Über italienischen Faschismus und Totalitarismus [1 ed.] 9783666310508, 9783525310502

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Über italienischen Faschismus und Totalitarismus [1 ed.]
 9783666310508, 9783525310502

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Wege der Totalitarismusforschung Herausgegeben von Uwe Backes und Thomas Lindenberger

Luigi Sturzo

Über italienischen Faschismus und Totalitarismus Herausgegeben und eingeleitet von Uwe Backes und Günther Heydemann unter Mitarbeit von Giovanni de Ghantuz Cubbe und Annett Zingler

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Don Luigi Sturzo, November 1919 Bildquellennachweis: akg-images/Fototeca Gilardi Satz: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-103X ISBN 978-3-666-31050-8

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Inhalt Einleitung der Herausgeber I. Lebensweg des Autors II. Inhalt der Edition III. Rezeption IV.  Editorische Bemerkungen

7 7 24 40 47

Einleitung „Staatsreform und politische Richtungen“

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Unser „Zentrismus“

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Geist und Wirklichkeit

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Antifaschistisches Denken 97 Die Politik der klerikalen Faschisten Die Probleme Siziliens vor den Wahlen Vom Kongress von Turin bis zu den Parlamentswahlen (April 1923 bis April 1924) Für die Sanierung Süditaliens Das christliche Bewusstsein Politik und Gewissen Historische Erfahrungen Die Eroberung der Zukunft Lebenssynthese Das Wort und die Taten Das Verhalten der Popolari Die moralische Einheit der Italiener Die Rechte der Revolution Für die Untersuchung eines ethisch-psychologischen Phänomens Das moralische Problem der politischen Zusammenarbeit

97 104 111 116 120 124 135 140 145 148 152 157 161 166 181

6 Italien und der Faschismus

Inhalt

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Sozialismus, Popularismus und Faschismus Der Faschismus an der Macht: Der Marsch auf Rom Das bolschewistische Russland und das faschistische Italien Der totalitäre Staat

201 227 248 263

Anhang 281 Personenverzeichnis Sachverzeichnis

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Einleitung der Herausgeber I. Lebensweg des Autors Kaum etwas könnte die Schwierigkeiten, die der Heilige Stuhl und die Katholische Kirche mit ihrem Diener, dem sizilianischen Priester Luigi Sturzo, zeit seines Lebens (1871–1959) hatten, besser charakterisieren als eine päpstliche Audienz in Rom, die ihm im Jahre 1914 von Pius X. gewährt wurde. Bei seiner Begrüßung fragte ihn der Papst scherzhaft: „Guten Tag, Herr Bürgermeister! Sind Sie nicht schon exkommuniziert worden?“, worauf Sturzo erwiderte: „Wenn Eure Heiligkeit es nicht tun werden.“ Pius X. antwortete: „Ich werde es nicht tun, aber Sie müssen auf die anderen aufpassen!“,1 womit er jene Kreise in der Katholischen Kirche meinte, denen die politischen und sozialen Aktivitäten Sturzos schon länger ein Dorn im Auge waren. Das unangepasste Verhalten seiner eigenen Kirche gegenüber sollte zehn Jahre später, 1924, zum Höhepunkt führen, als Sturzo als schärfster politischer Gegner des Faschismus, der zwei Jahre zuvor unter Benito Mussolini die Macht in Italien errungen hatte, ins Exil gezwungen wurde, da sein Leben bedroht war. Sturzo erhielt einen Pass des Vatikanstaates und konnte dadurch Italien unversehrt verlassen. Die Hilfe, die er seitens des Heiligen Stuhls erhielt, galt sicherlich auch dem Schutz seines Lebens, doch entledigte sich die Katholische Kirche in Italien dadurch überdies eines unerbittlichen Kritikers Mussolinis und seiner faschistischen Bewegung, mit welcher der Vatikan in eine tragfähige politische Beziehung treten wollte. Noch war von einem Konkordat zwischen dem faschistischen Staat und der Katholischen Kirche, wie es fünf Jahre später geschlossen werden sollte, nicht die Rede. Wer war dieser unbeugsame und zugleich tiefgläubige Mann, der bis zu seinem Exil, das 22 Jahre dauern sollte, die erste christlich-demokratische Partei Italiens (Partito Popolare Italiano, PPI) gründete und zugleich zu einem der entschiedensten Opponenten des Faschismus wurde? Und der schon während des Aufkommens des Faschismus und dann im Exil einer der ersten und tiefgründigsten Analytiker der faschistischen Bewegung und ihrer totalitären Zielsetzungen und Praktiken werden sollte? Nur ein Jahr nach Abschluss des italienischen Einigungsprozesses ist Sturzo am 26. November 1871 in Caltagirone auf Sizilien zur Welt gekommen. Er war das fünfte von sechs Kindern des Barons Felice Sturzo und seiner Gattin

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Zit. nach Francesco Malgeri, Luigi Sturzo, Turin 1993, S. 75.

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Einleitung der Herausgeber

Caterina Boscarelli, tiefgläubigen Eltern, deren Frömmigkeit auch die Kinder prägte: Sein zehn Jahre älterer Bruder wurde vor ihm Priester und später Bischof, eine seiner Schwestern Nonne.2 Sturzos Kindheit und Jugend fiel in eine ausgesprochen schwierige politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklungsphase des eben erst mühsam abgeschlossenen italienischen „Nation-building“-Prozesses. Der kritischen Lage Italiens nach dem „Risorgimento“ („Wiederauferstehung“) lagen mehrere Ursachen zugrunde, die Sturzos spätere politische Aktivitäten und sein soziales Engagement entscheidend bestimmen sollten. In diesen historischen Kontext ist seine Biografie eingebettet, sein Wirken ohne dessen Kenntnis nicht zu verstehen. Zunächst war der italienische Einigungsprozess ganz überwiegend das Werk einer aristokratisch-bürgerlichen Elite; die breite Masse der sozialen Unterschichten, vor allem der Bauern, Tagelöhner und Hilfsarbeiter mit einem Anteil von 70 bis 80 Prozent an der Gesamtgesellschaft, hatte am Prozess der Nationalstaatsbildung so gut wie keinen Anteil. Tief enttäuscht darüber, dass der neue italienische Nationalstaat bislang keine Bodenreform durchgeführt und dadurch ihren Hunger auf Landbesitz ungestillt gelassen hatte, ihnen aber gleichzeitig die Wehrpflicht auferlegte, war es bereits 1863 zu bürgerkriegsähnlichen Aufständen der Bauern und Landarbeiter gekommen, die der neue Staat nur mithilfe des Kriegsrechts gewaltsam niederschlagen konnte. Zu einem Zeitpunkt also, als der Prozess der Nationalstaatsbildung noch nicht abgeschlossen war, kam es bereits zu einer tiefen Entfremdung zwischen weiten Teilen der bäuerlichen Bevölkerung und dem neuen Einheitsstaat mit der ihn tragenden liberalen Elite. Aber auch Verfassung und Wahlrecht im Königreich Italien trugen nicht zur Integration und Partizipation der großen Schicht der Landbevölkerung bei. Denn wahlberechtigt waren nur „die mindestens 25-jährigen männlichen, lese- und schreibkundigen Bürger, die einen jährlichen Zensus an direkten Steuern von mindestens 40 Lire überschritten“.3 Bei einer Gesamtbevölkerung von 22 Millionen im Jahre 1861, zehn Jahre vor Sturzos Geburt, besaßen daher nur 418 000 Bürger das Wahlrecht, das heißt nicht mehr als 1,9 Prozent.4 Doch nicht nur die hohe Hürde des jährlichen Steueraufkommens schloss die Masse der italienischen Gesellschaft, die Agrarbevölkerung, von politischer

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4

Vgl. ebd., S. 16 f. Vgl. Marco Sagrestani, Parlamentarische Partizipation und Repräsentation in Italien in den beiden Jahrzehnten nach der Vereinigung. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 16 (2004), S. 89–101, hier 91. Vgl. ebd., S. 90, Anm. 4.

Lebensweg des Autors

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Mitwirkung aus, auch der verbreitete Analphabetismus der sozialen Unterschichten trug hierzu massiv bei: 1861 waren 78 Prozent der italienischen Gesellschaft Analphabeten mit steigenden Raten von Nord nach Süd.5 Auch wenn das Wahlrecht noch vor dem Ersten Weltkrieg mehrfach ausgeweitet wurde,6 beteiligten sich viele Wahlberechtigte aufgrund ihres Analphabetismus erst gar nicht an den Wahlen und verharrten weiter in politischer Abstinenz („assenteismo“, Abwesenheits- bzw. Verweigerungshaltung). Zu Letzterem trugen allerdings auch der Heilige Stuhl und dessen Haltung zum neuen Staat entscheidend bei – und das sollte den jungen Kaplan, der 1894 zum Priester geweiht wurde, nur wenig später in Konflikt mit der Kirche bringen. Schon um die jahrhundertelange Autonomie des Kirchenstaates und seiner Territorien nicht zu gefährden, hatte sich der Heilige Stuhl im Risorgimento allen Bestrebungen widersetzt, einen nationalen Einheitsstaat zu schaffen. Seit der Einnahme und Besetzung des Kirchenstaates am 20. September 1870 und damit der Vollendung des italienischen Nationalstaates betrachtete sich Papst Pius IX. als Gefangener und verbot mit der Bulle „Non expedit“ 1874 allen Katholiken bei Strafe der Exkommunizierung die politische Mitwirkung am neuen Einheitsstaat. Dies hatte zur Folge, dass sich die große Mehrheit der Italiener der weiteren politischen Gestaltung des neuen Staates versagte. Auch wenn die intransigente Haltung des Heiligen Stuhls durch seinen Nachfolger Leo XIII. mit der Sozialenzyklika „Rerum novarum“ aus dem Jahre 1891 insoweit relativiert wurde, als erstmals eine katholische Wählerorganisation zugelassen wurde, die 1904 und 1909 auch einige Abgeordnete ins Parlament entsenden konnte, blieb eine politische Mitwirkung am neuen Staat für die große Mehrheit der Bevölkerung mit Gewissensbissen verbunden; für den Klerus war sie so gut wie ausgeschlossen.7 Schon vor der Vollendung der italienischen Nationalstaatsbildung im Geburtsjahr Sturzos 1871 bestanden somit massive soziale Integrations- und politische Partizipationsdefizite, die nach dem Ende des Ersten Weltkrieges kumulieren sollten.

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6 7

Erst 100 Jahre später, im Jahre 1961, war die Analphabetenrate auf acht Prozent gesunken. Vgl. Gabriele Ballarino, Das italienische Bildungs- und Ausbildungssystem. In: Karoline Rörig/Ulrich Glassmann/Stefan Köppl (Hg.), Länderbericht Italien, Bonn 2012, S. 160–183, hier 163. Vgl. hierzu detailliert Giorgio Candeloro, Storia dell’Italia moderna, Band 7: La crisi di fine secolo e l’età Giolittana 1896–1914, Mailand 1981. Hierzu in Ergänzung Jean-Dominique Durand, Italien. In: Kurt Meier (Hg.), Die Geschichte des Christentums. Religion – Politik – Kultur, Band 12: Erster und Zweiter Weltkrieg. Demokratien und Totalitäre Systeme (1914–1958), Freiburg i. Brsg. 1992, S. 440–498, hier bes. 474–476. Siehe auch Rudolf Lill, Geschichte Italiens in der Neuzeit, 4. Auflage Darmstadt 1988, S. 233–235, 248 f.

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Einleitung der Herausgeber

Nach seiner Ordination 1894 begab sich Sturzo auf Anraten seines älteren Bruders Mario (1903 von Papst Leo XIII. zum Bischof der sizilianischen Diözese Piazza Armerina ernannt) nach Rom, um an der päpstlichen Universität Gregoriana seine theologischen, philosophischen und soziologischen Studien fortzuführen. Dort promovierte er am 27. Juli 1898 zum Doktor der Theologie. Seine Jahre in Rom waren jedoch nicht nur den Wissenschaften gewidmet; parallel dazu entwickelte sich bei ihm ein wachsendes Bewusstsein für die zum Teil katastrophale soziale Lage der Unterschichten in der Ewigen Stadt. Ein Schlüsselerlebnis wurde die Weihung von Häusern und Wohnungen der Arbeitslosen und Ärmsten in Rom vor dem Osterfest 1895, bei der er deren miserable Lebens-, Arbeits- und Wohnverhältnisse mit eigenen Augen sah.8 Das weckte nicht nur sein christliches und soziales Engagement, er verband es auch mit seinen Studien. Neben dem Sozialökonomen Giuseppe Toniolo zog den jungen Priester vor allem das Engagement des katholischen Theologen Romolo Murri für eine umfassende wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung Italiens, nicht zuletzt zur Lösung oder wenigstens Linderung seiner massiven sozialen Probleme, in den Bann.9 Eine der Zielsetzungen Murris war es, die Kirche aus ihrer traditionellen Bindung an die grundbesitzende Aristokratie zu lösen und gegenüber der Demokratie zu öffnen. Das konnte beim Heiligen Stuhl und der übergroßen Mehrheit des Klerus allerdings nur auf breite Ablehnung stoßen; die Exkommunizierung Murris im Jahre 1909 war die Folge – eine Entscheidung, die Sturzo sehr getroffen hat.10 Gleichwohl entfaltete der junge Priester nach seiner Rückkehr nach Sizilien im Jahre 1897 rege Aktivitäten, die stark von sozialpolitischen Motiven geprägt waren. Sturzo rief die Zeitschrift „Croce di Costantino“ ins Leben und versuchte damit ein publizistisches Organ zu schaffen, in dem drängende Probleme der Zeit im Rahmen der Kirche zur Sprache kommen sollten.11 In seinem Heimatort Caltagirone engagierte er sich in der Lokalpolitik und gründete kirchlich fundierte Hilfskomitees, mit denen er die soziale Lage der Landarbeiter und Tagelöhner zu erleichtern suchte, diese aber auch zur Selbst-

    8 Vgl. Malgeri, Luigi Sturzo, S. 28.     9 Vgl. Malcolm Moos, Don Luigi Sturzo – Christian Democrat. In: American Political Science Review, 39 (1945), S. 269–292, hier 270. 10 Vgl. ebd., Anm. 5, sowie Lill, Geschichte Italiens, S. 248. Siehe zum zeithistorischen Hintergrund auch Andreas Lindt, Das Zeitalter des Totalitarismus. Politische Heilslehren und ökumenischer Aufbruch, Stuttgart 1981, S. 50–71. 11 Vgl. Luigi Sturzo, La lotta tra lo Stato e la Chiesa. In: Gabriele de Rosa (Hg.), La Croce di Costantino. Primi scritti politici e pagine inedite sull’azione cattolica e sulle autonomie comunali, Rom 1958, S. 72 f.

Lebensweg des Autors

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hilfe veranlassen wollte.12 Die Einrichtung solcher Organisationen, die auf gegenseitigen Beistand und Kooperation im weitesten Sinne abzielten, war allerdings keine Erfindung des jungen sizilianischen Priesters, sondern ging bereits auf eine Debatte noch vor der Mitte des 19. Jahrhunderts in England, Frankreich, etwas später auch in Deutschland zurück; es genügt, die Namen Robert Owen, Pierre Proudhon, Hermann Schulze-Delitzsch oder Wilhelm Emmanuel von Ketteler neben vielen anderen zu nennen. In Italien hatten Giuseppe Mazzini und vor allem Luigi Cerutti diese Diskussion aufgenommen. Besonders war es Cerutti, der als erster katholischer Priester vor allem in der Lombardei und im Veneto zur Gründung von Kooperativen („cooperative“) maßgeblich beigetragen hatte.13 In Sizilien hingegen war es bis dahin noch nicht zur Einrichtung von Kooperativen gekommen, nicht zuletzt auch deshalb, weil hier noch immer spätfeudale Herrschafts- und Besitzverhältnisse vorherrschten. Große Landgüter in den Händen der „padroni“ bestimmten Leben und Arbeit der von ihnen abhängigen Bauern und Landarbeiter. Eine Veränderung dieser jahrhundertelangen Macht- und Eigentumsverhältnisse wurde aus Sicht des landbesitzenden Adels und Bürgertums nicht gewünscht. Das galt auch für die große Mehrheit des Klerus in der Kirche Siziliens, obwohl die spontanen Revolten der Landarbeiter in den Latifundien und der Arbeiter in den Schwefelminen bereits im Jahre 1892 nachdrücklich unter Beweis gestellt hatten, wie prekär deren soziale Situation war.14 Wenn jetzt ein junger Priester Anstalten machte, sich für die Bauern und Landarbeiter durch Hilfs- und Selbsthilfeorganisationen einzusetzen, musste dies bei den „padroni“ und der Kirche Argwohn erregen. Denn Sturzo blieb nicht bei seinem sozialpolitischen Engagement stehen, sondern verfolgte auch politische Ziele. Auf kommunaler Basis gründete er in seiner Heimatstadt Caltagirone im Jahre 1900 eine Bürgervereinigung mit dem Namen „Centro Cattolico“, die zwar dem päpstlichen Diktum folgte und nicht an Wahlen teilnahm, aber in der Stadt rasch an Einfluss gewann. Sturzo selbst war bereits ein Jahr zuvor als einziger Priester Stadtrat in Caltagirone geworden. Als Pius X. im Jahre 1904 die Bestimmungen der inzwischen 30 Jahre alten Enzyklika „Non expedit“ abmilderte, erreichte das „Centro Cattolico“ bei den Stadtratswahlen in Caltagirone nur ein Jahr später bereits 32 von insgesamt 40 Sitzen; er selbst wurde stellvertretender

12 Vgl. Malgeri, Luigi Sturzo, S. 46. 13 Vgl. Eugenio Guccione, Luigi Sturzo tra società civile e Stato, Palermo 1987, S. 25–30. 14 Vgl. A. Robert Caponigri, Don Luigi Sturzo. In: The Review of Politics, 14 (1952), S. 147–165, hier 149.

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Einleitung der Herausgeber

­ ürgermeister (­„prosindaco“) und hatte dieses Amt 15 Jahre inne.15 Während B dieser Zeit wurde Sturzo auch Mitglied des in Catania tagenden Provinzrates und war Vizepräsident des Verbandes italienischer Gemeinden in den Jahren 1915 bis 1919. Doch obwohl Sturzo sich dezidiert gegen den Sozialismus und sozialistische Kooperativen und Gewerkschaften (zum damaligen Zeitpunkt in Sizilien noch kaum existent) wandte, war sein Ansatz im breiten Spektrum des katholischen Vereinswesens doch vornehmlich politisch ausgerichtet. Bereits 1905 hatte er eine viel beachtete Rede mit Forderungen zu einem verstärkten politischen Engagement katholischer Gläubiger gehalten. Dies blieb nicht unbemerkt. Im Jahre 1907 wurden seine Aktivitäten in Caltagirone durch eine apostolische Visitation überprüft, eine daraus resultierende Anklage an ihn trotz einiger Kritik aber fallen gelassen.16 In den folgenden Jahren entwickelte sich sein Heimatort zu einer der am besten verwalteten sizilianischen Städte mit dem Bau von Häusern für Arbeiter, der Einrichtung eines Kraftwerks, der Gründung einer Ausbildungsstätte für Keramik sowie eines zoologischen Instituts. Dabei war Sturzos Engagement durchweg praktischer Natur und auf die Verbesserung lokaler und regionaler Verhältnisse gerichtet.17 In diesen Jahren reifte in Sturzo der Plan, eine katholische Partei auf nationaler Ebene in ganz Italien zu gründen. Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges sah er die Zeit dafür gekommen und führte deshalb mit Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri Gespräche, um die Möglichkeiten für die Gründung einer katholischen Partei auszuloten. Angesichts der nachkriegsbedingt instabilen Lage in Italien und einer bald zu erwartenden Ausweitung des bestehenden Wahlrechts rang sich Papst Benedikt XV. im Dezember 1918 schließlich dazu durch, der Gründung einer katholischen Partei nicht mehr im Wege zu stehen. Zu einer faktischen Aufhebung des „Non expedit“ kam es aber erst im November 1919 – unmittelbar vor den ersten Nachkriegswahlen in Italien. Sie fanden unter den Bedingungen eines Verhältniswahlrechts mit erstmals uneingeschränktem Männerwahlrecht statt. Nicht einmal ein Jahr nach seiner Gründung vermochte der PPI bei den Wahlen einen großen Erfolg zu erzielen. Von insgesamt 508 Parlamentssitzen gewann die Partei mit 100 Mandaten knapp ein Fünftel aller Sitze. Da die Vereinigten Sozialisten 156 und die Unabhängigen Sozialisten 26 Sitze errangen,

15 Vgl. Francesca Piombo, Don Luigi Sturzo (1871–1959): A Christian Democrat in ­Exile. In: Andrew Chandler/Katarzyna Stokłosa/Jutta Vinzent (Hg.), Exile and Patronage. Cross-cultural negotiations beyond the Third Reich, Berlin 2006, S. 153–166, hier 154. 16 Vgl. ebd. 17 Vgl. Moos, Don Luigi Sturzo, S. 271.

Lebensweg des Autors

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verfügten der PPI und die sozialistischen Parteien sogar über eine Parlamentsmehrheit. Doch verweigerten der PPI ebenso wie die sozialistischen Parteien sowohl gegenüber den liberalen Honoratiorenparteien, die über Jahrzehnte hinweg die Macht in Italien innegehabt hatten, als auch untereinander jegliche politische Zusammenarbeit. Dahinter standen vornehmlich politisch-ideologische Motive. Schon lange vor der Gründung des PPI war der (radikale bzw.) revolutionäre Sozialismus für die Katholiken eine inakzeptable politische Position gewesen, noch einmal verstärkt durch den bolschewistischen Oktoberumsturz in Russland 1917. Zudem waren die sozialistischen Parteien für die Popolari starke Konkurrenten auf dem Gebiet der Sozialpolitik und der Wählerschaft. Damit blockierten sich aber der PPI und die sozialistischen Parteien wechselseitig und mithin auch die parlamentarische Arbeit. Zugleich verfügten die stark geschwächten Liberalen nicht mehr über den notwendigen Rückhalt im Parlament, um eine konstruktive Wirtschafts- und Sozialpolitik in die Wege zu leiten. Zwischen dem Kriegsende 1918 und der faschistischen Machterringung im Oktober 1922 kam es zu sechs Kabinettswechseln. Wie Rudolf Lill festgestellt hat, bedingten sich die „beginnende Agonie des liberalen Staates und der Aufstieg des Faschismus […] gegenseitig“.18 Sturzos Popolari unterstützten immerhin indirekt die schwachen, noch immer von Liberalen geführten Kabinette von Nitti, Giolitti, Bonomi und Facta bis Juli 1922;19 spätestens ab diesem Zeitpunkt war jedoch der Honoratiorenliberalismus, dessen Eliten den italienischen Einheitsstaat maßgeblich geschaffen hatten, an sein Ende gekommen. Als politische Alternative blieb nur noch eine Koalition der sozialistischen Parteien mit dem PPI. Doch ein entsprechender Vorschlag Sturzos an den Vorsitzenden der Vereinigten Sozia­ listen, Filippo Turati, wurde von diesem abgelehnt, obwohl weder der neue Papst Pius XI. noch König Vittorio Emanuele III. Einwände erhoben.20 Damit war eine handlungsfähige Regierung nicht mehr existent und das Land paralysiert. Die fundamentale politische, wirtschaftliche und soziale Krise Italiens, schon unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg virulent, entlud sich im August 1922 in einem dreitägigen Generalstreik, nicht zuletzt auch als bewusste Demonstration der Sozialisten und Kommunisten gegen die permanenten, gewalttätigen Übergriffe der faschistischen Bewegung, deren Aktivisten selbst vor Mord nicht zurückschreckten. Doch während des landesweiten Streiks trat eine überraschende Wende ein, in der die inzwischen veränderten Machtverhältnisse zum Ausdruck kamen: Es gelang den faschistischen „Squadre“ in

18 Lill, Geschichte Italiens, S. 290. 19 Vgl. Moos, Don Luigi Sturzo, S. 272. 20 Vgl. ebd.

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Einleitung der Herausgeber

e­ inem wohlorganisierten Schlag, eine ganze Reihe von Städten und Gemeinden zu besetzen und sozialistische, aber auch katholische Kooperativen zu zerstören. Italien befand sich im Sommer des Jahres 1922 somit nicht nur in einer Phase akuter Destabilisierung seines Staatswesens, sondern auch am Rande des Bürgerkrieges. Die Beteiligung der faschistischen Partei an der Regierung schien ein letztes Mittel zu sein, einen solchen zu verhindern. Auch König Vittorio Emanuele III. schloss sich widerstrebend dieser Meinung an, zumal das Militär ein Eingreifen ablehnte. Der Marsch auf Rom vom 27. bis 31. Oktober 1922 ist daher kein revolutionärer Überraschungscoup gewesen, wozu ihn die faschistische Bewegung später stilisiert und mythologisiert hat. Vielmehr handelte es sich um einen Staatsstreich, der von der Krone legalisiert wurde, weil der König keine politische Alternative mehr sah.21 Damit ergab sich auch für Sturzos Partei eine völlig neue Situation, zumal es im PPI Stimmen gab, in die erste von Mussolini gebildete Regierung einzutreten. Vier ihrer Mitglieder wurden Minister, ließen dabei aber ihre Parteizugehörigkeit ruhen. Allerdings brachen dadurch auch Gegensätze im PPI auf. Sturzo wandte sich vehement gegen solche Tendenzen; nach ihrem Rücktritt im April 1923 bildeten die Popolari die stärkste Oppositionspartei, da Sozialisten und Kommunisten durch die dauernden Übergriffe der faschistischen „Squadre“ inzwischen stark geschwächt worden waren. Schon vor der faschistischen Machterringung hatte Sturzo Mussolini und seine Bewegung heftig kritisiert; nach dem Herbst 1922 erwuchs er zu einem seiner erbittertsten Gegner, der alle öffentlichen und medialen Möglichkeiten zur Kritik am neuen Regime nutzte. Sturzo prangerte nicht nur die faschistischen Gewalttaten an, die sich nun immer stärker auch gegen katholische Einrichtungen wandten, er widerlegte auch die immer wieder vorgebrachte Behauptung Mussolinis, die faschistische Bewegung habe Italien vor der Gefahr des Bolschewismus bewahrt.22 Stattdessen warnte er frühzeitig vor den „strukturellen Gemeinsamkeiten der ideologischen Antipoden Faschismus und Bolschewismus“ und verteidigte „die zentralen Errungenschaften des ‚liberalen Systems‘: Parlamentarismus, Gewaltenkontrolle, Pluralismus und Grundrechtssicherung“ kompromisslos.23

21 Vgl. hierzu detailliert Günther Heydemann, Die faschistische Machterringung in Italien 1922 – ein welthistorisches Ereignis. In: Steffen Kailitz (Hg.), Nach dem „Großen Krieg“. Vom Triumph zum Desaster der Demokratie 1918/19 bis 1939, Göttingen 2017, S. 293–316, besonders 307–316. 22 Vgl. Moos, Don Luigi Sturzo, S. 273. 23 Uwe Backes, Luigi Sturzo. Begründer und früher Wegbereiter des Totalitarismuskonzepts. In: Frank Schale/Ellen Thümmler (Hg.), Den totalitären Staat denken, Baden-Baden 2015, S. 31–50, hier 31.

Lebensweg des Autors

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Mit seiner antifaschistischen Kritik stieß Sturzo allerdings auch auf wachsenden Widerspruch bei Pius XI., der wenig von demokratischen Strukturen und Werten hielt und in Mussolini einen zupackenden Machtpolitiker sah, der in der Lage war, in Italien wieder Ordnung herzustellen und das Land zu stabilisieren. Zudem schien der neue Machthaber trotz seiner antireligiösen und antikirchlichen Haltung ein Mann zu sein, mit dem der Heilige Stuhl ein Konkordat abschließen könne, um der Katholischen Kirche in Italien nach Vollendung des Nationalstaats wieder einen gesicherten Platz in Staat und Gesellschaft zu verschaffen. Schon im Frühjahr 1923 hatte der päpstli­ orriere che Hausprälat und Chefredakteur der römischen Tageszeitung „Il C ­d’Italia“, Enrico Pucci, auf Wunsch Pius’ XI. einen Artikel publiziert, in dem Sturzo nahegelegt wurde, als Vorsitzender der Volkspartei zurückzutreten.24 Zunehmend wurde Sturzo jetzt doppeltem Druck ausgesetzt: Pius XI. wünschte seinen Rücktritt, und Mussolini und die faschistische Bewegung wollten einen ihrer schärfsten Kritiker loswerden.25 Sturzo gab dem Wunsch des Papstes jedoch nicht sofort nach, sondern beschwerte sich, durch die Rücktrittsforderungen seitens des Vatikans werde das Wirken der einzigen Partei untergraben, „die wirklich von christlichen Prinzipien des bürgerlichen Lebens inspiriert ist und […] heute dazu dient, […] die willkürliche Herrschaft der Diktatur zu beschränken“.26 Doch als Untergebener seines geistlichen Oberherrn und Diener der Kirche musste sich Sturzo schließlich fügen und trat nach einer von ihm selbst noch einberufenen Sondersitzung des PPI am 10. Juli 1923 vom Amt des Vorsitzenden zurück.27 Sturzos Rücktritt vom Amt des PPI-Vorsitzenden fand international ein breites Echo. Ein Kommentar in der „Berliner Volkszeitung“ vom 12. Juli 1923

24 Vgl. David I. Kertzer, Der erste Stellvertreter. Papst Pius XI. und der geheime Pakt mit dem Faschismus, Darmstadt 2016 (englische Erstausgabe New York 2014), S. 114. Kertzer arbeitet die sukzessive Hinwendung Pius’ XI. zu Mussolini detailliert heraus. Er stützt sich in Teilen auf: John N. Molony, The Emergence of Political Catholicism in Italy. Partito Popolare 1919–1926, London 1977, sowie Giovanni Sale, Fascismo e Vaticano prima della Conciliazione, Mailand 2007. 25 Kertzer zitiert aus einem Brief des Kardinalstaatssekretärs Gasparri vom 5.7.1923 an den Jesuiten Tacchi Venturi, der der Mittelsmann zwischen Pius XI. und Mussolini war. Dort heißt es: „Aus Gründen, deren Aufzählung hier unnötig ist, hat der Heilige Vater Don Sturzo einen Aufschub seiner Antwort erlaubt. […] Nachdem er lange und intensiv vor Gott nachgedacht hat, glaubt der Heilige Vater, dass ein Priester in der gegenwärtigen Lage Italiens keine Partei, ja die Opposition aller Parteien gegen die Regierung leiten kann, ohne der Kirche ernsthaft zu schaden, was die Freimaurer bekanntermaßen sehr freut.“ Ebd., S. 430, Anm. 4. 26 Ebd., S. 77 f., 430, Anm. 5. 27 Vgl. ebd., S. 78.

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Einleitung der Herausgeber

unterstreicht dessen politische Bedeutung: „Der Abgang des Führers der Popolaripartei bedeutet für Italien wohl das wesentlichste innerpolitische Ereignis seit dem fascistischen Umsturz. Der kleine, in den Witzblättern als stehende Figur fungierende Kleriker mit den scharfgeschnittenen Zügen bildete auf der Höhe seiner Macht Mussolinis gefährlichsten Widerpart. Er ist ja der Gründer der Popolaripartei, jener katholischen Partei, deren Kern aus Landleuten, Kleinbürgern und Arbeitern besteht. Im Laufe weniger Jahre hat diese neue politische Gruppe dank ihrer geschickten Taktik, die in manchem an die des deutschen Zentrums erinnert, eine achtunggebietende politische Stellung erlangt. Nicht in den auseinandergesprengten und eingeschüchterten Liberalen und Sozialisten, in den Popolaren allein erblickt der Fascismus heute seinen eigentlichen Feind.“28 Auch wenn Sturzo gegen seinen Willen das Amt des PPI-Vorsitzenden hatte aufgeben müssen: An seiner Fundamentalkritik am Faschismus und an dessen Führer änderte sich nichts. Anfang 1924 hatte er, zusammen mit Piero Gobetti, einen Verlag („Società editrice libreria italiana“) gegründet, um durch Buchpublikationen über das Wesen des Faschismus aufzuklären; ein erster Band erschien unter dem Titel „Popolarismo e fascismo e battaglie antifasciste“. Das blieb dem Vatikan natürlich nicht verborgen. Sturzo wurde daher angewiesen, auch den Parteivorstand der Popolari zu verlassen – eine Forderung, der er am 19. Mai 1924 Folge leistete. Auch wenn dies seinen politischen Einfluss im PPI schwächte, ließ seine vehemente Kritik an Mussolini und der faschistischen Bewegung nicht nach. Seine unermüdlichen publizistischen Aktivitäten erhöhten allerdings die Gefahr, dass auch auf ihn ein faschistischer Anschlag verübt würde, wie das am 10. Juni 1924 Giacomo Matteotti, dem Vorsitzenden der Sozialistischen Einheitspartei (Partito Socialista Unitario), widerfuhr, der von Squadristi ermordet wurde. Neben Sturzo war Matteotti einer der schärfsten Kritiker der faschistischen Bewegung gewesen; das auf ihn verübte Attentat, von dem Mussolini wusste, sollte dessen Regierung in die größte Krise stürzen.29 Doch in der Hoffnung auf den Abschluss eines Konkordats hielt Pius XI. weiter an Mussolini fest, obwohl dessen persönliche Verstrickung in den Matteotti-Mord unübersehbar war.30

28 Berliner Volkszeitung vom 12.7.1923, S. 1. Siehe zur Rezeption der italienischen Vorgänge in der Zentrumspartei und ihrem publizistischen Umfeld: Jutta Bohn, Das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und faschistischem Staat in Italien und die Rezeption in deutschen Zentrumkreisen (1922–1933), Frankfurt a. M. 1992. 29 Vgl. hierzu ausführlich Kertzer, Der erste Stellvertreter, S. 88–96. 30 Vgl. ebd., S. 94.

Lebensweg des Autors

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Die Erwartung des Papstes, Sturzo werde sich nach seinem erzwungenen Rücktritt vom Parteivorsitz sowie aus dem Parteivorstand der Popolari mit seiner Kritik am faschistischen Regime zurückhalten, erfüllte sich nicht. Pius XI. wies ihn daher im September 1924 erneut an, seine Angriffe einzustellen. Dadurch geriet Sturzo in einen schwierigen Gehorsams- und Gewissenskonflikt. Denn als Kleriker hatte er dem Papst unbedingten Gehorsam zu leisten, als Politiker und überzeugter Demokrat konnte und wollte er jedoch nicht schweigen. Obwohl es ihm äußerst schwerfiel, sagte er dem Heiligen Stuhl zu, Italien für eine gewisse Zeit zu verlassen. Anlass dazu bot die Teilnahme an einer internationalen Konferenz in London. Pius XI. nahm seinen Vorschlag erleichtert an und ließ ihm ein Ausweisdokument des Vatikanstaats zukommen, da eine Passausstellung durch das faschistische Regime unabsehbare Folgen für Sturzo gehabt hätte.31 Am 25. Oktober 1924 verließ Sturzo Italien. Gedacht war an einen Aufenthalt von einigen Monaten, um die höchst angespannte innenpolitische Krise in Italien nach dem faschistischen Attentat auf Matteotti aus sicherer Entfernung abzuwarten. Sturzo war zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst, dass sein Exil lange Jahre andauern sollte. Die Hilfestellung, die der Vatikan dabei leistete, war jedoch keineswegs uneigennützig. Sie versah den Heiligen Stuhl mit der Aura, seinem Diener Schutz zu gewähren; entscheidend für Pius XI. war indes, dass er mit Sturzo einen unbeugsamen Kritiker des Faschismus aus den eigenen Reihen zum Verstummen brachte, der mit seiner Partei ein beträchtliches politisches Hindernis für den erstrebten Abschluss eines Konkordats mit Mussolinis Regime darstellte. Sturzo reiste in Begleitung seiner Zwillingsschwester Emanuela (Nelina) nach London und kam im beginnenden Winter 1924 in ein kaltes, nasses Land, an dessen Klima und Wetter er sich nicht gewöhnen sollte.32 Ohnehin nicht mit robuster Gesundheit versehen, sondern herzleidend, wurde er immer wieder krank. Zudem konnte er kein Wort Englisch und musste sich die unbekannte Sprache erst mühsam aneignen. Die erzwungene Entfernung aus Italien fiel ihm schwer, zumal sich ab 1926 abzeichnete, dass sich Mussolinis

31 Der Vatikan versah ihn außerdem mit englischen Pfundnoten im Wert von 10 000 Lire, wobei Kardinalstaatssekretär Gasparri Sturzos Bruder Mario, der Bischof in Sizilien war, antrug, seinen Bruder Luigi über dessen bevorstehendes Exil und dessen Modalitäten zu unterrichten. Dahinter stand die Absicht, in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, der Vatikan habe mit Luigi Sturzos Weggang aus Italien nichts zu tun, sondern dieser sei dessen persönliche Entscheidung. Sein Bruder Mario wies dieses Ansinnen jedoch entrüstet zurück, sodass Gasparri Sturzo auf anderem Weg informieren musste. Vgl. ebd., S. 433, Anm. 22, 23. 32 Ausführlich zum Exil Sturzos: Gabriele de Rosa, Luigi Sturzo, Turin 1977, S. 251–284.

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Machtstellung wieder festigte, nicht zuletzt auch deshalb, weil der PPI Ende des Jahres (6. November 1926) aufgelöst wurde. Ab jetzt saßen nur noch Faschisten im italienischen Parlament. Sturzo selbst wurde zunehmend bewusst, dass sein Aufenthalt in London zum politischen Exil wurde. Schutz von der eigenen Kirche konnte er kaum erwarten. Denn dem Konvent der Serviten, in dem er in London untergekommen war, wurde im März 1926 die Entziehung finanzieller Unterstützung für den Fall angedroht, sollte er Don Sturzo weiter bei sich beherbergen. Erneut gab der Vatikan Pressionen des faschistischen Regimes nach. Im selben Monat ließ Kardinalstaatssekretär Gasparri durch Kardinal Francis Bourne in London die Aufforderung des Heiligen Stuhls an Sturzo übermitteln, seinen Rückzug aus dem PPI durch eine entsprechende Mitteilung in englischen Zeitungen öffentlich zu machen. Sturzo sollte dazu gebracht werden, sich politisch und publizistisch nicht mehr zu betätigen. Doch diesem Ansinnen widersetzte er sich. In seinem Antwortschreiben legte er Kardinal Bourne im Juni 1926 dar, welche Zugeständnisse er bereits gemacht habe und weshalb er sich der von Rom gewünschten Stellungnahme verweigere. In den folgenden Jahren sollte er zu einem der europaweit bekanntesten Kritiker des Faschismus avancieren.33 Nach und nach baute sich Sturzo ein Netzwerk von Bekannten, Freunden und Sympathisanten in London auf, die ihn unterstützten und ihm mit der Zeit ein breites Spektrum an Publikationsmöglichkeiten eröffneten. Unterstützung fand er vor allem von zwei Frauen, die er bald seine „piccola ­famiglia“ nannte und mit denen er bis 1940 eine Wohngemeinschaft bildete. Die gleichaltrige Cicely Mary Marshall stellte ihm zunächst eine Wohnung zur Verfügung, nachdem er auf die Hilfe der Katholischen Kirche nicht mehr zählen konnte. Sie gehörte ebenso wie die 24-jährige Barbara Barclay Carter zum fortschrittlichen katholischen Frauenverein „St. Joan’s Social and Political Alliance“, der sich neben karitativer Hilfe auch der Unterstützung von Emigranten widmete. Barbara Carter wurde für Sturzos politische, publizistische und wissenschaftliche Aktivitäten von besonderer Bedeutung. In London als Tochter eines Amerikaners und einer Irin aufgewachsen, früh verwaist und als 21-Jährige zum Katholizismus konvertiert, hatte sie Romanistik und scholastische Philosophie am Pariser Institut Catholique studiert, sprach fließend Französisch und Italienisch und wurde zur unermüdlichen Redakteurin und Übersetzerin seiner Texte.34 Seine anfängliche Unkenntnis der englischen Sprache ließ ihn daher nicht verstummen; vielmehr konnte er jetzt auch auf Englisch und Französisch publizieren. 33 Vgl. hierzu auch Giovanna Farrel-Vinay, The London Exile of Don Luigi Sturzo (1924–1940). In: Heythrop Journal, 45 (2004) 2, S. 158–177, hier 160. 34 Vgl. ebd., S. 163.

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Persönlichkeiten aus Publizistik und Wissenschaft kamen hinzu, ohne die es Sturzo nicht möglich gewesen wäre, eine breite Publikationstätigkeit zu entfalten. So vor allem Henry Wickham Steed, Mitherausgeber der „Times“, der über sehr gute Verbindungen zu Journalisten und Publikationsorganen verfügte; Gilbert Murray, Professor für Klassische Sprachen in Oxford, und George Peabody Gooch, Historiker für internationale Beziehungen und Herausgeber der renommierten Zeitschrift „Contemporary Review“, die sich zudem beide für die italienischen Emigranten einsetzten und Vorworte zu Sturzos Büchern schrieben; Bertha Pritchard, eine deutsche Sozialdemokratin, die über sehr gute Beziehungen zu europäischen Sozialisten und Sozialdemokraten verfügte, sowie Virginia Mary Crawford, eine frühe Förderin des christlichen Sozialismus, die 1929 den Verein „Friends of Italian Freedom“ gegründet hatte und ab 1932 die Zeitschrift „Italy To-Day“ mit dezidiert antifaschistischer Stoßrichtung herausgab.35 Im Mai 1926 erschien bereits sein Buch „Italy and Fascismo“, die erste, tiefgründige, politische und wissenschaftlich-systematische Analyse des Faschismus. Hier entfaltete er erste Umrisse eines eigenen Totalitarismuskonzepts und übte damit beträchtlichen Einfluss auf die internationale Auseinandersetzung mit dem neuen Phänomen aus. Der Harvard-Historiker und spätere Berater mehrerer US-Präsidenten William Yendell Elliott etwa rühmte die „historische Perspektive“, seinen liberalisierenden Appell in Richtung Vatikan und seine Einordnung der Entwicklung Italiens in den europäischen Kontext.36 Es folgten eine deutsche (1926), amerikanische (1927), französische (1927) und spanische (1930) Ausgabe.37 Auch wenn Sturzo sich in Italien nicht mehr politisch betätigen konnte, so blieb er doch weiterhin ein aufmerksamer Beobachter der dortigen wie auch der europäischen politischen Entwicklung. Er hielt sich dabei keineswegs nur in London auf, sondern reiste häufig nach Paris und Brüssel, unternahm aber auch Reisen nach Irland und Deutschland. Besonders lag ihm am Herzen – und darin kam sein nach wie vor ungebrochener politischer Impetus zum Ausdruck –, die internationale Zusammenarbeit christlich-­sozialer und

35 Vgl. ebd., S. 164–168, mit der Nennung einer ganzen Reihe weiterer Personen und Publikationsorgane, mit denen Sturzo Kontakt pflegte bzw. in denen er veröffentlichte. 36 Vgl. William Yendell Elliott, Rezension. In: Political Science Quarterly, 43 (1928) 4, S. 600–604. 37 Vgl. Luigi Sturzo, Italien und der Faschismus, übersetzt von L. und A. Dempf, Köln 1926; ders., Italy and Fascismo, translated by Barbara Barkley Carter, New York 1927; ders., L’Italie et le fascisme, traduit de l’italien de Marcel Prélot, Paris 1927; ders., Italia y el fascismo, traducción española con un estudio preliminar „Sturzo y el fascismo“ por Mariano Ruiz-Funes, Madrid 1930.

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katholischer Parteien (Gründung des „Secrétariat International des Partis Démocratiques d’Inspiration Chrétienne“ im Dezember 1925 in Paris) auszubauen und zu stärken. Schon im August 1921 hatte Sturzo einen ersten Versuch unternommen, die katholischen und christlich-sozialen Parteien zu einem internationalen Verband zusammenzuschließen, um sich gegen die angenommene Bedrohung der „civilisation chrétienne“ in Europa nach dem Ersten Weltkrieg zu stellen und „den Einfluss der Katholiken auf gesetzgeberischem und politischem Gebiet gemäß den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit und der christlichen Solidarität zu stärken“.38 Sturzos Initiative stieß jedoch ins Leere, weil sich französische und belgische Parlamentarier so kurz nach dem Weltkrieg nicht mit deutschen und österreichischen Abgeordneten treffen wollten. Dabei hatte er bei seinem Besuch in Deutschland im September 1921 in einem Interview betont, dass die italienische Popolarenpartei im Grunde „akonfessionell“ und unabhängig vom Heiligen Stuhl sei.39 Doch die Ende 1925 in Paris gegründete internationale Vereinigung katholischer und christlich-sozialer Parteien barg von Anfang an zu viele innere politische Gegensätze in sich, sodass ihre Weiterexistenz ab Mitte der 1930er-Jahre zunehmend gefährdet war. Hierzu trug nicht nur die philo- bzw. profaschistische Einstellung mancher christlicher Parteimitglieder aus den verschiedenen Mitgliedsländern bei, sondern auch die sukzessive innen- und außenpolitische Machtentfaltung des Nationalsozialismus, bekräftigt durch den erzwungenen Anschluss Österreichs im März 1938 und das Münchner Abkommen im September des gleichen Jahres.40 Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und die Besetzung Belgiens, der Niederlande und Frankreichs durch das nationalsozialistische Deutschland führten dann ihr institutionelles, nicht aber ihr politisches Ende herbei. Denn bereits im Winter 1940/41 gründeten Exilanten in London eine „International Christian Democratic Union“ (ICDU), deren Vizepräsident Luigi Sturzo wurde, obwohl er inzwischen von London nach New York gezogen war. Aus der ICDU gingen Ende 1944 die neu gegründeten christlichen Parteien in Frankreich und Italien und nach Kriegsende 1945 die Christlich Demokratische Union Deutschlands hervor. Ohne Zweifel hatte Sturzo daran erheblichen persönlichen Anteil.41

38 So Alwin Hanschmidt, Eine christlich-demokratische „Internationale“ zwischen den Weltkriegen. Das „Secrétariat International des Partis Démocratiques d’Inspiration Chrétienne“ in Paris. In: Winfried Becker/Rudolf Morsey (Hg.), Christliche Demokratie in Europa. Grundlagen und Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert, Köln 1988, S. 153–188, hier 156. 39 Vgl. ebd., S. 158. 40 Vgl. Farrell-Vinay, The London Exile, S. 167. 41 Vgl. Hanschmidt, Eine christlich-demokratische „Internationale“, S. 184 f.

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Neben seinem unermüdlichen politischen Engagement und seiner enormen publizistischen Tätigkeit, mit der er in den 1930er-Jahren früh das autoritäre Regime von Dollfuß in Österreich, den Überfall des faschistischen Italien auf Abessinien und den franquistischen Terror im spanischen Bürgerkrieg kritisierte, widmete sich Sturzo vor allem auch auf wissenschaftlicher Ebene zentralen Fragen und Problemen seiner Zeit. Nach seinem grundlegenden Werk „Italien und der Faschismus“ von 1926 erschien drei Jahre später das Buch „La Comunità Internazionale e il diritto di guerra“ („Die internationale Gemeinschaft und das Kriegsrecht“), und 1939 das umfassende Werk „Chiesa e Stato“ („Kirche und Staat“). Daneben schrieb er eine Vielzahl von Aufsätzen, Artikeln und Kommentaren in Zeitungen, Zeitschriften und wissenschaftlichen Organen. Den Abschluss des Konkordats zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Faschismus am 11. Februar 1929 in Rom hatte Sturzo mit Bestürzung und Resignation zur Kenntnis nehmen müssen und nüchtern prophezeit, dass sich die Katholische Kirche unter Papst Pius XI. mit einem politischen Partner eingelassen hatte, welcher der Kirche und ihren Gläubigen noch schweren, nicht zuletzt moralischen Schaden zufügen würde. Ebenso skeptisch hatte Carl von Ossietzky, der nur wenige Monate nach der Machterringung der Nationalsozialisten zu deren Opfer werden sollte, dazu festgestellt: „Bedenklich ist, dass dieser Vertrag nicht mit dem alten italienischen Staat, der in inneren Angelegenheiten immer recht liberal gewesen ist, abgeschlossen wird, sondern mit dem neuen, der Mussolini heißt. Damit ist das Pontifikat mit dem Fascismus verkoppelt.“42 Zu dieser Ansicht ist Pius XI. erst kurz vor seinem Tod 1939, zehn Jahre nach Abschluss des Konkordats, gelangt.43 Das Sturzo 1929 vom Vatikan angetragene Angebot, eine ehrenvolle Stelle als Kanoniker am Petersdom anzunehmen, wenn er sich zukünftig jeglicher politischer und publizistischer Tätigkeit enthalte, war im Grunde ein erneuter Erpressungsversuch des Heiligen Stuhls, den er jedoch mit dem Hinweis ablehnte, dass er gerade darauf nicht verzichten wolle und werde.44 Im Herbst 1939 erlitt Sturzo eine schwere Herzattacke, von der er sich nur mühsam erholte; nach wie vor konnte der Sizilianer das feucht-kalte englische Wetter nur schlecht ertragen. Als schließlich ab Sommer 1940 die ersten Bomben der deutschen Luftwaffe auf London fielen und das Haus, in dem er mit Cicely Marshall und Barbara Carter lebte, keinen Keller aufwies, wurde ihm von

42 Carl von Ossietzky, Der erlöste Vatikan. In: Die Weltbühne vom 12.2.1929, S. 242. 43 Das ist nach der Sichtung eines stupenden Quellenmaterials die Kernthese des umfassenden Werkes von Kertzer, Der erste Stellvertreter. 44 Vgl. Farrell-Vinay, The London Exile, S. 166.

