergänge ohne Brücken

Acta humaniora Schriften zur Kunstwissenschaft und Philosophie

Christine Pries

Übergänge ohne Brücken Kants Erhabenes zwischen Kritik und Metaphysik

Akademie Verlag

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufiiahme Pries, Christine: Übergänge ohne Brücken : Kants Erhabenes zwischen Kritik und Metaphysik / Christine Pries. - Berlin : Akad. Verl., 1995 (Acta humaniora) Zugl.: Diss., 1993 ISBN 3-05-002689-8

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1995 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 - 1984 bzw. der europäischen Norm ISO TC 46. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Art & Act Computing Wawrzyniak, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Meinen Eltern

Inhalt

Vorbemerkung

9

Zur Einführung - Die Rezeption und Entwicklung des Kantischen Erhabenen

11

Das Metaphysisch-Erhabene - Von Schiller bis Vischer

15

Hehre Geistigkeit und kraftvolle Schönheit - Zwischen Idealismus und Nationalsozialismus

26

Nach dem Zweiten Weltkrieg - Adorno und Weischedel

32

Die Renaissance des Erhabenen

35

Rückkehr zu den Texten - Ziele einer Reaktualisierung des Kantischen Erhabenen

38

1. Das Erhabene in der Kritik der Urteilskraft

43

1.1. Die Absetzung des Erhabenen vom Schönen

44

1.2. Das Mathematisch-Erhabene

46

1.3. Das Dynamisch-Erhabene

55

1.4. Das Verhältnis des Erhabenen zur Moralität

60

1.4.1. Apriorität durch Achtung?

63

1.4.2. Einbildungskraft und Vernunft im Erhabenen und in der Achtung 1.4.3. Reine Erhebung? Zum Verhältnis der beiden Phasen im Gefühl des Erhabenen

66

2. Zur systematischen Stellung des Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft

72 76

2.1. Die Aufgabe(n) der Kritik der Urteilskraft

77

2.2. Der .erhabene Übergang' - Die Einheitsproblematik und das Erhabene

83

2.3. Der .schöne Übergang' und das Erhabene

92

2.3.1. Das intellektuelle Interesse am Schönen

96

8

Inhalt 2.3.2. Das Genie 2.3.3. Das Schöne als Symbol des Sittlich-Guten 2.4. Die Teleologie und das Erhabene

97 102 106

Exkurs: Der Übergang in den geschichtsphilosophischen Schriften und das Erhabene

115

3. Das Erhabene in der Kritik der reinen Vernunft

123

3.1. Die transzendentale Ästhetik und die Synthesen der Einbildungskraft

125

3.1.1. Die transzendentale Ästhetik in ihrem Verhältnis zur Ästhetik der dritten Kritik

125

3.1.2. Die „dreifache Synthesis"

129

3.1.3. Die Synthesen in der dritten Kritik

133

3.1.4. Die Sprengung der Synthesen durch das Erhabene

137

3.2. Die kosmologischen Antinomien und der Widerstreit in der transzendentalen Dialektik

142

3.2.1. Die Antinomien

143

3.2.2. Der Widerstreit

146

3.2.3. Die kritische Auflösung des Widerstreits

148

3.2.4. Das Erhabene als Gefühl des Widerstreits

156

3.3. Der Gerichtshof der reinen Vernunft

162

3.3.1. Die kritische Vorgehensweise

163

3.3.2. Vernunft im Übergang - Zum Verhältnis von Kritik und Metaphysik

174

3.3.3. Das Erhabene als kritisches Gefühl

182

Statt einer Zusammenfassung - Kants Erhabenes zwischen Kritik und Metaphysik

193

Literaturverzeichnis

196

Namenverzeichnis

205

Vorbemerkung

Die vorliegende Studie ist die gekürzte Fassung einer Arbeit, die im November 1993 vom Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften I der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen wurde. Mein Dank gilt Jean-François Lyotard, dessen Vorlesung über Kants Erhabenes den Anstoß zu meinen eigenen Überlegungen gab, der Studienstiftung des deutschen Volkes, die mein Projekt großzügig unterstützte, und meiner Doktormutter Margherita von Brentano, die trotz ihrer schweren Krankheit meine Arbeit bis zum Abschluß betreute. Zu besonderem Dank bin ich Wolfgang Welsch verpflichtet, dem ersten kritischen Leser der Arbeit, dessen Buch Unsere postmoderne Moderne die Formulierung von den „Übergängen ohne Brücken" entliehen ist. Den Freundinnen und Freunden in Hamburg, Berlin und Frankfurt am Main möchte ich für Treue, Ermunterung und vor allem für die Gleichmut danken, mit der sie meine Unsozialität ertrugen; mein besonderer Dank gilt Rüdiger Zill, ohne dessen Hilfe die Arbeit wohl nie den Weg vom Bildschirm aufs Papier gefunden hätte. Nina Steffens und Andy Ziesmann danke ich dafür, daß sie mich immer wieder daran erinnerten, daß es ein Leben nach (und vor) der Dissertation gibt. Nicht zuletzt gilt mein Dank Gerd Giesler vom Akademie Verlag für sein Vertrauen in meine Arbeit; Thomas Egel sorgte durch vorsichtiges Nachfragen dafür, daß aus der Arbeit endlich ein Buch wurde. Ohne es zu wissen, hat mein kleiner Sohn Johannes ebenfalls zur zügigen Drucklegung der Arbeit beigetragen; Axel danke ich für die Fürsorge und das großzügige Opfer der eigenen Arbeitszeit. Mehr als Dank schulde ich meinen Eltem, ohne deren Liebe und Toleranz diese Arbeit niemals zustandegekommen wäre. Ihnen sei dieses Buch gewidmet.

Zur Einführung - Die Rezeption und Entwicklung des Kantischen Erhabenen

Die ästhetische Kategorie des Erhabenen war lange Zeit so ungebräuchlich und ist auch heute noch so wenig erforscht, daß sie - trotz ihrer gegenwärtigen Renaissance - weder im breiteren philosophischen Bewußtsein besonders präsent noch dem ästhetischen Diskurs im engeren Sinne ohne weiteres geläufig ist. Das gilt in verstärktem Maße, wenn es, wie hier, um das Kantische Erhabene gehen soll. Kants „Analytik des Erhabenen" in der Kritik der Urteilskraft scheint angesichts des Gesamtkorpus der Kantischen Texte ein so marginaler Teil zu sein, daß sie auch von Kant-Spezialisten kaum zur Kenntnis genommen worden und bei Kant-Kennern wenig bekannt ist. Zudem klingt der Begriff des Erhabenen altertümlich. Auf Anhieb weckt er Assoziationen von feudaler Größe, faschistoidem Bombast oder metaphysischer Erhebung, die seine Aktualisierung von vornherein zu verbieten scheinen. Daher ist eine ausführlichere Einführung in die Thematik geboten, die gleichsam den Hintergrund der folgenden Studie bildet. In der historischen Begriffsentwicklung des Erhabenen lassen sich vier große Einschnitte verzeichnen: die erste uns bekannte Schrift zum Erhabenen, das wahrscheinlich aus dem ersten Jahrhundert stammende und erst im 16. Jahrhundert wiederentdeckte pseudo-longinische Traktat Peri hypsous; dessen freie Übertragung ins Französische durch Nicolas Boileau-Despréaux im Jahre 1674; Edmund Burkes A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful von 1757 und Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft. Kants Äußerungen zum Thema spielen eine besondere Rolle. Einerseits bildet seine „Analytik des Erhabenen" in der Kritik der Urteilskraft von 1790 den Abschluß einer Diskussion, die nahezu ein ganzes Jahrhundert in Atem gehalten hatte. Andererseits legte sie den Grundstein für die moderne Auseinandersetzung mit der Kategorie des Erhabenen, an dem sich nicht nur seine direkten Nachfolger reiben mußten, sondern an dem auch in der gegenwärtig zu beobachtenden Renaissance des Erhabenen kein Theoretiker vorbeikommt. Kants „Analytik des Erhabenen" kann als eine Art „Kreuzungspunkt"1 in der Begriffsgeschichte des Erhabenen gelten. Diese prädominante Stellung von Kants „Analytik des Erhabenen" hat ihre Gründe: Sie thematisiert die Grundtopoi der .älteren' Diskussion, ohne dabei der Einseitigkeit der .französisch-rhetorischen' Linie zu verfallen, die das Erhabene allein als Kategorie der Kunst im Rahmen einer Regelpoetik betrachtet und großen Einfluß auf die deutschen Tragö]

Wie Victor Bäsch einmal von Kants Ästhetik im allgemeinen gesagt hat (Essai critique sur de Kant [1896], 2. erw. Auflage, Paris 1927. 607).

l'esthéthique

12

Zur Einführung

dientheorien hatte, und ohne der .englischen' Linie eindeutig den Vorzug zu geben, die das Gefühl des Erhabenen angesichts der Natur untersucht und dabei eine physiologischsensualistische Richtung verfolgt. Kant behandelt das Thema erstmals in seiner ganzen philosophischen Tragweite 2 . D e s weiteren sind die Theorien des Erhabenen vor (und nach) Kant durch eine auffällige Unschärfe in der Begriffsbestimmung und eine eigentümliche Ambivalenz in der Bewertung des Erhabenen gekennzeichnet 3 . Kant kommt das Verdienst zu, den Begriff des Erhabenen so scharf w i e möglich umrissen zu haben 4 . Er entwickelt ein Instrumentarium, auf dessen Basis sich weiterarbeiten läßt. Ich kann im Rahmen dieser Einführung keinen vollständigen Abriß der Begriffsgeschichte des Erhabenen geben 5 , sondern will mich auf die Entwicklung des Begriffs nach Kant beschränken 6 . D a sich nahezu alle Theoretiker des Erhabenen nach Kant - im Positiven w i e im Negativen, direkt oder indirekt - auf diesen beziehen, schließt diese Betrachtung sowohl die großen Ästhetiker des 19. und 20. Jahrhunderts ein, die das Erhabene im allgemeinen thematisieren, als auch die Kant-Exegeten im engeren Sinne, denen ausschließlich an einer Auslegung der Kantischen Schriften g e l e g e n ist. M e i n besonderes 2 Vgl. Hans Wagner, Aesthetik der Tragödie. Von Aristoteles bis Schiller, Würzburg 1987, 79. Ob es Kant allerdings gelingt, beide Linien zu vermitteln, wie vielfach angenommen wird, ist zu bezweifeln - dazu hat Kant sich gegenüber der Kunst zu reserviert gezeigt. Eine Vermittlung scheint mir nur auf dem Hintergrund heutiger Kunstkonzeptionen und im Kontext einer anderen Interpretation des Kantischen Erhabenen möglich, als sie bisher üblich war. Eine solche Interpretation will ich in der folgenden Arbeit versuchen. 3 Einen ersten Eindruck davon sucht meine „Einleitung" zu dem Sammelband Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, hrsg. v. Christine Pries, Weinheim 1989, S. 1-30, zu geben. 4 Daß dabei freilich eine gewisse (dem Erhabenen eigene) Ambivalenz bestehen bleibt, liegt, wie wir noch sehen werden, weniger an Kant als in der Natur der Sache. 5 Einen Überblick über die Wiederentdeckung von Pseudo-Longinus' Peri hypsous und die Folgen in Frankreich gibt Théodore A. Litman, Le Sublime en France (1660-1714), Paris 1971. Die englische Diskussion dokumentieren Samuel H. Monk, The Sublime. A Study of Critical Theories in XVIII-Century England, erstmals veröffentlicht 1935, rep. University of Michigan 1960, und Walter John Hippie Jr., The Beautiful, The Sublime, & The Picturesque in Eighteenth-Century British Aesthetic Theory, Southern Illinois University Press 1957. Die Auseinandersetzungen um das Erhabene im deutschsprachigen Raum behandelt Carsten Zelle, .Angenehmes Grauen '. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert, Hamburg 1987. Vgl. auch Karl Vietor, „Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur" (1937) in: ders., Geist und Form, Bern 1952, S. 234-266. Litman und Zelle stellen ausführliche Bibliographien auf. Auch bei Monk und Hippie finden sich zahlreiche Literaturangaben. Einen allgemeinen Überblick über die Begriffsgeschichte des Erhabenen, gerade auch was seine antiken Wurzeln angeht, geben A. Müller/G. Tonelli/R. Homann, Artikel „Erhaben, das Erhabene", in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2 (1972), Sp. 624-635; vgl. auch C. Kallendorf/C. Zelle/C. Pries, Artikel „Das Erhabene", in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2 (1994), Sp. 1357-1389. Ausführliche Literaturangaben macht auch Christian Begemann, der das Thema unter dem eingeschränkteren Blickwinkel der Angst betrachtet, vgl. Christian Begemann, Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung, Frankfurt/M. 1987. Eine allgemeine Biographie zum Erhabenen wurde auch im Anhang von Pries (Hrsg.), Das Erhabene, a.a.O., S. 349-383 abgedruckt. 6 Kants Verhältnis zu Burke und anderen Vorgängern in Sachen des Erhabenen wird vornehmlich in einigen älteren Arbeiten untersucht. Vgl. etwa George Candrea, Der Begriff des Erhabenen bei Burke und Kant, Phil. Diss. Straßburg 1894, oder Heinrich Jakob Hofmann, Die Lehre vom Erhabenen bei Kant und seinen Vorgängern, Phil. Diss. Halle 1913. Zu den metaphysischen (und theologischen) Voraussetzungen der erhabenen Naturerfahrung auch in bezug auf Kant vgl. Ruth Groh/Dieter Groh, Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur, Frankfurt/M. 1991 (bes. 92ff.).

Die Rezeption und Entwicklung

13

Augenmerk gilt dabei denjenigen Autoren, die unsere heutige Sicht des Erhabenen besonders geprägt haben. Auch wenn ich damit sicherlich einigen Autoren Unrecht tue, will ich versuchen, in exemplarischer Auswahl eine Rezeptionslinie herauszuarbeiten, die die Perspektive deutlich macht, aus der bzw. gegen die ich Kant interpretiere. Andere, an sich bedeutende, für das Erhabene aber nicht relevante ästhetische Ansätze muß ich dabei außer acht lassen. Auch die im engeren Sinne literaturwissenschaftlichen oder kunsthistorischen Analysen des Erhabenen, in denen es um literatur- bzw. kunstinterne und nicht primär um philosophisch-ästhetische Fragestellungen geht, müssen hier ausgeklammert bleiben. Die Rezeptionsgeschichte des Kantischen Erhabenen ist in mehrerer Hinsicht eigentümlich. Zu ihr ist zugleich wenig und viel zu sagen: Zu ihr ist wenig zu sagen, weil dem Erhabenen nach Kant nur noch eine kurze Blütezeit beschieden war. Spätestens seit Hegels Degradierung des Erhabenen zur Vorstufe des Schönen und seiner Bestimmung der Ästhetik als „Philosophie der schönen Kunst" rückte das Erhabene in den Hintergrund des Interesses. Das macht sich auch in der Kant-Literatur bemerkbar. Während bei einem Autor wie Kant ansonsten über einen Mangel an Sekundärliteratur bei keinem Thema zu klagen Anlaß besteht, ist Kants Theorie des Erhabenen ein auffälliges Desiderat der Forschung. Zwar gibt es einige Monographien und einige kürzere Aufsätze zum Thema; auch findet sich in fast jedem Kommentar zur Kritik der Urteilskraft eine Art .Pflichtkapitel ' zum Erhabenen; aber insgesamt kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß diese Einlassungen, die (trotz der teilweise großen Diskrepanz der Erklärungsmuster) entweder affirmativ die Hauptpunkte von Kants „Analytik des Erhabenen" in Erinnerung rufen oder Kants Thematisierung des Erhabenen scharf kritisieren, kaum zur eigentlichen Erforschung und Klärung des Erhabenen bei Kant beitragen7. Aufmerksamkeit und Interesse der jeweiligen Interpreten galten allein dem Schönen, aus dessen Blickwinkel das Erhabene - wenn überhaupt - betrachtet wird. Weder die großen KantAusleger noch die großen Ästhetiken des 19. und 20. Jahrhunderts nahmen das Erhabene in seiner Eigenständigkeit systematisch ernst. Während Kant selbst das Erhabene entsprechend einer im 18. Jahrhundert üblichen Dichotomie8 gleichberechtigt neben dem Schönen erörterte, stand es nachher stets im Schatten des Schönen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß das Erhabene - wenngleich in untergeordneter Stellung - in fast allen ästhetischen Systemen des 19. und 20. Jahrhunderts Er-

7 In der Sekundärliteratur finden sich viele interessante Einzelhinweise, die aber systematisch merkwürdig folgenlos bleiben. 8 Die Carsten Zelle sehr treffend von einer „doppelten Ästhetik" sprechen läßt, vgl. Carsten Zelle, „Schönheit und Erhabenheit. Der Anfang doppelter Ästhetik bei Boileau, Dennis, Bodmer und Breitinger", in: Pries (Hrsg.), Das Erhabene, a.a.O., S. 55-73.

14

Zur Einführung

wähnung fand und unterschwellig (oft unter dem Namen des Schönen) in viele Dichtungsund Kunsttheorien dieser Zeit einging9. Das Erhabene wurde, um auf einen Ausdruck von Adorno zurückzugreifen, „latent"10. Diese Latenz ist charakteristisch für die Rezeption des Kantischen Erhabenen. Sie ist Teil einer Rezeptionslinie, die bereits mit Schiller einsetzt und sich bis in die heutige Zeit weiterverfolgen läßt - einschließlich der Kritik, die ein so verstandenes Erhabenes heute erfahren muß. Und zu dieser Rezeptionslinie ist viel zu sagen. Sie beruht auf einem tiefen Mißverständnis. Man kann sie - selbst dort, wo die betreffenden Autoren Kant gar nicht widersprechen, sondern ihm zustimmen wollen - als Geschichte der .Vereindeutigung' des Kantischen Erhabenen lesen, durch die der Begriff eine Bedeutung annahm, die sich so bei Kant nicht findet und die überdies erklärt, warum die Kategorie des Erhabenen nach kurzer Blütezeit mehr und mehr in Vergessenheit geriet und in einem ebenfalls gegenüber Kant veränderten Schönheitsbegriff aufging. Diese Vereindeutigung, an der sich Kritik wie Zustimmung festmachten, bestand grob gesagt darin, daß das Erhabene meta-physisch, als Gefühl der .Erhebung' über alles Sinnliche interpretiert wurde. Nahezu alle Interpreten in der Kant-Nachfolge meinten, das Kantische Erhabene stehe in engem Verhältnis zur Metaphysik oder müßte zumindest, wo Kant dem zu widersprechen scheint, in diese Richtung modifiziert werden. Damit nahm der Begriff des Erhabenen diejenige Bedeutung an, die in dem umgangssprachlichen Ausdruck .erhaben', etwa in der Wendung jemand sei ,über etwas erhaben', anklingt: daß er sich von der betreffenden Sache nicht affizieren lasse11. Diese Interpretation des Erhabenen möchte ich die metaphysische nennen: Aus dem Erhabenen wird das „Metaphysisch-Erhabene". 9 Gar nicht zu reden von seiner Präsenz in den Künsten: Vom Schauerroman über Baudelaire und Jünger bis zum Horrorfilm läßt sich eine „Ästhetik des Schreckens" beobachten, wie sie Karl-Heinz Bohrer vorbildlich herausgearbeitet hat (Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, München/Wien 1978, rep. Frankfurt/M ./Berlin/Wien 1983) und die sich mit dem Erhabenen in Verbindung bringen läßt - ebenso übrigens wie die damals üblichen monumentalen Ölgemälde, die Musik von Wagner und Richard Strauss (vgl. dazu Hans-Georg Nicklaus, „Das Erhabene in der Musik oder Die Unbegrenztheit des Klangs", in: Pries [Hrsg.], Das Erhabene, a.a.O., S. 217-232), deren Bombast seine Entsprechung auch in der Architektur findet. Diese Manifestationen des Erhabenen in der Kunst sind für mich freilich nur von .negativer' Bedeutung, weil ich - gerade angesichts faschistoider Ausuferungen solcher Kunst - für einen Begriff des Erhabenen plädieren möchte, der eine ganz andere Art Kunst hervorbringen würde. 10 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1973, 294. 11 Diese Bedeutung ist etymologisch im Deutschen naheliegend, weil „erhaben" das alte 2. Partizip von „erheben" ist, das neuhochdeutsch durch „erhoben" ersetzt wurde: „Es bedeutet zunächst .emporragend' (z.B. von Bergen; heute noch im Fachwort .erhabene Arbeit' für .Relief') und entwickelte dann, bes. seit dem 18. Jh., die übertragene Bed. .vornehm, hochstehend', die vor allem im sittlichen und ästhetischen Bereich gebraucht wird" (Duden, Bd. 7, Das Herkunftswörterbuch, Mannheim 1963). - Die griechische Entsprechung des Erhabenen hypsos hatte dagegen schlicht „Höhe" bedeutet. Die lateinische Übersetzung sublim legt eine ganz andere Inteipretation nahe als .das Erhabene': Ihre Wurzel sub-limen zeigt keine Überhebungstendenzen, weil es um ein ,unterhalb-der-Grenze' geht (vgl. Menge-Güthling, Lat.-Dt.lDt.-Lat. Handschulwörterbuch, Berlin 1911, ó.Aufl , S. 723). Der Duden (Bd. 5, Das Fremdwörterbuch, Mannheim 4.Aufl. 1982) übersetzt sublim daher heute mit ,,a) nur mit großer Feinsinnigkeit wahrnehmbar; nur einem sehr feinen Verständnis od. Empfinden zugänglich; b) von Feinsinnigkeit, feinem Verständnis, großer Empfindsamkeit zeugend". Von einem Verlassen der Ebene der Sinnlichkeit ist hier keine Spur, ganz im Gegenteil: es geht um feine Unterscheidungen im Rahmen gerade der sinnlichen Wahrnehmung. Einige Autoren haben daher vorgeschlagen, statt vom „Erhabenen" heute vom „Sublimen" zu reden (vgl. Walter-

Das Metaphysisch-Erhabene

15

Das Metaphysisch-Erhabene - Von Schiller bis Vischer Wem das Erhabene bei Kant nicht ohnehin bloß als ein „Kants innersten Neigungen entsprechende Begriff" galt12, den man getrost vernachlässigen könne, auf den wirkte die „Analytik des Erhabenen" doch zumindest „erkünstelt"13, als „Fremdkörper" innerhalb der Kritik der Urteilskraft14 - als eine historisch bedingte „Fleißarbeit"15, „ernsthaft verdreht" und „logisch unhaltbar"16, mit der es Kant „eigentlich gar nicht Ernst gewesen sei"17, ein „Afterthought", der „modernen Sensibilitäten" nichts mehr zu sagen vermöge18. Von daher ist es nicht verwunderlich, daß die weitere Begriffsentwicklung in Richtung auf ein „Metaphysisch-Erhabenes" von Anfang an mit einer scharfen Kritik an Kant einherging. Diese Kritik äußert sich in der Hauptsache in drei Punkten: Sie richtet sich erstens gegen Kants Kunstferne sowie den formalen und subjektiven Charakter seiner Ästhetik im allgemeinen19; entsprechend wurde das Erhabene nach Kant stärker auf die Kunst bezogen; es wurden als „erhaben" nicht mehr allein Gefühle des Subjekts bezeichnet, sondern auch Objekte20. Damit ist die Vorstellung von der „Darstellbarkeit" und der „Machbarkeit" des Erhabenen verbunden. An die Stelle von Kants formalen Kriterien treten zudem inhaltliche Bestimmungen. Zweitens wird Kants kritische Unterscheidung von Mathematischund Dynamisch-Erhabenen zugunsten des Dynamisch-Erhabenen aufgelöst. Daraus folgte Reese Schäfer, „Vom Erhabenen zum Sublimen ist es nur ein Schritt. Moderne und postmoderne Ästhetik bei Jean-François Lyotard", in: ders./Bemhard H.F. Taureck [Hrsg.], Jean-François Lyotard, Cuxhaven 1989, S. 169-183, hier 178). Das halte ich jedoch für keine Lösung, da durch die Nähe zum „Sublimieren" neue Mißverständnisse naheliegen. Es wäre zwar interessant, das psychoanalytische Sublimieren mit dem Erhabenen in Verbindung zu bringen (in jüngster Zeit wird das auch getan, vgl. z.B. Thomas Weiskel, The Romantic Sublime. Studies in the Structure and Psychology of TYanscendence, Baltimore und London, 1976); auch weist das chemische „Sublimieren" im Sinne von „Trennen" eine Verbindung mit dem kritischen Verfahren Kants auf, doch finden beide Ansätze ihre Grenze darin, daß hier ebenfalls eine .Erhebung' auf eine hohem Ebene von der Sinnlichkeit (den Trieben in der Psychoanalyse, dem festen Zustand in der Chemie) zum Geist (der Kultur in der Psychoanalyse, dem gasförmigen Zustand in der Chemie, vgl. Fremdwörterbuch, a.a.O.), also genau in die Richtung impliziert ist, die ich metaphysisch nenne. Ich plädiere statt dessen für die Unterscheidung eines Kritisch-Erhabenen und eines Metaphysisch-Erhabenen. 12 So die Einschätzung von Alfred Baeumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft (1923), rep. Darmstadt 1975, 253. 13 So bereits 1869 Julius Hermann von Kirchmann in seinen Erläuterungen zu Kant's Kritik der Urteilskraft, Berlin 1869,2. durchges. Aufl. Leipzig oJ. , 36. 14 Rudolf Odebrecht, Form und Geist. Der Aufstieg des dialektischen Gedankens in Kants Ästhetik, Berlin 1930,150. 15 R. W. Bretall, „Kant's Theory of the Sublime", in: George Tapley Whitney/David F. Bowers (Hrsg.), The Heritage of Kant, Princeton 1939, S. 377-402, hier 379. 16 Francis X. J. Coleman, The Harmony of Reason. A study in Kant's Aesthetics, Pittsburgh 1974,120. 17 Erich Adickes, Kants Systematik als systembildender Faktor, Berlin 1887,166f. 18 So Paul Guyer noch 1979 in seinem berühmten Buch Kant and the claims oftaste, Cambridge, Mass. und London 1979,399f. (Anm.). Diese Meinung hat Guyer allerdings inzwischen anscheinend revidiert; jedenfalls hat auch er mittlerweile einen Aufsatz über das Erhabene geschrieben (vgl. Paul Guyer, „Kant's Distinction between the Beautiful and the Sublime", in: Review of Metaphysics 35 [1982], S. 753-783). 19 Hinzu kommt die Kritik an Kants wirkungsästhetischem, statt produktionsästhetischem Ansatz sowie an der unhistorischen statischen Ausrichtung der ästhetischen Kategorien. 20 Das ermöglichte, weil es nun ,das Erhabene' im Sinne eines erhabenen Objekts gab, eine Art Substantialisierung des Erhabenen.

16

Zur Einführung

eine sinnlichkeitsfeindliche Moralisierung des Erhabenen, die nicht nur eine Hinwendung zu .erhabenen Handlungen', insbesondere in der Tragödie, und damit eine .Aktivierung' des Erhabenen bedeutete, sondern auch dazu führte, daß das Erhabene gänzlich dem Gebiet der Ethik zugeschlagen wurde. Der Hauptwiderspruch der Interpreten trifft aber drittens Kants ästhetische Grundunterscheidung zwischen Schönem und Erhabenem selbst. Im folgenden wurde daher eine Annäherung des Erhabenen an das Schöne bzw. seine Verschmelzung mit dem Schönen vorgenommen. Vereinfachend könnte man sagen, daß das Kantische Schöne in der Folge durch das Erhabene zu einem .Superschönen' erweitert wurde, das sich wie das Schöne bei Kant durch reine Lust, Harmonie und Einheitlichkeit auszeichnen sollte. Das Erhabene wurde dieser Schönheit untergeordnet. Für das Erhabene im engeren Sinne bedeutete diese .Beschönigung' neben dem Verlust seiner Eigenständigkeit eine Harmonisierung und Positivierung von einem in sich disharmonischen zweipoligen Gefühl zu einer entweder einfachen, vom Schönen nicht mehr unterschiedenen Lust oder zu einem (in letzter Konsequenz ebenso lustvollen) Aufstieg ins Übersinnliche. Aus diesen Kritikpunkten entwickeln sich die Hauptcharakteristika der metaphysischen Auslegung des Erhabenen. Von Schiller und Herder als Kants direkten Nachfolgern läßt sich eine nahezu homogen aufsteigende Linie in Richtung auf eine Metaphysik des Erhabenen beobachten, die mit Friedrich Theodor Vischer - den man als letzten großen Theoretiker des Erhabenen bezeichnen kann, der unsere Sicht dieses Begriffs nachhaltig geprägt hat - ihren Abschluß findet und sich immer weiter von Kant entfernt. Die aus dieser Linie resultierenden Modifikationen, die von Kant aus gesehen alle miteinander zusammenhängen und sich bei den einzelnen Autoren unterschiedlich stark ausgeprägt finden, führten dazu, daß das Erhabene nach und nach nicht nur seine philosophische Tragweite, sondern auch die begriffliche Schärfe einbüßte, die es bei Kant erlangt hatte, mehr noch: Kants Erhabenes schien für alle möglichen Spekulationen offen zu sein. Schiller gilt gemeinhin als einer der bedeutendsten Kant-Ausleger und hat als solcher unser Bild vom Kantischen Erhabenen entscheidend mitgeprägt. Er bezieht das Gefühl des Erhabenen, das Kant zufolge allein von Naturphänomenen ausgelöst wird, auf die Kunst, indem er versucht, es für seine Tragödientheorie (und -praxis) fruchtbar zu machen21. Schiller glaubt, das Gefühl des Erhabenen könne auch durch Kunstwerke (und überdies moralisch verläßlicher als durch Naturphänomene) ausgelöst und so in den Bereich menschlicher Verfügbarkeit eingeholt werden. Damit geht eine vorsichtige Objektivierung des Erhabenen einher22. 21 Damit steht er nicht allein, hatte das Erhabene als Versuch einer Erklärung des „Vergnügens an tragischen Gegenständen" doch schon vor Kant im Zentrum der Tragödiendiskussion gestanden, so etwa bei Mendelssohn und Lessing. Dabei knüpfen die betreffenden Theoretiker an die hundert Jahre zurückliegende französische Dramen- und Geniediskussion an. Kants Konzentration auf das Naturerhabene, die von den Engländern herrührt, und sein Ausschluß der Kunst bilden zu dieser Zeit im deutschen Sprachraum eindeutig die Ausnahme. Zur Entwicklung der Tragödientheorie vor Kant vgl. Georg-Michael Schulz, Tilgend, Gewalt und Tod. Das Trauerspiel der Aufklärung und die Dramaturgie des Pathetischen und Erhabenen, Tübingen 1988; zur Entwicklung nach Kant vgl. Peter Szondis Versuch über das Tragische, Frankflirt/M. 1961. 22 Ulrich Tschierske (Vernunftkritik und ästhetische Subjektivität. Studien zur Anthropologie Friedrich Schillers, Tübingen 1988) vermerkt, daß Schiller gegenüber Kant „den Umkreis der erhabenen Gegenständlichkeit beträchtlich erweitert" (ebd., 40) und daß gerade die Objektivierung des Erhabenen diejenige „Integration des Erhabenen in die menschliche Welt" ermöglicht, die es „darstellungsfähig" macht (ebd.).

Das Metaphysisch-Erhabene

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Zweitens deutet sich bereits bei Schiller, der vordergründig die Kantische Unterscheidung von Schönem und Erhabenem aufrechtzuerhalten scheint, eine Verschmelzung beider Kategorien bzw. eine .Aufhebung' beider in einem .höheren Schönen', in einem „Idealschönen" an23, die für die Romantik charakteristisch werden sollte. Die (für die Kunst notwendige) .schöne' Darstellung nimmt den (nach Kant undarstellbaren) Bezug des Erhabenen zum Übersinnlichen in sich auf: „Der letzte Zweck der Kunst" ist daher nach Schiller „die Darstellung des Uebersinnlichen"24. Neben die Harmonisierung der bei Kant noch krassen (und unversöhnten) Diskrepanz zwischen sinnlicher Darstellung und übersinnlichem Bezug, die diese .Beschönigung' des Erhabenen bedeutet, tritt bei Schiller - als dritte Modifikation - eine deutliche Bevorzugung dessen, was Kant das Dynamisch-Erhabene genannt hatte25. Im Rahmen seines Kunstbezugs und seiner Tragödientheorie allemal einleuchtend, interessiert Kants Mathematisch-Erhabenes, das von übergroßen Naturphänomenen ausgelöst wird und in das die theoretische Vernunft involviert ist - Schiller nennt es „theoretisches Erhabenes" - , Schiller weniger als das „praktische Erhabene", in das Schiller Kants Dynamisch-Erhabenes, in dem die praktische Vernunft anläßlich mächtiger Naturphänomenen ins Spiel kommt, umbenennt26 und das er auch als „Erhabenes der Handlung" bezeichnet27. Während Schiller nur mehr oder weniger zaghaft aus der Perspektive des .Praktikers' versucht, die Kantische Dichotomie von Schönem und Erhabenem und andere Kantische Oppositionen zu relativieren, geht Herder sehr viel deutlicher, teilweise mit beißendem Spott ans Werk. Seine Kalligone ist von vornherein als Kant-Kritik angelegt. Der Gegensatz von Schönem und Erhabenem ist Auslöser und vorrangige Zielscheibe seiner Einlassung: „nicht Gegensätze sind das Erhabne und Schöne, sondern Stamm und Aeste Eines Baums; sein Gipfel ist das erhabenste Schöne."28 Schönheit" ist für Herder, wie es schon in den Kritischen Wäldern von 1769 heißt, ,/ias Hauptwort aller Ästhetik"29. 23 Friedrich Schiller, „Ueber das Erhabene", in: Schillers Werke. Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hrsg. v. Benno von Wiese, Bd. 21, Weimar 1963, S. 38-54, hier 43. Vgl. auch ebd., 53. 24 „Ueber das Pathetische", Nationalausgabe, Bd. 20, Weimar 1962, S. 196-221, hier 196. 25 Diese Verschiebung ist auch den Schillerinterpreten verschiedentlich aufgefallen, vgl. z.B. Renate Homann, Erhabenes und Satirisches. Zur Grundlegung einer Theorie ästhetischer Literatur bei Kant und Schiller, München 1977, 61f. - Man findet sie übrigens auch schon bei zwei heute weniger bekannten Zeitgenossen, die damals populäre Versionen des Kantischen Erhabenen aufstellten, bei denen Mathematisch- und Dynamisch-Erhabenes zwar nur verschwimmen, das Resultat aber eindeutig zugunsten des DynamischErhabenen ausfällt. Vgl. Friedrich Wilhelm David Snell, „Ueber das Gefühl des Erhabenen nach Kants Kritik der Urteilskraft", in: J.H. Abicht/FJ. Bom, Neues philosophisches Magazin. Erläuterungen und Anwendungen des Kantischen Systems bestimmt, Leipzig 1790, Bd. 2,4. Stück, S. 426-465 und anscheinend schon unter Einbeziehung Schillers Christian Friedrich Michaelis, „Ueber das Erhabene", in: Eunomia, Februar 1801. Bd. 1, S. 102-122. 26 Friedrich Schiller, „Vom Erhabenen", in: Nationalausgabe, Bd. 20, a.a.O., S. 171-195, hier 172. 27 „Ueber das Pathetische", a.a.O., 211. Zum Verhältnis von Kant und Schiller in bezug auf die Moral vgl. Jeffrey Barnouw, „The Morality of the Sublime: Kant and Schiller", in: Studies in Romanticism 19 (1980), S. 497-517. 28 Johann Gottfried Herder. Kalligone. Vom Erhabnen und vom Ideal, 3. Theil, Leipzig 1800, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. XXII. hrsg. v. Bernd Suphan, Hildesheim 1967, S. 225-281, hier 240. 29 Kritische Wälder. Oder Betrachtungen über die Wißenschaft und Kunst des Schönen, in: Sämtliche Werke, Bd. IV, a.a.O. S. 1-198, hier 46.

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Neben einer Objektivierung des „Erhabenen", das Herder zwar als Gefühl anerkennt30, letztlich aber den Natur- und Kunstobjekten als Attribut zuspricht, die es auslösen31, nimmt auch Herder eine Harmonisierung und Positivierung des Erhabenen gegenüber Kant vor. Alles, was bei Kant die Negativität des Erhabenen ausmacht - seine Zweckwidrigkeit, Maßlosigkeit, Undarstellbarkeit und die ihm eigentümliche Unlust - , wird von Herder systematisch eliminiert. Er wendet sich gegen die „Mühe" im Kantischen Erhabenen32: „Das wahre Gefühl des Erhabnen kennt diese Unruhe nicht; es hebt und weitet sich mit seinem Gegenstande, bis es ihn umfaßt"33; erhabne Gefühle stehen nicht drunten und krümmen sich hinauf: sie fühlen sich droben."34

Obwohl Herder ausdrücklich gegen ein metaphysisches Verständnis des Erhabenen einzutreten scheint, derzufolge eine intelligible Welt sich über die sinnlich-natürliche erheben würde35, um in „absolute Höhe umherzuschwindeln"36, leistet er diesem metaphysischen Abheben paradoxerweise durch seine Purifikation des Erhabenen Vorschub37, zumal auch er Kants Mathematisch-Erhabenes und dessen Trennung vom DynamischErhabenen kritisiert38 und allein das Dynamisch-Erhabene gelten läßt: „die sittlich-Erhabensten der Menschen uns das Vortrefflichste, das Edelste als Gesinnung und That darstellten."39 Die bei Schiller nur angedeutete und bei Herder explizit behauptete Einebnung der Kantischen Unterscheidung von Schönem und Erhabenem zugunsten eines .höchsten Schönen' wird in der Romantik von den Brüdern Schlegel systematisch ausgearbeitet. Anliegen und Ziel des nun aufkommenden Idealismus ist die eine große (und .schöne') Synthese nicht nur von Schönem und Erhabenem, sondern auch von Sinnlichem und Übersinnlichem bzw. Endlichem und Unendlichem in der Kunst. Sie kommt einer Amalgamierung der kritischen Differenzierungen gleich. So heißt es bei Friedrich Schlegel·. „Die Elemente der Philosophie sind Bewußtseyn, und das Unendliche. Die beyden Elemente machen eine geschlossene Sphäre, in deren Mitte Realität liegt. Zwischen den beyden Elementen Bewußtseyn und dem Unendlichen muß Synthesis gedacht werden. Hieraus ergibt sich für unsere Philosophie ES IST ALLES IN EINEM, UND EINS IST ALLES."41

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Vgl. Kalligone, a.a.O., 243. Kants Beschränkung des Erhabenen auf das Subjekt bezeichnet Herder als „Despotismus" (ebd., 248). Ebd., 243. Ebd., 253. Ebd., 261. In der Kantischen Verbindung mit der Unangemessenheit „erhebt sich ds Erhabene so wenig, als der Mann im Monde" (ebd., 255). 35 Vgl. ebd., 246. 36 Ebd., 256f. 37 Formulierungen wie: „Schwebend über dem Chaos messe ich und bin nicht meßbar" (ebd., 249) belegen dies. 38 Vgl. ebd., 247. 39 Ebd., 276. Zum Verhältnis von Herder und Kant vgl. Günther Jacoby, Herders Kalligone und ihr Verhältnis zu Kants Kritik der Urteilskraft. Teil III: Die Probleme der Kalligone in Kants Kritik der Urteilskraft, Phil. Diss. Berlin 1906. 40 „Philosophische Vorlesungen" (Zur Transzendentalphilosophie. 1800/1801), in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. v. Emst Behler. Bd. 12, München/Paderbom/Wien 1964, S. 1-105, hier 6f.

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Dieses Eine findet Ausdruck im Gefühl des Erhabenen, weil wir in ihm „Analogie mit dem Bewußtseyn des Unendlichen" finden41. In weiteren kleinen Aufsätzen Schlegels, die später unter dem Titel Kritische Schriften zusammengefaßt worden sind, wird dann das Verhältnis des so verstandenen Erhabenen zum Schönen deutlich: „Schön ist, was zugleich reizend und erhaben ist."42 Diese „Erhabne Schönheit"43 geht mit einer gewissen Harmonievorstellung einher, und das Erhabene wird nun mit großen Taten verbunden: „Das Streben nach dem Unendlichen sei die herrschende Triebfeder in einer gesunden tätigen Seele: eine Reihe großer Handlungen wird das Resultat sein. Gebt ihr noch ein ebenso mächtiges Streben nach Harmonie, und das Vermögen dazu: so wird das Gute und das Schöne sich mit dem Großen und Erhabnen zu einem vollständigen Ganzen vermählen"44.

In der „Erhabne Höhe der Poesie"45 spiegelt sich das „Chaos alles Erhabenen, Schönen und Reizenden"46. In August Wilhelm Schlegels Kunstlehre von 1801 findet sich eine direkte Auseinandersetzung mit der Kritik der Urteilskraft. Kants „Analytik des Erhabenen" hält Schlegel für „weit befriedigender als die des Schönen", denn „es ist darin eine Beziehung aufs Unendliche ausgesprochen, die wir auch behaupten"47. Wogegen Schlegel sich wendet, ist „die scharfe Absonderung vom Schönen"48. In den Kunstwerken ließe sich nämlich beobachten, daß „das Schöne und Erhabene sich dergestalt durchdringt, daß man nicht sagen kann, welches von beiden vorwaltet"49. Auch hier führt also die Hinwendung zur Kunst zu einer Verschmelzung von Schönem und Erhabenem. Das liegt vor allem daran, daß Kant die von den Romantikern anvisierte (und eigentlich zum Mathematisch-Erhabenen gehörende) Unendlichkeit vornehmlich an (scheinbar) formlosen Gegenständen festgemacht hatte. Da die damalige Konzeption von Kunst keine Formlosigkeit im strengen Sinne erlaubte50, bedeutete das Insistieren auf der Kunst, ähnlich wie bei Schiller, automatisch eine Hinwendung zur schönen Form, die das Erhabene in sich aufnimmt: „Die zur Erhabenheit nötwendige Grenzenlosigkeit findet

41 Ebd., 7. 42 Friedrich Schlegel, Kritische Schriften, hrsg. v. Wolfdietrich Rasche, 3. Aufl. München 1971, 38 (Athenäum-Fragment); vgl. entsprechend 176 und 572 über gotische Architektur: „Für mich sind nur Gegenden schön, welche man gewöhnlich rauh und wild nennt; denn nur diese sind erhaben, erhabene Gegenstände können schön sein." 43 Die übrigens auch das Häßliche umfaßt, vgl. ebd., 195. 44 Ebd., 280. Die Entgegensetzung von Schönem und Erhabenem als Entgegensetzung von Einheit und Zweiheit, die sich in den Vorlesungen zur Entwicklung der Philosophie von 1804/1805 findet (a.a.O, S. 106-480, hier 384) und Kant mehr ensprechen würde, ist selbst nach der Meinung von Schlegel-Kennern eine Ausnahme (vgl. Dietrich Mathy, „Zur frühromantischen Selbstaufhebung des Erhabenen im Schönen", in: Pries [Hrsg.], Das Erhabene, a.a.O., S. 143-160, hier 146). 45 Kritische Schriften, a.a.O., 641. 46 Ebd., 127. 47 August Wilhelm Schlegel, Die Kunstlehre, in: ders., Kritische Schriften und Briefe, hrsg. von Edgar Lohner, Stuttgart 1963, 65. 48 Ebd., 65f. 49 Ebd., 66. 50 Das dürfte wohl auch ein Grund dafür gewesen sein, daß Kant die Kunst von seiner Betrachtung des Erhabenen ausgeschlossen hat.

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innerhalb streng begrenzter Formen statt."51 Daraus schließt Schlegel, daß sich bei Kant „nicht Ersprießliches" für eine „Theorie der Kunst" finde, mit „welchem erhaltenen Bescheide wir also höflichst von ihm Abschied nehmen wollen"52. Den eigentlichen Grund für die Unersprießlichkeit Kants sieht Schlegel darin, „daß er überhaupt mit dem transzendentalen Idealismus auf halbem Wege stehengeblieben ist"53. Seiner Meinung nach hat Schelling „zuerst angefangen, die Grundlinien einer philosophischen Kunstlehre mit dem Prinzip des transzendentalen Idealismus ausdrücklich in Verbindung zu setzen"54. „Nach Schelling", so schließt Schlegel seine Betrachtungen zum Erhabenen ab, „ist das Unendliche endlich dargestellt Schönheit, bei welcher Definition das Erhabene, wie es sich gehört, schon darunter begriffen ist. Hiermit bin ich vollkommen einverstanden, nur möchte ich den Ausdruck lieber so bestimmen: Das Schöne ist eine symbolische Darstellung des Unendlichen."55

Diese typisch romantische Symbolisierung des Unendlichen im Endlichen läßt das Erhabene im Schönen aufgehen und bedeutet sein Ende als eigenständige ästhetische Kategorie. Das ist auch bei dem eben so gelobten Schelling offensichtlich: Schelling ist es um ein absolutes Schönes „an und für sich" zu tun, das sich in der Nichtabsolutheit des einzelnen Kunstwerks als ein Schönes im engeren Sinn und ein Erhabenes unterscheiden läßt56. Dieser Unterschied beruht auf dem jeweils unterschiedlichen Verhältnis von Endlichem und Unendlichem. Das Erhabene als „Symbol des Unendlichen als solchem"57 bedeutet die „Einbildung des Unendlichen ins Endliche", während Schönheit die ,,Einbildung des Endlichen ins Unendliche" ist58. Im Absoluten entfällt ein solch (perspektivischer) Unterschied: „Das Erhabene in seiner Absolutheit begreift das Schöne, wie das Schöne in seiner Absolutheit das Erhabene begreift. Das Erhabene, inwiefern es nicht schön, wird aus diesem Grunde auch nicht erhaben seyn" (und umgekehrt)59.

Diese Einebnung der Differenzen betrifft auch alle vormaligen Bestimmungen des Schönen und Erhabenen, sehr prominent sichtbar an Form bzw. Unform: Die betreffenden Bilder sind „absolut formlos oder absolut geformt , denn beides ist wieder eins und dasselbe"60. Auch hier verliert das Erhabene wieder seine Negativität61; aus der Nicht-

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Ebd. Ebd., 80. Ebd. Ebd. Ebd., 81. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Kunst, Unveränderter Nachdruck der aus dem handschriftlichen Nachlaß herausgegebenen Ausgabe von 1859, Darmstadt 1976, 122. Grundlage für die Philosophie der Kunst sind Schellings Vorlesungen aus den Jahren 1802 und 1803. Ebd., 108. Ebd., 105. Ebd., 112. Ebd., 109. Das ist vornehmlich der dialektischen Einebnung der Differenzen zu verdanken, typisch etwa: „Nur in dem Maximum des Leidens kann das Princip offenbar werden, in dem kein Leiden ist, wie alles überall in seinem Entgegengesetzten objektiv wird" (ebd., 111).

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Anschaubarkeit des Absoluten bei Kant wird bei Schelling eine „ästhetische"62 bzw. eine „höhere Anschauung"63; das Erhabene wird ruhig und „versöhnt" wie und durch das Schöne64. Auch hier erfolgt die Verschmelzung von Schönem und Erhabenem also auf Kosten der Eigenarten des Erhabenen. Auch Schelling, der immerhin ein Erhabenes der Natur in Erwägung zieht65, votiert eindeutig für ein Erhabenes der Kunst, weil nur hier und nicht etwa in der immer beschränkten Natur66 das „wahre" Unendliche67 objektiv zum Ausdruck kommt: „nur in der Kunst das Objekt selbst erhaben , da es die Natur nicht an sich ist, weil hier die Gesinnung oder das Princip, durch welches das Endliche zum Symbol des Unendlichen herabgesetzt wird, doch nur in das Subjekt fällt."68

In diesem Zitat wird bereits ein weiterer wichtiger Entwicklungsschritt deutlich. Durch den .erhabenen' Prozeß verliert das Endliche an Wert, es wird „herabgesetzt", vernichtet „durch sein Beispiel"69. Wert hat allein das (jenseitige) Absolute oder Unendliche, das das Endliche „unterjocht"70. Solger zieht bei allen sonstigen Ähnlichkeiten zu Schelling (weil es diesem in Solgers Augen an „dialektischer Ausbildung" gebricht71) die Schraube der Dialektik noch weiter an. Für das Erhabene bedeutet das, daß es mehr und mehr dem Schönen vorgeschaltet und in ein hier theologisch geprägtes Jenseits verfrachtet wird72. Das Erhabene bei Solger „findet statt, wenn wir erkennen, wie sich die Idee durch ihre Thätigkeit in die Welt herab begiebt. Wir erkennen in dem Erhabenen die werdende Schönheit."71

Ästhetik wird definiert als „philosophische Lehre vom Schönen" bzw. Kunstlehre"74.

„philosophische

62 Ebd., 107; vgl. auch ebd., 109: „Das Chaos ist die Grundanschauung des Erhabenen." „Die Grundanschauung des Chaos selbst liegt in der Anschauung des Absoluten hier begegnen wir jener Identität der absoluten Form mit der Formlosigkeit." 63 Ebd., 107. 64 Ebd., 112. 65 Vgl. ebd., 106. 66 Vgl. ebd., 110. 67 Ebd., 106. 68 Ebd., 112. 69 Ebd., 98. 70 Ebd., 106. 71 KWF Solger, Vorlesungen über Aesthetik, Leipzig 1829,42. Bei Schelling komme zwar „das speculative Prinzip zum Vorschein" (ebd.), aber es ist in Solgers Augen noch zu formal und nicht empirisch genug (ebd.. 41 ). Der „Widerstreit" z.B. von Subjektivität und Objektivität sei zwar bei Schelling schon aufgehoben, aber noch nicht in der Erscheinung (ebd.), was gezeigt hätte, „wie sich die intellektuelle Anschauung in dem Einzelnen darstellen könne" (ebd., 42). 72 Durch die Entgegensetzung von Schönem und Erhabenem widerlege Kants Lehre sich selbst (vgl. ebd., 38) - eine Lehre übrigens, die „unendlichen Schaden gestiftet hat" (ebd., 39) und „noch heut zu Tage, nicht zum Vortheil der Sache, höchst allgemein verbreitet ist" (ebd., 30f.). 73 Ebd., 84. 74 Ebd.. 1.

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Dies erinnert bereits an Hegel, der das Verhältnis von Schönem und Erhabenem zwar anders gewichtet als seine Vorgänger, im Grunde aber zu einem ähnlichen Resultat gelangt. Hegels Vorgehensweise hat zwar den Vorteil, daß das bei den Brüdern Schlegel, bei Schelling und Solger immer unklarer werdende Verhältnis von Schönheit im engeren und im weiteren Sinn und Erhabenem wieder eindeutiger wird. Das Erhabene verliert dadurch jedoch endgültig seine Bedeutung und seine Verankerung in der Sinnenwelt. Indem Hegel das Schöne im engeren (Kantischen) Sinn kritisierend und gleichsam .abschaffend' - das Erhabene explizit zur Vorstufe des Schönen (im weiteren Sinn), das als „sinnliches Scheinen der Idee" den höchsten Wert seiner Ästhetik ausmacht, erklärt, vollzieht er denjenigen Schritt, der die weitere Rezeption, nicht nur von Kants Ästhetik, sondern auch des Erhabenen wohl am entscheidensten geprägt hat. Im Gegensatz zu Kant geht Hegel in seiner Ästhetik von vornherein nicht von subjektiven sinnlichen Eindrücken, die Naturphänomene (oder Kunstwerke) auf das menschliche Gemüt machen, und von zwei verschiedenen ästhetischen Kategorien aus. Seine Ästhetik versteht sich vielmehr als Wissenschaft des Kunstschönen und sucht objektiv zu bestimmen, was Schönheit in der Kunst sei. Da er neben dieser Konzentration auf Schönheit und Kunst den Verlauf der Ästhetik - ebenfalls im Gegensatz zu Kant - als historischen Prozeß versteht und entwickelt, muß die Bewertung des Erhabenen, das Hegel im Prinzip ähnlich beschreibt wie Kant, ganz anders ausfallen als bei Kant. Das Erhabene spielt in Hegels Ästhetik eine sehr viel geringere Rolle als in allen vorausgegangenen Ästhetiken: Es wird - als Vorstufe zum klassischen Schönen - der symbolischen Kunstform zugeordnet, wobei es weniger für sich, als bereits mit Blick auf das Schöne betrachtet wird75. Entsprechend spärlich sind die genaueren Bestimmungen des Erhabenen. Wie seine Vorgänger konzentriert Hegel sich ganz auf die Diskrepanz von Endlichem und Unendlichem bzw. Absolutem im Erhabenen, wobei er Kant zunächst getreuer zu sein scheint als die Romantiker. Wie bei Kant treten Form und Inhalt im Erhabenen offen auseinander76. Diese Diskrepanz muß Hegel, dessen Ästhetik auf das Schöne im Sinne einer völligen Durchdringung von Form und Inhalt zielt, als ungenügend beurteilen. Er schlägt das Erhabene (wie er meint mit Kant, der das Erhabene als „Geistesgefühl" bezeichnet) „als Grundlage des Geistigen"77 ganz auf die Seite der Vernunft bzw. des Geistes, so daß dem Gefühl jeglicher sinnlicher Anteil abhanden kommt.

75 In dem Maße, daß Peter Szondi schreiben kann, das Erhabene sei eine „Stufe in der Entwicklung des Schönen, auf der das Schöne sich noch nicht mit seinem Begriff deckt" (Poetik und Geschichtsphilosophie I. Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. Hegels Lehre von der Dichtung [1974], 3. Aufl. Frankfurt/M. 1980, 388). 76 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, Bd. 13: Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt/M. 1986, 539. 77 Ebd., 466. Diese Bestimmung des Erhabenen läßt es lohnend erscheinen, nach dem Erhabenen auch in anderen, nicht-ästhetischen Schriften Hegels, wie etwa der Phänomenologie des Geistes, zu suchen, wobei die Relevanz des Erhabenen für weiterreichende philosophische Fragestellungen herausgearbeitet werden könnte. Einen ersten Schritt in diese Richtung unternimmt Paul de Man, „Hegel über das Erhabene", in: ders., Die Ideologie des Ästhetischen, hrsg. v. Christoph Menke, Frankfurt/M. 1993, S. 59-79.

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Erhabenheit ist für Hegel „das denkende, absolute, sinnlichkeitslose Eine", „das Allgemeine an und für sich, vorgestellt als die objektive Macht über das gesamte Dasein"78. Das Absolute wird im Erhabenen so mächtig vorgestellt, daß die endliche sinnliche Form nicht wie im Idealschönen davon durchdrungen wird, sondern dagegen verschwindet79, wobei es sich, da das Ganze objektiv in der Kunst sich abbildet, um ein gemachtes Verschwinden handelt. Die Erhabenheit liegt daher auch nicht im Gemüt, „sondern in der einen absoluten Substanz als dem darzustellenden Inhalt begründet"80. Es ist bekannt, daß für Hegel diese absolute Substanz Gott ist und er die „hebräische Poesie" als Beispiel für die erhabene Kunst anführt81. Das Absolute erscheint dabei meta-physisch als Jenseits, das „über die einzelne Erscheinung erhoben" ist82 und die diesseitige Welt „herabsetzt"83, sie gleichsam vernichtet. Obwohl Schopenhauer sich enger an Kants Bestimmungen und Differenzierungen in Sachen des Erhabenen hält und man ihn nicht als Hegel-Freund bezeichnen kann, geht seine Bestimmung des Erhabenen in eine ähnlich metaphysische und sinnlichkeitsfeindliche Richtung. Schopenhauer unterscheidet zwar wie Kant zwischen Schönem und Erhabenem, hält diese Unterscheidung aber inhaltlich nicht konsequent genug durch. Die Überwindung des Willens zugunsten der Kontemplation, um die es Schopenhauer geht, erfolgt im Schönen „ohne Kampf"; im Erhabenen dagegen bedarf es eines gewaltsamen Losreißens vom Willen, um in den Zustand der Kontemplation zu gelangen84. Dies scheint zunächst noch mit Kantischen Positionen vereinbar. Das Erhabene wird jedoch von Schopenhauer im buchstäblichen Sinne als „Erhebung" verstanden85, in der das betreffende Subjekt jeglichen Kontakt zur Sinnenwelt verliert. Das wird deutlich, wenn bei Schopenhauer in der Folge unter der Hand aus dem aktiven gewaltsamen Losreißen von der Sinnenwelt ein „Zustand der Erhebung" wird, in dem das Subjekt passiv „über sich selbst hinausgehoben" wird86. Hier erfolgt dann auch das (unausgesprochene) Verschmelzen mit dem Schönen: ist dem Subjekt erst einmal der „Zustand der Erhebung" zuteil geworden, so unterscheidet sich das (nach Schopenhauer erhabene) Gefühl, das diesen Zustand begleitet, in keiner Weise mehr von dem des Schönen, weil der „Kampf" (Kant würde sagen die „Unlust"), der vormals beide unterschied, nun in Vergessenheit gerät87. Das Subjekt schwebt in Schopenhauers 78 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, Bd. 14: Vorlesungen über die Ästhetik II, Frankfurt/M. 1986,15. 79 Vgl. Ästhetik /, a.a.O., 479 bzw. 483. 80 Ebd., 468. 81 Ebd., 469. 82 Ebd., 468. 83 Ebd., 479. 84 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, Frankfurt/M. 1986, 287. 85 Ebd. 86 Ebd. 87 Ähnlich läßt sich das noch in Friedrich Kaulbachs ansonsten sehr differenzierter, aber stark an Schiller orientierter Studie Ästhetische Welterkenntnis bei Kant (Würzburg 1984) beobachten. Kaulbach, der zunächst noch die „rettende Bewegung" im Erhabenen als „erhaben" bezeichnet (ebd., 169), tendiert dann mehr und mehr dazu, nur die zweite Phase des erhabenen Gefühls, das „Enthobensein" erhaben zu nennen (ebd., 172; vgl. auch 182,188). Erhaben ist damit nicht mehr die Bewegung, sondern allein deren Ergebnis.

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Kontemplation gleichsam in reiner Lust abgehoben über den Dingen und läßt sich durch nichts und niemanden mehr affizieren. So kann Schopenhauer in der Folge - obwohl er Kants „moralischem..> Reflexionen" anläßlich des Erhabenen kritisiert88 - von einem „erhabenen Charakter" sprechen, dessen „Wille nicht erregt wird durch Gegenstände, welche allerdings geeignet wären, ihn zu erregen89. Im Sinne dieses distanzierten Schwebens über den weltlichen Dingen hatte er schon 1820 das Subjekt, das das Erhabene fühlt, als „ewige Weltauge" bezeichnet90. Das Erhabene ist - mit einem Ausdruck von Victor Bäsch - zu einem „Sprungbrett" in die Metaphysik geworden91. Bei so viel Überhebung und angestrengtem Streben nach dem Absoluten ließ die Lächerlichkeit, zu der es vom Erhabenen ja nach dem bekannten Wort Napoleons nur ein Schritt ist, nicht lange auf sich warten. Schon 1804 hatte Jean Paul den Humor als „umgekehrte Erhabene" ins Zentrum seiner Ästhetik gestellt92. Im Jahre 1837 wertet dann Friedrich Theodor Wischer, systematisch klarer und einflußreicher als Jean Paul, das Komische zu einer eigenständigen ästhetischen Kategorie auf, wobei er jedoch im Anschluß an Hegel die Konzentration auf das Schöne und die Abwertung des Erhabenen beibehält. Komisches und Erhabenes sind bei Vischer zwei ästhetische Unterkategorien im Rahmen einer „Metaphysik des Schönen", in die sich das Schöne .entzweit', um dann in sich selbst zurückzufinden93. Mit dem Erhabenen (und dem Komischen) „haben wir", so Vischer, „nichts Fremdes vor uns, das zum Schönen äußerlich hinzukäme, sondern es treten nur die beiden Elemente des Schönen in eine neue Proportion, die Idee wächst über. Endliches und Unendliches decken sich nicht mehr, sondern dieses steht in seiner allem Endlichen überlegenden Größe vor uns'"".

Diesen Zusammenhang von Schönheit und Erhabenheit mußte Kant (der ansonsten von Vischer gelobt wird) verkennen, weil er „nichts vom objektiven Dasein der Idee wußte"95. Vischer unterscheidet drei Arten des Erhabenen, die stufenweise zum .höchsten Erhabenen' aufsteigen (und in sich jeweils wieder dreifach unterteilt sind): Vom bloßen Naturerhabenen gelangt er zur Erhabenheit der Kraft des subjektiven Geistes und von dort zur Macht des absoluten Geistes. 88 Die Welt als Wille... I, a.a.O., 292. 89 Ebd., 293. 90 Arthur Schopenhauer, Metaphysik des Schönen (Philosophische Vorlesungen Teil III ), hrsg. v. Völker Spierling, München 1985,111. Für eine detailliertere Analyse des Erhabenen bei Schopenhauer und seiner metaphysischen Implikationen, vgl. Wolfgang Welsch/Christine Pries, „Alt für neu. Kritische Bemerkungen zu Schopenhauers traditioneller Auslegung des Erhabenen", in: Zeitschrift fir Didaktik der Philosophie, Heft 2 (1988), S. 63-69. 91 Bäsch, Essai critique..., a.a.O., 565. 92 Jean Paul (Friedrich Richter), Vorschule der Ästhetik, in: ders., Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Norbert Miller, Bd. 5, München 1963,129. 93 Ähnlich übrigens schon bei dem damals sehr einflußreichen, heute aber fast unbekannten Christian Hermann Weisse, System der Aesthetik als Wissenschaft von der Idee der Schönheit, 2 Bde., Leipzig 1830, der zudem noch das Häßliche integriert. 94 Friedrich Theodor Vischer, „Über das Erhabene und Komische. Ein Beitrag zur Philosophie des Schönen" (1837), in: ders., Über das Erhabene und Komische und andere Schriften zur Ästhetik, hrsg. v. Willi Oelmüller, Frankfurt/M. 1967, S. 37-215, hier 71. 95 Ebd., 44. Zum Verhältnis von Kant und Vischer aus provischerscher Sicht, vgl. Paul Schmidt, Kant, Schiller, Vischer: Heber das Erhabene, Phil. Diss. Halle 1880.

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Das Erhabene der Natur96 bezeichnet Vischer in der Metaphysik des Schönen von 1846 als „objektives Erhabenes"97. Die Natur hat jedoch nur „diejenige Unendlichkeit, welche Hegel die schlechte nannte"98 und wir finden sie nur durch Unterschiebung einer unendlichen Größe oder Kraft erhaben, die nicht relativ ist: nämlich der des Geistes99. Dadurch gelangt Vischer zu einer zweiten Art des Erhabenen, zum Erhabenen des Subjekts, das in der „Freiheit des selbstbewußten Geistes" besteht, „der alles bloß Relative und Beziehungsweise der äußeren Natur aufgehoben zu einer einfachen, sich selbst bewegenden Einheit in sich schließt"100. Dieser subjektive Geist ist als Wille zu verstehen, der Handlungen auslöst, wobei die „psychologische Zergliederung und Zerlegung in einzelne Motive" der Erhabenheit einer Handlung Abbruch tut101. Dieses Erhabene des Subjekts wird von Vischer seinerseits in ein positives und in ein negatives Erhabenes unterteilt; im ersteren Fall handelt das Subjekt aktiv, im letzteren leidet es, bewahrt sich aber im Leiden seine Freiheit102. Schiller hatte dieses letztere Erhabene „Pathetisches" genannt. Vischer macht es umgekehrt. Nicht mehr dem leidenden, sondern allein dem aktiven Erhabenen kommt das Attribut des Pathetischen (nun im Sinne von Pathos) zu. Vischer nennt es auch das „heroisch Erhabene"103. Pathos und Wille werden höher eingeschätzt als passive Natur- oder Kunsteindrücke. Aber auch dieses Erhabene ist für Vischer noch zu subjektiv und daher „mangelhaft"104, und so gelangt er zur höchsten Stufe des Erhabenen: zum Erhabenen des absoluten Geistes oder Tragischen, das er später auch das Erhabene des Subjekt-Objekts nennt105. Dies ist die „wichtigste Form des Erhabenen"106, denn „wahrhaft erhaben kann nur der Geist sein, der die Bestimmtheiten und Einseitigkeiten des subjektiven Geistes - nicht neben oder außer sich hat, sondern - in sich begreift und als die Macht über diese beschränkten Geister sie ebensosehr aus sich hervorgehen, als auch an ihrer Unvollkommenheit und Relativität zugrunde gehen läßt"107.

Auch dieses Erhabene hat wie bei Kant einen negativen und einen positiven Pol108, die jedoch nicht mehr die Diskrepanz von Natur und Geist abbilden, sondern gleichsam allein auf der zweiten Stufe des Kantischen Erhabenen, auf der des Geistes, eine Art Spiel des Geistes mit sich selbst bedeuten, in dem die Natur keine Rolle mehr spielt. Die Negativität der „beschränkten Geister" dient nur noch als Folie, denn: „desto leuchtender tritt die

96 Oder auch der Substanz, vgl. ebd., 77. 97 Friedrich Theodor Vischer, Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, Bd. 1,1. Teil, Die Metaphysik des Schönen (1846). 2. Aufl. München 1922, 244. 98 Vischer, Über das Erhabene..., a.a.O., 91. 99 Vgl. ebd., 92. 100 Ebd., 93. 101 Ebd., 155. 102 Vgl. ebd. 103 Ebd. 104 Ebd., 101. 105 Vgl. Vischer,Metaphysik..., a.a.O., 295. 106 Vischer. Über das Erhabene..., a.a.O., 44. 107 Ebd., 102. 108 Vgl. ebd.

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Größe des absoluten Geistes hervor."109 Der lustvolle metaphysische Absprung in ein objektives Übersinnliches mit Hilfe des Erhabenen findet mit Vischers „Metaphysik des Schönen" gegen Kant ihren vorläufigen Abschluß n o .

Hehre Geistigkeit und kraftvolle Schönheit - Zwischen Idealismus und Nationalsozialismus Einem so umfassenden System wie dem von Vischer haben die zahlreichen anderen, heute (zu recht) weniger bekannten und weniger beachteten großen Ästhetikentwürfe des späteren 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht mehr viel hinzuzufügen. Sie stehen alle negativ oder positiv im Banne von Idealismus und Hegelianismus, und das bedeutet für die Ästhetik: Sie versteht sich als Philosophie oder gar Wissenschaft der Kunst, hat gegenüber dem späten 18. Jahrhundert an Bedeutung verloren und ist allein auf das Schöne konzentriert111, das ganz traditionell als harmonisch und einheitlich verstanden wird. Unter der Ägide des Schönen tummeln sich nun, wo überhaupt noch eigene Entwürfe vorgelegt werden und sich die Autoren nicht auf bloße Geschichten der Ästhetik beschränken112, alle möglichen ästhetischen Unterkategorien, wie etwa das Anmutige, das Charakteristische, das Interessante, das Reizende oder das Prächtige. Unter ihnen ist vereinzelt auch das Erhabene zu finden, das nun endgültig aus dem Vordergrund der Diskussion verschwunden ist113. Gegenpol des Schönen ist nicht mehr das Erhabene, sondern das Häßliche114 - am berühmtesten wohl Karl Rosenkranz' ebenfalls im Geiste des Hegelianismus 1853 erstmals veröffentlichte Ästhetik des Hässlichen, die zwar ein ganzes Kapitel der sich negativ zum

109 Ebd., 104. 110 Für Kant war, wie Oelmüller in seiner Einleitung zu Vischers Schrift über das Erhabene hervorhebt, die Entscheidung der Frage, ob die subjektiven Bestimmungen der Ästhetik auch objektiv seien, nebensächlich: „Das unterscheidet Kant von seinen Nachfolgern, die glaubten, in seinem Geiste über seinen Buchstaben hinausgehen zu müssen. auf die Kritik der Urteilskraft folgt jedoch keine Metaphysik" (Vischer, Über das Erhabene.... a.a.O., 28). 111 Titel wie Ästhetik. Grundzüge der Wissenschaft des Schönen und der Kunst von Max Schasler (Leipzig 1886) belegen dies. 112 Dem Ideal einer .historischen Wissenschaft' entsprechend, haben die meisten der damaligen Ästhetiken zwei Teile: einen historischen und einen systematischen zum Schönen, vgl. z.B. Robert Zimmermanns zweibändige Ästhetik Geschichte der Aesthetik als philosophische Wissenschaft, Wien 1858, rep. Hildesheim/New York 1973 und Allgemeine Aesthetik als Form wissenschaft, Wien 1865, rep. Hildesheim/New York 1973 oder Eduard von Hartmanns zweibändige Ästhetik: Die deutsche Ästhetik seit Kant, Berlin 1886 und Philosophie des Schönen , Berlin 1887. 113 Anders übrigens in England und Frankreich - und in den Künsten, was nicht für die Kunstnähe der betreffenden Ästhetiken spricht. 114 Was über Weisse schon auf Friedrich Schlegel zurückgeht, vgl. dazu Günter Oesterle, „Entwurf einer Monographie des ästhetisch Häßlichen. Die Geschichte einer ästhetischen Kategorie von Friedrich Schlegels .Studium'-Aufsatz bis zu Karl Rosenkranz' .Ästhetik des Häßlichen' als Suche nach dem Ursprung der Moderne", in: Dieter Bänsch (Hrsg.), Zur Modernität der Romantik (Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften 8), Stuttgart 1977. S. 217-297.

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Schönen verhaltenden (und nach Kant erhabenen) „Formlosigkeit" widmet, aber nicht explizit auf das Erhabene rekurriert.115 Hie und da läßt sich zwar ein Versuch entdecken, der Kategorie des Erhabenen - meist unter dem Aufruf .Zurück zu Kant' - wieder mehr Bedeutung zu verleihen. Doch sind diese Versuche folgenlos geblieben. Es handelt sich meist um mehr oder weniger marginale Schriften, die entweder Kant nacherzählen oder rein historisch verfahren, wobei sie ein immer größer werdendes Durcheinander von heute inakzeptablen Klassifizierungen und Beschreibungen des Erhabenen dokumentieren116. Philosophisch bieten sie in Sachen des Erhabenen nicht viel Neues. Das Erhabene wird mehr und mehr zu einem ,Wort', das zwar einmal eine ästhetische Kategorie war und deshalb abgehandelt werden muß, im Grunde aber eher umgangssprachlich als etwas Hohes und .Hehres* erschlossen wird. Das Schöne wird in dieser Zeit im Bemühen um möglichst große Nähe zur Kunst und um psychologische Plausibilität in immer längeren Abhandlungen mit immer mehr Beispielen immer neu bestimmt. Paradoxerweise kann man sich dabei des Eindrucks nicht erwehren, daß die betreffenden Ästhetiken sich nicht nur immer weiter von der Kunst entfernen, sondern - trotz größerer .Wissenschaftlichkeit' - begrifflich auch immer unschärfer werden. Diese Tendenz betrifft auch das Erhabene. Hatten die Kantischen Bestimmungen des Erhabenen in den idealistischen Versuchen schon darunter gelitten, daß das Erhabene mit dem Schönem verschmolz und allein auf seinen Bezug zur Unendlichkeit rekurriert wurde, so werden nun - wo überhaupt vom Erhabenen die Rede ist - in der Feinabstimmung sozusagen immer neue Arten und Varianten des Erhabenen freigelegt117. Trotz aller detailverliebter Differenzierungsversuche kom115 Karl Rosenkranz, Ästhetik des Hcisslichen, Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Königsberg 1853, mit einem Vorwort zum Neudruck von Wolfhart Henckmann, Darmstadt 1973, 67ff. Ob es Rosenkranz damit allerdings gelingt, das Primat des Schönen zu brechen, wie Henckmann in seinem Vorwort zu dieser Schrift behauptet (vgl. ebd., XIV), bezweifle ich. Dafür steht Rosenkranz mit seinem, als reine Negation des Schönen konzipierten Häßlichen, noch zu sehr im Banne des Schönen. Daß die damaligen Künste sich anschickten, .nicht mehr schön' zu sein, ist eine ganz andere Frage. Ebenso, ob .nicht mehr schön' gleichbedeutend mit häßlich sein muß, oder ob hier nicht auch das Erhabene wieder ins Spiel kommt. Der von Hans Robert Jauß edierte Sammelband Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen (Poetik und Hermeneutik 3, München 1968) zeigt, wie sehr als Gegenpol zum Schönen das Erhabene aus und das Häßliche in den Blick gerückt ist. - Aus heutiger Sicht ist es in Maßen möglich - z.B. mit Blick auf die Avantgardekunst - , das Häßliche mit dem Erhabenen in Verbindung zu bringen. Das gilt aber nicht für die damalige Zeit, in der der Begriff des Erhabenen ,hehr' war. Oesterle definiert die Häßlichkeit (Jauß folgend) als Signum der Moderne, als „Zerfallsprodukt des einerseits in harmonisierbaren, andererseits unauflösbaren Widerstreit gespaltenen Erhabenen" und bezeichnet das nicht harmonisierte Erhabene als „erhabene Häßlichkeit" (Oesterle, „Entwurf einer Monographie...", a.a.O., 240). Damit benennt er genau das Problem, vor dem wir heute stehen. 116 Vgl. z.B. Arthur Seidl, Zur Geschichte des Erhabenheitsbegriffs seit Kant, Leipzig 1889 - einer Kurzfassung seiner auf die Musik bezogenen Dissertation Vom Musikalisch-Erhabenen. Prolegomena zu einer Acsthetik der Tonkunst, Diss. Leipzig 1887. Seidl konzentriert sich auf die Zeit von Kant bis Herbart, bezieht aber auch Schasler und von Hartmann mit ein. die er „Eklektiker" nennt (Seidl, Zur Geschichte... , a.a.O., 130); vgl. auch Ferdinand Unruh, Studien zur Entwicklung, welche der Begriff des Erhabenen seit Kant genommen hat. Königsberg i. Pr. 1898, der die Begriffsentwicklung von Kant bis Cohen nachzeichnet. 117 Ein eindrucksvolles Beispiel gibt hier Johannes Volkelt, der in seinem dreibändigen System der Ästhetik von 1910 dem Erhabenen.immerhin fast 90 Seiten widmet. Das Erhabene ist dabei eine von unzähligen ästhetischen Grundgestalten und spaltet sich selbst wiederum in noch mehr Unterarten auf. Sie reichen

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men jedoch keine neuen, für die Diskussion relevanten Charakteristika des Erhabenen mehr hinzu. Es ergibt sich vielmehr eine eigentümliche Mischung aus Pedanterie und Unklarheit. Weder Kants analytische Schärfe noch seine begriffliche Reichhaltigkeit werden je wieder erreicht. Die entprechenden Kapitel zum Erhabenen kommen häufig einer Aneinanderreihung von Gemeinplätzen gleich. Man merkt ihnen an, daß sie für viele Autoren nur eine .Pflichtübung' waren. Ich will die betreffenden Entwürfe hier nicht im einzelnen referieren, zumal sie unser Bild vom Erhabenen und von der Ästhetik weit weniger geprägt haben dürften als die Versuche von Schiller bis Vischer. Überdies wäre eine ausführliche Darstellung der einzelnen „zum Theil sehr abstrusen und spitzfindigen"118 Positionen, deren Vertreter häufig zwar nach ausschließlich historischer Ausrichtung streben, in Detailfragen aber untereinander zerstritten sind, mehr als ermüdend119. Im Grunde setzen die betreffenden Autoren die schon bekannten Modifikationen des Kantischen Erhabenen von Schiller bis Vischer fort, spitzen sie aber auf einen für heutige Aktualisierungsversuche entscheidenden Punkt zu. So wird Kants Differenzierung zwischen Mathematisch-Erhabenem und DynamischErhabenem weiterhin durch die Bank kritisiert und zugunsten des Dynamisch-Erhabenen und seines .Kraftpotentials' eingeebnet120. Wo noch von (mathematisch-erhabener) Größe die Rede ist, wird diese im übertragenen Sinne verstanden121. Damit geht eine inhaltliche Bestimmung des Erhabenen einher, wobei es hauptsächlich auf die „Höhe der Werte" ankommt, die es transportiert122. Als höchster Wert gilt der menschliche Geist. Das Erhabene ist aber nicht mehr ausschließlich ein subjektives Gefühl, das auf der Disposition bestimmter Vermögen beruht und genau analysiert werden kann, sondern es wird objektiviert in Gestalt eines Subjekts, das die Macht seines Geistes über die Sinnlichkeit demonstriert bzw. diesen seinen großen Geist in Objekte .einfühlt'. Solche Objekte können auch Kunstwerke sein, die dem betreffenden Subjekt „imponieren"123. Für die Kunst bedeutet das kon-

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vom Erhabenen der „verwehenden Art" (Bd. 2,2. Aufl. München 1925,127) bis hin zum „Düster-Erhabenen" (ebd., 166ff.). Gleiches gilt noch für Nicolai Hartmann, Ästhetik (1953), 2. Aufl. Berlin 1966. So Fechner bereits 1876 (Gustav Theodor Fechner, Vorschule der Ästhetik, 2. Theil, Leipzig 1876,165). Grob gesagt tendieren die einen mehr zu Hegel, die anderen mehr zu Kant. Neben Seidl und Unruh gibt Rossaint einen Überblick über die Begriffsentwicklung (vgl. Joseph Rossaint, Das Erhabene und die neuere Ästhetik, Phil. Diss. Bonn 1927). Rossaints Studie, die sich vor allem der Zeit von 1889-1926 widmet und weniger kantisch ausgerichtet ist als die Schriften von Seidl und Unruh, zeigt unfreiwillig, wie unergiebig die bloße Aufzählung aller Details und Autoren ist und in welche begriffliche Unscharfe sie führt. Fragen wie die, „ob ein .Dummer' auch erhaben sein kann" (ebd., 70), belegen überdies drastisch, auf welchem Niveau zu dieser Zeit die Auseinandersetzung um das Erhabene stattfindet. So z.B. bei Rudolf Hermann Lotze, Geschichte der Ästhetik in Deutschland, München 1868, 327. Theodor Lipps bestimmt jedes Objekt als erhaben, in dem sich, auch wenn es klein ist, innerlich etwas Großes - und das ist für ihn besonders die Kraft - manifestiert (Grundlegung der Ästhetik, Bd. 1 : Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst, Hamburg und Leipzig 1903, 540). Vgl. Stephan Witasek, Grundzüge der allgemeinen Ästhetik, Leipzig 1904, 319. So Max Dessoir, Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Stuttgart 1906, 206. wenn auch Dessoir ansonsten zu dieser Zeit eine Ausnahme bildet, weil er die Gleichsetzung von Schönheit und Ästhetik nicht mitmacht (vgl. ebd., 9) und auch das Erhabene nicht harmonisiert, sondern dessen Disharmonie betont.

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kret, daß sie um so erhabener ist, je pathetischer, bombastischer und monumentaler sie wirkt124. Ihre Kraft oder Macht gilt dabei als „geistiges Symbol"125. Und wiederum hängt mit der Auffassung, daß das Erhabene eine bloße Unterkategorie, eine „Modifikation" des Schönen sei126, eine ,Positivierung' des Erhabenen zusammen. Das bei Kant und seinen direkten Nachfolgern immerhin noch vorhandene Unlustmoment im Erhabenen wird soweit eliminiert, daß eine ungetrübte (schöne) Lust geradezu zur Bedingung des Erhabenen wird127. Es darf keine Unlust mehr enthalten, weil es sonst zu keiner Erhebung führt128. Das Erhabene ist „affirmativ" geworden129. Entsprechend ist die „feierliche Jenseitigkeit"130, für die das Erhabene steht, nicht mehr an ein Ubermaß gebunden, sondern im Kunstwerk „darstellbar"131. Dies führt nun zur endgültigen ,Nobilitierung' des Erhabenen. Selbst dort, wo das romantische oder idealistische Streben nach dem Absoluten nicht mehr mitgemacht wird, hat das nun mit tiefem Ernst und feierlichem Aufschwung verbundene Erhabene einen stärkeren Bezug zum Übersinnlichen und zur Metaphysik als das Schöne. Es läßt sich überall die gleiche .Erhebung' über die Sinnlichkeit132 und die gleiche positive Bezugnahme auf den positiven Wert des Geistes erkennen. Das Erhabene ist verbunden mit dem zutiefst huma124 Vgl. Rossaint, Das Erhabene..., a.a.O., 41: „Auf dem Gebiete der Kunst wirkt besonders die Monumentalkunst erhaben." Es ist daher kein Zufall, daß gerade in Musik und Architektur, die man besonders leicht mit Bombastischem in Verbindung bringen kann, das Erhabene „m reinsten" hervortritt (Hartmann, Ästhetik, a.a.O., 368). In bezug auf das Erhabene werden diese beiden Künste schon bei Adolf Zeising angeführt (Ästhetische Forschungen, Frankfurt/M. 1855, 548). 125 Rossaint,Das Erhabene..., a.a.O., 71 - eine Aufladung der Kunst, die schon Zimmermann mit Blick auf die Romantiker oder den Idealismus und gleichsam in weiser Voraussicht zu folgender Bemerkung veranlaßte: „Man kann nicht sagen, dass der Kunst ihre speculative .Erhöhung' durchaus zum Vortheile ausgeschlagen sei. Zwar ist zum Glück der Einfluss der Theorie auf die ausübende Kunst in der Regel geringer, als umgekehrt die Einwirkung der Werke der letzteren auf die Ausbildung der erstem; dennoch wäre es möglich, so manches gewaltsame Experiment in der Poesie, so manche ungebührliche Vernachlässigung der schönen Form in der bildenden Kunst, so manchen Gedankenluxus in der Musik, auf dies zu hoch und falsch gesteckte Ziel der philosophierenden Kunst zurückzuführen" (Zimmermann, Geschichte der Aesthetik..., a.a.O., X). 126 Vgl. auch M Carriere, „Ueber das Erhabene. Ein Capitel aus der Aesthetic", in: Zeitschriftßr Philosophie und philosophische Kritik 33 (1858), S. 1-29. Zeising macht die „Trennung" von Schönem und Erhabenem, die „auf die Entwicklung der Ästhetik höchst störend eingewirkt hat", für die Unklarheit des Verhältnisses der verschiedenen Modifikationen des Schönen untereinander verantwortlich {Zeising, Ästhetische Forschungen, a.a.O., 18). Daß daran vielleicht die Vormachtstellung des Schönen und die zu dieser Zeit üblichen absurdesten Differenzierungen Schuld sein könnten, die auch Zeising selbst vornimmt (so ordnet er dem reinen Schönen die Farbe rot, dem Erhabenen die Farbe violett zu, die sich aber noch einmal in drei Unterfarbtöne aufspalten läßt, vgl. ebd., 413ff.), kommt ihm nicht in den Sinn. 127 Vgl. z.B. von Hartmann, Ästhetik, a.a.O.. 374ff., wo aus der Unlust ein „Unwert" wird und die Konzentration auf die Lust als „Das Wesentliche" bezeichnet wird (vgl. ebd., 376). Erhaben ist nur noch, „was uns etwas Positives schafft" (Lipps, Grundlegung..., a.a.O., 571). 128 Vgl. von Hartmann, Philosophie des Schönen, a.a.O., 267. 129 Hartmann, Ästhetik, a.a.O., 374, und selbstverständlich sind es auch hier wieder Musik und Architektur, die am affirmativsten sind (vgl. ebd., 379). 130 Hermann Cohen, Ästhetik des reinen Gefühls, 2 Bde., Berlin 1912, 3. Aufl. Hildesheim/New York 1982, Bd. II, 182. 131 Ebd., Bd. I, 307 bzw. 334. 132 Vgl. z.B. von Hartmann. Ästhetik. a.a.O., 328: „das rein Sinnliche steht dem Erhabenen überhaupt fern."

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nistisch verwurzelten Glauben an das Allgemein-Menschliche133, und da „die Seele" des Menschen „der Erhebung wert ist, bedeutet diese nicht Ueberhebung"134. Im einzelnen wird dieser übersinnliche Geist - gemäß der nun üblichen .Inhaltsästhetik' - von den verschiedenen Autoren unterschiedlich bestimmt. Einige interpretieren ihn moralisch135, andere eher religiös136. In fast allen Entwürfen wird diese .Geistigkeit' jedoch aktiv gewendet. Und wenn das Erhabene sich durch ein .Streben', durch ein „Hineilen zu einem absolut Transzendenten"137 erklärt und „das Gefühl der Lust aus der Kraft und Grösse meines Wollens und Tuns" erhaben ist138, dann liegt in der Tat der Gedanke nicht mehr fern, daß das zunächst passive geistige Potential des Menschen in die Tat umgesetzt wird und die „Persönlichkeitserhöhung"139 bzw. die „Steigerung unseres Selbstgefühls"140 oder die „.Seelenstärke', die uns Muth giebt"141, in der der „Zweck" des Erhabenen für den Menschen besteht142, praktische Folgen zeitigt, wobei es schließlich diese Folgen sind, die eigentlich den Menschen erst erhaben machen143. Wenn das Erhabene den absoluten Weltzweck, ,das Allgemeine', offenbart, vordem das Einzelne verschwindet, warum sollen wir Menschen, selbst im Besitz von unendlicher Macht und Kraft, uns diesen Weltzweck nicht verfügbar machen, statt ihn als unverfügbar bloß zu bewundern? Dann verfügten wir über eine „Gesetzlichkeit", die „schön" ist, „wenn sie als Mittel zur Beherrschung des ungeheuer Mannigfaltigen" gebraucht wird144. Wenn man nun noch bedenkt, daß man so nicht nur die Natur, sondern natürlich auch andere Menschen beherrschen kann - Lotze erklärt durch die Konfrontation des Allgemeinen mit dem Einzelnen, wobei ersteres letzterem „gebietet", sehr treffend „das Erhabene

133 Vgl. ζ. B. Grant Allen, „The Origin of the Sublime", in: Mind 11 (1878), S. 324-339, der verschiedene Stufen des Erhabenen annimmt, auf denen die .Humanität' immer mehr zunimmt. 134 Rossaint, Das Erhabene..., a.a.O., 52. 135 Allgemein gilt, daß die „tiefsten ästhetischen Werte zugleich die höchsten ethischen Werte", ,das Menschliche', verkörpern (Lipps, Grundlegung..., a.a.O., 525). 136 So besonders sichtbar - gerade in der Diffusität - bei Ernesto Grassi, „Das Problem des Erhabenen", in: ders. (Hrsg.), Geistige Überlieferung. Das zweite Jahrbuch, Berlin 1942, S. 125-153. Vgl. auch Hermann Schmalenbach, „Die religiösen Hintergründe der kantischen Philosophie", in: Blätterfür Deutsche Philosophie Bd. 1 (1927/1928), Teil I, S. 29-60; Teil II, S. 189-226 und Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, 12. Aufl. Gotha/Stuttgart 1924, der jedoch die ästhetische Eigenständigkeit des Erhabenen zu wahren sucht. 137 Rossaint, Das Erhabene.... a.a.O., 95. 138 So Lipps, Grundlegung..., a.a.O., 529. 139 Rossaint, Das Erhabene..., a.a.O., 95. 140 Volkelt, System der Ästhetik, a.a.O., Bd. II, 143. 141 Hermann Cohen, Kants Begründung der Ästhetik, Berlin 1889, 292. Ì42 Rossaint, Das Erhabene..., a.a.O., 95. 143 So ist bei Eduard von Hartmann nicht der Wille, sondern nur die Macht (diesen Willen auch in die Tat umzusetzen) erhaben: „Das Hervorleuchten der absoluten teleologischen Idee aus dem Handeln und Wollen des Individuums, dem sie immanent ist, macht dessen Erscheinung nicht darum erhabener, weil die absolute Idee der qualitativ höchste Inhalt ist, sondern weil ihr als dem Inhalt des absoluten Wissens zugleich die absolute Macht oder Allmacht zukommt, welcher der Sieg über alle relativen Kräfte und endlichen Mächte gewiss ist" (Von Hartmann, Philosophie des Schönen, a.a.O., 284f.). Dieses Zitat macht verständlich, warum Seidl polemisch anmerkt, daß „hier und da der ehemalige Premierleutenant noch immer den Philosophen Ed. v. Hartmann" verdunkle (Seidl, Zur Geschichte..., a.a.O., 137). 144 Rossaint, Das Erhabene..., a.a.O., 32.

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der Massenwirkung"145 - und daß man zu diesem Zweck eine monumentale Kunst einsetzen kann, die dieses Allgemeine „affirmiert", dann braucht man für das Allgemeine nur den Nationalsozialismus einzusetzen, und heraus kommt die schönste und harmonischste Konstruktion des Erhabenen, die man sich nur vorstellen kann146. Hitlers Reden über die Kunst belegen dies. Obwohl in ihnen das Erhabene wörtlich gar nicht mehr vorkommt (und auch nicht mehr vorkommen muß), zielen sie in ihrer Forderung nach ewigen Werten und großer, kraftvoller Schönheit147 auf ein .beschönigtes' Erhabenes148 - das mit dem Kantischen Erhabenen freilich so gut wie nichts mehr zu tun hat149. Wo solche Folgen noch nicht abzusehen sind, aber dennoch Kritik an den großen harmonistischen Systementwürfen des Idealismus und an Hegel und Vischer in stärkerem Maße als bei den bereits erwähnten Autoren laut wird, äußert sie sich interessanterweise nicht allein an deren Schönheitskonzeption - indem sie etwa eine eher Kantische „doppelte Ästhetik" gegen Hegel starkmachen würde, wie es nahegelegen hätte - , sondern auch am Erhabenen (was noch einmal zeigt, wie sehr das Erhabene im Schönen aufgegangen und metaphysisch aufgeladen ist). Das Erhabene erscheint den nun nüchterner werdenden Ästhetiken als metaphysisches Relikt längst vergangener Zeiten - als ebenso abgehoben wie der Idealismus. Obwohl die Identifikation des Erhabenen mit metaphysischen Positionen erst in Kants Nachfolge deutlich hervorgetreten ist, zielt die am metaphysischen Erhabenen geäußerte Kritik auch und gerade auf Kant150. Das Erhabene galt nun, wie Karl Vietor es bereits für das 19. Jahrhundert formuliert, als Ausdruck „einer erlauchten Idee, die man im modernen Weltbild nicht mehr recht unterbringen konnte"151. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschwindet es daher zunächst völlig in der Versenkung. 145 Lotze, Geschichte der Ästhetik, a.a.O., 331. 146 Ich glaube in der Tat, daß die Konzentration auf das Dynamisch-Erhabene, die .Beschönigung' desselben und die gleichzeitig immer diffuser werdende Begrifflichkeit, dafür verantwortlich ist, daß wir mit dem Wort .erhaben' heute auf Anhieb-und mit Recht-faschistoide Monumentalkonstruktionen assoziieren, auch wenn diese aus heutiger Sicht wahrlich nichts .Hehres' an sich haben. 147 Vgl. z.B. Adolf Hitlers Rede zur Eröffnung des Hauses der Deutschen Kunst in München vom 18. Juli 1937, in: Die Kunst. Monatshefte für freie und angewandte Kunst 75, München 1937, S. 353-370. 148 Die Nazi-Inszenierungen können geradezu als Paradebeispiel dieses beschönigten Erhabenen gelten. Sie suggerierten eine Macht (die Hitler personifizierte), die eben gerade nicht mehr bedrohlich -wirkte, sondern ein positives Aufhebungsgefühl des Einzelnen im Allgemeinen, in der Masse hervorriefen. Für die Musik hat diese Verbindung von beschönigtem Erhabenen und Nationalsozialismus und ihre Quellen Albrecht Riethmüller angeführt („Aspekte des musikalisch Erhabenen im 19. Jahrhundert", in: Archiv für Musikwissenschaft Heft 1 [1983], S. 38-^9). 149 Die nicht-harmonische Kunst, die aus dem nicht-harmonisierten Kantischen Erhabenen folgt, wie z.B. die Avantgardekunst, hat im Nationalsozialismus nicht zufällig als .entartet' gegolten. 150 Ein gutes Beispiel ist hier Nietzsche, den die Identifikation des Erhabenen mit metaphysischen Positionen und einem hehren moralisch-sinnlichkeitsfeindlichen Menschenbild geradezu herausfordern muBte. Entsprechend harsch ist seine Kritik am Erhabenen und an Kant, den man unschwer hinter Sätzen wie „die Idee sublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch" erkennt (Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1980, Bd. 6, S. 55-161. hier 80). Nietzsches Kritik am Erhabenen bringt bereits das Gefühl des späteren 20. Jahrhunderts auf den Punkt: „wie unsrem Geschmack der ganze romantische Aufruhr und Sinnen-Wirrwarr, den der gebildete Pöbel liebt, sammt seinen Aspirationen nach dem Erhabenen, Gehobenen, Verschrobenen fremd geworden ist!" (Die fröhliche Wissenschaft, Sämtliche Werke, Bd. 3. S. 343-651, hier 351). 151 Vietor, Die Idee des Erhabenen..., a.a.O.. 266.

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Nach dem Zweiten Weltkrieg - Adorno und Weischedel Nach dem Zweiten Weltkrieg war das hehre Menschenbild, das man einerseits diffus mit dem Erhabenen verband, zu sehr erschüttert, und waren die Kraft- und Pathos-Assoziationen, die der Begriff des Erhabenen andererseits auslöste, z.B. durch die faschistische M o numentalarchitektur diskreditiert. Positiv w i e negativ schien das Erhabene mit einer Emphase einherzugehen, die man nicht mehr zu teilen vermochte. D i e bombastischen Großinszenierungen der Nazis hatten gezeigt, in w e l c h e m Maße die v o n einem .beschönigten' Dynamisch-Erhabenen ausgehende Kunstauffassung des 19. Jahrhunderts für politische Zwecke instrumentalisiert werden konnte. D i e Grundannahme, daß ,das Erhabene' in der Kunst (und anderswo) .gemacht' werden könne, ohne seinen ,edlen' Charakter zu verlieren, war ein alter und metaphysischer Traum des endlichen Menschen gewesen. Die nationalsozialistische Propaganda hat sich die damit verbundenen Pathetisierungen auf grausame Weise zunutze gemacht 152 . Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, daß das Erhabene für die Nachkriegsästhetik nicht mehr akzeptabel zu sein schien 153 . Wo es nicht mit dem Faschismus assoziiert wurde, da galt es doch zumindest als unzweifelhaftes Zeichen einer Metaphysik, die nur noch die wenigsten Denker vertreten mochten 154 . Bei Heidegger und Gadamer spielt der Begriff nicht einmal für die Kant-Auslegung eine Rolle 155 . In Adornos Ästhetischer Theorie kommt das Erhabene zwar vor, aber auch Adorno scheint auf das Schöne konzentriert. Man kann dieses Schöne zwar - Adornos romantische Tendenzen in Rechnung stellend - als Erhabenes unter anderem Namen lesen, und dann

152 Damit will ich keinen notwendigen Zusammenhang zwischen Metaphysik und Faschismus herstellen, aber doch auf die Gefahr hinweisen, daß das lustvolle Streben der ersteren nach dem Absoluten die Mittel für letzteren bereitstellt, wenn das Absolute inhaltlich besetzt und für .realisierbar' gehalten wird. Ähnliches ließe sich übrigens auch für den Stalinismus und sein Verhältnis zur Kunst zeigen. 153 Eine Ausnahme bildet Nicolai Hartmann, dessen Ästhetik erst in den fünfziger Jahren erschien, m.E. aber aufgrund der Entstehungszeit und der oben dargelegten Charakteristika gedanklich zu den Vorkriegstheorien gerechnet werden muß. 154 Vgl. Karl Alberts Studie Die Lehre vom Erhabenen in der Ästhetik des deutschen Idealismus (Phil. Diss. Bonn 1950, rep. in: ders., Philosophie der Kunst, St. Augustin 1989, S. 13-137). Sie gibt einen Überblick über die Begriffsentwicklung des Erhabenen von Kant bis Vischer und reklamiert darin positiv den metaphysischen Charakter des Erhabenen. Kritik an der Metaphysik ist für Albert gleichbedeutend mit „unphilosophischer Metaphysikfurcht" (ebd., 10). Weitere Ausnahmen sind J. Chateau (vgl. „Note sur le sublime", in: Revue d'Esthéthique 9 [1956], S. 305-311), der das Erhabene religiös interpretiert, und Etienne Souriau (vgl. „Le sublime", in: Revue d'Esthétique 19 [1966], S. 266-289), der das Erhabene als Ausdruck einer höheren Existenz sieht, der es nachzueifern gelte. 155 Obwohl es sich aus heutiger Perspektive lohnen würde, auf Heideggers „Lichtung" des Seins mit Blick auf das Erhabene zurückzukommen. Das ist bisher nur sehr implizit und andeutungsweise z.B. bei JeanFrançois Lyotard, „Das Interesse des Erhabenen", in: Pries (Hrsg.), Das Erhabene, a.a.O., S. 91-118 geschehen. Zum Erhabenen bei Heidegger vgl. auch Philippe Lacoue-Labarthe, „La vérité sublime", in: Michel Deguy/Jean-Luc Nancy (Hrsg.), Du sublime, Paris 1988, S. 97-147 sowie Jacob Rogozinski, „Le don du monde", ebd., S. 179-210. Auch Karl-Heinz Bohrer bezieht sich auf Heidegger, wenn er den „ambivalente Sinn des Erhabenen in der modernen Kunst" thematisiert, vgl. „Am Ende des Erhabenen. Niedergang und Renaissance einer Kategorie", in: Merkur 487/488 (1989), S. 736-750-eine Sondernummer, die weitere neuere Stimmen zur Erhabenheits-Diskussion dokumentiert.

