Berechenbare Vernunft: Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert [Reprint 2013 ed.] 9783110847079, 9783110121063

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Berechenbare Vernunft: Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert [Reprint 2013 ed.]
 9783110847079, 9783110121063

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
I. Prolog. Die Entdeckung der symbolischen Differenz in der griechischen Mathematik und ihre ontologische Legitimation durch Platon
1. Über einen vernachlässigten Aspekt der Wissenschaftsgeschichte
2. Die magische Identität von Symbol und Symbolisiertem in der pythagoreischen Rechensteinarithmetik
3. Die Entdeckung der Inkommensurabilität und die Genesis rein symbolischer Beweisverfahren
4. Die Erschütterung der pythagoreischen arithmetica universalis: eine etymologische Spurensicherung
5. Ein Beispiel für die symbolische Differenz: Strecken als Veranschaulichung von Zahlen
6. Die philosophische Legitimation der symbolischen Differenz durch Platon
7. Gebrauchten die Griechen mathematische Symbole formal? Die Problematik des Terminus „geometrische Algebra“
8. Ein Resümee
II. Hauptteil. Die Verdrängung des ontologischen Symbolismus durch den operativen Symbolismus in der Neuzeit
1. Die neuzeitliche Mathematik als Pionierin des operativen Symbolgebrauches
1.1. Die Implikationen der Kalkülisierung. Drei Thesen zur Einleitung
1.2. Die Verschriftlichung des Rechnens: Eine formale Sprache wird zur Kulturtechnik
1.3. Das Buchstabenrechnen und die Entstehung der modernen Algebra
1.4. Descartes’ Analytische Geometrie
1.5. Leibnizens Infinitesimalkalkül
2. Rationalistische Epistemologie: die Entdeckung der Symbole als Technik
2.1. Mathematik und Methode beim jungen Descartes (1619-1628)
2.2. Symbolische Erkenntnis und die symbolische Konstitution des Erkenntnisgegenstandes bei Leibniz
2.3. Formale Identität und die Grenzen der symbolischen Erkenntnis
III. Ergebnisse
Verzeichnis der zitierten Literatur
Personenregister
Sachregister

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Sybille Krämer Berechenbare Vernunft

w DE

G

Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Günther Patzig, Erhard Scheibe, Wolfgang Wieland

Band 28

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1991

Berechenbare Vernunft Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert von

Sybille Krämer

Walter de Gruyter · Berlin · New York

1991

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

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der Deutschen Bibliothek

Krämer, Sybille: Berechenbare Vernunft : Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert / von Sybille Krämer. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1991 (Quellen und Studien zur Philosophie ; Bd. 28) Zugl. Kurzfassung von: Düsseldorf, Univ., Habil.-Schr., 1988 u.d.T.: Krämer, Sybille: Operativer Symbolismus — neuzeitliche Mathematik und rationalistische Epistemologie ISBN 3-11-012106-9 NE: G T

© Copyright 1991 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, D-1000 Berlin 30 Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, D-1000 Berlin 61

Vorwort Diese Studie ist eine verkürzte Version eines Textes, den die Philosophische Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf 1988 unter dem Titel „Operativer Symbolismus. Neuzeitliche Mathematik und rationalistische Epistemologie" als Habilitationsschrift angenommen hat. Oswald Schwemmer betreute diese Arbeit. Zwei Kapitel meiner Habilitationsschrift sind bzw. werden getrennt publiziert: „Über das Verhältnis von Algebra und Geometrie in Descartes' ,Geometrie'" ist veröffentlicht in „Philosophia naturalis" Bd. 26 (1989) Heft 1; „Zur Begründung des Infinitesimalkalküls durch Leibniz" wird in der Philosophia naturalis, vorauss. Bd. 28 (1991) publiziert. Beide Kapitel erscheinen in dem vorliegenden Buch nur noch in Gestalt einer Zusammenfassung der dort veröffentlichten Ergebnisse. Herausgenommen wurde der Epilog der Habilitationsschrift „Berechenbare Vernunft. Über die geschichtlichen Wurzeln Künstlicher Intelligenz", da ich mich den philosophischen Grundlagen Künstlicher Intelligenz in einer gesonderten Studie zuwenden möchte. Jürgen Mittelstraß empfahl die Arbeit dem de Gruyter-Verlag. Erhard Scheibe und Ernst Tugendhat danke ich für viele anregende und klärende Hinweise zu meiner Arbeit. Meinen Dank auch Frau Tost, die mir bei den Korrekturen half. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft ermöglichte mit einer großzügigen Beihilfe die Drucklegung dieser Studie. Auch ihr sei dafür herzlich gedankt. Berlin, im Dezember 1990

Sybille Krämer

Inhaltsverzeichnis Vorwort

V

Einleitung

1

I. Prolog. Die Entdeckung der symbolischen Differenz in der griechischen Mathematik und ihre ontologische Legitimation durch Piaton 1. Über einen vernachlässigten Aspekt der Wissenschaftsgeschichte 2. Die magische Identität von Symbol und Symbolisiertem in der pythagoreischen Rechensteinarithmetik 3. Die Entdeckung der Inkommensurabilität und die Genesis rein symbolischer Beweisverfahren 4. Die Erschütterung der pythagoreischen arithmetica universalis: eine etymologische Spurensicherung 5. Ein Beispiel für die symbolische Differenz: Strecken als Veranschaulichung von Zahlen 6. Die philosophische Legitimation der symbolischen Differenz durch Piaton 7. Gebrauchten die Griechen mathematische Symbole formal? Die Problematik des Terminus „geometrische Algebra" . . . 8. Ein Resümee II. Hauptteil. Die Verdrängung des ontologischen Symbolismus durch den operativen Symbolismus in der Neuzeit 1. Die neuzeitliche Mathematik als Pionierin des operativen Symbolgebrauches 1.1. Die Implikationen der Kalkülisierung. Drei Thesen zur Einleitung 1.1.1. Entkoppelung von Konstruktion und Interpretation 1.1.2. Sprachen werden zur Technik 1.1.3. Zeichen werden zu handhabbaren Gegenständen

7 7 12 32 45 50 53 70 85

88 88 88 88 89 93

Vili

Inhaltsverzeichnis

1.2. Die Verschriftlichung des Rechnens: Eine formale Sprache wird zur Kulturtechnik 1.2.1. Das Brettrechnen als nicht-formale Rechentechnik 1.2.2. Zahldarstellung im dezimalen Positionssystem . . 1.2.3. Exkurs übr die Wortgeschichte von „cifra" . . . . 1.2.4. Schriftliches Rechnen als Gebrauch einer syntaktischen Maschine 1.3. Das Buchstabenrechnen und die Entstehung der modernen Algebra 1.3.1. Was heißt „Buchstabenrechnen?" 1.3.2. Rhetorische und symbolische Algebra 1.3.3. Viètes Anknüpfen an die antike Analysis und ihre Umdeutung 1.3.4. Über Implikationen und Folgen des symbolischen Verfahrens der „ars analytice"

97 99 105 Ill 114 124 124 126 133 143

1.4. Descartes' Analytische Geometrie

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1.5. Leibnizens Infinitesimalkalkül

152

2. Rationalistische Epistemologie: die Entdeckung der Symbole als Technik 2.1. Mathematik und Methode beim jungen Descartes (1619-1628) 2.1.1. Die Interpretationshypothese: die analytische Ausrichtung der cartesischen Methode impliziert ein elementares symbolisches Verfahren 2.1.2. Das Verhältnis der „Regulae" zum „Discours" . . 2.1.3. Plan und Datum der „Regulae" 2.1.4. Regel 1 — 8: die Algebra als Problemlösungsverfahren 2.1.4.1. Geometrische Analysis und ihre MißVerständnisse 2.1.4.2. Die Umbildung der Analysis durch Diophant und Viète 2.1.4.3. „Deduktion" 2.1.4.4. „mathesis universalis" I: Regel 4 2.1.5. Regel 12 ff.: das symbolische Verfahren der Analysis und die „mathesis universalis" II 2.1.6. Ein Resümee

159 159

159 163 167 170 173 177 181 192 201 213

Inhaltsverzeichnis

IX

2.2. Symbolische Erkenntnis und die symbolische Konstitution des Erkenntnisgegenstandes bei Leibniz 220 2.2.1. Vier Hypothesen über Zeichen und Denken bei Leibniz 220 2.2.2. Instrumentelle versus kommunikative Funktion von Sprache. Die konstitutive Rolle der Zeichen für das Denken 226 2.2.3. Künstliche versus natürliche Sprachen: der Kunstcharakter der rationalen Grammatik 2.2.4. Ecriture versus parole: characteres versus figurae. Ein neuer Typus von Schriftlichkeit 254 2.2.5. Formalismus versus Intuitionismus, die Idee des Kalküls 267 2.2.5.1. Das Verhältnis von Kombinatorik und Algebra: die Idee vom interpretationsfreien Gebrauch der Zeichen 269 2.2.5.2. Die Organisation der Zeichen in autonomen Systemen: die Kalkülisierung und ihre Implikationen 279 2.2.6. Konstruktion versus Abbildung: Darstellen als Generierung des dargestellten Gegenstandes . . . 295 2.2.6.1. „Expressio" als mathematische Abbildung 298 2.2.6.2. Die Ideen als „Gegenstände" des Erkennens 305 2.2.6.3. Kausale Definition als syntaktische Konstruktion 311 2.2.6.4. Symbolische Erkenntnis als modellbildende Vernunft 318 2.2.6.5. Wie „platonisch" ist Leibnizens Erkenntnistheorie? Ein Resümee 325 2.3. Formale Identität und die Grenzen der symbolischen Erkenntnis 328 2.3.1. Vier Hypothesen über „Identität" bei Leibniz . . 328 2.3.2. Das „gegenstandstheoretische Mißverständnis" und Ansätze zu seiner Überwindung 330 2.3.3. Die Substitution „salvis calculis legibus" 340 2.3.4. Die Substitution „salva veritate" 345 2.3.5. Formale Identität als ideales Konstrukt 356

χ

Inhaltsverzeichnis

2.3.6. Der Ununterscheidbarkeitssatz: der Ausschluß des Individuellen aus der formalen Erkenntnis . . . . 2.3.7. Ein Resümee III. Ergebnisse

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Verzeichnis der zitierten Literatur

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Personenregister

418

Sachregister

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Einleitung Zwei Lesarten ermöglicht die vorliegende Studie. In einer engeren Lesart kann sie interpretiert werden als eine Untersuchung über den Einfluß der neuzeitlichen Mathematik auf die Herausbildung der rationalistischen Theorie des Erkennens. In ihrer weiteren Lesart kann sie Aufschluß geben über einen Umbruch in den symbolischen Grundlagen des wissenschaftlichen Erkennens in der Neuzeit. Im Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert bahnt sich in der Mathematik eine Neuerung an, die tiefgreifende Folgen zeitigt für die Physiognomie des neuzeitlichen Denkens. Einem ersten Blick erweist diese sich als die Einführung neuartiger mathematischer Problemlösungsverfahren, welche unter dem Stichwort „Kalkülisierung" rubrizierbar sind. Der Kunstgriff der Kalkülisierung besteht darin, ein Problem mit Hilfe einer künstlichen Sprache so auszudrücken, daß die Schritte des Problemelösens als schrittweise Umbildung symbolischer Ausdrücke sich gestalten lassen, wobei die Regeln dieser sukzessiven Umgestaltung ausschließlich Bezug nehmen auf die syntaktische Gestalt der Symbolismen, nicht aber auf das, was die Symbole bedeuten, wofür sie „stehen". Dieses interpretationsfreie Operieren mit Symbolen zum Zwecke des Problemelösens sei „operativer Symbolgebrauch" genannt. Einem konzentrierteren Blick also enthüllt sich die Kalkülisierung der mathematischen Problemlösungsverfahren als Inthronisierung einer neuen Weise des wissenschaftlichen Symbolgebrauches, deren Insignie die mathematische Formel ist. Wo die Kalkülisierung sich als Problemlösungsverfahren anbietet, wächst den Zeichen eine neuartige Aufgabe zu. Nicht länger bleiben sie bloßes Medium zur Darstellung ihnen vorausgesetzter „außersymbolischer" Gegenstände, dienen ausschließlich kommunikativer Absicht: vielmehr werden die Symbolismen instrumenteil genutzt, werden zu einem Medium des operativen, „stellvertretenden" Umgehens mit den Gegenständen. Wo künstliche Sprachen in dieser Weise als „Technik" eingesetzt werden, entstehen formale Sprachen. Die Einführung des operativen Symbolgebrauches erweist sich so als die Entdeckung, daß symbolische Sy-

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Einleitung

steme in Gestalt formaler Sprachen als technische Instrumente nutzbar sind. Die Technisierung des Umgehens mit Symbolen im Kalkül fußt auf einer unabdingbaren Voraussetzung und führt zu einer weitreichenden Konsequenz. Die Voraussetzung besteht darin, daß der operative Symbolgebrauch an gewisse mediale Eigenschaften der symbolischen Systeme gebunden ist, an stoffliche „Mindestvoraussetzungen": Mit Rauchzeichen lassen sich keine formalen Systeme aufbauen. Diese medialen Mindestanforderungen sind erfüllt mit Ausbildung eines von der phonetischen Schrift zu unterscheidenden Schrifttypus, der typographischen Schrift, welche als ein Medium der handgreiflichen Vergegenwärtigung des Beschriebenen taugt. Die Konsequenz liegt darin, daß der operative Symbolismus sich zugleich als ein subtiles Verfahren der Erzeugung der Gegenstände, mit denen operiert wird, erweist. Die Zahl Null kann erst entstehen, nachdem die Ziffer 0 systeminternen Zwängen beim Aufbau des dezimalen Positionssystems entsprungen ist. Operative symbolische Systeme werden in einem buchstäblichen Sinne als Technik genutzt: Sie dienen nicht nur dazu, Symbolkonfigurationen zu erzeugen, sondern sind darüber hinaus mitbeteiligt an der Erzeugung dessen, was als mögliche Referenzgegenstände der Symbolkonfigurationen überhaupt in Frage kommt. In welcher Weise die Voraussetzungen und Folgen des operativen Symbolgebrauches ineinandergreifen, zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die elementare Arithmetik. Das indische dezimale Positionsssystem, welches im 14. und 15. Jahrhundert in die abendländische Arithmetik Eingang fand, steht nicht nur in Opposition zum schriftlichen römischen Zahlzeichensystem, insofern es sowohl zur Zahlendarstellung wie auch zur Durchführung der Rechenoperationen taugt. Es steht auch in Opposition zu den verschrifteten Zahlworten, insofern es sich als ein schriftliches System sui generis erweist: Im Unterschied zur phonetischen Schrift ist es gegenüber dem Medium der Lautsprache autark; die Strukturen dieses typographischen Schriftbildes bilden nicht einfach die Strukturen im Flusse der mündlichen Rede ab, sondern sind „Eigenschöpfungen" des visuellen Systems. Typographische Schriften sind autonom geworden gegenüber der mündlichen Sprache; in ihr können sie allenfalls ver-sprachlicht werden. Dieser Autarkie der Schrift gegenüber der Sprache — in formalen Sprachen können wir nur schreiben, nicht reden — entspricht eine Autarkie gegenüber den Gegenständen referentieller Interpretation. Das Beispiel

Einleitung

3

der Null — an dem nur besonders plastisch zutage tritt, was für alle Ziffern gilt — zeigt, daß der Konstruktion der Zeichen die Interpretation ihrer Referenzobjekte nachfolgt: Dem neuzeitlichen Zahlbegriff, der — anders als der griechische arithmos-Begriff — nicht mehr am Abzählen, sondern am Sich-in-den-Ziffern-Auskennen orientiert ist, gilt als Zahl, was als Referenzgegenstand eines arithmetischen Symbols, mit dem regelgerecht verfahren werden kann, interpretierbar ist. Was hier im Schöße der elementaren Arithmetik wie auch der alltäglichen Rechenpraxis sich abzeichnet, erfährt seine elaborierte Fortsetzung in der höheren Analysis: Die Ausbildung der Buchstabenalgebra, die analytische Geometrie und der Infinitesimalkalkül sind weitere Meilensteine auf dem Weg kalkülisierenden Umganges mit den mathematischen Symbolismen. Und immer findet sich hier ein Zusammenhang zwischen der typographischen Verschriftlichung von Problemlösungsverfahren, der operativen Nutzung der Symbolismen und der Konstitution der Gegenstände, die als mögliche Referenzgegenstände der Symbolismen eingeführt werden können, durch das operative symbolische Verfahren. Am „Setzen" dieser Meilensteine des neuzeitlichen mathematischen Fortschrittes sind rationalistische Philosophen federführend beteiligt. Descartes gilt als Wegbereiter der Analytischen Geometrie; Leibniz wird zum Begründer der kalkülisierten Infinitesimalmathematik. Die Frage drängt sich auf, ob solches mathematische Ingenium nicht seine Spuren hinterlassen müsse in den epistemologischen Positionen der beiden Philosophen. Nun ist die Frage nach dem Einfluß der Mathematik auf die rationalistische Konzeption des Erkennens nicht neu. Und fast schon zum Kanon der philosophiehistorischen Gemeinplätze gehört die Feststellung, daß dieser Einfluß sich mittels des Ideals eines axiomatisch-deduktiven Theorienaufbaus geltend gemacht habe, welches zum Leitbild auch der außermathematischen, philosophischen Erkenntnis avancierte. Wie alle Gemeinplätze: falsch ist diese Ansicht nicht. Und doch versäumt sie die eigentliche Nahtstelle zwischen mathematischer Methode und rationalistischer Epistemologie, zumindest bei denjenigen Philosophen, die schöpferischen Anteil trugen an den Fortschritten der neuzeitlichen Mathematik. Wenn es so ist, daß das eigentlich „Neuzeitliche" an der neuzeitlichen Mathematik gerade nicht in ihren Begründungsverfahren, sondern in ihren Problemlösungsprozeduren liegt, und wenn für letztere der operative Gebrauch von Symbolen konstitutiv ist, liegt die Vermutung nahe, daß die Mathematik der rationalistischen Epistemologie zum Vorbild wird in

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Einleitung

bezug auf die ihr eigene Weise des operativen Symbolgebrauches. Diese Vermutung ist die Hypothese, von welcher die vorliegende Studie ausgeht und die durch Untersuchung erkenntnistheoretischer Schriften von Descartes und Leibniz überprüft werden soll. Solche Überprüfung schließt ein zu analysieren, ob mit der Übernahme der Idee des operativen Symbolgebrauches nicht auch — implizit oder explizit — die medialen Voraussetzungen und gegenstandskonstitutiven Folgen des operativen Symbolismus „importiert" werden. Hier ergibt sich ein spannender Punkt dieser Studie, wird sich doch zeigen, daß die Ausrichtung des Methodengedankens beim jungen Descartes am analytischen Verfahren der Mathematik eben die symbolische Konstitution der Gegenstände, die diesem methodischen Verfahren überhaupt unterworfen werden können, nach sich zieht. Und wird sich zugleich auch zeigen, daß Leibniz sich nicht nur des Zusammenhanges zwischen der Kalkülisierung und der typographischen Schriftlichkeit bewußt ist, sondern überdies diesen Zusammenhang für die Konstitution der Erkenntnisgegenstände zu nutzen weiß: Mit dem Konzept seiner für das menschliche Erkenntnisvermögen letztlich allein möglichen „symbolischen oder blinden Erkenntnis" werden die Gegenstände des wissenschaftlichen Erkennens nur noch in Gestalt ihrer symbolischen Repräsentanten erfahrbar und verfügbar. Und die Möglichkeit, Wahrheitsbeweise auf Richtigkeitsnachweise, d. h. also das Umgehen mit inhaltlich gedeuteten Symbolen auf ein rein syntaktisches Operieren zurückzuführen, wird für Leibniz zum einzig möglichen „Ariadnefaden", der einem Denken, das über seine Gegenstände nicht mehr „symbolfrei" zu verfügen vermag, im Labyrinth der symbolisierten tatsächlichen Wissensbestände und bloßen Chimären, Erkenntnisgewißheit garantiert. Ist die These vom operativen Symbolismus als der Nahtstelle zwischen neuzeitlicher Mathematik und cartesischer und leibnizscher Epistemologie zu belegen, so werden wir — und hier gelangen wir zur zweiten, zur erweiterten Lesart dieser Untersuchung — zum Zeugen eines folgenreichen Umbruches im Gefüge der intellektuellen Semantik der Neuzeit, d. h. der Art und Weise, in der die Zeichen, die wir beim Denken gebrauchen, Sinn und Bedeutung erhalten. Im Modell der klassischen episteme, wie es uns durch die griechische Mathematik überliefert ist, wird selbstverständlich vorausgesetzt, daß beim wissenschaftlichen Symbolgebrauch die Symbole für wohlbestimmte Gegenstände stehen, die außerhalb der Symbole gegeben sind und den eigentlichen Bezugspunkt des mathematischen Tuns markieren. Dies gilt selbst noch für die Buchstabenvariablen der aristotelischen formalen Logik,

Einleitung

5

die stets für sinnvolle Ausdrücke des umgangssprachlichen logos, letztlich für Bestandstücke der Wirklichkeit selber stehen. Dieser Bezogenheit der Symbolismen auf außersymbolische Gegebenheiten korrespondiert ihre Abhängigkeit von denselben: Den Symbolen gehen die Gegenstände, welche sie repräsentieren, ontologisch voraus. Die Gegenstände sind zuerst da, ihnen kommt eine von den Symbolen unabhängige Existenz zu, demgegenüber die Symbole eine bloß abgeleitete, sekundäre — wenn man so will: entliehene — Existenz verkörpern. Eine Konzeption des Verhältnisses von Symbol und Symbolisiertem, das hier „ontologischer Symbolismus" genannt sei. In der platonischen Urbild-Abbildrelation, kraft derer die Symbole durch bloße Nachahmung entstehen und welche sich der Mathematiker zunutze machen kann, indem er in seinen Betrachtungen von den aisthetischen Abbildern ausgeht, um dann zu den rein noetischen Gegenständen als den eigentlichen Gegenständen des mathematischen Tuns zu gelangen, erfährt der „ontologische Symbolismus" seine erkenntnistheoretische Legitimation. Der operative Symbolgebrauch der neuzeitlichen Wissenschaft markiert eine Akzentverschiebung gegenüber der „klassischen" Semantik. Eine Akzentverschiebung, die so charakterisiert werden kann, daß nicht mehr die Dinge den Zeichen ihre Bedeutung verleihen, vielmehr die Zeichen die Dinge als epistemische Gegenstände erst konstituieren. Mit Symbolen interpretationsfrei zu operieren, heißt vorauszusetzen, daß die Symbole als manipulierbare Gegenstände zu behandeln sind, wie andere raum-zeitlich gegebene Gegenstände auch. Und in der Tat anerkennt Leibniz den „Doppelcharakter" der typographischen Ausdrücke, manipulierbare Objekte und zugleich interpretierbare Sätze zu sein. Eine „Doppelrolle", die das formale Umgehen mit Symbolen trefflich zu nutzen weiß. Leibniz entdeckt also die handgreifliche „Dingnatur" der Symbolismen und leistet damit einen wichtigen Beitrag für den abendländischen Weg einer Säkularisierung der Zeichen. Die Einführung des Experiments in der neuzeitlichen empirischen Naturwissenschaft findet so ihr Pendant in der Einführung des Kalküls in den apriorischen Wissenschaften. So wie „Natur" in Gestalt des Experiments, wird „Sprache" in Gestalt des Kalküls zu einem Gegenstand, der technischer Manipulierbarkeit und Reproduzierbarkeit verfügbar ist. Doch diese Verfügbarkeit gewährleistet zugleich eine Autarkie der Symbolismen gegenüber ihren Referenzgegenständen, kraft deren letztlich das Abhängigkeitsverhältnis zwischen beiden eine Umkehrung erfährt.

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Einleitung

Wo immer die Gegenstände des Erkennens nur noch in Gestalt kalkülisierter Zeichenausdrücke imaginierbar sind, die Imaginierbarkeit sich also zur Lesbarkeit sublimiert, da gehen die Symbolismen dem, was sie symbolisieren, „ontologisch" voraus; ist doch der Raum der symbolischen Systeme der einzige Ort, an dem die Gegenstände des Erkennens zu handgreiflicher Wirklichkeit gelangen. Nicht mehr verleihen die Gegenstände ihren symbolischen Darstellungsmitteln Existenz, vielmehr übernimmt die Existenz regelhaft konstruierter Symbolismen die Bürgschaft für das Gegebensein der Gegenstände, auf die sie referieren. Der Ubergang vom ontologischen zum operativen Symbolismus, als dessen Dokumentation sich vorliegende Studie versteht, schafft zugleich erst die Grundlagen einer Idee, welche im Zwanzigsten Jahrhundert zum Paradigma der Künstliche Intelligenz-Forschung ausgebildet wird: der Idee, daß alles Denken sich in operativem Symbolgebrauch manifestiert, so daß es möglich sei, die Regeln für das Umgehen mit bedeutungshaltigen Symbolen vollständig zurückzuführen auf die Regeln für das Operieren mit interpretationsfreien Symbolen.

I. Prolog. Die Entdeckung der symbolischen Differenz in der griechischen Mathematik und ihre ontologische Legitimation durch Piaton 7. Uber einen vernachlässigten

Aspekt der

Wissenschaftsgeschichte

Fast schon zum A B C der Wissenschaftsgeschichte gehört es, daß die Entstehung der Mathematik als einer Wissenschaft in engem Zusammenhang stehe mit dem beweisenden Charakter des mathematischen Wissens. ' Während die hochentwickelten mathematischen Kenntnisse der altorientalischen Völker, der Ä g y p t e r und Babylonier ζ. B., den Status eines „Rezeptewissens" gehabt haben 2 , ein K n o w - h o w gewesen seien, wie Probleme gelöst werden können, finde sich bei den griechischen Mathematikern erstmals der Beweis f ü r mathematische Sätze, die damit den Status eines apodeiktischen Wissens erhalten. 3 Die Scheidelinie zwischen der vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Mathematik verläuft dann gerade dort, w o das Problemlösungswissen durch ein Begründungswissen ersetzt, die Mathematik als bloße technë zur Mathematik als episteme umgestaltet, das K n o w - h o w durch das K n o w - t h a t verdrängt wird; ein

' Beispielhaft: S z a b ó 1969, 245: „ D e r h e r v o r s t e c h e n d s t e Z u g der griechischen M a t h e m a t i k ... ist eben jene Tatsache, d a ß in dieser die B e h a u p t u n g e n , die Sätze, i m m e r bewiesen w e r d e n " . Vgl. a u c h : S z a b ó 1956, 130 ff. 2 Z u r C h a r a k t e r i s i e r u n g der altorientalischen M a t h e m a t i k als ein Rezeptewissen v g l . v. d. W a e r d e n 1956, 118, der über die b a b y l o n i s c h e n m a t h e m a t i s c h e n T e x t s a m m l u n g e n schreibt: „F.s ist sehr schade, d a ß fast alle Texte n u r A u f g a b e n und L ö s u n g e n , aber keine H e r l e i t u n g e n enthalten. M a n g i b t die L ö s u n g w i e eine Art Rezept, o h n e zu sagen, w i e man sie g e f u n d e n hat". Vgl. auch: Struik 1980, 43; D a m e r o w 1981, 104 u. 116. M i t t e l s t r a ß 1974, 33 v e r w e i s t im A n s c h l u ß an van der W a e r d e n 1956, 120 f. d a r a u f , d a ß auch falsche Rezepte e i n i g e r m a ß e n b r a u c h b a r e Resultate lieferten. A l l e r d i n g s ist der „ R e z e p t e s t a t u s " des altorientalischen m a t h e m a t i s c h e n W i s s e n s nicht im Sinne der R e d u k t i o n der M a t h e matik auf p r a k t i s c h - w i r t s c h a f t l i c h e A u f g a b e n der V e r w a l t u n g s b e a m t e n zu verstehen, v g l . Becker 1954, 3. G e g e n solche, i m v o r t h e o r e t i s c h e n Sinne b l o ß p r a k t i s c h e A u s r i c h t u n g spricht z. B. die praktisch „ s i n n l o s e " A d d i t i o n einer L ä n g e und einer Fläche, w i e sie sich in: M a t h e m a t i s c h e Keilschrifttexte 1935, 1, 108 ff. findet. ' Z u m Beweis als U n t e r s c h e i d u n g s m e r k m a l der altorientalischen und griechischen M a t h e m a t i k : Becker 1957 a, 157; v. Fritz 1955, 13 ff.; M i t t e l s t r a ß 1974, 33; S z a b ó 1969, 243 ff.