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mehreren Seiten angetragen, London zu verlassen. Doch entscheidend für seinen Entschluss wurde, dass man ihn, den unbeugsamen Antifaschisten, der seit fast 16 Jahren als politischer Emigrant in Großbritannien lebte, dort plötzlich als Feind bzw. potenziellen Spion betrachtete, nachdem Italien am 10. Juni 1940 England den Krieg erklärt hatte. Hätte sich nicht sein alter Freund Wickham Steed für ihn verwendet, wäre Sturzo in ein Internierungslager gekommen.45 Ende September 1940 verließ Sturzo Großbritannien, inzwischen fast 70-jährig, und schiffte sich in Begleitung seines Freundes und Arztes Michele Sicca nach New York ein – mit nicht mehr als zehn Pfund Bargeld. Zunächst fand er ein Unterkommen in der großen italienischen Community der Metropole am Hudson River. Das konnte jedoch keine Dauerlösung sein. Er war gesundheitlich noch immer angeschlagen und hoffte darauf, eine Professoren- oder Dozentenstelle zu bekommen. Höchste kirchliche Würdenträger, unter ihnen der apostolische Delegat Roms, Kardinal Cicognani, und Kardinal Spellman, der Erzbischof von New York, verwiesen ihn nach Florida ins katholische St. Vincent’s Hospital zur Wiederherstellung seiner Gesundheit. Obwohl das dortige Klima ihm viel besser bekam als das im schneereichen, kalten New York, realisierte er im Sommer 1941, dass er in dem kirchlichen Krankenhaus, in dem sich vornehmlich kranke und sterbende katholische Priester befanden, letztlich abgeschoben und isoliert war und wohl auch sein sollte. Dahinter stand eine Absprache des Vatikans mit dem faschistischen italienischen Botschafter in den USA, Rossi Longhi.46 Schon 1943 wollte er wieder nach London zurückkehren, doch daraus wurde nichts. Obwohl er weiterhin nur über unzureichende finanzielle Mittel verfügte, nahm er seine publizistische Tätigkeit wieder auf. Mitglied in einer antifaschistischen Organisation in den USA zu werden, wie etwa in der „Mazzini Society“, erwies sich für ihn als unmöglich, da solche Kreise gleichzeitig antikirchlich bzw. antikatholisch eingestellt waren.47 Obendrein gab es nicht wenige amerikanische Katholiken, die den Faschismus oder sogar den Nationalsozialismus unterstützten. Zudem wurde er von amerikanischen Katholiken dafür angegriffen, dass er sich als Priester in die Politik begeben hatte. Sturzo musste sich gegen solche Vorwürfe zur Wehr setzen, erhielt aber vom apostolischen Vertreter Roms in den USA, Kardinal Cicognani, keinerlei Unterstützung.48 Anders als in seiner Londoner Zeit war Sturzo in den USA im Wesentlichen auf sich allein gestellt. Doch auch ohne große Hilfe und Unterstützung blieb er publizistisch aktiv. Von besonderer Bedeutung wurde seine Tätigkeit

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Vgl. Malgeri, Luigi Sturzo, S. 239. Vgl. ebd., S. 172. Vgl. ebd., S. 245. Vgl. Piombo, Don Luigi Sturzo, S. 160 f.

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für das US-amerikanische „Office of Strategic Services“ (OSS) und das „Office of War Information“ (OWI), denen er mit Analysen und Berichten über die italienische „resistenza“ zuarbeitete; zudem machte er Radiosendungen und gab Interviews. Das OSS, mit dem er bereits seit 1941 in Kontakt stand, schätzte seine Meinung und griff wiederholt auf ihn zurück.49 Offensichtlich gelang es Sturzo dadurch, den Weg für eine christlich-demokratische Partei nach der Befreiung Italiens zu bahnen und diese als bevorzugten Gesprächspartner der Alliierten ins Spiel zu bringen. Im April 1944 zog er nach New York zurück, um möglichst bald wieder in sein Heimatland zu gelangen. Doch weder sein alter Parteifreund De Gasperi, der im Nachkriegsitalien der erste Ministerpräsident und Vorsitzender der „Democrazia Cristiana“ (DC) werden sollte, noch der Vatikan befürworteten seine Rückkehr. De Gasperi trat für eine Allparteien-Regierung ein, während Sturzo eine Koalition unter der Führung der DC favorisierte. Aber auch im Hinblick auf das am 2. Juni 1946 bevorstehende Plebiszit in Italien mit der Entscheidung über die Beibehaltung oder Abschaffung der Monarchie und die Einführung einer Republik waren Sturzo und De Gasperi unterschiedlicher Meinung: Sturzo war gegen ein solches Referendum, weil er befürchtete, dass dadurch wieder, insbesondere im Süden Italiens, postfaschistische Kräfte gestärkt werden könnten. Er trat daher für eine Verfassungsversammlung ein, welche diese grundlegende konstitutionelle Richtungsentscheidung Italiens nach dem Faschismus treffen sollte. Der Vatikan hingegen argwöhnte, eine triumphale Rückkehr des unbeugsamen Kirchenmannes und langjährigen Emigranten könne die Reputation des Heiligen Stuhls schädigen, der unter Pius XI. ein Konkordat mit dem Faschismus geschlossen hatte. Zudem befürchtete der Vatikan, Sturzos Wiederaufnahme politischer Aktivitäten werde eine Spaltung der Katholiken herbeiführen, nachdem inzwischen die DC gegründet worden war. Entsprechend wurde Sturzo im Oktober 1945 und erneut im Mai 1946 jeweils davon abgeraten, nach Italien zurückzukehren. Erst Ende August 1946 betrat er in Neapel wieder italienischen Boden – nach fast einem Vierteljahrhundert Emigration.50 Seine Rückkehr war nicht nur für ihn ein sehr emotionales Erlebnis, auch die Presse schenkte ihr große Aufmerksamkeit. Sturzo zog sich ins Mutterhaus der Canossianischen Schwestern in Rom zurück und lebte dort bis zu seinem Tod. Inzwischen 75 Jahre alt, blieb er nach wie vor ein aufmerksamer Beobachter des innen- und außenpolitischen Geschehens. Wie bisher nahm er kein Blatt vor den Mund und kritisierte oftmals heftig Entscheidungen der italienischen Nachkriegsregierungen, i­ nsbesondere staatliche Interventionen in die italienische Wirtschaft. Sensibel registrierte 49 Siehe hierzu auch die Schilderung seiner persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen in den USA: Luigi Sturzo, La mia battaglia da New York, Mailand 1949. 50 Vgl. Farrell-Vinay, The London Exile, S. 173.

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er, dass der Faschismus trotz seines katastrophalen Scheiterns in psychologisch-mentaler Hinsicht in großen Teilen der italienischen Gesellschaft noch immer präsent war.51 Zudem warnte er wiederholt vor dem Wiedererstarken des Sozialismus bzw. Kommunismus, zumal der „Partito Communista Italiano“ (PCI) zur stärksten kommunistischen Partei im Nachkriegseuropa wurde. 1952 ernannte ihn Staatspräsident Luigi Einaudi, der Sohn Mario Einaudis, der ihm in New York mehrfach geholfen hatte, zum Senator auf Lebenszeit.52 Das bedeutete zweifellos eine ehrenvolle Auszeichnung für sein Lebenswerk, doch in politischer Hinsicht auch ein Abstellgleis. Seinen Geburtsort Caltagirone, seine Heimatstadt, für die er in jungen Jahren so viel getan hatte, sah er nicht mehr wieder, da er befürchtete, die Emotionen wären zu stark für seine Gesundheit; ohnehin war sein Bruder Mario bereits 1941 verstorben. Luigi Sturzo selbst verschied am 8. August 1959, inzwischen 88 Jahre alt. Mit ihm ging ein unbeugsamer, streitbarer Demokrat aus dem Leben, der mutig und unbeirrt gegen den Faschismus, aber auch gegen andere totalitäre Diktaturen politisch und publizistisch gekämpft und dafür große, persönliche Opfer gebracht hatte. Aus der Rückschau kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Don Luigi Sturzo zu den wichtigsten politischen Persönlichkeiten Italiens im 20. Jahrhundert gezählt werden muss.

II. Inhalt der Edition Diese Edition bietet die erste deutschsprachige Anthologie der Schriften Luigi Sturzos zum Totalitarismus. Allem Anschein nach war es nicht der Liberale Giovanni Amendola, sondern Luigi Sturzo, der das Attribut „totalitär“ erstmals verwendete.53 Mario D’Addio hat dessen Gebrauch in der Einleitung zu einer Sammlung von Reden („Riforma statale e indirizzi politici“, „Staatsform

51 Vgl. ebd. 52 Vgl. Malgeri, Luigi Sturzo, S. 333. 53 Als wortgeschichtlich früheste Fundstelle galt lange Zeit der „Il Mondo“-Aufsatz von Giovanni Amendola vom 23.5.1923. So zuletzt Jens Petersen, Die Entstehung des Totalitarismusbegriffs in Italien. In: Eckhard Jesse (Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, 2. erw. Auflage, Baden-­ Baden 1999, S. 95–117, hier 104 – mit zahlreichen weiteren Fundstellen. Siehe auch bereits: Jens Petersen, La nascita del concetto di „Stato totalitario“ in Italia. In: Annali ­dell’Istituto storico italo-germanico in Trento, (1975), S. 143–168; Helmut Goetz, Über den Ursprung des Totalitarismusbegriffs. In: Neue Zürcher Zeitung vom 28.3.1976, S.  7; ders., Totalitarismus. Ein historischer Begriff. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 32 (1982), S. 163–174. Petersen (und Goetz) folgen noch: Bruno Bongio­vanni, Totalitarianism: the Word and the Thing. In: Journal of Modern

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und politische Richtungen“) nachgewiesen, die Sturzo im Dezember 1922 verfasste, knapp zwei Monate nach dem „Marsch auf Rom“ und fast ein halbes Jahr vor dem berühmten „Il Mondo“-Aufsatz Amendolas vom 12. Mai 1923.54 Die Edition beginnt folglich mit dieser Einleitung, auch wenn das Phänomen des Totalitären nicht in deren Zentrum steht. Sturzo war sich offenbar nicht bewusst oder hatte vergessen, dass er der Urheber des Begriffs war, denn er trug selbst zur Verdunkelung von dessen lange Zeit ungeklärter Frühgeschichte bei. In seiner Schrift „L’Italia e l’ordine internazionale“ behauptete er 1944, von „totalitär“ und „Totalitarismus“ sei vor 1925 nie die Rede gewesen, und Mussolini habe die Formeln selbst erstmals verwendet.55 Dieser hatte in einer Rede zum Abschluss des vierten Parteikongresses des „Partito Nazionale Fa­ scista“ (am 22. Juni 1925) bekanntlich die „feroce volontà totalitaria“56 seiner Bewegung gerühmt, und die Formel vom „stato totalitario“ war zur affirmativen Selbstbezeichnung des Regimes geworden.57 Der Umstand zeigt, dass der ursprünglichen Wortwahl kein begriffsstrategisches Kalkül zugrunde lag. Der neue Terminus knüpfte an die Wortfamilie „totale“, „totalità“ („total“, „Totalität“) etc. an, die in der von Sturzo heftig kritisierten Tradition hegelianischer Staatsmetaphysik eine zentrale Rolle spielte. Die mit dem Begriff verknüpfte Qualität sah Sturzo nicht als exklusives Merkmal der faschistischen Bewegung, sondern als eine Tendenz zur Vergöttlichung des Staates, die sich seit dem ausgehenden Mittelalter in verschiedenen Strömungen, in mehr oder weniger starker Ausprägung, verbreitet und in jüngster Zeit eine weitere Steigerung erfahren habe: Ein totalitäres Staatskonzept („concezione totalitaria dello stato“) verbinde sich mit einer

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­ uropean History, 3 (2005), S. 5–17, hier 5; Juan Francisco Fuentes, Totalitarian E Language. Creating Symbols to Destroy Words. In: Contributions to the History of Concepts, 8 (2013) 2, S. 45–66, hier 47. Vgl. auch bereits: Adrian Lyttleton, The Seizure of Power. Fascism in Italy 1919–1929, London 1973, S. 482, Anm. 1, und dazu: Michelle-Irène Brudny, Le Totalitarisme: Histoire du terme et statut du concept. In: Communisme, (1996) 47/48, S. 13–32, hier 18 f. Vgl. Mario D’Addio, Problemi sociologici, politici e istituzionali in Luigi Sturzo e nella tradizione del popolarismo. In: Sociologia, 20 (1986) 2–3, S. 67–102, hier 102. Siehe auch Jean-Luc Pouthier, Luigi Sturzo et la critique de l’État totalitaire. In: Vingtième Siècle, 89 (1989), S. 83–90, hier 84 f.; Giorgio Scichilone, Totalitarismo. In: Antonio Parisi/Massimo Cappellano (Hg.), Lessico Sturziano, Soveria Mannelli 2013, S. 1022– 1032, hier 1022. Vgl. Luigi Sturzo, Italia e l’ordine internazionale (1944), Rom 2001, S. 41; Scichilone, Totalitarismo, S. 1022. Benito Mussolini, Opera Omnia, Band XXI, Florenz 1956, S. 361. Dazu detailreich: Martin Jänicke, Totalitäre Herrschaft. Anatomie eines politischen Begriffs, Berlin 1971, S. 20–36.

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alle „ethischen, kulturellen und ökonomischen Energien durchdringenden ­Konzentration“ der Staatsgewalt, die auf diese Weise eine religiöse Dimension gewinne und als eine neue Gottheit („una nuova deità“58) in Erscheinung trete. Sturzo spricht vom „pantheistischen“59 Staat, einem Produkt insbesondere des „philosophischen Rationalismus“, der für sich einen ethischen Vorund Höchstrang („primo etico“) beanspruche und die Kirche in die Sphäre des Privaten zurückdränge. Sturzo verband die von ihm wahrgenommene totalitäre Tendenz zunächst also vor allem mit der neuzeitlich-rationalistischen Staatsidee und stand mit dieser Sicht in der Tradition katholischer Kritik am modernen Staat, wie sie in der Enzyklika „Quanta cura“ Pius’ IX. (1864) zum Ausdruck gekommen war. Und auch wenn Sturzo den dort kodifizierten Antimodernismus in wesentlichen Aspekten keineswegs teilte, musste er die im „Syllabus errorum“, dem angehängten Verzeichnis der in der Enzyklika zurückgewiesenen Irrtümer, enthaltene Verdammung des „Pantheismus“ als einer das Göttliche in der „Gesamtheit der Welt“60 lokalisierenden Anschauung und einer über der Kirche und den göttlichen Geboten thronenden Staatsgewalt (§ VI, 39) uneingeschränkt bejahen. Die Tendenz der modernen Welt zur transpersonalen Weltvergöttlichung war kein Spezifikum des Faschismus. Mithin besaß das pejorative Attribut „totalitär“ zu Beginn noch keine antifaschistische Stoßrichtung, zumal Sturzo anfänglich dazu neigte, das nach dem Weltkrieg entstandene Phänomen des Faschismus als eine eher geistlose, von konservativen Besitzinteressen dominierte Bewegung anzusehen, der eine dauerhafte Staatsbildung eigener Art wohl kaum zuzutrauen sei.61 Diese Einschätzung wandelte sich in der Folgezeit, je mehr der unbedingte Machtwille Mussolinis in eine repressive, vor politischem Mord nicht zurückschreckende Praxis mündete. Und damit gewann der Totalitarismusvorwurf eine Hauptstoßrichtung, die er zu Beginn noch nicht besessen hatte.

58 Luigi Sturzo, Riforma statale e indirizzi politici (1923). In: ders., Opera Omnia, seconda serie, volume III: Il Partito Popolare Italiano, Rom 2003, S. 99–354, hier 109; in diesem Band S. 57. 59 Ebd., S. 108; in diesem Band S. 57. 60 Zitiert nach der Übersetzung des Syllabus unter: http://www.domus-ecclesiae.­ de/ magisterium/syllabus-errorum.teutonice.html, 12.8.2018, § 1 („Pantheis­mus, Naturalismus und absoluter Rationalismus“). Siehe zur Bedeutung der Enzyklika und des Syllabus in der italienischen Geschichte: Lill, Geschichte Italiens, S. 185–187. 61 Vgl. Sturzo, Popolarismo e fascismo (1924). In: ders., Opera Omnia, seconda serie, volume IV, Bologna 1951, S. 221. Vgl. Emilio Gentile, Contro Cesare. Cristianesimo e totalitarismo nell’epoca dei fascismi, Mailand 2010, S. 142.

Inhalt der Edition

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Der folgende kurze Text („Unser ,Zentrismus‘“) erschien erstmals am 26. August 1923 in der Parteizeitung des linken PPI-Flügels, „Il Popolo Nuovo“.62 Die Neologismen „totalitär“/„Totalitarismus“ sind in ihm nicht enthalten. Statt ihrer bedient sich Sturzo des ideengeschichtlich mit dem Aristotelismus und (in dessen Gefolge) dem Thomismus verknüpften Bildes der Via media zwischen gleichermaßen verwerflichen „Extremen“, wie es seit der Französischen Revolution in verwandelter Form und mit wechselnden Inhalten Eingang in die Parlamentsgeografie Europas und Italiens gefunden hatte.63 Die geistige Parallele zum Totalitarismusbegriff ist unübersehbar: Hier wie dort werden inhaltlich gegensätzliche Strömungen in ihren strukturellen Gemeinsamkeiten erfasst. Das Tertium comparationis Sturzos bildet die christliche Ethik mit dem Prinzip der Mäßigung und der Negation der Möglichkeit der Vollendung im Diesseits. Der „Zentrismus“ erteilt daher (revolutionärem) Sozialismus und Faschismus gleichermaßen eine Absage: „Die Sozialisten sagen: Das Übel rührt von der bürgerlichen Ordnung der Gesellschaft; man muss sie stürzen, dann kommt der Novus ordo; sie sind Extremisten, denn sie vertreten einen Absolutheitsanspruch. Die Faschisten sagen: Die Nation kann nur blühen, wenn ihre Ordnung, ihre Art zu denken und ihr gesellschaftliches Leben ‚faschistisiert‘ ist; sie tendieren zu etwas Absolutem und sind folglich auch ‚Extre­ misten‘.“ Aus „reiner Bequemlichkeit“ nenne er „in Bezug auf die bürgerliche Gesellschaft“ die einen „Linksextremisten“, die anderen „Rechtsextremisten“, aber gemeinsam seien ihnen beiden die „‚monopolistischen‘, ‚absolutistischen‘ und ‚extremistischen‘ Tendenzen“,64 neben sich letzten Endes keine andere Bewegung zu dulden und alles nach einem absolut gesetzten Prinzip gestalten zu wollen. Das Programm der Popolari sei hingegen vom Geist der Mäßigung und vermittelnder Kompromisssuche geprägt: „Wir sind Demokraten, aber wir lehnen die Übertreibungen der Demagogen ab; – wir wollen die Freiheit, aber wir widerstehen der Versuchung, einen Freibrief für alles zu wollen; – wir lassen die Autorität des Staates zu, lehnen aber die Diktatur ab, auch im Namen der Nation; – wir erkennen das Privateigentum an, aber wir bestehen darauf, dass es eine gesellschaftliche Funktion hat; – wir wollen, dass alle Faktoren des nationalen Lebens respektiert und entwickelt werden, aber wir lehnen den nationalistischen Imperialismus ab; und so weiter, vom ersten bis zum letzten Punkt unseres Programms ist keine ­Behauptung ­absolut,

62 Er fand später Eingang in den ersten Band von „Popolarismo e fascismo“: Luigi Sturzo, Il nostro „centrismo“. In: ders., Il Partito Polare Italiano, volume secondo: Popolarismo e Fascismo, Opera Omnia, volume quarto, Bologna 1956, S. 165–170. 63 Vgl. Norberto Bobbio, Rechts und Links. Gründe und Bedeutung einer politischen Unterscheidung, Berlin 1994. 64 S. 83 in diesem Band.

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sondern alles ist relativ und steht nicht für sich selbst, sondern ist immer unter Vorbehalt und erreicht nie extreme Positionen, sondern setzt immer auf den Mittelweg.“65 Sturzo hat das Bild von den Extremen und einer Mäßigung verbürgenden Mitte in den folgenden Jahren häufiger verwendet,66 in der Auseinandersetzung mit dem italienischen Faschismus jedoch weit stärker auf den Totalitarismusbegriff zurückgegriffen, den er früher als andere Autoren systematisch entfaltete. In die maßgeblich von den Liberalen Luigi Salvatorelli und Giovanni Amendola sowie dem Linkssozialisten Lelio Basso und anderen angestoßene Debatte um den „totalitären“ Charakter der faschistischen Bewegung67 schaltete sich Sturzo mit einem Vorabdruck seiner 1923 nach dem Rücktritt als Parteisekretär zusammengestellten Sammlung von Reden und Beiträgen ein, die unter dem Titel „Popolarismo e fascismo“ erschien. Der Beitrag „Geist und Wirklichkeit“ ist für das Totalitarismusverständnis Sturzos von zentraler Bedeutung. Er kam am 15. Januar 1924 in der Zeitschrift „La Rivoluzione Liberale“ zum Abdruck. Erstmals zog Sturzo hier den Totalitarismusbegriff spezifisch zur vergleichenden Charakterisierung der faschistischen Bewegung heran. Sturzo beschrieb deren Hang, den ganzen Staat den eigenen Bedürfnissen und Sichtweisen anzugleichen, ja eine „trasformazione totalitaria“68 des gesamten moralischen, kulturellen, politischen und religiösen Lebens zu vollziehen. Die „tendenza totalitaria e dominatrice“69 des Faschismus beruhe auf seinem Anspruch, über eine eigene Theorie zu verfügen, die den Verstand und die Herzen der Menschen ganz für sich einzunehmen verstehe. Sturzos entschiedenes Urteil enthielt einen Appell an jene Popolari, die temporäre Bündnisse mit den Faschisten zur Vermeidung größerer Übel befürworteten: Eine Rückkehr zu rechtsstaatlichen Verhältnissen sei nur möglich, wenn man dem „spirito totalitario“ (dem „totalitären Geist“) abschwöre, die „Notwendigkeit sowie die Funktionen der Parteien“ anerkenne und dem „Illegalismus“70 eine Absage erteile. Die unter dem Titel „Pensiero antifascista“ („Antifaschistisches Denken“) veröffentlichte Sammlung ist vor allem für die noch in Italien entstandenen Beiträge von Interesse. Allerdings erschließt sich Sturzos Haltung zum Faschismus und Totalitarismus in ihr nicht in konzentrierter Form, sondern in 65 S. 82 in diesem Band (Hervorhebungen im Original). 66 Vgl. Uwe Backes, Politische Extreme. Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Göttingen 2006, S. 153–155. 67 Vgl. Petersen, Die Entstehung des Totalitarismusbegriffs. 68 Sturzo, Popolarismo e fascismo). In: ders., Opera Omnia, S. 235 (Hervorhebung im Original), in diesem Band S. 89. 69 Ebd. 70 Ebd., S. 240, in diesem Band S. 94 f.

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weit verstreuten Passagen. In erster Linie geht es um die Auseinandersetzung mit dem Faschismus in Italien; Vergleiche erfolgen nur punktuell. Die Sammlung wird durch eine an Deutlichkeit kaum zu überbietende Dis­ tanzierung vom Klerikalismus in seiner konservativen (das Volk im Interesse der Besitzenden einbindenden) wie seiner faschistischen (auf Kooperation mit Mussolinis Bewegung setzenden) Variante eröffnet. Das Pejorativum „Klerikalfaschisten“ ist diffuser und weniger abschätzig zu verstehen, als es in den Ohren heutiger Leser klingen muss. „Klerikalfaschisten“ sind jene, die sich zur Kooperation mit dem Faschismus bereit zeigen und dafür subjektiv ehrbare Motive haben mögen. Doch viele wissen nicht, so Sturzo, dass sie einen Pakt mit dem Teufel schließen. Denn: Die zentralen Ideen des Faschismus sind „heidnisch“, mit dem Christentum unvereinbar: „Es geht um Staatsverehrung und Vergöttlichung der Nation. Außerdem werden unmoralische Taten wie Mord bei der Verfolgung nationaler Ziele zugelassen, gefördert und gepriesen. Die Anstiftung zur Gewalt steht nicht nur im direkten Widerspruch zum Rechtsstaat, sondern – was schlimmer ist – zum Gesetz der Liebe, wie es das Evangelium verkündet. Wie kann man in den erzieherischen Wert, den der Faschismus mit der Einführung des Katechismus in den Schulen erreichen möchte, volles Vertrauen haben?“71 Der Vergleich zum Bolschewismus, dessen Methoden denen des Faschismus gleichen und dessen Antichristentum außer Frage steht, wird punktuell vorgenommen, aber nicht systematisch entfaltet. Der Begriff der „palingenetischen Theorien“, wie sie die „Sozialkommunisten“ zur Begründung der vor ihnen angestrebten „Diktatur des Proletariats“72 gepredigt hätten, bleibt für die revolutionäre Linke reserviert. Vor allem geht es Sturzo darum, den Gewaltkult des Faschismus und dessen Unvereinbarkeit mit den Grundprinzipien christlicher Ethik zu entlarven. Der Mord an dem sozialistischen Abgeordneten Matteotti steht, so sehr Mussolini auch vor dem Senat wie Pilatus die Hände in Unschuld gewaschen habe, in ungebrochener Kontinuität zum Verhalten der Faschisten in den beiden Jahren zuvor: „Abgesehen von der inzwischen vollen Überzeugung, dass beim Innenministerium von einigen führenden Männern der Partei eine politische ‚schwarze Hand‘ organisiert wurde, was weder dem Polizeichef noch dem Innenminister noch dem Parteivorsitzenden völlig unbekannt sein konnte, herrschte und herrscht im Faschismus noch heute die Überzeugung und die Leitlinie der Illegalität, des Rechtes auf Gewalt und der Funktion der Armee als Dienerin einer Partei, der durch ein revolutionäres Recht (ein fast göttliches Recht) die Macht gebühre. Die Ermordung Matteottis hat in allen

71 Luigi Sturzo, Interview in La Stampa vom 10.2.1924, S. 100 in diesem Band. 72 Ders., Die moralische Einheit der Italiener (6.9.1924), S. 159 in diesem Band.

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­ olitischen Verbrechen, für die der Faschismus verantwortlich ist, notwendige p Präzedenzfälle, von der tragischen Nacht des 18. Dezembers 1922 in Turin bis heute, da all diese Verbrechen nicht bestraft wurden, und zwar nicht, weil die Polizei nicht genug getan oder der Richter nicht über das richtige Beweismaterial verfügt hätte, sondern weil die direkten und indirekten Verantwortlichen Straffreiheit und die offensichtliche Billigung der Presse sowie der faschistischen Führer genossen und von der Regierung toleriert wurden, um nicht mehr zu sagen.“73 Das Zusammengehen der Popolari mit Sozialisten und „Radikalen“ in der Aventin-Opposition versteht Sturzo als „negatives Bündnis“ zur Verteidigung von „Legalität“, „Freiheit“ und „Gerechtigkeit“ zur Abwendung des Erfolges des „positiven Bündnisses“ der Faschisten, die auf revolutionäre Aktion zielen: „Heute besteht eine sehr ernste Gefahr für das Land: Und zwar, dass die extremistischen Elemente, das heißt revolutionäre und gewalttätige Faschisten und Kommunisten, die mit anderen radikalen Anarchos in Verbindung sind, versucht sein könnten, von den Drohungen zu kollektiver Gewalt überzugehen.“74 Wer diese Gefahr abwenden will, so lautet die unabweisliche Schlussfolgerung, muss den Faschismus isolieren – statt weiterhin auf vorteilhafte Bündnisse mit seinen Vertretern zu setzen. Der letzte Beitrag der Sammlung zum „Antifaschistischen Denken“ behandelt systematisch die Frage der Grenzen der Legitimität der Zusammenarbeit christlicher Demokraten mit anderen Parteien. Sturzo knüpft an die Einleitung zur Abhandlung „Staatsreform und politische Richtungen“ an, wenn er die generelle Fragwürdigkeit der aus seiner Sicht vorherrschenden Idee des modernen Staates betont, die diesem einen „absoluten Wert“, eine „totale Herrschaft“ zubillige. Daraus resultiere eine Tendenz zur „Vergöttlichung“ des Staates, wie sie in verschiedenen Theorien zu finden sei: „Die Theorie Gentiles über den faschistischen Staat ist genauso unethisch und unreligiös wie die von Karl Marx über den proletarischen Staat: Das Dogma der Stärke des Knüppels ist genauso viel wert wie das Dogma des Klassenkampfes und das des Laissez-faire und des Laissez-passer: All diese haben keine ethischen Werte.“ Faschismus, revolutionärer Sozialismus und Liberalismus gewinnen mithin eine totalitäre Tendenz, sobald sie ihre normativen Grundideen zu letzter Konsequenz treiben und allen anderen überordnen: „Die Vergöttlichung des Staates der Liberalen ist das Gleiche wie die Vergöttlichung der Nation der Nationalisten oder wie die Vergöttlichung der Arbeiterklasse, die die S ­ ozialisten

73 Luigi Sturzo, Das Wort und die Taten (26.6.1924), S. 149 in diesem Band. 74 Ders., Das Verhalten der Popolari (11.7.1924), S. 156 in diesem Band.

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wollen. Es ist die Umkehrung des Relativen in das Absolute; und die Erhebung des assoziativen Faktors zum ethisch Höchsten.“75 Sturzos Kritik am Liberalismus entspricht dem katholischen Antimodernismus insofern, als sie ihm eine totalitär-pantheistische Tendenz zuschreibt. Ihre Komplexität erschließt sich aber nur, wenn man auch die demokratisch-inklusiven Aspekte der Liberalismuskritik Sturzos berücksichtigt. Sturzo sieht den „trasformismo“ als eine Ursache für das Aufkommen des Faschismus, wendet sich gegen liberale Partizipationsbeschränkungen und plädiert entschieden für die politische Teilhabe auch der Frauen.76 Zudem lässt er niemals einen Zweifel daran, wie sehr ihm zentrale Errungenschaften der liberalen Bewegung des 19. Jahrhunderts (Rechtsstaat, Gewaltenkontrolle, Parlamentarismus und Parteienpluralismus) am Herzen liegen. Es ginge mithin entschieden zu weit, ihn als einen Antiliberalen zu bezeichnen.77 War Sturzo in den Jahren 1923/24 einer von vielen italienischen „Antifaschisten“ – so die sich verbreitende Selbstbezeichnung78 –, die sich der Totalitarismusformel in der Auseinandersetzung mit dem gemeinsamen Antipoden bedienten, so trug er in den Jahren des Exils mehr als alle seine Mitstreiter zur Verbreitung und systematischen Entfaltung des Totalitarismuskonzepts bei. Von fundamentaler Bedeutung war das in den ersten Jahren in London entstandene Buch „Italy and Fascismo“, das im Mai 1926 erschien, von der jungen Mitstreiterin Barbara Barclay Carter vom Italienischen (eine italienische Ausgabe sollte erst viele Jahre später, nach dem Krieg, in Sturzos Heimatland erscheinen) ins Englische übertragen und vom Times-Journalisten und Historiker Henry Wickham Steed einer Endkorrektur unterzogen wurde.79 Ausgaben in deutscher (1926), französischer (1927) und spanischer (1930) Sprache folgten. Sturzo zeigt in seiner Schrift, wie das vom Risorgimento-Liberalismus gegen den Absolutismus erfochtene liberale System mit seinem Parlamentarismus, der Parteienkonkurrenz und den verbürgten Freiheitsrechten durch den

75 Ders., Das moralische Problem der politischen Zusammenarbeit, S. 184 in diesem Band. 76 Ders., Einleitung „Staatsreform und politische Richtungen“, S. 64 f. in diesem Band (Punkt 15). 77 Vgl. auch Sergio Belardinelli, Die politische Philosophie des christlichen Personalismus. In: Karl Graf Ballestrem/Henning Ottmann (Hg.), Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, München 1990, S. 243–262, hier 256 f. 78 Vgl. Luigi Sturzo, Pensiero antifascista (1924/25). In: ders., Opera Omnia, seconda serie, volume V: Il Partito Popolare Italiano. Pensiero antifascista, Rom 2003, S. 7–170. 79 Vgl. Giovanna Farrell-Vinay, Introduzione. In: dies. (Hg.), Luigi Sturzo a Londra. Carteggi e Documenti (1925–1946), Soveria Mannelli 2003, S. 3–31, hier 9. Siehe dort im Band auch das biografische Porträt Steeds, S. 115–134.

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opportunistischen und in den Techniken des Machterhalts trickreichen Klientelismus der staatstragenden politischen Elite, den „trasformismo“, in eine tiefe Krise geraten war. Drei neue Strömungen gingen aus ihr hervor: Sozialismus, Popolarismus und Faschismus. Während der reformorientierte Teil der Sozialisten und die Popolari bei aller Kritik am alten System Parteienpluralismus, Parlamentarismus und Grundrechtssicherung bejahten, markierte das Aufkommen des Faschismus einen radikalen Bruch. Dem dezidiert-revolutionären Flügel der Sozialisten (Maximalisten, Bolschewiki) ähnlich, erhoben die Faschisten einen monopolistischen politischen Gestaltungsanspruch, der Ende Oktober 1922 mit Beginn der faschistischen Revolte, der Mobilisierung der bewaffneten Sturmtruppen, der Besetzung der Präfekturen Norditaliens und der Organisation des „Marsches auf Rom“ unübersehbar wurde. Der mit der Regierungsbildung beauftragte Mussolini agierte „eher wie ein Befehlshaber der Armee, der seinen Generalstab bildet, als ein Regierungschef, der seine Mitarbeiter beruft“.80 Er verhandelte nicht mit den Parteien und begann mehr oder weniger zielstrebig, alle Kontrollen und Machthemmnisse zu beseitigen: „Die staatliche Zentralisierung und das Monopol der Partei waren fest verbunden, um alle unabhängigen Institutionen und Einrichtungen zu unterwerfen und zu absolutem Gehorsam zu zwingen. Die Minderheitsregierung, die durch ihren gelungenen Handstreich im Oktober an die Macht gekommen war, bemühte sich nun, das Land zu erobern.“ Diese Absicht nennt Sturzo „totalitär“, „entsprechend einer Theorie, die besagt, dass der Faschismus, der zum Nationalfaschismus geworden ist, alles und der Rest des Landes nichts ist. Der Erste hat alle Rechte, die von der Macht und der Gewalt herrühren, der Zweite ist nur zum Gehorsam verpflichtet. Der Erste ist die Nation, der andere die Anti-Nation. Der Erste ist das Vaterland, der andere das Anti-Vaterland.“81 Und diese Staatsauffassung sei von faschistischen Schriftstellern und Philosophen in zahlreichen Publikationen dargelegt und verteidigt worden. Der deutsche Übersetzer, der junge katholische Philosoph Alois Dempf, der in engem Austausch mit Sturzo stand und das Erscheinen des Buches im Kölner Gilde-Verlag vermittelt hatte,82 gab „tendenza totalitaria“ in der deutschen Erstausgabe konsequent mit „Totalitätstendenz“83 wieder; der Tota-

80 Luigi Sturzo, Italien und der Faschismus, S. 231 in diesem Band. 81 S. 237 f. in diesem Band (Hervorhebung im Original). 82 Vgl. Maddalena Guiotto, Luigi Sturzo e il mondo politico e intellettuale della Germania di Weimar. In: Istituto Luigi Sturzo (Hg.), Università e cultura nel pensiero di Luigi Sturzo. Atti di Convegno Internazionale di Studio, Rom, 28, 29, 30 ottobre 1999, Soveria Mannelli 2001, S. 443–465, hier 461. 83 Luigi Sturzo, Italien und der Faschismus, Köln 1926, S. 119. Siehe dort auch z. B. S. 129 („Totalitätssystem), S. 211 („Totalitätsauffassung“).

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litarismusbegriff verbreitete sich in Deutschland später und stand lange Zeit in Konkurrenz zur Terminologie des „totalen Staates“, die im NS-Regime eine gewisse Bedeutung erlangte, ohne allgemeine Anerkennung zu finden, hatte doch die „Bewegung“ nach verbreitetem Selbstverständnis Vorrang gegenüber dem Staat.84 Barbara Carter benutzte in der Kurzdefinition der englischen Originalausgabe noch das italienische Wort („This tendency was called totalitaria. The theory is that Fascism, now National Fascism, is everything, the rest of the country nothing.“85), während der französische Christdemokrat, spätere Verfassungsrechtler und Parlamentarier Marcel Prélot86 den Definitionssatz in der von ihm übersetzten französischen Ausgabe bereits mit den Worten einleitete: „Cette tendance fut appelée ‚totalitaire‘.“87 Allerdings übertrug auch die englische Übersetzerin in den folgenden einschlägigen Passagen das italienische Wort – das Adjektiv „totalitario“/„totalitarian“ wie die substantivierte Ismus-Bildung „totalitarismo“/„totalitarianism“ – ins Englische. Auf diese Weise fand das Attribut Eingang in die beiden Hauptsprachen des „Westens“.88 Die totalitäre Tendenz des Faschismus zeigte sich nach Sturzo in der vielfach bekundeten Absicht Mussolinis und anderer Repräsentanten, „den faschistischen Staat schaffen zu wollen“. Dieser aber beruhe „auf den Rechten der Revolution. Der ‚Marsch auf Rom‘ überträgt seinen Urhebern nach dem geschriebenen und sogar nach dem moralischen Gesetz das Herrschaftsrecht über die Bürger und deren Institutionen. Von diesem Standpunkt aus erscheint die Amnestie logisch, die für Straftaten zu nationalem Zweck vereinbart wurde, sie steht nur über dem moralischen Gesetz; die private Gewalt erscheint gerechtfertigt, sie verletzt nur das Prinzip des menschlichen Zusammenlebens; die Zudringlichkeit des Staates erscheint notwendig, sie unterdrückt nur die persönliche Freiheit.“89 Während der Faschismus nach der Devise handele: „Mors tua vita mea“, habe sich die Aventin-Opposition – ähnlich den ehedem das Risorgimento tragenden Kräften in ihrer Haltung gegenüber dem Absolutismus – zum Fürsprecher der „Methoden der Freiheit“ gemacht. Durch ihre Befolgung „ist die Ä ­ ußerung

84 Vgl. dazu ausführlich Jänicke, Totalitäre Herrschaft, S. 36–48. 85 Sturzo, Italy and Fascismo, S. 127 (Hervorhebung im Original). 86 Vgl. zur Rolle Prélots nur R. William Rauch, Jr., Politics and Belief in Contemporary France. Emmanuel Mounier and Christian Democracy, 1932–1950, Den Haag 1972, S. 40 f. 87 Sturzo, Italie et le fascisme, S. 127. Vgl. auch Pouthier, Luigi Sturzo, S. 86. 88 Vgl. zur Verbreitung in England: Markus Huttner, Totalitarismus und säkulare Religionen. Zur Frühgeschichte totalitarismuskritischer Begriffs- und Theoriebildung in Großbritannien, Bonn 1999, S. 29–47. 89 Sturzo, Italien und der Faschismus, S. 238 in diesem Band.

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a­ nders gerichteter politischer Ideen, die Propaganda der ­verschiedenen Parteien, erlaubt und möglich und wird respektiert oder toleriert, auch wenn diese Gegner der Macht sind und im Widerspruch zur Regierung oder den herrschenden Parteien stehen, solange das im Rahmen der Gesetze des zivilisierten Zusammenlebens geschieht, die aufgrund der Traditionen und der Anwendung zu anerkannten Gewohnheiten wurden. Mit dieser Methode der Freiheit war es möglich, die absolute Herrschaft abzuschaffen und verantwortungsbewussten Mächten Bedeutung zu verleihen, politischen Strömungen eine Entwicklung zu ermöglichen, organisierte Parteien zu gründen und dem Volk ein Mittel zu geben, um auf legale Weise seine Wünsche und seinen Willen auszudrücken, ohne auf Aufstände, Gewalt und den explosiven Zorn des unterdrückten oder betrogenen Volkes zurückzugreifen.“90 Sie setze allerdings voraus, dass „kein Mensch, keine Partei und keine Gruppe eine andere Methode anwenden kann als diese und dass diejenigen, die gewalttätige Methoden anwenden, sich selbst aus den zivilisierten Kreisen und aus der Politik ausschließen. Sie setzt außerdem voraus, dass kein Mensch und keine Partei oder Gruppe rechtlich über die anderen gestellt und mit absoluter und unveräußerlicher Herrschergewalt ausgestattet wird.“ In „Russland und Italien und in anderen nicht sehr wichtigen Gegenden des Mittelmeers“91 werde das Freiheitsprinzip negiert. In dessen Negation liege die zentrale Gemeinsamkeit des italienischen Faschismus und des russischen Bolschewismus. Sturzo zählte neben seinem Landsmann Francesco Nitti92 zu den Ersten, die Faschismus und Bolschewismus auf eine Vergleichsebene stellten und ihre totalitären Tendenzen aus der Perspektive des demokratischen Verfassungsstaates herausarbeiteten. Beide Bewegungen waren unter Anwendung von Gewalt an die Macht gelangt. Und selbst die Unterschiede in der Etablierungsphase erschienen weniger bedeutsam, als man auf den ersten Blick annehmen konnte: Zwar habe Wladimir I. Lenin von Anfang an eine Koalitionsregierung abgelehnt, während sich Mussolini ohne Zögern auf sie einließ. Aber die nicht-fa-

90 S. 248 f. in diesem Band. 91 S. 248 in diesem Band. 92 Vgl. Francesco Nitti, Bolschewismus, Fascismus und Demokratie, München 1926. Aller­dings bediente sich Nitti nicht des Totalitarismuskonzepts. Vgl. Walter Schlangen, Theorie und Ideologie des Totalitarismus. Möglichkeiten und Grenzen einer liberalen Kritik politischer Herrschaft, Bonn 1972, S. 43–45. Faschismus-Bolschewismus-Vergleiche wurden in verschiedenen politischen Lagern bereits in den Jahren 1923 bis 1926 häufig gezogen, ohne dass der Totalitarismusbegriff dafür die konzeptionelle Grundlage bildete. Vgl. nur die in folgendem Band aufgearbeiteten Beiträge von Karl Kautsky, Otto Bauer, Otto Rühle und Alexander Schifrin: Mike Schmeitzner (Hg.), Totalitarismuskritik von links. Deutsche Diskurse im 20. Jahrhundert, Göttingen 2007, S. 15–19.

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schistischen Minister seien bedeutungslos gewesen und nur die „Schatten einer vorgetäuschten Koalition“.93 Ganz im Geiste Leo Trotzkis, der die Ablehnung einer Koalitionsregierung mit „vollständig vom politischen Skeptizismus und von der Verherrlichung des liberalen Bürgertums“ zerfressenen Elementen kategorisch ausschloss, habe auch Mussolini „jede äußere Unterstützung und jede ungelegene Flankendeckung abgeschüttelt und sich in dem radikalen und extremistischen Standpunkt seiner Partei isoliert“.94 Beide Regime hätten es im Zuge der Machtübernahme alsbald darauf angelegt, ihre Gegner systematisch zu beseitigen, wenngleich dies in Italien wegen der unterschiedlichen Natur des vorhergegangenen Systems mit milderen Mitteln möglich gewesen sei als in Russland. Doch: „Das Wichtigste war, den Gegnern jedes Recht und jede Macht oder Fähigkeit der Teilnahme am öffentlichen Leben zu verwehren. In diesem Bereich hat der Faschismus viel vom Bolschewismus gelernt.“95 Auch im Bereich der Herrschaftslegitimation erkannte Sturzo fundamentale Gemeinsamkeiten: Die „äußerst einseitige und ‚totalitäre‘ Auffassung“ (englische Ausgabe: „Here is a unilateral and ‚totalitarian‘ conception of the highest order.“96) des Bolschewismus komme in der Sowjetverfassung klar zum Ausdruck, wenn etwa Artikel 3 „den arbeitenden Massen die ganze Macht“97 garantiere. Dem entsprächen die faschistischen Schlagworte „Alle Macht dem gesamten Faschismus“ und „Wer die Miliz anrührt, bekommt Blei“.98 Mussolini habe von den Bolschewiki gelernt, wie sich Wahlgesetze so einrichten ließen, dass die absolute Herrschaft der Partei nicht in Gefahr geraten könne. Und der Unterordnung der Gewerkschaften im bolschewistischen Russland entspreche in Italien die Unterstellung der faschistischen Korporationen. Wenn in Russland faktisch ein eigener Typ des „Parteistaates“ entstanden sei, so könne für Italien von einer „Parteiregierung“ gesprochen werden: die „Organe sind nur scheinbar und nicht alle getrennt, denn der Parteichef und der Chef der Regierung (nicht des Staates) ist ein und dieselbe Person“.99 Sturzos Strukturvergleich mündete in die zuspitzende Feststellung, man könne „zwischen Russland und Italien nur einen wesentlichen Unterschied“ erkennen: „Der Bolschewismus ist eine kommunistische Diktatur oder ein linker Faschismus; der Faschismus ist eine konservative Diktatur oder ein rechter Bolschewismus.“100     93 S. 250 in diesem Band.     94 S. 250 f. in diesem Band.     95 S. 251 in diesem Band.     96 Sturzo, Italy and Fascismo, S. 224.     97 S. 251 in diesem Band.     98 Ebd.     99 S. 253 in diesem Band. 100 Ebd.