Nach dem Zweiten Weltkrieg

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hätte das Erhabene für Adorno positive Bedeutung156, aber explizit - und für die direkte Rezeption ausschlaggebend - sticht allein Adornos knappe, aber harte Kritik an dem Erhabenen, das er vorfand, ins Auge. Auch sie ist gegen Kant gerichtet, weil auch Adorno nicht eindeutig genug zwischen der Kantischen Bedeutung des Begriffs und dessen Entwicklung im 19. Jahrhundert unterscheidet. Gleichwohl ist diese Kritik für eine heutige Thematisierung des Erhabenen aufschlußreich. Denn sie spricht nicht nur die unannehmbaren Charakteristika des Erhabenen des 19. Jahrhunderts an, sondern gibt auch einen ersten Hinweis darauf, wie Kants Erhabenes gegen seine Rezeption abzugrenzen wäre: Zunächst wendet sich Adorno gegen jegliche inhaltliche Bestimmung des Erhabenen in der Kunst. „Werke, die sich mit irgendwelchen erhabenen Vorgängen beschäftigen", sind Adorno suspekt, weil ihre „Erhabenheit meist nur Frucht von Ideologie, von Respekt vor Macht und Größe" ist157. Entscheidend für den Wert eines Kunstwerkes seien nicht die „großen Stoffe" 158 , sondern allein seine Form. „Was als erhaben auftritt, klingt hohl."159 Adornos Kritik an dieser Form des Erhabenen geht so weit, daß er Kant ausdrücklich dafür lobt, das Erhabene der Natur vorbehalten zu haben160, und dafür eintritt, „onkreten Kunstwerken gegenüber vom Erhabenen überhaupt nicht mehr zu reden", weil dann „das Salbadern von Kulturreligion" nicht zu umgehen sei161. - Das endgültige Ende des Erhabenen, wie es scheint, zumal auch Kant in Adornos Augen letztlich „ungebrochen" die „fraglose Komplizität" des Erhabenen „mit Herrschaft bejaht"162 und damit deijenigen .Erhabenheit' Vorschub leistet, die in der „Größe des Menschen als eines Geistigen und Naturbezwingenden" vermutet wird163. Explizit thematisiert hatte das Problem, um das es heute mit dem Erhabenen geht und an dem auch Adorno laboriert, erstmals Wilhelm Weischedel. Er versucht bereits 1960 eine „Rehabilitation des Erhabenen", in der er den entscheidenden Punkt der heutigen Fragwürdigkeit des traditionellen Erhabenen und gleichzeitig die .Bedingungen der Möglichkeit' für eine zeitgemäße Auffassung dieses Begriffs benennt. Ausgehend von der unter modernen Bedingungen und dem gängigen Sprachgebrauch heute eher komisch anmutenden Rede vom Erhabenen und Nietzsches Kritik dieses Begriffs, stellt Weischedel sich die Frage, worin der Niedergang des Erhabenen begründet

156 Auch dies ist erst aus heutiger Sicht möglich. Vgl. die Analyse des Erhabenen bei Adorno von Wolfgang Welsch, „Adornos Ästhetik: eine implizite Ästhetik des Erhabenen", in: Pries (Hrsg.), Das Erhabene, a.a.O., S. 185-213 (rep. in: ders., Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990, S. 114-156), die dem Erhabenen die entscheidende Rolle beim Aufsprengen von Adornos Versöhnungskonzeption zuweist. Zu diesem Thema vgl. auch Albrecht Wellmer, „Adorno, die Moderne und das Erhabene", in: Wolfgang Welsch/ Christine Pries (Hrsg.), Ästhetik im Widerstreit. Interventionen zum Werk von Jean-François Lyotard, Weinheim 1991, S. 45-66, der das Erhabene im Gegensatz zu Welsch versöhnungsphilosophisch interpretiert. 157 Ästhetische Theorie, a.a.O., 224. 158 Ebd. 159 Ebd., 294. 160 Vgl. ebd.. 296. 161 Ebd., 295. 162 Ebd., 296. 163 Ebd., 295.

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sein könnte und ob - und wie - dieser Begriff „ielleicht nicht in der gleichen Bedeutung, aber doch mit dem gleichen Gewicht und in der gleichen Tiefe" für unsere Gegenwart wiedergewonnen werden könnte164. Im Rückgriff auf Kant und Schiller macht Weischedel klar, daß die „Zweideutigkeit"165 oder „Zwiespältigkeit"166 des Erhabenen dem Menschen einst zeigte, „wie es um ihn steht: daß er auf der einen Seite ein beschränktes und endliches Wesen ist und daß er doch andererseits wesensmäßig auf das Unendliche verwiesen ist"167.

Es ist dieser Unendlichkeitsbezug, der dem traditionellen Erhabenen nach Weischedel eine „tiefe metaphysische Bedeutung" verlieh168, Nietzsches Kritik auf den Plan rief und heute fragwürdig erscheint169. Dem heutigen Menschen fällt es schwer, sein „Wesen so zu deuten, wie dies noch Kant und Schiller vermochten", weil der „Bereich des Übersinnlichen sich dem Menschen tiefer entzogen" hat, so daß der „Versuch, festzuhalten, was im Gange der Geschichte unwiderruflich versunken ist, etwas von grausiger Komik an sich" hat170. Doch Weischedel erkennt auch, daß mit dem Unendlichen nur „eines der beiden Wesensmomente des Erhabenen, wie es Kant und Schiller verstanden haben, untergegangen" ist171. Das negative Moment im Erhabenen - die Endlichkeit des Menschen - bleibt bestehen und ist heute gegenüber dem positiven Unendlichkeitsbezug, auf den sich die KantRezeption bisher vornehmlich konzentriert hatte, in den Vordergrund getreten: „Der Nihilismus, wie er unser gegenwärtiges Daseinsgefühl beherrscht, entspringt aus der Freisetzung des negativen Moments aus dem vollen Wesen des Erhabenen. So ist denn auch die Geschichte des Wortes .erhaben' unzulänglich beschrieben, wenn sie bloß als ein Verfall ins Lächerliche gedeutet wird. Sie ist die Geschichte des Verschwindens des einen und des Hervorbrechens des anderen Momentes aus dem Gefüge des Erhabenen. Damit aber ist sie ein Spiegel des Wandels unseres Zeitbewußtseins überhaupt in den letzten zwei Jahrhunderten."172

Daraus ergibt sich für Weischedel die naheliegende und auch für diese Arbeit relevante Frage, ob das nun zeitgemäß auf das negative Moment reduzierte Erhabene, das .Erhabene ohne Höhe' also, überhaupt noch so zu nennen sei oder „ehrlicher" als Nichts zu bezeichenen wäre173. Auch auf diese Frage gibt Weischedel eine zukunftsweisende Antwort: Solange nämlich nicht sicher sei, „daß das Nichts das rein Negierende ist", sondern „nicht anders als das Erhabene, ein doppeltes Gesicht: das des Schreckens und Untergangs,

164 Wilhelm Weischedel, „Rehabilitation des Erhabenen", in: Josef Derbol av/Friedrich Nicolin (Hrsg.), Erkenntnis und Verantwortung. Festschrift für Theodor Litt, Düsseldorf 1960, S. 335-345, hier 336. 165 Ebd., 338. 166 Ebd., 340 und 341. 167 Ebd., 339. 168 Ebd., 342. 169 Vgl. ebd., 343. 170 Ebd. 171 Ebd., 344. 172 Ebd., 345. 173 Ebd.

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und das andere, auf dem sich die Züge eines neuen Ursprungs abzeichnen", haben könnte, solange, so Weischedels Schluß, „wird es gut sein, den Namen des Erhabenen nicht zu vergessen"174. Auch diese „Rehabilitation" war jedoch ohne Durchschlagskraft. Auch sie vermochte, wie Renate Homann im Historischen Wörterbuch lakonisch vermerkt, die Entaktualisierung des Erhabenen nicht aufzuhalten175, so daß die gleiche Autorin noch 1977 mit Recht konstatieren kann, daß das Erhabene „in der gegenwärtigen philosophischen Forschung keine Rolle spielt" und zudem im Verdacht steht, ein „Anachronismus" zu sein176.

Die Renaissance des Erhabenen Erst in den achtziger Jahren änderte sich die Situation schlagartig: Mit einem weltweiten Ästhetikboom ging eine ebenso weltweite Renaissance des Erhabenen einher. Das neu erwachte Interesse an der Ästhetik fand seinen Fokus nicht etwa im Schönen, sondern in der längst vergessen geglaubten, „anachronistisch" anmutenden Kategorie des Erhabenen. Es erschienen zahlreiche Aufsätze und Bücher zum Thema, in denen die Autoren versuchten, nicht nur die großen Theoretiker des Erhabenen neu zu lesen, sondern Spuren des Erhabenen auch dort aufzudecken, wo es am wenigstens einschlägig schien: im 20. Jahrhundert177. Nichts ging mehr ohne das Erhabene - ein mit Blick auf die Begriffsentwicklung schier unglaublicher Vorgang. Da noch kein Ende dieser Rethematisierung des Erhabenen abzusehen ist, wären abschließende Bewertungen sicherlich verfrüht. Auch kann ich hier nicht alle neuen Einlassungen zum Thema referieren. Sie berühren ganz unterschiedliche Aspekte des Erhabenen und reichen von rhetorischen über literaturwissenschaftliche und kunsthistorische bis zu psychoanalytischen Fragestellungen. Philosophisch und in bezug auf mein Vorhaben sind vor allem folgende zwei Dinge interessant:

174 Ebd. 175 Deren Gründe nach Homanns Meinung „in der Insuffizienz der Metaphysik , in der Kritik der Religion in der Zuspitzung der gesellschaftlich-politischen Problematik und in der zunehmenden Relevanz von Naturwissenschaft, Technik und Psychologie" zu suchen sind {Historisches Wörterbuch..., a.a.O., Sp. 635). 176 Homann, Erhabenes und Satirisches, a.a.O.. 7. Einen (unfreiwilligen) Beleg dafür, daß das traditionelle Erhabene ein nicht mehr aktualisierbarer Anachronismus ist, liefert die 1951 entstandene Dissertation von Alfred von Fontano (Der Begriff des Erhabenen bei Kant, modern psychologisch betrachtet, Graz 1951), der die Erkenntnisse des „grössten und tiefsten Philosophen deutscher Zunge" (ebd., Vorbemerkung) mittels einer empirischen Untersuchung „in den Rahmen der Erkenntnisse der moderne Psychologie hineinzustellen" versucht (ebd.. 14). Diese empirische Überprüfung der Kantischen Bestimmungen wirkt ihrerseits anachronistisch, weil sie zu viele der .metaphysischen' Voraussetzungen der dogmatischen Kunstauffassung des 19. Jahrhunderts unhinterfragt übernimmt. Die moderne Kur0* ist in von Fontanos Augen nur „ein völlig bildloses Geklecksel und Gestrichel" (ebd., 70), dem keine „gesunde Idee" zu entnehmen und die deshalb „abwegig und bis ins Letzte zu verdammen" ist (ebd., 71). 177 Ähnlich wie es aus der heutigen Sicht des Erhabenen für Nietzsche oder Heidegger möglich (und nötig) wäre und wie Wolfgang Welsch es an Adorno bereits vorgeführt hat, versucht z.B.Vera Bresemann eine Lektüre Benjamins (dessen explite und flüchtige Bezugnahme auf das Erhabene z.B. in seinem Aufsatz über Goethes Wahlverwandtschaften theoretisch nicht viel hergibt), in der die impliziten Spuren des Er-

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Kants Erhabenes ist Hauptreferenzpunkt der Renaissance des Erhabenen, und das nicht nur im deutschsprachigen, sondern auch im angelsächsischen und französischen Raum, ungeachtet der eigenen Traditionen des Erhabenen, über die diese Länder verfügen. Weiskel nennt Kant den „chief philosopher of the sublime" 178 . In der Einschätzung des Erhabenen im allgemeinen und insbesondere seiner Kantischen Version läßt sich nun zweitens eine erstaunliche Polarität beobachten. Während in den U S A , in Großbritannien und in Frankreich, von w o die Renaissance des Begriffs ausging 179 , das Erhabene eher als Grenzerfahrung interpretiert wird, die die Einheitlichkeit des neuzeitlichen Subjekts in Frage stellt und - im Zentrum der modernen Kunst - über ein .kritisches' Potential gegenüber dem Gegebenen verfügt, w e i l sie die .Darstellung' zerbrechen läßt, wittern viele der darauf reagierenden deutschen Interpreten im wiedererstandenen Erhabenen die Gefahr eines wiederauferstehenden metaphysischen Größenwahns 1 8 0 : Sie

habenen aufgewiesen werden (vgl. Vera Bresemann, „Ist die Moderne ein Trauerspiel? Das Erhabene bei Benjamin", in: Pries [Hrsg.], Das Erhabene, a.a.O., S. 171-184). 178 The Romantic Sublime, a.a.O., 7. Neben den ständigen Bezugnahmen auf Kant, in den vielen Aufsätzen, die das Erhabene heute thematisieren, sind vor allen Dingen zwei neue Publikationen zu nennen, die sich ausschließlich mit der Interpretation der „Analytik des Erhabenen" befassen: Paul Crowther, The Kantian Sublime. Front Morality to Art, Oxford 1989, der das Erhabene in seiner traditionellen .beschönigten' und moralischen Form zu aktualisieren sucht, und Jean-François Lyotard, Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen, München 1994, in dem vor allem die systematischen Implikationen des Kantischen Erhabenen untersucht werden. Lyotards Rethematisierung der Kantischen „Analytik des Erhabenen" und seine Aktualisierung eines nicht-metaphysischen Erhabenen für die heutige Kunst (und Philosophie) haben entscheidend zur weltweiten Renaissance des Erhabenen beigetragen. Vgl. auch den - freilich wenig ergiebigen - Aktualisierungsversuch von Maria Isabel Peña Aguado, Ästhetik des Erhabenen. Burke, Kant, Adorno, Lyotard, Wien 1994. 179 Neben den bereits erwähnten Schriften können als besonders einflußreich für den angelsächsischen Bereich vor allen Dingen die folgenden Arbeiten gelten: Neil Hertz, The End of the Line. Essays on Psychoanalysis and the Sublime, New York 1985; Paul H. Fry, „Longinus at Colonus: The Grounding of Sublimity", in: ders., The Reach of Criticism: Method and Perception in Literary History, New Haven/ London 1983, S. 47-86; Donald W. Crawford, „The Place of the Sublime in Kants's Aesthetic Theory", in: Richard Kennington (Hrsg.), The Philosophy of Immanuel Kant, Washington 1985, S. 161-183 sowie, neben dem bereits erwähnten Aufsatz über Hegel, ein weiterer Aufsatz von Paul de Man über Kant („Phänomenalität und Materialität bei Kant", in: ders.. Die Ideologie des Ästhetischen, a.a.O., S. 9-38). Die Zeitschriften Studies in Romanticism (Nr. 26,1979) und New Literary History (Nr. 16,1985) veröffentlichten Sondernummern zum Erhabenen, die die Diskussion breit dokumentieren, aber auch zeigen, daß das Erhabene zumindest in den USA hauptsächlich Eingang in die Literaturdebatte gefunden hat, wie bereits Geoffrey Hartmans und Harold Blooms ältere Literaturinterpretationen zeigen (vgl. z.B. Harold Bloom, The Anxiety of Influence: A Theory of Poetry, New York 1973); vgl. auch Werner Hamacher, „Das Beben der Darstellung" , in: David E. Wellbery (Hrsg. ), Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists ,Erdbeben in Chili', 2. durchges. Aufl. München 1987, S. 149-173. - Zur französischen Thematisierung des Erhabenen vgl. neben weiteren Arbeiten Lyotards inbesondere zum Erhabenen in der modernen Kunst (in der Haupsache zusammengefaßt in: ders., Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien 1989) vor allem Jacques Derridas Aufsatz „Parergon", in: ders., Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1992, S. 31-177 und den bereits erwähnten Sammelband Du sublime (Paris 1988), der noch einmal die Zentralität Kants für die Diskussion zeigt. 180 Die hier der Einfachheit halber vorgenommene Unterteilung .angelsächsisch-französisch' versus .deutsch' soll keine geographische Frontenbildung suggerieren.Es bestehen durchaus große Differenzen innerhalb deijeweiligen .Lager'. So ist das Erhabene z.B. für Crowther Zeichen und Mittel einer Humanisierung, während es von Lyotard im Anschluß an Adomo als inhuman aufgefaßt wird.

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sehen im Erhabenen, zumal in seiner Kantischen Form, die Apotheose des neuzeitlichen Subjekts, das im „prometheische Auftrumpfen" seiner „Tugendgesinnung" seine „Überlegenheit über die Natur" demonstriert181. Für sie ist das Erhabene Zeichen nicht einer mit Unlust verbundenen Krise, sondern einer lustvollen Beherrschung der inneren und äußeren Natur durch Erhebung in eine höhere Sphäre182. Weniger kritische Stimmen affirmieren diesen metaphysischen Gehalt183. Andere weisen auf die beunruhigende Nähe des Erhabenen zum Nationalsozialismus hin184. Diese Polarität in der Einschätzung des Erhabenen hat eine vordergründige und eine tiefere Ursache: Erstere ist auf dem Hintergrund des bisher Gesagten leicht zu erkennen: Während die einen eben das tun, was Weischedel prognostiziert hatte, nämlich den negativen Pol des Erhabenen ins Zentrum des Interesses rücken (worin sie vom englischen bzw. französischen Ausdruck sublime bestärkt werden, der eher ein .unterhalb' als ein .überhalb' der Grenze suggeriert), haben die anderen allein die metaphysischen Gehalte des Erhabenen im Blick (die im deutschen Wort .erhaben' naheliegen). Sie richten ihr Augenmerk auf die oben geschilderte Entwicklung des Erhabenen, die seine positive Zugehörigkeit zur Metaphysik geradezu unausweichlich erscheinen läßt. Beide Interpretationen sind in sich schlüssig. Erstaunlich ist nur, daß sie sich beide mit Recht auf Kant beziehen können. Damit komme ich zum tieferen Grund für die heute zu beobachtende Polarität in der Einschätzung des Kantischen Erhabenen. Er bildet die Grundthese der folgenden Untersuchung.

181 So Hermann Schmitz, Was wollte Kant?, Bonn 1989, 170 bzw. 169, der gerade in diesem moralinen Triumph den eigentümlichen Beitrags Kants zur Ästhetik des Erhabenen sieht (vgl. ebd., 170). 182 Das (Kantische) Erhabene als Zeichen, wenn nicht Instrument der Naturbeherrschung hat erstmals ausführlich Christian Begemann, Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung (a.a.O.) dargelegt; vgl. auch ders., „Erhabene Natur. Zur Übertragung des Begriffs des Erhabenen auf Gegenstände der äußeren Natur in den deutschen Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts", in: Deutsche Vierteljahrsschriftfür Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 58 (1984), S. 74-110. Hartmut Böhme, der schon früher und psychoanalytisch geprägt auf ähnliche Selbsterhaltungsstrategien des Subjekts im Kantischen Erhabenen hingewiesen hatte (vgl. Hartmut Böhme/Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt/M. 1983, 215ff.), hat diesen Ansatz in seinem Aufsatz „Apokalypse" (Spuren 22 [1988], S. 37-40) mit Blick auf Technik und Krieg weiter ausgearbeitet (zu seiner Kant-Kritik vgl. auch Hartmut Böhme, „Das Steinerne. Anmerkungen zur Theorie des Erhabenen aus dem Blick des .Menschenfremdesten' ", in: Pries [Hrsg.], Das Erhabene, a.a.O., S. 119-141). Den Aspekt der Technik im Erhabenen beleuchtet tiefer Klaus Bartel „Über das Technisch-Erhabene", in: Pries [Hrsg.], Das Erhabene, a.a.O., S. 295-316, weiter ausgeführt in „Vom Erhabenen zur Simulation. Eine Technikgeschichte der Seele: Optische Medien bis 1900 (Guckkasten, Camera Obscura, Panorama, Fotografie) und der menschliche Innenraum", in: Jochen Hörisch/Michael Wetzel (Hrsg.),-4rmaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 1870-1920, München 1990, S. 17-42. 183 Wie etwa Karl Albert, vgl. S. 32. Anm. 154. 184 Vgl. z.B. Claus-Ε. Barsch „Das Erhabene und der Nationalsozialismus", ebenfalls in der dem Erhabenen gewidmeten Sondernummer des Merkur (487/488,1989), S. 777-790.

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Rückkehr zu den Texten - Ziele einer Reaktualisierung des Kantischen Erhabenen Das Kantische Erhabene ist durch eine Ambivalenz gekennzeichnet, der die geschilderte Rezeption nicht gerecht geworden ist. Diese bestand vielmehr in einer Vereindeutigung des Terminus' in diejenige Richtung, die ich .metaphysisch' genannt habe. Kant, so meine Behauptung, versteht das Erhabene jedoch nicht einseitig als lustvolle und harmonische (und daher dem Schönen ähnliche) Erhebung über alle Sinnlichkeit, wie es in seiner Nachfolge in scheinbarem Anschluß an Kant dargestellt wurde. Nicht zuletzt angesichts der faschistischen Instrumentalisierung des Erhabenen in diesem Jahrhundert - die als direkte Folge der Rezeption des Kantischen Erhabenen angesehen werden kann - gilt es heute, dieser Verkürzung durch eine möglichst genaue, eng an den Text sich haltende Rekonstruktion des Kantischen Erhabenen entgegenzutreten. Wer heute für eine Reaktualisierung des Erhabenen eintritt, muß gegen dessen metaphysische Interpretation gleichsam anschreiben. Nahezu die gesamte Weiterentwicklung des Erhabenen nach Kant ist dabei nur negativ als .Warnung' - brauchbar185. Selbstverständlich findet sich bei Kant in Sachen des Erhabenen vieles, was wir heute nicht mehr zu teilen vermögen - zumal die metaphysische Lesart durchaus in sich schlüssig und im Kantischen Text begründet ist. Gleichwohl kann man ihn gegen seine Rezeption stark machen. Denn seine Ambivalenz bezüglich des Erhabenen erlaubt auch eine andere Interpretation dieses Begriffs, die ich - im Gegensatz zur metaphysischen - die kritische Lesart nennen möchte und um die es mir in der folgenden Arbeit geht. Der Niedergang des Erhabenen war Folge des Niedergangs der Metaphysik. Wenn das Erhabene heute noch oder wieder aktuell sein soll, muß es anders, nämlich kritisch, gedacht werden. Die kritische Lesart des Erhabenen stellt die in diesem Gefühl implizierte Negativität in den Vordergrund. Das Erhabene ist ihr nicht Zeichen einer moralischen und metaphysischen Er- bzw. Überhebung des Subjekts, sondern Ausdruck einer Grenzerfahrung. Im Gegensatz zur bisherigen Rezeption, die annahm, daß mit dem Erhabenen, um es mit Vischer zu sagen, die „Grenze verschwindet"186, möchte ich behaupten, daß das Erhabene die Grenze zum Übersinnlichen zeigt. Es ist diese Grenze. Fast alle Interpreten und Theoretiker des Erhabenen nach Kant haben das Erhabene als Aufstieg verstanden, der eine Ablösung des Geistes von den Fesseln der Sinnlichkeit - kantisch gesprochen: der Vernunft von der Einbildungskraft - bedeutet. Es ist dieser Weg, der in die Metaphysik führt und das m.E. bei Kant noch ästhetische Erhabene seiner Ästhetizität beraubt. Trotz neuer Schwierigkeiten, die sich so ergeben, ist in der kritischen Lesart auf einer Anbindung der Vernunft an die Sinnlichkeit zu beharren - einer Anbindung, die in keiner Synthese kulminiert. Gegen die Tradition gilt es daher, die beiden Pole des Erhabenen nicht zugunsten des positiven zu harmonisieren und insofern die Grenze zum Schönen zu verwischen. Das Erhabene muß dem Schönen wieder gegenübergestellt werden und ist streng vom Schönen zu unterscheiden. Besonderes Gewicht liegt dabei auf der Diskrepanz der beiden Pole des Erhabenen, die Kant im Mathematisch-Erhabenen am deutlichsten herausgearbeitet hat.

185 Ausnahmen bilden Adorno und Weischedel, die - ersterer implizit, letzterer explizit - bereits Hinweise auf ein heute zeitgemäßes Erhabenes geben, das ich das .kritische' Erhabene nenne. 186 Vischer, Über das Erhabene..., a.a.O., 71.

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Die Kant-Nachfolge hat das Erhabene allein auf seine dynamische Form reduziert, die man ohne Umschweife als .Faszination des Grauens' bezeichnen kann187. Auch dieser Reduktion muß heute scharf entgegengetreten werden. Kants Mathematisch-Erhabenes ist systematisch aufschlußreicher und weitaus aktueller als das Dynamisch-Erhabene, gerade mit Blick auf heutige Kunst188. Es erlaubt einen sehr viel differenzierteren Zugang zu ästhetischen Fragen als dasjenige (schöne) Amalgam, das seit der Romantik aus der Ästhetik wurde. Es ist auch eine Kategorie, die der Komplexität der heutigen Zeit angemessen ist. Der Name des Erhabenen klingt altertümlich. Das Erhabene selbst ist hochaktuell. Die metaphysische Lesart des Kantischen Erhabenen ist aus heutiger Sicht zu kritisieren. Kants Aktualität tut das keinen Abbruch. Denn die metaphysische Variante des Erhabenen kommt bei ihm in dieser Eindeutigkeit nicht vor. Das wird das Herausarbeiten der kritischen Lesart zeigen, die im Gegensatz zur metaphysischen Interpretation ohne Vereindeutigung Kants auskommt. Sie trägt Kants Ambivalenz angesichts des Erhabenen insofern Rechnung, als sie, bei aller Betonung des ersten .sinnlichen' Pols des Erhabenen, den zweiten .übersinnlichen', der die (bei Kant freilich immer nur negativen) metaphysischen Implikationen des Erhabenen offenbart, nicht aus dem Blick verliert. Es ist also Kants Erhabenes selbst, das von der positiver! Metaphysik, die sich auf ihn zu stützen vermeint, wegführt. Daß beide Lesarten möglich sind - diese Ambivalenz erklärt die Polarität in der Einschätzung des Kantischen Erhabenen heute. Daß die kritische Lesart heute geboten und daß sie Kant gerechter wird, möchte ich hier vertreten. Aus ihr ergibt sich eine neue Perspektive auf die Kantische Systematik: Das Erhabene spielt innerhalb des Kantischen .Systems' eine sehr viel größere Rolle, als gemeinhin (aus dem Blickwinkel der Rezeptiorisgeschichte) angenommen wird. Mit all 187 Es ist dieses Verständnis des Erhabenen als Faszination des Grauens oder des Schreckens, das generell zur Kritik an Kants Mathematisch-Erhabenem, in dem vom Schrecken keine Rede ist, selbst bei seinen Anhängern geführt hat. - Es wird nach dem bisher Gesagten kaum erstaunen, daß die traditionelle metaphysische Lesart des Erhabenen das Dynamisch-Erhabene favorisiert, während die von mir so genannte kritische Lesart dem Mathematisch-Erhabenem den Vorzug gibt. Dies läßt sich bis in Einzelfragen weiterverfolgen: So beruht z.B. Christa Bürgers Kritik an Lyotards Applikation des Erhabenen auf die Avantgardekunst auf dem Argument, daß er „das Entscheidende an einer Kunst des Erhabenen verfehle : den Schrecken" („Moderne als Postmoderne. Jean-François Lyotard", in: dies./Peter Bürger [Hrsg.], Postmoderne: Alltag, Allegorie und Avantgarde, Frankfurt/M. 1987, S. 122-143, hier 141). Sie übersieht dabei, daß Lyotard seine Analyse der Avantgardekunst eindeutig, wenn auch unausgesprochen, am Mathematisch-Erhabenen orientiert und nicht, wie Christa Bürger mit Blick auf die gängige Interpretation des Kantischen Erhabenen meint, am Dynamisch-Erhabenen. 188 Damit will ich nicht behaupten, daß das Dynamisch-Erhabene in heutiger Kunst keine Rolle spiele, im Gegenteil: Zur Erklärung der Lust an Schauerromanen oder Horrorfilmen scheint es mir sehr geeignet. Durch die ihm eigene Tendenz zur Verherrlichung von Grausamkeit und Gewalt halte ich es jedoch für ideologisch belasteter (und belastbarer) als das Mathematisch-Erhabene, in dem es - allgemeiner - um Probleme der Wahrnehmung geht. Eine Verbindung von Kunst und Dynamisch-Erhabenem halte ich daher - auch aus Gründen der begrifflichen Unschärfe, die der dynamischen Variante in der Tradition eher innewohnte als der mathematischen - erst nach einer genauen Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit des Erhabenen am Beispiel des Mathematisch-Erhabenen für sinnvoll. - Eine Untersuchung heutiger Kunst unter dem Gesichtspunkt des Mathematisch-Erhabenen müßte überdies die .Größe', auf die Kant hier rekurriert, im übertragenen Sinne verstehen, und zwar nicht als Größe der Kraft, wie das mit Blick auf das Dynamisch-Erhabene in der Tradition geschehen ist, sondern im Hinblick auf seine Wirkung, die darin besteht, daß etwas die Wahrnehmungsfähigkeit des Rezipienten übersteigt oder unterläuft Es wäre daher heute vielleicht angemessene von Komplexität und nicht von Größe zu sprechen."

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den Fragen und Problemen, die es offenbart, bildet es, so meine These, das gesamte Unternehmen der Kritik (mit all den Fragen und Problemen, die dieses letztere offenbart) sozusagen ab. Weit eher als das Schöne spiegelt das ambivalente bzw. bipolare Gefühl des Erhabenen nicht nur den in der Kritik der Urteilskraft anvisierten Übergang zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem, sondern auch eine Art Übergang von Kritik zu Metaphysik bei Kant, der als ein „ästhetischer Widerstreit"189 innerhalb der Ästhetik über die im engeren Sinne ästhetischen Fragen der Kritik der Urteilskraft hinausgeht. Als solcher betrifft er die Kritik im ganzen, wie ich im Rückgriff auf die Kritik der reinen Vernunft (also der Kritik) zeigen werde. Die Spuren des Erhabenen, das man im Rahmen der dritten Kritik als .Resultat' des „kritischen Geschäfts" bezeichnen kann, lassen sich bis in die erste Kritik zurückverfolgen und eröffnen eine neue Perspektive auf diese. Eine solche rückwärtige Vorgehensweise wird zeigen, daß nicht nur das Erhabene ohne das kritische Verfahren undenkbar ist, sondern dieses auch mit jenem zu tun hat. Erhabenes und Kritik stehen bei Kant in enger Wechselbeziehung. Der kritische Richter läßt sich bei der kritischen Grenzziehung selbst von erhabenen (Grenz) Gefühlen leiten. Das Erhabene ist das kritische Gefühl par excellence, das nicht nur ,das Gegebene' (und Kants eigene - und zwar auch die transzendentale - Ästhetik) hinterfragt, sondern zeigt, wie der kritische Richter auf die ihm eigene (im kantischen Sinne) dialektische Weise seine Maßstäbe gewinnt, wobei nicht zuletzt die Gefahr eines Rückfalls in die dogmatische Metaphysik offenkundig wird. Die Fronten in der derzeitigen Diskussion um das Erhabene scheiden sich an der Frage, ob Kant hier Kritiker geblieben oder zum Metaphysiker geworden ist. Diese Diskrepanz soll die folgende Untersuchung erklären. Dabei wird zugleich deutlich werden, inwiefern das als kritisches Gefühl verstandene Erhabene am sozusagen .übersinnlichsten' und damit .metaphysischsten' Punkt des kritischen Systems auch den Metaphysiker Kant noch in kritische Bahnen lenken könnte. Ein weiteres Anliegen dieser Studie - und das dürfte aus dem bisher Gesagten schon hervorgegangen sein - besteht darin, Kant gegen einen großen Teil seiner Rezipienten (und teilweise auch gegen sich selbst) sozusagen in Schutz zu nehmen: Die Begriffsbestimmung des Erhabenen bei Kant mag zwar teilweise widersprüchlich (und die „Analytik des Erhabenen" in sich dunkel und unklar) sein. Doch das liegt weniger an Kant als an seinem Thema. Seine Bestimmungen des Erhabenen sind bei aller Ambivalenz klarer als die seiner Nachfolger, deren (scheinbare) Klarheit den Begriff nicht nur verfälscht, sondern auch entwertet hat. Auch in dieser Hinsicht erweisen sich Kants Bestimmungen des Erhabenen als weitaus aktueller als diejenigen seiner Nachfolger. Ihre scheinbaren und immer inhaltlicher werdenden .Differenzierungen' gegenüber Kant wirken heute im besten Fall antiquiert. Wo sie in Gewaltphantasien kulminieren, sind sie unannehmbar und muß man geradezu dankbar für Kants so oft als rigide beklagten Formalismus, seine Nüchternheit und Strenge sein. Auch hier liegt ein Grund, sich zunächst so eng wie möglich an Kants Bestimmungen des Erhabenen zu halten (und erst in einem zweiten Schritt an dessen zeitgemäße inhaltliche Ausbuchstabierung zu denken). Sie sind heute gegen die verwirrende (und verwirrte) Entwicklung, die der Begriff des Erhabenen seit Kant genommen hat, wieder hervorzuheben. Der Spott der meisten Autoren in Kants Nachfolge, insbesondere über seine Konzeption des Erhabenen, erscheint mir nicht gerechtfertigt. Das gilt auch für den Punkt, der 189 So ein Ausdruck von Lipps, der diesen Widerstreit freilich aus der Ästhetik ausschließen möchte (vgl. Lipps, Grundlegung..., a.a.O., 36ff.).

Rückkehr zu den Texten

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Kants Nachfolger wohl am meisten amüsiert hat: sein scheinbar unbedarftes Verhältnis zur Kunst. Kants Erhabenes ist für die Kunst, und zwar gerade für die zeitgenössische ,nichtmehr-schöne' Kunst, sehr viel relevanter als ein schier unausrottbares Vorurteil suggeriert. Denn Kants Ästhetik (inklusive des Erhabenen) ist zum einen konkreter (um nicht zu sagen empirischer) als die Ästhetiken z.B. des objektiven Idealismus, die heute schlichtweg .abgehoben' wirken und deren Emphase und Bemühen um Objektivität nur noch mit größter Mühe nachvollzogen werden kann. Zum anderen ist Kants Ästhetik aber trotz ihrer Subjektivität allgemeingültiger als diejenigen empirisch-psychologischen Ansätze, die sich vom objektiven Idealismus abzusetzen suchten, sich dabei jedoch bei aller Genauigkeit in unergiebigen Details verloren190. Diese Relevanz Kants wini jedoch erst in einem zweiten Schritt, nach der Entwicklung eines Begriffs des Kritisch-Erhabenen auf der Basis der strikten Beschränkung auf Kants Naturerhabenes191, sichtbar, und ich werde sie in dieser Studie weitgehend ausklammern müssen. Schließlich soll diese Untersuchung jenseits des modischen Geredes vom Erhabenen durch eine möglichst profunde Analyse eine Grundlage für die weitere Auseinandersetzung um das Erhabene und um Kant schaffen. Dies erscheint mir nötig, weil Kants „Analytik des Erhabenen" bei aller Zentralität für die derzeitige Diskussion auch in den neueren Abhandlungen zum Thema teilweise recht diffus (bzw. nach dem alten metaphysischen Eindeutigkeits-Schema) abgehandelt wird. Angesichts von Kants Ambivalenz bezüglich des Erhabenen wächst, wo diese nicht expliziert wird, die Gefahr der Beliebigkeit. Wenn man diese vermeiden will, ist es unumgänglich, mit einigen Stereotypen der Kant-Rezeption zu brechen. Ohne der Blauäugigkeit zu verfallen, daß sich seit Kants Zeiten nichts geändert hat und man seine immerhin 200 Jahre alten Kategorien ohne weiteres auf die heutige Zeit anwenden kann, will ich den Versuch einer Reaktualisierung des Kantischen Erhabenen in seiner ganzen philosophischen Tragweite unternehmen - gerade weil sich seit Kant viel verändert hat. Der folgende Reaktualisierungsversuch hat von daher drei Teile: Der erste Teil besteht in einer möglichst präzisen Rekonstruktion des Kantischen Erhabenen. Aufgrund der oben dargelegten Verfälschung dieses Begriffs in der Kant-Nachfolge wird sie sich so eng wie möglich an den Kantischen Text halten und - da sie sich als kritische Lesart versteht, die sich explizit gegen die metaphysische Interpretation des Erhabenen wendet - besonders diejenigen Punkte zu entkräften suchen, auf die sich die metaphysische Lesart stützt. Sie

190 Ganz zu schweigen von dem hehren Menschenbild, das jeweils vertreten wird und das heute in Frage steht. 191 Der Grund für diese Abstinenz von der Kunst ist ebenfalls in der bisherigen Rezeption zu suchen, deren Problem darin bestand, daß ,das Erhabene' in der Kunst und d.h. von Menschenhand objektiv .gemacht' werden konnte. Kants Beschränkung auf das Naturerhabene wurde durch die Bank belächelt oder ignoriert. Aus heutiger Sicht weiß man, daß es gute Gründe gibt, Substantialisierung und Machbarkeit des Erhabenen zu vermeiden, was Kant, dem es auf das subjektive Gefühl des Erhabenen ankam, getan hat. Auf dieses Gefühl, also, wenn man so will, auf den Effekt eines .erhabenen Objekts', gilt es daher heute zunächst wieder zurückzukommen, auch und gerade wenn man das Erhabene in der Kunst geltend machen, seine Beherrschbarkeit im Rahmen einer Regelpoetik oder Produktionsästhetik aber vermeiden will. Und das ist am plausibelsten, wenn man zunächst vom per definitonem ,un verfügbaren' Naturerhabenen ausgeht. Erst auf dieser Basis kann man dann sinnvoll die Kunst unter dem Blickwinkel des Erhabenen betrachten, wobei Adornos Wort von der „Invasion des Erhabenen in die Kunst" (Ästhetische Theorie, a.a.O., 292) die einzuschlagende Richtung weist.

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Zur Einführung

wird daher das Erhabene scharf vom Schönen abgrenzen; sie wird neben dem dynamischen vor allem das mathematische Erhabene berücksichtigen; und sie wird schließlich der gängigen Meinung, daß das Erhabene kein ästhetisches, sondern ein moralisches Gefühl sei, entgegentreten. Im zweiten Teil geht es um die systematischen Implikationen des nach der kritischen Lesart rekonstruierten Erhabenen im Rahmen der Kritik der Urteilskraft. Wenn man die Eigenständigkeit des Erhabenen systematisch ernst nimmt, erlaubt das eine neue Sicht des Problems des „Übergangs", dem die Kritik der Urteilskraft gewidmet ist. Entgegen der üblichen Auffassung, daß dieser Übergang entweder über das Schöne oder teleologisch vorgenommen wird, will ich versuchen zu zeigen, daß sich die „Analytik des Erhabenen" zwischen bzw. .unter' die Ästhetik des Schönen und die Teleologie schiebt und die darin vorgenommenen Übergangsversuche erst ermöglicht. Da diese Frage in der Forschung bisher kaum oder gar nicht erörtert worden ist, werde ich mich wiederum eng an den Text der Kritik der Urteilskraft halten. Ausgehend von diesen weiterreichenden Implikationen des Erhabenen werde ich im dritten Teil den Spuren seiner Struktur in der Kritik der reinen Vernunft nachspüren. Dabei wird bei der transzendentalen Ästhetik anzusetzen sein, zu der das Erhabene als ästhetisches Gefühl (im Sinne der dritten Kritik) erstaunliche Affinitäten aufweist, die es aber gleichzeitig in Frage stellt. Diese Spur gilt es dann - um meine These vom Erhabenen als kritischem Gefühl zu erhärten - über die Dialektik der reinen Vernunft bis zu den Charakteristika des „kritischen Gerichtshofs" im allgemeinen weiterzuverfolgen. Sie zeugt von einem bei Kant in dieser Form uneingestandenen Hang zur Metaphysik, der die kritischen Errungenschaften zunichte zu machen droht. Analog zur Korrektur der metaphysischen Interpretation des ambivalenten Erhabenen durch eine kritische kann jedoch auch diese dem kritischen Verfahren selbst innewohnende Ambivalenz korrigiert und damit die Gefahr einer positiven Metaphysik gebannt werden. Da ich auch in diesem Teil Neuland betrete, werden meine Behauptungen abermals vornehmlich am Kantischen Text zu überprüfen und zu erhärten sein.

1. Das Erhabene in der Kritik der Urteilskraft

Die „Analytik des Erhabenen" ist wohl der schwierigste, in jedem Fall aber der am wenigsten ausgearbeitete Teil der ohnehin nicht als .einfach' geltenden Kritik der Urteilskraft. Man hat den Eindruck, daß Kant mehrmals .ansetzen' muß, um die Eigentümlichkeit des Erhabenen herausarbeiten zu können. Zudem hat es den Anschein, als ob Kant in keiner Weise geneigt sei, dem Erhabenen größere Bedeutung für seine Philosophie beizumessen. Er bezeichnet die Analyse des Erhabenen als „bloßen Anhang zur ästhetischen Beurteilung der Zweckmäßigkeit der Natur", der „bei weitem nicht so wichtig und an Folgerungen reichhaltig sei, als der des Schönen"1. Aus heutiger Sicht hingegen ist die „Analytik des Erhabenen" an Folgerungen mehr als reichhaltig. Bei näherer Betrachtung erweisen sich Kants knappe Ausführungen als wahre Fundgrube von großer Wichtigkeit für die gesamte kritische Philosophie. Aufgrund der Schwierigkeit der „Analytik des Erhabenen" und weil auch die Sekundärliteratur nicht viel zu deren Klärung beigetragen bzw. deren unbefangene Interpretation durch ihr einseitig metaphysisches Begriffsverständnis nur verfälscht hat, wird es hier zunächst darum gehen müssen, eine konsistente Lesart des teilweise in sich widersprüchlichen Textes der Kritik der Urteilskraft vorzulegen2. Erst auf der Basis der genauen Klärung, worum es sich bei dem Gefühl des Erhabenen, das Kant in der Ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft enigmatisch, aber auch vielversprechend ein „Geistesgefühl" nennt3, tatsächlich handelt, kann man sich sinnvoll seiner eigentlichen Interpretation im systematischen Kontext und dem sich daraus ergebenden Bezug zur Kritik im ganzen zuwenden. Grosso modo dem Kantischen Aufbau folgend, gliedert sich diese Rekonstruktion des Erhabenen in vier Abschnitte: Im ersten geht es um die Absetzung des Erhabenen vom Schönen, im zweiten um das Mathematisch-Erhabene, im dritten um das Dynamisch-Erhabene und im vierten schließlich - unter Einbeziehung der „Allgemeinen Anmerkung", die auf die „Analytik des Erhabenen" folgt - um das Verhältnis des Erhabenen zur Moralität, das für das Verständnis des Erhabenen entscheidend ist. 1 Kritik der Urteilskraft (im folgenden als KU im laufenden Text zitiert), Hamburg 1974 (unveränderter Nachdruck der 6. Aufl. von 1924), Β 78. Die Seitenangaben beziehen sich wie üblich auf die Originalpaginierung der 2. Aufl. von 1793. Der Text wird nach der Meiner-Ausgabe zitiert. 2 Da es mir in der Hauptsache um den systematischen Stellenwert des Erhabenen innerhalb des kritischen .Systems' geht, werde ich die vorkritischen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen von 1764 und die sogenannten Bemerkungen in den ,Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen ' (um 1766) aus dem Nachlaß hier nicht berücksichtigen. 3 Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, 3. durchges. Aufl. Hamburg 1977 (im folgenden als EE im

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Das Erhabene in der Kritik der Urteilskraft

1.1. Die Absetzung des Erhabenen vom Schönen Die „Analytik des Schönen", an die sich die Analyse des Erhabenen direkt anschließt, bildet die Grundlage für die Charakterisierung des Erhabenen. Kant beschreibt das Erhabene negativ im Verhältnis zum Schönen, das ihm gleichsam als Folie dient. Indem er zu Beginn der „Analytik des Erhabenen" Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Schönem und Erhabenem aufzählt, nennt er bereits alle für das Erhabene entscheidenden Punkte: Ebenso wie das Gefühl des Schönen gefällt das Gefühl des Erhabenen für sich selbst, ist also weder ein auf Erkenntnis ausgerichtetes logisches Urteil, noch ein bloßes Sinnenurteil, sondern ein „Reflexionsurteil" (KU, Β 74), das aber trotzdem allgemeingültig (vgl. ebd.), subjektiv zweckmäßig, ohne Interesse und notwendig ist (vgl. KU, Β 79). Ebenso wie das Schöne ist es ein Wohlgefallen, eine „Einstimmung", die zur „Beförderung" der Vernunft dient4. Dieses „Wohlgefallen" gestaltet sich jedoch weitaus komplizierter als das auf Anhieb harmonische und lustvolle Schöne. Zwischen beiden Gefühlen bestehen so „namhafte Unterschiede" (KU, Β 75), daß Kant dem Erhabenen immerhin eine eigene „Analytik" widmet und es als zweites transzendentales Gefühl neben das Schöne stellt. Im Unterschied zum Schönen, das anläßlich der Form eines Gegenstandes einen unbestimmten Verstandesbegriff darstellt, handelt es sich beim Gefühl des Erhabenen, das „auch an einem formlosen Gegenstande" empfunden wird5, um ein Wohlgefallen, das sich an die Darstellung eines unbestimmten Vernunftbegriffes knüpft6. War Kant vorher noch so vorsichtig gewesen, das Wohlgefallen nicht direkt der Darstellung, sondern lediglich dem Vermögen der Darstellung zuzuweisen, so nimmt sich diese letztere Behauptung vor dem Hintergrund der bisherigen Resultate der kritischen Philosophie mehr als kühn aus, hatte diese doch gerade gezeigt, daß Ideen keine Anschauungen verstatten und deshalb nicht dargestellt werden können. Hier deutet sich bereits an, inwiefern das Erhabene für die Kritik im allgemeinen von Bedeutung werden könnte7.

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laufenden Text zitiert), 67. Die Seitenangaben beziehen sich auf die Originalpaginierung. Der Text wird nach der Meiner-Ausgabe zitiert. Vgl. entsprechend in der zweiten Einleitung, KU, Β XLVIII. KU, Β 74, wenn auch Kants Formulierung bereits hier mißverständlich ist: Er spricht von der Einstimmung von dem „Vermögen der Darstellung mit dem Vermögen der Begriffe des Verstandes oder der Vernunft" und von der „Beförderung der letzteren", welches ich hier als „Vernunft" interpretiert habe. Daß auch das Schöne zur Beförderung der Vernunft dient, hatte Kant in der „Analytik des Schönen" jedoch noch nicht gezeigt. Das wird erst in der „Deduktion" und in der „Dialektik" des ästhetischen Urteilsdeutlich. KU, Β 75; vgl. entsprechend Β 79: „Formlosigkeit, welche dem, was wir erhaben nennen, zukommen kann." Es scheint also auch Gegenstände ,mit Form' zu geben, die das Gefühl des Erhabenen hervorrufen. Vgl. KU, Β 75. In der „Analytik des Schönen" war nur - und das ist die einzige Stelle, an der in der „Analytik des Schönen" überhaupt von „Darstellung" die Rede ist - in bezug auf das Ideal und die Idee von Darstellung gesprochen worden (vgl. KU, Β 54), also interessanterweise genau dort, wo - in einer Art Vorgriff auf „Deduktion" und „Dialektik" - bereits ein Bezug zum Übersinnlichen besteht und eben diese Darstellung problematisch ist. Entsprechend faßt Kant in der „Allgemeinen Anmerkung" noch einmal zusammen, daß es sowohl im Mathematisch- als auch im Dynamisch-Erhabenen um die Darstellung von Ideen ginge. Diese bliebe allerdings nur negativ (vgl. KU, Β 124) und subjektiv: „Buchstäblich und logisch betrachtet, können Ideen nicht dargestellt werden. Aber wenn wir unser empirisches Vorstellungsvermögen (mathematisch oder dynamisch) für die Anschauung der Natur erweitem, so tritt unausbleiblich die Vernunft hinzu, als Vermögen der Independenz der absoluten Totalität, und bringt die obzwar vergebliche Bestrebung des Gemüts hervor, die Vorstellung der Sinne diesen angemessen zu machen. Diese Bestrebung und das

Die Absetzung des Erhabenen vom Schönen

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Zweitens entsteht das Wohlgefallen im Gegensatz zum freien Spiel von Einbildungskraft und Verstand im Schönen, das eine direkte Lust zur Folge hat und die beiden Vermögen belebt, im Erhabenen nur indirekt „vermittelst einer Unlust"8. Das Erhabene ist keine reine Lust, sondern ein .gemischtes Gefühl', das konstitutiv aus zwei Momenten oder Komponenten, aus zwei Phasen, einer .negativen' und einer .positiven', Unlust und Lust besteht: Auf eine anfängliche Hemmung folgt eine um so stärkere „Ergießung" (KU, Β 75). Das Gefühl des Erhabenen ist ein bewegtes Gefühl (vgl. KU, Β 80). Es kommt einer „Erschütterung" (KU, Β 98) der Gemütsvermögen gleich, während das harmonische Schöne eher ein ruhiges Gefühl ist (vgl. ebd. und Β 80). Das Gemüt wird von dem betreffenden Gegenstand „nicht bloß angezogen, sondern wechselweise auch immer wieder abgestoßen"9. Das Erhabene ist also alles andere als Harmonie und reine Lust. Kant nennt es daher „negative Lust" (KU, Β 76) oder negatives Wohlgefallen (im Gegensatz zum positiven Schönen, vgl. KU, Β 117), das mit Bewunderung oder Achtung verwandt ist (vgl. KU, Β 76). Im Gegensatz zum Schönen ist der Gegenstand, der das Gefühl des Erhabenen hervorruft, nicht von vornherein zweckmäßig für die Urteilskraft, sondern wirkt zunächst zweckwidrig und unangemessen für unser Darstellungsvermögen, so daß der Einbildungskraft als diesem Darstellungsvermögen Gewalt angetan wird (vgl. KU, Β 76). Der Effekt dieser Unangemessenheit, die allein sich darstellen läßt, ist einerseits negativ - aus ihr entsteht die Unlust - , andererseits macht sie aber etwas Positives rege: Durch sie werden die Ideen ins Gemüt gerufen, die eine „höhere Zweckmäßigkeit enthalten" (KU, Β 77), so daß wir doch noch eine Zweckmäßigkeit, also Lust empfinden. Drittens scheint das Erhabene, wenn man so sagen kann, noch .reflektierender' und .subjektiver' zu sein als das Schöne, denn nicht der Gegenstand der Natur ist erhaben, „ob wir zwar ganz richtig sehr viele derselben schön nennen können"10, sondern nur das Gefühl in uns. Es gibt keine erhabenen Gegenstände, das Erhabene findet sich in keiner sinnlichen Form: in dem, was wir an ihr erhaben zu nennen pflegen, ist so gar nichts, was auf besondere objektive Prinzipien und diesen gemäße Formen der Natur führte, daß diese vielmehr in ihrem Chaos oder in ihrer wildesten, regellosesten Unordnung und Verwüstung, wenn sich nur Größe und Macht blicken läßt, die Ideen des Erhabenen am meisten erregt."11 Gefühl der Unerreichbarkeit der Idee durch die Einbildungskraft ist selbst eine Darstellung der subjektiven Zweckmäßigkeit unseres Gemüts im Gebrauch der Einbildungskraft für dessen übersinnliche Bestimmung, und nötigt uns, subjektiv die Natur selbst in ihrer Totalität als Darstellung von etwas Übersinnlichem zu denken, ohne diese Darstellung objektiv zustande bringen zu können" (KU, Β 115f.). 8 KU, Β 102. Wenn Kant in der „Allgemeinen Anmerkung" behauptet, daß das Erhabene unmittelbar gegen den Widerstand der Sinne gefalle (vgl. KU, Β 115), so legt er damit bereits das ganze Gewicht auf die Vernunft, auf die es ihm gegen Ende der Analyse des Erhabenen mehr und mehr ankommt. 9 KU, Β 75; vgl. entsprechend, Β 98: „Diese Bewegung kann (vornehmlich in ihrem Anfange) mit einer Erschütterung verglichen werden, d.i. mit einem schnellwechselnden Abstoßen und Anziehen ebendesselben Objekts." 10 KU, Β 76. Hier beginnt - in offensichtlicher Korrektur der „Analytik des Schönen", die auf dem rein subjektiven Charakter des Schönen insistiert hatte - eine .Objektivierung' des Schönen, die Kant im folgenden weiter ausdehnt und die ihm letztlich den gesuchten „Übergang" erlaubt, vgl. Kap. 2.2. 11 KU, Β 78. Da also „Größe und Macht" für das Erhabene entscheidend sind, ist die Ästhetik des Erhabenen keineswegs uneingeschränkt eine „Ästhetik des Schreckens", auf keinen Fall aber eine „Ästhetik des Häßlichen". Kant unterscheidet Häßlichkeit ausdrücklich von Erhabenheit (vgl. KU, Β 126).

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Das Erhabene in der Kritik der Urteilskraft

Es ist diese extreme Subjektivität, die Kants bereits erwähnter Behauptung, daß das Erhabene zur Beurteilung der Zweckmäßigkeit der Natur nur ein „Anhang" sei, zugrunde liegt. Da im Gefühl des Erhabenen die Einbildungskraft auf die Vernunft und nicht, wie im Schönen, auf den Verstand bezogen wird, ergeben sich - analog zu den ,zwei Arten' der Vernunft, der theoretischen und der praktischen - zwei Arten des Erhabenen: das Mathematisch-Erhabene, das die Einbildungskraft auf das Erkenntnisvermögen, also auf die theoretische Vernunft bezieht, und das Dynamisch-Erhabene, das die Einbildungskraft auf das Begehrungsvermögen, also auf die praktische Vernunft bezieht (vgl. KU, Β 80). Beide Arten des Erhabenen ergänzen und verschränken sich jedoch, insofern Kant zwar auch in der „Analytik des Erhabenen" systematisch nach den bereits in der „Analytik des Schönen" erprobten vier „Momenten" der Quantität, Qualität, Relation und Modalität vorgeht, die beiden ersten aber allein am Mathematisch-Erhabenen und die beiden letzten am Dynamisch-Erhabenen expliziert. Der Bezug auf die Vernunft und die Aufspaltung in zwei Varianten unterscheidet das Erhabene deutlich vom Schönen, hierin liegt aber auch ein Großteil der eingangs erwähnten Schwierigkeit der „Analytik des Erhabenen" begründet, die trotz der Orientierung an den vier Momenten an vielen Stellen unsystematisch wirkt.

1.2. Das Mathematisch-Erhabene Ebenso wie die erste mathematische Antinomie betrifft das Mathematisch-Erhabene die Größe: ein Gegenstand, der das Gefühl des Erhabenen hervorruft, ist schlechthin groß"12. Eine Größe „läßt sich aus dem Dinge selbst, ohne alle Vergleichung mit anderen, erkennen; wenn nämlich die Vielheit des Gleichartigen zusammen Eines ausmacht" (KU, Β 81). Der Auffassung einer Größe im allgemeinen liegt also eine Synthese zugrunde, die aus der Vielheit der Momente „Eines" macht. Diese wird von der ästhetischen Größenschätzung geleistet, die von der mathematischen Größenschätzung zu unterscheiden ist: Die (konkrete, objektive) Bestimmung einer Größe (wie groß etwas ist) gehört zur mathematischen oder logischen Größenschätzung, die immer nur „relative Größe" (KU, Β 87) darstellt, weil die Bestimmung der jeweiligen Größe einen Maßstab erfordert, der seinerseits wieder einen Maßstab erfordert usw., so daß kein absoluter Begriff einer Größe, sondern nur Vergleichungsbegriffe Zustandekommen (vgl. KU, Β 81). Die ästhetische Größenschätzung stellt dagegen Größe „schlechtweg" dar (ebd.). Sie urteilt „in der bloßen Anschauung (nach dem Augenmaße)" (KU, Β 85) und ist dadurch in der Lage, ein „Grundmaß" von Größe zu schätzen, weshalb „alle Größenschätzung der Gegenstände der Natur" - also auch die mathematische - „zuletzt ästhetisch" ist (KU, Β 86). Ihr liegt keine Vergleichung nach einem objektiven Maßstab zugrunde, wie der mathematischen Größenschätzung, sondern sie urteilt nach einem subjektiven Maßstab (vgl. KU, Β 82). Die Größe wird nicht bestimmt, sondern durch die reflektierende Urteilskraft ästhetisch beurteilt (vgl. ebd.). Wenn man (nach der ästhetischen Größenschätzung) sagt, 12 KU, Β 80. Da die Größe als (mathematische) Größe aber letztlich gar keine Rolle mehr spielt, wenn die Perspektive darin besteht zu zeigen, daß alles in der Natur im Vergleich zur Vernunft klein ist, stellt sich die Frage, ob nicht auch - analog zur zweiten mathematischen Antinomie - ein schlechthin Kleines denkbar wäre, das in seiner Unendlichkeit ebenso den Maßstab der Sinne übertrifft (bzw. unterläuft) wie das Schlechthin-Große.

Das Mathematisch-Erhabene

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daß etwas groß sei, dann liegt dem ein Begriff der Urteilskraft und eine subjektive Zweckmäßigkeit des betreffenden Gegenstandes in bezug auf diese Urteilskraft zugrunde (vgl. KU, Β 81). Gleichwohl erhebt man Anspruch auf Allgemeingültigkeit (vgl. KU, Β 82). Aufgrund der „Mängel des beurteilenden Subjekts" wird der der ästhetischen Größenschätzung zugrunde liegende Maßstab jedoch, selbst wenn er a priori gegeben ist, auf die „subjektive Bedingungen der Darstellung in concreto eingeschränkt" (ebd.). Auch wenn Kant in dem nun folgenden Passus diese ästhetische Größenschätzung bereits auf das Erhabene bezieht (das er an dieser Stelle noch gar nicht eingeführt hat) und sie explizit vom Schönen abzusetzen scheint (vgl. KU, Β 83), so ist doch klar, daß er hier allgemein von der ästhetischen Größenschätzung von Quantitäten spricht, die demnach auch das Schöne betrifft (das auf eine Synthese des Mannigfaltigen, auf eine Form nämlich, für die die ästhetische Größenschätzung verantwortlich zeichnet, bezogen ist)13. Aus dieser ästhetischen Größenschätzung resultiert nun ein Wohlgefallen, weil die Größenschätzung „subjektiv zweckmäßig ist", und dieses Wohlgefallen liegt in der „Erweiterung der Einbildungskraft an sich selbst" begründet14. Vom Schlechtweg-Großen, das die ästhetische Größenschätzung darzustellen vermag, ist nun das schlechthin große Erhabene zu unterscheiden, an dem die ästhetische Größenschätzung scheitert. Alle Bestimmungen, die für die ästhetische Größenschätzung Bedingung waren (und die Kant mit Blick auf das Schöne zu beschreiben scheint) und auf die es im Unterschied zur mathematischen Größenschätzung ankommt, nämlich die Einheit des Vielen (in der Form), die Darstellung in concreto, der subjektive Vergleichsmaßstab in uns und die unmittelbare subjektive Zweckmäßigkeit, fallen gleichsam aus: Wenn Kant schreibt, daß das Mathematisch-Erhabene „über alle Vergleichung groß ist" (KU, Β 81), dann heißt das, daß es nicht einmal mehr einen subjektiven Maßstab außer sich (und in uns) hat wie das Schlechtweg-Große (ganz zu schweigen von einem objektiven Maßstab, wie ihn die mathematische Größenschätzung erfordert). Es handelt sich vielmehr um eine „Größe, die bloß sich selber gleich ist", die also ihren Maßstab nur in sich selbst hat (KU, Β 84), um ein „absolutes Maß" (KU, Β 86). Daraus schließt Kant, daß das Erhabene nicht „in den Dingen der Natur, sondern allein in unseren Ideen zu suchen sei" (KU, Β 84). Was ein etwas vorschneller Schluß zu sein scheint, erklärt sich dadurch, daß alle Naturdinge nur relative Größen sind und das Unbedingte, das Absolut-Große - mit dem verglichen alles sich in der Natur Befindliche klein ist - allein in der Vernunft zu finden ist (vgl. ebd.): „Mithin ist die Geistesstimmung durch eine gewisse, die reflektierende Urteilskraft beschäftigende Vorstellung, nicht aber das Objekt erhaben zu nennen" (KU, Β 85).

Es erfolgt also hinsichtlich des Maßstabes eine Art Perspektivenwechsel vom Objekt zum Subjekt. War die ästhetische Größenschätzung zwar auch schon einem subjektiven Maßstab gefolgt, so schätzte sie doch damit noch ein Objekt ein. Die im Erhabenen aktive „in13 Das wird schon im nächsten Absatz deutlich, wo Kant über die Existenz von kleinen und großen Schönheiten nachdenkt (vgl. KU, Β 83f.). Das Mathematisch-Erhabene, als auf eine Größe bezogen, ist also von vornherein .grundlegender' ausgerichtet als das Schöne und weist darüber hinaus einen Bezug zur Ästhetik der ersten Kritik auf, in der es um die Wahrnehmung von Größen im allgemeinen geht - die dann in einem zweiten Schritt bestimmt werden. 14 KU, Β 83. Auch hier scheint eine Parallele zum schönen Lustgefühl vorzuliegen.

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Das Erhabene in der Kritik der Urteilskraft

tellektuelle Größenschätzung" (KU, Β 93) ist dagegen noch subjektiver als die ästhetische. Sie scheint nichts mehr mit dem Objekt, das sie auslöst, zu tun zu haben. In einem Vorgriff auf den nächsten Paragraphen erklärt Kant das Zusammenspiel von Einbildungskraft und Vernunft in dieser subjektiven „Gemütsstimmung" folgendermaßen: Die Einbildungskraft als sinnliches und endliches Vermögen strebt zwar nach Unendlichkeit, kann ihr aber nicht gerecht werden. Die Vernunft erhebt Anspruch auf Totalität, und durch das Unvermögen der Einbildungskraft, zu dieser Totalität zu gelangen, wird das Gefühl eines übersinnlichen Vermögens in uns erweckt: ,JSrhaben ist, was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüts beweist, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft. "15 Dieses übersinnliche Vermögen ist die Vernunft. Das Erhabene „beweist" also das Vorhandensein der Vernunft gefühlsmäßig, insofern es sie auf den Plan ruft. Doch wie hat man sich nun das Verhältnis von Einbildungskraft und Vernunft im Mathematisch-Erhabenen im einzelnen vorzustellen? Wie verhalten sich die beiden Pole des erhabenen Gefühls zueinander? Woher kommt angesichts des Schlechthin-Großen das Unvermögen der Einbildungskraft in der ästhetischen Größenschätzung, aus dem die Unlust resultiert, die sich im ersten Moment beim Gefühl des Erhabenen einstellt? Und welche Rolle spielt dabei die Vernunft, deren „intellektuelle Größenschätzung" im zweiten Moment doch noch Lust zu garantieren scheint? Angesichts des Schlechthin-Großen gelangt die ästhetische Größenschätzung an ihre Grenze. In der mathematischen Größenschätzung gibt es keine derartige Begrenzung: die Zahlbegriffe gehen durch bloße Progression (vgl. KU, Β 93) ins Unendliche (vgl. KU, Β 86), so daß die (reproduktive) Einbildungskraft bis ins Unendliche fortschreiten kann (vgl. KU, Β 90) und damit „jedem Gegenstande gewachsen" ist (KU, Β 93). Aber sie ist immer nur relativ auf ein Maß und erreicht nie jenes „Grundmaß" (das für die Phänomene, von denen hier die Rede ist, ein „absolutes Maß" sein müßte, KU, Β 86), wird also nie dem Ganzen oder der Totalität gerecht (vgl. KU, Β 92f.), geschweige denn, daß sie eine Rührung bewirken könnte (vgl. KU, Β 96). Das tut die ästhetische Größenschätzung, in der die (produktive) Einbildungskraft gleichsam von sich aus in der Lage ist, „Größe" hervorzubringen, und zwar ohne Veigleichung mit anderen Größen, indem sie einen Gegenstand als eine Einheit erfaßt, zusammenfaßt, wobei es auf den „Grad der Zusammenfassung in eine Anschauung als Maß" ankommt (KU, Β lOOf.). Wo es der mathematischen Größenschätzung objektiv mißlingt, die Totalität zusammenzufassen, da mißlingt es der ästhetischen Größenschätzung angesichts des Schlechthin-Großen subjektiv, die absolute Totalität zusammenzufassen (vgl. KU, Β 100). Woran liegt das? Die ästhetische Größenschätzung besteht aus zwei Handlungen der Einbildungskraft: auffassen und zusammenfassen16. Letzteres wird beim Erhabenen problematisch, weshalb die Darstellung der Totalität mißlingen muß. Kant schreibt: 15 KU, Β 85. Kant bekräftigt also abermals, daß das Erhabene nicht in einem Gegenstand der Sinne anzutreffen sei. Daraus zu schließen, daß das Gefühl des Erhabenen nicht sinnlich ist, wäre allerdings falsch. Das Erhabene ist zwar ein „Geistesgefühl", hat aber doch einen sinnlichen Anteil. 16 Vgl. KU, Β 87. An anderen Stellen macht Kant keinen Unterschied zwischen der Einbildungskraft als „Vermögen der Darstellung" und „Auffassung" (KU, Β 132). Auch wenn er behauptet, daß darstellen „ästhetisch vorstellen" heiße (KU, Β 84), unterschlägt er die für die Darstellung notwendige Komponente der Zusammenfassung - wohl, weil im Normalfall die Zusammenfassung kein Problem ist und mit der Auffas-

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„Mit der Auffassung hat es keine Not, denn damit kann es ins Unendliche gehen; aber die Zusammenfassung wird immer schwerer, je weiter die Auffassung fortrückt, und gelangt bald zu ihrem Maximum, nämlich dem ästhetisch-größten Grundmaße der Größenschätzung. Denn wenn die Auffassung so weit gelangt ist, daB die zuerst aufgefaßten Teilvorstellungen der Sinnenanschauung in der Einbildungskraft schon zu erlöschen drohen, indes daß diese zu Auffassung mehrerer fortrückt, so verliert sie auf einer Seite ebensoviel, als sie auf der anderen gewinnt, und in der Zusammenfassung ist ein Größtes, über welches sie nicht hinauskommen kann" (KU, Β 87). Angesichts des Schlechthin-Großen versagt das Synthesevermögen der Einbildungskraft: Die aufgefaßten Teile 17 lassen sich nicht mehr auf Anhieb, w i e in einem Augenblick also, zu einem Ganzen, zu einem Bild, zu einer Form zusammenfassen, synthetisieren. (Daher Kants Rede v o n der Formlosigkeit des Erhabenen.) Das Scheitern der Einbildungskraft beruht also auf einem Zeitproblem. Kant erklärt uns die Arbeit der Einbildungskraft so, daß die „Messung eines Raumes (als Auffassung) ein Progressus ; die Zusammenfassung der Vielheit in die Einheit nicht des Gedankens, sondern der Anschauung, mithin des Sukzessiv-Aufgefaßten in einem Augenblick, ist dagegen ein Regressus, der die Zeitbedingung im Progressus der Einbildungskraft wieder aufhebt und das Zugleichsein anschaulich macht" (KU, Β 99). Und Kant fährt hinsichtlich dieser „Zusammenfassung" fort: „Sie ist also (da die Zeitfolge eine Bedingung des inneren Sinnes und einer Anschauung ist) eine subjektive Bewegung der Einbildungskraft, wodurch sie dem inneren Sinne Gewalt antut, die desto merklicher sein muß, je größer das Quantum ist, welches die Einbildungskraft in eine Anschauung zusammenfaßt" (KU, Β 99f.). In der Auffassung v o n .normal' großen Gegenständen geschieht die Zusammenfassung unmerklich 18 , obwohl auch hier schon dem inneren Sinn, als dessen Gefühl Kant das Schöne ansieht (vgl. KU, Β 47) und der, w i e wir seit der Kritik der reinen Vernunft wissen, die Zeit ist, Gewalt angetan wird; in der Auffassung des Schlechthin-Großen und dem Versuch, es zusammenzufassen, wird die Gewalt manifest, mit anderen Worten: Im Gefühl des Erhabenen wird deutlich, w i e eine Form mit Hilfe der Zeit überhaupt synthetisiert wird. Die Tatsache, daß die Synthese „merkliche Zeit erfordert", bewirkt also das Scheitern der Einbildungskraft und wird als „zweckwidrig" empfunden 1 9 - daher die Unlust im Erhabenen. Trotzdem wird „ebendieselbe Gewalt, die dem Subjekte durch die Einbildungssung zusammenfällt. Trotzdem muß erstere immer mitgedacht werden, wie der Fall des Erhabenen zeigt, wo beide auseinandertreten und die „Darstellung" unmöglich wird. So heißt es denn auch in der „Deduktion des Schönen", daß die Einbildungskraft für die „Anschauung und Zusammensetzung" des betreffenden Gegenstandes zuständig ist (KU, Β 145). 17 Die man nur wahrnehmen, also auffassen kann, wenn man nicht zu weit von dem betreffenden Phänomen entfernt steht, sich also in der richtigen Distanz befindet, vgl. ebd. 18 Insofern kann ich Kaulbachs Meinung nicht teilen, daß in der „freien Synthesis" keine Teile wahrgenommen werden und im Gefühl des Schönen nur aufgefaßt und nicht zusammengefaßt wird (vgl. Kaulbach, Ästhetische Welterkenntnis..., a.a.O., 103), vgl. auch meine Anmerkung 16 in diesem Kapitel. 19 KU, Β 100. Kants Zusatz, daß diese Zweckwidrigkeit „objektiv aber als zur Größenschätzung erforderlich, mithin zweckmäßig ist" (ebd.), ist mehr als unklar. Es könnte sein, daß er hier von der mathematischen Größenschätzung spricht, der die ästhetische zugrunde liegt, es könnte aber auch sein, daß er lediglich darauf hinweisen will, daß diese Zweckwidrigkeit, diese „merkliche Zeit" in jeder, auch in jeder .objektiv zweckmäßigen' Synthese statthat. Die „höhere Zweckmäßigkeit", die im folgenden anläßlich des Gefühls des Erhabenen entdeckt wird, kann jedenfalls nicht gemeint sein, denn sie ist in jedem Falle nur subjektiv.

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kraft widerfährt, für die ganze Bestimmung des Gemüts als zweckmäßig beurteilt", und zwar „zugleich" (KU, Β 100). Wie kommt es dazu? Wodurch entsteht die Vorstellung, daß das Zweckwidrige doch noch zweckmäßig ist? Wie kommt es, daß die anfangs verspürte Unlust zu Lust wird? Wie kommt es zu der zweiten Phase des Gefühls des Erhabenen? Was bewirkt, daß die Einbildungskraft trotz des „Gefühl der Unangemessenheit für die Ideen eines Ganzen", wobei sie „um sie darzustellen, ihr Maximum erreicht und bei der Bestrebung, es zu erweitem, in sich selbst zurücksinkt", dennoch, und zwar gerade „dadurch", „in ein rührendes Wohlgefallen versetzt wird" (KU, Β 88)? Halten wir zunächst fest, daß es die Einbildungskraft selbst ist, die das Wohlgefallen empfindet, weil sie - gleichsam reflexiv - in sich zurücksinkt. Doch das erklärt noch nicht das Entstehen dieses Wohlgefallens. Da es sich um ein rein ästhetisches Urteil handeln soll, darf ihm weder ein Zweck zugrunde liegen20, noch darf es „mit irgendeinem Verstandes- oder Vernunfturteile vermengt sein" (KU, Β 90). Das Erhabene ist vielmehr an die „rohe Natur" gebunden (KU, Β 89). Aber woher kommt dann das Wohlgefallen, die subjektive Zweckmäßigkeit, wenn sie überdies nicht, wie beim Schönen, in der Form des Naturobjekts ihren Grund hat? „Wodurch wird sie", wie Kant selbst formuliert, gar „als Norm vorgeschrieben" (KU, Β 90)? Anläßlich dieser subjektiven Zweckmäßigkeit stellen sich vor allem zwei Fragen: Was treibt erstens die Einbildungskraft, warum gibt sie sich die „Mühe", die das Sichausdehnen über ihre Schranken bedeutet21, und was bewirkt zweitens das Auftreten der Lust? Die Vernunft spielt dabei eine Rolle, aber welche? In der mathematischen oder logischen Größenschätzung leitet der Verstand die Einbildungskraft durch Zahlbegriffe, aber daran ist weder ein Wohlgefallen noch ein Grund zu erkennen, warum die Einbildungskraft an ihre Grenze getrieben wird (vgl. KU, Β 90f.). Denn die Totalität ist hier, wie wir gesehen haben, von vornherein ausgeschlossen. Außer-

20 Weswegen Kant die Kunst von seiner „Ästhetik des Erhabenen" ausschließt, der - nach seiner Kunstvorstellung - immer ein Zweck zugrunde liegt, der ihre Form und Größe bestimmt (vgl. KU, Β 89). Er läßt Kunst für das Erhabene nur zu, insofern sie mit der Natur übereinstimmt, und betont den großen Unterschied in diesem Punkt zum Schönen (vgl. KU, Β 76). Doch eigentlich müßte, wenn jeder Kunst ein Zweck zugrunde liegt, dieser Ausschluß auch das Kunstschöne betreffen, zumal die letztere Einschränkung auf die Übereinstimmung mit Natur an anderer Stelle auch für das Schöne getroffen wird (vgl. KU, Β 179f.). Außerdem fragt man sich anläßlich der Beispiele Kants für Gegenstände, die das Gefühl des Erhabenen hervorrufen, ob der Petersdom und die Pyramiden tatsächlich eine naturidentische Kunst verkörpern oder ob sie nicht dieses Kunstverbot etwas mildern. Denn erstens wäre ja auch eine zweckfreie und formlose Kunst denkbar (die Kant sich freilich wohl noch nicht vorstellen konnte), und zweitens fordert er selbst, falls man schon Begriffe von einem erhabenen Gegenstand hat, von diesen abzusehen, „wie die Dichter es tun" (KU, Β 119), so daß sogar seine (aus heutiger Sicht vollkommen richtige) Verurteilung der „pathetische Beschreibungen" von erhabenen Gegenständen relativiert zu werden scheint. Einen ersten Schritt zur Lösung dieses Problems habe ich unternommen in „.Königsberger Avantgarde', oder: Wie modern war Immanuel Kant?" (in: Welsch/Pries [Wtsg], Ästhetik im Widerstreit. a.a.O., S. 155-164). 21 KU, Β 125. Diese „Schranken" gilt es, im Auge zu behalten. In Β 93 heißt es entsprechend, daß das Gemüt im Erhabenen „die Schranken der Sinnlichkeit zu überschreiten sich vermögend fühlt". In Β 91 ist dagegen von der „Grenze" des Vermögens der Einbildungskraft und in Β 87 von einem Größten die Rede, über das sie nicht hinauskommen kann, was dem .Überschreiten' zu widersprechen scheint. Eine Erklärung wird erst der Blick auf die gesamte Kritik geben können, die Grenzen setzt und wahrt, Schranken aber übersteigt. In jedem Fall bedeutet das Gefühl des Erhabenen eine Erweiterung der Einbildungskraft (vgl. KU, Β 83).

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dem darf der Verstand, wenn es sich beim Erhabenen um ein reines ästhetisches Urteil handeln soll, ja gar nicht in dieser leitenden - also wie in der Kritik der reinen Vernunft bestimmenden - Funktion wirksam werden22. In der ästhetischen Größenschätzung ist die Einbildungskraft ,ganz allein' am Werk. Warum wird sie also an ihre Grenze getrieben und empfindet erst Unlust, dann aber doch Lust? Hiermit sind wir an einem heiklen Punkt von Kants Konzeption des Mathematisch-Erhabenen angelangt. Es ist die Vernunft, auf deren Stimme das Gemüt „in sich" hört (KU, Β 91) und die wie schon in der Kritik der reinen Vernunft - „Totalität fordert, mithin Zusammenfassung in eine Anschauung , selbst ds Unendliche (Raum und verflossene Zeit)", das man sich ganz gegeben denken soll (KU, Β 92). Die Zusammenfassung (also Darstellung) dieses schlechthin großen Unendlichen als Totalität ist unmöglich, doch der bloße Umstand, es denken zu können, beweist das Vorhandensein eines übersinnlichen Vermögens (eben der Vernunft), „dessen Idee eines Noumenons, welches selbst keine Anschauung verstattet, aber doch der Weltanschauung, als bloßer Erscheinung, zum Substrat unterlegt wird" (ebd.). Kant nennt das die „intellektuelle Größenschätzung" (s.o.), die das Unendliche unter einem Begriff (nämlich einer Idee) ganz zusammenfaßt23. Das anfängliche Skandalon, das das Scheitern der Einbildungskraft bedeutet, wird durch das Eingreifen der Vernunft also doch noch in den Griff bekommen, womit selbst die schlechthin groß wirkenden Naturphänomene, die das Gefühl des Erhabenen auslösen und mit denen das Gemüt zunächst nichts anfangen kann, noch einen sinnvollen Platz im Kantischen .System' erhalten. Die Unlust im Erhabenen resultiert aus der Unangemessenheit der Einbildungskraft, doch gleichzeitig wird eine Lust an der Übereinstimmung dieser Unangemessenheit mit den Vernunftideen empfunden (vgl. KU, Β 97). Die beiden Gefühlskomponenten werden also gleichzeitig wahrgenommen. Wenn es vorher den Anschein hatte, als würden sie zeitlich aufeinanderfolgen, so ist das wohl eher Kants Bemühen zuzuschreiben, das Gefühl des Erhabenen zu analysieren, also seine einzelnen Bestandteile zu trennen. Das zeitgleiche Anziehen und Abstoßen, von dem eingangs die Rede war, erklärt sich vollends erst durch die Gleichzeitigkeit:

22 Daß die mathematische Größenschätzung sich daher gerade nicht mit der hier entdeckten „intellektuellen Größenschätzung" deckt und daß der Verstand der Einbildungskraft gerade nicht ,zu Hilfe' kommen kann, ist in der Forschung wohl mit Blick auf die erste Kritik häufig übersehen worden. Kants Text ist aber auch alles andere als klar. Seine Bemerkung, daß „die Einbildungskraft durch Zahlengrößen zur ästhetischen Zusammenfassung in eine größere Einheit aufgefordert wird" (KU, Β 101), fällt aus dem bisher Gesagten gänzlich heraus. Sie scheint noch auf der .Rivalität' von Einbildungskraft und Verstand zu beruhen, die er in der „Analytik des Schönen" aufgebaut hatte. Da diese Bemerkung jedoch keine systematischen Folgen hat - Kant kommt gleich darauf auf die „Erweiterung der Einbildungskraft" im Hinblick auf die „Angemessenheit mit dem, was in unserem Vermögen der Vernunft unbegrenzt ist", zu sprechen (ebd.) - , kann man diese Formulierung m.E. vernachlässigen. Wie einige andere .Dunkelheiten' auch, scheint die Unklarheit dieser Stelle auf der großen Eile zu beruhen, in der die Kritik der Urteilskraft abgefaßt wurde und die sich insbesondere in der „Analytik des Erhabenen" bemerkbar macht. 23 Es kommt also im Mathematisch-Erhabenen nicht nur auf die Unendlichkeit („Erhaben ist also die Natur in derjenigen ihrer Erscheinungen, deren Anschauung die Idee der Unendlichkeit bei sich führt", KU, Β 93), sondern auch und vor allem auf die Zusammenfassung dieser Unendlichkeit in ein Ganzes, also auf die Totalität an - weswegen der Verstand, der zwar in die Unendlichkeit gehen kann, aber nicht zu einem .Absolut-Ganzen' gelangt, von vornherein ausscheidet.

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„Das Überschwängliche für die Einbildungskraft (bis zu welchem sie in der Auffassung der Anschauung getrieben wird) ist gleichsam ein Abgrund, worin sie sich selbst zu verlieren fürchtet; aber doch auch für die Idee der Vernunft vom Übersinnlichen nicht überschwenglich, sondern gesetzmäßig, eine solche Bestrebung der Einbildungskraft hervorzubringen; mithin in eben dem Maße wiederum anziehend, als es für die bloße Sinnlichkeit abstoßend war" (KU, Β 98f.).

Die Harmonie, von der die Lust im Erhabenen sozusagen ,im zweiten Anlauf' zeugt, kommt nur durch einen „Kontrast" zustande (KU, Β 99), die Unlust ist Bedingung der Lust24, die erste Phase des Gefühls des Erhabenen wird nicht in der zweiten .aufgehoben', sondern beide Gefühlsmomente finden gleichzeitig statt: Um dies zu veranschaulichen, spricht Kant von einem „Widerstreit" zwischen Vernunft und Einbildungskraft (KU, Β 99). Die Umwandlung der Unlust in Lust ist bedingt durch einen Perspektivenwechsel auf die Vernunft, der das gleiche .Faktum' - das Scheitern der Einbildungskraft - nun positiv zu beurteilen erlaubt. Beide Pole oder Vermögen bleiben quasi nebeneinander bestehen. Denn dieses Nebeneinander ist Voraussetzung für den das Gefühl des Erhabenen auszeichnenden Perspektiven-, Standpunkt- oder Maßstabwechsel, der das gleiche Phänomen einmal negativ und einmal positiv beurteilen läßt. Diese Konstruktion ist nicht ganz unproblematisch. Sie macht sogar den eigentlichen Kern der Problematik des Erhabenen, aber auch seiner Fruchtbarkeit aus. Nach dem bisher Gesagten sieht es so aus, als ob die Einbildungskraft die Lust nicht von allein, sondern nur insofern empfindet, als sie durch die Vernunft erweitert wird, wie es bei Kant heißt (vgl. KU, Β 95). Insbesondere vor dem Hintergrund des Dynamisch-Erhabenen, bei dem die Vernunft noch mehr in den Vordergrund tritt, scheint es, als ob die Einbildungskraft ihre Autonomie - also die Bedingung jedes rein ästhetischen Urteils - verlöre, so daß das Gefühl des Erhabenen letztlich doch ein Vernunfturteil und kein ästhetisches Urteil wäre. Durch den bloßen Umstand, daß die Vernunft Totalität von der Einbildungskraft fordert und zwar ebenso .bestimmt', wie sie es in der Kritik der reinen Vernunft vom Verstand fordert - , wird die Ästhetizität des Erhabenen zweifelhaft. Die Vernunft allein profitiert vom Scheitern der Einbildungskraft (weil nur für sie dieses .ästhetische Urteil' zweckmäßig ist, vgl. KU, Β 101). Sie erscheint hier als ein ,Supervermögen', das überall im Spiel ist. Wenn nämlich das Gemüt von vornherein auf die „Stimme der Vernunft" hört, wenn die Vernunft von vornherein von der Einbildungskraft Totalität fordert (also schon ,da' ist), ist es nicht weiter verwunderlich, daß sie im Verlauf des Gefühls des Erhabenen gleichsam .entdeckt' wird. Kant bekäme dann gewissermaßen nur heraus, was er schon vorausgesetzt hat, so daß man sagen könnte, daß das Gefühl des Erhabenen die Omnipräsenz der Vernunft, die sich auch an anderen Stellen des kritischen Systems, nur besser verdeckt, findet, gleichsam .enttarnt'. Kant unternimmt einen Versuch, die Ästhetizität des Erhabenen zu retten. Denn die „Erweiterung des Gemüts" durch die Vernunft im Mathematisch-Erhabenen bleibt negativ geprägt: Sie ist, wie Kant betont, „nicht in theoretischer Absicht", sondern nur in praktischer Hinsicht förderlich (KU, Β 93). Damit bereitet er bereits das Dynamisch-Erhabene und dessen Orientierung auf die praktische Vernunft vor. Die „Gemütsstimmung" des Erhabenen ist „detjenigen gemäß und mit ihr verträglich , die der Einfluß bestimmter Ideen

24 Vgl. KU, Β 102: „der Gegenstand wird als erhaben mit einer Lust aufgenommen, die nur vermittelst einer Unlust möglich ist."

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(praktischer) auf das Gefühl bewirken würde" (KU, Β 95). Im Mathematisch-Erhabenen bleiben jedoch die Ideen, die hier mit der Vernunft im Spiel sind, ausdrücklich „unbestimmt"25. Das Erhabene ist und bleibt also ein Gefühl, d.h. die Vernunft wird in gewisser Weise nur durch das Gefühl .entdeckt'. Kant betont abermals, wohl damit seine Rede von der „intellektuellen Größenschätzung" nicht mißverstanden wird, daß es im Mathematisch-Erhabenen nicht um die mathematische, sondern um die ästhetische Größenschätzung gehe (vgl. KU, Β 93f.), daß also das Vorhandensein der Vernunft nur .ästhetisch bewiesen' wird, ja er sagt sogar, daß sie durch das Unvermögen der Einbildungskraft - also gleichsam .negativ' - ästhetisch beurteilt wird (vgl. KU, Β 100). Die Bestrebung zur Zusammenfassung (also der Einfluß der Vernunft) wird „gefühlt" (KU, Β 94). Das ästhetische Vermögen scheitert, aber hervor kommt das „Gefühl unserer übersinnlichen Bestimmung" (KU, Β 98), das Gefühl, „daß wir reine selbständige Vernunft haben" (KU, Β 99). Doch auch mit der Hervorhebung des Gefühlscharakters des Erhabenen ist seine Ästhetizität noch nicht gesichert. Hatte Kant eben schon auf die Verträglichkeit der erhabenen „Gemütsstimmung" mit demjenigen Gefühl hingewiesen, das von praktischen Ideen hervorgerufen wird, so kommt er nun auf dieses Gefühl selbst zu sprechen, dessen Verwandtschaft mit dem Erhabenen schon jetzt nicht mehr zu übersehen ist: das rein moralische, allein von der Vernunft hervorgerufenen Gefühl der Achtung. In §27, wo Kant von der „Qualität" des Mathematisch-Erhabenen handelt, wiederholt er dessen bereits beschriebenen Mechanismus noch einmal, legt dabei aber noch mehr Gewicht auf die Vernunft und damit auf die moralischen Implikationen des Erhabenen, indem er die Achtung, die das Gesetz hervorruft, in den Mittelpunkt stellt. Dieser .Einbruch' der Moral in die „Analytik des Erhabenen" ist Teil einer zunehmenden Betonung der Vernunft, die anläßlich des Dynamisch-Erhabenen im Moment der „Modalität" kulminiert und die Ästhetizität des Erhabenen in Frage stellt. Denn das Auftauchen der Achtung in der Kritik der Urteilskraft bedeutet nicht, daß sie ihren moralischen Charakter verlöre, ganz im Gegenteil: Der Kritik der praktischen Vernunft entsprechend hatte Kant die Achtung in der „Analytik des Schönen" als das reine Gefühl des Guten definiert und sie ausdrücklich vom ästhetischen Schönen abgesetzt (vgl. KU, Β 15). Auch die „Kritik der teleologischen Urteilskraft" folgt dieser Sichtweise, indem sie die Achtung als dasjenige begreift, was das sittliche Gesetz dem Gemüt „unmittelbar zum Gehorchen einflößt" (KU, Β 428). Um so

25 KU, Β 94. Die Frage ist nur, ob man die Idee der Totalität wirklich als noch unbestimmt betrachten kann, zumal sie in der Folge den Überschritt ins Praktische, der sich im letzten Zitat schon andeutete, ermöglicht. Kant erweist sich in dieser Frage mehr als unsicher. Von seiner ursprünglichen Konzeption her - das Erhabene als .Darstellung' eines unbestimmten Vernunftbegriffes - müßten die im Erhabenen involvierten Vemunftbegriffe unbestimmt bleiben, damit das Erhabene seinen ästhetischen Charakter behält. M.E. muß man sie sich ebenso .regulativ' vorstellen, wie die theoretischen Vernunftbegriffe in der ersten Kritik. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß Kant, der sich zunächst nicht dazu äußert, um welche Vernunftbegriffe es sich handelt, und sich die Beantwortung dieser Frage ausdrücklich für die „Deduktion" des Erhabenen aufhebt (vgl. KU, Β 84), diese kurz darauf bereits als Idee der Totalität .bestimmt* (vgl. KU, Β 85). (Und hierin dürfte einer der Gründe liegen, warum sich die Deduktion des Erhabenen erübrigt, vgl. KU, Β 131ff.) Problematisch wird die Lage erst, wenn im Dynamisch-Erhabenen der praktische Vemunftbegriff der Freiheit .bestimmend' auf den Plan zu treten scheint.

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folgenreicher scheint die Anwesenheit der Achtung in der „Analytik des Erhabenen" zu sein. So heißt es dort mit Bezug auf das Erhabene allgemein: „Das Gefühl der Unangemessenheit unseres Vermögens zur Erreichung einer Idee, die für uns Gesetz ist, ist Achtung" (KU, Β 96).

Dem Moralitätsbezug kommt die Tatsache, daß nicht die Gegenstände, sondern allein die Gemütsstimmung erhaben sei, entgegen. So kann Kant hier unterstreichen, daß es im Erhabenen eigentlich nur um „Achtung für unsere eigene Bestimmung", „für die Idee der Menschheit in unserem Subjekte" gehe, die nur durch eine „gewisse Subreption" mit „einer Achtung für das Objekt" verwechselt werde26. Das Scheitern der Einbildungskraft durch ihre Unangemessenheit bei der „Zusammenfassung eines gegebenen Gegenstandes in ein Ganzes der Anschauung" ist nunmehr nicht nur eine „Darstellung der Idee der Vernunft". Die Einbildungskraft „beweist" dabei auch, und zwar „zugleich", „ihre Bestimmung zur Bewirkung der Angemessenheit mit derselben als einem Gesetze" (KU, Β 97). (Die Lust beruht also auf der Entdekkung dieser „Bestimmung".) Und noch weiter scheint die Vormachtstellung der Vernunft ausgebaut zu werden: Die „Überlegenheit der Vernunftbestimmung unserer Erkenntnisvermögen über das größte Vermögen der Sinnlichkeit" wird im Gefühl des Erhabenen „gleichsam anschaulich gemacht" (ebd.). Damit tritt auch der Begriff des Gesetzes stärker hervor: Hatte das Gemüt vorher lediglich auf die „Stimme" der Vernunft gehört, so wird ihm (bzw. der Einbildungskraft) jetzt die Zusammenfassung durch ein Gesetz der Vernunft auferlegt (vgl. ebd.; entsprechend Β 98). Nicht nur das Streben nach Vernunftideen ist für uns Gesetz (vgl. KU, Β 97), sondern auch, jeden natürlichen Gegenstand im Vergleich mit der Vernunft für klein zu schätzen 27 , und „was das Gefühl unserer übersinnlichen Bestimmung in uns rege macht, stimmt zu jenem Gesetze zusammen" (KU, Β 98). Die übersinnliche Bestimmung gibt im Mathematisch-Erhabenen den „nicht-sinnlichen Maßstab, welcher jene Unendlichkeit selbst als Einheit unter sich hat, gegen den alles in der Natur klein ist, mithin unserem Gemüte eine Überlegenheit über die Natur selbst in ihrer Unermeßlichkeit" (KU, Β 104).

Die Vertreter der metaphysischen Interpretation des Erhabenen scheinen im Recht zu sein: Das Erhabene ist anscheinend vom rein moralischen Gefühl der Achtung nicht zu unterscheiden und bedeutet ein Verlassen der Sinnenwelt. Doch die zuletzt zitierte Beschreibung des Mathematisch-Erhabenen findet sich bereits in der Analyse des Dynamisch-Erhabenen, in der die Überlegenheit über die Natur - in all ihrer Problematik - noch stärker betont wird als beim Mathematisch-Erhabenen. Bevor wir also die Plausibilität der metaphysischen Interpretation des Erhabenen prüfen, wenden wir uns zunächst dem DynamischErhabenen zu.

26 KU, Β 97. Was Kant selbst allerdings - wohl der Einfachheit halber - nicht daran hindert, weiterhin von der Erhabenheit der Natur zu sprechen (vgl. z.B. KU, Β 102). Trotzdem sollte diese Wendung ins Subjektive ernst genommen werden, weil sie die heute mißbräuchliche Verwendung des Erhabenen als Adjektiv und die in der Tradition vorherrschende Objektivierung des Erhabenen unterbindet. 27 Vgl. KU, Β 98; entsprechend Β 84 und Β 96.

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1.3. Das Dynamisch-Erhabene Das Dynamisch-Erhabene unterliegt einem ähnlichen dialektischen Mechanismus von Unlust und Lust wie das Mathematisch-Erhabene, weshalb ich seine Beschreibung kürzer halten kann. Es unterscheidet sich allerdings in zwei Punkten wesentlich vom Mathematisch-Erhabenen, auf die in der Folge verstärkt zu achten sein wird, weil sie massive Folgen haben: Zum einen erscheint die Rolle der Einbildungskraft im Dynamisch-Erhabenen entschieden undeutlicher und unscheinbarer; zum anderen geht es hier statt um theoretische Vernunft und Größe um praktische Vernunft und Macht, Gewalt und Freiheit. „Macht ist ein Vermögen, welches großen Hindernissen überlegen ist. Ebendieselbe heißt eine Gewalt, wenn sie auch dem Widerstande dessen, was selbst Macht besitzt, überlegen ist. Die Natur im ästhetischen Urteile als Macht, die über uns keine Gewalt hat, betrachtet, ist dynamisch-erhaben" (KU, Β 102).

Die unendliche Macht der Natur, wie sie sich z.B. in „drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, de grenzenlose Ozean in Empörung gesetzt, ein hohe Wasserfall eines mächtigen Flusses" (KU, Β 104)

in der Natur manifestiert und dem Menschen Unlust bereitet, wird im Dynamisch-Erhabenen so vorgestellt, daß sie über den Menschen keine Gewalt hat; im Gegenteil: er ist ihr überlegen, was ein Lustgefühl auslöst. Da auch hier keine Begriffe im Spiel sind, kann diese Überlegenheit ästhetisch nur nach der Größe des Widerstandes beurteilt werden (vgl. KU, Β 102): Je furchtbarer ein Gegenstand ist, desto größer ist der erweckte Widerstand in uns, desto erhabener wirkt er demnach auf uns (vgl. KU, Β 104), genauer gesagt: desto erhabener ist unser Gefühl. Das Dynamisch-Erhabene ist also das Gefühl einer Art .Distanzierung' von den Schrecken der Natur. Wie kommt es nun genau dazu? Die erste Bedingung dieser möglichen Distanzierung scheint sogleich in einen Zirkel zu führen. Denn Distanzierung hat schon Distanz zur Voraussetzung: Die erwähnte Überlegenheit über die Natur (das Lust-Moment im Dynamisch-Erhabenen) stellt sich nur dann ein, wenn wir uns nicht wirklich vor den Gegenständen fürchten: „es ist unmöglich an einem Schrecken, der ernstlich gemeint wäre, Wohlgefallen zu finden" (KU, Β 103). Wir müssen uns vielmehr „in Sicherheit befinden" (KU, Β 104). Sonst sind die „Stimmung zur ruhigen Kontemplation" und die Freiheit im Urteil, der es zum Erhabenen bedarf, nicht gewährleistet (KU, Β 108). Die Gefahr, die von der Natur ausgeht, ist also nur ein Schein. Nur unter dieser Bedingung entdecken wir in uns ein Vermögen zu widerstehen, „welches uns Mut macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen" (KU, Β 104). Während im Mathematisch-Erhabenen vor dem Schein, der durch die Subreption entsteht, gewarnt wurde, ist im Dynamisch-Erhabenen ein gewisser Schein konstitutiv. Folglich ist die Überlegenheit unseres Gemüts über die Natur im Erhabenen nur „Einbildung" (KU, Β 107). Dieser scheinbare Zirkel, der sozusagen einer bürgerlichen .Sofaästhetik' entspringt, hat Kant viel Kritik eingetragen. An dieser Kritik ist etwas Wahres (der Scheincharakter im Dynamisch-Erhabenen birgt die Gefahr einer ,Ästhetisierung' beispielsweise des Krieges28, 28 Vgl. KU, Β 107 oder Β 394, wo Kant - ebenso ambivalent wie in den geschichtsphilosophischen Schriften - zumindest die Möglichkeit einräumt, daB der Krieg der Kultivierung dienen könnte.