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Die Entdeckung der symbolischen Differenz

Vorgang, dessen frühe und zugleich reife Frucht das axiomatisch-deduktive Beweisverfahren sei, das in Euklids Elementen theoretisch, in Aristoteles' Zweiter Analytik metatheoretisch formuliert ist und im indirekten Beweisverfahren sein „Glan2stück" findet.4 Die Entstehung der mathematischen Wissenschaft mit der Entstehung des deduktiven Beweisverfahrens in Zusammenhang zu bringen, ist zweifellos angemessen und soll hier nicht problematisiert werden. Und doch übersieht die Konzentration auf das Begründungsverfahren einen Tatbestand, den deutlich werden zu lassen Aufgabe dieses „Prologs" ist. Den Tatbestand nämlich, daß die Mathematik zur Wissenschaft erst werden kann, wenn spezifische Voraussetzungen erfüllt sind, die den Umgang mit den mathematischen Symbolen betreffen. In dieser Perspektive erweist sich die Fähigkeit, eine axiomatisch-deduktive Theorie über einen mathematischen Bereich von Gegenständen aufzubauen, an die Fähigkeit gebunden, zwischen den Gegenständen der Theorie und ihren symbolischen Darstellungsmitteln, mit denen der Mathematiker sich diese Gegenstände vergegenwärtigt, zu unterscheiden. Die Unterscheidung zwischen einem Symbol und dem, was das Symbol darstellt, sei „symbolische Differenz" genannt. 5 Die Entstehung der wissenschaftlichen Mathematik erweist sich unter diesem Aspekt zugleich als Prozeß der Entdeckung der symbolischen Differenz. Nun scheint die Fähigkeit zur symbolischen Differenz für die Frühgeschichte der griechischen Mathematik keineswegs selbstverständlich gewesen zu sein: Das deduktive Beweisverfahren ist nicht die einzige Form eines wissenschaftlichen Beweisverfahrens, welches uns durch die griechische Mathematik überliefert ist. Forschungen von Oskar Becker 6 , Wilbur R. Knorr 7 und Wolfgang Lefèvre 8 haben gezeigt, daß sich bereits für die pythagoreische Arithmetik, für jene Frühzeit der griechischen Mathematik also, die wir auf die Zeit von Pythagoras' Geburt 585 v. Ch. bis ca. 400 v. Ch. datieren, Beweisverfahren rekonstruieren lassen, die nicht theoretisch-deduktiv sind, da sie auf der Demonstration mit Rechensteinen, den

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6 7 8

Zum Ursprung des indirekten Beweisverfahrens: v. Fritz 1945/46; Szabó 1955; ders. 1960; ders. 1969, 287 ff. Wenn hier und im Folgenden von „Symbol" bzw. „Zeichen" gesprochen wird, so sei darunter ein sichtbares Gebilde verstanden, welches Träger einer nicht unmittelbar sichtbaren, nur noch verstehbaren Bedeutung ist. Becker 1934; ders. 1957 a, 40 ff. K n o r r 1975, insb. 131 ff. Lefèvre 1981.

Ein vernachlässigter Aspekt

9

psëphoi, beruhen, die in bestimmten Konfigurationen ausgelegt werden. 9 Eines der ältesten uns bekannten mathëma, beweisenden Lehrstücke also, welches die Pythagoreer durch ihre psêphoi-Technik zu demonstrieren vermochten, ist die sogenannte „Lehre vom Geraden und Ungeraden". 1 0 Euklid hat im Buch IX diese Lehre aufgenommen, verändert allerdings gerade in der Weise, in der der Beweis ursprünglich geführt wurde. An die Stelle von Demonstrationen mit Hilfe der psêphoi-Technik sind axiomatisch-deduktive Ableitungen getreten: von den psephoi-gestützten Überlegungen findet sich bei Euklid keine Spur mehr. Was aber ist der Grund für einen solchen radikalen Wechsel in der Beweismethodik? Einen Wechsel, dem selbst wertvolle zahlentheoretische Erkenntnisse der Pythagoreer zum Opfer fielen, die durch das psëphoiVerfahren evident gemacht werden, nicht aber axiomatisch-deduktiv bewiesen werden konnten und daher in Euklids arithmetischen Büchern nicht mehr erscheinen? 11 Arpad Szabó schreibt den „gesamte(n) Aufbau der systematisch-deduktiven Mathematik der Griechen dem ... eleatischen Einfluß" zu, insbesondere das „Sich-Abwenden von dem Empirismus und vom Bloß-Anschaulichen in der griechischen Mathematik". 1 2 Zweifelsohne: in der Schule der Eleaten (etwa 580 — 430) formte sich philosophisch erstmals das „methodische Prius des schlußfolgernden Denkens" 1 3 aus, eine Leistung, ohne die die axiomatisch-deduktive Denkform nicht als Fundament wissenschaftlicher Beweisführung sich hätte anbieten können. Doch solche Denkform ist erst nötig, wo das Vertrauen in die Überzeugungskraft der Phänomene, die es erlauben, durch Anschauen zu beurteilen, wie sich etwas verhalte, nachhaltig erschüttert ist. Nun gilt für die psëphoi-Arithmetik solche Abwendung vom Anschaulichen gerade noch nicht, gelangten doch die pythagoreischen Arithmetiker zu ihren zahlentheoretischen Einsichten durch das praktische Operieren mit Rechensteinen, kraft deren Zahleneigenschaften als Eigenschaften in bestimmter

' Auch für die Geometrie kann die Existenz archaischer, vor-deduktiver Beweisformen, bei denen es nicht darum geht, aus vorausgesetzten Sätzen durch logische Deduktion weitere Sätze abzuleiten, nachgewiesen werden, etwa in Beweisen des Thaies. Vgl. Mittelstraß 1974, 36. 10 Vgl. Becker 1954, 38; Reidemeister 1949, 34. " Zu diesen von den Pythagoreern entdeckten, jedoch von Euklid nicht aufgenommenen arithmetischen Kenntnissen gehört z. B., daß die arithmetische Reihe der ungeraden Zahlen, ausgehend von der Eins, die Reihe der Quadratzahlen ergibt. Aristoteles spielt darauf an: Met. 1092 b 12. Weitere Beispiele: Becker 1964, 34 ff. 12 Szabó 1 9 6 9 , 2 9 1 . 13 Stachowiak 1 9 7 1 , 3 1 .

10

Die E n t d e c k u n g der symbolischen Differenz

Weise ausgelegter Rechensteinkonfigurationen einsichtig gemacht werden konnten. Ist die Abwendung vom Anschaulichen, die dann tatsächlich statthat, mit der Verdrängung der psêphoi-Technik des Beweisens durch den axiomatisch-deduktiven Beweis, ausschließlich externen, philosophischen Einflüssen zuzuschreiben?14 Könnte nicht auch ein innermathematischer Vorgang zu jener Erschütterung anschaulicher Evidenz geführt haben, welche erst den Boden bereitete für die Suche nach andersgearteten Beweisverfahren? In der Tat: eine solche Erschütterung hat es gegeben. Sie bestand in der noch den Pythagoreern zugeschriebenen Entdeckung der Inkommensurabilität. Die Bedeutung dieser Entdeckung liegt weniger darin, eine „Grundlagenkrisis" der Mathematik verursacht zu haben — neuere Forschungen haben gezeigt, daß von einer Krisis in den Grundlagen der griechischen Mathematik keineswegs gesprochen werden kann. 15 Vielmehr darin, daß ein mathematischer Sachverhalt entdeckt war, der mit den Mitteln der archaischen Beweistechnik nicht mehr zu demonstrieren war. Die Grenzen dieser archaischen Beweismittel sind aber zugleich die Grenzen einer spezifischen symbolischen Praxis, die wir im Anschluß an Cassirer als „magischen Symbolismus" kennzeichnen können. 16 Die pythagoreische Zahlenfigurierung macht keinen Unterschied zwischen dem arithmetischen Gegenstand Zahl und der sinnlich wahrnehmbaren Zahlenfigurierung, erweisen sich doch die Eigenschaften der Zahlen gerade als die Eigenschaften der Zahlenfigurationen. Darstellungsmittel und dargestellter Gegenstand brauchen noch nicht unterschieden zu werden. Doch der Beweis für die Inkommensurabilität, der nach Kurt v. Fritz bereits dem Pythagoreer Hippasos von Metapont zuzuschreiben ist 17 , erfordert den Übergang zu Beweismethoden, die auf einer klaren Unterscheidung zwischen sinnlich sichtbarem Zeichen und seiner nicht-anschaulichen Bedeutung beruhen, nimmt dieser Beweis doch Bezug auf Operationen, die ad infinitum fortzusetzen sind und daher am anschaulichen Medium, in dem die ma-

14

E i n e „externe" Beeinflussung favorisiert Szabó 1969, 289 in Abgrenzung zu Reidemeister 1949, 10 f., der die Entstehung der theoretischen Denkungsart eher intern, aus dem U m g a n g mit Zahlen und Figuren selbst, ableitet.

15

Die Idee einer Krisis der Mathematik, verursacht durch die E n t d e c k u n g der I n k o m m e n surabilität, geht zurück auf Tannery 1887, 98, der hier allerdings nur den Zusammenbruch der alten T h e o r i e der Proportionen als Ergebnis der E n t d e c k u n g der Inkommensurabilität behandelt. Von einer „Grundlagenkrisis" sprechen dann Hasse/Scholz 1928. Z u r kritischen Auseinandersetzung mit der Annahme einer griechischen Grundlagenkrisis der Mathematik vgl. Freudenthal 1966.

16

Cassirer 1 9 2 3 - 2 9 , I I , 46 ff. V. Fritz 1954.

17

Ein vernachlässigter Aspekt

11

thematischen Gegenstände zur Darstellung gelangen, praktisch nicht mehr gezeigt werden können. Die Entdeckung der Inkommensurabilität führt so auf die Grenzen der magischen Identität von Symbol und Symbolisiertem. Indem das Beweisverfahren für die Inkommensurabilität zweier Strekken die symbolische Differenz voraussetzt, bahnt ein neues Umgehen mit den Darstellungsmitteln mathematischer Gegenstände sich an, welches diese Gegenstände als theoretische und damit: wissenschaftliche Gegenstände erst eigentlich konstituiert. Zwar gibt es eine umfangreiche Literatur sowohl zur Entstehung der wissenschaftlichen Mathematik bei den Griechen wie auch zur pythagoreischen Rechensteinarithmetik und zur Entdeckung der Inkommensurabilität. Doch nirgendwo in diesen Studien finden sich die symbolischen Voraussetzungen für die Entstehung der wissenschaftlichen Mathematik, der Übergang also v o m magischen zum wissenschaftlichen Symbolgebrauch innerhalb der griechischen Mathematik selbst, auch nur thematisiert. 18 Dieses Defizit zeigt seine Auswirkungen. Z u m Beispiel darin, daß der griechischen Mathematik mathematische Einsichten unterlegt werden, zu denen erst auf der Grundlage von Formen des Symbolgebrauches zu gelangen ist, von denen bei den Griechen keine Spuren sich finden lassen. Es geht um den formalen Gebrauch von Symbolen, d. h. also um ein Operieren mit Symbolen nach Regeln, die auf die Bedeutung der Symbole keinen Bezug nehmen. Demgegenüber bleibt der griechische Gebrauch mathematischer Symbole nach Entdeckung der symbolischen Differenz der Leitfigur des „ontologischen Symbolismus" verpflichtet: wann immer mit Symbolen operiert wird, so entsprechen diesen wohlbestimmte Gegenstände, die die wirklichen Gegenstände mathematischen Tuns bilden und denen gegenüber die Wirklichkeit des Symbols eine abgeleitete, sekundäre bleibt. Piaton wird das ontologische Primat des noetischen mathematischen Gegenstandes gegenüber seinem aisthetischen Abbild deutlich aussprechen. Solange aber die Existenz des Symbols verankert wird in der Existenz des Symbolisierten, welche dem Symbol ontologisch vorgeordnet wird, solange auch bleibt der formale Gebrauch von Symbolen ausgeschlossen. Denn „Formalität" hat die „Emanzipation" der Zeichen gegenüber dem, 18

Eine A u s n a h m e bildet Lefèvre 1981, 167, der die These vertritt, daß die Ausbildung des deduktiven Beweisverfahrens im Z u s a m m e n h a n g stehe mit der Sprache als einem Mitte! der Repräsentation mathematischer O p e r a t i o n e n und zugleich darauf verweist, daß die V e r w e n d u n g der Sprache f ü r wissenschaftliche E r k e n n t n i s voraussetze, daß „die gesprochene Sprache schriftlich repräsentiert werden kann".

12

Die Entdeckung der symbolischen Differenz

was in ihnen zur Darstellung gelangt, zur Voraussetzung, kann anders doch die Idee, Symbole in Kalkülen zu organisieren, die zuerst aufgebaut und dann erst interpretiert werden können, nicht gefaßt werden. Der Gedanke, der die folgenden Überlegungen leitet, kann so ausgedrückt werden: Die Mathematik wird zur Wissenschaft bei den Griechen auf der Grundlage der symbolischen Differenz, welche die Unterscheidung zwischen den Mitteln symbolischer Vergegenwärtigung und dem vergegenwärtigten Gegenstand selbst voraussetzt. Doch die symbolische Differenz wird auf der Folie eines „ontologischen Symbolismus" thematisiert, der dadurch gekennzeichnet ist, daß der dargestellte Gegenstand dem Medium seiner sinnlichen Repräsentation ontologisch vorausgeht. Ein formaler Gebrauch von Symbolen aber ist mit dem Leitbild eines ontologischen Symbolismus nicht vereinbar. Dieser Gedanke muß weitgehend spekulativ bleiben, setzt seine Überprüfung doch mathematikgeschichtliche und philologische Studien voraus, die hier nicht geleistet werden können. Daher kann er Platz nur in einem „Prolog" beanspruchen, dort also, wo die Untersuchung, der diese Arbeit gewidmet ist, noch gar nicht eingesetzt hat. Und doch kann während dieses „Prologs" die Kulisse eingeführt werden, vor deren Hintergrund dann die neuzeitliche Genesis des formalen Gebrauches von Symbolen und der sich daran kristallisierenden philosophischen Reflexion umso deutlichere Konturen gewinnt.

2. Die magische Identität

von Symbol und Symbolisiertem Rechensteinarithmetik

in der

pythagoreischen

Die Pythagoreer kannten vier „mathêmata" 19 : Zahlentheorie (Arithmetika), Musiklehre (Harmonika), Geometrie (Geometria) sowie Astronomie (Astrologia). 2 0 Unter diesen vier Lehrfächern scheint die Arithmetik eine herausragende Rolle gespielt zu haben. 21 Dies legt einmal die pythagoreische Kosmologie nahe, in der die Zahl nicht nur als universelles Prinzip des Aufbaus der Dinge, sondern auch ihrer Erkennbarkeit gilt: „Und in der Tat hat ja alles, was man erkennen kann, eine Zahl. Ohne sie " Unter den mathemata verstanden die Pythagoreer ein geordnetes System von Sätzen mit Beweisen vgl. Reidemeister 1949. 20 v. d. Waerden 1956, 180. 21 V. d. Waerden 1947/49, 127; Knorr 1975, 132.

Pythagoreische Rechensteinarithmetik

13

läßt sich nichts erfassen oder erkennen", führt Philolaos aus. 2 2 Zum andern findet sich bei Diogenes Laertius der Hinweis, Pythagoras habe die Geometrie zur Vollendung gebracht und sich insbesondere ihrer arithmetischen Form gewidmet, woraus sich auf eine Bevorzugung des Arithmetischen schließen läßt. 2 3 Übereinstimmung besteht in der Forschung darin, daß als zentrale Bestandsstücke pythagoreischer Mathematik die Lehre vom Geraden und Ungeraden sowie die Lehre von den figurierten Zahlen anzusehen sind. 2 4 Doch darf die lückenhafte Quellenlage nicht vergessen werden: außer zerstreuten Äußerungen in vorsokratischen Fragmenten und einigen Hinweisen bei Piaton und Aristoteles 2 5 , finden sich systematische Ausführungen über die pythagoreische Arithmetik erst bei den späten, sogenannten neopythagoreischen Autoren; Nicomachus von Geresa (2. Jahrh. n. Ch.) 2 6 , Theon von Smyrna (2. Jahrh. n. Ch.) 2 7 , Iamblichus (4. Jahrh. n. Ch.) 2 8 und im Euklid-Kommentar des Proklos (5. Jahrh. n. Ch.) 2 9 Versuche, ein archaisches Stadium der pythagoreischen Arithmetik in Gestalt der psëphoi-Arithmetik zu identifizieren, sind prinzipiell nur als RekonstruktionsVersuche möglich. Daß es ein solches Stadium gegeben habe, läßt sich aus den folgenden Hinweisen erschließen: (1) Vom Komödiendichter Epicharmos (Mitte 5. Jahrh. v. Ch.) ist uns die folgende Anspielung überliefert: „Wenn einer zu einer geraden Zahl, meinethalben auch einer ungeraden einen Stein zulegen oder von den vorhandenen einen wegnehmen will, meinst du wohl, sie bliebe dieselbe?" 3 0 (2) Dieser Aussage entspricht eine Definition der ungeraden Zahl, die Euklid in Buch V I I , Def. 7 gibt, wenn er die ungerade Zahl als diejenige definiert, die sich um die Einheit von einer geraden Zahl unterscheidet.

22

Diels, 32 Β 4, vgl. auch Philolaus in Diels 32 Β 11 Zur Bedeutung von „ Z a h l " für die Pythagoreer vgl. Burnet 1930, 84 ff. (Pythagoras und frühe Pythagoreer), 2 7 6 ff. (Philolaus und späte Pythagoreer); K i r k / R a v e n 1966, 217 ff. (Pythagoras), 236 ff. (frühe Pythagoreer), 307 ff. (Philolaus und Eurytus).

21

Diogenes Laertius 1964, V I I I , 11. Becker 1954, 34 ff.; Lefèvre 1981, 124 ff.; K n o r r 1975, 134. Piaton, Politela, V I , 525 D / E ; Aristoteles Metaphysik 985 b, 23 ff.; 1053 b, 12/13; 1078 b, 21 ff.

24 25

Nicomachus 1866. T h e o n von Smyrna 1878. 2 8 Iamblichus 1891. 2 " Proklos Diadochos 1873. 26 27

3

" Diels, 13, 32.

14

Die Entdeckung der symbolischen Differenz

(3) Bei den neopythagoreischen Autoren finden wir gewöhnlich diskrete Repräsentationen in ihrer Diskussion des Gnomons und der figurierten Zahlen. (4) Aristoteles beschreibt den Pythagoreer Eurytos als jemanden, der „bestimmte, welches die Zahl von etwas sei ... indem er diejenigen, welche Zahlen in die Gestalten von Dreieck und Viereck stellen ... imitierte". 31 (5) Die antike Definition einer Einheit, aus welcher sich die Zahlen als Anzahlen von Einheiten zusammensetzten, lautet„Punkt ohne Position" wie wir aus Aristoteles' Metaphysik schließen können. 32 Der Mathematikhistoriker Oskar Becker zog aus diesen Hinweisen den Schluß auf ein archaisches Stadium griechischer Arithmetik, welches auf das 5. Jahrhundert zu datieren sei, und rekonstruierte deren Methodik der Demonstration von Zahleneigenschaften durch das Operieren mit Rechensteinen. 33 Zwar hat gegen diese Datierung James A. Philip Einwände erhoben und wollte der psêphoi-Methode allenfalls in der platonischen Periode eine Bedeutung zumessen. 34 Historisch aber spricht gegen diese Auffassung das auf die Mitte des 5. Jahrh. zu datierende EpicharmosFragment. Systematisch kann gegen Philip geltend gemacht werden, daß zu den Zeiten der platonischen Akademie, aus der uns eine deduktive Zahlentheorie überliefert ist, wie wir sie aus den Büchern VII, VIII und IX bei Euklid kennen, die Annahme einer vor-deduktiven Methodik des Beweises keinen Sinn macht 35 , wird sich doch zeigen, daß die in diesen Büchern niedergelegte Zahlentheorie bereits eine Antwort darstellt auf die internen Schwierigkeiten der psêphoi-Arithmetik und Piatons erkenntnistheoretische Überlegungen zur Mathematik eine Überwindung der symbolischen Grundlagen der psëphoi-Arithmetik markieren. Die Verwendung von Rechensteinen gehörte zur alltäglichen Rechenpraxis der Griechen 36 : das griechische Wort für „Rechnen" heißt ψηφίζειν, wörtlich: steinein. Da das griechische Ziffernsystem, gebildet aus den 31 32 33

34 35

36

Aristoteles Met. 1092b 1 0 - 1 4 . Aristoteles Met. 1016b 2 5 - 2 9 . Vor Becker hatte Burnet 1930,99 — 107 bereits die Annahme einer psëphoi-Arithmetik bei den Pythagoreern vertreten, ohne daß Becker darauf bezug nahm. Philip 1966, 103, 2 0 1 - 4 . So auch Knorr 1975, 137. Die Datierung der psëphoi-Arithmetik auf die Mitte des 5. Jahrhunderts wird unterstützt durch die Analogie, die Piaton zieht zwischen mathematischen Wissenschaften und der Kunst des Brettspielens, (pëtteutikë), Gorgias 450 c, d; Gesetze 8 1 9 d - 8 2 0 d . Auf diese Alltagsverwendung der Rechensteine wird in den mathematikgeschichtlichen Studien kaum bezug genommen. Ausnahmen: Heath 1960 I, 46 ff.; Lefèvre 1981, 134 ff.

Pythagoreische Rechensteinarithmetik

15

Buchstaben des griechischen Alphabets, kein Stellenwertsystem ist, resultiert daraus eine Schwerfälligkeit im schriftlichen Rechnen, die dazu führt, die Darstellung von Zahlen mit Hilfe des schriftlichen Ziffernsystems zu trennen vom Operieren mit Zahlen, das mit Hilfe von Rechensteinen auf dem Rechenbrett geschieht. 3 7 Diogenes Laertius spricht Solon den Satz zu, daß diejenigen, die unter dem Einfluß von Tyrannen stehen, wie Rechensteine auf dem Rechenbrett seien, da sie ab und zu für mehr, ab und zu auch für weniger ständen. 3 8 Und von Polybius ist uns die Bemerkung überliefert, daß die Menschen seien wie Rechensteine auf dem Rechenbrett, da sie, sehr zum Vergnügen der Rechner, jetzt den Wert eines Chalkous, im nächsten Augenblick jedoch den eines Talentes hätten. 3 9 Chalkous ( = !4s einer Drachme) und Talent aber sind die äußersten Spalten auf dem einzig uns erhaltenen griechischen Rechenbrett, der marmornen Salaminischen Rechentafel. 4 0 Daß gerade die Pythagoreer mit der Praxis des Rechenbrett-Rechnens vertraut waren, kann aus einer Bemerkung eines mittelalterlichen Autors der sogenannten Geometrie des Boethius geschlossen werden: Der Begriff „abacus" (άβάκιον; lat. abacus ist der Name für Rechenbrett) sei nur ein späterer Name für etwas, das ursprünglich „mensa Pythagorea" geheißen habe, zu Ehren des Meisters, der den Gebrauch des Rechenbrettes lehrte. 41 Die Entstehung der arithmetischen Wissenschaft, ein Vorgang, als dessen Pioniere wir die Pythagoreer ansehen, setzt nun ein mit der Umbildung der Rechensteine als einem Mittel alltäglicher Rechenpraxis zu einem Mittel der Erkenntnis von Zahleneigenschaften und deren Demonstration. 4 2 Bei den Pythagoreern werden die psêphoi heuristisch genutzt, indem sie Zahlen mit der Hilfe von Rechensteinen in bestimmten Konfigurationen auslegen. So entstehen die figurierten Zahlen 4 3 : Dreieckszahlen, Quadratzahlen und heteromeke Zahlen, die offenbar auf Pythagoras selbst zurückgehen. 4 4

37 38 39 4,1 41 42

43 44

Zur griechischen Rechenpraxis: Heath I 9 6 0 1 , 4 6 ff.; Ifrah 1 9 8 6 , 1 3 6 ff. Diogenes Laertius 1964, I, 59. Zit. Menninger 1979, I I , 106. Z u r Salamischen Rechentafel: Menninger 1979, II, 104, 109. Boethius 1867, 3 9 6 f. A u f die Transformation der Rechensteine aus einem Mittel alltäglicher Rechenpraxis zu einem Instrument arithmetischer Demonstration, verwies bereits Lefèvre 1981, 135. Aristoteles Met. 1092 b 12. Vgl. Heath 1960, I, 76.

Die E n t d e c k u n g der symbolischen Differenz

16

Wenn wir die Lehre von den figurierten Zahlen, über die uns vor allem Nicomachus von Geresa 4 5 und Theon von Smyrna aufklären 4 6 , systematisch betrachten — über die Stufen ihrer historischen Herausbildung findet sich ein Uberblick bei K n o r r 4 7 —, so ist die Figur des „gnömön" grundlegend. Gnömön ist ein Zahlenwinkel, ausgelegt mit psëphoi, der entsteht, ζ. B. als die Differenz zweier aufeinanderfolgender Quadratzahlen: · — · — ·I

• — ·I

·

·



·

·

·

I· ·

So etwa beschreibt Aristoteles 4 8 die Entstehung der Quadratzahlen und Heteromeke (in moderner Notation: Zahlen von der Form η (η + 1)) durch Hinzufügen von Gnomonen. Daß die gegenständlichen Operationen mit Gnomonen den Charakter einer technê durchaus bewahren, zeigt uns die Herkunft des Wortes. γνώμων, wörtlich: „Zeiger", war ursprünglich der Bestandteil eines astronomischen Instrumentes zur Zeitmessung, nämlich der senkrechte Stab der Sonnenuhr. 4 9 Sodann findet der Terminus Verwendung im Sinne eines Instrumentes, um rechte Winkel zu ziehen. 5 0

Auf der nächsten Stufe wird gnömön dann gefaßt als Zahlenwinkel, so wie es uns in einem Fragment des Philolaos überliefert ist 5 1 , und wird dann von Aristoteles gekennzeichnet als jene Figur, die, einem Quadrat hinzugefügt, dessen Gestalt nicht ändert, es jedoch größer macht. 5 2 In

47

Nicomachus 1866, 7 - 1 1 , 1 3 - 1 6 , 17. T h e o n von Smyrna 1878, 2 6 - 4 2 . K n o r r 1975, 145. D e n Formen der figurierten Zahlen ähnelnde Konfigurationen fanden auch eine ornamentale Verwendung in den dekorativen K ü n s t e n , vgl. Boardman 1964, 21-40.

48

Aristoteles, Physik I I I , 2 0 3 a , 1 3 - 1 5 .

49

Vgl. Heath 1 9 6 0 , 1 , 78. Ibid. Diel s 1903, 32, Β 11. Aristoteles Kategorien 15 a 30. D i e neopythagoreischen Autoren verwenden „ g n o m o n " im Zusammenhang ihrer Diskussion der figurierten Zahlen, vgl. Nicomachus 1866, II, 13, 6, S. 101; Iamblichus 1894, 58; T h e o n von Smyrna 1878, 3 2 - 4 0 .