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Die weitgehende Gleichsetzung wurde indes schon im folgenden Absatz erheblich relativiert. Der Faschismus sei auf seinem Weg „zum Totalitarismus und zum Absolutismus“101 (englische Ausgabe: „on its way towards ‚totalitarianism‘ and despotism“102) durch ein spannungsreiches Nebeneinander auf verschiedenen Ebenen gekennzeichnet: „das Gesetz, das von der Regierung vertreten wird, und die Gewalt, die von der Partei vertreten wird; die Verfassung, die von der konstitutionellen Monarchie vertreten wird, und die Diktatur, die vom ‚Duce‘ vertreten wird; die Armee als Ausdruck der Macht einer Partei, das Parlament als Organ der freien Meinungsäußerung des Volkes, die Abschaffung der Pressefreiheit sowie der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, Mittel zur Kontrolle über das Parlament und über die Regierung.“103 Hingegen habe Russland den „Dualismus zwischen dem Alten und dem Neuen überwunden“, indem „das gesamte alte Gerüst gestürzt und ein anderes geschaffen wurde“.104 Beide Regime könnten sich allerdings weiter annähern, da man in Italien die Absicht bekunde, noch einen Schritt voranzugehen. In den faschistischen Zeitungen sei zu lesen: „Wie alle Italiener Katholiken sind, müssen sie alle Faschisten sein“ oder „Wer kein Faschist ist, ist kein guter Italiener“.105 Jedoch werde nicht deutlich, wie diese „Umwandlung des Geistes und der Seele eines ganzen Volkes möglich sein soll“. Zudem müsse man dann im Bereich der Wirtschaft die Gegner in einer Weise beseitigen, wie dies in Russland „mittels des Kommunismus geschehen“ sei. Da der Faschismus jedoch in erheblichem Maße konservativ-bürgerlichen Besitzinteressen entspreche, würde dies zu erheblichen Problemen führen – ähnlich wie der neue wirtschaftspolitische Kurs Russlands (die „Neue ökonomische Politik“) einen Dualismus hervorbringe, der sich zu einem zersetzenden Element106 auswachsen könne. Aus diesen und anderen Gründen sagte Sturzo beiden „Ausnahmeerscheinungen“107 keine große Zukunft voraus. Ein knappes Jahrzehnt später hatten sich die „Ausnahmeerscheinungen“ allerdings behauptet und auf andere Länder, vor allem Deutschland, übergegriffen. Zudem ließen sich nun die Methoden genauer beschreiben, mit denen die faschistische Bewegung Italiens und andere Regime mit „totalitärer Ten101 S. 254 in diesem Band. 102 Sturzo, Italy and Fascismo, S. 228. 103 S. 255 in diesem Band. In der italienischen Version lautet die Passage: „Il fascismo italiano, percorrendo la via verso il ‚totalitarismo e l’assolutismo‘, affronta un problema.“ Luigi Sturzo, Italia e il fascismo. In: ders., Opera Omnia, prima serie, volume I, Rom 2001, S. 205. 104 S. 255 in diesem Band. 105 S. 256 in diesem Band. 106 Vgl. ebd. 107 S. 259 in diesem Band.

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denz“ die „Umbildung des Geistes und der Seele“ des Volkes betrieben. 1935 erschien in der linkskatholischen Madrider Monatsschrift „Cruz y Raya“108 eine erste systematische Abhandlung über den „totalitären Staat“ („El Estado totalitario“), die Sturzos Freund Alfredo Mendizábal, bis zu seiner Exilierung Rechtswissenschaftler an der Universität Oviedo, ins Spanische übertragen hatte.109 Als Regime mit totalitärer Tendenz galten nun neben dem bolschewistischen Russland und dem faschistischen Italien das nationalsozialistische Deutschland, die kemalistische Türkei und das „halb sozialistische und halb ganovenhafte Mexiko“. Zudem gebe es Nachahmerstaaten: „das Österreich von gestern, Portugal und Polen.“ Um die gemeinsamen Merkmale zu betonen, aber auch nur der Einfachheit des sprachlichen Ausdrucks wegen könne vom „bolschewistischen, faschistischen oder nationalsozialistischen Totalitarismus“110 gesprochen werden. Ließ die Ausdehnung der Beispielfälle die Gefahr einer Überdehnung des Konzepts erkennen, standen bei den vergleichenden Betrachtungen die drei Regime in Russland, Italien und Deutschland im Zentrum. Strukturelle Gemeinsamkeiten (neben signifikanten Unterschieden) machte Sturzo auf vier Ebenen aus. Erstens: Die totalitären Staaten trieben die administrative Zentralisation („centralización administrativa“111) auf die Spitze. Die Autonomie der Gemeinden und Provinzen werde ebenso unterdrückt wie die aller anderen öffentlichen und halböffentlichen Gebilde, religiösen und kulturellen Vereinigungen und Universitäten. Die Zentralisation erfasse die politischen Prozesse, zerstöre die Unabhängigkeit der legislativen und judikativen Organe und degradiere sie zu Einheiten, die dem „Duce, Marschall oder Führer“ untergeordnet würden. Dieser bediene sich zur Durchsetzung seiner unbeschränkten Macht einer „politischen Polizei“112 (erwähnt werden die russische GPU und die italienische OVRA), die bei ihrer Überwachungs- und Repressionstätigkeit die historischen Vorläufer etwa Napoleons in den Schatten stelle. Eine Einheitspartei („partido único“113) mit einem bewaffneten Arm unterdrücke jegliche politische, zivile, individuelle und kollektive Freiheit, seien es Vereinigungen, seien es Parteien. Jede unabhängige Regung, jede Art von

108 Vgl. Renate Dürr, „Cruz y Raya“. Geschichte und Wirkung einer literarischen Zeitschrift (Madrid 1933–1936), Diss. phil., Universität Köln, Köln 1979. 109 Vgl. Alfonso Botti (Hg.), Luigi Sturzo e gli amici spagnoli, Opera Omina di Luigi Sturzo, terza serie, volume IV/12, Soveria Mannelli 2012, S. 177–206. 110 S. 263 in diesem Band. Spanisches Original: Luigi Sturzo, El Estado totalitario, Cruz y Raya, Madrid 1935, S. 10. 111 Sturzo, El Estado totalitario, S. 28; S. 274 in diesem Band. 112 Ebd. 113 Ebd., S. 29; S. 274 in diesem Band.

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Gegnerschaft werde ausgeschaltet: in Russland die „aristokratischen und bürgerlichen Klassen“, in Italien die Oppositionsparteien, in Deutschland alle abweichenden „Rassen“.114 So entstehe in den totalitären Staaten eine Gruppe rechtloser Einwohner, eine Art Heloten. Im Kampfgetümmel würden Sondertribunale, Konzentrationslager und Internierungsorte eingerichtet. Die administrative und politische Zentralisation münde in ein umfassendes Bespitzelungs- und Unterdrückungssystem, das politischen Konformismus nach innen und außen erzwinge. Zweitens: Die totalitären Staaten seien zu alledem nur fähig, weil sie eine Militarisierung des Landes („militarizar al país“115) betrieben. Die Staatspartei militarisiert sich, indem sie sich über Heer und Marine stellt oder mit ihnen fusioniert. Die Jugend wird militarisiert, indem sie ihr kollektives Leben nach militärischen Prinzipien organisiert. Militärparaden und Geländeübungen beanspruchen einen erheblichen Teil der Aktivitäten von Jugendlichen und Erwachsenen. Drittens: Die totalitären Staaten stellen das Erziehungswesen in den Dienst ihrer Staatsideologie. Von den Grundschulen bis zu den Universitäten wird moralische und intellektuelle Hingabe verlangt. Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus haben die Tendenz, sich in Religionen zu verwandeln. („Por ello el comunismo, el fascismo, el nacionalsocialismo tienden a convertirse en religiones.“116) Bücher, Zeitungen, Kino, Radio, Sport, Schulvereine und Preisverleihungen dienen nur einem Ziel: dem Kult des totalitären Staates („culto del Estado totalitario“117) unter dem Zeichen der Nation, der Rasse oder der Klasse. Um öffentlichen Konsens zu erzielen und Begeisterung zu erwecken, wird das soziale Leben einer permanenten Mobilisation durch Paraden, Feste, Aufzüge, Plebiszite und Sportübungen unterworfen. Der Staatskult kommt unter anderem in der glühenden Verehrung von Helden und Halbgöttern zum Ausdruck – wie dies etwa das Lenin-Mausoleum oder die Führergläubigkeit in Deutschland und Italien mit ihren absonderlichen Blüten veranschaulichten. Viertens: Der totalitäre Staat greife tief in das Wirtschaftsleben ein, auch wenn Russland, Italien und Deutschland in dieser Hinsicht große Unterschiede aufwiesen. Doch bleibe die Freiheit der Kapitalisten und Arbeiter in keinem totalitären System unangetastet. An die Stelle unabhängiger Gewerkschaften und Unternehmervereinigungen träten Staatskorporationen. Die ge-

114 Ebd.; S. 274 f. in diesem Band. 115 Sturzo, El Estado totalitario, S. 30; S. 275 in diesem Band. 116 Ebd., S. 33; S. 277 in diesem Band. 117 Ebd.

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lenkte Wirtschaft stelle das erste Stadium einer radikalen Transformation des Wirtschaftssystems dar („el primer estadio de una transformación radical del sistema económico“118). Die totalitäre Transformation mit ihren vier Hauptelementen: extreme Zentralisierung des Staates, Militarisierung und Mobilisierung der Gesellschaft zwecks kultureller Uniformierung, Lenkung der Wirtschaft, war nach Sturzos Überzeugung die Folge geistesgeschichtlicher Entwicklungen, die im totalitären Staat ihren Gipfel erreichten. Mit Bedacht stellte er folgenden Satz an den Schluss seiner Abhandlung: „Heute ist der totalitäre Staat die klarste und deutlichste Form des pantheistischen Staates.“119 Er treibe Tendenzen zum Äußersten, vor deren Gefahren er bereits in der Einleitung „Staatsreform und politische Richtungen“ gewarnt hatte.120 Ihren Ursprung sah er an der Wiege der Neuzeit, als sich das moderne Staatsverständnis herauszubilden begann. Sowohl Niccolò Machiavellis „Staatsräson“ als auch Martin Luthers Vertrauen auf die religionspolitische Verantwortlichkeit des Landesfürstentums trugen zur Hypostasierung des Staates bei. Eine theoretische Grundlegung erfuhr die Tendenz zur Vergöttlichung des Staates mit der Souveränitätslehre Jean Bodins, die den Gesetzen des Staates absolute Geltung zuwies. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war sie allgemein akzeptiert. In der absolutistischen Theorie des Hofpredigers Ludwigs XIV., J­ acques ­Bossuet, verwandelte sie sich in das göttliche Recht der Könige. Schon zuvor hatte Thomas Hobbes die Allgewalt des Fürsten aus einem Staatsvertrag hervorgehen lassen, die absolute Fürstengewalt aus der absoluten Volksgewalt hergeleitet. Bei Jean-Jacques Rousseau schließlich führte die Vertragstheorie zum Konzept der Volkssouveränität, die keine Grenzen außerhalb des Kollektivwillens kannte. So unterschiedlich die Souveränitätslehren in ihrer Grundlegung auch waren, so ähnlich wirkten sie sich nach Sturzo aus: Der Staat wurde als eine unpersönliche objektive Einheit über dem Menschen konzipiert, statt ihn in dessen Dienst zu stellen. Ähnliche Effekte gingen von der Staatslehre des deutschen Idealismus aus: Im Hegel’schen Staatsbegriff wurden Ethik, Recht und Macht zu einer monolithischen Einheit verbunden. Bei Johann Gottlieb Fichte trat die Nation an die Stelle des Hegel’schen Staates. Und bei Karl Marx schließlich erfuhr der Staatsabsolutismus eine materialistische Wende – um in eine absolute Klassenherrschaft zu münden. Hegel, Fichte und Marx verliehen jeder auf seine Weise Staat, Nation oder Klasse uneingeschränkte Geltung.

118 Ebd., S. 35; S. 278 in diesem Band. 119 S. 279 in diesem Band; Sturzo, El Estado totalitario, S. 39 („El Estado totalitario es la forma presente más clara y explícita del Estado panteísta.“). 120 S. 49–79 in diesem Band.

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Sturzos Abhandlung über den totalitären Staat erschien bald nach der spanischen Erstveröffentlichung unverändert in der 1933 an der New Yorker New School neu gegründeten Zeitschrift „Social Research“121 und wurde auf diese Weise einem internationalen Publikum bekannt. Eine aktualisierte Version fand Eingang in den Band „Politik und Moral“, der 1938 in einer französischen und englischen Fassung veröffentlicht wurde. Die Abweichungen gegenüber der Erstveröffentlichung sind geringfügig. So wird neben den Sicherheitsdiensten des faschistischen Italien und der bolschewistischen Sowjetunion nun auch die deutsche Gestapo erwähnt.122 Im Blick auf das Verhältnis von Spiritualia und Temporalia im totalitären Staat ergänzt Sturzo die päpstliche Enzyklika „Mit brennender Sorge“ vom März 1937.123 Das italienische Original­manuskript kam kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Italien heraus. Eine wissenschaftliche Edition auf der Grundlage der noch erhaltenen Original­manuskripte und der französischen und englischen Ausgaben aus dem Jahr 1938 enthalten die vom Istituto Luigi Sturzo in Rom aufwendig edierten „Opera Omnia“.124

III. Rezeption Dem christdemokratischen Antifaschisten und Verteidiger der liberalen Demokratie Italiens wird bis heute vor allem in seinem Heimatland hohe Wertschätzung entgegengebracht.125 Dagegen hat man dem von der katholischen Soziallehre inspirierten Personalisten „ungerechterweise“126 weit weniger Beachtung geschenkt. Auch der Soziologe127 Sturzo ist heute nur wenigen bekannt. Viel zu geringe Aufmerksamkeit haben nach 1945 lange Zeit seine Beiträge zur Entwicklung des Totalitarismuskonzepts gefunden. Die Verbindung von Antifaschismus und Antikommunismus war in weiten Teilen der Linken verpönt. Mussolinis politischer Häftling Antonio Gramsci hatte in seinen „Kerkerheften“ sogar den Begriff eines „progressiven Totalitarismus“ einge-

121 Vgl. Luigi Sturzo, The Totalitarian State. In: Social Research, 34 (1936) 2, S. 222–235. 122 In diesem Band S. 274. 123 In diesem Band S. 278 f. 124 Sturzo 1972 mit dem Kapitel „Lo Stato totalitario“, S. 19–36. 125 Siehe nur die frühen Würdigungen von: Caponigri, Don Luigi Sturzo; Moos, Don Luigi Sturzo. Siehe auch bereits: Molony, The Emergence. 126 So Belardinelli, Die politische Philosophie des christlichen Personalismus, S. 259. 127 Siehe aber Nicholas S. Timasheff, The Sociology of Luigi Sturzo, Baltimore 1962. Zur generellen Bedeutung der Werke Sturzos für die Sozialwissenschaften siehe: Flavio Felice (Hg.), L’opera di Luigi Sturzo nelle scienze sociali, Cantalupa 2006.

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führt, der sich vom „regressiven“ durch die Vertretung der Interessen der unterdrückten sozialen Gruppen unterscheide. Dabei ließ er immerhin Distanz zum Polizeistaat faschistischer wie stalinistischer Prägung erkennen.128 Autoren, die Gramscis politische Vision nicht teilten, übersahen Sturzos Arbeit im Exil129 oder übernahmen bereitwillig Hannah Arendts Deutungsangebot, die – Sturzo ignorierend – den italienischen Faschismus kategorial vom deutschen Nationalsozialismus unterschied und ihn sogar von „totalitäre[n] Tendenzen“130 freisprach. Im Gegensatz zu Deutschland sei die Bewegung unter Mussolini mit dem Staat verschmolzen, die Repression auf ein auch in vielen anderen Autokratien praktiziertes Maß beschränkt geblieben, ein modus vivendi mit der Katholischen Kirche gefunden und die Armee als eigenständige Institution erhalten worden.131 Dieser (für die späten 1920er-Jahre höhere Plausibilität als für die späten 1930er-Jahre besitzenden) Interpretation sind nicht wenige italienische Historiker und Politikwissenschaftler gefolgt, wie Meir Michaelis anhand einschlägiger Veröffentlichungen von Augusto del Noce, Domenico Fisichella, Alberto Aquarone und Renzo De Felice aufzeigen konnte. Den größten Einfluss übten die quellengesättigten Studien des Faschismusforschers und Mussolini-Biografen De Felice aus, dessen umfangreiches Werk allerdings weit mehr durch idiografische Tiefenschärfe und Detailfülle als durch nomothetische Systematisierung beeindruckt: „In seiner Mussolini-Biografie, die auf einer zwanzigjährigen Forschungsarbeit beruht, nennt De Felice das faschistische Regime wiederholt ein ‚autoritäres Massenregime‘. In dem 1975 erschienenen ‚Interview über den Faschismus‘ dagegen unterscheidet er scharf zwischen autoritären und faschistischen Systemen; in dem gleichen Interview bezeichnet er die faschistische Bewegung erst als ‚linkstotalitär‘ (im Gegensatz zur ‚rechtstotalitären‘ Bewegung Hitlers) und dann als ‚nichttotalitär‘. Die kommunistische These, nach der

128 Vgl. Dante Germino, Antonio Gramsci. Architect of a New Politics, Baton Rouge 1990, S. 258–260. 129 Wie der liberale Jurist und Politikwissenschaftler Vittorio Zincone, Lo stato totalitario, Rom 1947. 130 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 10. Auflage München 2005, S. 544. 131 Vgl. ebd., S. 544 f., 664 f. Siehe zur Kritik: Meir Michaelis, Anmerkungen zum italienischen Totalitarismusbegriff. Zur Kritik der Thesen Hannah Arendts und Renzo De Felices. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Bibliotheken und Archiven, 62 (1982), S. 270–302; Emilio Gentile, Le silence de Hannah Arendt. L’interprétation du fascisme dans „Les origines du totalitarisme“. In: Revue d’Histoire Moderne et Contemporaine, 55 (2008) 3, S. 11–34. Siehe auch bereits ders., Fascismo. Storia e interpretazione, Rom 2002, S. 64 f.

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die ­Totalitarismustheorie nichts weiter sei als eine ‚Waffe des Kalten Krieges und des Antikommunismus‘, lehnt er ab; gleichzeitig aber verwirft er die Versuche westlicher Totalitarismusforscher, den Faschismus, den Hitlerismus und den Kommunismus (oder, je nach Autor, den Stalinismus) auf einen gemeinsamen Nenner zurückzuführen.“132 De Felice habe zwar eine in den 1930er-Jahren unter dem Einfluss Hitlerdeutschlands einsetzende Totalitarisierung des faschistischen Regimes erkannt und kenntnisreich beschrieben, deren Elemente aber nur unzureichend systematisiert. Dabei hätte ihm die Beschäftigung mit dem „originären italienischen“133 Totalitarismusbegriff der ersten Hälfte der 1920er-Jahre hilfreich sein können, doch habe er diesen – wie Hannah Arendt, Augusto del Noce und Alberto Aquarella – nicht gekannt. Vor allem die gründlichen begriffsgeschichtlichen Forschungen Jens Petersens erschlossen die Befunde der frühen italienischen Totalitarismusdiskussion und riefen die Beiträge in Erinnerung, die Luigi Sturzo dazu geleistet hatte.134 Während jedoch Petersen die früheste Verwendung des Adjektivs „totalitario“ in dem bekannten „Il Mondo“-Beitrag Giovanni Amendolas vom 12. Mai 1923 fand, hat Mario D’Addio gezeigt, dass Sturzo ihn bereits einige Monate zuvor – in einem Beitrag vom Dezember 1922 – eingeführt hatte.135 In der neueren italienischen Faschismusforschung war es vor allem Emilio Gentile, Schüler Renzo De Felices, der an ältere Arbeiten George L.  Mosses und Dante L. Germinos anknüpfte136 und die frühen Ansätze ­Sturzos für die Analyse der totalitären Potenziale der faschistischen Bewe-

132 Michaelis, Anmerkungen, S. 283. 133 Ebd., S. 286. 134 Petersen, La nascita del concetto di „Stato totalitario“ in Italia; ders., Die Entstehung des Totalitarismusbegriffs in Italien. In: Manfred Funke (Hg.), Totalitarismus. Ein Studienreader zur Herrschaftsanalyse moderner Diktaturen, Düsseldorf 1978, S. 105– 128; Nachdruck bei: Eckhard Jesse (Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Baden-Baden 1996, S. 95–117. Mit neuen Befunden: Jens Petersen, Die Geschichte des Totalitarismusbegriffs in Italien. In: Hans Maier (Hg.), „Totalitarismus“ und „politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn 1996, S. 15–35. 135 D’Addio, Problemi sociologici, politici e istituzionali, S. 67–102. Siehe auch die Hinweise bei: Pouthier, Luigi Sturzo, S. 85; Scichilone, Totalitarismo. In: Parisi/Cappellano (Hg.), Lessico sturziano, S. 1022. 136 Vgl. dazu und zur Bedeutung des Totalitarismusansatzes bei der Erforschung des italienischen Faschismus: Marie-Anne Matard-Bonucci, À propos d’un retour: le concept de totalitarisme dans l’historiographie du fascisme italien. In: Jean Baudouin/ Bernard Bruneteau (Hg.), Le Totalitarisme. Un concept et ses usages, Rennes 2014, S. 117–140.

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gung, ihrer Dogmen, Wahrnehmungsmuster, Symbolik und Liturgie nutzte. Seine Arbeiten zur „politischen Religion“ des Faschismus und ihrer Entfaltung in Politik, Gesellschaft und Kultur Italiens der Jahre 1923 bis 1943 haben international große Beachtung gefunden.137 Im Unterschied zu vielen anderen Autoren hat er nicht nur Sturzos Faschismusbuch aus dem Jahr 1926, sondern auch die späteren systematischen Betrachtungen zum „totalitären Staat“ eingehend gewürdigt.138 Dennoch konnte Sturzo bis heute in der international vergleichenden Forschung zum Totalitarismus nicht die kanonische Geltung erlangen, die anderen „Klassikern“ zugesprochen wird. Die zur Diskreditierung des Totalitarismusansatzes wie geschaffene und von ihm selbst mitgenährte Legende, die Faschisten seien seine Urheber, hat sich hartnäckig behauptet.139 Wie wenig Sturzo in den internationalen Totalitarismusdebatten der 1930er- bis 1960er-Jahre rezipiert wurde, zeigt etwa der Umstand, dass sein Name in der viel gelesenen Totalitarismus-Anthologie Bruno Seidels und Siegfried Jenkners, in der viele der frühen Beiträge zur Totalitarismusdiskussion von Autoren wie Max Lerner, Hans Kohn, Bernard Lavergne, Carlton J. H. Hayes, Thomas Woody, Gerhard Leibholz, Hannah Arendt, Nicholas S. Timasheff und Carl J. Friedrich (in der Reihenfolge des Erscheinens ihrer Beiträge) versammelt sind, kein einziges Mal fällt, nicht einmal in den Fußnoten. In den frühen geschichts-, sozial- und politikwissenschaftlichen Debatten spielten Sturzos elementare Systematisierungen offenbar nur eine marginale Rolle. Das einsichtsvolle Buch des christdemokratischen Sturzo-Übersetzers

137 Weit mehr als in Deutschland sind Gentiles Werke vor allem durch die Vermittlung des Pariser Historikers und Politkwissenschaftlers Pierre Milza (siehe nur: ders., Les Fascismes, Paris 1985) und seiner Schüler in Frankreich intensiv rezipiert und mit viel Zustimmung aufgenommen worden. Vgl. Marc Lazar, Les Historiens français face au concept de totalitarisme. Les exemples du fascisme italien et du communisme. In: Baudouin/Bruneteau (Hg.), Le Totalitarisme, S. 33–53, hier 41. Zur Verbreitung in den angelsächsischen Ländern trugen Gentiles Beteiligung an der Gründung der Zeitschrift „Totalitarian Movements and Political Religions“ und einer gleichnamigen Buchreihe wesentlich bei. 138 Zuletzt: Emilio Gentile, Politics as Religion, Princeton 2006, S. 98–104; Gentile, Contro Cesare, insbes. S. 413 f. 139 So noch Ernst Nolte, Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert. Von Max Weber bis Hans Jonas, Berlin 1991, S. 212. Ähnlich: Peter Lassman, Responses to Fascism in Britain, 1930–1945. The Emergence of the Concept of Totalitarianism. In: Stephen P. Turner/ Dirk Käsler, Sociology Responds to Fascism, London 1992, S. 214–240, hier 216. In Italien etwa noch: Mario Stoppino, Totalitarismo. In: Norberto Bobbio/Nicola Matteucci/Gianfranco Pasquino (Hg.), Dizionario di Politica, Turin 1976, S. 1040–1051, hier 1040.

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und Verfassungsjuristen Marcel Prélot über den italienischen Faschismus aus dem Jahr 1936, das die „totalitäre Logik“ von Partei und Staat betonte,140 stützte sich nur in der Darstellung der Faschismus-Genealogie auf Sturzo. Bedeutender dürfte die Wirkung eines Exilanten, Waldemar Gurians, gewesen sein, der als katholischer Publizist in Deutschland Bolschewismus und Faschismus verglichen und dabei auch auf Sturzos Buch „Italien und der Faschismus“ zurückgegriffen hatte.141 Allerdings scheint Gurian die späteren Schriften Sturzos, insbesondere seine Abhandlung über den „totalitären Staat“, nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Die englische Version (nach der spanischen Erstveröffentlichung 1935) erschien 1936 in der New Yorker Zeitschrift „Social Research“, ein Jahr bevor Gurian in die USA emigrierte. Zu Sturzo entstand nach der Gründung der „Review of Politics“ 1939, als deren Herausgeber Gurian fungierte, ein lockerer Kontakt,142 der aber allem Anschein nach keinen Niederschlag in Gurians Studien zu den „Totalitarian Religions“ fand, obwohl er mit Sturzo den „politisch-religiösen“ Ansatz der Totalitarismusinterpretation teilte.143 James Chappel hat im Blick auf Waldemar Gurian und andere frühe Beiträge katholischer Autoren (wie Dietrich von Hildebrand und Jacques Maritain) die zuspitzende These vertreten, der Totalitarismusansatz sei das

140 Vgl. Marcel Prélot, L’Empire fasciste. Les origines, les tendances et les institutions de la dictature et du corporatisme italiens, Paris 1936, S. 11. Prélot galt Mussolini als Erfinder eines Totalitarismusbegriffs, der mit einer gleichsam pantheistischen Staatsvorstellung („interprétation quasi panthéiste“, S. 112) einhergehe. Siehe zu dieser Schrift und ihrer Wirkung auch: Emilio Gentile, La Via italiana al totalitarismo. Il partito e lo Stato nel regime fascista, Rom 1995, S. 45–47. 141 Vgl. Waldemar Gurian, Fascismus und Bolschewismus. In: Das Heilige Feuer, 15 (1928) 5, S. 197–208, hier 198, 201. Gleiches gilt für den später erschienenen Beitrag: ders., Faschismus. In: Das Heilige Feuer, 16 (1928/29), S. 507–518, hier 509. Siehe dazu auch Ellen Thümmler, Katholischer Publizist und amerikanischer Politikwissenschaftler. Eine intellektuelle Biografie Waldemar Gurians, Baden-Baden 2011, S. 77. 142 Sturzo veröffentlichte ab 1941 mehrere Abhandlungen in der Zeitschrift: ders., Modern Wars and Catholic Thought. In: The Review of Politics, 3 (1941) 2, S. 155–187; ders., Italian Problems in War and Peace. In: The Review of Politics, 4 (1942) 1, S. 55– 81; ders., The Roman Question before and after Fascism. In: The Review of Politics, 5 (1943) 4, S. 488–508; ders., Has Fascism Ended with Mussolini? In: The Review of Politics, 7 (1945) 3, S. 306–315. 143 Gurians Publizistik ist ohnehin durch äußerst sparsame Verwendung von Literaturund Quellenbelegen gekennzeichnet. Siehe für die Zeit in den USA vor allem ders., The Totalitarian State. In: Proceedings of the Fifteenth Annual Meeting of the American Catholic Philosophical Association, 15 (1939), S. 50–66; ders., The Totalitarian State. In: The Review of Politics, 40 (1939), S. 514–527; ders., Totalitarian Religions. In: The Review of Politics, 53 (1952), S. 3–14.

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Produkt eines autoritären Katholizismus und ursprünglich keineswegs ein Konzept zur Verteidigung der „liberalen Demokratie“144 gewesen. Diese Feststellung trifft auf den frühen Gurian wohl zu,145 basiert aber auf einer starken Verengung des relevanten Autorenspektrums (unter Ausschluss von Totalitarismusinterpretationen linker Autoren, die ebenfalls nicht immer auf liberal-demokratischer Grundlage argumentierten146) und unterschätzt stark die Rolle Sturzos als eines frühen und entschiedenen Verfechters liberal-demokratischer Prinzipien. Dessen Schrift „Italien und der Faschismus“ erwähnt Chappel, ohne ihre Bedeutung jedoch angemessen zu würdigen. Die späteren Veröffentlichungen bleiben unberücksichtigt. Zwar haben Martin Jänicke und Walter Schlangen in ihren zu Beginn der 1970er-Jahre erschienenen Analysen zur Entwicklung und Struktur des Totalitarismuskonzepts Sturzos frühen konzeptionellen Beitrag in „Italien und der Faschismus“ gewürdigt. Schlangen hob hervor, Sturzo habe in einer „scharfsinnigen Analyse der Grundstruktur des diktatorischen Systems“ in Russland und Italien „nachdrücklich auf die neue – revolutionär-absolutistische – Qualität ihrer Machtergreifung und Machtausübung gegenüber historischen politischen Umwälzungen“147 hingewiesen. Schlangen übersah jedoch die spätere Systematisierung des Totalitarismuskonzepts wie viele andere Autoren nach ihm. Jänicke erwähnte die englische Version der erstmals 1935 erschienenen Abhandlung über den „totalitären Staat“, ging jedoch nicht näher auf deren Inhalt ein.148 Beide Autoren ordneten Sturzo mit der auch von späteren Autoren immer wieder aufgespießten Aussage zum „Rechtsbolschewismus“ und „Linksfaschismus“ als Vertreter eines undifferenziert „identifizierenden“ Totalitarismusbegriffs ein,149 was der Komplexität der vergleichenden Betrachtungen Sturzos bereits in „Italien und der

144 James Chappel, The Catholic Origins of Totalitarianism Theory in Interwar Europe. In: Modern Intellectual History, 8 (2011), S. 561–590, hier 575. 145 Vgl. nur Heinz Hürten, Waldemar Gurian. Ein Zeuge der Krise unserer Welt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Mainz 1971, S. 19; Thümmler, Katholischer Publizist, S. 80–108. 146 Vgl. mit vielen Beispielen: William David Jones, The Lost Debate. German Socialist Intellectuals and Totalitarianism, Urbana 1999; Schmeitzner (Hg.), Totalitarismuskritik von links; Alfons Söllner/Ralf Walkenhaus/Karin Wieland (Hg.), Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997. 147 Schlangen, Theorie, S. 45. 148 Jänicke, Totalitäre Herrschaft, S. 103. 149 Ebd., S. 72; Schlangen, Theorie, S. 45, 48. Dieser Einordnung schließt sich ohne nähere Prüfung an: Wolfgang Wippermann, Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, Darmstadt 1997, S. 11.

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Faschismus“ keineswegs gerecht wird. Auch die These Ernst Noltes, Sturzo habe Bolschewismus und Faschismus vor allem deshalb verglichen, weil er den antichristlichen Charakter des Faschismus in einer den Vatikan nicht desavouierenden Weise habe aufzeigen wollen, lässt sich angesichts der konsequent antifaschistischen Haltung in den Reden Sturzos der Jahre 1923 bis 1925 und seiner frühen Kritik am „Pantheismus“, wie sie in dieser Edition auszugsweise dokumentiert sind, eindeutig widerlegen.150 Alles in allem muss man Markus Huttner beipflichten, der 1999 feststellte, der „älteren Forschung“ sei die „Bedeutung Sturzos für die Herausbildung einer regimeübergreifenden und zugleich vom Totalitarismusansatz ausgehenden Deutung moderner Despotien“151 größtenteils entgangen. In Italien ebneten Autoren wie Mario D’Addio152 und Emilio Gentile den Weg für eine intensivere Rezeption der Totalitarismusschriften Sturzos. In Frankreich hat insbesondere Jean-Luc Pouthier in mehreren Studien auf die Bedeutung Sturzos hingewiesen.153 Enzo Traverso und Bernard Bruneteau haben Auszüge aus Sturzos Abhandlung über den „totalitären Staat“ in ihre Totalitarismus-Anthologien aufgenommen.154 In Deutschland schufen insbesondere die von dem Münchener Politikwissenschaftler Hans Maier inaugurierten Forschungen über „Totalitarismus und politische Religionen“ (mit einschlägigen Referaten von Jens Petersen und Michael Schäfer auf der Eröffnungskonferenz vom Herbst 1994) die Grundlage für eine intensivere Rezeption der Totalitarismusschriften Sturzos. Der vorliegende Band führt diese Bemühungen fort.

150 So die These von Ernst Nolte, Zeitgenössische Theorien über den Faschismus. In: ders., Marxismus – Faschismus – Kalter Krieg, Stuttgart 1977, S. 125–174, hier 168; ders., Vierzig Jahre Theorien über den Faschismus. In: ders., Theorien über den Faschismus, Königstein/Ts. 1984, S. 15–75, hier 43 f. Zur Kritik auch: Michael Schäfer, Luigi Sturzo als Totalitarismustheoretiker. In: Maier (Hg.), „Totalitarismus“, S. 37–47, hier 40 f. 151 Huttner, Totalitarismus, S. 37. 152 Siehe neben dem bereits erwähnten begriffsgeschichtlichen Beitrag: Mario D’Addio, Democrazia e partiti in Luigi Sturzo, Lungro di Cosenza 2009, S. 197–238 („Libertà e totalitarismo in Sturzo“). 153 Vgl. Pouthier, Luigi Sturzo; ders., Émigrés catholiques et antifascisme. Luigi Sturzo et l’internationale blanche. In: Pierre Milza (Hg.), Les Italiens en France de 1914 à 1940, Paris 1986, S. 481–497. 154 Enzo Traverso (Hg.), Le Totalitarisme. Le XXe siècle en débat, Paris 2001, S. 216–234; Bruneteau (Hg.), Le Totalitarisme, S. 255–263.

Editorische Bemerkungen

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IV. Editorische Bemerkungen Diese Edition macht die verstreuten Schriften Luigi Sturzos zum Totalitarismus in einem Band und in deutscher Sprache zugänglich. Die Grundlage der Übersetzung bilden die vom Istituto Luigi Sturzo (Rom) edierten „Opera Omnia“, die, soweit noch verfügbar, auf den italienischen Originalmanuskripten basieren. Nur einer der Texte lag bereits in deutscher Sprache vor: der Band „Italien und der Faschismus“. Er wird in den für Sturzos Totalitarismuskonzeption maßgeblichen Passagen, also gekürzt, abgedruckt, zudem in einer neuen Übersetzung, die dem heutigen Sprachgebrauch Rechnung trägt. Für den Begriffshistoriker, der an der deutschen Diktion der 1920er-Jahre interessiert ist, bleibt daher die von Alois Dempf vorgenommene Übersetzung aus dem Jahr 1926 eine unverzichtbare Referenz. Überdies sind die hier abgedruckten Passagen insofern nicht mit dem Dempf’schen Text identisch, als sie zwar auf den Originalmanuskripten Sturzos basieren, aber von den Bearbeitern des Istituto Luigi Sturzo um Einschübe und Fußnoten aus den später entstandenen französischen (1927) und spanischen (1930) Versionen ergänzt wurden.155 Es handelt sich also um eine aktualisierte Fassung. In ähnlicher Weise wurde mit der Abhandlung „Der totalitäre Staat“ verfahren. Sie ist vollständig wiedergegeben, aber in einer gegenüber der spanischen (1935) und englischen (1936) Erstveröffentlichung leicht aktualisierten Version. Sie enthält Ergänzungen, die in die zeitgleich auf Französisch und Englisch erschienenen Bände zur „Politik und Moral“ (1938) Eingang fanden, und folgt im Übrigen dem in den „Opera Omnia“ enthaltenen Text, der – anders als die italienische Erstveröffentlichung aus dem Jahr 1946 – nicht durch Rückübersetzungen aus dem Französischen und Englischen, sondern, soweit möglich, auf der Grundlage der Originalmanuskripte erstellt worden ist.156 Bei allen übrigen Texten handelt es sich um Originalbeiträge, die in Sammlungen von Reden und Aufsätzen aus den Jahren 1920 bis 1925 veröffentlicht worden sind – der erste als Einleitung der Sammlung „Staatsreform und politische Richtungen“, der zweite („Unser ,Zentrismus‘“ – „Il nostro ‚centrismo‘“) und dritte („Geist und Wirklichkeit“ – „Spirito e Realtà“) im Band „Popolarismo e Fascismo“. „Pensiero antifascista“ („Antifaschistisches Denken“) ist in seinem ersten Teil (im Jahr 1924 noch vor der Exilierung verfasste Beiträge)

155 Vgl. Avvertenza. In: Luigi Sturzo, Italia e fascismo, Opera Omnia, prima serie, volume primo, Rom 2001, S. VII f. 156 Vgl. Avvertenza. In: Luigi Sturzo, Politica e Morale, Opera omina, prima serie, Bologna 1972, S. XI f. Vorlage der Übersetzung: Luigi Sturzo, Lo stato totalitario. In: ders., Politica e Morale (1938), Coscienza Politica (1953), Opera Omnia, Prima Serie: Opere, volume quarto, Bologna 1972, S. 19–36.

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komplett abgedruckt, da die für das Totalitarismuskonzept relevanten Passagen – anders als im zuvor genannten Band – über die versammelten Artikel und Aufsätze verstreut sind.157 Über die separat ausgewiesenen Fußnoten Sturzos hinaus sind den Texten zahlreiche Anmerkungen (in kleinen Buchstaben) beigegeben, um dem Leser den zeithistorischen Kontext zu erschließen. Sofern nicht anders gekennzeichnet, wurden die biografischen Angaben der Enciclopedia des Istituto Treccani entnommen.158 Die aus „Italien und der Faschismus“ stammenden Kapitel weisen Anmerkungen auf, die der Historiker und Sturzo-Experte Francesco Malgeri für die Edition der „Opera Omnia“ erstellt hat. Der Kursivsatz im Haupttext entspricht dem der Originalvorlagen. In den Fußnoten wurde im Sinne der Reihennormen des Hannah-Arendt-Instituts weitgehend auf Kursivsatz verzichtet. Die Herausgeber danken dem Istituto Luigi Sturzo (Rom) für die Genehmigung zur Übersetzung und Verbreitung der ins Deutsche übertragenen Texte aus den „Opera Omnia“. Besonderer Dank gilt dem deutsch-italienischen Bearbeiterteam mit Giovanni de Ghantuz Cubbe (Rom) und Annett Zingler (Dresden), die den von Johanna von der Vring (Bremen) übersetzten Text anhand der Originale akribisch überprüft, im Interesse einer eng an den Vorlagen orientierten sprachlichen Gestaltung minuziös bearbeitet und den zeithistorischen Kontext erschlossen haben.

Dresden, im Juli 2018

Uwe Backes/Günther Heydemann

157 Luigi Sturzo, Introduzione „Riforma statale e indirizzi politici“. In: ders., Il Partito Popolare Italiano, Opera Omnia, seconda serie: saggi – discorsi – articoli, volume III, Rom 2003, S. 101–131; ders., Il nostro „centrismo“. In: ders., Il Partito Polare Italiano, volume secondo: Popolarismo e Fascismo, Opera Omnia, volume quarto, Bologna 1956, S. 165–170; ders., Spirito e Realtà. In: ders., Il Partito Popolare Italiano, volume secondo: Popolarismo e Fascismo, Opera Omnia, volume quarto, Bologna 1956, S. 234–241; ders., Pensiero antifascista (1924–1925) – Parte I. In: ders., Il Partito Popolare Italiano, Opera Omnia, seconda serie, volume quinto, Rom 2003, S. 9–114. 158 Unter: http://www.treccani.it/enciclopedia/; 12.8.2018.

Stammesegoismus versus Menschlichkeit

Einleitung „Staatsreform und politische Richtungen“ I. 1. Ich habe diese Sammlung von Reden, die ich zwischen dem 1. Oktober 1920 und dem 18. Januar 1923 gehalten habe, „Staatsreform und politische Richtungen“ genannt.1 Sie spiegeln den Versuch einer Synthese des politischen Gemütszustandes der damaligen Zeit und des Standpunktes der Partei wider, deren Lehre ich zum Ausdruck gebracht habe. Die Reden haben alle einen einzigen programmatischen Plan, die Staatsreform in ihrem organischen Entwurf und im Dynamismus der Freiheit. Sie lassen eine besondere Entwicklung der politischen Richtungen erkennen, die auf jener demokratischen und spirituellen Form basieren, welche die Daseinsberechtigung des Popolarismus darstellt. Tatsächlich hat der Begriff „Popolarismus“ nicht die gleiche Entwicklung genommen wie jener des Sozialismus, des Liberalismus und des Nationalismus, das heißt den eines Systems mit einer theoretisch-praktischen Konzeption, die der Ausgangspunkt für die Entstehung einer Partei ist. Die Popolari erlebten das seltsame Abenteuer, gleichzeitig für klerikal und demagogisch gehalten zu werden – zwei Begriffe, die nicht zusammenpassen –, obwohl sie in Wirklichkeit weder das eine noch das andere waren bzw. sind. Und

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Vorlage der Übersetzung: Luigi Sturzo, Introduzione „Riforma statale e indirizzi politici“. In: ders., Opera Omnia, Seconda serie: Saggi – discorsi – articoli, Volume terzo: Il Partito Italiano (Volume primo: Dall’idea al fatto – Riforma statale e indirizzi politici), Rom 2003, S. 101–131. – Anmerkung des Autors (Luigi Sturzo): Die Einleitung trägt das Datum 1.2.1923, aber sie wurde im Dezember 1922 geschrieben, genauso wie im November und Dezember des gleichen Jahres die Rede verfasst wurde, die am 18.1.1923 gehalten wurde. Diese beiden Studien sowie die Turiner Rede vom 20.12.1922 entstanden unter dem starken Eindruck des aufkommenden Faschismus und der Bildung der ersten Regierung Mussolinis mit Beteiligung der Liberalen, der radikalen Demokraten und der Popolari. Diese hatten sich in ihrem eigenen Namen im Zeichen der „Normalisierung“ beteiligt; meine politische und geistige Ablehnung des neuen Regimes kam zum Ausdruck, indem ich in Bezug auf die politischen Freiheiten und im Zusammenhang mit den dringendsten Staatsreformen die eigene und unabhängige Persönlichkeit der Parteien verteidigte. Die abgemilderten und manchmal kryptischen Formeln, die in diesen drei Schriftstücken verwendet wurden, waren damals für diejenigen verständlich, die verstehen wollten und die meine Absicht kannten, im richtigen Moment eine Schlacht zu liefern. Dieser Zeitpunkt kam mit dem Kongress von Turin. Die Rede, die ich dort gehalten habe, wurde in die Sammlung „Popolarismo e fascismo“ aufgenommen, die zusammen mit „Pensiero antifascista“ diesem Band folgen wird.

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während sie der öffentlichen Meinung ein organisches und vollständiges Programm vorstellen und dieses mit einem klaren und synthetischen Appell veranschaulichen konnten2 – was vor allem dank der langen Erfahrung, die die Katholiken in der Zeit der Stimmenthaltung gemacht hatten, und dank der intellektuellen Ausarbeitung während der Episode der christlichen Demokratie möglich war –, verfügten sie in der politischen Bewertung über keine vollständige programmatische Wertschätzung, keine für sich stehende und unabhängige Physiognomie. 2. Für diese Tatsache gibt es viele Erklärungen: Der Partito Popolare Italia­ no war äußerst nützlich für die Beteiligung der Katholiken am öffentlichen Leben ohne antiunitarische und antinationale Vorbehalte, die den langjährigen religiösen Protest, der sie vom aktiven Leben des liberalen Staates des Risorgimento fernhielt, wirkungslos gemacht hatten. Diese sehr wichtige nationale Angelegenheit wurde von der Presse nicht wie ein Akt der politischen Unabhängigkeit aufgefasst; und viele sahen darin – auch zu polemischen Zwecken – eine Verschleierung des alten Klerikalismus und einen ständigen Einfluss des Vatikans auf die organisierte politische Tätigkeit unseres Landes. Aber da der Partito Popolare Italiano in der angespannten Atmosphäre der Nachkriegszeit starke soziale Positionen vertrat und sich von bloßen theoretischen Behauptungen oder der Durchführung rein wirtschaftlicher Maßnahmen (wie es die christlich-soziale Schule mit Giuseppe Toniolo an der Spitze bis dahin getan hattea) auf die politische und gewerkschaftliche Ebene der Arbeitskämpfe begab, hatten viele den Eindruck, seine Aufgabe habe sich hier, in den Gegensätzen und in den Kontakten zu den Sozialisten, in einem Konkurrenzkampf (wie sie sagten) und in einer parlamentarischen Vorbereitung für eine entschiedenere linke Orientierung, erschöpft. Angesichts des offensichtlichen Gegensatzes zwischen den beiden Positionen, die sich aus konkreten Aspekten und konflikthaften Episoden entwickelt hatten, wurden die theoretische

2 Siehe Dall’idea al fatto, S. 66–69. Anmerkung der Herausgeber: Die früheren Herausgeber beziehen sich hier auf Sturzo, Opera Omnia, Seconda serie, Volume terzo, S. 66–69 („Dall’idea al fatto“ aus „La costituzione del partito: 1. Appello al paese“). a Der renommierte Sozialkatholik Giuseppe Toniolo (1845–1918) war ab 1883 Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Pisa, wo er aus christlicher Sicht Kritik an der traditionellen utilitaristischen und individualistischen Deutung der Ökonomie übte. Nach Toniolos Auffassung ist die christliche Demokratie ein System, in dem die soziale und die ökonomische Stärke im Namen des Allgemeinwohls kooperieren, vorwiegend zugunsten der nicht vermögenden sozialen Klassen. Toniolo wurde von Papst Leo XIII. sehr geschätzt. Er übte wesentlichen Einfluss auf die Sozialenzyklika „Rerum novarum“ (1891) aus. Siehe dazu: Romano Molesti (Hg.), Giuseppe Toniolo. Il pensiero e l’opera, Mailand 2005; Paolo Pecorari (Hg.), Giuseppe Toniolo tra economia e società, Udine 1990.

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Gärung und die programmatische Tätigkeit nicht bemerkt, die sich im politischen Körper des Landes einnisteten. Daher wurde oft angenommen (auch ohne polemische Absichten), der Partito Popolare Italiano – der zahlreiche Katholiken aus ganz Italien in der harten Nachkriegszeit in einem nationalen und sozialen Projekt vereint hatte – habe seine momentane Funktion verloren und die beiden ursprünglichen Tendenzen, die gegensätzliche Ideologien und Interessen vertraten, müssten sich wie in Frankreich in Richtung realistischerer Formen entwickeln, die einen – zusammen mit den konservativen und nationalen Bewegungen – nach rechts, die anderen – gemeinsam mit den demokratischen, radikalen und sozialistischen Bewegungen – nach links. 3. Die ausgeprägte Divergenz zwischen den Popolari in Bezug auf die unnachgiebige Taktik, die bei den Kommunalwahlen im Herbst 1920 vorherrschte und 1922 eine merkliche Abschwächung erfuhr; die unzureichende Übereinstimmung einiger Mitglieder der parlamentarischen Fraktion im Blick auf verschiedene, vor allem soziale Kämpfe wie die für das kommunale Verhältniswahlrecht (1920), für die Landwirtschaftsverträge (1921) oder für den Großgrundbesitz (1922); die Schwankungen im Parlament von der Nitti-Krise (Mai 1920) bis zur Lösung zuerst mit Nitti und dann mit Giolitti (Mai bis Juni 1920), vom Veto gegen Giolitti (Februar 1922) bis zu den Facta-Krisen (Juli bis Oktober 1922) und vom Streit mit den Sozialisten (Januar bis Februar 1920) bis zu den Versuchen einer Zusammenarbeit (Mai bis Juli 1922)b offenbaren die Qualen eines politischen Possibilismus, welcher der generellen Situation des Landes entsprach, sowie die Verschiedenheit partikularer und kontingenter Beurteilungen. Aber die Presse, Quelle der einfachen Strömungen der öffentlichen Meinung, hatte die Gelegenheit, immer wieder auf das sogenannte äußerliche und vorwiegend parlamentarische Phänomen des ­Partito Popolare zurückzukommen, bei dem folglich das politische Leben (wie b

Hier versucht Sturzo, die Vielfältigkeit der Ansätze und Positionen des PPI in verschiedenen Situationen durch Beispiele zu erläutern, um die Kritik der politischen Gegner an der Uneinigkeit und Unfähigkeit zu politischer Synthese zu entkräften. Der PPI war in den ersten Nachkriegsjahren zu schwach, um eine eigene Regierung zu bilden, aber auch zu stark, um in der Opposition zu bleiben. Deshalb beteiligte sich die Partei an den liberalen Regierungen, teils programmatisch unnachgiebig, teils kompromissbereit. Vielfalt und Wandel der Positionen innerhalb des PPI werden in der Gegenüberstellung mit dem Liberalismus Giolittis einerseits, dem Sozialismus andererseits, aber auch mit dem frühen Faschismus, deutlich. Vgl. Nicola Tranfaglia, La prima guerra mondiale e il fascismo, Turin 1996, S. 200–218; Francesco Malgeri, Partito Popolare Italiano. In: Enciclopedia Treccani online, Cristiani d’Italia, 2011 (insbesondere 5. „Il PPI nella crisi politica del primo dopoguerra“). Zum Partito Popolare Italiano als Zünglein an der Waage der Regierungsformationen der Nachkriegszeit siehe Simona Colarizi, Storia del novecento italiano. Cent’anni di entusiasmo, di paure, di speranza, Mailand 2000, S. 101–107.