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Das Erhabene in der Kritik der Urteilskraft

der Atomkatastrophe29 o.ä.), was sicherlich dazu beiträgt, daß das Dynamisch-Erhabene heute als weniger annehmbar und fruchtbar angesehen werden kann als das MathematischErhabene. Kantintern ist der Scheincharakter jedoch nicht der eigentliche Grund, warum das Dynamisch-Erhabene hochproblematisch ist. Für die transzendentale Erörterung spielt dieser Schein nämlich in Kants Augen erstens keine Rolle, weil es im Erhabenen nur um die „sich in solchem Falle zu entdeckende Bestimmung unseres Vermögens" geht, die entwickelt und geübt werden muß (KU, Β 106). Die distanzierende Sicherheit vor dem betreffenden Phänomen scheint für Kant sogar Bedingung dafür zu sein, das Erhabene nicht nur auf empirischer, sondern auf transzendentaler Ebene etablieren zu können30. Zweitens trägt die Distanz oder der Scheincharakter nur dem Umstand Rechnung, daß Kant sich hier in der Analyse des Moments der Relation befindet: Der Scheincharakter des Objekts entspricht dem Moment der Relation, also dem Bezug zum Objekt, der in diesem Falle ein ,Nicht-Bezug' ist. Dieser Nicht-Bezug ist, wie wir bereits im Mathematisch-Erhabenen sahen, typisch für das Erhabene, das nichts mit dem Objekt zu tun hat, sondern nur im Subjekt stattfindet31. Daher bezeichnet Kant auch in der „Allgemeinen Anmerkung" das Moment der Relation als charakteristisch für das Erhabene insgesamt (vgl. KU, Β 114). Im Dynamisch-Erhabenen wird dieses Moment gleichsam auf die Spitze getrieben, weil es sich ausdrücklich nur noch um den Schein eines Objekts handelt. Nicht nur die Überlegenheit, sondern auch die Vorstellung eines Gegenstandes findet nur in der „Einbildung" statt. Darin besteht die transzendentale Ästhetizität. Der Schein im Dynamisch-Erhabenen ist also - zumindest in dieser transzendentalen Hinsicht - sehr viel undramatischer, als es zunächst den Anschein hat. Das bedeutet aber auch: hier liegt nicht der eigentliche Grund für die ,Distanzierung', die im Dynamisch-Erhabenen stattfindet und das Lust-Gefühl auslöst. Betrachten wir daher den Mechanismus des Dynamisch-Erhabenen näher, um deren wahren Grund zu entdecken. Als physische Wesen empfinden wir vor der Allmacht der Natur unsere Ohnmacht, gleichzeitig entdecken wir aber ein Vermögen, uns unabhängig von der Natur zu beurteilen (vgl. KU, Β 104f.). In diesem Gefühl gründet sich eine „Selbsterhaltung von ganz anderer Art" als die bloße physische Gewalt, „wobei die Menschlichkeit in unserer Person unerniedrigt bleibt"32. Die Einbildungskraft („als Werkzeug der Vernunft") wird so, wie Kant in der „Allgemeinen Anmerkung" formuliert, zu einer „Macht, unsere Unabhängigkeit gegen die Natureinflüsse zu behaupten" (KU, Β 117). Es findet also im Dynamisch-Erhabenen die gleiche .Dialektik' anläßlich der Macht statt wie im Mathematisch-Erhabenen anläßlich der Größe, dasselbe gleichzeitige Auftreten von zwei widersprüchlichen Gefühlen, der gleiche .Standortwechsel', der hier sogar 29 Vgl. dazu Frances Ferguson, „The Nuclear Sublime", in: diacritics 14 (1984), S. 4-10. 30 So jedenfalls Kants Kritik an dem in seinen Augen zu empirischen Burke, auf dessen „Frohsein" als Charakteristikum des Erhabenen er an dieser Stelle zu sprechen kommt (vgl. KU, Β 103), wenngleich bei Burke die Sicherheit ebenfalls gewährleistet ist - nämlich dadurch, daß er das Erhabene in die Kunst verlegt. Zur expliziten Burke-Kritik vgl. KU, Β 128f. 31 Dem Schein im Dynamisch-Erhabenen würde also nicht die Subreption im Mathematisch-Erhabenen entsprechen, sondern ihre von Kant anvisierte Vermeidung. Auch die Naturgegenstände im MathematischErhabenen sind ja nur scheinbar unendlich und daher nicht wirklich erhaben. 32 KU, Β 105. Diese „Menschlichkeit" setzt die im Mathematisch-Erhabenen erwähnte „Achtung für unsere eigene Bestimmung", „für die Idee der Menschheit in unserem Subjekte" (KU, Β 97) fort.

Das Dynamisch-Erhabene

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noch deutlicher wird: Wir sind der Natur überlegen, „wenn es auf unsere höchsten Grundsätze und deren Behauptung oder Verlassung ankäme (KU, Β 105, Hervorhebung C.P.). Physisch wären wir nicht in der Lage, der Natur zu widerstehen, aber eben durch diese Unzulänglichkeit wird eine andere Kraft geweckt, die sich keiner physischen Gewalt beugt und nicht nur die äußere, sondern auch die innere Natur - also den natürlichen ,Teil' des Menschen - , den die äußere Natur anficht (Güter, Gesundheit, Leben), beherrscht (vgl. ebd.), ja die Beherrschung der inneren Natur ist sogar konstitutiv für die Beherrschung der äußeren (wobei noch einmal der Nicht-Bezug zum Objekt deutlich wird): „Also ist die Erhabenheit in keinem Dinge der Natur, sondern nur in unserem Gemiite enthalten, sofern wir der Natur in uns, und dadurch auch der Natur (sofern sie auf uns einfließt) außer uns überlegen zu sein bewußt werden."33

Diese Bewußtwerdung erfolgt nur „vermittelst" einer Unlust, die durch das spontane Gefühl, als Naturwesen unterlegen zu sein, entsteht. Auch hier ist also die Unlust konstitutiv. Die Lust entsteht, ebenfalls wie im Mathematisch-Erhabenen, aufgrund des Entdeckens der Vernunft, hier der praktischen. Ich hatte eingangs erwähnt, daß die Rolle der Einbildungskraft im Dynamisch-Erhabenen sehr viel unschärfer ist als im Mathematisch-Erhabenen, wo ihr Scheitern sehr viel ausführlicher und genauer beschrieben ist. Im Dynamisch-Erhabenen entsteht die Unlust nicht durch das Versagen der Darstellungsfunktion der Einbildungskraft. Gleichwohl scheint es, Kants Worten zufolge, auch hier um eine Darstellung zu gehen: „Also heißt die Natur hier erhaben, bloß weil sie die Einbildungskraft zu Darstellung derjenigen Fälle erhebt, in welchen das Gemüt die eigene Erhabenheit seiner Bestimmung, selbst über die Natur, sich fühlbar machen kann" (KU, Β 105).

Diese „Darstellung" scheint aber eher eine Vorstellung zu sein. Auch wenn Kant nirgends explizit davon spricht, muß man sich die Rolle der Einbildungskraft im Dynamisch-Erhabenen wohl so vorstellen, daß sie sich furchterregende Gegenstände bildlich vergegenwärtigt (wozu es, obwohl man sich in Sicherheit befindet, Mut braucht) und dank des Vorhandenseins der Vernunft dabei nicht nur Schrecken, sondern auch Lust empfinden kann. Das vierte und letzte Moment in der Charakteristik der ästhetischen Urteile, die Modalität, ist nach Kants eigenen Aussagen das „Hauptmoment" für die Kritik der Urteilskraft, weil es ein Prinzip a priori erkennen lassen und damit über die empirische Psychologie (à la Burke) hinausgehen soll34. Und es ist dieses Moment, das am problematischsten für die Eigenständigkeit des Erhabenen als ästhetisches Gefühl ist. Ohne Apriori, das das Beistimmen der anderen garantiert, wäre keine „Zensur des Geschmacks", kein Richten, mithin keine Kritik des Geschmacks bzw. der Urteilskraft möglich (vgl. KU, Β 130f.) (wie Kant es ja in der berühmten Anmerkung zu Beginn der tran33 KU, Β 109. Es ist unschwer zu erkennen, daß die Dialektik der Aufklärung, wie Adorno und Horkheimer sie formulieren, in diesen Formulierungen Kants bereits ins Auge springt, wenn es auch weniger um eine explizite Unterdrückung als um eine Vernachlässigung der inneren Natur geht. Auch hierin muß heute natürlich ein Grund für die Zurückhaltung gegenüber dem Dynamisch-Erhabenen liegen, zumal es in der Folge eindeutig in Richtung auf die Unterdrückung verstanden worden ist. 34 KU, Β 112. In der „Allgemeinen Anmerkung" wird daher die „allgemeine Mitteilbarkeit", die aus diesem Apriori resultiert, zu dem Kriterium, das das Schöne und das Erhabene (als .transzendentale Gefühle') „von den anderen ästhetischen Beurteilungen" (die bloß empirisch sind) unterscheidet (KU, Β 126).

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Das Erhabene in der Kritik der Urteilskraft

szendentalen Ästhetik in der Kritik der reinen Vernunft noch befürchtet hatte35). Die empirische Nachforschung ist zwar durchaus geeignet, „um den Stoff zu einer höheren Untersuchung herbeizuschaffen", aber sie ist noch nicht jene „transzendentale Erörterung", die allein die Prinzipien a priori garantieren kann (KU, Β 130). Da das eigentliche ästhetische Vermögen, um das es hier geht, die Einbildungskraft, immer bloß ein „empirisches Vorstellungsvermögen ist" (KU, Β 115), gestaltet sich das Auffinden eines Prinzips a priori in diesem Fall besonders schwierig. Man kann es daher als das Problem der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft" bezeichnen. Das gilt natürlich auch für das Schöne, bei dessen Analyse Kant sich bereits sehr schwer getan hatte, ein Prinzip a priori aufzustellen36: Einerseits hieß es, daß die Notwendigkeit angemutet werden dürfe, weil die Vermögen Verstand und Einbildungskraft bei allen Menschen dieselben seien, was man anthropologische Grundlegung nennen könnte37. Andererseits wurde ein „Gemeinsinn" zu Hilfe genommen, der die Notwendigkeit garantiert (vgl. KU, Β 65ff.), sich aber bereits in Richtung auf die Moralität orientiert. Zu guter Letzt - besonders gegen Ende der Untersuchung des Schönen in der Deduktion und Dialektik gibt es sogar Stellen, an denen Kant die anthropologische Annahme wohl wegen ihrer Empirizität ganz und gar zurückweist (vgl. KU, Β 245) und die Notwendigkeit nur durch eine Moralisierung des Schönen gewährleistet sieht. Dies könnte man eine moralische Grundlegung nennen (vgl. KU, Β 263f.), durch die das Ästhetische allerdings seine vorher behauptete Eigenständigkeit verliert. Im Erhabenen scheint die Empirizität ein noch größeres Problem zu sein als im Schönen. Kant bezeichnet es als „Rührung" und diese Rührung als (empirische) Empfindung (KU, Β 43). Auch hier ergibt sich anläßlich der Modalität eine seltsame Verquickung mit der Moral, allerdings nicht nachträglich wie beim Schönen, sondern schon innerhalb des Gefühls des Erhabenen selbst. Hatte Kant zu Beginn der „Analytik des Erhabenen" noch so getan, als ob die notwendige Einstimmung aller in bezug auf das Erhabene ebenso sicher sei wie beim Schönen, so muß er jetzt - wo er zur Untersuchung der Modalität des Urteils über das Erhabene gelangt - eine Einschränkung des vorher Gesagten vornehmen. Anders als beim Schönen ist die Einstimmung beim Erhabenen ausgesprochen schwierig: „Denn es scheint eine bei weitem größere Kultur nicht bloß der ästhetischen Urteilskraft, sondern auch der Erkenntnisvermögen, die ihr zum Grunde liegen, erforderlich zu sein, um über die Vorzüglichkeit der Naturgegenstände ein Urteil fällen zu können" (KU, Β 110).

Diese Kultur ist die „Empfänglichkeit" des Gemüts für Ideen (ebd.). Nur unter deren Voraussetzung (und der „Anspannung der Einbildungskraft, die Natur als ein Schema für die 35 Vgl. Kritik der reinen Vernunft, A 1781, Β 1787, Hamburg 1956 (im folgenden als KRV nach der MeinerAusgabe unter Angabe der Originalseitenzahlen im laufenden Text zitiert), Β 35f. Wo möglich, zitiere ich nach der ersten Auflage. 36 Eine Schwierigkeit, derer Kant sich bewußt ist, wie eine Bemerkung anläßlich der Allgemeinheit des Schönen zeigt: „Diese besondere Bestimmung der Allgemeinheit eines ästhetischen Urteils, die sich in einem Geschmacksurteil antreffen läßt, ist eine Merkwürdigkeit, zwar nicht für den Logiker, aber wohl für den Transzendentalphilosophen, welche seine nicht geringe Bemühung auffordert, um den Ursprung derselben zu entdecken, dafür aber auch eine Eigenschaft unseres Erkenntnisvermögens aufdeckt, welche ohne diese Zergliederung unbekannt gebieben wäre" (KU, Β 21 ). 37 Vgl. etwa KU, Β 151 oder bezüglich der Allgemeinheit Β 28ff.

Das Dynamisch-Erhabene

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letzteren zu behandeln", ebd.) wird das „Abschreckende für die Sinnlichkeit" zugleich als „anziehend" empfunden (KU, Β 110). Die Ideen, um die es geht, sind die sittlichen: „In der Tat wird ohne Entwicklung sittlicher Ideen, das, was wir, durch Kultur vorbereitet, erhaben nennen, dem rohen Menschen nur abschreckend vorkommen."38

Unter Kultur versteht Kant hier nicht Konvention, sondern die Moralität des einzelnen. Deshalb bedarf es für das Erhabene zwar Kultur, das Erhabene wird aber nicht durch diese (im Sinne von Konvention) erzeugt39. Das Erhabene hat vielmehr „seine Grundlage in der menschlichen Natur , nämlich in der Anlage zum Gefühl für (praktische) Ideen, d.i. zu dem moralischen" (KU, Β lllf.). Die Einstimmigkeit in Sachen des Erhabenen kommt nur über die gemeinschaftliche und natürliche Anlage zur Moralität (und deren Kultivierung) zustande. Die Notwendigkeit des Urteils über das Erhabene, so scheint es, gründet sich auf die Moral bzw. deren gefühlsmäßige Entsprechung, die „Achtung": „Die Lust am Erhabenen der Natur, als Lust der vernünftelnden Kontemplation, macht zwar auf allgemeine Teilnehmung Anspruch, setzt aber doch schon ein anderes Gefühl, nämlich das seiner übersinnlichen Bestimmung voraus: welches so dunkel es auch sein mag, eine moralische Grundlage hat" (Κι/, Β 154).

Die Einstimmung erfolgt - scheinbar im Gegensatz zum Schönen40 - unter der „subjektiven Voraussetzung des moralischen Gefühls im Menschen" (KU, Β 112). Die Anbindung an die Moral vollzieht sich also nur gefühlsmäßig. Doch wie sich im Mathematisch-Erhabenen bereits abzeichnete, ist trotz dieses Gefühlscharakters die Vormachtstellung der Vernunft nicht zu leugnen. Dort wie hier kommt auf einmal ein anderes Gefühl, das der Achtung, ins Spiel. Mit dieser Vormachtstellung wird - im Unterschied zum Mathematisch-Erhabenen - auch die Lust, die durch die Vernunft garantiert wird, positiver und manifester. Obwohl Kant es ansatzweise noch anders beschreibt, scheint es im Dynamisch-Erhabenen fast so, als ob nicht das Scheitern der Einbildungskraft die Lust hervorruft, wie es im Mathematisch-Erhabenen der Fall war und was eine negative Prägung dieser Lust bewirkte, sondern daß die Einbildungskraft zurücktritt und allein die Präsenz der Vernunft - in einer Art Selbstgefühl - die Lust auslöst. Entsprechend wird nicht mehr vom Sinnlichen zum theoretischen Übersinnlichen .übergegangen', von wo aus sich eine negative Aussicht auf das praktische Übersinnliche andeutet, sondern direkt vom Sinnlichen in die Moral. Dieser letztere Übergang nimmt zumindest ansatzweise die Form eines einmaligen vertikalen Aufstiegs (und nicht mehr der horizontalen Wechselwirkung) an, der hierarchisch auf das Verhältnis von Einbildungskraft und Vernunft zurückwirkt. Die Vernunft hat im Dynamisch-Erhabenen deutlich herrschaftlichere Züge als im Mathematisch-Erhabenen. In letzterem empfand die Einbildungskraft Unlust, 38 KU, B i l l . Hier stellt sich nun - auch wenn die Rede davon ist, daß die Vernunft das Sinnliche „auf das Unendliche hinaussehen läßt", KU, Β 110 - allerdings wirklich die Frage, inwiefern dies auch für das Mathematisch-Erhabene gilt, das zwar als förderlich für praktische Ideen angesehen wurde, dieser aber nicht bedurfte, um stattzufinden. 39 Vgl. KU, B i l l , wohingegen man sich durchaus vorstellen kann, daß man durch das Erhabene weiter kultiviert wird, weil es die Moralität fühlen läßt. Kant selbst spricht von „Entwickelung und Übung" (KU, Β 106). Es ist diese Kultivierungsidee, die von Schiller als Erziehungsidee weiter ausgebaut wird. 40 Erst nach der „Analytik des Erhabenen" wird deutlich, daß letztlich auch das Urteil über das Schöne nur unter dieser „subjektiven Voraussetzung" allgemein und notwendig ist.

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Das Erhabene in der Kritik der Urteilskraft

weil sie auf die Stimme (bzw. das Gesetz) der Vernunft hörte, hier wird ihr und damit der Sinnlichkeit durch die Vernunft „Gewalt" angetan, „um sie ihrem eigentlichen Gebiete (dem praktischen) angemessen zu erweitern" (KU, Β 110) - eine Tendenz, der die Tatsache, daß es im Dynamisch-Erhabenen von vornherein um Gewalt und nicht um Größe geht, Vorschub leistet. Viel entschiedener als im Mathematisch-Erhabenen ist der Umgang mit der Natur hier gewalttätig und wird demjenigen Naturphänomen, welches das Gefühl des Erhabenen auslöst und mit dem das Gemüt zunächst nichts anfangen kann, ein sinnvoller Platz im Kantischen .System' nicht bloß zugewiesen, sondern aufgezwungen, was für die These spricht, daß es im Kantischen Erhabenen um eine manifeste Bewältigung der bisher unbewältigten Bastionen der Natur ginge. Die Vorherrschaft der Moral durch die praktische Vernunft im Gefühl des Erhabenen scheint an dieser Stelle zum Ende der „Analytik des Erhabenen" unwiderruflich und wirkt auch - nicht zuletzt, weil das Moment der Modalität für beide Arten des Erhabenen Geltung haben müßte - auf das Mathematisch-Erhabene zurück. Die metaphysische Interpretation des Erhabenen erscheint immer plausibler. Kant beharrt jedoch darauf, daß es sich beim Erhabenen nicht um ein Vernunfturteil, sondern um ein rein ästhetisches Urteil handelt. Daher gilt es jetzt, den Stellenwert und das Gewicht der hier so manifest erscheinenden moralischen Implikationen des Gefühls des Erhabenen näher zu untersuchen. Von ihnen hängt die gesamte Interpretation des Erhabenen ab.

1.4. Das Verhältnis des Erhabenen zur Moralität Insbesondere im letzten der eben vorgestellten vier, das Gefühl des Erhabenen charakterisierenden Momente, im Moment der Modalität, wird deutlich, welch große Rolle die Moralität im Erhabenen spielt. Die für die Apriorität des erhabenen Gefühls entscheidende Notwendigkeit scheint gänzlich von der Moralität abzuhängen, so daß der Eindruck entstehen muß, daß das Erhabene seine Eigenständigkeit als ästhetisches Gefühl verliert. Auf der anderen Seite betont Kant jedoch immer wieder, daß es sich beim Gefühl des Erhabenen um ein Gefühl handelt, das „immer nur ästhetisch ist" (KU, Β 99) und, „ohne zu vernünfteln, bloß in der Auffassung"41 stattfindet. Daß die Moral - besonders durch das Eingreifen der praktischen Vernunft im Dynamisch-Erhabenen - im Gefühl des Erhabenen eine Rolle spielt, ist offensichtlich; daß sie aber eine so große Rolle spielt, daß sie die Autonomie des ästhetischen Urteils, als welches das Erhabene eingeführt wird, gefährdet, ist problematisch. - Da die Autonomie bzw. „Heautonomie", wie es bei Kant heißt (KU, Β XXXVII), des Ästhetischen und das Verhältnis von Ästhetik und Moralität für die Übergangsproblematik der Kritik der Urteilskraft entscheidend ist, soll diesem Verhältnis in bezug auf das Erhabene hier näher nachgegangen werden. Dabei geht es im Grunde darum, ob das Erhabene ein autonomes ästhetisches Gefühl ist und von daher zu Recht in der Kritik der Urteilskraft abgehandelt wird, oder ob es innerhalb dieser Schrift einen „Fremd41 KU, Β 76; vgl. dagegen Β 154, wo er das Erhabene als „vernünftelnde Kontemplation" bezeichnet. Diese Ambivalenz läßt sich m.E. in Sachen des Erhabenen bei Kant nicht beheben. Sie wird sich jedoch, wie ich hoffe, im Laufe dieses Kapitels erklären.

Das Verhältnis des Erhabenen zur Moralität

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körper" darstellt, wie Odebrecht vermutet (s.o.), weil es sich beim Erhabenen eigentlich nur um das in der Kritik der praktischen Vernunft erörterte reine moralische Gefühl der Achtung - bloß unter anderem Namen - handelt42. Diese Frage stellt sich nicht nur, weil in der „Analytik des Erhabenen" die Verwandtschaft von Erhabenem und Achtung nicht zu übersehen ist, sondern auch, weil Kant in seinen moralischen Schriften dort, wo er von der Achtung spricht, immer wieder mit dem Erhabenen operiert. Selbst wenn man Kants Äußerungen zur erhabenen Pflicht (vgl. KPV, 86), zur „Erhabenheit unserer eigenen übersinnlichen Existenz"43 oder des Sittengesetzes (vgl. KPV, 162) noch als bloße Redewendungen abtun wollte: die strukturelle Ähnlichkeit der Achtung mit dem Erhabenen ist nicht zu übersehen. Auch die Achtung ist ein subjektives Gefühl (vgl. MS, 402), das sich aus zwei Gefühlskomponenten zusammensetzt, aus einer negativen und einer positiven, wobei sogar ausdrücklich von Unlust und Lust die Rede ist44, und auch in der Achtung gibt es einen dem Erhabenen ähnlichen Perspektivenwechsel45. So wirkt Kants folgende Bemerkung über das Bewußtsein der Menschenwürde und die „innere Beruhigung", die davon ausgeht, auf dem Hintergrund der „Analytik des Erhabenen" wie eine Umschreibung des Dynamisch-Erhabenen: „Diese innere Beruhigung ist also bloß negativ in Ansehung alles dessen, was das Leben angenehm machen mag; nämlich sie ist die Abhaltung der Gefahr, im persönlichen Werte zu sinken, nachdem der seines Zustandes von ihm schon gänzlich aufgegeben worden. Sie ist die Wirkung von einer Achtung für etwas ganz anderes als das Leben, womit in Vergleichung und Entgegensetzung das Leben vielmehr mit aller seiner Annehmlichkeit gar keinen Wert hat."'16

Die Beantwortung der Frage, ob das Erhabene überhaupt ein eigenständiges ästhetisches Gefühl ist oder ob es so sehr dem moralischen Gefühl der Achtung gleicht, daß es seinen selbständigen ästhetischen Status verliert, hängt also von einem näheren Vergleich mit der Achtung ab. Dabei wird besonders auf das Verhältnis der beiden Pole des Gefühls bzw. der in ihm involvierten Vermögen zu achten sein. Denn die Eigentümlichkeit, daß das Erhabene im Unterschied zum reinen Lustgefühl des Schönen (dessen .Ästhetizität', zumindest auf der Basis der „Analytik", außer Frage steht) aus zwei merkwürdig miteinander verquickten Gefühlskomponenten, aus zwei Phasen, aus zwei beteiligten Vermögen, die einander zu widersprechen, zu bekämpfen, ja sogar auszuschließen, aber auch zu bedingen scheinen, besteht, stellt ja gerade seinen ästhetischen Status in Frage und macht seine Nähe zum reinen moralischen Gefühl der Achtung aus. Die Ästhetizität des Erhabenen hängt von dem Verhältnis der beiden Komponenten des Erhabenen zueinander ab: welche Rolle spielt 42 Da auch die Achtung ein subjektives Gefühl a priori ist (zur Subjektivität vgl. Metaphysik der Sitten, Hamburg 1966 - im folgenden als MS im laufenden Text zitiert nach der Meiner-Ausgabe wobei sich die Seitenangaben auf die Akademie-Ausgabe beziehen - , 402; zur Apriorität vgl. Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg 1985 - im folgenden als KPV im laufenden Text ebenfalls nach der Meiner-Ausgabe mit den Seitenzahlen der Akademie-Ausgabe zitiert - , 73), reicht es m.E. nicht aus, wenn man das Erhabene als ästhetisch bezeichnet, weil es ein Gefühl ist, wie z.B. Kaulbach es zu tun scheint (vgl. Kaulbach, Ästhetische Welterkenntnis..., a.a.O., 189). 43 KPV. 88; vgl. entsprechend 117. 44 Vgl. KPV, 75f.; 77ff.; 88f. 45 Vgl. MS, 443f.; vgl. entsprechend KPV, 74f. 46 KPV. 88, wenn hier auch die Stoßrichtung der Argumentation insofern eine andere ist, weil es hier um einen Wechsel vom Empirischen zum Transzendentalen geht, der im Erhabenen zwar noch latent vorhanden, aber nicht so dominant ist.

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Das Erhabene in der Kritik der Urteilskraft

das für die Ästhetizität entscheidende, sinnliche Vermögen, die Einbildungskraft, im Erhabenen, und welche Rolle hat die Vernunft, die das hier zu diskutierende .moralische' Moment beisteuert, inne? Sind beide Vermögen gleichberechtigt am Gefühl des Erhabenen beteiligt oder steht eines im Dienste des anderen, und welche Seite hat dabei mehr Gewicht, die moralische oder die sinnliche? Ganz anders, aber für das weitere Schicksal der Kategorie des Erhabenen entscheidend formuliert: wird die erste Phase des Gefühls des Erhabenen, für die das Scheitern der Einbildungskraft und die damit verbundene Unlust charakteristisch ist, in der zweiten Phase, wo das Auftreten der Vernunft Lust erzeugt, aufgehoben oder nicht? Sind sie .zugleich' in einer Art horizontalem .Nebeneinander' denkbar, oder impliziert das Gefühl des Erhabenen einen vertikalen Aufstieg, eine veritable .Erhebung' von der ersten zur zweiten Phase, vom Sinnlichen ins Übersinnliche, wobei im Gefühl des Triumphs über die Sinnlichkeit die anfängliche Erfahrung des Scheitems und damit die Sinnlichkeit .vergessen' wird? (So daß Kant - mit Blick auf das Unternehmen der Kritik im ganzen gesagt - die eben als eigenständig erkannte Sinnlichkeit aufgäbe und wieder zum metaphysischen Schulphilosophen würde.) In dieser Alternative erschöpfen sich sämtliche Interpretationen des Erhabenen, mehr noch: in ihr liegen alle Chancen sowie alle Gefahren begründet, die mit der Kategorie des Erhabenen verbunden sind. Die Schwierigkeit des Kantischen Textes besteht darin, daß ihm zufolge beide Lesarten möglich sind. Insbesondere in der „Allgemeinen Anmerkung", die auf die „Analytik des Erhabenen" folgt und in der das Verhältnis von Ästhetizität und Moralität noch einmal ausdrücklich thematisiert wird, schwankt Kants Argumentation: ständig wechseln die die ästhetische wie die moralische Perspektive favorisierenden Formulierungen einander ab. Auch in der eigentlichen „Analytik", in der wir einen immer größeren Einfluß der Moralität beobachtet hatten, läßt sich eine solche Abfolge von Unterscheidungsversuchen von Erhabenem und Achtung und Vermischungen von Ästhetik und Moral feststellen. Entgegen der gängigen Forschungsmeinung, die, grob gesagt, das Gefühl des Erhabenen mit dem moralischen Gefühl der Achtung gleichsetzt, vertrete ich die Auffassung, daß das Erhabene trotz aller Nähe zur Moralität bei Kant ein ästhetisches Gefühl bleibt - und zwar nicht nur in dem Sinne, daß es, wie man einwenden könnte und eine Definition von Ästhetik bei Kant in der Tat lautet, subjektiv ist (vgl. KU, Β 99), sondern durchaus in dem Sinne, wie wir das Wort .Ästhetik' heute verstehen47. Es besteht zwar ein Bezug zur Moralität, doch dieser kulminiert nicht in einer Identität von Erhabenem und Achtung. Das Erhabene bleibt ästhetisch, und es ist diese Ästhetizität, die für das Erhabene und für die Übergangsproblematik der Kritik der Urteilskraft entscheidend und unabdinglich ist, ja: allein in diesem Sinne ist das Erhabene heute noch akzeptabel. Auf der Basis der Differenz von Erhabenem und Achtung wird sich der Bezug zur Moralität sogar als Vorteil erweisen. Ihre Identität dagegen würde die kritischen Unterscheidungen zunichte machen. Ich möchte im folgenden diese These anhand von Kants Aussagen über das Erhabene erhärten, wobei ich in drei miteinander zusammenhängenden Schritten einerseits jeweils diejenigen Punkte in Kants Text untersuche, die in besonderem Maße auf die Moralität hinzuweisen scheinen, um die Möglichkeit zu verdeutlichen, daß diese Punkte auch anders interpretiert werden können, und andererseits die Punkte hervorhebe, die den genuin ästhetischen Charakter des Erhabenen zeigen. Wie wir sehen werden, bleibt eine gewisse 47 D.h. als dem Bereich zugehörig, der eine von Erkenntnisurteilen und Moralmaximen unabhängige Reflexion über gefühlsbegleitete Wahrnehmungen der Natur oder der Kunst bedeutet.

Apriorität durch Achtung?

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Ambivalenz bestehen, die sich erst mit Blick auf das gesamte kritische Geschäft aufklären wird. Da ich die ästhetische Interpretation des Erhabenen für unabdinglich halte, wenn heute noch positiv vom Erhabenen die Rede sein soll, gilt es, diesbezüglich so deutlich Stellung zu beziehen wie nur möglich - vielleicht deutlicher, als Kant es selber vermochte. Damit ergeben sich drei thematische Abschnitte: erstens Kants eigene Versuche, über das bisher (hauptsächlich anläßlich der Modalität) Gesagte hinaus das Verhältnis von Moral und Ästhetik im Erhabenen zu bestimmen; zweitens das Verhältnis von Einbildungskraft und Vernunft im Erhabenen; drittens das Verhältnis der beiden Phasen des Erhabenen zueinander. Dabei werde ich auch versuchen, der Schwierigkeit Rechnung zu tragen, daß man angesichts der Aufspaltung des Erhabenen in Mathematisch- und DynamischErhabenes von 4em Erhabenen' eigentlich gar nicht reden kann.

1.4.1. Apriorität durch Achtung? Vordergründig scheinen Kants Aussagen eindeutig. Obwohl er das Gefühl des Erhabenen als ästhetisches Gefühl postuliert, und es deshalb ja wohl auch in der Kritik der Urteilskraft abhandelt, nimmt es in der konkreten „Analytik" mehr und mehr moralische Züge an, was zuletzt in der beschriebenen moralischen Begründung der Apriorität des Erhabenen Durchschlag findet. Entsprechend betont Kant in der „Allgemeinen Anmerkung", daß die Einbildungskraft als „empirisches Vorstellungsvermögen" (KU, Β 115) im Erhabenen „nach einem anderen Gesetze als dem des empirischen Gebrauchs zweckmäßig bestimmt wird" (KU, Β 117), was natürlich das moralische Gesetz zu sein scheint. Aus dem gleichen Grunde meint Kant nun auch, auf die „Deduktion" des Erhabenen verzichten zu können, die er immerhin nicht nur in der Ersten Einleitung zur Kritik der Urteilskraft (vgl. EE, 68), sondern sogar im Laufe der „Analytik" selbst noch angekündigt hatte (vgl. KU, Β 84): Wenn Kant am Anfang der „Deduktion der reinen ästhetischen Urteile" zu dem überraschenden Schluß kommt, daß zwar das Urteil über das Schöne, nicht aber das über das Erhabene einer Deduktion bedürfe (vgl. KU, Β 131ff.), und von daher „unsere Exposition der Urteile über das Erhabene der Natur zugleich ihre Deduktion" war (KU, Β 133), so scheint die Autonomie des Erhabenen als ästhetischem Urteil endgültig preisgegeben. Denn Kant begründet den Umstand, daß das Gefühl des Erhabenen keine „Legitimation seiner Anmaßung" (KU, Β 131) bzw. keine „Rechtfertigung des Anspruchs eines dergleichen Urteils auf allgemein-notwendige Gültigkeit" (KU, Β 133) bedarf - die doch eigentlich für jedes Urteil a priori notwendig ist - , im Grunde damit, daß das Erhabene dermaßen an die praktische Vernunft (und damit an die Kritik der praktischen Vernunft) gebunden ist, daß sich eine eigene Deduktion erübrigt. Die Argumentation ist kompliziert: Die Deduktion des Erhabenen sei deshalb unnötig, weil letzteres an formlosen und ungestalten Gegenständen sich einstellte (vgl. KU, Β 132) und sich von daher eigentlich nur in uns und nicht in der Natur befände, deren Gegenstände nur subjektiv für uns gebraucht, nicht aber für sich betrachtet werden (vgl. KU, Β 132f.). Dies beweist vorerst nur, daß das Schöne jetzt sehr viel .objektiver' gedacht wird, als es über lange Passagen der „Analytik des Schönen" den Eindruck machte48. Für Kant läßt es jedoch moralische Rückschlüsse zu, denn anläßlich dieses Gebrauchs ergäbe sich nun 48 Und vermag überdies in keiner Weise zu überzeugen, denn auch das Schöne ist eigentlich subjektiv und

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Das Erhabene in der Kritik der Urteilskraft

„ein zweckmäßiges Verhältnis der Erkenntnisvermögen, welches dem Vermögen der Zwecke (dem Willen) a priori zum Grunde gelegt werden muß und daher von selbst a priori zweckmäßig ist, welches dann sofort die Deduktion enthält" (KU, Β 133).

Mit der Anbindung des Erhabenen an die Moralität in der Exposition (also der Analytik) des Erhabenen meint Kant nun also, bereits die Deduktion des Erhabenen geleistet zu haben49. Auch eine Bestimmung der Ideen, die im Erhabenen im Spiel sind, ist nicht mehr nötig. Hatte Kant diese Bestimmung in der „Analytik" für die „Deduktion" aufgespart (vgl. KU, Β 84), so ist dennoch im Laufe der „Analytik" schon deutlich geworden, um welche Ideen es sich handelt. Es sind die Idee der Totalität im Mathematisch-Erhabenen und die der Freiheit im Dynamisch-Erhabenen, wobei allerdings insofern die erstere im Dienste der letzteren steht, als sie bereits in der Analyse des Mathematisch-Erhabenen zur „Erweiterung des Gemüts" in praktischer Absicht gedacht wird (KU, Β 93). Selbst eine strengere Trennung von Mathematisch-Erhabenem und Dynamisch-Erhabenem, wobei das erstere ästhetisch eigenständiger, das letztere moralisch abhängiger gedacht werden könnte - zumal die Modalität des Erhabenen in der von Kant beschriebenen Form auf das Mathematisch-Erhabene nicht ohne weiteres zutreffen kann - , scheint also die ästhetische Eigenständigkeit des Erhabenen nicht wahren zu können. Denn wie wir bereits gesehen haben, bringt Kant das Gefühl des Erhabenen nicht nur im DynamischErhabenen, sondern bereits im Mathematisch-Erhabenen, also dort, wo es noch gar nicht um die praktische, sondern nur um die theoretische Vernunft geht, ausdrücklich mit dem reinen moralischen Gefühl der Achtung in Verbindung. Es ließen sich viele Formulierungen Kants finden, die in dieselbe Richtung weisen. Wenn z.B. in der „Allgemeinen Anmerkung" der „bestirnte Himmel", der geradezu ein Topos der Kritik der praktischen Vernunft ist, als Beispiel für das Erhabene angeführt wird (vgl. KU, Β 118), so scheint das Erhabene weit eher in jenes Buch zu gehören als in die Kritik der Urteilskraft. Selbst dort, wo Kant sich der Problematik bewußt ist und vorschnelle Schlüsse über den moralischen Charakter des Erhabenen zu relativieren sucht, vermag er nicht recht zu überzeugen: So sucht er Einwänden gegen seine (zu vernunftorientierte und .unästhetische') Konstruktion des Erhabenen mit dem Argument zuvorzukommen, daß das dem Erhabenen zugrunde gelegte Prinzip (die Entdeckung des .übersinnlichen' Vermögens in uns) „zwar zu weit hergeholt und vernünftelnd, mithin für das ästhetische Urteil überschwenglich zu sein" scheine, daß dem aber nicht so sei: denn „die Beobachtung des Menschen beweist das Gegenteil, und daß es den gemeinsten Beurteilungen zum Grunde liegen kann, ob man sich gleich desselben nicht immer bewußt ist" (KU, Β 106). Dies widerspricht nicht nur seiner kurz darauf aufgestellten These von der „Kultur", sondern man muß auch einwen-

findet nur anläßlich eines Objekts statt, über das keine Aussagen gemacht werden. Auch das Schöne löst ein „zweckmäßiges Verhältnis der Erkenntnisvermögen", das Kant hier für das Erhabene reklamiert, in uns aus, das sich ebenfalls schon in der Exposition findet, so daß, wie Adickes spöttisch vermerkt, Kant hier „auch über seine Deduktion der Geschmacksurteile den Stab gebrochen" hätte (Adickes, Kants Systematik..., a.a.O., 169). 49 Kaulbach erklärt das Fehlen der Deduktion sehr viel plausibler nicht als Anbindung an die Moral, sondern dadurch, daß der zu deduzierende „allgemeine Standpunkt" durch den „Übergang" im Erhabenen schon entdeckt worden ist (vgl. Kaulbach,Ästhetische Welterkenntnis..., a.a.O., 193).

Apriorität durch Achtung?

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den, daß dieser Rückgriff auf eine anthropologisch-empirische Begründung aus dem transzendentalen Rahmen der Kritik der Urteilskraft herausfällt. Trotzdem ist die Anbindung des Erhabenen an die Moralität - und das selbst in der Frage der „Deduktion" - nicht so unwiderruflich, wie es scheint. Sehen wir uns die entsprechenden Stellen genau an, wobei ich in umgekehrter Reihenfolge vorgehen möchte. Natürlich ist es unbezweifelbar, daß die bloße Erwähnung des „bestirnten Himmels" in der „Allgemeinen Anmerkung" sofort an die berühmte Stelle der Kritik der praktischen Vernunft denken läßt50. Da es sich hierbei aber nur um ein - zugegeben suggestives - Beispiel und nicht um ein Argument handelt, ist von hier aus keine Entscheidung zu fällen. Außerdem will ich ja nicht behaupten, daß das Erhabene keinerlei Bezug zur Moralität habe, sondern lediglich zeigen, daß es nicht mit dem reinen moralischen Gefühl der Achtung identisch ist. Gravierender scheint in dieser Hinsicht der Umstand zu sein, daß Kant bereits während der Analyse des Mathematisch-Erhabenen auf die Achtung zu sprechen kommt. Dabei wird die Achtung als „Gefühl der Unangemessenheit unseres Vermögens zur Erreichung einer Idee, die für uns Gesetz ist", definiert (KU, Β 96). Dieses Gesetz scheint das moralische Gesetz zu sein, und diese Annahme wird von Kant bestärkt, wenn er im folgenden von der „Achtung für unsere eigene Bestimmung" und von der „Idee der Menschheit in unserem Subjekte" spricht (KU, Β 97). Aber die anschließende Erläuterung weist einen ganz anderen Weg. Kant präzisiert gänzlich .unmoralisch', daß es sich um das „Gesetz der Vernunft" als „oberste Maß der Größen" handelt (KU, Β 98). In Wahrheit ist hier also die Moralität noch nicht konstitutiv, auch wenn die theoretische (mathematische) „Erweiterung des Gemüts" im folgenden als für praktische Absichten förderlich angenommen wird. - Das Mathematisch-Erhabene ist also ästhetisch eigenständiger als das DynamischErhabene. Es dient allenfalls indirekt zur Beförderung praktischer Absichten. Doch wie steht es nun wirklich mit dem Dynamisch-Erhabenen? Darf man es umstandslos mit dem reinen moralischen Gefühl der Achtung gleichsetzen? Wenn aber nicht, wie soll man dann die unwiderruflich erscheinende Aussage Kants entkräften, daß sich die Notwendigkeit des (Dynamisch-) Erhabenen allein auf Moral gründe, was sich bis zum Fehlen der Deduktion hin auswirkt? Ich glaube, daß sie sich in der Tat bereits relativiert, wenn man sich die betreffenden Stellen genau ansieht. Denn Kants Formulierungen sind sehr viel vorsichtiger, als sie gemeinhin genommen werden. Er spricht nirgends davon, daß das Gefühl des Erhabenen mit dem Gefühl der Achtung identisch sei oder daß dieses jenem zugrunde läge. Er beschränkt sich vielmehr auf die Feststellung von Ähnlichkeit·. „In der Tat läßt sich ein Gefühl für das Erhabene der Natur nicht wohl denken, ohne eine Stimmung des Gemüts, die der zum Moralischen ähnlich ist, damit zu verbinden."51 50 KPV, 161, was von der einschlägigen Sekundärliteratur dann auch jedesmal hervorgehoben wird. Der Topos des bestirnten Himmels läßt sich jedoch bis in Kants frühe naturwissenschaftliche Schriften zurückverfolgen, wo er zunächst noch keine moralische, sondern eher eine kosmologische Haltung Kants von allgemein philosophischer Relevanz offenbart. Der Versuch der Verbindung beider Haltungen, dem wir auch im Erhabenen begegnen, ist nach Rudolf Ungers Meinung einer der roten Fäden durch Kants gesamtes Werk (vgl. Rudolf Unger, „ ,Der bestirnte Himmel über mir...'. Zur geistesgeschichtlichen Deutung eines Kant-Wortes" [1924], in: ders.. Gesammelte Studien, Bd. 2, Berlin 1929, S. 40-66). 51 KU, Β 116. Die Formulierung ist mehr als zweideutig. Man kann aus diesem Satzsowohl ableiten, daß das Erhabene aus dem moralischen Gefühl folgt, als auch, daß das moralische Gefühl aus dem Erhabenen folgt, aber auch, daß beide stets - ohne Hierarchisierung - einhergehen. Wir werden unten sehen, daß die Ent-

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Moralisches Gefühl und Erhabenes sind also nicht gleich, sondern nur „ähnlich". Diese Differenzierung wird selbst im Moment der Modalität durchgehalten: Das Erhabene hat „seine Grundlage in der menschlichen Natur nämlich in der Anlage zum Gefühl für (praktische) Ideen, d.i. zu dem moralischen" (KU, Β lllf.). Das Erhabene beweist von daher die Anlage zur Moral, ist aber noch nicht unbedingt mit der Achtung identisch. Es mag also sein, daß allein die Moralität die Apriorität des erhabenen Gefühls gewährleisten kann52, aber es ist nicht unbedingt ein anderes Gefühl, das dies tut - die Achtung - , sondern lediglich die dem Erhabenen als ästhetischem Gefühl selbst immanente Vernunftkomponente53. Im Gegensatz zur Achtung ist es aber kein reines Vernunftgefühl oder intellektuelles Gefühl, sondern hat darüber hinaus eine nicht zu unterschätzende sinnliche Seite. Die im Erhabenen „angemaßte Notwendigkeit" (KU, Β 112) fällt daher auch sehr viel .unsicherer' aus, wenn man so sagen kann, als in der vom kategorischen Imperativ notwendig hervorgerufenen Achtung. Selbst hinsichtlich der scheinbar so eindeutigen Frage der Deduktion bzw. Nicht-Deduktion muß das Verhältnis von Moralität und Ästhetik im Erhabenen einer genaueren Untersuchung unterzogen werden. Der entscheidende Satz, daß der Gebrauch der Natur im Erhabenen „ein zweckmäßiges Verhältnis der Erkenntnisvermögen" zeige, „welches dem Vermögen der Zwecke (dem Willen) a priori zum Grunde gelegt werden muß und daher von selbst a priori zweckmäßig ist, welches dann sofort die Deduktion enthält" (KU, Β 133), ist nämlich nicht nur zugunsten der Moral lesbar, sondern auch umgekehrt: Daß nämlich das, was im Erhabenen aufscheint, der Moral zugrundelegt werden müsse. Über die Moralität des Erhabenen insgesamt gibt das noch keinen hinreichenden Aufschluß. Deshalb sollen nun Erhabenes und Achtung in bezug auf die ,Rolle' der jeweils involvierten Vermögen näher verglichen werden.

1.4.2. Einbildungskraft und Vernunft im Erhabenen und in der Achtung Auch was das Verhältnis der Vermögen im Erhabenen angeht, scheint die Anbindung an die Moralität bis hin zur Identität auf den ersten Blick eindeutig zu sein. Kants Rede von der Einbildungskraft „als Werkzeug der Vernunft" im Erhabenen (KU, Β 117) scheint die Interpretation zu gestatten, daß hier die Sinnlichkeit gleichsam von der Vernunft überrollt werde, womit der eigentlich ästhetische Charakter abhanden komme, bzw. zumindest so Scheidung über die Interpretation dieser Stelle davon abhängt, ob man sich dem Erhabenen mit ästhetischem oder mit moralischem Blick nähert. Einstweilen gilt festzuhalten, daß die Schärfe der Aussage durch die „Ähnlichkeit" gemildert wird. Zur Ähnlichkeit vgl. auch Formulierungen wie „gemäß" und „verträglich" (KU, Β 95). 52 Obwohl nicht einzusehen ist, warum das Apriori nicht - wie (bisher) im Schönen - durch das im Erhabenen entdeckte zweckmäßige Verhältnis der Vermögen gewährleistet werden kann, was darüber hinaus ebenfalls die Deduktion erübrigen würde, weil dieses Verhältnis schon in der „Exposition" deutlich wird. So nimmt H.W. Cassirer analog zum Schönen an, daß das Erhabene deshalb allgemeingültig ist, weil alle Menschen über Einbildungskraft und Vernunft verfügen (Vgl. H.W. Cassirer, A Commentary on Kant's Critique of Judgment, London 1938, 246f.). 53 Erst wenn Kant in der „Deduktion" noch einmal kurz auf das Erhabene zu sprechen kommt und behauptet, daß es ein anderes Gefühl, nämlich das moralische voraussetze (vgl. KU, Β 154), erscheint das Erhabene endgültig als moralisch, was Kants genereller Stoßrichtung nach der „Analytik des Erhabenen" entspricht und auch das Schöne affiziert.

Einbildungskraft und Vernunft im Erhabenen

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wenig Eigenständigkeit besitze, daß von einer Autonomie keine Rede mehr sein könne. Die Vernunft übt vielmehr „Gewalt" über die Sinnlichkeit aus, „um sie ihrem eigentlichen Gebiete (dem praktischen) angemessen zu erweitern" (KU, Β 110). Die Sinnlichkeit scheint gänzlich in den Dienst der Moralität gestellt zu werden. Wenn man zudem die strukturelle Verwandtschaft des so verstandenen Erhabenen mit der Achtung, die ebenfalls ein negatives und ein positives Gefühlsmoment enthält (wobei die Vernunft die Sinnlichkeit sogar explizit „demütigt", KPV, 74), beachtet, scheinen Erhabenes und Achtung zu verschmelzen. Diese Interpretation ist, wie gesagt, möglich. Sie scheint mir aber stark verkürzend zu sein. In der Tat spricht Kant zwar von der Einbildungskraft als einem „Werkzeug der Vernunft", dies aber als Überrollen der Sinnlichkeit durch die Vernunft zu interpretieren, wäre mißbräuchlich. Denn es geht Kant im Kontext dieser Stelle im Gegenteil darum, das ästhetische vom moralischen Gefühl zu unterscheiden. Im Satz zuvor hatte er darauf hingewiesen, daß in der Sittlichkeit „die Vernunft der Sinnlichkeit Gewalt antun muß". Darauf fügt er einschränkend für das ästhetische Urteil hinzu: „nur, daß im ästhetischen Urteile über das Erhabene diese Gewalt durch die Einbildungskraft selbst, als durch ein Werkzeug der Vernunft, ausgeübt vorgestellt wird", und er fährt fort: „Das Wohlgefallen am Erhabenen ist ein Gefühl der Beraubung der Freiheit der Einbildungskraft durch sie selbst" (KU, Β 116f.). Lassen wir der Kürze halber dahingestellt, wie man sich diese Tätigkeit der Einbildungskraft vorzustellen hat - fest steht, daß die sinnliche Seite (hier durch die Einbildungskraft verkörpert) im Erhabenen eine weitaus größere (und aktivere) Rolle spielt als in der Achtung. Noch deutlicher wird diese Akzentuierung der Einbildungskraft, wenn man die strukturelle Ähnlichkeit des moralischen Gefühls der Achtung mit dem Erhabenen näher untersucht. Gewiß, beide haben gleichsam eine dunkle und eine lichte, eine negative und eine positive Seite, und erscheinen so beide als Mischung aus Unlust und Lust. Doch im Gefühl der Achtung ist die Unlust nur eine negative Begleiterscheinung, weil das für die Realisierung des kategorischen Imperativs notwendige Absehen von empirischen Interessen mit Schmerz verbunden ist (vgl. KPV, 74ff.). Im Erhabenen ist dagegen die Unlust notwendige Bedingung für das Entdecken der Vernunft und damit der Lust. Wie wir gesehen hatten, wird „der Gegenstand als erhaben mit einer Lust aufgenommen, die nur vermittelst einer Unlust möglich ist" (KU, Β 102, Hervorhebung C.P.). Die Achtung ist ein „Gefühl, was bloß aufs Praktische geht" (KPV, 80). Mit dem zweipoligen Gefühl des Erhabenen verglichen, tritt hier allein dessen zweiter Pol in den Vordergrund. Sein erster Pol ist zwar auch vorhanden. Er ist aber nicht Bedingung, sondern Folge54, so daß Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten schreiben kann, daß in der Achtung nichts empfangen werde, sondern daß sie ein ,¿elbstgewirktes Gefühl" in „uns seihst" sei (GMS, 401). Die Achtung wird von Kant sehr viel aktiver und sehr viel weniger

54 Vgl. auch Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Hamburg 1965 (im folgenden als GMS nach der Meiner-Ausgabe, Seitenangabe nach der Akademie-Ausgabe, im laufenden Text zitiert), 440: „Denn sofern ist zwar keine Erhabenheit an ihr , als sie dem moralischen Gesetz unterworfen ist, wohl aber sofern sie in Ansehung ebendesselben zugleich gesetzgebend und nur darum ihm untergeordnet ist."

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Das Erhabene in der Kritik der Urteilskraft

sinnlich-rezeptiv gedacht als das Erhabene55. Sie wird als „tätig und herrschend" beschrieben (KPV, 147). Entsprechend ist mit Blick auf die Moral auch von „erhabenen Taten" die Rede56. Im Erhabenen tritt die Vernunft nicht so sehr in den Vordergrund. Es hat neben der Vernunftseite noch eine passive, empfangende Seite (nämlich der Natureindrücke, die erst das Gefühl auslösen), und diese sinnliche Seite ist mindestens ebenso gewichtig. Das Gefühl des Erhabenen ist daher nicht rein moralisch - und deshalb alles andere als ein Handlungsaufruf, z.B. zur Beherrschung der Natur57. Es zeigt lediglich die (gänzlich leere) Möglichkeit von Handlung überhaupt, keine konkrete Handlung. Nicht einmal der Gedanke der Realisierung ,des Erhabenen' ist in diesem Gefühl angelegt58. Zur Unterscheidung von Achtung und Erhabenem könnte man vielleicht sagen, daß die Achtung primär das Gefühl ist, was das Vemunftgesetz in uns auslöst, weswegen Kant sie auch in der Kritik der praktischen Vernunft als einziges Gefühl a priori bezeichnet (vgl. KPV, 73). Erst im zweiten Schritt ist mit dem Genießen des intelligiblen Selbst der Schmerz der Beschränkung des sinnlichen, empirischen Selbst verbunden. Das Erhabene ist dagegen sozusagen umgekehrt angesetzt, so daß sich die Reihenfolge (und die Gewichtung) der beiden Pole umkehrt. Es erfolgt erst das Bewußtsein der sinnlichen Endlichkeit und dann das der übersinnlichen Unendlichkeit (oder Freiheit). Die sinnliche Seite ist für das Entdecken der übersinnlichen konstitutiv. In der Perspektive auf die größere Rolle der Sinnlichkeit erscheinen nun auch die Vernunftbegriffe, die im Erhabenen im Spiel sind, .unbestimmter' (und damit der anfänglichen Definition des Erhabenen wieder konformer), als wenn man rein von der Vernunft ausgeht. Daß es sich um Totalität und Freiheit handelt, steht außer Frage, nur: der Einbildungskraft ist das nicht bewußt. Sie wird zwar durch ein anderes Gesetz bestimmt, dieses Gesetz bleibt aber selber unbestimmt: die Einbildungskraft erfährt „eine Erweiterung und Macht, deren Grund aber ihr selbst verborgen ist" (KU, Β 117). Sie sucht sich „zur Angemessenheit mit der Vernunft (doch ohne einen bestimmten Begriff derselben) zu erheben" (KU, Β 118). Die Gemütsstimmung des Erhabenen ist lediglich „deijenigen gemäß und mit ihr verträglich , die der Einfluß bestimmter Ideen (praktischer) auf das Gefühl bewirken würde" (KU, Β 95, Hervorhebungen C.P.). Zwischen Erhabenem und Achtung besteht mithin nicht einmal im Dynamisch-Erhabenen Identität, sondern nur eine Art verträgliches Nebeneinander (wie der Konjunktiv anzeigt), das je nach Standpunkt zur einen oder anderen Seite ausschlagen kann.

55 Deswegen tendiert er teilweise zu Formulierungen, die am Gefühlscharakter der Achtung zweifeln lassen, wenn es z.B. in der Kritik der praktischen Vernunft heißt, daß für das Sittengesetz „gar kein Gefühl stattfindet", sondern das alles im Urteil der Vernunft geschieht (KPV, 75). 56 KPV, 85, die, wie der Enthusiasmus als Variante des Erhabenen zeigt, aus ästhetischer Sicht nicht unbedingt erhaben wären. 57 Kant spricht zwar in der Tat von der „Überlegenheit" des Menschen über die Sinnlichkeit, und das heißt über die Natur (KU, Β 97), doch ist es auch hier unabdinglich, genau auf Kants Formulierungen zu achten, denn er spricht lediglich davon, daß hier die Überlegenheit über die Sinnlichkeit „gleichsam anschaulich" gemacht werde (ebd.). Das ist eine ästhetische, keine .aktivistische' Sichtweise. 58 In ganz anderem Zusammenhang, doch auch für unseren Fall zutreffend, hat Peter Szondi bemerkt, daß die „Verwirklichung des Erhabenen" durch den Menschen „dieses vernichten müsse" (Szondi, Versuch über das Tragische, a.a.O., 59).

Einbildungskraft und Vernunft im Erhabenen

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Man darf sich also von Kants Formulierung, das Erhabene sei ein „Geistesgefühl", nicht irreführen lassen: Geistesgefühl heißt nicht Vernunftgefühl oder intellektuelles Wohlgefallen59 - welches letztere Kant in der „Allgemeinen Anmerkung" mit dem moralischen Gefühl gleichsetzt, und zwar in ausdrücklicher Absetzung vom Schönen und Erhabenen (vgl. KU, Β 119f.). Die „Geistesstimmung" des Erhabenen (KU, Β 85) ist keine „Stimmung" der Vernunft, sondern der Einbildungskraft60. Die Einbildungskraft fühlt sich im Erhabenen unbegrenzt (vgl. KU Β 124), sie fühlt die Anlage zur Moralität (nicht etwa das moralische Gefühl selbst), sie wird erweitert, sie fühlt Verlust und Gewinn und deren Ursache (wenn sie auch den Grund nicht kennt) (vgl. KU, Β 117), sie stellt sich im Dynamisch-Erhabenen die schrecklichen Bilder vor, sie wird zu einer „Macht, unsere Unabhängigkeit gegen die Natureinflüsse zu behaupten" (ebd.), sie macht zweckmäßigen Gebrauch von der scheinbar zweckwidrigen Vorstellung (vgl. KU, Β 78), sie ist für die „Einbildung" der Überlegenheit des Gemüts verantwortlich, und es ist ihr Scheitern, das erst Unlust und dann Lust auslöst, nicht die Vernunft. Entsprechend geringer ist schließlich die Rolle der Vernunft im Gefühl des Erhabenen einzuschätzen. Die These, im Erhabenen werde die typisch neuzeitliche Überherrschung der Natur durch die Vernunft vorgeführt, wobei es sich letztlich um ein intellektuelles und nicht um ein ästhetisches Wohlgefallen handle, läßt sich schon deshalb nicht halten, weil sie eine aktive Vernunft voraussetzt, während es im Erhabenen lediglich darum geht, die Existenz dieser Vernunft gefühlsmäßig zu .beweisen'. Um die Lust am Erhabenen zu garantieren, muß die Vernunft lediglich ,da sein'; tun muß sie nichts. Zwar legen die Rede vom „Werkzeug" der Vernunft und auch andere Formulierungen Kants, die etwa darauf hinweisen, daß sich die Einbildungskraft nur ,auf Befehl' der Vernunft anstrengt, das Absolute darzustellen (vgl. z.B. KU, Β 91f.), die Vorstellung von einer aktiven, alles beherrschenden Vernunft nahe. Doch Kant betont immer wieder, daß das Urteil des Erhabenen „ohne zu vernünfteln" stattfindet (KU, Β 76). Es ist „ästhetisch und nicht mit irgendeinem Verstandes- oder Vemunfturteile vermengt" (und „soll" dies auch nicht sein, KU, Β 90). Es ist die Einbildungskraft, als ästhetisches Vermögen, die am Ende „in ein rührendes Wohlgefallen versetzt wird" (KU, Β 88), und nicht etwa die Vernunft, die mehr oder weniger passiv bleibt61. Auch hier gilt, es als Interpretationsmöglichkeit zumindest in Erwägung zu ziehen, daß die Aktivitäten der Einbildungskraft ,auf Befehl' der Vernunft systematisch nicht uneingeschränkt für die Herrschaft der Vernunft sprechen, sondern lediglich als Beweis dafür, daß sie ,da' ist, wodurch sich erneut die Perspektive umkehrt. Kants Beschreibung der Abfolge der beiden Momente im Gefühl des Erhabenen muß nicht unbedingt zeitlich als einmaliger Perspektivenwechsel von der Sinnlichkeit zur Vernunft begriffen werden (und wird schon durch das „schnellwechselnde Anziehen und Abstoßen" relativiert). Noch ist die Aussage, daß das Gemüt in sich „auf die Stimme der Vernunft" hört, in jedem Fall so zu verstehen, daß sich ein bloßer Zirkel (Vernunft-EinbildungskraftVemunft) ergibt. Diese letztere Aussage kann nämlich - in gleichfalls umgekehrter Reihen59 Darin scheint mir Adornos Irrtum zu bestehen, der das Erhabene intellektueller interpretiert, als es ist 60 KU, Β 80. Wenn die Verwechslung mit dem ,geistigen Gefühl der Achtung für moralische Ideen" {KU, Β 228) auch gefährlich naheliegt. 61 Ob ihre spätere und mögliche Aktivität im Gefühl des Erhabenen angelegt ist, ist eine andere Frage. Ich würde im Gegenteil behaupten, daß das Gefühl des Erhabenen gerade zeigt, wie .passiv' und .imbestimmt' die Vernunft bleiben muß, damit es nicht zu der gefürchteten Überherrschung der Natur durch die Vernunft kommt.

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Das Erhabene in der Kritik der Urteilskraft

folge - auch als Erklärung angesehen werden, warum die Lust angesichts des Scheiterns der Einbildungskraft das Vorhandensein der Vernunft beweist. Die Heterogenität, ja der „Widerstreit" der beiden am Gefühl des Erhabenen beteiligten Vermögen würde auf diese Weise in keine einseitige Harmonie zugunsten der Vernunft aufgelöst, sondern auch die Einbildungskraft verbliebe in ihrer Eigenständigkeit. Die Vernunft nähme dann nicht (zumindest nicht uneingeschränkt) die Rolle eines allgegenwärtigen und prädominanten ,Supervermögens' ein, sondern beide Vermögen würden .nebeneinander', .zugleich' gedacht. Die letztere These von der Umkehrung der Perspektive läßt sich durch weitere Äußerungen Kants belegen. Das Gefühl des Erhabenen beweist nicht nur das Vorhandensein der Vernunft gefühlsmäßig, sondern im Gefühl des Erhabenen wird die Vernunft „ästhetisch beurteilt", und zwar „nur" durch das anfängliche Unvermögen der Einbildungskraft (KU, Β 100). Daraus ließe sich schließen, daß nicht unbedingt das Erhabene moralisch, sondern umgekehrt, die Moral, ästhetisch beurteilt oder betrachtet, erhaben ist. Die Verwandtschaft des erhabenen Gefühls mit dem moralischen Gefühl der Achtung würde dann darin bestehen, daß beide zwar eine ähnliche Struktur aufweisen, diese aber durch die jeweils unterschiedliche Beurteilungs- oder Blickweise unterschiedlich gewichtet ist. In der Achtung tritt die Vernunft - also, vom Erhabenen aus betrachtet, der zweite Pol gegenüber dem ersten - in den Vordergrund. Das moralische Gefühl der Achtung ist das Gefühl des Sittengesetzes. Das ästhetische Erhabene, bei dem beide Pole gleichwertig sind, ist - zumindest in seiner dynamischen Form - die ästhetische Beurteilung dieses Sittengesetzes - ebenfalls als Gefühl62. Zwischen Achtung und Erhabenem findet also sozusagen eine Art Perspektivenwechsel von der moralischen zur ästhetischen Beurteilungsart statt. Beide Gefühle haben die gleichen Bestandteile; gemäß der Kantischen Aufteilung der unterschiedlichen Bereiche haben sie aber unterschiedliche Bedeutung63. Natürlich spielt die Vernunft und mit ihr die Moralität im Erhabenen eine Rolle - aber eben eine andere als in der Achtung der Kritik der praktischen Vernunft. Diese Verwandtschaft, die keine Identität bedeutet, hat Kant selbst notiert: „das intellekutelle, an sich selbst zweckmäßige (das Mora1isch-)Gute, ästhetisch beurteilt, nicht sowohl schön als vielmehr erhaben vorgestellt werden."61

Damit würden sich die Schwierigkeiten der Trennung von Achtung und Erhabenem in eine bisher noch wenig bedachte Richtung, in ein .Sowohl-Als-Auch' auflösen, je nachdem ob ein moralisches oder ein ästhetisches Urteil gefällt werden soll65.

62 Gefühle können ja nach Kant nicht nur aus sinnlichen, sondern auch aus intellektuellen Vorstellungen resultieren, gehören aber in jedem Fall zur Sinnlichkeit (vgl. MS, 211). 63 Ähnlich unterscheidet Gilles Deleuze (Kants kritische Philosophie. Die Lehre von den Vermögen, Berlin 1990) die drei Kritiken dadurch, daß in allen dreien die gleichen Vermögen am Werk sind, daß diese Vermögen aber jeweils durch ein unterschiedliches Interesse unterschiedliche Bedeutung haben. In der dritten Kritik ist die Einbildungskraft wichtiger als die Vernunft, die in der zweiten Kritik mehr in den Vordergrand tritt. 64 KU, Β 120; vgl. entsprechend Β 114. 65 Gemeinhin wird statt dessen von einem ästhetischen und einem moralischen Erhabenen gesprochen (vgl. z.B. Rossaint. Das Erhabene.... a.a.O., 59). Einen ersten Hinweis auf die Umkehrung der Perspektive habe ich indirekt bei Milton C. Nahm („.Sublimity' and .Moral law' in Kant's philosophy", in: Kant-Studien 48 [1957], S. 502-524) gefunden, der das Erhabene zum Verständnis der Kantischen Ethik heranzieht.

Einbildungskraft und Vernunft im Erhabenen

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Ein Beispiel für die Verwandtschaft von Erhabenem und Achtung, die jedoch nicht in einer Identität kulminiert, und zwar gerade mit Bezug auf das Urteil, ist der Enthusiasmus, der eine Spielart des Erhabenen ist. Der Enthusiasmus wird definert als „Idee des Guten mit Affekt" (KU, Β 121). Er ist ein „vorübergehender Zufall, der den gesundesten Verstand bisweilen wohl betrifft", und kann mit dem „Wahnsinn" verglichen werden (vgl. KU, Β 126). Die Einbildungskraft ist darin zügellos (vgl. ebd.). Der Enthusiasmus ist zwar durch seinen Affektcharakter moralisch verwerflich, d.h. er kann „auf keinerlei Weise ein Wohlgefallen der Vernunft verdienen", ästhetisch aber ist er - wie „jeder Affekt von der wackeren Art" (KU, Β 121) - erhaben, weil er nicht durch Sinneneindrücke, sondern durch Ideen dem Gemüt „einen Schwung" gibt (vgl. ebd.). Man sieht leicht die Bedeutung des Enthusiasmus für unsere Fragestellung: es handelt sich nicht um ein Vemunfturteil, sondern um eine Kombination von Vernunft und Einbildungskraft (die nicht weiß, was sie tut). Entscheidend dafür, ob ein Affekt erhaben sein kann oder nicht, ist nicht das Wohlgefallen der Vernunft66, sondern der Bezug zum Übersinnlichen (KU, Β 123) im Sinnlichen. Das Erhabene zeugt also nicht direkt vom Diktat der Vernunft, sondern hat nur einen Bezug zur Vernunft. Dieser Bezug ist ebenso konstitutiv für das Erhabene wie das sinnliche Moment. Das Erhabene muß „jederzeit Beziehung auf die Denkungsart haben, d.i. auf Maximen, dem Intellektuellen und den Vernunftideen über die Sinnlichkeit Obermacht zu verschaffen" (KU, Β 124). Das hört sich für die Sinnlichkeit zwar bedrohlich an, sie bleibt jedoch ebenfalls konstitutiv. Kant versucht sogar noch einmal, solche Bedenken explizit zu zerstreuen: „Man darf nicht besorgen, daß das Gefühl des Erhabenen durch eine dergleichen abgezogene Darstellungsart, die in Ansehung der Sinnlichkeit gänzlich negativ wird, verlieren werde; denn die Einbildungskraft, ob sie zwar über das Sinnliche hinaus nichts findet, woran sie sich halten kann, fühlt sich doch auch eben durch diese Wegschaffung der Schranken derselben unbegrenzt."67

Und Kant geht in seinem Bemühen, Bedenken gegen seine womöglich ,sinnenfeindliche' Theorie zu zerstreuen, sogar noch weiter: Gerade, wo es für die Sinne nichts mehr gäbe, würde der Einbildungskraft ein um so größerer Schwung verliehen, der schwer zu bändigen sei (vgl. ebd.). Für ihre ,Bändigung' hat Kant folgendes Mittel parat: Das Erhabene sei 66 Wenn allerdings das Wohlgefallen der Vernunft noch hinzukommt, ist die betreffende Empfindung „auf weit vorzüglichere Art erhaben", wie z.B. die Affektlosigkeit (KU, Β 122), woran man sieht, wie ambivalent Kant weiterhin dem Verhältnis von Ästhetik und Moral im Erhabenen gegenübersteht, was auch teilweise an dem eher anthropologischen Charakter der Ausführungen zu den „Affekten der wackeren Art" in der „Allgemeinen Anmerkung" liegen mag. Denn die gleiche Unsicherheit findet sich in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (Hamburg 1980, im folgenden als Anthropologie nach der Meiner-Ausgabe mit den Seitenangaben der Akademie-Ausgabe im laufenden Text zitiert), wo Kant einerseits für die Affekte, zu denen der Enthusiasmus gehört, „die Herrschaft der Vernunft ausschließt" (ebd., 251), andererseits aber kurz darauf betont, daß im Enthusiasmus die „Vernunft doch immer den Zügel führt" (ebd., 254), dann wiederum die sinnliche Seite des Enthusiasmus hervorhebt (vgl. ebd., 269) und ihn später negativ als „Leichtsinn" bezeichnet (ebd., 313). 67 Ebd. Diese „abgezogene Darstellungsart" erlaubt - ebenso wie Kants Beispiel vom (erhabenen) Bilderverbot im „Gesetzbuche der Juden" (ebd.) - eine ganz andere Applikation des Erhabenen auf die Kunst, als sie in Kants Nachfolge vorgenommen wurde. Sie führt in die abstrakte Kunst und weg von den gewaltigen Szenerien, mit Hilfe derer Kants Nachfolger ,das Erhabene' - und insbesondere den Kampf der Gewalten im Dynamisch-Erhabenen - darzustellen suchten.

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Das Erhabene in der Kritik der Urteilskraft

zwar eine „Darstellung des Unendlichen", wobei die „Seele" erweitert werde (ebd.), aber diese Darstellung (der Sittlichkeit, wie er kurz darauf ergänzt, vgl. KU, Β 125) könne „niemals anders als bloß negativ" sein (KU, Β 124). Diese Negativität verhindert die „Gefahr der Schwärmerei, welche ein Wahn ist, über alle Grenzen der Sinnlichkeit hinaus etwas zu sehen, d.i. nach Grundsätzen träumen (mit Vernunft rasen) zu wollen" (KU, Β 125). Die negative Darstellung ist also ein Mittel der Vemunftkritik gegen die Raserei der Vernunft - durchaus im Sinne der ersten KritikDie Berücksichtigung der sinnlichen Komponente bremst gleichsam die Vernunft. Das Erhabene ist kein moralisches Gefühl - denn dann wäre die Sinnlichkeit nicht in der Lage, die Raserei der Vernunft zu verhindern, weil sie zu unbedeutend wäre - , sondern ein ästhetisches Gefühl. Das Erhabene weist also einen internen Bezug zur Vernunft und damit auch zur Moral auf. Dieser ist so gewichtig, daß Kant bei der Analyse des Erhabenen an die Grenze des Ästhetischen gerät. Die Ästhetik wird gleichsam durch ein anästhetisches Moment erweitert - aber sie bleibt ästhetisch. Wenn man die Moral ästhetisch beurteilt, so ist sie erhaben. Das Erhabene ist ästhetisch, insofern es eine sinnliche und eine moralische Seite hat69. Als rein moralisches Gefühl käme es nur auf die letztere an, und dann wäre es in der Tat ein Handlungsanreiz. Auf einer Schwundstufe des Erhabenen würde man nur die Vernunft, als zweite Stufe des Erhabenen, berücksichtigen oder sie zumindest mehr betonen. Die Unterscheidung zwischen Achtung und Erhabenem, zwischen ästhetischer und moralischer Ausrichtung des Verhältnisses von Einbildungskraft und Vernunft, scheint also eine Frage der Betonung oder des Standpunktes zu sein. Diese Frage betrifft auch das Verhältnis der den beiden Vermögen korrespondierenden .Phasen' im erhabenen Gefühl.

1.4.3. Reine Erhebung? Zum Verhältnis der beiden Phasen im Gefühl des Erhabenen Auch das Verhältnis der beiden Phasen bzw. Momente des erhabenen Gefühls scheint auf den ersten Blick eindeutig zu sein. Kant selbst spricht davon, daß es sich um ein .Erheben' handelt70, also um eine Art Aufstieg von der ersten zur zweiten Phase, was das deutsche Wort .erhaben' natürlich besonders nahelegt. Doch wie steht es mit dem ersten Moment, wenn erst einmal die zweite Stufe erreicht ist: Gerät es in Vergessenheit, oder bleibt es gleichsam im Triumph über die Sinnlichkeit präsent (so daß dieser etwas weniger triumphal ausfallen würde)? Entgegen der herrschenden Forschungsmeinung, die von der ungetrübt triumphalen Erhebung ausgeht, möchte ich auch hier hervorheben, daß Kants Text diesbezüglich so eindeutig, wie seine Interpreten suggerieren, nicht ist. Es ist vielmehr auch hier eine andere Lesart möglich, wobei die Alternative zwischen beiden Lesarten weiterreichende systematische Konsequenzen hat.

68 Und es ist diese Negativität, die in den vorgeblich .erhabenen Darstellungen' nach Kant nicht berücksichtigt worden ist und die die Theoretiker nach Kant systematisch zu eliminieren suchten. 69 Kaulbachs Rede vom „ästhetisch-moralischen" Erhabenen (Kaulbach,Ästhetische Welterkenntnis..., a.a.O., 174), einer ästhetischen Vernunft (vgl. ebd., 166) und „freier, vernünftiger Sinnlichkeit", um die „Aporie" des Erhabenen zu überwinden (ebd., 189), ist unzureichend. Er umgeht das eigentliche Problem zugunsten einer (vorschnell) harmonisierenden Synthese. 70 Vgl. z.B. KU, Β 105, was sich natürlich in allen Flektierungen des Verbs .erheben' durchspielen läßt: vgl. Β 95: das Gemüt fühlt sich „gehoben", im Erhabenen werde eine „höhere Zweckmäßigkeit" entdeckt usw.

Die beiden Phasen im Gefühl des Erhabenen

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Wenn ich im letzten Kapitel für eine Akzentuierung der Einbildungskraft eingetreten war, die dazu führt, daß das Erhabene nicht als reines moralisches Gefühl betrachtet wird, sondern als ästhetisches Gefühl, so entspricht das einer Akzentuierung der ersten Phase, die m.E. in der zweiten Phase des erhabenen Gefühls nicht .aufgehoben' wird. Wie wir uns erinnern, hatte Kant das Gefühl des Erhabenen bezüglich der Phasen als schnellwechselndes Abstoßen und Anziehen charakterisiert. Beide Phasen der erhabenen „Bewegung" wechseln einander beständig ab, es kommt zu keiner „Beruhigung", wie in der Achtung, was der Meinung, die erste Phase sei in der zweiten .aufgehoben', widerspricht71. Entgegen dem Eindruck einer einmaligen bloßen Abfolge der Momente, den Kants analytische Zergliederung des erhabenen Gefühls erweckt, werden beide Phasen als gleichzeitig vorgestellt72. Diese Gleichzeitigkeit aber verbietet die Vorstellung von einer definitiven .Erhebung*. Man muß sich das Verhältnis der beiden Komponenten des erhabenen Gefühls, die in einen „Widerstreit" verwickelt sind, vielmehr als .Nebeneinander' vorstellen. Die sinnliche Komponente hat eine ebenso große Bedeutung wie die übersinnliche: erste und zweite Phase, Einbildungskraft und Vernunft sind sozusagen horizontal nebeneinandergeordnet, nicht vertikal gestuft73. Nur diese Gleichzeitigkeit erlaubt den Perspektivenwechsel, der für beide Varianten des erhabenen Gefühls charakteristisch ist74. Zudem macht die Gleichzeitigkeit die Ambiva71 Wenn freilich Kant auch hier nicht völlig eindeutig ist: An anderer Stelle scheint er von einem schnellen Anziehen und Abstoßen auszugehen, das langsam verebbt. Hatte er in Β 75 noch davon gesprochen, daß man von dem betreffenden Gegenstand „nicht bloß angezogen, sondern wechselweise auch immer wieder abgestoßen" würde (Hervorhebung C.P.), so heißt es in Β 98, diese .Dialektik' ohne Ende immerhin etwas relativierend, daß es sich um eine „Bewegung" handle, die „vornehmlich in ihrem Anfange" (Hervorhebung C.P.) „mit einem schnellwechselnden Abstoßen und Anziehen ebendesselben Objekts" verglichen werden könne. 72 Zur Gleichzeitigkeit vgl. z.B. KU, Β 97; Β 100. Die Momente sind also miteinander verquickt, sie vermischen sich aber nicht im Sinne einer Synthese, wie Peter Heintel aus Hegelscher Perspektive annimmt (vgl. Peter Heintel, Die Bedeutung der Kritik der ästhetischen Urteilskraft für die transzendentale Systematik, Bonn 1970 [Kant-Studien, Erg.-H. 99], 104; 111). Eine Synthese würde die kritischen Unterscheidungen zunichte machen - und womöglich doch wieder einseitig zugunsten der Vernunft ausfallen. Der erhabene Perspektivenwechsel wäre so nicht möglich. Ernst Cassirer merkt an, daß im Erhabenen „das ästhetische und das ethische Interesse eine neue Verknüpfung ein", und fügt ausdrücklich hinzu: „um so notwendiger erweist sich hier zugleich die kritische Trennung der beiden Gesichtspunkte" (Emst Cassirer, Kants Leben und Lehre [1918], 2. Aufl. Berlin 1921, rep. New Haven/Darmstadt 1975,348). Die paradoxe Konstellation von Verknüpfung und Trennung wird im folgenden wichtig werden. 73 Diesem Nebeneinander trägt Kant bis in die Formulierungen hinein Rechnung. Wir haben oben bereits gesehen, wie es sich durch Wendungen wie „gleichsam", „verträglich" und durch die Verwendung des Konjunktivs kenntlich macht, und zwar gerade in bezug auf das Verhältnis von sinnlicher und übersinnlicher Seite, wobei sich die scheinbare Vorherrschaft der Vernunft relativiert: So ist die „Gemütsstimmung" des Erhabenen „derjenigen und mit ihr verträglich , die der Einfluß bestimmter Ideen (praktischer) auf das Gefühl bewirken würde" (KU, Β 95, Hervorhebungen C.P.). Wir sind der Natur überlegen, „wenn es auf unsere höchsten Grundsätze und deren Behauptung oder Verlassung ankäme" (KU, Β 105, Hervorhebung C.P.). Zudem findet das Gefühl des Erhabenen nur in der Vorstellung statt - hier wirkt sich seine Ästhetizität aus - und ist keine .reale' Handlung: Im Gefühl des Erhabenen wird „das Sinnliche in der Vorstellung der Natur für einen möglichen übersinnlichen Gebrauch desselben als tauglich beurteilt" (KU, Β 114, Hervorhebungen C.P.), so daß sich auch der „Gebrauch" der Sinnlichkeit, den einige Interpreten als Beweis für die Überherrschungsthese anführen, relativiert. 74 Die Gleichzeitigkeit erklärt schließlich, warum Kant auch in bezug auf das Erhabene von Unmittelbarkeit sprechen kann (vgl. KU, Β 115).

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Das Erhabene in der Kritik der Urteilskraft

lenz erklärlich, die sich von Kants Text her in der Frage zu ergeben scheint, ob es sich beim Erhabenen um ein ästhetisches oder ein moralisches Gefühl handelt. Infolge der Gleichzeitigkeit wird das Erhabene zu einem Paradox, von dem man nur reden bzw. das man nur .darstellen' kann, indem man eines der beiden Momente in den Vordergrund stellt; denn die beiden Momente schließen einander ja aus. Somit ist eine ästhetische Akzentuierung des Erhabenen denkbar, bei der die erste Phase des erhabenen Gefühls stärker in den Vordergrund tritt; und eine moralische, die mehr die zweite Phase betont. Das Erhabene ist also nicht die reine „Erhebung", die das moralische Gefühl der Achtung kennzeichnet75, und dieser Umstand wirft auch ein anderes Licht auf die „Überlegenheit" über die Natur, die im Erhabenen sichtbar wird. Denn die als „Erhebung" verstandene Überlegenheit relativiert sich, wenn man bedenkt, daß zu ihr konstitutiv ein Niederschlagen, ein Scheitern gehört. Die erhabene .Erhebung' erfolgt gleichsam nur augenblicksartig - ihr komplementärer Niedergang folgt auf dem Fuße. Die zweite Phase des Erhabenen ist also nicht ein für alle Male von der Sinnlichkeit .abgehoben', wie wir etwa bei Schopenhauer beobachtet haben, sondern sie bleibt an sie angebunden. Das Erhabene ist kein „endgültige und absolute Übergang"76, denn die hier betroffenen Ideen werden nicht positiv, sondern negativ dargestellt, das Scheitern bleibt im Triumph präsent. Schon deshalb scheint mir die Gleichsetzung des Erhabenen mit der Achtung und die damit einhergehende Konzentration auf die zweite Phase des Erhabenen eine Verkürzung der Kantischen Position zu sein. Denn wenn man nur noch die zweite Phase des Erhabenen betont, wäre die .Darstellung' der Idee zumindest im Gefühl weitaus positiver konnotiert als Kants Konzeption des Erhabenen es erlaubt. Wenn man ausschließlich die zweite Phase des Erhabenen in den Vordergrund stellt, verfehlt man die Negativität im Erhabenen, die - wie wir gesehen haben - bei Kant die Raserei der Vernunft bremsen soll. Die ungetrübte Lust, die die Akzentuierung der zweiten Phase bedeutet, verwischt zudem den Unterschied zum Schönen77. Das Problem des ambivalenten Verhältnisses der beiden Phasen des Erhabenen ist gleichbedeutend mit der Frage, ob sich die Einbildungskraft und mit ihr das Subjekt im Erhabenen über alle Sinnlichkeit erhebt und die Grenze zum Übersinnlichen überschreitet oder nicht. Das deutsche Wort .erhaben' suggeriert ein solches distanziertes Schweben über allen weltlichen Dingen - jenseits der Sinnlichkeit. Der lateinische Ursprung ,sub-limen' läßt dagegen vermuten, daß das Subjekt unterhalb dieser Grenze verbleibt und nur einen Blick auf die andere Seite werfen kann. Deshalb habe ich die erstere Interpretationsmöglichkeit .meta-physisch' genannt. Die letztere möchte ich, wie ebenfalls bereits erwähnt, 75 Vgl. KPV, 81; vgl. entsprechend MS, 483, wo deutlich wird, daß der Perspektivenwechsel, der sich auch in der Achtung feststellen läßt (s.o.), ungleich schwächer ausfällt als im Erhabenen und eher einem Absprung ins Übersinnliche gleichkommt als dem Nebeneinander im Erhabenen (vgl. dazu auch MS, 434f.). 76 Wie auch Kaulbach annimmt (Kaulbach,Ästhetische Welterkenntnis..., a.a.O., 183). 77 So daß Kaulbach sich „berechtigt" glaubt, „am Ende der Geschichte, in der das ästhetische Bewußtsein auf dem Wege den Stand des Erhabenen erreicht hat, der durch Enttäuschung und Niedergeschlagenheit hindurchgeführt hat, wieder vom Schönen zu sprechen: freilich auf dem Rücken des Erhabenen und nicht mehr in seiner ursprünglichen naiven Form" (Kaulbach, Ästhetische Welterkenntnis..., a.a.O., 181). Wir werden sehen, daß auch Kant diesen Weg in der Kritik der Urteilskraft einschlägt, der von der „Analytik des Erhabenen" her aber nicht uneingeschränkt gerechtfertigt ist. Der „Stand" des Erhabenen ist nämlich kein statischer Standpunkt, sondern bleibt schwankend und bewegt.

Die beiden Phasen im Gefühl des Erhabenen

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.kritisch' nennen. Beide sind auf der Basis des Kantischen Textes möglich, wenn ich auch die letztere, die ein horizontales und kein vertikales Verhältnis der beiden Momente des erhabenen Gefühls annimmt, aus den erwähnten Gründen für einleuchtender und heute für geboten halte. In dieser seiner ästhetischen Eigenständigkeit wird das Erhabene weiterhin systematisch relevant.

2. Zur systematischen Stellung des Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft

Auf der Basis der im ersten Teil versuchten Rekonstruktion des Kantischen Erhabenen unter besonderer Berücksichtigung des Bezugs zur Moralität wird im folgenden Teil die systematische Stellung des Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft zu untersuchen sein. Wie eingangs gesagt, lautet meine These, daß das Erhabene entgegen Kants eigener relativierender Aussage, daß es ein bloßer „Anhang" sei, von größter systematischer Wichtigkeit für die Kritik der Urteilskraft und somit für die ihr eigene Übergangsproblematik und die damit zusammenhängende Systembildungsaufgabe ist. Entscheidend dafür ist seine Ästhetizität. Als ästhetisches (nicht etwa als moralisches) Gefühl ist das Erhabene nicht nur der eigentliche, in der Kritik der Urteilskraft gesuchte Übergang, sondern auf der Basis dieser Sichtweise verändert sich auch der Blick auf die anderen Bestandteile der dritten Kritik. Das Erhabene .betrifft' das Urteil über das Schöne, insofern Kant darin den Übergang anvisiert, und das teleologische Urteil, das für die Einheit des Systems der Erfahrung eine Rolle spielt, in doppelter Hinsicht: Einerseits stellt es sie in Frage; andererseits liegt es ihnen zugrunde, was mit der konstitutiven Bipolarität des Erhabenen zusammenhängt. Dieser Einfluß manifestiert sich darin, daß sowohl das Schöne wie auch das teleologische Urteil erhabene Züge annehmen. Der folgende Teil gliedert sich in fünf Abschnitte von unterschiedlicher Bedeutung. Zuerst werde ich - auf der Basis der beiden Einleitungen der dritten Kritik - kurz die Übergangsaufgabe und die damit zusammenhängende Systembildungsaufgabe der Kritik der Urteilskraft ins Gedächtnis rufen, um dann in der Hauptsache darzulegen, inwiefern gerade das Erhabene dieser Aufgabe gerecht wird. Im folgenden werde ich dann das .schöne' und das teleologische Urteil auf ihre erhabenen Züge bezüglich des Übergangs und des Systems hin untersuchen. Den Abschluß dieses Teils bildet ein Exkurs zu Kants geschichtsphilosophischen Schriften, die man als Anhang zur Kritik der Urteilskraft ansehen kann, weil Kant sich hier mit dem gleichen Übergangsproblem konfrontiert sieht und es auf ähnliche Weise löst, wobei das Erhabene ebenfalls eine entscheidende Rolle spielt.

Die Aufgabe (η) der Kritik der Urteilskraft

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2.1. Die Aufgabe(n) der Kritik der Urteilskraft Die radikale Scheidung von Verstandeswelt und Reich der Vernunft kann ohne Zweifel als die Leistung der Kantischen Kritik im ganzen angesehen werden. Daß fortan zwischen beiden Welten bzw. - um auf transzendentalem Niveau zu bleiben - zwischen ihren unterschiedlichen Gesetzgebungen ein „Abgrund" besteht, ist schon in der Kritik der reinen Vernunft deutlich geworden1. Die Kritik der praktischen Vernunft, die sich ausschließlich mit dem Reich der Vernunft, also mit dem Übersinnlichen beschäftigt, behebt diesen Abgrund nicht, sondern vertieft ihn eher noch. Die Philosophie zerfällt in zwei Teile: Sein und Sollen, Natur und Freiheit, Sinnliches und Übersinnliches, Theoretisches und Praktisches, Verstand und Vernunft stehen unvermittelt nebeneinander2. Die Aufgabe der Vermittlung zwischen diesen beiden durch die beiden ersten Kritiken getrennten Bereichen kommt der Kritik der Urteilskraft zu. Sie soll die „Lücke im System" ausfüllen (EE, 58), denn nur so kann garantiert werden, daß der kategorische Imperativ auf den Bereich der sinnlich-endlichen Welt Einfluß nehmen kann (worin natürlich Kants Hauptanliegen besteht3): „Ob nun zwar eine unübersehbare Kluft zwischem dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen, befestigt ist, so daß von der ersteren zum anderen (also vermittelst des theoretischen Gebrauchs der Vernunft) kein Übergang möglich ist, gleich als ob es soviel verschiedene Welten wären, deren erste auf die zweiten keinen Einfluß haben kann: so soll doch diese auf jene einen Einfluß haben; nämlich der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen, und die Natur muß folglich auch so gedacht werden können, daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme" (KU, Β XX).

Es ist bekannt, wie Kant den geforderten und für sein .System' unabdinglichen „Übergang" zu bewerkstelligen sucht, indem er nämlich ein drittes Vermögen zwischen Verstand und Vernunft einführt, die Urteilskraft, die „wenngleich nicht eine eigene Gesetzgebung, doch ein ihr eigenes Prinzip nach Gesetzen zu suchen apriori in sich enthalten dürfte" (KU, Β XXI): die Zweckmäßigkeit - so das .Programm', das Kant in beiden Einleitungen zur Kritik der Urteilskraft entwirft. Damit gedenkt Kant, sein „ganzes kritisches Geschäft" zu „endige" (KU, Β X), und zwar „ohne die Grenzsteine zu verrücken" (EE, 58), um dann „ungesäumt zum doktrinalen", also zum eigentlichen metaphysischen Geschäft zu „schreiten" (KU, Β X).

1 Wenn Kant hier auch bereits über den „regulativen Gebrauch" der Vernunftideen und über die Analogie erste Vermittlungsversuche unternimmt. 2 Vgl. Kants resümierende Darstellung zu Beginn der sogenannten „zweiten" Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, Β Xlff. Aus Gründen der Kürze werde ich hier nicht auf den systematischen Unterschied zwischen der „ersten" und der „zweiten" Einleitung eingehen, sondern nur die Punkte aus beiden Einleitungen berücksichtigen, die für meine Problematik einschlägig sind. Bezugnahmen auf die erste Einleitung sind dabei mit EE markiert, Bezugnahmen auf die zweite Einleitung lassen sich durch die römische Bezifferung Kants erkennen. 3 Was natürlich schon erklärt, warum in letzter Konsequenz überall dem Praktischen das Primat zukommt - Das Nebeneinander der beiden Bereiche ist um so mißlicher, weil sie „sich zwar nicht in ihrer Gesetzgebung, aber doch in ihren Wirkungen in der Sinnenwelt unaufhörlich einschränken" (KU, Β XVIII).

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Zur systematischen Stellung des Erhabenen

Ich möchte das in den beiden Einleitungen zur Kritik der Urteilskraft entworfene Programm hier nicht detailliert analysieren, sondern nur einige Punkte hervorheben, die mir für meine Problematik wichtig erscheinen. Der gesuchte „Übergang" zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem ist derart zu absolvieren, daß im Sinnlichen die Möglichkeit, das Übersinnliche zu realisieren, aufscheint. Im Gegensatz zur herkömmlichen Metaphysik sucht Kant also nicht vom Übersinnlichen zum Sinnlichen zu kommen, sondern er geht, wie schon in der Kritik der reinen Vernunft deutlich wird, vom Sinnlichen aus, um zum Übersinnlichen zu gelangen, indem in diesem Sinnlichen gleichsam ein „Wink" auf das Übersinnliche, eine Art .Darstellung' der übersinnlichen Idee entdeckt wird. Anders formuliert: die Hauptaufgabe wird darin bestehen, in irgendeiner Weise von der endlichen Welt der Verstandeserkenntnis zur Moralität überzugehen, ohne den „Abgrund", der beide Bereiche nach den ersten beiden Kritiken trennt, zuzuschütten, d.h. ohne die bisher geleistete kritische Arbeit wieder zunichte zu machen, wiederum anders gesagt: ohne Anspruch auf theoretische Erkenntnis des Übersinnlichen zu erheben. Der gesuchte „Übergang" muß also anderer Art sein als ein .direkter Übeigang' vom Theoretischen ins Praktische, wobei das Praktische theoretisch .erkannt' würde, was der in der Kritik der reinen Vernunft gebrandmarkten „transzendentalen Illusion" entspräche. Als zweite Besonderheit des anvisierten Übergangs gilt es festzuhalten, daß er gleichsam über keinen ,Ort' verfügt. Die reflektierende Urteilskraft als „Mittelglied" (KU, Β V; Β XXI) bzw. „Verband" (EE, 54) zwischen Verstand und Vernunft kann nicht im selben Maße wie diese beiden Vermögen ein Gebiet ihr eigen nennen. Sie soll die zwei Teile der Philosophie verbinden, ohne daß daraus ein dreiteiliges System wird, denn die Philosophie kann „als System nur zweiteilig sein" (EE, 7). Man muß sich die von Kant entworfene Architektonik seines Systems also so vorstellen, daß zwei objektive Teile nebeneinander bestehen bleiben, wobei ein subjektives Element, das weder zum einen noch zum anderen Teil gehört (vgl. EE, 6), sondern eigenständig ist, dafür sorgt, daß der praktische Teil auf den theoretischen Einfluß nehmen kann. Es muß, so Kant, „einen Grund der Einheit des Übersinnlichen, welches der Natur zum Grunde liegt, mit dem was der Freiheitsbegriff praktisch enthält, geben, wovon der Begriff, wenn er gleich weder theoretisch noch praktisch zu einem Erkenntnisse desselben gelangt, mithin kein eigentümliches Gebiet hat, dennoch den Übergang von der Denkungsart nach den Prinzipien der einen zu der nach Prinzipien der anderen möglich macht" (KU, Β XX).

Und dieser Grund ist die reflektierende Urteilskraft, die kein .Meta-Vermögen' in dem Sinne ist, daß sie die beiden anderen Gesetzgebungen umfaßt, sondern „im Notfalle jedem von beiden gelegentlich angeschlossen" wird (KU, Β VI), so daß der .Abgrund', das .Nebeneinander' der beiden Gebiete bestehen bleibt. Aus der .Ortlosigkeit' des Übergangs folgt ein drittes Charakteristikum, das mir bemerkenswert erscheint und das besonders in der Folge wichtig werden wird: Der Übergang läßt sich nur .kritisch' bewerkstelligen, und die Kritik der Urteilskraft avanciert dabei zur Kritik schlechthin. Inwiefern? Auch wenn in Kants Augen das Unternehmen der Kritik weiterhin .nur' als Vorbereitung zur Metaphysik als Doktrin und als System dient (vgl. KU, Β VI) und deren Möglichkeit untersucht, aber selbst kein Teil davon ist (vgl. EE, 1). so wäre es doch ein voreiliger Schluß anzunehmen, daß die drei Kritiken ein dreiteiliges metaphysisches System vorbereiten. Denn die Philosophie als System kann, wie Kant betonte, „nur zweiteilig sein", so

Die Aufgabe(n) der Kritik der Urteilskraft

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daß das Verbindungsglied wohl einen besonderen Teil der Philosophie (vgl. EE, 7, gemeint ist hier die Kritik), aber keinen Teil des Systems ausmachen kann. Das Verbindungsteil ist daher nur Teil der „Kritik", die keine Doktrin ist und kein eigenes Gebiet hat: „Die Kritik der Erkenntisvermögen in Ansehung dessen, was sie a priori leisten kann, hat eigentlich kein Gebiet in Ansehung der Objekte: weil sie keine Doktrin ist, sondern nur, ob und wie, nach der Bewandtnis, die es mit unseren Vermögen hat, eine Doktrin durch sie möglich ist, zu untersuchen hat. Ihr Feld erstreckt sich auf alle Anmaßungen derselben, um sie in die Grenzen ihrer Rechtmäßigkeit zu setzen. Was aber nicht in die Einteilung der Philosophie kommen kann, das kann doch, als ein Hauptteil in die Kritik des reinen Erkenntnisvermögens überhaupt kommen, wenn es nämlich Prinzipien enthält, die für sich weder zum theoretischen noch praktischen Gebrauche tauglich sind" (KU, Β XXf.).

Die Rede ist wohlgemerkt von der „Kritik der Erkenntnisvermögen" insgesamt, also von der Kritik im ganzen, wodurch die Kritik der Urteilskraft als die Kritik, welche die besagten Prinzipien enthält, die weder theoretisch noch praktisch gebraucht werden können, zur Kritik par excellence wird. Denn die Urteilskraft ist eben jenes Vermögen, das kein eigenes Gebiet hat, sondern nur „irgendeinen Boden", und sich selbst das Gesetz gibt - ebenso wie die kritische Vorgehensweise selbst, die im Unterschied zur dogmatischen immer nur reflektierend und subjektiv ist (vgl. KU, Β 329). Inwiefern Kant seiner selbstgestellten Aufgabe des „Übergangs" in der Kritik der Urteilskraft gerecht wird, welches Gewicht die beiden Teile dieser Kritik, die „Kritik der ästhetischen Urteilskraft" und die „Kritik der teleologischen Urteilskraft" dabei haben und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, darüber ist viel gestritten worden. Man könnte sogar die These wagen, daß Kant seine Aufgabe, zumindest in ihrer Schärfe, im Laufe des Buches aus den Augen verloren hat. Doch damit hätte man es sich wohl zu leicht gemacht. Es sind verschiedene Hypothesen denkbar, wie die eigentliche .Durchführung' des Buches zur in den beiden Einleitungen formulierten Aufgabe paßt. Folgendes scheint mir festzustehen: Kants eigentliche Aufgabe in der Kritik der Urteilskraft besteht darin, die Apriorität des angenommenen Prinzips der Zweckmäßigkeit zu zeigen. Nur so kann er den gesuchten „Übergang" bewerkstelligen. Der Urteilskraft als drittem oberen Erkenntnisvermögen, deren Prinzip a priori er aufgrund der „Verwandtschaft" mit den anderen beiden Erkenntnisvermögen annimmt {KU, Β XXII), entspricht auf der Ebene der „Seelenvermögen" (ebd.) das Gefühl der Lust und Unlust: „zwischen dem Erkenntnis- und dem Begehrungsvermögen das Gefühl der Lust, so wie zwischen dem Verstände und der Vernunft die Urteilskraft, enthalten" (KU, Β XXIV).

Und Kant fährt fort: „Es ist also wenigstens vorläufig zu vermuten, daß die Urteilskraft ebensowohl für sich ein Prinzip a priori enthalte, und ebensowohl einen Übergang vom reinen Erkenntnisvermögen, d.i. vom Gebiete der Naturbegriffe, zum Gebiete der Freiheitsbegriffe bewirken werde, als sie im logischen Gebtauche den Übergang vom Verstände zur Vernunft möglich macht" (KU, Β XXIVf.).

Die subjektive Zweckmäßigkeit, die Kant erweisen will, beruht auf der Lust an der Form eines Gegenstandes (vgl. KU, Β XLVIII). Kant muß also die Apriorität dieser Lust (und Unlust) untersuchen, um sein Ziel zu erreichen. (Von daher bezeichnet er die Kritik der Urteilskraft auch als „Kritik des Gefühls der Lust und Unlust" [EE, 12].) Das geschieht in der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft", wobei gleichzeitig deutlich werden muß, wie die Urteilskraft als Mittelglied zwischen Verstand und Vernunft zu denken ist.

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„Ob nun die Urteilskraft, die in der Ordnung unserer Erkenntnisvermögen zwischen dem Verstände und der Vernunft ein Mittelglied ausmacht, auch für sich Prinzipien a priori habe; und ob sie dem Gefühle der Lust und Unlust, als dem Mittelgliede zwischen dem Erkenntnisvermögen und Begehrungsvermögen (ebenso wie der Verstand dem ersteren, die Vernunft aber dem letzteren a priori Gesetze vorschreiben,) a priori die Regel gebe: das ist es, womit sich gegenwärtige Kritik der Urteilskraft beschäftigt" (KU, Β Vf.).