45 46

5,1 51 52

Pythagoreische Rechensteinarithmetik

17

Euklid, Buch II, Def. 2 findet sich dann eine rein geometrische Definition von Gnomon. 5 3 Heron von Alexander wird später Gnomon ganz allgemein als das definieren, was, hinzugefügt zu einer Zahl oder Figur, das, was entsteht, ähnlich dem macht, wozu es hinzugefügt wurde. 54 Zweierlei kann dieser kurze wortgeschichtliche Exkurs deutlich machen: (1) Gnomon ist ein technisches Instrument nicht allein im Sinne eines Artefaktes, welches Resultat zielgerichteter Handlungen ist, sondern auch als Werkzeug, mit dessen Hilfe etwas erzeugt wird: Zeitangaben z. B. oder rechte Winkel. Indem nun die Pythagoreer bestimmte Arten von Zahlen durch wiederholtes Anlegen eines Zahlenwinkels erzeugen wie z. B. die Reihe der Quadrate oder Heteromeke, ist das Gnomon nicht einfach nur Mittel zur Zahlendarstellung, so, wie z. B. eine bestimmte Konfiguration auf dem Rechenbrett eine Zahl repräsentiert, sondern ein Mittel zur Erzeugung von Zahlen. Nicht die Darstellung, sondern die Herstellung von Zahlen ist die arithmetische Funktion des Gnomon — und wir werden später sehen, daß dies auf der Grundlage des magischen Gebrauches der Symbole in einem buchstäblichen Sinne gilt. (2) Die Verschiebung der Bedeutung von „gnömön" von der Arithmetik zur Geometrie, die sich beim Vergleich der pythagoreischen, der neopythagoreischen Äußerungen und der Definitionen Euklids zeigt, sowie die teilweise eher arithmetisch, teilweise eher geometrisch zu deutenden Äußerungen des Aristoteles 55 signalisieren eine „Nähe" der psëphoi-Arithmetik zur Geometrie, die es im einzelnen noch aufzuklären gilt und die sowohl die Nahtstelle der pythagoreischen Lehre, alle Dinge seien Zahl, wie auch der magischen Interpretation des psëphoi-Symbolismus markiert. Welche Zahleneigenschaften können mit der Rechensteintechnik aufgewiesen werden? 56

33

„In jedem Parallelogramm soll ein beliebiges der u m seine Diagonalen liegenden Parallelogramme zusammen mit den beiden E r g ä n z u n g e n ein G n o m o n heißen" Euklid II, Def. 2. 54 H e r o of Alexandria 1912, Def. 58, 225. " In: Kategorien 15 a 30 verwendet Aristoteles den Terminus in geometrischem Sinne, was daraus hervorgeht, daß er für „ Q u a d r a t " den Terminus τ ε τ ρ ά γ ω ν ο ν benutzt, der auf das geometrische Q u a d r a t referiert. In der G n o m o n - P a s s a g e Physik 203 a 10 allerdings verw e n d e t Aristoteles G n o m o n in unmißverständlich arithmetischem Sinne, vgl. dazu: K n o r r 1975, 143. 56 Vgl. Becker 1 9 5 4 , 3 4 - 3 7 ; ders. 1957a, 4 0 - 4 4 ; Heath I960, 1 7 6 - 8 4 ; K n o r r 1975, 1 3 5 - 1 5 4 ; Lefèvre 1981, 1 3 4 - 4 0 .

18

Die Entdeckung der symbolischen Differenz

Quadrat^ablen. Wenn als das erste Element einer Reihe von figurierten Zahlen die Einheit und wenn als Gnomone die aufeinanderfolgende Reihe der ungeraden natürlichen Zahlen gewählt werden, so ergibt sich die Reihe der Quadratzahlen.



1 l2

·—·I

• — · — ·I · · · I

· ·

·

1+3 22

1+3+5 32

·

· · · ·I · · · ·I

·

·

·

·

2 η

·

1+3+5+7 42

Durch das Auslegen der Quadratzahlen wird einsichtig, daß die arithmetische Reihe der ungeraden Zahlen die Quadratzahlen ergibt: 1+3 = 2-2;

1+3 + 5 = 3 - 3 ;

l + 3 + 5; + 7 = 4 - 4

usw.

Heteromeke Zahlen. Wenn als das erste Element einer Reihe von figurierten Zahlen die Zwei und als die sukzessive anzulegenden Gnomone die Reihe der natürlichen Zahlen beginnend mit Vier gewählt werden, so ergibt sich die Reihe der Heteromeke. I ·—·—·—·

· ·

2-1

• — · — ·I

· · · ·

· · ·

· · · ·

2-3

2-6

I I

·

·

·

·

·

·

·

·

I I

n(n + l ) = n 2; + n

·

·

· · · · ·

2-10

Durch die Auslegung der Heteromeke wird einsichtig, daß die arithmetische Reihe der geraden Zahlen die Reihe der Heteromeke ergibt: 2+4 = 2-3;

2+ 4+ 6= 3-4;

2+ 4+ 6+ 8= 4-5

usw.

Dreiecks^ahlen. Durch die Teilung der Heteromeke, geometrisch durch die Zerlegung der Rechtecke durch eine Diagonale in zwei gleiche Teile, entsteht die Reihe der Dreieckszahlen:

| n ( n + l) 1+2

1+2+3

1+2+3+4

19

Pythagoreische Rechensteinarithmetik

Da die Dreieckszahlen die Hälfte der Heteromeke sind, ergibt ihre Aneinanderreihung die arithmetische Reihe der natürlichen Zahlen: 1+2=γ(2·3);

1+2 + 3 = ^ ( 3 - 4 ) ;

1+2 + 3+ 4 = ^ ( 4 - 5 )

usw.

Die Fruchtbarkeit der Zahlenfiguration für die Demonstration arithmetischer Sätze sei an drei Beispielen gezeigt. 5 7 (1) Jede gerade Quadratzahl ist in vier gleiche Teile zerlegbar. •—·—· ·—·—·

(2) Jede ungerade Quadratzahl, sofern sie um eine Einheit vermindert wird, ist in vier gleiche Teile zerlegbar. I I Τ Τ ι

Fig. 2

Die Theoreme (1) und (2) finden sich bei Theon von Smyrna. 3 8 Figur 1 und 2 zeigen, daß mit Hilfe der figurierten Zahlenlegung diese Theoreme sich überprüfen lassen. Bei Piaton findet sich eine Anspielung auf Theorem (1)·59 (3) Jede ungerade Quadratzahl, sofern sie um eine Einheit verringert wird, ist das Achtfache einer Dreieckszahl. Dieses Theorem, das uns von T h e o r e m e und F i g u r e n nach der R e k o n s t r u k t i o n v o n K n o r r 1975, 151 ff. S. T h e o n v o n S m y r n a 1878, 35, 17. 5 ' Piaton M e n o n 83 C.

3

58

20

Die Entdeckung der symbolischen Differenz

Plutarch 60 und Diophant 6 1 überliefert ist, läßt sich mit figurierten Zahlen gemäß Figur 2 aufweisen. Offensichtlich gründet die psëphoi-Arithmetik auf Beweisverfahren, welche selbst noch nicht sprachliche Form angenommen haben, sondern auf dem Vollzug gegenständlicher Handlungen beruhen. Archaischen Beweisverfahren also, die dann im Zuge der Verwissenschaftlichung der Mathematik zugunsten von logisch-deduktiven Verfahren fallengelassen werden. Davon legt uns das Schicksal einer weiteren pythagoreischen Lehre der Arithmetik, der Lehre vom Geraden und Ungeraden, Zeugnis ab. 6 2 Diese Lehre ist das älteste uns überlieferte mathëma und findet sich bei Euklid am Ende des I X . Buches, Sätze 21 —34 sowie Satz 36 umfassend. Die dazugehörigen Definitionen sind in Buch VII Definitionen 6 — 9 und 12 überliefert. In der von Euklid tradierten Form handelt es sich um eine rein arithmetische Lehre. „Rein arithmetisch" heißt dabei: Es geht um ein System von unbewiesenen (z. B. Definitionen) und bewiesenen (z. B. Theoreme) Sätzen, deren Reihenfolge durch Deduktion gegeben ist. Oskar Becker hat zeigen können, daß es sich bei der in Euklid überlieferten Lehre keineswegs um die ursprüngliche Gestalt dieser Lehre handelt. 63 Daß es vielmehr eine archaische Gestalt dieser Lehre gab, deren Beweismittel einzig darin bestanden, mit der Hilfe von Rechensteinen gewisse Operationen an figurierten Zahlen auszuführen. 6 4 Oskar Beckers Rekonstruktionsversuch einer älteren Version der Lehre vom Geraden und 60 61

62

63 64

Plutarch Moralia.V, 2, 4, 1003 F. Bei Diophant findet sich eine Umkehrung des Theorems (3): jede Dreieckzahl, die achtfach genommen und um eine Einheit vermehrt werde, ergebe eine Quadratzahl, Diophant von Alexandrien 1575, IV, 38. Wahrscheinlich geht das Theorem auf Iamblichus zurück: Iamblichus 1894, 90, 18. Über die Lehre v o m Geraden und Ungeraden: Becker 1934; ders. 1957 a, 44 — 51; Lefèvre 1981, 124 — 163. Raven 1948 vertrat die These, daß die pythagoreische Philosophie eine wesentlich dualistische sei. Tatsächlich kann — darauf verwies K n o r r 1975, 134 — das Gerade und das Ungerade als „primary manifestation of duality" in der pythagoreischen Philosophie begriffen werden. Philolaos spricht von Geraden und Ungeraden als „zwei besonderen F o r m e n " der Zahl, Diels 1903, 32 Β 5. Überdies nimmt Aristoteles bezug auf die Dichotomie von „ungerade-gerade", in: Metaphysik 886 a 23, vgl. auch Piaton Charmenides 116 A, Gorgias 451 A B , Theatetus 198 A. K n o r r betont zu Recht, daß „the Pythagoreans viewed the odd and the even as the fundamental starting point in the study of numbers", 1975, 134. Becker 1934. In Beckers Sicht kann das Theorem Euklid I X , 36 als Bestandsstück einer voreuklidischen Lehre angesehen werden, welche die Theoreme über das Gerade und Ungerade ( I X , 21—34) als Lehrsätze voraussetzte. Becker rekonstruiert dann I X , 21—34 u. I X , 36 mit Hilfe der psêphoi-Verfahren und weist die Sätze so als Teile einer voreuklidischen pythagoreischen Lehre v o m Geraden und Ungeraden nach.

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Ungeraden zeigt uns also, daß wir zu unterscheiden haben zwischen einem mathematischen Wissen, dessen Richtigkeit dadurch gesichert ist, daß es als deduktives System von Sätzen organisiert ist, und einem mathematischen Wissen, dessen Richtigkeit einsehbar gemacht werden kann durch ein System gegenständlicher Operationen mit Rechensteinen. Ein Wissen, dessen Uberzeugungskraft allein darauf beruht, daß in praktischen Handlungen gezeigt werden kann, daß etwas sich so und so verhält, hat selbst noch den Charakter einer technë. Der Übergang von der psêphoi-Arithmetik, wie sie durch die Rekonstruktionen von Becker, Knorr und Lefèvre Kontur gewonnen hat 65 , zu einer wissenschaftlichen Arithmetik, wie sie in den zahlentheoretischen Büchern VII, VII und IX Euklids Gestalt gewinnt, stellt sich in dieser Perspektive dar als der Übergang von einem mathematischen Wissen, welches den Status einer technë, zu einem Wissen, welches den Status einer episteme hat. 66 Doch sehen wir uns genauer an, was es heißt, die psêphoi-Arithmetik als technê zu charakterisieren. In der Literatur wird auf das Figurieren von Zahlen mit den Rechensteinen stets Bezug genommen als auf ein archaisches Beweisverfahren. Dies ist angemessen und soll auch die ersten Schritte unserer Überlegung über die technë der psëphoi lenken. Und doch gilt für die pythagoreische Arithmetik der figurierten Zahlen die Charakterisierung als technë in einem grundsätzlicheren Sinne. Die Zahlenfigurierung erweist sich nicht nur als ein Medium zur Demonstration eines Sachverhaltes, der außerhalb und unabhängig dieses Mediums — z. B. in Gestalt theoretischer Sätze über diesen Sachverhalt — gegeben ist; vielmehr als ein Medium zur Herstellung dieser Sachverhalte selbst. Die Zahlenfigurierung ist nicht nur ein Instrument zur Demonstration von Zahleneigenschaften, sondern zur Konstruktion der Zahlen selbst. Der Gegenstand der altpythagoreischen Arithmetik wird durch die Rechensteinkonfigurationen nicht einfach dargestellt, vielmehr hergestellt. Inwiefern ist das Beweisverfahren der psêphoi-Arithmetik eine technë? Um gleich ein Mißverständnis auszuschließen: Gegen solche Charakterisierung spricht nicht schon der Tatbestand, daß der Gegenstand der

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Becker 1934; ders. 1957 a, 4 4 - 5 1 ; Lefèvre 1981, 1 2 4 - 1 6 3 ; K n o r r 1975, 1 3 1 - 1 7 4 . D a h e r verkennt K u r t von Fritz den entscheidenden Sachverhalt, der zu erklären vermag, w a r u m die uns in Euklids Elementen überlieferte Mathematik nicht m e h r auf das psêphoiVerfahren zurückgreift, w e n n er die altpythagoreische Arithmetik als „ziemlich u n f r u c h t bar" charakterisiert und dann fortfahrt: „Dies ist wahrscheinlich der G r u n d , w a r u m Euklid in d e m arithmetischen Abschnitt seiner Elemente sie ignorierte und w a r u m andere Mathematiker von h o h e m Rang seit d e m 4. J a h r h u n d e r t sich ebenso verhalten."

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Die Entdeckung der symbolischen Differenz

arithmetischen Beschäftigung „Zahlen als solche" und nicht etwa Güterberechnungen des alltäglichen Wirtschaftslebens gewesen seien. Schon die altägyptischen Papyri67 und die altbabylonischen Keilschrifttexte68 legen uns Zeugnis ab, daß Aufgaben formuliert werden — ζ. B. Menschen und Tage unbekümmert zusammengezählt werden —, bei denen es nur noch um das Operieren mit den Zahlen als solches geht, ohne daß wir deshalb das ägyptische und babylonische „Rezeptewissen" als episteme bereit wären zu charakterisierèn. Von diesem Rezeptewissen unterscheidet sich die frühpythagoreische Arithmetik, insofern sie Beweise liefert. Doch der Modus der Beweisverfahren kann selbst noch als ein technischer charakterisiert werden. Wissenschaftstheoretisch sind wir gewohnt, von einem Beweis im Zusammenhang von Argumentationen zu sprechen, dann also, wenn wir den Geltungsbereich einer Behauptung so begründen können, daß die Aussage sich gegen jede mögliche Gegenrede zu behaupten vermag. 69 Beweise nehmen die Form von Sätzen an. Ein Beweis der psëphoi-Arithmetik ist jedoch kein Satz oder ein System von Sätzen, sondern eine praktische Handlung bzw. eine Reihenfolge von Handlungen, die darin besteht, Rechensteine zu Zahlengebilden auszulegen und an diesen gewisse Operationen vorzunehmen. „Beweiskraft" kommt solcher Handlung zu, insofern sich in ihr etwas zeigt und dadurch einsehbar gemacht wird. Daß nicht nur mit Worten, sondern auch durch Handlungen bewiesen werden kann, schwingt noch in der Doppelbedeutung unseres umgangssprachlichen Gebrauches von „Beweis" mit, der sich nicht beschränkt auf den „Nachweis der Richtigkeit einer Behauptung", sondern auch die „sichtbaren Zeichen, die etwas offenbar machen", einschließt, wenn wir z. B. in einer Handlung einen Vertrauensbeweis sehen oder den Beweis von Anteilnahme. Arpad Szabó hat darauf hingewiesen, daß der

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68

WJ

Vgl. dazu die ägyptischen Hau-Aufgaben ( „ H a u " ist der Fachterminus für „gesuchte Größe") im Papyrus Moskau 1930, 110 ff.; Papyrus Rhind 1923, Aufg. 24 ff., Berliner Papyrus zit. Neugebauer 1931, 310 f. Bei den Babyloniern werden die Worte „ L ä n g e " und „Breite" zu Bezeichnungen für unbekannte Größen. Daß es auf deren geometrische Bedeutung gerade nicht ankommt, wird daraus ersichtlich, daß Länge, Flächen und Volumina ohne Rücksicht auf die Dimensionen addiert werden, ebenso wie gelegentlich auch Menschen und Tage zusammengezählt werden, vgl. Mathematische Keilschrifttexte 1935, I, 200. Bei den Babyloniern finden sich auch Aufgaben, in denen nach „reinen" Zahlen (dieser Terminus bei Tropfke 1980, 375) gefragt wird, und zwar dann stets nach einer Zahl und ihrer Reziproken, vgl. Mathematische Keilschrifttexte 1935,1, 350. Lorenz 1980, 304; vgl. auch: Mittelstraß 1974, 31 ff.

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Pythagoreische Rechensteinarithmetik

mathematische Fachterminus für beweisen bei den Griechen δείκνυμΓ" umgangssprachlich eine dreifache Verwendung fand: 1. zeigen, zum Vorschein bringen; 2. durch Worte kundmachen, unterweisen; 3. erweisen, beweisen. 71 Piaton gibt im Kratylos die ursprüngliche Bedeutung des Wortes an, wenn er erklärt: „unter zeigen (τό δεΐξαι) verstehe ich das Hinstellen für die Wahrnehmung der Augen" 7 2 . Daß nun die Übernahme von δεΐξαι als mathematischer Fachterminus — Euklid schließt jeden seiner Beweise mit der Wendung ab „όπερ εδει δεΐξαι" = quod erat demonstrandum — durchaus so zu verstehen ist, daß das „konkrete Zeigen" gegenüber dem „mit Worten Zeigen" auch im mathematischen Sinne die ursprüngliche Bedeutung gewesen ist, davon scheint mir das Beweisverfahren der pythagoreischen Rechenstein-Arithmetik beredtes Zeugnis abzulegen. Worauf beruht die spezifische „technische Natur" dieses aufweisenden Zeigens? Der apodeiktische Charakter der Zahlenfigurierung ist daran gebunden, daß diese streng einer Regel folgt, eine festgelegte Ordnung der Schritte des Operierens einzuhalten ist. Machen wir uns dies an einem Beispiel klar. In der Lehre vom Geraden und Ungeraden findet sich die Definition 7 3 , daß eine ungerade Zahl sich von einer geraden Zahl um eine Einheit unterscheide. Diese Definition ist nur dann durch Operationen mit Rechensteinen einsehbar zu machen, wenn diese einem vorgegebenen fixierten Schema folgen, etwa

" ,,δείκναμι" v e r w e n d e t E u k l i d meist a m E n d e einer B e w e i s f ü h r u n g für einen Lehrsatz, die er mit den Worten abschließt δττερ εδει δ ε ΐ ξ α ι = q u o d erat d e m o n s t r a n d u m . M a n c h m a l a l l e r d i n g s k o m m t δ ε ΐ ξ α ι im Falle v o n B e w e i s a u f g a b e n schon a m A n f a n g des Satzes vor, mit d e m die A u f g a b e dargestellt w i r d . So X , A p p . 27. Eine A u s n a h m e bilden die s o g e n a n n t e n K o n s t r u k t i o n s a u f g a b e n ζ. Β. I, 1, 2, 3 deren S c h l u ß f o r m e l anders lautet. Vgl. S z a b ó 1958. Szabó 1969, 247. 2

K r a t y l o s 430 F.. I n w i e w e i t der v o n Piaton benutzte T e r m i n u s α τ τ ο φ α ί ν ω ν eher auf das heuristische Z e i g e n oder das strenge Beweisen hinzielt, ist in der k o m m e n t i e r e n d e n L i t e r a t u r k o n t r o v e r s und g e w i n n t ζ. B. für die F r a g e nach der Interpretation der Theod o r u s Stelle im T h e a i t e t o s 147 D h i s t o r i o g r a p h i s c h e B e d e u t u n g , geht es doch d a r u m , ob der M a t h e m a t i k e r T h e o d o r u s die Irrationalität n u r in den Einzeitalien

yji,

..., \ J v 7 erkannt und bewiesen habe, w ä h r e n d sein Schüler Theaitetos über eine allgemeine T h e o r i e des Irrationalen v e r f ü g t habe, α τ τ ο φ α ί ν ω ν im schwächeren Sinne von „ a u f w e i s e n " , „ z e i g e n " , „ans Licht b r i n g e n " interpretieren: A n d e r h u b 1941, 2 0 9 , 2 1 3 ; Heller 1956, 34; Hultzsch 1 8 6 3 , 3 7 6 - 3 8 4 ; Sachs 1 9 1 4 , 5 2 , 5 7 ; Szabó 1963, 228 f.; ders. 1966, 312, 323; ders. 1 9 6 9 , 7 6 ; im stärkeren Sinne von „ b e w e i s e n " interpretieren: Heath 1960, 1 , 2 0 3 ; K n o r r 1 9 7 5 , 7 5 - 7 8 ; Waerden 1 9 4 9 , 6 9 5 - 6 9 6 ; ders. 1956, 2 3 3 - 2 4 0 ; Vogt 1909,10, 107; Zeuthen 1 9 1 5 , 3 9 6 . ^ E u k l i d , VII, Def. 7.

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Würde ein anderes Schema der Zahlenfigurierung befolgt, ζ. B. die Aneinanderreihung • · · ·

so zeigte sich zwar, daß jede nachfolgende Zahl sich von der vorhergehenden um eine Einheit unterscheidet, doch jene Definition, daß die ungeraden von den geraden Zahlen durch genau eine Einheit unterschieden sind, könnte mit dem Schema der Aneinanderreihung nicht mehr plausibel gemacht werden. Wir sehen an diesem Beispiel zugleich, daß in einem strengen Sinne im Kontext der archaischen Form der Lehre vom Geraden und Ungeraden von Definitionen als Vereinbarung über den Sprachgebrauch nicht gesprochen werden kann. Was bei Euklid die Form einer Definition von geraden und ungeraden Zahlen angenommen hat, ist ursprünglich eine Handlung zur Erzeugung von ungeraden aus geraden Zahlen und umgekehrt gewesen, indem Rechensteine hinzugefügt oder weggenommen werden. 74 Wenn also der apodeiktische Charakter der Operationen mit Rechensteinen darauf beruht, daß dabei streng einer Regel gefolgt wird, so bezieht sich diese Regel auf eine hervorbringende, eine erzeugende Tätigkeit. Es geht um eine im aristotelischen Sinne poietische Handlung 7 5 : Die Regel, die einzuhalten ist, ist keine Regel über die deduktive Abfolge von Sätzen, sondern eine Regel, Art und Reihenfolge einzelner Schritte einer Erzeugungshandlung betreffend. Die anschauliche Gewißheit, auf der die psëphoi-Arithmetik fußt, ist also keine Evidenz im Sinne voraussetzungsloser 74 75

Vgl. Lefèvre 1981, 145 ff. Zur poietischen Handlung als Hervorbringung vgl. Aristoteles Met. 1064a, 10 — 15.

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Einsicht, die sich durch bloßes Hinsehen auf die Phänomene ergäbe, welche sich von selber dem Auge darbringen. Vielmehr müssen die Phänomene erzeugt, die anschauliche Gewißheit arrangiert werden. Dieses „Arrangement der Evidenz" ist methodisch vermittelt. Wobei „methodisch" hier in dem Sinne gemeint ist, in dem wir bei der Ausführung einer poietischen Handlung einer Methode

folgen.

Wir können nur einsehen, daß die

arithmetische Reihe der geraden Zahlen die Reihe der Heteromeke ergibt, wenn wir beim Auslegen der figurierten Zahlen so vorgehen, daß, beginnend mit der Zahl Zwei, jede neue Zahl durch Anfügen eines Gnomons erzeugt wird. Die konkrete Apodeixis der altpythagoreischen Arithmetik ist also insofern eine technë, als die Gegenstände, über die etwas gezeigt wird, hierbei zugleich erzeugt werden, es also nicht um die Erzeugung von Sätzen aus vorausgesetzten anderen Sätzen durch Deduktion geht, vielmehr um das Erzeugen von Gegenstandskonfigurationen aus vorausgesetzten anderen Gegenstandskonfigurationen durch das Einhalten vorgegebener Regeln. Gegen diese Charakterisierung der Beweisverfahren der psëphoi-Arithmetik als technë könnte eingewandt werden, daß dabei ein zentraler Tatbestand übersehen wird. Zwar werden sinnlich wahrnehmbare Gebilde durch das Einhalten von Regeln erzeugt, Gebilde also, die dem Bereich der technai zugehörig sind, doch die besondere Funktion dieser Gebilde besteht in der Ver-sinnlichung, der Ver-anschaulichung von etwas, das mit diesen Gebilden selbst nicht identisch ist: Die figurierten Zahlen fungierten als symbolische Repräsentanten des Abstraktums „Zahl", welches den eigentlichen Gegenstand der Arithmetik ausmacht und von der symbolischen Repräsentation nicht weniger zu unterscheiden ist als die römische Ziffer „ I I I " von der Zahl Drei. Moritz Cantor hat diese Position am deutlichsten artikuliert, wenn er den Gebrauch der psëphoi als „figürliche Versinnlichung der nach unserer heutigen Auffassung abstrakten Zahlbegriffe" faßt. 7 6 Und auch Reidemeister, der überzeugend zeigen konnte, daß die „Anschaulichkeit" der griechischen Mathematik ein Vorurteil sei, da sich in ihr gerade eine Umwendung vom Anschaulichen zum Begrifflichen vollzogen habe 7 7 , spricht von der pythagoreischen Zahlenfigurierung als einer „je nach Zwecken wechselnden Veranschaulichung von

76 77

Cantor 1907, 168. Reidemeister 1949, 51.

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Die Entdeckung der symbolischen Differenz

Rechenprozessen" 78 . Und Lefèvre, der gerade Cantors Veranschaulichungsthese kritisiert 79 , spricht zugleich von den figurierten Zahlen als „spezifischen Realisationen des Abstraktums Zahl" 8 0 . Ob als „Veranschaulichung" oder als „Realisation", der Gedanke, der sich in solchem Wortgebrauch ausspricht, ist, daß sinnvoll zwischen dem konkreten Gebilde einer figurierten Zahl und dem, was durch dasselbe dargestellt wird, zu unterscheiden sei. Daß also zwischen dem sinnlich sichtbaren Zahlzeichen und dem nicht sinnlich sichtbaren Begriff der Zahl zu unterscheiden sei, wobei sich der Begriff der Zahl, ein Abstraktum also, als der eigentliche Gegenstand altpythagoreischer Arithmetik erwiese. In solcher Sichtweise ist unser moderner Zeichen- wie Zahlbegriff immer schon unterstellt. Jacob Klein hat überzeugend nachweisen können, daß der griechische arithmos-Begriff von unserem neuzeitlichen Zahlbegriff, in welchem Zahl als abstrakter Gegenstand gefaßt wird, zu unterscheiden ist. 81 „Arithmos" ist nicht einfach übersetzbar mit Zahl, sondern mit Anzahl; „arithmos" hat „niemals etwas anderes bedeutet als: eine bestimmte Anzahl von bestimmten Dingen" 8 2 . Doch es ist nicht allein diese notwendige Unterscheidung zwischen modernem Zahlbegriff und dem griechischen Anzahlbegriff, welche die Redeweise von den figurierten Zahlen der Pythagoreer als „figürliche Versinnlichung" der Zahlbegriffe so problematisch macht. Kann für die pythagoreische Praxis des Operierens mit Rechensteinen überhaupt sinnvoll zwischen einer bestimmten Anzahl von sinnlich anschaubaren Rechensteinen und einem Begriff dieser bestimmten Anzahl, der durch die ausgelegten Steine lediglich ver-sinnlicht würde, unterschieden werden? So etwa, wie Piaton in der Epinomis (990 C) 83 die Unterscheidung einführt zwischen Anzahlen, die „sichtbare 78 79 80 81

82 83

Reidemeister 1949, 30. Lefèvre 1981, 137. Lefèvre 1981, 163. Schon vor Jakob Klein 1936 wiesen Autoren auf Besonderheiten des griechischen Zahlbegriffes verglichen mit dem modernen hin. Stenzel 1924, VI u. 43 f. betont die Anschaulichkeit und das Gestalthafte des griechischen Zahlbegriffes; Becker 1929 hob die zentrale Bedeutung der „Monaden" für das Verständnis der platonischen Zahlenlehre hervor. Zum platonischen Zahlbegriff vgl. auch Wilson 1904 und Toeplitz 1929. Taylor 1926 und 1926/27 vertrat die These, bei Piaton ließe sich im Anschluß an die EpinomisStelle 990 C ein Verfahren feststellen, welches ζ. B. dem Verfahren der sog. Cantorschen Theorie der Irrationalzahlen ähnlich sei. Zur Kritik an Taylors „Modernisierung" Piatons, welche gerade nicht das spezifische Milieu der griechischen Mathematik in Rechnung stellt, vgl. Toeplitz 1929, 7 1 - 5 ; ders. 1932; Scholz/Hasse 1928, 66ff. Klein 1936, 22. Daß die Epinomis vermutlich nicht von Piaton herrührt, gibt Müller 1927 zu bedenken, doch betrifft dies mehr die literarische Form. Den Inhalt konnte Toeplitz 1929, 55 sowie ders. 1933 als platonisches Ideengut ausweisen.