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sie sagte) zu einer inneren Zerrüttung der Kräfte führte, die sich gerade erst aufgrund von nicht politischen Gründen zusammengeschlossen hatten und mehr schlecht als recht in einer erzwungenen Synthese vereint waren, wobei angesehene Männer und nationale Kongresse sich vergeblich bemühten, diese mit besonnener disziplinarischer Strenge zu festigen. Unter diesen Voraussetzungen bringt das Aufkommen des Faschismus heute viele, die sich leicht beeindrucken lassen, zu der Behauptung, der Partito Popolare habe als politische Vertretung der Katholiken – in Anbetracht der katholischen Erfolge und der spiritualistischen Tendenzen der Partei in der Regierung – keine Daseinsberechtigung mehr; und die soziale Bewegung habe jetzt keine wirksame Mehrheit, müsse sich also mit dem neuen nationalen Korporativismus vermischen. Auch diese oberflächliche Auffassung beruht weithin auf Missverständnissen und Vorurteilen, die den Tageszeitungen gute Stichworte liefern. Das realistische Wesen des Partito Popolare Italiano lässt sich nicht auf die beiden antithetischen und polemischen Begriffe Klerikalismus und Demagogie reduzieren, die er aufgrund der innersten Struktur seiner Gedanken und Ziele meidet. Er hat eine unabhängige und realistische Grundlage, die gewöhnlich mit dem historischen Begriff christdemokratisch beschrieben wird, und daraus leitet er auf konstitutioneller, ökonomischer, sozialer und politischer Ebene ein organisches Programm mit einer eigenen Physiognomie und einer eigenen Lebenskraft ab. Und wenn auch viele Punkte des Programms die gleichen sind wie die anderer vor oder nach ihm gegründeter Parteien oder den politischen Behauptungen und den üblichen Auffassungen verschiedener liberaler, nationaler und demokratischer Strömungen entsprechen, nimmt dies dem Programm der Popolari jedoch nicht seine richtigen Ideen; oft unterscheiden sich die Ausgangspunkte und die Ziele, die erreicht werden sollen, sehr stark von denen der Parteien, die dasselbe Postulat unterstützen. 4. Gibt es folglich eine politische Lehre, die „Popolarismus“ heißt und aus der die Partei – als organisatorische Konkretisierung – ihre Daseinsberechtigung, ihre Inspiration und ihre Ziele gewinnt? Diese Frage soll nicht den Eindruck entstehen lassen, dass zuerst die Theorie entsteht und dann die Partei, weil es in der sozialen Entwicklung, die so dynamisch ist, in Wirklichkeit einen wechselseitigen Fluss von Gedanken und Aktionen gibt. Die Frage dient der Präzisierung des Profils und der theoretischen Voraussetzungen der politischen Bewegung der Popolari. Ohne in Italien und im Ausland eine spirituelle und philosophische Abstammung finden zu wollen, die nicht als einflussreiche historische Tatsache bewiesen werden kann, hat der Partito Popolare Italiano im Bereich der Wirtschaft seine theoretische Basis in der christlich-sozialen Schule, die im Widerspruch zum liberalen Atomismus wie zum sozialistischen Kollektivismus

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steht und sich – ebenfalls in Bezug auf die Wirtschaft – auch von der rein konservativen Strömung unterscheidet. Die lange Entwicklung dieser Lehre in Deutschland, Österreich, Frankreich, Belgien, Holland, der Schweiz, Spanien und Italien, mit Geburtsorten auch in anderen Nationen und Amerika, hatte nicht nur eine ethische Dimension der Gerechtigkeit und der Nächstenliebe, die in der Enzyklika „Rerum novarum“ Leos XIII. aufscheint,c und umfasste ebenso wenig nur Bemühungen, die Massen vor anarchistischen und kommunistischen Schwärmereien zu schützen, sondern sie war auch eine positive Konstruktion auf ökonomisch-sozialem Gebiet, im Rahmen einer organischen Vorstellung von der Gesellschaft und den Beziehungen zwischen den verschiedenen Klassen und dem Staat. 5. Der ökonomische Hintergrund der christlich-sozialen und der christdemokratischen Konzeption könnte als der Großindustrie gegnerisch gesinnt erscheinen, da diese die häuslichen Bindungen lockert, die engen und moralischen Beziehungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber schwächt oder sogar völlig aufhebt, sich über die Organisation des Staates stellt und diese dominiert, die Gewerkschaften zerstört und Gründe für eine permanente ablehnende Haltung gegenüber dem Klassenkampf liefert. Wenn das stimmte, wäre unsere ökonomische Auffassung um zwei Jahrhunderte veraltet. Die Wahrheit ist: Während der Sozialismus, besonders der deutsche, Theorien über die proletarische Bewegung der Großindustrie aufgestellt hat und ein natürliches Produkt der ökonomischen Umwälzung war, die von der Vorherrschaft

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Vincenzo Gioacchino Pecci (1810–1903) wird 1878 als Papst Leo XIII. gewählt. Sein Name ist mit der für die katholische Soziallehre grundlegenden Enzyklika „Rerum novarum“ (1891) verbunden. Die Enzyklika verteidigt das persönliche Eigentumsrecht gegen den Sozialismus und verurteilt Gewaltanwendung in sozialen Auseinandersetzungen, plädiert aber zugleich für Staatsintervention zum Schutz der Arbeiter und befürwortet gewerkschaftliche Zusammenschlüsse. Die Enzyklika gilt als eine der wichtigsten Urkunden der katholischen Soziallehre, die erstmals ausdrücklich und programmatisch die christlichen Werte und Ideen in der sozialen Dimension einführt, sich mit dem klassischen liberalen Konzept des Menschen und der Arbeit kritisch auseinandersetzt und den Versuch darstellt, der Kirche wieder eine wichtige soziale Funktion in der modernen Gesellschaft zu geben. Siehe dazu: Gabriele de Rosa (Hg.), I tempi della „Rerum novarum“, Soveria Mannelli 2002; Romano Molesti, L’Enciclica „Rerum novarum“ nello sviluppo della dottrina economico-sociale della Chiesa. In: Studi economici e sociali, 1 (1966) 2, S. 121–146; John Molony/David M. Thompson, Christian social thought. In: Sheridan Gilley/Brian Stanley (Hg.), World Christianities c. 1815 – c. 1914, Band 8, Cambridge 2006, S. 142–163; Herbert Gottwald, Rerum novarum: das soziale Gewissen des Heiligen Stuhls, Berlin 1994. Siehe zum Einfluss der Enzyklika auf die Entwicklung der christlich-demokratischen Bewegungen in Europa Hans Maier, „Rerum novarum“ und die Entstehung christlich-demokratischer Bewegungen in Europa. In: Kirchliche Zeitgeschichte, 5 (1992) 2, S. 289–305.

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und der Zentralisierung der mächtigen ökonomischen Kräfte herbeigeführt wurde, und die sozialistische Partei folglich deren Sprachrohr und Vertreter wurde, vertrat die christlich-soziale Bewegung oft jenen Teil der Wirtschaft, der aus der Landwirtschaft, den Handwerkern und der Kleinindustrie besteht, und hat über deren grundlegende Elemente Theorien aufgestellt und deren Wert verteidigt. Diese Wirtschaftszweige entfalten sich innerhalb der Grenzen des Staates oder der Region, sind sehr eng mit dem Familienleben und dem Geschehen im Lande verbunden und überlagern sich mit der Mittelschicht, den Berufstätigen und den Städtern, die ähnliche Interessen und eine ähnliche Mentalität wie die kleinen Produzenten aufweisen und über eine relativ ausgeprägte Rechtskultur verfügen. Die Position der Christlich-Sozialen, die einen Gegensatz zum materialistischen oder idealistischen, marxistischen oder sorelianischen Sozialismusd darstellt, entspringt nicht einer begrenzten Sicht auf die moderne Wirtschaft, sondern einer allgemeinen Beurteilung der ökonomischen und politischen Phänomene und Prinzipien. Die wesentlichen und spezifischen Merkmale dieser Schule sind die organische Form als ökonomische und politische Grundlage der Gesellschaft, die zur rechtlichen Anerkennung der Klasse führt, und das praktische Ziel, den Klassenkampf als soziales Recht abzuschaffen, auch wenn dieser als vergängliches Phänomen anerkannt wird, das so weit wie möglich durch die klassenübergreifende Dynamik in der Organisation des Staates überwunden und beseitigt werden muss. 6. Ich würde sagen, die theoretischen Versuche dieser Schule sind bis heute an der Schwelle des Problems des Staates stehengeblieben, bei der Überschneidung der Wirtschaft mit der Klasse, da diese – desorganisiert und aus dem politischen Rhythmus herausgerissen – in der Gewerkschaft erstarrt war: Ausdruck eines rein materialistischen Zusammenschlusses und der einfachen ökonomischen Beziehungen; eine Position, die eher kritisch als konstruktiv, eher analytisch als synthetisch und eher historisch als logisch ist. Die Frage der staatlichen Einmischung in die Privatwirtschaft und der ökonomischen Funktionen des Staates (oder der lokalen Körperschaften) als (mono­polistischer oder konkurrierender) Auftraggeber der öffentlichen oder halbstaatlichen Dienste wurde ebenfalls als für sich selbst stehend und in-

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Georges Sorel (1847–1922) befürwortete als politischer Denker die gewaltsame „direkte Aktion“ und den Generalstreik der Arbeiter und inspirierte sowohl linke wie auch rechte revolutionäre Bewegungen. Insbesondere beeinflusste Sorel die italienischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegungen. Sein Name ist mit dem sogenannten revolutionären Syndikalismus verbunden. Siehe Paolo Pastori/Giovanna Cavallari (Hg.), Georges Sorel nella crisi del liberalismo europeo, Ancona 2001; Michael Freund, Georges Sorel. Der revolutionäre Konservatismus, Frankfurt a. M. 1972.

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nerhalb der ökonomischen Beziehungen behandelt, niemals als Problem der Politik und der öffentlichen Verwaltung. Die Tendenz zugunsten ähnlicher Lösungen wie der Vergesellschaftung von Gütern oder Leistungen für die Allgemeinheit spiegelte ethische Beweggründe und soziale Tendenzen wider, die sich oft außerhalb ökonomischer und finanzieller Beurteilungen sowie ethischer und politischer Theorien befanden. Das Bemühen um eine Synthese dieses gesamten Materials, das von der christlich-sozialen Schule ausgearbeitet wurde, konnte nur aus der großen Erfahrung heraus entstehen, welche die politischen Parteien durch die Entwicklung von Theorien, durch die Tätigkeit in der öffentlichen Verwaltung und durch den Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit gemacht hatten. Dieses große Experiment konnten ähnliche Parteien dort durchführen, wo sie an die Macht gekommen waren, wo sie die öffentliche Verantwortung übernehmen und ihre theoretischen Konzepte im Widerstreit der Tatsachen überprüfen konnten. Dies taten vor dem Krieg die Katholiken in Belgien, die Christlich-Sozialen in Österreich-Ungarn und die Zentrumspartei in Deutschland. Aber nur in Belgien kann dieses Experiment als wirklich durchgeführt bezeichnet werden, obwohl dort die beiden katholischen Flügel innerhalb der Mehrheit und in der Regierung sowohl die Konservativen als auch die Christdemokraten vertraten. Ihre Erfahrung ist sehr wertvoll, vor allem weil es sich um einen Staat handelt, in dem der Katholizismus die vorherrschende Religion ist. *** 7. Die Kernfrage, die der Organisation des Staates, seiner Rechte, seiner Grenzen, seines Verhältnisses zur Kirche, seiner konstitutionellen Errungenschaften, erwies sich im Übergang von der traditionellen katholischen Theorie zur tatsächlichen Umsetzung auf einem rein liberalen Terrain als von großer Bedeutung. Die politische Literatur des Risorgimento in Frankreich, Belgien und Italien sah, dass die Katholiken in Bezug auf die Organisation des Staates in zwei Lager gespalten waren: die kompromisslosen Traditionalisten und die sogenannten Befürworter der Liberalisierung („liberaleggianti“). Unter den Letzteren gab es in Italien drei Hauptvertreter: Gioberti, Rosmini und Ventura.e e

Vincenzo Gioberti (1801–1852), Antonio Rosmini (1797–1855) und Gioacchino Ventura (1792–1861) waren bedeutende Vertreter eines liberalen Katholizismus, die das Projekt einer italienischen föderativen Nation unter päpstlicher Führung favorisierten. Vgl. Dario Antiseri, Il liberalismo cattolico italiano: dal Risorgimento ai nostri giorni, Soveria Mannelli 2010; Nicola Raponi, Cattolicesimo liberale e cattolicesimo democratico, Mailand 1977; ders., Cattolicesimo liberale e modernità: figure e aspetti di storia della cultura dal Risorgimento all’età giolittiana, Brescia 2002. Der italienische Begriff „liberaleggianti“ hatte damals einen negativen Beigeschmack.

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Die Qual des katholischen Gewissens bestand in der politischen Philosophie darin, die liberalen Institutionen mit der traditionellen Theorie über Staat, Autorität und Freiheit in Einklang zu bringen; genauso qualvoll waren in anderen Bereichen der Kampf und die Bemühungen, die Rechte der Wissenschaft mit jenen des Glaubens zu versöhnen. Heute, nach einem Jahrhundert voller Kämpfe, akzeptiert kein Wissenschaftler eine theoretische Antithese von Wissenschaft und Glauben; genau wie kein Politiker an einen praktischen Gegensatz zwischen dem modernen Staat und dem religiösen Bewusstsein glaubt. Die alten Gegensätze zwischen Staat und Kirche – von denen wir die ersten politischen Zeugnisse zu Beginn des von Konstantin dem Großen eingeführten Toleranzediktes finden – haben sich fast zweitausend Jahre lang in Raum und Zeit verschoben, aber sie sind nicht – hauptsächlich aufgrund des Kampfes zwischen Geist und Körper in jedem von uns – im Dualismus der christlichen Anschauung verschwunden, durch den die moralischen Werte auf eine höhere (übernatürliche) Ebene mit einer Finalität jenseits von Leben und Tod befördert werden. Die Koordination der Ziele führt, sofern es ein persönlicher subjektiver Akt ist, zur christlichen Perfektion bis zur Heiligkeit und müsste als kollektiver und objektiver Akt eine perfekte Gesellschaft erzeugen, die in der Realität unmöglich ist und noch nicht einmal mit einer Disziplin erreicht werden kann, die zivilen und religiösen Zwang ausübt. Die zweitausendjährige Geschichte des Christentums hat uns den ständigen ethischen und politischen – sowohl latenten als auch offenen und gewalttätigen – Gegensatz gezeigt, der mit den Friedensschlüssen nach den Verfolgungen, den Konkordaten nach den Kämpfen um die Rechtsprechung und mit den Waffenruhen nach den Schismen zumindest teilweise ein Ende gefunden hat. Die tragischen und großen Namen jener Kämpfe sind mit den größten Namen der Geschichte von Canossa bis Fontainebleau verbunden. 8. Der „moderne“ Staat ist in seiner theoretischen Verfasstheit das natürliche Produkt eines spirituellen Schismas, das durch den Rationalismus im menschlichen Bewusstsein entstanden ist. Für ihn sind die Beziehungen zur Kirche (egal ob diese katholisch, protestantisch oder orthodox ist) rein formell und äußerlich. Der Staat als totales Organ behandelt die Kirche wie eine besondere Entität und hat zu dieser nur Beziehungen, die auf Toleranz und Konkordaten beruhen und deren genaue Grenzen durch das kodifizierte Recht und die Rechtsprechung gesetzt werden. Im modernen Staat ist der Konflikt mit der katholischen Kirche auf drei grundlegende Fragen beschränkt: die religiöse Freiheit im Bezug auf die Hierarchie des Kultes und des Apostolats, die Schulfreiheit und die Einheit der Familie. Weitere Fragen, ökonomische und rechtliche, die mit den wohltätigen Einrichtungen und den kirchlichen Ämtern zu tun haben, sind je nach Ort, je nach den eigenen Erfahrungen sowie

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je nach dem Erhalt bestimmter gesetzlicher Regelungen mehr oder weniger mit diesem Konflikt verbunden bzw. von Bedeutung; aber die oben genannten Themen sind die wesentlichen Fragen, die im 19. Jahrhundert vor allem in Frankreich, Italien und Deutschland, aber auch in den angelsächsischen Staaten und in Südamerika Gegenstand des Kampfes zwischen Kirche und Staat waren. Und so wie die rationalistische Philosophie versucht, das religiöse Phänomen, auch wenn sich die Methoden und Systeme ändern, auf individuelle, subjektive und subintellektuelle Beziehungen zu reduzieren, so tendiert die rationalistische Politik dazu, den gesellschaftlichen Stellenwert der Religion auf Toleranz und Unterordnung unter den Staat zu beschränken und folglich den Staat auf ein Niveau über seinen eigenen rechtlichen, politischen und ökonomischen Funktionen zu heben; auf Funktionen, oder besser in eine unabhängige ethische Struktur, für welche die Religion ein wichtiges Mittel der Erziehung und der Herrschaft sein kann. 9. Das Konzept des ethischen Staates (im Sinne der absoluten Moral oder des ethisch Höchsten der Gesellschaft) hat eine natürliche Beziehung zum Konzept des pantheistischen Staates; es sind zwei Seiten des gleichen theoretischen Entwurfs. Der gesamte Verlauf des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Krieges wurde geprägt von einer Überbewertung des Staates im Sinne einer absoluten Synthese aller Energien, einschließlich der ökonomischen – gleichsam einer eisernen Herrschaft über jede menschliche Aktivität, die vom staatlichen Organismus absorbiert und in ihn hineingezwungen wird. Die Formen der Freiheit, die gegen die ökonomische und politische Organisation der absolutistischen Regierungen erkämpft wurden, wie sie sich nach dem napoleonischen Imperium gebildet hatten, sind heute zu äußerlichen Formen geworden, die fast keinen moralischen Gehalt mehr haben und in Wirklichkeit dem Schutz der politischen und ökonomischen Monopole dienen. Das politische Klima hat ein solches totalitäres Konzept des Staates manchmal betont und manchmal eingeschränkt. Die staatliche Zentralisierung hat in der Realität alle ethischen, kulturellen und ökonomischen Energien durchdrungen und diesen fast den Anschein einer Religion verliehen, die der Verehrung einer neuen Gottheit dient. Allein die katholische Kirche mit ihrer höheren und internationalen Struktur und in ihrer antithetischen Position hat trotz angemessener konkreter Anpassungen diesen Zwang nicht hingenommen und ist – obwohl es Versuche und Verlockungen gab – während des Krieges und danach außerhalb des Rhythmus des pantheistischen Staates geblieben. Der Sozialismus akzeptiert den Staat, wenn dieser zu einem sozialistischen Staat wird, und macht daraus eine ökonomische Synthese für die Herrschaft

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der Arbeiterklasse: Das ist der letzte Schritt im qualvollen Klassenkampf, der zu einer kommunistischen Stabilisierung führen soll. Hier fehlen die Bezugspunkte für ein logisches Konzept, weil es nicht möglich ist, die Bedingungen einer Nicht-Realität zu erklären. So bleibt die sozialistische Bewegung eine Tendenz der gesellschaftlichen Entwicklung, ein negativer Ausdruck, niemals ein positiver Bauplan. Der sozialistische Einfluss auf die bürgerliche Gesellschaft war nützlich, um eine neue ökonomische Auffassung angesichts einer zügellosen freien Wirtschaft zu erzeugen, aber niemals, um eine politische Staatstheorie zu schaffen. Während für den rationalistischen Liberalismus das politisch Höchste (der Staat) zum ethisch Höchsten wird, wird für den Sozialismus aus dem ökonomisch Höchsten (dem proletarischen Staat) das ethisch Höchste; in beiden Fällen ist der Staat im Wesentlichen das Ganze (pantheistische Denkweise). 10. Die praktische Erfahrung der Christlich-Sozialen oder der Katholisch-­ Sozialen und heute der Popolari, die diese direkt oder indirekt in der Regierung und als Akteure im modernen Staat gemacht haben, trug dazu bei, viele Vorurteile rund um ihr Konzept des Staates aus dem Weg zu räumen, die theoretischen Annahmen anhand der Realität zu überprüfen und eine in der Mitte liegende Auffassung des Staates zu begründen, der heute diejenigen zustimmen, die sowohl den liberalen als auch den sozialistischen Monismus mit ihren extremen Folgen ablehnen. Sie haben sich vor allem auf die praktische Ebene der Organisation des konstitutionellen Staates begeben; nicht nur als eine legitime Regierungsform (die Kirche als solche steht jeder staatlichen Organisation und jeder Regierungsform indifferent gegenüber), sondern als System, das akzeptiert, erwünscht und verteidigt wird, weil es den tatsächlichen Verhältnissen und der progressiven Entwicklung der Zivilgesellschaft entspricht – und auch, weil es Freiraum lässt und die Mittel für die notwendigen Veränderungen und Erweiterungen bietet, die von einer populären oder demokratischen Organisation des Staates gefordert werden, sodass das Volk (demos) auf intensivere Weise an der Regierungsform des eigenen Landes beteiligt ist. Diese Geisteshaltung – die sich sehr von der unterscheidet, die vor einem oder vor einem halben Jahrhundert üblich war, als nicht wenige Katholiken gegen das System der konstitutionellen Demokratie als Recht des Volkes waren – ist auch anders als die Einstellung derjenigen, die diese – als Tatbestand, aber nicht auf theoretischer Ebene – akzeptieren und am administrativen und politischen Leben in der bloßen Absicht teilnehmen, die religiösen und ethischen Prinzipien und die rechtmäßigen Interessen zu verteidigen, ohne sie deshalb zu befürworten, weil sie befürchten, dass sie damit die liberale Theorie, die sie ablehnen, unterstützen würden.

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Die Popolari hingegen (in diese Bezeichnung schließe ich auch die anderen politisch-konstitutionellen Bestrebungen der Katholiken wie die Christlich-­ Sozialen, die Christdemokraten, die sozialen Popolari und andere ein) unterstützen das System der konstitutionellen Demokratie als politische Vertretung des Volkes und direkte Beteiligung am administrativen Leben des Staates, ohne dass sie deshalb das rationalistische Konzept des modernen Staates, der auch liberaler Staat genannt wird, anerkennen und akzeptieren. Unser Konzept des Staates bezieht sich auf die Tradition der scholastischen Theorie. Für uns ist der Staat die Organisation des politischen Lebens der menschlichen Gesellschaft, um ein natürliches Zusammenleben zu ermöglichen, und setzt die Grenzen des Naturrechts voraus. Er hat folglich ethische Funktionen (es gibt kein Recht ohne Moral), aber er ist keine höchste ethisch-soziale Institution; und er hat kollektive Ziele, aber kann keine kollektiv-absolute Geltung beanspruchen. 11. Die Basis des demokratischen Systems besteht in dessen Auffassungen von den grundlegenden Freiheiten, die in der konstitutionellen Zeit als Gedankenfreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Wahlfreiheit und Religionsfreiheit proklamiert wurden. Keine Freiheit ist unbegrenzt, weil daraus ein Freibrief würde, sondern die Objektivität und die Klarheit der Grenzen verhindern Willkür. Innerhalb dieser Herkulessäulen kann niemand leugnen, dass die bürgerlichen Freiheiten geschützt und eingefordert werden; und wir Popolari sind deren glühende Verteidiger auch gegen die monopolistischen Systeme, die aus dem pantheistischen Staat entstehen; und zwar nicht nur, weil wir in den meisten Fällen eine Minderheit vertreten, die eine Gesamtheit von spirituellen und materiellen Rechten und Interessen schützen möchte, die nur ein auf der Freiheit beruhendes System fördern kann, sondern auch, weil die Freiheit ein dynamisches Gut des gesellschaftlichen Lebens ist, das trotz aller negativen Aspekte jedem anderen auf Zwang beruhenden System vorzuziehen ist; und schließlich weil die politischen Freiheiten einem Entwicklungsstadium der Zivilgesellschaft entsprechen und deren Unterdrückung größere Übel herbeiführen und einen Nährboden für erhebliche Unruhe darstellen würde. Wenn in absoluten Systemen, in dem historischen Kontext, in dem diese notwendig oder nützlich sind, äußere Zwänge wirken können, um das gesellschaftliche Leben zu normalisieren, so gibt es in konstitutionellen Systemen andere Schranken, die weniger rechtlich sind, sondern moralisch; und in der Dynamik der Freiheit wirken Energien, die sich am gesellschaftlichen Übel laben. Diese Auffassung beruht nicht auf den Kriterien eines einfachen historischen Relativismus, das heißt, einer Anpassung der Institutionen an die Realität ohne Beurteilung der ethischen und rechtlichen Grundlage der Institutionen selbst, sondern sie stützt sich in einer synthetischen Konvergenz auf zwei Faktoren: einen ethisch-rechtlichen und einen historischen.

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Diejenigen, die befürchten, dass die Freiheit sowohl auf ethischer als auch auf politischer Ebene zu einem Freibrief wird und folglich oft (auch ohne diese zu leugnen) Angst vor der Freiheit selbst haben, verwechseln leider das Wesen der Freiheit mit dem Missbrauch, der damit getrieben wird (wie mit allen anderen menschlichen Fähigkeiten), ohne dass das Wirken der Autorität oder anderer moralischer Kräfte es schafft, diesen Ausschweifungen Einhalt zu gebieten. Wenn dies kollektiv und dauerhaft geschieht, führt das zu Reaktionen, die in der Lage sind, wieder ein gewisses Gleichgewicht herzustellen. Das Gleiche gilt, wenn jemand Autorität missbraucht; das ist ein schädlicheres Phänomen, weil es geordneter, intelligenter und effizienter ist, und die Reaktionen schlimmer sind und viele Gefahren mit sich bringen. Die Geschichte beweist zweifellos, dass der Missbrauch von Autorität zu größeren Ausschweifungen führt als der Missbrauch von Freiheit. Hier gibt es keinen Widerspruch zwischen der katholischen Lehre und dem politischen Pragmatismus. Die Erfahrung des erlebten und konkreten Ereignisses hat der Theorie einen Beweis geliefert, der kein einfacher historischer Relativismus ist. 12. Das konstitutionelle Repräsentativsystem und die bürgerlichen und politischen Freiheiten sind folglich als rechtlich-politische wie auch als historische Institutionen notwendige Elemente im System des „Popolarismus“, da sie für die heutige Zivilisation und für die Bedürfnisse des nationalen Lebens geeignet sind. Der Unterschied und der Gegensatz zur liberalen demokratischen Auffassung besteht folglich nicht in der realen Substanz der Institution, sondern in der theoretischen Bewertung und den logischen Folgen dieser Bewertung. Die Liberalen gleichen die Gesellschaft dem Staat an und den Staat dem Regime; folglich sprechen sie vom liberalen Staat als einem absoluten, ethischen, rechtlichen, ökonomischen und politischen quid (Etwas), und um ein festes Fundament zu haben, welches das Absolute (das pan) nicht ins Wanken bringt, greifen sie auf die Souveränität des Volkes als dynamisches Bewusstsein und als immanente Kraft des Staates zurück. Auch in Bezug auf die Theorie der Volkssouveränität muss man einen Unterschied zwischen uns und den Liberalen machen. Wir lassen zu, dass das Volk, indem es an der Bildung der Regierung und des legislativen Organs beteiligt ist, einen souveränen Akt vollzieht, der dem des Staatsoberhauptes gleicht, wenn es die Regierung des Volkes ernennt; und in diesem Sinn kann man in einem konstitutionellen System von Volkssouveränität sprechen. Jedoch akzeptieren wir nicht, dass das Volk die absolute Quelle der Autorität und der Souveränität als ethisch-rechtliches Prinzip ist; genauso wie wir nicht akzeptieren, dass der Monarch oder der Kaiser dies ist; das eine und das andere sind Mittel, damit die Autorität in einer organisierten Gesellschaft (was der Staat ist) mit den traditionellen his-

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torischen und evolutionären Gesetzen ihrer eigenen Organisation zum Ausdruck kommt und Gestalt annimmt. Die stillschweigende oder ausdrückliche Zustimmung des Volkes ist die moralische Beteiligung an der Regierungsform und an deren historischer Wirksamkeit. Der Dissens stellt, egal ob er legitim oder revolutionär ist, ein dynamisches Moment dar; in beiden Fällen können das Recht und das Ereignis miteinander verwechselt werden oder im Gegensatz zueinander stehen. Dem Volk als der einzigen Quelle des Rechtes und als ethischem Prinzip des Staates ist – anders als der Liberalismus geglaubt hat – kein absolutes Recht inhärent. Deshalb unterscheidet sich für uns der Staat als politisch organisierte Gesellschaft von der Gesellschaft selbst und vermischt sich nicht mit der Regierungsform. Folglich gibt es nicht einen liberalen oder einen faschistischen Staat oder Ähnliches; es gibt einen Staat mit einem liberalen Regierungssystem, mit einem demokratischen Regierungssystem oder mit einem absoluten Regierungssystem und so weiter, aber der Staat existiert mit jedem Regierungssystem und er ist in seiner wesentlichen Natur und seinen natürlichen Befugnissen mit jeder Regierungsform immer der Gleiche. Die Popolari akzeptieren folglich im oben erklärten Sinne die Volkssouveränität (historischer Ausdruck) als direkte Beteiligung des Volkes an der Bildung der Regierung und Ausübung der konstitutionellen Rechte (Wahlrecht, Petitionen, Referendum und Ähnliches) und als innerste Anpassung des Bewusstseins des Volkes an das politische Leben des Landes. 13. Das ist der bemerkenswerte theoretische Unterschied zwischen uns und den liberalen Demokraten; ein Unterschied, der sich eindeutig gegen die praktischen Konsequenzen ihres Staatskonzeptes stellt. Sie sind bei der staatlichen Zentralisierung angelangt, sowohl als Verteidigung der Autorität gegen die freien Initiativen als auch als Geist der Herrschaft und als Glauben an das Absolute des Staates. Wir Popolari bekämpfen aufgrund unserer Vorstellung vom Staat jegliche Form der Zentralisierung, weil wir glauben, dass es in der Gesellschaft individuelle und soziale Rechte gibt, die anerkannt und von Seiten des Staates gewährleistet und auch hinsichtlich ihrer politischen Bedeutung geregelt werden müssen, aber weder verletzt noch unterdrückt werden dürfen; und weil das Spiel der Freiheiten und der Unabhängigkeiten immer neue lebenswichtige Kräfte und Energien hervorbringt, die in der Beziehung zum Staat (das heißt, zu einer vorher bestimmten und geordneten Organisation) das dynamische Element gegenüber dem statischen darstellen. Wir kämpfen heute für die Unabhängigkeit der Familie, der Schule, der Kirche, der Gebietskörperschaften, der Wirtschaft – gegen die Versuche der Zentralisierung oder der Unterdrückung auf dem Gebiet der Rechtsprechung; das ist der Kampf für die Freiheit.

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Dies sei gesagt, um die Begriffe zu klären, die ich in meinen Reden verwende. Als Popolare bin ich erklärter Demokrat oder besser Christdemokrat, was den schon erklärten theoretischen Prämissen entspricht; und wegen der gleichen Prämissen bekämpfe ich den demokratisch-pantheistischen Staat. Ich akzeptiere oder besser unterstütze die Freiheit und preise das Kampfmotto „libertas“, das der Partito Popolare Italiano in sein Wappen mit dem Kreuz aufgenommen hat, und ich bekämpfe die liberale, individuelle, antiorganische und atomistische Vorstellung, die sich auf die Volkssouveränität als absolute Quelle des Rechts stützt. Mit seiner Vorstellung des Staates, die der Partito Popolare Italiano – als Gegenentwurf zur theoretischen Konzeption und der konkreten Praxis in Italien, vor allem in der Zeit der demokratischen Regierung – bei seiner Gründung vertreten hat, stand er in einer zentristischen Position zwischen rechts und links, in der Dynamik des Kampfes, der in der Nachkriegszeit begonnen hat und den ich bei meiner Rede am 17. November 1918 in Mailand3 bereits vorhergesehen hatte: Mit dieser Rede wurde der erste Appell der Partei „an die Freien und Starken“4 eingeleitet, und sie ist ein Ergebnis des Geistes und der Leitlinie der sechs Reden, die in dieser Sammlung enthalten sind und die eine Untersuchung der Realität und gleichzeitig Gründe für politische Kämpfe sind.

II. 14. Wir werden beschuldigt, den Staat mit unserer Theorie zersetzen zu wollen, indem wir ihn seines ethischen Gehalts entleeren und ihm somit die nationale Autorität nehmen. Der Fehler liegt in dem oben erklärten grundlegenden Missverständnis, das auf das unterschiedliche Verständnis des Wortes „Staat“ zurückzuführen ist. Dieses kann für nichts Anderes stehen als für die politische Organisation der Gesellschaft auf einem bestimmten Territorium, die heute real oder potenziell als Kern oder nationale Familie gedacht wird. Obwohl der Staat die gesamte Gesellschaft umfasst, die in der Nation

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Siehe S. 32–58. Anmerkung der Herausgeber: Die früheren Herausgeber beziehen sich hier auf Sturzo, Opera Omnia, Seconda serie, Volume terzo, S. 32–58 („I problemi del dopo guerra“). Siehe S. 66–69. Anmerkung der Herausgeber: Die früheren Herausgeber beziehen sich hier auf Sturzo, Opera Omnia, Seconda serie, Volume terzo, S. 66–69 („Dall’idea al fatto“ aus „La costituzione del partito: 1. Appello al paese“). Der von Sturzo erwähnte Appell findet sich auch im vorliegenden Band im Text „Italien und der Faschismus“, S. 201, Anmerkung 2.

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vereinigt wurde, ist er nicht automatisch Ausdruck aller gesellschaftlichen Belange: Er vertritt diese nur oder schützt oder leitet oder integriert oder garantiert sie oder gestattet die freie Entfaltung verschiedener individueller oder kollektiver Tätigkeiten. Staat und Gesellschaft werden nicht gleichgesetzt; der Staat ist vielmehr umfassender, da er die diversen Elemente und Bestandteile, die die Gesellschaft bilden, vertritt und zum Ausdruck bringt und diese dabei unterstützt, die ihnen innewohnenden Energien in einer ständig fortschreitenden Anstrengung zu entwickeln. Dass dem so ist, dafür liefert uns die Geschichte den größten Beweis und zeigt, dass der primitive Staat seine Funktionen darauf beschränkte, die bewaffneten Streitkräfte zu bündeln, während er im Übrigen mit der Familie und dem Priestertum verschwamm, die über vorherrschende und absorbierende rechtliche, ethische und ökonomische Kräfte verfügten. Doch im Verlauf einer tausendjährigen Entwicklung mit der Etablierung der Städte und Provinzen, der Regulierung der ökonomischen Tätigkeit, der Entstehung der Stände und Klassen und der Verwirklichung des geschriebenen Gesetzes nimmt das politische und organisatorische Resultat des Staates konkretere und komplexere Gestalt, Beziehungen und Funktionen an. Aber wehe, wenn alle gesellschaftlichen Kräfte im Staat vereinigt gewesen wären, der oft Mittel für tyrannische und persönliche Herrschaft war, ein Ausdruck von Ständen und Interessen; wehe, wenn alle Instrumente des gesellschaftlichen Lebens sich in den Händen der politischen Machthaber zum Schaden der anderen lebendigen Organismen konzentriert hätten (Familie, Gemeinde, Schulen, Universitäten, Kirchen, wohltätige Einrichtungen, um eine moderne Phraseologie zu verwenden, aber in jeder Epoche und bei jedem Volk gibt es Bezeichnungen für solche gesellschaftlichen Organismen und Kräfte); der gesellschaftliche Fortschritt und die menschliche Zivilisation wären zum Stillstand gekommen bzw. würden noch immer stillstehen, genau wie dies in Zeiten von unhaltbarer Tyrannei und Unterdrückung geschah. Die mittelalterlichen Kämpfe gegen Kaiser und Päpste (als zivile Autoritäten) um die Privilegien und die Unabhängigkeit der Universitäten und der Kommunen; die Kämpfe zwischen Königen und Baronen für den Erhalt der traditionellen Rechte und den Vorrang der Feudalherren waren – je nach Epoche und der politischen Unsicherheit der Institutionen und Autoritäten – natürliche Mittel zur Verteidigung jener grundlegenden Freiheiten, die innerhalb des klar umgrenzten bürgerlichen Lebens und des damals viel eingeschränkteren Bereiches der menschlichen Tätigkeiten den Lauf der Zivilisation gewährleisteten. Niemand will behaupten, dass der Staat als kollektiver Organismus nach der Französischen Revolution entstanden ist. Im Übrigen könnte man diese Frage auch hinsichtlich der Beziehung zum napoleonischen Staat in Frankreich oder zu den Staaten und Kleinstaaten vor der Einigung

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Italiens und den Staaten der Habsburger, der Hohenzollern oder des russischen Zaren stellen. 15. Sprechen wir nun vom modernen Staat: Identifiziert er sich vielleicht mit der Gesellschaft, weil er konstitutionell und liberal ist, während er sich früher nicht mit ihr identifizierte? Aber was könnte dazu geführt haben? Vielleicht der kollektive Wille, der in Form einer politischen Wahl ausgedrückt wurde? Diese Wahl ist die einer Minderheit. In Italien gibt es das allgemeine Wahlrecht für Männer erst seit 1913, und das allgemeine Wahlrecht für Frauen wurde immer noch nicht eingeführt. Folglich ist der konstitutionelle Wille symbolischer Natur, aber dies ist ein positives Recht, eine Übereinkunft, eine veränderliche Regierungsform; es wäre niemals der Gründungsakt (und es ist gut, das so zu sagen) des höchsten, ethischen Staates, der absoluten Vernunft! Wenn die Faschisten heute glauben, die liberale Regierungsform zu ersetzen (sie sprechen vom liberalen Staat), um eine andere Regierungsform einzuführen, von der wir noch nicht genau wissen, auf welche Prinzipien sie sich stützt, und diese den „faschistischen Staat“ nennen, kann das für nichts anderes stehen als für einen weiteren historischen Prozess, eine Entwicklung oder Involution der Institutionen (abhängig von den verschiedenen Standpunkten) oder eine Regierungsform oder eine unterschiedliche Position der Elemente der Gesellschaft, um ein Gleichgewicht der Kräfte oder eine Überlagerung einiger Kräfte durch andere zu erreichen. Er kann niemals das Wesen, die Stellung und die Grenzen des Staates antasten, die trotz der Änderungen der Organisation wesentlich sind und von der Natur über den wechselhaften Willen der Menschen, die Kämpfe und die bürgerlichen Leidenschaften gestellt wurden. Es stimmt, diese natürlichen Grenzen werden oft überschritten; die ganze Geschichte der Sklaverei, die es auch bei zivilisierten Völkern gab und ebenfalls von Gesetzen geregelt wurde, ist ein Beweis für die ständigen ungeheuren ethischen Abweichungen des menschlichen Geistes auf individueller und kollektiver Ebene. Die Gesetze des Staates der Sowjets in Russland über die Familie sind ebenso schwerwiegend wie die ethischen Irrungen der Französischen Revolution. Man wird sagen, dass Revolutionen unruhige Zeiten ankündigen, dass es bei der Umformung der öffentlichen Institutionen zu Exzessen kommt, die diese erst legalisieren und dann ändern. Aber diejenigen, die auf dem ethisch Absoluten des Staates beharren, können nicht logisch zwischen Potenz und Akt, zwischen Norm und Ergebnis und zwischen Theorie und Praxis unterscheiden, weil das Absolute logischerweise immer aktual und die Idee immer Realität ist. Denn in welchem Moment ist der Staat kein Staat? Das Absolute nicht absolut? Das ethisch Höchste nicht das ethisch Höchste? Wenn es diesen Moment sowohl in der Barbarei der Sklaverei, in der Brutstätte der Revolution, in der Verirrung des Absolutismus gibt, dann gibt es den höchsten absoluten Staat oder den höchsten ethischen Staat nicht

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mehr. Es gibt nur die Geschichte der Menschen, die sich innerhalb des Relativismus von Ursache und Wirkung abspielt, im Realismus der Potenz, die zum Akt wurde, im Dualismus der natürlichen Ethik, die einen Gegensatz zum menschlichen Egoismus bildet. 16. Der Staat nimmt teil, ist ein aktives Organ, das höchste natürliche soziale Organ in dieser dynamischen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft in Raum und Zeit, in dieser ständigen Verwirklichung des Lebens der Menschen. Als solcher ist auch er ein ethisches Organ, oder besser gesagt hat er, wie alle natürlichen sozialen Organe, ethische Funktionen, vor allem die Familie. Denn der Staat kann als politische Organisation der Gesellschaft nicht anders, als sich auf moralische Elemente zu stützen, die das Substrat des Rechtes darstellen. Dieses ist im Laufe der harten Geschichte der Völker entstanden, wie ein dauerhaftes Gesetz der Beziehungen, das angepasst werden kann und verbesserungsfähig ist, aber dennoch aus der Natur hervorging. Genau wie das physische Gesetz der Körper nicht geleugnet wird, ein absolutes und gleichzeitig relatives Gesetz, ein dauerhaftes Gesetz, sowohl in der Spezifizierung als auch in der Transformation der Körper (die natürliche Ursachen hat oder durch Kunst und Wissenschaft mit immer neuen Kausalbeziehungen entsteht), so kann man auch nicht leugnen, dass aus dem grundlegenden und natürlichen Gesetz des Menschen, dem Erhalt des Einzelnen und der Art (individuelles und kollektives Leben), der wesentliche Grund der natürlichen Beziehungen – von den elementarsten bis zu den komplexesten – entsteht, die im Wort des heiligen Paulus kurz gefasst werden: ut sobrie (gegenüber sich selbst) et juste (gegenüber den anderen) et pie (gegenüber Gott) vivamus in hoc seculo.e Wenn man diesem Naturgesetz in seiner Dynamik folgt, erreicht man die vielschichtigste und vollständigste Organisation des gesellschaftlichen Lebens. Das Fundament der menschlichen Beziehungen liegt in der Gerechtigkeit und Nächstenliebe, in Ethik und Recht zugleich, und ihre Organisation basiert auf dem Gleichgewicht zwischen Autorität und Freiheit. Dies sind keine Idealtypen, sondern tatsächliche und dauerhafte Werte. Wie auch immer die Entwicklungsstufe eines sozialen Kerns, seine Kultur, die Entwicklung seiner Wirtschaft und seine politische und militärische Bedeutung ist; was auch immer die Regierungsformen sind, die den Bedingungen der bestehenden und sich entwickelnden Zivilisation entsprechen: In keinem Staat können die ethischen Bedingungen seiner rechtlichen Verfassung fehlen, weil sie aus dem Naturgesetz hervorgehen, das dem Menschen als vernünftigem, politischem und sozialem (was in diesem Fall das Gleiche ist) Tier e

Die „Gnade Gottes […] leitet uns an, von der Gottlosigkeit und den weltlichen Lüsten uns loszusagen, besonnen, gerecht und fromm in dieser Zeit zu leben“. Neues Testament, Apostelgeschichte, Brief an Titus, 2,11.