Doch damit nicht genug. Nach dem .Programm' der beiden Einleitungen muß es in der Kritik der Urteilskraft außerdem darum gehen, die Einheit der Erfahrung als System aufzuweisen. Es müssen all diejenigen Phänomene berücksichtigt werden, die die beiden anderen Kritiken sozusagen als ,Rest' übriggelassen haben, um ein vollständiges System zu garantieren, und das sind nicht nur Phänomene von Lust und Unlust, sondern auch das, was Kant insbesondere in der Ersten Einleitung unter dem Stichwort der „Erfahrung als System nach empirischen Gesetzen" anführt {EE, 8). Denn die in der ersten Kritik aufgewiesenen transzendentalen Naturgesetze enthalten zwar die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, und zwar als System (vgl. ebd.), helfen aber bei der empirischen, gleichsam konkreten Erforschung der Natur noch nicht weiter. Hier findet sich eine „so unendliche Mannigfaltigkeit und eine so große Heterogenität der Formen der Natur , daß der Begriff von einem System nach diesen (empirischen) Gesetzen dem Verstände ganz fremd sein muß" (ebd.). „Diese empirischen Erkenntnisse nun machen nach dem, was sie notwendigerweise gemein haben (nämlich jene transzendentalen Gesetze der Natur), eine analytische Einheit aller Erfahrung, aber nicht diejenige synthetische Einheit der Erfahrung als eines Systems aus, welche die empirischen Gesetze auch nach dem, was sie Verschiedenes haben (und wo die Mannigfaltigkeit derselben ins Unendliche gehen kann), unter einem Prinzip verbindet" (ebd., Anm.).

Die Kritik der reinen Vernunft hatte ihr Augenmerk auf die Gleichartigkeit gerichtet (vgl. KRV, A 654). Jetzt gilt es, das Verschiedene, die Mannigfaltigkeit zu einem System m synthetisieren. Dies kann man gewissermaßen als zweite Aufgabe der Kritik der Urteilskraft betrachten. Auch die zu diesem Zweck der Natur unterlegte Gesetzmäßigkeit ist ein Prinzip der reflektierenden Urteilskraft - die nicht das Besondere zum Allgemeinen sucht, sondern das Allgemeine zum Besonderen4 und dabei gleichsam immer höher hinaufsteigt (vgl. EE, 15f.) - , eine „formale Zweckmäßigkeit der Natur, die wir an ihr schlechterdings annehmen, wodurch aber weder ein theoretisches Erkenntnis der Natur, noch ein praktisches Prinzip der Freiheit gegründet" ist (EE, 9). Gleichwohl geschieht diese .Unterstellung' auf transzendentalem Niveau. Sie ist eine „subjektiv notwendige transzendentale Voraussetzung, daß jene besorgliche grenzenlose Ungleichartigkeit empirischer Gesetze und Heterogenität der Naturformen der Natur nicht zukomme, vielmehr sie sich, durch die Affinität der besonderen Gesetze unter allgemeinere, zu einer Erfahrung, als einem empirischen System qualifiziere" (EE, 14).

Sie soll beispielsweise garantieren, daß die Natur in ihrer Spezifikation „keinen Sprung" macht (KU, Β XXXI). Diese Aufgabe, die ich der Kürze halber die .Spezifikationsaufgabe' nennen will, wird im wesentlichen in der „Kritik der teleologischen Urteilskraft" in Angriff genommen. Es ist schwer zu sagen, in welchem Verhältnis diese beiden Aufgaben und die beiden Teile der Kritik der Urteilskraft zueinander stehen. Wenn Kant besonders in der Ersten 4 Vgl. KU, Β XXVI und entsprechend EE, 14.

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Einleitung ausführlichst zur „Spezifikation" der Natur und der Aufgabe, ein System empirischer Erkenntnis aufzuweisen, Stellung nimmt und noch in der Zweiten Einleitung explizit davon spricht, daß die „Urteilskraft durch ihr Prinzip a priori der Beurteilung der Natur, nach möglichen besonderen Gesetzen derselben. den Übergang vom Gebiete des Naturbegriffs zu dem des Freiheitsbegriff möglich" macht (KU, Β LVR,

weil „dadurch die Möglichkeit des Endzwecks erkannt wird" (KU, Β LV), wenn er in der Ersten Einleitung die Urteilskraft als gleichrangiges oberes Erkenntnisvermögen aus eben dieser Spezifikationsaufgabe ableitet (vgl. EE, 55) und die Möglichkeit ästhetischer Urteile a priori aus dem teleologischen Urteil (vgl. EE, 38f.), und wenn man dazu noch bedenkt, daß das teleologische Urteil Verstand und Vernunft in ein Verhältnis setzt (vgl. EE, 26; 39), dann könnte man meinen, daß die Spezifikationsaufgabe die eigentliche Aufgabe der Kritik der Urteilskraft ist und die „Kritik der teleologischen Urteilskraft" daher den gesuchten „Übergang" erweist. Doch die Dinge sind komplizierter, als sie scheinen. Denn Kant hatte ursprünglich anscheinend vor, auch die Spezifikationsaufgabe vom ästhetischen Urteil lösen zu lassen. Wenn man die „Kritik der ästhetischen Urteilskraft" studiert, so ist dort zwar sehr wenig von der Spezifikation die Rede. In der Zweiten Einleitung findet sich jedoch ein Hinweis, daß die Spezifikation eigentlich in die Ästhetik gehört. Denn mit Entdeckung der „Vereinbarkeit zweier oder mehrerer empirischen heterogenen Naturgesetze" ist eine „sehr merkliche Lust" verbunden (KU, Β XL) - eine Lust, die für die Ästhetik charakteristisch ist, wohingegen die Lust im teleologischen Urteil, wie Kant ausdrücklich vermerkt, keine Rolle spielt (vgl. EE, 35). Die Schönheit als „Erkenntnis überhaupt" (KU, Β 65; Β 28) könnte so die mögliche Einheit des Systems gleichsam exemplarisch vorspiegeln, so daß der mit Hilfe der ästhetischen Urteilskraft unternommene Übergangsversuch der Spezifikationsaufgabe insofern zugrunde läge, als das Unterlegen eines vernünftigen Spezifikationsprinzips unter die Natur erst dann gestattet werden kann, wenn die Möglichkeit des Übergangs - und damit des .Winks' der Natur auf die Anwendbarkeit der Vernunftprinzipien in ihrem Bereich - aufgewiesen ist. Dies würde erklären, warum Kant der „Kritik der teleologischen Urteilskraft" nur untergeordnete Bedeutung beimißt und die Untersuchung des ästhetischen Urteils „das wichtigste Stück" der Kritik der Urteilskraft nennt (KU, Β VIII), wohingegen das teleologische Urteil lediglich der „Vollständigkeit" halber mituntersucht wird (EE, 58). Der Übergang vollzieht sich jedenfalls, indem im ästhetischen Urteil zur Sinnlichkeit eine Idee der Natur hinzugedacht wird, die wiederum ohne Bezug auf ein übersinnliches Substrat, das die Vernunft beisteuert, nicht verständlich ist. Doch wie hat man sich das nun wieder vorzustellen? Nach der .Architektonik' der Vermögen verbindet das teleologische Urteil Verstand und Vernunft, also genau die beiden zur Debatte stehenden Vermögen, aber das teleologische Urteil ist nicht dasjenige, in dem - zumindest nach Kants eigenen Aussagen - der gesuchte „Übergang" stattfinden soll, sondern das ästhetische. Die „Kritik der ästhetischen Urteilkraft" untersucht zwei verschiedene Gefühle: das Schöne und das Erhabene. Auf der Basis der „Analytik des Schönen" und der „Analytik des Erhabenen" ergibt sich ,vermögensarchitektonisch' folgendes Bild: unter ausdrücklichem Ausschluß der Moralität setzt im Urteil über das Schöne die Urteilskraft Einbildungskraft und Verstand in ein zweckmäßiges Verhältnis, so daß man noch nicht einzuse-

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hen vermag, wie hier ein „Übergang" zur Vernunft bewerkstelligt werden soll. Im Erhabenen setzt dagegen die Urteilskraft Einbildungskraft und Vernunft in ein zweckmäßiges Verhältnis, so daß man denken könnte, daß Schönes und Erhabenes gemeinsam den gesuchten „Übergang" vollziehen könnten: indem das eigentlich sinnliche und ästhetische Vermögen der Einbildungskraft einerseits ins Verhältnis zum Verstand und andererseits ins Verhältnis zur Vernunft gesetzt wird und auf diese Weise ein „Verband" zwischen Verstand und Vernunft zustandekommt. Das Erhabene wäre somit notwendiges Komplement zum Schönen. Doch Kant bezeichnet es, wie gesagt, als „bloßen Anhang", wenn es darum geht die „Zweckmäßigkeit der Natur" zu erweisen, so daß das Erhabene für die ,Übergangsaufgabe' in keiner Weise tauglich zu sein scheint. Es wird daher auch in den Einleitungen kaum erwähnt5. Statt dessen wählt Kant den Weg, das Schöne nach der eigentlichen „Analytik", also in „Deduktion" und „Dialektik" analog mit dem Moralischen zu verbinden, um doch noch irgendwie von Einbildungskraft und Verstand zur Vernunft zu gelangen. Die Schönheit als „Erkenntnis überhaupt" scheint dabei auch die Spezifikationsaufgabe leisten zu können. Geht man jedoch von der ursprünglichen Aufgabe des Verbandes von Verstand und Vernunft aus, dann irritiert in dieser Konstruktion zumindest die Beteiligung der Einbildungskraft, von der in der .Architektonik' der Vermögen gemäß der beiden Einleitungen gar nicht die Rede ist. Auch das Erhabene mit seiner Verbindung von Einbildungskraft und Vernunft scheint, selbst wenn man sich über Kants eigene Aussagen hinwegsetzen würde, nicht geeignet für einen derartigen Verband, weil hier der Verstand fehlt. Schließlich wäre noch die Möglichkeit denkbar, daß das ästhetische und das teleologische Urteil gemeinsam den „Übergang" gewährleisten, daß also die Kritik der Urteilskraft im ganzen einen „Übergang" darstellt, wobei das Erhabene eine Art Mittelposition zwischem Schönem und Teleologischem innehätte. Auch diese Möglichkeit wollen wir nicht außer acht lassen, wenn es im folgenden an die konkrete Untersuchung der in der Kritik der Urteilskraft möglichen Übergänge geht. Angesichts dieser komplizierten Lage, die entsteht, weil Kants Durchführung dem in den Einleitungen angekündigtem Programm nicht ohne weiteres entspricht, liegt die Annahme nahe, daß es in Anbetracht der beiden gestellten Aufgaben in der Kritik der Urteilskraft mehrere Übergangsmöglichkeiten und -ansätze geben könnte6. Entsprechend werden in der Forschung ganz unterschiedliche Meinungen vertreten, wo denn der „Übergang" letztlich vollzogen wird. Die meisten Autoren tendieren dazu, den Übergang im Urteil über das Schöne zu suchen, einige legen dagegen mehr Gewicht auf das teleologische Urteil, andere verbinden beide oder unterscheiden sie gar nicht voneinander. Kaum einer beachtet dabei das Erhabene - zu Unrecht, wie ich meine. Denn alle anvisierten Übergänge haben ebenso wie die Spezifikationsaufgabe mit dem Erhabenen zu tun.

5 Das ästhetische Reflexionsurteil wird ständig mit dem „Geschmack", also mit dem Urteil über das Schöne gleichgesetzt. Vgl. EE, 26,48, 58, 65. 6 So geht z.B. Deleuze ganz selbstverständlich davon aus, daß in der Kritik der Urteilskraft vier verschiedene Darstellungsversuche der Idee unternommen werden: zwei im Schönen, einer im Erhabenen und einer, den Deleuze für am überzeugendsten hält, im teleologischen Urteil (vgl. Deleuze, Kants kritische Philosophie, a.a.O., 119f.).

Der .erhabene' Übergang

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2.2. Der ,erhabene Übergang' - Die Einheitsproblematik und das Erhabene Entsprechend meiner These, daß das Erhabene in der Kritik der Urteilskraft eine weitaus größere Rolle spielt, als gemeinhin angenommen wird, möchte ich im folgenden der Frage nachgehen, inwiefern das Erhabene den gesuchten „Übergang" im doppelten Sinne des Wortes ,betrifft', ihn nämlich einerseits unmöglich zu machen scheint, ihn (oder einen anderen „Übergang") aber andererseits gerade ermöglicht. Dabei müssen - den verschiedenen .Übergangsansätzen' gemäß - verschiedene .Übergangsebenen' oder .Übergangsstufen' unterschieden werden. In diesem Kapitel werde ich mich ausschließlich der Frage widmen, ob die „Analytik des Erhabenen" selbst einen „Übergang" vollzieht und ob sie mit Blick auf die Einheitsperspektive der Kritik der Urteilskraft andere .Übergangsmöglichkeiten' vorbereitet oder verbietet. Wenn man wie Kant auf die Zweckmäßigkeit der Formen der Natur abhebt, um den gesuchten Übergang zu etablieren, dann scheint die „Analytik des Erhabenen" in der Tat nur ein „bloßer Anhang" zu sein. Denn das Gefühl des Erhabenen entzündet sich nicht an den Formen der Natur, sondern (auch) an deren Unformen, und die in diesem Gefühl in zweiter Instanz entdeckte Zweckmäßigkeit ist keine Zweckmäßigkeit der Natur, sondern eine des eigenen Gemüts. Die Bedeutung des Erhabenen muß also anderswo gesucht werden. Zunächst gilt es festzuhalten, daß der „Anhang" des Erhabenen für die zweite Aufgabe, die Kant sich in der Kritik der Urteilskraft stellt, nicht ohne Folgen bleibt. Wie wir gesehen haben, ist Kant ja nicht nur auf die Zweckmäßigkeit der Naturformen aus. Die Annahme dieser Zweckmäßigkeit als Prinzip a priori geht vielmehr mit der Spezifikationsaufgabe bezüglich der Einheit eines Systems der Erfahrung einher. Zu diesem Ziel müssen alle Naturphänomene als zweckmäßig gelten können. Die Erfahrung des Erhabenen scheint dieser Hoffnung ein Ende zu machen. Denn sie geht von Naturphänomenen aus, die als Naturphänomene nicht die aufzuweisende, sondern nur eine andere Art Zweckmäßigkeit besitzen. Die erhabene ,Unform' kann von der Einbildungskraft bzw. der reflektierenden Urteilskraft, die in Ästhetik und Teleologie immer auf Formen angewiesen ist7, nicht bewältigt werden. Auf der Ebene der,Natur', also in der ersten Phase des erhabenen Gefühls - bevor in der zweiten Phase der Perspektivenwechsel auf die Vernunft erfolgt und doch noch eine „höhere Zweckmäßigkeit" entdeckt wird - ist die Erfahrung des Erhabenen rein negativ und zweckwidrig. Wenn es stimmt, was Kant sagt, daß nicht die Naturgegenstände, sondern allein unser subjektives Gefühl als erhaben zu bezeichnen ist, so muß das Erhabene die Einheit des Systems in Frage stellen. Man mag mit dem Schönen oder in der Teleologie so viele Übergänge unternehmen, wie man nur will, und eine „Erkenntnis überhaupt" angelegt sehen: die Möglichkeit der vollständigen Einheit der Erfahrung wird das nicht erweisen. Angesichts der erhabenen ,Unformen' scheint die Natur bei ihrer Spezifikation gleichsam einen „Sprung" zu machen und jegliche ausschließlich an der Form orientierte Einheitsabsicht in Gestalt des Unterlegens eines vernünftigen Prinzips zu vereiteln. Mit diesem Problem kann man nun auf verschiedenerlei Weise umgehen. Entweder man erklärt Kants Projekt als solches für gescheitert und läßt sich von diesem Scheitern auf eine 7 Vgl. EE, 17; vgl. entsprechend EE, 18, wo die „faßliche Gleichförmigkeit" der Naturgesetze Voraussetzung ist.

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neue, .positivere' Fährte bringen, indem man nach einer Einheit, die auch die erhabene .Unform' mitberücksichtigen kann, und anderen, der Erfahrung des Erhabenen Rechnung tragenden Übergängen sucht, oder man ist gezwungen, Kants Konzeption des Erhabenen anders zu interpretieren, derart nämlich, daß die darin entdeckte „höhere Zweckmäßigkeit" doch irgendeinen Bezug zur Natur hat. Zuerst ein Versuch zum letzteren Punkt. Cassirer äußert die Vermutung, daß „die .Subreption', durch die wir im Erhabenen eine Bestimmung unserer selbst als eine Bestimmung des Naturgegenstandes denken, auch dann nicht verschwindet, wenn sie als solche erkannt ist"8. Die Subreption wäre also entsprechend der transzendentalen Illusion der Kritik der reinen Vernunft zwar auflösbar, damit sie nicht mehr trügt, aber unvermeidlich9. Für diese Annahme lassen sich in Kants Text einige Anhaltspunkte finden. Nicht nur der banale Umstand, daß er weiter von erhabenen Gegenständen spricht, auch Definitionen wie „Erhaben ist also die Natur in derjenigen ihrer Erscheinungen, deren Anschauung die Idee ihrer Unendlichkeit bei sich führt" (KU, Β 93) und Äußerungen der Art, daß ein Naturobjekt „zur Darstellung einer Erhabenheit tauglich sei, die im Gemüte angetroffen werden kann"10, lassen zumindest eine Rückübertragung auf die Natur vermuten. - Überdies findet sich auch im Gefühl des Schönen eine ähnliche Subreption, die die .Objektivität' des Urteils über das Schöne betrifft und die reine Subjektivität des Erhabenen in anderem Licht erscheinen läßt. Wie schon erwähnt, wird das Gefühl des Schönen im Laufe der „Analytik des Erhabenen" immer objektiver. Der „Analytik des Schönen" zufolge ist es „lediglich auf das Subjekt bezogen" (KU, Β 5; vgl. Β 8f.). Die Harmonie der Gemütsvermögen, von der es zeugt, findet zwar anläßlich eines Gegenstandes statt, aber sie bleibt subjektiv - ein Verhältnis der Vermögen im Subjekt - und sagt nichts über das betreffende Objekt aus. In ihr fühlt das Subjekt vielmehr „sich selbst"11. Ebenso verhält es sich beim Erhabenen: auch dieses Gefühl findet anläßlich eines Gegenstandes statt. Er mag nur .eingebildet' sein wie im Dynamisch-Erhabenen oder ,real' wie im Mathematisch-Erhabenen, fest steht, daß er der Auslöser dieses Gefühls ist. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß es sich (beim Mathematisch-Erhabenen) im Unterschied zum Schönen an formlos erscheinenden Gegenständen entzündet (überdies hatten wir gesehen, daß anscheinend nicht alle diese Gegenstände formlos sind). In beiden Fällen geht es letztlich nicht um die Gegenstände, diese werden nur zweckmäßig .gebraucht'. Der einzige Unterschied besteht darin, daß die zweite Phase des erhabenen Gefühls, das Lustmoment, keine Entsprechung im Objekt findet,

8 Cassirer, Kants Leben und Lehre, a.a.O., 353. Auch Bartuschat kommt zu dem Ergebnis, daß ein Naturbezug für das Erhabene unumgänglich ist (vgl. Wolfgang Bartuschat, Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, Frankfurt/M. 1972,135f.). 9 So wie Kant in der Antinomie der Kritik der praktischen Vernunft den „Fehler des Erschleichens (vitium subreptionis)" als nicht völlig vermeidbar bezeichnet (KPV, 116). 10 KU, Β 76; vgl. entsprechend: „Man kann das Erhabene so beschreiben: es ist ein Gegenstand (der Natur), dessen Vorstellung das Gemüt bestimmt, sich die Unerreichbarkeit der Natur als Darstellung von Ideen zu denken" (KU, Β 115); das Erhabene „nötigt uns, subjektiv die Natur selbst in ihrer Totalität als Darstellung von etwas Übersinnlichem zu denken, ohne diese Darstellung objektiv zustande bringen zu können" (KU, Β 115f.). 11 KU, Β 4. Dort, wo in der „Analytik des Schönen" doch schon ein Objektbezug anvisiert wird, bei der Allgemeinheit und Notwendigkeit, spicht Kant von einer ,Als-Ob-Objektivität' : „Er wird daher vom Schönen so sprechen, als ob Schönheit eine Beschaffenheit des Gegenstandes wäre" (KU, Β 17f.).

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sondern allein vom Subjekt .beigesteuert' wird, und daß die Vermögen nicht unmittelbar, sondern nur „durch ihren Kontrast als harmonisch vorstellt" werden (KU, Β 99). Doch rechtfertigt das die Konsequenzen, die Kant daraus zieht? Mitnichten, denn ohne einen negativen Rückbezug auf die Natur, deren Gegenstände im Vergleich mit dem entdeckten unendlichen Ideenvermögen als .klein' eingestuft werden, also ohne eine gewisse .Subreption', wäre die „höhere Zweckmäßigkeit" nicht denkbar12. Wenn nun Kant in der „Analytik des Erhabenen" das Schöne .objektiviert' in dem Sinne, daß wir keine erhabenen, wohl aber schöne Gegenstände annehmen dürfen (vgl. KU, Β 76), dann ist das - wenn er die „Analytik des Schönen" nicht Lügen strafen will - nur auf der Basis einer Subreption erklärbar: er überträgt das harmonische Verhältnis der Vermögen des Subjekts im Schönen, das von einem Naturobjekt ausgelöst worden ist, wieder zurück auf die Natur13. Diese „Subreption" wird aber erst in der „Analytik des Erhabenen" thematisiert, so daß man sagen könnte, daß die unvermeidliche „Subreption" im Erhabenen derjenigen im Schönen auf noch .subjektiverem' Niveau zugrunde liegt und sie erst deutlich macht. Entsprechend ist Kants .Systemprogramm' trotz des Herausfaliens des Erhabenen aus dem .System' rettbar, allerdings ganz anders, als von ihm beabsichtigt. Mit Blick auf die „höhere Zweckmäßigkeit" des Erhabenen kann man nämlich nun annehmen, daß diese den Einheitsgedanken auf einer rein subjektiven Ebene begründet und vorantreibt14. Denn das Erkennen einer „höheren Zweckmäßigkeit" in scheinbar zweckwidrigen Naturphänomenen ermutigt erst dazu, der Natur jenes subjektive Prinzip zu unterlegen, daß sie wie eine Künstlerin arbeitet, sich regelmäßig und „ohne Sprung" spezifiziert, eröffnet also erst die Perspektive, daß ein einheitliches System der Erfahrung möglich ist und man nicht an scheinbaren Zweckwidrigkeiten zu verzweifeln braucht, eröffnet also auch die Perspektive, deren Resultat das Urteil über das Schöne und das teleologische Urteil und deren „Übergänge" sind. Bezeichnenderweise ist daher davon, daß die Schönheit die Einheit des Systems garantiere, erst in der „Analytik des Erhabenen" die Rede (vgl. KU, Β 77). Über die „höhere Zweckmäßigkeit" im Erhabenen wird auch das noch bewältigt, was aus dem an der Form orientierten System herausfällt, und es ist diese höhere Zweckmäßigkeit des Erhabenen, die dem Einheitsgedanken eigentlich zugrunde liegt: „Nun liegt das Erhabene bei der ästhetischen Beurteilung eines so unermeßlichen Ganzen darin, daß wir im Fortschritte immer auf desto größere Einheiten gelangen; wozu die systematische Abteilung des Weltgebäudes beiträgt."15

12 Adorno geht noch einen Schritt weiter: „Indem Erhabenes angesichts der Natur soll gefühlt werden können, wird der subjektiven Konstitutionstheorie gemäß Natur ihrerseits erhaben" (Adorno, Ästhetische Theorie, a.a.O., 293). Dem könnte man zustimmen, wenn daraus nicht in der Nachfolge Kants eine vollständige Objektivierung des Erhabenen geworden wäre. 13 Ahnliches klang in der „Analytik des Schönen" an, wo von der Vollkommenheit, also der nicht reinen Schönheit die Rede ist: Kant versucht, beide gerade durch den vorhandenen bzw. nicht vorhandenen Begriff vom Objekt zu unterscheiden, gibt aber auch zu, daß eine gewisser Objektbezug der Schönheit, also eine Subreption, „nicht vermieden werden kann" (KU, Β 52). 14 Vgl. Cassirer, Kants Leben und Lehre, a.a.O., 317f., der die Einheitsaspirationen der Kritik der Urteilskraft zwar nicht mit Blick auf das Erhabene, aber doch so beschreibt, als ob das Erhabene gemeint wäre, daß nämlich die Urteilskraft in der dritten Kritik, um der „Formlosigkeit" der Natur zu begegnen, die formale Zweckmäßigkeit annehme. 15 KU, Β 96. Vgl. die erstaunliche Parallele in der Kritik der reinen Vernunft: „Die gegenwärtige Welt eröff-

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In zweiter Ebene zeigt die Erfahrung des Erhabenen, daß doch noch alle Naturphänomene eine Zweckmäßigkeit besitzen, und es ist diese höhere Zweckmäßigkeit und nicht die des Schönen oder Teleologischen, auf der die Spezifikation (und diese beiden letzteren Zweckmäßigkeiten) basieren. Zugespitzt formuliert: Die Natur macht zwar Sprünge, aber auch diese sind noch zweckmäßig. Gleichzeitig offenbart das Erhabene die reine Subjektivität des unterlegten Prinzips, das nach .objektiven' Kriterien bloßer Schein ist. Insofern ist das Erhabene „notwendiges Korrelat" zum Schönen und „kritische Korrektiv" zu dem im Gefühl des Schönen unterlegten Systemgedanken und der dortigen Zweckmäßigkeit16. Es macht erst die „Stellung"11 möglich und deutlich, die der Urteilende bzw. die Urteilskraft in der gesamten Kritik der Urteilskraft der Natur gegenüber einnimmt. Der „Gebrauch", der im Gefühl des Erhabenen von der Natur gemacht wird, liegt also, so kann man jetzt sagen, dem .Gebrauch' im Schönen und Teleologischen und damit der gesamten Kritik der Urteilskraft zugrunde, wenn er im Schönen und Teleologischen von Kant auch weniger deutlich gemacht wird. Die „Subreption" im Erhabenen führt vor, wie die Urteilskraft in der dritten Kritik insgesamt arbeitet. Das (Mathematisch-)Erhabene zeigt, wie der an der Form orientierte Systemgedanke scheitern muß, wie er aber auf einer anderen, subjektiven Ebene, die auch dem Schönen und Teleologischen zugrunde liegt (und beide verbindet18), doch noch Sinn haben kann, allerdings - und das sollte vor einer allzu großen Harmonisierung warnen - nur als subjektiver Schein.

net uns einen so unermeßlichen Schauplatz von Mannigfaltigkeit, Ordnung, Zweckmäßigkeit und Schönheit, man mag diese nun in der Unendlichkeit des Raumes, oder in der unbegrenzten Teilung desselben verfolgen, daß selbst noch die Kenntnisse, welcher unser schwacher Verstand davon hat erwerben können, alle Sprache, über so viele und unabsehlich große Wunder, ihren Nachdruck, alle Zahlen ihre Kraft zu messen, und selbst unsere Gedanken alle Begrenzung vermissen, so, daß sich unser Urteil vom Ganzen in ein sprachloses, aber desto beredteres Erstaunen auflösen muß" (KRV, Β 650). Ähnliche Stellen finden sich in den frühen naturwissenschaftlichen Schriften Kants. 16 So Stefan Majetschak, „Kants .Analytik des Erhabenen' und das System der Erfahrimg", in: Gerhard Funke (Hrsg.), Akten des Siebenten Internationalen Kant-Kongresses, Bonn 1991, S. 677-689, hier 679 bzw. 689. Vgl. ebd., 686: Die Erfahrung des Erhabenen steht dafür ein, „daß die Idee der Einheit der Erfahrung im (empirischen) System Illusion, oder positiver gesagt, nur kontingent gelingender Schein bleiben muß"; und ebd., 687: „Wenn man es angesichts der Erfahrung des Schönen nicht ausschließen kann, es in seiner Verfaßtheit auf der Ebene vorbegrifflich-ästhetischer Komprehension .objektive Zweckmäßigkeit' bezeuge, so erinnert das Scheitern der Verstehensintention im Gefühl des Erhabenen daran, daß es sich in beiden Fällen nur um eine subjekt-reflexive Erfahrung des Erkenntnisvermögens mit sich selbst handelt." Auch Kaulbach interpretiert das Erhabene auf ähnliche Weise. Es ist eine Erfahrung, die noch dort Sinn offenbart, wo sich die „Natur verweigert", die „sogar noch die .unzweckmäßige' Natur als im höheren Sinne zweckmäßig zu verstehen lehrt" und damit „den Weg zum Begriff der ästhetischen Sinnwahrheit weis" (Kaulbach, Ästhetische Welterkenntnis..., a.a.O., 9). Dies geschieht gleichsam auf einer tieferen (bzw. .höheren", wie Kaulbach meint) Ebene als bei der im Schönen aufgewiesenen Zweckmäßigkeit, die angesichts der Erfahrung des Erhabenen als „überholt" gelten kann (ebd., 170f.): „In der Perspektive des Erhabenen wird die Zweckmäßigkeit der Natur auf einer höheren Reflexionsstufe als auf derjenigen des Schönen ästhetisch erkannt" (ebd., 196). Im Erhabenen offenbart sich erst der „Zug des Bedürfnisses nach ästhetischem Weltsinn" (ebd., 218), der über den Systemgedanken dem Schönen zugrunde liegt. 17 Kaulbach, Ästhetische Welterkenntnis..., a.a.O., 219. 18 Weshalb Kants anfängliche Unsicherheit über den Ort der Spezifikationsaufgabe in ästhetischer oder teleologischer Urteilskraft keine Rolle mehr spielt.

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Doch damit hat man noch keinen „Übergang" erreicht. In der bisherigen Einheitsperspektive der Spezifikationsaufgabe hatte sich das Erhabene nur als „Korrelat" und „Korrektiv" zum Schönen (und zum Teleologischen) offenbart und bildete noch keinen eigenen „Übergang", wie ich eingangs behauptet hatte. Wie hätte man sich nun einen solchen „Übergang" vorzustellen? Die Perspektive auf das eben erarbeitete ,Doch-noch-System' kann dabei als wegweisend betrachtet werden. Sie berücksichtigt jedoch noch nicht alle Implikationen des Erhabenen. Sie .befriedet' es zu sehr in dem Sinne, daß sie es in den ursprünglichen Programmentwurf im Sinne einer (letztlich doch wieder schönen) Synthesis .einholt', ohne aus dem Erhabenen die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Wenden wir uns daher nun der anderen, von mir erstgenannten Möglichkeit zu, mit der Problematik des Erhabenen hinsichtlich des .Systems' umzugehen: indem man sich von der Enttäuschung über die Unmöglichkeit des Systementwurfs als solchem auf die Fährte eines Übergangs locken läßt, der der Erfahrung des Erhabenen nicht nur im Hinblick auf die Systematik Rechnung trägt, sondern auch eine entsprechende Form (bzw. ,Unform') annimmt. Es ist ein Übergang über jene „höhere" bzw. .andere' Zweckmäßigkeit, der subjektiv auf der Ebene der Vermögen verbleibt 19 . Sehen wir dafür erst einmal von Kants Terminologie der Zweckmäßigkeit, der Form und der Natur ab, die sich beim Erhabenen als nicht einschlägig erweist, wie uns schon der eben skizzierte erweiterte Systemgedanke gezeigt hat, und erinnern wir uns an das, worum es beim „Übergang" eigentlich ging: darum nämlich, vom Sinnlichen zum Übersinnlichen zu gelangen, die Moral derart in der sinnlichen Welt zu verankern, daß die sinnliche Welt als mit deren Möglichkeit konform angesehen werden kann, indem sie sozusagen einen .Wink' auf deren sinnliche Anwendbarkeit gibt. Für einen so gedachten Übergang erweist sich das Erhabene geradezu als prädestiniert. Hier treffen das sinnliche Vermögen - die Einbildungskraft - und das übersinnliche Vermögen - die Vernunft - aufeinander und werden von der Urteilskraft in ein Verhältnis gesetzt. Mehr noch: im Erhabenen wird von der Perspektive des Sinnlichen aus das Übersinnliche gedacht, die Einbildungskraft beweist durch ihr Scheitern das Vorhandensein der Vernunft ästhetisch, so daß man durchaus sagen kann, daß sie als sinnliche, als .natürliche' Seite im Subjekt einen .Wink' auf dessen übersinnliche Seite gibt, daß also - die unvermeidliche „Subreption" in Rechnung gestellt - die Natur einen Hinweis auf das Übersinnliche gibt und die Möglichkeit des Übersinnlichen anläßlich von Naturphänomenen gedacht werden kann. Die Natur ist hier .Zeichen' des Übersinnlichen, nicht in dem Sinne, daß sie es (objektiv) symbolisiert, sondern indem sie es (subjektiv) im Gemüt des Betrachters auf den Plan ruft. Das Erhabene erweist die Möglichkeit, daß ein Naturphänomen unsere „übersinnliche Bestimmung in uns rege macht" (KU, Β 98). In ihm wird, wie es bei Kant selbst in der „Allgemeinen Anmerkung" heißt, „das Sinnliche in der Vorstellung der Natur für einen möglichen übersinnlichen Gebrauch desselben als tauglich beurteilt" (KU, Β 114). Angesichts der Undarstellbarkeit der Ideen, die das .Übergangsproblem ' der Kritik der Urteilskraft auslöst, ist das Erhabene eine Möglichkeit, ein Naturphönomen als (negative) „Darstellung" von Ideen aufzufassen, und zwar die einzige Möglichkeit, die dabei gleichzeitig die Undarstellbarkeit von Ideen unterstreicht. Damit nimmt es einen Übergang vor, der die 19 Was ja auch Kants ursprünglicher Intention entspricht, denn die Urteilskraft und der Übergang, den sie vornimmt, dürfen kein eigenes objektives Gebiet ihr eigen nennen.

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von Kant in der Ersten Einleitung gestellte schwierige Bedingung des Übergehens erfüllt, ohne „die Grenzsteine zu verrücken, welche eine unnachsichtliche Kritik gelegt hat" (EE, 58). Ebenso wie das Erhabene die Anlage zur Moral deutlich macht, ohne mit der Achtung identisch zu sein, erweist es analog zur Möglichkeit des Systems die Möglichkeit des Übergangs, und mehr ist für die transzendentale Erörterung nicht nötig. Die Übergangsaufgabe der Kritik der Urteilskraft ist damit erfüllt. Ein so konstruierter „Übergang" hat zwei Bedingungen: daß das Gefühl des Erhabenen nicht mit dem reinen moralischen Gefühl der Achtung gleichgesetzt wird und daß das Verhältnis der Vermögen als horizontales .Nebeneinander' gedacht wird und nicht als vertikales .Erheben'. Das heißt, es muß erstens die sinnliche Komponente mitberücksichtigt werden, es muß also ein Bezug zur Natur bestehenbleiben. Es ist sicherlich kein Zufall, daß Cassirer mit der oben erwähnten Hypothese von der unvermeidlichen „Subreption" die Schwierigkeit zu lösen sucht, wie das Erhabene von der Achtung zu unterscheiden sei; denn es scheint, „indem es sich von der Natur loslöst, ganz dem Gebiet des Sittlichen anheimzufallen"20. Was wir oben als für die Systemabsicht bedeutsam eingestuft hatten, gilt auch für den „Übergang". Es ist unerläßlich, daß die Sinnlichkeit in der zweiten Phase des erhabenen Gefühls nicht verlorengeht, sondern als Unlust präsent bleibt, weil das Erhabene sonst - losgelöst von der Sinnlichkeit - zum reinen moralischen Gefühl der Achtung ohne Naturbezug wird. Als dieses moralische Gefühl wäre es in der Tat nur ein „bloßer Anhang" und gar nicht in der Lage, einen „Übergang" zu bilden (und das allein schon durch den banalen Umstand, daß es dann bloß zur einen, zur übersinnlichen Seite gehörte). Nur in seiner .Ästhetizität' kann das Erhabene ein Übergang sein, weil es die beiden zu verbindenden Komponenten zusammenführt. Seine explizite und konstitutive Bipolarität unterscheidet es vom Schönen und prädestiniert es in besonderer Weise für den Übergang. Der Bezug auf die Vernunft muß nicht nachträglich - über eine mehr oder weniger einleuchtende Analogie - erfolgen, wie beim Schönen, das auf der Basis der „Analytik" noch gar nichts mit der Vernunft zu tun hat, sondern nur Einbildungskraft und Verstand in ein Verhältnis setzt. Im Erhabenen sind die beiden Komponenten von Anfang an intern und konstitutiv miteinander verquickt. Mit der Aufwertung der Einbildungskraft als sinnlicher Seite des Gefühls des Erhabenen geht zweitens die Vorstellung von einem .Nebeneinander' beider Vermögen einher. Es erfolgt kein vertikaler Aufstieg zur hehren Vernunft, keine endgültige Synthese zu Ungunsten der Einbildungskraft21, weil darin das .Vergessen' der Einbildungskraft angelegt ist. Kants Rede von der „höheren Zweckmäßigkeit" zum Trotz scheint es eher eine .andere' Zweckmäßigkeit zu sein, die entdeckt wird und als Gesetzgebung der Vernunft ohne Hierarchie horizontal neben der .natürlichen' Gesetzgebung steht. Letztere scheitert zwar in unserem Fall, sie ist aber weiterhin vorhanden. Der „Übergang" ist lediglich ein Perspektivenwechsel, aber kein engültiger und absoluter, sondern er ist äußerst instabil, wie das „schnellwechselnde Abstoßen und Anziehen" und die Voraussetzung, daß man dafür „Kultur" haben müsse, bei Kant zeigt. Allein dieser

20 Cassirer, Kants Leben und Lehre, a.a.O., 352. 21 Dies stimmt mit der von Kant in der Zweiten Einleitung geäußerten Vermutung überein, daß die Vermögen keinen „gemeinschaftlichen Grund" hätten {KU, Β XXII). Einbildungskraft und Vernunft werden nicht auf einer höheren Ebene synthetisiert.

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paradoxe .erhabene' Übergang aus „Verknüpfung" und „Trennung"22 wird, indem er das Nebeneinander der beiden Welten unangetastet läßt und sie gleichwohl verbindet, der von Kant in seinem kritischen Programm propagierten .Ortlosigkeit* der Urteilskraft und damit des „Übergangs" gerecht. Dem entspricht seine reine Subjektivität, die bei Kant ursprüngliche Bedingung für den „Übergang" ist, weil jeder Bezug zum Objekt zu einer Bestimmung desselben und zu einem .Gebiet' führen würde. Es sollen beim „Übergang" zwar Natur und Freiheit verbunden werden, aber nur der indirekte erhabene Bezug zur Natur einerseits verhindert deren Objektivierung und damit deren metaphysische Hypostasierung im Hinblick auf die ihr zugrunde gelegte Idee, so wie andererseits der negative Bezug zur Vernunft im Erhabenen deren Objektivierung und Hypostasierung in der Natur verbietet. Auch in dieser Hinsicht bildet das Erhabene ein Korrektiv gegenüber dem Schönen. Während im Schönen die harmonische Form der Vermögen der harmonischen Form der Naturgegenstände entspricht und die Subreption, die auch dem Schönen zugrunde liegt, unter der Hand vorgenommen werden kann, wird sie im Erhabenen, dadurch, daß die zweite Komponente des Unendlichen sich eben gerade nicht im Gegenstand, sondern nur im Subjekt findet, explizit. Für den gesuchten kritischen (und das heißt immer die Differenzen wahrenden) Übergang erweist sich dieser .Nachteil' als Vorteil. Wie die transzendentale Illusion ist die Subreption zwar unvermeidlich, geschieht aber im Erhabenen offenen Auges. Nun wird man sich fragen: Das ist ja alles .schön' und gut, aber wo bleibt der Verstand? Sollte der „Übergang" in der Kritik der Urteilskraft nicht gerade zwischen Verstand und Vernunft vermitteln? Bisher war anläßlich des .erhabenen Übergangs' gemäß der Struktur dieses Gefühls lediglich von Einbildungskraft und Vernunft die Rede. Aber das Erhabene scheint mir auch eine Perspektive auf den Verstand zu eröffnen. Dabei denke ich nicht daran, daß in der im Mathematisch-Erhabenen beschriebenen scheiternden ästhetischen Größenschätzung auch der Verstand involviert ist. Das hieße m.E., die ästhetische mit der logischen Größenschätzung, die Synthese der dritten mit der Synthese der ersten Kritik zu verwechseln. Der Verstand scheint mir vielmehr in folgender Hinsicht angesprochen: Indirekt besteht erstens bereits ein Bezug zum Verstand durch den Systemgedanken, der ja auf die Aktivität des Verstandes in empirischer Hinsicht vorbereiten soll und bei dem das Erhabene, wie wir oben gesehen haben, keine unerhebliche Rolle spielt. Zweitens und entscheidend aber hat das Erhabene mit dem Übersinnlichen zu tun, das der ersten Kritik, also der .Verstandeskritik' zugrunde liegt. Und auch hier eröffnet sich eine interessante ,Übeigangsperspektive '. In der Zweiten Einleitung formuliert Kant an einer Stelle die .Übergangsaufgabe' so, daß es darum gehe, zwischen dem Übersinnlichen der ersten und dem Übersinnlichen der zweiten Kritik zu vermitteln, wobei die „Einheit des Übersinnlichen, welches der Natur zum Grunde liegt, mit dem, was der Freiheitsbegriff praktisch enthält", den Übergang möglich macht (vgl. KU, Β XX). Wie sieht es nun in dieser Hinsicht beim Erhabenen aus? Die Spaltung in Mathematisch- und Dynamisch-Erhabenes macht deutlich, daß es im ersten Fall um das Übersinnliche der ersten Kritik, im zweiten Fall um das Übersinnliche der zweiten Kritik geht. Das Mathematisch-Erhabene .beweist' das Übersinnliche, das der ersten Kritik zugrunde liegt, ja Kant sieht darin den „nicht-sinnlichen Maßstab" gegeben,

22 Cassier, Kants Leben und Lehre, a.a.O., 348.

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welchen die Unendlichkeit der Natur „selbst als Einheit unter sich hat"23. Das Erhabene gibt das Maß für die Natureinheit, was es für den oben erörterten Systemgedanken um so mehr prädestiniert, und zeugt so vom Einfluß der theoretischen Vernunft auf die Natur, d.h. es betrifft indirekt natürlich auch die Verstandesgesetzgebung, die sich auf diese Natur bezieht und mit der Vernunftgesetzgebung vermittelt werden soll. Wenn nun das Mathematisch-Erhabene die Struktur aufweist, die der Kritik der reinen Vernunft zugrunde liegt, so bezieht sich das Dynamisch-Erhabene auf die praktische Vernunft. Man könnte also analog zum Mathematisch-Erhabenen vermuten, daß das Dynamisch-Erhabene die Struktur erweist, die der Kritik der praktischen Vernunft zugrunde liegt, insofern nämlich, als es auf ästhetischem Gebiet deren Mechanismus darstellt: Wie wir anläßlich des genauen Vergleichs von Erhabenem und Achtung gesehen haben, zeigt das Erhabene nicht nur, daß die praktische Vernunft ohne Rücksicht auf die (sinnliche) Natur operiert, sondern auch das Leiden der Sinnlichkeit angesichts des moralischen Gesetzes. Doch wie steht es nun mit der .Vermittlung' dieser beiden übersinnlichen Bereiche? Übersinnliches der ersten und Übersinnliches der zweiten Kritik, theoretisches und praktisches Übersinnliches, Mathematisch- und Dynamisch-Erhabenes scheinen unvermittelt nebeneinander stehen zu bleiben, der „Übergang" zwischen ihnen unmöglich zu sein. Wir hatten aber bei der Analyse der „Analytik des „Erhabenen" gesehen, daß das Übersinnliche des Mathematisch-Erhabenen auf das des Dynamisch-Erhabenen hinarbeitet, insofern das erstere als für den praktischen Gebrauch förderlich angesehen wird und nur in dieser Hinsicht .positiven' Wert besitzt. Dies würde einem Übergang vom Theoretischen zum Praktischen entsprechen, der, wie Kant in der Zweiten Einleitung postuliert, vom theoretisch unbestimmten über das durch die Urteilskraft bestimmbare zum praktisch bestimmten Übersinnlichen geht (vgl. KU, Β LVI). Dieser Übergang zwischen Theoretischem und Praktischem ist ein gutes Beispiel dafür, wie fragil der kritische, die Perspektive dank der Urteilskraft ohne Synthese wechselnde Übergang ist. Denn er führt in Kants Text dazu, daß das Dynamisch-Erhabene im Laufe der „Analytik des Erhabenen" mehr und mehr Gewicht erlangt, bis schließlich die theoretische Totalität durch praktische Freiheit auch im Mathematisch-Erhabenen ersetzt zu werden scheint. Das wird durch das unsystematische Vorgehen Kants, die ersten beiden Momente im Mathematisch-, die letzten beiden Momente im Dynamisch-Erhabenen abzuhandeln und beide Varianten des Erhabenen unter ein Gefühl zusammenzufassen, begünstigt und bewirkt eine Prädominanz der Moral, die den ästhetischen Charakter des Erhabenen gefährdet. Hier droht der zunächst kritische Übergang vom Theoretischen und Praktischen, eine .unkritische' Wendung zu nehmen: Zunächst wird die Natur - kritisch einmal mit Blick auf das theoretische Ubersinnliche, einmal mit Blick auf das praktische Übersinnliche interpretiert. Dann werden beide Varianten, die sich im Hinblick auf den Übergang ergänzen, sich aber nicht vereinigen lassen, in ein und dasselbe Gefühl zusam-

23 KU, Β 104; vgl. auch KU, Β 92: Im Mathematisch-Erhabenen tritt das übersinnliche Vermögen der Vernunft auf, „dessen Idee eines Noumenons, welches selbst keine Anschauung verstattet, aber doch der Weltanschauung, als bloßer Erscheinung, zum Substrat unterlegt wird"; vgl. auch KU, Β 116: Durch das Erhabene werden wir „erinnert, daß wir es nur mit einer Natur als Erscheinung zu tun haben, und diese selbst noch als bloße Darstellung einer Natur an sich (welche die Vernunft in der Idee hat) müsse angesehen werden".

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mengefaßt, wobei das „Primat" der praktischen Vernunft zur Geltung kommt. Kants Tendieren zum Dynamisch-Erhabenen offenbart die Schwäche des .erhabenen Übergangs', nimmt ihm jedoch nichts von seiner Stärke, wenn das Mathematisch-Erhabene nicht in Vergessenheit gerät. Das Erhabene vollzieht also nicht nur einen „Übergang", sondern ist auch entlarvend, insofern es uneingestandene Strukturen und Voraussetzungen der Kritik explizit macht. Auf der Ebene des Systemgedankens zeigt es - eine bei Kant unter der Hand vorgenommene .Objektivierung' des Schönen korrigierend - dessen Subjektivität (und Schein). Auf der Ebene des „Übergangs" zeigt es, wie zerbrechlich dieser ist, und im Dynamisch-Erhabenen wird deutlich, welchen Preis das Primat der praktischen Vernunft hat, weil in ihm ein schnelleres Vergessen der sinnlichen Seite angelegt ist. Aus diesem Grunde ist das Mathematisch-Erhabene für den Übergang - wie für die Spezifikationsaufgabe - systematisch wichtiger und vor allem einleuchtender als das Dynamisch-Erhabene, auf das sich die Kant-Forschung bisher konzentriert hat. Es korrigiert den Systemgedanken und vollzieht einen Übergang vom Sinnlichen zum Übersinnlichen in theoretischer, dem Praktischen förderlicher Hinsicht. Angesichts dieses so augenfälligen erhabenen Übergangs stellt sich die Frage, warum Kant diese Chance nicht genutzt und für seine Systematik verwertet hat, und warum er die Bedeutung des Erhabenen darüber hinaus auch noch zu schmälern sucht, indem er die „Analytik des Erhabenen" als „bloßen Anhang" bezeichnet und allein im Schönen, an dem die Vernunft doch gar nicht von vornherein beteiligt ist, den Übergang zur Moralität etablieren will. Seine Antwort, daß die „Analytik des Erhabenen" nicht zur gesuchten „Zweckmäßigkeit der Natur" beitrage, weil in ihr „so gar nichts , was auf besondere objektive Prinzipien und diesen gemäße Formen der Natur führte", es darin vielmehr nur um eine „Zweckmäßigkeit in uns selbst" gehe (KU, Β 78), vermag, wie gesagt, nicht recht zu überzeugen. Denn strenggenommen geht es auch im Gefühl des Schönen nur um ein subjektives Prinzip „anläßlich" eines Objekts und um eine Zweckmäßigkeit in uns, hier des Verhältnisses von Einbildungskraft und Verstand. Zudem werden, wie wir noch sehen werden, im Schönen dort, wo Kant den Übergang zu etablieren sucht, die Formen in einem Maße .befreit', daß sie eher an die erhabene „Unform" als an die schöne Form erinnern, auf die Kant seine Ablehnung des Erhabenen stützt. Der eigentliche Grund für Kants Zurückhaltung wird auch nicht in dem eben beschriebenen .Entlarvungscharakter' des Erhabenen liegen, sondern darin, daß der „Übergang", den das Erhabene gewährt, äußerst instabil, weil negativ und in der Tat rein subjektiv bleibt. Er etabliert sich nicht material, er baut keine „Brücke" (KU, Β LIV), sondern beläßt beide Komponenten in ihrer Heterogenität, entsprechend Kants Feststellung, daß es sich hier um einen „Widerstreit" zweier Vermögen handelt. Auch der „Widerstreit" in der Kritik der reinen Vernunft führte im besten Falle, nämlich im Fall der dynamischen Antinomien, nur zu einer Art .Nebeneinander' der widerstreitenden Parteien, die beide von ihrem Standpunkt aus recht haben. Ebenso verhält es sich im Erhabenen. Das Gefühl des Erhabenen unterstreicht den Abgrund zwischen den .zwei Welten', die Kant so streng voneinander trennt (und ist insofern .kritisch'). Es verdeutlicht die Undarstellbarkeit von Ideen und die Unmöglichkeit eines direkten, manifesten Übergangs. Alles, was es hervorbringen kann, ist eine „negative Darstellung". Doch die Heterogenität und die Unmöglichkeit einer .positiven Darstellung' erlauben eben gerade den Standortwechsel. An der Grenze

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des Ästhetischen wird durch den Übergang von der Sinnlichkeit zum Denken ein anästhetisches Moment in die Ästhetik eingeführt. Diese Art „Übergang", welche die Inkommensurabilität unangetastet läßt, sie aber auch benutzt, um (wenigstens) zu einem anderen Standpunkt zu gelangen, ist sicherlich eine andere Art von „Übergang" als diejenige, die Kant vorgeschwebt hatte. Ein solcher Übergang ist mühsam - seine Bedingung ist „Unlust", er hat keine „Form" und bleibt „unbestimmt", schwankend in der Schwebe des „Widerstreits", denn der erreichte Standpunkt ist nicht endgültig, sondern wird sofort wieder verlassen - aber er ist wahrscheinlich der einzig erreichbare Übergang (und überdies der einzige, der der von Kant selbst postulierten .Gebietslosigkeit' der reflektierenden Urteilskraft gerecht wird). Das Erhabene stellt den Systemgedanken, so wie Kant ihn in der Kritik der Urteilskraft über die Form konzipiert, manifest in Frage. In zweiter Instanz garantiert es dann aber und zwar in kritischer und nicht metaphysischer Lesart - eine noch subjektivere Systemkonzeption, die Schönem und Teleologischem zugrunde liegt, und einen ihr entsprechenden Übergang. Im folgenden wird nun zu prüfen sein, ob und wie das Erhabene die anderen Teile der Kritik der Urteilskraft bzw. die anderen „Übergänge" affiziert. Denn wenn meine These von der .erhabenen Systemsicht' und dem .erhabenen Übergang' stimmt und beide den anderen Teilen der dritten Kritik zugrunde liegen, dann müßten sich auch dort Spuren davon finden lassen.

2.3. Der »schöne Übergang' und das Erhabene Im letzten Kapitel haben wir gesehen, inwiefern die „höhere Zweckmäßigkeit" im Erhabenen einerseits den systematischen Einheitsaspirationen der Kritik der Urteilskraft zugrunde liegen könnte und inwiefern das Erhabene andererseits einen eigenen „Übergang" innerhalb dieser Kritik (negativ) darstellt. In diesem Kapitel gilt es nun, die „Übergänge", die Kant vom Schönen zum Moralischen unternimmt, in ihrem Verhältnis zum Erhabenen zu untersuchen. Meine These lautet, daß das Erhabene, ebenso wie hinsichtlich der Frage der Einheitlichkeit, auch hier eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, und zwar nicht nur, wie man annehmen könnte, indem es die Einheit fördert, also das subjektive Prinzip der Zweckmäßigkeit des Schönen stützt und von daher indirekt auch die damit zusammenhängenden .schönen Übergänge'. Das Erhabene wirkt vielmehr auch losgelöst von der abstrakten Einheitsaufgabe konkret und direkt auf die .schönen Übergänge' ein. Sie alle lassen die schöne Form zur erhabenen (Un)Form werden: Von dem Moment an, wo Kant das Schöne im Hinblick auf den gesuchten „Übergang" zur Moralität untersucht, ähnelt es mehr dem Erhabenen als dem Schönen. Ich will hier wohlgemerkt nicht behaupten, daß es keine Übergänge vom Schönen zum Moralischen gibt, sondern lediglich darlegen, wie .erhaben' (und daher instabil) diese .schönen Übergänge' im Grunde sind. Da für Kant das Schöne zweifellos der wichtigste Bestandteil der Kritik der Urteilskraft ist, scheint mir diese Untersuchung besonders einschlägig für den Nachweis zu sein, welch große Rolle das Erhabene in der Kritik der Urteilskraft spielt. Kant etabliert das Schöne in der „Analytik des Schönen" als Gefühl der Harmonie von Einbildungskraft und Verstand, das vom Prinzip der formalen Zweckmäßigkeit a priori zeugt, indem er es einerseits vom bloß empirischen Angenehmen und andererseits vom

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moralischen Gefühl des Guten absetzt. Auf der Basis der „Analytik" hat das Schöne also gerade nichts mit der Moral zu tun: weder auf der Ebene der Vermögen, die Vernunft ist in keiner Weise involviert, noch auf der Ebene des Gefühls selbst, das er explizit von der Moralität abgrenzt24. - Um so interessanter ist die Frage, wie Kant nun die Aufgabe des „Übergangs" vom Schönen zur Moralität (und damit von der Natur zur Freiheit) zu lösen sucht, ohne die in der „Analytik" vorgenommenen Unterscheidungen einzuebnen, ohne die „Grenzsteine" der Kritik „zu verrücken". Für die Schwierigkeit des Unternehmens (und wahrscheinlich auch für Kants eigene Unsicherheit diesbezüglich) ist bezeichnend, daß Kant mehrere Anläufe für einen solchen „Übergang" unternimmt. Ich will das hier nicht weiter kommentieren - es würde Inkonsistenzen in Kants Theorie zeigen, die nicht zu meinem Thema gehören. Für unser Thema interessanter ist der Umstand, daß alle diese Anläufe nach der „Analytik des Erhabenen" erfolgen, nämlich in der „Deduktion", „Dialektik" und „Methodenlehre" des ästhetischen Urteils25. Diese topographische Merkwürdigkeit legt den Verdacht nahe, daß die Moralisierung des Schönen in ihrer ausgeprägten Form erst nach der .Vorbereitung' durch das Erhabene möglich ist. Während der Bezug des Schönen zur Moralität sich viel mittelbarer (und nachträglich gegenüber der „Analytik") im Laufe der „Deduktion" und deutlicher noch in der „Dialektik" bzw. „Methodenlehre" herausstellt, hatte das Erhabene einen unmittelbaren, internen und konstitutiven Bezug zur Moralität. Dementsprechend lautet meine These, daß alle die .schönen Übergänge' vom Sinnlichen zum Übersinnlichen nur auf der Basis der „Analytik des Erhabenen" möglich sind, in der die Möglichkeit der .übersinnlichen' Relevanz, wenn man so sagen kann, von ästhetischen Urteilen erst .entdeckt' wurde26. Die „Analytik des Erhabenen" würde so nicht allein den schönen Übergängen den Weg ins Übersinnliche bahnen, sondern auch konkret insofern in diesen Übergängen durchschlagen, als sie allesamt Spuren des Erhabenen aufweisen. Das Erhabene als ,Ur-

24 Vgl. z.B. KU, Β 18 im Hinblick auf das Interesse. Man könnte allerhöchstens sagen, daß einerseits die nachträgliche Moralisierung des Schönen durch die Annahme eines „Gemeinsinns" als „idealische Norm" (KU, Β 67), der die Allgemeinheit des Schönen garantieren soll, vorbereitet wird, was sich am Ende der „Analytik" mit der Frage nach einem „noch höhere Prinzip der Vernunft" andeutet (KU, Β 67f.); und daß andererseits die Ausführungen „Vom Ideale der Schönheit" in §17 der „Analytik" (KU, Β 53ff.) ein Vorgriff auf die Genieproblematik sind, wobei zwar das einzige Mal in der „Analytik" auch von der „Darstellung" die Rede ist (B 54), Kant aber betont, daß es sich dabei nicht um reine ästhetische Urteile handelt (vgl. KU, Β 60f.). 25 D.h. des Schönen, denn das Erhabene findet nach der „Analytik des Erhabenen" so gut wie keine, zumindest keine systematisch einschlägige Erwähnung mehr, als ob es nicht zu den ästhetischen Urteilen gehörte und die „Analytik des Erhabenen" in der Tat nur ein „Fremdkörper" innerhalb der Kritik der Urteilskraft wäre und ohne nennenswerte Folgen bliebe. Selbst ein so fundierter Kommentar wie der von H.W. Cassirer findet keine Erklärung dafür, warum Kant Deduktion und Dialektik „ästhetisch" nennt, obwohl es nur um das Schöne zu gehen scheint (vgl. H.W. Cassirer,/! Commentary..., a.a.O., 248). 26 Friedrich Delekat geht so weit, daß erst der Vernunftbezug im Erhabenen „Kant den Anstoß zur Anwendung der transzendentalen Methode auf die Ästhetik gegeben hat" (Friedrich Delekat, Immanuel Kant. Historisch-Kritische Interpretation der Hauptschriften, 3. durchges. Aufl. Heidelberg 1969,423f.). Auch Cohen vermerkt, wenn auch in weit schwächerer Form, die eigentümliche Stellung des Erhabenen (vgl. Cohen, Ästhetik des reinen Gefühls, Bd. 1, a.a.O., 251). Kaulbach schiebt das Erhabene zwischen ein naives Schönes (gemäß der „Analytik") und ein reflektierteres Schönes (gemäß „Deduktion" und „Dialektik") ein (vgl. Kaulbach, Ästhetische Welterkenntnis..., a.a.O., 181). Crawford spricht von einem „shift in focus within the third Critique itself" (Crawford, „The Place of the Sublime...", a.a.O., 179).

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form' des Moralitätsbezugs bewirkt bei der nachträglichen Moralisierung des Schönen dessen erhabene Züge27. Und diese Sichtweise, so möchte ich weiter behaupten, ist die einzige Möglichkeit, die Autonomie des ästhetischen (wie Kant meint schönen) Urteils vor der Vorherrschaft der Moralität zu retten und damit den gesuchten Übergang zu gewährleisten. Kant unternimmt in der Kritik der Urteilskraft in der Hauptsache drei,Übergangsversuche' im Rahmen des Schönen, indem er erstens das intellektuelle Interesse am Schönen untersucht (§42), zweitens das Genie (§49) und drittens und entscheidend das Schöne als Symbol des Sittlich-Guten beschreibt (§§59 und 60). Diese unter dem Namen des Schönen beschriebenen ästhetischen Phänomene gilt es im folgenden im Hinblick auf ihre erhabenen Züge zu untersuchen, in der Vermutung, daß es sich der Sache nach eher um .erhabene' als um .schöne Übergänge' handelt und daß selbst noch diejenigen ihrer Merkmale, die eindeutig .schön' zu sein scheinen, zumindest mit dem Erhabenen vereinbar sind. Meine Betrachtungsweise unterscheidet sich von der bisherigen Kant-Interpretation in zwei Punkten: Erstens bin ich nicht der Meinung, daß der gesuchte „Übergang" kantintem letztlich über die Kunst erfolgt28. Diese Annahme ist schon faktisch nicht richtig, weil die Kunst lediglich in einem der drei Übergangsversuche - beim Genie - in den Vordergrund tritt. Im dritten - und entscheidenden - Übergang mit Hilfe des Symbols ist die Möglichkeit einer künstlerischen Umsetzung zwar angelegt, aber nicht konstitutiv. Ich möchte die Kunst hier vielmehr ausdrücklich ausklammern, weil ihr Fall im Hinblick auf Schönes und Erhabenes sehr kompliziert ist. Die Romantiker haben - im Anschluß an Kant - eine Kunst zu entwickeln versucht, die als schöne das Erhabene in sich aufnimmt, und so die von mir hier angestrebte Differenzierung verwischt29. Damit hängt der zweite Punkt zusammen, in dem ich mich von der traditionellen Lesart der Kritik der Urteilskraft abzusetzen suche. Daß das Erhabene in der „Deduktion", „Dialektik" und „Methodenlehre" des Schönen eine Rolle spielt, ist von manchem Interpreten

27 Daran ändert auch der Umstand nichts, daß die „Analytik des Erhabenen" wahrscheinlich nach „Deduktion" und „Dialektik" geschrieben worden ist (die wiederum nach der „Analytik des Schönen" entstanden) (vgl. Helga Martens, Kommentar zur Ersten Einleitung in Kants Kritik der Urteilskraft. Zur systematischen Funktion der Kritik der Urteilskraft fir das System der Vernunftkritik, München 1975, 237), ganz im Gegenteil: Es könnte sein, daß Kant erst in „Deduktion" und „Dialektik" gemerkt hat, wie sehr ihm eine Art .Bindeglied' zum Übersinnlichen im Hinblick auf die „Analytik des Schönen" fehlt. 28 Emst Cassirer verbindet so beispielsweise die beiden Teile der Kritik der Urteilskraft, indem er darauf hinweist, daß es beide Male um Erschaffenes gehe. Das halte ich für eine nach-kantische Modifikation Kants, bei dem Kunst nur als der Natur gemäß eine Rolle spielt, weswegen viele seiner direkten Nachfolger, die Ästhetik bereits mit „Philosophie der Kunst" gleichsetzten, Kant ja gerade des Verfehlens der Kunst bezichtigten. 29 Das hängt natürlich damit zusammen, daß Kirnst zumindest zu Kants Zeiten in gewisser Weise immer Darstellung ist und insofern in ihr auch Erhabenes scheinbar mühelos dargestellt werden kann. Kant leistet dieser Auffassung selbst Vorschub, wenn es in §52 der Kritik der Urteilskraft heißt: „Auch kann die Darstellung des Erhabenen, sofern sie zur schönen Kunst gehört, in einem gereimten Trauerspiele, einem Lehrgedichte, einem Oratorium sich mit der Schönheit vereinigen, und in diesen Verbindungen ist die schöne Kunst noch künstlicher" {KU, Β 213f.; vgl. entsprechend Anthropologie, 241,243 und 248); immerhin fügt er hinzu: „ob aber auch schöner , kann in einigen dieser Fälle bezweifelt werden" (KU, Β 214). Da Kant sich keine .unförmige' Kunst vorstellen kann, spielt das Moment der Schönheit bei ihm noch in jede „Darstellung" hinein, die immer als eine Form betrachtet werden kann. Heutige Kunst ist an diese Be-

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bemerkt worden30. Dieser Umstand wurde jedoch stets - vom Schönen aus gedacht - als Möglichkeit der Vereinbarkeit von Erhabenem und Schönem, meist auf dem Hintergrund der Weiterentwicklung Kants durch Schiller oder die Romantiker bezüglich der Kunst, gedeutet und hat zu einer Harmonisierung oder .Beschönigung' des Erhabenen geführt31. Ich möchte hier eine umgekehrte Betrachtungsweise vorschlagen: Nicht das Erhabene wird dadurch, daß es in „Deduktion" und „Dialektik" Gemeinsamkeiten von Erhabenem und Schönem zu geben scheint, .schöner', sondern das Schöne wird .erhabener', wenn man so sagen kann32. Dies gilt es zu bedenken, wenn ich im folgenden die Spuren des Erhabenen in „Deduktion" und „Dialektik" des (angeblichen) Schönen nachzuweisen suche.

schränkung nicht mehr gebunden. An der modernen Avantgardekunst hat Lyotard gezeigt, daß sie dem Kantischen Erhabenen als Undarstellbarem sehr viel gerechter werden kann - ohne es zu .beschönigen'. 30 Cohen weist auf den Bezug zum Erhabenen beim Symbol und beim intellektuellen Interesse (vgl. Cohen, Kants Begründung der Ästhetik, a.a.O., 282) sowie beim Genie und beim Ideal hin (vgl. Cohen, Ästhetik des reinen Gefühls, Bd. 1, a.a.O., 251). Edward Caird ist der Meinung, daß der Bezug zum Übersinnlichen im Erhabenen eine „gewisse Inkonsistenz" von Kants Sichtweise des Schönen dokumentiere (Edward Caird, The Critical Philosophy of Kant, 2 Bde., Glasgow 1889, Bd. 2,471). Auch Reinhard Brandt weist anläßlich des Schönen als Symbol der Sittlichkeit auf die Verwandtschaft von Schönem und Erhabenem hin (vgl. Reinhard Brandt, „Entfernte Nähe: Jean-François Lyotards Deutung und Umdeutung Kants (,Das Interesse des Erhabenen')", in: il cannocchiale, Heft 3 [1990], S. 213-221, hier 217), um nur einige Beispiele zu nennen. Auch Albrecht Wellmer wies jüngst darauf hin, daß „die Idee der Darstellung eines Nicht-Darstellbaren, wie sie bei Adorno - und nach Adomo bei Lyotard - als Charakteristikum des Kunsterhabenen auftritt, bereits in Kants Idee des Kunstschönen impliziert" sei (Wellmer, „Adorno, die Moderne und das Erhabene", a.a.O., 57) (wobei er gleich anschließend darauf zu sprechen kommt, daß das aus gutem Grunde so sei. weil Kunst eben nie „grenzen- oder formlos" ist, ebd.). Doch scheint mir das eine zu romantische Betrachtungsweise zu sein, die erstens den Begriff der Kunst bei Kant zu sehr in den Vordergrund stellt und zweitens verkennt, inwiefern moderne Kunst in der Tat als formlos im Kantischen Sinne betrachtet werden kann. 31 Deutlich ist das auch bei Bretall, der auf den Bezug des Erhabenen zum Genie (vgl. Bretall, „Kant's Theoty of the Sublime", a.a.O., 384) und zum intellektuellen Interesse hinweist (vgl. ebd., 400) und dadurch zum Schluß eines erweiterten Schönheitsbegriffes kommt (vgl. ebd., 402). Auch Wilhelm Nicolais Behauptung, daß das Erhabenen erst auf dem Hintergrund der ästhetischen Idee (und nicht etwa umgekehrt) verständlich sei, weist in diese Richtung (vgl. Wilhelm Nicolai, Ist der Begriff des Schönen bei Kant consequent entwickelt'!, Phil. Diss. Kiel 1889, 96). Crawford geht davon aus, daß der erwähnte „shift" eher das Erhabene als das Schöne verändert (vgl. Crawford, „The Place of the Sublime...", a.a.O., 178f. und 181). Auch Kaulbach plädiert dafür, die ästhetische Idee bis in den Bereich des Erhabenen hinein zu verfolgen (vgl. Kaulbach,Ästhetische Welterkenntnis..., a.a.O., 180). 32 Diese Unterscheidung mag manchem spitzfindig erscheinen, ich halte sie jedoch für unerläßlich und entscheidend. Daß Kants Lehre des Genies eine versteckte „Ästhetik des Erhabenen" ist, zeigt nicht zuletzt die romantische Hinwendung zum Erhabenen und zum Geniekult (und zwar gerade in bezug auf die Kunst). Die Rezeption des Kantischen Erhabenen beweist durch das Verschmelzen von Schönem und Erhabenem und weil sie sich quasi nur auf das Schöne der „Deduktion" und „Dialektik" bezieht, indirekt meine These, daß ein Übergang im Sinne einer moralischen Idealisierung des Schönen erst nach dem Erhabenen möglich ist. Da diese Rezeption aber in bezug auf die Bevorzugung des Schönen bedenklich ist, möchte ich die Präferenz umkehren. Darin besteht eine mögliche Gegenlinie zum metaphysischen Verschmelzen von Schönem und Erhabenem in einem Idealschönem bei Schiller, den Schlegels, Schelling und Hegel.

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2.3.1. Das intellektuelle Interesse am Schönen Im §42 „Von dem intellektuellen Interesse am Schönen" geht es erstens um die Absetzung der Naturschönheit von der Kunstschönheit und zweitens um die Verbindbarkeit der ersteren mit der Moral. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob Kants These, „daß ein unmittelbares Interesse an der Schönheit der Natur zu nehmen , jederzeit ein Kennzeichen einer guten Seele sei; und daß, wenn dieses Interesse habituell ist, es wenigstens eine dem moralischen Gefühl günstige Gemütsstimmung anzeige" (KU, Β 166),

der in der „Analytik des Schönen" postulierten Interesselosigkeit des Schönen widerspricht, die es vom moralisch Guten autonom absetzte. Doch Kant hat die Autonomie der Schönheit aus der „Analytik" nicht vergessen. Denn erstens ist dieses unmittelbare Interesse an der Naturschönheit kein moralisches Interesse, sondern in Gegensatz zu diesem ein freies Interesse (vgl. KU, Β 170) und nur mit dem moralischen verwandt (vgl. KU, Β 169), und zweitens ist dieses Interesse nicht konstitutiv für die Schönheit, sondern kann sich gleichzeitig mit ihr einstellen (vgl. KU, Β 168f.). Es wird nicht - wie im Moralischen von ihr hervorgebracht (vgl. KU, Β 168). Das Interesse an der Schönheit ist also eine Art Zusatz oder .Mehrwert', der vom Betrachter hinzugedacht wird33. Geschmack und Interesse án der Naturschönheit stehen also unabhängig nebeneinander. Das Interesse an der Naturschönheit ist Zeichen der „Analogie" zwischen schönem und moralischem Urteil (KU, Β 170). Was hat diese Argumentation mit dem Erhabenen zu tun? - Lassen wir den vordergründigen Umstand beiseite, daß Kant hier von Lust und Unlust spricht, daß es also um das ästhetische Urteil im allgemeinen zu gehen scheint (vgl. KU, Β 169). Entscheidender erscheinen mir folgende Punkte: Erstens ist es die Vernunft, die hier ein Interesse nimmt, „daß die Natur wenigstens eine Spur zeige oder einen Wink gebe", daß die Idee objektive Realität haben könnte (ebd.). (Wir sind also mitten in der,Ubergangsproblematik'.) Von der Vernunft war in der „Analytik des Schönen" nun aber noch gar nicht die Rede gewesen. Am Gefühl des Schönen sind nur Einbildungskraft und Verstand beteiligt. Die Vernunft kommt also hier als Zusatz hinzu, greift ebenso wie im Erhabenen ein, nur daß sie hier noch weiter geht: dort war sie lediglich ,da', hier nimmt sie bereits ein Interesse. Man könnte also sagen, daß das Erhabene den Gedanken, aus dem das unmittelbare Interesse am Schönen resultiert, vorbereitet, ja erst ermöglicht hat. Formulierungen wie jene, daß sich hier eine dem moralischen Gefühl günstige Gemütstimmung anzeige (vgl. KU, Β 166), eine „Anlage zu guter moralischer Gesinnung" (KU, Β 169f.), unterstützen diese Vermutung. Bemerkenswert erscheint mir in diesem Zusammenhang auch, daß die Naturschönheit nicht insofern interessiert, „als ihr eine moralische Idee beigesellt wird", sondern daß sich die Schönheit „innerlich" zu einer solchen „Beigesellung qualifiziert" (KU, Β 171). Dieser interne Bezug zur Moralität war ja gerade ein Hauptcharakteristikum des Erhabenen. Zweitens ist das Interesse an der Schönheit, um das es hier geht, im Unterschied zur reinen Schönheit, die jedermann zugemutet werden darf, „nicht gemein, sondern nur denen eigen, deren Denkungsart entweder zum Guten schon ausgebildet oder dieser Ausbildung vorzüglich empfänglich ist" (KU, Β 170), bzw. „die ihr sittliches Gefühl kultiviert haben" 33 Das Interesse stellt sich anhand von Naturschönheiten durch den Gedanken ein, daß die Natur die betreffende Schönheit hervorgebracht hat (vgl. KU, Β 167).

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(KU, Β 168), was sicherlich nicht zufällig an die für das Erhabene erforderliche (Gefühls-) Kultur erinnert. Gleichwohl darf es - wie im Erhabenen - den anderen zugemutet werden, die sonst kein „Gefühl" haben (KU, Β 173), was an den Mangel an „Gefühl" erinnert, von dem anläßlich eines Fehlurteils über das Erhabene die Rede war, während ein Fehlurteil über das Schöne nur auf einen Mangel an Geschmack schließen ließ (vgl. KU, Β 112). Drittens wird das Interesse an der Schönheit auf die Natur eingeschränkt (vgl. KU, Β 167f.; Β 171ff.) - wie im Erhabenen. Viertens sieht deijenige, der das unmittelbare Interesse an der Natur nimmt, davon ab, „daß ihm dadurch « I i . die Natur, C.P.> einiger Schaden geschähe" (KU, Β 166) - ein Gedanke, der auf der Basis der „Analytik des Schönen" völlig unvermittelt erscheint und nur mit Blick auf die „Analytik des Erhabenen" Sinn hat. Fünftens bietet das Interesse an den Naturschönheiten dem Betrachter „Wollust für seinen Geist", die er „in einem Gedankengange , den er sich nie völlig entwickeln kann" (KU, Β 168). Das heißt vordergründig, daß man Schönheit nie auf Begriffe bringen kann; hintergründig deckt es sich mit der Unendlichkeit der Reflexion über einen .erhabenen Gegenstand' 34 . Außerdem erinnert die Formulierung der „Wollust" für den „Geist" an das „Geistesgefühl" des Erhabenen. Wie Kant kurz zuvor ausgeführt hatte, begleitet beim Interesse an der Naturschönheit ein „Gedanke" Anschauung und Reflexion (KU, Β 167), was viel eher der geistigeren, mit Vernunft geführten Reflexion des Erhabenen entspricht - das ja nur Lust ist, wenn man schon die Idee ,in Gedanken' hat - als der reinen Lust an der Harmonie von Einbildungskraft und Verstand im Schönen. Mit Blick auf das Erhabene ist es dann auch nicht mehr verwunderlich, daß wir denjenigen, der ein Interesse an der Naturschönheit nimmt, „mit Hochachtung betrachten" (KU, Β 168). Und sechstens schließlich weist Kant selbst darauf hin, daß die „Zweckmäßigkeit ohne Zweck" im Schönen uns darauf bringt, nach dem Zweck zu fragen, „welchen letzteren, da wir ihn äußerlich nirgend antreffen, wir natürlicherweise in uns selbst, und zwar in demjenigen, was den letzten Zweck unsereres Daseins ausmacht, nämlich der moralischen Bestimmung, suchen" (KU, Β 170f.).

Kant verweist hier zwar auf die Teleologie (vgl. KU, Β 171), aber man erinnert sich, daß der .Beweis' unserer moralischen Bestimmung ,in uns' eigentlich bereits im Erhabenen geführt oder zumindest in ihm vorbereitet worden ist35.

2.3.2. Das Genie Einen zweiten Anlauf zum Übergang unternimmt Kant in §49, in dem er „Von den Vermögen des Gemüts, welche das Genie ausmachen", handelt. Hier geht es vorrangig um Kunst und nicht um Natur.

34 Vgl. z.B. Peter Heintels Vermutung, daß es sich beim Erhabenen um die „Selbstdarstellung der reflektierenden Urteilskraft" handle, „die in ihrer rastlosen Bewegung nicht zur Ruhe kommt" (Peter Heintel, Die Bedeutung der Kritik..., a.a.O., 95f.). - Die von Kant erst später erörterte „ästhetische Idee" ließe sich ebenfalls hier anschließen. 35 Dies scheint mir eine Stelle zu sein, die darauf hinweist, daß die Analyse des Schönen über das Erhabene mit der Teleologie verbunden ist und daß die Kritik der Urteilskraft als solche in ihrer scheinbar unzusammenhängenden .Form' einen großen „Übergang" in sich ausmacht, bei dem das Erhabene im Zentrum steht.

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Aber auch hier besteht der Hauptgedanke darin, daß zum bloßen Geschmack noch etwas hinzukommen müsse. In §42 war es ein „Gedanke"; hier ist es der „Geist" (KU, Β 192). Kants Gedankengang verläuft folgendermaßen: „Man sagt von gewissen Produkten, von welchen man erwartet, daß sie sich, zum Teil wenigstens, als schöne Kunst zeigen sollten: sie sind ohne Geist-, ob man gleich an ihnen, was den Geschmack betrifft, nichts zu tadeln findet. Geist, in ästhetischer Bedeutung, heißt das belebende Prinzip im Gemüte" (ebd.).

Und dieses Prinzip ist „nichts anderes als das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen" (ebd.).

Eine ästhetische Idee wiederum, ist eine „Vorstellung der Einbildungskraft die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann" (KU, Β 192f.).

Die Einbildungskraft „als produktives Erkenntnisvermögen" ist dabei „sehr mächtig" in der Schaffung einer „anderen Natur aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt", und es entsteht etwas, „was die Natur übertrifft" (KU, Β 193). Die ästhetischen Ideen streben also über die Erfahrungsgrenze hinaus und suchen „so einer Darstellung der Vernunftbegriffe nahe zu kommen", deren „Gegenstück (Pendant)" sie sind (KU, Β 193f.). Kants sonstiger Vorstellung von Kunst entsprechend (der immer ein Begriff zugrunde liegt), wird von einem Begriff ausgegangen, der durch die Vorstellungen der Einbildungskraft allerdings „auf unbegrenzte Art ästhetisch erweitert" wird, so daß der Begriff überschritten und die Vernunft angeregt wird (KU, Β 194), was einem Übergang vom Begriff zur Idee gleichkommt. Es gilt, „zu einem gegebenen Begriffe Ideen aufzufinden und andererseits zu diesen den Ausdruck zu treffen" (KU, Β 198). Das „erfordert ein Vermögen, das schnell vorübergehende Spiel der Einbildungskraft aufzufassen und in einen Begriff zu vereinigen" (KU, Β 198f.) (der natürlich kein Verstandesbegriff mehr, sondern der angeregte Vernunftbegriff ist). Das Ganze erfolgt „ohne Zwang der Regeln" (KU, Β 198). Die Einbildungskraft ist frei und dient doch zur Darstellung eines gegebenen (Vemunft-)Begriffes (vgl. KU, Β 199). Auf diese Weise dient die ästhetische Idee einer Vernunftidee „statt logischer Darstellung", „eigentlich aber um das Gemüt zu beleben, indem sie ihm die Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen öffnet" (KU, Β 195).

Soweit Kants Genie-Konzeption. - Obwohl Kant hier wiederholt von „schöner Kunst" spricht (z.B. KU, Β 201), müßte er eigentlich .erhabene Kunst' sagen. Warum? Vordergründig ist schon mehr als auffällig, daß Kant in diesem Paragraphen ständig vom Erhabenen spricht. Das geschieht zwar vollkommen unsystematisch und anscheinend bloß dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend, gleichwohl lohnt es die Mühe, die betreffenden Stellen näher anzusehen. Die „Erhabenheit" der Schöpfung (KU, Β 195) könnte man vielleicht in der Tat als bloß sprachlichen Usus abtun (ein Usus, der z.B. auch in der Kritik der reinen Vernunft begegnet). Deutlicher ist schon die Stelle, an der es um die praktische Ausführung einer ästhetischen Idee durch den Dichter geht und Kants Fußnote lautet: „Vielleicht ist nie etwas Erhabeneres gesagt oder ein Gedanke erhabener ausgedrückt worden, als in jener Aufschrift über dem Tempel der Isis (der Mutter Natur): ,Ich bin alles, was da ist, was da war, und das was sein wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt.' Segner benutzte diese Idee durch eine sinnreiche, seiner Naturlehre vorgesetzte Vignette, um seinen Lehrling, den er in diesen Tempel zu führen

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bereit war, vorher mit dem heiligen Schauer zu erfüllen, der das Gemüt zu feierlicher Aufmerksamkeit stimmen soll."36

Sehr aufschlußreich und noch weiter von der beiläufigen Verwendung des Wortes „erhaben" aus bloß sprachlichem Usus wegführend, scheint mir die folgende Passage über Friedrich den Zweiten zu sein (die der eben zitierten Fußnote direkt vorangeht): So belebt „der große König seine Vemunftidee von weltbürgerlicher Gesinnung noch am Ende seines Lebens durch ein Attribut, welches die Einbildungskraft jener Vorstellung beigesellt, und welches eine Menge von Empfindungen und Nebenvorstellungen rege macht, für die sich kein Ausdruck findet Andererseits kann sogar ein intellektueller Begriff umgekehrt zum Attribut einer Vorstellung der Sinne dienen und so diese letztem durch die Idee des Übersinnlichen beleben; aber nur indem das ästhetische, welches dem Bewußtsein des letzteren subjektiv anhängig ist, hierzu gebraucht wird. Das Bewußtsein der Tugend, wenn man sich auch nur in Gedanken in die Stelle eines Tugendhaften versetzt, verbreitet im Gemüte eine Menge erhabener und beruhigender Gefühle und eine grenzenlose Aussicht in eine frohe Zukunft, die kein Ausdruck, welcher einem bestimmten Begriffe angemessen ist, völlig erreicht" (KU, Β 196f.).

Hier haben wir nicht nur den Bezug zur Tugend, also zur Moral unter ausdrücklicher Nennung des Erhabenen, sondern vor allem jene Vorstellung, daß auch die übersinnliche Idee als Attribut verwendet werden kann, solange sie ästhetisch gebraucht wird. Auf die „Menge von Empfindungen und Nebenvorstellungen" werde ich gleich noch zurückkommen. Sehen wir uns zunächst die weniger expliziten Verbindungen zum Erhabenen in diesem Paragraphen an. Auch sie sind unübersehbar. So liegt es mehr als nahe, den für die geniale Kunst erforderlichen „Geist" mit dem „Geistesgefühl" des Erhabenen in Verbindung zu bringen. Nicht die schöne Kunst (die allein durch Geschmack beurteilt werden kann), ist genial, sondern nur die .erhabene Kunst'37. Des weiteren scheint Kant sich in diesem Paragraphen zwar terminologisch im Schönen zu bewegen, wenn er z.B. den belebenden Charakter des Geistes so beschreibt, daß dieser „die Gemütskräfte zweckmäßig in Schwung versetzt, d.i. in ein solches Spiel, welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt" (KU, Β 192). Trotzdem muß man unwillkürlich an die noch stärkere Belebung durch das Erhabene denken, denn mit dem belebenden Geist kommt die Vernunft ins Spiel. Es ist die Vernunft, die durch die geniale Kunst angeregt wird - wie im Erhabenen. Das Schöne wird in der „Analytik" zwar als Spiel der Vermögen beschrieben, das sich selbst erhält (vgl. KU, Β 33; Β 37), ist im Gegensatz zum Erhabenen aber vergleichsweise ruhig. Eine weitere Veränderung des Naturschönen aus der „Analytik" im Kunstschönen besteht darin, daß dieses Kunstschöne von Kant - zumindest anläßlich des Genies - unter produktionsästhetischen Gesichtspunkten betrachtet wird, während das Schöne in der „Analytik" rein rezeptionsästhetisch beschrieben wurde38. Auch diese Veränderung ist dem 36 KU, Β 197, Anm. Auch die eindeutig theologische Konnotation des Erhabenen ist Usus zu Kants Zeiten. Sie tendiert in die Richtung dessen, was ich das Metaphysisch-Erhabene nenne. 37 Auch wenn das allem, was Kant vorher über die Eingeschränktheit des Erhabenen auf die Natur gesagt hat, zu widersprechen scheint: Es ist sehr wohl eine erhabene Kunst denkbar - nur sieht die anders aus, als die romantische. - Ähnlich wie das Hinzukommen von Geist ist für die geniale Kunst das Hinzukommen von Kultur, das wir schon beim letzten Übergangsversuch beobachtet hatten, charakteristisch (und mit Blick auf das Erhabene verräterrisch), wenn Kant z.B. schreibt, daß sich die .schöne Kunst' hier aus Lust und aus Kultur zusammensetze (vgl. KU, Β 214). 38 Kant selbst weist auf diesen Unterschied hin: „Zur Beurteilung schöner Gegenstände, als solcher, wird Ge-

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Erhabenen näher als dem Schönen der „Analytik". Denn in der Analytik des Erhabenen wurde deutlich, daß das Erhabene - obwohl Kant die Kunst ausdrücklich ausschließt paradoxerweise produktionsästhetisch offener ist als das Schöne: das gegebene, empfangene und .rezipierte' Objekt spielt eine geringere Rolle als im objektiveren Schönen; das Subjekt .produziert' das ganze Gefühl des Erhabenen ausschließlich aus sich heraus39. Auch die Vorstellung von einer ästhetischen Idee und deren Beschreibung übersteigt den Rahmen des (Natur)Schönen der „Analytik" bei weitem und konkordiert eher mit dem Erhabenen: Die Einbildungskraft ist darin „sehr mächtig"40. Sie schafft eine Art zweite Natur aus dem Stoff, den ihr die wirkliche Natur gibt, „nach Prinzipien, die höher hinauf in der Vernunft liegen" (KU, Β 193). Dabei wird die reale Natur übertroffen, und wir fühlen unsere Freiheit (vgl. ebd.) - der perfekte „Übergang", allerdings eher .erhaben' als schön. Es handelt sich zwar bei der erwähnten Freiheit noch nicht um die Freiheit, um die es im Erhabenen geht, sondern erst einmal nur um die Freiheit der Einbildungskraft, aber Kant kommt gleich darauf indirekt auf die Freiheit des Menschen zu sprechen, indem er von den Vernunftideen anfängt, deren Darstellung die Einbildungskraft mit den ästhetischen Ideen nahezukommen sucht, indem sie über die Erfahrungsgrenze hinaus nach ihnen strebt (vgl. ebd.) und ihnen „den Anschein objektiver Realität gibt" (KU, Β 194). Hier wird die Verwandtschaft zur Ästhetik des Erhabenen offensichtlich, ja man könnte sich die Genieproblematik geradezu als eine Art ästhetisches Mittelglied auf dem Weg in die Moralität oder als genauere Beschreibung der Tätigkeit der produktiven Einbildungskraft im Erhabenen, die nicht gleich in den Dienst der Moral gestellt wird, vorstellen. Der „Dichter wagt es, Vernunftideen zu versinnlichen; vermittelst einer Einbildungskraft, die dem Vernunft-Vorspiele in Erreichung eines Größten nacheifert, in einer Vollständigkeit sinnlich zu machen, für die sich in der Natur kein Beispiel findet" (KU, Β 194).

Hier wird fast wörtlich bis in die Einzelheiten auf die Analytik des Erhabenen Bezug genommen, denn bis zu ihrem Scheitern ist die Einbildungskraft im Erhabenen ja besonders produktiv: Hier produziert sie eine solche „Mannigfaltigkeit an Teil Vorstellungen", daß sich „zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzudenken läßt, dessen Gefühl die Erkenntnisvermögen belebt" (KU, Β 197). Sie kommt mit so viel „Nebenvorstellungen" daher, daß eine unendliche Kette, ein „unabsehliches Feld" von „verwandten Vorstellungen" eröffnet wird (KU, Β 195). Es ist diese Vorstellung von Mannigfaltigkeit, die mit dem (Mathematisch-)Erhabenen untrennbar verbunden ist, wie das folgende Zitat über die Dichtkunst zeigt, das fast wörtlich aus der „Analytik des Erhabenen" stammen könnte: „Sie erweitert das Gemüt dadurch, daß sie die Einbildungskraft in Freiheit setzt und innerhalb der Schranken eines gegebenen Begriffs unter der unbegrenzten Mannigfaltigkeit möglicher damit zusammenstimmender Formen diejenige darbietet, welche die Darstellung desselben mit einer Gedankenfülle verknüpft, der kein Sprachausdruck völlig adäquat ist, und sich also ästhetisch zu Ideen erhebt. Sie stärkt das Gemüt, indem sie es sein freies selbsttätiges und von der Naturbestimmung unabhängiges Vermögen fühlen läßt, die Natur, als Erscheischmack, zur schönen Kunst selber aber, d.i. zur Hervorbringung solcher Gegenstände, wird Genie erfordert" (KU, Β 187). 39 Es ist klar, daß hier ein Ansatzpunkt liegt, daß in Fragen der Kunst Schönes und Erhabenes bei Kant einhergehen. Es kommt jedoch wie gesagt auf den Blickwinkel an. 40 Vgl. eine entsprechende Formulierung anläßlich des Ideals der Schönheit in der „Analytik" (KU, Β 60), das von Kant jedoch nicht als rein ästhetisch betrachtet wird (vgl. KU. Β 61).

Das Genie

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nung, nach Ansichten zu betrachten und zu beurteilen, die sich nicht von selbst, weder für den Sinn noch den Verstand in der Erfahrung darbietet, und sie also zum Behuf und gleichsam zum Schema des Übersinnlichen zu gebrauchen. Sie spielt mit dem Schein, den sie nach Belieben bewirkt, ohne doch dadurch zu betrügen."41

Von Mannigfaltigkeit und Perspektivenwechsel bis zu Schema und Schein: Der Bezug zum Erhabenen scheint mir unübersehbar zu sein. Auch die Ambivalenz des Erhabenen hinsichtlich der Rollen von Einbildungskraft und Vernunft setzt sich fort: In beiden Fällen wird die Idee der Vernunft als bereits vorhanden vorausgesetzt und durch die Einbildungskraft gleichsam .aktiviert': dort durch ihre Produktivität bis hin zum Scheitern, hier durch die ästhetische Erweiterung eines Begriffs über die Grenzen der Erfahrung hinaus42. In der ästhetischen Idee versetzt einerseits die Einbildungskraft dem Gemüt einen Schwung (vgl. KU, Β 192; Β 194), andererseits wird diese aber selbst in Schwung versetzt, geht also über das für sie übliche Maß hinaus (vgl. KU, Β ] 95; Β 196). Es besteht sowohl die Möglichkeit, Vernunftbegriffe ästhetisch zu generieren - die Einbildungskraft „bringt das Vermögen intellektueller Ideen (die Vernunft) in Bewegung" (KU, Β 194) - , als auch die Möglichkeit, einen bereits vorhandenen Vernunftbegriff versuchsweise ästhetisch darzustellen, wobei die Sinnesvorstellung durch die Idee des Ubersinnlichen ästhetisch belebt wird (vgl. KU, Β 196f.). Diese Vermögenskonstellation wird - wie im Erhabenen - bloß aus der „Natur des Subjekts" hervorgebracht (KU, Β 200), wobei permanent gegen feststehende Regeln (also Begriffe) verstoßen wird und neue aufgestellt werden43. Aus dieser permanten Regelverletzung entsteht zwangsläufig eine „Mißgestalt", die im Prinzip zwar zu verurteilen und zu beseitigen, aber doch unvermeidbar und dem Genie erlaubt ist. Es ist sein „Verdienst", sich ihr kühn und mutig zu stellen (KU, Β 201). - Die Parallelen zur Unform im Erhabenen sind offenkundig44.

41 KU, Β 215. Die Bevorzugung der Dichtkunst, die ja schon mit der Bemerkung, daß die Dichter die Versinnlichung der Ideen wagen, anklang, ist geradezu ein Topos der Tradition des Erhabenen von .Longinus' bis Burke. Es ist daher auch nicht verwunderlich, daß Kant sich gleich darauf gegen die Rhetorik wendet (vgl. KU, Β 216f.>. Auch in der „Allgememen Anmerkung" waren wir den Dichtem ja schon anläßlich des Erhabenen begegnet (vgl. KU, Β 119). 42 An der Rede vom „Begriff" darf man sich dabei m.E. nicht stören. Sie ist in Kants Kunstverständnis begründet (s.o.). Ebenso verhält es sich mit der „Einheit der Darstellung" (KUK, Β 201). 43 Vgl. KU, Β 198f. Es ist diese Dialektik, an die Lyotards Analyse der (erhabenen) Avantgaidekunst anknüpft. 44 Der Unterschied seiner Geniekonzeption zur reinen schönen Kunst ist auch Kant nicht entgangen, und so unterscheidet er im folgenden §50 zwischen einer schönen und einer geistreichen (erhabenen) Kunst (vgl. KU, Β 202). In seinem Bemühen um Stabilität und seiner Furcht vor dem „Unsinn", den eine vollkommen gesetzlose Einbildungskraft produziert (vgl. KU, Β 203), macht er hier wieder einen Rückzieher bezüglich der vorher propagierten Freiheit des Genies. Im Falle eines „Widerstreites" zwischen einer schönen und einer geistreichen Kunst, d.h. zwischen Urteilskraft und Einbildungskraft als den jeweils zuständigen Vermögen, muß die produktive Einbildungskraft des Genies diszipliniert werden (vgl. ebd.). Dieses Bedürfnis nach Stabilität - nach dem „echte Geschmack", der „eine bestimmte unveränderliche Form" annimmt", wie es wenig später zum Abschluß der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft" heißt (KU, Β 264) - entspricht genau seiner Umgehensweise mit der herkömmlichen Metaphysik in der Kritik und seinem erneuten Hinübergleiten in eine Metaphysik traditionellen Zuschnitts.

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2.3.3. Das Schöne als Symbol des Sittlich-Guten Wenn Kant in seiner Genielehre betont, daß die ästhetische Idee der Vernunftidee „statt logischer Darstellung dient" (KU, Β 195), so ist damit bereits jener dritte und entscheidende „Übergang" angedeutet, der die „Kritik der ästhetischen Urteilskraft" insgesamt abschließt und die Autonomie der Schönheit (bzw. ihre Heautonomie) in bezug auf die Moralität am deutlichsten gefährdet: die Schönheit als Symbol des Sittlich-Guten45. Hier wird noch einmal offensichtlich, wie .erhaben' diese .Schönheit' im Grunde ist, und hier werden wir auch sehen, warum es Kants Systematik in gewisserWeise .rettet', dieses .Schöne' als .erhaben' zu betrachten. Im Paragraphen über die Schönheit als Symbol der Sittlichkeit geht es um die Darstellbarkeit von Vernunftideen (also um das zentrale Problem des Übergangs). Die Argumentation lautet wie folgt: Um die Realität von Begriffen darzutun, bedarf es korrespondierender Anschauungen. Diese Darstellung - von Kant auch „Hypotypose" oder „exhibitio" genannt (KU, Β 255) erfolgt bei den Verstandesbegriffen vollkommen unproblematisch durch das Schema; erhofft man sich aber „objektive Realität der Vernunftbegriffe, d.i. der Ideen, und zwar zum Behufe des theoretischen Erkenntisses derselben , so begehrt man Unmögliches, weil ihnen schlechterdings keine Anschauung angemessen gegeben werden kann" (KU, Β 254).

So weit so bekannt: Die Darlegung der Undarstellbarkeit von Vernunftideen ist das zentrale Motiv, mit dem in der Kritik der reinen Vernunft die traditionelle Metaphysik aus den Angeln gehoben wird. Und daraus entsteht ja für Kant gerade das Übergangsproblem. Nun gibt es aber, wie Kant ausführt, neben der schematischen „Versinnlichung" von Begriffen noch eine weitere: die symbolische, bei der „einem Begriffe, den nur die Vernunft denken, und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche untergelegt wird, mit welcher das Verfahren der Urteilskraft demjenigen, was sie im Schematisieren beobachtet, bloß analogisch ist, d.i. mit ihm bloß der Regel dieses Verfahrens, nicht der Anschauung selbst, mithin bloß der Form der Reflexion, nicht dem Inhalte nach übereinkommt" (KU, Β 255).

Im Gegensatz zur „direkte" schematischen Darstellung ist die symbolische indirekt (KU, Β 256). Sie subsumiert nicht unmittelbar eine Anschauung unter einen Begriff, wie es beim Schema der Fall und wofür nur bestimmende Urteilskraft erforderlich ist, sondern die Urteilskraft verrichtet hierbei „ein doppeltes Geschäft": Sie wendet erstens „den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung" an und dann „die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz anderen Gegenstand" (ebd.) - etwas später sagt Kant (genauer): „auf einen ganz anderen Begriff" (KU, Β 257), dessen Symbol der erstere dann ist (vgl. KU, Β 256). Zwischen beiden Begriffen „ist zwar keine Ähnlichkeit, wohl aber zwischen der Regel, über beide und ihre Kausalität zu reflektieren" (KU, Β 256f.).

45 In Symbolisierung und ästhetischer Idee läßt sich der gleiche ,Sinnüberschuß' auf ästhetischer Seite und dessen Übertragung auf die Seite der Vernunft beobachten. Es ist daher nicht verwunderlich, daß z.B. die Romantiker im Anschluß an Kants Genielehre und an die Symbolisierung - in bezug auf das Erhabene eine symbolische Darstellung des Absoluten in der Kunst anstrebten.