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27

oder tastbare Körper haben", und den Anzahlen „selbst" oder wie er im Theaetet (195 D — 1 9 6 B ) 8 4 die Unterscheidung zwischen Anzahlen abzählbarer Dinge, die wir durch die Sinne wahrnehmen können, und Anzahlen von reinen Einsen, die nur dem Verstände zugänglich sind, macht? 8 5 Eine solche Unterscheidung treffen zu können, setzt voraus, zwischen einem sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand und einem nicht sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand, der durch den ersteren lediglich repräsentiert wird, zu unterscheiden. Also die symbolische Differenz zwischen konkretem Medium der Darstellung und abstraktem Gegenstand der Darstellung zu vollziehen. Was ich nun zeigen möchte, ist, daß die Praxis der Zahlenfigurierung nicht nur die Trennung zwischen einem gegenständlichen Zahlenrepräsentanten und den Zahlen selbst nicht

voraussetzt, sondern daß im Gegenteil

die Identität beider durch eben diese Praxis nahegelegt wird. Für die Pythagoreer stellen die figurierten Zahlen Anzahlen nicht dar, sondern sind die Anzahlen. Figurierte Zahlen ζ. B. durch Anlegen der Gnomone herzustellen, heißt nicht, sinnliche Repräsentanten ihres Untersuchungsobjektes, sondern das Untersuchungsobjekt selbst herzustellen. Wie ist das zu verstehen? Aristoteles überliefert uns in der Metaphysik, daß die Pythagoreer die Einheit (μονάς) als Punkt ohne Position (στιγμή άθετος) und den Punkt (στιγμή) als Einheit mit Position (μονάς θέσιν έχουσα) definiert hätten. 8 6 Nun bezieht sich die Einheit als „Punkt ohne Position" auf die Möglichkeit, mit Rechensteinen beliebige Anzahlen zu bilden, ohne daß es darauf ankäme, wo genau jeder einzelne Stein piaziert wird. 8 7 Doch die figurierten Zahlen der Pythagoreer sind nicht bloße Anzahlen von Steinen, gleichsam ihre Ansammlung, sondern sind Steine in Konfigurationen fixiert. Jeder Stein ist Bildungselement der Anzahl, sofern er im Muster dieser Anzahl eine bestimmte Stelle einnimmt. Zwar sind die Steine un-

84

Zu den mathematischen Passagen des „Theaetetus": Adam 1890; F.inarson 1958; Hackforth 1957.

83

Vgl. Politea 526 A w o Piaton von Anzahlen spricht, die nur vom Verstände wahrzunehmen sind.

' Aristoteles Met. 1 0 1 6 b , 2 4 - 3 1 ; 1 0 8 4 b , 25; de anima I, 4 0 9 a , 6. Die klassische Definition von arithmos als abzählbarer Menge von Einheiten bezieht sich auf diese Einheiten ohne Position: Piaton, Theatet 204 E , Euklid V I I , Def. 2.: „die aus Einsen bestehende M e n g e " ; Arist. Met. 1001 a, 26; 1039 a, 12, 1053 a, 30; 1056 b, 23; Physik 207 b, 7; T h e o n von Smyrna 1 8 7 8 , 1 8 , 3 ; Nicomachus 1866, 13, 7 f.; Iamblichus 1894,10,9.

8
4

105

Lefèvre 1981, 137. So Kolmogorov in der Großen Sowjetenzyklopädie, Stichwort „Mathematik" (russ.), zit. Szabó 1960, 38. Zur These Szabós, daß das axiomatisch-deduktive Denken eleatischem Einfluß geschuldet sei, eine These, die im Zentrum der „Anfange der griechischen Mathematik" 1965 steht, und dann insbesondere in „Greec dialectic and Euclid's axiomatics" 1967 ein weiteres Mal verteidigt wurde, vgl. auch: Szabó 1955; ders. 1956; ders. 1958; ders. 1960. So wurde lange Zeit von einer „platonischen Reform" der Mathematik gesprochen, durch welche der Ubergang von einer empirischen zur theoretischen Mathematik stattgefunden habe. Den Begriff der „platonischen Reform" schuf Zeuthen 1913; ausgearbeitet wird er von: Toeplitz 1925; Becker 1927; Solmsen 1929. Daß die Axiomatik der griechischen Mathematik von Aristoteles ihren Ausgangspunkt nehme, vertreten z. B.: Heath 1960, Preface; ν. Fritz 1955. Zur Kritik an dieser Auffassung vgl. Szabó 1960, 1 0 4 - 6 . Nach v. d. Waerden 1956, 147 entstand z. B. für Thaies die Situation, daß die Babylonier den Inhalt des Kreises mit 3r2, die Ägypter aber mit 8/9 2r 2 angaben. Um die richtige von der falschen Rechenvorschrift zu unterscheiden, habe Thaies einen Beweis durch Aufbau eines logischen Systems zu finden gesucht. Ähnlich auch: Becker 1951 und Reidemeister 1949.

Inkommensurabilität und symbolische Beweisverfahren

33

Sofern ein monokausales Erklärungsmodell wissenschaftsgeschichtlicher Vorgänge nicht angestrebt wird, decken diese Positionen Faktoren auf, die bei der Konstitution der Mathematik zur Wissenschaft zweifelsohne eine gewichtige Rolle spielten. Im Sinne einer solchen „Faktorenanalyse", die nicht beansprucht, den entscheidenden Grund offenzulegen, sondern nur auf einen weiteren Faktor hinweisen möchte, sei im folgenden noch einmal die „Innenseite" der Verwissenschaftlichung der Mathematik beleuchtet. Zeigen möchte ich, daß von den Voraussetzungen der pythagoreischen Mathematik her eine Entdeckung gemacht werden konnte, die mit den Mitteln der archaischen Form der Mathematik, die zu einer Trennung zwischen sichtbarem Zeichen und mathematischem Gegenstand noch nicht gelangt war, nicht mehr bewiesen werden konnte. Es geht um die den Pythagoreern zugeschriebene Entdeckung der Inkommensurabilität. Der älteren mathematikhistorischen Forschung 1 0 6 , aber auch Veröffentlichungen jüngeren Datums 1 0 7 galt diese Entdeckung als Auslöser einer Grundlagenkrisis der griechischen Mathematik, welche zu einer „Geometrisierung der griechischen Arithmetik und Algebra" geführt habe. Nun hat Szabó deutlich gemacht, daß von einer „Geometrisierung eines ursprünglich algebraischen Gedankenganges auch in Buch II des Euklid — jenes Buch also, welches seit einer Arbeit von P. Tannery als „geometrische Algebra" 1 0 8 charakterisiert wurde — keine Rede sein könne. 1 0 9 Nicht werden hier algebraische Sätze in ein geometrisches Gewand gekleidet, sondern es geht in diesem Buch um geometrische Fragestellungen sui generis. 1 1 0 Dann aber erweist sich auch die Annahme, die Entdeckung der Inkommensurabilität habe zu einer Krise der pythagoreischen Arithmetik geführt, in deren Folge dann ein Sich-Abwenden von den Zahlen und ein Hinübertreten aus dem Bereich der Zahlen in den der geometrischen Größen stattgefunden habe, als zu holzschnittartig. 111 Szabó argumentiert gegen diese Annahme einer „Geometrisierung der Arith106 107

108

109

1,1

Hasse/Scholz 1928; Tannery 1 8 8 7 , 2 1 7 - 6 1 . So spricht Wußing von der „für die Pythagoreer niederschmetternden Entstehung des Irrationalen": Wußing 1979, 57 und Struik 1980, 56 von einem „Zusammenhang zwischen der Krise in der Mathematik und der im sozialen System". Tannery 1882; Zeuthen 1886; ders. 1896 I. Neugebauer 1936 feiert Zeuthen als Entdecker der „geometrischen Algebra", 125 ff. Szabó 1 9 6 9 , 4 5 5 - 8 8 . Ibid. Von der Auffassung einer „Grundlagenkrisis" setzen sich kritisch ab: v. d. Waerden 1940; ders. 1949; ders. 1956, 2 0 4 - 6 . Außerdem: Szabó 1 9 6 9 , 1 2 4 f . ; Reidemeister 1949, 30.

34

Die E n t d e c k u n g der symbolischen Differenz

metik" durch den Hinweis darauf, daß die Entdeckung der Inkommensurabilität sich auf die lineare Inkommensurabilität erstreckte, sich also als geometrisches Problem darstellte und daher die Grundlagen der pythagoreischen Arithmetik wie auch ihrer Lehre „Alles ist Zahl" gar nicht habe erschüttern können. 112 Nun übersieht Szabós Argumentation, die zweifellos unanfechtbar ist, sofern es um eine Kritik an der These von der geometrischen Einkleidung von Arithmetik und Algebra geht, daß die strikte Trennung von Arithmetik und Geometrie, eine Trennung, die erlaubte zu sagen, die Entdekkung der Inkommensurabilität gehöre allein dem Bereich der pythagoreischen Geometrie an und vermöge insofern keine Auswirkungen auf die Arithmetik zu zeigen, daß eine solche strikte Trennung nun für das altpythagoreische psêphoi-Verfahren gerade nicht gilt. 113 Das Herzstück dieses Verfahrens liegt darin, daß ein Rechenstein als arithmetische (Einheit ohne Lage) und zugleich als geometrische (Einheit mit Lage) Gegebenheit gilt und bestimmte Arten von Anzahlen sich als bestimmte Typen geometrischer Gebilde erweisen. Auf dem Hintergrund dieser Ineinssetzung von Abzählbarkeit und Ausgedehntheit muß die Einsicht, daß es Verhältnisse von Strecken gibt, die nicht zugleich ein Verhältnis von Zahlen sind, durchaus erschütternd wirken. Das aber, was erschüttert wurde, waren nicht die Grundlagen der wissenschaftlichen Mathematik, sondern ihre „vorwissenschaftlichen" Grundlagen in Gestalt eines mathematischen Wissens, das sich als technë verstand und das auf einem magischen Gebrauch der Zahlenrepräsentanten beruhte. Wenn es aber so ist, daß in der magischen symbolischen Praxis der altpythagoreischen psêphoi-Arithmetik die pythagoreische Lehre, daß alles Zahl sei, aufruhte, dann muß die Erschütterung dieser symbolischen Praxis, die den Ubergang zum wissenschaftlichen Gebrauch von Symbolen bewirkte, auch die pythagoreische „arithmetica universalis" 114 einbegriffen haben. Wie nun ist nachzuweisen, daß die Entdeckung der Inkommensurabilität die symbolischen Grundlagen der psëphoi-Arithmetik angriff und der Beweis der Inkommensurabilität neue Beweisformen nötig machte?

1.2 1.3

114

Szabó 1969, 125. Das pythagoreische psëphoi-Verfahren hat Szabó in seinen Studien über die Anfánge der griechischen Mathematik gerade nicht analysiert. D e r Begriff „arithmetica universalis" geht auf v. Fritz 1971, 60 zurück, der schreibt, daß „der A n s p r u c h der pythagoreischen „mathesis universalis" ... zuerst in der F o r m einer „arithmetica universalis" aufgetreten sei."

I n k o m m e n s u r a b i l i t ä t und s y m b o l i s c h e B e w e i s v e r f a h r e n

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Angesichts der vorbildlosen und weitreichenden Leistung, welche die Entdeckung der Inkommensurabilität darstellt, wundert es nicht, daß die mathematikhistorische Forschung entgegen der antiken Überlieferung, die diese Entdeckung auf das 5. Jahrhundert datierte" 5 , diese auf das erste Viertel des 4. Jahrhunderts zurückzudatieren suchte. 1 , 6 Nun hat Kurt von Fritz in seiner 1954 erschienenen Studie über die Entdeckung der Inkommensurabilität überzeugend nachweisen können, daß diese Entdeckung mit großer Wahrscheinlichkeit auf den Pythagoreer Hippasos von Metapont (ca. 460 oder 470 v. Ch. geboren) zurückgeht, wir also der antiken Überlieferung in dieser Frage folgen können, und daß diese Entdeckung ursprünglich nicht am Quadrat, sondern am regelmäßigen Fünfeck — dem Erkennungszeichen des pythagoreischen Bundes — gemacht wurde. 1 1 7 Ein Beweis für die Irrationalität der Quadratwurzel aus Zwei, d. h. für die Inkommensurabilität der Seite und Diagonale eines Quadrates, ist uns durch Euklid als Anhang seines X. Buches überliefert. 1 , 8 Es handelt sich hierbei um einen indirekten Beweis, für welchen jene durch Aristoteles überlieferte Charakterisierung gilt, daß die Quadratdiagonale inkommen-

W i r k ö n n e n unterscheiden z w i s c h e n einer a n t i k e n Ü b e r l i e f e r u n g zur E n t w i c k l u n g der T h e o r i e der I n k o m m e n s u r a b i l i t ä t u n d der E n t d e c k u n g der I n k o m m e n s u r a b l i t ä t selbst. Zu dieser U n t e r s c h e i d u n g : v. Fritz 1965, 274 ff. Die früheste Ü b e r l i e f e r u n g zu einer E n t w i c k l u n g s s t u f e der T h e o r i e der I n k o m m e n s u r a b i l i t ä t , aus der w i r schließen k ö n n e n , d a ß die E n t d e c k u n g der I n k o m m e n s u r a b i l i t ä t spätestens zu B e g i n n des letzten Viertels des 5. J a h r h . g e m a c h t w u r d e , ist Piatons D i a l o g Theaetet, 147 B. J e n e Stelle also, an der der g r e i s e M a t h e m a t i k e r T h e o d o r o s v o n K y r e n e eine G r u p p e j u n g e r M ä n n e r , u. a. Theaetet, die Irrationalität der Q u a d r a t w u r z e l n aus 3, 5, 6, und 17 beweist. Z u r Interpretation dieser Stelle im Sinne der D a t i e r u n g der E n t d e c k u n g der I n k o m m e n s u r a b i l i t ä t v g l . v. Fritz 1965, 272 ff. Einen direkten Beleg f ü r die f r ü h e D a t i e r u n g e n t w i c k e l n Hasse/ Scholz 1928, 10 ff., i n d e m sie n a c h w e i s e n , d a ß z w i s c h e n e i n i g e n A r g u m e n t e n Z e n o n s g e g e n die B e w e g u n g s l e h r e und der E n t d e c k u n g der I n k o m m e n s u r a b i l i t ä t ein Z u s a m m e n h a n g bestanden haben m u ß . Zenon aber ist nicht später als 490 v. Chr. g e b o r e n . L ü c k e n h a f t e r u n d h ä u f i g mit l e g e n d e n h a f t e n Z ü g e n v e r w o b e n ist die Ü b e r l i e f e r u n g zur eigentlichen E n t d e c k u n g der I n k o m m e n s u r a b i l i t ä t , die nur in W e r k e n sehr später A u t o r e n sich findet. Diese Ü b e r l i e f e r u n g schreibt a l l e r d i n g s sehr einheitlich die E n t d e c k u n g d e m p y t h a g o r e i s c h e n P h i l o s o p h e n H i p p a s o s von M e t a p o n t zu; v g l . v. Fritz 1965, 275 ff. 116

1.7 1.8

Der erste, der zu beweisen suchte, d a ß die E n t d e c k u n g der I n k o m m e n s u r a b i l i t ä t zu einem späteren Z e i t p u n k t e r f o l g t sei, w a r Erich F r a n k 1923. Ahnlich auch N e u g e b a u e r in e i n e m Brief an Kurt v. Fritz, zit. v. Fritz 1965, 272. v. Fritz 1965. E u k l i d , hg. u. übers, v. C. T h a e r X , § 1 1 5 a . D a ß dieser Satz als A n h a n g des X . Buches überliefert ist, weist auf seinen v o r e u k l i d i s c h e n U r s p r u n g hin: F o r s c h u n g e n v o n J a e g e r 1912, 38 ff. haben g e z e i g t , d a ß a m Ende eines Buches antiker Schriftsteller h ä u f i g Nachträge stehen, die aus technischen G r ü n d e n a m R o l l e n e n d e a m b e q u e m s t e n Platz fanden. F ü r Becker 1934, 533 ist der A p e n d i x z u m B u c h X bei E u k l i d Beispiel eines solchen Nachtrages.

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Die Entdeckung der symbolischen Differenz

surabel sein müsse, da anderenfalls „die ungeraden Zahlen den geraden gleich wären" 1 1 9 . „Indirekt" ist dieser Beweis also, weil nicht von der zu beweisenden Aussage, sondern von ihrem Gegenteil ausgegangen und gezeigt wird, daß diese Annahme auf einen Widerspruch führt und also unmöglich bzw. falsch ist. 120 Durch eine „reductio ad absurdum" zu beweisen, ist nun eine Beweistechnik, welche in keiner Hinsicht mehr an das Sichtbare, die anschauliche Evidenz appelliert, sondern nur noch an das bloß Denkbare sich richtet.121 Bei dem durch Euklid uns überlieferten Beweis für die Inkommensurabilität handelt es sich also um einen Beweis, der mit rein theoretischen Mitteln geführt wird und sich völlig anderer Mittel bedient als diejenigen, auf denen die psëphoi-Evidenz beruht. 1 2 2 Wenn nun Kurt von Fritz' Annahme zutrifft, daß der Gegenstand, an dem die Inkommensurabilität bei Euklid bewiesen wird, nicht identisch ist mit dem Gegenstand, an dem dieselbe ursprünglich entdeckt und bewiesen wurde — nämlich dem regelmäßigen Fünfeck —, könnte es da nicht sein, daß die Rekonstruktion jener ursprünglichen Entdeckungsgeschichte, wie sie Kurt von Fritz geleistet hat, uns Aufschluß verschaffte bezüglich des Überganges der archaischen Beweistechnik, die auf anschaulicher Evidenz beruht, zur elaborierten Beweistechnik des indirekten Be-

119

120

121

122

Aristoteles, Analytica Priora I, 23, 41 a, 26; I, 44, 50 a, 37. Der voreuklidische Ursprung des Beweises ist durch die Tatsache verbürgt, daß Aristoteles mehrfach auf den Satz, wie auch auf den Grundgedanken seines Beweises bezug nimmt: Met. 983 a, 19 ff.; 1053 a, 14 ff. So lauten die ersten Sätze des Beweises in der wörtlichen Übersetzung von v. Fritz 1965,291: „ABCD sei ein Quadrat und AC dessen Diagonale. Ich behaupte, daß die Strecken AC und AB inkommensurabel sind. Denn nehmen wir an, sie seien kommensurabel. Ich behaupte, daß sich daraus ergibt, daß dieselbe Zahl gleichzeitig gerade und ungerade ist". Dann folgen die einzelnen Schritte des Beweises. Auch Piaton greift auf das indirekte Beweisverfahren zurück: Parmenides 161 B —C. Vgl. hierzu Szabós Kritik an der von Zeuthen entwickelten Auffassung, die Konstruktion diene den Griechen als alleiniges Mittel des Existenzbeweises (Zeuthen 1896). Szabó 1960, 97 f. macht deutlich, daß in der Arithmetik die Existenz eines Gebildes nicht durch Konstruktion bewiesen wurde, sondern dadurch, daß man die Widersprüchlichkeit jener Behauptung nachweist, welche die Existenz des betreffenden Gebildes bestreitet (z. B. Elemente VII, 31; IX, 20). Becker 1934 hat zwar gezeigt, daß auch der Schlußsatz des Buches X mit den Mitteln einer „dyadischen" Arithmetik, d. h. der psëphoi-Arithmetik demonstrierbar ist (1934, 544). Doch weist er ibid., Anmerkung 11, selbst darauf hin, daß Euklid im Schlußsatz von X den Begriff der kleinsten Terme eines gegebenen Verhältnisses benutzt, ein Ausdruck, der über den Bereich der psëphoi-Arithmetik hinausführt. So vermag Beckers Rekonstruktionsversuch zwar zu zeigen, ein welch bewegliches, heuristisches Mittel die psëphoi-Verfahren sind. Doch kann diese Rekonstruktion keineswegs beanspruchen, die historisch ursprüngliche Form des Beweises wiederhergestellt zu haben.

Inkommensurabilität u n d symbolische Beweisverfahren

37

weises? Daß sich also in der Evolution der Beweisverfahren ein Bindeglied finden ließe, welches genau den Punkt markierte, an dem die Grenzen der anschaulichen Evidenz offensichtlich geworden sind und nun in Richtung auf streng logische Argumentation ausgeweitet wurden? Ein solches Bindeglied hat uns die mathematikhistorische Forschung tatsächlich geliefert: Es besteht in dem Verfahren der Wechselwegnahme, der Anthyphairesis' 23 oder nach Aristoteles Antanairesis. 124 Als ein Bindeglied erweist sich die Wechselwegnahme, insofern sie als ein ursprünglich praktisches Instrument umgebildet wird zu einem rein theoretischen Instrument. An die Stelle des praktischen Vollzuges einer Handlung, die durch sich selbst Evidenz schafft, tritt der nur noch denkbare Vollzug einer Handlung an einem selbst nicht mehr sinnlich wahrnehmbaren und daher nur noch symbolisch zu repräsentierenden Gegenstand. Welche Rolle nun spielte das Verfahren der Wechselwegnahme für die Entdeckung und den Beweis der Inkommensurabilität? Nach Jamblichos war Hippasos der erste, der den „aus 12 regelmäßigen Fünfecken bestehenden kugelförmigen Körper zeichnete" 125 bzw. der „zuerst die aus 12 Fünfecken zusammengesetzte Kugel öffentlich beschrieben habe" und deshalb als ein Gottloser im Meere umgekommen sei.126 Wenn auch die Erfindung der mathematischen Konstruktion 127 des Dodekaeders Theaetet, der zwei Generationen nach Hippasos lebte, zuzuschreiben ist 128 , scheint die Annahme, Hippasos habe das Dodekaeder zeichnen und dabei am regelmäßigen Fünfeck die Inkommensurabilität entdecken können, durchaus wahrscheinlich. 129 Für diese Entdeckung ist das Verfahren der Wechselwegnahme, die Anthyphairesis, grundlegend, wie es uns in Buch VII bei Euklid als Verfahren zur Bestimmung des größten gemeinsamen Teilers zweier Zahlen und in Buch X als Verfahren zur Bestimmung des größten gemeinsamen Maßes zweier Strecken (sofern es ein solches gibt) 123

124 125 126 127

128 129

D a f ü r , daß das Verfahren der Anthyphairesis eine fundamentale Rolle bei der pythagoreischen Beschäftigung mit der Inkommensurabilität gespielt habe, argumentieren: v. Fritz 1965; Heller 1956; ders. 1958; J u n g e 1958. Z e u t h e n hat schon 1910, 434 auf die Anthiphairesis als E r k l ä r u n g für T h e o d o r o s mathematische Arbeit zurückgegriffen. Sein Ansatz w u r d e ü b e r n o m m e n von: Bonnensen 1921; v. d. Waerden 1947/49,695 — 700; ders. 1956, 2 3 5 - 4 0 sowie Heller 1956. Aristoteles Topik 158 b, 2 9 - 3 5 . Iamblichus 1891, 25, 77; ders. 1937, 18, 18, 53. Iamblichus 1937, 34, 247, 132. D e r griechische Ausdruck — darauf verwies Fritz 1965, 277 — γ ρ ά φ α σ θ α ι hat die B e d e u t u n g von „zeichnen" und „konstruieren". Vgl. v. Fritz 1934, 1 3 5 1 - 7 2 . Dazu die A r g u m e n t a t i o n von v. Fritz 1965, 272 ff.

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Die E n t d e c k u n g der symbolischen Differenz

überliefert ist. 130 Über die Herkunft des Verfahrens gibt es unterschiedliche Auffassungen: Für Szabó entstammt es wahrscheinlich der Musiktheorie der Pythagoreer, wo es dazu diente, das gegenseitige Verhältnis zweier Abschnitte des Monochords untereinander zu bestimmen, wurde also als ein Mittel der musikalischen Proportionslehre praktiziert. 131 Kurt von Fritz gibt den interessanten Hinweis, daß die Methode der Wechselwegnahme den Handwerkern als eine Faustregel bekannt gewesen sei, nach welcher man mit Hilfe von Meßstöcken und Meßschnüren das größte gemeinsame Maß zweier Strecken fand. 132 Für van der Waerden ist die Wechselwegnahme arithmetischer Herkunft: die Lösung des Problems, welches sich in der Bruchrechnung ergibt, sofern man von irrationalen Streckenverhältnissen noch nichts weiß und den größten gemeinsamen Teiler zweier Zahlen sucht. 133 Für Knorr wurde dieses Verfahren praktiziert zur annähernden Berechnung des Verhältnisses inkommensurabler Strekken. 134 Allen diesen Auffassungen ist gemeinsam, daß die Anthyphairesis ursprünglich als ein Verfahren gilt, ein bestimmtes Problem, welches im handwerklichen, musikalischen, arithmetischen oder geometrischen Bereich entstand, zu lösen: Die Anthyphairesis wurde ursprünglich als eine technë praktiziert. Indem nun mit Hilfe dieses Verfahrens nicht einfach ein Problem (näherungsweise) gelöst, sondern die Inkommensurabilität entdeckt und erstmals bewiesen wurde — und von dieser Annahme gehen K. von Fritz und S. Heller 135 aus —, erfolgt mit dieser Funktionsverschiebung eine Transformation zu einem rein epistemischen Verfahren. Grundlegend für diese Transformation ist die Annahme, daß die Anthyphairesis

130

152 133 134 135

Die arithmetische V e r w e n d u n g der Wechselwegnahme findet sich in Euklid VII, 2 in Gestalt der folgenden Aufgabe: „ Z u zwei gegebenen Zahlen, die nicht prim gegeneinander sind, ist ihr größtes gemeinsames M a ß zu finden". Euklid e r w ä h n t n u n zuerst die Möglichkeit, daß die kleinere der beiden gegebenen Zahlen die g r ö ß e r e mißt. In diesem Falle ist die kleinere Zahl der g r ö ß t e gemeinsame Teiler. Mißt keine der beiden Zahlen die andere, so ist nun die M e t h o d e der Wechselwegnahme anzuwenden. D e n n n i m m t man abwechselnd immer die kleinere Zahl von der größeren weg, m u ß schließlich eine Zahl übrig bleiben, die die v o r h e r g e h e n d e mißt, u n d diese wird der g r ö ß t e gemeinsame Teiler. Die geometrische A n w e n d u n g der Wechselwegnahme findet sich in X , 2 insofern die unendliche A n w e n d b a r k e i t der Anthiphairesis zu einem Kriterium wird f ü r die Inkommensurabilität zweier Strecken. X , 2 lautet: „ N i m m t man bei Vorliegen zweier ungleicher G r ö ß e n immer die kleinere von der größeren w e g und mißt der Rest niemals die vorangehende G r ö ß e , so werden die beiden Größen i n k o m m e n s u r a b e l . " Szabó 1969, 180. ν. Fritz 1965, 295. v. d. Waerden 1947/49,243; ders. 1956,208. K n o r r 1975, 36. v. Fritz 1965; Heller 1956; ders. 1958; vgl. auch: Rademacher/Toeplitz 1930, 258.