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innewohnt; und je mehr diese ethischen Bedingungen zu einer gelebten Realität werden, desto besser erfüllt der Staat seine Funktionen, vor allem seine rechtliche Funktion zum Schutz und zur Gewährleistung der privaten und öffentlichen Beziehungen und zur Verbesserung der Sitten. Eine solche ethische Funktion des Staates ist nichts anderes als eine natürliche Ableitung seiner Daseinsberechtigung und der Ziele, die in einer geordneten Gesellschaft erreicht werden können; nicht weil der Staat das Recht und die Moral erschafft, sondern weil er diese faktisch auf politischer Ebene konkretisiert. Diese Konkretisierung entspricht jenem Komplex aus Kultur, Glauben, Bräuchen, Traditionen, Bewertungen, Interessen, sozialem Umfeld und moralischem Klima, den die Geschichte eines Volkes nicht nur im kollektiven Bewusstsein ansammelt, sondern den sie unbewusst in derselben psycho-physischen Struktur jeder Rasse und jedes Individuums am Leben erhält. Je höher dieses kollektive Bewusstsein entwickelt ist und je ausgeprägter der Sinn für Solidarität ist, je verbreiteter die Kultur ist, je mehr sich das Volk an der öffentlichen Regierung beteiligt und je anerkannter die ethischen Werte sind, desto fortschrittlicher ist die Nation, desto besser ist der Staat organisiert und umso mehr entspricht er den allgemeinen Bedürfnissen. 17. Aus dieser historischen Warte verfälschen diejenigen das allgemeine Bewusstsein der gegenwärtigen Epoche, die es aus dem Kontext der griechisch-römisch-christlichen Zivilisation, welche die große Tradition aller zivilisierten Völker bildet, lösen und im Gegensatz zu dieser sehen wollen. Und wenn sich diese Zivilisation seit mehr als einem Jahrhundert in einem rationalistischen Klima entwickelte, ließ sie doch immer den Einfluss spüren, den drei Jahrtausende in uns hinterlassen haben: Unser Zivil- und Strafrecht hat sich weiterentwickelt, aber es verleugnet seine Ursprünge nicht; die natürliche Ethik wird von der Tradition ausgedrückt, obwohl bestimmte moralische Werte geschwächt werden; die verfassungsgemäße Entwicklung der liberalen Institutionen setzt eine ethische Tugend voraus, die im Christentum enthalten ist. Im politischen Leben gibt es viele Kräfte, die das Siegel der christlichen Zivilisation und insbesondere des Katholizismus tragen. Die Kirche – als Tradition der Kultur, der Kunst und des Einflusses auf die Institutionen und auf die Wirtschaft – lebt auch dort, wo sie verjagt wurde. All dies stellt eine moralische und gesellschaftliche Stärke dar, denn es ist Geschichte und Realität. Die rationalistische Revolution wollte eine neue Ordnung schaffen und die vorherige aufheben. Sie glaubte, sie könne für das neue Staatsgebäude Tabula rasa machen, aber die Traditionen unserer Zivilisation leben in den Trümmern zerstörter Dinge fort. Und während das Neue je nach dem Rhythmus der Bedürfnisse und Anforderungen eines gesellschaftlichen und politischen Lebens, das seinen Wirkungsbereich erweitert hat, in das Alte mündete, wur-

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den die Elemente der Zivilisation wieder in einem unauflöslichen historischen Zusammenhang miteinander vereint, während die ewigen Energien des Lebens im Körper der Gesellschaft unabhängig oder sogar gegen den Staat wirken. Denn als bestehende Organisation kann dieser mehr oder weniger Ausdruck der Zivilisation eines Volkes sein und folglich seine Organe verändern und seine Gesetze weiterentwickeln, um eine immer größere Anpassung an den Rhythmus der Zivilisation und eine vollständigere Assimilation der sozialen Energien zu erreichen. In diesem historischen Schmelztiegel können die ethischen Werte besser oder schlechter ausgedrückt und in ihrer politischen Auswirkung geregelt werden. Der kollektive Instinkt und die menschliche Fähigkeit zur Perfektionierung erzwingen, dass das Bemühen um eine bessere Anpassung ewig und konstant ist und die entferntesten Gegenden erreicht, in denen es Siedlungen und Leben gibt. Bei diesem gesellschaftlichen Streben nimmt jede spontane oder reflektierte Energie, gleich ob diese individuell oder organisch ist, ihren Platz ein und ihren Wert an. Der Staat als höchster natürlicher organisatorischer Ausdruck der menschlichen Gesellschaft bringt diese Energien zum Ausdruck, wertet sie auf, koordiniert und regelt sie, und zwar nicht in ihrer unabhängigen oder persönlichen Vernunft (Freiheit), sondern als Ausdruck der öffentlichen oder privaten Beziehungen, die von einer Regel (Gesetz) eingeschränkt und gewährleistet werden. *** 18. Nachdem die ethische Funktion des Staates so genau erklärt wurde, ist die Antwort für diejenigen, die Angst vor Auflösung und Schwächung haben, implizit und klar: Es gibt keine Auflösung, wo es kein Durcheinander und keine Unterschlagung der wesentlichen Faktoren gibt. Das Übrige wurde hinzugefügt oder von der Vorherrschaft jenes Organs usurpiert, das den Willen zum Gesetz und das Gesetz zum Ausdruck der Macht machen kann. Deshalb richtet sich der Kampf der Popolari heute gegen den zentralistischen, monopolistischen, bürokratisierten absoluten Staat. Nicht um diesen aufzulösen, sondern um ihn einzuschränken im Sinne einer Gleichheit mit der nationalen Gesellschaft, die nach der Erlangung der Einheit das Unbehagen, das Hindernis und die Lähmung der zentralistischen Organisation spürt und ihre individuellen, lokalen und spirituellen Energien im Einklang mit deren interner Dynamik besser entwickeln will. Die politischen Strömungen vertreten diesen Fluss und Rückfluss von Energien im ewigen Werden und Sich-Verwirklichen der menschlichen Gesellschaft. Für die Normalisierung des Rhythmus der Gesellschaft ist sogar eine spürbarere und manchmal außergewöhnliche Anstrengung der Parteien

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bis hin zu revolutionären Formen (die Nachkriegszeit brachte ein Klima der Gewalt mit sich) erforderlich, aber die allgemeinen Ideen beugen vor oder bilden als Beweggründe und Regulatoren eine Synthese der Ereignisse. In der Rede, die ich in Florenz gehalten habe (Januar 1922), erwähnte ich die drei antistaatlichen Strömungen: den Sozialismus, den Popolarismus und den Faschismus. Letzterer hat sich als Methode und als Regierung durchgesetzt; er zeichnet sich (wie die Nationalisten) dadurch aus, dass er eine antidemokratische Partei ist. Hat er seinen Ursprung in der Art und Weise und Intensität der Reaktion, das heißt der Leugnung der potenziell demokratischen und konstitutionellen Prinzipien, die in Italien mit unserer nationalen Einheit erworben wurden? Das Werk der Befreiung des Staates von sämtlichem Ballast, den der oft demagogische demokratische Parlamentarismus unter dem Druck der Sozialisten geschaffen hatte, ist nützlich – das stimmt –, um lästige Hindernisse aus dem Weg zu räumen, aber die partiell getrübte Wahrnehmung der Krise, die Angst, den Staat zu schwächen und vielleicht auch die Überbewertung der politischen Macht führen nicht nur dazu, eine stärkere administrative Zentralisierung zu bevorzugen, sondern auch zu dem Versuch, institutionelle Reformen im antiliberalen Sinn durchzuführen. Es kann noch nicht mit Sicherheit behauptet werden, dass dies die Konzeption des faschistischen Staates ist, weil der Faschismus mehr eine Methode als ein System ist; aber im Verhältnis der Methode zum Gegenstand der Aktionen dieser Methode spürt man den Herrschaftsinstinkt, der vereinnahmen und zentralisieren will, um dem politischen Leben den eigenen Rhythmus aufzuzwingen, und das ist eine logische Konsequenz. Dass dies zur Einschränkung der Freiheiten führt, als Form, die eher praktisch als theoretisch ist, lässt sich in einer Zeit des Umsturzes erklären, aber die öffentliche Meinung scheint noch nicht wahrgenommen zu haben, dass man außerdem die konstitutionelle Regierungsform ändern möchte. Man kann gewiss nicht behaupten, der Faschismus vertrete eine neue Klasse und eine neue Wirtschaft, er mache eine eigene Politik und schaffe folglich eine Philosophie, die diese Politik in neuen Institutionen aufwertet. Eine der wesentlichen Grundlagen staatlicher Ordnungen ist das Stadium der Struktur und der ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft. Die Großindustrie und die Geschwindigkeit des Handels machten die großen Staaten erforderlich und haben dazu beigetragen, den Lebensstandard und das kulturelle Niveau der Volksmassen so anzuheben, dass diese zu notwendigen Teilnehmern am nationalen Leben wurden. Die absolute Regierungsform des zaristischen Russlands konnte, ungeachtet aller Versuche, diese abzumildern, nicht nach Europa exportiert werden. Heute stürzen die von Krisen erschütterten Wirtschaften der besiegten

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Staaten in die Anarchie oder destabilisieren die Regierungen, sodass Versuche möglich sind, die Restauration genannt werden und sogar zu mehr oder weniger verhüllten Formen der Diktatur und des Absolutismus neigen können. Man muss die napoleonische Zeit unter diesem Aspekt als Folge der Französischen Revolution untersuchen. Aber wenn ein Volk über eine echte moralische Form verfügt (welche die Synthese aller aktiven Kräfte innerhalb des Staates und an dessen Grenzen ist), reagieren die Ideale, die geistigen Errungenschaften, die historischen Gründe und die kollektiven ökonomischen Interessen entweder, indem sie sich in neue politische Formen einfügen, oder indem sie diese im Kampf für weitere Veränderungen überwältigen. Italien hat deshalb – wenn es heute auch selbst eine wirtschaftliche, moralische und institutionelle Krise durchmacht – nicht seine ökonomische Struktur verändert, es hat weder die inneren Elemente seiner Entwicklung verändert, noch die Daseinsberechtigung seiner Verfassung verloren: die Demokratie im Sinne der Regierung des Volkes. Die Orientierung des Staates muss sich ändern, das Übermaß und die nachlassende Funktionalität des Staates müssen zusammen mit den politischen Bräuchen des Landes korrigiert und erneuert werden, damit die spirituellen, ökonomischen und politischen Werte besser genutzt werden und den lebenswichtigen Bedürfnissen unseres Volkes besser entsprechen. Der Kampf, den der Partito Popolare vor vier Jahren für die Staatsreform begonnen hat – der in den Qualen der Nachkriegszeit gärt und seinen Ausdruck in der Wirtschaftskrise und in der politischen Krise findet, ein Kampf, der sich auf ein organisches Programm mit eindeutigen Zielen stützt –, traf in einer vom Bolschewismus beeinflussten Nachkriegszeit und der darauffolgenden faschistischen Reaktion auf Hindernisse, zum Großteil auf wirtschaftlichem Gebiet, während er notwendigerweise politisch und moralisch zugleich war. Nachdem er an die Macht gekommen ist, gibt der Faschismus (zumindest im Zentrum) die gewalttätige Methode auf, die ihn effizient gemacht hat, und bemüht sich, bei seinem Wirken als Regierung genügend Zustimmung zu bekommen, um tatsächlich eine moralische Kraft sein zu können, die für Reformen und Erneuerung steht. Unsere Krise ist tiefgehender als jede Haltung und jede Position der Parteien; und sie kann nur mit intensiver und anhaltender Arbeit überwunden werden, mit entschlossenem Engagement und einem kollektiven Einsatz, die von einem Rettungsinstinkt auferlegt werden. Niemand kann sich anmaßen, ein Monopol auf diese autogenetische Tätigkeit zu haben, niemand kann mit dem lebensnotwendigen Prinzip identisch sein: Sowohl die Zusammenarbeit der Kräfte als auch der Kampf der Gegensätze ist zum Zwecke der Regenerierung nützlich. Die Stimme der Minderheiten ist oft wirksamer als der Beifall der

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Mehrheit. Für die organische Vitalität ist die reductio ad unum erforderlich, für den Wert der Freiheit braucht man die coexistentia plurium.f 19. In den Kritiken an meinen Reden wurde mehrmals vermutet, ich forderte, dass die Regeneration unseres Landes von der schematischen und äußerlichen Reform der staatlichen oder dezentralisierten institutionellen Organe ausginge. Daher werde meine Reform formalistisch, nicht tiefgehend und folglich auch nicht regenerierend sein. Wer dieses Buch ohne Vorurteile liest, wird das Bemühen erkennen, eine Gesamtheit aus Substanz und Form, innerem Wert und äußerer Hülle, einem dynamischen Prinzip und organischer Stabilisierung zu bilden. Die Staatsreform beginnt von unten als Konsens, Kampf, Dynamik; sie kommt von oben als Verwirklichung; sie kommt ausgedrückt und zusammengefasst als spirituelle Tendenz aus dem Innern; und sie wird auf die vorübergehende Situation der führenden politischen Aktion übertragen und daran angepasst. Man kann nicht völlig von der Form absehen, das heißt von der zentralen und peripheren institutionellen Organisation und dem geordneten und hie­rar­ chischen äußeren Ausdruck der gesellschaftlichen Institutionen; und es ist töricht zu denken, dass man eine bloße moralische und innere Reform durchführen könne, ohne dass diese die Natur, die Grenzen und die grundlegenden Formen der öffentlichen Einrichtungen berührte. Es stimmt jedoch auch, dass sich die spirituelle Orientierung sowie der ethische und soziale Inhalt der nationalen Aktivität ändern müssen. Und dies ist der Wirkungsbereich, in dem sich die Tätigkeit der Popolari am intensivsten entfaltet hat und entfaltet; meine Reden erläutern nur die theoretischen und praktischen Richtungen. Zu dem oben dargelegten doppelten Sinn der Staatsreform gesellt sich heute ein kühnes Experiment, dem es nicht an Zustimmung fehlt, aber wegen des Zweifels – nicht so sehr an den Männern und Methoden, sondern an den Leitideen – fehlt die Überzeugung des Intellekts. Wir lehnen es ab zu glauben, dass man zu einem verhüllten Absolutismus, einer beherrschenden Oligarchie oder zu einem ökonomischen Konservativismus tendiert. 20. Ein ständiges Merkmal des Faschismus ist die Aufwertung des Nationalen: Wenn dies eine bessere Anpassung der Gesellschaft an ihre inneren Werte anzeigt, vermischt es sich mit der Aufwertung des Staates; wenn dies den Kampf gegen die der Zersetzung dienenden Elemente wie die anarchischen Parteien anzeigt, ist dies ein Rückfall in die politische Position der Parteien

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Sturzo betont die gleiche Bedeutung einer organischen und einer pluralistischen Konzeption des sozialen und politischen Lebens. Einerseits ist die Verringerung der sozialen und politischen Vielfalt (reductio ad unum) erforderlich, um eine organische Einheit zu erhalten, andererseits bedarf es der Erhaltung des Pluralismus (coexistentia plurium), um die Freiheit angesichts der organischen Dimension zu bewahren.

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gegenüber dem allgemeinen Gesetz (niemand denkt an Ausnahmegesetze außer für den Fall, dass der Staat oder die Ordnung in Gefahr sind); wenn sich dies auf die Beziehungen zu anderen Staaten bezieht, deckt es sich mit den Richtungen der Außenpolitik. Unter diesem dreifachen Aspekt ist es sicher, dass sich das nationale Streben, traditionelle Institutionen und politische Positionen sowohl im Inland als auch im Ausland zu erhalten, mit dem historischen Wert eines Volkes, mit seiner eigenen Tradition, mit seiner Vorstellung von der eigenen Autonomie und Unabhängigkeit, mit dem Bewusstsein der eigenen Aufgabe und der Daseinsberechtigung als Zivilisation identifiziert. Die moralische, kulturelle und ökonomische Entfaltung, die Entwicklung freier Institutionen und dieselbe physische Natur der Bevölkerung müssen mit allen Mitteln geschützt werden; je mehr sich ein Volk seiner Stärke bewusst ist, desto mehr nimmt es am gemeinschaftlichen Leben teil, wenn dieses Leben überall bekannt gemacht wird. Zuerst gab es Königreiche; die Nationen als politische Einheiten sind ein Produkt der Demokratie, das heißt der Regierung des Volkes. Unter diesem Gesichtspunkt müsste der Nationalismus den Imperialismus ablehnen, denn wenn vorausgesetzt wird, dass jede zivilisierte Nation, die ihre Entwicklungsstufe und ihre Unabhängigkeit erlangt hat, das Recht hat, sich selbst zu regieren und sich aufzuwerten, muss man folglich das gleiche Recht auch jeder anderen Nation zuerkennen, die diese Stufe erklimmt oder erreicht und sich im gleichen Sinne entwickelt. Der Imperialismus als Herrschaft über zivilisierte Völker oder besser: Völker, die sich ihrer selbst bewusst sind, bedeutet die Unterdrückung des Nationalismus anderer. Die hoch entwickelte Zivilisation kann Schweden von Norwegen und Irland von England trennen, Polen und Böhmen wiederherstellen, aber sie lässt nicht zu, dass Frankreich Deutschland zersplittert und verschleierte Annexionen versucht oder dass Russland eine Rückeroberung Polens anstrebt. Aber der Faschismus kann dadurch, dass er sich mit dem Nationalismus zusammengeschlossen hat und fast mit diesem verschwimmt, die Staatsreform gefährden, und zwar aufgrund jener panischen Geisteshaltung, die vom pantheistischen demokratischen Staat zur vergöttlichten Nation führt, welche Ausdruck aller äußeren und formellen, inneren und spirituellen Kräfte ist. Auch die Außenpolitik, die vom Standpunkt eines verschärften Nationalismus aus betrachtet wird, kann infolge abenteuerlicher Militärbündnisse oder kapitalistischer Ausbeutung Schaden erleiden. ***

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21. Wegen der Übertreibungen eines Internationalismus, der das Vaterland leugnet, weil er es mit der bürgerlichen oder kapitalistischen Gesellschaft gleichsetzt, neigen heute viele dazu, jegliche internationale Bewegung abzuwerten und zu bekämpfen. Nun kann man aufgrund der Tatsache, dass der Staat keineswegs die gesamte Gesellschaft ist, nicht abstreiten, dass innerhalb der Grenzen der moralischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Ziele der Gesellschaft eine Gemeinschaft zwischen Personen und Organismen aus verschiedenen Staaten zulässig ist (es versteht sich, dass der Fall von kriegführenden Staaten zum Zweck der Verteidigung ausgeschlossen ist). Deshalb kann man heute keinen Kontakt verweigern. Ich beziehe mich dabei nicht nur auf die religiöse, intellektuelle und wirtschaftliche Ebene, sondern auch auf die Politik. Es gibt Gefahren; gewiss, alle inneren und äußeren Angelegenheiten der Menschen sind mit Gefahren und Mängeln verbunden, selbst Zusammenschlüsse in der Wirtschaft; ein Öl- oder Erdöltrust oder eine internationale Bank können in einem bestimmten Moment nicht mit den Interessen der Allgemeinheit übereinstimmen. Aber die positiven Auswirkungen dieser menschlichen Interferenzen und Kontakte für die Gesellschaft sind sehr groß. Sonst wäre das Christentum niemals aus Judäa herausgekommen; die Wissenschaft wäre nicht universell geworden; die Wirtschaft wäre zwischen den staatlichen Grenzen erstarrt. Sogar unser Risorgimento hätte nicht über die Mittel und Kontakte zum Zweck der Einigung verfügt. Heute werden die Internationalen der Arbeiter bekämpft; und das, was diese an antistaatlichem Inhalt aufweisen, also was gegen die Gesetze und die öffentliche Ordnung verstößt, kann ein Grund für bestimmte Maßnahmen sein, aber der Kontakt der Arbeiterfamilie kann ebenso wenig verweigert werden wie der Internationalismus der Industrie oder der Landwirtschaft. 22. Die menschlichen Kräfte tendieren zum Unendlichen; und ebenso wie sie sich in der Zeit mit dem unlösbaren Zusammenhang von Ursache und Wirkung in Richtung Zukunft strecken, als ob das Leben der Individuen, die sich in den Generationen verewigen, nie enden würde, so neigen sie im Raum dazu, sich mit der größten Zahl von Beziehungen und Kontakten auszudehnen, in einer Wechselwirkung von Gedanken und Aktivitäten, als ob es keine Grenzen gäbe. Doch es gibt Grenzen: Sprache, Rasse, Interessen, Religion, Kultur, Politik. Der Instinkt gebietet, dass die Grenzen weder aufgehoben noch verletzt, sondern im Rahmen der Möglichkeiten der größeren Gemeinschaft überwunden werden. Die moderne internationale Tendenz findet ihre Ursprünge und Stärke in einer größeren Demokratisierung der Nationen: Das zentrale Arbeitsamt von ­Genf g g

Sturzo bezieht sich hier auf das 1919 gegründete Internationale Arbeitsamt in Genf, das als Sekretariat der Internationalen Arbeiterorganisation fungiert. Siehe: http:// www.ilo.org/global/about-the-ilo/history/lang--en/index.htm; 12.8.2018.

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ist ein Versuch der internationalen Normalisierung der Strömungen der Arbeiter; der Völkerbund ist, obwohl er nicht über Autorität oder unabhängige Sanktionen verfügt, Ergebnis der Entwicklung eines historischen und idealen Prozesses von einer gewissen Bedeutung. Aber auch wenn man dem pazifistischen Idealismus und den demokratischen Strömungen viel zugesteht, muss man zugeben, dass der Völkerbund im kollektiven Bewusstsein noch nicht gefestigt genug ist, um ihm Autorität zu verleihen; denn während es ein dauerhafter Versuch bleibt, die Probleme der zwischenstaatlichen Beziehungen von Vertretern und Diplomaten, Wissenschaftlern und Interessierten prüfen zu lassen, wird die Bedeutung der tragenden Elemente nicht übertroffen, und folglich wird daraus kein unabhängiges und verantwortliches Organ der Synthese. Die historisch realen oder möglichen internationalen Kräfte sind die Kirche, eine religiös-moralische Kraft, und das Imperium, eine politisch-militärische Kraft. Das Volk, das als politische Kraft im Zuge der demokratischen Entwicklung an Bedeutung gewann, überschreitet noch nicht die Grenzen der Nation und zeigt sich nicht im internationalen Spiel der reductio ad unum, das heißt der Wertschätzung eines höheren Organismus. Wird es dies in Zukunft werden und wird die Nachwelt ein mittleres Zeitalter des Volkes erleben, in dem es eine Kraft gibt, die jener des Bischofsstabes und des Schwertes entspricht? Als die Reformation die Einheit des Bewusstseins und des Denkens des europäischen Volkes sprengte, zerstörte sie jede Möglichkeit einer internationalen politischen Union und schuf die absolute Regierung und die Monarchien. Als die Französische Revolution das rationalistische Schisma sanktionierte, zerstörte sie jede Möglichkeit eines internationalen moralischen Bündnisses und führte zu den nationalen Regierungen. Heute hat der Krieg auch die ökonomische Solidarität zwischen den Völkern zerstört: Vergeblich wird nach einem demokratischen internationalen Frieden gesucht. Wird der Weg für eine nicht formelle Einigung der zivilisierten Völker wieder eingeschlagen? Die Geschichte hat ihre Lösungen und Bewegungen. Man sagt, dass die europäische Zivilisation nach Amerika auswanderte, weil sich dort die Reichtümer der Welt anhäuften. Man sagt, Amerika werde zum strahlenden Zentrum dieser großen historischen Zivilisation (die sich mit dem Christentum deckt und von ihm durchtränkt ist), die als Ausgangspunkt Europa und als Zentrum Italien, den Sitz des Papsttums, hatte und die alte asiatische Welt und jene neue Welt in Australien polarisiert. Man sagt, so wie die großen asiatischen Zivilisationen, so wie die ägyptische und die griechische Zivilisation dem römischen und dem christlichen Europa wichen, so erschöpft sich dieses und weicht Amerika. Vielleicht kann sich diese Umkehrung im Bereich der Wirtschaft bewahrheiten, aber die europäische Zivilisation ist im Wesentlichen katholisch, und diese Kraft der ethischen, kulturellen und spirituellen

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Erneuerung hat ihren Hauptsitz in Rom und weiß noch immer zu vereinen und zu polarisieren. Und sie wird auch dann eine Lebensquelle bleiben, wenn die ökonomische Katastrophe zur Verrohung führt. Die religiöse reductio ad unum bleibt in den tragischen Stunden Europas bestehen, auch wenn jegliche ökonomische und bürgerliche Solidarität zerstört wird. Das Unrecht des geeinten Italiens war es, unser Land von der katholischen Vitalität als gelebte Idee und als politische Richtung trennen zu wollen. Indirekt wurde sogar der Versuch einer deutschen oder angelsächsischen Protestantisierung unterstützt. Der Antiklerikalismus der Freimaurer war für lange Zeit beinahe Ausdruck des neuen Staates, aber sicher nicht des Landes. Diese Zeit ist überwunden, obwohl die rechtliche Frage des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat nicht gelöst wurde. Ein weiterer Fehler wäre der Versuch, aus der Religion ein Regierungsinstrument zu machen oder die praktische Unabhängigkeit der Kirche einzuschränken und so einen Vorwand dafür zu schaffen, sie glauben zu lassen, sie sei mit bestimmten herrschenden Klassen verbündet. Die Kirche – außerhalb jedes politischen Kampfes und jeder Form der Regierung – leistet Italien in ihrer Funktion als spiritueller Mittelpunkt der katholischen Welt (was im Sinne des Evangeliums die ganze Welt bedeutet) einen ungeheuren Dienst. Sie lässt das Land indirekt auf moralischer Ebene an ihrem Einfluss teilhaben und entwickelt eine Übereinstimmung der Lehre und der kulturellen, künstlerischen und spirituellen Einstellungen, die nicht untergehen. Wann wird die Geschichte in der Lage sein, die internationalen Kräfte der zivilisierten, das heißt der christlichen Völker zu vereinen?

III. 23. Der Popolarismus im Allgemeinen möchte in Europa und vor allem in Italien – auch außerhalb einer konkreten parteipolitischen Tätigkeit – eine praktische Umsetzung dieser theoretischen und historischen Konzeption des Staates innerhalb der politischen Gegebenheiten des Landes sein. Der italienische Popolarismus ist vom Klima der Nachkriegszeit geprägt und hat folglich seine Staatsreform und seine politischen Leitlinien im Kampf gegen den Sozialismus und gegen die liberale Demokratie definiert. Die Handlungen, die den kollektiven Gedanken der Partei am besten ausdrücken, sind die „Appelle“, die im Anhang aufgeführt werden:5 Sie reichen von der ersten Erklärung gegen den zentralisierenden Staat, die klar und knapp ist, bis zu 5

Hier werden sie weggelassen, mit Ausnahme derer, die im ersten Teil enthalten sind.

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den konkretesten Beschreibungen dieser programmatischen Ideen im Zuge des politischen Kampfes. Ich habe mich bemüht, diesen Vorgaben mit meinen Reden eine historische und kämpferische Interpretation zu verleihen. Die erste Rede, „Ökonomische Krise und politische Krise“, wurde im Oktober 1920 in Mailand gehalten, das war kurz nach der Besetzung der Fabriken und dem härtesten bolschewistischen Experiment, als Giolitti versucht hatte, die neutralistische Linke mit einer Untersuchung über den Krieg und die finanziellen Maßnahmen zu zähmen. Es handelt sich um eine Analyse der allgemeinen Bedingungen im Land in der Nachkriegszeit, als die ersten Versuche unserer Aktivitäten unternommen wurden. Ich verdeutlichte die politische Position des Partito Popolare Italiano gegenüber dem aufdringlichen Sozialismus und im Verhältnis zum hypertrophen und geschwächten Staat während der wirtschaftlichen und politischen Krise. Die zweite Rede, „Parlament und Politik“, die anlässlich des politischen Wahlkampfs im Mai 1921 gehalten wurde, erklärt die Funktion des Parlaments und das Programm. Es ist die polemischste Rede, und sie konkretisiert noch stärker die unabhängige Position des Partito Popolare Italiano und seinen Einsatz für die Staatsreform, die auf den ökonomischen, organischen und moralischen Freiheiten beruht. Die dritte Rede, „Die Region und die lokale Eigenständigkeit“, wurde im Oktober 1921 auf dem dritten nationalen Kongress der Partei in Venedig gehalten. Darin werden die Ideen, die schon in den anderen Reden verkürzt oder als Voraussetzung dargelegt wurden – in Bezug auf die Natur und die F ­ unktion der Region und der anderen lokalen Einrichtungen – im Zusammenhang mit einer Reform erklärt, welche die Popolari gegen die vorherrschende Vorstellung vom staatlichen Zentralismus verteidigen. Die vierte Rede, „Krise und Erneuerung des Staates“, die im Januar 1922 in Florenz gehalten wurde, untersucht erneut dasselbe Problem der Staatskrise und deren intellektuelle, moralische und historische Faktoren; und im Vergleich konkreter Bewegungen wie dem Sozialismus, dem Faschismus und dem Popolarismus entwickelt sie eine nicht nur formelle, sondern substan­ zielle Synthese der Lehre der Popolari und erläutert die Verbindung zwischen Politik und Wirtschaft. Diese Rede sollte zu den sich überstürzenden Ereignissen Stellung nehmen.h Die Turiner Rede vom Dezember des vorherigen

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Sturzo nimmt vermutlich Bezug auf den politischen Prozess, der in Richtung des Faschismus wirkt. Sinnbildlich dafür stehen die Wahlen vom 15.5.1921, die den Faschisten 35 Abgeordnete in der Abgeordnetenkammer verschafften. Im November 1921 gab der Faschismus offiziell seine Struktur als Bewegung auf und konstituierte sich als Nationale Faschistische Partei. Siehe dazu Denis Mack Smith, Storia d’Italia

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Jahres, „Revolution und Rekonstruktion“, kann als Fortsetzung der vorhergehenden betrachtet werden, unter Einbeziehung des neuen Aspektes, dass der Faschismus an die Macht gekommen ist und der Ursachen des revolutionären Ereignisses vom historischen und politischen Standpunkt aus. Das Programm der Popolari für den Wiederaufbau beruht auf der Staatsreform, der finanziellen Sanierung, den öffentlichen Freiheiten, der politischen Aufwertung und der spirituellen Einigung. Ich habe schließlich eine Rede hinzugefügt, die einen besonderen Charakter zu haben scheint, „Der Mezzogiorno und die italienische Politik“, in diesen Tagen in Neapel gehalten. Tatsächlich aber handelt es sich um eine Rede über Politik im Allgemeinen, sowohl unter dem Aspekt der Organisation des Staates (im praktischen Bezug auf die allgemeinen Leitlinien der Popolari) als auch unter dem Blickwinkel der politischen Realität in Italien (das Problem Süditaliens ist ein nationales Problem) und der allgemeinen Ausrichtung der Außenpolitik. Der Versuch politischer Synthesen in Bezug auf bemerkenswerte Ereignisse oder bestimmte Situationen kann nie eine vollständige Beurteilung einer historischen Epoche leisten, ebenso wenig eine systematische Entwicklung eines konkreten Reformprogramms, als ob es eine theoretische Abhandlung wäre. Er liefert hingegen den Abriss des gelebten Lebens, der ausgearbeiteten Lehre und der Vision, wie man in der Unruhe des Kampfes und der Leidenschaft der politischen Auseinandersetzungen auch mit den praktischen Zielsetzungen des Augenblicks urteilen und argumentieren kann. Aber die einzigartige programmatische Linie, der identische theoretische Hintergedanke, die unmissverständliche realistische Vision und das vorher festgelegte Ziel sind – egal welche Schwierigkeiten und Schwankungen es gibt – sichtbar auf allen Seiten dieser Reden, die ein Versuch sein wollen, den „Popolarismus“ als Theorie und als Lebensweise zu erklären. 24. Wie viel bleibt vom politischen und polemischen Inhalt dieser Reden nach dem Aufkommen des Faschismus? Das ist heute die häufigste Frage derjenigen, die die politischen Phänomene spüren, aber deren tiefere Ursachen und ungeahnte Auswirkungen nicht kennen. Der kollektive Instinkt ist derart: Sobald er eine Lösung erahnt, klammert er sich an diese, als ob das Leben statisch und nicht dynamisch wäre, und

dal 1861 al 1997, Rom 2008, S. 395–414. Zur Machtergreifungsphase des Faschismus siehe Giuseppe Galasso, Die Umgestaltung der Institutionen. Das faschistische Regime in der Machtergreifungsphase. In: Jens Petersen/Wolfgang Schieder (Hg.), Faschismus und Gesellschaft in Italien: Staat – Wirtschaft – Kultur, Köln 1998, S. 19–47.

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ruft: Hic manebimus optime! i Eine Lösung (wenn sie auch groß und nie vollständig ist) führt zu einer neuen Position, die eine andere Lösung haben wird und so weiter; kein Element verflüchtigt sich, ohne dass es zu einem neuen Ferment des Lebens wird; keine Kraft erschöpft sich, ohne dass sie bewusst oder unbewusst genutzt wird. Die Frage ist eine andere: Entspricht der Popolarismus bestimmten Punkten der politischen Realität? Hat er die Kraft, logische Lösungen anzubieten? Können diese Ideen in der Realität verwirklicht werden? Wenn die Idee stark ist, lebt sie ihr Leben, auch wenn eine bestimmte politische Organisation, die sie zum Ausdruck bringt, unter den wechselhaften Kämpfen und unter der Macht der Ereignisse zu leiden hat. Die Idee (wenn sie eine solche ist) stirbt nicht; sie dringt in andere Systeme ein, spielt mit anderen Kräften, erzeugt weitere Spezifikationen, bricht sich in anderen vorherrschenden und unmittelbaren Ideen, mischt sich mit Gefühlen, wird zum Grund für Auseinandersetzungen und nimmt ihren Lauf. Sie verschwindet, kehrt zurück und findet den richtigen Moment für ihren Triumph. Der Popolarismus existiert als politische Synthese in Italien erst seit vier Jahren und trat als christdemokratische Anschauung 1896 in Form eines christlich-demokratischen Versuchs in Erscheinung.j Doch als christlich-soziale Bewegung in Europa ist er über fünfzig Jahre alt, und als guelfische Tradition hat er seine Wurzeln in der Lehre der Katholiken des Risorgimento.k Der Partito Popolare Italiano steht als Ausdruck und Verwirklichung dieser Lehre am Anfang. Die politischen Ereignisse werden sich nicht mehr außerhalb dieser Konzeption und dieser Kraft abspielen. Es stimmt, gestern und heute ist er nur die Stimme einer Minderheit. Der triumphierende Faschismus kann die

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Das geflügelte Wort hic manebimus optime („hier fühlen wir uns sehr wohl“) geht auf den römischen Historiker Livius zurück, der es einem Zenturio in den Mund legt. Während der römische Senat angesichts der Brandschatzung der Stadt durch die Gallier 390 v. Chr. die Verlegung der Hauptstadt erwog, habe der Zenturio seine Soldaten mit diesen Worten zum Bleiben ermutigt (Titus Livius, Ab Urbe condita, V, § 55). 1896 ist ein wichtiges Jahr für die christliche Demokratie. Die Idee einer absoluten Wahlenthaltung der Katholiken wurde graduell überwunden. Außerdem wurde die christliche Bewegung größer und organisierter. Bemerkenswert ist z. B. die Gründung der Föderation der katholischen Universitätsstudenten (FUCI) auf dem XIV. Katholischen Kongress in Fiesole 1896 durch Romolo Murri, mit dem Luigi Sturzo zusammenarbeitete. Als „Guelfen“ wurden im 13. und 14. Jahrhundert in Italien die Anhänger des Papstes bezeichnet – im Gegensatz zu den „Ghibellinen“, den Anhängern des Kaisers. „Neoguelfen“ nannte man im 19. Jahrhundert Anhänger einer katholisch geprägten Bewegung, die das Risorgimento (Einigung Italiens) in Kooperation mit dem Papsttum erstrebten. Hauptvertreter des Neoguelfismus war Vincenzo Gioberti. Vgl. Antiseri, Il liberalismo cattolico italiano; Raponi, Cattolicesimo liberale e modernità.

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Stimme der Minderheiten, die eine natürliche Funktion im gemeinschaftlichen Leben haben, weder unterdrücken noch leugnen. Aber da ist noch mehr; obwohl der Faschismus bei dem Versuch seiner Realisierung übereilt und tumultartig vorgeht und kein System, sondern eine Methode ist, übernimmt er wieder einen Teil der politischen Erfahrung, die er gemäß seiner eigenen Art zu fühlen und zusammenzufassen projiziert. Auf diese Weise sind einige der politischen Leitlinien der Popolari heute in den fieberhaften Machenschaften der Faschisten enthalten, auch wenn diese gestern implizit oder explizit von denselben Vertretern des Faschismus abgelehnt wurden. Ich nenne das Staatsexamen und die Schulfreiheit; das Ende des antiklerikalen Kampfes gegen die Kirche und ihre Lehre; die Anerkennung der gewerkschaftlichen Vereinigungen, die höheren technischen Räte, den Schulbezirk, die ökonomische Freiheit, die Abschaffung der Scheinkörperschaften und ähnliches. Der Geist, das Handlungskriterium und die Vernunft der Methode unterscheiden sich, aber die Konvergenzen und Divergenzen des Programms der Popolari, das gestern gegen die vorherrschende öffentliche Meinung gestellt (wir müssen uns in das Jahr 1919 zurückversetzen) und auf tausende Weisen wieder bestätigt wurde, sind heute offensichtlich. Das heißt (ohne die Notwendigkeit, Ursachen und Wirkungen zu schaffen), dass die allgemeinen und realen Bedingungen im Land und die Oppositionsbewegungen gegen die alten liberal-demokratischen Strukturen ähnliche Gemütszustände und Bestrebungen bewirkt haben und die Männer, die entsprechende Lösungen stützten, in Teilen keineswegs antithetische Positionen vertraten. 25. Man muss anerkennen, dass jede lebenswichtige Strömung ihre ideale Synthese hat, die – wenn sie ins praktische Leben und in den politischen Wettstreit übertragen wird – die spezifische Tätigkeit einer Partei ist. Deren Gestalt und Funktion hängen von vielen Faktoren ab, aber ihre Eigenständigkeit ist umso klarer, je spezifischer ihre programmatische Differenzierung und je größer die Übereinstimmung zwischen Lehre und Handeln ist. Das ist der Fall des Partito Popolare Italiano, der in der Planung seines Programms und seiner praktischen Tätigkeit heute weder mit dem Faschismus noch mit dem Nationalismus verwechselt werden kann; ebenso wie er gestern niemals mit der liberalen Demokratie verwechselt werden konnte, obwohl er mit den einen wie mit den anderen in einigen Punkten übereinstimmt. Es ist auch nicht wichtig, dass der Faschismus heute triumphiert und viele andere Energien absorbiert, weil die Funktion einer Partei und ihr Handeln zum Zweck der Propaganda nicht im Verhältnis zur Verbreitung, sondern im Verhältnis zur Intensität stehen. Gestern schienen alle das Wort des Sozialismus akzeptieren zu müssen. Unsere Minderheit hielt stand und bremste so die liberale Demokratie etwas, während diese sich beugte. Auch der Faschismus war eine Minderheit, und ich glaube, er ist es noch heute; doch schaffte er es,

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an die Macht zu kommen, wenn auch nur in Form einer bewaffneten Gruppe, weil er über die Zustimmung der nationalistischen Ideenwelt und der konservativen Reaktion verfügte. Heute bemüht er sich, die Regierung aller zu sein, auch wenn er noch von einem parteiischen Geist geprägt ist, und ist bestrebt, die Position der bewaffneten Gruppe zu schwächen, bis diese mit dem Staat verwechselt wird, und sich von der konservativen Reaktion zu befreien, indem er versucht, sich über die ökonomischen Gegensätze zu stellen. Auf diesen Versuch kann der Partito Popolare Italiano ausführlich und wirksam antworten, was auch an der moralischen Funktion liegt, die seiner christlichen Inspiration innewohnt. Aber was kann die praktische und politische Position des Partito Popolare Italiano im Lauf der Zeit und im Ablauf der Ereignisse sein? Solange er die programmatische Synthese und die Theorie des „Popolarismus“ vertritt, der ihm Geist und Leben verliehen hat, wird er sicher eine hohe und wirkliche Funktion im Leben des Landes erfüllen – unserer Nation, die als geeinter Staat Traditionen hat, die noch nicht verwurzelt und noch nicht alle weit entwickelt sind; und die über wenige führende intellektuelle Elemente des politischen Lebens verfügt, die ihre Ursprünge in den Quellen des Risorgimento haben, bei Cavour, Gioberti und Mazzini. Diese unsere Nation, die eine außergewöhnliche ökonomische und politische Krise durchgemacht hat und immer noch durchmacht; dieses Italien, das wichtige internationale Aufgaben hat, aber dessen ökonomische Unterlegenheit und unsichere politische Lage ihm die tatsächliche und entscheidende Bedeutung genommen haben, die es haben könnte und müsste; dieses Land muss mittels eines politischen Bemühens, das aus einer Synthese besteht und die Gesamtheit der spirituellen und materiellen Energien vertritt, erreichen, dass sein Wert anerkannt wird. An diesem Unterfangen können heute nur jene Parteien effektiv mitwirken, die ein ideengeleitetes Gewissen und feste Überzeugungen haben und unerschütterlich an ihren Werken arbeiten. Der Partito Popolare Italiano ist auf seinem Kampfplatz. Rom, 1. Februar 1923

Stammesegoismus versus Menschlichkeit

Unser „Zentrismus“ Unsere Gegner und ehemalige Freunde äußerten wiederholt und mit Nachdruck die Anschuldigung, der Partito Popolare Italiano entwickele sich nach links und sei keine Partei des Zentrums mehr.a Diese Topografie von rechts, links und Zentrum geht zurück auf eine zu grobe politische Vereinfachung, und da ihr ein genauer Inhalt fehlt, stiftet sie Verwirrung, führt zu Widersprüchen und Fehlern und formt bedauernswerte Vorurteile. Bemühen wir uns, diese wirren Ideen ein bisschen zu ordnen – vor allem, um uns untereinander zu verstehen und darüber hinaus, um die anderen zu zwingen, uns nicht falsch zu verstehen, zumindest diejenigen, die in gutem Glauben handeln, und das sind nicht wenige. 1. Wenden wir also ein Ausschlussverfahren an: Unser Zentrismus ist kein Mittelweg zwischen rechts und links, als ob man keine Stellung bezieht, oder eine Art salomonisches Urteil, ein Schwanken zwischen Theorie und politischer Praxis, das geeignet wäre, alle unzufrieden oder jeden ein bisschen zufrieden zu machen. Das wäre die Politik eines Gleichgewichtskünstlers, die sich im Grunde darauf beschränkte, nicht zu wissen, was man tun solle, „missfällig sowohl Gott als auch seinen Feinden“.b Dieses Konzept wird ausgeschlossen, sowohl weil es ein wahrer Nullismus oder ein reiner Opportunismus wäre, als auch weil ihm die logische Programmatik fehlen würde, die von einigen idealen Prinzipien und verschiedenen wesentlichen Postulaten die praktischen Gründe des Handelns und die politischen Positionen des Kampfes und der Umsetzung ableitet. 2. Ein weiterer Ausschluss: Innerhalb einer Partei, einer jeden Partei, die auch nur etwas Homogenität besitzt, das heißt die schematische Homogenität des Programms, des Statuts und der Ziele, können rechts und links nicht für zwei unbeugsame feindliche Strömungen stehen, von denen jede beansprucht, Recht zu haben und über die andere zu siegen, denn in diesem Fall würde es sich um zwei Parteien oder zwei Gruppen handeln, niemals um Tendenzen innerhalb der gleichen Partei, sei es, dass diese Tendenzen in Bezug auf allgemeine Probleme entstanden sind, sei es, dass es um mögliche Einstellungen zu bestimmten Lösungen geht.

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Vorlage der Übersetzung: Luigi Sturzo, Il nostro „centrismo“. In: ders., Opera Omnia, Seconda serie: Saggi – discorsi – articoli, Volume quarto: Il Partito Polare Italiano (Volume secondo: Popolarismo e Fascismo), Bologna 1956, S. 165–170. Zitat aus Dante Alighieri, Die göttliche Komödie, Vers 63, Darmstadt 2003, S. 21.

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Unser „Zentrismus“

3. Dritter Ausschluss: Der Zentrismus des Partito Popolare ist keine rein parlamentarische Position, die als Gleichgewicht zwischen einer reaktionären Rechten und einer sozialistischen Linken oder als einfache Ergänzung der liberal-demokratischen Regierungen dient; einer solchen Ergänzung oder topografischen Gestalt widersprechen die diversen Kombinationen und die verschiedenen Orientierungen der Parteien in den fast fünf Jahren, in denen unsere Partei existiert, die drei Jahre lang (November 1919 bis Oktober 1922) im Parlament mit der Notwendigkeit konfrontiert war, sich an allen Regierungen zu beteiligen, um eine Regierungsmehrheit zu bilden. Dabei hat sie versucht, in die verschiedenen Regierungsprogramme einige ihrer praktischen Postulate wie das Staatsexamen, die Agrargesetze, den freien Handel, die Anerkennung der Gewerkschaften, die Funktion der Bewegung der Kooperativen und Ähnliches einzubringen. Deshalb wurde unsere Fraktion von den verschiedenen Regierungsparteien, die auf die Existenz dieses dritten Störfaktors im Parlament gern verzichtet hätten, bekämpft und geduldet. Doch aus rechnerischen Gründen waren sie gezwungen, diese Partei zu suchen und ihr zu schmeicheln, um sie dann zu überwältigen. Diese parlamentarische Position kann nicht erneut auftreten, trotzdem wird unsere Partei auch im Parlament eine echte Partei des Zentrums bleiben. 4. Erklären wir nun, was wir unter Zentrismus verstehen. Für uns ist Zentrismus das Gleiche wie Popolarismus, da unser Programm ein gemäßigtes und kein extremes ist: – Wir sind Demokraten, aber wir lehnen die Übertreibungen der Demagogen ab; – wir wollen die Freiheit, aber wir widerstehen der Versuchung, einen Freibrief für alles zu wollen; – wir lassen die Autorität des Staates zu, lehnen aber die Diktatur ab, auch im Namen der Nation; – wir erkennen das Privateigentum an, aber wir bestehen darauf, dass es eine gesellschaftliche Funktion hat; – wir wollen, dass alle Faktoren des nationalen Lebens respektiert und entwickelt werden, aber wir lehnen den nationalistischen Imperialismus ab; und so weiter, vom ersten bis zum letzten Punkt unseres Programms ist keine Behauptung absolut, sondern alles ist relativ und steht nicht für sich selbst, sondern ist immer unter Vorbehalt und erreicht nie extreme Positionen, sondern setzt immer auf den Mittelweg. Diese Position ist nicht taktisch, sondern programmatisch, das heißt, sie entspringt nicht einer praktischen Position der Anpassung oder der Zweckmäßigkeit, sondern einer theoretischen Position, die auf einem Programm und auf Leitbildern beruht. Der Grund für diese theoretische Position hat seinen Ursprung in einer Voraussetzung, welche die ethische Vernunft des Lebens kennzeichnet, so wie wir sie im Licht des Christentums sehen: Wir bestreiten, dass es im heutigen Leben möglich ist, einen perfekten Zustand, eine endgültige Errungenschaft, ein absolut Gutes zu erreichen.

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Die Sozialisten sagen: Das Übel rührt von der bürgerlichen Ordnung der Gesellschaft; man muss sie stürzen, dann kommt der Novus ordo; sie sind Extremisten, denn sie vertreten einen Absolutheitsanspruch. Die Faschisten sagen: Die Nation kann nur blühen, wenn ihre Ordnung, ihre Art zu denken und ihr gesellschaftliches Leben „faschistisiert“ ist; sie tendieren zu etwas Absolutem und sind folglich auch „Extremisten“. Aus reiner Bequemlichkeit nennen wir die einen Linksextremisten und die anderen Rechtsextremisten, und dies in Bezug auf die bürgerliche Gesellschaft, aber die „monopolistischen“, „absolutistischen“ und „extremistischen“ Tendenzen liegen in der Natur ihrer Bewegungen. In der Bewegung der Popolari hingegen gibt es keine Vorstellungen über ein zukünftiges Zeitalter des Saturn, die Stadt der Sonne, das Jahr 2000, die Republik des Platon und ähnliche Optimismen, denn unser christlicher Glaube und unser historisches Bewusstsein bringen uns dazu, das derzeitige Leben als etwas „Relatives“ und nicht als etwas „Absolutes“ zu betrachten, und folglich messen wir der Ethik, auch im öffentlichen Leben, eine wesentliche Bedeutung bei. Die Ethik ist für uns eine nicht unterdrückbare Norm, und sie steht über jener, die sich „politische Vernunft“ oder „ökonomische Vernunft“ nennt; und das gibt uns den Sinn für die Relativität, welche die Probleme kontextualisiert und diese nicht als für sich selbst stehend betrachtet, als absolute Ziele, die durch eine logische Vorherrschaft und durch eiserne Gesetze erreicht werden müssen. Das Fehlen eines programmatischen und finalistischen Extremismus und eine ethische Grundlage, die sich aus dem christlichen Konzept des Popolarismus ableitet, tragen viel dazu bei, im Partito Popolare extremistische Methoden, das heißt die Verwendung von revolutionären, gewalttätigen oder illegalen Mitteln, auszuschließen. Und während alle Parteien, deren Ethik nicht auf dem Christentum beruht, in dem Sinn revolutionär werden können, dass sie die gesetzliche Ordnung mit Gewalt, ungesetzlichem Verhalten und Diktatur umstürzen, kann unsere Partei niemals revolutionär oder gewalttätig werden; und wenn sie in konkreten Fällen die Gründe erfährt, die andere dazu bewegen, Revolutionen zu machen, bleibt sie immer das, was der Parteivorstand im Appell vom 20. Oktober 1921 (im Vorfeld des Marsches auf Rom) die moralische Reserve der Nation nannte! – Immer! – Das ist die Natur und die substanzielle Grundlage unseres Zentrismus als politische Partei. 5. Aber wenn das so ist, warum wird uns dann gesagt, dass sich die Partei manchmal nach rechts, manchmal hingegen nach links entwickele? Lassen wir die polemischen Gründe beiseite, es gibt derer viele und sie nutzen immer den Gegnern. Die Sozialisten werden immer sagen, dass sich der Partito Popolare nach rechts entwickelt, und diesem Gerede entsprechend müssten wir in

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fünf Jahren die extreme Rechte erreicht haben. Das Gleiche gilt für die konservativen Liberalen und heute auch für ehemalige Freunde; nach Meinung all dieser begann die Partei gleich nach ihrer Gründung, sich nach links zu entwickeln, sodass wir inzwischen schon die Kommunisten übertroffen haben müssten: Sie sagten tatsächlich eine Zeit lang, dass wir schlimmer seien als die Bolschewiki. Die Wahrheit sieht anders aus: Während das Programm und das Wesen der Partei sowohl substanziell als auch von der Methode her eine zentristische Position entwickelten, führte die Notwendigkeit, der Partei einen Platz im öffentlichen Leben zu verschaffen und die Postulate zu verwirklichen, zu der Entstehung von etwas, was wir Kampfpositionen nennen; und es ist natürlich, dass jede Kampfposition auf diejenigen trifft, die Widerstand leisten und folglich als Gegner auftreten: Wenn es anders wäre, gäbe es keinen Kampf mehr. Als wir uns 1919 und 1920 gegen den Generalstreik aussprachen, waren unsere Gegner die Sozialisten;c als wir 1920 die Kampagne für die Urbarmachung der Latifundien und die Reform der Agrarabkommen initiierten, waren es die Großgrundbesitzer und die Konservativen; als wir 1921 den Kampf gegen die finanziellen Maßnahmen begannen, war unser Gegner Giolitti;d als wir 1922

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Das „Biennio rosso“ der Jahre 1919/20 war von unabhängigen Bauern- und Arbeiterunruhen und auch vom Versuch einiger der wichtigsten Gewerkschaften (wie der Federazione Italiana Operai Metallurgici [FIOM]) und verschiedener Arbeitervereinigungen geprägt, durch Streiks und Landbesetzungen eine grundlegende Umgestaltung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse Italiens zu erreichen. Insbesondere die Fabrikbesetzungen im August und September 1920 markieren den Gipfel der sozialen Konfliktsituation im Italien der Nachkriegszeit. Aus einem Bauern- und Fabrikkonflikt wurde in der Agitation eine revolutionäre Hoffnung. Als das Jahr 1920 endete, waren die revolutionären Erwartungen unerfüllt, der Aufruhr scheiterte. Das „Biennio rosso“ trug zur Krise der Sozialistischen Partei bei. 1921 trennte sich der linke Flügel ab, die Kommunistische Partei Italiens entstand. Siehe dazu: Giorgio Candeloro, Storia dell’Italia moderna, Band 8, Mailand 1984; Simona Colarizi, Storia del novecento italiano. Cent’anni di entusiasmo, di paure, di speranza, Mailand 2000, S. 107–116; Nicola Tranfaglia, La prima guerra mondiale e il fascismo, Turin 1996, S. 218–244. Der piemontesische Liberale Giovanni Giolitti (1842–1928) war „die“ prägende politische Persönlichkeit der letzten Jahre des 19. Jahrhunderts und des vorfaschistischen Italiens. Die italienische Geschichtsschreibung spricht von der „età giolittiana“, der Ära Giolitti. Giolitti war Finanzminister und mehrmals Premierminister. Sein politischer Ansatz beruhte auf der Neutralität des Staates, der während der sozialen Unruhen nicht direkt intervenieren sollte (z. B. gegenüber den Fabrikbesetzungen des „Biennio rosso“ oder gegenüber den ersten faschistischen Gewalttaten), und auf der Idee, dass starke und einflussreiche soziale Gruppen und Organisationen, „Feinde der Institutionen“ wie die frühe faschistische Bewegung, in das liberale parlamentarische System integriert werden sollten, um sie auf diese Weise einzubinden und zu kontrollieren. Vgl. Alexander J. de Grand, The Hunchback’s Tailor: Giovanni Giolitti and

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für das Staatsexamen waren, waren unsere Gegner die Sozialdemokraten; als wir dieses Jahr gegen die politische Wahlreform kämpften, waren unsere Gegner die Faschisten. Rechts oder links? Aber was kümmert uns die Topografie! Nennen Sie es, wie Sie wollen, aber für uns ist es ein objektiver, konkreter und logischer Kampf, der mit unseren Prinzipien, unseren Postulaten und den politischen Forderungen unserer Partei übereinstimmt. Ob im konkreten Fall eine unserer Kampfpositionen einer der politischen Gruppen des Landes nutzt oder schadet und ob sie zu einem bestimmten Zeitpunkt angemessen ist oder nicht – all das gehört zur politischen Bewertung und ist Aufgabe der Parteiführer, aber das ändert nicht die Position einer Partei, die ihrer Linie treu bleibt und versucht, ihre Ziele zu verwirklichen; sondern sie ist im Gegenteil ein Grund für die Polarisierung anderer Parteien und Gruppen, die somit gezwungen sind, unsere Positionen immer wieder neu zu bewerten. Nur so sind wir wir selbst und in der Lage zu erreichen, dass unsere Ideen und unser Programm von den anderen diskutiert und teilweise oder ganz verwirklicht werden können. 6. Einige werden sagen, wenn ein Ausdruck in den allgemeinen Sprachgebrauch übergeht, muss es einen Grund dafür geben; nicht umsonst spricht man in Italien seit langem von rechts und links: Es muss einen Grund dafür geben. Diese Beobachtung ist richtig, aber man muss die Tragweite dieser synthetischen Formel erklären. Nach dem Krieg wurden die sozialistische und auch die sozialdemokratische Bewegung, die die Erstere unterstützte, als links bezeichnet; als rechts hingegen wurden diejenigen bezeichnet, die sich dagegenstellten und dann zum nationalen Faschismus übergingen. Unsere Politik entfaltete sich zwischen diesen beiden Polen; und das dritte Element, das popolare, hätte, um sich in der so ausgerichteten öffentlichen Meinung positionieren zu können, den Graben überspringen und sich als nur rechts oder nur links präsentieren sollen; die Tatsache, dass die Partei stattdessen im Zentrum bleiben wollte, also das, was sie war, spornte die beiden gegnerischen Flügel an, sie zu begünstigen oder zu bekämpfen. Jetzt ist das ganze Problem folgendes: Ist im politischen Kampf Platz für einen dritten Begriff? Wir sagen ja, und deshalb wollen wir diesen reinhalten; dies wird jedoch heute von den Faschisten geleugnet, die uns gerne geteilt und auf eine klerikale Manövriermasse – die im Interesse der Rechten agiert – reduziert sehen würden; dies wurde und wird von den Sozialisten geleugnet, die

Liberal Italy from the Challenge of Mass Politics to the Rise of Fascism, 1882–1922, Westport 2001; Nino Valeri, Giovanni Giolitti, Turin 1971; Denis Mack Smith, Storia d’Italia dal 1861 al 1997, Rom 2008.