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Durch die symbolische Darstellungsart gelingt es Kant also zwei ganz verschiedene und verschieden belassene (KU, Β 259) - Begriffe über die Art der Reflexion kritisch (da unterschiedlich belassen) miteinander in Verbindung zu bringen. Der Status der Analogie geht konform mit dem „regulativen Gebrauch der Ideen" aus der Kritik der reinen Vernunft: Nur in praktischer Hinsicht ist die Analogie .erlaubt'; in theoretischer Hinsicht verstattet sie keine Erkenntnis46. Das so herausgearbeitete Verfahren wird nun im folgenden von Kant auf das Verhältnis von Schönem und Moralischem angewendet: „Nun sage ich: das Schöne ist das Symbol des Sittlichguten" (KU, Β 258). Der Geschmack sieht auf „das Intelligible" hinaus, zu dem „unsere oberen Erkenntnisvermögen zusammenstimmen, ohne welches zwischen ihrer Natur, verglichen mit den Ansprüchen, die der Geschmack macht, lauter Widersprüche erwachsen würden" (ebd.). Kant hebt bei diesem „Übergang" also auf die Einheit der Vermögen im Intelligiblen ab, von der in der Zweiten Einleitung die Rede war. Die symbolische Darstellung gelingt nur, wenn die Urteilskraft autonom ist, d.h. sich selbst das Gesetz gibt (vgl. ebd.) - analog zur Aufgabe der Vernunft bezüglich des Begehrungsvermögens. Diese Urteilskraft sieht sich nun, „sowohl wegen dieser inneren Möglichkeit im Subjekte, als wegen der äußeren Möglichkeit einer damit übereinstimmenden Natur, auf etwas im Subjekte selbst und außer ihm, was nicht Natur, auch nicht Freiheit, doch aber mit dem Grunde der letzteren, nämlich dem Übersinnlichen, verknüpft ist, bezogen, in welchem das theoretische Vermögen mit dem praktischen auf gemeinschaftliche und unbekannte Art zur Einheit verbunden wird" (KU, Β 258f.).

Hiermit hat Kant alles, was er für den Übergang braucht, aber die hier vorgenommene Analogie hat ihren Preis: Kant beläßt die Verbindung von Theoretischem und Praktischem nicht so „unbekannt", das Übersinnliche nicht so unbestimmt, wie er es belassen müßte, um die Autonomie des Schönen gegenüber dem Moralischen zu gewährleisten, sondern er .besetzt' es mit der praktischen Vernunft, also moralisch. In dieser Passage über das Verhältnis vom Schönen und Sittlichguten wird deutlich, wie moralisch das Schöne bei Kant letztlich konnotiert ist: Der Geschmack gibt seine Autonomie und seinen Aprioristatus auf, denn „nur" als Symbol des Sittlichguten gefällt das Schöne „mit einem Ansprüche auf jedes anderen Beistimmung" (KU, Β 258). Die Allgemeingültigkeit, die für den .transzendentalen Wert' des Schönen entscheidend ist, wird nur durch die Moral gewährleistet, was allem widerspricht, was Kant in der „Analytik des Schönen" gesagt hatte, als er bemüht war, das Schöne vom Moralischen abzutrennen47. Trotz aller Differenzierungsversuche von Seiten Kants (wenn er im folgenden die Parallelen und Unterschiede des schönen und des moralischen Urteils beschreibt, vgl. KU, Β 259f.), verliert die Schönheit bei diesem Übergang ihre Autonomie und kann deshalb auch als Übergang nichts taugen. Die Schönheit ist kein eigenständiges Bindeglied mehr; sie ist lediglich „Versinnlichung sittlicher Ideen" (KU, Β 263). Nicht die Schönheit fördert die Moralität, wie später in der „Kritik der teleologischen Urteilskraft" deutlich wird, sondern die Moral die Schönheit: erst das moralische Interesse macht auf die Schönheit der Natur aufmerksam (vgl. KU, Β 439). 46 Vgl. KU, Β 257. Auch hier ein Hinweis darauf, daß die reflektierende Urteilskraft dem regulativen Gebrauch der Ideen in der ersten Kritik entspricht. 47 Der Gemeinsinn als „idealische Norm" bzw. Idee (KU, Β 67) wird nun eindeutig moralisiert; die enigmatische Bemerkung Kants in der Analytik, ob ihm nicht „ein noch höheres Prinzip der Vernunft" zugrunde

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Doch vielleicht läßt sich die Autonomie der Ästhetik und der „Übergang" doch noch retten, und zwar nicht durch das Schöne, das hier in den Dienst der Moral gestellt wird, sondern durch das Erhabene, das schon intern immer mit der Moral verbunden ist, ohne seine Ästhetizität zu verlieren. Es könnte sein, daß die „indirekte" symbolische Darstellung mehr mit der „negativen Darstellung" und der negativen, gleichsam indirekten Lust am Erhabenen zu tun hat als mit der unmittelbaren Lust am Schönen, daß also nicht das Schöne, sondern das Erhabene Symbol des Sittlichguten ist. Diese Vermutung liegt auf der Hand: denn im Erhabenen findet immer schon die „Übertragung" (KU, Β 257) statt, die die Symbolisierung ausmacht - man denke etwa an die „Subreption". Naturphänomene werden als Anlaß und (unzureichendes) Beispiel für die Freiheit des Menschen genommen. Wenn wir uns an die „Analytik" zurückerinnern, war das Schöne lediglich Darstellung unbestimmter Verstandesbegriffe, das Erhabene aber diejenige Darstellung unbestimmter Vernunftbegriffe, auf die es hier ankommt. Auch im Text lassen sich an den entscheidenden Stellen dafür Hinweise finden. Wenn das .Schöne' als Symbol des Sittlichguten angesehen wird, erfreut sich das Gemüt „einer Veredlung und Erhebung über die bloße Empfänglichkeit einer Lust durch Sinnendrücke" und wird sich dessen „bewußt" (KU, Β 258). Was von Kant sicherlich nur als Abgrenzung des Schönen von den bloßen Sinnenreizen gedacht ist, erscheint ganz anders, wenn man es mit Blick auf das Erhabene liest: Das Schöne wird durch das Sittlichgute gleichsam zum Erhabenen erhoben48. Das Erhabene, nicht das Schöne ist das Gefühl, das sich über die Sinnlichkeit erhebt und auf das Intelligible hinaussieht. Das Erhabene zeugt davon, wie die „Widersprüche" behoben (nicht aufgehoben) werden, die sich zwischen den Vermögen (zwangsläufig) ergeben. Die vier Punkte, die Kant zufolge die Analogie zwischen dem Schönen und dem Sittlichguten belegen sollen, lassen sich ohne weiteres mit dem Erhabenen vereinbaren - sogar besser als mit dem Schönen: Gleich der erste Punkt, daß das Schöne in der reflektierenden Anschauung gefalle, das Sittliche dagegen im Begriff (vgl. KU, Β 259), erscheint mir, zumindest was die Analogie des Schönen mit dem Sittlichen betrifft, problematisch, führt Kant doch in der Kritik der praktischen Vernunft und in der Metaphysik der Sitten lange aus, wie .schmerzhaft' das sittliche Wohlgefallen - die Achtung - ist. Auch in der Kritik der Urteilskraft, und zwar gerade in der „Analytik des Schönen", wo er das Schöne von der (moralischen) Vollkommenheit abzusetzen sucht, läßt er nicht unerwähnt, wie „mühsam" die Realisierung des Guten ist49. Von einem dem Schönen vergleichbaren Wohlgefallen kann also in der Moralität nicht die Rede sein, wohingegen wir gesehen hatten, daß Erhabenes und Achtung zwar nicht identisch, aber doch verwandt sind. Der zweite Punkt, daß das Schöne ohne Interesse gefällt (vgl. KU, Β 259), gilt auch für das Erhabene. Im dritten Punkt ist die Analogie bei Kant sehr vage. Sie beruht letztlich nur darauf, daß (ganz unterschiedliche) Freiheit(en) mit (ganz unterschiedlichen) Gesetzmäßigkeit(en) liege (ebd.), erfährt ihre Auflösung: es ist das Prinzip der praktischen Vernunft. 48 Schon in der „Allgemeinen Anmerkung" war deutlich geworden, wieviel „edler" als das Schöne das Erhabene ist (vgl. KU, Β 122 und 122f.). 49 KU, Β 51. Außerdem betont Kant an mehreren Stellen gerade umgekehrt, daß die Lust am Schönen die Empfänglichkeit für Moral verbessert, weil die so mühsam ist (vgl. z.B. KU, Β LVII).

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übereinstimmen: im Schönen die Freiheit der Einbildungskraft mit dem Verstand, im Moralischen die Freiheit des Willens mit sich selbst (vgl. ebd.). Darunter könnte auch die Übereinstimmung durch Nichtübereinstimmung der in ihrer Freiheit unbegrenzten, aber unzureichenden Einbildungskraft mit der Freiheit des Menschen im Erhabenen fallen. Sie ist der moralischen Willensfreiheit sogar näher. Der vierte Punkt, daß beide allgemein gültig sind - das Schöne ohne, das Sittliche mit Begriffen (vgl. ebd.) - , erfährt an anderer Stelle zwei entscheidende Zusätze: Erstens hatte Kant, wie oben erwähnt, kurz zuvor die Allgemeingültigkeit des Schönen eindeutig auf die Moral zurückgeführt, und zweitens wird dieser Gedanke näher ausgeführt in der „Methodenlehre des Geschmacks" (§60), wo von der „Kultur der Gemütskräfte" als „Propädeutik zu aller schönen Kunst" die Rede ist (KU, Β 262). Die Entwicklung der Kultur zeugt von den „großen Schwierigkeiten" und von der „schwere Aufgabe, Freiheit mit dem Zwange zu vereinigen", und zwar mit dem Zwange „mehr der Achtung und Unterwerfung aus Pflicht als Furcht" (KU, Β 262f.). Auch diese Konstruktion erinnert an das Erhabene, das einerseits Kultur bedurfte und andererseits keine Furcht zuließ. Das „Mittel" zwischen Kultur und Natur müsse, wie Kant betont, erst erfunden und langsam entwickelt werden (KU, Β 263). Dafür brauche es „Beispiele" aus der Natur (ebd.). Und obwohl Kant hier eher von den .harmonischeren' Naturphänomenen zu sprechen meint, wären doch die .erhabenen Naturphänomene' ein viel besserer Beleg für seine Kulturtheorie, weil das Gefallen an ihnen von viel größerer Kultur im Gemüt des Betrachters zeugt als das Gefallen am Schönen (und eine solche explizit fördert). Wenn Kant im folgenden sein Verdikt, daß das Schöne nur dank der Moral allgemein gültig sei, abschwächt, und nur von der „größeren Empfänglichkeit" für das Gefühl des Schönen spricht (ebd.), wenn Moral oder eine „Kultur des moralischen Gefühls" vorhanden ist (KU, Β 264), dann finden wir wörtlich die in der „Analytik des Erhabenen" verwendeten Termini wieder. Das ästhetische Urteil bleibt beim Übergang nur ästhetisch, wenn man es als .erhaben', nicht aber, wenn man es als schön vorstellt, denn nur beim Erhabenen erfolgt die Moralisierung nicht nachträglich, sondern intern (ohne daß das Erhabene seine Ästhetizität verliert). Das Schöne mag zwar gewissermaßen ein Übergang zwischen dem Empirischen und dem Moralischen, zwischen dem „Sinnenreiz" und dem „habituellen moralischen Interesse ohne einen zu gewaltsamen Sprung" sein und möglich machen (vgl. KU, Β 260) (ein Übergang, den Kant vorher noch „zweideutig" genannt hatte, KU, Β 165), aber das gelingt ihm nur, indem es entweder seine Ästhetizität und damit seine Autonomie verliert oder indem es sich dem Erhabenen annähert. Es mag zwar ebenfalls sein, daß das uns das Schöne „lehrt", „sogar an Gegenständen der Sinne auch ohne Sinnenreiz ein freies Wohlgefallen finden"50, was für den Übergang erforderlich ist, in noch größerem Maße tut dies aber das Erhabene. Es mag zwar des weiteren sein, „daß die wahre Propädeutik zur Gründung des Geschmacks die Entwicklung sittlicher Ideen und die Kultur des moralischen Gefühls 50 KU, Β 260; vgl. Β 395: „Schöne Kunst und Wissenschaften, die durch eine Lust, die sich allgemein mitteilen läßt, und durch Geschliffenheit und Verfeinerung für die Gesellschaft, wenngleich den Menschen nicht sittlich besser, doch gesittet machen, gewinnen der Tyrannei des Sinnenhanges sehr viel ab und bereiten dadurch den Menschen zu einer Herrschaft vor, in welcher die Vernunft allgemein Gewalt haben soll; indes die Übel, womit uns teils die Natur, teils die unvertragsame Sehnsucht der Menschen heimsucht, zugleich die Kräfte der Seele aufbieten, steigern und stählen, um jenen nicht unterzuliegen, und uns so eine Tauglichkeit zu höheren Zwecken, die in uns verborgen liegt, fühlen zu lassen." Auch diese Beschreibung scheint mir eher auf das Erhabene als auf das Schöne zuzutreffen.

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sei", wie Kant zum Abschluß der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft" in der „Methodenlehre des Geschmacks" ausführt, aber dafür ist erforderlich, daß „die Sinnlichkeit in Einstimmung gebracht wird" (KU, Β 264) - und das ist im Erhabenen in weitaus größerem Maße der Fall als im Schönen.

2.4. Die Teleologie und das Erhabene Entsprechend meiner These von der eminenten Bedeutung des Erhabenen für die Kritik der Urteilskraft wird im folgenden Abschnitt zu untersuchen sein, welche Rolle das Erhabene in deren zweitem Teil, also in der „Kritik der teleologischen Urteilskraft" spielt, und zwar insbesondere im Hinblick auf die beiden Aufgaben der dritten Kritik, also auf die dem Systemgedanken zugrunde liegende Spezifikationsaufgabe und den „Übergang". Ich bin mir über die Problematik im klaren, die es bedeutet, wenn hier nun ästhetische Prinzipien mit teleologischen Fragen verbunden werden sollen. Aufgrund von Kants Systematisierungsabsicht bestehen jedoch durchaus Verbindungen zwischem Schönem und Teleologischem51. Die Verbindung des teleologischen Urteils als Ausdruck „objektiver Zweckmäßigkeit" mit dem extrem subjektiven Erhabenen mag dagegen willkürlich anmuten. Dennoch erscheint es mir lohnend und gerechtfertigt, die Teleologie auf ihre erhabenen Züge hin zu untersuchen. Denn wenn die Teleologie letztlich den Aufweis des einheitlichen Systems der Erfahrung auf sich nimmt, das Erhabene und seine „höhere Zweckmäßigkeit" aber dem Gedanken des einheitlichen Systems der Erfahrung zugrunde liegt, dann müßten sich davon auch Spuren in der Teleologie finden lassen. Betrachtet man die „Kritik der teleologischen Urteilskraft" nun tatsächlich mit Blick auf das Erhabene, so kommt man zu erstaunlichen Parallelen. Diese sind versteckter als beim Schönen, das ja durch seinen ästhetischen Charakter dem Erhabenen per se näher ist als das Teleologische. Es scheint mir außer Frage zu stehen, daß die Möglichkeit, die Mannigfaltigkeit der empirischen Naturgesetze als zu einem System gehörig zu denken, entgegen Kants ursprünglicher Ankündigung erst in der „Kritik der teleologischen Urteilskraft" eigentlich untersucht wird. So heißt es z.B. anläßlich der Antinomie des teleologischen Urteils: „...was die besonderen Gesetze betrifft, die uns nur durch Erfahrung kund werden können, so kann unter ihnen eine so große Mannigfaltigkeit und Ungleichartigkeit sein, daß die Urteilskraft sich selber zum Prinzip dienen muß, um auch nur in den Erscheinungen der Natur nach einem Gesetze zu forschen und es auszuspähen, indem sie ein solches zum Leitfaden bedarf, wenn sie ein zusammenhängendes Erfahrungserkenntnis nach einer durchgängigen Gesetzmäßigkeit der Natur, die Einheit derselben nach empirischen Gesetzen, auch nur hoffen soll."52

Überdies werden hier Verstand und Vernunft durch die reflektierende Urteilskraft in ein Verhältnis gesetzt, was der eingangs formulierten ,Übergangsaufgabe' entspricht, so daß 51 So macht etwa Kaulbach das System der Erfahrung im Schönen so stark, daß er die Ästhetik im Prinzip nicht mehr von der Teleologie unterscheidet. 52 KU, Β 313; vgl. entsprechend, KU, Β 344. In diesem Sinne betont z.B. Lehmann in seiner Einführung zur Ersten Einleitung, insbesondere mit Blick auf Kants Opus postumum, daß es das teleologische Urteil sei, das den eigentlichen Systemgedanken hervorbringe (vgl. EE, XXI der Meiner-Ausgabe).

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hier beide Aufgaben der dritten Kritik zusammengeführt werden könnten. Da die reflektierende Urteilskraft jedoch hier nicht nach einem Prinzip a priori arbeitet, wie in der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft", sondern immer nur empirisch ist, muß die Übergangsaufgabe, die auf tranzendentalem Niveau gelöst werden soll, in den Hintergrund treten. Dem Systemgedanken tut die Empirizität keinen Abbruch, im Gegenteil: Es soll ja gerade erwiesen werden, daß ein System der empirischen Naturgesetze denkbar ist53. Der Teleologiegedanke funktioniert, grob gesagt, so, daß der Natur in ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit vom Menschen als „Endzweck" der Schöpfung aus heuristischen Gründen (vgl. KU, Β 355) ein Naturzweck unterlegt wird, der erlaubt, die Natur als Künstlerin zu betrachten54, die sich nach einer Technik spezifiziert, als ob ein (höherer, für den Menschen unfaßbarer) Verstand sie leite, und daher trotz ihrer scheinbaren Mannigfaltigkeit vom Menschen - analog zu seinem eigenen Verstand und seiner eigenen Vernunft und ihren Zwecken - als ein einheitliches System gedacht werden kann. Das auf diese Weise der Natur - neben dem bloßen Mechanismus, den die Kritik der reinen Vernunft gestattet - unterlegte Prinzip ist zwar eigentlich nur subjektiv, wird aber behandelt, als ob es objektiv wäre55. Es ist nicht notwendig, sondern zufällig (vgl. KU, Β 285f.), der der Natur unterlegte Zweck führt zur „zufälligen Einheit der besonderen Gesetze"56. Zur bloßen „Zweckmäßigkeit" kommt in der Teleologie also noch der „Zweck" hinzu, um den Systemgedanken möglich zu machen. Von daher unterscheidet sich das teleologische Urteil entscheidend vom ästhetischen, denn mit dem Zweck ist in diesem Urteil im Gegensatz zum ästhetischen Urteil ein Begriff involviert. Was kann das teleologische Urteil also noch mit dem Erhabenen zu tun haben? Ich behaupte: ebenso wie das Erhabene in den .schönen Übergängen' intervenierte, liegt es dem teleologischen Systemgedanken zugrunde, der ohne es nicht möglich wäre. In beiden Fällen geht es letztlich darum zu erklären, wie und warum die Vernunft plötzlich auf den Plan tritt. Und in beiden Fällen scheint mir die jeweils zu gebene Erklärung erst durch den .Auftritt' der Vernunft im Erhabenen plausibel. Sehen wir uns daher Kants Beschreibung des teleologischen Urteils mit Blick auf das Erhabene näher an.

53 Die „Kritik der ästhetischen Urteilskraft" erscheint aus dieser Perspektive als notwendiger Umweg, den Kant machen muß, um den Status der Urteilskraft als eines der drei oberen Erkenntnisvermögen und als Vermögen des „Übergangs" zu erweisen. Das Schöne, in dem dies geschieht und das in Kants Augen eine Stimmung zur „Erkenntnis überhaupt" verrät, und so natürlich auch den Systemgedanken fördert (wie z.B. Kaulbach herausarbeitet), ist dabei allerdings fast ebenso abstrakt wie der Verstand der ersten Kritik, der mit der konkreten empirischen Mannigfaltigkeit nichts anfangen kann, wobei aufgrund des subjektiven Gefühlscharakters des Schönen von Naturgesetzen ohnehin nicht die Rede sein kann, so daß es der „Kritik der teleologischen Urteilskraft" überlassen bleibt, das einheitliche System der empirischen Naturgesetze .konkret', wenn ich so sagen darf, zu erweisen. 54 Worin natürlich eine Verbindung zum Geniegedanken liegt. Kunst wird definiert, als „Kausalität nach Ideen" (KU, Β 320). 55 Vgl. KU, Β 344; vgl. entsprechend Β 343f.; vgl. entsprechend Β 312 zum reflektierenden und von daher subjektiven Charakter der hier tätigen Urteilskraft. Insofern ist die Bezeichnung „objektive Zweckmäßigkeit", die in der Teleologie (im Gegensatz zur subjektiven Zweckmäßigkeit der Ästhetik) erwiesen wird, etwas unglücklich. In Cassirers Kommentar wird bereits deutlich, daß hier die Begriffe „subjektiv" und „objektiv" an ihre Grenze geraten (vgl. Cassirer, Kants Leben und Lehre, a.a.O., 376f.). 56 KU, Β 313f. Die Spezifikationsaufgabe und mit ihr das teleologische Urteil weist, wie gesagt, eine besonders große Nähe zum regulativen Vernunftgebrauch der Kritik der reinen Vernunft auf.

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Die Ausgangslage, wie sie auch schon in den Einleitungen beschrieben worden war, lautet wie folgt: „Zur Anwendung der allgemeinen Gesetze der materiellen Natur überhaupt, braucht die Urteilskraft kein besonderes Prinzip der Reflexion; denn da ist sie bestimmend, weil ihr ein objektives Prinzip durch den Verstand gegeben ist" (KU, Β 313).

Mit der großen „Mannigfaltigkeit und Ungleichartigkeit" der empirischen Naturgesetze kann der Verstand der ersten Kritik jedoch nichts anfangen, und hier unterlegt die reflektierende Urteilskraft, sich selbst zum Prinzip dienend, der Natur das teleologische Prinzip, um sie gleichsam auf den Zugriff des Verstandes vorzubereiten, weil dadurch die Mannigfaltigkeit .gebändigt' wird. Aus dem bloßen Mechanismus, der aus den Verstandeskategorien der ersten Kritik folgt, kann z.B. ein Organismus nicht erklärt werden (vgl. KU, Β 318), deshalb bedarf es eines anderen Prinzips, um dessen Erklärung zumindest zu stimulieren: das „System nach Zwecken", das der Natur unterlegt wird und seinen Höhepunkt in der Vorstellung des Menschen als „Endzwecks" der Schöpfung findet. Rein mechanisch würde sich nur eine unendliche Kette ergeben, aber keine Erklärung: „Damit also der Naturforscher nicht auf reinen Verlust arbeite, so muß er in der Beurteilung der Dinge, deren Begriff als Naturzwecke unbezweifelt gegründet ist (organisierter Wesen), immer irgendeine ursprüngliche Organisation zum Grunde legen, welche jenen Mechanism selbst benutzt, um andere organisierte Formen hervorzubringen" (KU, Β 367).

Wenn er dies nun bis zum „Mutterschoß der Erde", die „aus ihrem chaotischem Zustande herausging" (KU, Β 369), rückverfolgt, so muß er am Ende „dieser allgemeinen Mutter eine auf alle diese Geschöpfe zweckmäßig gestellte Organisation beilegen, widrigenfalls die Zweckform der Produkte des Tier- und Pflanzenreichs ihrer Möglichkeit nach gar nicht zu denken ist",

und damit hat er „den Erklärungsgrund nur weiter aufgeschoben"57. Rein mechanisch, d.h. ohne die Zuhilfenahme eines Systems der Zwecke ist die unendliche Spezifikation der Natur nicht zu erklären. Erst die Vorstellung von einem Naturzweck (auf der einen und vom „Endzweck" auf der anderen Seite) erlaubt jene Annahme einer „durchgängig zusammenhangende Verwandtschaft" (KU, Β 369) innerhalb der Natur, die vom Mechanismus zwar in Maßen erwiesen, aber nicht erklärt werden kann. Auch hier kommt wieder die (erhabene) Negativ-Positiv-Dialektik zum Tragen: Damit keine bloße Verlustrechnung aufgemacht werden muß, sondern doch noch eine .positive' Erfahrung möglich ist, wird zur mechanischen Betrachtungsweise etwas hinzugedacht: das teleologische Prinzip. In der teleologischen Betrachtungsweise schreiben wir der Natur eine Kausalität nach Zwecken zu, „dergleichen wir in uns antreffen" (KU, Β 270), um die Einheit, die real nirgends anzutreffen ist, zu gewährleisten. Der Natur wird also (heuristisch) ein Prinzip unterlegt, das der Mensch subjektiv in sich findet58. Das entspricht genau der Subreption, vor der Kant im Erhabenen einerseits gewarnt hat, sie andererseits aber selber vorgeführt hatte:

57 KU. Β 370. Kant nennt diese Vorstellung daher auch ein „gewagtes Abenteuer der Vernunft", das durch kein Beispiel in der Erfahrung belegt wird (ebd., Anm.). 58 Erst auf dieser Basis gelangt der Mensch zu Begriffen, „sollten diese auch Vemunftbegriffe sein" (KU, Β 312).

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nicht die Naturphänomene sind erhaben, sondern der Mensch, der sie betrachtet; gleichwohl nennen wir die erstenen erhaben59. Im teleologischen Urteil äußert sich dieser Vorgang als „Bewunderung"60: Mit Hilfe des teleologischen Urteils können wir so tun, „als ob" der Natur ein einheitliches Prinzip zugrunde läge, und wir bewundern sie dafür (vgl. KU, Β 274); gleichwohl liegt „der Grund der großen Bewunderung der Natur, nicht sowohl außer uns, als in unserer eigenen Vernunft"61. Wir können die Natur lieben „sowie ihrer Unermeßlichkeit wegen mit Achtung betrachten und uns selbst in dieser Betrachtung veredelt fühlen" (KU, Β 304f.). Deutlicher kann die Parallele vom Teleologischen und Erhabenen - das Kant selbst ebenfalls mit der Bewunderung in Verbindung bringt - nicht werden: die unermeßliche Natur ist erhaben (und wir achten sie), und die Bewunderung, mit der wir einer solchen Natur begegnen, ist eigentlich eine Bewunderung unserer selbst. Daß ich die Zweckmäßigkeit in die Naturgegenstände hineinlege, merke ich erst nach einem „kritischen Gebrauch der Vernunft". Unmittelbar gibt mir die „Beurteilung" eines Naturgegenstandes „nichts als Vereinigung heterogener Regeln (sogar nach dem, was sie Ungleichartiges an sich haben) in einem Prinzip an die Hand" {KU, Β 276). Daraus entsteht zuerst „Verwunderung" - „ein Anstoß des Gemüts an der Unvereinbarkeit einer Vorstellung und der durch sie gegebenen Regel mit den schon in ihm zum Grunde liegenden Prinzipien, welcher also einen Zweifel, ob man recht gesehen oder geurteilt habe, hervorbringt" (KU, Β 277),

die sich jedoch in „Bewunderung" - „eine immer wiederkommende Verwunderung" - verwandelt, „ungeachtet der Verschwindung dieses Zweifels" (ebd.). Auch hier ist die Parallele zum Erhabenen offensichtlich, insbesondere in bezug auf dessen zwei Phasen62. An diese beiden Phasen des Erhabenen erinnert auch die Bemerkung Kants, daß die Unregelmäßigkeit der Natur - also ihr Zustand ohne unterlegtes teleologisches Prinzip - „dem menschlichen Gemüte weit empörender sein muß als der blinde Zufall" (KU, Β 438) - erste Phase -, wohingegen 59 Entsprechend betont Kant in der Teleologie immer wieder das „Als ob" und den Umstand, daß es in der Teleologie um die Verbindung der Begriffe und - im Gegensatz zur Physik - nicht um die (objektive) Beschaffenheit der Dinge gehe (vgl. KU, Β 310). 60 Es stimmt also nicht, daß das teleologische Urteil nichts mit Gefühlen zu tun hat, wie noch die Einleitung (zumindest teilweise) behauptete. Kants Bemühen um Beweise und „kalte Vernunft" und seine Ablehnung von „Rührung und „Erhebung durch die Wunder der Natur", die man „zur Überredung rechnen" könnte (KU, Β 471), wird bereits hier unterlaufen. Natürlich verweist die Lust an der Harmonie scheinbar heterogener Gesetze erst einmal auf das Schöne; wir werden jedoch gleich sehen, daß die „Bewunderung", die diese Lust ist, eigentlich eher dem Erhabenen ähnelt. Die „Bewunderung" für die Natur im teleologischen Urteil erinnert übrigens an Formulierungen in den frühen naturwissenschaftlichen Schriften Kants, die von vielen Interpreten ebenfalls mit dem Erhabenen in Verbindung gebracht werden. 61 Ebd. Diese an Piaton exemplifizierte Bewunderung wird von Kant kritisiert, wenn sie „durch Mißverstand nach und nach bis zur Schwärmerei" steigt, aber selbst das ist „verzeihlich" (ebd.). So wie das Erhabene als Enthusiasmus immer an der Schwelle zur Schwärmerei steht, wenn es objektiv und positiv genommen wird, als eine Art Anfall, der dem „gesundesten Verstand" passieren kann, aber ebenso verzeihlich ist. 62 Die Lust an der Harmonie scheinbar heterogener Gesetze verweist also weniger auf das Schöne als auf das Erhabene. Und wenn Kant das .teleologische Gefühl ' im folgenden wie die Achtung „intellektuelles Wohlgefallen" nennt und es ausdrücklich von der Schönheit absetzt (vgl. KU, Β 278), so liegt hierin eine weitere Verwandtschaft mit dem „Geistesgefühl" des Erhabenen.

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„die Nachforschung der Natur in Beziehung auf den Endzweck dasjenige unmittelbare Interesse bekommt, welches sich in der Bewunderung derselben in so großem Maße zeigt"63.

Die zweite Phase, die Lust, die Bewunderung, entsteht nur, wenn man der Natur das teleologische Prinzip unterlegt. Diese Bewunderung ist eine „ganz natürliche Wirkung jener beobachteten Zweckmäßigkeit , die auch sofern nicht getadelt werden kann, indem die Vereinbarung jener Form der sinnlichen Anschauung mit dem Vermögen der Begriffe für das Gemüt erweiternd ist, noch etwas über jene sinnlichen Vorstellungen Hinausliegendes gleichsam zu ahnen" (KU, Β 277).

Und dieser Umstand „flößt für den Gegenstand, der uns dazu nötigt, zugleich Bewunderung ein" (ebd.). Welcher Gegenstand nötigt dazu mehr als ein .erhabener'? Dieser „Übergang" von der sinnlichen Welt zum Übersinnlichen durch einen Wink der Natur wird gestützt von der teleologischen Annahme eines Systems der Zwecke. Gewisse Naturprodukte können vom Menschen „nur nach dem Begriffe der Endursachen" und „als zu einem System der Zwecke gehörig" beurteilt werden, was uns „über die Sinnenwelt hinausführt"64. Der höchste Zweck, der „Endzweck" dieses Systems der Zwecke ist der Mensch65. Wir haben eben gesehen, daß nur in bezug auf diesen Endzweck die ganze teleologische Betrachtungsweise ihren Sinn bzw. ihr „Interesse" bekommt. Der Endzweck liegt der ganzen teleologischen Kette, dem System der Zwecke zugrunde. Wodurch ist nun dieser „Endzweck" so privilegiert? Durch die Moral (vgl. KU, Β 398) (daher auch der mögliche „Übergang"). Und wodurch entdeckt der Mensch seine höchste (moralische) Bestimmung? Durch das Erhabene, eher als durch das Schöne, wie wir gesehen hatten66. Die Entdeckung der höchsten Bestimmung des Menschen anläßlich von Naturphänomenen im Erhabenen bereitet den „Endzweck" gefühlsmäßig vor. Der dem teleologischen Urteil und seinem „System der Zwecke" zugrundeliegende „Endzweck", der eine bloß subjektive „Idee" ist 63 KU, Β 439. Vgl. die entsprechende Unlust-Lust-Polarität hinsichtlich der Spezifikationsaufgabe in der Zweiten Einleitung, wo es heißt, daß uns die Heterogenität der Naturgesetze „durchaus mißfallen" muß, während ihre „Vereinbarkeit Grund einer sehr merklichen Lust" ist (KU, Β XL). 64 KU, Β 304. Das teleologische Urteil bildet also einen veritablen Übergang. Vgl. entsprechend Β 320, wo Kant ausführt, daß es dem mechanischen Prinzip zu folgen gälte, „so weit als menschliche Kräfte reichen", und weiter: „Es ist also eine gewisse Ahnung unserer Vernunft oder ein von der Natur uns gleichsam gegebener Wink, daß wir vermittelst jenes Begriffs von Endursachen wohl gar über die Natur hinausgelangen und sie selbst an den höchsten Punkt in der Reihe der Ursachen knüpfen könnten, wenn wir die Nachforschung der Natur (ob wir gleich darin noch nicht weit gekommen sind) verließen oder wenigstens einige Zeit aussetzten und vorher, worauf jener Fremdling in der Naturwissenschaft, nämlich der Begriff der Naturzwecke, führe, zu erkunden versuchten." Auch hier scheinen mir die beiden Phasen des Erhabenen deutlich zu erkennen zu sein: Verharren in der Natur, so weit die menschlichen, und das heißt immer die endlichen Kräfte reichen, und wenn diese versagen, Perspektivenwechsel ins Übersinnliche. Eine Verbindung von Erhabenem und „Übergang" in bezug auf die Teleologie sieht auch Karl Neumann (Gegenständlichkeit und Existenzberechtigung des Schönen. Untersuchungen zu Kants .Kritikder Urteilskraft', Bonn 1973 [Kant-Studien, Erg.-H. 105], 43). 65 Und zwar nicht nur als höchstentwickelter Organismus, sondern gerade als vernunftbegabtes Wesen: Der Mensch ist das einzige Wesen auf der Erde, „welches sich einen Begriff von Zwecken machen und aus einem Aggregat von zweckmäßig gebildeten Dingen durch seine Vernunft ein System der Zwecke machen kann" (KU, Β 383); vgl. auch KU, Β 369. 66 So schreibt Kant anläßlich des intellektuellen Intereses am Schönen mit ausdrücklichem Hinweis auf die Teleologie, daß uns die „Zweckmäßigkeit ohne Zweck" dazu ermuntere, nach dem Zweck in uns zu suchen

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(KU, Β 429) und diesem System seinen .Wert' gibt67, ist in gewisser Weise erst durch das Erhabene denkbar. Diese Vermutung erhärtet sich, wenn man sich näher ansieht, wie Kant den Endzweck beschreibt, wobei wiederum die zwei Phasen des Erhabenen mit,NegativPositiv-Prägung' deutlich zu erkennen sind: Ohne die Vorstellung von einem Endzweck, also bloß mechanisch betrachtet, ist der Mensch ein ebenso empirisches Wesen wie die Tiere, Pflanzen usw. (vgl. KU, Β 384). Mehr noch: Die „mächtigen Verwüstungen" und die „wilde allgewaltige Kräfte einer im chaotischen Zustande arbeitenden Natur", die „teils feurige, teils wässerige Eruptionen oder auch Empörungen des Ozeans", aus denen die Weltordnung entstanden ist, scheinen sogar der Vorstellung des Menschen als einem Endzweck in der Erfahrung zu widersprechen (KU, Β 384ff.). Soweit die mechanische Betrachtungsweise, die gänzlich .negativ' ausfällt. Doch wie Kant im folgenden ausführt, kann neben diese mechanische Betrachtungsweise die organische Vorstellung von einem Endzweck treten (er verweist auf die „Auflösung der Antinomie der Prinzipien der mechanischen und der teleologischen Erzeugungsart der organischen Naturwesen", wo er das .Nebeneinander' beider Prinzipien erwiesen hatte, KU, Β 386f.), die doch noch eine .positive' Sicht der Dinge erlaubt. Denn der Mensch ist das einzige Naturwesen, an welchem wir ein übersinnliches Vermögen entdecken können, das ihn von den „Naturbedingungen unabhängig" macht (KU, Β 398) und ihn damit über sie und alle ihre „Verwüstungen" und „Empörungen" erhebt: „Sein Dasein hat den höchsten Zweck in sich, dem er die ganze Natur unterwerfen kann" (ebd.). In der mechanischen Betrachtungsweise finden wir die sinnliche Seite, in der teleologischen Betrachtungsweise die übersinnliche Seite des Erhabenen fast wörtlich widergespiegelt. Um den Menschen als „Endzweck" zu postulieren, muß Kant die sinnlich-mechanische Betrachtungsweise verlassen (weil die Erfahrung kein Beispiel von einem Endzweck gibt) und auf die teleologisch-übersinnliche Ebene überwechseln, und diese Struktur hat ihm das Erhabene gleichsam ermöglicht. Ein solcher „Übergang" bleibt allerdings ein ebenso schwankender Perspektivenwechsel auf der Basis eines irreduziblen Nebeneinander wie der im Erhabenen vorgeführte. Während die eben beschriebenen „Verwüstungen" etc. und ihre .Unterwerfung' durch den Endzweck eher an das Dynamisch-Erhabene erinnern68, liegt in der Spezifikationsaufgabe eher eine Verbindung zum Mathematisch-Erhabenen, und zwar durch die „Mannigfaltigkeit" der Natur und ihre .Bändigung'69, die deutlich gewaltloser ausfällt, wenn man so sagen kann, als die eben erwähnte .Unterwerfung' mit Blick auf das Dynamisch-Erhabene.

(vgl. KU, Β 170f.). Wir hatten erstens gesehen, wie sehr das intellektuelle Interesse am Schönen eigentlich im Zeichen des Erhabenen steht, und daß es zweitens das Erhabene ist, das uns schon intern auf die höchste Bestimmung des Menschen, die Moral, führt. In diesem Sinne ist das Erhabene auch ein Verbindungsglied von Schönheit („Zweckmäßigkeit ohne Zweck") und Teleologie (Zweckmäßigkeit mit Zweck), indem es diesen Zweck zwar noch nicht explizit gibt, dann wäre es nicht mehr ästhetisch, ihn aber fühlen läßt. 67 Vgl. vor allem KU, §86 (B 410ff.) und §88 (B 429ff.). 68 Auch der Krieg findet bei der Entwicklung der höchsten Kultur noch einmal positive Erwähnung (vgl. KU, Β 394). 69 Das geht auch aus einem Brief von Kant an Beck vom 18.8.1793 hervor (vgl. Immanuel Kant, Briefwechsel, 3. erw. Aufl. Hamburg 1986. 642).

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Die Teleologie kann als eine große Synthetisierungsstrategie des „Schlund des zwecklosen Chaos der Materie" (KU, Β 428) betrachtet werden70. Wie im Erhabenen wird hier gegen die Erfahrung, die nur Unsynthetisierbares zeigt, synthetisiert. Das Teleologische wiederholt noch einmal im großen, was das Erhabenen im kleinen (und ästhetisch) vorgemacht hat: Naturphänomene, die nicht ins System passen, werden gebändigt. Beim Erhabenen war es die .Unform', die die an Formen orientierte Schönheit überschritt; in der Teleologie ist es ebenfalls eine Art ,Zuviel' an empirischer Materie, deren ein ebenfalls an Formen orientierter Verstand mit seiner Gesetzgebung nicht mehr Herr wird; und beide Male ist es die Vernunft, die eingreift und doch noch synthetisiert, zumal sie selbst hier (vgl. KU, Β 344) wie dort die Forderung nach Einheit aufstellt. Der Teleologiegedanke ist ein „Leitfaden" (KU, Β 301), der eine Einheit gewährleistet, die nur in der Idee liegt (vgl. KU, Β 318) und dank derer wir „selbst die uns unangenehmen und in besonderen Beziehungen zweckwidrigen Dinge" (KU, Β 301), ja selbst das, was „widernatürlich zu sein scheint", jn eine „teleologische Ordnung der Dinge" gehörig, also zweckmäßig betrachten können (KU, Β 301f.), was genau dem zweckwidrig-dann-doch-zweckmäßig-Mechanismus des Erhabenen entspricht. In beiden Fällen ist der Gebrauch, der von der Natur gemacht wird, „zufällig"71. Wie bei den schönen Übergängen ist es also die subjektive höhere Zweckmäßigkeit des Erhabenen, die der teleologischen Zweckmäßigkeit zugrunde liegt und sie erst anregt. Doch der Einfluß des Erhabenen im teleologischen Urteil geht noch weiter, wenn man so sagen kann. Über das subjektive Gefühlsniveau hinaus findet sich bereits in der „Analytik des Erhabenen" ein Hinweis auf die Zusammenstimmung der Gesetze in bezug auf die teleologische Spezifikationsaufgabe: Es ist die „intellektuelle Größenschätzung" des Mathematisch-Erhabenen, die schon in der „Analytik des Erhabenen" zu immer „größere Einheiten" führt, „wozu die systematische Abteilung des Weltgebäudes beiträgt", und damit genau jene Spezifikation der Natur, um die es im teleologischen Urteil geht, vorwegnimmt72. Erst sie ermöglicht die „Überschau", und zwar im größtmöglichen Maße, zu der der Mensch mit seinem begrenzten Verstand nicht in der Lage ist, und auf die es im teleologischen Urteil ankommt73. Die teleologische Betrachtungsweise gibt (in deutlicher Absetzung vom Schönen) eine „Tauglichkeit zu allerlei (ins Unendliche mannigfaltigen) Zwecken deutlich zu erkennen" (KU, Β 278). Die Natur ist nicht nur unermeßlich mannigfaltig (und daher erhaben), son70 So ist uns in „organisierten Wesen" die „Technik der Natur" nach der mechanischen Erklärungsart „so unbegreiflich , daß wir uns dazu ein anderes Prinzip zu denken genötigt glauben" (KU, Β 369): die teleologische Betrachtungsweise. Man könnte auch sagen, daß die gewöhnliche Synthesekapazität des Menschen versagt, weshalb er auf ein .höheres Prinzip' - auf die unendlich große Synthesekapazität der Vernunft zurückgreifen muß, was der Struktur des Mathematisch-Erhabenen entspricht. 71 Vgl. KU, Β 285f. bzw. für das Erhabene EE, 66. 72 Vgl. KU, Β 96; wobei sich eine Verbindimg zur Kritik der reinen Vernunft, A 622, ergibt, was über die Verbindung durch die Teleologie, die einen Bezug zum regulativen Gebrauch der Vernunft aufweist, nicht mehr weiter verwunderlich ist. 73 Zur „Überschau" im teleologischen Urteil, vgl. Cassirer, Kants Leben und Lehre, a.a.O., 374. Vgl. auch Kaulbach über das Erhabene: „Von dem überlegenen Stande der mit Anschauung sich vereinigenden Vernunft aus ist eine ästhetische Erkenntnis der Welt im ganzen möglich" (Kaulbach, Ästhetische Welterkenntnis..., a.a.O., 179). Das Erhabene ist eine „Bildperspektive" (ebd., 221), die „unseren diskursiven, der Bilder bedürftigen Verstand" (Cassirer, Kants Leben und Lehre, a.a.O., 375) teleologisch voranzutreiben in der Lage ist.

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dem auch die Vielzahl der aus ihr entstehenden Zwecke. Diese Mannigfaltigkeit wird durch die Idee eines Naturzwecks sozusagen .gebändigt', der zwar die Mannigfaltigkeit erhält, indem er eine unendliche Reihe von Bedingungen erlaubt (vgl. KU, Β 300) - und insofern ein erhabenes Gefühl hervorrufen kann - , gleichzeitig aber suggeriert, daß die Teile nur in bezug auf das Ganze möglich sind (vgl. KU, Β 290). Ebenso wurden die nicht mehr synthetisierbaren Teile im Erhabenen .zusammengehalten'. Entsprechend übersteigt dieser angenommene innere Zweck, und das wird nicht mehr erstaunen, wie das Erhabene „unendlich alles Vermögen einer ähnlichen Darstellung durch Kunst"74 und zeugt von einer „Kultur" {KU, Β 388ff.), die dafür sorgt, daß jedermann seine Beistimmung zur moralischen Teleologie (vgl. KU, Β 472) und seine „Tauglichkeit zu höheren Zwecken, die in uns verborgen liegt", fühlt15. Es wären noch viele weitere Spuren des Erhabenen im teleologischen Urteil zu erwähnen. Sie alle ergeben sich aus der eben beschriebenen erhabenen Struktur der teleologischen Grundannahme. Der Kürze halber und um mich nicht zu wiederholen (da es sich immer um die gleiche Struktur handelt, in der sich der Bezug zum Moralischen auswirkt, haben sie größtenteils schon bei den .schönen Übergängen' und beim .erhabenen Übergang' selbst Erwähnung gefunden 76 ), will ich hier nur noch dasjenige Charakteristikum anführen, das in der Folge wichtig werden wird: Die Antinomie der Teleologie wird nur durch ein .Nebeneinander' der beiden widerstreitenden Prinzipien gelöst, aus dem im konkreten Fall Streitigkeiten erwachsen müssen. Denn das Verhältnis von Mechanismus und Teleologie bleibt insofern ungeklärt, als Kant zwar immer wieder betont, daß die mechanische Betrachtungsweise so weit, wie „menschliche Kräfte" reichen, durchgeführt werden muß, bis das teleologische Prinzip eingreifen darf, aber wie weit, sagt er nicht. Mechanischer Verstand und teleologische Vernunft bleiben als zwei heterogene Gesetzmäßigkeiten ebenso .nebeneinander' bestehen (vgl. KU, Β 315f.) wie die sinnliche und die übersinnliche Seite im Erhabenen, die ebenfalls jene heterogenen Gesetzmäßigkeiten repräsentieren. Da das Teleologische nur eine „subjektive Maxime" ist, können disparate Prinzipien noch wohl vereinigt werden , anstatt daß im ersteren kontradiktorisch-entgegengesetze einander aufheben und neben sich nicht bestehen können" (KU, Β 321f.).

74 KU, Β 309f. (mit „Kunst" ist hier Wissenschaft gemeint). 75 KU, Β 395. Die darauf folgende Fußnote macht noch einmal sehr .schön' den erhabenen Perspektivenwechsel deutlich. 76 Man könnte daher vielleicht gegen meinen Ansatz einwenden, daß das Erhabene, wenn es sich immer um die gleiche Struktur handelt, nur ein Fall unter anderen ist, und es deshalb in keiner Weise gerechtfertigt ist, alle hier vorgeführten Übergänge .erhaben' zu nennen. Dieser Vorwurf dürfte sich sogar noch verstärken, wenn ich im folgenden die Struktur des Erhabenen bis in die Kritik der reinen Vernunft zurückverfolge. Da es mir hier nicht um Benennungsfragen geht, ist es in der Tat nicht notwendig, die hier herausgearbeite Struktur des „Übergangs" bei Kant .erhaben' zu nennen. Gleichwohl erscheint mir diese Benennung gerechtfertigt, weil die Struktur, um die es mir geht, im Erhabenen nicht nur am deutlichsten zu Tage tritt und von Kant systematisch reflektiert wird (während sie in den anderen „Übergängen" mehr oder weniger undeutlich und unausgesprochen zum Tragen kommt), sondern auch von da aus - und diese Sichtweise ist entscheidend für die ganze Systematik - auf die anderen Übergänge sich auswirkt. Insofern scheint mir das Erhabene nicht ein, sondern der Fall von „Übergang" zu sein.

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(„Vereinigt" ist hier im Sinne von vereinbar zu verstehen.) Es besteht nach wie vor ein Abgrund zwischen ihnen, den Kant im weiteren zu beheben sucht, indem er ein unbestimmtes übersinnliches Substrat annimmt, das beide vereinigt, das der Mensch aber nicht objektiv erkennen kann77. Wenn Kant nun also behaupten kann, daß die moralische Teleologie Natur und Freiheit verbindet, insofern sie mit der ,J\fomothetik der Freiheit einerseits und der der Natur andererseits" zusammenhänge (KU, Β 420), dann darf man ihre Verbindungen zum Erhabenen dabei nicht unterschlagen. Das Erhabene repräsentiert den Zusammenhang von Natur und Freiheit im Gefühl und führt daher innerhalb der Ästhetik (a priori) den empirischen teleologischen Vorgang durch. Es zeugt auf der Ebene des Gefühls von den Operationen, die das teleologische Urteil mit Blick auf die Erkenntnis vornimmt. Die für das menschliche Fassungsvermögen zu große Heterogenität der empirischen Naturgesetze und ihre .Vereinigung' spiegelt sich anläßlich eines Naturphänomens insbesondere in der ,Negativ-Positiv-Struktur' des Erhabenen wider. Der unvermeidlichen Subreption im Erhabenen entspricht das Unterlegen des Zwecks im teleologischen Urteil. Dadurch eignet sich das extrem subjektive Erhabene sowohl zur .Anwendung' auf die Teleologie als auch zum Verbindungsglied zwischen dieser .Zweckmäßigkeit mit Zweck' und der schönen „Zweckmäßigkeit ohne Zweck", zwischen erstem und zweitem Teil der Kritik der Urteilskraft.

77 Vgl. KU, Β 374 und entsprechend Β 358f. Es ist bekannt, daß Kant diese Stelle mit Gott besetzt, dessen (metaphysisch-)erhabene Qualitäten hier freilich unberücksichtigt bleiben müssen.

Exkurs: Der Übergang in den geschichtsphilosophischen Schriften und das Erhabene

Kant hat bekanntlich keine „Kritik der historischen (oder politischen) Vernunft" geschrieben. Seine kleinen geschichtsphilosophischen Schriften lassen sich aber ins kritische .System' integrieren, weil sie als dritter Teil oder zumindest als eine Art Anhang zur Kritik der Urteilskraft angesehen werden können. Denn Kant sieht sich hier mit dem gleichen ,Übergangsproblem' konfrontiert wie in der dritten Kritik, mehr noch: Er löst es auf die gleiche Weise. Da in den geschichtsphilosophischen Schriften noch einmal alle bisher erarbeiteten Chrakteristika des Erhabenen, und zwar gerade in bezug auf den „Übergang", deutlich werden, sich aber auch schon weiterführende Perspektiven eröffnen, möchte ich in diesem Kapitel kurz darauf eingehen. Dabei werde ich exemplarisch den Streit mit der juristischen Fakultät aus Kants Spätwerk Der Streit der Fakultäten herausgreifen, der als „gesetzlicher Widerstreit"1 Kants .Geschichtsphilosophie' in nuce abbildet und in dem an prominenter Stelle mit dem „Enthusiasmus" eine Spielart des Erhabenen direkt zum Tragen kommt2. Der zweite Streit der Fakultäten, auch das ist hinlänglich bekannt, behandelt die Frage, „Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei"3. Die Schwierigkeit der Beantwortung dieser Frage legt das Problem des „Übergangs" von der Natur zur Vernunft bzw. Freiheit offen an den Tag: Entweder der Lauf der Geschichte wird nach kognitiven Gesetzen beurteilt und insofern als ,Natur' behandelt - dann kann man aus ihm keinerlei teleologische Prinzipien einer sich auf mehr Moralität, also mehr Freiheit, zubewegenden Menschheit ableiten. Oder man beurteilt die Geschichte nach eben diesen teleologischen Prinzipien - dann gerät man in Konflikt mit den geschichtlichen .Fakten', die einem „Fortschreiten zum Besseren" zu widersprechen scheinen. Kants .Lösung' bzw. seine Umgehensweise mit dem Problem offenbart nicht nur den rein ästhetischen Charak1 Cassirer, Kants Leben und Lehre, a.a.O., 431. 2 Wie bereits in der „Allgemeinen Anmerkung" der Kritik der Urteilskraft offensichtlich wird, stimmt es also nicht, wie immer wieder in der Forschung behauptet wird (vgl. z.B. Gary Shapiro, „From the Sublime to the Political: Some Historical Notes", in : New Literary History 16 [1985], S. 213-235, hier 221), daß erst Schiller eine historisch-politische Dimension in die Erörterung des Erhabenen einführt. - Zu Kants geschichtsphilosophischen Schriften im allgemeinen mit Blick auf das Erhabene, vgl. Jean-François Lyotard, Der Enthusiasmus. Kants Kritik der Geschichte, Wien 1988. 3 Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, Hamburg 1975 (ich zitiere im folgenden als Streit im laufenden Text nach der Meiner-Ausgabe, die Seitenzahlen beziehen sich auf die Akademie-Ausgabe, 79.

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ter des Erhabenen, sondern auch dessen Bedeutung für die Übergangsproblematik, und zwar gerade ob seiner Ästhetizität. Wie Kant im zweiten Streit der Fakultäten ausführt, ist der „Enthusiasmus", den die Zuschauer der Französischen Revolution für das Geschehen in Frankreich empfinden, der gefühlsmäßige .Beweis', daß die Menschheit sich im „Fortschreiten zum Besseren" befindet. Nicht die Akteure des Geschehens belegen aufgrund ihrer freiheitlichen Ideen o.ä. diesen Fortschritt (ganz im Gegenteil), sondern allein im Gemüt der Zuschauer wird das Geschehen zum Zeichen eines solchen Fortschritts. Direkt kann Kant die Moralität im natürlichen Ablauf der Geschichte nicht verankern. Nur über den ästhetischen ,Umweg', den der Enthusiasmus der Zuschauer bedeutet, kann Kant die Brücke vom geschichtlichen Faktum zur Moralität schlagen, kann er den „Übergang" von der Natur zur Freiheit vornehmen. Wie kommt es genau dazu, und um was für eine Brücke handelt es sich? In typisch kritischer Vorgehensweise geht Kant die Frage, ob sich die Menschheit im Fortschreiten zum Besseren befindet, an, indem er das Gebiet, in das die Frage gehört, und die Bedingungen, unter denen sie beantwortbar ist, zu bestimmen sucht. Das Ergebnis ist bekannt: Die Frage, ob die Menschheit zum Besseren fortschreite, gehört nicht in die „Naturgeschichte" des Menschen, sondern in die Sittengeschichte" (Streit, 79). Nach (mechanischen) Naturgesetzen kann die Frage, die sich auf die Zukunft bezieht, nicht positiv beantwortet werden, sondern muß die Antwort gänzlich negativ ausfallen: Die freien Handlungen der Menschen (in denen der gesuchte Fortschritt besteht) können „nicht vorhergesehen werden weil er zu dem letzteren den Zusammenhang nach Naturgesetzen bedarf, in Ansehung der künftigenfreien Handlungen aber dieser Leitung oder Hinweisung entbehren muß" (Streit, 83).

Insofern kann Kant - auch hier typisch kritisch - konstatieren, daß alle bisherigen Versuche, die Frage zu beantworten - ob nun von jüdischen Propheten, Politikern oder Geistlichen unternommen - , bloße Wahrsagerei und daher vergeblich waren (vgl. Streit, 79f.). „Durch Erfahrung unmittelbar ist die Aufgabe des Fortschreitens nicht aufzulösen" (Streit, 83). Denn wenn man auf der Ebene der Erfahrung stehenbleibt, läßt sich nur „Unbeständigkeit" beobachten (ebd.) und scheint alles der Teleologie zu widersprechen, die die positive Beantwortung der Frage, ob die Menschheit zum Besseren fortschreite, impliziert. „Vielleicht liegt es" also, wie Kant vermutet, „an unserer unrecht genommenen Wahl des Standpunktes, aus dem wir den Lauf menschlicher Dinge ansehen, daß dieser uns so widersinnig scheint" (ebd.). Um die Frage, ob die Menschheit zum Besseren fortschreite, positiv beantworten zu können, muß also der Betrachtungsstandpunkt gewechselt werden. So weit, so bekannt: Hier wird der von Kant in den Kritiken erarbeitete Abgrund von Natur und Freiheit sichtbar, mit anderen Worten, man kann keine theoretischen Erkenntnisse über praktische Fragen erlangen. Doch wie gelangt man zu einem anderen Standpunkt? Wenn man aus der Aussage, daß die Frage sich nicht unmittelbar durch Erfahrung lösen lasse, schlösse, daß Kant sich jetzt gänzlich von der Erfahrung abwendet und fortan von einem .sittlichen' Standpunkt aus, den Lauf der Geschichte ohne Rücksicht auf Erfahrung beurteilt, dann hätte man sich getäuscht. Es erfolgt zwar ein Wechsel auf diesen Standpunkt, doch der Bezug zu den geschichtlichen Fakten bleibt erhalten. Wie ist das möglich? Um den Bezug zur konkreten Geschichte zu gewährleisten, muß die Möglichkeit, den Fortschritt zum Besseren vorherzusagen, an „irgendeine Erfahrung" gebunden sein (Streit, 84):

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„Es muß irgendeine Erfahrung im Menschengeschlechte vorkommen, die als Begebenheit auf eine Beschaffenheit und ein Vermögen desselben zum Besseren hinweiset" (ebd.).

Diese Begebenheit muß „Ursache" und „Urheber" des Fortschritts sein, darf aber zeitlich nicht bestimmt werden (das würde in den Rahmen der Naturgesetze fallen, die in Ansehung der Zukunft versagen) : „Also muß eine Begebenheit nachgesucht werden, welche auf das Dasein einer solchen Ursache und auch auf den Akt ihrer Kausalität im Menschengeschlechte unbestimmt in Ansehung der Zeit hinweise, und die auf das Fortschreiten zum Besseren als unausbleibliche Folge schließen ließe, welcher Schluß dann auch auf die Geschichte der vergangenen Zeit (daß es immer im Fortschritt gewesen sei) ausgedehnt werden könnte, doch so, daß jene Begebenheit nicht selbst als Ursache des letzteren, sondern nur als hindeutend, als Geschichtszeichen (signum rememorativum, demonstrativum, prognostikon), angesehen werden müsse" (ebd.).

Was ist nun dieses „Geschichtszeichen", das in alle drei zeitlichen Richtungen wirksam ist? Wenn man denkt, daß es sich um irgendwelche Heldentaten handelt, wie es die Perspektive auf die praktische Vernunft und ihre Idee der Freiheit nahelegt, so sähe man sich erneut getäuscht4. Kant lobt nicht die Taten der Helden der Französischen Revolution (im Gegenteil: er verurteilt sie, es sind „Greueltaten", Streit, 85). Die Revolution als solche ist nicht das „Geschichtszeichen", sondern dies befindet sich allein in der „Denkungsart" der Zuschauer, in ihrem Gefühl des Enthusiasmus, d.h. „eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war" (ebd.). Allein ihr Gefühl beweist „einen moralischen Charakter" des Menschengeschlechts „wenigstens in der Anlage , der das Fortschreiten zum Besseren nicht allein hoffen läßt, sondern selbst schon ein solches ist, soweit das Vermögen desselben für jetzt zureicht" (ebd.).

Kant wechselt also nicht einfach die Perspektive auf einen übersinnlichen Standpunkt ohne Bezug zum empirisch Gegebenen. Als empirisch Gegebenes verweist das Gefühl auf etwas, was über all die realen Greueltaten der Revolution, der natürlichen Geschichte hinausweist, aber mit ihnen in Verbindung steht. Nur über die Begebenheit des Gefühls kann Kant die Perspektive wechseln, ohne den Bezug zur Erfahrung zu verlieren. Dieses Gefühl ist ästhetisch und kann nur als solches die Voraussetzung der Unbestimmtheit seiner „Kausalität im Menschengeschlechte" in Ansehung der Zeit erfüllen (eine Handlung ist immer bestimmt). Es gehört sozusagen gleichzeitig der Naturgeschichte und der Sittengeschichte an, je nachdem, unter welchem Gesichtspunkt, nach welchem Standpunkt, man es betrachtet. Ein ähnliches Nebeneinander hatten wir bei der Analyse des Erhabenen festgestellt, wobei die merkwürdige .Ortlosigkeit' des für die dritte Kritik eigentümlichen „Übergangs" berücksichtigt blieb. Insofern ist der „Enthusiasmus" ein „Phänomen in der Menschengeschichte, welches allein Natur und Freiheit, nach inneren Rechtsprinzipien im Menschengeschlechte vereinigt, aber, was die Zeit betrifft, nur als imbestimmt und Begebenheit aus Zufall verheißen konnte"5.

4 Vgl. Streit, 85: „Diese Begebenheit besteht nicht etwa in wichtigen, von Menschen verrichteten Taten oder Untaten, wodurch was groß war, unter Menschen klein oder, was klein war, groß gemacht wird". 5 Streit, 87; vgl. entsprechend das sogenannte Krakauer Fragment, das die gleiche Frage wie der zweite Streit behandelt (erstmals veröffentlicht in: Kant-Studien 51 (1959/60), Heft 1, S. 2-13, im folgenden als Krakauer Fragment unter Angabe der Originalpaginierung im laufenden Text zitiert), hier 2, wo von

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Durch den „Enthusiasmus" kann Kant den Forschritt zum Besseren „ohne Sehergeist" (Streit, 87) und für die „strengste Theorie haltbar" vorhersagen (Streit, 88). Wie wir anläßlich der Analyse des Erhabenen bereits kurz sahen, ist der Enthusiasmus eine Spielart des Erhabenen. Er ist in keiner Weise ein moralisches Gefühl, im Gegenteil kann er, so Kant in der Kritik der Urteilskraft, weil er ein „Affekt" ist, „auf keinerlei Weise ein Wohlgefallen der Vernunft verdienen" (KU, Β 121). „Ästhetisch" aber ist der Enthusiasmus, wie Kant sogleich hinzufügt, „gleichwohl erhaben" (ebd.). Entsprechend heißt es im Streit der Fakultäten, daß der Enthusiasmus als „Teilnehmung am Guten mit Affekt als ein solcher Tadel verdient" (Streit, 86). Wie jedes erhabene Gefühl setzt sich der Enthusiasmus aus zwei Komponenten zusammen: aus einer sinnlichen (empirischen), die negativ ist (bzw. die Kant hier negativ bewertet), und einer übersinnlichen, die „immer aufs Idealische und zwar rein Moralische geht" (ebd.) (und die mögliche transzendentale Komponente der Allgemeinheit a priori beisteuert) und die positiv zu bewerten ist. Sie „veredelt" die Menschen und läßt sie die „Menschheit in ihrer Person" fühlen (Krakauer Fragment, 3). Der Enthusiasmus ist also moralisch fragwürdig und besitzt ,nur' ästhetischen Wert. Diese Ästhetizität ist Bedingung für den „Übergang"; denn als moralisches Gefühl könnte der Enthusiasmus keinen Übergang zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem .darstellen', weil er dann selbst nur zur einen, zur übersinnlichen Seite gehörte. Nur als ästhetischer und zwar erhaben-ästhetischer - , der beide Seiten in sich trägt, kann er ein Gefühl des Übergangs sein. Seine .natürliche' Seite wahrt den Bezug zu den geschichtlichen (natürlich-sinnlichen) Fakten, seine .moralische' den Bezug zum übersinnlichen Bereich der Vernunft und ihrer Ideen. Der „Übergang" ist eine Art Wechselspiel zwischen diesen beiden extremen Polen, eine Art Uminterpretation desselben Faktums nach zwei verschiedenen Prinzipien. Und auch hier begegnen wir wieder allen Charakteristika des erhabenen Perspektivenwechsels: Der „Übergang" ist nur ein Standpunktwechsel, beide Seiten bleiben nebeneinander bestehen. Sie werden also nicht direkt vermittelt. Wenn Kant schreibt, sie würden „vereinigt", dann ist das auch hier eher als Vereinbarkeit ohne Vereinigung zu verstehen. Denn die Heterogenität der beiden Pole ist Bedingung für den „Übergang". Nur durch den fundamentalen Unterschied der beiden Seiten kommt der „Übergang" zustande, durch ein Phänomen, das an beiden Seiten partizipiert. Der Standpunkt hängt von der Kultur ab, nur wenn das Vermögen zur Moral zureicht, kann man den Wechsel vornehmen (vgl. Krakauer Fragment, 4), der keineswegs in ein Jenseits führt: Wir haben, wie Kant betont, weiterhin nur „empirische Data (Erfahrungen), auf die wir diese Vorhersagung gründen können" (Streit, 91). So wie im Erhabenen von der Natur ein nur zufälliger Gebrauch gemacht wurde, ist der Standpunktwechsel nicht notwendig: „Ich verdenke es keinem, wenn er in Ansehung der Staatsübel an dem Heil des Menschengeschlechts und dem Fortschreiten desselben zum Besseren zu verzagen anhebt" (Streit, 93).

Der eigentliche Antrieb für den Standortwechsel liegt in der Negativität der Ergebnisse nach dem .natürlichen' Standpunkt. Auch hier kommt wieder die ,Negativ-Positiv-Struktur' des Erhabenen zum Tragen: Wenn man auf der ersten Stufe stehenbleibt, ergibt sich „zufällig Anlässen" die Rede ist. Auch über diese Zufälligkeit wird der Bezug zur Teleologie und zum Erhabenen klar.

Die geschichtsphilosophischen Schriften

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eine negative Bilanz, nur auf der zweiten Stufe kann diese positiv umgewendet werden, weil man etwas hinzudenkt6. Die zweite Phase ergibt sich also vermittelst der ersten - wir sehen, daß sich die Struktur des Erhabenen in der Vorgehensweise von Kant selbst abbildet7. So wie Kant âuf der empirischen Ebene von der Vorstellung ausgeht, daß gerade in allergrößten Übeln der mögliche Umschlag ins Positive liegt (vgl. z.B. Streit, 83), so geht er theoretisch vor und so strukturiert sich auch der von ihm hier untersuchte Enthusiasmus: „Die Nachwehen des gegenwärtigen Krieges aber können dem politischen Wahrsager das Geständnis einer nahe bevorstehenden Wendung des menschlichen Geschlechts zum Besseren abnötigen, das schon jetzt im Prospekt ist" (Streit, 93).

Auch die politische Dimension, die sich hier mit dem Enthuasismus für das Erhabene offenbart, verdient Beachtung. Kant tritt offen für eine republikanische Verfassung ein: „Eine dieser gemäß organisierte bürgerliche Gesellschaft ist die Darstellung derselben nach Freiheitsgesetzen durch ein Beispiel in der Erfahrung" (Streit, 91). Auch wenn man in diesem Beispiel natürlich die Französische Revolution zu entdecken meint, so ist der „Enthusiasmus" nicht als Handlungsanweisung oder Aufforderung zu verstehen, ganz im Gegenteil: „Es ist hiermit nicht gemeint, daß ein Volk, welches eine monarchische Konstitution hat, sich damit das Recht anmaße, ja auch nur in sich geheim den Wunsch hege, sie abgeändert zu wissen"8.

Nun könnte man sagen, daß sich Kants Position hier als ausgesprochen zwiespältig erweist, daß sein Text politisch reaktionär als Rechtfertigung des Stillhaltens und als Aufruf dazu zu verstehen ist, daß er zumindest seine Ausführungen zu sehr den damaligen politischen Verhältnissen in Preußen oder der Zensur anpaßt. Aber das Verbot zu handeln, ebenso zu handeln wie die Franzosen, muß andere Gründe haben, denn als politisch reak6 Vgl. dazu Kants Schrift Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, Hamburg 1973, S. 115-169 (im folgenden als Ewiger Frieden im laufenden Text zitiert), hier 141 („Erster Zusatz. Von der Garantie des ewigen Friedens"). 7 Das gilt auch für die anderen geschichtsphilosophischen Texte. Vgl. z.B. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, Hamburg 1973, S. 3-20 (im folgenden als Idee mit Satznummer und Seitenzahl der Meiner-Ausgabe im laufenden Text zitiert), Satz 1, 6, wo Kant das „trostlose Ungefähr" abzuwenden sucht. Die Negativität ist, wie Deleuze über Kants .Geschichtsphilosophie' schreibt, eine „List" des Übersinnlichen, um uns gleichsam zu .Höherem' zu motivieren (Deleuze, Kants kritische Philosophie, a.a.O., 148f.). Entsprechend negativ geprägt bleiben die Resultate, die nicht streng notwendig und nur in praktischer Hinsicht sicher, in theoretischer Hinsicht aber unbestimmt sind. Wir werden unten sehen, daß diese Struktur auch für die Kritik im ganzen greift. 8 Streit, 86, Anm., wobei man wissen muß, daß für Kant auch eine republikanische Monarchie durchaus denkbar ist (vgl. Streit, 91 und Ewiger Frieden, 128ff., Erster Definitivartikel zum Ewigen Frieden). Zum Verbot der Handlung vgl. entsprechend, Streit, 84 über die „Greueltaten" der Revolution, die dazu führen, „daß ein wohldenkender Mensch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde", und Streit, 92, Anm. über das Nachdenken über „Staatsverfassungen , die den Anforderungen der Vernunft entsprechen", wobei es aber „vermessen , sie vorzuschlagen, und strafbar, das Volk zur Abschaffung der jetzt bestehenden aufzuwiegeln". Das Staatsoberhaupt, nicht der Staatsbürger soll handeln (vgl. ebd.). Diese Zurückhaltung entspricht der Philosophiekonzeption Kants, die als untere Fakultät zwar Freiheit des Denkens genießt, dafür aber den Preis der Wirkungslosigkeit zu zahlen hat (vgl. Streit, 20 und 28). Dort, wo das Handeln direkter anklingt, in der „Teilnehmung dem Wunsche nach" (s.o.) und bei der Erweckung der „Wiederholung neuer Versuche" der Revolution (Streit, 88) und daß alle Völker

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Exkurs

tionär erweist sich Kant, der zwar nicht unbedingt ein Revolutionär, noch weniger aber ein Reaktionär ist, in diesem Text ansonsten ganz und gar nicht9. Es sind vielmehr theorieinterne Gründe, die eine direkte Handlung ausschließen: Wenn der Enthusiasmus eine Handlungsanweisung wäre, wäre er nicht mehr ästhetisch, sondern moralisch, wäre er kein Nebeneinander zweier Seiten mehr, sondern stünde auf der einen10. Nur als ästhetischer kann er beide Seiten die Waage halten lassen, und das ist erforderlich für einen „Übergang", der nicht den Bezug zur Empirie und damit zur Negativität verliert11. Damit scheint mir bereits ein zweites Problem gelöst, daß man in Kants Konzeption sehen könnte, daß nämlich Kant mit der Beurteilung der Geschehnisse nach einem idealen Standpunkt doch den Boden der Realität verläßt. Seine Aussage, daß es für die Diagnose egal ist, wie die Französische Revolution ausgeht (vgl. Streit, 88), scheint diesen Verdacht nahezulegen. Aber auch damit hätte man den Kern von Kants Gedanken verfehlt. Das wäre nur der Fall, wenn die zweite Phase wirklich ein .Abheben' vom Boden der Tatsachen wäre. Wir hatten aber gerade gesehen, daß die Realität neben der Idealität bestehen bleibt. Dadurch charakterisiert sich ja gerade das erhabene Gefühl des Enthusiasmus12. Kant flieht also angesichts des realen Übels keineswegs aus der Realität in eine Phantasiewelt13. der Erde „nach und nach daran teilnehmen dürften" (ebd.), ist der Handlungswille auf ein prospektives Minimum reduziert, auf sein Vorhandensein ohne Folgen (also ohne Handlung), durch das sich der Enthusiasmus charakterisiert. Das Handeln ist nicht Thema Kants, sondern nur der „Übergang". 9 Vgl. sein Eintreten für die Pressefreiheit {Streit, 89), für die republikanische Verfassung, die durch ein Vermeiden des Krieges, den Fortschritt zur Moral insofern negativ sichern soll, als sich dieser als „Quell aller Übel und Verderbnis der Sitten", also als der Moralität hinderlich erweist (Streit, 86), für das Recht der Menschen, das er als „erhaben" über alle Nützlichkeit und als „Heiligtum" bezeichnet (Streit, 86 Anm.), seine Kritik an Herrschern, die ihr Volk als Werkzeug mißbrauchen (vgl. Streit, 88), sein Spott über die Weissagungen der Politiker (vgl. Streit, 79) und sein Aufruf zu Reformen (Streit, 92; vgl. entsprechend Krakauer Fragment, 4). 10 Als Handlungsaufforderung wäre er die positive Darstellung der Sittlichkeit, die Kant in der Kritik der Urteilskraft als „Wahn" und ,JSchärmerei" anprangert, über alle Grenzen der Sinnlichkeit hinaus etwas sehen, d.i. nach Grundsätzen träumen (mit Vernunft rasen) zu wollen" (KU, Β 125). Die Negativität des Enthusiasmus verhindert diesen Wahn (vgl. ebd.). Vgl. übrigens auch hier die politische Dimension des Enthusiasmus, der von „Regierungen" zu verhindern versucht wird (ebd.). 11 Wobei ich zugeben muß - und darin liegt die oben ausführlich beschriebene Ambivalenz des Erhabenen bezüglich der Moral - , daß Kant auch, was das Handlungsverbot angeht, nicht immer so eindeutig ist, wie bisher behauptet. Es gibt im Streit und insbesondere im Krakauer Fragment durchaus Stellen, die sich wie eine Handlungsaufforderung verstehen lassen. (Vgl. z.B. Krakauer Fragment, 2, wo von der „Thätigkeit" die Rede ist, und wo es darum geht, die Hindemisse zum Guten aus dem Wege zu räumen, 4, wo es darum geht, daß die Ereignisse, die einen Fortschritt zum Besseren erkennen lassen, „desto stärker um sich griffen", wenn sie durch „Cultur" vorbereitet sind, und wo von den Taten der Machthaber die Rede ist, die der Französischen Revolution folgen sollten; zu den entsprechenden Stellen im Streit, vgl. meine Anmerkung 8. Ich glaube jedoch begründet zu haben, warum die andere Lesart die konsistentere und überdies für den Übergang unabdinglich ist. Vielleicht könnte man soweit gehen, zu sagen, daß durch den Enthusiasmus die moralische Handlungsfähigkeit allgemein gestärkt und aktiviert, nicht aber zu konkreten, z.B. die Französische Revolution nachahmenden Taten aufgerufen wird.) 12 Gerade weil er den .natürlichen Boden' nicht verläßt, kann Kant die „Begebenheit", um die es ihm geht, als „Phänomen nicht einer Revolution" (die er verurteilen muß), sondern „der Evolution einst naturrechtlichen Verfassung" verstehen (Streit, 87); zur Evolution und Revolution, vgl. Krakauer Fragment, 4, wo es zudem ausdrücklich heißt, daß die „Natur" die Ursache zu diesem „Eräugnis" vorbereitet, wo also der Bezug zur sinnlichen Realität gewahrt bleibt. 13 Dafür spricht auch, daß er, obwohl er das Fortschreiten der Menschheit zum Besseren behauptet, kein be-

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Liegt dann nicht wenigstens, so wird ein Kant-Kritiker des weiteren fragen, mit dem Enthusiasmus eine unerhörte Ästhetisierung und damit eine Verherrlichung noch der schrecklichsten Dinge, wie z.B. des Krieges, vor? Auch das ist nicht der Fall, denn Kant beurteilt den Krieg bzw. die Greueltaten der Französischen Revolution eindeutig negativ14. An sich sind sie zu verurteilen. Daß er in ihnen ideal bzw. in ihrer ästhetischen Wirkung auf andere ein Zeichen des Fortschritts zum Besseren sieht, bedeutet nicht, daß er sie real billigt. Den Fortschritt beweist nicht die Revolution als solche, sondern der Enthusiasmus der Zuschauer, und da dieser nicht als Handlungsaufforderung gemeint ist, kann von einer Verherrlichung der Gewalt o.ä. nicht die Rede sein. Das verhindert die ,Negativ-PositivStruktur' des erhabenen Enthusiasmus. Die Revolution wird nicht zu einem Kunstwerk stilisiert, also ästhetisiert, das eindeutig positiv wäre, sondern spiegelt sich im gemischten Gefühl des Enthusiasmus. Seine negative Seite sieht die Greueltaten, seine positive Seite erklärt sich nicht dadurch, daß diese Greueltaten gutgeheißen werden, sondern dadurch, daß sich im Gemüt des Zuschauers der Gedanke der Freiheit einstellt - ebenso wie anläßlich der dynamischen Naturschauspiele15. sonders positives Menschenbild vertritt. Die Menschen werden vielmehr in dem ganzen Text des Streits sehr negativ beschrieben, und Kant warnt ausdrücklich davor, sich von dem Fortschreiten zum Besseren zu viel zu versprechen (vgl. Streit, 92). Er ist also durchaus realistisch. Ein solches „Wegarbeiten" des realen Elends wirft z.B. Peter Bürger Kant vor, der Kants „Analytik des Erhabenen" als den Versuch ansieht, „das Skandalon wegzuarbeiten, das die ästhetische Rechtfertigung des Elends darstellt" (Peter Bürger, Zur Kritik der idealistischen Ästhetik, Frankfurt/M. 1983, 148). Im Gefühl des Erhabenen könne, so Bürger weiter, „der Gebildete sich lustvoll der Bestimmung des Menschen versichern, ohne daß die materiellen Bedingungen seines Selbstgenusses als Gattungswesen störend ihm zu Bewußtsein kämen" (ebd., 151). Deshalb sei Kant auch nicht „zur Einsicht in die Geschichtlichkeit des von ihm analysierten Gefühls des Erhabenen" fortgeschritten (ebd., 150). „Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren", so Bürger weiter, „daß hier eine Grundform bürgerlicher Ideologie vorliegt: diese verändert die Wirklichkeit, indem sie sie anders denkt" (ebd., 151). Ich glaube kaum, daß Kant den Bezug zur .Wirklichkeit' (die er übrigens nicht verändert) derart verliert. Der Rekurs auf die „Erfahrung" und die „Erweiterung der eigenen Erfahrungsmöglichkeiten" im Erhabenen, die Bürger statt dessen bei Herderfindet (ebd., 152 bzw. 153), sind bei Kant durchaus vorhanden, während ich Herders Theorie des Erhabenen, gerade weil sie im viel quietistischeren Schönen kulminiert und die negative Erfahrung des Erhabenen aufhebt (wie Bürger selber zugibt, vgl. ebd., 155), für bedenklich halte. Daran ändert auch die historische Dimension des Erhabenen bei Herder, die Bürger ins Feld führt, nichts. Die historische Dimension, die bei Kant durch die „Kultur" ins Spiel kommt, übersieht Bürger vollkommen. - Zu einem ganz anderen Ergebnis hinsichtlich der vorgeblich „bürgerlichen Ideologie" und fehlenden Geschichtlichkeit bei Kant kommt Margherita von Brentano (allerdings ohne Bezug auf das Erhabene), wobei sie besonders auf die Allgemeinheit abhebt (vgl. Margherita von Brentano, „Kants Theorie der Geschichte und der bürgerlichen Gesellschaft", in: Norbert Bolz/Wolfgang Hübener [Hrsg.], Spiegel und Gleichnis. Festschriftßr Jacob Taubes, Würzburg 1983, S. 205-214, hier 205f., 208f. und 212f.). 14 Oben wurde der Krieg zwar als Mittel zum Zweck beschrieben (vgl. Streit, 92), ansonsten wird er von Kant aber negativ als die Sittlichkeit hindernd dargestellt, weswegen er zu überwinden ist (vgl. Streit, 87, 91, 92f., 93). Vgl. das Krakauer Fragment, wo Kant den Krieg als .Unsinn mit Methode' bezeichnet, wobei „beym Fortgange der Cultur die Kriege immer weniger werden und auf dem Wege sind gantz aufzuhören" (3). Wie nicht zuletzt die Schrift Zum ewigen Frieden zeigt, ist Kant nicht auf Krieg, sondern auf Frieden aus, und der „Enthusiasmus" ist keine Rechtfertigung des Krieges, sondern ein Mittel zu dessen Vermeidung (qua Kultivierung). Insofern kann von einer Verherrlichung des Krieges, nach der es in der Kritik der Urteilskraft andeutungsweise aussieht, nicht die Rede sein. 15 Und so muß die Revolution auch verstanden werden, quasi als Naturschauspiel, daß vom Menschen nicht inszeniert werden kann.

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Exkurs

Das Erhabene besitzt also durchaus geschichtsphilosophische und politische Relevanz16. Mit dem (erhabenen) Enthusiasmus ist ein Übergang von der Natur zur Freiheit gegeben: Inmitten der natürlichen Unordnung, des Chaos, wenn man so will, und nur darin, wird ein moralischer Fortschritt, eine sittliche Ordnung bzw. ein „Keim" (wie es in der Idee, Satz 9,19, heißt) dazu, entdeckt. Dieser Übergang ist allerdings keine Brücke. Er ist ein Perspektivenwechsel. Er ist nicht so fest wie eine Brücke - insofern läßt sich das „Schwanken" (Streit, 81), das Kant so fürchtet und (durch eine feste Form) beheben will, nicht vermeiden - , aber er ist wahrscheinlich der positivste und festeste Übergang, der gelingen kann. Das wird auch in der Kritik der reinen Vernunft deutlich (und wesentlich), der wir uns nun unter dem Gesichtspunkt des Erhabenen zuwenden wollen.

16 Diese sieht freilich ganz anders aus, als die Assoziation nahelegt, die das Erhabene mit faschistoider Monumentalität verbindet. Zur geschichtsphilosophischen und politischen Relevanz des Erhabenen vgl. den ungemein einflußreichen Aufsatz von Hayden White „The Politics of Historical Interpretation: Discipline und De-Sublimation" (in: Critical Inquiry 9 [1982], S. 113-137), der das Erhabene gegen eine .schöne' quietistische Geschichtsschreibung ins Feld führt.

3. Das Erhabene in der Kritik der reinen Vernunft

Bisher haben wir die Bedeutung des Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft und in den geschichtsphilosophischen Schriften Kants, die als Anhang zur dritten Kritik gelten können, untersucht. Dabei ist deutlich geworden, daß das Erhabene hier erstens eine weitaus größere Rolle spielt, als von Kant selbst zugestanden. Zweitens ließen sich gleichsam zwei Stoßrichtungen dieser Rolle feststellen, di e gemeinsam das Paradox des Erhabenen ausmachen: Das Erhabene kann einerseits als Skandalon innerhalb der Kritik der Urteilskraft und insbesondere der Ästhetik gelten, das die Ästhetik des Schönen relativiert und korrigiert und die der Einheitlichkeit dienende Spezifikationsaufgabe der dritten Kritik in Frage stellt; andererseits ist es aber geradezu als das Gefühl der Einheit und des „Übergangs" anzusehen, insofern es nicht nur die Einheitsperspektive auf eine .sprunghafte Einheit' ohne Synthese hin erweitert und selbst einen bemerkenswerten Übergang .darstellt', sondern auch den .schönen' Übeigängen und dem teleologischen Urteil zugrunde liegt. Wenn man bedenkt, daß die Kritik der Urteilskraft den Abgrund zwischen den beiden ersten Kritiken überbrücken soll - ein Abgrund wohlgemerkt, der erst aufgrund von deren kritischer Differenzierungsarbeit entstanden war - und daß das Erhabene bei diesem „Übergang" eine große Rolle spielt, dann erscheint das Erhabene als ein Gefühl, das eng mit der kritischen Arbeit als solcher verbunden ist, weil es einerseits den kritischen Abgrund zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem noch einmal unterstreicht (und ohne ihn nicht möglich wäre), und andererseits diesen Abgrund im Rahmen der Kritik der Urteilskraft - also ebenfalls kritisch - überwindet. Man könnte daher mit Blick auf die beiden Momente, die das Gefühl des Erhabenen ausmachen, sagen, daß es zum einen eine Art .Loch' im kantischen .System' .darstellt', diese Bresche aber zum anderen (und zwar gleichzeitig) kritisch bewältigt und damit nicht nur das empirische System der Erfahrung, sondern das ganze kritische .System' .vollendet'. Umgekehrt formuliert: Das Erhabene .vollendet' zwar das kritische .System' im Moment seiner Krise, zeigt aber auch, welche Gefahr bei dieser .Vollendung' besteht. Kants Analyse des Erhabenen hatte Tendenz, durch das Primat der praktischen Vernunft die gerade erst kritisch rehabilitierte Sinnlichkeit wieder preiszugeben, was in die traditionelle Metaphysik zurückführen würde. Dieses Paradox von Abgrund und Übergang scheint mir ein Charakteristikum der Kritik im ganzen gerade in ihrem Verhältnis zur Metaphysik auszumachen. Man darf also die Vermutung wagen, daß das Erhabene das kritische Gefühl par excellence ist. Gesetzt den Fall, das Erhabene sei in dieser Weise kritisches Gefühl im Sinne eines Resultats der Kritik, dann stellt sich als nächstes die Frage, ob dies nicht auch Rückschlüsse auf das Unternehmen der Kritik als solcher zuläßt. In dieser Hinsicht gilt es im folgenden

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Das Erhabene in der Kritik der reinen Vernunft

Abschnitt - Kant sozusagen rückwärts lesend - , die These vom Erhabenen als kritischem Gefühl anhand der konkreten Analyse der Kritik, also in der Hauptsache der Kritik der reinen Vernunft, zu erhärten. Hier zeigt sich erst die ganze Bedeutung des Erhabenen innerhalb des Unternehmens der Kritik, hier wird erst seine Sprengkraft und seine ganze kritische Tragweite deutlich, zu der auch ein Seitenblick auf die Metaphysik gehört. (Außerdem erhellen sich rückwirkend einige dunkle Stellen der „Analytik des Erhabenen".) .Natürlich kann es dabei nicht darum gehen, das Erhabene direkt auf die Kritik der reinen Vernunft in dem Sinne .anzuwenden', daß man diese kurzerhand zu einem ästhetischen Unternehmen erklärt. Es geht in der Kritik der reinen Vernunft um ganz etwas anderes, wenn nicht entgegengesetztes, als beim ästhetischen Phänomen des Erhabenen, nämlich um Erkenntnis. Das Erhabene selbst spielt in der Kritik der reinen Vernunft keine Rolle, es wird so gut wie gar nicht erwähnt1. Das möchte ich von vornherein klarstellen. In der Teleologie und, damit zusammenhängend, den geschichtsphilosophischen Schriften, sowie anläßlich des Übergangsproblems im allgemeinen, hatte sich aber ein Mechanismus offenbart, dem zwar das Erhabene als ästhetisches Phänomen zugrunde lag, der aber eine über die Ästhetik im engeren Sinn hinausweisende Struktur offenbarte: das Nebeneinander als paradoxer „Übergang" mit einer gleichzeitigen Negativ-Positiv-Prägung und -Vorgehensweise von Kant selbst. Es ist diese Struktur, auf die hin ich im folgenden die Kritik der reinen Vernunft untersuchen will. Ich habe also wohlgemeiîct nicht die Absicht, das Erhabene auch in Bereiche .hineinzulesen ', in die es nicht gehört, was bei einer Arbeit wie dieser sicherlich immer eine Gefahr darstellt. Nachdem ich jedoch im zweiten Teil die Spuren des Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft auch in Bereiche hinein verfolgt habe, in denen es keine Rolle zu spielen schien, wird es den Leser nicht erstaunen, wenn ich nun behaupte, daß sich auch in der Kritik der reinen Vernunft viele Anklänge an die Struktur des Erhabenen finden. Dabei will ich mich auf zwei zentrale Punkte beschränken, die ganz verschiedene, aber nicht gänzlich voneinander unabhängige Gesichtspunkte der Kritik der reinen Vernunft betreffen. Genauer gesagt machen sie jeweils einen anderen Aspekt des Einflusses des Erhabenen als kritischem Gefühl in der Kritik der reinen Vernunft deutlich, haben also gleichsam exemplarischen Charakter. Sie verfolgen die beiden Tendenzen des Erhabenen aus der Kritik der Urteilskraft - Skandalon und „Übergang" - in einem größeren Rahmen weiter. Gemeinsam werden sie dann an einem dritten Punkt in Erscheinung treten, der für das kritische Unternehmen insgesamt von Bedeutung ist. Der folgende Teil hat also drei Abschnitte: In einem ersten Abschnitt möchte ich dem Erhabenen als ästhetischem Skandalon eine weitere Ausdehnung bis in die Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft, die für Kants Kritik von großer Bedeutung ist, geben. Durch deren Bezug auf die Wahrnehmung im allgemeinen erlangt das Erhabene so eine größere Tragweite, als vielleicht von der Kritik der Urteilskraft aus einsichtig ist. Die erhabene (Un)Form, so meine These, betrifft die transzendentale Ästhetik im wörtlichen Sinne, auch und gerade in bezug auf die weitere Verarbeitung der Wahrnehmungen in der ersten Kri-

1 Wo das Wort .erhaben' in der Kritik der reinen Vernunft fällt, handelt es sich zumeist um umgangssprachliche Formulierungen (vgl. KRV, A 630), die adjektivisch große Höhe und Vornehmheit (vgl. KRV, A 6 [Widmung]; A 313 [Platon]), Gott (vgl. KRV, A 602) oder Übersinnliches (vgl. KRV, A 463 [Ideen]) bezeichnen, systematisch aber so gut wie keine Bedeutung haben.

Die transzendentale Ästhetik

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tik. Man könnte das Erhabene in dieser Hinsicht als interne Krise, als Gefühl einer internen Kritik der Kritik bezeichnen. Im zweiten Abschnitt möchte ich den „Widerstreit" in der transzendentalen Dialektik, der ebenfalls eines der zentralen Motive der Kritik im allgemeinen ist, mit Blick auf das Erhabene untersuchen. Neben erstaunlichen Parallelen zum .erhabenen Widerstreit' auf der Beschreibungsebene wird hier bereits ein weiterführender Faktor deutlich werden: das ,Weder-Noch' und das .Sowohl-Als-Auch', anders gesagt: Nebeneinander und .negativ-positiver' Perspektivenwechsel als Charakteristika des kritischen Geschäfts im ganzen. Auch hier spielt das Erhabene intern eine Rolle, allerdings eine .positivere', .systemförderndere'. Es ist eher Ausdruck des Übergangs als des Skandalons, worin bereits ein externer Blick auf die Kritik im ganzen angelegt ist. Im letzten Abschnitt werden dann die von Kant in der Kritik der reinen Vernunft festgelegten Charakteristika der Kritik selbst auf ihre erhabenen Züge hin beleuchtet, wobei ich den „Gerichtshof der Vernunft", den diese Kritik .darstellt' (und der mehr ist als eine bloße Metapher), insbesondere im Hinblick auf seine Vorgehensweise, seine Resultate und auf sein Verhältnis zur Metaphysik hin untersuchen will. Hierbei werden ,Negativ-PositivStruktur' und ,Weder-Noch' bzw. ,Sowohl-Als-Auch' als kritisches .Nebeneinander' im Zentrum des Interesses stehen, und das Erhabene avanciert extern zum kritischen Gefühl, insofern es das (unendliche) Unternehmen der Kritik (mit ihrem Seitenblick, wenn nicht gar Seitensprung in die Metaphysik) im ganzen in nuce abbildet und motiviert.

3.1. Die transzendentale Ästhetik und die Synthesen der Einbildungskraft Wenn es im folgenden darum gehen soll, das ästhetische Phänomen des Erhabenen aus der dritten Kritik mit der transzendentalen Ästhetik der ersten Kritik in Verbindung zu bringen, dann ist Vorsicht geboten. Denn selbst im Rahmen der Ästhetik der ersten Kritik scheint keine direkte Eingliederung des Erhabenen aus der dritten Kritik möglich. Bekanntlich handelt es sich in beiden Kritiken um zwei ganz unterschiedliche Ästhetikbegriffe. Bevor also die Bedeutung des Erhabenen innerhalb der Ästhetik der ersten Kritik, insbesondere in bezug auf die .Weiterverarbeitung' der hier sich konstituierenden Wahrnehmungen untersucht werden kann, müssen erst die zwei Begriffe von Ästhetik, die hier zugrunde liegen, eine Klärung erfahren. Erst dann kann sinnvoll untersucht werden, was das Erhabene auch mit der Ästhetik der ersten Kritik zu tun haben könnte und inwiefern es darin seine volle Sprengkraft erst erlangt.

3.1.1. Die transzendentale Ästhetik in ihrem Verhältnis zur Ästhetik der dritten Kritik Wie Kant im ersten Paragraphen der Kritik der Urteilskraft zu Beginn der „Analytik des Schönen" ausführt, definiert sich ,das Ästhetische' im Sinne der dritten Kritik dadurch, daß der „Bestimmungsgrund" von etwas „nicht anders als subjektiv sein kann" (KU, Β 4). Diese Definition versteht sich als deutliche Abgrenzung gegen das auf Erkenntnis ausgerichtete logische Urteil der ersten Kritik, in das auch ein ästhetisches Moment hineinspielt, in

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Das Erhabene in der Kritik der reinen Vernunft

dem Sinne, daß die transzendentale Ästhetik die Möglichkeit der Anschauungen bereitstellt, die nötig sind, um einen Begriff darzustellen und somit zur Erkenntnis zu gelangen. Die als „Sinnenvorstellung" verstandene Ästhetik der ersten Kritik ist zwar ebenso subjektiv wie die Ästhetik der dritten Kritik (KU, Β XLIIf.), aber sie gehört zu den logischen, auf das Objekt bezogenen, also objektiven Erkenntnisurteilen, die nichts mit Lust zu tun haben, während die ästhetischen Urteile der dritten Kritik „lediglich auf das Subjekt (sein Gefühl) bezogen" (KU, Β 5) werden, von Begriffen unabhängig sind und im Prinzip gar keinen Bezug zum Objekt haben, jedenfalls nichts über die Beschaffenheit des Objekts aussagen. Über ihre Subjektivität besteht also eine gewisse Verbindung zwischen beiden Ästhetiken. Der Unterschied zwischen ihnen liegt darin, daß das ästhetische Urteil im Sinne der dritten Kritik subjektiv bleibt, während die Ästhetik der ersten Kritik zu objektiven Urteilen beiträgt. Eine weitere Verbindung besteht darin, daß es in beiden Ästhetiken um Anschauungen bzw. Wahrnehmungen (bzw. Vorstellungen der Einbildungskraft) geht, obwohl die jeweilige Zielrichtung eine andere ist. Auch wenn die Ästhetik der dritten Kritik nicht auf Erkenntnis geht und sich von daher von der Ästhetik der ersten Kritik unterscheidet: sie ist bekanntlich auch keine Philosophie der Kunst, zumindest nicht primär, zu der die Ästhetik in Kants Nachfolge reduziert wurde. „Ästhetik" wird vielmehr bei Kant noch im ursprünglichen Sinne von ais thesis, also Wahrnehmung verstanden. Kants Ästhetik bezieht sich in beiden Fällen auf die Wahrnehmung von Naturphänomenen. Nur, daß im einen Fall (dritte Kritik) allein die subjektiven Gefühle, die die Anschauung dieser Naturphänomene ihrer Form nach auslösen, untersucht werden, während Kant im anderen Fall (erste Kritik) die Bedingungen der Möglichkeit von Wahrnehmung überhaupt zwecks .Weiterverarbeitung' zu Erkenntnis prüft. Die Kritik der Urteilskraft richtet ihr Augenmerk auf die Gefühle, die Anschauungen auslösen; die erste Kritik betrachtet dagegen die Möglichkeit dieser Anschauungen selbst. Der Rahmen der Ästhetik der ersten Kritik ist also ungleich weiter: Alles wird wahrgenommen, auch die Phänomene der Ästhetik im engeren Sinne der dritten Kritik, die also ebenfalls auf den reinen Formen der Anschauung a priori von Raum und Zeit, also auf der transzendentalen Ästhetik der ersten Kritik basieren, nur, daß die Anschauungen in der dritten Kritik die reflektierende Urteilskraft beschäftigen, während sie in der ersten Kritik von der bestimmenden Urteilskraft zur Erkenntnis weiterverarbeitet werden. Philosophiehistorisch betrachtet, ist die transzendentale Ästhetik einer der wichtigsten Teile der Kritik der reinen Vernunft. Hier etabliert Kant die Sinnlichkeit im Erkenntnisprozeß, ohne die keine Erkenntnis möglich ist, worauf letzten Endes seine ganze Metaphysikkritik beruht. Kant definiert die transzendentale Ästhetik als „Wissenschaft von allen Prinzipien der Sinnlichkeit a priori"2. Die Sinnlichkeit als ,Jlezeptivität" konstituiert gemeinsam mit dem Verstand, der als Spontaneität" verstanden wird, die Erkenntnis: 2 KRV, Β 35; vgl. entsprechend Β 76: Ästhetik als „Wissenschaft der Regeln der Sinnlichkeit überhaupt". An erstgenannter Stelle grenzt Kant in der berühmt gewordenen Fußnote zu Baumgarten die so verstandene Ästhetik ausdrücklich von einer Ästhetik im Stane der „Kritik des Geschmacks", also im Sinne der dritten Kritik ab. Denn diese sei immer nur empirisch oder psychologisch bzw. zufällig (wohingegen es Kant ja immer um die Prinzipien a priori zu tun ist) (vgl. entsprechend KRV, A 29). Es ist bekannt, das Kant diese Ansicht mit der Kritik der Urteilskraft selbst revidiert.