Inkommensurabilität und symbolische Beweisverfahren

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nur dann Mittel der Entdeckung der Inkommensurabilität ist, wenn zugleich vorausgesetzt wird, daß dieses Verfahren ad infinitum an einem unendlichen kleinen geometrischen Gegenstand fortzusetzen ist. Gehen wir von einem regelmäßigen Fünfeck aus, in dem die Diagonalen eingezeichnet sind, so daß sich ein Pentagramm ergibt. Das Pentagramm war das Ordenszeichen der Pythagoreer. Seine Seiten teilen sich im Verhältnis des goldenen Schnittes. 1 3 6 E

A

Man sieht, daß die Diagonalen eines regelmäßigen Fünfecks wiederum ein regelmäßiges Fünfeck bilden und so fort. In den auf diese Weise entstandenen Fünfecken ist A E = A B ' und B ' D = B ' E ' und deshalb A D — A E = B ' E ' und ebenso A E = E D ' = E A ' und B ' E ' = B ' D = B ' E und deshalb A E — Β Έ ' = Β Ά ' und so fort ad infinitum. Die Differenz zwischen

Wahrscheinlich hat Hippasos bei der Konstruktion des regelmäßigen Fünfecks oder bei der des Pentagramms die Methode der „gerichteten E i n s c h i e b u n g " mit Hilfe eines Einschiebelineals verwandt. Wie er dabei vermutlich vorgegangen ist, zeigt Hofmann 1926. Heller 1 9 5 8 , 3 2 8 vermutet, daß gerade der Versuch, das Fünfeck ohne Einschiebelineal zu konstruieren, Hippasos dazu gebracht haben könnte, das Zahlenverhältnis zwischen Diagonale und Seite zu bestimmen zu versuchen und zwar durch das Verfahren der Wechselwegnahme, dessen Infi'nitheit ihn dann wiederum auf die Einsicht von der Inkommensurabilität beider Strecken geführt haben könnte. D a ß die Pythagoreer ein Pentagramm zu zeichnen vermochten, kann daraus geschlossen werden, daß bereits auf einer Vase des Aristonophos aus dem 7. Jahrhundert ein schön gezeichnetes Pentagramm zu sehen ist. Diese Vase wurde in Caere, Italien gefunden, v. Fritz weist daher Neugebauers Argument, daß zur Zeit des Hippasos nur triviale mathematische Konstruktionen bekannt gewesen seien, zurück: 1965, 299.

40

Die Entdeckung der symbolischen Differenz

der Diagonalen und der Seite des größeren Fünfecks ist gleich der Diagonalen des kleineren Fünfecks, und die Differenz zwischen der Seite des größeren Fünfecks und der Diagonalen des kleineren Fünfecks ist gleich der Seite des kleineren Fünfecks, und die Differenz zwischen der Diagonalen des kleineren Fünfecks und dessen Seite ist wieder gleich der Diagonalen des nächstkleineren Fünfecks und so fort bis ins Unendliche. Da durch die Diagonalen immer neue regelmäßige Fünfecke entstehen, leuchtet ein, daß der Prozeß der Wechselwegnahme sich immer weiter fortsetzt und daher kein größtes gemeinsames Maß der Diagonalen und der Seite des regelmäßigen Fünfecks gefunden werden kann. Da zu diesem Beweis außer dem Verfahren der Anthyphairesis nur zwei fundamentale Sätze, das gleichschenklige Dreieck und die Winkelsumme im Dreieck betreffend, nötig sind 137 und da wir erschließen können, daß diese Sätze den Pythagoreern bekannt waren, besteht kein Anlaß, die These von v. Fritz zu bezweifeln, der gemäß Hippasos imstande war, die Inkommensurabilität der Seite und Diagonale eines regelmäßigen Fünfeckes zu beweisen. 138 Siegfried Heller nimmt an, daß sehr bald nach der Entdeckung unmeßbarer Strecken am regelmäßigen Fünfeck mit der gleichen Methode der ad infinitum fortsetzbaren Wechselwegnahme auch die Inkommensurabilität von Seite und Diagonale beim Quadrat nachgewiesen wurde. 139 Das auf der unbegrenzt fortsetzbaren Anthyphairesis beruhende Beweisverfahren ist zweifellos gegenüber dem Beweis der Irrationalität der Quadratwurzel aus Zwei, welchen uns Euklid überliefert, eine ältere „unvollkommenere" Beweisform, die sich jedoch von der Beweistechnik der psêphoi-Arithmetik in einer Weise unterscheidet, welche im beweistechnisch genutzten Wechselwegnahmeverfahren ein Kettenglied in der Evolution der wissenschaftlichen Beweisverfahren vermuten läßt. Zuerst einmal: Worauf beruht die Gemeinsamkeit des psêphoi- und des Anthyphairêsis-Verfahrens? Das Wissen, das dem Gebrauch beider 137

Den Satz über die Winkelsumme im Dreieck schreibt Eudonos von Rhodos — nach einer Notiz v o n Proklos 1873, 379 — den frühen Pythagoreern zu. Doch könnte es sein, daß der Beweis des Satzes noch älter ist. Vgl. v. Fritz 1965, 298 f., Anm. 80. Der Satz über gleichschenklige Dreiecke wird von Proklos 1873, 250 Thaies zugerechnet. Aristoteles erwähnt in der Analytica Priora 41 b, 13 ff. einen archaischen Beweis dieses Satzes, der auf der primitiven Methode der Übereinanderlegung beruht. Zu diesem vordeduktiven Beweisverfahren vgl. Mittelstraß 1974, 34 ff.

138

Den Nachweis, daß diese Sätze den Pythagoreern bekannt gewesen sein mußten, führt v. Fritz 1965, 297 f. Heller 1958, 351 ff.

1W

Inkommensurabilität und symbolische Beweisverfahren

41

Methoden zugrunde liegt, hat den Charakter einer technë. Es ist das Wissen um eine Vorschrift, die wir bei der Herstellung eines sinnlich wahrnehmbaren Gebildes einzuhalten haben. Überdies handelt es sich bei dieser Vorschrift jeweils um eine Rekursionsvorschrift: Die Reihe der betreffenden Figuren wird erzeugt, indem, ausgehend von einer ersten Figur, alle folgenden durch wiederholte Anwendung der Vorschrift erzeugt werden. Das ist der Fall ζ. B., wenn die Reihe der Quadratzahlen gebildet wird nach der Regel, ausgehend von Eins durch Anfügung eines Gnomons die jeweils nächste Figur zu erzeugen: I - · — ·



I ·

1+3

1+ 3+ 5

22

32



·

·



·

·

I· I·



·

·

·

(1)

1+3+5+7

Oder das ist der Fall, wenn eine Reihe von sich verkleinernden Quadraten gebildet wird, durch Anwendung der Vorschrift, zu einem gegebenen Quadrat durch Wechselwegnahme zwischen Diagonale und Seite das nächstkleinere Quadrat herzustellen: 140

D

(2)

Β

140

So haben Rademacher/Toeplitz 1930, 2 5 8 die lineare Inkommensurabilität der Diagonale und der Seite des Quadrats auf Grund des Satzes Elemente X, 2, also mit demVerfahren der Wechselwegnahme, bewiesen.

42

Die Entdeckung der symbolischen Differenz

Ist nun die Evidenz, die uns anschaulich zeigt, daß die arithmetische Reihe der ungeraden Zahlen die Reihe der Quadratzahlen ergibt, von der gleichen Art wie die Evidenz, mit der sich zeigt, daß Seite und Diagonale eines Quadrats inkommensurabel sind? Wird das, was zu beweisen ist, tatsächlich in beiden Fällen sichtbar gemacht? Bei (1) zeigt der konkrete Einzelfall, daß es sich so verhält, wie es in dem Satz über die Summierung der ungeraden Zahlen behauptet wird. Dieser Einzelfall ist der konkrete Vollzug der Handlung, mit der wir ζ. B. an einen Stein, der als Einheit gilt, den entsprechenden gnömön anlegen, also zuerst · , dann

· - ·I bilden und sodann ·· — ·· — ··I • · I •

·

und nun sehen

·

können, daß sich durch sukzessive Auslegung der Gnomone genau die aufeinanderfolgenden ungeraden Zahlen und deren Summen jeweils die aufeinanderfolgenden Quadratzahlen ergeben. Der zu beweisende Sachverhalt wird sichtbar gemacht durch exemplarisches Zeigen.141 Überlegen wir einen Augenblick, worin die Besonderheit der exemplarischen Demonstration besteht. Wenn wir einem Ausländer das Wort „grün" erklären, indem wir auf ein grünes Auto oder auf eine grüne Wiese zeigen, so spricht das, worauf wir zeigen, für sich selbst. Die Farbe Grün ist hier jeweils „anwesend" bzw. „sichtbar" im Unterschied etwa zu der Beschreibung „von der Farbe frischen Grases", die eine Beschreibung der Farbe „Grün" ist, ohne selbst grün zu sein. Ganz so wie ein Turnlehrer eine gewisse Übung der Schulklasse dadurch erklärt, daß er sie vorturnt und also zeigt. Im Unterschied zur verbalen Beschreibung dieser Übung, bei welcher der Lehrer auf dem Stuhl sitzen bleiben kann, ist im Akt des exemplarischen Zeigens das, was gezeigt wird, unmittelbar vorhanden. Die Evidenz des psêphoi-Verfahrens — so können wir diese Überlegungen zusammenfassen — beruht also darauf, daß das, „quod erat demonstrandum", in dem, was gezeigt wird, unmittelbar präsentiert ist. Im Unterschied dazu ist bei der Demonstration der Inkommensurabilität von Quadratseite und -diagonale das, was zu beweisen ist, in dem, was gezeigt wird, nicht mehr präsentiert. Die Wechselwegnahme kann als Mittel, die Inkommensurabilität zweier Strecken zu zeigen, dann und nur dann eingesetzt werden, wenn diese Prozedur nicht abbricht. Erst die Unendlichkeit der Wechselwegnahme gewährleistet ihre demonstrative 141

Vgl. Goodman 1973, 62 — 7, der dort den Begriff der „Exemplifikation" entwickelt.

Inkommensurabilität u n d symbolische Beweisverfahren

43

F u n k t i o n . Die E v i d e n z v o n (2) erstreckt sich lediglich auf die folgenden Einsichten 1 4 2 : 1. Es wird im ersten Schritt gezeigt, wie die Subtraktion der Quadratseite von der Diagonalen eine neue Quadratseite ergibt. 2. Im zweiten Schritt zeigt sich, daß die zweite Subtraktion des ersten Restes wieder von einer Diagonalen, derjenigen des zweiten (kleineren) Quadrats, erfolgt. 3. Im dritten Schritt zeigt sich, daß die übrigbleibenden neuen Reste wieder Diagonale und Seite eines dritten Quadrates sind. Weiter braucht nichts m e h r gezeigt zu w e r d e n , denn im vierten Schritt wiederholt sich der erste, im f ü n f t e n der zweite, im sechsten der dritte. Dieser Prozeß setzt sich periodisch ad infinitum fort. N u r die Tatsache, daß die P r o z e d u r sich unendlich wiederholt u n d die Wechselwegnahme kein Stadium erreicht, w o sie aufgeht, kann als Beweisgrund gelten — doch diese Tatsache ist praktisch nicht sichtbar χμ machen. D a die aufeinanderfolgenden Q u a d r a t e z u s a m m e n s c h r u m p f e n , ist bald der P u n k t erreicht, w o mit k o n k r e t e n Mitteln kein kleineres Q u a d r a t mehr konstruiert werden kann, Seite u n d Diagonale „praktisch" zusammenfallen u n d somit ein gewisser N ä h e r u n g s w e r t erreicht wird, der praktisch als kleinstes gemeinsames M a ß i n k o m m e n s u r a b l e r Strecken gelten kann. Wenn also Hippasos die I n k o m m e n s u r a b i l i t ä t zweier Strecken d a d u r c h zeigte, daß er aufweisen konnte, daß die Anthyphairesis a n g e w a n d t auf Seite und Diagonale eines Fünfecks ad infinitum fortsetzbar ist, so haben wir in dieser Art beweiskräftiger D e m o n s t r a t i o n eine Nahtstelle, an welcher die theoretische Mathematik sich v o n der praktischen zu scheiden beginnt. Die Evidenz, auf der diese Art v o n Beweis b e r u h t , ist eine andere als bei (1), d e n n das, was anschaulich gemacht wird, ist nicht zugleich das, was zu beweisen ist. Wir haben aus dem, was wir sehen k ö n n e n , auf etwas zu schließen, das prinzipiell nicht v o r die A u g e n gestellt w e r d e n kann: v o n den drei ersten Schritten der Anthyphairesis zu schließen auf alle möglichen Schritte, in bezug auf die erst sinnvoll v o n der unendlichen Wiederholbarkeit der ersten drei Schritte gesprochen w e r d e n kann. D a m i t aber b e k o m m t das, was sich in den ersten drei Schritten zeigt, eine neue F u n k t i o n . Es hat Verweisungscharakter, zeigt als etwas, das sichtbar ist, auf etwas hin, das prinzipiell sichtbar nicht m e h r gemacht w e r d e n kann. Wo wir sinnlich W a h r n e h m b a r e s so gebrauchen, daß es f ü r etwas den Sinnen unmittelbar nicht Zugängliches steht, wird es zum Symbol. Im Unterschied zur Be142

Szabó 1969, 280.

44

Die E n t d e c k u n g der symbolischen Differenz

weisform (1), die auf exemplarischer Demonstration beruht, gründet die Evidenz von Beweisform (2) auf symbolischer Demonstration. Szabó hat richtig vermerkt, daß die Griechen mit der Entdeckung der linearen Inkommensurabilität einen mathematischen Sachverhalt erkannt haben, dessen Existenz sich mit praktischen Mitteln zwingend nicht erweisen lasse. 143 In der Folge dieser Einsicht hat er die von Reidemeister vermerkte „Umwendung" der griechischen Mathematik vom Anschaulichen zum Begrifflichen zu einer „Abwendung" radikalisiert, einer „antiempirischen, anschauungsfeindlichen Tendenz" 144 , welche schließlich dazu führte, daß der dem wissenschaftlichen Standard genügende Beweis der Inkommensurabilität jene Form annahm, die uns Euklid in Buch X/27 überliefert hat, den indirekten Beweis nämlich, der sich ausschließlich logischer Argumentation bedient. Vielleicht hat durch die vorstehenden Überlegungen deutlich werden können, daß auf jener rekonstruierbaren Stufe einer Demonstration durch das Anthyphairesis-Verfahren nicht einfach eine Abwendung von den sinnlich sichtbaren Erscheinungen statthat, vielmehr ihre Umdeutung·. sichtbare Gegenstände werden zum Symbol für rein intelligible Gegenstände. 145 In dieser Perspektive erweist sich die Entdeckung der linearen Inkommensurabilität durch das ad infinitum fortsetzbare Verfahren der Anthyphairesis als die Entdeckung der symbolischen Differenz. „Symbolische Differenz" hier nur verstanden als das Vermögen, zwischen einem sinnlich sichtbaren Tatbestand und einem nicht sinnlich wahrnehmbaren Sachverhalt, auf den dieser verweist, unterscheiden zu können. Damit aber sind die Grundlagen gebildet für die Entstehung einer wissenschaftlichen Mathematik — einer Wissenschaft also, deren Gegenstände im Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren nicht mehr präsentiert, nicht mehr unmittelbar gegenwärtig sind, sondern nur noch repräsentiert, ver-gegenwärtigen sind.

143 144 145

Szabó 1969, 282 f. Szabó 1969, 287. Wenn Szabó 1969, 416 die M e i n u n g vertritt, daß die A n n a h m e , mathematische Gegenstände als rein intelligible Gegenstände aufzufassen, auf den Einfluß der eleatischen Philosophie z u r ü c k z u f ü h r e n sei, insbesondere der Lehren v o n Parmenides und Z e n o n , so zeigt die vorstehende R e k o n s t r u k t i o n des Beweisverfahrens f ü r die I n k o m m e n s u r a bilität, daß auch aus der internen E n t w i c k l u n g s d y n a m i k der Mathematik solcher Uberg a n g zu rein theoretischen G e g e n s t ä n d e n möglich ist.

Etymologische Spurensicherung

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4. Die Erschütterung der pythagoreischen arithmetica universalis: eine etymologische Spurensicherung Unabhängig davon, ob mit der Entdeckung der Inkommensurabilität eine Krisis oder gar Grundlagenkrisis der griechischen Mathematik proklamiert werden kann, bleibt doch eines unbezweifelbar: Das Leitbild der pythagoreischen arithmetica universalis konnte von dieser Entdeckung nicht unberührt bleiben. Mit diesem Leitbild hatte sich der universale Anspruch verknüpft, daß alle Gegenstände — nicht also nur konkrete Dinge, sondern auch abstrakte Gegenstände wie ζ. B. Gerechtigkeit, Ehe etc. 146 — als Zahlen zu erfassen seien; daher das „Wesen" der Dinge durch Zahlenverhältnisse ausgedrückt werden könne. Doch nun zeigte sich, daß nicht einmal das Verhältnis gewisser Strecken durch das Verhältnis von Zahlen erfaßt werden konnte. Die Inkommensurabilität führt vor Augen, daß der Anspruch der arithmetica universalis nicht einmal für elementare geometrische Gebilde zu erfüllen ist. Die Identität von Streckenverhältnis und Zahlenverhältnis, genauer: von geometrischem Punkt und Zähleinheit fand eine entscheidende Grundlage in der mathematischen technë der figurierten Zahlen. Wenn aber die pythagoreische Annahme, daß die Welt Zahl sei, durch die Entdeckung der Inkommensurabilität empfindlich erschüttert werden konnte, um wieviel mehr gilt das für die magische symbolische Praxis, aus der solche Annahme sich nähren konnte? Der magische Symbolismus der Pythagoreer läßt sich in dem Satz zusammenfassen, daß eine durch die Aneinanderreihung von Rechensteinen gebildete Strecke eine gewisse Zahl nicht symbolisiere, sondern diese Zahl sei. Die Anerkennung der Inkommensurabilität untergräbt diese magische Identität und macht so den Weg frei für eine wissenschaftliche Referenzbeziehung, dergemäß eine Strecke nicht eine Zahl ist, sondern — sofern wir sie in dieser Weise gebrauchen — eine Zahl symbolisiert. Wir werden bald an einem Beispiel sehen, daß Euklid die Beziehung von Strecke und Zahl als eine rein symbolische Beziehung faßt, ihm die Strecken nur noch als Medium dienen, um Zahlen darzustellen, die als dargestellte Gegenstände von dem Medium wohl zu unterscheiden sind. Doch zuvor seien die etymologischen Spuren gesichert, die die Erschütterung der pythagoreischen arithmetica universalis hinterlassen hat und die uns zum Zeichen dafür werden können, daß die Entdeckung der ,46

Aristoteles Met. 1078 b, 21.

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Die Entdeckung der symbolischen Differenz

Inkommensurabilität die ursprüngliche Einheit von „Vemünftigkeit" und „als Zahlenverhältnis ausdrückbar", die in der Doppelbedeutung des pythagoreischen λ ό γ ο ς festgeronnen ist, verlorenging. Es ist dies die von Arpad Szabó 147 und Kurt von Fritz 148 untersuchte Genesis von ά λ ο γ ο ς als mathematischem Fachterminus für die arithmetische Inkommensurabilität. Im Zusammenhang der Inkommensurabilität finden sich in der griechischen Fachterminologie die Begriffspaare σύμμετρου und ασύμμετρου, meßbar und unmeßbar 1 4 9 , um die geometrische Inkommensurabilität, sowie λ ό γ ο ς und άλογος 1 5 0 , rational und irrational, um die arithmetische Inkommensurabilität auszudrücken. Im Sinne der mathematischen Fachterminologie sprechen wir von „irrational", sofern es sich um irrationale Zahlen handelt, um eine besondere Gruppe von Zahlen also, die wir einführen müssen, wenn wir das Potenzieren bzw. Radizieren mit beliebigen rationalen Zahlen (in Exponenten) durchführen wollen, um Zahlen also, die in der Dezimalbruchschreibweise unendlich sind und — im Unterschied zu den rationalen Zahlen — über keine Periode verfügen. Verfügten die Griechen über den Begriff der rationalen Zahlen? Jakob Klein hat gezeigt, daß der griechische Zahlbegriff „arithmos" gar nicht „Zahl", sondern „Anzahl" bedeutet, eine Menge abzählbarer Einheiten also, und daß daher der moderne Zahlbegriff den Griechen fremd gewesen sei. 151 Am modernen Maßstab gemessen, ließen die Griechen nur die natürlichen Zahlen als Zahlen gelten. 1 5 2 Kann dann aber ά λ ο γ ο ς „irrational" in jenem modernen Sinne heißen, den wir zugrunde legen, wenn wir von „irrationalen Zahlen" im oben skizzierten Sinne sprechen? 153 Schon der griechische arithmos-Begriff, verstanden in dem durch Jakob Klein rekonstruierten Sinne, legt nahe, daß diese Frage zu verneinen ist. Doch eine Sicherheit ist erst zu gewinnen durch etymologische „Spurensicherung". Welches ist die ursprüngliche Bedeutung von άλογος? Kurt Szabó 1969, 1 1 2 - 1 1 9 . v. Fritz 1965, 3 0 1 - 3 . 145 Euklid, X, Def. 1; vgl. auch: Aristoteles Met. 983 a, 13 ff. 150 Euklid, X, Def. 3 u. 4; vgl. auch: Aristoteles Topik 158 b, 32 ff. 151 Klein 1936. 152 Vor Klein vertrat Heinrich Scholz die Auffassung, daß die Griechen nicht über den Begriff der rationalen Zahl verfügten: Hasse/Scholz 1928, 34 — 72. ' ' ' Problematisch ist es daher, wenn Bonnensen 1921 von einer „théorie des nombres irrationnels" spricht; Hultzsch 1893 von „irrationalen Quadratwurzeln"; Stamatis 1955 von „Irrationalzahlen bei den Alten" und Zeuthen 1915 schließlich über die „Quantités irrationelles". 147

148

Etymologische Spurensicherung

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von Fritz wies auf einen philosophischen Sachverhalt hin, der helfen kann, diese ursprüngliche Bedeutung freizulegen. 1 5 4 Eine Zeitlang wurde der Begriff άλογος durch den Begriff άρρητος (unausdrückbar) ersetzt. Sodann wurde der Terminus ρητός für „rational" eingeführt. Dann jedoch verschwindet der Begriff άρρητος wieder, als Theaetet, der die Theorie der Irrationalität fortbildete, den Begriff άλογος für die Irrationalitäten höheren Grades wieder einführt, ζ. B. von der Form ^ J ^ f b , während die einfachen Irrationalitäten von der Form als δυνάμει μόνου ρητοί, wörtlich: nur im Quadrat rational bezeichnet werden. Schließlich kehrten die griechischen Mathematiker zur alten Terminologie zurück: άλογος wird zum terminus technicus für alle irrationalen Größen. Die Odyssee des Begriffes άλογος wird für uns an dem Punkte interessant, wo άλογος durch άρρητος ersetzt wird, kann daraus doch geschlossen werden, in welchem Sinne άλογος ursprünglich gemeint ist. Uns ist durch Piaton eine Textstelle überliefert, in der er selbst den Terminus άρρητος zur Kennzeichnung der Inkommensurabilität benutzt. 1 5 5 An jener Stelle über die „Hochzeitszahl" im Staat V I I I 546 C ff. spricht Piaton von der διάμετρος ρητή. Der Mathematiker und Mathematikhistoriker van der Waerden hat diesen Ausdruck mit „rationale Diagonale" übersetzt, wenn er schreibt: „Piaton nennt die Zahl 7 die rationale Diagonale, zur Seite 5 gehörend." 1 5 6 Szabó hat darauf aufmerksam gemacht, daß solche Ubersetzung von ρητός mit „rational" durchaus problematisch ist, und demgegenüber den ursprünglichen Sinn von ρητός geltend gemacht. ρητός heißt „was gesagt werden kann" bzw. „ausdrückbar", und άρρητος heißt „was nicht gesagt werden kann" bzw. „unausdrückbar". 1 5 7 Welchen Sinn aber macht es, von einer „sagbaren" bzw. „unsagbaren" Diagonalen zu sprechen? Kann das in einem normativen Sinne gemeint sein, so, daß das öffentliche Behandeln der mathematischen Irrationalität als frevelhafter Bruch mit der geheiligten Tradition erscheint, eine Annahme, die in der Erzählung, Hippasos sei nach Entdeckung und Bekanntmachung der Irrationalität vom Meer verschlungen worden 1 5 8 , ihre gleich-

154 153

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'57 138

V. Fritz 1965, 301 f. Politea 5 4 6 C ; zur Interpretation dieser Stelle vgl.: Ahlvers 1952. V. d. Waerden 1956. Szabó 1969, 114 f. Im ersten Buch seiner „über die pythagoreische Philosophie" berichtet lamblichos, Hippasos habe „zuerst die aus z w ö l f Fünfecken zusammengesetze Kugel öffentlich

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Die E n t d e c k u n g der symbolischen Differenz

sam mythologische Weihe erhält? 1 5 9 Im Anschluß an Reidemeister, der darauf hinwies, daß „nirgends in den mannigfachen Dokumenten über das Irrationale bei Piaton und Aristoteles von einem Skandal — der damals noch fühlbar gewesen sein müßte — etwas spürbar ist" 1 6 0 , vermutet Szabó, daß es sich um eine Legende handele, deren Anlaß gerade der Doppelsinn des Wortes άρρητος sein könnte, das in der mystisch-religiösen Sprache insbesondere der Neupythagoreer die „sorgfaltig gehüteten und dem Unberufenen gefährlichen Geheimlehren" meint. 1 6 1 Für den Nicht-Mathe matiker 1 6 2 läge es durchaus nahe, auch im Wissen um die Inkommensurabilität ein solches Geheimnis zu vermuten, so daß sich άρρητος als normativ gebrauchter Terminus erwiese. 1 6 3 In seinem engeren, mathematischen Sinne aber zeigt sich άρρητος als ein deskriptiv zu nutzender Terminus, der etwas über die „mathematische" Natur der Diagonale aussagt, wenn Piaton von διάμετρος άρρητος spricht. 1 6 4 Szabó rekonstruiert diese ursprünglich mathematische Bedeutung so: 1 6 5 Offenbar wollte man die Diagonale eines beliebigen Quadrats, dessen Seite als eine Zahl angegeben war, ebenfalls als eine Zahl bestimmen. Nun zeigt die Inkommensurabilität jedoch, daß die Diagonale gerade nicht durch ganze Zahlen bzw. ein Verhältnis ganzer Zahlen ausgedrückt, gemäß dem griechischen arithmos-Begriff also überhaupt nicht durch Zahlen ausgedrückt werden kann, διάμετρος άρρητος, die unsagbare Diagonale, ist also zu verstehen als eine Diagonale, deren Länge nicht als Zahl oder Zahlenverhältnis aussprechbar ist. Wir können jetzt zurückkehren zu Kurt von Fritz' philologischer Beobachtung, daß άλογος durch άρρητος ersetzt wurde. Wenn άρρητος beschrieben und sei deshalb als ein Gottloser im Meer u m g e k o m m e n , Iamblichus 1 9 3 7 , 1 , 5 2 , 3 — 5. Hiermit stimmt überein, was in einem Scholion zum B u c h X der Elemente Euklids über Hippasos ausgeführt wird (Euklid, 1 8 5 5 , 4 1 7 ) daß nämlich derjenige, welcher als erster die L e h r e v o m Unaussprechbaren in die Öffentlichkeit gebracht habe, bei einem Schiffbruch ums Leben g e k o m m e n sei. 159 ,6,) 161 162

163

1M

165

In dieser Weise faßt ζ. B . Spengler 1 9 2 3 , 1 , 88 ff. Iamblichus Erzählung auf. Reidemeister 1949, 30. Szabó 1 9 6 9 , 4 0 . Vgl. Aristoteles Met. 9 8 3 a, 15 ff., der betont, daß die Inkommensurabilität der Diagonale eines Rechtecks verwunderlich nur ist für den Nichtmathematiker, während sich der G e o m e t e r eher verwundern würde, wäre die Diagonale kommensurabel. Zu dem mystisch-religiösen Sinn von άρρητον als D i n g e , die nicht gesagt werden sollen, s. die Belege aus der griechischen Literatur, die Szabó 1969, 115 zusammenstellt. D a ß es hier um diesen mathematischen Sinn des Terminus geht, ist daraus erschließbar, daß Piaton an dieser Stelle nicht nur διάμετρος άρρητος sondern auch das Gegenteil dieses Begriffes διάμετρος ρ η τ ή , die „sagbare D i a g o n a l e " benutzt. Szabó 1969, 115.