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uns immer die Fähigkeit, die Arbeiter zu organisieren, streitig machten; und dies leugnen teilweise auch unsere Freunde oder ehemaligen Freunde von innen und außen, die vom Morbus Filía e befallen sind, der versucht, in der Partei die Orientierung und die Stabilisierung von Tendenzen zu erreichen, die als eigenständige Gruppen immer bekämpft und abgelehnt wurden. Die Filía ist ein Morbus, der durch mangelndes Vertrauen und mangelnde Überzeugung vom politischen Sinn unserer Partei und von deren Schicksal verursacht wird. Deshalb gibt es Leute, die meinen, dass es besser wäre, dem Partito Popolare einen demokratischen und sozialen Anstrich zu verleihen und die sich philosozialistisch geben und sich einst mit schwarzen Krawatten, Liedern vor weißen Fahnen und Kampfreden („Philippischen Reden“f) gegen die Herren übernommen hatten. Andere glauben dagegen, dass die Welt besser vom Schlagstock als vom Kreuz gerettet werden könne, zumindest die Welt des Besitzes und des Reichtums, oder dass, um für Ordnung zu sorgen – auch ohne Recht und Freiheit –, die Diktatur tolerierbar sei, und folglich wurden sie Philofaschisten. Das ging so weit, dass sie für das Wahlreformgesetz stimmten, das die Verfassungsgrundsätze verletzt. Die einen wie die anderen werden sagen, dass die zentristische Position der Partei nicht gut war und man sich nach rechts oder nach links bewegen muss. Überwinden Sie den Morbus Filía, haben Sie Vertrauen in den Partito Popolare als erreichbares Ziel der politischen Aktivität und damit auch der Durchsetzung unserer Ideen und unserer Stärken, und Sie werden sehen, dass die Partei ihrer Linie, ihrer Natur und ihrer Verantwortung als Partei des Zentrums treu bleibt, weil sie popolare ist. Der Morbus Filía ist wie eine Brille mit farbigen Gläsern, mit der man die Dinge in Farben sieht, die gar nicht da sind. Heute ist die linke Richtung der Partei an der Reihe; diejenigen, die sie sehen, sind genau die Popolari oder ehemaligen Popolari, die philofaschistisch sind. Gestern hingegen sahen die anderen, die Linken, die Philosozialisten, dass sich die Welt des Partito Popolare zu sehr nach rechts entwickelte. Diese beiden kleinen Flügel der Partei machen viel Lärm, weil sie den anderen zu viele Dinge zu sagen haben, aber uns fast nie Ernstes oder Wichtiges. Das ist die Geschichte von rechts und links, die für uns lange vorbei ist.

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Morbus bedeutet auf Lateinisch „Krankheit“, Filía, vom Altgriechischen ϕιλία, heißt „Freundschaft“ oder „Liebe“. Das Präfix „philo-“ bezeichnet eine sympathisierende Haltung gegenüber einer Partei, einer Bewegung oder einer Gruppe, ohne dieser unbedingt angehören zu müssen. Sturzo warnt gleichermaßen vor „philofaschistischen“ und „philosozialistischen“ Tendenzen in seiner Partei. Hier wird wohl nicht direkt auf Ciceros „Philippische Reden“ angespielt; vielmehr wird der Ausdruck unspezifisch im Sinne streitbarer oder kämpferischer Reden verwendet.

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Sprechen wir nun vom Popolarismus, der sich weder nach links noch nach rechts verbiegt: Das ist unsere Partei, die wahre Partei des Zentrums. In diese Partei haben wir Vertrauen und wollen, dass sie die Probleme der heutigen Zeit mit der klaren Vision unseres Programms und mit unseren politischen und moralischen Zielen überwindet. Aus Popolo Nuovo, Rom, 26. August 1923

Stammesegoismus versus Menschlichkeit

Geist und Wirklichkeit 1. Über die faschistische Realität kann man wie über jede menschliche Realität Gutes oder Schlechtes sagen, das ist vom Standpunkt und von den verschiedenen Phasen dieses großen Unterfangens abhängig, das für das Leben in unserem Land nicht ohne Folgen geblieben ist.a Die Verherrlichung der Jugend und die Wiedergeburt des nationalen Geistes, der in der Zeit der Bolschewisierung so gequält und deprimiert war, hinterlassen zwangsläufig beachtliche Spuren im kollektiven Bewusstsein. Aber die Öffentlichkeit, die sich während des Krieges an die Gewalt und den Einsatz von Waffen zur Verteidigung der Nation gewöhnt hat, empfindet keine totale moralische Abscheu vor der Gewalt, die in den internen Kämpfen und ökonomischen und politischen Konflikten angewendet wird; die Saat des Hasses und des Grolls, die aus der Gewalt und der Überheblichkeit bei denen aufgeht, die darunter leiden, hat zwangsläufig schädliche Auswirkungen auf den moralischen und politischen Anstand unseres Volkes. Man fragt sich oft, warum dieses System der Drohungen, der Gewalt und der Unterdrückung fortbesteht und sich an verschiedenen Orten verschärft; und während man diese Methode des Faschismus (auch wenn man sie nicht rechtfertigen kann) verstehen kann, bevor er an die Regierung kam und versuchte, den Staat zu vereinheitlichen, gibt es keinen politischen Grund (wenn es jemals einen Grund geben kann), dieses System der Gewalt weiter bestehen zu lassen, nachdem die politische, militärische und königliche Macht vereinbart wurde, indem man das Geschehen abgesegnet hat und der Großteil der wirtschaftlichen Kräfte und der Presse sich an dem neuen Leben orientierten. Man beobachtet, dass aufgrund einer übertriebenen Vorstellung von der eigenen Realität die vorherrschende Tendenz die einer totalitären Umgestaltung jeder moralischen, kulturellen, politischen und religiösen Kraft gemäß dieser neuen Vorstellung ist: „der faschistischen“. Da sich dem weder die Gedanken beugen noch sich das Bewusstsein verändert, ist es verhängnisvoll, dass die Köpfe und die Knie durch äußere Gewalt zum Einknicken gebracht werden. Diese totalitäre und dominierende Tendenz enthält vor allem einen grundlegenden Fehler: zu glauben, die faschistische Bewegung habe eine Theorie, die den Geist überzeugt und die Herzen anzieht. Leider beruht die Kontingenz dieser Bewegung auf dem Fehlen einer theoretischen Konzeption, die wie a

Vorlage der Übersetzung: Luigi Sturzo, Spirito e realtà. In: ders., Opera Omnia, Seconda serie: Saggi – discorsi – articoli, Volume quarto: Il Partito Popolare Italiano (Volume secondo: Popolarismo e Fascismo), Bologna 1956, S. 234–241.

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auch immer die Geister anziehen und den Seelen Vertrauen und Sicherheit in Bezug auf die eigene Realität vermitteln kann. Denn die wahre Wirklichkeit ist nicht Materie, sondern Geist, sie ist keine Tatsache, sondern eine Idee, sie besteht nicht aus einem Körper, sondern aus einer Seele. Niemand möchte die Ideen und Theorien verurteilen, die der Faschismus von 1919 bis heute vorgestellt und dann aus dem Verkehr gezogen hat, denn da er eine verworrene Bewegung und ein sentimentaler Ausdruck von widersprüchlichen Gemütszuständen und Interessen ist, konnte er nicht anders, als die äußeren Eindrücke des Moments auf seiner Fotoplatte festzuhalten und auf dem Bildschirm zu vergrößern, um die Massen zu seinen eigenen Gunsten zu beeinflussen. Heute ist die neueste Form, die im ersten Regierungsjahr angenommen wurde, die klerikal-nationalistische und die hegelianische, aber sie weisen uns darauf hin, dass sie nicht konsequent seien und folglich nicht alle praktischen Anwendungen derartiger Theorien realisieren wollen, da das Wesen des faschistischen Führers dies nicht zulässt. Dieser hat überdies den Korporativismus in sein System eingeführt, der ein gegensätzliches Element ist und auf politischer Ebene weder, wie es anfangs schien, auf die Dialektik des Ergebnisses der übergeordneten ökonomischen Interessen der beiden Klassen reduziert werden kann, noch auf das Ergebnis der nationalen Interessen, die als den Belangen der Klasse und den klassenübergreifenden Belangen übergeordnet betrachtet werden. Die faschistische Bewegung präsentiert sich uns pragmatisch und gleichzeitig egozentrisch; experimentell und gleichzeitig hegelianisch; personalistisch und gleichzeitig totalitär; folglich leugnet sie die Freiheit und bewahrt nur einen kleinen Teil davon; sie bekämpft die Demokratie und schafft das Parlament nicht ab; sie sucht allgemeinen Konsens, aber behält die Waffe einer außergesetzlichen Macht; sie hat republikanische Tendenzen, aber ist monarchistisch; sie respektiert die Kirche und will deren moralische Kräfte unterwerfen, um zu herrschen. In diesem ständigen und tiefen Widerspruch ist der Führer des Faschismus der einzige Mittelpunkt und die einzige Quelle der Autorität in seiner Partei, eine Person, die auch außerhalb der Partei Sympathien und Vertrauen erweckt, weshalb viele einen Unterschied zwischen dem Faschismus und Mussolini machen. Aufgrund der sehr italienischen Angewohnheit, eher die Männer als die Ideen sehen zu wollen, schaut man heute auf diesen Mann mit dem gleichen Vertrauen vieler und mit der gleichen Ablehnung weniger, wie man Jahre und jahrzehntelang auf Depretis und Giolitti schaute,b die – ohne b

Siehe zu Giolitti den Text „Unser ,Zentrismus‘“, Anmerkung d. Agostino Depretis (1813–1887) war einer der wichtigsten Vertreter der Sinistra Storica und Regierungschef

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es zu sagen – wie Diktatoren über ihre Parteien hinweg und jenseits ihrer politischen Ideen herrschen konnten, Parlamente fügsam machten und Parteien spalteten, die Kirche manchmal nett behandelten und manchmal bedrohten: Das war politische Kunst, weder Theorie noch Glauben. Nun denken nicht wenige, bzw. sie wünschen sich, dass der Abgeordnete Mussolini derjenige ist, der die verbale Gewalt und den lokalen Rassismoc überwinden kann: Die Erste bleibt – auf den parlamentarischen Stil reduziert – im Wesentlichen die Gleiche; und der Zweite hat wieder das Niveau der Stabträger von De Bellis und der Kamorristen von Peppuccio Romano oder der Mafiosi von Vittorio Emanuele Orlando erreicht.d Wie man sieht, handelt es sich um eine provinzielle und rückwärtsgewandte Auffassung à la Giolitti, die süditalienischen Stil aufweist. Heute regieren in Italien der Agrarismus der Po-Ebene und mit noch mehr Effizienz der lombardisch-ligurische Industrialismus. Ihre Methoden sind eher im großen Stil gehalten; sie geben Millionen aus, um Zeitungen am Leben zu erhalten und um den Staat auszubeuten. Gestern taten die lombardisch-ligurischen Industriellen und Finanziers das Gleiche, indem sie die Sozialisten unterstützten, um ein Gegengewicht zu den Strömungen des Kleinbürgertums zu schaffen, das letztlich die Kosten trug und daran mitwirkte, die politischen Profite der schmarotzerhaften Großindustrie zu bestimmen. Heute ist die Lage umgekehrt: Der Faschismus ist derjenige, der nützlich ist und dazu beiträgt, eine Meinung in der Öffentlichkeit zu schaffen, die im Wesentlichen mit der vorherigen übereinstimmt und die gewalttätigen Auswüchse der

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in den Jahren 1876 bis 1887 (mit einer kurzen Unterbrechung zwischen 1878 und 1881). Da die Sinistra Storica, die entfernte Erbin der demokratischen Tradition des Risorgimento, die Parlamentswahlen erstmals 1876 gegen die Destra Storica gewann und ihre neue Führungsschicht ins Parlament einführte, spricht man von einer „parlamentarischen Revolution“. Agostino Depretis, die zentrale Persönlichkeit dieses Zeitraums, war der Schöpfer des „trasformismo“, der auf den Abbau der ideologischen Unterschiede und die Bildung eines „Zentrums der Moderaten“ ebenso wie auf die Einbindung von Opposition durch Teilhabe an der Macht und politische Privilegien zielte. Siehe dazu Denis Mack Smith, Storia d’Italia dal 1861 al 1997, Rom 2008, S. 132–144; Giovanni Sabbatucci, Il trasformismo come sistema: saggio sulla storia politica dell’Italia unita, Rom 2003. Gemeint ist die Herrschaft der sog. Ras, der regionalen faschistischen Anführer. Sturzo erwähnt politische Figuren, meistens Abgeordnete, wie Peppuccio Romano und Vito de Bellis, die Anfang des 20. Jahrhunderts wegen Komplizenschaft mit der Mafia oder der Camorra oder wegen anderer Straftaten angeklagt wurden. Vgl. Francesco Barbagallo, Stato, parlamento e lotte politico-sociali nel Mezzogiorno 1900–1914, Neapel 1976; Antonino Marchegiano, Peppuccio Romano e il suo tempo: camorra e lotta politica all’inizio del secolo, Marina di Minturno 1994.

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Roten noch übertrifft (die übliche Schlange, die den Scharlatan beißte) und der gleichen schmarotzerhaften Industrie sowie der gleichen Spekulation der Banken dient. So treffen wir letztlich die gleichen Akteure und die gleichen Interessen wieder, die weder gestern Giolitti beherrschte noch heute Mussolini beherrscht. 2. Trotzdem stimmen fast alle Parteien und die bekanntesten Politiker überein, dass das Experiment Mussolini – gleichgültig, ob es mit dem Faschismus identifiziert wird oder identifiziert werden kann oder ob der Faschismus nur ein zufälliges Phänomen oder eine im Entstehen begriffene Theorie ist – seine natürliche Entwicklung nehmen und seinen eigenen Zyklus haben muss; folglich raten sie sowohl von einer entschiedenen und unversöhnlichen Opposition als auch von einer Einheitsfront oder einem Block der Freiheit ab. In der Politik gibt es nichts Endgültiges und folglich kann diese Art, das Phänomen Mussolini zu bewerten, heute realistisch und zutreffend sein und morgen nicht mehr. Generell geht diese Meinung über Mussolini von zwei Voraussetzungen aus: Mussolini sei im Vergleich zu den anderen, die auf der politischen Bühne noch immer eine Rolle spielen, ein starker Mann und er stelle ein politisches Element dar, das unabhängig von der starken Position, zu der ihm der Faschismus verholfen hat, für sich selbst steht. Es kann sein, dass diese Annahmen einige reale Grundlagen haben, aber man kann bei dieser Bewertung nicht den gesamten Komplex außer Acht lassen, der heute aus Partei, Regierung und Staat besteht und mühsam versucht, andere äußere Werte und andere fremde Formen zu übernehmen. Aus diesem Grund verfügt die große Masse des italienischen Volkes (abgesehen von den aktiven Mitgliedern der verschiedenen Parteien) heute über keine klare Orientierung und sieht außerhalb des Faschismus keine starken Gruppen, die als Polarisierungspunkt und als Opposition dienen und den dynamischen und entscheidenden Dualismus erzeugen können. Es ist folglich natürlich, dass viele der Meinung sind, Mussolini müsse als Vorsitzender der faschistischen Partei und Regierungschef sein Experiment machen und seine Aktivitäten noch erweitern. Der Ausdruck des Volkswillens kann, auch wenn er von einem willkürlichen Gesetz verfälscht und von der Angst vor Gewalt und der Hoffnung auf Vorteile bewegt wird, vielleicht zu einem Element werden, das zu klareren Vorstellungen, Verantwortung und politischen Positionen führt und die Krise beschreibt.

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Die italienische Version der Redewendung lautet: „la solita biscia che morde il ciarlatano“. Sie besagt: Wenn jemand mit einer Sache spielt, wendet diese Sache sich gegen ihn.

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Die Qualen, die Italien nach dem Krieg durchmachte, um seine Ordnung, sein Leben, seine Ziele zu finden, sind noch nicht vorbei, sondern haben gerade erst begonnen. Die Nachkriegsphänomene des Bolschewismus und des Faschismus haben eine inländische und ländliche ökonomische Grundlage und sind dazu bestimmt, dadurch zu vergehen, dass sie nicht zu sich selbst finden und die Entstehung von anderen vielschichtigeren und mühseligeren Phänomenen verursachen. Ist Mussolini ein Mann, der in der Lage ist, über seiner eigenen sich entwickelnden Partei zu bleiben und die richtigen Momente für die Erneuerung des Geistes zu nutzen? Wenn das geschieht, kann sein Experiment als beendet betrachtet werden. Er muss sowohl die Akzeptanz gesetzeswidrigen Verhaltens seiner Anhänger als auch die Geschäftemacherei der Industriellen und der Großgrundbesitzer überwinden können, die seine Partei unter Druck setzen; und er muss versuchen, sich zu einer Idee aufzuschwingen. Bedauerlicherweise wird er von seinem eigenen Egozentrismus dazu gebracht, die Vorteile der Diktatur zu überschätzen, weil er deren Nachteile nicht kennt und nicht als solche empfindet. Seine Oberflächlichkeit entfernt ihn von der Suche nach einer Idee und von deren realistischer Einschätzung. Folglich scheint die Hoffnung, dass er in der Lage ist, sich zu erheben, um mit einer Konsens erzeugenden Idee zu regieren, zumindest heute nicht realisierbar, zumal er keine andere grundlegende Idee finden kann, die nicht aus der Freiheit gemäß ihrer großen traditionellen und historischen Bedeutung besteht. Man wollte in diesem intellektuellen Chaos eine praktische Antithese zwischen Freiheit und Autorität finden, als ob diese beiden Elemente, die die organische Einheit des Staates bilden, in Antithese platziert werden könnten; sie müssen sich stattdessen auf der gleichen konkreten Ebene befinden und sich gegenseitig neu bewerten. Sich auf die Autorität zu berufen, um die Freiheit zu unterdrücken, ist ein falscher Ansatz und steht im Widerspruch zur Geschichte der Völker. Die Autorität und die Freiheit sind hingegen die beiden Pole der politischen Welt: Die Überlegenheit eines der beiden Elemente gegenüber dem anderen hat immer zu Unordnung geführt. Der Geist der Diktatur, der heute in Italien herrscht, ist ein Element der moralischen und sozialen Unordnung. Der psychologische und politische Prozess der Völker kann Rückentwicklungen erleiden, aber für diese müssen sie langfristig büßen. 3. Die Sitzungsperiode ist beendet. Dieses Ereignis leitet innerhalb kurzer Zeit die Auflösung der Abgeordnetenkammer und Wahlen ein. Aber egal, ob die Wahlen bald stattfinden werden oder nicht, eines ist sicher: Früher oder später muss diese Befragung des Landes stattfinden, und dann muss die Regierung Mussolini das Ereignis als einen weiteren Schritt zur L ­ egalisierung

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ihrer politischen Position betrachten. Das neue Wahlgesetzf verfälscht den Willen des Landes zugunsten einer Partei oder eines Blocks; und folglich schadet es der Verfassungsgrundlage. Trotzdem zeigen die Suche nach einer äußeren Formel des Willens des Volkes und die Erneuerung der Wahlversammlungen an und für sich den Versuch der Regierung, sich der verfassungsmäßigen Legalität und dem demokratischen Prinzip anzunähern.1 Die Stimmung wird im Widerspruch zur Realität stehen, aber Letztere fesselt auch diejenigen, die sie leugnen wollen. Die Zwangslage, in der sich Mussolini befindet, ist diese extrem starke demokratische Realität, die man in Italien nicht isolieren und dann zerstören kann, weil sie in der ganzen modernen Welt gegenwärtig ist und kämpft; ihrem Rhythmus kann sich auch das heutige Italien nicht entziehen. Das gilt heute noch mehr als gestern, und zwar wegen der Verschiebung von Reichtum und Wirtschaft, die in Europa vom Krieg verursacht wurde, und weil die moralischen und politischen Interessen, deren Grundlage die internationale Solidarität sein muss, wieder Bedeutung haben. Die in sich geschlossene nationalistische Bewegung, die Strömung der reaktionären Großgrundbesitzer und die Verherrlichung der Gewalt der Nachkriegszeit sind Anachronismen besiegter und armer Völker; sie können nicht die Grundlage der italienischen Politik sein, ohne dass diese ein Jahrhundert zurückfallen würde. Diese Überlegungen zeigen, dass das Experiment Mussolini vom Standpunkt der italienischen Politik aus keinen imperialistischen, hegemonialen und diktatorischen Ausgang haben kann, sondern einen liberal-demokratischen haben muss, das heißt, es muss die rückläufigen Phasen des faschistischen Phänomens durchlaufen und, nachdem der nationale Körper eine Art Massage bekommen hat, zum Ausgangspunkt zurückkehren. Man muss sich jedoch von dem totalitären Geist trennen und die Notwendigkeit sowie die

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Das Acerbo-Gesetz (Legge Acerbo vom 18.11.1923, Nr. 2444) wurde vom damaligen Regierungschef Benito Mussolini in Auftrag gegeben und von Regierungssekretär Giacomo Acerbo verfasst. Das Wahlgesetz fand bei den Parlamentswahlen vom 6.4.1924 Anwendung und stattete die faschistische Liste mit einer Zweidrittelmehrheit aus. Für eine kurze Zusammenfassung des Gesetzes und seiner kritischen Punkte siehe das Onlineportal der Camera dei Deputati (http://storia.camera.it/legislature/ sistema-premio-maggioranza-1924; 12.8.2018); siehe auch Simona Colarizi, Storia del novecento italiano, cent’anni di entusiasmo, di paure, di speranza, Mailand 2000. Während dieser Text in Druck ging, wurde das Dekret über die Auflösung des Parlaments veröffentlicht. Mussolinis Reden enthalten keine Hinweise auf eine Tendenz zur Rückkehr zu einer verfassungsmäßigen Legalität, aber man weiß, dass Mussolinis Äußerungen oft widersprüchlich sind (Anmerkung in der ersten Auflage 1924).

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Funktionen der Parteien anerkennen, dem Illegalismus der Ereignisse und dem Illegalismus der Dekrete abschwören und zu den Gesetzen als parlamentarischem Akt und zur Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz zurückkehren, die Tendenz zur Gewalt als Recht des Stärkeren und als überzeugende Methode abschaffen, den moralischen Konsens aufwerten und die staatliche Ordnung einer nationalen Disziplin unterwerfen, das Durcheinander zwischen Partei, Regierung und Staat beseitigen und die Funktion jeder militärischen Organisation darauf beschränken, den Staat zu verkörpern und den Volkswillen frei und unverfälscht bei Wahlen zum Ausdruck kommen lassen. All dies gehört zu einer gesunden, lebensfähigen und nicht unterwerfbaren Demokratie: Diese Realität liegt in der Natur der Dinge und kann von keinem menschlichen Willen annulliert werden, sondern sie wird aus dieser Demütigung neue Kraft schöpfen. Es ist unserem Vaterland zu wünschen, dass der Konflikt zwischen der Demokratie und der Reaktion in der Sphäre der Legalität bleibt. Der Popolarismus, der die private Gewalt ablehnt und behauptet, er sei der natürliche Prozess der zivilisierten Völker in Bezug auf die Verbreitung von Ideen, auf die Überzeugungskraft der Programme, auf die Realität der Dinge und die Wirklichkeitstreue der Institutionen, dieser Popolarismus schließt den Illegalismus aus seinem Handeln aus, möchte vielmehr auf moralischer Ebene wirken, um die faschistische Strömung zu verändern und festzustellen, welche die bewusstesten Kräfte sind, die sich in die Richtung gesünderer Konzepte des Verfassungsstaates und einer menschlicheren Auffassung des Respektes für die anderen entwickeln. Man kann gewiss nicht leugnen, dass ein solcher Prozess langwierig ist; langfristig jedoch tragen die Ereignisse mit ihren Lehren und ihren Notwendigkeiten dazu bei, diejenigen, die aus der Gesellschaft ausgetreten sind, wieder in sie zurückzuführen. Aber der Faschismus von 1923 kann für Italien nicht mehr sein als eine Zwischenzeit; der von 1924 fühlt schon die Veränderungen in seiner Umgebung und in seinem Innern. Hat er die Kraft, sich selbst zu überwinden und sich zu kasteien? Ist es immer noch möglich, dass einige Männer wie Mussolini den Faschismus beeinflussen, da dessen Ideen nicht auf fundierten Überzeugungen basieren und die in seinem Umfeld entstandenen Interessen noch nicht gefestigt sind? Der einfache Übergang der sozialistischen Massen, Demokraten und Liberalen zum Liktorenbündel trägt gewiss nicht zur Stärkung von Leitlinien und zur Entwicklung von Ideen bei, und folglich kann eine Veränderung der führenden Persönlichkeiten, und insbesondere des Anführers, die Mitläufer zu leicht mitnehmen und neue Strömungen entstehen lassen. Für die Optimisten, und das sind nicht wenige, besteht immer noch die Hoffnung, dass

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sich der gesunde Menschenverstand von allen Übertreibungen erholt und die Realität ihre Gesetze und ihren Einfluss spürbar machen wird. Der Vorteil, den Italien aus dieser neuen Erfahrung ziehen muss, liegt darin, mit aller Kraft übertriebene Formen des sozialen Lebens überwinden und verstehen zu können, dass man für jeden kollektiven Mangel an Disziplin büßen muss. So wird eine Führungsschicht entstehen, die nicht unbedingt faschistisch ist, aber die in Bezug auf die alten schlaffen Herren sowie die demagogischen und rhetorischen Vorträge, die übertriebenen Nationalismen und das wilde Treiben der Squadristig Gerechtigkeit walten lassen wird, und wenn sie nicht richtig darauf vorbereitet ist, wird sie eine bemerkenswerte Erfahrung gemacht haben, die 1915 begonnen hat. Über den speziellen Ansichten der Parteien steht der starke Wunsch eines jeden Italieners, dass diese neue Führungsschicht unserem Land eine Zeit des inneren Friedens und der äußeren Entwicklung bringe, wozu uns der moralische Zustand der europäischen Völker das Recht gegeben hat. Jede Epoche hat etwas Gutes und etwas Schlechtes: Es ist die Aufgabe der eifrigen und bewussten Männer, auch aus dem Schlechten Gutes und aus Wirren Ordnung zu ziehen. Ein neues und bemerkenswertes Phänomen ist die Orientierung des öffentlichen Bewusstseins in die Richtung von intellektuellen, moralischen und religiösen Werten. Diese Bewegung ist allgemein und wurde durch den Weltkrieg erzeugt. Der Faschismus hat sich darauf mehr als äußere Form denn als innere Entwicklung eingestellt. Aber abgesehen von jeder politischen Bewertung wurde in Bezug auf die alte antiklerikale Mentalität des demokratischen Bürgertums die Blockade aus Vorurteilen und Abneigungen beseitigt und damit auch auf politischer Ebene ein toter Punkt des italienischen Lebens überwunden. Diese Tatsache kann für die Katholiken nur unter einer Bedingung eine große Bedeutung haben, nämlich dann, wenn sie in der Lage sind, die innere Saat für die Annäherung der italienischen Seele an die Kirche aufgehen zu lassen, und wenn die arbeitenden Massen und die demokratischen Strömungen nicht fürchten müssen, dass die Kirche  – noch nicht einmal aufgrund menschlicher Schuld oder menschlicher Fehler – mit ihrem Einfluss reaktionäre Strömungen oder diktatorische Tendenzen unterstützt.

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Squadristi heißen die Mitglieder der Sturmabteilungen (Squadre).

Stammesegoismus versus Menschlichkeit

Antifaschistisches Denken Die Politik der klerikalen Faschisten La Stampa vom 10. Februar 1924 veröffentlichte das folgende Interview, das von ihrem Korrespondenten in Rom, Cesare Sobrero, mit Luigi Sturzo geführt wurde: Ein Interview mit Luigi Sturzo ist kein einfaches journalistisches Unterfangen.a Umgekehrt ist das politische Denken dieses Mannes, der trotz allem weiterhin die Triebkraft seiner Partei bleibt, ein höchst interessantes Element der heutigen Situation, denn sonst würde der ehemalige politische Sekretär des PPI nicht mit derartigen Anfragen überhäuft, die aber fast immer abgelehnt werden. Heute, nach den Erklärungen des offiziellen Organs des Heiligen Stuhls zu den Wahlen, erschien es umso angebrachter, in die Reihe der Stellungnahmen der wichtigsten Politiker, die La Stampa veröffentlicht, die des „Leaders“ des Partito Popolare aufzunehmen. Ich hatte das Glück, mich mit ihm in dem einfachen und nüchternen Büro an der Piazza Mignanelli zu treffen, mitten im Herzen des herrschaftlichen und mondänen Roms, wo er als Leiter einer bedeutenden Buchgesellschaft tätig ist. Diejenigen, die sich einen Don Sturzo vorstellen, der von den Anstrengungen zur Vorbereitung der Wahlen erdrückt wird, irren sich gewaltig. Das Vorzimmer seines Büros ist immer überfüllt, weil sich viele Menschen an ihn wenden: Aber es sind keine Anwärter für eine Kandidatur. Eine arbeitsintensive Stille herrscht um den lebhaften Priester herum, der seine Arbeit in dieser fast klösterlichen Umgebung unterbricht, um sich mit mir zu unterhalten. Schmal, dünn, mit einem hitzigen Temperament unter einer kühlen Decke aus vielen Gedanken und mit einer Brille auf der Nase, ins schwarze Priestergewand gehüllt, ist Luigi Sturzo immer noch der kämpferische Agitator voller Ideen und der gleiche feurige Polemiker, der gut gegen die politischen Kämpfe abgehärtet ist. Sein Gebärdenspiel ist markant und einprägsam, seine Worte sind klar und gleichzeitig farbig. Obwohl sich seine Partei in Kürze den Wahlen stellt, will er in dem heutigen Interview vor allem über ein bestimmtes Thema sprechen, nämlich über den klerikalen Faschismus, den er im Z ­ usammenhang mit der aktuellen politischen Situation definieren möchte. Don Sturzo nimmt

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Grundlage der Übersetzung: Luigi Sturzo, Pensiero antifascista (1924–1925) – Parte I. In: ders., Opera Omnia, Seconda serie: Saggi – discorsi – articoli, Volume quinto: Il Partito Popolare Italiano (Volume terzo: Pensiero antifascista – La libertà in Italia – Scritti critici e bibliografici), Rom 2003, S. 9–113.

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kein Blatt vor den Mund: Er legt seine Ansichten deutlich dar und steht dabei ständig von seinem Sessel auf, um nervös durch das Büro zu laufen oder um ans Telefon zu gehen, das unentwegt klingelt. Sein sizilianisches Temperament ist ihm behilflich, diesem kämpferischen Priester, der wie der interessanteste „Causeur“ spricht – ein ums andere Mal dialektisch und polemisch – und nicht mit scharfer Kritik an seinen Gegnern spart. Hier ist der aussagekräftigste Teil der Unterhaltung, um die La Stampa gebeten hatte. Er stellt klar, dass er nicht im Namen des Partito Popolare sprechen möchte: Andere leiten inzwischen diese Partei und tragen die Verantwortung, insbesondere das Triumvirat, das aus dem Abgeordneten Rodinò, dem Abgeordneten Gronchi und dem Rechtsanwalt Spataro besteht.b Im Übrigen sind seine persönlichen Einschätzungen der aktuellen Situation bekannt: Trotz der derzeitigen Widrigkeiten glaubt er an die Zukunft des Partito Popolare. In seinem Werk Popolarismo e Fascismo erklärt er seine Ansichten zum Phänomen des Nationalfaschismus in Bezug auf den Popolarismus und den klerikalen Faschismus.c Ich bitte Sie klarzustellen – unterbreche ich ihn – was Sie unter klerikalem Faschismus verstehen. Ich sehe, dass dieser Begriff oft in den Zeitungen der Popolari verwendet wird.

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Als Luigi Sturzo am 10.7.1923 seinen Rücktritt als Sekretär des PPI erklärte, nominierte der Rat der Partei ein Triumvirat aus Giulio Rodinò, Giovanni Gronchi und Giuseppe Spataro, das die Partei bis 1924 führte, als Alcide de Gasperi zum neuen Sekretar der Partei ernannt wurde. Giulio Rodinò (1875–1946) war einer der Gründer des PPI; Giovanni Gronchi (1887–1978) wurde der dritte Präsident der italienischen Republik (1955–1962); Giuseppe Spataro (1897–1979) hatte verschiedene politische Ämter inne und war einer der wichtigsten Gründer der Nachfolgepartei des PPI nach dem Zweiten Weltkrieg, der „Democrazia Cristiana“ (DC). Siehe Elena Aga Rossi, Dal Partito popolare alla Democrazia cristiana, Bologna 1969; Gabriele de Rosa, Il Partito Popolare Italiano, Bari 1969. Die Ausdrücke „clericofascisti“ und „clericofascismo“ scheinen von Sturzo geprägt worden zu sein. Diese Begriffe bezeichnen eine Tendenz vieler italienischer Katholiken, auch Mitglieder des PPI, den Faschismus zu unterstützen. Das Problem der Klerikalfaschisten erreichte seinen schwierigen Moment nach dem Kongress des PPI in Turin 1923, bei dem der faschistenfreundliche Flügel der Partei versuchte, den linken Flügel der Partei auszustoßen. 1924, im Kontext der Parlamentswahl, entfernten sich Mitglieder des PPI wie Filippo Crispolti und Giovanni Grosoli von der Partei und unterstützten die faschistische Liste. Siehe Andrea Riccardi, I clericofascisti. In: Francesco Traniello/Giorgio Campanini (Hg.), Dizionario storico del movimento cattolico in Italia, 1860–1980, Band 1/1: I fatti e le idee, Turin 1981, S. 79–84.

Die Politik der klerikalen Faschisten

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Das klerikale Konzept der Politik – antwortet mir Don Sturzo – habe ich schon vor der Gründung des Partito Popolare mehrfach in meinen Reden und in meinen Schriften näher erläutert. Vor Kurzem habe ich mich in meinem Referat auf dem Kongress, der im letzten April in Turin stattfand, folgendermaßen geäußert: „Unter diesen sind einige, die gerne eine gute sogenannte klerikale Partei hätten, die sich auf lokaler und administrativer Ebene sowie bei den Wahlen stark anpasst und weder eine direkte Regierungsverantwortung übernimmt noch solch kühne Bestrebungen hat; eine klerikale Partei, die die Masse der Arbeiter mithilfe der Religion im Zaum hält, die jeglichen Bestrebungen des Volkes auch mit Gewalt entgegenwirkt und wegen der nützlichen Dienste der regierenden Partei, die ein gewisses Gleichgewicht zwischen Politik und Religion halten möchte, als Stütze dient.“ Dieses Phänomen ist im Grunde konservativ, und es handelt sich weniger um eine Partei als um kleine Gruppen von Bürgerlichen und Grundbesitzern, die schmarotzerhaft einerseits von der direkten oder indirekten Unterstützung der Regierung und der herrschenden Schichten und andererseits von der Kirche leben. So gab es also gestern das Phänomen der klerikalen Gemäßigten, heute gibt es das der klerikalen Faschisten. Also – antworte ich – sind die Popolari Ihrer Meinung nach nicht klerikal. Das wäre ja noch schöner – ruft Don Sturzo lebhaft aus –, die Klerikalen sind keine Demokraten, sie bilden keine organisierte Partei, sie übernehmen keine direkte politische Verantwortung und obendrein sprechen sie zu oft und auf unangemessene Weise im Namen der Religion, wenn es um die Bewertung materieller Interessen geht. Betrachten Sie folglich die ehemaligen Popolari, die zum Faschismus übergelaufen sind, als klerikal? Nicht alle, aber sicher ziemlich viele: Einige von ihnen haben ihrer demokratischen Vergangenheit entsagt, um sich an den Faschismus zu binden. Ich glaube, sie fühlen sich dort unbehaglich. Fest steht, dass ihr Verhalten mehr ist als nur eine einfache taktische Uneinigkeit zwischen ihnen und uns und zu einer feindseligen Haltung gegenüber der Partei, der sie einst angehörten, geworden ist. Der Kern dieses Dissenses liegt in der bedingungslosen (sie sagen aufrichtigen) Unterstützung der faschistischen Regierung oder besser des faschistischen Staates. Nun erschöpft sich keine solche politische Partei in der rein relativen und kontingenten Bewertung der Unterstützung oder Ablehnung einer Regierung, denn eine derartige Bewertung kann nur abhängig von ihrem Programm und ihrer Auffassung von Staat und Recht abgegeben werden, die das Wesen und die Stärke einer Partei ausmachen. Als einige der bekanntesten ehemaligen Mitglieder des Partito Popolare an der Schaffung oder Entwicklung dieser Partei mitwirkten und dort zu Ämtern und Ehren kamen, wussten sie, dass

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sie eine christlich-demokratische Partei gründeten, die auf der Grundlage der Freiheit und der Gleichheit aller vor dem Gesetz beruht. All dies haben sie aus rein taktischen Gründen aufgegeben. Das ist der Übertritt zum Konservativismus gegen die Demokratie und zur Diktatur gegen die Freiheit. Das ist eine neue Art des Klerikalismus, und es bleibt abzuwarten, inwiefern dieser mit den Prinzipien der Religion übereinstimmt. Ich sehe hier Widersprüche. Erklären Sie mir bitte einen solchen Widerspruch; ist der Faschismus keine philo-­ katholische Strömung? Ich würde ihn philoklerikal nennen – antwortet mir Don Sturzo – und niemals philokatholisch; das ist ein Unterschied. Die Substanz der Theorien, die der Faschismus aus dem Nationalismus entwickelt hat oder die aus der politischen Praxis der Partei an der Regierung hervorgehen, ist im Wesentlichen heidnisch und steht dem Katholizismus antithetisch gegenüber. Es geht um Staatsverehrung und Vergöttlichung der Nation. Außerdem werden unmoralische Taten wie Mord bei der Verfolgung nationaler Ziele zugelassen, gefördert und gepriesen. Die Anstiftung zur Gewalt steht nicht nur im direkten Widerspruch zum Rechtsstaat, sondern – was schlimmer ist – zum Gesetz der Liebe, wie es das Evangelium verkündet. Wie kann man in den erzieherischen Wert, den der Faschismus mit der Einführung des Katechismus in den Schulen erreichen möchte, volles Vertrauen haben? Die Kirche hat diese Maßnahmen jedoch gebilligt und gefördert. Gewiss, sagt Don Sturzo. Die Kirche ist logisch, ihre Lehre ist vollständig: Liebe für alle, Hass und Gewalt gegen niemanden; nur so versteht sie die Lehre des Katechismus. Der Faschismus hingegen ist unlogisch, denn er lässt zwei Theorien zu, eine für die Schule und eine andere für das Leben. Streng genommen dürften also die Katholiken nicht Mitglieder der faschistischen Partei werden … Man muss zu unterscheiden wissen, sagt Don Sturzo lächelnd. Es gibt jene, die ohne Überzeugung Mitglieder einer Partei werden, der Vorteile wegen, aus Unsitte; sie kennen die Theorien nicht, haben Angst vor der Gewalt und erwarten Gefallen; ihre Erziehung animiert sie dazu, bei allen erfolgreichen und starken Parteien anzuklopfen. Das ist kein Vergehen gegen die Prinzipien der Religion, sondern ein Akt der politischen Immoralität. Das ist das ewige Sich-mit-dem-Wind-Drehen, klerikal und antiklerikal, liberal und sozialistisch, demokratisch und faschistisch. Und die große Masse der verantwortungslosen Menschen, die die untergehende Sonne verehren, ist beachtlich. Italien hat eine besondere Begabung für diese Veränderungen der allgemeinen Einstellung. Wie viele Sozialisten und Anarchisten aus dem Jahr 1921 sind 1923 Faschisten geworden? Auch für diese gibt es keine religiösen Bedenken.

Die Politik der klerikalen Faschisten

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Die verantwortungsbewussten Katholiken können nicht so beurteilt werden, denn sie wissen, dass einige der grundlegenden Theorien des Faschismus und des Christentums auf der Ebene der kollektiven und der individuellen Ethik im Widerspruch zueinander stehen; und die Ethik ändert sich weder durch das historische Klima noch durch revolutionäre Rechte. Wie können diese Theorien ineinandergreifen? Und wenn sie nicht ineinandergreifen, wie kann man dann Mitglied dieser Partei werden? Meines Wissens – erwiderte ich – sind von den bekanntesten ehemaligen Mitgliedern der Popolari nur die Abgeordneten Boncompagni und Pestalozzad in die faschistische Partei eingetreten; die übrigen kommen als Sympathisanten der Faschisten auf die Liste, aber ohne Parteibuch. Don Sturzo merkt an, dass man noch über ihr Verhalten diskutieren könne, wenn Letztere eine eigene Gruppe gebildet und erklärt hätten, dass sie mit einem Bündel von Ideen kandidieren wollten, das jene Ideen des Faschismus ausschließe, die das katholische Bewusstsein beleidigten. Aber der Faschismus will treue, hingebungsvolle Leute, Einzelpersonen ohne Vorbehalte, denn er lässt keine Diskussionen und Einschränkungen zu: Er will als solcher verehrt werden, er will den faschistischen Staat aufbauen. Wie man sieht, ist der Abstand groß! Die Frage interessiert mich: Glauben Sie nicht, dass die Klerikalfaschisten, wenn sie auf die Liste kommen, die Gesetzeswidrigkeiten und die Gewalt zügeln können? Zwanzig oder dreißig von 356 haben als Zahl kein großes Gewicht, als politische Personen sind sie relativ bescheiden, aber wehe, wenn sie eines Tages selbst etwas machen und eine Rolle spielen wollen. Cavazzoni wurde im April als Minister entlassen, Cesarò vorgestern.e Mussolini gibt sich heute ­philo­klerikal, d

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Francesco Ludovisi Boncompagni (1886–1955) wurde 1919 als Abgeordneter für den PPI gewählt. Wenige Jahre später verließ er den PPI und trat in die faschistische Partei ein. Antonio Pestalozza (1879–1961) war ein Abgeordneter des PPI und einer der wichtigsten Unterstützer der Sezession des faschistenfreundlichen Flügels der Partei. Stefano Cavazzoni (1881–1951) war ein italienischer Politiker und PPI-Mitglied. Er war zwischen 1922 und 1923 in der ersten Mussolini-Regierung Arbeitsminister. Nach dem Kongress des PPI in Turin 1923 beantragte Mussolini, irritiert von der noch starken antifaschistischen Natur des Kongresses und des PPI, den Rücktritt Cavazzonis und anderer Mitglieder des PPI, die ein Amt in der Regierung bekleideten. Giovanni Antonio Colonna di Cesarò (1878–1940) war ein italienischer Politiker, der mit dem demokratisch-radikalen und nationalistischen Milieu in Verbindung stand. Er wurde Postminister in der ersten Regierung Mussolinis. 1924 wurde er aber entlassen. Der Grund waren Spannungen zwischen der parlamentarischen Gruppe der „Democrazia sociale“, deren Mitglied Cesarò war, und der faschistischen Partei. Siehe Francesco Malgeri, Cavazzoni, Stefano. In: Dizionario Biografico degli Italiani, 1979, Band 23, http://www.treccani.it/enciclopedia/stefano-cavazzoni_(Dizionario-Biografico); 12.8.2018; Luigi Agnello, Colonna di Cesarò, Giovanni Antonio. In: Dizionario Biografico degli Italiani, 1982, Band 27, http://www.treccani.it/enciclopedia/colonnadi-­cesaro-giovanni-antonio_(Dizionario-Biografico)/; 12.8.2018.