Die transzendentale Ästhetik

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„Unsere Natur bringt es so mit sich, daß die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann, d.i. nur die Art enthält, wie wir von Gegenständen affiziert werden. Dagegen ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken, der Verstand. Keine dieser Eigenschaften ist der anderen vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe blind. Beide Vermögen, oder Fähigkeiten, können auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daB sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen."3

Die Sinnlichkeit rezipiert also - vor aller Erkenntnis - das, was uns gegeben ist. Innerhalb der Sinnenlehre unterscheidet Kant die empirische Seite, die empirische Anschauungen gestattet und Empfindungen auslöst, welchen die Materie korrespondiert4, und die reinen Anschauungsformen a priori (vgl. KRV, Β 34ff.), die aller Erfahrung und aller empirischen Anschauung vorausgehen und die Bedingung oder den Rahmen der Erfahrung ausmachen, die also vor jeder konkreten, empirischen Anschauung oder Wahrnehmung vorhanden sind. Diese reinen Anschauungsformen sind bekanntlich Raum - als Gegenstand des äußeren - und Zeit - als Gegenstand des inneren Sinns. Sie bilden das Hauptmotiv der transzendentalen Ästhetik. „Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt."5 Ohne diese Vorstellung a priori würden „das Zugleichsein und Aufeinanderfolgen nicht in die Wahrnehmung kommen" (KRV, A 30). „Nur unter deren Voraussetzung kann man sich vorstellen, daß einiges zu einer und derselben Zeit (zugleich) oder in verschiedener Zeit (nacheinander) sei" (ebd.). Bei jeder Erscheinung ist Zeit vorhanden, man kann also die Zeit nicht aufheben, wohl aber die Erscheinungen (vgl. KRV, A 31). „Verschiedene Zeiten sind nur Teile eben derselben Zeit" (KRV, A 31f.). Die Zeit wird dabei als unendlich vorgestellt, d.h. „daß alle bestimmte Größe der Zeit nur durch Einschränkungen einer einigen zum Grunde liegenden Zeit möglich sei" (KRV, A 32). Deshalb ist die Zeit auch nicht durch Begriffe gegeben. Ihr liegt vielmehr eine unmittelbare Anschauung zugrunde (vgl. KRV, A 31), die „subjektive Bedingung" aller Anschauung ist (KRV, A 33). Kant bezeichnet die Zeit (der Vorstellung vom inneren Sinn entsprechend) auch als „innere Anschauung", die „keine Gestalt gibt", weswegen wir uns mit „Analogien" behelfen und uns „die Zeitfolge durch eine ins Unendliche fortgehende Linie" vorstellen (ebd.). Alle Anschauungen sind „nichts als bloße Verhältnisse" von Raum und Zeit (KRV, Β 66). Das Gemüt affiziert sich hier „durch eigene Tätigkeit" selbst (KRV, Β 67f.). Wenn Kant vorher von der reinen Rezeptivität der Sinnlichkeit gesprochen hatte, so scheint er diese Aussage hier durch die Tätigkeit zumindest des inneren Sinnes zu relativieren. Doch die Sinnlichkeit wird nach wie vor ohne Spontaneität vorgestellt: „Das Bewußtsein seiner selbst (Apperzeption) ist die einfache Vorstellung des Ich, und, wenn dadurch allein alles Mannigfaltige im Subjekt selbsttätig gegeben wäre, so würde die innere Anschauung intellektuell sein. Im Menschen erfordert dieses Bewußtsein innere Wahrnehmung von dem Mannigfaltigen, was im Subjekte vorher gegeben wird, und die Art, wie dieses ohne Spontaneität im Gemute gegeben wird, muß, um dieses 3 KRV, Β 75f. Zum unabdinglichen Zusammenwirken der beiden bei der Erkenntnis vgl. auch KRV, Β 146f. und Β 148f. 4 Was - um Verwechslungen vorzubeugen - dem „Angenehmen" in der Kritik der Urteilskraft entspricht, nicht den durch die Form ausgelösten Geßhlen z.B. des Schönen. 5 KRV, A 31. Überdies geht Kant von der Vorstellung aus, daß die Zeit Bedingung aller Erscheinung überhaupt ist, während der Raum nur den äußeren Erscheinungen zugrunde liegt (vgl. KRV, A 34).

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Das Erhabene in der Kritik der reinen Vernunft

Unterschiedes willen, Sinnlichkeit heißen. Wenn das Vermögen sich bewußt zu werden, das, was im Gemiite liegt, aufsuchen (apprehendieren) soll, so muß es dasselbe affizieren, und kann allein auf solche Art eine Anschauung seiner selbst hervorbringen, deren Form aber, die vorher im Gemüte zugrunde liegt, die Art, wie das Mannigfaltige im Gemüte beisammen ist, in der Vorstellung der Zeit bestimmt, da es denn sich selbst anschaut, nicht wie es sich unmittelbar selbsttätig vorstellen würde, sondern nach der Art, wie es von innen affiziert wird, folglich wie es sich erscheint, nicht wie es ist" (KRV, Β 68f.).

Diese Erläuterung, die ein Zusatz der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft ist6 und deutlich macht, daß wir Erscheinungen und nicht Dinge an sich wahrnehmen, greift bereits auf die Synthesen inbesondere der Apprehension vor. Hier sei festgehalten, daß die Zeit zwar nicht als spontan, aber doch als nötiger Zusatz zur Spontaneität des Selbstbewußtseins konzipiert wird, damit die rezeptiven Vorstellungen der Sinnlichkeit erkannt werden können. Wenn sich nun diese Erkenntnis konstitutiv - und das lehrt die transzendentale Ästhetik - aus zwei Bestandteilen, aus Anschauung und Begriff, zusammensetzt, dann stellt sich die Frage, wie reine Anschauungsformen und reine Verstandesbegriffe zusammen agieren, um die reine Erkenntnis, die reinen synthetischen Urteile a priori, um die es in der Kritik der reinen Vernunft geht, zu konstituieren. Wie Kant anläßlich der reinen Verstandesbegriffe ausführt, „hat die transzendentale Logik ein Mannigfaltiges der Sinnlichkeit a priori vor sich liegen, welches die transzendentale Ästhetik ihr darbietet" (KRV, A 76f.). Die reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit liefern also nur Mannigfaltigkeit: „Raum und Zeit enthalten nun ein Mannigfaltiges der reinen Anschauung a priori, gehören aber gleichwohl zu den Bedingungen der Rezeptivität unseres Gemüts, unter denen es allein Vorstellungen von Gegenständen empfangen kann."7

Damit daraus Erkenntnis wird, muß die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen gebündelt, zu einem Ganzen zusammengenommen werden: „Allein die Spontaneität unseres Denkens erfordert es, daß dieses Mannigfaltige zuerst auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen und verbunden werde, um daraus eine Erkenntnis zu machen. Diese Handlung nenne ich Synthesis" (KRV, A 77).

Diese Synthesis, die die „Elemente zu Erkenntnissen sammelt" (ebd.), wird von Kant als „Handlung" verstanden, „verschiedene Vorstellungen zueinander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen. Eine solche Synthesis ist rein, wenn das Mannigfaltige nicht empirisch, sondern a priori gegeben ist (wie das im Raum und der Zeit)" (ebd.).

Wenn man nun aber glaubt, daß angesichts der sinnlichen Rezeptivität für diese Synthesis allein der Verstand zuständig sei, so täuscht man sich. Denn Kant fährt fort: „Die Synthesis überhaupt ist, wie wir künftig sehen werden, die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele" (KRV, A 78).

6 Wie sich überhaupt sehr viele Änderungen gerade im Zusammenhang mit der Ästhetik und den Synthesen finden. Kant hat selbst in der Vorrede zur zweiten Auflage darauf hingewiesen, daß insbesondere die Ästhetik der ersten Auflage mißverstanden worden ist (vgl. KRV, Β XXXVIII). 7 KRV, A 77; vgl. entsprechend Β 136f.

Die „dreifache Synthesis"

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Aufgabe des Verstandes ist es, „diese Synthesis auf Begriffe zu bringen" (ebd.). Die „reine Synthesis" gibt erst „den reinen Verstandesbegriff" (ebd.). Auch in den Anschauungsformen von Raum und Zeit findet also bereits eine Synthese und damit eine „Handlung" statt8. Dieser Punkt wird deutlicher, wenn wir uns nun konkret das Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand zwecks Erkenntnis bei der Synthesis ansehen. Dabei - also in dem Moment, wo die Anschauungsformen .objektiv' sich zur konkreten Erkenntnis wandeln wird sich auch abzeichnen, was die in der transzendentalen Ästhetik beschriebenen Bedingungen der Wahrnehmung im allgemeinen mit der Ästhetik der dritten Kritik und insbesondere mit dem subjektiven Gefühl des Erhabenen zu tun haben könnten.

3.1.2. Die „dreifache Synthesis" Die Beschreibung der „dreifachen Synthesis, die notwendigerweise in allem Erkenntnis vorkommt" {KRV, A 97), findet sich in der berühmten „Deduktion der reinen Verstandesbegriffe", die sicherlich eines der problematischsten Stücke der Kritik der reinen Vernunft ist. Es ist bekannt, daß Kant hier von der ersten zur zweiten Auflage nicht nur Schönheitskorrekturen, sondern große inhaltliche Veränderungen vorgenommen hat, wobei er insbesondere die Bedeutung der Einbildungskraft abschwächt. Da es mir auf die Einbildungskraft ankommt und die „dreifache Synthesis" in der zweiten Auflage nur noch implizit vorkommt, werde ich mich hauptsächlich auf die erste Auflage beziehen, die zweite jedoch, wo es mir nötig erscheint, nicht aus dem Blick verlieren. Generell scheinen mir beide Auflagen bezüglich des Problems, um das es mir geht, vereinbar zu sein. Kant schreibt im „Übergang zur transzendentalen Deduktion der Kategorien", kurz bevor er sich der „dreifachen Synthesis" zuwendet: „Es sind drei ursprüngliche Quellen, (Fähigkeiten oder Vermögen der Seele) die die Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung enthalten und selbst aus keinem anderen Vermögen des Gemüts abgeleitet werden können, nämlich Sinn, Einbildungskraft, und Apperzeption. Darauf gründet sich 1) die Synopsis des Mannigfaltigen a priori durch den Sinn; 2) die Synthesis dieses Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft; endlich 3) die Einheit dieser Synthesis durch ursprüngliche Apperzeption. Alle diese Vermögen haben, außer dem empirischen Gebrauche, noch einen transz., der lediglich auf die Form geht, und a priori möglich ist. Von diesem haben wir in Ansehung der Sinne oben im ersten Teile geredet , die zwei anderen aber wollen wir jetzt ihrer Natur nach einzusehen trachten" (KRV, A 94f.).

Die Einbildungskraft, die Kant hier von der Sinnlichkeit unterscheidet, ist also für die mittlere der drei Synthesen zuständig. Wie wir sehen werden, baut Kant in der Folge diese Mittelstellung der Einbildungskraft zwischen Sinnlichkeit und Verstand im Dienste des Verstandes weiter aus. Doch selbst wenn man von dem beträchtlichen Problem absieht, wie sich dieses dritte Vermögen über den Schematismus in Kants zweigliedriges Erkenntnismodell fügt - ob nämlich die Einbildungskraft der sinnlichen oder der Verstandesseite zuzuschlagen oder von beiden unabhängig ist - , ist Kants dreistufiges Synthesenmodell mehr als komplex. Sehen wir uns also zunächst genau an, wie die drei Synthesen, die „Appresi Diese Unsicherheit Kants bezüglich Rezeptivität oder Spontaneität der Sinnlichkeit veranlaßt Lyotard, bereits zwischen der im Prinzip nur empirisch vorstellbaren Rezeptivität des Sinneneindrucks und seinem transzendentalen Double in Gestalt der reinen Anschauungsformen a priori einen „Widerstreit" anzunehmen, was ich hier jedoch nicht weiter verfolgen will (Jean-François Lyotard, Der München 1987,114).

Widerstreit,

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Das Erhabene in der Kritik der reinen Vernunft

hension der Vorstellungen, als Modifikationen des Gemüts in der Anschauung", die Reproduktion derselben in der Einbildung" und die „Rekognition im Begriffe" (KRV, A 97) nach Kant .funktionieren'. Die erste Synthese, die Apprehension in der Anschauung, ist eine Art Minimalsynthese. Kant hatte sie oben „Synopsis" genannt. Hier geht Kant entsprechend den in der transzendentalen Ästhetik dargelegten reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit davon aus, daß alle Vorstellungen „als Modifikationen des Gemüts zum inneren Sinn" der „formalen Bedingung" dieses inneren Sinns, „nämlich der Zeit" unterworfen sind (KRV, A 99): J e d e Anschauung enthält ein Mannigfaltiges in sich, welches doch nicht als ein solches vorgestellt werden würde, wenn das Gemüt nicht die Zeit, in der Folge der Eindrücke aufeinander unterschiede: denn als in einem Augenblick enthalten, kann jede Vorstellung niemals etwas anderes, als absolute Einheit sein" (ebd.).

Hier deutet sich bereits ein Unterschied bzw. eine Präzisierung gegenüber der transzendentalen Ästhetik an: Hieß es dort zumindest hauptsächlich noch, daß die reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit dem Verstände sinnliche Mannigfaltigkeit liefern, so wird hier klar, daß die reinen Anschauungs/ome« bereits eine, wenngleich minimale, Synthese bedeuten. Dieser Eindruck erhärtet sich im folgenden: „Damit nun aus diesem Mannigfaltigen Einheit der Anschauung werde, (wie etwa in der Vorstellung des Raumes), so ist erstlich das Durchlaufen der Mannigfaltigkeit und dann die Zusammennehmung desselben notwendig, welche Handlung ich die Synthesis der Apprehension nenne, weil sie geradezu auf die Anschauimg gerichtet ist, die zwar ein Mannigfaltiges darbietet, dieses aber als ein solches, und zwar in einer Vorstellung enthalten, niemals ohne eine dabei vorkommende Synthesis bewirken kann" (ebd.).

Damit die betreffende Vorstellung überhaupt als eine Vorstellung wahrgenommen werden kann, ist also bereits eine Synthese auf der Ebene der Anschauung selbst notwendig. Die ursprüngliche Rezeptivität der Sinnlichkeit bleibt dabei erhalten (die Synthese ist also so minimal, daß Kant sie nicht als Spontaneität bzw. Aktivität des Gemüts zu verbuchen scheint)9. Es findet also bereits auf der Ebene der Sinnlichkeit eine Synthese statt10. 9 Wenn Kant hier auch eine merkwürdige Umkehrung des Verhältnisses von Raum und Zeit und der Synthese vornimmt. Hatte er eben die Synthesis der Apprehension gleichsam als Resultat aus den reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit - vor allem der Zeit - präsentiert, so behauptet er nun, daß „diese nur durch die Synthesis des Mannigfaltigen, welches die Sinnlichkeit in ihrer ursprünglichen Rezeptivität darbietet, erzeugt werden können" (KRV, A 100). Heidegger hat dafür eine einleuchtende Erklärung: die Zeit wird erst durch diese Synthese, die er zeitlich als Dimension der Gegenwart denkt, konstituiert (vgl. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 4. erw. Aufl. Frankfurt/M. 1973,173f.). 10 In der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft sieht es zunächst so aus, als ob alle Synthesis allein auf der Verstandesseite liegen würde (vgl. z.B. KRV, Β 130). Da Kant hier fast ausschließlich auf die dritte Synthese der ersten Auflage, die Apperzeption, abhebt und das damit verbundene Bewußtsein des „Ich denke", den Begriff und die objektive Erkenntnis in den Vordergrund stellt, und überdies alle Einheit in der Anschauung als empirisch und subjektiv abqualifiziert (vgl. KRV, Β 139f.), während er ihr auf der Ebene der Apprehension in der ersten Auflage noch Apriorität zugesprochen hatte (vgl. KRV, A 99), scheint hier eine der angesprochenen gravierenden Veränderungen der zweiten Auflage im Hinblick auf die Einbildungskraft vorzuliegen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß Raum und Zeit zumindest als Formen gedacht werden, die Mannigfaltiges „enthalten" (KRV, Β 136, Anm. oder auch Β 140 oder Β 160f.) und insofern auch eine Minimalsynthese liefern. Da es im Hinblick auf die dritte Kritik nicht um die dritte Synthese des Verstandes (der zumindest in seiner bestimmenden Funktion keine Rolle mehr spielt) geht, die letztlich die objektive Erkenntnis garantiert, können wir auch die Verschiebung von der ersten zur zweiten Auflage soweit vernachlässigen, wie Kant die erste und zweite Synthese im Prinzip intakt läßt und sie bloß

Die „dreifache Synthesis"

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Die zweite der Synthesen, die Synthesis der Reproduktion durch die Einbildungskraft, ist in ihrem Verhältnis zur ersten nicht ganz leicht zu bestimmen. Kant hatte sie eingangs einfach als „Synthesis des Mannigfaltigen" bezeichnet, so daß es so scheint, als ob sie der eben beschriebenen „Synopsis" gleiche. Wenn er sie jetzt genauer beschreibt, so sieht es überdies zunächst nur so aus, als sei die Synthesis der Reproduktion nur dazu da, die eben beschriebenen synthetisierten Gegenstände „auch ohne die Gegenwart des Gegenstandes" ins Gedächtnis zu rufen (KRV, A 100). Doch eigentlich geht es bei dieser zweiten Synthese bereits nicht mehr um die Minimalsynthese, die garantiert, eine Vorstellung als eine wahrzunehmen, sondern um die Verbindung zweier oder mehrerer Vorstellungen (schließlich befinden wir uns auf dem Weg zu den Kategorien): Ich muß die erste Vorstellung reproduzieren können, um die zweite auf sie beziehen zu können usw., auch wenn es sich um nur einen Gegenstand zu verschiedenen Zeiten handelt. Dennoch bleibt ein Bezug zur ersten Synthese gewahrt, wie Kants Beispiel deutlich macht: „Nun ist offenbar, daß, wenn ich in Gedanken eine Linie ziehe, oder die Zeit von einem Mittag zum anderen denken, oder auch nur eine gewisse Zahl mir vorstellen will, ich erstlich notwendig eine dieser mannigfaltigen Vorstellungen nach der anderen in Gedanken fassen müsse. Würde ich aber die vorhergehende (die ersten Teile der Linie, die vorhergehenden Teile der Zeit, oder die nacheinander vorgestellten Einheiten) immer aus den Gedanken verlieren, und sie nicht reproduzieren, indem ich zu den folgenden fortgehe, so würde niemals eine ganze Vorstellung, und keiner aller vorgenannten Gedanken, ja gar nicht einmal die reinsten und ersten Grundvorstellungen von Raum und Zeit entspringen können" (KRV, A 102).

Man könnte also sagen, daß die Synthese der Reproduktion zwar nach einem größeren Maßstab vorgeht als die Synthese der Apprehension, daß ihre Beschreibung aber auch auf die Synthese der Apprehension zutreffen würde. Denn wenn es darum geht, einen Gegenstand als einen zu synthetisieren, darf man auch nicht die bereits angeschauten Teile dieses Gegenstands vergessen, wenngleich das im Normalfall sicher unproblematisch ist. Daher fährt Kant fort: „Die Synthesis der Apprehension ist also mit der Synthesis der Reproduktion unzertrennlich verbunden" (ebd.). Auf diese Verbindung führt er dann auch die Apriorität der Synthese der Reproduktion, die er vorher nur behauptet hatte (vgl. KRV, A 101), zurück11. mehr dem Verstand unterstellt. Dort, wo Kant in der zweiten Auflage explizit von der Synthesis der Apprehension spricht, wird sie dann auch der ersten Auflage entsprechend beschrieben: „Wir haben Formen der äußeren sowohl als inneren sinnlichen Anschauung a priori an den Vorstellungen von Raum und Zeit, und diesen muß die Synthese der Apprehension des Mannigfaltigen der Erscheinung jederzeit gemäß sein, weil sie selbst nur nach dieser Form geschehen kann. Aber Raum und Zeit sind nicht bloß Formen der sinnlichen Anschauung, sondern als Anschauungen selbst (die ein Mannigfaltiges enthalten) also mit der Bestimmung der Einheit dieses Mannigfaltigen in ihnen a priori vorgestellt" (KRV, Β 160; vgl. auch die darauf folgende Fußnote, Β 160 f.). 11 Vgl. KRV, A 102. Für die zweite Auflage gilt ähnlich wie für die erste Synthese, daß Kant die zweite Synthese im Hinblick auf die Erkenntnis static von der dritten abhängig macht und in stärkerem Maße auf die Empirizität eingeht, daß sie im Prinzip aber erhalten bleibt. Die Einbildungskraft wird dabei als Mittelglied zwischen Sinnlichkeit und Verstand gedacht: „Nun ist das, was das Mannigfaltige der sinnlichen Anschauung verknüpft. Einbildungskraft, die vom Verstände der Einheit ihrer intellektuellen Synthesis, und von der Sinnlichkeit der Mannigfaltigkeit der Apprehension nach abhängt" (KRV, Β 164). Zur Mittelstellung der .transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft", vgl. auch KRV, Β 153f. und Β 151f.: „Da nun alle unsere Anschauung sinnlich ist, so gehört die Einbildungskraft, der subjektiven Bedingung wegen, unter der sie allein den Verstandesbegriffen eine korrespondierende Anschauung geben kann, zur Sinnlichkeit', sofern aber doch ihre Synthesis eine Ausübung der Spontaneität ist. welche bestimmend, und nicht, wie der

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Das Erhabene in der Kritik der reinen Vernunft

Die dritte Synthese schließlich, die Synthesis der Rekognition im Begriffe, garantiert die für die Erkenntnis notwendige transzendentale Einheit der Apperzeption. Entscheidend für die dritte Synthese ist das als „Aktus" verstandene „Bewußtsein", daß ich synthetisiere: „Vergesse ich im Zählen: daß die Einheiten, die mir jetzt vor Sinnen schweben, nach und nach zueinander von mir hinzugetan worden sind, so würde ich die Erzeugung der Menge, durch diese sukzessive Hinzutuung von Einem zu Einem, mithin auch nicht die Zahl erkennen; denn dieser Begriff besteht lediglich in dem Bewußtsein dieser Einheit der Synthesis" (KRV, A 103).

Die dritte Synthese stellt also die zweite (und im Prinzip auch die erste) noch einmal mit Bewußtsein vor und bestimmt sie dadurch. Aus diesem Bewußtsein folgen alle Begriffe (vgl. KRV, A 104). Der Gegenstand, der erkannt werden soll, und den wir nur in seiner Mannigfaltigkeit wahrnehmen können, wird als „X" vorgestellt, und dieses „X" ist „nichts anderes als die formale Einheit des Bewußtseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen" (KRV, A 105). Der transzendentale Grund dieser Einheit liegt in der „transzendentalen Apperzeption", die ein „stehendes Selbst" konstituiert (KRV, A 106f.) - das Kantische „Ich", das Bewußtsein12. Im folgenden beschreibt Kant, wie die drei Synthesen bei der Erkenntnis zusammenwirken. Da es uns nicht um die der Kritik der reinen Vernunft eigene Frage der Erkenntnis zu tun ist, sondern nur um den möglichen Bezug zur dritten Kritik, wo die dritte Synthese, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete bzw. .unbestimmte' Rolle spielt, hier nur soviel dazu: Alle drei Synthesen äußem sich empirisch: „Der Sinn stellt die Erscheinungen empirisch in der Wahrnehmung vor, die Einbildungskraft in der Assoziation (und Reproduktion), die Apperzeption in dem empirischen Bewußtsein der Identität dieser reproduktiven Vorstellungen mit den Erscheinungen, dadurch sie gegeben waren, mithin in der Rekognition" (KRV, A 115).

Und alle drei haben einen transzendentalen Grund: „Es liegt aber der sämtlichen Wahrnehmung die reine Anschauung (in Ansehung ihrer als Vorstellungen die Form der inneren Anschauung, die Zeit.) der Assoziation die reine Synthesis der Einbildungskraft, und dem empirischen Bewußtsein die reine Apperzeption, d.i. durchgängige Identität seiner selbst bei allen möglichen Vorstellungen, a priori zum Grunde" (KRV, A 115f.).

Für die - für die Erkenntnis wichtigste - dritte Synthese ist der Verstand zuständig (vgl. KRV, A 119), für die zweite Synthese, wie wir gesehen haben, die Einbildungskraft. Bleibt die Frage, welches Vermögen die erste Synthese, die Synthese der Apprehension, vollzieht. Ebenso wie Kant in der transzendentalen Ästhetik von Sinnlichkeit allgemein gesprochen hatte und von keinem konkreten Vermögen, hat er sich auch in der Beschreibung der Synthesen darüber bedeckt gehalten, welches Vermögen diese, der transzendentalen Ästhetik gleichsam korrespondierende Synthese vornimmt. Erst jetzt, wo er das ZuSinn, bloß bestimmbar ist, mithin a priori den Sinn seiner Form nach der Einheit der Apperzeption gemäß bestimmen kann, so ist die Einbildungskraft sofern ein Vermögen, die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen, und ihre Synthesis der Anschauungen, den Kategorien gemäß, muß die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft sein . Sie ist als figürlich, von der intellektuellen Synthesis ohne alle Einbildungskraft bloß durch den Verstand unterschieden. Sofern die Einbildungskraft nun Spontaneität ist, nenne ich sie auch bisweilen die produktive Einbildungskraft ". 12 In der zweiten Auflage verhält es sich ähnlich, wenn auch die dritte Synthese, wie gesagt, mehr in den Vordergrund tritt.

Die Synthesen in der dritten Kritik

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sammenspiel der drei Synthesen beschreibt, wird deutlich, daß es sich ebenfalls um die Einbildungskraft handelt: „Das Erste, was uns gegeben wird, ist Erscheinung, welche, wenn sie mit Bewußtsein verbunden ist, Wahrnehmung heißt . Weil aber jede Erscheinung ein Mannigfaltiges enthält, mithin verschiedene Wahrnehmungen im Gemüte an sich zerstreut und einzeln angetroffen werden, so ist eine Verbindung derselben notwendig, welche sie in dem Sinne selbst nicht haben können. Es ist also in uns ein tätiges Vermögen der Synthesis des Mannnigfaltigen, welches wir Einbildungskraft nennen, und deren unmittelbar an den Wahrnehmungen ausgeübte Handlung ich Apprehension nenne. Die Einbildungskraft soll nämlich das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild bringen; vorher muß sie also die Eindrücke in ihre Tätigkeit aufnehmen, d.i. apprehendieren" (KRV, A 119f.).

Was folgt, ist bekannt: die Apprehension - durch die produktive Einbildungskraft - allein liefert noch „kein Bild und keinen Zusammenhang der Eindrücke". Dafür ist die reproduktive Einbildungskraft (die zweite Synthese) zuständig, die wiederum von der Regel, die der Verstand gibt (dritte Synthese), geleitet wird, weil sonst ein „bloß regellose Haufen" von Eindrücken dabei herauskommt13. Die Apperzeption muß „zu der reinen Einbildungskraft hinzukommen , um ihre Funktion intellektuell zu machen. Denn an sich ist die Synthesis der Einbildungskraft, obgleich a priori ausgeübt, dennoch jederzeit sinnlich" (KRV, A 124). Die Einbildungskraft ist also das Mittelglied von den Sinnen zum Verstand (vgl. ebd.). Trotz Kants Unterscheidung von produktiver und reproduktiver Einbildungskraft gehören die erste und die zweite Synthese eng zusammen. Beide werden von der Einbildungskraft vorgenommen und der eigentlichen Verstandestätigkeit, die in der dritten Synthese zum Ausdruck kommt, vorgeschaltet14.

3.1.3. Die Synthesen in der dritten Kritik Die drei Synthesen der ersten Kritik werden von Kant im Kontext der Untersuchung der Möglichkeit von Erkenntnis eingeführt. Da es in der Kritik der Urteilskraft nicht um Erkenntnis geht, liegt der Schluß nahe, daß sie hier keine Bedeutung haben. Doch Kant geht es in der transzendentalen Ästhetik und bei der Untersuchung der dreifachen Synthesis um den Anteil der Sinnlichkeit bei der Erkenntnis. Für die Erkenntnis hat die sinnliche Anschauung ohne die Verstandesbegriffe zwar keinen Wert. Im Hinblick auf die Kritik der Urteilskraft kann man aber ohne allzu große Forcierung sagen, daß Kant hier versucht, der Sinnlichkeit als solcher - ohne die Erkenntnisperspektive der ersten Kritik - gerecht zu werden. Die Einbildungskraft als sinnliches Vermögen steht hier nicht mehr im Dienste des Verstandes - zwecks Erkenntnis - , sondern tritt als freies Vermögen in ein gleichberechtigteres Verhältnis zum Verstand - und zur Vernunft. Es geht hier nicht mehr darum, wie Wahrnehmungen zu Erkenntnissen weiterverarbeitet werden, sondern darum, wie diese Wahrnehmungen für sich in das transzendentale System eingegliedert werden können, in-

13 KRV, A 121, wobei das Hervorheben des reproduktiven Charakters der Einbildungskraft der eben erwähnten Stelle zu deren Mittelstellung, anläßlich der eine Definition ihres produktiven Charakters erfolgt (vgl. KRV, Β 151 f.), zu widersprechen scheint. Hieran zeigt sich eine Unsicherheit Kants bezüglich der Frage, welche Rolle die Einbildungskraft wirklich spielt. Zur Unterscheidung von reproduktiver und produktiver Einbildungskraft vgl. auch Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, a.a.O., 176. 14 Auch Deleuze sieht sie als zusammengehörig in Absetzung von der dritten Synthese des Verstandes an, vgl. Deleuze, Kants kritische Philosophie, a.a.O., 43f.

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Das Erhabene in der Kritik der reinen Vernunft

dem Kant untersucht, welche Gefühle sie auslösen. In dieser Hinsicht müßten die Synthesen den Wahrnehmungen auch der dritten Kritik zugrunde liegen15. Wie wir oben gesehen hatten, bedeutet „Ästhetik" in der dritten Kritik lediglich, daß es hier um einen rein subjektiven Zustand des Subjekts ohne Aussagefähigkeit über das Objekt geht. Ein Objekt wird wahrgenommen und löst im Subjekt ein Gefühl aus; dieses kann aber nicht als Attribut des Gegenstandes gelten. Das unterscheidet die dritte von der ersten, auf Objektivität ausgerichteten Kritik, mit den ersten beiden Synthesen ist die Ästhetik der dritten Kritik aber durchaus vereinbar: erst die dritte Synthese macht die beiden ersten objektiv16. Die beiden ersten sind, wie wir gesehen haben, unbestimmt und subjektiv17 - wie die Gefühle in der dritten Kritik. So wie hier - wie in der Analyse des Erhabenen deutlich wurde - die Einbildungskraft nicht weiß, was sie tut, ist sie dort „blind" (KRV, A 78) und produziert ebensolche Anschauungen (vgl. KRV, A 51). Natürlich geht es in der Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft nicht um Gefühle des Subjekts. Aber die Ästhetik der ersten Kritik bleibt in der dritten insofern in Kraft, als es auch hier - unter Ausblendung der Erkenntnis - um Wahrnehmungen und ihre Folgen geht. Es ist so, als ob man die transzendentale Ästhetik ohne ihre .Weiterverarbeitung' zur Erkenntnis, also nur im Hinblick auf die ersten beiden Synthesen läse. Auch diese These läßt sich m.E. erhärten, wenn man sich die dritte Kritik näher ansieht. Der Bezug von Kants Analyse des Schönen zur ersten Kritik ist - insbesondere hinsichtlich der Einheitsaufgabe qua Spezifikation der dritten Kritik - nicht zu übersehen. Das Schöne ist die Stimmung zur „Erkenntnis überhaupt", und es sind die gleichen Vermögen, nämlich Einbildungskraft und Verstand, im Spiel. Von Synthesen ist hier allerdings nirgends die Rede. Ein Gegenstand löst durch seine Form ein harmonisches Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand und damit das Lustgefühl des Schönen aus. In Anlehnung an die „Darstellung" der ersten Kritik - die Darstellung eines Verstandesbegriffes besteht darin, ihm eine ihm korrespondierende Anschauung zu unterlegen (vgl. KU, Β XLIX) kann Kant hier zwar (in der „Analytik des Erhabenen"!) davon sprechen, daß im Gefühl des Schönen ein unbestimmter Verstandesbegriff durch die Einbildungskraft dargestellt wird (vgl. KU, Β 75), und spricht er auch von der Einbildungskraft als Vermögen der Darstellung18. Doch was hat das mit den Synthesen zu tun? 15 Die Rede von „Wahrnehmungen" in bezug auf die dritte Kritik ist zwar etwas ungewohnt, aber ohne Zweifel zutreffend. Sie kommt bei Kant selbst vor (vgl. z.B. EE, 25 und 26; vgl auch KU, Β XLVI). 16 Zumindest ist dies nach Kants Vorstellung so. Nach Heideggers These, daß die Einbildungskraft (als Zeit) Anschauung und Verstand und damit allen drei Synthesen zugrunde liegt, wäre diese Frage neu zu stellen. 17 Zur Objektivität vgl. auch^ÄV, Β 137f; zur Unbestimmtheit, Β 145. Raum und Zeit sind unbestimmt (vgl. KRV, A 20f., Β 48) und werden erst durch den Verstand bestimmt (vgl. auch Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Hamburg 1976, im folgenden als Pro/, nach dem Text der Meiner-Ausgabe unter Angabe der Seitenzahlen der Akademie-Ausgabe im laufenden Text zitiert, S. 321f.), bzw. durch Vermittlung des (ebenfalls von der Einbildungskraft hervorgebrachten) Schemas (vgl. KRV, A 141f.), als „sinnliche Begriff", der dann auch die Objektivität gewährleistet (KRV, A 146). Zum Schema (und seiner Beziehung zur „Form" der Kritik der Urteilskraft) wäre viel zu sagen, was ich in diesem Rahmen nicht tun kann. 18 Vgl. KU, Β 54, wobei Auffassung und Darstellung als ein und desselbe betrachtet werden (vgl. KU, Β 132). In Anlehnung an die erste Kritik kann Kant in der dritten Kritik die Einbildungskraft auch als „Vermögen der Anschauungen a priori" bezeichnen (KU, Β XLIV) und die Einbildungskraft auch Vermögen „der Anschauungen oder Darstellungen" nennen (KU, Β 146) (wobei er so tut, als liefere im Schönen die Einbildungskraft die Mannigfaltigkeit und der Verstand die Einheit, vgl. KU, Β 145f.). Im einen Fall ist die Dar-

Die Synthesen in der dritten Kritik

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Das Gefühl des Schönen hängt von der Wahrnehmung der Form eines Gegenstandes ab. Von dieser Form ist zwar in der „Analytik des Schönen" viel die Rede - garantiert doch letztlich sie den transzendentalen Status des Schönen, und ist sie es, die das harmonische Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand widerspiegelt - , doch wie diese Form zustandekommt, darüber erfahren wir fast nichts. Im Rahmen der Analyse des Schönen finden sich diesbezüglich nur einige undeutliche Hinweise. So fällt beispielweise in §14 („Erläuterung durch Beispiele") im Rahmen einer Diskussion von Eulers Behauptungen über die Farben eher beiläufig die Bemerkung, daß die Form „Einheit des Mannigfaltigen" sei (KU, Β 40). Die darauf folgende Bestimmung der Form als Gestalt oder Spiel (der Gestalten oder der Empfindungen, vgl. KU, Β 42), ist dann allerdings - wie vieles in den „Erläuterungen durch Beispiele" - zwar sehr reich an Gedanken und Unterscheidungen, aber analytisch nicht besonders aufschlußreich. Sie bezieht sich wiederum allein auf das Verhältnis der involvierten Vermögen und sagt im Prinzip nichts genaueres über die Form aus. An anderer Stelle bezeichnet Kant das Schöne als Gefühl „des inneren Sinns" (also der Zeit) QCU, Β 47), was auf einen Bezug zur ersten Kritik schließen ließe, ihn aber nicht deutlicher macht. Diese Andeutungen werden erst durch die „Analytik des Erhabenen" erhellt. So wie sich Kants Bemerkungen zur „Darstellung" (mit einer Ausnahme) erst zu Beginn der „Analytik des Erhabenen" finden, so gibt die Analyse des Erhabenen, und zwar des Mathematisch-Erhabenen (ex negativo), näheren Aufschluß über das Zustandekommen der für das Gefühl des Schönen konstitutiven Form, und zwar so, daß man die Ergebnisse auf das Schöne rückapplizieren kann. Im Kapitel über das Mathematisch-Erhabene beschreibt Kant ausführlich die sogenannte „ästhetische Größenschätzung", in der die Einbildungskraft allein ohne Zuhilfenahme des Verstandesbegriffes die Größe eines Gegenstandes einschätzt, indem sie ihn zu einem Bild synthetisiert. Darin bestand der Unterschied zur logischen Größeneinschätzung, in der eine Größe durch Verstandesbegriffe bestimmt wird, die also der in der ersten Kritik beschriebenen Tätigkeit entsprechen würde. Die ästhetische Größenschätzung ist viel unbestimmter als die logische und liegt dieser, wie Kant vermerkt, zugrunde (so wie, könnte man vielleicht sagen, die ersten beiden Synthesen der dritten vorangehen). Deshalb kann jeder Gegenstand hinsichtlich seiner Größe ästhetisch eingeschätzt werden, auch ein .schöner Gegenstand'. Natürlich ist bei einem Gegenstand, der als schön empfunden wird, die Größe nicht so entscheidend wie beim Gefühl des Erhabenen. Gleichwohl spielt sie eine Rolle, wenn auch allerdings nicht die, die Kant ihr zuschreibt, wenn er von der Größe der Schönheit spricht (vgl. KU, Β 83f.); denn sie ist entscheidend, wenn der Gegenstand als Form wahrgenommen werden soll. Beim Mathematisch-Erhabenen spricht Kant davon, daß dieses Gefühl nicht durch die Form des Gegenstandes ausgelöst wird, sondern von seiner Formlosigkeit oder Unform. Die Unförmigkeit kommt dadurch zustande, daß der Gegenstand ,zu groß' ist. Wenn er als eine Form empfunden werden soll, darf er eine bestimmte Größe - das Maximum der ästhetischen Größenschätzung - nicht überschreiten. Das heißt, daß auch für das Gefühl der Schönheit eine bestimmte, eben nicht ,zu große' Größe einschlägig sein müßte, damit der Gegenstand als Form überhaupt wahrgenommen wird. Stellung Akt der bestimmenden, im anderen der reflektierenden Urteilskraft (vgl. mit Bezug auf die Darstellung neben KU. Β XLIX auch EE, 25f.).

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Das Erhabene in der Kritik derreinen Vernunft

Es ist nicht verwunderlich, daß Kant dies in der Analyse des Schönen nicht erwähnt. Denn hier ist die Größe des Gegenstandes kein Problem19. Rufen wir uns deshalb in Erinnerung, wie die Größe in der „Analytik des Erhabenen" zum Problem wird. Denn hier kommen die Synthesen der ersten Kritik ins Spiel. Wir hatten oben gesehen, wie Kant das Scheitern der ästhetischen Größenschätzung beschreibt, so daß der Gegenstand „formlos und ungestalt" erscheint. Wenn man die oben ebenfalls referierte Beschreibung der beiden ersten Synthesen parallel dazu liest, so wird die Entsprechung bis in die Wortwahl offenkundig. Es findet jedoch auch eine Präzisierung der Arbeit der Einbildungskraft gegenüber der ersten Kritik statt, die diese modifiziert. Zunächst zu den Übereinstimmungen: Die freie Einbildungskraft arbeitet in der dritten Kritik entsprechend der ersten Kritik, nur daß eben jede Zuhilfenahme des Verstandes (in seiner bestimmenden Funktion) wegfällt, aus dem die .Unfreiheit' der Einbildungskraft in der ersten Kritik resultierte. Um einen Gegenstand als ästhetische Form wahrzunehmen, nimmt sie die gleichen Synthesen vor wie in der ersten Kritik·. Erst „läuft" sie den Gegenstand „durch" bzw. faßt ihn auf hier variieren die Formulierungen - , dann muß sie die so aufgefaßten Teile noch zusammenfassen oder zusammennehmen, und diese letztere Synthese mißlingt bei den .erhabenen Gegenständen': „Mit der Auffassung hat es keine Not, denn damit kann es ins Unendliche gehen; aber die Zusammenfassung wird immer schwerer, je weiter die Auffassung fortrückt, und gelangt bald zu dem Maximum, nämlich dem ästhetisch-größten Grundmaße der Größenschätzung. Denn wenn die Auffassung so weit gelangt ist, daß die zuerst aufgefaßten Teilvorstellungen der Sinnenanschauung in der Einbildungskraft schon zu erlöschen anheben, indes daß diese zu Auffassung mehrerer fortrückt, so verliert sie auf einer Seite ebensoviel, als sie auf der andern gewinnt, und in der Zusammenfassung ist ein Größtes, über welches sie nicht hinauskommen kann" (KU, Β 87).

Vergleicht man damit Kants Beispiel von der Linie (das zugleich ein Beispiel für die Zeit ist) für die zweite Synthese in der Kritik der reinen Vernunft, so erscheint die eben zitierte Passage geradezu wie deren Paraphrase: „Nun ist offenbar, daß, wenn ich in Gedanken eine Linie ziehe, ich erstlich notwendig eine diese mannigfaltigen Vorstellungen nach der anderen in Gedanken fassen müsse. Würde ich aber die vorgehende (die ersten Teile der Linie ) immer aus den Gedanken verlieren, und sie nicht reproduzieren, indem ich zu den folgenden fortgehe, so würde niemals eine ganze Vorstellung, und keiner aller vorgenannten Gedanken, ja nicht einmal die reinsten und ersten Grundvorstellungen von Raum und Zeit entspringen können" (KRV, A 102).

Die Parallele scheint mir evident. Es ist die zweite Synthese, für die die Einbildungskraft zuständig ist, die anläßlich der .erhabenen Gegenstände' mit der ästhetischen Größenschätzung scheitert. Doch wie steht es mit der ersten Synthese, mit der die zweite ja in einem gewissen Zusammenhang stand und für die ebenfalls die Einbildungskraft verantwortlich zeichnet? Wenn man diese erste Minimalsynthese der Apprehension wörtlich nimmt, dann sieht es so aus, als sei sie von den .erhabenen Gegenständen' nicht betroffen. Denn .Apprehendieren' ist bei Kant gleichbedeutend mit .Auffassen' (vgl. KU, Β XLIV), und mit der Auffassung hat es ja, wie wir eben gehört haben, beim Gefühl des Erhabenen „keine Not". 19 Entsprechend macht Kant hier keinen Unterschied zwischen Auffassung und Zusammenfassung (und Darstellung).

Die Sprengung der Synthesen durch das Erhabene

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Wenn man die erste Synthese als diejenige Tätigkeit (bzw. Rezeptivität) versteht, die dazu führt, daß Gegenstände überhaupt wahrgenommen (im Sinne von aufgefaßt) werden, dann bestünde bei .erhabenen Gegenständen' kein Problem: denn wahrgenommen werden diese unbestreitbar. Doch, wie wir gesehen haben, geht es in der ersten Synthese trotzdem um eine gewisse, wenn auch minimale Einheit. Für die erste Synthese war eigentlich entscheidend, daß der betreffende Gegenstand als ein Gegenstand wahrgenommen wird oder, um es mit Heidegger zu formulieren, daß dieser Gegenstand als einer in einem Augenblick, dem Jetzt, wahlgenommen wird. Entsprechend hatte Kant für die erste Synthese geschrieben: „Jede Anschauung enthält ein Mannigfaltiges in sich, welches doch nicht als ein solches vorgestellt werden würde, wenn das Gemüt nicht die Zeit, in der Folge der Eindrücke aufeinander unterschiede: denn als in einem Augenblick enthalten, kann jede Vorstellung niemals etwas anderes, als absolute Einheit sein" (KRV, A 99).

Könnte man diese Stelle im Grenzfall noch so verstehen, daß es um die Wahrnehmung der Teilvorstellungen eines Gegenstandes jeweils in einem Augenblick ohne deren Synthese geht, so wird die Synthese vollends deutlich, wenn Kant gleich darauf vom „Zusammennehmen" spricht: „Damit nun aus diesem Mannigfaltigen Einheit der Anschauung werde, , so ist erstlich das Durchlaufen der Mannigfaltigkeit und dann die Zusammennehmung desselben notwendig, welche Handlung ich die Synthesis der Apprehension nenne, weil sie geradezu auf die Anschauung gerichtet ist, die zwar ein Mannigfaltiges enthält, dieses aber als ein solches, und zwar in einer Vorstellung enthalten, niemals ohne eine dabei vorkommende Synthesis bewirken kann" (ebd.).

Es scheitert also auch die erste Minimalsynthese anläßlich der .erhabenen Gegenstände', die eben nicht, wie es zuerst scheint, dem bloßen .Auffassen' (und die zweite Synthese dem .Zusammenfassen') entspricht20. Insofern erweist sich der Rückgriff auf die erste Kritik für die Erklärung des Erhabenen als hilfreich. Umgekehrt wird anläßlich des Scheiterns der ersten beiden Synthesen beim Erhabenen noch einmal deren in der ersten Kritik nur unterbelichteter Zusammenhang deutlich. Sie werden beide von der Einbildungskraft vollzogen21. Das Scheitern der ästhetischen Größenschätzung im Erhabenen zeigt ex negativo, daß die (ersten beiden) Synthesen auch in der dritten Kritik und im Gefühl des Schönen (unbemerkt) wirksam sind. Was hat nun das Scheitern der Synthesen im Erhabenen für weiterreichende Folgen?

3.1.4. Die Sprengung der Synthesen durch das Erhabene Kant hatte das .Raum-Problem', das das Mathematisch-Erhabene aufgrund seiner Größe aufgibt, mit deutlichem Bezug auf die Zeit beschrieben. (Das entspricht der grundlegenderen Position der Zeit gegenüber dem Raum in der Kritik der reinen Vernunft.) Die „Mes20 Vgl. auch Kaulbach, der den „Bewegungscharakter der Apprehension" hervorhebt (Kaulbach, Ästhetische Welterkenntnis..., a.a.O., 179). 21 Was wiederum Kants Sicht des Schönen, daß hier eindeutig die Einbildungskraft die Mannigfaltigkeit und der Verstand die Einheit .liefere', korrigiert. Das Erhabene zeigt nicht nur, daß Auffassung und Zusammenfassung (bzw. Darstellung) nicht dasselbe sind, wie im Schönen, es läßt sogar die .Auffassung' (erste Synthese) scheitern.

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Das Erhabene in der Kritik der reinen Vernunft

sung eines Raums", um auch das noch einmal in Erinnerung zu rufen, ist für ihn ein „Progressus", „die Zusammenfassung der Vielheit in die Einheit nicht des Gedankens, sondern der Anschauung, mithin des Sukzessiv-Aufgefaßten in einen Augenblick, ist dagegen ein Regressus, der die Zeitbedingung im Progressus der Einbildungskraft wieder aufhebt und das Zugleichsein anschaulich macht" (KU, Β 99).

Bei dieser Zusammenfassung wird - „da die Zeitfolge eine Bedingung des inneren Sinns und einer Anschauung ist" (KU, Β 99f.) - „dem inneren Sinne Gewalt an, die desto merklicher sein muß, je größer das Quantum ist, welches die Einbildungskraft in eine Anschauung zusammenfaßt" (KU, Β 100). Mit Bezug auf die ersten beiden Synthesen der ersten Kritik wird diese dunkle Stelle aus der „Analytik des Erhabenen" nun sehr viel klarer. Das Scheitern der Synthesen offenbart nicht nur, daß bei jeder Wahrnehmung einer Form dem inneren Sinn Gewalt angetan wird22 (nur, daß diese im Normalfall z.B. des Schönen oder anderer Gegenstände unbemerkt bleibt), sondern, daß die (nach Heidegger) für die Gegenwart und die Vergangenheit zuständigen Synthesen gleichsam .ausfallen'. Der .erhabene Gegenstand' kann, wie Kants Beschreibung zeigt, gerade nicht als ein Gegenstand in diesem einen Augenblick wahrgenommen werden, sondern die Zeit zerfällt sozusagen in verschiedene Momente, die nicht mehr zu einem Augenblick verdichtet werden können, wie das im Normalfall geschieht. Das Erhabene enthüllt, daß Zeit nur als eine bereits synthetisierte ,da' ist. Mit der Zeit zerfällt das Gegebene zu einer Art amorpher Masse. Wenn man Kants Synthesen als den Vorgang versteht, durch den Gegebenes überhaupt erst rezipiert und (entweder zu bloß subjektiven ästhetischen oder zu objektiv erkennenden Eindrücken) weiterverarbeitet wird, so wird am Erhabenen deutlich, daß hier ein Gegenstand begegnet, der nach dem grundlegenden Modell der Wahrnehmung in der Kritik der reinen Vernunft nicht wahrgenommen werden kann und deren Zeit-Konzeption aus den Angeln hebt. Gleichwohl läßt sich nicht bezweifeln, daß er dennoch wahrgenommen wird - sonst gäbe es kein Gefühl des Erhabenen. Nach dem Modell der ersten Kritik kann der betreffende Gegenstand nicht hier und jetzt ,da' sein, worin im Prinzip das Wesen der ästhetischen Darstellung besteht. Trotzdem ist er - als Undarstellbares - ,da'. Wenn alle Synthesen wegfallen, offenbart sich gleichsam ein Nichts, das doch etwas ist. Daher die Unlust - und die Lust im Erhabenen. Wie wir gesehen haben, wird der Wegfall der ästhetischen Größenschätzung im Erhabenen von Kant mit der „intellektuellen Größenschätzung" der Vernunft kompensiert, die auch hier noch auf Totalität gehen und das Übergroße in eine Vorstellung bringen kann. Die Frage ist nur, ob es sich dabei noch um eine Synthese im erwähnten Sinne handelt. Das positive Moment im Erhabenen bedeutet eher ein Wechseln des Maßstabes, ein Überwechseln in einen ganz anderen Bereich. Der Gegenstand wird nicht synthetisiert, sondern die sinnliche Ebene wird zugunsten eines anderes .Etwas' (das kein Gegenstand und keine Erscheinung ist) verlassen. Die Ästhetik der dritten Kritik hat nach ihren beiden Ausprägungen, dem Schönen und dem Erhabenen, also sehr wohl einen Bezug zur transzendentalen Ästhetik. Die schönen 22 Crowther, der das Erhabene ebenfalls mit Bezug auf die dreifache Synthesis liest (vgl. Crowther, The Kantian Sublime, a.a.O., 52ff.), zieht daraus den in meinen Augen unerklärlichen Schluß, daß Kant mit dem Erhabenen seine Position aus der ersten Kritik revidiert habe, insofern die unendliche Größe der .erhabenen Gegenstände' nun unmittelbar erkannt werden könne (vgl. ebd., 88). Durch die Aufhebung der Zeitreihe im Erhabenen könne die Einbildungskraft die Zusammenfassung vornehmen (vgl. ebd., 102f.), was von Kant aus unhaltbar ist.

Die Sprengung der Synthesen durch das Erhabene

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Formen, die zur „Erkenntnis überhaupt" animieren, stehen in engem Zusammenhang mit den drei Synthesen, die den Übergang von der transzendentalen Ästhetik zur transzendentalen Logik schaffen. So wie das Schöne als „Erkenntnis überhaupt" einen Bezug zur ersten Kritik aufweist, so wird auch der Bezug des Erhabenen zur ersten Kritik (negativ) deutlich. Denn während das Schöne in deren Rahmen bleibt und mit ihm vereinbar ist, stellt das Erhabene diesen Rahmen in Frage. Für die Kritik der reinen Vernunft bedeutet das Erhabene ein Skandalon. Denn mit ihm werden die hier die Wahmehmungslehre konstituierenden Synthesen gesprengt23. Hier trifft das Gemüt mit seinen Vermögen auf Gegenstände, die aus dem in der ersten Kritik als allgemein entwickelten Wahmehmungsmodell gleichsam herausfallen. Der Wegfall der Synthesen im Erhabenen betrifft direkt die reinen Formen der Anschauung von Raum und Zeit, die ja immerhin das transzendentale Pendant mindestens der ersten Synthese sind. Mit der erhabenen Unform ist es so, als ob „das eigentliche Musterbild"24 der Anschauungsformen von Raum und Zeit nicht mehr einschlägig ist25. Raum und Zeit als „Bedingungen der Möglichkeit, wie uns Gegenstände gegeben werden können" (KRV, A 148), fallen gleichsam für einen .Augenblick' aus oder scheinen einen „Sprung" zu machen. Es ist, als ob die Zeit, die sich doch nach Kant niemals aufheben läßt, aufgehoben und nichts gegeben würde. Dennoch ist etwas ,da' - eine erschreckende Unform, die noch die ,Minimalsyntheseaktivität' des Subjekts überrollt bzw. unterläuft. Ich will hier nicht die Form der dritten Kritik mit den Formen der Anschauung der ersten Kritik kurzschließen26. Aber das Erhabene offenbart so etwas wie das Aufblitzen von

23 Was das für die Erkenntnis bedeutet, um die es im Erhabenen zwar nicht direkt geht, wohl aber ebenso indirekt wie bei der „Erkenntnis überhaupt" des Schönen, kann ich hier nicht erörtern. Auch darüber müBte einmal nachgedacht werden, wobei ich nicht verhehlen will, daß ich hier die negative Komponente des Erhabenen sehr stark gemacht habe, denn immerhin taucht mit der Vernunft auch hier ein vereinheitlichendes Vermögen auf, das trotz des Scheiterns einen neuen Horizont eröffnet und das Gemüt veranlaßt - auch hier ein Bezug zur ersten Kritik - , die Natur als „Schema" der Idee zu begreifen. 24 Cassirer, Kants Leben und Lehre, a.a.O., 172. 25 Den (negativen) Bezug des Erhabenen zur Zeit in der ersten Kritik hebt auch Rudolf Makkreel hervor, wobei er betont, daß dieser Bezug und damit die theoretische Bedeutung des Erhabenen zugunsten seiner praktischen Implikationen häufig vernachlässigt würde und daß das Erhabene die „Zeitbedingung aufhebt" (Rudolf Makkreel, „Imagination and Temporality in Kant's Theory of the Sublime", in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 42 [1984], S. 303-315, hier 302). Auch Theodore A. Gracyk bringt die subjektive und objektive Zeit-Ordnung der ersten mit dem Erhabenen der dritten Kritik in Verbindung, will dadurch jedoch nur das Schöne erklären (vgl. Theodore A. Gracyk, „Sublimity, Ugliness and Formlessness in Kant's Aesthetic Theory", in: The Journal of Aesthetics and Art Crìticùìm 45 [1986], S. 49-56). Jacob Rogozinski zieht aus dem hier beschriebenen Versagen der Synthesekapazität des Subjekts im Hinblick auf die Zeit den SchluB, daß dadurch auch eben dieses Subjekt zerbricht bzw. sich nur mit „Gewalt" konstituieren kann (vgl. Jacob Rogozinski, „Der Aufruf des Fremden. Kant und die Frage nach dem Subjekt", in: Manfred Frank/Gérard Raulet/Willem van Reijen, (Hrsg.), Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt/M. 1988. S. 192-229, bes. 218ff.). 26 Zu ihrer Unterscheidung vgl. Deleuze, Kants kritische Philosophie, a.a.O., lOOf. Dennoch ist es nicht zu leugnen, daß die Einbildungskraft als Urheberin der Formen der Anschauung (vgl. ebd., 104), die „figürlich" synthetisiert (KRV, Β 151), im Erhabenen versagt. Die erhabene (Un)Form scheint mir eher auf eine Verbindung zu diesen Formen hinzuweisen als die Form des Schönen (vgl. die Beschreibung der Formen der Anschauung in KRV, Β 160f. und die Erläuterung des transzendentalen Gebrauchs der drei Synthesen, der immer auf die „Form geht", KRV, A 94).

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Das Erhabene in der Kritik der reinen Vernunft

Raum und Zeit in ihrem „Rohzustand"27, als unendlich oder gänzlich unbestimmt28, ohne Minimalsynthese. Die Begegnung mit .erhabenen Gegenständen' ist daher, positiv formuliert, eher als eine Begegnung mit der Vernunft, wie eine Begegnung mit der Zeit selbst29, die, wie wir in der transzendentalen Ästhetik gesehen haben, „keine Gestalt" hat30. So wie Raum und Zeit in ihrer Unbestimmtheit haben die .erhabenen Gegenstände' keine Größe und keine Dauer. Eine absolute Zeit wäre nach Kant nicht wahrnehmbar (vgl. KRV, A 200) - ebenso wie die .erhabenen Gegenstände'. Gleichwohl sind diese da'. Sie scheinen eine Art Zwitterwesen zu sein: einerseits können sie keine Erscheinungen mehr sein, in dem Sinne, daß sich alle Erscheinungen unter den Begriff einer Größe subsumieren lassen (vgl. Prol., 306) oder zumindest ihre Größe ästhetisch eingeschätzt werden kann, und verweisen so bei Kant ja auch folgerichtig auf das übersinnliche Substrat, auf das Ding an sich, das der Welt der Erscheinungen unterlegt wird (ja sie .beweisen' es sogar, vgl. KU, Β 92); andererseits sind sie gleichwohl Erscheinungen und werden als solche wahrgenommen. Sie scheinen auf der Grenze von Erscheinung und Ding an sich zu stehen31. Das macht das Paradox des Erhabenen aus. Das Erhabene scheint diesbezüglich von größerer Bedeutung zu sein als das Schöne, das den Zusammenhang der ersten und dritten Kritik bezüglich der Synthese zumindest ver27 Um einen Ausdruck von Lyotard aufzugreifen (vgl. Jean-François Lyotard, „Domus und die Megalopole", in: ders., Das Inhumane, a.a.O., S. 319-340, hier 337), wie überhaupt Lyotard in vielen seiner Aufsätze die Verbindung des Erhabenen bei Kant mit dem „Scheitern von Raum und Zeit" (als Formen) (vgl. JeanFrançois Lyotard, „So etwas wie: .Kommunikation ... ohne Kommunikation'", in: ders., Das Inhumane, a.a.O., S. 189-206, hier 197) angeschnitten hat. Vgl. auch Deleuze' Beschreibung der ersten beiden Synthesen, die er quasi zu einer zusammenfaßt: „Die so definierte Synthesis bezieht sich nicht nur auf die Mannigfaltigkeit, wie sie im Raum und in der Zeit erscheint, sondern auf die Mannigfaltigkeit von Raum und Zeit selbst. Ohne sie wären der Raum und die Zeit in der Tat nicht .repräsentiert'" (Deleuze, Kants kritische Philosophie, a.a.O., 43f.). 28 Vgl. Immanuel Kant, Über die von der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin ßr das Jahr 1791 ausgesetzte Preisfrage: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolfs Zeiten in Deutschland gemacht hat?, in: ders., Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. ΠΙ, Darmstadt 1958, S. 585-676 (im folgenden als Fort, im laufenden Text zitiert), hier 602f., wo es heißt, daß wir uns bestimmte Räume und Zeiten immer nur zusammengesetzt, also synthetisiert vorstellen können, was im Erhabenen gerade nicht der Fall ist. 29 Aus der Perspektive der Kritik der Urteilskraft kommt (mit dem Ding an sich) durch den negativen Ausfall der Anschauungsformen von Raum und Zeit im Erhabenen die Vernunft als positives Moment ins Spiel. Aus der Perspektive der ersten Kritik dagegen Raum und Zeit selbst, ,an sich'. Wenn man beide Perspektiven nicht einander relativieren läßt, sondern sie umstandslos ergänzt, liegt ein Riickfall in die Metaphysik und ihrer Vorstellung einer absoluten Zeit bedenklich nahe. Man käme dann zu einer Gleichung Zeit = Vernunft = erhabenes Subjekt und würde erneut das negative Moment im Erhabenen .vergessen', das viel eher eine Subjektkonstitution nur um den Preis des Beherrschens der Zeit mit Hilfe der transzendentalen Ästhetik (erste Kritik) bzw. der Vernunft (dritte Kritik) erlaubt. 30 KRV, A 33. Entsprechend wird der Raum - wie das Erhabene - als unendlich gegebene Größe beschrieben (vgl. KRV, A 25), die in konkreten (realen) Erscheinungen, aber eben nie als solche sinnlich gegeben i s t außer indirekt im Erhabenen. 31 So wie sich Kant in der Reflexion Nr. 4320 für Raum und Zeit die Frage stellt: „Ob der Empfindungsleere Raum und Zeit, imgleich der unendliche Raum und Zeitphaenomena sind. Denn noumena sind es nicht" (Akademie-Ausgabe, Bd. 17, Berlin und Leipzig 1926, S. 505). Die Idealität von Raum und Zeit verweist bereits auf das Übersinnliche (vgl. Fort., 652). Das Erhabene ist zwar nicht empfindungsleer, aber das ,Zuviel' (bzw. .Zuwenig'), für das es steht, überrollt die Sinnlichkeit zunächst wie eine anästhetische Betäubung und verweist ebenso auf das Übersinnliche.

Die Sprengung der Synthesen durch das Erhabene

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schieiert. Da es im Mathematisch-Erhabenen um die Größe geht, hat es von vornherein eine ganz andere .Qualität' und eine engere Verbindung zur Kritik der reinen Vernunft als das Schöne, auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, als ließe sich allein das Schöne über die „Erkenntnis überhaupt" auf die erste Kritik beziehen. Das Erhabene hat eine Tragweite, die sich bis in die erste Kritik erstreckt, und zwar in dem Sinne, daß es diese nicht nur in einer Stimmung zur „Erkenntnis überhaupt" affirmiert und untermauert, wie das Schöne, sondern deren Brüche offenlegt und sie insofern .kritisiert'32. Einerseits geht das Erhabene konform mit dem kritischen Befund, daß das Unbedingte in Raum und Zeit (und damit in der Natur) nicht anzutreffen ist (vgl. auch Fort., 627), andererseits modifiziert es diese Sicht, indem es die Perspektive auf das Unbedingte indirekt anhand von Naturphänomenen erweist, womit es einen „Übergang" erlaubt, der nicht in die simple vorkritische Position einer absoluten oder intellektuellen Anschauung zurückfällt. Auf diese Weise macht es auch das Erscheinen von Raum und Zeit selbst in ihrer Unbedingtheit möglich, was auf dem Hintergrund der ersten Kritik, gelinde gesagt, „seltsam" wirken muß33. Kant begeht jedoch nicht den Fehler, dadurch alle Errungenschaften der ersten Kritik über den Haufen zu werfen. Am Erhabenen wird deutlich, daß Kant mit seinem Wahrnehmungsmodell aus der ersten Kritik gezwungen ist, etwas auszuschließen, was nicht zuletzt die „Gewalt" der Synthesen, die das Erhabene offenbart, manifestiert. Dabei handelt es sich nicht bloß - als Preis für die transzendentale Ebene - um die empirische .Materie', sondern um dasjenige, auf dessen Basis er Raum und Zeit als Anschauungsformen konstituieren kann: Raum und Zeit selbst. Das Erhabene würde also nicht nur eine Erweiterung des in der ersten Kritik entworfenen Wahrnehmungsmodells erfordern, es zeigt auch dessen Defizienzen. Denn mit dem Erhabenen wird etwas im sinnlichen Bereich wahrgenommen, was Kant sonst kritisch aus diesem Bereich ausschließt. Das Unendliche, das Raum und Zeit selbst bedeuten, kann auf der Basis der ersten Kritik nicht im Sinnlichen wahrgenommen werden; gleichwohl wird es im Erhabenen wahrgenommen, wo das Unendliche oder Übersinnliche auf kritischer Ebene gleichsam .zurückkehrt'. Das führt uns auf die Frage des Übergangs, der durch den Ausschluß in der transzendentalen Ästhetik nötig wird und der, einmal (im Erhabenen) vorgenommen, diesen Ausschluß nicht revidiert, sondern offenbart, und damit - in Anbetracht der Tatsache, daß auch Kant mitten im Erhabenen die Ebenen wechselt und ins Übersinnliche übergeht - auf den Bereich zurück, den von der Sinnlichkeit getrennt zu haben gerade das Verdienst des kritischen Unternehmens ausmacht: den Bereich des Übersinnlichen und Unendlichen und damit der Vernunft.

32 Das Mathematisch-Erhabene erweist sich also auch hier als grundlegender als das Dynamisch-Erhabene, weil dabei das Bild überhaupt vom Gegenstand scheitert, während das Dynamisch-Erhabene sehr viel empirischer von der Angst vor einem Bild motiviert ist. 33 So Ralf Meerbote, „Kant's Views on the Mathematical Sublime", in: Gerhard Funke (Hrsg.), Akten des Siebenten Internationalen Kant-Kongresses, a.a.O., S. 691-703, hier 701. Meerbote, der das Erhabene ebenfalls als wichtig für die transzendentale Ästhetik (und für die transzendentale Dialektik) erachtet (vgl. ebd., 691), führt diese „merkwürdige" Gegebenheit der Unendlichkeit auf eine Idee der Vernunft zurück, wodurch er das Erhabene mit der transzendentalen Ästhetik (und der transzendentalen Dialektik) verbinden kann und Raum und Zeit eine nähere Charakterisierung erfahren.

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Das Erhabene in der Kritik der reinen Vernunft

Diesem wollen wir uns nun zuwenden, und zwar dort, wo Kant gleichsam den Höhepunkt der Trennung von Sinnlichem und Übersinnlichem, von Erscheinung und Ding an sich erreicht und die im ersten Teil der ersten Kritik und insbesondere in der transzendentalen Ästhetik gewonnenen Erkenntnisse auf die herkömmliche Metaphysik kritisch anwendet, nämlich in den kosmologischen Antinomien der transzendentalen Dialektik.

3.2. Die kosmologischen Antinomien und der Widerstreit in der transzendentalen Dialektik Die transzendentale Dialektik ist neben der transzendentalen Ästhetik ein weiteres Kernstück der Kritik der reinen Vernunft. Hier geht es nicht mehr primär um die Sinnlichkeit, wie in der transzendentalen Ästhetik, auch nicht mehr um den Verstand, wie in der transzendentalen Analytik, sondern um das dritte und für die Kritik entscheidende Vermögen: um die Vernunft selbst, um deretwillen, so könnte man sagen, Kant die ganze Anstrengung der Kritik unternimmt. Hatte Kants Metaphysikkritik im ersten Teil der ersten Kritik die Rehabilitierung der Sinnlichkeit und die Begrenzung der reinen Verstandesbegriffe bedeutet, so tritt sie nun in ein weiteres Stadium: Mit dem im ersten Teil der Kritik der reinen Vernunft gewonnenen Instrumentarium zeigt Kant in der transzendentalen Dialektik das Scheinwissen auf, in das sich die Vernunft verstrickt - und bisher immer verstrickt hat - , wenn sie die von Kant im ersten Teil der Kritik der reinen Vernunft aufgestellten kritischen Grundsätze nicht beachtet, und gibt er eine Lösung vor, wie die Vernunft arbeiten muß, damit sie sich von diesem Schein zumindest nicht mehr trügen läßt. Die traditionelle Metaphysik bedarf der Läuterung durch die Kritik, denn „für sich allein" ist sie „dialektisch und trügerisch" (Prot., 365). Die Kritik will ihre „Blendwerke", ihren „Wahn" zunichtemachen (KRV, A XIII) und den „falschen Schein ihrer grundlosen Anmaßungen" aufdecken (KRV, A 63f.). Die Endlichkeit des sinnlichen Menschen und damit die in der transzendentalen Ästhetik etablierten Prinzipien der Sinnlichkeit spielen dabei eine entscheidende Rolle. Insofern besteht ein enger Zusammenhang zwischen den beiden hier verhandelten Teilen der Kritik der reinen Vernunft - auch und gerade in bezug auf das Erhabene. Die transzendentale Dialektik setzt sich - entsprechend den drei transzendentalen Ideen der Vernunft in den Bereichen der Psychologie, Kosmologie und Theologie - aus drei Teilen zusammen: Kant untersucht und brandmarkt die dialektischen bzw. „vernünftelnden Schlüsse" der Vernunft, die zum Schein führen (KRV, A 339), wenn sie nicht mehr auf die Sinnlichkeit rekurrieren, anläßlich des Begriffs vom Subjekt - hier verstrickt sich die Vernunft in Paralogismen - , anläßlich der Ideen von Unendlichkeit und Freiheit - hier gerät sie in Antinomien - und anläßlich des Ideals vom Dasein Gottes und seiner Beweismöglichkeiten. Obwohl natürlich auch die Frage des Subjekts und die Widerlegung der Gottesbeweise für die Kritik wichtig sind, will ich mich (zumal es sich in allen drei Teilen der Dialektik um einen ähnlichen Mechanismus handelt) aus drei Gründen fast ausschließlich mit dem kosmologischen Bereich befassen. Er scheint mir erstens das Wesen der Kritik, um das es im folgenden Abschnitt gehen wird, direkt zu betreffen (und deshalb auch das Erhabene als .kritisches Gefühl'). Er ist

Die Antinomien

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gleichsam die Quintessenz von Kants kritischen Bemühungen in allen ihren Ausprägungen, weil er am deutlichsten von dem Abgrund zeugt, um den es in der Kritik geht. Zweitens zeigt er, was in Kants transzendentaler Dialektik auf für ihn eigentümliche Weise Dialektik heißt, indem er die Verwirrungen der Vernunft im transzendentalen Schein hervorhebt und als - dialektische - Lösung ein kritisches Nebeneinander, keine dialektische .Aufhebung' im Hegeischen Sinne propagiert. Zentral ist hier der Begriff des „Widerstreits", der bereits in Kants „Analytik des Erhabenen" fiel, wobei Kants .Entscheidung' des „Widerstreits" - und sein Schwanken dabei - ebenso signifikant wie vielsagend ist. Da diese Art .Dialektik' auch in den anderen Kritiken zu beobachten ist, scheinen mir die kosmologischen Antinomien für die Kritik im ganzen zentral. Drittens haben die kosmologischen Antinomien, die sich nicht zufällig in mathematische und dynamische aufteilen, den größten Bezug zu demjenigen phänomenalen und noumenonalen Bestand, von dem auch in der „Analytik des Erhabenen" die Rede ist.

3.2.1. Die Antinomien Daß die Antinomien, die auf den kosmologischen Ideen der Vernunft beruhen, ein zentrales Stück innerhalb des kritischen Unternehmens, j a f ü r dieses kritische Unternehmen ausmachen, wird deutlich, wenn Kant in den Prolegomena, die die Kritik der reinen Vernunft noch einmal erklären und einordnen, schreibt, daß die kosmologischen Ideen als „Produkt der reinen Vernunft in ihrem transscendenten Gebrauch das merkwürdigste Phänomen derselben , welches auch unter allen am kräftigsten wirkt, die Philosophie aus ihrem dogmatischen Schlummer zu erwecken und sie zu dem schweren Geschäfte der Kritik der Vernunft selbst zu bewegen" {Prot., 338).

Wie Paralogismen und Ideal beruht die Antinomie auf einem Fehlschluß der Vernunft. Im Unterschied zum Paralogismus betrifft der aus diesem Fehlschluß resultierende Schein nicht das Subjekt und im Gegensatz zum Ideal nicht die Möglichkeit der Dinge überhaupt34, sondern die objektive Welt der Erscheinungen: „Ganz anders fällt es aus, wenn wir die Vernunft auf die objektive Synthesis der Erscheinungen anwenden, wo sie ihr Prinzipium der unbedingten Einheit zwar mit vielem Scheine geltend zu machen gedenkt, sich aber bald in solche Widersprüche verwickelt, daß sie genötigt wird, in kosmologischer Hinsicht von ihrer Forderung abzustehen" (KRV, A 406f.).

Dieser Fehlschluß, der sich auf die Synthese der Erscheinungen bezieht, offenbart - ebenfalls im Unterschied zum Paralogismus und zum Ideal, wobei die Zentralität der Antinomien für das Unternehmen der Kritik im ganzen sichtbar wird — „ein ganz neues Phänomen der menschlichen Vernunft, nämlich: eine ganz natürliche Antithetik, auf die keiner zu grübeln oder künstlich Schlingen zu legen braucht, sondern in welche die Vernunft von selbst und zwar unvermeidlich gerät, und dadurch zwar von dem Schlummer einer eingebildeten Überzeugung, die ein bloß einseitiger Schein hervorbringt, verwahrt, aber zugleich in Versuchung gebracht wird, sich entweder einer skeptischen Hoffnungslosigkeit zu überlassen, oder einen dogmatischen Trotz anzunehmen " {KRV, A 407).

34 Vgl. KRV, A 408, wenn auch zwischen Ideal und vierter Antinomie ohne Zweifel eine Verbindung besteht

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Das Erhabene in der Kritik der reinen Vernunft

Die Antinomien sind also eine unvermeidliche Folge des natürlichen Charakters desjenigen Vermögens, um das sich die ganze Kritik dreht: der Vernunft. Wie gerät nun die Vernunft in die unvermeidlichen Antinomien? Die Antinomien betreffen die Synthese der Erscheinungen. Sie entstehen dadurch, daß die Vernunft Kategorien - als bloße, auf die sinnliche Welt der Erscheinungen beschränkte und an Anschauungen gebundene Verstandesbegriffe - zu Ideen erweitert, indem sie „zu einem gegebenen Bedingten auf der Seite der Bedingungen (unter denen der Verstand alle Erscheinungen der synthetischen Einheit unterwirft) absolute Totalität fordert , um der empirischen Synthesis, durch die Fortsetzung derselben bis zum Unbedingten, (welches niemals in der Erfahrung, sondern nur in der Idee angetroffen wird,) absolute Vollständigkeit zu geben" (KRV, A 409).

Die Antinomien sind eine Folge der die Totalität betreffenden Ideen (vgl. KRV, A 408). Diese Totalitätsforderung, die auf der „Endabsicht" der Vernunft - dem Unbedingten basiert35, macht das eigentliche Charakteristikum der (theoretischen) Vernunft aus. Von daher ist die Antinomie unausweichlich. Die Vernunft muß auf Totalität drängen, wobei ebenso notwendig die endliche Welt der Erscheinungen verlassen wird. Denn die Idee der Totalität erfordert eine vollständige Synthesis aller Erscheinungen, die aber (sinnlich) nicht möglich ist, weil die entsprechenden Anschauungen fehlen. Das Unbedingte, das die Vernunft durch ihre Totalitätsforderung angesichts der Reihe der Bedingungen fordert, ist „jederzeit in der absoluten Totalität der Reihe, wenn man sie sich in der Einbildung vorstellt, enthalten" (KRV, A 416). Diese „schlechthin vollendete Synthesis" ist eine „Idee", und „man kann, wenigstens im voraus, nicht wissen, ob eine solche bei Erscheinungen auch möglich sei" (ebd.). Denn „bei Erscheinungen ist eine besondere Einschränkung der Art, wie Bedingungen gegeben werden, anzutreffen, nämlich die sukzessive Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung, die im Regressus vollständig sein soll" (KRV, A 416f.).

Das eigentliche Problem, so Kant weiter, das sich angesichts der Totalitätsforderung der Vernunft stellt, ist daher, „ob diese Vollständigkeit nun sinnlich möglich sei" (KRV, A 417), wobei wir sehen, in welchem Maße hier die transzendentale Ästhetik und die endlichen menschlichen Synthesekapazitäten Bedeutung erlangen. Da Ideen im Prinzip erweiterte Kategorien sind, entwirft Kant das „System der kosmologischen Ideen" (KRV, A 408) in Analogie zur Kategorientafel, wobei allerdings „nicht alle Kategorien dazu taugen", hier verhandelt zu werden (KRV, A 409). Denn die „absolute Totalität wird von der Vernunft nur insofern gefordert, als sie die aufsteigende Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten angeht", wohingegen die „absteigende Linie der Folgen" vollkommen uninteressant ist36. Und Kant zieht die Parallele zur ebenfalls als 35 KRV, A 417. Auch Paralogismen und Ideal haben diesen Bezug zum Unbedingten. Die Antinomien sind also auch insofern zentral, als das Streben nach dem Unbedingten in ihnen ausführlich vorgeführt wird. Insofern kann die .Auflösung' des Konfliktes, der aus diesem Streben resultiert, auch als paradigmatisch für die beiden anderen Bereiche der Dialektik gelten. Zu diesem Zusammenhang vgl. auch KRV, A 406ff., bes. A 408. In allen drei Fällen besteht ein Darstellungsproblem. 36 KRV, A 409f. Es handelt sich also um eine Bewegung vom Sinnlichen zum Übersinnlichen, vom Bedingten zum Unbedingten, also genau in diejenige Richtung, die in Kants Augen für den „Übergang" (in die Metaphysik) maßgeblich ist.

Die Antinomien

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Reihe oder Linie vorgestellten Zeit: Die Totalitätsforderung der Vernunft betrifft nur „eine bis auf den gegebenen Augenblick völlig abgelaufene Zeit", also die Vergangenheit, das, was dem Gegebenen als seine Bedingung vorhergeht, die „künftige" Zeit aber, „da sie die Bedingung nicht ist, zu der Gegenwart zu gelangen", ist „ganz gleichgültig" (KRV, A 410). Im Gegensatz zu der auf die Zukunft (oder Folge) bezogenen progressiven Reihe, nennt Kant die „Synthesis einer Reihe auf der Seite der Bedingungen" (also der Vergangenheit) regressiv: „Die kosmologischen Ideen also beschäftigen sich mit der Totalität der regressiven Synthesis" (KRV, A 411). Offenkundig haben wir es also auch hier wieder mit einem Zeit- und einem Syntheseproblem zu tun. Diese Vermutung bestätigt sich weiter, wenn Kant die von den Antinomien betroffenen Ideen der Totalität weiter auf ihre vier Ausprägungen einschränkt. Erstens gehen die die Totalität betreffenden Vernunftideen auf die „zwei ursprünglichen quanta aller unserer Anschauung, Zeit und Raum" (ebd.). Daß die Zeit selbst als eine Reihe vorgestellt wird und die Totalitätsforderung speziell auf die vergangene Zeit geht, war eben schon deutlich geworden. Gleiches gilt für den Raum, auch wenn es auf den ersten Blick anders aussieht, „weil er ein Aggregat, aber keine Reihe ausmacht" (KRV, A 412). Doch „die Synthesis der mannigfaltigen Teile des Raumes, wodurch wir ihn apprehendieren, ist doch successiv, geschieht also in der Zeit und enthält eine Reihe"37. „Und da in dieser Reihe der aggregierten Räume von einem gegebenen an, die weiter hinzugedachten immer àie Bedingung von der Grenze der vorigen sind, so ist das Messen eines Raumes auch als eine Synthesis einer Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten anzusehen, nur daß die Seite der Bedingungen, von der Seite, nach welcher das Bedingte hin liegt, an sich selbst nicht unterschieden ist, folglich regressus undprogressus im Räume einerlei zu sein scheint"38.

Kant nennt diese erste Totalitätsforderung der Vernunft „Die absolute Vollständigkeit der Zusammensetzung des gegebenen Ganzen aller Erscheinungen" (KRV, A 415). Zweitens betrifft die Totalitätsforderung die Materie und deren Teilbarkeit. Während die erste Totalitätsforderung eine unendliche Reihe von Bedingungen quasi der Größe zur Folge hat, geht hier die regressive Synthesis zu immer kleineren Teilen ebenfalls in Richtung auf das Unbedingte (vgl. KRV, A 413). Kant nennt diese Totalitätsforderung der Vernunft ,J)ie absolute Vollständigkeit der Teilung eines gegebenen Ganzen in der Erscheinung" (KRV, A 415). Die dritte Totalitätsforderung der Vernunft betrifft die „Kausalität , welche eine Reihe der Ursachen zu einer gegebenen Wirkung darbietet" (KRV, A 413). Kant nennt sie „Die absolute Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung" (KRV, A 415). Die vierte und letzte Antinomie entsteht aus der Bedingtheit des Zufälligen, die zu immer höheren Bedingungen aufzusteigen nötigt, „bis die Vernunft nur in der Totalität diese Reihe die unbedingte Notwendigkeit antrifft" (KRV, A 415). Diese Totalitätsforderung heißt bei Kant JDie absolute Vollständigkeit der Abhängigkeit des Daseins des Veränderlichen in der Erscheinung" (ebd.). Die aus den vier Totalitätsforderungen der Vernunft resultierenden Antinomien teilt Kant gemäß der Unterscheidung von „Welt" und „Natur" in zwei Gruppen ein: die ersten beiden betreffen die Welt, d.h. „das mathematische Ganze aller Erscheinungen und die 37 Ebd. Daraus waren anläßlich der .erhabenen Gegenstände' ja gerade die Syntheseprobleme entstanden. 38 KRV, A 412f. Auch dies konnten wir anläßlich der .erhabenen Gegenstände' beobachten, nur daß es dort nicht um mehrere Gegenstände ging, sondern um einen.

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Totalität ihrer Synthesis, im Großen sowohl als im Kleinen" (KRV, A 418), weshalb er später auch von der „mathematische Synthesis der Erscheinungen" in diesen mathematischen Antinomien spricht (KRV, A 529). Sie betreffen also die Größe (vgl. auch Fort., 624f.), und in ihnen werden gleichartige Teile synthetisiert (vgl. KRV, Β 201f., Anm.). Die anderen beiden beziehen sich dagegen auf die Natur. So wird die Welt genannt, wenn sie „als ein dynamisches Ganzes betrachtet wird, und man nicht auf die Aggregation im Räume oder der Zeit, um sie als eine Größe zustande zu bringen, sondern auf die Einheit im Dasein der Erscheinungen sieht" (KRV, Β 446f.).

In dieser Hinsicht spricht Kant dann später entsprechend von den „dynamischen Antinomien", in denen dynamisch die Synthese der Erscheinungen vorgenommen wird (KRV, A 529f.), um zur Freiheit und zur notwendigen Ursache (Gott) zu gelangen. In ihnen werden ungleichartige Teile synthetisiert (vgl. KRV, Β 201f., Anm.). Um Synthesen geht es wohlgemerkt in allen Fällen und ebenso - durch den unendlichen Regreß, den die Vernunft fordert - um Unendlichkeit. Warum führen nun die Totalitätsforderungen der Vernunft nach dem Unbedingten in eine Antinomie? Weil es jeweils zwei Möglichkeiten gibt, das Unbedingte mit den unendlichen Reihen der Erscheinungen zusammenzudenken: „Dieses Unbedingte kann man sich nun gedenken, entweder als bloä in der ganzen Reihe bestehend, in der also alle Glieder ohne Ausnahme bedingt und nur das Ganze derselben unbedingt wäre, und dann heißt der Regressus unendlich; oder das absolut Unbedingte ist nur ein Teil der Reihe, dem die übrigen Glieder derselben untergeordnet sind, er selbst aber unter keiner anderen Bedingung steht. In dem ersteren Falle ist die Reihe a parte priori ohne Grenzen (ohne Anfang), d.i. unendlich, und gleichwohl ganz gegeben, der Regressus in ihr aber ist niemals vollendet, und kann nur potentialiter unendlich genannt werden. Im zweiten Falle gibt es ein Erstes der Reihe, welche in Ansehung der verflossenen Zeit der Weltanfang, in Ansehung des Raums die Weltgrenze, in Ansehung der Teile, eines in seinen Grenzen gegebenen Ganzen, das Einfache, in Ansehung der Ursachen die absolute Selbsttätigkeit (Freiheit), in Ansehung des Daseins veränderlicher Dinge die absolute Naturnotwendigkeit heißt" (KRV, A 417f.).

Aus diesen beiden Möglichkeiten resultiert die „Antithetik der reinen Vernunft" (KRV, A 420).

3.2.2. Der Widerstreit Kant versteht unter Antithetik den „Widerstreit der dem Scheine nach dogmatischen Erkenntnisse, ohne daß man einer vor der anderen einen vorzüglichen Anspruch auf Beifall beilegt" (KRV, A 420). An anderer Stelle nennt er die Antinomie einen „Widerstreit der Gesetze" (KRV, A 407). Was ist mit dem Terminus „Widerstreit" gemeint? Da die Vernunft nach Kants Verständnis der Vermögen und ihres Zusammenspiels keinen direkten Bezug zur sinnlichen Erscheinungswelt hat und diese sinnlich-endliche Welt umgekehrt jede direkte Erfahrung des Unbedingten, Unendlichen oder der Totalität ausschließt, liegt hier erstens ein Zusammentreffen zweier ganz heterogener Bereiche vor, die ganz unterschiedlichen Gesetzen gehorchen. Die Vernunftforderung angesichts des sinnlichen Bereichs muß zwangsläufig über diesen hinausführen. Sie ist für die Erkenntniskapazitäten des Verstandes, der an die endliche Welt der Erscheinungen und an endliche Anschauungen gebunden und für die Erkenntnis auf sie angewiesen ist, „zu groß", während umgekehrt das, was der Verstand zustandebringen kann, für die Forderung der Vernunft nicht hinreicht, „zu klein" für sie ist (KRV, A 422; A 489). Die Gesetzmäßigkeiten, denen

Der Widerstreit

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sie unterliegen, scheinen nicht vereinbar (geschweige denn .vereinigbar') zu sein. Daher der Ausdruck „Widerstreit der Gesetze". Diese Unvereinbarkeit ist für das Verständnis des Widerstreits entscheidend. Denn mit der Vemunftforderung wird ein ,An sich' gesetzt, das in der Erfahrung weder bewiesen noch widerlegt werden kann (weil diese einem ganz anderen Bereich angehört und sich nur auf Erscheinungen bezieht), so daß auch das Gegenteil der jeweiligen Behauptung ebenso wahr (oder falsch s.u.) sein kann: „Wenn wir unsere Vernunft nicht bloß, zum Gebrauch der Verstandesgrundsätze, auf Gegenstände der Erfahrung verwenden, sondern jene über die Grenze der letzteren hinaus auszudehnen wagen, so entspringen vernünftelnde Lehrsätze, die in der Erfahrung weder Bestätigung hoffen noch Widerlegung fürchten dürfen, und deren jeder nicht allein an sich selbst ohne Widerspruch ist, sondern sogar in der Natur der Vernunft Bedingungen seiner Notwendigkeit antrifft, nur daß unglücklicherweise der Gegensatz ebenso gültige und notwendige Gründe der Behauptung auf seiner Seite hat" (KRV, A 421).

Der Widerstreit, um den es hier geht, ist also zweitens vom bloßen Widerspruch zu unterscheiden (vgl. auch KRV, A 504). Die „vernünftelnden Lehrsätze" sind „an sich selbst ohne Widerspruch". Dieser ist nur analytisch (vgl. ebd.) - wohingegen es in der Kritik ja um die synthetischen Urteile geht - und logisch (vgl. Fort., 627). Der „Widerstreit" ist nicht bloß logisch (vgl. KRV, A 282), sondern dialektisch (vgl. KRV, A 504) und findet auf transzendentaler Ebene statt (vgl. Fort., 627). Ein bloßer (logischer) Widerspruch ist in der Ideenwelt der Vernunft als Kriterium nicht mehr hinreichend39, weil mit dem Instrumentarium des Widerspruchs das Problem des „wechselseitigen Abbruchs", von dem der Widerstreit zeugt, nicht erkannt werden kann (KRV, A 274). Da der Widerspruch bloß logisch ist, erreicht er gar nicht erst das transzendentale Niveau, auf dem der Widerstreit stattfindet, bei dem es um einen Streit der Möglichkeit (vgl. KRV, A 377), um, wie wir sahen, einen „Widerstreit der Gesetze" geht. Außerdem fehlt dem Widerspruch als logischem Kriterium das sinnliche Moment, das allein die Bedingungen dafür liefert, sich einen Widerstreit überhaupt vorzustellen, bzw. ihn darzustellen40. Drittens geht es im Widerstreit, gerade weil es sich nicht darum handelt, die innere Widersprüchlichkeit von einzelnen Behauptungen aufzuweisen, immer um den Streit von zwei Parteien: „Die Antithetik beschäftigt sich also gar nicht mit einseitigen Behauptungen, sondern betrachtet allgemeine Erkenntnisse der Vernunft nur nach dem Widerstreite derselben untereinander " {KRV, A 421).

Da in diesem Widerstreit zudem beide Parteien gleichermaßen recht (oder unrecht) haben, unterscheidet er sich viertens von einem bloßen Streit. Ein Streit, so könnte man sagen, liegt dann vor, wenn zwei Parteien Gegenteiliges behaupten, wenn aber im Prinzip - bei Prüfung der Argumente oder der Sachlage - zu entscheiden ist, wer von den beiden recht hat und wer nicht (wobei nur jeweils einer von beiden recht haben kann), wenn es also überhaupt ein Kriterium, ein Gesetz oder eine Metaebene gibt, an der sich die Behauptungen beider Parteien messen lassen. 39 Vgl. u.a. KRV, A 673, weswegen Kant apagogische Beweise (= Widerlegung des Gegenteils) für nicht mehr zulässig hält, wenn es um die Vernunft geht (vgl. KRV, A 789), auch wenn diese anschaulicher sind als die für die Vernunft nötigen ostensiven Beweise (vgl. KRV, A 790). 40 Vgl. KRV, A 274; A 264. Nur durch die Unterscheidung von Sinnlichem und Übersinnlichem wird ein Widerstreit ausdrückbar.

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Die Antithetik des Widerstreits geht über die bloße Behauptung des Gegenteils hinaus (vgl. KRV, A 420). Die beiden (Wider)Streitenden behaupten zwar auch Gegenteiliges, aber die Entscheidung für den einen oder anderen ist nicht ohne weiteres möglich. Trotzdem schließen sich beide Behauptungen aus. Kant findet für den Widerstreit die Formel „A - Β = 0", was bedeuten soll, daß „eine Realität mit der anderen, in einem Subjekt verbunden, eine die Wirkung der anderen aufhebt" (KRV, A 273). Der Widerstreit ist also zugleich ein ,ja' und ein ,nein'. Zur weiteren Verdeutlichung des Verhältnisses einer Realität und ihrer Negation, die beim Widerstreit gemeinsam auftreten, verwendet Kant, sowohl im Fortschrittstext (vgl. 627) als auch in der Kritik der reinen Vernunft (vgl. A 273f.), das mechanische Bild von zwei einander entgegengesetzten Richtungen. Diese Beschreibung ist uns aus der „Analytik des Erhabenen" vertraut, wo das wechselseitige Anziehen und Abstoßen das Erhabene als „Widerstreit" zweier Vermögen kennzeichnete. Folgerichtig kommen in Kants Beschreibungen der entgegengesetzten Richtungen in der Kritik der reinen Vernunft nun plötzlich ebenfalls Gefühle ins Spiel: „Dagegen kann das Reale der Erscheinungen (realitas phaenomenon) untereinander allerdings in Widerstreit sein, und vereint in demselben Subjekt, eines die Folge des anderen ganz oder zum Teil vernichten, wie zwei bewegende Kräfte in derselben geraden Linie, sofern sie einen Punkt in entgegengesetzter Richtimg entweder ziehen, oder drücken, oder auch ein Vergnügen, was dem Schmerz die Wage hält" (KRV, A 265).

Dies entspricht bis in die Wortwahl hinein der Beschreibung des Erhabenen, doch ich greife vor. Kehren wir vorerst zum Widerstreit zurück. Ich hatte gesagt, daß sich hier die Entscheidung komplizierter gestaltet als beim bloßen Streit. Machen wir uns also klar, worin der Widerstreit konkret in den vier Antinomien besteht und was es mit dem „wechselseitigen Abbruch", von dem oben die Rede war, auf sich hat. Danach wird dann, wichtiger noch, zu prüfen sein, wie Kant diesen Widerstreit auflöst. In den ersten beiden Antinomien, die die Größe betreffen, besteht der Widerstreit darin, daß die eine Partei behauptet, daß die Welt endlich sei und einen Anfang in der Zeit habe (1. Antinomie) bzw. daß sie sich aus einfachen Teilen zusammensetze (2. Antinomie) (vgl. KRV, A 426 resp. A 434), während die andere Partei die These vertritt, daß die Welt in Raum und in Zeit von unendlicher Größe und jeder einzelne ihrer Teile wiederum unendlich teilbar sei (vgl. KRV, A 427 resp. A 435). In der dritten und vierten Antinomie behauptet die eine Partei, daß es so etwas wie Freiheit von der Kausalität der Reihe des Naturgesetzes sowie so etwas wie Gott als notwendige Ursache dieser Reihe nicht gäbe (vgl. KRV, A 445 resp. A 453), während die andere Partei auf der Existenz der Freiheit als einer anderen Kausalität als die der Naturgesetze und der notwendigen Ursache besteht (vgl. KRV, A 444 resp. A 452). Wie löst Kant nun diesen „Widerstreit", vorsichtiger formuliert: Wie sieht die kritische Umgangsweise damit aus?

3.2.3. Die kritische Auflösung des Widerstreits Die Art und Weise, wie Kant mit dem unvermeidlichen Widerstreit umgeht, ist in mehrerlei Hinsicht eigentümlich. Zunächst fällt an der Vorgehensweise Kants in bezug auf die Antinomien die Art und Weise ihrer Präsentation auf - eine Art und Weise, die er ganz bewußt wählt. Die aus der Totalitätsforderung der Vernunft resultierenden „vernünftelnden Behauptungen eröffnen

Die kritische Auflösung des Widerstreits

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einen Kampfplatz" (KRV, A 422), auf dem jede der Parteien mit gutem Grund ihre Behauptung vertreten kann, wobei beide Behauptungen sich jeweils widerstreiten. Wenn in diesem Streit entschieden werden soll, sei folgendermaßen vorzugehen: „Als unparteiische Kampfrichter müssen wir ganz beiseite setzen, ob es die gute oder die schlimme Sache sei, um welche die Streitenden fechten, und sie ihre Sache erst unter sich ausmachen lassen. Vielleicht daß, nachdem sie einander mehr ermüdet als geschadet haben, sie die Nichtigkeit ihres Streithandels von selbst einsehen und als gute Freunde auseinander gehen" (KRV, A 423).

Diese Vorgehensweise nennt Kant die skeptische Methode, die vom Skeptizismus gänzlich unterschieden" und „nur der Transzendentalphilosophie allein wesentlich eigen" ist (KRV, A 424). Sie besteht darin, „einem Streite der Behauptungen zuzusehen, oder vielmehr ihn selbst zu veranlassen, nicht, um endlich zum Vorteile des einen oder anderen Teils zu entscheiden, sondern, um zu untersuchen, ob der Gegenstand desselben nicht vielleicht ein bloßes Blendwerk sei, wonach jeder vergeblich hascht, und bei welchem er nichts gewinnen kann, wenn ihm gleich gar nicht widerstanden würde" (KRV, A 423f.).

Diese Methode, obwohl sie vorerst nichts entscheidet, „geht auf Gewißheit, dadurch, daß sie in einem solchen, auf beiden Seiten redlich gemeinten und mit Verstände geführten Streite, den Punkt des Mißverständnisses zu entdecken sucht, um, wie weise Gesetzgeber tun, aus der Verlegenheit der Richter bei Rechtshändeln für sich selbst Belehrung, von dem Mangelhaften und nicht genau Bestimmten in ihren Gesetzen, zu ziehen" (KRV, A 424).

Angesichts eines Widerstreits ergibt sich also eine „Verlegenheit", diesen zu entscheiden. Eine Entscheidung kann nicht über eine theoretische Abhandlung über Sinn und Unsinn des Streites, über die Prüfung der jeweiligen Argumente erfolgen, sondern nur über eine Art .Ausprobieren', ja Forcieren der beiden Positionen, um selbst dabei dazuzulernen. Dies hat damit zu tun, daß es sich um Forderungen der Vernunft selbst handelt: „Dagegen sind die transzendentalen Behauptungen, welche selbst über das Feld aller möglichen Erfahrungen hinaus sich erweiternde Einsichten anmaßen, weder in dem Falle, daß ihre abstrakte Synthesis in irgendeiner Anschauung a priori könnte gegeben, noch so beschaffen, daß der Mißverstand vermittelst irgendeiner Erfahrung entdeckt werden könnte. Die transzendentale Vernunft also verstattet keinen anderen Probierstein, als den Versuch der Vereinigung ihrer Behauptungen unter sich selbst, und mithin zuvor des freien und ungehinderten Wettstreits derselben untereinander" (KRV, A 425).

Gerade weil es sich bei den Antinomien um Behauptungen der Vernunft selbst handelt, die durch keine Anschauung überprüft werden können, kann die Kritik - die ja ebenfalls im Namen und nach den Maßstäben dieser Vernunft agiert - , wenn diese Behauptungen einander widerstreiten, den Streit nicht von vornherein entscheiden, sondern muß ihn ausagieren oder ihn, wie es an anderer Stelle heißt, „darstellen": „so wird die Antinomie der reinen Vernunft die transzendentalen Grundsätze einer vermeinten reinen (rationalen) Kosmologie vor Augen stellen, nicht um sie gültig zu finden und sich zuzueignen, sondern, wie es auch schon die Benennung von einem Widerstreit der Vernunft anzeigt, um sie als eine Idee, die sich mit Erscheinungen nicht vereinbaren läßt, in ihrem blendenden aber falschen Scheine darzustellen" (KRV, A 408).