Etymologische Spurensicherung

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„nicht durch Zahlen ausdrückbar" heißt, welches Licht fallt davon auf die ursprüngliche Bedeutung von άλογος? Offensichtlich doch, daß wir άλογος nicht einfach als Begriff für die Arteigenschaft einer spezifischen Klasse von Zahlen anzusehen haben — wie es durch die Übersetzung mit „irrational" immer schon nahegelegt wird 166 —, also nicht als „irrational" im modernen Wortsinne, sondern nur als „nicht durch ein Verhältnis von Zahlen ausdrückbar". Die Griechen entdeckten nicht irrationale Zahlen 167 , sondern, daß es Verhältnisse von Strecken gibt, die weder als ganze Zahl noch als Bruch darstellbar sind. Damit aber zeigen sich in der Etymologie von άλογος Spuren des Scheiterns der pythagoreischen arithmetica universalis. Im alltäglichen Sprachgebrauch der Griechen heißt λόγος „Wort" oder „Rede", „Gespräch", „Erzählung" oder „Bericht". Fritz betont — doch dabei zielt er offensichtlich bereits auf den „gehobenen" Gebrauch von λόγος ab —, daß Logos „Sprache" bzw. „Wort" heiße, und zwar in dem Sinne, daß dabei das Wesen der Dinge eigentlicher bezeichnet sei als durch die Namen (όνομα). 168 Für uns entscheidender ist der spezifisch pythagoreische Gebrauch dieses Wortes. Szabó weist auf einen Doppelsinn hin. 169 In der Musikwissenschaft und Mathematik wird λόγος im Sinne von „Verhältnis zweier Zahlen" gebraucht; in der philosophischen Sprache im Sinne von „Verstand", „Vernunft", „Denken". Szabó hat Beispiele aus der pythagoreischen Literatur zusammengetragen, bei denen der Ausdruck λόγος sowohl übersetzt mit „Überlegung" und „Verstand" wie auch mit „Zahlenverhältnis" einen Sinn ergibt. 170 „Vernunftgemäßheit" und „als Zahlenverhältnis gegeben" durchdringen einander und gehen eine ähnlich enge Verbindung ein wie der geometrische Punkt und die abzählbare arithmetische Einheit bei den figurierten Zahlen. Die Entdeckung der Inkommensurabilität verunmöglicht solche Durchdringung. Sowenig wie alle Streckenverhältnisse als Verhältnisse von Zahlen ausgedrückt werden können, sowenig ist das „Vernunftgemäße" auf das „durch Zahlen Ausdrückbare" zurückführbar. Von solcher Einsicht legt die Begrifflichkeit, mit der das Phänomen der Inkommensurabilität versprachlicht wird, Zeugnis ab: άλογος als Fachterminus für „inkommensurabel" zu gebrauchen, setzt den Verzicht auf die ursprüngliche Doppelbedeutung von λόγος ,6ύ

Vgl. A n m . 153. Vgl. Hasse/Scholz 1928, Anhang. ">" v. Fritz 1971, 49. Szabó 1969, 223. Ibid. 224.

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Die Entdeckung der symbolischen Differenz

voraus. Denn ά λ ο γ ο ς heißt keinesfalls „undenkbar", „vernunftwidrig", sondern nur noch „nicht als Zahlenverhältnis ausdrückbar". Vielleicht mag jene ursprüngliche Doppelbedeutung die griechischen Mathematiker dazu bewogen haben, ά λ ο γ ο ς durch άρρητος zu ersetzen, um unmißverständlich den nur noch mathematischen Sinn dieses Begriffes zum Ausdruck zu bringen. Und erst als λ ό γ ο ς sich als terminus technicus für „Verhältnis zweier Zahlen" zweifelsfrei durchgesetzt hatte — in diesem Sinne gebraucht Euklid diesen Terminus, den man seit Ciceros Vorschlag lateinisch mit „proportio" übersetzte 171 —, konnte ά λ ο γ ο ς als terminus technicus für „inkommensurabel" wieder verwendet werden.

5. Ein Beispiel für die symbolische Different^: Strecken als Veranschaulichung von Zahlen Die Entdeckung der „unsagbaren Diagonale" markiert nicht allein die Schwelle, an der sich Arithmetik und Geometrie endgültig in zwei wissenschaftliche Disziplinen scheiden, die von wohl zu unterscheidenden Gegenstandsgattungen handeln. 1 7 2 Für unsere Fragestellung wichtiger ist, daß damit eine rein symbolische Beziehung zwischen Strecke als geometrischem Gegenstand und Zahl als arithmetischem Gegenstand überhaupt erst möglich wird. „Rein symbolisch", insofern Strecken nicht mehr Zahlen sind, sondern diese bloß veranschaulichen. 173 Wie das zu verstehen ist, sei an einem Beispiel aus Euklids Elementen gezeigt. In seinen arithmetischen Büchern VII, VIII und IX kennzeichnet Euklid Zahlen durch Strecken. In VII,1 findet sich der folgende Lehrsatz: „Nimmt man bei Vorliegen zweier ungleicher Zahlen immer die kleinere von der größeren weg, so müssen, wenn niemals ein Rest die vorangehende Zahl genau mißt bis die Einheit (μονάς) übrig bleibt, die ursprünglichen Zahlen gegeneinander prim sein."

171

172

173

„Id optime assequitur quae Graece α ν α λ ο γ ί α Latine (audendum est enim, quoniam haec primum a nobis novantur) comperatio proportione dici potest", zit. Szabó 1969, 193. Vgl. die von Aristoteles Met. 1020 a, 6 ff. getroffene Einteilung der Größen in (1) Vielheit ,,ττλήθος" lat. „multitudo", die der Möglichkeit nach in nicht zusammenhängende Teile zerlegbar ist und (2) Ausdehnung „μέγεθος" lat. „magnitudo", die der Möglichkeit nach in zusammenhängende Teile zerlegbar ist. Die begrenzte Vielheit heißt Zahl, die begrenzte Länge Linie, die begrenzte Breite Fläche, die begrenzte Tiefe Körper. Von einer „Veranschaulichung" bzw. „Symbolisierung" der natürlichen Zahlen durch Strecken, sprechen auch Hasse/Scholz 1928, 72.

Ein Beispiel f ü r die symbolische Differenz

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Bedenkt man, daß für Euklid Zahlen immer nur positive ganze Zahlen, Anzahlen also, sind 174 , so daß die Eins die letzte kleinste nicht weiter zerlegbare Einheit, die Monade also, ist 175 , so wird der Sachverhalt, den Lehrsatz VII,1 ausdrückt, klar: Wird auf zwei Zahlen das Verfahren der Wechselwegnahme angewendet und gelangt man zu einer Subtraktion, die das Resultat Eins ergibt, über die hinaus das Verfahren der Wechselwegnahme als arithmetisches Verfahren nicht mehr möglich ist, so sind die Zahlen gegeneinander prim. Wenn wir ζ. B. die Wechselwegnahme auf die Zahlen 7 und 3 anwenden, ergibt sich „7 — 3 = 4"; „4 — 3 = 1 " , also sind 7 und 3 relativ prim. Euklid kennzeichnet die beiden ungleichen Zahlen mit den Buchstaben AB und CD. Er stellt die Zahlen also als Strecken dar, deren geometrischer Charakter daran ablesbar ist, daß er die Endpunkte mit Buchstaben bezeichnet, gemäß den geometrischen Definitionen in 1,2 und I, 3, in denen eine Strecke als Linie gefaßt wird, die durch zwei Punkte begrenzt wird.' 7 6 Entscheidend ist nun aber, daß die Strecken hier nur als Ver-anschaulichung der Zahlen dienen, nur noch ein Medium sind, einen abstrakten Gegenstand (ζ. B. eine beliebige Primzahl) darzustellen, ohne daß dem Medium selbst über die repräsentierende noch eine demonstrative Kraft zukäme, daß es also über den dargestellten Gegenstand etwas geigen könnte. Davon legt der Beweis Zeugnis ab, den Euklid führt, um die Richtigkeit von VII, 1 nachzuweisen, denn dieser Beweis basiert auf einem rein arithmetischen Gedankengang. Ein Gedankengang, der für das geometrische Darstellungsmittel gerade keine Geltung hat, sich in einem geometrischen Gedankengang gerade nicht übersetzen läßt. Euklid bedient sich eines 174

175

176

Euklid VII, Def. 2: Zahl ist die aus Einheiten zusammengesetzte M e n g e und Def. 1: Einheit ist das, w o n a c h jedes D i n g genannt wird. Aristoteles nennt die Eins den U r s p r u n g ά ρ χ ή der Zahlen, die selbst nicht Zahl ist: Met. 1088 a, 6. Auch Euklid rechnet die Eins nicht zu den Zahlen. Dies ist seinen Definitionen 11 u. 13 in VII über die Primzahlen und zusammengesetzten Zahlen ablesbar. Über die Unteilbarkeit der Einheit und damit der Eins vgl. Piaton Politea 525 E. Die Bücher VII, VIII und IX Euklids vermeiden sehr konsequent die E i n f ü h r u n g von Bruchteilen der Einheit, während Bruchteile von Zahlen (VII, Def. 3 u. 4, Satz 37 u. 38) verwendet werden. Euklid veranschaulicht Zahlen d u r c h Strecken und kennzeichnet diese wiederum mit Buchstaben auf dreierlei Art: (1) E r bezeichnet Strecken bloß mit einem Buchstaben: VII, 3, 12, 13, 14, 16, 17, u. a. m. (2) E r bezeichnet Strecken mit zwei Buchstaben, den Anfangs- und E n d p u n k t e n der Strecken: VII, 1, 2, 7, 8 u. a. m. (3) E r bezeichnet innerhalb eines Satzes Zahlen mit einem oder zwei Buchstaben: VII, 4, 5, 6, 9 u. a. m. Szabó 1969, 168 f. diagnostiziert zwei verschiedene Wurzeln der Idee, Zahlen durch Strecken zu symbolisieren: (1) die Musiktheorie, in der die verschieden langen Saitenabschnitte des M o n o c h o r d s mit Buchstaben gekennzeichnet werden. (2) die Geometrie.

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Die Entdeckung der symbolischen Differenz

indirekten Beweises. Er nimmt an, daß es eine Zahl gebe, die AB und C D messe. Er zeigt, daß diese Annahme zu der Schlußfolgerung führt, E sei eine Zahl, welche die Einheit mißt, also gleich der Einheit sei. Dies aber ist ein Widerspruch zu der Definition VII, 2, die besagt, daß Zahl die aus Einheiten zusammengesetzte Menge ist, die Einheit selber also nicht Zahl sein kann. Diesen Widerspruch anzuerkennen, heißt, einer rein arithmetischen Überlegung zu folgen. Denn wäre die Wechselwegnahme als ein Verfahren konzipiert, das sich auf die Strecken als geometrische Gegenstände bezieht, würde dieses Verfahren gerade nicht abbrechen — wie es dann der Fall ist, wenn die arithmetische Einheit erreicht ist —, da Strecken geometrisch nicht als Vielfache der Einheitsstrecke bestimmt sind 177 , und w ü r d e sich daher ins Unendliche fortsetzen. Tatsächlich setzt Euklid auch in X, Lehrsatz 2 das Verfahren der Wechselwegnahme im geometrischen Sinne ein: „ N i m m t man bei Vorliegen zweier ungleicher Größen immer die kleinere v o n der größeren weg und mißt der Rest niemals die vorangehende Größe, so werden die beiden Größen inkommensurabel sein." Euklid nutzt also das Verfahren der Wechselwegnahme als Kriterium für die Inkommensurabilität arithmetischer wie geometrischer Gegenstände. D e r Unterschied zwischen der Wechselwegnahme als arithmetischem und als geometrischem Verfahren liegt darin, daß im ersteren Fall dieses Verfahren auf einen kleinsten Baustein führt und abbricht, in letzterem Falle jedoch nicht. Indem in VII, 1 Lehrsatz wie Beweis das Verfahren der Wechselwegnahme als eine rein arithmetische Operation in Anspruch nehmen, die Zahlen aber geometrisch dargestellt werden, heißt dies: Die geometrische Darstellung hat nur noch eine subsidiäre, veranschaulichende, symbolische Funktion. „Symbolische F u n k t i o n " in dem Sinne, daß die Strecken zwar Zahlen darstellen, die Schritte des mathematischen Gedankenganges jedoch ausschließlich bezogen sind auf die Zahlen selbst, nicht aber auf das Medium ihrer Veranschaulichung. Die Unterscheidung zwischen dem Mittel und dem Gegenstand einer symbolischen Darstellung ist hier also vollzogen. Von der pythagoreischen Ineinssetzung der arithmetischen Einheit mit dem geometrischen Punkt, der Zahlenrepräsentanten mit den Zahlen selbst, kurz: von der magischen Identität zwischen Symbol und Symbolisiertem findet sich keine Spur mehr. Die mathematische Reflexion hat sich endgültig als wissenschaftliche Praxis etabliert. 177

Daß es „in der Geometrie überhaupt kein Kleinstes gibt" schreibt Proklos 1873, 60, 11 f.

Philosophische Legitimation d u r c h Piaton

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Eine letzte Bemerkung sei erlaubt: Wenn wir Euklids Veranschaulichung von Zahlen durch Strecken als einen Hinweis darauf werten, daß die symbolische Differenz vollzogen werde, so ist der Begriff der „symbolischen Differenz" hier in einem sehr schwachen Sinne zu verstehen. Nicht mehr ist gemeint, als daß überhaupt zwischen dem darstellenden Medium und dem dargestellten Gegenstand unterschieden werde. Der Unterschied selbst bleibt für den Gehalt der mathematischen Argumentation hier belanglos: Euklid hätte ebensogut auf die Veranschaulichung seiner Zahlen verzichten können; sein rein arithmetischer Beweis hätte davon keinen Schaden gelitten. Anders verhält es sich mit Lehrsatz 2 im X. Buch, in welchem Euklid die Unendlichkeit des Verfahrens der Wechselwegnahme bei zwei ungleichen geometrischen Strecken als ein Kriterium für deren Inkommensurabilität ansetzt. Wenn er hier Strecken einzeichnet, so nur als sinnlich sichtbaren Verweis auf Strecken, die im Zuge der nicht abbrechenden Wechselwegnahme mit keinen praktischen Mitteln mehr vor die Augen zu stellen sind. Gleichwohl haben jene Schritte des Verfahrens, die sinnlich wahrnehmbar sind — nicht anders als im Verfahren, die Inkommensurabilität von Quadratseite und Diagonale durch die Wechselwegnahme zu demonstrieren —, eine für den Beweisgang konstitutive Aufgabe zu erfüllen: Insofern die infinite Fortsetzbarkeit nur heißt, die ersten im symbolischen Medium sinnlich nachvollziehbaren Schritte wiederholen sich periodisch, wird Evidenz geschaffen. Ein sinnlich wahrnehmbarer Vorgang zeigt etwas über einen Sachverhalt, der selbst nicht mehr sinnlich wahrnehmbar und auf den durch das symbolische Medium nur noch zu verweisen ist.

6. Die philosophische Legitimation der symbolischen Differenz durch Piaton Wir haben versucht zu zeigen, daß die Entwicklung der Mathematik zur Wissenschaft einherging mit der allmählichen Herausarbeitung der symbolischen Differenz. Doch dieser innermathematische Vorgang hat auch eine „Außenseite", zeigt ein „philosophisches Gesicht". Daß die Philosophie bei der Geburt der wissenschaftlichen Mathematik Patin gestanden habe, wissen wir spätestens seit Jacob Kleins minutiöser Rekonstruktion des platonischen und aristotelischen arithmos-Begriffes 1 7 8 , seit

176

Klein 1936.

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Die Entdeckung der symbolischen Differenz

Szabós Untersuchung des Einflusses der Eleaten auf die Mathematik 179 , wie seit Stachowiaks Rekonstruktion des platonischen und aristotelischen Beitrages zu Begriff und Methode des axiomatisch-deduktiven Theorienaufbaus in der Mathematik. 180 Unbestritten ist nun in der Forschung, daß in der Auffassung des Mathematischen zwischen Piaton und Aristoteles folgende Differenz bestehe 181 : Piaton fasse die Gegenstände der Mathematik als ideale, rein noetische Gebilde auf, die ontologisch selbständig seien, insofern ihnen eine, sowohl gegenüber den Ideen wie den sinnlich wahrnehmbaren Körpern, eigenständige Seinsweise zukomme. 182 Demgegenüber halte Aristoteles zwar auch am noetischen Charakter mathematischer Gegenstände fest, doch komme ihnen ontologisch keine Selbständigkeit zu neben den 179 ,8() 181 182

Szabó 1955; ders. 1963; ders. 1969. Stachowiak 1971. Z. B. Klein 1936, 95 ff.; Reidemeister 1949, 85 ff. Für den rein noetischen Charakter der Gegenstände der Arithmetik ist die von Piaton im Staat und im Philebos getroffene Unterscheidung zwischen „praktischer" Arithmetik" und „praktischer" Logistik und den ihnen entsprechenden „theoretischen" Disziplinen bedeutsam. Der Unterschied liegt in der Art der Gegenstände. Die praktischen Disziplinen haben es mit Anzahlen ungleicher Einheiten wie zwei Heerlagern, zwei Rindern etc. zu tun, die theoretischen Disziplinen handeln jedoch von Einheiten, die sich voneinander nicht unterscheiden, (Philebos 56 D) sozusagen „indifferenten" Stoffes sind und dem Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren daher nicht mehr angehören können. Die Beschäftigung mit den indifferenten Einheiten, den Anzahlen also die keine „sichtbare und tastbaren Körper" haben (Epinomis 999 C), wird zu einer Beschäftigung, die nicht mehr zu Privatzwecken betrieben wird, sondern ausschließlich um der Erkenntnis willen (Politea 525 C , D ) . Auch im Theaetet 195 D—196 Β findet sich die Unterscheidung zwischen einer Anzahl von Dingen, die mit den Sinnen wahrnehmbar sind, und den entsprechenden Anzahlen selbst. Diese „Anzahlen selbst" sind nur mit dem Verstand wahrzunehmen (Politea 526 A), handelt es sich doch um Einheiten, die voneinander nicht verschieden, sowie unteilbar sind. Auch im Charmenides 165 E findet sich die Bemerkung, daß die Gegenstände der Rechenkunst und der Geometrie nicht von der Art der Gegenstände anderer Künste sein könnten. Über die geometrischen Gegenstände als reine Denkbestimmungen, gibt uns die Stelle im Menon 76 A Auskunft, wo Sokrates eine Definition des geometrischen Begriffes „Figur" vorstellt. In der Politea 526 E—527 A finden sich Hinweise, daß das Wesen der Geometrie als Wissenschaft in geradem Gegensatz stehe zur Ausdrucksweise, deren sich die Geometer bedienten. Die Geometer beziehen sich auf sichtbare Gestalten in ihrer Rede, obwohl sie gerade nicht von diesen handeln, sondern um der geometrischen Figuren selbst willen ihre Beweise führen (Politea 510 D, E). Für die platonische Konzeption der rein noetischen Gegenstände der Mathematik, die sich indifferent verhalten gegenüber den sinnlich wahrnehmbaren Körpern, wesentlich ist, daß den noetischen Gegenständen ein Seinsstatus zukommt, der sie über die aisthetischen Gegenstände erhebt. So stellt Piaton im Philebos 59 C fest: „Das Beharrliche, das Reine und das Wahre und das Lautere, das sich ewig im selben Zustand ohne jede Mischung befindet, oder doch im Gebiet dessen, das ihm am meisten verwandt ist, alles andere aber ist als ein Zweites oder Nachstehendes zu bezeichnen".

Philosophische Legitimation durch Piaton

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sinnlich wahrnehmbaren aisthetischen Gegenständen, da sie aus denselben durch die Abstraktionen des mathematischen Wissenschaftlers gewonnen werden. 1 8 3 Wir haben in den vorstehenden Kapiteln den Weg nachzuzeichnen versucht, den die mathematische Einsicht in die Möglichkeit, zwischen einem Zeichen und seinem Referenzobjekt zu unterscheiden, nahm. Könnte es nicht sein, daß Piatons Argumentation für eine ontologische Selbständigkeit der noetischen gegenüber den aisthetischen Gebilden einen Entwicklungsschritt auf diesem Weg markiert, wenn nicht gar einen philosophisch-erkenntnistheoretischen Meilenstein? 184 Eine solche Interpretation böte sich an, sofern aufgezeigt werden könnte, daß für Piaton ein

183

Der Ansatzpunkt der aristotelischen Kritik ist die Platonische Ontologie des mathematischen Gegenstandsbereiches, nicht in dem Sinne, daß der Mathematik ein eigener Gegenstandsbereich bestritten würde, sondern lediglich in bezug auf den Seinsmodus der mathematischen Gegenstände (Met. 1076 a, 36 f.). Klein 1936,95 resümiert die Differenz Piaton —Aristoteles: Aristoteles ist es „darum zu tun, die platonische Auffassung von der Seinsart der mathematischen Gegenstände als falsch zu erweisen: nicht um ihr Sein, um ihre Seinsart geht der Streit". Für Aristoteles sind die Anzahlen mögliche Anzahlen wirklicher Dinge. Für Aristoteles sind die mathematischen Gegenstände den aistheta abgelesen — um einen Terminus von Klein 1936, 97 zu benutzen — sie sind daher den Sinnen nicht mehr unterworfen und haben doch kein Sein neben und unabhängig vom Sein der aistheta. In der Mathematik werden also die ihrem Sein nach nicht abgelösten Gegenstände als von den sinnlich wahrnehmbaren Dingen abgelöst betrachtet (de anima 431 b, 15 f.). In dieser Ablösung werden die aistheta ihres individuellen Charakters beraubt (Met. 1061 a, 28 ff.). Sofern es sich um die Betrachtung der Anzahlen von Dingen handelt, wird zum Kriterium dieses Absehungsvorganges die Einheit, die Eins, „denn eine jegliche Anzahl ist „vieles", weil eine jegliche Einsen ist und durch die Eins gemessen wird." (Met. 1056b, 23 f., vgl. auch: Physik 220b, 20 —22). Daher wird die Einheit zur arche der Anzahl (Met. 1016 b, 17 — 20; 1088a, 6 — 8); ihre Priorität gegenüber der Anzahl besteht in ihrem Maßcharakter. In diesem ihrem Maßcharakter der Einheit, wurzelt ihre Unteilbarkeit (Met. 1053 a, 1 f.; 1016 b, 25). Diese Unteilbarkeit gilt nur in bezug darauf, daß sie als Maß möglicher Zählung genommen wird (Met. 1016 b, 4 — 6). Dazu: Klein 1936, 9 5 - 1 0 5 .

184

Daß Piatons Argumentation für eine selbständige Existenz der noetischen Gegenstände eine wichtige Rolle zukommt auf dem Weg der Entdeckung der Unterscheidbarkeit von dargestelltem Gegenstand und Darstellungsmittel, übersieht Stachowiak 1971,61, wenn er schreibt, daß jene ontologische „platonische Konzeption einen bleibenden Beitrag zur Erkenntnistheorie oder Methodologie der Mathematik nicht hat leisten können". Richtig ist allerdings Stachowiaks Feststellung, daß sich von Piatons ontologischer Bestimmung des mathematischen Gegenstandsbereiches bei Eudoxos und erst Recht bei Euklid keine Spur mehr findet (1971,61), weshalb jeder Versuch, die platonische Ontologie in die Elemente Euklids hinein zu interpretieren, wie das z. B. Steck 1942,46 tut, fehl gehen muß. Euklid trennt als Mathematiker die philosophische Frage nach der absoluten Existenz der Gegenstände ab von der mathematischen Behandlung derselben: F.r läßt das Problem der Geltung der Axiome und Postulate gänzlich unberührt; dazu: Stachowiak 1971, 61, Anm. 27.

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Die Entdeckung der symbolischen Differenz

Zusammenhang besteht zwischen der eigenständigen Seinsweise der noetischen mathematischen Gegenstände neben den sinnlich wahrnehmbaren Dingen und den Ideen, dem Umstand, daß der Mathematiker zur Erkenntnis seiner Gegenstände nur gelangt durch Betrachtung sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände und dem Bildcharakter alles Sichtbaren, vermittels dessen das Somatische, insofern es am Noetischen teilhat, indem es dieses nachahmt, auf das Noetische verweist, es abbildet, ohne doch mit ihm identisch zu sein. Die Radikalität, mit der Piaton an der ontologischen Selbständigkeit des Noetischen festhält, sein Insistieren darauf, daß der Mathematiker im Umgehen mit den sinnlich sichtbaren mathematischen Figuren stets auf die rein noetischen Gegenstände der Mathematik ausgerichtet bleibe, könnte dann gelesen werden als die Weise, in der die symbolische Differenz zur philosophischen Anerkennung gelangt und ihr erkenntnistheoretisches Fundament erhält. Tatsächlich findet sich am Ende des 6. Buches der Politela 509 C ff. eine Textstelle, die solche Deutung ermöglicht. Die Interpretationshypothese sei plausibel gemacht, daß für Piaton die spezifische Auszeichnung des mathematischen Gegenstandes darin liegt, daß zu seiner Erkenntnis nur zu gelangen ist mit Hilfe des Operierens und Betrachtens seiner sinnlich sichtbaren Abbilder. Aisthetische Gegenstände werden also dem Mathematiker zum Hilfsmittel der Erkenntnis der rein noetischen, mathematischen Gegenstände. Damit aber wird mathematische Erkenntnis als symbolisch vermittelte Erkenntnis konzipiert. Im 20. Kapitel des 6. Buches der Politela unterscheidet Sokrates zwischen dem Reich des sinnlich Wahrnehmbaren, dem όρατόν, und dem Reich des Denkbaren, dem νοητόν. Reidemeister hat darauf hingewiesen 185 , daß die Übersetzung von νοητόν durch „das Denkbare" mißverständlich ist, insofern in unserem Sprachgebrauch das nur Denkbare mit dem, was (widerspruchsfrei) möglich ist, das Sichtbare aber mit dem, was wirklich ist, assoziiert wird. Nun gilt für Piaton gerade ein Umgekehrtes: 186 Das νοητόν ist im eigentlichen Sinne ein Reich des Seienden, insofern es dem Werden und also auch zeitgebundener Vergänglichkeit enthoben und dadurch wahrhaft erkennbar ist, demgegenüber das sinnlich Wahrnehmbare das Reich des Werdens ist, über das wir uns zwar Meinungen (Vorstellungen) bilden, aber kein wirkliches Wissen (επιστήμη) erwerben 185 184

Reidemeister 1949, 50. Politea 476 A - 477 B.

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Philosophische Legitimation durch Piaton

können, und das eine Mittlerstellung zwischen Seiendem und Nichtseiendem einnimmt. Wenn also Piaton hier zwischen όρατόυ und νοητόν unterscheidet, so handelt es sich um eine ontologische Unterscheidung, d. h. eine Einteilung von Bereichen des Wirklichen, die in höherem oder geringerem Maße als „Seiendes" qualifizierbar sind. Sokrates läßt nun folgende Aufforderung an seinen Gesprächspartner Glaukon ergehen: Glaukon solle eine Strecke in zwei ungleiche Teile teilen und die so erhaltenen Teilstücke mit dem Bereich der νοητά und dem Bereich der ορατά bezeichnet denken. Nun solle jeder Bereich ein weiteres Mal unterteilt werden, nach demselben Verhältnis, in welchem die beiden Bereiche der νοητά und ορατά zueinander stehen. Die Größenproportionen der Teilabschnitte sind selbst nur Sinnbild für ein ganz andersgeartetes Verhältnis, das zwischen denselben besteht und das den Grad ihrer Erkennbarkeit betrifft. Wenn wir uns Sokrates' Aufforderung auf folgende Weise veranschaulichen: Ά,

b]

a2

I

i

j i

Α

b2

1

— Β

wobei A und Β die Bereiche der όρατά und der νοητά versinnbildlichen, dann verhalten sich A : B = a, : a 2 = b , : b 2 gemäß dem Verhältnis von Gewißheit σαφήνεια und Ungewißheit άσαφηνεία, das jedem zukommt. Denn was sich auf der Seite des Intelligiblen als volle Sicherheit der Erkenntnis ergibt, zeigt sich auf der Seite des Sensiblen nur in der Weise der Nachahmung, nur als Abbild und verliert darin an Gewißheitsgrad. Der gesamte Bereich der όρατά ist ein Abbild des Bereiches der νοητά, und diese Urbild-Abbild-Relation wiederholt sich innerhalb derselben. Dem korrespondiert jeweils die Relation an σαφήνεια und άσαφηνεία: Die Frage ist nun: Für welche όντα stehen die Teilabschnitte der Strecke? Den Teilabschnitt A betreffend, läßt sich darauf eine einfache Antwort geben. 1 8 7 Zu der ersten Abteilung gehören alle είδωλα, d. h. Schattenbilder, Spiegelbilder, Abbildungen, zu der zweiten Abteilung aber

187

509 D — 5 1 0 A: „ S o gibt dir vermöge des Verhältnisses von Deutlichkeit und Unbestimmtheit in dem Sichtbaren der eine Abschnitt Bilder. Ich nenne aber Bilder (εικόνες) zuerst die Schatten, dann die Erscheinungen im Wasser und die sich auf allen dichten, glatten und glänzenden Flächen finden, und alles dergleichen, wenn du es verstehst. — Und als den anderen Abschnitt setze das, dem diese gleichen, nämlich die Tiere bei uns und das gesamte Gewächsreich und alle Arten des künstlich Gearbeiteten."