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Antifaschistisches Denken

g­ enau wie er sich monarchistisch gibt, aber wenn er es nützlich findet, tritt er auch für das Gegenteil ein, und kein Martire oder Cornaggiaf kann ihn daran hindern. Die Katholische Aktion ist jedoch gegenüber den klerikalen Faschisten positiver eingestellt als gegenüber den Popolari. Diesen Eindruck hat man zumindest von außen. Die den Popolari gegenüber negativ eingestellten Zeitungen tendieren dazu, diesen Eindruck entstehen zu lassen, behauptet Don Sturzo, und man versteht, warum. Die Wahrheit ist, dass die Katholische Aktion, die vom Heiligen Stuhl abhängig ist, darauf verzichtet, Politik zu machen. Ich stelle nur fest, dass einige aus Angst oder übertriebener Sorge dazu tendieren, die Katholiken dazu zu bringen, sich als solche von jeder Art der politischen Aktivität zurückzuziehen, um den Sturm vorübergehen zu lassen. Aber das wäre ein Akt der Feigheit und eine unverzeihliche Schuld: Es ist die Pflicht eines jeden Bürgers, sich am öffentlichen Leben seines Landes zu beteiligen, vor allem in den schwersten und härtesten Zeiten. Es wäre Unsinn, eine Verpflichtung gegenüber dem Vaterland zu postulieren, die nur dann besteht, wenn es keine Unannehmlichkeiten und Gefahren gibt und man dafür geehrt wird und Vorteile daraus zieht. Die christliche Ethik verabscheut diese egoistische Auffassung. Das Organ der Katholischen Aktion sagt, die Katholiken insgesamt, insbesondere die politisch aktiven Katholiken, müssen sich in der Partei am politischen Leben beteiligen, deren Programm ihren Idealen besser entspricht und die das sicherste Instrument ist, um die Aktivitäten des Staates an den Vorgaben des katholischen Gedankengutes auszurichten. Niemand wird in diesen Worten eine Art freier Prüfung auf ethisch-politischem Gebiet sehen wollen, schon gar nicht die Billigung des faschistischen Programms, außer man möchte sagen, dass ein solches Programm den Idealen der Katholiken entspricht. Dies erforderte akrobatische Anstrengungen, was meine ehemaligen Freunde meiner Meinung nach nicht im guten Glauben tun können. Es kann aber sein, dass jemand das tut. Ich kann diese Leute nur bemitleiden. Sie erzählen in den Zeitungen, dass sie die Regierung treu unterstützen, da diese viel für die Religion tue. Aber f

Carlo Ottavio Cornaggia Medici Castiglioni (1851–1935), strikter Unterstützer des Katholizismus und der Kirche, war bis 1922 Mitglied des PPI. 1922 gründete er die „Unione Nazionale“, mit der er den Versuch unternahm, eine nationale Vereinigung von Katholiken und Faschisten zu begründen. Er wurde 1924 von Mussolini als Senator nominiert. Egilberto Martire (1887–1952) war ein italienischer Politiker und Journalist, Vizepräsident der Katholischen Jugend Italiens, Abgeordneter für die Popolari (1919–1923) und gehörte zu den wichtigsten Mitgliedern des den Faschismus unterstützenden „Centro cattolico nazionale“ (1924). Er wurde im Juli 1923 aus dem PPI ausgeschlossen; 1924 wurde er erneut Abgeordneter, diesmal jedoch für die „Unione nazionale“.

Die Politik der klerikalen Faschisten

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sie wissen genau, dass das Christentum auf zwei grundlegenden Formen der Liebe beruht: auf der Gottesliebe und auf der Nächstenliebe; und ohne die Nächstenliebe gibt es keine Gottesliebe. Sie wissen, dass der Faschismus in Theorie und Praxis die Nächstenliebe leugnet. Das Recht der Gewalt und die nationalistischen Egoismen stehen formell und substanziell im Widerspruch zum Christentum. Wie können sie den Faschismus vom religiösen Standpunkt aus verherrlichen? Müssen sie vielleicht sagen, dass die katholische Kirche wegen eines hypothetischen Entgegenkommens, das der Faschismus ihr angeboten hat, darauf verzichtet, gegenüber dieser Strömung ihren Glauben zu verteidigen, ihre Moral zu predigen und das Evangelium zu verkünden? Zweitausend Jahre Kirchengeschichte sprechen gegen eine derartige Annahme. Ich unterbreche ihn und bemerke, dass die Kirche vor allem in den letzten Jahrhunderten konservativ und auf der Seite der Stärkeren zu stehen schien. Don Sturzo verneint diese Behauptung: Es gab Zeiten, die für die Kirche viel schwieriger waren als diese, aber sie ist den Mächtigen der Welt wie Heinrich VIII. und Napoleong sicher und entschlossen entgegengetreten. Der Widerstand Pius’ X. gegen Combes’ Frankreichh ist in die Geschichte eingegangen. Es stimmt, dass die konservative Tendenz zur Kirche durchdringt, wie im Übrigen auch die demokratische. Die Kirche bemüht sich, so weit es möglich ist, überparteilich zu bleiben. Aber wenn man von menschlichen und kontingenten Elementen zu Prinzipien übergeht, die mit Glauben und Moral zu tun haben, fehlen die Worte der Kirche auch gegenüber den Mächtigen nie. Es gefällt mir zu widersprechen, und ich insistiere: Heute widersetzt sich die Kirche nicht, zumindest nicht klar, der hegelianischen Strömung, die von Gentile i vertreten wird!

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Hier nimmt Sturzo Bezug auf zwei wichtige Herausforderungen, denen die Kirche in ihrer Geschichte gegenüberstand: das anglikanische Schisma Heinrichs VIII. und die Bedrohung durch Napoleon und die Schaffung des napoleonischen Königreiches in Italien (Regno d’Italia, 1805–1814), als 1809 Napoleon das Ende des Kirchenstaats erklärte und Papst Pius VII. verhaften ließ. Émile Justin Louis Combes (1835–1921) war ein französischer Politiker und zwischen 1902 und 1905 Regierungschef. Als Vertreter der antiklerikalen Linken beförderte er die radikale Trennung zwischen Kirche und Staat und den Bruch Frankreichs mit dem Heiligen Stuhl. Giovanni Gentile (1875–1944) war ein italienischer Philosoph, einer der wichtigsten Vertreter des Neoidealismus. Gentile schloss sich sofort dem Faschismus an, den er als den Schöpfer des „ethischen Staates“ interpretierte. Er war zwischen 1922 und 1924 unter Mussolinis Regierung Bildungsminister, und sein Name ist mit einer wichtigen Schulreform verbunden (1923). Gentile wurde 1944 von einer der Gruppen des italienischen Widerstands (Gruppi di Azione Patriottica, GAP) getötet. Vgl. Anthony James Gregor, Giovanni Gentile: Philosopher of Fascism, New Brunswick 2004; Sergio Romano, Giovanni Gentile: La filosofia al potere, Mailand 1984.

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Dieser Eindruck, antwortet der Interviewte, ist auf Elemente zurückzuführen, die der Kirche nicht angehören, sowohl auf Gentile selbst, der versucht hat, dem antikatholischen Wesen seiner Gedanken ein metaphysisches Flair zu verleihen, als auch auf die unsichere Haltung einer bestimmten Presse, die sich als katholisch bezeichnet und dann der Regierung mit Ergebenheit dient und ohne Unterscheidungsvermögen alles lobt, was diese tut; es gibt lediglich irgendeine allgemeine Vorbehaltsklausel, die weder genau erklärt noch vertieft wird. Aber die Kirche wird überhaupt nicht von den Zeitungen vertreten, die eine Politik fern jeglicher religiösen Verantwortung verfolgen. Unsere Schulen, unsere wissenschaftlichen Strömungen, die Ordensgemeinschaften und die katholische Lehre sind jedoch gegen den Hegelianismus Gentiles, der – wenn er einmal eingeführt und angenommen würde – ausreichte, um eine jegliche religiöse Existenz des Übernatürlichen, jeden Glauben an Gott und die gesamte Kirche zu Fall zu bringen. Ich sehe, dass Sie mit Ihren Ansichten ein politisches Problem mit religiösen Auswirkungen wieder aufgreifen, das manche Leute gerne verbergen würden. Don Sturzo ist der Ernst seiner Behauptungen bewusst. Er hofft, dass darüber auf politischer Ebene außerhalb jeglicher politischen Leidenschaftlichkeit, aber im Rahmen einer ethischen Bewertung der Politik nachgedacht wird, da diese weder außerhalb noch über dem moralischen Gesetz stehen kann, das die Menschen als Individuen und als Gesellschaft regiert. 10. Februar 1924

Die Probleme Siziliens vor den Wahlen Interview mit Don Sturzo Don Sturzo kann sich nicht weigern, seine Meinung über den Wahlkampf in Sizilien zu äußern. Er liebt Sizilien mit der Inbrunst eines Sohnes und hat seit jeher mit größtem Interesse die ökonomischen, moralischen und politischen Probleme Siziliens und Süditaliens untersucht; und das Echo seiner Rede über „Süditalien und die italienische Politik“, die er letztes Jahr im Januar in Neapel gehalten hat, ist noch nicht verklungen. Deshalb wurde das Interview mit L’Ora sofort vereinbart. Es gab wenige Höflichkeitsfloskeln und wenige allgemeine Fragen. Nein, ruft er aus, es nützt nichts, meine Aussagen zu wiederholen; meine Ansichten über den Faschismus sind bekannt; sie haben mich als Feind bezeichnet: Es wäre passender, mich Gegner zu nennen. Der Feind hasst; ich hasse nicht. Die bürgerlichen Auseinandersetzungen im Namen der Ideen und

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auf dem Gebiet der Freiheit sind auf politischer Ebene niemals unfruchtbar, sie führen nicht zu Ablehnung, Abschaffung und Hass, sondern strömen Leben aus und führen zu Fortschritten. Wie könnte es anders sein? Aber der Faschismus akzeptiert den politischen Gegner nicht, genau wie er nicht zulässt, dass jede andere Partei die gleichen Rechte hat wie er selbst. Deshalb wird für ihn der Gegner zum Feind. Und das, antwortet Don Sturzo, ist ein perspektivischer Irrtum, dem der Faschismus verfällt. Die Welt besteht nicht aus zwei Seiten, einer perfekten, intelligenten, tugendhaften, tadellosen und unfehlbaren und einer anderen, die unvollkommen, dumm, lasterhaft, sündhaft und fehlbar ist; einer der Auserwählten und einer der Verdammten; einer nationalen und einer antinationalen; einer, die von Tugend und Rechts wegen herrscht, und einer, die aus Notwendigkeit und zur Strafe beherrscht wird; einer, die vom Faschismus gebildet wird, und einer anderen, der die restliche Welt angehört. Wenn sich die Faschisten der Realität bewusst werden, werden sie ihren Ton ändern. Süd­ italien und vor allem Sizilien haben die Aufgabe, dazu beizutragen, den Faschismus auf den Boden der Realität zurückzuholen. Erklären Sie mir bitte, wieso unser Sizilien – auch und vor allem – eine derartig wichtige Funktion haben sollte. Der Faschismus ist in Süditalien ein importiertes Phänomen und kein einheimisches; er hat weder einen Bezug zu den Gemütszuständen und zu den ökonomischen Interessen noch eine Vision für die lokale Politik. Hinzu kommt, dass er keine Theorie hat, die sich per se durchsetzt und die denkenden Menschen überzeugt; seine Übergriffe lösen bei der Bevölkerung Argwohn und Groll aus. Diese psychologische Beschaffenheit Süditaliens und Siziliens wird vom Faschismus mit Unbehagen wahrgenommen. Er hat die Nähe der repräsentativsten Männer wie Orlando und Carnazzaj in dem Glauben gesucht, sich mit ihrer Hilfe akklimatisieren zu können. Der heutige Versuch hat etwas mit dem Versuch der Piemontisierung nach 1860k gemein. Aber weder das

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Gabriello Carnazza (1871–1931) war einer der wichtigsten Vertreter der linken parlamentarischen Gruppe „Democrazia sociale“. 1922 wurde er Minister für öffentliche Bauvorhaben in der ersten Regierung Mussolinis. 1923 trat er der faschistischen Partei bei. Bei der Parlamentswahl 1924 errang Carnazza einen großen Erfolg in Sizilien, wo er mehr Stimmen bekam als Vittorio Emanuele Orlando (1860–1952), ein schon bekannter Politiker und Jurist und Spitzenkandidat der sizilianischen Liste. Vgl. Luigi Agnello, Carnazza, Gabriello. In: Dizionario Biografico degli Italiani, 1977, Band 20, http://www.treccani.it/enciclopedia/gabriello-carnazza_(Dizionario-Biografico)/; 12.8.2018. Das Piemont war eine sehr bedeutende Region des Regno di Sardegna (Königreich Sardinien) und Hauptakteur der italienischen Einigung. Der oft polemisch gebrauchte Begriff „Piemontisierung“ (piemontizzazione) besagt, die administrative und ­juristische

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Piemont von damals mit seiner Bürokratie noch die Po-Ebene von heute mit dem schwarzen Hemdl können die Seele Süditaliens gefangen nehmen und aus ihr einen Diener der wirtschaftlichen Klüngel Norditaliens machen. Der grundlegende Konflikt liegt – auch in Bezug auf den Faschismus – in den unterschiedlichen ökonomischen und psychologischen Strukturen Süditaliens. Don Sturzo spielt auf die Ideen an, die er bei seinem Vortrag in Neapel über die süditalienische Frage entwickelt hat; er hält diesen ökonomischen Dualismus und dessen natürliche politische Folgen für unüberwindbar, solange die gesamte Macht und alle italienischen Interessen in Rom und überdies in den Händen weniger Personen konzentriert sind. Von diesem Standpunkt aus verschlimmert der Faschismus nur alle durch die Politik des schmarotzerhaften Industrialismus entstandenen Missverhältnisse. Das Wunder besteht in Folgendem: Als zwei Sizilianer, Carnazza und Corbino,m an die Führung des Wirtschaftsministeriums kamen, wurden diese zu den eifrigsten Vertretern des Industrialismus der Banken des Nordens – zum Schaden der kleinbürgerlichen und ländlichen Wirtschaft des Südens. Und dennoch, wenden wir ein, hat der Abgeordnete Carnazza mehrere Probleme Siziliens angepackt. Haben Sie das Manuskript der Rede in Noton gelesen? Don Sturzo antwortet und erklärt genau: Die Lösung des Problems der sizilianischen Eisenbahn wurde von Carnazza endgültig gefährdet. Der Abgeordnete Micheli hatte in Palermo ein spezielles Büro eröffnen lassen und einen Zehnjahresplan für die gesamten 800 Kilometer genehmigt, der Arbeiten im Wert von 70 Millionen im Jahr vorsah.o Der Abgeordnete Carnazza verzichtet auf die Verbindlichkeit der 70 Millionen pro Jahr, löst das spezielle Baubüro auf und, was noch schlimmer ist, reduziert die 800 Kilometer, die schon im

Vereinigung Italiens nach der politischen Einheit von 1861 sei ganz nach piemontesischem Muster erfolgt. Zum italienischen Vereinigungsprozess siehe: Alberto Mario Banti, Il Risorgimento italiano, Rom 2010; Salvatore Lupo, L’unificazione italiana: Mezzogiorno, rivoluzione, guerra civile, Rom 2011. l Die Schwarzhemden (camicie nere) waren die faschistischen Milizen der „Squadre d’Azione“, die am Anfang nur paramilitärischen Charakter besaßen. 1923 wurde eine nationale faschistische Miliz (Milizia volontaria per la Sicurezza Nazionale) begründet, und die „Squadre“ wurden zu legal anerkannten Soldaten. Siehe Emilio Gentile, Fascismo: storia e interpretazione, Rom 2008. m Orso Mario Corbino (1876–1937) war ein sizilianischer Physiker und Politiker. 1923 wurde er von Mussolini zum Präsidenten des Verwaltungsrats des Ministeriums für öffentliche Bauvorhaben ernannt. n Hierbei handelt es sich um eine politische Rede, die Gabriello Carnazza am 24.3.1924 in der Stadt Noto (in der Nähe der sizilianischen Metropole Syrakus) hielt. o Giuseppe Micheli (1874–1948) war ein italienischer Politiker, der dem Katholizismus und dem PPI nahe stand. Er war in den Jahren 1921/22 Minister für öffentliche Bauvorhaben.

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Gesetz vom Juli 1910 vorgesehen waren, auf 400. Welche Eisenbahnlinien werden gebaut? Das bleibt ein Geheimnis! Die sizilianische Bevölkerung weiß, dass ein sizilianischer Minister auf 400 Kilometer Eisenbahnstrecken verzichtet hat, aber sie weiß nicht, welche Kommunen zugunsten gewisser Fernstraßen zwischen Mailand und den Seen geopfert werden! Sie wartet noch immer. Und man versteht, dass folglich mit dem Bau der anderen Straßen gewartet wird, die genehmigt werden. Aber die Konzession oder besser der Auftrag für den Bau dieser 400 Kilometer ist eine vollendete Tatsache; man kennt sogar den Namen der Firma. Don Sturzo lächelt: Erklären Sie mir bitte, was ein Auftrag oder eine Konzession bedeutet, wenn der Gegenstand des Auftrags nicht angegeben wird, weil noch nicht bekannt ist, welche 400 Kilometer außer den wenigen gerettet wurden, deren Bau schon von den Ministern Bonomi, Pantano und Michelip veranlasst wurde. Aber der Minister Carnazza hat ein Straßennetz geplant, das – sagt er – den Bedürfnissen der Landwirtschaft entspricht. Don Sturzo bestreitet das Dilemma „entweder Straßen oder Eisenbahnlinien“. Im Grunde ist die Frage der sizilianischen Straßen nie so gestellt worden und konnte nicht so gestellt werden. Das Problem des Straßenbaus in ländlichen Gebieten (was eines der größten, wenn nicht das größte Problem Siziliens und Süditaliens ist) ist das gleiche Problem wie die innere Urbarmachung und kann nicht isoliert betrachtet werden, weil es sonst auf einen Bau von Straßen reduziert würde, der wegen fehlender Mittel für die Instandhaltung vernachlässigt und aufgegeben wurde, was auch auf unserer Insel schon oft passiert ist. Und man kann nicht von der inneren Urbarmachung sprechen, ohne das Problem der Malaria und der ländlichen Behausungen zu erwähnen, folglich das Problem des Großgrundbesitzes, und zwar nicht im primitiven und vereinfachten Sinn einer zwangsmäßigen Quotierung, sondern in einem

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Ivanoe Bonomi (1873–1952) war eine wichtige politische Persönlichkeit Italiens sowohl vor als auch nach dem Faschismus. Von 1916 bis 1921 bekleidete Bonomi verschiedene wichtige Ämter, u. a. war er Minister für öffentliche Bauvorhaben. Er war außerdem von 1921 bis 1922 Regierungschef. Nach dem Fall des Faschismus war Bonomi ein bedeutender Akteur in den zentralen antifaschistischen italienischen Organisationen, dem „Comitato nazionale delle correnti antifasciste“ und dem „Comitato centrale di liberazione nazionale“, und wurde 1944 noch einmal zum Regierungschef ernannt. Er war zudem Abgeordneter in der italienischen verfassunggebenden Versammlung. Siehe Luigi Cortesi, Ivanoe Bonomi e la socialdemocrazia italiana: profilo biografico, Salerno 1971. – Edoardo Pantano (1842–1932) war ein Patriot des Risorgimento und später Abgeordneter im Königreich Italien. Pantano war zwischen 1919 und 1920 auch Minister für öffentliche Bauvorhaben.

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realistischen Sinn in Bezug auf die Anpassung der Kulturen und die Entwicklung der Wirtschaft. Der Abgeordnete Corbinoq erklärte in einer schüchternen und nicht weit verbreiteten Mitteilung (zu deren Kommentierung die faschistische Presse noch nicht die Möglichkeit hatte), dass das Problem des Großgrundbesitzes in der nächsten Legislaturperiode angegangen werde. Aber nach welchen Kriterien? Das bleibt ein Geheimnis! Die Wähler sollen lieber nichts wissen und mit verschlossenen Augen wählen. Erinnern Sie sich daran, wie viele Diskussionen und besorgte Reaktionen der Gesetzesentwurf zum Großgrundbesitz in Sizilien ausgelöst hat? Ich habe schon mehrmals hervorgehoben, antwortet Don Sturzo, dass das Gesetzesprojekt, das von der Abgeordnetenkammer verabschiedet wurde, nicht wenige Mängel enthielt und bei den Grundbesitzern auf große Abneigung stieß. Aber anstatt dem zweckmäßigen Weg der Abänderungen im Senat zu folgen, um die realen Vorteile der staatlichen Ausschreibungen für die landwirtschaftliche Urbarmachung und für den Agrarkredit zu gewährleisten, bevorzugt man den Nullismus. So gehen die Bauern aus Norditalien nicht vor, denn sie wissen genau, wie sie sich den Staat zunutze machen können. Ein Beweis dafür sind die Urbarmachungen in der Emilia und der Romagna. Man wird auch in Sizilien die Trockenlegung der Ebene von Catania durchführen. Niemand wird dem Faschismus die Initiative zur Umgestaltung der Ebene von Catania zuschreiben wollen. Es ist kein Mangel an Bescheidenheit, den Platz, der mir innerhalb dieser großen Unternehmung zusteht, einzunehmen. Die Förderer wissen, dass ich mich bei Minister Peanor nachdrücklich dafür eingesetzt habe, den Ausflüchten und Widersprüchen lokaler Initiativen ein Ende zu setzen und die Durchführung des Dekrets von 1918 über die Trockenlegung zu beschleunigen sowie das Dekret über die Vereinigung der Verfahren zu erlassen und die Ebene von Catania dem römischen Acker gleichzustellen. Alle wissen, dass dem Minister Micheli im Einvernehmen mit dem Abgeordneten Alberto Beneduce die Einführung des speziellen Artikels für die Wasserkraftanlagen im Sila-Gebirge und am Simeto im Gesetz über Arbeitslosigkeit vom August 1921 zu verdanken ist,s für das Süditalien ein Darlehen

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Siehe Anmerkung m. Camillo Peano (1863–1930) war ein italienischer Politiker, der Giovanni Giolitti nahe stand. Er bekleidete verschiedene Ämter im Innenministerium und wurde 1920 zum Minister für öffentliche Bauvorhaben in der Regierung Nittis ernannt. Die Sila ist ein Gebirge in Kalabrien, der Simeto der bedeutendste Fluss Siziliens. Der Bau der Wasserkraftanlagen in diesen Bereichen wurde vom Ingenieur Angelo Omodeo unterstützt, der schon in Piana dei Greci (Provinz Palermo, Sizilien) und der Piana di Catania gearbeitet hatte. Omodeo wird als einer der Väter der italienischen

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über 160 Millionen erhalten hat. Was die Einreichung von Projekten und die Vergabe des Auftrags betrifft, war es ein langwieriges Verfahren. Die technische Initiative ist dem Ingenieur Omodeo zu verdanken. Mit den Arbeiten in der Ebene dei Greci und in der Ebene von Catania hat er sich um Süditalien und um die Inseln verdient gemacht. Das Gleiche müsste in den Ebenen von Terranova und von Licata getan werden, und man müsste das Problem der künstlichen Speicherbecken angehen, über das in Sizilien seit mehr als einem halben Jahrhundert gesprochen wird. Aber weder dieses noch irgendein anderes sizilianisches Problem kann gelöst werden, wenn Sizilien weiterhin als Kolonie betrachtet wird und die Regierungsparteien meinen, sie hätten ein Mandat in Sizilien, das sie über ihre politischen Agenten ausführen könnten. Der Giolittismus ist in Sizilien eine Erinnerung an Intrigen, Gewalt sowie moralische und politische Depression.t Es bleibt zu hoffen, dass Mussolini nicht den gleichen Fehler macht wie Giolitti. Aber glauben Sie, dass Widerstand möglich ist? Das ist sicher schwer, solange Sizilien keine Selbstverwaltung hat; es muss sich (wie jede andere Region) seine führende Klasse, seine Fachkräfte und Politiker ausbilden, eine eigene Wirtschaft aufbauen, seine Vitalität in die Vitalität der Nation einbringen; es muss es schaffen, genauso viel zu gelten wie die Emilia, die Lombardei und Ligurien, sonst bleibt es für immer das Aschenbrödel, das wunderschöne Aschenputtel, das um das Almosen irgendeiner Eisenbahnlinie oder den Gefallen irgendeiner Straße bettelt oder um Hilfe für den Wiederaufbau nach dem Erdbeben (15 Jahre später) ersucht oder um die Barmherzigkeit der Regierung bittet, sich beim Abschluss der Handelsabkommen daran zu erinnern, dass es in Sizilien Zitronen gibt und Marsala und andere typische Weine produziert werden.

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Elektroindustrie geschätzt. Siehe z. B. Carlo G. Lacaita (Hg.), Bonomi e Omodeo: il governo delle acque tra scienza e politica, Manduria 2010. Für Giuseppe Micheli siehe Anmerkung o. Alberto Beneduce (1877–1944) war ein italienischer Wirtschaftswissenschaftler und Präsident von wichtigen ökonomischen und industriellen Instituten. Beneduce hatte auch verschiedene politische Ämter inne; 1939 wurde er Senator. Nach Sturzo entspricht der „Giolittismus“ im Süden einem System von Korruption und Klüngelei. Einige wegen Korruption angeklagte Persönlichkeiten, die Sturzo schon an anderer Stelle genannt hat (z. B. Vito de Bellis, vgl. den Text „Geist und Wirklichkeit“), waren mit Giolittis Milieu verbunden. Gaetano Salvemini, wichtiger Historiker und Politiker, bezeichnete Giolitti als „den größten Verderber“ des Südens. Gaetano Salvemini, Il ministro della mala vita: notizie e documenti sulle elezioni giolittiane nell’Italia meridionale, Turin 2000.

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Aber steht die regionale Selbstverwaltung im Widerspruch zur nationalen Einheit? Das ist ein Vorurteil, das beseitigt werden muss. Die Selbstverwaltung (welche die Nation nicht leugnet, sondern voraussetzt, integriert und aufwertet) ist nicht nur eine Notlösung für die Wahlen, die in jede Region oder in jede Provinz und jede Gemeinde gebracht wird, sondern eine politische Übung, die Bildung von Regierungsklassen, ein Anreiz, eine Untersuchung der ökonomischen Probleme und lokale Aufwertung. Italien steckt in jedem Winkel, jedem Dorf und jeder Stadt dieses Landes, sonst wäre es nicht Italien. Das ist unsere Geschichte und unser Leben. Deshalb sind die Popolari, die italienischer und patriotischer sind und mehr für die Einheit stehen als jede andere Partei, Regionalisten und Autonomisten. Dieser regionalistische Aufschrei ging von mir aus, der ich Sizilianer bin und den Geist unserer Insel, die der italienischste Teil dieses Landes war und ist, intensiv gelebt habe und lebe. Denn die Lombarden, Venetier und Emilianer, und das ist seltsam, sind stärker mit ihrer Heimat verbunden als die Süditaliener und die Sizilianer; für die Ersten endet Italien am Po oder in Florenz, mit einem Auswuchs in Richtung Rom; Neapel und der Vesuv gehören zum Museum der schönen Sehenswürdigkeiten; der Rest ist Kolonie. Für uns Sizilianer endet Italien mit den Alpen, und der einheitliche Nationalgeist wird stärker gefühlt und ist lebendiger, so wie die monarchistischen und parlamentarischen Institutionen stärker in unserer Seele verankert sind. Das liegt teilweise daran, dass sich nur das süditalienische Bürgertum an der nationalen Politik beteiligt, während die Handwerker und die Bauern aufgrund der Isolierung der ländlichen Ballungszentren, die weit vom Großgrundbesitz entfernt liegen, sich oft in lokalpatriotischen und personalistischen Kämpfen erschöpfen. Das ist der tote Punkt, der überwunden werden muss. Es bedarf der Herausbildung von Parteien, Ideen und Programmen; außerdem sind eine starke Organisation der arbeitenden Klassen und die Verbreitung der Kultur nötig. Dann wird man auch der übergeordneten Rolle der zentralen Macht entgegentreten, deren Präfekten und Polizeichefs Nachsicht gegenüber der lokalen Kriminalität und der Unterwelt walten lassen. Es wird jahre- und jahrzehntelanger Arbeit bedürfen – der sich der Partito Popolare Italiano verschrieben hat –, um das öffentliche Leben in Süditalien zu versittlichen und um ein politisches Bewusstsein entstehen zu lassen, das keinen Schwankungen unterliegt. Es ist bemerkenswert, dass nur der Partito Popolare Italiano sein Programm, den Glauben an seine Ideale und die Geschlossenheit seiner Mitglieder bewahrt hat. Diese Unerschütterlichkeit verkörpert den Stolz und die Traditionen unserer Heimat besser als die Schwankungen und die schüchterne Haltung Orlandos oder das bedenkenlose Sich-mit-dem-Wind-Drehen

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­ arnazzas, der von der gemäßigten klerikalen Haltung zu den Anhängern von C De Felice übergelaufen ist,u und dann vom demokratischen Giolittismus zum Faschismus; mit Ehrenmitgliedsausweis. Die politische Geschäftemacherei und das Fehlen von Idealen, die den Geist stärken, sind heute umso bedauerlicher, da sich eine Partei mit dem Staat und mit der Nation identifiziert. Süditalien und Sizilien können dieses Durcheinander von Partei, Staat und Nation nicht verstehen. Das Interview endet mit dem Wunsch, dass die Sizilianer in der Lage sein mögen, sich mit Willenskraft und Selbstvertrauen durchzusetzen, ohne Abtrünnigkeit und ohne Verzagtheit, und dass sie, obwohl der Kampf heute wegen eines künstlichen und unaufrichtigen Wahlgesetzes unter schwierigen Bedingungen stattfindet, den Drang nach lokaler Selbstverwaltung sowie nach politischem und ökonomischem Intellektualismus noch stärker empfinden. Das werden die Kräfte der Zukunft sein, und der sizilianische Beitrag dazu wird die gleiche Bedeutung und das gleiche große Gewicht haben wie jener im 18. und 19. Jahrhundert vor und während unseres Risorgimento.1 Februar 1924

Vom Kongress von Turin bis zu den Parlamentswahlen (April 1923 bis April 1924) Heute vor einem Jahr hallte der Schrei Es lebe der Partito Popolare! wie eine feierliche Bejahung des Lebens durch das Teatro Scribe in Turin; und wiederholt ertönte der Ruf Es lebe die Freiheit! wie eine Forderung und ein Sinnbild. Es war der erste und einzige echte politische Kongress in Italien nach dem Marsch auf Rom und das erste Wiedererwachen eines unabhängigen politischen Bewusstseins nach der totalitären und einebnenden Demütigung aller anderen politischen Ideen, die sich in einer Partei verwirklichen wollen und nach Leben streben, seitens des Faschismus, der sowohl Staat als auch Nation ist. u

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Giuseppe de Felice Giuffrida (1859–1920) war ein Politiker, dessen politisches Leben sich überwiegend in Catania (Sizilien) abspielte. Gegner Carnazzas, mit dem er sich 1919 versöhnte, und dem Sozialismus nahe stehend, unterstützte er verschiedene lokale Projekte, die alle Oppositionsparteien in Übereinstimmung brachten. De Felices politischer Ansatz wurde „defelicianesimo“ genannt. Francesco Maria Biscione, De Felice Giuffrida, Giuseppe. In: Dizionario Biografico degli Italiani, 1987, Band 33, http://www.treccani.it/enciclopedia/de-felice-giuffrida-giuseppe_(Dizionario-Biografico)/; 12.8.2018. Interview, das auf Wunsch von L’Ora aus Palermo geführt und dann nicht veröffentlicht wurde.

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An den Geist unseres Turiner Kongresses zu erinnern, der wie eine Firmung der Partei war und diese daran hinderte, in Lethargie zu verfallen oder an den Flanken von einem Krebs zerfressen zu werden, ist die Pflicht der Popolari, die der Idee, unsere Energie der Zukunft des Vaterlandes zu widmen, treu geblieben sind. Der Geist des Kongresses war wirklich popolare, wegen seiner Lebendigkeit, seiner Unabhängigkeit und der Fahne des Partito Popolare als Selbstbehauptung der christlichen Demokratie, der politischen Freiheiten und der nationalen Versöhnung! In diesem Rahmen wurde die Regierungsbeteiligung konzipiert, weder Ergebenheit oder Rückzieher in Bezug auf das Programm, noch die Übergabe von Geiseln mit Ministerhut, sondern die verfassungsmäßige Normalisierung unseres Programms innerhalb der faschistischen Aktivitäten. Diese Auffassung konnte damals trotz des lokalen Illegalismus, der auf der Seite der Faschisten stehenden Milizen und der Amnestie zu nationalen Zwecken gerechtfertigt werden, denn man hoffte noch auf eine Lockerung des faschistischen Drucks, auf eine Anerkennung der nationalen Werte der anderen Parteien und deren freie Koexistenz. Wenn Gegner oder ehemalige Freunde (was das Gleiche ist) uns vorwerfen, dass der Turiner Kongress ein taktischer Fehler und eine falsche Einschätzung der Realität gewesen sei, sind sie sich nicht der moralischen und der politischen Bedeutung dieser Veranstaltung und der Notwendigkeit, sie abzuhalten, bewusst. Der darauf folgende Verlauf des politischen Lebens Italiens rechtfertigte ihn voll und ganz. Das Ende der Regierungsbeteiligung kurz danach, wofür der Kongress als Vorwand diente, wäre wegen der Reform des Wahlrechts oder aus irgendeinem anderen Grund gekommen, denn es gab keinen Mittelweg: Entweder verzichtete man darauf, anders zu denken und die politische Realität anders einzuschätzen, oder man musste jegliche Verbindung abbrechen. Das betrifft nicht nur uns, denn der Faschismus wollte mit keiner Partei irgendein Bündnis. Die Liberalen und die sozialen Demokraten mussten während der Zusammenarbeit auf jede unabhängige Existenz verzichten; und dennoch sind sie zu Gegnern geworden, und je ernsthafter sie vorher in der Zeit der Zusammenarbeit gewesen waren, desto stärker wurden sie bekämpft. Giolitti wurde vom ausgestopften Kauz (Rede von Padua) zum Vorsitzenden der parlamentarischen Kommission für das Wahlgesetz (Juni 1923) und vom Unterstützer (Januar 1924) zum Mann im langen Mantel auf dem Schneeberg (März 1924) und kehrte zusammen „mit drei Soldaten und einem Tamburin“ in die Kammer zurück (April 1924). Die ehemaligen Mitglieder des Partito Popolare mussten ihrer politischen Persönlichkeit entsagen und zu dekorativen Figuren werden, die „nicht spre-

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chen“, genau wie in den Komödien;v und wenn sie sprechen, dann müssen sie es wie ein Chor im Hintergrund tun; immer und auf alles werden Lobeshymnen gesungen. Es ist, als ob sie aus dem lethargischen Zustand ihrer politischen Existenz erwachen und die Augen öffnen und „rundherum einen Horizont voller schöner Dinge“ sehen würden, wie in einem Schulaufsatz der ersten Gymnasialklasse. Sie haben ein derartig hohes Maß an spiritueller Assimilation erreicht, dass sie die mit den Wahlen verbundene Gewalt, die ständigen Drohungen gegen jede Art von individuellen Aktivitäten, die systematische und dreiste Verletzung des Gesetzes und die Unterdrückung von Minderheiten nicht bemerkt haben. Nichts, gar nichts. Sie haben überhaupt kein Urteilsvermögen mehr und keine Scham, in Bezug auf offensichtliche Tatbestände zu lügen: Das ist die Stärke der zustimmenden Diener, die der Faschismus als sein Gefolge wünscht. Jeder denkende Mensch; jedes freie Wort, das kritisch ist; jedes unabhängige Bewusstsein, das gegen die Ungerechtigkeiten und den systematischen Gesetzesbruch rebelliert; und jede Partei, die für ihre eigenen Ideale kämpft, wird von dem intoleranten und überheblichen Faschismus geächtet. Durch den Turiner Kongress wurde vielen diese Antinomie bewusst: Es gab keinen Streit zwischen zwei unterschiedlichen Theorien, denn die Faschisten hatten und haben bis heute keine Theorie; es waren nicht zwei politische Kräfte, weil sich der Popolarismus nicht auf die parlamentarische Ebene des dualistischen Spiels begeben konnte, sondern eine moralische Antinomie, die aus der Notwendigkeit heraus zu einem politischen Gegensatz wurde. Der Prozess war schwierig, was vor allem daran lag, dass kein Mitglied des Partito Popolare von vornherein resignieren und anerkennen wollte, dass der Versuch der Normalisierung des politischen Lebens in Italien gescheitert war. Wenn man etwas inbrünstig wünscht, ist es nicht leicht, ernüchtert festzustellen, dass dies unrealistisch ist. Ein weiterer Grund ist die Abspaltung einiger Parlamentarier während der Debatte über das Wahlgesetz und der Versuch, die Partei zu umgarnen oder mit Revisionismus zu ersticken; und schließlich die heikle Position der Fraktion im Parlament, die wegen der Anzahl ihrer Abgeordneten und den verschiedenen Strömungen verantwortungsvoller Männer glaubte, nicht zur Opposition werden zu können und sich auf die Formel „weder Opposition noch Zusammenarbeit“ beschränkte. Aber das war der letzte Schritt: Die allgemeinen Parlamentswahlen zwangen zu einer klaren Haltung ohne Zögern und Missverständnisse. Und diese kam vom Parteivorstand mit dem Appell vom 26. Januar, der ebenfalls (wie v

Hier unterstreicht Sturzo, dass die Kollaborateure des Faschismus, unter denen auch ehemalige Mitglieder des PPI waren, wie die sekundären Gestalten in Komödien eine reine Unterstützerrolle spielten.

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der Turiner Kongress) die erste und klarste politische Äußerung in der Zeit der Wahlen war und von verschiedenen italienischen Parteien verfasst wurde. Diese Erklärung brachte uns eindeutig in die Opposition. Der Wahlkampf erklärte diese Haltung für gut und zeigte die Logik der Tatsachen sowie die Eindeutigkeit des Prozesses. Rodinò und Gronchi hielten im Namen des Parteivorstandes maßgebende Reden. Und nun – ein Jahr später – kam es zur Entscheidung der Wähler: Trotz der Abtrünnigen, trotz der Einschüchterungen, mit denen die Geistlichen dazu gebracht werden sollten, sich hinter den Faschismus und gegen uns zu stellen; und trotz der Nutzung von Rundschreiben, Kardinalsbriefen und Mitteilungen von Bischöfen zugunsten des Faschismus; trotz des Missverständnisses, das absichtlich von Gegnern über das in ihren Augen richtige Fernhalten von der Politik seitens der Katholischen Aktion erzeugt wurde, womit sie die Katholiken verurteilen, die in einer Partei aktiv sind, die die christliche Lehre in keiner Weise schwächt; trotz der hinterlistigen, undankbaren, ungerechten und defätistischen Kampagne verschiedener klerikal-faschistischer Zeitungen haben wir 650 000 Stimmen und 40 Sitze bekommen. Es muss außerdem angemerkt werden, dass wir in fast ganz Italien das Privileg hatten, von den Faschisten bekämpft zu werden; wir sagen Privileg, weil die Kommunisten nicht nur in den Worten verschiedener Redner wie Mussolini und anderer, sondern auch in der Realität den Mitgliedern des Partito Popolare vorgezogen wurden. Das ging so weit, dass die Kommunisten in Gegenden, wo sie weder einen einzigen Abgeordneten noch irgendeine seriöse Organisation hatten, wie in Sizilien, den Quotientenw erfüllten. In Anbetracht des enormen Drucks durch Drohungen, gesetzeswidriges Verhalten und Willkür jeder Art, sodass die Wahlen von 1924 keinesfalls die berühmten Wahlen Giolittis oder Crispis als Präzedenzfälle hatten;x und in Anbetracht der fehlenden Unterstützung der Presse in mehr als acht von fünfzehn Wahlkreisen und angesichts des Mangels an finanziellen Mitteln, sodass unser Wirken eine wahrhaft franziskanische Aktiony gegenüber den

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Mindeststimmenanteil eines Kandidaten, um gewählt zu werden. Francesco Crispi (1818–1901) war eine wichtige Persönlichkeit des Risorgimento und von 1887 bis 1891 sowie von 1893 bis 1896 Regierungschef. Er unterstützte eine expansive und koloniale Außenpolitik, während seine Innenpolitik mit wichtigen sozialen Reformen und starken Repressionen verbunden war. Seine politische Karriere endete 1896, als Italien in Adua (Äthiopien) geschlagen wurde. Zu Crispi siehe z. B. Daniela Adorni, Francesco Crispi: un progetto di governo, Florenz 1999. y Die Franziskanische Gemeinschaft, begründet 1208/09 von Franz von Assisi, ist für ihre strengen Regeln bekannt, die den Ordensbrüdern ein Leben in Armut vorschreiben.

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Fürsten des Faschismus war, können wir nicht anders, als der Vorsehung zu danken, die dieses politische Instrument der italienischen Katholiken trotz der Stärke des Gegners bewahren wollte. Und die Popolari haben das Recht, ihre Meinung zu sagen und denjenigen Mut zu machen, die Angst haben, die Masse der Italiener könne durch Schuld des klerikalen Konservativismus der Regierung antiklerikal werden. Sie haben das Recht, den Kontakt zum Volk zu halten, das unter Gewalt, Unterdrückung und dem Mangel an persönlicher Freiheit leidet, und ihm das Gefühl der Hoffnung zurückzugeben, das auf einem Austausch im Namen einer Partei basiert, die den religiösen Glauben und die christliche Barmherzigkeit weder verrät noch knechtet. Wie die neue Ordnung der Dinge sein wird, wissen wir nicht: Wir haben kein Vertrauen, dass sich der totalitäre Stil ändert, der diktatorische Traum zu Ende geht und unsere verfassungsmäßige Regierung und unsere demokratische Basis zurückkehren. Der Partito Popolare Italiano, der einen Reinigungsprozess durchlaufen und sich von jeder Bindung an die Kollaboration der Vergangenheit befreit hat, beginnt heute eine neue Phase als erste Gruppe in der Minderheit und in der Opposition in der Abgeordnetenkammer, damit sich das Land an gesünderen, reineren, ehrlicheren und christlicheren Idealen orientiert und seinen Glauben an die Demokratie als rechtmäßige Basis der Entwicklung und des Fortschritts wieder bekräftigt. Diese Aufgabe des Popolarismus unterscheidet sich von der anderer Oppositionsbewegungen, von der sogenannten konstitutionellen Opposition ebenso wie von der der Sozialisten. Ihnen fehlen ein grundlegendes religiöses Prinzip und ein ethisches Motiv, die bei uns hingegen lebendig sind und wirken. Hinzu kommt, dass die eine, die konstitutionelle Opposition, keine arbeitenden Massen hinter sich hat, weil es ihr an einer richtigen Arbeiterbewegung mangelt. Die andere, die sozialistische Opposition, lehnt die ökonomische Struktur der heutigen Gesellschaft ab. Der Popolarismus hat folglich eine große und verantwortungsvolle Aufgabe und bewahrt in seinem Innern das Geheimnis der Zukunft des Landes. 12. April 1924

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Für die Sanierung Süditaliens Die allgemeinen Parlamentswahlen vom 6. April sind für den Süden Italiens ein skandalöses Ereignis; und zwar nicht so sehr wegen der politischen Bedeutung des Ergebnisses für die Faschisten, das unverfälscht auch ein Element der Krise im positiven Sinne hätte sein können, sondern wegen des unverfrorenen Illegalismus, der Wahltäuschung, des zum System gewordenen und großen Betrugs, des Verbrechens, das Sizilien beherrscht, der Korruption und der Herabwürdigung des Beamten, der Gesetze verletzt und andere dazu anstiftet, Gesetze zu verletzen, indem er ihnen Straffreiheit verspricht; und auch wegen des Geschachers um Stimmen, der Ausnutzung der niedrigsten Leidenschaften; wegen des mit der Wahlstimme gekauften Schweigens in Bezug auf eigene Vergehen; und überdies wegen organisierter Drohungen und der offenkundigen Genehmigung, Gewalt gegen die wehrlosen Massen auszuüben; wegen der Pflicht zur offenen Abstimmung, der überwachten Wahlkabine; der Staatsgewalt, die die Störungen stillschweigend zuließ. Das ist ein Resümee dessen, was der Süden Italiens in den schicksalhaften Tagen der Wahlen gesehen hat. Der faschistische Führer, der aus der Romagna kommt und die Seele Süditaliens nicht kennt und vielleicht nicht weiß, zu welchem Preis seine Landsknechte die Wahlstimmen gekauft haben, hat Süditalien gepriesen, das während einer Wahlorgie vom Faschismus erobert wurde. Aber wenn er ein Süditaliener wäre, fände er die emphatische Geste und die rhetorischen Blüten von zweifelhaftem Geschmack und würde mit einem Augenzwinkern brummen: Wir haben es diesen armen Schluckern aus den beiden Sizilien gezeigt; wir haben uns die Schlausten und die Stärksten von Corradini bis Cesarò in die Tasche gesteckt.z Das geschieht ihnen recht! Und dann reicht es: Man raucht Pfeife und stellt sich vor, den Ätna oder den Vesuv anzuschauen. Das sind die schönsten Berge Italiens. Wenn Mussolini Anfang Mai auf Einladung des Neutralisten Carnazzaaa nach Sizilien kommt und diese grünen Orte voller Blumen sieht, soll er sich weder vom Geruch der Erde noch vom Applaus dieser fantasiereichen Bevölkerung berauschen lassen. Diese Ergriffenheit dauert eine Stunde, die vorbeigeht, bevor das Echo des Applauses abklingt und bevor der Schatten der sich zerstreuenden Menschenmenge verschwindet. Seit der Einigung Italiens lastet ein fatales Schicksal auf dieser Bevölkerung: Das Schicksal der armen, geknechteten, unterworfenen Region, die sich     z Für Giovanni Antonio Colonna di Cesarò siehe Anmerkung e. Enrico Corradini (1865–1931) war ein italienischer Schriftsteller und Politiker und ein wichtiger Vertreter des imperialistischen italienischen Nationalismus. aa Die Neutralisten waren, im Gegensatz zu den Interventionisten, die Befürworter der Neutralität Italiens im Ersten Weltkrieg.

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nicht in die Klasse der reichen und herrschenden Regionen erhoben hat, zu der die Lombardei, das Piemont, Ligurien, die Po-Ebene, die Emilia und die Romagna gehören. Das Analphabetentum ist kein äußerliches, oberflächliches und zufälliges Problem, das durch den Mangel an Schulen entstanden ist, sondern ein Zeichen der Armut, eine innere Krankheit gleich der Malaria, der Mafia, der Camorra, der Überzahl an gescheiterten Existenzen und der Unrast bei der Suche nach Arbeit, den lokalpatriotischen Kämpfen, der Auswanderung von nicht qualifizierten Arbeitskräften. In diesem Umfeld von verschlissenen Kräften, wirtschaftlicher Armut und mangelndem Zusammenhalt, wo der Individualismus vorherrscht, von den geistigen Höhenflügen bis zur wirtschaftlichen Isolierung und zur immer größeren moralischen Traurigkeit, hat die italienische Regierung vierundsechzig Jahre lang Korruption und Unterdrückung betrieben, die jener der Regierung der Bourbonen oder des Vizekönigreiches in härteren und weniger reizenden Zeitenbb gleichkommt. Der Prokonsulismus à la Giolitti, der für Namen wie De Bellis und Peppuccio Romano, Cirmeni und Corradini berühmt ist,cc erscheint nichts im Vergleich zur Herrschaft der unerfahrenen Ras,dd welche die Unterstützung, die Anleitung, den Schutz und die Begünstigung der alten kränklichen Herren erfahren haben, die jetzt wieder das schwarze Hemd tragen. Es gab keine Umgestaltungen, nur die Verschlechterung des Systems. Die Mafia von Partinico und Carini diente gestern einem demokratischen, heute dient sie einem faschistischen Orlando:ee Es ist eine Frage des Ausmaßes der Straffreiheit. Ein demokratischer Orlando konnte, auch wenn er an der Regierung war, nur 20  Prozent Straffreiheit versprechen, aber der faschistische Orlando gewährleistet 60  Prozent. Als der Abgeordnete Carnazza als gemäßigter Liberaler De Felice bekämpfte, erlebte er, was das gewalttätige Bündnis der Unterwelt des Caprarismus seiner Provinz bedeutete, welches das baltische Kommando (Squadra del Baltico) genannt wurde.ff Heute, wo er quasi in den Rang des faschistischen Vizekönigs Siziliens erhoben wurde, weiß er viel besser und mit größerer Raffinesse als sein vulgärerer ehemaliger Rivale, die Squadre del Baltico und die organisierte Mafia zu nutzen. bb Zitat, dessen Urheberschaft bis heute umstritten ist. cc Zu Giovanni Giolitti siehe Anmerkung d im Text „Unser ,Zentrismus‘“; zu De Bellis und Romano die Anmerkung d im Text „Geist und Wirklichkeit“; zu Corradini Anmerkung z in diesem Text. Benedetto Cirmeni (1854–1935) wurde 1892 Abgeordneter – dank Giolitti und seiner Regierung, denen Cirmeni seine Karriere zu verdanken hatte. dd Lokale Anführer der Faschisten. ee Partinico und Carini (Palermo, Sizilien) sind zwei italienischen Gemeinden. ff Die Bedeutung des italienischen Wortes „caprarismo“, das Sturzo hier verwendet, ist nur schwer zu erklären. Vermutlich bezeichnet er damit die begrenzte Weltsicht der ländlichen Bevölkerung („capra“ bedeutet „Ziege“).