Die genuin kritische, weil nur der Transzendentalphilosophie eigene „skeptische Methode" besteht demnach zunächst in der Darstellung des Widerstreits. Diese Darstellung erfolgt in der berühmten Gegenüberstellung der vier Thesen und Antithesen in der Kritik der reinen Vernunft (A 426 bis A 461). Doch was folgt nun aus dieser kritischen Darstellung? Wie sieht die weitere Umgangsweise, die Auflösung des so präsentierten Wider-

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streits im Rahmen der Kritik aus? Was folgt aus dem „Versuch der Vereinigung" der heterogenen Positionen als einzig möglichem „Probierstein"? Wie entscheidet der kritische Richter den kosmologischen Widerstreit? Kants Auflösung bzw. nach eigenen Worten „kritische Entscheidung" (KRV, A 497) des Widerstreits ist bekannt, aber deshalb nicht weniger verblüffend: Alle vier Antinomien beruhen darauf, daß von einem An sich anstatt von Erscheinungen ausgegangen wird, und das ist nach den Grundvoraussetzungen der Kritik in dieser Form in jedem Fall eine falsche Voraussetzung (vgl. KRV, A 507). In den mathematischen Antinomien haben jedoch beide Streitpartner unrecht, in den dynamischen dagegen habe beide recht. Warum? Bei den die Größe betreffenden mathematischen Antinomien haben beide Parteien unrecht, weil die Unendlichkeit keine Größe, sondern ein Verhältnisbegriff ist (der größer ist als jede Zahl) (vgl. KRV, A 43If.). Die Unendlichkeit ist nur eine Idee, d.h. ihr fehlt jede Anschauung und damit die Erfahrbarkeit. Die absolute Größe des Ganzen muß unbestimmt bleiben, weil die Synthese der Einheit niemals ganz vollendet werden kann (vgl. ebd.). Denn jede konkrete Synthese ist jederzeit sinnlich und endlich, an die Anschauungsformen von Raum und Zeit gebunden und auf Erscheinungen bezogen (vgl. KRV, A 442). Wer das bestreite, so Kant, verwechsle sinnliche und intelligible Welt und intellektualisiere die Anschauungsformen von Raum und Zeit (vgl. KRV, A 433), ginge also von der Existenz einer intellektuellen Anschauung aus. Und die gibt es nach Kant bekanntlich nicht, wie er im Laufe der Kritik der reinen Vernunft und auch an dieser Stelle (vgl. KRV, A 441) nicht müde wird zu betonen. Dagegen (d.h. gegen Leibniz) hat er kritisch die ganze transzendentale Ästhetik geschrieben. Die andere Partei hat ebenfalls unrecht, wenn sie die Endlichkeit der Welt in Raum und Zeit behauptet, weil mit der Idee der Unendlichkeit immerhin die Möglichkeit der unendlichen Fortsetzung der Reihe gegeben ist, die es nicht erlaubt, die Reihe an irgendeiner Stelle abzubrechen, um endgültig die Endlichkeit der Welt an sich zu beweisen. Die Welt an sich existiert „weder als ein an sich unendliches, noch als ein an sich endliches Ganzes" (KRV, Β 533). Beide Positionen in den mathematischen Antinomien sind also qua Voraussetzung und damit in sich falsch, weil sie hinsichtlich der Unendlichkeit im Großen wie im Kleinen von einem bestimmten An sich ausgehen (vgl. KRV, A 504), wohingegen wir es nur mit bestimmten Erscheinungen und mit einer unbestimmten Idee von Unendlichkeit zu tun haben können. Kant .entscheidet' die mathematischen Antinomien also, indem er den Widerstreit gleichsam unterläuft und ihn sozusagen durch ein ,Weder-Noch' für null und nichtig erklärt. Es gibt keine Antwort auf die Frage „nach der absoluten Totalität der Erscheinung im Räume und der verflossenen Zeit" (KRV, A 413), weil die Frage falsch gestellt ist. Die mathematischen Antinomien können „durch keinen Vergleich", sondern allein durch „gänzliche Abschneidung des Knotens gehoben werden", weil darin „die Vernunft es dem Verstände entweder zw lang oder zu kurz machte" (KRV, A 529). Ganz anders in den dynamischen Antinomien, in denen beide Positionen recht haben. Zur Auflösung oder Entscheidung des Widerstreits genügt hier nicht mehr der bloße Hinweis, daß bestimmte Größen an die Anschauungsformen von Raum und Zeit und an Erscheinungen, also an die sinnliche Welt gebunden sind, wie in den mathematischen Antinomien. Denn hier geht es um etwas, was nicht der sinnlichen Welt angehört. Freiheit und notwendige Ursache (Gott) sind intelligibel, können also ohnehin nicht im strengen Sinne, also sinnlich .bewiesen' werden, weil für diesen Beweis ein Absprung vom Sinnlichen zum

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Übersinnlichen oder Intelligiblen vorgenommen werden müßte (vgl. KRV, A 458). Sie können vielmehr neben den Naturgesetzen und den immer nur relativen Ursachen bestehen und müssen diese nicht behindern oder gar ausschließen. Die einzelnen Positionen des Widerstreits hängen gleichsam davon ab, ob man Unbedingtes im Sinn hat oder nicht (vgl. KRV, A 459) : Keine der beiden Parteien geht per se von falschen Voraussetzungen aus. Falsch an den dynamischen Antinomien ist nur die Voraussetzung, „daß, was vereinbar ist, als widersprechend vorgestellt wird" (Prol., 343). Je nachdem kann also jeweils die eine oder die andere Position richtig sein. Es kommt ganz auf den Standpunkt an. Insofern eröffnet sich angesichts der dynamischen Antinomien „eine ganz neue Aussicht in Ansehung des Streithandels, darin die Vernunft verflochten ist, und welcher, da er vorher, als auf beiderseitige falsche Voraussetzungen gebaut, abgewiesen worden, jetzt, da vielleicht in der dynamischen Antinomie eine solche Voraussetzung stattfindet, die mit der Prätension der Vernunft zusammen bestehen kann, aus diesem Gesichtspunkte, und, da der Richter den Mangel der Rechtsgründe, die man beiderseits verkannt hatte, ergänzt, zu beider Teile Genugtuung verglichen werden kann, welches sich bei dem Streite in der mathematischen Antinomie nicht tun ließ" (KRV, A 529f.).

Und es ist gerade das, was in den mathematischen Antinomien das ,Aus' für beide Parteien bedeutete - die kritische Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung - , was in den dynamischen Antinomien eine Auflösung in ein schiedliches Nebeneinander, ein .Sowohl-Als-Auch' erlaubt, weil hier gänzlich Ungleichartiges aufeinandertrifft und als vereinbar (nicht .vereinigbar') angesehen werden kann41. Neben der Präsentationsweise ist dieses Nebeneinander von Ungleichartigem die zweite Eigentümlichkeit der Umgangsweise des kritischen Richters Kant mit dem Widerstreit. Keine der vier Antinomien wird derart aufgelöst, daß der Streit auf einer Art .Metaniveau' mithilfe einer Argumentation geschlichtet wird, die die Argumentationen beider Streitpositionen um/aßt. Nicht einmal dort, wo am Ende beide Streitpartner zufrieden sind, also in den dynamischen Antinomien, kann davon die Rede sein, daß Kants .Richterspruch' beide Positionen .vereint'. Die beiden Positionen sind nur in ihrer scharfen Trennung - in der Trennung von Ding an sich und Erscheinung, von Übersinnlichem und Sinnlichem - und durch Kants Hinweis vereinbar, daß sie sich im Prinzip nicht um dasselbe streiten. Beide Positionen stehen nebeneinander. In einer Hinsicht hat die eine, in anderer Hinsicht hat die andere recht. So heißt es beispielweise in den Prolegomena über die dritte, auf die Möglichkeit der nicht der Naturgesetzmäßigkeit unterworfenen freien Handlung bezogene Antinomie: „So kann die Handlung in Ansehung der Kausalität der Vernunft als ein erster Anfang, in Ansehung der Reihe der Erscheinungen aber doch zugleich als ein bloß subordinierter Anfang angesehen und ohne Widerspruch in jenem Betracht frei, in diesem (da sie bloß Erscheinung ist) als der Naturnotwendigkeit unterworfen angesehen werden" (Prol., 346f.).

Eher als eine Vereinigung beider Positionen ist Kants kritische Analyse des Widerstreits ein Kommentar, der zwar - angesichts der Frage, daß es sich in der Kritik um die Untersuchung der „Bedingungen der Möglichkeit" handelt - auf fundamentaler Ebene stattfindet und insofern ,Meta-Charakter' auch über den bloßen Kommentar ,über' etwas hinaus hat. 41 Vgl. Fort. 629: In den dynamischen Antinomien wird deutlich, daß die Verknüpfung keine „Verbindung des Gleichartigen sein darf, wie in der mathematischen Synthesis", also in den mathematischen Antinomien. „In den dynamischen Antinomien kann etwas Ungleichartiges zur Bedingung angenommen werden" (ebd.).

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Aber diese ,Meta-Sichtweise' beruht nur auf der kritischen Distanz, auf dem erwähnten .Zusehen', wie sich der Streit entwickelt. Es wäre falsch, dies als veritable ,Meta-Ebene' zu bezeichnen. Denn der Widerstreit wird auf der Ebene der Transzendentalkritik nicht entschieden. Das Nichtentscheiden ist die dritte Eigentümlichkeit von Kants Antinomienkapitel, die in engem Zusammenhang mit dem .Nebeneinander' steht. Das ,Weder-Noch' hinsichtlich der mathematischen Antinomien kann man ebensowenig wie das .Sowohl-Als-Auch' angesichts der dynamischen Antinomien im strengen Sinne eine Entscheidung des Widerstreits nennen. Das ist in den dynamischen Antinomien ganz deutlich, wo beiden Streitenden recht gegeben wird. Doch selbst das Konstatieren, daß in den mathematischen Antinomien beide unrecht haben, kommt eher einer Abweisung des ganzen Streits als einer Entscheidung gleich. Die beiden Streitenden werden lediglich „überführt , daß sie um nichts streiten" (KRV, A 501), und diese Art der Entscheidung nennt Kant die „Beilegung eines nicht abzuurteilenden Streits" (KRV, A 502). Die angekündigte „kritische Entscheidung" ist also keine Entscheidung im gewöhnlichen Sinne des Wortes, sondern nur die Abweisung (mathematische Antinomien) bzw. Auflösung eines verworrenen Kampfes in ein Nebeneinander auf der Basis der Trennung der Streitenden (dynamische Antinomien). Der kritische Richter fällt kein Urteil im eigentlichen Sinne, das Urteil wird vielmehr ausgesetzt und der Streit bloß beigelegt42. Diese Eigentümlichkeit hat Folgen: Ein .Resultat' der Nichtentscheidung des Widerstreits besteht in der Einsicht in den bloß regulativen Charakter der Ideen in theoretischer Absicht, wie folgende resümierende Passage Kants am Ende der transzendentalen Dialektik zeigt: „So enthält die reine Vernunft, die uns anfangs nichts Geringeres, als Erweiterung der Kenntnisse über alle Grenzen der Erfahrung, zu versprechen schiene, wenn wir sie recht verstehen, nichts als regulative Prinzipien, die zwar größere Einheit gebieten, als der empirische Verstandesgebrauch erreichen kann, aber eben dadurch, daß sie das Ziel der Annäherung desselben so weit hinausrücken, die Zusammenstimmung desselben mit sich selbst durch systematische Einheit zum höchsten Grade bringen, wenn man sie aber mißversteht, und sie für konstitutive Prinzipien transzendentaler Erkenntnisse hält, durch einen zwar glänzenden, aber triiglichen Schein, Überredung und eingebildetes Wissen, hiermit aber ewige Widersprüche und Streitigkeiten hervorbringen."·'3

Die Regulativität vermag also den Widerstreit nur in einem schwachen Sinne zu schlichten44. Gleichzeitig ist sie als solche für die Einheit des Systems unerläßlich, indem die „Idee des Maximum", die sie erlaubt, als ,Analogon" eines Schemas für die unbestimmte Einheit aller Verstandesbegriffe dient45.

42 Ob er damit aufhört, ist eine ganz andere Frage. Da es sich um eine .natürliche' Dialektik der Vernunft handelt, wird der Streit von Kant nur in geregeltere Bahnen (vom Krieg zum Prozeß) überführt. Aufhören tut er deshalb noch nicht. Der Streit ist vielmehr unendlich. 43 KRV, A 701f. Vgl. entsprechend A 509f., wo Kant die „Subreption" beschreibt, die vorliegt, wenn man regulative Prinzipien für konstitutiv nimmt. 44 Gleichzeitig, und auch darüber muß man sich im klaren sein, bringt sie ihn gewissermaßen hervor, denn gerade weil kein Gegenstand der Ideen in der Erfahrung gegeben ist, gerade weil die Idee nicht konstitutiv ist, entsteht der Widerstreit. Eine bestimmte (dogmatische) Entscheidung des Widerstreits ist nicht möglich, wenn man den Charakter der Idee nicht verfehlen will. Daher die Unendlichkeit des Streites. 45 KRV. A 665; vgl. auch A 664 für den ganzen Zusammenhang, A 510, wo entsprechend von der (empirischen) „regressiven Synthesis" die Rede ist, und A 650.

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Durch diesen sichtbaren Bezug zur reflektierenden Urteilskraft der dritten Kritik ist es nicht mehr verwunderlich, daß die kritische Umgangsweise mit dem Widerstreit selbst reflektierend ist. Kant ist auf der Suche nach einem Allgemeinen - er will den gemeinsamen Punkt des Mißverständnisses benennen - , ohne daß dabei am Ende eine allgemeine Schlichtungsregel herauskäme, die den Streit objektiv entscheiden könnte. Dies versucht die „dogmatische Auflösung" des Widerstreits, die in Kants Augen „unmöglich ist" (KRV, A 484). Die kritische Auflösung betrachtet die Angelegenheit dagegen „gar nicht objektiv", sondern - kritisch - „nach dem Fundamente der Erkenntnis worauf sie gegründet ist" (ebd.). Allein darin besteht ihre Gewißheit (vgl. ebd.), die nicht objektiv bestimmend, sondern kritisch reflektierend ist. Von den drei Reaktionsmöglichkeiten auf den Widerstreit ist diese kritische Umgangsweise für Kant die einzig akzeptable. Die Kritik tritt ja gerade an, um die beiden anderen - die „skeptische Hoffnungslosigkeit" und den „dogmatischen Trotz" (KRV, A 407) - zu verhindern. Sie stellt den Widerstreit dar und hat gegenüber den beiden anderen die Besonderheit, daß sie weder dogmatisch zugunsten der einen oder anderen Partei entscheidet noch ein skeptisches .Anything goes' erlaubt (der .Nutzen' des Widerstreits ist kritik- bzw. philosophieimmanent, wie wir noch sehen werden). Außerdem folgt aus der Nichtentscheidung des Widerstreits (und aus der Regulativität der Idee) - und das ist die vierte Eigentümlichkeit von Kants Umgehensweise mit dem Widerstreit - , daß der Schein, der die gesamte Dialektik der Vernunft beherrscht, zwar benannt wird, und von daher nicht mehr trügt, aber auch nach der kritischen Arbeit bestehen bleibt. Der transzendentale Schein, der aus dem Streithandel der Vernunft resultiert, wird zwar in seinen Gründen durch die Kritik analysiert und aufgedeckt und wird zukünftig nicht mehr trügen. Aber er bleibt erhalten, ja er ist, so Kant, unvermeidlich. Das liegt in der Natur der Vernunft (vgl. auch KRV, A 499f.), deren Ansprüche die schärfste Kritik vielleicht zu bremsen, nicht aber stillzustellen vermag. Hierin unterscheiden sich die Vernunftaktivitäten vom bloßen (zu verurteilenden) Sophisma, dessen Schein nicht natürlich ist: „Ein dialektischer Lehrsatz der reinen Vernunft muß demnach dieses, ihn von allen sophistischen Sätzen unterscheidendes an sich haben, daß er nicht eine willkürliche Frage betrifft, die man nur in gewisser beliebiger Absicht aufwirft, sondern eine solche, auf die jede menschliche Vernunft in ihrem Fortgange notwendig stoßen muß; und zweitens, daß er mit seinem Gegensatze, nicht bloß gekünstelten Schein, der, wenn man ihn einsieht, sogleich verschwindet, sondern einen natürlichen und unvermeidlichen Schein bei sich führe, der selbst, wenn man nicht mehr durch ihn hintergangen wird, noch immer täuscht, obschon nicht betrügt, und also zwar unschädlich gemacht, aber niemals vertilgt werden kann" (KRV, A 421f.).

Durch die .Wegnahme' des (verborgenen) transzendentalen Scheins (vgl. KRV, A 504), also durch seine Aufdeckung, wird der Widerstreit von einem „kontradiktorischen" in einen „bloß dialektischen" Widerstreit überführt (KRV, A 505). Ebenso wie ein gewisser Schein bleibt ein gewisser Streit bestehen. Die Dialektik ist gleichsam unendlich. Der Widerstreit wird nicht vollständig aufgelöst, aber das ist auch gar nicht notwendig, wie Kant in einer Passage der Kritik der Urteilskraft (in der es natürlich auch eine Dialektik gibt), die auch der Kritik der reinen Vernunft entstammen könnte, ausführt: „Es kommt bei der Auflösung einer Antinomie nur auf die Möglichkeit an, daß zwei einander dem Scheine nach widerstreitende Sätze einander in der Tat nicht widersprechen, sondern nebeneinander bestehen können . Daß dieser Schein auch natürlich und der menschlichen Vernunft unvermeidlich sei, imgleichen warum er es sei und bleibe, ob er gleich nach der Auflösung des Scheinwiderspruchs nicht betrügt, kann hieraus auch begreiflich gemacht werden" (KU, Β 237).

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Und „Mehr", so heißt es dort weiter, „können wir nicht leisten" (ebd.). Mit dem Stichwort .Dialektik' ist eine weitere Merkwürdigkeit von Kants Umgangsweise mit dem Widerstreit benannt. Sah es eingangs so aus, als ob die Dialektik eine eindeutig negative Begleiterscheinung der Vernunft sei, weil sie stets mit Schein, mit Sophistikationen einhergeht, die es zu vermeiden gilt, so erscheint sie jetzt in einem deutlich positiveren Licht. Sie gehört nicht nur unvermeidlich zur Natur der Vernunft, sondern sie ist sozusagen das positive Resultat des Widerstreits, dessen einzig mögliche Auflösung: die bloße Kontradiktorik wird dank der kritischen Anstrengungen zur Dialektik. Wodurch ist diese gekennzeichnet? Auf keinen Fall darf man Kants Verständnis von Dialektik, wie es sich angesichts der dynamischen Antinomien äußert, mit einer Dialektik im Hegeischen Sinne verwechseln. Sie ist dieser grundlegend entgegengesetzt. Denn die Kantische Dialektik zeichnet gerade aus, daß These und Antithese nicht in einer Synthese aufgehoben werden. Die dritte Stufe (die Kritik selbst) läßt beide Parteien nebeneinander stehen, ja durch ihre Darstellung des Nebeneinander der beiden Parteien wird der Abgrund zwischen den beiden Parteien, zwischen denen, die auschließlich an den sinnlichen, empirischen Fakten orientiert sind, und denen, die den Blick aufs Übersinnliche richten, noch vertieft. Der Widerstreit wird so nicht .aufgehoben', sondern unterstreicht die Unvereinbarkeit von Idee und Erscheinung, auf der er beruht. Es gibt keinen Übergang von einem zum anderen, geschweige denn eine Synthese der beiden Positionen, nur einen Perspektivenwechsel. Wenn die Vermögen ihrer Gesetzmäßigkeit entsprechend arbeiten, dann kann der an die Sinneswelt gebundene Verstand nur Dinge hervorbringen, die für die Vernunftforderung zu klein sind; die Vernunftforderung in ihrer Gesetzmäßigkeit ist für seine Gesetzmäßigkeit immer zu groß (vgl. KRV, A 422; A 489). Deshalb ist der Widerstreit unvermeidlich (vgl. KRV, A 422), und von daher zieht sich die Antithetik mit ähnlichem Mechanismus auch durch alle Kritiken46. Die Umgehensweise mit dem Widerstreit, die Dialektik, ist (vielleicht gegen Kants eigene Absicht) ein unendliches Schwanken (bzw. ein .Umschwenken'), ein Aussetzen des Urteils, eine Spaltung ohne Vermittlung. Der Widerstreit markiert die Grenze zwischen zwei Extremen, zwischen .klein' und ,groß', Verstand und Vernunft, Sinnlichem und Übersinnlichem. Das eigentliche .Resultat' des Widerstreits, und hier finden wir eine weitere Eigentümlichkeit des Antinomien-Kapitels, ist nicht, daß eine der Parteien recht bekommt. Er spielt vielmehr in seiner Unvermeidbarkeit, die in der Natur der Vernunft begründet liegt, eine Rolle für die Entwicklung der Philosophie selbst. Wie wir oben gesehen haben, gibt es drei verschiedene Möglichkeiten, auf den Widerstreit zu reagieren: Als Folge des Streits der Vernunft mit sich selbst droht Skeptizismus oder dogmatischer Trotz (vgl. auch Fort., 623 und 661). Das Unternehmen der Kritik ist für Kant die einzig akzeptable .Reaktion' auf den Widerstreit. Die Dialektik (im negativen wie im positiven Sinne) ist gleichsam ein Movens für die Kritik selbst. Es ist der Widerstreit, der - bei aller Lästigkeit und Negativität - die Vernunft aufschreckt (vgl. Fort., 660f.), sie aus dem dogmatischen Schlummer reißt, sie zur „Selbstprüfung" zwingt (Prot., 341 Anm.) und den kritischen Richter „nötigt, zu den ersten Quellen der reinen Vernunft selbst zurückzugehen" (Prol., 338). Das, was Kant über den „große Nutzen" der skeptischen Methode anläßlich des Widerstreits sagt (KRV, A 485) - daß sie nämlich eine Art ist, die aufgeworfenen Fragen zu behandeln, 46 Vgl. dazu Kants Kurzfassung der Antinomien aller drei Kritiken, KU, Β 243ff.

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„welche reine Vernunft an reine Vernunft tut, und wodurch man eines großen dogmatischen Wustes mit wenig Aufwand überhoben sein kann, um an dessen Statt eine nüchterne Kritik zu setzen, die als ein wahres Katarktikon, den Wahn, zusamt seinem Gefolge, der Vielwisserei, glücklich abführen wird" {KRV, A 486)

- , kann ebenso für die Dialektik selbst gelten47. „Hierdurch wird", wie es in der Kritik der praktischen Vernunft heißt, „die Vernunft genötigt, diesem Scheine nachzuspüren, woraus er entspringe und wie er gehoben werden könne, welches nicht anders als durch vollständige Kritik des ganzen reinen Vernunftvermögens geschehen kann, sodaß die Antinomie der reinen Vernunft, die in ihrer Dialektik offenbar wird, in der Tat die wohltätigste Verirrung ist, in die die menschliche Vernunft je hat geraten können, indem sie uns zuletzt antreibt, den Schlüssel zu suchen, aus diesem Labyrinthe herauszukommen, der, wenn er gefunden worden, noch das entdeckt, was man nicht suchte und doch bedarf, nämlich eine Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge" (KPV, 107).

Der Widerstreit beruht - negativ - auf einem unvermeidlichen „Erbfehler" (Prol., 379) der Vernunft und hat - nach der Kritik - eine Selbstbeschränkung der Vernunft zur Folge, die, wie es in der Kritik der Urteilskraft über die Antinomien im allgemeinen heißt, „nicht ohne Schmerz" vonstatten geht (KU, Β 243). Doch er hat auch eine positive Seite: Er ist ein „Katarktikon" - ist also für die Philosophie insgesamt förderlich und notwendig. Seine positive Seite besteht einerseits darin, daß er die Kritik in Gang setzt, und andererseits eröffnet er, wie die eben zitierte Passage aus der Kritik der praktischen Vernunft deutlich macht und wie es in der Kritik der Urteilskraft stellvertretend für alle Kritiken heißt, „zur Vergütung" der „Einbuße", die die Beschränkung der Vernunft in theoretischer Hinsicht bedeutet, einen „desto größere Gebrauch in praktischer Rücksicht" (KU, Β 243). Nicht nur hat der Terminus .Dialektik' bei Kant eine negative und eine positive Bedeutung, sondern die Dialektik als solche ist .negativ-positiv' strukturiert. Durch den negativen Befund in theoretischer Hinsicht findet ein Perspektivenwechsel auf die „Aussicht" ins Praktische statt. Und das ist seine positive Seite. Die Antinomien unterstreichen noch einmal den Abgrund von bedingter Erscheinung und unbedingtem An sich (und rechtfertigen so nebenbei diese von Kant vorgenommene Unterscheidung). Gleichzeitig .retten' sie damit aber auch das Unbedingte (vgl. KU, Β 244). Innerhalb der ersten Kritik deutet sich so über die .Negativ-Positiv-Struktur' der Dialektik bereits ein Übergang (als Perspektivenwechsel) vom Theoretischen zum Praktischen an. Die Aussicht auf den Nutzen des Widerstreits für den praktischen Gebrauch der Vernunft führt uns zur letzten Eigentümlichkeit von Kants Antinomien-Kapitel. Hier geht es nun doch um eine Entscheidung des Widerstreits, die nicht verschwiegen werden soll. Sie fällt dort, wo die Voraussetzungen dafür gegeben sind, also in den dynamischen Antinomien, in denen es um Fragen der praktischen Philosophie geht und die zumindest sinnvoll in sich sind. Diese Entscheidung fällt jedoch nicht auf transzendentaler Ebene, sondern ihr wird ein anderes Kriterium zugrunde gelegt: das Interesse. Kant geht von (mindestens) zwei verschiedenen Interessen der Vernunft aus: dem theoretischen oder spekulativen und dem praktischen. Der eine Widersacher im Widerstreit, der 47 Vgl. ζ. B. KRV, A 507 über die Vorteile der Dialektik: „Die transzendentale Dialektik tut also keineswegs dem Skeptizism einigen Vorschub, wohl aber der skeptischen Methode, welche an ihr ein Beispiel ihres großen Nutzens aufweisen kann, wenn man die Argumente der Vernunft in ihrer größten Freiheit gegeneinander auftreten läßt, die, ob sie gleich zuletzt nicht dasjenige, was man suchte, dennoch jederzeit etwas Nützliches und zur Berichtigung unsere Urteile Dienliches, liefern werden."

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Empirismus, hat ein weitaus größeres spekulatives Interesse als der Rationalismus (vgl. KRV, A 468) und ist nur zu verurteilen, wenn er dogmatisch wird und das Vorhandensein von Ideen gänzlich leugnet (vgl. KRV, A 470f.). Denn dann tut er dem praktischen Interesse der Vernunft Abbruch. Dieses praktische Interesse ist nun wiederum auf Seiten der anderen Partei, bei den Rationalisten, stärker ausgebildet (vgl. KRV, A 466). Es ist klar, daß Kants Sympathien, zumindest in praktischen Fragen, auf dieser Seite liegen: „Daher führt das architektonische Interesse der Vernunft (welches nicht empirische, sondern reine Vernunfteinheit a priori fordert.) eine natürliche Empfehlung für die Behauptungen der These bei sich."·18

Wie wir gesehen hatten, hing der Ausgang der dynamischen Antinomien gewissermaßen davon ab, ob man Unbedingtes - also Freiheit und notwendige Ursache - im Sinn hat oder nicht. Dieses ,Im-Sinn-Haben' entspräche dem praktischen Interesse. Insofern wird der dynamische Widerstreit nicht nach dem Kriterium der Wahrheit, sondern des Interesses entschieden (vgl. KRV, A 465), doch diese .Entscheidung' wird von Kant insofern abgeschwächt, als sie an dem eigentlichen Widerstreit und seiner Nichtentscheidbarkeit (auf transzendentaler Ebene) nichts ändert und „in Ansehung des strittigen Rechts beider Teile nichts ausmacht" (ebd.). Ohne das Interesse der Vernunft bleibt der Widerstreit, wie Kant selber zugibt, „in einem unaufhörlich schwankenden Zustande" (KRV, A 475). Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Kants „kritische Entscheidung" des Widerstreits im besten, dem dynamischen Fall, nur dessen Auflösung in ein irreduzibles Nebeneinander bedeutet. Das Antinomien-Kapitel führt die kritische, in mehreren Punkten eigentümliche Umgangsweise mit dem Widerstreit vor. Diese Umgangsweise ist einerseits im Hinblick auf das gesamte Unternehmen der Kritik aufschlußreich, andererseits im Hinblick auf das Erhabene, in dem sich ja auch ein „Widerstreit" der Vermögen gefühlsmäßig kundtut. Letzterem wollen wir uns jetzt in bezug auf die transzendentale Dialektik zuwenden. Danach wird dann das Unternehmen der Kritik im ganzen zu betrachten sein.

3.2.4. Das Erhabene als Gefühl des Widerstreits Auf den ersten Blick mag es mehr als gewagt erscheinen, das Erhabene aus der dritten Kri-

tik mit dem Widerstreit aus der Dialektik der Kritik der reinen Vernunft in Verbindung zu bringen, sind doch die Gegenstandsbereiche dieser beiden Kritiken völlig disparat und scheint es in der Dialektik weder um Gefühle noch um ästhetische Fragestellungen im weitesten Sinne, wie z.B. in der transzendentalen Ästhetik, zu gehen. Wir hatten jedoch im Laufe der Analyse des Widerstreits gesehen, daß die transzendentale Ästhetik als Explikation der reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit für den Widerstreit insofern eine große, wenngleich negative Rolle spielt, als sie der Grund dafür ist, daß die mathematischen Antinomien beide abgewiesen werden und sie in den dynamischen Antinomien durch die strikte Trennung von Ding an sich und Erscheinung das

48 K R V , A 475. Was nichts daran ändert, daß das Interesse der Vernunft von Kant eher empirisch-anthropologisch als eine Art deus ex machina, der als Notbremse fungiert, eingeführt wird, und wie der,Drang' der Vernunft nach Ausdehnung aus der transzendentalen Ebene herausfällt. Mit dem Interesse der Vernunft geht schließlich das Primat der (praktischen) Vernunft einher, als .Supervermögen' ihre Interessen in letzter Konsequenz über alle anderen zu .stülpen'.

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Nebeneinander beider Positionen garantiert. Insofern liegt der Verdacht nahe, daß das Erhabene - dessen ebenfalls teilweise negative Verbindung zur transzendentalen Ästhetik wir bereits festgestellt haben - für den Widerstreit ebenfalls zumindest latent eine Bedeutung haben könnte. Die strukturelle Verwandtschaft des Gefühls des Erhabenen mit dem Widerstreit, wie Kant ihn in der ersten Kritik beschreibt, ist nicht von der Hand zu weisen. Beide zeugen unübersehbar von einem Spannungsverhältnis zwischen den verschiedenen Vermögen. Meine These lautet daher, daß das Erhabene, das Kant in der Kritik der Urteilskraft als „Widerstreit" zweier Vermögen charakterisiert, das Gefühl ist, das auch der Widerstreit der ersten Kritik und damit ,der Widerstreit' im allgemeinen auslöst bzw. auslösen würde, wenn man ihn unter diesem Gesichtspunkt betrachtet. Diese These will ich im folgenden belegen. Um Mißverständnissen vorzubeugen, gilt es vorab klarzustellen, daß mir nicht daran liegt, den „Widerstreit", von dem in der dritten Kritik anläßlich des Erhabenen die Rede ist, kurz und bündig mit dem Widerstreit aus der transzendentalen Dialektik gleichzusetzen. Ich bin mir darüber im klaren, daß es sich in beiden Fällen um unterschiedliche Formen von Widerstreit handelt: im ersteren ist es ein Widerstreit von Einbildungskraft und Vernunft, im letzteren ein Widerstreit von Verstand und Vernunft49. Ebensowenig geht es mir darum, das die Größe betreffende Mathematisch-Erhabene kurzerhand auf die ebenfalls die Größe betreffenden mathematischen Antinomien, die einen Widerstreit hervorrufen, anzuwenden, genausowenig wie es mir opportun erscheint, das Dynamisch-Erhabene, in dem es um die Freiheit des Menschen geht, mit der dritten Antinomie kurzzuschließen, die anläßlich des Problems der Freiheit einen Widerstreit auslöst (geschweige denn mit der vierten Antinomie)50. Solche Gleichsetzungen erschienen mir zu einfach und vor allem unkritisch (im kantischen Sinne); man würde sich vom Gleichklang der Wörter täuschen lassen und die beträchtlichen Unterschiede der ersten und dritten Kritik hinsichtlich ihres Gegenstandsfeldes und Erkenntnisinteresses nicht hinreichend beachten51. Gleichwohl ist es m.E. kein Zufall, daß Kant in beiden Fällen von „Widerstreit" spricht. Es ist durchaus eine Verbindung zwischen beiden .Widerstreiten' vorhanden. Der Wider49 Norbert Hinske hat darauf hingewiesen, daß letzteres so eindeutig nicht der Fall ist (Vgl. Norbert Hinske, Kants Weg zur Transzendentalphilosophie. Der dreißigjährige Kant, Stuttgart 1970), insofern Kants Antinomienbegriff drei Bedeutungen hat (vgl. ebd., 99ff.), die man einmal als Widerstreit von Vernunft und Verstand (vgl. ebd., 107), einmal als Widerstreit der Vernunft mit sich selbst (vgl. ebd., 106) und einmal als Widerstreit der Vernunft mit der Sinnlichkeit interpretieren kann (vgl. ebd., 110), wobei alle drei Varianten miteinander zusammenhängen. 50 Obwohl eine Parallele noch bis in die Details hinein insofern vorliegt, als die mathematischen und dynamischen Antinomien auf der Erweiterung der Kategorien zu Ideen beruhen, welche Kategorien ihrerseits in mathematische und dynamische unterteilt werden (vgl. KRV, Β 110), wobei erstere wie in der „Analytik des Erhabenen" Qualität und Quantität betreffen, letztere dagegen Relation und Modalität. Da diese vier Momente aber, wie wir gesehen haben, in der „Analytik des Erhabenen" (zumal im Hinblick auf die erste Kritik) auf schwachen Füßen stehen, werde ich hier nicht weiter darauf eingehen. 51 Eine solche Gleichsetzung wäre überdies nicht nur nicht korrekt, sondern würde auch auf eine falsche Fährte führen. Denn wie wir gleich sehen werden, ist es vorrangig das Mathematisch-Erhabene, das hier strukturell (nicht inhaltlich bezüglich der Größe) eine Rolle gerade für den Widerstreit spielt, der sich in den dynamischen Antinomien manifestiert. Die oben von Kant für die Antinomien dargelegte Gleichung mathematisch = homogen, dynamisch = heterogen betrifft das Erhabene nur in dem Sinne, daß es in beiden seiner Varianten um Heterogenität geht.

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streit der ersten Kritik läßt sich in bezug auf das Erhabene und das Erhabene der dritten Kritik läßt sich in bezug auf den Widerstreit der ersten wie folgt vergegenwärtigen: Bei allen Unterschieden, was den Gegenstandsbereich und das Erkenntnisinteresse angeht, ist es nicht zu übersehen, daß die Antinomien, und damit der Widerstreit, denjenigen Teil der transzendentalen Dialektik ausmachen, der den größten Bezug zur Welt der Sinnlichkeit aufweist. Im Unterschied zu Psychologie und Theologie bezieht sich die Totalitätsforderung der Vernunft hier auf die objektive Welt der Erscheinungen. Dabei nimmt der Totalitätsanspruch der Vernunft die konkrete Form an, die empirische Synthese der ganzen Reihe der Erscheinungen, also gleichsam aller Erscheinungen auf einmal zu fordern. Das ist aufgrund der begrenzten Kapazitäten des Verstandes, der für diese Synthese zuständig ist, nicht möglich: er kann immer nur Teilsynthesen liefern, weil er für diese Synthese auf die endliche Anschauung in Raum und Zeit angewiesen bleibt - woraus auf transzendentaler Ebene, also auf der Ebene der Gesetzmäßigkeiten der Vermögen, der Widerstreit entspringt. Die Unendlichkeit der Reihe der Erscheinungen wird dabei von Kant anhand von Regressus und Progressus beschrieben. Im Erhabenen sehen wir uns mit der gleichen Unendlichkeit konfrontiert, die im Mathematisch-Erhabenen ebenfalls als Syntheseproblem bei Regressus und Progressus zum Tragen kommt. Die Syntheseproblematik ist zwar auf eine einzige Erscheinung (den Gegenstand, der das Gefühl des Erhabenen auslöst) konzentriert, aber das scheint mir im Prinzip keinen großen Unterschied auszumachen. Auch hier entzündet sich ein Widerstreit von Vermögen, also auf transzendentaler Ebene, anläßlich der Totalitätsforderung der Vernunft, die betreffende objektive Erscheinung (in diesem Fall subjektiv) zu synthetisieren. Nun, so wird man einwenden, handelt es sich aber doch um eine ganz andere Synthese als beim Widerstreit der ersten Kritik. Hier ist es die Einbildungskraft, die die Synthese vornehmen soll, ohne Zuhilfenahme des Begriffs, dort ist es gerade der Verstand mit seinen Begriffen, den Kategorien. Das stimmt zweifelsohne, dennoch möchte ich diesbezüglich folgendes zu bedenken geben: Erstens betont Kant ausdrücklich, daß es in den Antinomien um die Reihe der Erscheinungen in Richtung auf die vergangene Zeit und in keiner Weise um einen Ausblick auf die Zukunft geht. Das entspricht, wenn man sich an die dreifache Synthesis erinnert und Heideggers zeitliche Zuordnung der drei Synthesen zu Hilfe nimmt, den beiden ersten Synthesen, für die die Einbildungskraft zuständig ist und die für das Erhabene überhaupt eine Rolle spielen. Nun, so wird man wiederum einwenden, hier macht es eben doch einen Unterschied, ob von der auf einen Gegenstand bezogenen Synthese die Rede ist, wie im Erhabenen, oder von der Synthese einer Reihe von Erscheinungen, für die der Verstand und nicht die Einbildungskraft zuständig ist. Doch auch anläßlich der dreifachen Synthesis, die die Bedingungen der Möglichkeit der Synthese überhaupt expliziert, war von mehreren Erscheinungen die Rede gewesen. Zweitens: Die Antinomien sind Antinomien, weil der Verstand auf die Anschauungsformen von Raum und Zeit, für die die Einbildungskraft verantwortlich ist, angewiesen bleibt. Die Einbildungskraft ist also auch in den Antinomien unentbehrlich, wenn sie auch von Kant nicht ausdrücklich berücksichtigt zu werden scheint. Für die Anwesenheit der Einbildungskraft - und für einen Bezug zum Erhabenen - spricht z.B. Kants Bemerkung, daß in den Antinomien die Totalität in der „Einbildung" vorgestellt wird52. Drittens, und darauf sei noch einmal hingewiesen, will ich ja gar nicht 52 KRV, A 416. Vgl. auch die oben erwähnte Beobachtung von Hinske (meine Fußn. 49).

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darauf hinaus, daß der Widerstreit, von dem das Erhabene zeugt, derselbe Widerstreit ist wie in der ersten Kritik. Mir geht es lediglich um den Nachweis, daß es strukturell in beiden um das Gleiche geht. Dieser Nachweis scheint mir auszureichen, um vertreten zu können, daß der Widerstreit der ersten Kritik, wenn man ihn unter dem gefühlsmäßigen Aspekt betrachten würde, ein erhabenes Gefühl hervorriefe. Entscheidend für diese strukturelle Parallelität scheint mir, daß sowohl im erhabenen Widerstreit als auch im Widerstreit der ersten Kritik Sinnliches und Endliches auf der einen und Übersinnliches und Unendliches auf der anderen Seite aufeinanderprallen. Erscheinung und Idee zeigen in beiden Fällen ihre Heterogenität so deutlich wie an kaum einer anderen Stelle im gesamten kritischen Unternehmen53. In der ersten Kritik wird dabei lediglich der Widerstreit der beiden Parteien expliziert. Die Kritik der Urteilskraft geht einen Schritt weiter und untersucht das Gefühl, das der so explizierte Widerstreit auslöst (wobei der Verstand in seiner bestimmenden Funktion gemäß der Bedingungen der Möglichkeit von Ästhetik herausfallen muß, nicht aber die unbestimmte Vernunft). Wie wir gesehen haben, werden beide .Widerstreite' identisch beschrieben, z.B. in bezug auf das Bild von den zwei entgegengesetzten Richtungen, wo sogar in der ersten Kritik von „Empfindungen" die Rede ist. Insofern erhärtet sich der Verdacht, daß auch der Widerstreit der ersten Kritik ein erhabenes Gefühl auslösen könnte. Diese Vermutung bestätigt sich weiter, wenn man die Auflösungsstrategie, die Kant für den Widerstreit in der ersten Kritik aufbietet, mit Blick auf das Erhabene betrachtet. Wie wir gesehen hatten, fand hier wie dort keine Entscheidung zugunsten der einen oder anderen Partei, also zugunsten des einen oder anderen Vermögens statt. Aus dem Widerstreit ergab sich in beiden Fällen - zumindest nach meiner kritischen Lesart des Erhabenen - ein gleichzeitiges und gleichberechtigtes Nebeneinander. Ebenso wie der Ausgang der dynamischen Antinomien davon abhing, ob man das Unbedingte, also Freiheit und absolute Notwendigkeit gleichsam im Sinn hatte oder nicht, hängt auch das Gefühl des Erhabenen von einer gewissen Kultur, vom Vorhandensein der Ideen ab, die Rückschlüsse auf das Vorhandensein der Vernunft zulassen. (Und in beiden Fällen ließ sich dieselbe Präferenz Kants in bezug auf das „Primat des Praktischen" beobachten.) Es kommt also angesichts des Nebeneinanders in beiden Fällen ganz auf den Standpunkt an. Sowohl in der ersten als auch in der dritten Kritik bedeutet der eine Pol bzw. die eine Partei die faktische Nicht-Synthese, der andere aber das Denken dieser Synthese, d.h. des Unbedingten oder Absoluten. Die Trennung der Vermögen ist dabei Voraussetzung: In den Antinomien erlaubt nur die Trennung von Ding an sich und Erscheinung eine .Auflösung' der verkeilten Positionen; im Erhabenen kann Kant nur anhand dieser Trennung das Ineinander von Unlust und Lust analytisch entwirren. Dabei geht er soweit, daß das Erhabene gleichsam die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung .beweist'54. Widerstreit und Erhabenes stehen sozusagen an der Grenze55, am Übergang zwischen diesen beiden Welten. Sie erlauben beide 53 Mit Ausnahme vielleicht der Achtung in der Kritik der praktischen Vernunft, die aber, wie wir gesehen haben, mit dem Erhabenen in Verbindung steht. 54 Vgl. KU, Β 92. Deshalb hat das Erhabene m.E. von vornherein einen größeren Bezug zur Kritik der reinen Vernunft, und damit zum kritischen Unternehmen insgesamt, als andere Elemente der Kritik der Urteilskraft. Das Erhabene zeugt, um es zugespitzt zu formulieren, von der Grundunterscheidung der Kritik, d.h. von der Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung, die der gesamten ersten Kritik (und allen anderen Kritiken) als Operationsbasis zugrunde liegt. 55 Zur Grenze im Widerstreit vgl. die Ausgangsalternative Kants, KRV, A 417f.

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keinen veritablen Übergang im Sinne einer materialen Brücke, sondern nur einen Perspektivenwechsel. Die transzendentale Ästhetik spielt dabei eine besondere Rolle. Wie wir gesehen haben, werden die mit den reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit verknüpften Synthesen im Erhabenen einerseits negativ aus den Angeln gehoben, andererseits aber bekräftigte das Erhabene (neben dem Vorhandensein der Vernunft) positiv Raum und Zeit ,an sich' in ihrer Idealität als Bedingungen der Möglichkeit jeder Wahrnehmung, insofern sie jeder Wahrnehmung .vergessen' zugrunde liegen. Ein ähnliches Verhältnis zur transzendentalen Ästhetik läßt sich in den Antinomien beobachten. Einerseits wird positiv an ihr festgehalten (dafür steht das Abweisen der mathematischen Antinomien, die sich nicht an die transzendentale Ästhetik halten, und die auf die sinnliche Welt der Erscheinungen sich beschränkende Partei in den dynamischen Antinomien); andererseits wird sie aber (und dafür steht die andere Partei in den dynamischen Antinomien) wie im Erhabenen um ein Unbedingtes oder Übersinnliches erweitert, das der transzendentalen Ästhetik entgehen muß, das aber - im Denken - als Idee ,da' (und das Ziel der transzendentalen Dialektik) ist. Entsprechend zeigen Mathematisch- und Dynamisch-Erhabenes das Vorhandensein der Vernunft (und ihrer Ideen), das sich im Mathematisch-Erhabenen in einer Art .DennochSynthese' manifestiert und wie in den Antinomien als regulativer Ansporn verstanden wird, die Synthese der Erscheinungen im Hinblick auf die Einheit des Systems immer weiter zu betreiben56. Wie wir oben gesehen haben, ist das Erhabene nur das (ästhetische) Erhabene, wenn die Vernunftideen in ihm unbestimmt bleiben, wobei ihnen die Natur als eine Art ,Als-Ob-Schema' unterlegt wird. Ebenso dient in dem aus den Antinomien resultierenden regulativen Gebrauch der Ideen die Idee eines Maximums der Vereinigung als Analogon eines Schemas57. Das Erhabene bildet also den Widerstreit auch der ersten Kritik (und seine Folgen) gefühlsmäßig ab. Für den besonderen Bezug zur Ästhetik in beiden Fällen spricht auch die Darstellungsproblematik. Die .mathematisch-erhabenen Gegenstände' verstatteten keinerlei direkte Darstellung, weder im Sinne der ersten noch im Sinne der dritten Kritik. Es gelang nur deren negative oder indirekte Darstellung. Ebenso kann der Widerstreit von Kant nicht direkt durch eine Anschauung dargestellt werden, sondern nur indirekt durch das Präsentieren beider Seiten, also zweier Anschauungen, wenn man so will, die in einem negativen Verhältnis zueinander stehen. Innerhalb der Antinomien selber, deren mangelnde Anschaulichkeit im Vergleich mit dem Widerspruch Kant beklagt, werden wiederum die sinnliche und die übersinnliche Seite in eine ähnlich indirekte Beziehung gesetzt wie die beiden

56 Das gilt sogar für die mathematische Antinomie. 57 Vgl. KRV, A 665. Diese Verbindung über die Teleologie kann man unter zwei Aspekten interpretieren. Erstens gibt sie einen Hinweis darauf, daß das Erhabene angesichts der Tatsache, daß die Teleologie der dritten Kritik, die mit dem Erhabenen in Verbindung steht, bereits in der ersten Kritik vorkommt, ebenfalls mit der Kritik der reinen Vernunft zu tun hat. Andererseits kann man die in der ersten Kritik auch in anderen Punkten ersichtliche strukturelle Parallele von Erhabenem und Widerstreit als nachträgliche Bestätigung für die Verbindung des Erhabenen mit der Teleologie in der dritten Kritik ansehen.

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Seiten im Erhabenen58. Insofern kann das Erhabene geradezu als .Veranschaulichung' des Widerstreits gelten59. Nun könnte man gegen die Verbindung von Erhabenem und Widerstreit gerade in bezug auf die transzendentale Ästhetik noch einwenden, daß Kant sich in beiden Fällen deutlich widerspricht. In der transzendentalen Dialektik weist er die mathematischen Antinomien u.a. mit dem Hinweis ab, daß Unendlichkeit keine Größe ist und nur als Verhältnisbegriff in der Idee gedacht werden kann (vgl. KRV, A 43If.). In der Kritik der Urteilskraft ist anläßlich des Mathematisch-Erhabenen dagegen von einer Größe schlechthin die Rede, die alle Verhältnisbegriffe übersteigt, und diese Größe ist die Unendlichkeit. Mir scheint hier jedoch keine Begriffsverwirrung bei Kant und kein Widerspruch vorzuliegen. Denn einerseits zeigt das Erhabene ja gerade (es ist sogar entscheidend für dieses Gefühl), daß die Unendlichkeit nur scheinbar als Größe in der Natur, in Wahrheit aber in der Idee liegt. Insofern würde diese „Größe schlechthin" der transzendentalen Dialektik nicht widersprechen, sondern sie bestätigen. Andererseits werden Raum und Zeit selbst von Kant als unendliche, aber unbestimmte (ideale) Größen vorgestellt. Die transzendentale Dialektik wendet sich nur dagegen, sie als bestimmte Größen aufzufassen. Als unbestimmte Größen entsprechen sie in ihrer Idealität dem Status nach der Idee, die ebenso unbestimmt ist und bleiben muß. Die transzendentale Ästhetik zeigt, daß wir immer nur bestimmte Größen wahrnehmen und zur Erkenntnis weiterverarbeiten können. Im Erhabenen und im Widerstreit der transzendentalen Dialektik wird das im Rekurs auf die Vernunft teilweise korrigiert, weil auch unbestimmte Größen wahrgenommen werden können; in beiden Fällen resultiert daraus jedoch folgerichtig keine Erkenntnis. Eine Irritation hinsichtlich der „Größe schlechthin" im Erhabenen ist verständlich. Sie müßte sich jedoch eher gegen Kants Wahrnehmungsmodell als auf einen Widerspruch zwischen erster und dritter Kritik richten. Eine weitere Parallele zwischen transzendentaler Dialektik und Erhabenem besteht im Charakter dieser Dialektik selbst. Wie wir oben gesehen hatten, käme ein Stillstellen der .erhabenen Dialektik' einer .Beschönigung' des Erhabenen (bzw. einem Abgleiten in die Moralität) gleich. Ebenso verhält es sich hinsichtlich der Antinomien. Von Kants Intention her ist es sicherlich so, daß er die unendliche Dialektik der Vernunft für ebenso „pöbelhaft" hält wie die „Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung" (KRV, A 316). Wenn die Kritik der Philosophie eine feste Form geben will, muß sie versuchen, die Dialektik anzuhalten. Angesichts der Durchführung dieses Versuchs wird jedoch klar, daß die 58 Zum Problem der .Darstellung', das sich immer, wenn es um Ideen geht, stellt, wäre viel zu sagen. Eine große Rolle spielt dieses Problem auch im dritten Teil der transzendentalen Dialektik, wo es um Gott als „Ideal" geht. Kant zeigt hier - wiederum auf der Basis der transzendentalen Ästhetik - die Undarstellbarkeit dieses Ideals (und damit das Ungenügen der traditionellen Gottesbeweise), und es ist sicher kein Zufall, daß dabei in bezug auf Gott immer wieder der Terminus .erhaben' fällt. Vgl. mit Bezug auf die „unbedingte Notwendigkeit" (der vierten Antinomie) und Hallers berühmte „Ewigkeit" (außerhalb der Anschauungsformen von Raum und Zeit, bzw. als .Zeit selbst' ), KRV, A 613; vgl. entsprechend A 621 (mit Bezug auf die vergebliche Synthesis); A 622 (Erstaunen); A 624 (.Negativ-Positiv-Struktur', Teleologie); A 628f. (Unbestimmtheit). In seinem eigenen .Gottesbeweis' gibt Kant eine dem Erhabenen vergleichbare .indirekte' Darstellung. 59 In diese Richtung geht auch eine Bemerkung von Reinhard Hiltscher, Kant und das Problem der Einheit der Vernunft, Würzburg 1987,142: „Das mathematisch Erhabene eignet sich gut dazu, das indirekte Zusammenwirken von theoretischer Vernunft und Anschauung zu thematisieren."

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Dialektik der Vernunft .natürlich' und daher unendlich ist. Sie wird sich immer wieder in Scheinwissen verstricken, wenn dieses auch fortan nicht mehr trügt. Dieser Befund läßt eher auf eine fortdauernde .erhabene Belebung' der Philosophie schließen als auf eine schöne Harmonie60, mehr noch: die Philosophie (und die Kritik) scheint diese Belebung zu brauchen, um den dogmatischen Schlummer abzuwehren. Kants Rückgriff auf das Interesse der (praktischen) Vernunft als Notbremse in dieser Dialektik zeigt diesbezüglich die gleiche Ambivalenz wie das im Erhabenen sich versteckt demonstrierende Primat der praktischen Vernunft. Auf transzendentaler Ebene bleibt der Streit als dialektisches Nebeneinander bestehen und das Urteil ausgesetzt. Nicht zuletzt mit Blick auf das Erhabene erklärt sich, warum Kant im Fortschrittstext über Leibniz' prästabilierte Harmonie spotten kann, daß sie „das wunderlichste Figment , was je die Philosophie ausgedacht hat" (Fort., 618). Das Erhabene kann deshalb in der Tat als der gefühlsmäßige Ausdruck der Antinomie oder des Widerstreits in der ersten Kritik verstanden werden61. Der Widerstreit zeigt das Aufeinanderprallen zweier Welten, so wie es sich dem kritischen Richter .darstellt'. Das müßte, wie man jetzt sagen könnte, im kritischen Richter nicht nur erhabene Gefühle auslösen, sondern wirkt sich auch auf seine eigene Vorgehensweise aus. In einer merkwürdigen und nur der Kritik eigenen Mischung aus Betroffenheit und Distanz gelangt er reflektierend zu einer indirekten Darstellung beider Fälle, indem er eine ,Negativ-Positiv-Dialektik' konstruiert, die ihm einen Perspektivenwechsel vom Sinnlichen zum Übersinnlichen und letztlich vom Theoretischen zum Praktischen erlaubt. Daß Kant den Widerstreit nicht in eine Synthese aufhebt, sondern nur in ein dialektisches Nebeneinander auflöst, das nicht zur Ruhe kommt, hat seinen Grund: Er braucht ihn für die Kritik. Dies weist nun wiederum auf weitere mögliche Implikationen des Erhabenen hin, denen ich mich nun abschließend zuwenden will. Als Gefühl des Widerstreits wird das Erhabene zum kritischen Gefühl par excellence - zu dem Gefühl, das die Arbeit des kritischen Richters am Gerichtshof der reinen Vernunft motiviert, leitet, begleitet und legitimiert.

3.3. Der Gerichtshof der reinen Vernunft Die transzendentale Dialektik und der in ihr explizierte Widerstreit machen nicht nur einen wichtigen Teil des kritischen Unternehmens aus, weil sie die Kritik „aufwecken", sondern sie sind insgesamt für den kritischen „Gerichtshof der reinen Vernunft" charakteristisch, dessen Eigenschaften ich im folgenden näher untersuchen will. Meine These lautet, daß 60 Entsprechend hat schon Schiller darauf hingewiesen, daB ohne das Schöne „zwischen unserer Naturbestimmung und unsrer Vernunftbestimmung ein immerwährender Streit sein" würde (Schiller, „lieber das Erhabene", a.a.O., 53). 61 Das heißt übrigens umgekehrt für die „Analytik des Erhabenen", daB nicht nur unendlich groBe, sondern auch unendlich kleine Gegenstände das Gefühl des Erhabenen auslösen müBten, wofür sich schon in der Kritik der Urteilskraft Hinweise finden lassen. - Schon Vischer hat, wenngleich in ganz anderem Kontext, nämlich in bezug auf die Tragödie, auf die allerhöchste Erhabenheit von Antinomien hingewiesen (vgl. Vischer, Über das Erhabene..., a.a.O., 128f.>. Und bei Armand Nivelle heißt es in bezug auf das Erhabene: „Nun ist im Kantischen System nichts antinomischer als die Vernunft als Vermögen des Ubersinnlichen und die Einbildungskraft als Vermögen der Sinnlichkeit" (Armand Nivelle, Kunst- und Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik, 2. durchges. und erg. Aufl. Berlin/New York 1971, 208).

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das Erhabene, als Gefühl des Widerstreits, nicht nur kritisches Gefühl in dem Maße ist, wie der Widerstreit als typisch kritisches Phänomen eingeschätzt werden kann, sondern darüber hinaus mit Blick auf die gesamte Kritik in dreierlei Hinsicht ein kritisches Gefühl genannt werden könnte: erstens stellt das Erhabene innerhalb der Kritik eine Krise dar; zweitens zeigt es, wie diese Krise kritisch behoben wird, wodurch sich das ambivalente Verhältnis der Kritik zur Metaphysik offenbart; aus diesen beiden Faktoren folgt drittens, daß das Erhabene die Vorgehensweise der Kritik insgesamt gefühlsmäßig abbildet. Um diese These zu belegen, werde ich im folgenden zuerst die Charakteristika der kritischen Vorgehensweise, wie Kant sie in der Kritik der reinen Vernunft entwickelt und z.B. im Bild vom .Gerichtshof der reinen Vernunft' reflektiert, herausarbeiten. Danach gehe ich auf das Verhältnis von Kritik und Metaphysik bei Kant ein, in dem sich diese Charakteristika auf einen problematischen Punkt zubewegen. Zum Schluß will ich dann zeigen, inwiefern man angesichts dieser Charakteristika vom Erhabenen als dem kritischen Gefühl par excellence sprechen kann.

3.3.1. Die kritische Vorgehensweise Für die kritische Vorgehensweise sind in der Hauptsache folgende Punkte charakteristisch: Wie der Name „Kritik" anzeigt, besteht das kritische Verfahren vor allem und zuerst aus Differenzierungen. Griechisch krinein bedeutet unterscheiden, trennen, aussondern, auswählen, bestimmen, aber auch (richterlich) entscheiden, richten, urteilen, schlichten. Beide Bedeutungsstränge sind für Kant von großer Wichtigkeit. Anlaß des kritischen Geschäfts ist in Kants Augen die ungenügende Differenziertheit der traditionellen Philosophie bzw. Metaphysik62; sein Hauptanliegen besteht daher darin, diese Differenzierungen vorzunehmen. Indem die Kritik die „Bedingungen der Möglichkeit" der Vermögen untersucht, trifft sie mannigfaltige Unterscheidungen, sie grenzt die einzelnen Bereiche und Kompetenzen der Vermögen sorgfältig voneinander ab und sucht, die einzelnen Begriffe möglichst genau und ohne Überschneidungen zu bestimmen. Sie „zerglieder" die Erfahrung (Prol., 300) nach einem „der Chemie ähnliche Verfahren der Scheidung des Empirischen vom Rationalen"63. Grundpfeiler der Kritik ist dabei die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich, anders gesagt: von Sinnlichem und Übersinnlichem, die sich in der Kluft zwischen theoretischer und praktischer Philosophie fortsetzt. Der zweite Bedeutungsstrang von krinein bestimmt die Form, die das kritische Unternehmen annimmt: Kant selbst wird mit der Kritik zum kritischen Richter, der die verschiedenen Vermögen bzw. die verschiedenen Parteien der traditionellen Metaphysik vor den Gerichtshof der Vernunft lädt, um über ihre jeweiligen Anmaßungen auf der Basis der von ihm getroffenen Unterscheidungen zu urteilen und zu entscheiden, um den Streit zwischen ihnen zu schlichten, ohne diese Unterscheidungen wieder zu verwischen. Die kritischen Unterscheidungen, und das scheint mir ein zweites Charakteristikum der kritischen Vorgehensweise zu sein, bewirken ein Nebeneinander von gänzlich voneinander abgetrennten heterogenen Bereichen. Wie man in der transzendentalen Dialektik sieht, 62 Vgl. KRV, A 842; Prol. ,313. 63 Wie es am Ende der Kritik der praktischen Vernunft anläßlich der als kritische Wissenschaft verstandenen Philosophie (als Weisheitslehre) heißt (KPV, 163).

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trennt der kritische Richter die Parteien gemäß ihrer Gesetzmäßigkeit, und diese Trennung wird auch dann nicht .aufgehoben', wenn der „Prozeß" vorbei ist, denn sie lassen sich nicht vereinigen (nur vereinbaren). Dieses Nebeneinander ist auch in anderer Hinsicht relevant: Wenn im Antinomienkapitel der kritische Richter antritt, den Streit zwischen dogmatischen Empiristen und dogmatischen Rationalisten zu schlichten, so ist dies für das ganze kritische Unternehmen signifikant. Denn es sind diese beiden Parteien, die von Anfang an vor dem .Gerichtshof der Vernunft' stehen (vgl. KRV, A IXff.) und mit denen sich Kant in der gesamten Kritik der reinen Vernunft auseinandersetzt. Auch der Ausgang des Verfahrens wird in der Dialektik in nuce abgebildet und kann für die Kritik insgesamt gelten: Waren die Antinomien entweder durch ein ,Weder-Noch' oder durch ein ,Sowohl-Als-Auch' geschlichtet worden, so ist auch die Kritik insgesamt als ein Unternehmen zu betrachten, das einerseits weder den dogmatischen Empirismus noch den dogmatischen Rationalismus gelten lassen kann, weil sonst Skeptizismus droht, das sich aber andererseits beider Positionen in abgeschwächter Form wechselseitig bedient: So verfährt Kant zum einen nach der „skeptischen Methode", um die rationalistische Metaphysik zu widerlegen, beruft sich aber zum anderen auf deren Ziel, nämlich auf den Überschritt ins Übersinnliche, um den Skeptizismus zu vermeiden64. Man kann also sagen, daß Kant die traditionelle Metaphysik skeptisch und den Skeptizismus metaphysisch kritisiert, indem er die Perspektive zwischen beiden wechselt65. Dementsprechend bezeichnet sich Kant als „Dualist", d.h. als „transzendentaler Idealist" und „empirischer Realist" (KRV, A 370), womit er nicht nur die herkömmliche Terminologie auf den Kopf stellt, sondern auch den Abgrund benennt, der seine Philosophie durchzieht, und die spezifische Art .Übergang' andeutet, die auf dieser Basis noch möglich ist. Beide Parteien bleiben dabei nebeneinander bestehen66; das Antinomien-Kapitel hat nicht etwa eine Beruhigung des Streits zur Folge, sondern höchstens seine Legitimierung: der Krieg wird in einen Prozeß überführt, der eigentliche Streit bleibt jedoch vorhanden, denn die Dialektik der Vernunft und mit ihr der Schein ist unvermeidlich und natürlich. Wenn man überdies ernst nimmt, daß der Widerstreit die Kritik „aufweckt", dann bedeutet das, und das scheint mir eine weitere Eigentümlichkeit des kritischen Verfahrens auszumachen, daß die Kritik unendlich ist. Der Widerstreit löst nicht nur das kritische Unternehmen aus, sondern gehört auch fortlaufend zu ihm, ist sein beständiges Movens. Die Überführung des Widerstreits von einem Krieg in einen Prozeß hat nicht die von Kant selbst gewünschte „Beruhigung" (z.B. Fort., 595) zur Folge, sondern muß, weil die Dialektik und ihr Schein bestehen bleiben, ganz im Gegenteil immer mehr Kritik zur Folge haben. Angesichts der Unvermeidbarkeit der Dialektik gilt es, immer wachsam zu bleiben und Verirrungen zu vermeiden. Diese Wachsamkeit macht ein Kernstück des Kantischen 64 Der Ausdruck „Sowohl-Als-Auch" fällt bereits bei Hofmann in bezug auf Kants Verhältnis zu seinen Vorgängern, und zwar hinsichtlich des Erhabenen (vgl. Hofmann, Die Lehre vom Erhabenen..., a.a.O., 25). 65 Ein gutes Beispiel für diese Doppelung gibt Cassirer, wenn er Kants Zweckbegriff im Hinblick auf die Tradition beschreibt (vgl. Cassirer, Kants Leben und Lehre, a.a.O., 376ff.), wobei sich ebenfalls eine Art Nebeneinander von Endlichem und Unendlichem, Scheitern und Setzen, Negativem und Postivem zeigt - Werner Kingeling bezeichnet den Wechsel verschiedener Betrachtungsweisen als Methode des Kritizismus (vgl. Werner Kingeling, Die Antinomien in Kants drei Kritiken und das Ding-an-sieh-Problem, Phil. Diss. Hamburg 1961,33ff.). 66 Kant nimmt keine „Mischung" zwischen Empirismus und Rationalismus vor, wie es in der dritten Kritik in ähnlichem Zusammenhang heißt (KU, Β 246).

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Philosophieverständnisses aus67. Das Urteil bleibt suspendiert, aufgeschoben. Der unvermeidliche Schein der Dialektik verflicht uns in „Abenteuer", von denen wir „niemals ablassen und sie doch auch niemals zu Ende bringen" können (KRV, Β 295). Die „Beruhigung", zu der die Kritik eigentlich führen soll, wird immer wieder aufgeschoben. Eigentlich ist die Kritik eine permanente .Beunruhigung', ohne die nicht nur die kritische Arbeit und ihre Unterscheidungen, sondern auch die durch sie garantierten Übergänge nicht möglich wären: Die kritische Arbeit ist deshalb unendlich, weil sie nicht nur Unterscheidungen vornimmt, um Irrtümer zu vermeiden, sondern weil diese Unterscheidungen paradoxerweise auch gerade den Übergang gewährleisten, der für die Vollständigkeit des Systems unerläßlich ist68. Anläßlich des Widerstreits wurde schon deutlich, daß die von Kant kritisch getrennten Bereiche nicht,ruhig' nebeneinander stehenbleiben, sondern in ihrer Heterogenität in eine dialektische Beziehung, in eine Art Wechselspiel treten. Daraus ergibt sich ein weiteres Charakteristikum der Kritik im ganzen: ihre .Negativ-Positiv-Struktur'. Sie erklärt manchen paradox anmutenden Lösungsvorschlag Kants, gerade auch in bezug auf das .WederNoch' und das ,Sowohl-Als-Auch'. Das kritische Verfahren hat gleichsam zwei Pole oder zwei Stufen: Die erste Stufe der Kritik ist dabei nur negativ, und zwar nicht nur in dem Sinne, daß Kant die Fortschritte der herkömmlichen Metaphysik negativ beurteilt, sondern in der extremen Form, daß er es für unerläßlich hält, gleichsam .tabula rasa' zu machen, d.h. der gesamten bisherigen Philosophie den Boden zu entziehen. Insofern bedeutet die Kritik - und auch das ist im Wortstamm krinein enthalten - immer zugleich eine Krise des Herkömmlichen, eine Krise dessen, was bisher .gegeben' war69. Dies geschieht, um gleichsam als zweite Stufe - dem Denken positiv ein neues Fundament setzen zu können. Die Kritik vollzieht beide Schritte: Sie zerstört die bisherigen Träumereien, wie man in Anlehnung an Kants berühmte Träume eines Geistersehers sagen könnte, aber nicht um des Zerstörens willen - das wäre für Kant Skeptizismus - , sondern um positiv etwas Neues zu setzen. Beides geschieht in der Kritik gleichzeitig, wobei der .negative' Vorgang den .positiven' bedingt: die bisherigen negativen Verhältnisse können geradezu als Bedingung für die Kritik angesehen werden. An vielen Stellen der Kritik wird deutlich, daß Kant immer wieder so vorgeht, den negativen Seiten etwas Produktives und damit Positives abzugewinnen, allem voran im Widerstreit, wo gerade die „Veruneinigung" der Vernunft (KRV, A 464), die dem im Namen der Vernunft agierenden kritischen Richter sehr ungelegen 67 Vgl. Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie, in: Ausgewählte kleine Schriften, Hamburg 1969, S. 105-116, hier 108 („Von dem Schein der Unvereinbarkeit der Philosophie mit dem beharrlichen Friedenszustand derselben"), wo der Dogmatismus der Wölfischen Schule als „ein Polster zum Einschlafen und das Ende aller Belebung, welche gerade das Wohltätige der Philosophie ist", bezeichnet wird. Die (kritische) Philosophie sei dagegen ein „die Vernunfttätigkeit unaufhörlich begleitender bewaffneter Zustand" (ebd., 109 [„Von der wirklichen Vereinbarkeit der kritischen Philosophie mit einem beharrlichen Friedenszustande derselben"]), die zwar die Aussicht auf den Frieden eröffne, aber dieser Frieden würde die Kräfte des Subjekts gegen erneute Angriffe (der Dogmatiker) „rege erhalten" und zu „kontinuierlicher Belebung desselben" führen (ebd.). 68 Da ,das System' m.E. für Kant nur eine Idee ist und bleibt, die niemals eingelöst werden darf, kommt die kritische Arbeit einer unendlichen Annäherung an diese Idee gleich, die, um nicht zu irren, durch immer neue Widerstreite und Differenzierungen immer wieder motiviert wird und werden muß. 69 Darauf hat, gerade auch in bezug auf die Aufklärungsphilosophie und deren unendlich sich immer wieder übersteigendes und überholendes .Kritisieren', Reinhart Koselleck hingewiesen: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, 3. Aufl. Frankfurt/M. 1979.

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kommen muß, einen positiven Nutzen hat, insofern sie die Kritik „aufweckt" und zur „Entdeckung der wahren Beschaffenheit der Dinge" führt70. Erst die „Weigerung unserer Vernunft, den neugierigen über dieses Leben hinausreichenden Fragen befriedigende Antwort zu geben", gibt dem kritischen Richter ein (negatives) Zeichen, nämlich einen „Wink , unsere Selbsterkenntnis von der fruchtlosen überschwenglichen Spekulation zum fruchtbaren praktischen Gebrauche anzuwenden" (KRV, Β 421). Diese Struktur gilt für die Kritik im ganzen. So heißt es beispielsweise, die kritische Arbeit insgesamt beurteilend, in der „Vorrede zur zweiten Auflage" der Kritik der reinen Vernunft: „Man wird bei einer flüchtigen Übersicht dieses Werkes wahrzunehmen glauben, daB der Nutzen davon doch nur negativ sei, uns nämlich mit der spekulativen Vernunft niemals über die Erfahrungsgrenze hinaus zu wagen, und das ist auch in der Tat ihr erster Nutzen. Dieser aber wird alsbald positiv, wenn man inne wird, daß die Grundsätze, mit denen sich spekulative Vernunft über ihre Grenze hinauswagt, in der Tat nicht Erweiterung, sondern, wenn man sie näher betrachtet, Verengung unseres Vemunftgebrauchs zum unausbleiblichen Erfolg haben, indem sie wirklich die Grenzen der Sinnlichkeit, zu der sie eigentlich gehören, über alles erweitern und so den reinen (praktischen) Vernunftgebrauch gar zu verdrängen drohen. Daher ist eine Kritik, welche die erstere einschränkt, sofern zwar negativ, aber, indem sie dadurch zugleich ein Hindernis, welches den letzteren Gebrauch einschränkt oder gar zu vernichten droht, aufhebt, in der Tat von positivem und sehr wichtigem Nutzen, sobald man überzeugt wird, daß es einen schlechterdings notwendigen praktischen Gebrauch der Vernunft (den moralischen) gebe, in welchem sie sich unvermeidlich über die Grenzen der Sinnlichkeit erweitert, dazu sie zwar von der spekulativen keiner Beihilfe bedarf, dennoch aber wider ihre Gegenwirkung gesichert sein muß, um nicht in Widerspruch mit sich selbst zu geraten" (KRV, Β XXIVf.).

Es ist also der Wechsel vom Theoretischen zum Praktischen, der den Wechsel vom Negativen zum Positiven erlaubt. Der negative Befund hinsichtlich des Theoretischen verschafft „wenigstens Platz" für die praktischen Versuche, um so doch noch „dem Wunsche der Metaphysik gemäß, über die Grenzen aller möglichen Erfahrung hinaus" zu gelangen71. Der negative Befund ist Bedingung für die Positivität, ja die Negativität erscheint selbst, von einem anderen Standpunkt betrachtet, als positiv72. Formulierungen wie „Wenn es aber auf das Praktische ankommt..." (z.B. KU, Β 437) finden sich deshalb zuhauf in Kants kritischen Ausführungen. Bedingung für diese Dialektik der Kritik, die einem Wechsel vom (negativen) theoretischen zum (positiven) praktischen Standpunkt gleichkommt, ist wiederum die kritische Trennung selbst. Sie agiert im Namen der Vernunft, die sie in diese beiden Seiten, in theoretische und praktische, erst aufspaltet. Die Negativ-Positiv-Struktur

70 Vgl. KRV, A 507, wo vom positiven Nutzen des (negativen) Widerstreits die Rede ist, der „gleich zuletzt nicht dasjenige, was man suchte, dennoch jederzeit etwas Nützliches und zur Berichtigung unserer Urteile Dienliches, liefern" wird. 71 KRV, Β XXI. Vgl. entsprechend Β 424f., wo Kant ebenfalls deutlich macht, daß das Scheitern des theoretischen Vernunftgebrauchs erst den praktischen möglich macht 72 Vgl. entsprechend natürlich Kants berühmtes Diktum, daß man das Wissen aufheben müsse, um Platz für den Glauben zu schaffen (KRV, Β XXX); vgl. auch Kants Äußerung zu seinem eigenen ,Zweifelglaube", in der Kritik der Urteilskraft, die sich als Charakteristikum seiner Dialektik in ihrer Negativ-PositivPrägung liest: „Ein dogmatischer Unglaube kann aber mit einer in der Denkungsart herrschenden sittlichen Maxime nicht zusammen bestehen , wohl aber ein Zweifelglaube, dem der Mangel an Überzeugung durch Gründe der spekulativen Vernunft nur Hindernis ist, welchem eine kritische Einsicht in die Schranken der letzteren den Einfluß auf das Verhalten benehmen und ihm ein überwiegendes praktisches Fürwahrhalten zum Ersatz hinstellen kann" (KU, Β 464).

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der Kritik spiegelt die beiden Seiten der Vernunft wider73. Der Wechsel der Betrachtungsweise ist typisch für das kritische Verfahren. Paradigmatisch abgebildet findet sich die Negativ-Positiv-Struktur in der kritischen Aufgabe der Grenzziehung: Wenn die Kritik die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit bestimmen will, so bedeutet das einerseits das Verweisen der traditionellen Metaphysik in ihre Schranken - das ist die negative Seite der Kritik - , andererseits aber auch eine positive Bestimmung dessen, was möglich ist74. Diese Positivität unterscheidet nach Kant den Begriff der Grenze von dem der bloßen Schranke: „Oben haben wir Schranken der Vernunft in Ansehung aller Erkenntnis bloßer Gedankenwesen angezeigt; jetzt, da uns die transcendentalen Ideen dennoch den Fortgang zu ihnen notwendig machen und uns also gleichsam bis zur Berührung des vollen Raumes (der Erfahrung) mit dem leeren (wovon wir nichts wissen können, den Noumenis) geführt haben, können wir auch die Grenzen der reinen Vernunft bestimmen; denn in allen Grenzen ist auch etwas Positives , dahingegen Schranken bloße Negationen enthalten. Die im angeführten Paragraphen angezeigten Schranken sind noch nicht genug, nachdem wir gefunden haben, daB noch über dieselben etwas (ob wir es gleich, was es an sich selbst sei, niemals erkennen werden) hinausliege"

(Pml., 354). Die Grenzen unterscheiden sich von den rein negativen Schranken also darin, daß hier zur Negativität noch etwas Positives hinzukommt (vgl. entsprechend KRV, Β 789f.). Diese Vorstellung von Grenze erklärt so manche paradoxe Formulierung Kants, gerade auch in bezug auf das Nebeneinander der verschiedenen Parteien. So z.B. wenn er den Mittelweg beschreibt, den er in der Kritik zwischen Lockes „Schwärmerei" und Humes „Skeptizismus" anstrebt: „Wir sind jetzt im Begriffe einen Versuch zu machen, ob man nicht die menschliche Vernunft zwischen diesen beiden Klippen glücklich durchbringen, ihr bestimmte Grenzen anweisen, und dennoch das ganze Feld ihrer zweckmäßigen Tätigkeit für sie geöffnet erhalten können " (KRV, Β 128).

Im Gegensatz zu den Schranken schließen die Grenzen das betreffende Gebiet nicht ab, sondern halten es offen. Es ist gerade die Begrenzung, die die Kritik vornimmt, die im Prinzip eine Erweiterung bedeutet, wie im obigen Zitat aus der zweiten Vorrede schon deutlich wurde: Die negative Begrenzung oder Verengung, wie es dort hieß, ist in anderer Hinsicht eine positive Erweiterung. Die .Negativ-Positiv-Struktur' wirkt sich auf Kants gesamte Vorgehensweise aus. So sucht er immer nachzuweisen, daß die traditionelle Philosophie ihr Ziel verfehlt, also gänzlich negativ ausfällt, um dann positiv zu zeigen, wie man das gesuchte Ziel auf andere Weise erreichen kann, wobei diese positive Weise freilich negativ geprägt bleibt75. Man könnte sogar sagen, daß die Negativität, die in der Kritik die Positivität bedingt, geradezu deren Movens ausmacht. Werfen wir z.B. einen Blick auf die (im kantischen Sinne) dialektische Entwicklung der Philosophie, wie Kant sie im Fortschrittstext beschreibt. Er geht dort von drei Stufen aus: Dogmatismus, Skeptizismus und Kritik. Der 73 Entsprechend fallen die beiden mathematischen Antinomien, die sich auf die theoretische Philosophie beziehen, negativ aus, die beiden dynamischen Antinomien hingegen, die Fragen der praktischen Philosophie betreffen, positiv. 74 Wenn diese Positivität auch negativ geprägt bleibt, vgl. z.B. KRV, A 328. 75 Dies manifestiert sich beispielsweise in der für Kant so typischen ,Wenn-nicht-dann-'Formulierung. Seine Kritik an der herkömmlichen Metaphysik nimmt stets die Form eines solchen Negativbeweises an. Ebenso wäre hier die ebenfalls sehr prominente ,Zwar-aber'-Strategie des kritischen Richters zu nennen.

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Skeptizismus negiert den Dogmatismus und reißt damit bekanntlich - positiv - die Kritik aus dem dogmatischen Schlummer. Der Skeptizismus selbst ist aber wiederum - negativ - nur ein vorläufiger Ruheplatz, weil ihm die kritischen Grenzen noch fehlen (vgl. auch KRV, A 76 If.). Indem sie die negative „skeptische Methode" radikalisiert, schafft die Kritik diese Grenzen, und damit etwas Positives, um den hoffnungslosen Skeptizismus zu vermeiden und sich zu einem gewissen Grad metaphysischen Positionen anzunähern. Dabei trägt jede Entwicklungsstufe notwendig zum Fortschritt bei, sogar der Dogmatismus (vgl. Fort., 620). Die Negativität nicht nur der bisherigen Verhältnisse, sondern auch diejenige, die die Kritik selbst schafft, stellt gleichsam die Bedingung und den Motor der Kritik dar. Diese bleibt dadurch freilich immer negativ geprägt, weshalb Kant sie auch - in Absetzung von der traditionellen Metaphysik - als „negative Wissenschaft" bezeichnet76. In der kritischen Vorgehensweise äußert sich das konstitutive negative Moment als „Hemmung", aus der erst positive Erwägungen folgen können und der Rechnung zu tragen ist. Das zeigt sich, wenn Kant seine eigene Vorgehensweise kommentiert: „Die Transzendentalphilosophie hat zu ihrem Zweck die Gründung einer Metaphysik, deren Zweck wiederum, als Endzweck der reinen Vernunft, dieser ihre Erweiterung von der Grenze des Sinnlichen zum Felde des Übersinnlichen beabsichtigt, welches ein Überschritt ist, der, damit er nicht ein gefährlicher Sprung sei, indessen daß er doch auch nicht ein kontinuierlicher Fortgang in derselben Ordnung der Prinzipien ist, eine den Fortschritt hemmende Bedenklichkeit an der Grenze beider Gebiete möglich macht" {Fort., 604f.).

Diese „hemmende Bedenklichkeit" der Kritik läßt sich an anderer Stelle, wie wir anläßlich der Antinomien gesehen hatten, als Zurückhalten des Urteils beobachten: „suspensio judicii indagatoria"77. Sie ist durch einen .suspense', durch ein Spannungsmoment gekennzeichnet78. Das Urteil muß aufgeschoben werden, damit der „Überschritt" weder als „gefährlicher Sprung" noch als „kontinuierlicher Fortgang" erscheint, mit anderen Worten: damit - so schwer es fällt, weil die Vernunft auf Erweiterung drängt (vgl. Logik, 385) - aus den Reflexionen der Kritik keine bestimmenden Urteile werden. Daher muß der Dogmatismus suspendiert und kritisch philosophiert werden (vgl. Logik, 250). Die Kritik ist also eine Art Stillstellen des Dogmatismus, ein Stillstand, wie auch das folgende Zitat belegt, das darüber hinaus noch einmal das Verhältnis von Skeptizismus und Kritik verdeutlicht: „Dieser skeptische Stillstand , der kein Skeptizism, d.i. keine Verzichttuung auf Gewißheit in Erweiterung unsrer Vemunfterkenntnis über die Grenze möglicher Erfahrung enthält, ist nun sehr wohltätig, denn ohne diese hätten wir die größeste Angelegenheit des Menschen, womit die Metaphysik, als ihrem Endzweck umgeht, entweder aufgeben, und unsem Vemunftgebrauch bloß aufs Sinnliche einschränken, oder den Forscher mit unhaltbaren Vorspiegelungen von Einsicht, wie so lange geschehen ist, hinhalten müssen: wäre nicht die Kritik der reinen Vernunft dazwischen gekommen, welche durch

76 So in einem Brief an Lambert vom 2.9.1770 (Kant, Briefwechsel, a.a.O., 71); vgl. entsprechend die Bezeichnung „Negativlehre". KRV, A 712. 77 So Kant in den Logik-Nachschriften (Immanuel Kants Werke, hrsg. v. Emst Cassirer, Bd. 8, Berlin 1922 [im folgenden als Logik im laufenden Text zitiert], 385). 78 Ähnlich wie der „methodische Zweifel" in der Encyclopédie beschrieben wurde (vgl. Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers [1751-1780], Bd. 5, Stuttgart 1966, 87f.). 79 An dieser Stelle vermerkt Weischedel, daß die Akademie-Ausgabe statt „diese" „diesen" erwägt, was den Sinn des Satzes gänzlich verändern würde, denn dann wäre nicht die Erweiterung der Vernunfterkenntnis, sondern der Stillstand gemeint.

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die Teilung der gesetzgebenden Metaphysik in zwei Kammern, sowohl dem Despotism des Empirism, als dem anarchischen Unfug der unbegrenzten Philodoxie abgeholfen hat" (Fort. ,671).

Der so beschriebene Stillstand, der in den Antinomien das Aufwiegen von plus und minus bedeutet (vgl. auch Fort., 668), macht also sozusagen das produktive Stimulans der Kritik aus. Er ist ein Verharren, das sich an vielen Stellen in der Kritik finden läßt. So hält Kant selbst beispielsweise, bevor er in der Kritik der reinen Vernunft zur transzendentalen Dialektik .übergeht', noch einmal inne und faßt die bisherigen Ergebnisse zusammen: „Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes nicht allein durchreist, und jeden Teil davon sorgfältig in Augenschein genommen, sondern es auch durchmessen, und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt. Dieses Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt, und indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann. Ehe wir uns aber auf dieses Meer wagen, um es nach allen Breiten zu durchsuchen und gewiß zu werden, ob etwas in ihnen zu hoffen sei, so wird es nützlich sein, zuvor noch einen Blick auf die Karte des Landes zu werfen, das wir eben verlassen wollen, und erstlich zu fragen, ob wir mit dem, was es in sich enthält, nicht allenfalls zufrieden sein könnten, oder auch aus Not zufrieden sein müssen, wenn es sonst überall keinen Boden gibt, auf dem wir uns anbauen könnten; zweitens, unter welchem Titel wir denn selbst dieses Land besitzen, und uns wider alle feindseligen Ansprüche gesichert halten können (KRV, Β 294f.).

Dieser Stillstand ist jedoch nur scheinbar ruhig. Wie der Widerstreit zeigt, ist er faktisch eine sehr bewegte Angelegenheit. Wir können eben nicht mit der bloßen Begrenzung „zufrieden sein", weil die Vernunft Erweiterung fordert, und müssen uns deshalb in die Dialektik wagen - eine Negativ-Positiv-Dialektik, die Kant - wie die Antinomien zeigen ganz bewußt durchspielt und .darstellt', um dem Negativen ein Positives hinzuzufügen. Denn das allein Negative reicht nicht aus, wie Kant immer wieder gegen den Skeptizismus betont80. Aber es prägt das Positive. Die Kritik braucht die negativen, .beunruhigenden' Momente in einem Maße, daß das Gelingen der Kritik als „Beruhigung" fraglich bleibt. Neben dieser Negativität ist zu beobachten, daß die Motivation zum kritischen Unternehmen von Kant - und das ist eine weitere Besonderheit der Kritik - immer wieder als Gefühl beschrieben wird. So heißt es in der „Vorrede zur ersten Auflage" der Kritik der reinen Vernunft über den gegenwärtigen, vom Krieg zwischen den Schulen geprägten Zustand der Philosophie: J e t z t , nachdem alle Wege (wie man sich überredet) vergeblich versucht sind, herrscht Überdruß und gänzlicher Indifferentismus, die Mutter des Chaos und der Nacht, in Wissenschaften aber doch zugleich der Ursprung, wenigstens das Vorspiel einer nahen Umschaffung und Aufklärung derselben, wenn sie durch übel angebrachten Fleiß dunkel, verwirrt und unbrauchbar geworden. Es ist nämlich umsonst, Gleichgültigkeit in Ansehung solcher Nachforschungen erkünsteln zu wollen, deren Gegenstand der menschlichen Natur nicht gleichgültig sein kann" {KRV. A X).

Überdruß und Indifferentismus, so muß man aus dieser Passage mit Blick auf die ,Negativ-Positiv-Struktur' schließen, sind der negative Anlaß, der Kant dazu bewegt, positiv einen neuen Weg einzuschlagen und den Gerichtsshof der reinen Vernunft einzusetzen (vgl. KRV, A XI), der diese Situation negativ-positiv in sich aufnimmt81. Man könnte sagen, daß 80 Vgl. auch KRV, A 280f.; Β 149; A 206. 81 Das gilt natürlich auch für die beiden anderen Kritiken, in denen das Szenario und die beteiligten Parteien

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Das Erhabene in der Kritik der reinen Vernunft

eine bestimmte .Unlust' Anstoß der Kritik ist und sie auf ihrem Weg begleitet. Entsprechend gefühlsbetont ist dann auch die Kantische Selbsteinschätzung der kritischen Arbeit: Die Ausrottung der Vorurteile, die die Kritik vornimmt, birgt viele Nachteile und Unbequemlichkeiten (vgl. Logik, 390). Sie bearbeitet eine „Sandwüste"82, aber alle ihre Schwierigkeiten müssen in Kauf genommen werden, um den Skeptizismus, der aus dem Verleugnen der aus dem Dogmatismus erwachsenen Probleme entsteht, zu verhindern (vgl. KPV, 184f.). Die Begrenzung der theoretischen Vernunft geht nicht „ohne Schmerz" vor sich (KU, Β 243). Das kritische Verfahren ist nach Kants eigener Einschätzung von nicht zu übersehender „Rohigkeit"83. Es habe „viel Schweres in sich" und sei einer „hellen Darstellung kaum empfänglich", wobei Kant allerdings auch kein anderes Verfahren für „leichter und faßlicher" hält (KPV, 184). Zur Übersicht über den Gliederbau des ganzen Systems in der Kritik der reinen Vernunft dürften, so Kants Einschätzung, nur die wenigsten „Lust besitzen", obwohl alle Sperrigkeiten und scheinbare Widersprüche von „demjenigen , der sich der Idee im Ganzen bemächtigt hat, sehr leicht aufzulösen sind" (KRV, Β XLIV). Das liegt weniger an Kants Bescheidenheit als an seiner reflektierenden Vorgehensweise. Aus der Bodenlosigkeit der bisherigen philosophischen Versuche folgt (passend zu den eben beschriebenen Gefühlen) ein weiteres Charakteristikum des kritischen Verfahrens: die Kritik geht streng reflektierend vor. Ihr Vermögen ist die „geneifte Urteilskraft" (KRV, A XI), und zwar in ihrer reflektierenden, nicht in ihrer bestimmenden Form, wie Kant selbst in der Kritik der Urteilskraft klarstellt: „Wir verfahren mit einem Begriffe dogmatisch, wenn wir ihn als unter einem anderen Begriffe des Objekts, der ein Prinzip der Vernunft ausmacht, enthalten betrachten und ihn diesem gemäfi bestimmen. Wir verfahren aber mit ihm bloß kritisch, wenn wir ihn nur in Beziehung auf unser Erkenntnisvermögen, mithin auf die subjektiven Bedingungen, ihn zu denken, betrachten, ohne es zu unternehmen, über sein Objekt etwas zu entscheiden. Das dogmatische Verfahren mit einem Begriffe ist also dasjenige, welches für die bestimmende, das kritische das, welches bloß für die reflektierende Urteilskraft gesetzmäßig ist."84

Bekanntlich unterscheidet sich die reflektierende Urteilskraft von der bestimmenden dadurch, daß hier nicht das Besondere unter bereits bestehende allgemeine Gesetze subsumiert wird, sondern daß für das Besondere ein Allgemeines - eine Regel - gesucht wird (vgl. KU, Β XXVf.). Angesichts der Bodenlosigkeit der bisherigen Philosophie kann die Kritik keiner der bereits bestehenden Regeln oder Gesetze ohne weiteres vertrauen - weshalb ja auch der Dogmatismus mit seinen bestimmenden Urteilen .suspendiert' wird - , sie sucht vielmehr neue Regeln und hat auf dem Hinteigrund der .tabula rasa' zunächst nur mit Besonderheiten zu tun. Das zeigt sich nicht zuletzt am Widerstreit, wo Kant den beiusw. ähnlich sind. Ganz besonders deutlich wird dies in den geschichtsphilosophischen Schriften, wo es Kant darum geht, wie es z.B. in der oben bereits erwähnten Stelle der Idee heißt, die Freiheit in der Geschichte zu beweisen, um das „trostlose Ungefähr", das die Geschichte ohne die Vernunft und ihre Freiheit bedeuten würde, zu vermeiden und den „Unwillen", den das nach Naturgesetzen berachtete Spektakel auf der „großen Weltbühne" hervorrufen würde, zu beseitigen (Idee, Vorbemerkung, 6). 82 Brief an Garve vom 7.8.1783 (Kant, Briefwechsel, a.a.O., 230). 83 Insbesondere „im Anfange" (so Kant in einer in der Meiner-Ausgabe der Prolegomena, S. 156-166 abgedruckten Vorarbeit zu diesem Text, 164 [Erster Bogen, vierte Seite]). 84 KU, Β 329; vgl. entsprechend für die Teleologie, wo die Idee als „Vernunftprinzip für die Urteilskraft" betrachtet wird, weswegen über einen gegebenen Gegenstand nicht ^bestimmt geurteilt, sondern nur über ihn reflektiert werden kann" (KU, Β 345). Es ist diese Idee, der die kritische Urteilskraft insgesamt folgt.

Die kritische Vorgehensweise

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den Parteien gemeinsamen „Punkt des Mißverständnisses" in den Antinomien „zu entdekken sucht" (KRV, A 424), und im positiven - dem dynamischen - Fall zu diesem Zweck „den Mangel der Rechtsgründe ergänzt" (KRV, A 530). Wenn die Kritik reflektierend bleibt und in den Vernunftfragen niemals dogmatischbestimmend werden darf85, dann erklärt dies auch ihre oben konstatierte sich andeutende Unendlichkeit. (Auch in der ausschließlich der reflektierenden Vorgehensweise gewidmeten Kritik der Urteilskraft wird die Regel ja nie gefunden.) Der Widerstreit kann eben nicht dogmatisch entschieden, sondern nur reflektierend geschlichtet werden. Der Schein der Dialektik wird zwar entlarvt, bleibt aber bestehen. Entsprechend zögerlich ist, wie wir anläßlich der „hemmenden Bedenklichkeit" gesehen haben, Kants Vorgehensweise; entsprechend unsicher - da sie nicht in bestimmenden Urteilen endet und die .Beunruhigung' über die Vernunft andauert - äußert Kant sich über das Gelingen der Kritik. Immer wieder betont er im Laufe der Untersuchung, daß ihr Erfolg nicht sicher sei (vgl. z.B. KRV, A 63), nur tastend wagt er sich an die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe (vgl. KRV, A 98). Das Resultat der kritischen Untersuchungen bleibt negativ geprägt: „so ist dadurch schon viel gewonnen, bei dem Geständnis meiner eigenen Unsicherheit, dennoch die dogmatischen Angriffe eines spekulativen Gegners abtreiben zu können, und ihm zu zeigen: daß er niemals mehr von der Natur meines Subjekts wissen könne, um meinen Erwartungen die Möglichkeit abzuspechen, als ich, um mich an ihnen zu halten" (KRV, A 383).

Und selbst Kants Resümee bezüglich der kritischen Arbeit fällt vorsichtig aus - das Urteil bleibt ausgesetzt, die Arbeit ist nicht abgeschlossen (und unabschließbar). So lautet der letzte Satz der Kritik der reinen Vernunft: „Wenn der Leser diesen in meiner Gesellschaft durchwandern Gefälligkeit und Geduld gehabt hat, so mag er jetzt urteilen, ob nicht, wenn es ihm beliebt, das Seinige dazu beizutragen, um diesen Fußsteig zur Heeresstraße zu machen, dasjenige, was viele Jahrhunderte nicht leisten konnten, noch vor Ablauf des gegegenwärtigen erreicht werden möge: nämlich die menschliche Vernunft in dem was ihre Wi ßbegiende jederzeit, bisher vergeblich, beschäftigt hat, zur völligen Befriedigung zu bringen" (KRV, A 856)

- angesichts des Scheinwissens, in das sich die Vernunft in ihrem Drang nach Erweiterung immer wieder selbst verstricken wird, eine unrealistische Hoffnung. Die Allgemeinheit, zu der Kant kritisch reflektierend eigentlich gelangt, ist das transzendentale Niveau selbst. Erst der allgemeine Standpunkt ermöglicht die Kritik. Da jedoch dieser allgemeine Standpunkt mit Hilfe der reflektierenden Urteilskraft im Namen und um Willen der Vernunft eingenommen wird, kann auch er nicht bestimmt werden86. Mit dem reflektierenden Charakter der Kritik hängt nun weiter eine gewisse Subjektivität zusammen. Die Kritik ist nicht dogmatisch-bestimmend und von daher objektiv, sondern sie untersucht die subjektiven Bedingungen der Möglichkeit, indem sie die Vermö85 Das soll natürlich nicht heißen, daß die Kritik nicht in der Lage wäre, bestimmende Gesetze aufzustellen, was ja in der Kritik der reinen Vernunft für den Verstandesgebrauch unzweifelhaft geschieht. Für den theoretischen Vernunftgebrauch ist das jedoch nicht möglich. 86 Bei Baeumler heißt es dazu im Hinblick auf die dritte Kritik (und das Erhabene) : „Der allgemeine Gesichtspunkt ermöglicht die Kritik. Denn was ist Kritik anderes als ein Beurteilen von einem allgemeinen Standpunkt, der der einer Gesetzmäßigkeit, aber nicht des Gesetzes ist? Alle Kritik beruht auf der Möglichkeit, einen Standpunkt einzunehmen, der allen Urteilenden gemeinsam werden kann, ohne doch begrifflich festgelegt zu sein" (Baeumler, Das Irrationalitätsproblem..., a.a.O., 281).

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Das Erhabene in der Kritik der reinen Vernunft

gen des Subjekts untersucht. Für die Kritik der Urteilskraft ist offensichtlich, daß diese „selbst nur subjektiv" (KU, Β 144) und damit ein Musterbeispiel an .Reflektiertheit' ist. Dieser Subjektivität begegnen wir aber auch in der ersten Kritik: Natürlich sind hier die subjektiven Bedingungen der Möglichkeit die Bedingungen der Möglichkeit für objektive Gesetze und ist Kant weit davon entfernt, den von ihm aufgestellten Gesetzen bloß subjektive Geltung einzuräumen, dennoch bleibt einerseits - gemäß der .kopernikanischen Wende' - eine gewisse Subjektivität (und sei es nur als Bedingung für die Objektivität) konstitutiv in dem Diktum, das auch und gerade für die Kritik der reinen Vernunft gilt, daß nämlich der Verstand der Natur die Gesetze vorschreibt. Andererseits, und wichtiger noch, wird der Vernunft keine objektive Geltung über die Sinneswelt eingeräumt. Sie wirkt bloß regulativ. Mit der reflektierenden Vorgehensweise der Kritik ist außerdem eine weitere Besonderheit der Kritik angesprochen: es ist ihr eine gewisse Distanz zu eigen. Diese Distanz ist ein heikler, aber auch ein entscheidender Punkt. In gewisser Weise kann man sagen, daß sich Kant mit der Kritik auf einer Art Metaniveau bewegt. Damit der kritische Richter urteilen kann, müßte er distanziert auf seinem Richterstuhl sitzen, die streitenden Parteien vorladen und einen Standpunkt vertreten, über bestimmte Kriterien, eine Urteilsregel verfügen. Sein Richterstuhl ist quasi die distanzierte Warte, von der aus er urteilt. Weder kann, so Kant, der Skeptizismus den dogmatischen Rationalismus (vgl. KRV, A 767ff.), noch kann der Rationalismus den Skeptizismus kritisieren (vgl. KRV, A 390ff.), woraus ja gerade der .Indifferentismus', die Pattsituation entstand, die zum Anlaß der Kritik wird. Beide können nur vom kritischen Niveau der Bedingungen der Möglichkeit aus kritisiert werden, das in bezug auf Rationalismus und Skeptizismus also ein gewisses ,Metaniveau' darstellt, das es Kant u.a. erlaubt, sich der verschiedenen Methoden wechselseitig zu bedienen. Es scheint, als ob der kritische Richter, sozusagen aus der sicheren Distanz der kritischen Warte der Bedingungen der Möglichkeit und als Beobachter des Kampfes, gleichsam über Skeptizismus und Rationalismus und über den Dingen - und über dem Abgrund zwischen beiden Extrempositionen - schwebt: „Der dogmatische also sowohl, als der skeptische Einwurf, müssen beide so viel Einsicht ihres Gegenstandes vorgeben, als nötig ist, etwas von ihm bejahend oder verneinend zu behaupten. Der kritische allein ist von der Art, daß, indem er bloß zeigt, man nehme zum Behuf seiner Behauptung etwas an, was nichtig und bloß eingebildet ist, die Theorie stürzt, dadurch, daß sie ihr die angemaßte Grundlage entzieht, ohne sonst etwas über die Beschaffenheit des Gegenstandes ausmachen zu wollen."87

Hier wird nicht bloß noch einmal die konstitutive negative Vorgehensweise der Kritik und ihre Subjektivität (sie sagt in Fragen der Vernunft nichts über die Objekte aus) deutlich, sondern auch bereits, was diese Negativität für die Distanz bedeutet: Die Kritik macht keine positiven Aussagen, mit anderen Worten: der kritische Richter entscheidet nicht, das Urteil bleibt ausgesetzt. Kant trifft im Widerstreit keine Entscheidung, sondern schlichtet den Streit lediglich in ein Nebeneinander, ohne eine der beiden Parteien zu bevorzugen. Kant bewegt sich zwar auf dem .Metaniveau' der Vermögen, doch er nutzt dieses gleichsam nur negativ, um im einen - dem mathematischen - Fall beide Parteien abzuweisen und im anderen beiden recht zu geben, indem er, wie wir gesehen haben, die jeweiligen Positionen .darstellt'. Die kritische Distanz ist also gar nicht so groß, wie es auf den ersten 87 KRV, A 389; vgl. entsprechend A 388, wo Kant betont, daß die Kritik „den Satz in seinem Werte oder Unwerte unangetastet läßt. und nur den Beweis anficht".