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Die Entdeckung der symbolischen Differenz

die Originale zu diesen Bildern, die wirklichen Menschen, Naturdinge und künstlich hergestellten Gegenstände. Es geht hier also um Gegenstände, die einen bestimmten Ort in Zeit und Raum einnehmen, um Körper und ihre Abbildungen. In bezug auf diese macht eine Abstufung der Seinsund Gewißheitsstufen durchaus Sinn: Eine Hand ist „wirklicher" als ihr Schattenriß und gibt uns mehr kund über sich, als ihr zweidimensionales Abbild dies leistet. Wofür aber stehen die Unterabschnitte jener Strecke B, die den Bereich des Intelligiblen markiert? Daß diese Frage schwieriger zu beantworten ist, wird daran deutlich, daß Sokrates zwei Erklärungen sich zu geben bemüht. Die erste lautet: „Den einen Teil muß die Seele so aufsuchen, daß sie das, was die frühere Teilung in dem einen Abschnitt bot, nämlich wirkliche Gegenstände, bloß als Bilder benutzt, indem sie, von bloßen Voraussetzungen (ύττόθεσεις) ausgehend, nicht zum Anfang (άρχή) zurückschreitet, sondern nach dem Ende hin vorschreitet; den anderen aber so, daß sie von der Voraussetzung aus zum voraussetzungslosen Anfang (έττ' αρχήν ανυττόθετον) zu gelangen sucht und ein Verfahren einschlägt, das ohne Bilder, wie sie im ersten Abschnitt verwendet wurden, sich lediglich auf reine Begriffe in ihrem gegenseitigen Zusammenhang stützt." 188 An diesen Ausführungen fallt auf, daß Piaton hier nicht von einer Klassifizierung der Gegenstände ausgeht, wie es bei den Ausführungen über den ersten Streckenabschnitt der Fall ist, sondern von einer Charakterisierung der Erkenntniswege, die einzuhalten nötig ist, wenn wir Wissen über jene Abteilungen der νοητά erlangen wollen, für welche der Strekkenabschnitt Β steht. Für beide Erkenntniswege grundlegend sind die ΰττόθεσεις, von denen die Untersuchung ausgeht. Doch haben die ύττόθεσεις eine jeweils andersgeartete Funktion, die ihrerseits im Zusammenhang der Rolle, welche Bilder für die Erkenntnis spielen, steht. Die dem Bereich bi entsprechende Erkenntnisweise benutzt die Originale aus dem Gebiet der νοητά als εικόνες, Abbilder, und gelangt von den Hypothesen nicht auf die αρχή, sondern έττί τελευτήν. In dem anderen Gebiet braucht sie keine εικόνες, sondern geht von der ύττόθεσις aus sogleich έττ' άρχήν ανυττόθετον und verläßt dabei nicht das Gebiet der είδη. Die zweite Erklärung ist die folgende 189 : „Denn ich denke, du weißt, daß die, welche sich mit der Meßkunst und den Rechnungen und der188

5 1 0 B. 510C-E.

Philosophische Legitimation durch Piaton

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gleichen abgeben, das Gerade und Ungerade und die Gestalten und die drei Arten der Winkel und was dem sonst verwandt ist in jeder Verfahrensart voraussetzend, nachdem sie dies als Wissen zugrunde gelegt, keine Rechenschaft weiter darüber weder sich noch anderen geben zu müssen glauben, als sei dies schon allen deutlich, sondern hiervon beginnend gleich das Weitere ausführen und dann folgerechterweise bei dem anlangen, auf dessen Untersuchung sie ausgegangen waren ... Auch daß sie sich der sichtbaren Gestalten bedienen und immer auf diese ihre Reden beziehen, unerachtet sie nicht von diesen handeln, sondern von jenem, dem diese gleichen, und um des Vierecks selbst willen und seiner Diagonalen ihre Beweise führen, nicht um dessen willen, welches sie zeichnen, und so auch sonst überall: dasjenige selbst, was sie nachbilden und abzeichnen, wovon es auch Schatten und Bilder im Wasser gibt, dessen bedienen sie sich zwar als Bilder, sie suchen aber immer jenes selbst zu erkennen, was man nicht anders sehen kann als mit dem Verständnis." In diesen Ausführungen wird die Mathematik als Beispiel (nicht als einzige Vertreterin) einer spezifischen Art von Erkenntnis beschrieben, die dadurch charakterisierbar ist, daß sie sich von den Hypothesen, von denen sie ausgeht, keine Rechenschaft ablegt, sowie dadurch, daß sie die Körper als Bilder gebraucht und an denselben ihre Überlegungen anstellt, obwohl ihr eigentlicher Gegenstand das νοητόν ΕΪδοξ ist. Der andere Bereich des Denkbaren wird nun so beschrieben: 190 „ S o verstehe denn auch, daß ich unter dem andern Teil des Denkbaren dasjenige meine, was die Vernunft selbst ergreift mittels des dialektischen Vermögens, indem sie die Voraussetzungen nicht zu Anfängen, sondern wahrhaft zu Voraussetzungen macht, gleichsam als Zugang und Anlauf, damit sie, bis zum Nichtvoraussetzungshaften an den Anfang von allem gelangend, diesen ergreife, und so wiederum, sich an alles haltend, was mit jenem zusammenhängt, zum Ende hinabsteige, ohne sich überhaupt irgendeines sinnlich Wahrnehmbaren zu bedienen, sondern nur der Ideen selbst an und für sich, und so bei Ideen endigt." Worauf es hier ankommt, ist, daß der λόγος kraft des dialektischen Vermögens den Gegenstand der Erkenntnis zu erfassen vermag, ohne sich der Bilder aus dem Gebiet des αϊσθητόν zu bedienen, wie es bei den Mathematikern der Fall ist. Am Ende des 6. Buches folgt eine abschließende Charakterisierung der vier Abteilungen gemäß dem Grad an Erkenntnisgewißheit, der in ihnen " " 511 B - C .

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Die Entdeckung der symbolischen Differenz

zu gelangen ist. 191 „Und nun nimm mir auch die diesen vier Teilen zugehörigen Zustände der Seele dazu, die Vernunfteinsicht dem obersten, die Verstandesgewißheit dem zweiten, dem dritten aber weise die Meinung an und dem vierten die Wahrscheinlichkeit." Den Stand der wissenschaftstheoretischen und erkenntnistheoretischen kommentierenden Literatur zu dieser Platon-Stelle gibt am klarsten die folgende, von Stachowiak im Anschluß an Leisegang entwickelte schematische Darstellung wieder: 192

ε

a

ai

Das Unsich tbare, nur geistig Wahrnehmbare

b

Abbilder, Spiegelbilder

a

-G υ . υ G ι* y -G S ^ Wirkliche Gegenstände, insbesondere anschauliche mathematische Figuren

υ _c ίΛ ·Η (Λ G ΛG Q s

b,

b2

Allgemeinbegriffe, abstrakte Denkmodelle, insbesondere mathematische Begriffe und Beziehungen

Ideen (als wahrhaft Seiendes)

Erkenntniswege

Erkenntnisarten

Meinen, Glauben

Λ

Erkenntnisgegenstände

b

(aus Gründen) Wissen, Wahrheitserkenntnis besitzen

Erkenntnisbereiche

l

(einen wirklichen Gegenstand) abbilden und das Bildmodell visuell aufnehmen

a2

(der Wahrnehmung eines Gegenstandes) vertrauen, Glauben schenken

b,

verstandesmäßig, diskursiv denken, insbesondere logisch beweisen

b2

vernunftmäßig, dialektisch denken und (die Ideen wieder-) erkennen

Über die diesem Schema zugrunde liegende Interpretation möchte ich hinausgehen, indem ich zeige, daß die Stellen „Erkenntnisgegenstände a 2 "

192

511 D - E . Stachowiak 1971, 95; vgl. auch Wieland 1982, 2 0 1 - 2 1 8 .

Philosophische Legitimation durch Piaton

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und „Erkenntniswege bj" in dieser Darstellung zeichen- bzw. symboltheoretisch spezifizierbar sind. Untersucht man diesen Text in der Perspektive der Frage nach der „Natur" mathematischer Erkenntnis, wobei für Piaton die Mathematik nur als Beispiel nicht dialektisch verfahrender Wissenschaft gilt, so stößt man auf folgenden Sachverhalt: Das, was Stachowiak unter „Erkenntnisgegenstände a 2 " als „wirkliche Gegenstände, insbesondere anschauliche mathematische Figuren" rubriziert, kann als Symbole aufgefaßt werden, und das, was Stachowiak unter „Erkenntniswege b," als „verstandesmäßig, diskursiv denken, insbesondere logisch beweisen" einordnet, kann als symbolvermitteltes Denken spezifiziert werden. Wie nun kann eine solche Deutung am Text plausibel gemacht werden? Von besonderer Bedeutung ist die Frage, wie Piaton den Begriff είκόν benutzt. In einem ersten Schritt möchte ich zeigen, daß Piaton hier von είκόν in zweierlei Hinsicht spricht, nämlich unter dem Gesichtspunkt einer ontologischen und erkenntnistheoretischen (genauer: dianoetischen) Bestimmung des Bildes. Wir vermerkten bereits, daß sich in der Erklärung des Liniengleichnisses ein Bruch bemerkbar macht: Das, wofür die ersten beiden Strekkenabschnitte stehen, wird auf ontologische Weise erklärt, nämlich als zwei Arten von Gegenständen, den Körpern und ihren Abbildern. Die letzten beiden Streckenabschnitte werden in ihrem gleichnishaften Sinn erkentnistheoretisch expliziert, nämlich unter dem Gesichtspunkt, wie sich ein Erkenntnissuchender zu verhalten hat, wenn er zu einem Wissen über diese Gegenstände zu gelangen suche. Nun scheint mir diese Differenz auch für den Bildbegriff selbst zu gelten, als Differenz zwischen „ein Bild sein" und „als ein Bild gebraucht werden". In 509 e spricht Piaton von Bildern im Sinne von Abbildern sinnlich wahrnehmbarer Körper, denen eine, von den Körpern wohl zu unterscheidende Seinsweise zukomme: Abbild und Original sind zwei Arten von Gegenständen. Diese „ontologische" Interpretation wird gestützt durch eine Textstelle, die uns in Piatons Sophistes überliefert ist. In 266 b —d 193 führt „der Fremde" Theaitetos zu der Einsicht, daß es in bezug auf alle göttlichen wie menschlichen Hervorbringungen sinnvoll 1,3

„Wir und die anderen Lebewesen und das, woraus alles Wachsende besteht, Feuer und Wasser und was hierin gehört, das sind, wie wir wissen insgesamt Erzeugnisse Gottes, nämlich jedes Hervorgebrachte selbst ... Jegliches von diesen nun begleiten Bilder, welche nicht die Sachen selbst sind, aber auch durch göttliche Veranstaltung entstanden

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Die Entdeckung der symbolischen Differenz

sei, zwischen den Sachen (ζ. B. Lebewesen oder Bauwerken) selbst und ihren Abbildungen zu unterscheiden (ζ. B. den Schatten der Lebewesen oder Zeichnungen der Bauwerke). Zu jeder Sache gibt es also ein sie begleitendes Bild 194 ; während die Sachen durch eigentlich hervorbringende Tätigkeiten (der Götter oder Menschen) geschaffen werden, entstehen die ihnen ähnlichen Bilder durch nachahmende Tätigkeit. Für Piaton ist die Abbildbarkeit, die Spiegelungsfahigkeit offensichtlich eine grundlegende Verfassung allen Seins. 195 Die Abbilder sind also sinnlich wahrnehmbare Gegebenheiten, die nicht weniger existieren als die sich darin abbildenden Originale. Auf diesen „ontologischen Status" des Bildes kommt es hier an, denn wenn Piaton in der Politela 509 e von Bildern spricht, so in eben jenem ontologischen Sinne, in welchem die Körper in ihren Spiegelbildern und Schattenrissen zu einer zweiten Gestalt gelangen. Anders jedoch wird der Begriff des Bildes verwendet, wenn Sokrates dem Glaukon die zweite Streckenabteilung im Liniengleichnis zu erklären versucht (509 b). Denn die Gegenstände, für welche b, und b2 stehen, werden nicht mehr durch eine ontologische, sondern durch eine erkenntnistheoretische Argumentation spezifiziert, die Weise ihrer Erkennbarkeit, nicht aber ihre Seinsweise wird beschrieben. In dieser Perspektive sind die dem Abschnitt b] entsprechenden Gegenstände erkennbar, „indem die nachgeahmten Erscheinungen des vorigen Abschnittes bloß als Bilder gebraucht werden". Diese „nachgeahmten Erscheinungen" sind Gegenstände, die den Status von Körpern haben, die zwar ihrerseits abgebildet werden können (a t ), selbst jedoch ontologisch dadurch charakterisiert sind, nicht Bild, sondern Original, nicht Nachgeahmtes, sondern Nachzuahmendes zu sein. Eben das, was ontologisch als Nicht-Bild eingeführt wird, „Dies also seien die zweierlei Werke göttlicher Hervorbringung, die Sache selbst und das eine jede begleitende Bild. — Und unsere Kunst? Werden wir nicht sagen, daß sie das Haus selbst durch die Baukunst hervorbringt, durch die Zeichenkunst aber noch ein anderes gleichsam als einen menschlichen Traum für Wachende verfertigen ... Und werden wir nicht so auch in allem anderen zweierlei als zwiefache Werke unserer hervorbringenden Kunst anführen, eins, die Sache selbst, durch die eigentlich hervorbringende, dann das Bild durch die nachbildende? — Nun habe ich besser verstanden und sehe auf zwiefache Weise zwei Arten der hervorbringenden Kunst, eine göttliche und eine menschliche nach der einen Teilung, und nach der anderen eine, durch welche die Sachen selbst und eine, durch welche etwas denselben Ähnliches entsteht", 266 C—D. „Damit es überhaupt „Nachahmung", „Spiegelung", „Schatten", „Ähnlichkeit", kurz „Ab-bildung geben kann, muß dem Seienden selbst der Urcharakter der Abbildbarkeit zukommen", Klein 1936, 81.

Philosophische Legitimation durch Piaton

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gilt nun in erkenntnistheoretischer Perspektive als Bild, insofern es von dem, der Wissen erwerben will, als Bild gebraucht wird. Aus diesem Zusammenhang wird deutlich, wie der in der Literatur umstrittene Begriff 196 der υποθέσεις zu verstehen ist. Die Vor-aussetzung, welche derjenige zu machen hat, der die b, zugeordneten Gegenstände zu erkennen sucht, besteht in eben jener Setzung eines sinnlich wahrnehmbaren Körpers als Bild für etwas, das mit dem sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand nicht identisch ist. Das, was im Bild sich darstellt, gehört dem Bereich der noetischen Gegenstände an, d. h. es ist nicht mehr mit den αισθήσεις, sondern nur

Solmsen hat ϊπτοθέσεις bei Piaton mit den gezeichneten geometrischen Figuren, mit den Dreiecken, Winkeln usw. identifiziert: 1929, 97. An dieser Auffassung übte v. Fritz 1969,48 Kritik: υποθέσεις sind nicht die gezeichneten Figuren, sondern das Dreieck, überhaupt, die drei Arten von Winkeln, also Begriffe. Die Spezifik dieser Hypothesen für den Mathematiker bestehe nun darin, daß dieser sie als Grundgegebenheiten annehme, als Prinzipien bzw. άρχαί über die keine weiteren Untersuchungen mehr anzustellen sind, von denen also die mathematische Untersuchung ihren Ausgangspunkt nimmt, v. Fritz 1969, 100 f. Wieland 1982, 214 hebt die Funktion von Hypothesen hervor, „die Hinsicht zu markieren, in der sinnfällige Dinge als Abbilder ... gebraucht werden." Stachowiak entwickelt seine υποθέσεις Interpretation im Anschluß an eine Textstelle von Proklos Diadochos, dem letzten bedeutenden Vertreter der platonischen Akademie, aus dem zweiten Teil seiner Vorrede zum Euklid-Kommentar, die lautet: „Da wir behaupten, daß diese Wissenschaft, die Geometrie, auf Voraussetzungen beruhe und von bestimmten Prinzipien aus die abgeleiteten Folgerungen beweise — denn nur eine ist voraussetzungslos (die Dialektik), die anderen empfangen ihre Prinzipien von dieser —, so muß unbedingt der Verfasser eines geometrischen Elementarbuches gesondert die Prinzipien der Wissenschaft lehren und gesondert die Folgerungen aus den Prinzipien. Von den Prinzipien braucht er nicht Rechenschaft zu geben, wohl aber von den Folgerungen hieraus. Denn keine Wissenschaft beweist ihre eigenen Prinzipien und stellt sie zur Diskussion, sondern hält sie für an sich gewiß ..." Proklos Diadochos 1873, 11, 22 —12, 2; Stachowiak interpretiert Piaton im Lichte dieser Proklos-Stelle als Wegbereiter der Idee einer mathematischen Axiomatik. Ursprünglich seien die υποθέσεις von Piaton als mathematische Allgemeinbegriffe konzipiert, doch sei der Übergang vom Begriff zum Satz, in dessen Folge die υποθέσεις als Ausgangssätze der Mathematik im Sinne der Axiome und Postulate zu deuten seien, statthaft, da Piaton mit der regressiv-deduktiven Methode der Mathematik vertraut gewesen sei. (Stachowiak 1971, 102) Nun scheint mir die ύποθέσεις-Stelle in der Politea 510 Β ff. im Lichte von Proklos' Euklid Kommentar zu interpretieren durchaus problematisch, da Proklos — dies räumt Stachowiak selbst ein (103) — der geschult ist an der Gipfelhöhe des axiomatisch-deduktiven Denkens bei Euklid, Piaton in einer Weise für das axiomatische Denken vereinnahmt haben könnte, für welche im platonischen Denken selbst die Voraussetzungen noch gar nicht geschaffen waren. Zum Gebrauch des ύποθέσεις-Begriffes bei Aristoteles vgl. Analvtica posteriora I, 10, 76 b, 28 ff., wo Aristoteles unterscheidet zwischen υποθέσεις ά π λ ώ ς , die als unbezweifelbare Ausgangssätze einer Wissenschaft zu interpretieren sind und den υποθέσεις πρός τίνα, die als Sätze zu interpretieren sind, die Dialogpartner zur Grundlage eines Beweises machen, der nur unter dieser Voraussetzung gilt.

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Die Entdeckung der symbolischen Differenz

noch mit der διάνοια zu betrachten. Nicht mehr ein Aufnehmen durch die Sinne, sondern das Sehen des Verstandes ist hier gefordert, das selbst wiederum von dem voOç der Philosophen, der Ein-sicht der Vernunft, genau zu unterscheiden ist (511 c und d). Auf diese Differenz wissenschaftlicher Verstandeserkenntnis und philosophischer Vernunfterkenntnis wird noch zurückzukommen sein. Hier genügt es, wenn deutlich geworden ist, daß das mathematische Verfahren dadurch ausgezeichnet ist, daß es sich der sichtbaren Gestalten als Bilder für unsichtbare, rein noe tische Gegenstände bedient, so daß die Mathematiker ihre Beweise „nicht um dessen willen, welches sie zeichnen", sondern „um des Vierecks selbst willen und seiner Diagonale" führen (510 d). Das sichtbare Bild unterscheidet sich vom eigentlichen Erkenntnisgegenstand des Mathematikers wie das gezeichnete Quadrat von dem Begriff des Quadrats. Wo Bilder im Erkenntnisprozeß so genutzt werden, daß sie für etwas stehen, das mit der raumzeitlichen Gegebenheitsweise des Bildes nicht identisch ist, über dieses jedoch Aufschluß zu verschaffen vermögen, werden Bilder in der Funktion wissenschaftlicher Modelle bzw. Symbole genutzt. Piatons Beschreibung mathematischer Erkenntnisweise charakterisiert diese als symbolisch vermittelte Erkenntnis. Die Gegenstände, die im Liniengleichnis durch den dritten Abschnitt wiedergegeben werden, sind so beschaffen, daß wir ein Wissen über dieselben nur vermittels ihrer bildlichen Repräsentanten erwerben können. Daher ist Kurt von Fritz nicht zuzustimmen, wenn er in seiner Interpretation der einschlägigen Platon-Stelle schreibt, „daß es für die Stellung der mathematischen Wissenschaft im Aufbau der Erkenntnis eine ganz untergeordnete Rolle spielt, daß sie empirische Figuren bei ihren Beweisen benützt" und „nicht dies beschränkte Hereinragen empirischer Elemente in ihre Wissenschaft" ihre Stellung bestimme. 197 Versteht man „empirisch" nicht im Sinne dessen, was uns in der Erfahrung immer schon vorgegeben ist, was gleichsam von „Natur aus da ist", sondern im Sinne von etwas, das wir herstellen, um es als anschauliche Grundlage theoretischer Erfahrung zu nutzen, dann ist der Gebrauch sinnlich wahrnehmbarer Herstellungen, technai, allerdings von konstitutiver Bedeutung für die Stellung der Mathematik. Erinnern wir uns der Stelle im Sophistes (266 b ff.), wo zwischen Sachen, die durch hervorbringende Kunst, und ihren Abbildern, die durch nachahmende Kunst entstehen, unterschieden wird. In dem Licht, das von diesem späteren Dialog auf das frühere Liniengleichnis 197

V. Fritz 1969, 55.

Philosophische Legitimation durch Piaton

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zurückfallt, zeigt sich, daß die Mathematiker es durchaus mit den Resultaten poietischer Handlungen zu tun haben, indem sie sich der Zahlzeichen und geometrischen Figuren bedienen; daß ihr Kunstgriff aber darin besteht, diese Produkte herstellender Kunst als bloße Nachahmungen dessen zu gebrauchen, worauf ihre Erkenntnisse eigentlich gerichtet sind. Dieser Gebrauch der Resultate eines herstellenden Tuns als Produkte eines nachahmenden Tuns, kraft derer die Mathematiker die sinnlich wahrnehmbaren Gestalten bloß als Abbildungen für ihre rein noetischen Gegenstände der Erkenntnis nutzen, erklärt vielleicht, warum Piaton, im Unterschied zu Aristoteles, Geometrie und Arithmetik dem Bereich der technai zuordnet. 1 9 8 Zugleich macht es verständlich, warum Piaton den erzieherischen Wert der Mathematik so hoch schätzte, findet hier doch jene Umwendung von der aisthetischen zur noetischen Welt statt, in deren Folge alles, was uns in der Körperwelt umgibt, gleichsam zum Gleichnis wird. 1 9 9 Wir haben in der bisherigen Untersuchung der Textstelle 509 c —511 e noch keinen Bezug genommen auf die Differenz zwischen mathematischer und dialektischer Wissenschaft, mathematischer Verstandes- und philosophischer Vernunfterkenntnis (διάνοια und υούς), die zu entwickeln das eigentliche Ziel dieser Dialogpassage zu sein scheint. Doch gerade der Art und Weise, wie Piaton hier die Eigenart der philosophischen gegenüber der mathematischen Erkenntnis bestimmt, läßt sich ein weiteres Argument entnehmen, welches die These, Piaton fasse das mathematische Tun als symbolvermittelt auf, zu stützen vermag. Über Verfahren und Gegenstand der dialektischen Wissenschaft im Gegensatz zur mathematischen Wissenschaft führt Piaton aus, sie bediene sich nicht wie jene der Bilder (510 b) 1,8

Piaton entwickelt im Philebos 16 C eine ursprüngliche Verwandtschaft zwischen τέχνη und επιστήμη, von Kunstfertigkeit und Wissenschaft, die beide darauf beruhen, daß das natürliche Verhalten des Uberlegens zu einem bewußt geübten Verfahren, zu einer Regeln gehorchenden τέχνη erhoben wird. Die Maßkunde, die Zähl- und Rechenkunst, gehören für Piaton zu den am meisten ausgebildeten τέχναι, Philebos 55 E ; Politea 602 D . Indem Aristoteles gerade nicht von der ontologischen Selbständigkeit der reinen Monaden ausgeht, sondern deren Unteilbarkeit zurückführt auf ihre Eigenschaft, als Maßeinheit zu dienen (Met. 1016 b, 1 7 - 2 0 ; 1051 b, 16; 1057 a, 3 f . ; Phys., 207 b, 6 f.), ist die M o n a d e allgemeiner Gegenstand der arithmetischen Wissenschaft unabhängig davon, o b sie als aisthetischer oder als noetischer Gegenstand gilt. Damit aber werden eine Reihe „angewandter" Wissenschaften, wie sie von der Alexandrinischen Schule gepflegt wurden, als Wissenschaften möglich: Phys. 194 a, 7 ff., vgl. dazu: Klein 1936, 105. Frank 1923, 15: „Die Mathematik hatte nicht an sich, sondern nur so weit für Piaton einen Wert, als sie die Ahnung einer höheren Harmonie erschließt und unseren Geist die Richtung nach der intelligiblen Welt der Wesen g i b t . " Stachowiak 1971, 54 bezeichnet die Mathematik für Piaton als „Vorschule der Dialektik". Zur erzieherischen Aufgabe der Mathematik vgl. Politea 5 2 4 D - 5 2 6 C ; 533 C - D ; Gesetze V, 747 Β , X I I , 967 D.

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Die Entdeckung der symbolischen Differenz

oder „überhaupt irgendeines sinnlich Wahrnehmbaren" (511 c), „sondern nur der Ideen selbst an und für sich". Wir haben ein sinnlich Wahrnehmbares, das der Erkenntnis als Bild eines nur geistig Wahrnehmbaren gilt, als Symbol gefaßt. Dies vorausgesetzt, entspricht dem philosophischen υούς und seinem dialektischen Vermögen, auf den Gebrauch von Symbolen nicht angewiesen zu sein. Daß die höchste Stufe des Erkennens, jene Stufe des Wissens, auf der wir die Ideen (wieder-)erkennen, alle symbolischen Hilfsmittel hinter sich läßt, ist eine Einsicht, die Piaton uns im 7. Brief überliefert hat. Jenem Brief, in dem Piaton den Anspruch des jungen Tyrannen von Syrakus zurückweist, der es unternommen hatte, aufgrund nur unzureichender Unterweisung durch Piaton, dessen wesentliche Gedanken in schriftlicher Form niederzulegen. A u f diesen Brief wird häufig Bezug genommen im Zusammenhang mit der Dialogstelle aus Phaidros 274 c —278 b, insofern auch hier Piaton sich dem selbstverständlichen Übergang von mündlicher Rede zum schriftlichen Text widersetzt. Wir wollen uns dem 7. Brief nicht unter dem Gesichtspunkt „Kritik der Schriftlichkeit" zuwenden, sondern nur jener Stelle 342 a ff., in der Piaton einen Aufbau der Erkenntnisbereiche entwickelt, der fünf Stufen umfaßt, und uns fragen, ob sich aus dieser erkenntnistheoretischen Parallelstelle zu Politela 509 c ff. Schlüsse ziehen lassen, den Gebrauch von Symbolen betreffend. Im Unterschied zur Politela handelt es sich im 7. Brief 342 a ff. nicht um eine Gliederung verschiedener Erkenntnisgegenstände, sondern um die Gliederung der Stufen, durch welche man zur Erkenntnis der είδη gelangt. Diese Stufen charakterisiert Piaton zuerst auf sehr allgemeine Weise mit den Worten: „Jedes von dem, was ist, umfaßt dreierlei, wodurch seine Kenntnis erlangt werden muß. Das vierte aber ist dieses selbst, als fünftes muß man das annehmen, was da erkennbar und wahrhaft ist; das eine von diesen ist der Name, das zweite der Begriff, das dritte das Abbild, das vierte die Erkenntnis." 2 0 0 Ehe wir das untersuchen, was mit dem „fünften" gemeint ist, folgen wir Piaton in einer exemplarischen Erklärung der ersten vier Stufen. Als Beispiel für das, was er unter όνομα, Name, versteht, nennt Piaton κύκλος, den Kreis. Als Beispiel für das, was er unter λόγος, Begriff, versteht, führt Piaton die in Worten gegebene Definition des Kreises an: die Linie, die in allen ihren Punkten von der Mitte gleichen Abstand hat. 201 Wichtig zum Verständnis von λόγος ist also, daß es nicht 20u 21,1

Siebter Brief, 342 Α - B . 342 B.