Die kritische Vorgehensweise

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Blick scheint. Hier wird die Kritik nicht zu einer ,Metawissenschaft', zu einer Meta-Physik im buchstäblichen Sinne. Denn Kant geht nicht - zumindest vorerst nicht - so weit, von seiner distanzierten Warte aus zu entscheiden. Sein eigentliches Dilemma liegt woanders: in der Vernunft, in deren Namen der kritische Richter agiert. Dies wird in der Metapher vom „Gerichtshof der Vernunft" offenbar, die mehr ist als eine bloße Metapher: Die Vernunft ist hier nicht bloß der Richter, sondern auch Angeklagter, Verteidiger und Staatsanwalt. Sie hat alle Rollen in diesem Prozeß inne. Und alle diese Rollen werden von Kant in der Kritik der reinen Vernunft sozusagen .durchgespielt*. Das liegt erstens daran, daß Kant eben nicht von der sicheren Warte der Vernunft aus und im Besitz von feststehenden Kriterien oder Gesetzen urteilen kann, sondern daß er diese erst - reflektierend - erarbeiten muß, und daß er zweitens nicht mit der Vernunft über etwas anderes urteilt, sondern über die Vernunft selbst. Diese Selbstbezüglichkeit der Vernunft scheint jegliche Distanz, jegliches Urteil zu verbieten. Sollte dennoch ein Urteil möglich sein, so muß die dafür erforderliche Distanz vernunftimmanent gewonnen werden. Und dieser Vorgang ist die Kritik selbst. Es handelt sich dabei um eine Minimaldistanz, die aus dem kritischen Unterscheiden resultiert. Die kritische Trennung der verschiedenen Bereiche und Vermögen und ihrer jeweiligen Kompetenzen erlaubt im Einzelfall, einen Bereich von der Warte des jeweils anderen zu beurteilen. Das zeigt das .Durchspielen' der verschiedenen Positionen in den Antinomien, das eher einer Art,Selbstregulierung' der Vernunft ähnelt als einem Gerichtshof, wie man sich ihn gemeinhin vorstellt. Soweit der Idealfall, wie er von Kants Kritikkonzeption her denkbar, möglich und einleuchtend ist. Die Frage ist nur, ob Kant selbst sich an das .Nebeneinander' der einzelnen Bereiche hält, oder ob nicht doch ein Vermögen und sein Bereich das Primat über die anderen erlangt und somit doch noch eine distanzierte Warte - nicht im Sinne der vernunftinternen Minimaldistanz, sondern einer transzendenten Abgehobenheit - bildet, die den kritischen Richter dann doch noch eine meta-physische Position einnehmen lassen würde. Die Antwort ist bekannt: Es ist die praktische Vernunft, um deretwillen Kant antritt und nach deren Kriterien und Interesse er urteilt. Kant ist von Anfang an nur an dem Überschritt vom Sinnlichen ins Übersinnliche gelegen, um die Moral vor den theoretischen Anmaßungen zu retten. Die Negativ-Positiv-Dialektik, die sich durch alle Kritiken zieht, erlaubt die Hinwendung zum Praktischen, und wie wir beim Widerstreit gesehen haben, .entscheidet' Kant den Widerstreit letztlich im Namen des praktischen Interesses der Vernunft, „weil alles Interesse zuletzt praktisch ist" (KPV, 121). Diese Entscheidung fällt zwar aus der transzendentalen Ebene heraus, aber auch an anderen Stellen wird deutlich, daß das Primat des Praktischen der Fixpunkt ist, von dem aus Kant sein ganzes .System' konstruiert. Der praktischen Vernunft werden letztlich alle anderen Vermögen untergeordnet. Sie wird als der kritische Standpunkt bestimmt. Hier rächt sich das Differenzierungsverfahren: hatte das Aufspalten .der Vernunft' in theoretische und praktische vorher eine Rettung des Praktischen und eine Minimaldistanz als Beurteilungsgrundlage erlaubt, so kann Kant nun der Versuchung nicht widerstehen, sich definitiv auf die Seite des Praktischen zu schlagen, was durch dessen Abscheidung vom Theoretischen nicht nur begünstigt, sondern erst ermöglicht wird. Die praktische Vernunft erscheint ihm dann in der Folge auch als die eigentliche (reine) Vernunft, womit Kant seine eigenen Differenzierungen zumindest ansatzweise wieder zunichtemacht. An diesem Punkt stellt sich die Frage nach der Einheit der Vernunft. Ihre Beantwortung würde freilich den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Feststeht, daß bei Kant eine

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Das Erhabene in der Kritik der reinen Vernunft

gewisse Ambivalenz darüber bestehenbleibt, ob ,die Vernunft' in verschiedene gleichberechtigte Teile aufgespalten ist, oder ob letztlich diese Teile doch noch wieder in eine Einheit, unter der Herrschaft der praktischen Vernunft eingeholt, aufgehoben werden; ob also die Vernunft ein Vermögen unter vielen, neben Verstand und Urteilskraft (und Einbildungskraft), ist, oder ob sie das .Supervermögen' ist, das theoretische Vernunft, also Verstand, praktische Vernunft und Urteilskraft umfaßt und in letzter Konsequenz über sie .gestülpt' wird. Für erstere Version spricht Kants Entwurf einer Architektonik der drei oberen Erkenntnisvermögen in der Einleitung der Kritik der Urteilskraft·, für letztere der Umstand, daß es auch in der Kritik der Urteilskraft letztlich die Vernunft ist, die hier als Urteilskraft auftritt88. Diese Ambivalenz liegt in der Selbstbezüglichkeit der Vernunft begründet. Im Prinzip stehen die Vermögen bei Kant nebeneinander; durch die Selbstbezüglichkeit der Vernunft in allen drei Kritiken, die daraus resultiert, daß der kritische Richter selbst von der Warte der Vernunft aus urteilen muß, ergibt sich aber ein Ungleichgewicht in Kants Archi- tektonik zugunsten der praktischen Vernunft, zumal wenn er ihrer praktischen Form offensichtlich ein Primat einräumt. .Kritischer' ist sicherlich das reine Nebeneinander der Vernunftformen ohne Primat, weil hier die Distanz des kritischen Richters minimaler ist. Doch Kant bleibt diesbezüglich ambivalent. Bevor wir uns der Frage zuwenden, wie die immanente Minimaldistanz des näheren geschaffen werden und beschaffen sein könnte, ohne daß sie metaphysisch maximiert werden muß, bevor wir uns also dem Erhabenen als dem .kritischem Gefühl' zuwenden, gilt es, diese Ambivalenz Kants am Beispiel des Verhältnisses von Kritik und Metaphysik weiter zu erhellen.

3.3.2. Vernunft im Übergang - Zum Verhältnis von Kritik und Metaphysik „Metaphysik die eigentliche wahre Philosophie! - Unser Zeitalter ist das Zeitalter der Kritik, und man muß sehen, was aus den kritischen Versuchen unserer Zeit in Absicht auf Philosophie und Metaphysik insbesondere, werden wird" (Logik, 350).

Das Verhältnis von Kritik und Metaphysik bei Kant ist nicht nur aufschlußreich in bezug auf die Charakteristika des kritischen Verfahrens, sondern gibt auch den entscheidenden Hinweis auf die Eigentümlichkeit des Erhabenen bei Kant, gerade hinsichtlich der Rolle, die es für die Kritik insgesamt spielt. Die Kritik, so lautet meine These, die sich als Kritik an der herkömmlichen Metaphysik und als Propädeutik zu einer neuen Metaphysik versteht, hat selbst metaphysische Bestandteile. Im Zeitalter der Kritik wird, in bezug auf obiges Zitat formuliert, die Metaphysik zwar kritisch und negativ. Kritik und Metaphysik sind aber bei Kant dialektisch so ineinander verschlungen, daß Kant häufig Gefahr läuft, in Positionen der herkömmlichen .positiven' Metaphysik zurückzufallen. Es ist diese Dialektik, die sich letztendlich im Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft widerspiegelt. 88 Entsprechend ist die „gereifte Urteilskraft" des Gerichtshofs der ersten Kritik eigentlich die Vernunft. Wenn man jedoch bedenkt, daß die Kritik selbst reflektierend verfährt, könnte man mit ebenso guten Gründen umgekehrt sagen, daß die reflektierende Urteilskraft jenes .Supervermögen' ist, das überall in der Kritik am Werk ist - ein .Supervermögen', das zudem sicherlich nicht bestimmend ist, so daß kein (metaphysisches) Stillstellen der kritischen Dialektik zugunsten des Praktischen zu befürchten wäre.

Zum Verhältnis von Kritik und Metaphysik

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Metaphysik ist für Kant „die Wissenschaft, von der Erkenntnis des Sinnlichen zu der des Übersinnlichen durch die Vernunft fortzuschreiten" (Fort:, 590). Die Erkenntnis des Übersinnlichen ist die „erhabene" Endabsicht der Vernunft (KRV, A 3). Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn vorher der Boden, auf dem die Metaphysik ihr Gebäude errichtet, genau untersucht worden ist. Dieser Boden fehlt der herkömmlichen Metaphysik. Sie ließ an ihrer Möglichkeit zweifeln (vgl. KRV, Β 21), weil sie schlecht .fortschritt' und „für sich allein" (d.h. ohne Kritik) lauter dialektisches (im negativen Sinne) und trügerisches Scheinwissen produzierte (Prol., 365). Die Kritik tritt an, um diesen Mangel zu beheben: sie soll die Bedingungen der Möglichkeit nicht zuletzt der Metaphysik darlegen, ihren Boden reinigen (vgl. KRV, A XXI), damit auf diesem festen Boden ein metaphysisches Gebäude errichtet werden kann. Die Kritik versteht sich als Grundlegung der Philosophie als Wissenschaft (vgl. KPV, 23). Entgegen einem heute naheliegenden möglichen Mißverständnis gilt es also zu betonen, daß Kant keineswegs daran denkt, die Metaphysik schlechthin abzuschaffen89, wie man angesichts Kants scharfer Kritik an der herkömmlichen Metaphysik vermuten könnte (die er überdies manchmal als Metaphysik ohne weitere Spezifizierung bezeichnet, vgl. z.B. Fort., 660). Er kritisiert lediglich die bisherige Metaphysik90, will aber gleichzeitig mit der Kritik den Grundstein zu einer .besseren' Metaphysik legen, d.h. zu einer Metaphysik, die ihr Ziel, zur Erkenntnis des Übersinnlichen fortzuschreiten, im Gegensatz zu den bisherigen Versuchen auch erreichen kann. Kant verfährt daher in der Kritik „dem Wunsche der Metaphysik gemäß" (KRV, Β XXI). Der neuen angestrebten Metaphysik geht die Kritik also notwendig voraus. Sie ist deren Propädeutik, die „den Unterschied der sinnenhaften und der intellektuellen Erkenntnis lehrt"91. Sie untersucht deren Möglichkeit92, ja macht sie allererst möglich (vgl. Fort., 662). Zu diesem Zweck muß sie die alte Metaphysik zügeln (vgl. Prol., 362) und ihr „Verfahren umändern" (KRV, Β XXII). Die Kritik ist „ein Traktat von der Methode, nicht ein System der Wissenschaft selbst; aber sie verzeichnet gleichwohl den ganzen Umriß derselben, sowohl in Ansehung ihrer Grenzen, als auch den ganzen inneren Gliederbau derselben. Denn das hat die reine spekulative Vernunft Eigentümliches an sich, daß sie ihr eigenes Vermögen, nach Verschiedenheit der Art, wie sie sich Objekte zum Denken auswählt, ausmessen, und auch selbst die mancherlei Arten, sich Aufgaben vorzulegen, vollständig vorzählen, und so den ganzen Vorriß zu einem System der Metaphysik verzeichnen kann und soll."91

Die Kritik hat „nicht die Erweiterung der Erkenntnisse selbst, sondern nur die Berichtigung derselben zur Absicht", sie ist der „Probierstein des Werts oder Unwerts aller Erkenntnisse a priori" (KRV, Β 26). Die alte Metaphysik, die sich „in übersteigende, teils scheinbare Schlüsse verwickelt" und der Naturerkenntnis mehr schadet als nützt (ProL, 362), soll durch die Kritik „geläutert" und dadurch „in einen beharrlichen Zustand gebracht" werden (KRV, Β XXIV). 89 Er will den Skeptizismus ja gerade vermeiden, weil dieser die Metaphysik unmöglich macht. 90 Zu der sich die Kritik im Gegensatz befindet (vgl. KRV, Β 24). 91 Immanuel Kant, De mundi sensibilis caque intelligibilis forma etprincipiis, lat.-dt., Hamburg 1958 (im folgenden als De mundi unter Angabe der Meiner-Seiten und der Paragraphenzahl zitiert), 27, § 8. 92 Vgl. KRV, A XXII; vgl. entsprechend Kant in der bereits erwähnten Vorarbeit zu den Prolegomena, Meiner-Ausgabe der Prolegomena, 161 (Erster Bogen, dritte Seite). 93 KRV, Β XXII f. (wobei noch einmal die erwähnte Selbstbezüglichkeit der Vernunft deutlich wird).

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Das Erhabene in der Kritik der reinen Vernunft

So weit, so bekannt. Doch die Trennung von Kritik und Metaphysik ist nicht so endgültig, wie es scheint. Die Kritik bleibt nicht die bloße Propädeutik zur Metaphysik, als die sie antritt, sondern wird im Laufe des kritischen Unternehmens selbst zu der von ihr angekündigten geläuterten Metaphysik. Einen äußerlichen Hinweis darauf gibt Kant, wenn er in seinem Bestreben, die Kritik gegen die herrschende Metaphysik durchzusetzen, behauptet, daß die Kritik als Propädeutik zur Metaphysik „gehört" (De mundi, 27, §8). In der Kritik der reinen Vernunft heißt es entsprechend: „Die Philosophie der reinen Vernunft ist nun entweder Propädeutik (Vorübung), welche das Vermögen der Vernunft in Ansehung aller reinen Erkenntnis a priori untersucht, und heißt Kritik, oder zweitens das System der reinen Vernunft (Wissenschaft), die ganze (wahre sowohl als scheinbare) philosophische Erkenntnis aus reiner Vernunft im systematischen Zusammenhange, und heißt Metaphysik·, wiewohl dieser Name auch der ganzen reinen Philosophie mit Inbegriff der Kritik gegeben werden kann, um, sowohl die Untersuchung alles dessen, was jemals a priori erkannt werden kann, als auch die Darstellung desjenigen, was ein System reiner philosophischer Erkenntnisse dieser Art ausmacht , zusammen zu fassen" (KRV, A 841).

Doch dieser bloß äußerliche Umstand, daß im Prinzip - zu Kants Zeiten durchaus einleuchtend - alle genuin philosophischen Aktivitäten als Metaphysik bezeichnet werden, daß also auch die Kritik ein Teil der Metaphysik ist, reicht als Beweis für meine These noch nicht aus. Es gibt vielmehr sehr viel zwingendere strukturelle Gründe, die die Kritik zur Metaphysik werden lassen. Denn die Kritik schickt sich inmitten all ihrer Unterscheidungen und Trennungen an, selber den Übergang vorzunehmen, der nach Kants Verständnis die Metaphysik auszeichnet; sie präsentiert sich am Ende des kritischen Geschäfts selber als dasjenige .System', das Kant anfänglich als metaphysisch bezeichnet hatte. Der erste Schritt der Kritik - und der erste Kritikpunkt an der Metaphysik - ist die Umkehrung des Übergangsproblems. Wenn die Metaphysik den Überschritt vom Sinnlichen ins Übersinnliche unternehmen soll, dann muß Kant die herkömmliche Metaphysik dahingehend kritisieren, daß sie bisher immer umgekehrt verfahren ist94. Da Kant einen festen Boden setzen will - und sozusagen vom festen Boden der Erkenntnis der sinnlichen Erscheinungen und der Erfahrung zum Übersinnlichen gelangen will - , untersucht er in der Kritik erst einmal das auf dem festen Boden des Sinnlichen operierende Verstandesvermögen und seine Prinzipien, „um zu wissen, von wo an die Vernunft, und mit welchem Stecken und Stabe von den Erfahrungsgegenständen zu denen, die es nicht sind, ihren Überschritt wagen könne" (Fort., 591).

Dieser Überschritt gestaltet sich nun mehr als schwierig. Denn alle möglichen Übergänge sind (als durch die Verstandeskategorien geregelte synthetische Urteile) Übergänge 94 So kritisiert Kant z.B. Leibniz, weil er Gesetze für die Dinge an sich aufstellt und diese auf die Erscheinungen anwendet, was in seinem Augen ein unberechtigter Übergang ist (vgl. KRV, A 276), weil nicht einzusehen ist, wie dabei von der Vorstellung auf die Wirklichkeit übergegangen wird (vgl. auch KRV, A 378). Entsprechend können keine Naturgesetze aus moralischen Vemunftprinzipien abgeleitet werden (vgl. KRV, A 807f.) usw. All das sind unberechtigte Übergänge vom Übersinnlichen zum Sinnlichen, also in die .falsche Richtung'. Sie werden als transzendentale Illusion gebrandmarkt. Kant will dagegen vom festen Boden der sinnlichen Erfahrung ausgehen - das ist die Lektion, die er vom Empirismus gelernt hat —, um zum Übersinnlichen zu gelangen. Weil Leibniz die Sinnlichkeit vernachlässigt, gelangt er immer nur von Begriffen zu Begriffen, und „dergleichen Übergang wäre ein Sprung, der sich gar nicht verantworten ließe" (KRV, A 783).

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zwischen sinnlichen Erscheinungen. So ergeben sich unendliche Reihen von Bedingtem und Bedingungen, die ihrerseits wieder bedingt sind. Die Unmöglichkeit, von hier aus direkt zum Unbedingten zu gelangen, hatten die Antinomien gezeigt, oder wie Kant anläßlich der „Unmöglichkeit des physikotheologischen Gottesbeweises" im Hinblick auf das höchste Wesen formuliert: „Will man es dagegen von dieser Kette trennen, und, als ein bloß intelligibles Wesen, nicht in der Reihe der Naturursachen mitbegreifen: welche Brücke kann die Vernunft wohl schlagen, um zu demselben zu gelangen? Da alle Gesetze des Übergangs von Wirkungen zu Ursachen, ja alle Synthesis und Erweiterung unserer Erkenntnis überhaupt auf nichts anderes, als mögliche Erfahrung, mithin auf Gegenstände der Sinnenwelt gestellt sind und nur in Ansehung ihrer eine Bedeutung haben können" (KRV, A 621f.).

Für den gesuchten Überschritt darf man also weder vom Übersinnlichen zum Sinnlichen gehen, wie es die herkömmliche Metaphysik getan hatte, weil daraus eine transzendentale Illusion folgt, noch kann man empirische, sinnliche Gesetze direkt auf Übersinnliches übertragen, weil diese nur für die sinnliche Welt gelten. Auch daraus würde eine transzendentale Illusion folgen (vgl. KRV, A 582). Für den gesuchten Überschritt kann Kant also weder den Weg der Rationalisten begehen - gegen sie führt er den Ansatz beim Sinnlichen ins Feld - , aber ebensowenig kann er den Empiristen, von denen er diesen Ansatz entlehnt hat, bis zum Ende folgen, denn auf rein empirischem Wege kommt man auch nicht zum Übersinnlichen, also über alle Erfahrung hinaus, was doch den natürlichen Drang der Vernunft (vgl. KRV, A 797) und ihre „erhabene" Endabsicht ausmacht. Es ist ja gerade dieses Dilemma, das die Antinomien spiegeln und aus dem der Skeptizismus folgt, „der darum für die Metaphysik traurig ausfallen mußte, weil, wenn sie nicht einmal an Gegenständen der Sinne, ihre Forderung des Unbedingten betreffend, befriedigen kann, an einen Überschritt zum Übersinnlichen, der doch ihren Endzweck ausmacht, gar nicht zu denken war" (fort., 623).

Kant kann also in Sachen Übergang weder auf die eine noch auf die andere Partei zurückgreifen. Seine Ausführungen zeigen, wie es wiederum hinsichtlich der Gottesbeweise heißt, „daß die Vernunft, auf dem einen Wege (dem empirischen) so wenig, als auf dem anderen (dem transzendentalen) etwas ausrichte, und daß sie vergeblich ihre Flügel ausspanne, um über die Sinnlichkeit durch die bloße Macht der Spekulation hinaus zu kommen" (KRV, A 591).

Doch welche „Brücke" läßt sich dann zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem schlagen? Es ist eben jener oben beschriebene Perspektivenwechsel zwischem Theoretischem und Praktischem, der als ,Weder-Noch' bzw. ,Sowohl-Als-Auch', als ein .Dazwischen' hinsichtlich der beiden bestehenden Möglichkeiten, einer Negativ-Positiv-Dialektik folgend, den Übergang zum Übersinnlichen vornimmt, welcher ins Innere des Subjekts und seiner Vermögen verlegt wird95. Theoretisch-spekulativ wird nie ein Übergang Zustandekommen, weil man immer auf die sinnlichen Anschauungen angewiesen bleibt. Deshalb ist dieser Versuch im ganzen abzuweisen, gerade um das Übersinnliche, das mit dem Praktischen verbunden wird, zu retten. Der Übergang ist keine materiale Brücke über den Abgrund, sondern ein Perspektivenwechsel (und zwar nur) im Bewußtsein dieses Abgrunds. Wenn man vom Sinnlichen zum Übersinnlichen übergehen will, ist man, wie die dynamischen 95 Wie sich bereits im „Gerichtshof der reinen Vernunft" zeigte, löst die kopernikanische Wende eine Art Selbstbeurteilung des kritischen Richters und seiner Vermögen aus.

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Antinomien zeigen, gezwungen, Heterogenes, nämlich Bekanntes und Unbekanntes zu verknüpfen (vgl. Prol., 354). Der Perspektivenwechsel ist eine Art Minimalverknüpfung. Er ist eine Verknüpfung, die nicht amalgamierend verbindet96, sondern die kritischen Unterscheidungen wahrt. Anders sind Sinnliches und Übersinnliches nicht zu verknüpfen, ohne ihre Heterogenität zu verwischen, d.h. ohne die kritischen Unterscheidungen zunichtezumachen97. Dieser Übergang ist bescheiden. Aber er ist ein Übergang - ohne Brücke. Die Kritik der Urteilskraft, als diejenige der drei Kritiken, die als solche mit dem Übergangsproblem und dessen Lösung befaßt ist, bestätigt diesen Befund. Wie wir oben gesehen haben, bestand der Übergang - nach allen denkbaren Ansätzen - auch hier nur in einem Perspektivenwechsel. Die Kritik der Urteilskraft geht in Sachen Übergang nicht weiter als bis zu dem, was in der Kritik der reinen Vernunft schon angelegt und praktiziert wird. Sie arbeitet das Übergangsproblem lediglich systematisch und kritisch aus. Denn der so umrissene Ubergang, und auch das muß man sich klar machen, kann nur von der Kritik geleistet werden, weil er nicht nur die Heterogenität nicht verwischt, sondern diese konstitutiv zu ihm gehört. Der Übergang ist eine paradox anmutende Konstruktion von Trennung und Verbindung (im schwachen Sinne des Wortes). Ohne die kritische Differenzierung wäre er nicht möglich. Die beiden Behauptungen in den dynamischen Antinomien waren ja gerade beide wahr, weil sie gänzlich ungleichartig sind. Nur deshalb können sie nebeneinander bestehen, und nur deshalb ist ein Perspektivenwechsel von einer Position zur anderen möglich. So heißt es im Fortschrittstext: „Die Möglichkeit eines solchen Fortschrittes der Vernunft, mit dynamischen Ideen, gründet sich darauf, daß in ihnen die Zusammensetzung der eigentlichen Verknüpfung der Wirkung mit ihrer Ursache, oder des Zufälligen mit dem Notwendigen, nicht eine Verbindung des Gleichartigen sein darf, wie in der mathematischen Synthesis, sondern Grund und Folge, die Bedingung und das Bedingte, von verschiedener Art sein können, und so in dem Fortschritte vom Bedingten zur Bedingung, vom Sinnlichen zum Übersinnlichen, als der obersten Bedingung, ein Überschritt nach Grundsätzen geschehen kann. In den dynamischen Antinomien kann etwas Ungleichartiges zur Bedingung angenommen werden" (Fort., 629).

Im Fortschrittstext wird der Überschritt im dritten, im praktisch-dogmatischen Stadium vorgenommen, und dieses Stadium ist die Kritik selbst (vgl. Fort., 630ff.), die die Metaphysik in zwei Kammern teilt (vgl. Fort., 671); der Überschritt erfolgt also nicht durch Vereinheitlichung, sondern durch Teilung. So paradox es klingen mag: nicht Homogenität,

96 Etwa so, wie es im Fortschrittstext über die synthetischen Urteile heißt, daß „gar nicht darnach gefragt , ob das Prädikat mit dem Begriffe des Subjekts jederzeit verbunden sei oder nicht, sondern es wind nur gesagt, daß es in diesem Begriffe nicht mitgedacht werde, ob es gleich notwendig zu ihm hinzukommen muß" (Fort., 663f.). Mit einem solchen Hinzukommen des Übersinnlichen zum Sinnlichen, des Praktischen zum Theoretischen im Denken haben wir es beim kritischen Übergang zu tun. 97 Eine große Rolle für Kants Ausführungen spielt daher àie Analogie, weil sie ein Übergangsmodus ist, der vom Sinnlichen zum Übersinnlichen geht (vgl. KRV, A 696f.), die Heterogenität der beteiligten Parteien bewahrt und noch dazu der Unbestimmtheit des Übersinnlichen Rechnung trägt (vgl. KRV, A 179f., A 546 oder A 665). Sie ist zwar niemals ganz sicher (vgl. KRV. A 626f.), reicht aber hin, um die Möglichkeit des Übersinnlichen und seine Existenz .neben' dem Sinnlichen zu erweisen. Die Analogie wird festgemacht an einem „sinnlichen Zeichen" (KRV, A 546). Kant nennt sie auch „Symbolisierung" (Fort., 613), und ihre Rolle für die Symbolisierung des Guten durch das .Schöne' in der Kritik der Urteilskraft ist nicht zu übersehen. Sie beruht auf Verwandtschaft, die die Verschiedenheit unangetastet läßt und ihrerseits auf der Idee der Spezifikation beruht (vgl. KRV, A 657f.).

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sondern Heterogenität bewirkt den Übergang. Und diese Heterogenität in der ihr gerechten (Un)Form eines Nebeneinanders entsteht selbst erst durch die Kritik98. Es ist dieser Übergang, mit dem sich der kritische Richter auf die Warte der Vernunft und damit der Kritik stellen kann, weil er die für die Kritik selbst notwendige Minimaldistanz - eine Distanz vom Sinnlichen, die, wenn sie größer wird und die kritischen Unterscheidungen aus dem Blick verliert, in eine (traditionelle) Meta-physik führt. Wenn Kant nur die herkömmliche Metaphysik abzuweisen hätte, könnte seine Kritik reine Kritik bleiben. Da er aber gleichzeitig eine Neubegründung der Metaphysik als Wissenschaft des Übergangs zur Erkenntnis des Übersinnlichen leisten und damit den Skeptizismus vermeiden will, muß er auf dem Weg zum Übergang so weit gehen, daß in der Kritik selbst der Übergang vollzogen, das System vollendet wird (auch wenn es letztlich ein offenes System bleibt)99. Die Kritik steht selbst an der Grenze zur Metaphysik. Sie ist diese Grenze100. Dem Ineinandergreifen von Kritik und Metaphysik entspricht die Negativ-PositivDialektik, die der kritischen Vorgehensweise eigen ist. Die Kantische Kritik hat gleichsam zwei Seiten: eine negative, die .eigentlich' kritische, die nach der „skeptischen Methode" destruiert, und eine positive, die der Metaphysik zugewandt ist. Dem entsprechen wiederum die beiden Seiten der Vernunft, die theoretische und die praktische, wobei die Vernunft als Vermögen der Kritik, die ihre Gesetzmäßigkeiten enthält, und der Metaphysik gelten kann101. Der Übergang ist vemunftintern. Die Begrenzung des Spekulativen hat jene Erweiterung zum Praktischen hin zur Folge, die die Metaphysik für Kant ausmacht. Die Negativ-Positiv-Struktur, die Kritik und Metaphysik kritisch miteinander verschlingt, hat verschiedene Auswirkungen auf den Charakter der so umrissenen Metaphysik: Einerseits bleibt Kants Metaphysik stets eine negative, und muß dies auch bleiben. Der Überschritt ist minimal. Er besteht gleichsam nur in einem Schritt an die Grenze von Sinnlichem und Übersinnlichem, den die Kritik selbst vollzieht. Entsprechend Kants Diktum, daß in allen Grenzen - im Unterschied zu den Schranken - etwas Positives sei, und gemäß der Negativ-Positiv-Struktur der Kritik erlaubt das Scheitern der theoretischen Vernunft 98 Als zweite Bedingung für den Übergang wäre neben der Heterogenität natürlich die kritische Berücksichtigung der Sinnlichkeit zu nennen, die in einer vorkantischen Metaphysik nicht gewährleistet ist, so daß der Ubergang von Sinnlichen zum Übersinnlichen, wie er Kant vorschwebt, unmöglich wird. 99 Das ist möglich, weil die Kritik selbst schon als System angelegt ist (vgl. KRV, A 10). Durch sie können - wie Kant selbst behauptet - alle Fragen der Metaphysik beantwortet werden (vgl. KRV, Α ΧΙΠ). 100 Dem Ineinandergreifen von Kritik und Metaphysik entsprechend, hat der Fortschrittstext (der vom Fortschritt in der Metaphysik handelt, den die [selbst als Metaphysik verstandene] Kritik gebracht hat, vgl. Fort., 595; 657) zwei verschiedene Ebenen: eine kritische und eine metaphysische. Das erklärt das Durcheinander, das in den verschiedenen Versionen des Fortschrittstextes hinsichtlich der Stadien der Metaphysik und der Frage entsteht, in welchem dieser Stadien der Überschritt vorzunehmen sei. Die Tatsache, daß Kant den gesuchten Überschritt am Ende der ersten Handschrift des Fortschrittstextes schon für das zweite Stadium ankündigt, irritiert auf den ersten Blick. Doch wenn man sich klarmacht, daß hier nicht die drei Stadien der .herkömmlichen' Metaphysik gemeint sein können (Dogmatismus - Skeptizismus Kritik), wo der Überschritt erst im dritten Stadium stattfindet, sondern die zwei Ebenen der Kritik (als Metaphysik) selbst (Verstand/Sinnlichkeit - Vernunft) (vgl. Fort., 622), dann löst sich diese Verwirrung auf. 101 Aufgrund dieser Verschlingung kann Kant an Herz schreiben, daß die Kritik (indem sie die Vernunftgesetze expliziert, die die herkömmliche Metaphysik vernachlässigt hat, vgl. Prol., 270) die Metaphysik von der Metaphysik" ist (Brief nach dem 11.5.1781, Kant .Briefwechsel, a.a.O., 195).

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einen Ausblick auf die praktische. Doch dieser Ausblick bleibt aufgrund des anfänglichen Scheiterns negativ geprägt. Wir sehen zwar auf das Übersinnliche hinaus, doch wir können nichts über es aussagen. Wir können sicher sein, daß die Dinge an sich ,da' sind, doch wir wissen nichts über sie, und nach Kants Konstruktion brauchen wir auch nichts über sie zu wissen (vgl. KRV, A 276f.). Mit dem Setzen der Grenze, die ungleich offener ist als die bloße Schranke, wird die negative Kritik positiv erweitert und damit selbst zu einem System ,des Ganzen' - zumindest des erreichbaren Ganzen. Die Erkenntnis des Übersinnlichen ist die „erhabene" Endabsicht der Vernunft nicht in dem Sinne, daß es um eine Art .übersinnliches System' ginge, in dem zur objektiven Erkenntnis des Übersinnlichen im strengen Sinne fortgeschritten werden könnte, sondern ganz im schwächeren Sinne eines bloßen Überschritts vom Sinnlichen ins, besser gesagt: ans Übersinnliche. Die „erhabene" Endabsicht der Vernunft bedeutet nur einen systematischen Schritt an die Grenze zum Übersinnlichen, nicht deren Überschreitung. Nicht die Erkenntnis des Übersinnlichen führt zur Vervollständigung des Systems, sondern die Erkenntnis der Grenze selbst. Das bedeutet für die Metaphysik, daß sie negativ geprägt bleibt. Die Metaphysik besteht nur in der Erkenntnis der Grenze; diese ist das einzig Positive, was der kritische Richter zugestehen kann102. Eine weitere Implikation dieser Konstruktion besteht darin, daß die Metaphysik praktisch wird, wenn man so sagen kann. Der Übergang erfolgt nicht nur vom Sinnlichen zum Übersinnlichen, sondern auch vom Theoretischen zum Praktischen. Das Übersinnliche ist für Kant praktisch konnotiert. Diese Hinwendung zur Moral wird z.B. im Fortschrittstext deutlich: „Freiheit der Willkür ist dieses Übersinnliche, welches durch moralische Gesetze, nicht allein als wirklich im Subjekt gegeben, sondern auch in praktischer Rücksicht, in Ansehung des Objektes, bestimmend ist, welches in theoretischer gar nicht erkennbar sein würde, welches dann der eigentliche Endzweck der Metaphysik ist" {Fort., 628f.).

Kant betont im Fortschrittstext, daß die Metaphysik bisher immer nur eine Idee gewesen sei (vgl. Fort., 589). Die Kritik versucht, diese Idee darzustellen, was nur durch permanente Annäherung geht, weil die Idee unbestimmt und Idee bleiben muß - mit allen Implikationen, die der Status der Idee bei Kant mit sich bringt: nämlich ihr in theoretischer Hinsicht bloß regulativer, ihr subjektiver, formaler, unbestimmter und letztlich negativer Charakter (das An sich, das Jenseits bleibt unbekannt, der Verstand wird nur negativ erweitert, vgl. KRV, A 256). Positivität - bestimmende Urteile, objektiv und material bestimmte Gegenstände an sich - war ja gerade der Fehler der herkömmlichen Metaphysik. Kants .System' bleibt dagegen, entsprechend der Vorstellung von einer Grenze nach der übersinnlichen Seite offen:

102 Entsprechend vorsichtig sind Kants Äußerungen zum .System'. Ebenso wie die Kritik auf dem .Metaniveau' der Vermögen und ihrer Gesetzmäßigkeiten operiert, die die Bedingungen der Möglichkeit der jeweiligen Erfahrungen auf transzendentaler Ebene bedeuten, ist es Kant nur um ein .mögliches System' zu tun: „Die menschliche Vernunft ist ihrer Natur nach architektonisch, d.i. sie betrachtet alle Erkenntnisse als gehörig zu einem möglichen System, und verstattet daher auch nur solche Prinzipien, die eine vorhabende Erkenntnis wenigstens nicht unfähig machen, in irgendeinem System mit anderen zusammen zu stehen" (KRV, A 474).

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„Denn welches der höchste Grad sein mag, bei welchem die Menschheit stehenbleiben müsse, und wie groß also die Kluft, die zwischen der Idee und ihrer Ausführung notwendig übrigbleibt, sein möge, das kann und soll niemand bestimmen."103

Eine weitere Implikation der Negativ-Positiv-Dialektik, verbunden mit dem Ideencharakter der Metaphysik, ist die potentielle Unendlichkeit der Kritik. Angesichts der negativen Prägung der Metaphysik ist der positive Stillstand, die „Beruhigung" des Drängens der Vernunft auf Totalität, die Kant anvisiert hatte, kaum zu erwarten. Die Kritik ist prozessual verfaßt. Kritische Differenzierung und metaphysischer Übergang müssen sich angesichts der Unaufhebbarkeit der Dialektik der Vernunft unendlich fortsetzen. Kant, der auf „Beruhigung" aus ist und die Metaphysik in einen „beharrlichen Zustand" bringen will, kann dennoch, zumindest tendenziell, der Versuchung nicht immer widerstehen, diese Dialektik zugunsten der positiven Seite stillzustellen und den Perspektivenwechsel zu einem einmaligen, endgültigen und absoluten Aufstieg umzudeuten, indem er der praktischen Vernunft das Primat zuweist, wodurch die Negativität abhanden zu kommen droht. Die praktische Ausprägung der Metaphysik leistet dem Vorschub. Darin besteht die Gefahr eines Rückfalls in die traditionelle Metaphysik im Sinne einer geschlossenen und festen Form, die Kants dialektische und negative Metaphysik wieder in eine positive verwandeln würde: daß er nämlich wiederum vom Übersinnlichen aufs Sinnliche hinaus denkt, das Praktische positiver bestimmt, als es seiner Konstruktion gemäß sein dürfte, und die unbequeme Richterwarte zu einem sicheren Sitz mit genügender Distanz ausbaut. Diese Gefahr macht sich als Drang der Vernunft an vielen Stellen unverblümt bemerkbar. Es ist die Vernunft, die dem Verstand gleichsam .befiehlt', immer weiter aufs Ganze zu gehen, wobei sie zumindest teilweise ihren bloß regulativen Charakter verliert. Das (zuletzt praktische) Interesse der Vernunft entscheidet die unentscheidbaren Antinomien, und es steht hinter dem ganzen Bestreben nach einem System (vgl. auch KU, Β 169). Die Vernunft drängt darauf, dieses System so schnell wie möglich abzuschließen und die Dialektik stillzustellen. Wie das Interesse ist auch der Drang, und auch das gilt es festzuhalten, in der Kritik der reinen Vernunft stets anthropologisch, und d.h. bei Kant empirisch begründet, und fällt daher aus dem transzendentalen Rahmen der Kritik heraus. So erklärt Kant die mangelnde Popularität des Empirismus aus dem Fehlen des praktischen Interesses (vgl. KRV, A 472f.). Was „wahr" ist „scheint uns nicht genug"; der Mensch will Auskunft darüber, „was man zu wissen begehrt" (KRV, A 237). Auch der „Wink", den das Scheitern der spekulativen Vernunft in Richtung auf die praktische Vernunft bedeutet, erscheint in der Kritik der reinen Vernunft empirisch als Bedürfnis und Sehnsucht des endlichen Menschen in seiner Menschlichkeit. Ohne die Annahme eines Jenseits der Erfahrung läßt sich der Wissensdurst des Menschen niemals befriedigen, er ,föhlt" das Bedürfnis nach Beharrlichkeit, deren Beweis dogmatisch nicht zu erbringen war (KRV, A 184f.). 103 KRV, A 317. Dem entspräche Kants Vorstellung von Philosophie und vom Philosophen, den er in der Anthropologie als „Idee einer Person" bezeichnet (280, Anm.). Der Philosophierende muß, so heißt es dort weiter, „seine Gedanken fortdauernd bei sich herumtragen, um durch vielfältige Versuche ausfindig zu machen, an welche Prinzipien er sie systematisch anknüpfen solle, und die Ideen, weil sie nicht Anschauungen sind, schweben gleichsam in der Luft ihm vor" (ebd.). Das unterscheidet ihn vom Gelehrten (in dem man unschwer den Dogmatiker erkennt), vgl. ebd., entsprechend auch Kants Unterscheidung von Schul- und Weltbegriff der Philosophie, KRV, A 838f.; im Gegensatz zum Gelehrten braucht der Philosoph Kultur, was bei Kant die Fähigkeit zu Ideen bedeutet, und Fertigkeit (vgl. Logik, 344), weswegen man die Philosophie ja auch nicht lernen kann (vgl. KRV, A 837).

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Was bleibt, ist ein Zwiespalt zwischen dem, was Kant erreichen kann, und dem, was er erreichen will. Diesem Zwiespalt entspricht die Ambivalenz in Kants Verhältnis zur Metaphysik, die von der Frage abhängt, ob die kritische Dialektik stillgestellt wird und werden kann oder nicht. Der „Drang" der Vernunft, der einerseits Dialektik und Systemgedanken motiviert, löst andererseits auch den Wunsch aus, diese stillzustellen, um endlich das eine, abgeschlossene System vor sich zu haben (ein Wunsch, der zweifelsohne auch Kant selbst leitet). Er äußert sich diffus als Gefühl, das jedoch aus dem tranzendentalen Rahmen der ersten Kritik herausfällt. Auf transzendentaler Ebene findet dieser Drang, ebenso wie der „Wink" auf der theoretischen zur praktischen Seite hin, erst mit dem Erhabenen in der dritten Kritik eine befriedigende Erklärung.

3.3.3. Das Erhabene als kritisches Gefühl An vielen Charakteristika der Kritik und ihrem Verhältnis zur Metaphysik dürfte schon aus den Formulierungen deutlich geworden sein, warum und inwiefern man vom Erhabenen als dem .kritischen Gefühl' in dem Sinne sprechen kann, daß es der Kritik zugrunde liegt, sie begleitet und von ihr ausgelöst wird (was wiederum zu weiterer Kritik führt). Der kritische Richter ist selbst erhabenen Gefühlen ausgesetzt, und das in ganz unterschiedlicher Hinsicht: Sie liegen seinem Tun zugrunde, dokumentieren aber auch dessen (negative und positive) metaphysische Züge. Das Erhabene trägt die oben herausgearbeiteten Charakteristika der Kritik - von der zu bearbeitenden „Sandwüste" der vorkritischen Philosophie bis hin zum kritischen Schritt an die Grenze der Metaphysik - in sich, was ich im folgenden zeigen möchte. Dabei werden auch die unterschiedlichen möglichen Sichtweisen auf die und der Kritik deutlich: Indem das Erhabene die Kritik in allen ihren Stadien abbildet, wirft es auch ein anderes Licht auf die Kritik selbst, gerade mit Blick auf ihre Rezeption und die Bedingungen der Möglichkeit von Kritik heute, wobei der Bezug zur Metaphysik eine besondere Rolle spielt. Wie wir uns erinnern, zeugt das Gefühl des Erhabenen im Gegensatz zum harmonischen Schönen von einem Konflikt oder, wie Kant es nennt, „Kontrast" zweier Vermögen, nämlich der Einbildungskraft, als endlichem und sinnlichem Vermögen, und der Vernunft, als unendlichem und übersinnlichem Vermögen, die beide nach den ihnen jeweils eigenen .Bedingungen der Möglichkeit' operieren. Voraussetzung für dieses Gefühl ist also gerade jene fundamentale kritische Unterscheidung zwischen der endlichen Welt der sinnlichen Erscheinungen und dem unendlichen Reich der Vernunft und ihrer Ideen von den Dingen an sich. Kant geht in der Kritik der Urteilskraft sogar so weit, das Erhabene gleichsam als Bestätigung für die kritische Differenzierung zwischen Ding an sich und Erscheinung heranzuziehen: Durch das Erhabene, so heißt es dort, „werden wir auch erinnert, daß wir es nur mit einer Natur als Erscheinung zu tun haben, und diese selbst noch als bloße Darstellung einer Natur an sich (welche die Vernunft in ihrer Idee hat) müsse angesehen werden. Diese Idee des Übersinnlichen aber, die wir zwar nicht weiter bestimmen, mithin die Natur als Darstellung derselben nicht erkennen, sondern nur denken können, wird in uns durch einen Gegenstand erweckt, dessen ästhetische Beurteilung die Einbildungskraft bis zu ihrer Grenze, es sei der Erweiterung (mathematisch) oder ihrer Macht über das Gemüt (dynamisch), anspannt, indem sie sich auf dem Gefühle einer Bestimmung desselben gründet, welche das Gebiet der ersteren gänzlich überschreitet (dem moralischen Gefühl)" (KU, Β 116).

Diese Bekräftigung korrespondiert bis in die Wortwahl mit der beispielsweise in der „Vorrede zur zweiten Auflage" der Kritik der reinen Vernunft geäußerten programmatischen

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Wendung über die Leistungen des kritischen Unternehmens: daß wir nämlich die „Dinge an sich selbst, wenn gleich nicht erkennen, doch wenigsten müssen denken können" (KRV, Β XXVI). Im Erhabenen geht es zwar nicht um Erkenntnis im strengen Sinne, dafür aber um deren Voraussetzung, um die sinnliche Anschauung, die dem sinnlichen Vermögen der Einbildungskraft nicht gelingt. Das ist sein einer Pol. Der andere, ebenso notwendige, übersinnliche Pol wird von der Vernunft repräsentiert. Und wir müssen dabei das Übersinnliche in der Tat hinzudenken, damit die typische Gefühlsstruktur des Erhabenen entsteht. Damit ist schon der zweite Punkt angesprochen, der die kritische Vorgehensweise charakterisiert und sich auch im Erhabenen widerspiegelt: das aus dem kritischen Unternehmen resultierende Nebeneinander. Beide Pole oder Vermögen gehören konstitutiv zum Gefühl des Erhabenen. Ihre Gleichzeitigkeit, ihr Nebeneinander, löst ja gerade dieses zwiespältige Gefühl aus. Aus diesem .Sowohl-Als-Auch' entspinnt sich im Erhabenen, wie in der Kritik, eine unendliche Dialektik, die nicht zum Stillstand kommt, bzw. zu jenem bewegten Stillstand, dessen Ausdruck die „Hemmung" mit anschließender um so stärkerer „Ergießung" im Gefühl des Erhabenen ist und der sich auch im kritischen Verfahren beobachten ließ. In dieser Dialektik treten die beiden heterogenen Bestandteile in ein Wechselspiel, das zwei Eigentümlichkeiten aufweist, die auch die Kritik auszeichnen: die Dialektik ist negativ-positiv strukturiert, und sie bedeutet einen Übergang, der als Perspektivenwechsel zu verstehen ist. Zunächst zur,Negativ-Positiv-Struktur': Die beiden gegensätzlichen Gefühlsmomente im Erhabenen treten zwar gleichzeitig auf, das .erste' - auch wenn diese Bezeichnung angesichts der Gleichzeitigkeit ungenau ist negative Moment der Unlust bedingt jedoch das zweite positive Lustmoment in solchem Maße, daß Kant das Gefühl des Erhabenen als Abfolge zweier Gefühlsmomente beschreiben kann. Anstoß des Gefühls des Erhabenen ist die Konfrontation mit einem zu großen oder zu mächtigen Gegenstand, der die Einbildungskraft scheitern läßt, was für das Subjekt einer Schockerfahrung gleichkommt. Wie die Untersuchung der transzendentalen Ästhetik unter Berücksichtigung des Erhabenen gezeigt hat, tut sich anläßlich der .erhabenen Gegenstände' ein Abgrund im Gegebenen auf: es ist, als ob nichts wahrgenommen würde. Gleichwohl wird etwas wahrgenommen; doch dieses Etwas erscheint dem Betrachter bodenlos. Erst durch dieses Scheitern kann die Vernunft auf den Plan treten, die diese Schockerfahrung gleichsam verarbeitet, indem sie erlaubt, gerade das Scheitern positiv zu ihrem Vorteil zu interpretieren, wodurch das betreffende Gemüt Lust empfindet. Diese Lust ist aber, wie wir gesehen haben, nur vermittelst einer Unlust möglich. Das negative Gefühlsmoment gibt, wie beispielsweise auch der Enthusiasmus im Streit der Fakultäten zeigt, einen „Wink" auf eine andere, positivere Sichtweise der Dinge. Dieser Gang vom Negativen zum Positiven war jedoch kein einmaliger .Aufstieg', indem das Negative vom Positiven ohne Rest und Rückstände abgelöst wird, sondern beide Momente - daher die Gleichzeitigkeit - durchdringen einander. Die Unlust bleibt in der Lust präsent. Ihr Spannungsverhältnis wird in keine Harmonie aufgehoben, wird nicht stillgestellt, sondern die Dialektik von Unlust und Lust bleibt als Spannung erhalten. Ebenso verhält es sich in der Kritik. Man kann angesichts von Kants eigener .Präsentation' der Kritik ohne allzu große Forcierung sagen, daß Kant mit der Kritik auf die Schockerfahrung dessen, was zu seiner Zeit in der Philosophie .gegeben' ist, also auf die Schockerfahrung des Skeptizismus (und den Kampf zwischen Empirismus und Rationalismus) reagiert, aus der Indifferenz und Überdruß resultieren. Er will etwas Positiveres an dessen Stelle setzen. Die Kritik kann also als eine ebensolche Verarbeitung einer Schockerfahrung

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(und zwar ebenfalls im Namen und mit Hilfe der Vernunft) gelten, wie sie das Gefühl des Erhabenen ausdrückt. Es stünde also ein zumindest strukturell dem Erhabenen ähnliches Gefühl als Movens am Anfang der Kritik - ein Movens, das Kant selbst als Gefühl beschrieben hatte. Man kann also erstens festhalten, daß das Erhabene nicht mehr, aber auch nicht weniger ist als die gefühlsmäßige Abbildung des Schocks angesichts der Bodenlosigkeit (die hier mehr ist, als nur eine Metapher) aller vorkritischen Philosophie und Erkenntnis (der .Krise') und seiner Verarbeitung als und in der Kritik (im Namen der Vernunft). Zweitens ist es nicht übertrieben anzunehmen, daß das die Kritik auslösende Gefühl, das in der Kritik der reinen Vernunft als mehr oder weniger empirische Begleiterscheinung oder Randbemerkung Kants erscheint, mit dem Erhabenen in den transzendentalen Rahmen der kritischen Philosophie eingebettet wird und seinen systematischen Stellenwert erhält. Diese Verbindung von Erhabenem und Kritik entsprechend der,Negativ-Positiv-Struktur' läßt sich vom Anfang der Kritik bis in die Kritik selbst weiterverfolgen. Wie wir gesehen haben, nimmt die Kritik ihren Anstoß insofern auf, als sie selbst Schocks auslöst und verarbeitet: Kant verstärkt den Skeptizismus zunächst noch und entzieht der Philosophie alle ihre Gewißheiten, um dann einen neuen Boden zu schaffen. Dieser Boden weist, einem „Bedürfnis" oder „Drang" der Vernunft folgend, bereits über die sinnliche Welt der Erscheinungen hinaus, so daß Kant zumindest mit einem Fuß wieder in der bzw. an der Grenze zur Metaphysik steht. Man kann also - gerade im Hinblick auf die sinnliche Welt und den „Drang" der Vernunft - sagen, daß ein dem Erhabenen ähnliches Gefühl nicht nur am Anfang der Kritik, sondern auch in deren Verlauf steht: daß es sie begleitet - zumal beim Blick in die Metaphysik, der eine positivere Sicht des vom Skeptizismus geleugneten Übersinnlichen erlaubt, wobei mit dem gleichzeitigen Eingeständnis, daß wir dieses nicht erkennen können, eine negative Prägung erhalten bleibt. Eine derartige ,NegativPositiv-Struktur' zieht sich durch sämtliche Schriften Kants bis hin in die Geschichtsphilosophie. Das Erhabene wäre demnach der gefühlsmäßige Ausdruck der für die Kritik charakteristischen Grenzziehung104. Innerhalb des kritischen Unternehmens markiert es eben jene Grenze, in der bei aller Negativität im Unterschied zur Schranke auch etwas Positives ist, wenn dieses auch negativ geprägt bleibt. Diese Grenzsetzung und Grenzerfahrung macht sich in jener ,hemmenden' Spannung im Reflexionsprozeß bemerkbar, die der Negativ-Positiv-Dialektik eigen ist und die sowohl das Erhabene als auch die Kritik charakterisiert. Das Erhabene ist jene „Belebung", die die Kritik zur Durchführung braucht und durch die sich nach Kant die philosophische Tätigkeit auszeichnet. Das Aufeinandertreffen von Einbildungskraft und Vernunft im Erhabenen und die ihm eigene Negativ-Positiv-Dialektik erlaubt nun auf der Ebene der Vermögen einen Perspektivenwechsel von der sinnlichen Welt ins oder ans Übersinnliche. Das Scheitern des sinnlichen Vermögens im Erhabenen, das Unlust bereitet, wird in dem Reflexionsprozeß, den es darstellt, dergestalt uminterpretiert, daß es Lust auslöst, weil ein anderer Maßstab - der der Vernunft - gefunden wird, der erlaubt, das Scheitern zu relativieren, denn er läßt das betreffende Naturphänomen im Vergleich mit der Vernunft und ihren Ideen, deren Existenz in diesem Lustgefühl erwiesen wird und die man in der Tat „hinzudenken" muß, weniger groß oder mächtig erscheinen. In dieser Hinsicht ist es wichtig, sich daran zu erinnern, daß 104 Was erklärt, warum man das Erhabene bzw. seine Struktur überall in den Kritiken, und nicht nur in der Kritik der Urteilskraft wiederfindet.

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nicht das .Eingreifen' der Vernunft schlechthin Lust auslöst - sonst wäre das Erhabene ein rein moralisches Gefühl - , sondern daß das Gefühl, und zwar auch nach seiner positiven Seite, in der scheiternden Einbildungskraft stattfindet. Der Perspektivenwechsel ist kein Absprang, sondern ein Sprung, in dem das Sinnliche präsent und damit das Übersinnliche an das Sinnliche .angebunden' bleibt. Das positive Gefühlsmoment im Erhabenen entsteht, weil das betreffende Subjekt von der sinnlichen Warte der Einbildungskraft zur übersinnlichen Warte der Vernunft so überwechselt, daß es neben der sinnlichen noch die übersinnliche Perspektive einnehmen und daher das Scheitern selbst als positiv, als Beweis der Existenz der Vernunft verbuchen kann. Die oben angesprochene ,Wenn-nicht-dann'-Konstruktion von Kants Argumentation kann als besonders typisch für das Erhabene gelten. Ebenso hatte in der Kritik das Aufweisen der Bodenlosigkeit der bisherigen Systeme und das .Durchspielen' der Antinomien zum Beweis der Existenz des Übersinnlichen und zum Übergang geführt. Voraussetzung für diesen Perspektivenwechsel ist in beiden Fällen Kultur: Das betreffende Gemüt muß schon kultiviert sein, d.h. Ideen besitzen, sonst könnte es weder das Gefühl des Erhabenen empfinden noch die kritische Arbeit zur Gänze unternehmen. So wie dort eine Idee Garant für die positive Komponente im erhabenen Gefühl ist und die Sicht auf die Dinge leitet, so läßt sich der kritische Richter von der Idee eines philosophischen Systems (inklusive Überschritt zum Übersinnlichen) leiten, und ergänzt zu diesem Zweck - wie in den dynamischen Antinomien - dieser Idee gemäß „den Mangel der Rechtsgründe". Und so wie dort die .Darstellung' zunächst mißlingt und dann vermittelst der Vernunft doch noch wenigstens eine „negative Darstellung" der Idee in der Sinnenwelt zustandekommt, so ist auch hier das kritische Verfahren einer „hellen Darstellung kaum empfänglich", wobei sich einige Dunkelheiten aber erhellen, wenn man „sich der Idee im Ganzen bemächtigt". Der „Wink", den das Negative gibt und von dem in der Kritik der reinen Vernunft die Rede war, kann als ästhetisches Zeichen gedeutet werden. Das Übersinnliche bleibt durch dieses Verfahren an das Sinnliche angebunden. Voraussetzung dafür ist die dem Erhabenen eigene Dialektik, die einen einmaligen Aufstieg vom Sinnlichen zum Übersinnlichen, und damit des letzteren Loslösung vom ersteren, verhindert, und die kritische Unterscheidung von Sinnlichem und Übersinnlichem selbst. Als paradoxe Konstellation von Abtrennung und Anbindung erweist das Erhabene so das Auftreten der Vernunft in der Sinneswelt105, bzw. - dem transzendentalen Niveau der Kritik gemäß - die Bedingungen der Möglichkeit des Auftretens der Vernunft anläßlich der Sinnenwelt. Die Heterogenität beider muß erhalten bleiben; das Besondere dieses kritischen Perspektivenwechsels besteht

105 Man könnte vielleicht sagen, daß dieses Auftreten in der Kritik der reinen Vernunft nur anthropologisch begründet werden konnte, daß in der Kritik der praktischen Vernunft die Vernunft gar nicht in der Sinneswelt auftritt bzw. diese keine Rolle spielt, und daß erst in der Kritik der Urteilskraft, und zwar mit dem Erhabenen, der Übergang vom Sinnlichen zum Übersinnlichen und damit die Möglichkeit der Vernunft, in der Sinneswelt aufzutreten, seine adäquate transzendentale Form erhält. Das Erhabene ist das „Faktum", vom dem in der zweiten Kritik als „Faktum der reinen (praktischen) Vernunft" die Rede ist (z.B. KPV, 6) und das, wie es ebenfalls in der zweiten Kritik heißt (104f.), in der Sinnenwelt der Erfahrung niemals anzutreffen ist. Mit dem Erhabenen in der dritten Kritik nimmt dieses Faktum sinnliche (und empirische) Gestalt an. Insofern ist das Erhabene in der Tat, wie wir bei der Untersuchung der „Analytik des Erhabenen" gesehen haben, die ästhetische Beurteilung oder Ausprägung der Moral.

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darin, daß die eine Position stets relativ auf die andere gedacht wird und beide nicht in einem Metavermögen vereinigt werden, sondern sich lediglich auf transzendentalem Niveau .treffen'. Nun hatte ich aber gesagt, daß dieser Perspektivenwechsel in der Kritik nicht nur einen Übergang vom Sinnlichen zum Übersinnlichen bedeutet, sondern auch einen vom Theoretischen zum Praktischen, wobei dieser jenen ermöglicht. Wie steht es nun damit im Erhabenen, das ja - im Mathematisch-Erhabenen - eine theoretische und - im DynamischErhabenen - eine praktische Variante hat? Hier scheint die Parallele zur Kritik ein Ende zu haben. Fest steht, daß es sich beim Erhabenen nicht - zumindest nicht primär - um einen vernunftinternen Übergang vom Theoretischen zum Praktischen handelt, sondern um einen Übergang zwischen zwei Vermögen - Einbildungskraft und Vernunft, einmal vom Sinnlichen zum theoretischen Übersinnlichen, einmal vom Sinnlichen zum praktischen Übersinnlichen. Eher als ein Übergang vom Theoretischen zum Praktischen ist das Erhabene also ein Vorgang, der demonstriert, wie Kant sich auf die Warte der Vernunft stellt, und es erfolgt kein Übergang zwischen den beiden Varianten des Erhabenen (was erneut die Frage nach der Einheit der Vernunft aufwirft). Wir hatten aber bei der Analyse des Erhabenen ein eigentümliches Gleiten vom Mathematisch-Erhabenen zum Dynamisch-Erhabenen festgestellt, das mit der Verteilung der vier Momente zusammenhing. In seiner faktischen Ausprägung erlangt das Dynamisch-Erhabene bei Kant größere Bedeutung als das Mathematisch-Erhabene, weil es nicht nur das unendliche Erkenntnisvermögen des Menschen erweist, sondern das, worum es Kant eigentlich geht: seine Freiheit. Das entspricht dem Primat der praktischen Vernunft in der Kritik. Es war jedoch auch eine schwächere Lesart möglich, nach der das Mathematisch-Erhabene durch seinen Aufweis des (theoretischen) Übersinnlichen indirekt einen „Wink" auf die Existenz der (praktischen) Freiheit gab. Es gilt mithin auch hier, so weit wie möglich zwischen Mathematisch- und Dynamisch-Erhabenen zu unterscheiden. Anläßlich der kritischen Vorgehensweise hatten wir festgestellt, daß der Wechsel vom Sinnlichen zum Übersinnlichen nur aufgrund des Wechsels vom Theoretischen zum Praktischen stattfinden kann. Das Erhabene - zumindest in seiner mathematischen Ausprägung - erlaubt nun einen Wechsel vom Sinnlichen zum Übersinnlichen ohne diese Bedingung, und d.h. auch ohne Primat des Praktischen. Da der Blick ins Übersinnliche, den der Übergang vom Sinnlichen zum Übersinnlichen erlaubt, bei Kant immer auch einen Ausblick in die Metaphysik bedeutet, dieser letztere aber durch das Primat des Praktischen Gefahr lief, nicht in eine Kantisch vertretbare negative Metaphysik, sondern in eine positive Metaphysik zu münden, und ich darüber hinaus eingangs behauptet hatte, daß das Erhabene nicht nur die Kritik, sondern auch deren Metaphysikbezug gefühlsmäßig abbildet, gilt es nun, den Unterschied zwischen Mathematisch- und Dynamisch-Erhabenen in dieser Hinsicht weiter zu erhellen. Als besonders geeignet dafür erweist sich das Problem der Distanz, die, wie wir uns erinnern, nicht zu groß werden darf. Sonst folgt daraus ein Absprung in die Meta-physik: Der Perspektivenwechsel im Erhabenen kann als Distanzierung verstanden werden. Das bedrohliche betreffende Naturphänomen wird gleichsam femgehalten durch den Gedanken nicht an das zerstörbare sinnliche und endliche Subjekt, sondern an dessen unzerstörbare übersinnliche Bestimmung. Im Mathematisch-Erhabenen ist diese Distanzierung minimal: der zweite Pol bedeutet - der optischen Ausrichtung dieser Variante des Erhabenen gemäß (ein Gegenstand ist so groß, daß man ihn nicht ,auf einmal' in den Blick bekommt) - hier lediglich einen Schritt zurück, den das Gemüt vollzieht, und der es erlaubt, das betreffende

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Phänomen doch noch in einen, gleichsam mentalen .Blick' zu bekommen106. Im Dynamisch-Erhabenen verstärkt sich die Distanz in beträchtlichem Maße, ist hier doch von vornherein mit der Bedingung, daß sich das betreffende Subjekt in Sicherheit befindet, eine Distanz zum Gegenstand (und damit ein gewisser Schein) konstitutiv. Diese dem Erhabenen eigene immanente Distanzierung kann man nun im Hinblick auf die Kritik in zweierlei Hinsicht - einmal eher in bezug auf das Mathematisch- und einmal eher in bezug auf das Dynamisch-Erhabene - verstehen. Denn einerseits führt das Erhabene - in seiner mathematischen Ausprägung - vor, wie der kritische Richter die für das kritische Unternehmen unerläßliche immanente Minimaldistanz gewinnt. Andererseits besteht anläßlich dieser Distanzierung aber die Gefahr eines .Abhebens' in die Metaphysik, was das Dynamisch-Erhabene gleichsam entlarvend deutlich macht. Die Distanzierung im Erhabenen (und das gilt im Ansatz auch vom Dynamisch-Erhabenen) führt vor, wie der kritische Richter vom empirisch Gegebenen ausgehend auf die kritische und transzendentale Warte der Vernunft gelangt, von der aus eine andere Beurteilung des Gegebenen möglich ist. Es zeigt, wie die für die Kritik erforderliche Minimaldistanz gemütsintern gewonnen werden kann. Dieser Vorgang ist in beiden Fällen reflektierend - und subjektiv. Wie wir uns erinnern, war das Erhabene ein sehr viel .subjektiveres' Gefühl als das Schöne, das zwar nicht direkt den Objekten beigelegt werden durfte, indirekt aber - durch ein „als ob" - doch Rückschlüsse auf die Verfassung der objektiven Natur außer uns zuließ. Im Erhabenen nun lag der Fall komplizierter. Hier treibt Kant die Subjektivierung gleichsam auf die Spitze, indem er betont, daß das Gefühl des Erhabenen nichts mit den betreffenden Naturgegenständen, die es auslösen, zu tun hat. Dennoch führte das Gefühl des Erhabenen, wie wir hinsichtlich der Spezifikationsaufgabe in der Kritik der Urteilskraft, die „einen kritischen Gebrauch der Vernunft erfordert" (KU, Β 276), gesehen haben, durch eine unvermeidliche Subreption zu einer anderen Sichtweise der Natur. Diese Sichtweise ist rein subjektiv, aber sie kann dennoch als Leitfaden für die (objektive) Naturuntersuchung gelten. Wir wissen zwar nicht, ob dieser letztlich der Natur an sich gerecht wird - und nach Kants Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung brauchen wir das auch nicht zu wissen - , aber es ist der einzige Leitfaden, über den wir verfügen. Hier wird deutlich, daß das Gefühl des Erhabenen die kopernikanische Wende der Kritik in nuce abbildet. So wie der (subjektive) Verstand in der Kritik der reinen Vernunft der (objektiven) Natur die objektiven Gesetze vorschreibt, so wird im Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft von der Warte der (subjektiven) Vernunft aus die (objektive) Natur subjektiv beurteilt, wobei diese Subreption jener zugrunde liegt. In diesem Sinne zeigt das Erhabene, wie der kritische Richter in der Kritik im allgemeinen auf die Warte der Vernunft gelangt. Man kann sogar noch weiter gehen: Das Erhabene ist nicht nur Abbild und gefühlsmäßiger Ausdruck des kritischen Verfahrens, sondern liegt diesem zugrunde. Das Erhabene zeigt die nötige Distanzierung der Kritik nicht nur an, in ihm wird diese, für die Kritik unerläßliche Distanz gewonnen. Das Erhabene ist zwar nur ein Gefühl, aber nur als dieses Gefühl läßt sich die kritische Distanzierung im transzendentalen Rahmen überhaupt legitimieren. Woher, so müßte man sonst fragen, bezieht der kritische Richter das Recht, sich auf die Warte der Vernunft zu stellen und von ihr aus die traditionelle Philosophie vor Gericht zu laden? Aus dem anthropologischen „Drang" der ] 06 Wie die „Analytik des Erhabenen" zeigte, dürfen die betreffenden Gegenstände nicht zu nah, aber auch nicht zu fern sein.

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Vernunft? - Die Unlust im Erhabenen erlaubt dagegen eine Distanzierung, die das Auftreten der Vernunft auf transzendentaler Ebene rechtfertigt. Das Erhabene zeigt nicht nur, wie der kritische Richter seinen Maßstab gewinnt. Es ist die Gewinnung dieses Maßstabs selbst. Im Mathematisch-Erhabenen ist die für diesen Maßstab notwendige Distanzierung minimal. Zudem erfolgt sie horizontal, denn beide beteiligten Vermögen stehen gleichberechtigt nebeneinander, wobei die beteiligten Vernunftbegriffe völlig unbestimmt bleiben und nur indirekt praktisch förderlich sind. Im Dynamisch-Erhabenen dagegen tendiert Kant dazu, durch eine eher vertikale Anordnung der Vermögen, eine Hierarchisierung vorzunehmen, bei der die praktische Vernunft die Ubermacht in dem Konflikt der beiden Vermögen erlangt. Die in Frage stehende Distanz vergrößert sich dabei beträchtlich. Wenn ich soeben gesagt habe, das Erhabene zeige, wie die Kritik sich auf die Warte der Vernunft stellt und wie der kritische Richter seinen kritischen Maßstab gewinnt, dann muß ich nun mit Blick auf das Dynamisch-Erhabene hinzufügen: wie und um welchen Preis die Warte der Vernunft erklommen zu werden droht. Das Erhabene demonstriert zwar, wie der kritische Maßstab gewonnen werden kann. Es zeigt neben den Stärken aber auch die Schwächen dieser Konstruktion. Denn mit dem Dynamisch-Erhabenen droht die Distanz zu groß zu werden; hier besteht die Gefahr, daß die Dialektik von Kritik und negativer Metaphysik in eine positive reine Metaphysik im traditionellen Sinne zurückschlägt. Wie wir im Laufe der Analyse des Erhabenen gesehen hatten, tendierte Kant mehr und mehr dazu, dem .metaphysischen' Pol des Erhabenen den Vorzug zu geben. Es bestand bei Kant zumindest eine Ambivalenz darüber, ob - und diese Frage ist entscheidend - die Dialektik von Unlust und Lust zugunsten der Lust zum Stillstand kommt oder nicht. Diese Ambivalenz ist dafür verantwortlich, daß das Erhabene in der Nachfolge Kants im ersteren Sinne - und damit als moralisches Gefühl - interpretiert wurde. Ich möchte hier die andere Möglichkeit stark machen. Es ist jedoch nicht zu leugnen, daß zumindest im Dynamisch-Erhabenen tendenziell ein Überhang der Vernunft besteht, daß Kant die Dialektik des Erhabenen zugunsten der zweiten Stufe, d.h. der Lust und damit der Vernunft im Rahmen seines .Beruhigungsanliegens' stillzustellen sucht. Dieser Überhang bedeutet einen Rückfall in die traditionelle Metaphysik. Die Vernunft gibt zwar den Maßstab ab, verliert jedoch ihre Immanenz und erhebt sich zu einem externen Standort, den Kants Konstruktion als kritische nicht legitimieren kann. Die Vernunft erscheint erst so als omnipräsent, und das ist für den kritischen Gerichtshof insgesamt verräterisch. Der kritische Richter wird zu der von ihm selbst angeprangerten „Schwärmerei" verleitet, weil die Vernunft nicht so negativ bleibt, wie sie es nach dem Erhabenen, insbesondere in seiner enthusiastischen Form, sein müßte. Der Übergang unter dem Primat der praktischen Vernunft kann zwar noch als Übergang vom Sinnlichen zum Übersinnlichen verstanden werden (und insofern auch als metaphysisch im kantischen Sinne), doch dieser Übergang ist nicht mehr der kritische Übergang des Perspektivenwechsels, weil er sozusagen einmalig ist und die erste Perspektive ein für alle Mal verläßt. Er ist metaphysisch im traditionellen Sinne, weil ihm das „Katarktikon" der Kritik im Sinne der Präsenz der sinnlichen Perspektive fehlt. Das Erhabene wird so als Aufstieg vom Sinnlichen zum Übersinnlichen, von der Einbildungskraft zur Vernunft verstanden, wobei am Ende das Gemüt gleichsam allein auf dem zweiten Pol - auf der Warte der Vernunft - über den Dingen schwebt, ohne sich noch durch die endliche Welt affizieren zu lassen. Das reine moralische Wesen schert sich nicht mehr um seine eigene Sinnlichkeit. Kants Bestreben nach einer (schönen) festen Form hätte um den Preis des Ausschlusses der Sinnlichkeit sein Ziel er-

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reicht. Und dieser Ausschluß ist nicht mehr kritisch. Dieses Stillstellen der Dialektik wäre eben jene metaphysische Beschönigung des Erhabenen, die in der Kant-Nachfolge - einseitiger als bei Kant selbst - betrieben wurde. Im Hinblick auf die schwierige Frage der Distanz, so kann man nun sagen, erhellen Erhabenes und Kritik sich gegenseitig. So gibt einerseits das kritische Verfahren des SowohlAls-Auch die m.E. richtige, weil kritische Interpretation des Erhabenen an die Hand, die beide Pole des Erhabenen nicht nur als konstitutiv für dieses Gefühl ansieht, sondern auch als gleichberechtigt. Nur so ist der „Übergang" kritisch möglich. Wenn dagegen das Gefühl des Erhabenen in letzter Konsequenz als reine Lust angesehen wird, dann wird die Dialektik stillgestellt und der Schritt in die Metaphysik ohne negative Prägung positiv getan. Dann wird die Distanz so groß, daß sie nicht mehr der Minimaldistanz der Dialektik der Vermögen entspricht, die Kant rechtfertigen kann. Der „Übergang" ist dann kein kritischer mehr. Er wäre sogar in dem von Kant anvisierten Sinne gar nicht mehr möglich, denn rein metaphysisch ginge der Bezug zum Sinnlichen verloren. Ein rein metaphysischer Übergang wäre, wie Kant sich ausdrücken würde, ein „zu gewaltiger Sprung". Diese beiden Interpretationsmöglichkeiten werfen nun umgekehrt ein Licht auf die Kritik in ihrem Verhältnis zur Metaphysik: Nur im ersteren Falle bleibt die Kritik kritisch und der für sie erforderliche Restbestand an Metaphysik negativ. Wenn man dagegen das Erhabene als Aufstieg ins Übersinnliche versteht, dann hat der kritische Richter damit die Kritik verlassen - die in jenem Aushalten und Fortsetzen des dialektischen Nebeneinander besteht - und ist in die Meta-physik, in Sinne eines Jenseits der Sinnlichkeit übergewechselt. In dieser Hinsicht erweist sich das Dynamisch-Erhabene geradezu als entlarvend, weil hier die Gefahr, daß die Distanz zu groß wird, deutlicher wird als in der Kritik selbst: So wie im Dynamisch-Erhabenen und dessen Vormachtstellung in der „Analytik des Erhabenen" die Gefahr besteht, daß der kritische Richter sich in eine positive Metaphysik .erhebt', so läuft auch die Kritik permanent Gefahr, durch das Primat der praktischen Vernunft der negativen Metaphysik, die sie zur Widerlegung des Skeptizismus braucht, eine positive und damit dogmatische Wendung zu geben. Diese Sicht der Kritik hat dazu geführt, daß das Erhabene von einigen Interpreten als Ermächtigung des kritischen Richters über die Natur, als Domestizierung der Natur verstanden worden ist. Dies entspricht der Interpretation des Erhabenen, die die zweite Stufe über die erste herrschen, sie ohne Rest ablösen sieht. Es ist nicht zu leugnen, daß Kant im Dynamisch-Erhabenen, in dem die gewaltige äußere (und innere) Natur mit um so mehr Gewalt gleichsam gezähmt wird - teilweise diese Interpretation nahelegt. Das Erhabene würde so in der Tat für den gewaltigen Ozean, von dem in der Kritik der reinen Vernunft anläßlich des Übergangs in die Dialektik die Rede ist und den die Kritik zu bewältigen sucht, und für dessen Bewältigung stehen. Die Kritik ist nicht ganz frei von solchem Herrschaftsgestus, der Kants .Beruhigungsabsicht' entspringt. Die Domestizierung, ja Unterwerfung der äußeren und inneren Natur unter die Vernunft im als einmaliger Aufstieg verstandenen Dynamisch-Erhabenen würde so die Gewaltaspirationen auch der Kritik widerspiegeln. Aus den oben erwähnten Gründen erscheint mir diese metaphysische Interpretation einseitig und in letzter Konsequenz unbefriedigend zu sein. Denn neben dem Erhabenen wäre so auch die Kritik diskreditiert. Sehr viel zeitgemäßer scheint mir die andere mögliche und von mir .kritisch' genannte Interpretation des Erhabenen. Sie wirft ein anderes Licht auf die Kritik als diejenige, die den .Aufstieg' (mit Recht) anprangert. Sie scheint mir nicht nur fruchtbarer zu sein, sondern auch Kant gerechter zu werden, zumal

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die .Aufstiegsvariante' nur das Dynamisch-Erhabene (und nicht einmal das uneingeschränkt) betrifft. Sie führt jedoch zu keiner .Beruhigung'. Die .Gewalt', die in einem derart verstandenen Erhabenen ausgeübt wird, beschränkt sich darauf, die .Beruhigung' zu verhindern, indem die Metaphysik negativ und die Dialektik unendlich bleibt. In diesem Sinne, und nur in diesem Sinne, kann das Erhabene kritisches Gefühl par excellence sein. Übergang und Distanz zeigen, daß - gerade im Hinblick auf das Erhabene als kritisches Gefühl - weitestmöglich zwischen Mathematisch- und Dynamisch-Erhabenen zu differenzieren wäre. Kant verfährt im Mathematisch-Erhabenen eindeutig .kritischer', weil dem Nebeneinander der beiden involvierten Vermögen mehr Raum gelassen wird. Da es hier weder um Wertungen (im Gegensatz zum Dynamisch-Erhabenen geht es nicht um die Angst des Subjekts, sondern um das Scheitern der Synthesen) noch um Macht oder Freiheit geht, kann Kant das Übersinnliche sehr viel unbestimmter und negativer lassen, als es im Dynamisch-Erhabenen der Fall ist. Im Dynamisch-Erhabenen ist die Wendung zur Metaphysik, zum distanzierten Schweben .über' den Dingen stärker, zumal die sichere Distanz Bedingung für dieses Gefühl ist. Das Mathematisch-Erhabene ist daher das eigentlich kritische Gefühl, weil es ohne Primat des Praktischen auskommt und trotzdem das Vorhandensein der Vernunft in der Welt .beweist' und damit den gesuchten Übergang vornimmt, wobei die erste negative Stufe nicht in Vergessenheit gerät. In einem zweiten Schritt kann das so entdeckte Übersinnliche, wie Kant in der „Analytik des Erhabenen" schreibt, für praktische Fragen dienlich sein. Auf diese Weise müßte auch das DynamischErhabene gelesen werden und könnte ein Übergang ins Praktische stattfinden, der nicht in einer positiven Metaphysik kulminiert. Ohne die Korrektur des Mathematisch-Erhabenen gibt das Dynamisch-Erhabene Anlaß zu Mißverständnissen - ebenso wie die Kritik. Das Mathematisch-Erhabene zeigt, wie der kritische Richter ohne Primat des Praktischen auskommen könnte; das Dynamisch-Erhabene zeigt die Gefahren eines solchen Primats. Mit der Grenzerfahrung des Erhabenen, so kann man nun mit Blick auf die Kritik sagen, steht der kritische Richter an der Grenze zur (negativen und positiven) Metaphysik. Das Erhabene ist zwar nicht Teil einer Wissenschaft, von der Erkenntnis des Sinnlichen zu der des Übersinnlichen fortzuschreiten, wohl aber deren Gefühl. Dieses Gefühl ist das einzige Element des Kantischen .Systems', das diesen Überschritt in kritischer (Un)Form erlaubt. Das Erhabene ist gleichsam der Schritt an die Grenze, an den Punkt, an dem der kritische Richter sich am weitesten vom Sinnlichen entfernen kann, und der ihm den größten Überblick über sein .System' und die sinnliche Welt erlaubt, mit allen Gefahren, die das birgt. Am ,Ende' des kritischen Geschäfts gelangt Kant mit dem Erhabenen an einen (,höchsten') Punkt, an dem Gelingen und Mißlingen des kritischen Unternehmens auf Messers Schneide stehen. Mit der .Krise des Gegebenen', von dem das Erhabene mit Blick auf die Synthesen zeugt, besteht die akute Gefahr des Rückfalls in vorkritische Positionen. Angesichts der erhabenen Grenzerfahrung mit all ihrer Unlust empfindet der kritische Richter, wenn ich so anthropologisierend sagen darf, das größte Bedürfnis, in schöne, ruhige und geordnete dogmatisch-metaphysische Bahnen zurückzukehren. Es gibt jedoch auch einen „kritische Weg" (KRV, A 856) angesichts des Erhabenen (genaugenommen ist es ein „Fußsteig", ebd.), der nicht nur die Bahnen der Kritik nicht verläßt, sondern sie auf transzendentaler Ebene legitimiert. Wenn der kritische Richter sich an das von ihm selbst eingerichtete kritische Nebeneinander und die daraus resultierende Negativität des Jenseits' der Grenze hält, dann bleibt der Bezug zum Sinnlichen bestehen. Als endlicher Mensch

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kann er gleichsam nur für Sekundenbruchteile an den Punkt des .Überblicks' (und des Überschritts) gelangen. In dieser Hinsicht kann das Erhabene im kritischen Rahmen als .Beweis' des Auftretens der Vernunft in der sinnlichen Welt gelten. Es treibt, und das macht einen beträchtlichen Teil des erhabenen Paradox aus, gleichzeitig die Einheit im Gefühl und die kritische Differenzierung selbst voran. Der Übergang ist nur durch mehr Kritik, d.h. durch mehr und immer feinere Differenzierungen immer wieder neu zu vollziehen. Das Erhabene ist das Gefühl dieser „Verfeinerung" (KU, Β 395). Es ist das Gefühl der kritischen Differenz, und nicht - wie Jean Baudrillard fälschlich annimmt - der Indifferenz107. Es ist das Gefühl der Grenze, die am Ende der Kritik - und an ihrem Anfang steht. Die erhabene Dialektik ohne .Aufhebung' und ohne Stillstand impliziert - und auch hier wird der Blick vom Erhabenen auf die Kritik im ganzen fruchtbar - , daß das System unabgeschlossen bleibt und die Kritik unendlich und damit ebenso .formlos' ist wie das (Mathematisch-)Erhabene: die Kritik ruft ein erhabenes Gefühl hervor, das wiederum Kritik hervorruft. Die Gleichzeitigkeit der beiden möglichen Standpunkte verbietet jeden Stillstand auf einem von ihnen. Sonst wäre das Gefühl des Erhabenen nicht das Gefühl des Erhabenen und die Kritik nicht die kritische Philosophie, die sich im Namen der Vernunft denjenigen „erhabensten Fragen, die die Aufgabe der Metaphysik ausmachen" (KRV, A 855), stellt. Die „erhabensten Fragen" müssen unbeantwortet bleiben, weil zu einer definitiven Antwort kein endlicher Mensch sich erheben kann. Alles Positive, was erreicht werden kann, ist die Erweiterung der Einbildungskraft um ihre Grenze. Und das ist - auch heute noch - sehr viel. Es ist zwar, um mit Kant zu reden, „zuletzt nicht dasjenige, was man suchte", aber „dennoch jederzeit etwas Nützliches und zur Berichtung unserer Urteile Dienliches" (KRV, A 507). Das Erhabene nimmt sicherlich einen anderen Übergang vor, als der, der Kant vorgeschwebt hatte. Er ist sprunghaft - und darf kritisch auch gar nicht kontinuierlich sein, weil zwei heterogene Prinzipien .verbunden' werden (vgl. Fort., 604f.) - , und er ist intern, subjektiv, gefühlsmäßig und reflektierend. Aber er ist transzendental und überdies - gerade wegen seiner „hemmenden Bedenklichkeiten" - der einzig mögliche Übergang. Jede weitergehende (und positivere) Beantwortung der „erhabensten Fragen" wird ihrerseits vom Erhabenen in Frage gestellt. „Eine Theorie des Erhabenen entspricht also", wie Annemarie Gethmann-Siefert es mit Blick auf Adorno formuliert hat, „eo ipso der ideologiekritischen Funktion der ästhetischen Theorie."108 Das Erhabene wäre so mit Blick auf die Kritik eine Art Schnittstelle, die Kritik und Metaphysik miteinander .verbindet'. Ohne die kritische Leistung ist dieses Gefühl nicht denkbar. Gleichzeitig ist es aber auch der Punkt, an dem die Kritik in eine positive Metaphysik .überzugehen' droht. Kant steht - wie Paul Schmidt es (bedauernd) formuliert hat - mit dem Erhabenen „am Garten der Metaphysik, nur ahnend schaut sein Auge durch die Schranke"109. Die negative metaphysische Komponente, die der Kritik innewohnt, kann nur kritisch gebannt werden, wenn das Unbestimmte, Unendliche, Übersinnliche im Erhabenen negativ geprägt bleibt, wenn die erste Stufe nicht vergessen wird. Sonst droht im Erhabenen wie in der Kritik ein Rückfall in die Metaphysik. Daß diese Gefahr besteht, 107 Vgl. Jean Baudrillard, Cool memories. 1980-1985, München 1989,195. 108 Annemarie Gethmann-Siefert, „Das Erhabene", in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie, phie und Wissenschaftstheorie. Wien/Zürich 1980, Bd. 1 (A-G), S. 571-572, hier 572. 109 Paul Schmidt, Kant, Schiller, Vischer, a.a.O., 14.

Philoso-

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zeigt in paradigmatischer Weise - und deutlicher als die Kritik selbst - ebenfalls das Erhabene und seine Rezeption nach Kant, die genau in diese Richtung ging. Diese Entwicklung kann nur verhindert werden, wenn das gleichberechtigte Nebeneinander der Vermögen bestehen bleibt, wenn das Paradox, das das Erhabene bedeutet und das als ,Sowohl-AlsAuch' auch die Kritik kennzeichnet, ausgehalten wird, wenn man also die Dialektik von Unlust und Lust nicht aufhebt oder .beruhigt', sondern beide Elemente in der Tat, wie es bei Kant paradox geheißen hatte, „durch ihren Kontrast als harmonisch vorstellt" - in einer Harmonie, die eben nicht die quietistische Harmonie des Schönen ist, sondern kontradiktorisch und daher belebend. Das Erhabene, so heißt dazu bei Gilles Deleuze, „läßt die verschiedenen Vermögen derart spielen, daß sie sich einander wie Kämpfer widersetzen, eins das andere an sein Maximum oder seine Grenze stößt, aber daß das andere reagiert, indem es das eine zu einer Eingebung treibt, die es nicht von selbst gehabt hätte. Das eine stößt das andere an seine Grenze, aber jedes führt zur Überschreitung der Grenze des anderen. Es ist ein furchtbarer Kampf zwischen der Einbildungskraft und der Vernunft , ein Kampf, dessen Episoden die beiden Formen des Erhabenen sein werden, und das Genie. Sturm im Innern eines offenen Abgrunds im Subjekt. Die Vermögen bieten sich die Stim, jedes an seiner Grenze, und finden ihren Einklang in einem fundamentalen Mißklang: ein disharmonischer Einklang, das ist die große Entdeckung der Kritik der Urteilskraft, des letzten kantischen Umsturzes. Die Trennung, die vereinigte, war das erste Thema Kants, in der Kritik der reinen Vernunft. Aber am Ende entdeckte er den Mißklang, der den Einklang erzeugt."110

Nur so disharmonisch wird das Kantische System .vollendet*. Nur so wird die kopernikanische Wende nicht zur Ermächtigung des Subjekts als Herrscher über die Natur pervertiert. Nur so wird schließlich die Grenzerfahrung des Erhabenen und mit ihr die Kritik nicht zum metaphysischen Größenwahn.

110 Deleuze, Kants kritische Philosophie, a.a.O., 16f.

Statt einer Zusammenfassung - Kants Erhabenes zwischen Kritik und Metaphysik

Die Untersuchung des Erhabenen auf verschiedenen Ebenen und unter verschiedenen Perspektiven hat ergeben, daß Kant mit dem Erhabenen an der Grenze von Kritik und Metaphysik steht. Das Erhabene ist Grenzerfahrung im doppelten Sinne: Einerseits macht es dem Rezipienten seine Endlichkeit bewußt. Es bedeutet eine Krise des Gegebenen schlechthin, wie nicht nur die „Analytik des Erhabenen" der dritten Kritik, sondern auch ein Blick auf die transzendentale Ästhetik der ersten Kritik gezeigt hat. Als .Zuviel' bzw. .Zuwenig' an Wahrnehmung stellt das Erhabene die Einheitsbestrebungen des kritischen Richters und das Wahrnehmungsmodell, das der Kritik zugrunde liegt, in Frage. Andererseits ist das Erhabene aber ein „Übergang" vom Sinnlichen zum Übersinnlichen im umfassendsten Sinne eines Perspektivenwechsels. Dieser Übergang ist der kritische Übergang par excellence. Er läßt sich auch in den anderen Übergangsversuchen innerhalb der Kritik der Urteilskraft wiederfinden, so daß das Erhabene in der dritten Kritik eine sehr viel zentralere Position einnimmt, als Kant ihm zugesteht. Er treibt die Einheitsbestrebungen der Kritik auf subjektiver, aber transzendentaler Ebene voran und kann so das kritische Auftreten der Vernunft legitimieren. Er bildet, wie anhand der ersten Kritik sichtbar wurde, den Übergang gefühlsmäßig ab, den der kritische Richter, um kritisch verfahren zu können, unternehmen muß. Dieser Übergang - und auch insofern ist das Erhabene Grenzerfahrung - führt an die Grenze zum Übersinnlichen. Diese Grenze ist die Operationsbasis des kritischen Richters. Sie begründet eine Negativ-Positiv-Dialektik und sichert das Nebeneinander der Vermögen. Das Erhabene ist das kritische Gefühl par excellence. Es steht am Anfang, im Verlauf und am ,Ende' des (endlosen) kritischen Geschäfts. Das Erhabene ist ein Paradox, insofern es zeigt, daß nur die Trennung (und durch die Trennung) der Übergang ist. Es ermöglicht das kritische .System', indem es die .größte Übersicht' über das Gegebene und das Auftreten der praktischen Vernunft erlaubt. Es scheint noch mit den widrigsten Naturphänomenen fertig zu werden. Gleichzeitig verhindert es aber den Abschluß dieses Systems, weil es verbietet, die in ihm nur „benutzten" Naturphänomene zu vereinnahmen und die Idee zu bestimmen, weil es die scheinbar so sichere Wahmehmungslehre unterläuft. Es ist zugleich ein Scheitern und ein neuer Horizont. Da das kritische Wahrnehmungsmodell, das Kant gegen die herkömmliche Metaphysik errichtet, mit dem Erhabenen in Frage steht und dieses letztere sozusagen den .höchsten' Punkt des kritischen Geschäfts ausmacht, besteht anläßlich des Erhabenen die akute Gefahr eines Rückfalls in die dogmatische Metaphysik, gerade weil Kant auch hier dem Prak-

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Statt einer Zusammenfassung

tischen ein Primat einräumt. Es besteht die Gefahr, daß der Horizont, der im Erhabenen aufscheint und gänzlich unbestimmt bleiben muß, eine Bestimmung erfährt und so zu einem festen meta-physischen Standpunkt ausgebaut wird. Aus dieser Perspektive dürfte sich erklären, warum ich auf eine kritische Lesart des Erhabenen insistiert habe. Am Erhabenen hängt mehr als das Schicksal einer lange vergessenen ästhetischen Kategorie: Die beiden möglichen Interpretationen des Erhabenen - die ich kritisch und metaphysisch genannt habe, je nachdem, ob die dem Erhabenen inhärente Dialektik als Aufstieg mit Stillstand oder als Nebeneinander ohne Stillstand verstanden wird - weichen scheinbar nur um eine Nuance voneinander ab. Diese Nuance, die nur eine Frage der Betonung, des Tons ist, wenn man so will, ist entscheidend nicht nur für die Sichtweise des Erhabenen, sondern auch für die Sichtweise der Kritik. Die Interpretation des Erhabenen läßt Rückschlüsse auf den Zustand oder die Einschätzung der Kritik selbst zu. Wie die Kritik (und die Vernunft) ist es eine Größe, die ihren Maßstab nur in sich selbst hat. Im Hinblick auf die heute grassierende Rede vom .Erhabenen' schlechthin (wobei häufig nicht einmal zwischen dessen mathematischer und dessen dynamischer Form unterschieden wird) gilt es, dieser Nuance durch die nötigen Differenzierungen Rechnung zu tragen. Es erscheint mir angebracht, fortan von einem Kritisch- und einem MetaphysischErhabenen zu sprechen. Entscheidend ist dabei, wie der im Erhabenen entdeckte unendliche Horizont aufgefaßt und ausbuchstabiert wird. Das Metaphysisch-Erhabene ist das Erhabene, in dem die Dialektik von Unlust und Lust als Erhebung von Unlust zu Lust, vom Sinnlichen zum Übersinnlichen begriffen wird, wobei die Unlust ohne Rest in der Lust aufgehoben ist. Ein so verstandenes Erhabenes suggeriert ein Schweben über den weltlichen Dingen, das man in der Tat meta-physisch nennen kann. Diese Interpretation des Erhabenen hat sich in der Nachfolge Kants - mit Schiller beginnend - durchgesetzt. Sie hat den Romantikern erlaubt, das Erhabene im Schönen .aufzuheben', weil in einem so verstandenen Erhabenen jegliche Differenz zum Schönen abhanden kommt. Sie hat Hegel erlaubt, im Erhabenen nur eine Vorstufe zum Schönen zu sehen, und sie hat Schopenhauer zur Rede vom Erhabenen als „ewige Weltauge" veranlaßt. Ein so verstandenes Erhabenes mußte mit dem Niedergang der Metaphysik in Mißkredit geraten1. Es ist heute nicht nur nicht mehr einschlägig, sondern aufs schärfste zu kritisieren2. Im Metaphysisch-Erhabenen wird Kants negative Metaphysik (im Sinne des Überschritts an die Grenze zum Übersinnlichen) positiv, indem das Übersinnliche (der Horizont) bestimmt und positiv nach erhabenen Darstellungen und Handlungen gestrebt wird. Es kann und darf jedoch nach (dem kritischen) Kant keine solchen positiven Darstellungen ,des Erhabenen' geben. Das Kritisch-Erhabene, für das meine Interpretation des Erhabenen eintritt, wäre dasjenige, in welchem die Dialektik der beiden gleichberechtigt nebeneinander stehenden Pole nicht stillgestellt oder aufgehoben werden kann, was einen schwankenden Perspektivenwechsel erlaubt. Im Gegensatz zum Metaphysisch-Erhabenen, in dem der erste schmerzliche Pol des erhabenen Gefühls in Vergessenheit gerät, werden hier beide Pole gleich stark betont. Das Kritisch-Erhabene ist negativer als das Metaphysisch-Erhabene. Es ist, nach 1 In dieser Hinsicht ist Homanns Befund im Historischen Wörterbuch zutreffend. 2 Davon einmal abgesehen, daß mit der metaphysischen Interpretation die reichhaltigen systematischen Implikationen des Erhabenen verlorengehen.

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einer Schillerschen Unterscheidung, eher ein negatives Erhabenes der Fassung als ein positives Erhabenes der Handlung. Es hebt nicht von der Sinneswelt ab und führt so auch nicht den typisch neuzeitlichen Triumph des Subjekts über die Sinneswelt vor. Alles, was es an Subjekt aufbieten kann, ist das - zutiefst in Sinnliches und Übersinnliches gespaltene - „Etwas überhaupt" der ersten Kritik (KRV, A 335). Die notwendigen metaphysischen Implikationen jedes erhabenen Gefühls werden negativ belassen und streng an die Sinneswelt angekoppelt. Man könnte vielleicht sagen, daß mit dem Kritisch-Erhabenen das Unendliche als unbestimmter Horizont, als Ebene der Möglichkeit selbst, in die endliche Welt hineingeholt und eine immanente Metaphysik, wenn man das denn noch so nennen will, betrieben wird3. Es ist kritisches Korrektiv gegen jede metaphysische Erhebung. Das deutsche Wort .erhaben' legt die metaphysische Variante des Erhabenen nahe. Das Kritisch-Erhabene entspricht aber eher dem französischen und englischen sublime, weil es nicht an eine Erhebung, sondern an jene feinen Unterscheidungen denken läßt, um die es in der Kritik - und im Erhabenen - bei Kant geht. Da es keine Lösung ist, auch im Deutschen fortan vom .Sublimen' zu reden, weil damit andere Mißverständnisse naheliegen, halte ich die dezidierte Unterscheidung eines Kritisch- und eines Metaphysisch-Erhabenen für angebrachter. Das Metaphysisch-Erhabene vereindeutigt die ambivalente Kantische Position. Das Kritisch-Erhabene ist ihr getreuer und von daher das eigentlich kritische Gefühl im Sinne Kants. Es wird dem dynamischen Nebeneinander der Vermögen bei Kant gerechter, auch wenn es seine Hoffnung auf einen „beharrlichen Zustand" der Metaphysik enttäuschen muß. Es ist mehr als ein Gefühl. Es ist die kritische Haltung selbst. In dieser Haltung liegt auch die Aktualität des Kritisch-Erhabenen begründet, die der Niedergang der Meta-physik unberührt läßt. Das Erhabene zeigt - besonders in seiner mathematischen Form - das ästhetische Skandalon eines .Zuviel' oder .Zuwenig' an Wahrnehmung, wie es uns heute z.B. durch die Neuen Technologien begegnet. Es erlaubt aber auch eine kritische Distanz dazu. Auch wenn das Kritisch-Erhabene Kants .Beruhigungsabsichten' vereitelt: Es kann den Anspruch erheben, im Geiste des kritischen Richters, für heutige Zustände angemessen zu verfahren. Angesichts der fehlenden metaphysischen Absicherung eines festen kritischen Standpunktes ist die Minimaldistanz, die das Kritisch-Erhabene durch den Perspektivenwechsel gewährt, aktueller denn je.

3 Diese Abkehr von einer vertikalen Vorstellung der Meta-physik zugunsten eines unendlichen Horizonts der Möglichkeit scheint mir beispielsweise für Lyotards aktualisierende Sicht des Erhabenen entscheidend sein.

Literaturverzeichnis

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Jacoby, G. 18 Jauß, H.R. 27 Jean Paul (F. Richter) 24 Jünger, E. 14

Odebrecht, R. 15, 61 Oelmüller, W. 24,26 Oesterle, G. 26f. Otto, R. 30

Kallendorf, C. 12 Kaulbach, F. 23, 49, 61, 64, 72, 74, 86, 93, 95, 106f„ 112 Kennington, R. 36 Kingeling, W. 164 Kirchbaum, J.H.v. 15 Koopmann, H. 17 Kopernikus, Ν. 187 Koselleck, R. 165

Peña Aguado, M.I. 17 Petersen, J. 17 Platon 109, 124 Pries, C. 12-14, 19, 24, 32f„ 36f., 50

Lacoue-Labarthe, P. 32 Lambert, J.H. 168 Lehmann, G. 106 Leibniz, G.W. 150,162,176 Lessing, G.E. 16 Lipps, T. 28-30,40 Litman.T.A. 12 Locke, J. 167 Lohner. E. 19 Longinus (Pseudo-) llf., 101 Lotze. R.H. 28, 30f. Lyotard. J.-F. 9, 32, 36. 39. 95, 101, 115, 129, 140, 195

Nahm, M.C. 70 Nancy, J.-L. 32 Napoleon I., Bonaparte 24 Neumann, Κ. 110 Nicklaus, H.-G. 14 Nicolai, W. 95 Nicolin, F. 34 Nietzsche, F. 31,33-35 Nivelle, A. 162

Rasche, W. 19 Raulet, G. 139 Reese-Schäfer, W. 15 Reijen, W.v. 139 Riethmüller, A. 31 Ritter, J. 12 Rogozinski, J. 32, 139 Rosenkranz, Κ. 26f. Rossaint, J. 28-30, 70 Schasler, M. 26f. Schelling, F.W.J. 20-22, 95 Schiller, F. 14, 16-18, 23, 25, 28, 34, 59, 95, 115, 162,194f. Schlegel, A. W. 18-20,22,95 Schlegel, F. 18f., 22, 26, 95 Schmalenbach, H. 30 Schmidt, P. 24.191

Namenverzeichnis Schmitz, H. 37 Schopenhauer, A. 23f., 194 Schulz, G.-M. 16 Seidl, A. 27f„ 30 Shapiro, G. 115 Snell, F.W.D. 17 Solger, K.W.F. 21f. Souriau, E. 32 Spierling, V. 24 Steffens, N. 9 Strauss, R. 14 Suphan, B. 17 Szondi, P. 16, 22,68

Vietor, K. 12,31 Vischer, F.T. 16, 24-26, 28, 31f„ 38,162 Wagner, H. 12 Wagner, R. 14 Weischedel, W. 32-35, 37f., 140,168 Weiskel, T. 15,36 Weisse, C.H. 24,26 Wellbery, D.E. 36 Wellmer, A. 33,95 Welsch, W. 9 , 2 4 , 3 3 , 3 5 , 5 0 Wetzel, M. 37 White, H. 122 Wiese, Β.v. 17 Witasek, S. 28

Taureck, B. 15 Tonelli, G. 12 Tschierske, U. 16

Wolff, C.F.V. 165

Ueding, G. 12 Unger, R. 65 Unruh, F. 27f.

Zeising, Α. 29 Zelle, C. 12f. Ziesmann, A. 9 Zill, R. 9 Zimmermann, R. 26, 29

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