Philosophische Legitimation d u r c h Piaton

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um den Begriff „an sich" geht, sondern um den verbalisierten, mit Piatons Worten „in Worten und Redeweisen ausgedrückten" Begriff geht. 2 0 2 Als Beispiel der dritten Stufe führt Piaton den gezeichneten Kreis an, der wieder ausgelöscht werden kann. Als vierte Stufe erscheint nun die ε π ι σ τ ή μ η , die wahre Meinung, der νους in bezug auf die Dinge, also das Erkennen selbst, welches seinen Sitz in der „Seele" hat. 2 0 3 Auf dem Hintergrund des Liniengleichnisses scheint die Interpretation von K u r t von Fritz angemessen 2 0 4 , daß es sich bei dieser έτπστήμη, die weder mit den an sinnlich wahrnehmbaren Medien gebundenen Stufen 1—3 noch mit dem είδος der Stufe fünf identisch ist, um Begriffe an sich handele, analog jenen mathematischen Begriffen, die Piaton im Liniengleichnis der Stufe b, zuordnet. D a f ü r spricht einerseits, daß Piaton mehrmals betont, daß die Begriffe der Stufe zwei in Worten und Redeweisen ausgedrückte Begriffe seien (342 b; 343 b), zum anderen, daß Piaton von allen vier Stufen betont, daß es sich dabei um Abbilder handele (343 c), was auf dem Hintergrund des Liniengleichnisses ja gerade auch für die Stufe b¡ als Abbild der Ideen der Stufe b 2 zutrifft. Für uns wichtiger aber ist, wie Piaton die fünfte Stufe charakterisiert. Zweifelsohne: auf dieser Stufe handelt es sich um die είδη selbst, doch Piaton charakterisiert das, um was es ihm auf dieser höchsten Stufe des Erkennens geht, ausschließlich negativ: „denn nimmer wird, wer nicht von den Gegenständen irgendwie jenes Vierfache erfaßt, einer vollständigen Kenntnis des fünften teilhaftig werden. Denn außer jenen vieren unternimmt er es ebensowohl, die Beschaffenheit und das Sein eines jeden vermittels der Ohnmacht der Sprache darzulegen. Dieser Ohnmacht wegen, wird kein Verständiger es wagen, in ihr seine Gedanken niederzulegen noch dazu in unwandelbarer Weise, was bei dem schriftlich abgefaßten der Fall ist." Hier geht es also um eine Erkenntnis, die sich in Wort und Schrift nicht mehr ausdrücken läßt (343 d), die alle Vermittlung durch Zeichen hinter sich gelassen hat. Denn „jedes Gesagte und Gezeigte", so Piaton, „begnügt sich mit dem aufgestellten Abbild" (343 c), und der höchsten Stufe des Erkennens ist es vorbehalten, der είδη unmittelbar einsichtig zu

202

Ibid. ™ 342 C - D . 21,4 v. Fritz 1969, 59.

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Die Entdeckung der symbolischen Differenz

werden, nachdem die Stufen der sinnlich wahrnehmbaren Gestalten und der Abbilder durchlaufen sind. Diese Ausführungen des 7. Briefes bestätigen den Befund über die Politeia-Stelle 509 c ff. in dem Sinne, daß für Piaton die philosophische Erkenntnis, die auf unmittelbare Einsicht der εϊδη hinzielt, nicht mehr der Zeichen bedarf. Demgegenüber ist der Status der Mathematik und jeder nicht dialektisch verfahrenden Wissenschaft dadurch bestimmt, daß sie sich der sinnlich wahrnehmbaren Gestalten bedient, die eine nicht sichtbare, sondern nur noch verstehbare (511 a) Bedeutung haben. Falls unsere Interpretation des Liniengleichnisses als erkenntnistheoretische Legitimation der symbolischen Differenz, der Unterscheidbarkeit zwischen den sinnlich sichtbaren Abbildern, die uns als Zeichen dienen, für ihre nur noch verstehbaren Bedeutungen in Gestalt der rein noetischen Originale, haltbar ist, was folgt daraus für den Status der Abbilder? Indem Piaton das Verhältnis zwischen noetischem Gegenstand und aisthetischem Bild durch Nachahmung bestimmt, entsteht zwischen diesen beiden Schichten des Seins ein Abhängigkeitsverhältnis, welches zugleich ein Begründungsverhältnis ist: Das Sein des Originals gibt den Grund ab für das Sein des Abbildes. Es ist ein Selbständiges, das ontologisch dem von ihm Abhängigen, also Unselbständigen vorgeordnet, πρότερον, ist. Daß Piaton diese Unterscheidung zwischen πρότερον, vorgeordnet, früher, und ύστερον, nachgeordnet, später, gemacht habe, bezeugt Aristoteles, der über die verschiedenen Bedeutungen dieser Termini ausführt: „früher nämlich heißt dann etwas, was ohne anderes sein kann, während dies nicht ohne jenes; eine Unterscheidung, der sich Piaton bediente." 2 0 5 Übertragen auf die Beziehung von symbolisiertem Gegenstand und Symbol heißt das: Das Symbolisierte ist dem Symbol ontologisch vorgeordnet, da es ohne das Symbol, nicht aber das Symbol ohne das Symbolisierte gegeben sein kann. Damit wird das Umgehen mit den Symbolen als ein Vorgang interpretierbar, der eigentlich als ein Umgehen mit den entsprechenden Gegenständen, die durch die Symbole zur Darstellung gelangen, aufzufassen sei. Wo die symbolische Differenz so gefaßt wird, daß Symbol und Symbolisiertes zwei Stufen des Seins zugehörig sind, wobei das Symbolisierte über eine selbständige, das Symbol aber über eine unselbständige Existenz verfügt, möchte ich von „ontologischem Symbolismus" sprechen. Wo

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Met. 1019 a, 1—3. Aristoteles betont hier, daß πρότερον und ύστερον sich auch auf den Grad von Wirklichkeit beziehen, so wie das Wesen dem Stoff der Wirklichkeit vorgeordnet sei.

Philosophische Legitimation durch Piaton

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immer mit Symbolen im Horizont des „ontologischen Symbolismus" operiert wird, da sind die Operationen so zu verstehen, daß sie sich in erster Linie auf das beziehen, was durch die Symbole zur Darstellung kommt. 2 0 6 Gerade so, wie das infinit fortsetzbare Verfahren der Anthyphairesis nur gilt für die geometrischen Strecken als noetischen, nicht aber als aisthetischen Gebilden, an denen das Verfahren praktisch zum Abbruch kommen muß. Wo aber das Umgehen mit Symbolen im „eigentlichen" Sinne als Umgehen mit den symbolisierten Gegenständen begriffen wird, ist der formale Gebrauch von Symbolen ausgeschlossen. Wir werden in den folgenden Abschnitten unserer Untersuchung sehen, daß mit Symbolen formal zu operieren heißt, nach Regeln zu operieren, die auf die Referenzobjekte der Symbole keinen Bezug nehmen, und daß die Möglichkeit der Manipulation „interpretationsfreier Symbole" an die Voraussetzung gebunden ist, daß diese Symbole in eigenständigen Systemen — in Kalküle oder formalen Sprachen — organisiert sind, ihre Existenz sich also nicht mehr den ihnen vorausgehenden Referenzgegenständen verdankt, sondern dem System, dessen Elemente sie bilden. Symbole bzw. symbolische Systeme in dieser Weise als selbständige Gegenstände zu behandeln, ist mit der Leitfigur eines „ontologischen Symbolismus" nicht mehr vereinbar. Die Grundhaltung des ontologischen Symbolismus „verbietet" den formalen Gebrauch von Zeichen. 207 206

207

Dieser ontologischen Verankerung des Symbolgebrauches entspricht eine von Scholz „ontologische Auffassung" genannte Konzeption des erkenntnisstiftenden Denkens (Hasse/Scholz 1928, 28). Diese Auffassung, die nicht nur für Piaton, sondern gerade auch für Aristoteles gilt, resummiert Scholz so, daß „jedes System von erkenntnisstiftenden Sätzen sich auf etwas „Seiendes" beziehen muß" (69). Denken und Erkennen bleibt letztlich ein Abbilden von etwas Seiendem und so ist es auch zu verstehen, daß für Aristoteles im 2. Buch der Analytica posteriora Definitionen Abbildungen von etwas Seiendem sind, und daher wahr oder falsch sein können. Die Frage drängt sich auf, wie es sich bei der griechischen Logik verhalte. Wir bezeichnen Aristoteles als Schöpfer der formalen Logik, insofern er als erster mit Aussageformen gearbeitet hat, in der Form „alle S sind P" bzw. „P kommt allen S zu (Lukasiewicz 1951, 3; Patzig 1963, 27 f.) Aristoteles gebraucht also Variablenzeichen, die er mit Buchstaben symbolisiert (wobei — im Unterschied zur stoischen Logik — die Variablen für Terme und nicht für ganze Aussagen stehen (Lukasiewicz 1935/36)). Unter allen möglichen Aussageformen betrachtet Aristoteles nur solche, die den gesetzmäßigen Zusammenhang einer Schlußfolgerung annehmen. Von einem formalistischen Deduktionssystem unterscheidet sich seine formale Logik dadurch, daß (1) sich die Variablenzeichen auf Bestandteile der Umgangssprache beziehen. Die syntaktischen Gesetze der natürlichen Sprache sind die Grundlage aus der er — gleich allen antiken Logikern — durch Abstraktion zu logischen Gesetzen und Regeln gelangt (Bochenski 1956, 15). Überdies entsprechen den Aussagen und Aussagebestandteilen Dinge und Vorgänge in der Wirk-

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Die Entdeckung der symbolischen Differenz

7. Gebrauchten die Griechen mathematische Symbole formal? Die Problematik des Terminus geometrische Algebra" Zwar mußten alle die bisher entwickelten Überlegungen zur Entdekkung der symbolischen Differenz im mathematischen Denken der Griechen Hypothesen bleiben, spannten eher eine Perspektive auf, in der wir die Ausbildung des Mathematischen auch erforschen können, ohne daß die Fruchtbarkeit dieser Perspektive im einzelnen schon erwiesen sei. Doch reichen diese Überlegungen aus, um einen Tatbestand problematisch werden zu lassen, der zum Allgemeingut historischer Darstellungen der Mathematik geworden ist. Es geht um die Redeweise von einer „geometrischen Algebra", wie sie sich insbesondere im Buch II Euklids auffinden lasse. Der Begriff „geometrische Algebra" geht zurück auf Paul Tannery 208 und Hyronimus Georg Zeuthen 209 und gilt seitdem als angemessene Beschreibung des mathematischen Gehaltes des Buches II in nahezu allen

208 209

lichkeit, so daß sich Alexander Aphrodisias dahingehend äußert, daß das Wesen des Syllogismus nicht in den Worten liege, sondern darin, was diese Worte bedeuten. (Alexander 1883, 372) (2) die aristotelischen Schlußformen nicht so zu verstehen sind, daß ihre Richtigkeit ausschließlich kontrollierbar sei durch syntaktische Ableitungen innerhalb des Systems. Wenn Aristoteles auch die Unterscheidung von Wahrheit und Gültigkeit macht (Analytica priora, I, 4, 25 b) in dem Sinne, daß die Prämissen wahr, die Konklusion aber gültig und d. h. kraft der Form wahr ist, läßt er doch keinen Zweifel daran, daß die Bildung wahrer sinnvoller Aussagen, Ausgangs- und Zielpunkt seiner logischen Analyse ist. Aristoteles' Logik ist also formal, nicht aber formalistisch, keine „symbolische" Logik. Damit aber fungieren die Buchstabensymbole nicht als Elemente eines konstruierten formalen Systems, sondern als Abstraktionsklasse sinnvoller Aussagebestandteile, die logisch äquivalent sind. Wie aber verhält es sich mit der stoischen Logik, die häufig als Vorläufer der formalistischen Logik apostrophiert wird? Die Variablenzeichen der Stoiker sind keine Leerstellen für Terme, sondern für ganze Aussagen. Als Variablenzeichen dienen nicht Buchstaben, sondern Zahlworte. Die stoische Logik ist eine zweiwertige Logik, die von dem Grundsatz ausgeht, daß jede Aussage wahr oder falsch ist (Scholz 1959, 34). Es werden — und hierin liegt das „formalistische" Element — Operationen mit Aussagen untersucht auf der Grundlage, daß der Wahrheitswert einer Aussage, die durch Anwendung einer Operation auf gewisse andere Aussagen entsteht, nur von den Wahrheitswerten, nicht aber von deren inhaltlicher Bedeutung abhängt. Dennoch gibt es einen entscheidenden Unterschied, die diese aussagenlogischen Vorläufer von der kalkülisierten Aussagenlogik unterscheidet: die stoische Logik ist — wie die aristotelische — keine symbolische Logik. Auch bei den Stoikern bleiben die Variablenzeichen Abstraktionsklassen möglicher sinnvoller Aussagen und sind nicht Elemente eines formalisierten Systems. Tannery 1 8 8 2 , 2 5 4 - 2 8 0 . Zeuthen 1886, 1 - 3 8 ; ders. 1896, 3 2 - 6 4 . Mahoney 1971, 25 wies d a r a u f h i n , daß bereits Petrus Ramus die Auffassung vertreten habe, einige Teile der Elemente Euklids (Buch II und VI) und vielleicht auch die griechische Analysis, seien als algebraische Methoden zu interpretieren.

F o r m a l e S y m b o l e bei den Griechen?

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4-9.

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421, 8 — 9: „ ... figura extensioni conjuncta est". 6-8. 8-11. 19-21.

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Operativer Symbolismus

liehe Weise ausgedrückt werden können. Die Extensions-Figuren fungieren als Zeichen. Wieso aber kommt den ausgedehnten Figuren solche Sonderstellung zu? In dem Text, der diese Sonderrolle herausstreicht („diejenige Größenart, die sich am leichtesten und deutlichsten von allen in unserer Einbildungskraft abmalt" 183 ), bezieht Descartes sich explizit auf den Text der zwölften Regel zurück. In dieser Regel aber entwickelt Descartes eine mechanistische Theorie der Wahrnehmung. „Alle äußeren Sinne ... nehmen nur passiv ... wahr (sentire per passionem tantum), in der gleichen Art, wie das Wachs seine Figur vom Siegel empfangt." 184 Dies habe man sich so vorzustellen, „daß die äußere Gestalt des empfindenden Körpers wirklich vom Objekt ganz auf dieselbe Weise verändert wird wie die der Oberfläche des Wachses vom Siegel" 185 . Alle Sinnesempfindung ist also „impressio" im wörtlichen Sinne von Ein-druck, ganz so, wie „das erste Undurchsichtige im Auge auf diese Weise eine Figur empfangt (figuram impressam), die ihr von dem verschieden gefärbten Licht eingedrückt wird und ... die erste für das Objekt unpassierbare Haut der Ohren, Nase und Zunge auf eben die Weise eine neue Figur vom Ton, vom Duft und vom Geschmack annimmt" 186 . Jede Sinnesempfindung ist als ein mechanistischer Übertragungsvorgang anzusehen, bei welchem Verschiedenheiten von Außenweltreizen als Verschiedenheiten zweidimensionaler Figuren ausgedrückt, oder besser: aufgedrückt werden, „da die unendliche Vielheit der Figuren sicherlich ausreicht, um alle Unterschiede der Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung auszudrücken", so etwa, wie die „Verschiedenheit zwischen Weiß, Blau und Rot" sich wie die Verschiedenheit „zwischen diesen und ähnlichen Figuren:

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vorzustellen ist" 187 . Gäbe 188 sowie Schuster 189 haben gezeigt, daß Descartes' Wahrnehmungstheorie wahrscheinlich aus seiner Auseinandersetzung mit Keplers 183 184 185 186 187 188

AT, X, 441, 6 - 8 . Descartes 1979, 40; AT, Descartes 1979, 40; AT, Descartes 1979, 40; AT, Descartes 1979, 41; AT, Gäbe 1972, 47 ff. Schuster 1980, 61 ff.

X, X, X, X,

412, 1 4 - 9 . 20-22. 412, 2 6 - 4 1 3 , 2. 413, 1 8 - 2 0 .

Rationalistische Epistemologie: E n t d e c k u n g der Symbole als Technik

207

Wahrnehmungstheorie hervorgegangen ist, die dieser 1604 in „Ad Votellionem Paralipomena" entwickelte. 190 Er übernahm von Kepler den revolutionären Gedanken, daß das Auge ein dioptrisches Instrument sei, welches die einfallenden Lichtstrahlen bündele und auf der Retina ein umgekehrtes Bild des visuellen Feldes entstehen lasse.191 Die mechanistische Tendenz von Descartes' eigenem Ansatz erklärt sich daraus, daß Descartes sich habe von Keplers spekulativer, neo-platonischer Theorie des Lichtes, in welche dessen wahrnehmungsphysiologische Überlegungen eingebettet seien192, absetzen wollen.' 93 Von größerem Interesse als die Frage nach Zusammenhang und Differenz mit der Keplerschen Wahrnehmungstheorie ist für uns der Stellenwert, den diese Theorie für das Konzept der mathesis universalis der späteren Regeln innehat. Die Frage, um deren Beantwortung wir uns hier bemühen, lautet: Wieso gelangt Descartes von seiner Idee der wechselseitigen Repräsentierbarkeit von Größenarten zur Idee von der ausgezeichneten Rolle zweidimensionaler Figuren als allgemeiner Sprache zur Darstellung von Größenverhältnissen? Auf diese Frage nun gibt uns die mechanistische Theorie der Wahrnehmung, wie sie in Regel 12 entwickelt wird, eine Antwort. (1) Die Idee wechselseitiger Repräsentierbarkeit wurzelt in der Einsicht, daß es Übertragungsvorgänge zwischen Körpern gibt, bei denen sich im Wechsel der „körperlichen Substanzen" Strukturen identisch erhalten: Dies ist bei dem Eindruck, den das Siegel im Wachs hinterläßt, nicht weniger der Fall als bei dem Eindruck, den die Außenweltreize auf der Retina des Auges hinterlassen. (2) Indem solche mechanischen Abdrücke auch für den Vorgang der Wahrnehmung konstitutiv sind, wächst körperlichen Gebilden — z. B. den zweidimensionalen Figuren auf der Retina — die Funktion zu, Informationen zu vermitteln über etwas, das mit ihnen nicht identisch ist. Die Pointe dieser Überlegung besteht in der Verknüpfung von (1) und (2): Die Möglichkeit, Gegenstände als Zeichen zu gebrauchen, beruht auf der Möglichkeit der Strukturidentität. Strukturidentitäten aber werden durch mechanische Strukturübertragungen zwischen zwei Körpern

" " Kepler 1939; zu Keplers W a h r n e h m u n g s t h e o r i e vgl. L i n d b e r g 1976, Kapitel 9; Crombie 1967. Schon in den „Cogitationes Privatae" 1619, AT, X, 243 sind Notizen über W a h r n e h m u n g enthalten, die Descartes wahrscheinlich v o n Keplers O p t i k ableitete. " 2 Zu diesen spekulativen Elementen vgl. Kepler 1939, Kap. 1, Satz I - V , XV. X V I . 193 Z u r „Mechanisierung" der O p t i k vgl. „ D i o p t r i q u e " , AT, VI, 114 —29 sowie: AT, XI, 1 3 3 - 3 4 ; 1 4 2 - 4 6 ; 1 5 1 - 6 0 ; 1 7 0 - 1 8 8 .

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Operativer Symbolismus

gewährleistet, durch eine Ab-bildung in jenem buchstäblichen Sinne, den Descartes durch sein Siegel/Wachs-Beispiel nahelegt. Das aber heißt: die mechanistische Theorie der Wahrnehmung — in der Perspektive ihrer legitimatorischen Funktion für die mathesis universalis II — mündet in eine mechanistische Theorie der Zeichen. Um im Bild zu bleiben: es kommt nicht nur darauf an, daß das Wachs das Siegel durch Ein-druck empfangt, sondern vor allem darauf, daß das in dieser Weise „siegelidentisch" geformte Wachs Informationen über die Struktur des Siegels geben kann, ohne daß dieses noch sinnlich gegenwärtig sein muß. Genau auf diese Weise können die Proportionen zweidimensionaler Figuren Proportionen, die in beliebigen anderen Substraten realisiert sind, repräsentieren, da die Strukturen, auf die es hierbei ankommt, sich durch Übertragung „vererben". Solche Strukturübertragung nennt Descartes auch „imitatio" — Nachahmung. Den Terminus „imitatio" hat Descartes bereits in der 8. Regel verwendet; hier hat er wesentlich modelltheoretischen Sinn. 194 Am Beispiel des Problems der Bestimmung der anaklastischen Linie, der Linie also, deren Rotationsfläche die ideale Linsenform ergibt, die ein paralleles Lichtbündel so bricht, daß das Licht nach der Brechung durch einen Punkt geht, zeigt Descartes, daß die Erkenntnis an einen Punkt gelangt, wo die „natura illuminationis" — die „Natur des Lichtes" — bekannt sein muß. Da aber „illuminationis naturam non possit agnoscere", habe man nach der 7. Regel alle anderen Naturkräfte aufzuzählen, um aus der Erkenntnis irgendeiner anderen, „saltem per imitationem", auch diese zu erkennen. Gäbe hat m. E. n. diese Stelle richtig interpretiert, wenn er „imitatio" hier so versteht, daß Descartes auf ein mechanisches Modell für die Lichtbrechung und Lichtreflexion anspiele, das nach Druck und Wurf arbeitet, und wir auf dieses Modell, welches das Lichtverhalten imitiert, zurückgreifen können, um zu Erkenntnissen über das Licht zu gelangen. 195 Doch scheint es mir nicht unwichtig, daß Descartes hier von „wenigstens (saltem) durch Imitation" spricht, macht diese Wendung doch deutlich, daß die Imitation nur eine Ersat^funktion hat, wo wir aus irgendwelchen Gründen zu unmittelbarer Einsichtnahme nicht gelangen können. 1,4

195

AT, X, 393, 2 2 - 3 9 5 , 17. Zum wissenschaftlichen Gebrauch von Modellen, wie Harré 1972,145 — 75 ihn charakterisiert hat, bei Descartes, vgl. Hoenen 1968, 353 ff.; Kenny 1968, 203 ff.; Rodis-Lewis 1978, 152ff.; Leisegang 1954, 25 ff.; Cassirer 1911, 13 u. 20. Gäbe 1972, 41 f. In diesem Sinne hatte Descartes in der Dioptrik von 1637 auf mechanische Modelle zurückgegriffen, um Lichtbrechung und Lichtreflexion zu erklären.

Rationalistische Epistemologie: E n t d e c k u n g der Symbole als Technik

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Anders jedoch ist die Stellung der „imitatio" im Rahmen der cartesischen Wahrnehmungstheorie. 196 Daß es sich bei dem Ein-druck, den die Gegenstände der Außenwelt auf der Retina hinterlassen, tatsächlich um eine Imitation handelt, geht daraus hervor, daß Descartes an dieser Stelle, an der er zugleich sein Siegel/Wachs-Beispiel angeführt hat, davon spricht, es handele sich nicht um eine Analogie. 197 „Analogie" aber ist für Descartes ein Gegenbegriff zur Imitation, mit dem er eine Ähnlichkeit in unwesentlichen Teilen von einer Identität in den wesentlichen Teilen abzugrenzen versucht. 198 Der gewandelte Stellenwert von „imitatio" wird daran deutlich, daß die Imitation nicht mehr ein Ersätze.rfahren bleibt, sondern, indem es aller Sinnesempfindung zugrunde liegt, zum einzig möglichen Verfahren wird, Informationen über die Außenwelt zu erlangen. Wir können überhaupt nicht anders denn in Gestalt zweidimensionaler Figuren uns Vorstellungen über die Körperwelt machen. Wir sehen, wie hier im Gewände einer wahrnehmungspsychologischen, zeichentheoretischen Überlegung sich vorbereitet, was beim „klassischen" Descartes nur noch als metaphysischer Satz erscheint: daß die Ausdehnung das grundlegende Attribut körperlicher Substanzen sei. In den Regulae ist die Körperwelt nicht „extensio", sondern wird durch dieselbe nur repräsentiert. Doch der metaphysische Übergang wird vorbereitet in der Annahme, daß diese Repräsentation die einzig mögliche Weise ist, zu Erkenntnis über die Körperwelt zu gelangen. Für den Descartes der Regulae können wir die Welt nicht unmittelbar, sondern nur durch Imitation erkennen. Solche Imitation aber findet statt im Medium mechanisch abbildender Zeichen. „Extensio" ist nicht ein Attribut der Körperwelt schlechthin, sondern der Zeichensysteme, mit denen die Relationen innerhalb der Körperwelt abgebildet werden. Doch die Keimformen des „metaphysischen" im „methodologischen" Descartes aufzuspüren, ist hier nicht unser Anliegen. Für uns genügt die Feststellung, daß Descartes' wahrnehmungstheoretische Äußerungen der Regel 12 die Sonderrolle der zweidimensionalen Figuren, wie sie in Regel 14 entwickelt wird, legitimieren. 196

1,7 198

Diesen Unterschied hat G ä b e 1972, 42 übersehen, w e n n er die imitatio der mechanischen Sinnesphysiologie in der Regel 12 gleichsetzt mit der imitatio der Regel 8. „ ... neque hoc per analogiam dici p u t a n d u m est", AT, X , 412, 19. Z u der Unterscheidung zwischen „ b l o ß e r " Analogie und „echter" Imitation vgl. G ä b e 1972, 43.

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Wie nun sind die elementaren Zeichen der zweidimensionalen Figurensprache genauer beschaffen? Mit dem Argument, daß unter „extensio" alles zu verstehen sei, was Länge, Breite und Tiefe habe 199 , und der Überlegung, daß von diesen drei Merkmalen „keine deutlicher aufgefaßt werden als Länge und Breite" 200 , schlägt Descartes vor, von zwei Grundeinheiten auszugehen: dem Quadrat bzw. Rechteck I I und der Linie . 201 Auf dem Weg zur Anerkennung dieser zweidimensionalen Figuren als Elemente einer allgemeinen Sprache, in welcher die Gegenstände der mathesis universalis darstellbar sind, räumt Descartes ein letztes Mißverständnis aus: Die von ihm vorgeschlagenen Figuren dürfen nicht mit den Figuren der Geometrie verwechselt werden. Descartes schreibt, daß Propositionen, die sich seiner Zeichen bedienen, „hier sogar von den Figuren, von denen die Geometer handeln, abgelöst werden müssen, ... ebenso wie von jeder anderen Materie (und) daß man zu diesem Zweck keine anderen zurückbehalten darf als geradlinige und rechteckige Oberflächen bzw. gerade Linien, die wir ebenfalls Figuren nennen ... und daß schließlich mit diesen Figuren einmal kontinuierliche Größen, einmal auch Vielheiten oder Zahlen dargestellt werden ... und daß etwas Einfacheres zur Dar-

AT, X, 442, 17 ff. AT, X, 452, 8. 2