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Apulien hatte die Schlägertypen als zuckersüße Menschen in Erinnerung; heute ist das Mürbeteiggebäck aus Kichererbsen aus Andria zum Muskelprotz geworden, und das Mindeste, was ihre Squadristi tun konnten, war, Brandstiftung und Mord anzudrohen sowie mit Gewehren mit Platzpatronen umherzuschießen, um die Leute zu erfreuen, als ob es Karsamstag oder die Neujahrsnacht wäre. Der Bauer aus Süditalien, der gleichzeitig ungebildet und klug, Analphabet und äußerst intelligent ist, hat genau darüber nachgedacht: Gestern war es ähnlich wie heute; heute ist der Sturm stärker als gestern, aber es bleibt ein Sturm. Der sizilianische Viehräuber, der Mafioso, der ins Gefängnis gehört, und der Dieb von der Camorra laufen frei herum, um Überfälle zu machen und Wahlbetrug zu organisieren: Das sind Leute, die das Prinzip Nichts ohne Gegenleistung gut kennen. Diejenigen, die einen hohen Preis dafür bezahlen werden, sind die anständigen Leute, der Bauer, der Handwerker, der Kleinbürger und der Pächter. Die Verteidigung der Klüngel gestern, die sich auf die wichtigsten Familien des Landes und auf die kommunalen Verwaltungen stützten, die von demokratischen Abgeordneten geführt wurden, bleibt heute immer noch eine Verteidigung, es hat sich nur der Name geändert: Der Demokrat hat sich als Faschist verkleidet; der eine wie der andere stützen sich auf das Paar Mafia – Polizei, Camorra – Polizei oder Schlägertrupps – Polizei. Eine Ergänzung aber gibt es: den Knüppel. Oh, heilige Freiheit des Knüppels, der diejenigen tief ausatmen lässt, die von der lokalen Kleinkriminalität leben und unverletzlich geworden sind, als ob er der Zauberring aus den Märchen wäre und ein mächtiger Zauberer seinen bevorzugten Paladinen ein unfehlbares Schwert gegeben hätte! So hat die alte süditalienische Unsitte ihren Weg wiedergefunden; die Namen Casertano oder Porzio, Riccio oder Maury, Joele oder La Russa, Abisso oder Pasqualino-Vassallo, die über ein Vierteljahrhundert über alle Gesetze und über jede Moral triumphiert haben,gg sind heute mit den selbstsicheren, gg Hier nimmt Sturzo Bezug auf verschiedene Abgeordnete, Senatoren oder Minister, die aus Süditalien stammen. Antonio Casertano (1863–1939) wurde 1925 als Präsident der Abgeordnetenkammer in die faschistische Regierung aufgenommen; Giovanni Porzio (1873–1962) hatte verschiedene Ämter inne und war Untersekretär der Regierungspräsidentschaft in der letzten Regierung Giolittis; Vincenzo Riccio (1858– 1928) war ein Rechtsanwalt und Abgeordneter, der in den letzten vorfaschistischen Regierungen verschiedene Ämter innehatte; Eugenio Maury di Morancez (1858– 1943) war 1910 Postminister; Francesco Joele (1863–1935) war Senator; Ignazio La Russa (1869–1935) war Untersekretär im Wirtschaftsministerium in Mussolinis Regierung; Angelo Abisso (1883–1950) war Abgeordneter und später Senator; Rosario Pasqualino-Vassallo (1861–1950) war Abgeordneter und Minister in Giolittis letzter Regierung (1920–1921).

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sympathischen Burschen in den schwarzen Hemden verbunden und setzen ihre Tradition noch stärker und ungestörter fort; und sei es nur in der Nebenrolle adliger Väter: Aber sie tun es mit Mitteln und Methoden, die von einer skrupellosen Regierung gestärkt werden, die entschieden hat, eine Quasi-Einstimmigkeit zu erreichen und die Gegner um jeden Preis zu beseitigen. Und Süditalien erlebte misstrauisch und erschüttert den kolossalsten Wahlbetrug, den man sich vorstellen kann: Fünfhundert Jungen und Rädelsführer reichten aus, um durch mehrfache Stimmabgabe 5 000 oder 6 000 Stimmen für die faschistische Partei zu bekommen. Die Parteien hatten keine Möglichkeit, Widerstand zu leisten. Viele haben sich angepasst, um das verheerende Abkommen für 10 oder 15 Prozent zu schließen. Auch die Popolari haben hier und da derartigen Versuchungen nachgegeben; und das kann trotz der gewaltgeladenen Atmosphäre, die an den Nerven zerrte und den Willen verunsicherte, nicht gerechtfertigt werden. Man bedauert, dass Süditalien, obwohl es der Politik große Männer, Menschen mit einem scharfen Verstand und reine Gewissen geschenkt hat und obwohl es über ein intelligentes und gebildetes Bürgertum und eine demokratische politische Orientierung verfügt, immer ein Land war, das von der Regierung (einer jeglichen Regierung) erobert wurde. Schuldig sind beide: die Regierung, die besticht, und der Süden, der sich bestechen lässt. Heute ist das Verdienst der Parteien, die Widerstand leisten, die unter hoffnungslosen Bedingungen kämpfen, dass sie den Keim der moralischen Rückeroberung am Leben halten. Aber dies kann nur auf zwei Weisen geschehen: Unter der Bedingung, dass die Minderheitsparteien versuchen, die politische Korruption, die Geschäftemacherei im Zusammenhang mit den Wahlen, die Unterwelt der Mafia und der Camorra zu überwinden und die Massen in moralischen und ökonomischen Verbänden zu organisieren. Ferner müssen sie in der Lage sein, die tatsächlichen Interessen des armen Südens zu verteidigen, der vom Schmarotzertum der Industriellen sowie vom Versuch der Banken und des Staates, die Ersparnisse des Südens für die Spekulationen des Nordens zu missbrauchen, ausgebeutet wird. Das politische und moralische Geschwür des Südens ist auch ein ökonomisches sowie finanzielle Knechtschaft. Nicht ohne Grund hat der Verband der Industrie dem Faschismus 25 Millionen für die Eroberung Süditaliens gegeben. In der Politik machen jene Herren nie etwas umsonst. Es gibt immer jemanden, der bezahlt! 16. April 1924

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Das christliche Bewusstsein Eine der bedeutendsten Aufgaben, wenn nicht die wichtigste unter den religiö­ sen Aktivitäten im Allgemeinen und innerhalb der Katholischen Aktion als Einrichtunghh ist es, in der Erziehung und im Leben den Sinn für das christliche Bewusstsein und dessen absoluten Wert wieder wachzurufen im Vergleich zu den relativen und kontingenten Werten des kollektiven oder individuellen Nutzens, egal ob man das politisches, ökonomisches oder gesellschaftliches Interesse nennt. Dieser Wert des christlichen Bewusstseins, das seine konstante, unbeugsame, strenge Norm von der Ethik ableitet und das vom Christentum – vom Glauben und von der Gnade – erhoben und gestärkt wird, präzisiert und determiniert das irdische Ende des Menschen als absoluten Begriff und überträgt die Werte der Zeit und des Raumes dieses Lebens ins Unendliche des anderen Lebens. Diese Bildung des Bewusstseins ist Glauben und durch den Glauben wird es zur Überzeugung; es ist Gnade, und durch die Gnade wird es zum Willen; es ist eine theologische und moralische Tugend und dadurch wird es auch zu einer menschlichen und sozialen Tugend. Das Problem, das sich heute in seiner erschreckenden Härte stellt, ist die mangelnde Anpassung des kollektiven Lebens an das christliche Bewusstsein; und da das kollektive Leben aus individuellen Aktionen (abgesehen von der Schwäche der menschlichen Vergänglichkeit) besteht, ist es auch der Mangel an (zumindest sichtbaren) Bemühungen, das Leben des Einzelnen, weil es in kollektiver Reibung wahrgenommen wird, mit dem christlichen Bewusstsein in Einklang zu bringen. Der psychologische Moment, in dem dieser Abstand festgestellt werden kann, tritt ein, wenn die beiden Tendenzen, die als die beiden Gesetze bezeichnet werden könnten – Geist und Materie, Bewusstsein und Interesse –, in Konflikt geraten. Der Nachhall dieses Konfliktes an den Rändern des kollektiven Lebens erhellt die vorherrschende Realität in recht tristen Farben; und das Opfer der Wenigen wird von den Kompromissen und Anpassungen der Übrigen verdunkelt.

hh Hier meint Sturzo das Engagement der Katholiken in ihren eigenen Institutionen. Dazu zählt vor allem die Azione Cattolica (Katholische Aktion), eine der wichtigsten Organisationen des katholischen Laienstandes. Die Organisation vergrößerte sich Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts und ist heute weltweit verbreitet. Siehe z. B. Giorgio Candeloro, L’Azione cattolica in Italia, Rom 1949.

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Das heidnisch geprägte Klima der modernen Gesellschaft, die Gier nach dem Vergnügen, die Schwäche und die Feigheit gegenüber den Mächtigen, der Durst nach Reichtum und Wohlstand, die Unverfrorenheit der Sittenlosigkeit, die Theorie und die Praxis der Gewalt, die krankhafte Verbreitung des Bösen und die Verherrlichung falscher Prinzipien lassen den Willen schwach werden und zerrütten den Charakter, lassen die ethischen Werte des Lebens untergehen, tragen die religiösen Praktiken nach außen, gewöhnen das Bewusstsein an die Gelegenheiten des Bösen, dämpfen den Sinn für Rebellion und Widerwillen und lenken den Geist vom Widerstand und von der Opferbereitschaft ab. Unter diesen Bedingungen bedarf es für eine mitreißende moralische Erneuerung des Glaubens der Urchristen und des Wunsches, ein Opfer zu bringen, das aus einem Verzicht, einem großen Verzicht und der totalen Entsagung besteht. Das Heidentum wurde von den Märtyrern besiegt, die vormittelalterliche Barbarei von der Askese, die Gewalt zuerst vom Mönchstum und dann von den Ordensbrüdern und den Terzariati,ii die Reformation von den religiösen Orden, die Französische Revolution vom engagierten Katholizismus und von den religiösen Gemeinschaften, die sich um Barmherzigkeit und Volkserziehung kümmerten. Heute rufen der Aufschwung des Glaubens und der Fleiß des letzten halben Jahrhunderts die Katholiken in besonderer Weise zu sozialen und politischen Kämpfen, im Namen eines Glaubens, der verteidigt, einer moralischen Ordnung, die wieder aufgebaut werden muss, einer rationalen Erhebung der Arbeiter, die zu unterstützen sind, und einer Öffentlichkeit, die zu christianisieren ist. Aber die zentrale Frage ist die nach der Entstehung eines christlichen Bewusstseins, das allen Widrigkeiten und Verlockungen gegenüber standhaft und sich selbst immer gegenwärtig bleibt. Der Unterschied zwischen der modernen und der mittelalterlichen Gesellschaft und der der Gegenreformation ist folgender: Damals war der religiöse Geist offensichtlich, offen und auch bei der Erfüllung der Pflichten im öffentlichen Leben, den Reibungen der gesellschaftlichen Kräfte sowie während der Pein der Kämpfe und Kriege gegenwärtig, während man heute in den verschiedenen Aktivitäten des öffentlichen Lebens keinerlei äußerliche ethisch-religiöse Bedenken im Sinne einer Bejahung der Bewusstseinspflicht erkennt. Der Grund ist klar: Die heutige Gesellschaft basiert auf einer Trennung der Vernunft von der Tradition, der Menschlichkeit von der Religiosität und der Ethik vom Christentum. ii

Anhänger einer religiösen Kongregation, der kein Gelübde ablegen muss (aber er darf), und einer Regel folgt, die der Kongregation treu ist und vom Heiligen Stuhl angenommen wird.

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Diese Trennung, die ihre tiefen Wurzeln im rationalistischen Individualismus der Reformation und ihre Aufsehen erregende Entfaltung während der Aufklärung hatte, die ihrerseits die große Revolution speiste, fand ihre praktische Umsetzung in den laizistischen Verfassungen der modernen Staaten und der antikatholischen Kultur der herrschenden Schichten. Die vom Christentum verwirklichte Umkehrung der Ziele auf ökonomischer, sozialer und politischer Ebene wurde verändert, indem der Mensch als Selbstzweck in den Mittelpunkt jeder Aktivität gestellt und vergöttert wurde, indem er entweder der Materie gleichgestellt (materialistischer Pantheismus) oder auf die Ebene des reinen Geistes erhoben (idealistischer Pantheismus) wurde. Man versteht sofort, wie der Geist des Opfers, das Wesen des Christentums, und folglich die Bedeutung der Pflicht in ihrem ganzen Ausmaß entfallen und die religiöse Praxis an sich oft auf einen äußeren Kult reduziert wird, auf den auch jene Massen verzichten, die zwar in häuslichen und provinziellen Milieus in der Nähe der Kirche gelebt haben, aber von der antireligiösen und materialistischen Propaganda beeinflusst werden. Wenn man in den Zeitungen liest, dass die Geschworenen der Schwurgerichte oft Angeklagte freisprechen, die gestanden haben, Mord als politische Vergeltung oder aus Leidenschaft begangen zu haben, stellt man sich schnell die Frage: Gibt es denn keine praktizierenden Christen unter diesen Geschworenen? Die gleiche Frage stellt sich in Bezug auf zahlreiche Richter, die zuerst die Bolschewiki freisprachen und dann die Faschisten, die beide Verbrechen gegen die gesellschaftliche Ordnung, die private Freiheit und das Eigentum begangen hatten. Sind diese vielleicht nicht gegenüber ihrem Gewissen verpflichtet, Gerechtigkeit walten zu lassen? Es gibt unzählige Beispiele: Sind die Landbesitzer alle skrupellos, die den Mitgliedern der faschistischen Sturmabteilungen Geld gegeben, sie unterstützt und ihnen Gefallen getan haben, um Menschen zu schlagen und Bauernhöfe zu überfallen und anzuzünden? Ist von denen niemand in die Kirche gegangen? Kommt niemand aus katholischen Kreisen? Und stehen diese Vorsitzenden der Verbände, die in den Massen ungesunde Instinkte erregt und Hass verbreitet haben, wirklich alle außerhalb jeglichen christlichen Einflusses? Man fragt sich manchmal, wie es möglich ist, dass unter den zahlreichen politischen Funktionären, die oft anständige Leute, gute Familienväter und aufrichtige Bürger sind, keiner ist, der gegen dieses System rebelliert, das auf der Mitwisserschaft und der Toleranz gegenüber denjenigen beruht, die morden, Überfälle verüben und brandschatzen. Man könnte so über zahlreiche andere Kategorien von Personen sprechen, die aufgrund ihres Amtes oder aus Berufung oder weil sie die Möglichkeit haben mit den wichtigsten Bereichen der öffentlichen Sicherheit zu tun zu haben, die von sozialer und moralischer Bedeutung sind.

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Man sagt, dass das Heldentum nicht erzwungen werden kann und viele, wenn sie Widerstand leisten würden, ihre Familien dem Hunger, Repressalien und Racheaktionen aussetzen müssten. Wenn dieser Gemütszustand verbreitet ist, macht er die Bildung des Charakters zunichte, dämpft die Entwicklung des christlichen Gewissens und lässt die erzieherische Kraft der heutigen Generation verkümmern. Liest man etwas über Heldentaten bei der Rettung von Menschen, die beinah im Wasser eines Flusses oder in den Flammen eines Feuers umgekommen wären, erhebt sich der menschliche Geist und man versöhnt sich mit unserer jämmerlichen Menschheit. Wenn sich ein Charakter im gesellschaftlichen Leben beweist, wird er aufrichtig geehrt und als Beispiel betrachtet. Wenn wir uns an den Einfluss der Christen der ersten Jahrhunderte in der heidnischen Gesellschaft erinnern, müssen wir nicht nur die Millionen Märtyrer ehren, deren Blut über dreihundert Jahre auf der Erde vergossen wurde, sondern man muss auch ihren festen und beständigen Willen betrachten, jegliche private und öffentliche Tätigkeit mit dem christlichen Geist und dem zwingenden Befehl des Glaubens zu durchdringen. So konnten sie an den Höfen der Kaiser, an den Gerichten und in den Heeren leben und waren dennoch in der Lage, darauf zu verzichten, wenn es nicht möglich war, dieses Leben mit der christlichen Praxis und der Erfüllung ihrer Pflichten zu vereinbaren. Eine Gesellschaft lebte dreihundert Jahre lang in einer anderen Gesellschaft und drang in diese ein, und als Kaiser Konstantin das Toleranz­ edikt erließ, schien die Welt christlich geworden zu sein, aber in Wirklichkeit war sie es schon seit langem. Heute dominiert und unterdrückt der heidnische Geist. Der Katholizismus kämpft mit den gleichen spirituellen Waffen wie in den ersten Jahrhunderten. Dadurch, dass er sich durch das Mysterium der Auferstehung Jesu erneuert, fordert er uns auf, nach Höherem zu streben anstatt nach den irdischen Dingen und das Fundament unseres Gewissens auf dem auferstandenen Christus zu errichten. Das Wort „Auferstehung“ bedeutet pax vobis. Nach der Qual der Passion und der Pein von Golgatha, nach der Zerstreuung der Jünger, dem Verrat des Judas, der Verleugnung des Petrus und dem Weinen der Frauen kehrt der Frieden in die Gemeinschaft und in das Bewusstsein der Menschen zurück, die ebenfalls von der irdischen Zeit in die Ewigkeit auferstehen werden; der Zweck des menschlichen Lebens wird von der Erde in den Himmel übertragen. Das, nur das ist die Grundlage, die Stärke und das Leben des christlichen Bewusstseins. 20. April 1924

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Politik und Gewissen 1. Wenn dieser Artikel gelesen wird, werden die Wahlen schon vorbei sein, und folglich kann er unabhängig von der derzeitigen Leidenschaftlichkeit interpretiert und als Beitrag zur Orientierung vieler verstanden werden, die nach jüngsten Behauptungen mit Bezug auf die Wahlen Schlussfolgerungen gezogen haben, die meiner Meinung nach weder ganz logisch noch auf theoretischer Ebene genau sind. Die Anregung für diesen Artikel bekam ich durch Behauptungen der Organe der Katholischen Aktion über die Pflicht der Katholiken, sich politisch nach ihrem Gewissen zu richten, wenn sie die eine oder die andere Partei bevorzugen. Ich sage Anregung oder besser Gelegenheit, weil ähnliche Behauptungen keine andere Tragweite haben können als die einer rechtmäßigen Entbindung der Organismen der Katholischen Aktion (als solcher) von der politischen Bewegung im Allgemeinen und insbesondere vom Wahlkampf. Aber wer glaubt, dass der Rat im politischen Bereich einen Gedanken voraussetzt, der von theoretischem und praktischem Agnostizismus und ethischem Indifferentismus geprägt ist, der würde sich täuschen, da dieser weit entfernt von allen denjenigen ist, die im Katholizismus Verantwortung tragen. Wie dem auch sei, es ist sicher angemessen zu untersuchen, ob und bis zu welchem Punkt man sagen kann, dass die Politik für jeden Einzelnen von uns eine bloße Gewissensfrage ist. Und weil meine Überlegungen im Rahmen einer wahren spirituellen Ordnung zum Ausdruck kommen, beziehe ich mich auf diejenigen, die an eine Religion glauben und diese praktizieren, das heißt auf die Katholiken und folglich auf deren Gewissen gegenüber der katholischen Glaubenslehre. 2. Um zu verstehen, wie wichtig die Bewusstseinspflicht auf politischer Ebene für einen katholischen Bürger ist, muss man eine grundlegende Unterscheidung machen, die auch historisch bedingt ist. Solange die politischen Regime autokratisch oder oligarchisch waren, gab es keine aktive politische Verpflichtung, die aus der Beteiligung jedes Bürgers am politischen Leben seines Landes abgeleitet wurde. Zwar gab es eine passive Pflicht der Einhaltung der Gesetze, des Respektes für die Autorität, der Verteidigung des Vaterlandes bzw. die indirekte Verpflichtung, mit dem eigenen Besitz, sowohl dem materiellen, wie zum Beispiel dem Reichtum, als auch dem moralischen, wie zum Beispiel der Wissenschaft, zum Wohl des Vaterlandes beizutragen. Die aktive Pflicht, ein Gewissen zu haben, lastete aber ausschließlich auf der herrschenden Schicht oder den Vertretern der Institutionen und der Klassen. Als dagegen der Rechtsstaat die Bürger aufforderte, sich direkt am Leben des Staates sowie an der Vertretung und der Regierungsbildung zu beteiligen, wurden neben dem, was ich passive oder indirekte politische Verantwortung

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nenne, auch aktive politische Pflichten als Gegenleistung für die politischen Rechte verankert, welche die Verfassung dem Volk gegeben hat. Die Pflicht entsteht folglich zur gleichen Zeit wie das Recht. All dies steht außer Zweifel und dem widerspricht – soweit ich weiß – niemand. Aber hier stellt sich ein Problem: Ist die Beziehung zwischen Bürger und Staat (hier bezeichne ich als Staat den höchsten Ausdruck der organisierten Gesellschaft, aber ich möchte alle weiteren öffentlichen Einrichtungen einbeziehen) rein individuell ohne irgendeine Verbindung zwischen den Bürgern; oder lässt sie eine innere Konvergenz, Solidarität und Mitverantwortung zu? Der individualistische Liberalismus konzipierte einen isolierten Bürger, der nur durch persönliche Bande mit dem Staat verbunden ist; er schaffte die Hierarchien und die Beziehungen anderer natürlicher Körperschaften ab oder schwächte diese und entwarf keine Vertretungen zweiten Grades: Wirtschaft und Politik beruhen auf rein individuellen Beziehungen. Es war eindeutig, dass dieses Konzept nicht rein äußerlich und formalistisch war, sondern eine innerste ideale Struktur widerspiegelte. In der Tat war das leitende Prinzip der liberalen Doktrin rationalistisch; und der Abbruch jeglicher sozialen Beziehung zwischen dem Individuum und jeder anderen Institution, einschließlich der Kirche, war bezeichnend für die vorherrschende politische Vorstellung: Das politische Subjekt stand nicht über dem Individuum, das sich durch den Erwerb seines Rechtes auf Freiheit und Souveränität zum einzigen konstruktiven Element des öffentlichen Lebens erhob. Die logischen Konsequenzen: Die Religion unterliegt dem Gewissen und ist nicht Gegenstand des öffentlichen Lebens; die Ethik ist individuell; das positive Recht erzeugt die Ethik, unterliegt ihr jedoch nicht; die Wirtschaft ist die freie Anstrengung des Einzelnen; die Politik ist die Summe der individuellen Wünsche, die in Form von Mehrheiten zum Ausdruck gebracht werden. Man versteht gut, dass diese extremen Formeln, die einer unerschütterlichen Logik unterliegen, in der Realität von der Reibung mit anderen Tendenzen und von den mit der Assimilation und der Ausführung verbundenen Schwierigkeiten abgeschwächt werden; andererseits ist auch die Logik der Tatbestände streng, wenn sich diese mit Notwendigkeit aus den Vorbedingungen ergibt. Das Wesen dieser Prämissen führt zu der Folgerung: Die Pflicht des Bürgers, seinen Verpflichtungen nachzukommen, die sich aus den politischen Rechten ergeben, war gemäß dem ursprünglichen Ansatz des Liberalismus nicht mehr als eine persönliche Gewissensfrage, da das Individuum als solches das einzige Subjekt der Rechte und der Pflichten ist. 3. Diesem strengen ursprünglichen Konzept stand eine Realität im Weg, die sich jenseits und außerhalb der liberalen Prämissen entwickelte. Vor a­ llem

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die Notwendigkeit der politischen Orientierung und des Proselytismus im Zusammenhang mit den Wahlen zwang die herrschende Klasse, mündliche und schriftliche Propaganda zu betreiben, um die verschiedenen politischen Strömungen bewerten zu lassen, die faktisch nur in Parteien verwirklicht werden konnten. Außerdem konnte die demokratische Strömung, die sich mit der Entstehung der kontinentalen Verfassungen durchsetzte und zuerst nach dem erweiterten und dann nach dem universellen Wahlrecht strebte, die am öffentlichen Leben beteiligten Massen nur in einer dauerhaften ökonomischen wie auch politischen Organisation kanalisieren. Obwohl es bis 1919 in Italien mit Ausnahme der Sozialisten keine politischen und parlamentarischen Parteien mit einer ständigen disziplinierten Organisation gab, durften Parteien und Gruppen nicht fehlen, die – von der Peripherie bis zum Zentrum, über kleinere öffentliche Einrichtungen oder ökonomische und moralische Institutionen – nach einer realen, unabhängigen und von politischer Konvergenz und Solidarität charakterisierten Existenz strebten. Ihre Programme stellten das unterscheidende Element und ihre theoretische Grundlage dar; weshalb die großen politischen Unterteilungen (außer personalistischen Gruppierungen) auf dem Liberalismus, der Demokratie und dem Sozialismus beruhten. Die Strömung mit einem religiösen Hintergrund wurde Klerikalismus genannt bzw. mit dem Moderatismojj aus Norditalien verwechselt oder als Christdemokratie tituliert, bis die Mehrheit der Katholiken, die sich auf politischer Ebene befreit hatten, zum Popolarismus überging und derzeit eine Minderheit zum nationalen Faschismus. Dieser historische Prozess deutet auf zwei erworbene und ununterdrückbare Tatsachen des heutigen politischen Lebens hin: a) dass die Ausübung der politischen Rechte ein anfängliches und unnatürliches individualistisches Stadium überwunden hat und sich in Richtung einer kollektiven Solidarität entwickelt, die – wie auch immer sie genannt wird – die Eigenschaften einer Partei besitzt; b) dass ein wichtiger Grund für die Unterteilung der Parteien die theoretischen Prinzipien sind, auf die sie sich stützen und die sie in ihrem praktischen Verhalten ausdrücken. 4. Man kann nicht a priori sagen, inwiefern die theoretischen Prinzipien die Tätigkeit der Parteien und die politischen Handlungen beeinflussen, die sie an den Tag legen, weil das vom Einfluss dieser Theorien auf das gesamte intellektuelle und gesellschaftliche Leben abhängig ist, sodass die Partei oft ein bloßes politisches Resultat darstellt, während sie in anderen Fällen auch oder vor jj „Moderatismo“ bezeichnet die moderate Strömung innerhalb des katholischen Milieus.

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allem ein Mittel der intellektuellen oder moralischen Eroberung ist. Sicher ist, dass es in dem einen wie dem anderen Fall keine auf historischer und nationaler Ebene lebensfähige Partei gibt, die sich nicht auf theoretische Prinzipien stützt, auf die sie sich berufen kann, um ihre eigene Existenzberechtigung, die Richtigkeit der zu erreichenden Ziele sowie die Legitimität und die Konklusivität ihrer Mittel zu beweisen. Die Dynamik der Parteien tendiert dazu, diejenigen unter den eigenen Einfluss zu bringen, die in den Prinzipien übereinstimmen und eine mögliche politische Disziplin akzeptieren, und folglich die individualistische und personalistische Tendenz derer zu überwinden, welche die bürgerliche Beziehung ausschließlich als Beziehung zwischen dem Bürger und dem Staat verstehen. Und niemand kann bezweifeln, dass diese Überwindung der Natur des gesellschaftlichen Lebens der Menschen entspricht, wenn man nur daran denkt, dass das gesamte menschliche Leben aus Gedankenaustausch, Zuneigungsbekundungen, Solidarität von Interessen und folglich aus dem Kampf gegen diejenigen besteht, die diese ewige und sich erneuernde gesellschaftliche Bindung leugnen. Und je intensiver das kollektive Leben wird, umso stärker wird die gesellschaftliche Bindung über den Kreis der Familie, den Heimatort, die soziale Schicht hinaus bis in die Region und die Nation und auch außerhalb der nationalen Grenzen empfunden. Je entwickelter und allgemeiner die Kultur, die Gesinnung und die Tätigkeit jedes Einzelnen sind, umso umfassender sind die Beziehungen. Und folglich ist es gut, daran zu denken: Wenn die Ausübung eines Rechtes, das gleichzeitig eine Pflicht ist, umso besser erfüllt wird, so wird das Ziel auch mit mehr Schlagkraft erreicht. Daher kann kein Zweifel daran bestehen, dass jeder abhängig von seiner Stärke auf die nützlichste und schlüssigste Weise am politischen Leben teilnehmen muss; das heißt, nicht isoliert und für sich selbst stehend jenseits jeglicher menschlichen Solidarität, was undenkbar wäre, sondern indem er sich in jene Strömung (ich sage nicht Partei) einbringt und nach den Theorien lebt, die seinen Überzeugungen entsprechen. Aus dieser Position ergeben sich zwei Verpflichtungen, die mit dem Gewissen verbunden sind: Erstens die politischen Theorien zu vertreten, die den eigenen Überzeugungen entsprechen, und zweitens sich (nach den jeweiligen Möglichkeiten) der politischen Bewegung anzuschließen, welche die Ideen vertritt, zu denen man sich bekennt. 5. Bevor wir unsere Untersuchung fortsetzen, wäre es gut, sich darüber zu verständigen, warum wir vor allem die Unterstützung der politischen Ideen, die den eigenen Überzeugungen entsprechen, als Pflicht betrachten. Damit mich diese Überlegung nicht vom Thema abschweifen lässt, erkläre ich meine Meinung in wenigen Zeilen.

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Die menschliche Gesellschaft kann sich nur auf rationale und vor allem finalistische Elemente stützen. Die finalistischen Gründe sind naturgegeben und bilden die Norm für das praktische Leben der Menschen, folglich sind sie die Grundlage der Ethik. An diese Norm sind die Menschen als Individuen und als Gesellschaft gebunden, aber auf gesellschaftlicher Ebene nimmt die ethische Norm im Recht Gestalt an und wird vom Gesetz ausgedrückt. Die Ordnung der Gesellschaft in einem Staat ist vor allem Ausdruck der kollektiven Ethik, Konkretisierung des Rechts, Herausbildung des Gesetzes. Dieser Vorgang wird von der Ordnung des Staates vorgegeben, der nur auf zwei Prinzipien beruhen kann: der Autorität und der Freiheit. Innerhalb dieser Grenzen entwickeln sich alle menschlichen, ökonomischen, organischen, intellektuellen und moralischen Tätigkeiten. Ist es möglich, dass man einer jeglichen politischen Richtung bezüglich dem, was für die Menschen wichtig ist, das heißt Ethik, Recht und Gesetz, Autorität und Freiheit und ihre zahllosen Auswirkungen auf alle Aspekte des menschlichen Lebens, gleichgültig gegenübersteht? Die Politik ist eine Synthese von Theorien und Interessen, Prinzipien und Tatsachen. Politik bedeutet Leben im vollständigsten Sinne des Wortes; und alle, die sich auch nur indirekt daran beteiligen, oder alle, die auch nur von den Auswirkungen beeinflusst werden, können nicht anders als die theoretischen Probleme in den Vordergrund zu stellen, genau wie diejenigen, die das Wesen der öffentlichen Arbeit und die Richtung des Landes beeinflussen. Heute sagt man: Kümmern wir uns nicht um Theorien, sondern um Tatbestände; wenn diese gut sind, kümmert es uns wenig, dass sie auf falschen Theorien beruhen. Ich möchte diese Behauptung nicht den Katholiken in den Mund legen (denn sie steht zu sehr im Widerspruch zu ihren religiösen Überzeugungen), sondern den Gleichgültigen oder denjenigen, die nicht daran gewöhnt sind, Untersuchungen durchzuführen und nur die alltägliche Kontingenz sehen. Ich habe das bezüglich des Gebrauchs von privater Gewalt gehört, den die faschistische Partei macht, um gegen ihre Gegner vorzugehen. Die Ordnung, die auf diese Weise hergestellt wurde (wenn man von Ordnung sprechen kann), wird als gute Sache verherrlicht, die unabhängig von der nicht annehmbaren Theorie betrachtet werden müsse. Diese Argumentation ist ein alter Sophismus, für den die soziale und die politische Vernunft untereinander getrennt sind und oft in Widerspruch zu einander gesetzt werden; diese Trennung ist nicht nur irrational, sondern grundsätzlich unnatürlich und demzufolge unmoralisch. Die Entwicklung der Zivilisation, die vom Christentum beeinflusst wurde, tendiert dazu, die Schwierigkeiten zu überwinden, um die politische Vernunft und die moralische Vernunft in einer einzigen Synthese zu verbinden, so wie eine andere Syn-

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these aus ökonomischer Vernunft und moralischer Vernunft versucht wird. Jede menschliche Anstrengung, die von der Vernunft erleuchtet wird, geht in diese Richtung. Jede Umkehrung und jede Entfernung von diesem Standpunkt ist die Haupt­ursache für die Entstehung von Unruhen. Wenn diese begriffliche Trennung aus einer Theorie abgeleitet wird, die einen dieser beiden Begriffe (den moralischen) leugnet oder diese miteinander verwechselt und aus der Politik ein moralisches oder eher ein amoralisches Ergebnis macht, muss man eine derartig falsche und schädliche Theorie bekämpfen. 6. Nachdem dieser Punkt geklärt ist, nimmt die Überlegung ihren Faden wieder auf: Heute findet die politische Unterscheidung grundsätzlich anhand von programmatischen und theoretischen Grundsätzen statt; aufgrund des Systems der politischen Freiheiten, auf das sich die Demokratie stützt, und wegen des Entwicklungsgrades des modernen Staates kann es nicht anders sein. Die Auswirkungen der Theorien auf die Praxis können mehr oder weniger umfangreich und mehr oder weniger effizient sein, aber man kann sie nicht leugnen. Der politische Pragmatismus, der vom Bürgertum ausprobiert wurde, glaubte, eine auf der liberalen Idee beruhende moralische Einheit des Volkes erlangt zu haben. Das wird heute vom Faschismus vollumfänglich wieder aufgegriffen, der glaubt, die moralische Einheit mit Gewalt durchgesetzt zu haben. Der politische Pragmatismus hält dem Streit der ideellen Strömungen nicht stand, und wenn er nicht nachgibt, verschmutzt und korrumpiert er das öffentliche Leben, nährt und steigert das Sich-mit-dem-Wind-Drehen, führt dazu, dass die ideellen Strömungen unbeständig und leer werden, und zerstört die herrschende Klasse, die keine Kraft mehr hat, dem Ansturm der organisierten Massen und dem übertriebenen Nationalismus entgegenzutreten. Folglich kann niemand, der über ein bisschen Logik verfügt, die Notwendigkeit leugnen (und die Ereignisse in mehr als einem halben Jahrhundert italienischer Geschichte beweisen dies), dass die Bürger Kenntnisse und eine (entweder direkte oder übernommene) Meinung über die allgemeinen Probleme der Politik ihres Landes haben und dadurch die Pflicht entsteht, sich zu vereinigen, aufzuklären und sich gegenseitig vorzubereiten. Es wäre im Übrigen seltsam, wenn eine Person, die verpflichtet ist, den Fahrplan zu kennen, wenn sie mit der Eisenbahn reisen möchte, die Regeln des Clubs, wenn sie Mitglied sein möchte, den Katalog der Ritterlichkeit, wenn sie der sogenannten Gesellschaft angehören möchte, und den Knigge, wenn sie in guter Gesellschaft verkehren möchte, die Bürgerpflichten nicht kennen müsste, wenn sie in einer bürgerlichen Gesellschaft leben muss (was sie notwendigerweise muss), aus der man nicht austreten kann, außer man wäre ein Übeltäter und zu lebenslanger Haft oder zum Tod durch die Guillotine verurteilt.

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Mitglied einer Partei zu sein ist wie ein Arbeitswerkzeug in den Händen zu halten: Die Partei ist kein Zweck, sondern ein Mittel, und zwar ein Mittel, dessen Funktion und Ziele äußerst delikat sind. Ich sage nicht, dass jeder, wie als Verpflichtung des Gewissens, Mitglied einer Partei werden müsse, aber abgesehen von der persönlichen Lage jedes Einzelnen gibt es ein allgemeines Leitkriterium, nach dem die (mehr oder weniger aktive) moralische Beteiligung an einer Partei eine echte Verpflichtung im Zusammenhang mit der Ausübung der politischen Rechte ist. Wenn das nicht so wäre – und nehmen wir an, dass sich die besten, ehrlichsten Menschen, die Wissenschaftler, die Männer, welche die moralischen und die religiösen Gesetze verbreiten, von der politischen Aktion zurückziehen würden (was die Katholiken in Italien über viele Jahre taten) –, wäre es dann ein Wunder, wenn sich in dem Land schädliche Strömungen, unterdrückerische Tendenzen, materialistisch inspirierte Parteien und heidnische Vorstellungen durchsetzten? Wäre es ein Wunder, wenn aus der Verwaltung des Staates und der lokalen Einrichtungen ein öffentlicher Markt voller Begünstigungen, Intrigen, Spekulation, Verschwendung und Unterschlagung im Amt würde? Wen würde es wundern, wenn die Bevölkerung litt, die Steuern schwer wögen und die Arbeit ausbeuterisch wäre? Wen würde es wundern, wenn die Ungerechtigkeit triumphierte? Auf diesem Gebiet kann der Bürger nicht losgelöst vom öffentlichen Leben bleiben, fern der Bürgerdebatten, nicht am sozialen Wohlergehen interessiert; das wäre eine moralisch nicht tolerierbare egoistische Handlung. Und der Bürger kann auch nicht in der Isolation seines Bewusstseins bleiben, was wenig oder nichts bringen würde, sondern er muss sich an den aktiven Strömungen des Denkens und Handelns beteiligen und jene nach den Idealen des Guten formen, die er fühlt und kultiviert. 7. Wenn dies das allgemeine Gesetz über das Zusammenleben in der bürgerlichen Gesellschaft ist, müssen wir die besondere Position der politisch engagierten Katholiken erwähnen. Ich beabsichtige (wie ich andere Male geschrieben habe) von den (wenigen oder vielen) aktiven Mitgliedern der Einrichtungen der Katholischen Aktion zu sprechen, das heißt von einer intellektuellen und moralischen „Elite“ der Italiener, von denen fast alle katholischen Glaubens sind. Und nun würden diese politisch engagierten Katholiken die Straftat der Vaterlandsbeleidigung begehen und die natürliche Gewissenspflicht verletzen, wenn sie nicht aktiv am politischen Leben des Landes teilnähmen. Denn sie würden den Einfluss ihres (von rechtgläubigen und moralisch gesunden Kriterien inspirierten) politischen Denkens der politischen Aktivität der anderen entziehen, in deren Händen sie (ohne dass die andern die gleichen Ideen und das gleiche Maß an Überzeugung bzw., so ist anzunehmen, die

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gleiche Sittlichkeit vorweisen können) das lassen würden, was einen nach der Familie und unter besonderen Umständen noch vor der bzw. mehr als die Familie interessiert und was mehr als diese geliebt wird: das Vaterland. Das würde bedeuten, die Wirkung (gute Gesetze, öffentliche Moral, freie Schulen und soziale Gerechtigkeit) ohne die Ursachen zu wollen (aktive und direkte Beteiligung der politisch engagierten Katholiken am öffentlichen Leben). 8. Für die Spekulanten und Fälscher der kirchlichen Vorschriften ist hier noch eine Erklärung notwendig. Wenn gesagt wird, die Katholische Aktion mache keine aktive Politik, sagt man etwas Richtiges und Natürliches: die Ziele der Katholischen Aktion sind ausschließlich religiös und dienen der Information und Bildung; folglich wird die Politik (der sich noch nicht einmal die Kirche entzieht) von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet, das heißt gemäß dem theoretischen Konzept der Vorgaben, die mit den christlichen Vorstellungen übereinstimmen. Vor der Gründung des Partito Popolare wurde die praktische politische Tätigkeit der Katholiken von den Organen der Katholischen Aktion getragen; und da es auch Kräfte gab, welche die Katholische Aktion dazu bringen wollten, gegen den Partito Popolare Stellung zu beziehen, wurde – um Verwirrung und Ausnutzung zu vermeiden – nicht nur ein Mal gesagt, sondern übertrieben häufig wiederholt, die Katholische Aktion sei kein Parteiorgan und auch keine politische Unternehmung. Einige sind bei der Interpretation des oben Gesagten zu weit gegangen und haben gesagt: Die politisch engagierten Katholiken sollen ihre Bürgerpflicht erfüllen, ruhig nach ihrem Gewissen wählen gehen, aber mehr nicht. Sie sollen nicht aktiv Politik machen und nicht Mitglied von Parteien oder Parteivorständen sein und sich auch von jeder Art politischer Propaganda fernhalten. Das ist nicht mehr als eine bedauerliche und unlogische Folgerung, die man, sobald sie gezogen wird, widerlegen sollte, weil andere moralische Interessen des Landes gefährdet würden. Wenn es nicht möglich ist, dass der Bürger, der sich der Gesellschaft und den mit den politischen Kämpfen verbundenen Risiken entzieht, auf das gesellschaftliche Leben ausschließlich mit einer geheimen Stimme Einfluss nehmen kann, ohne ausdrückliche ideelle Bedeutung, vom Geist der Propaganda isoliert, ohne das Opfer, das die aktive Verteidigung von Prinzipien kostet, dann muss man mehrheitlich eine derartige Isolierung jener ausschließen, die intellektuell und moralisch besser vorbereitet sind und die ein stärker ausgeprägtes Bewusstsein haben. In diesem Fall würde die Trennung zwischen religiösem Bewusstsein, katholischem Proselytismus und der moralischen Erziehung auf der einen Seite und der aktiven Politik auf der anderen Seite erneuert und verschlimmert. Diese Trennung entspricht der christlichen Lehre überhaupt nicht und ist ein moralisches Vergehen.

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9. All dies ist eine grundsätzliche Annahme. Sie enthält einige besondere Kriterien, die erwähnt werden sollten: a) Generell besteht der organisierte und aktive Teil einer Partei aus einer Minderheit im Vergleich zu den Anhängern und Sympathisanten, und dies ist auf die soziale Vernunft zurückzuführen, zu der eine besondere Ausbildung, Bewegungsfreiheit, Verantwortungsbewusstsein und auch die Berufung, die nicht alle haben, gehören. Man muss den Kreis erweitern, auswählen, erziehen und tauglich machen. Für diese Aufgabe liefern die intellektuellen und gebildeten Klassen ein größeres Kontingent als alle anderen. Man versteht, warum die moralische Verpflichtung von den leitenden und aktiven Elementen stärker empfunden wird als von den anderen, die ihnen folgen und sie unterstützen. b) Im Bereich der verschiedenen Tätigkeiten, die mit dem sozialen und wirtschaftlichen Leben verbunden sind, gibt es notwendigerweise diejenigen, die aufgrund von persönlichen Neigungen bestimmte Verantwortungen oder Ämter übernehmen, die von jeder Art politischer Aktivität kompromittiert und erschüttert werden können, und diejenigen, die mit ihren spezifischen Tätigkeiten zum Wohl der Gesellschaft und indirekt zum Vollzug der Tätigkeiten des Staates beitragen. Unter diesen erwähne ich als erste die Anachoreten,kk die sich von der Gesellschaft abgewendet haben, dieser aber mit ihrem Lebenswerk moralische Werte, asketische Tendenzen und religiöse Vitalität zurückgeben, die sich als große Vorteile erweisen. Ich nenne ferner gewisse Wissenschaftler, die sich dem öffentlichen Leben fernhalten, aber schon mit ihren rein wissenschaftlichen Forschungen, Entdeckungen und Tätigkeiten ihre moralische Pflicht erfüllen und etwas zum allgemeinen Wohl beitragen. Was das Agieren des Klerus betrifft, wird vor allem denen, die besonders hohe Verantwortung tragen, vorsichtige Zurückhaltung empfohlen. Das hat mehrere Gründe: Der Klerus muss sich vor allem um seine unmittelbare Mission kümmern; zweitens haben nicht alle die Möglichkeit und die Begabung, politische Aktivitäten zu beeinflussen; drittens kann dieser Einfluss nicht von rein irdischen Interessen inspiriert werden, auch wenn sie die Größe des Vaterlandes betreffen, sondern er muss in seinen Vorschriften und Zielen immer mit dem moralischen und religiösen Wohl der Seelen verbunden sein. Wenn die kirchlichen Ratschläge und Vorschriften jenseits dieser angemessenen Einschränkungen interpretiert würden (abgesehen davon, dass die Geschichte der Kirche immer mit den politischen Handlungen der Geistlichen kk Ein Anachoret (gr. άναχωρητής) ist ein Mensch, der sich aus der Gemeinschaft zurückzieht, um sich der Askese und dem Gebet zu verschreiben.

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verwoben ist), würde der moralische Einfluss der Kirche auf das gesellschaftliche Leben der Völker gemindert. Und wie die Kirche ausnahmsweise gestattet, dass unter den Weltgeistlichen und den Ordensgeistlichen einige sind, die sich – ohne direkte Kultverpflichtungen – ausschließlich dem Studium der Wissenschaften widmen und als Astronomen oder Literaten, Archäologen oder Musiker und so weiter tätig sind, gibt es in jeder Epoche und in jeder Nation diejenigen, die ausnahmsweise am politischen Leben teilnehmen und dessen Vertreter sind (wer erinnert sich nicht an Ketteler?), wie Seipel in Österreich, Brauns in Preußen, Šrámek in der Tschechoslowakei, Nolens in Holland, Rutten in Belgienll und so weiter. Diese Tatsache ist heute wahrnehmbarer, weil die sozialen Katholiken im Bereich der Verteidigung des Volkes und der Arbeiterorganisationen in großem Umfang tätig sind, wobei die Beteiligung des Klerus von der Mitte des letzten Jahrhunderts bis heute einen wichtigen moralischen Dienst geleistet hat, auch um der materialistischen und atheistischen Propaganda der Sozialisten entgegenzutreten und den Massen die soziale Gerechtigkeit zu bringen, die nur vom Christentum ausgehen kann. 10. Ein letzter Schritt: Die politische Bewegung der Katholiken des europäischen Festlandes von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute hat sich gegenüber den vier Hauptströmungen, dem Liberalismus, der Demokratie, dem Sozialismus und dem Nationalismus, in der theoretischen und praktischen Tendenz der christlich-sozialen Bewegung entfaltet, die auch Christdemokratie oder Popolarismus genannt wird. Diese Bewegung verfügt bereits über ihre Theorie, ihre Männer und ihre Literatur und entspricht einem allgemeinen Bewusstsein der Katholiken. Die anderen Bewegungen gehen von Prämissen aus, die auf theoretischer Ebene der katholischen Religion widersprechen und praktisch im Gegensatz zu ihr stehen oder versuchen, diese zu knechten. Die Christdemokratie dagegen geht von Prämissen aus, die nicht nur nicht im Widerspruch zum Geist der katholischen Religion stehen, sondern sich bemühen, sich ihr anzunähern und ihre Ziele auch auf sozialer und auf politischer Ebene umzusetzen. ll

Hier führt Sturzo einige Beispiele von Priestern und Kirchenvertretern an, die sich politisch engagierten: Prälat Ignaz Seipel (1876–1932), der in den Jahren 1922–1929 zweimal als österreichischer Bundeskanzler amtierte; der katholische Priester und Zentrumspolitiker Heinrich Brauns (1868–1939); der katholische Geistliche Jan Šrámek (1870–1956), der in vielen tschechischen Regierungen nach 1918 amtierte und von 1940 bis 1945 Ministerpräsident der tschechischen Exilregierung in London war. Willem Hubert Nolens (1860–1931) war ein niederländischer Priester und langjähriger Abgeordneter für den Wahlkreis Venlo, der auch als Fraktionsvorsitzender für die 1926 gegründete Römisch-Katholische Staatspartei fungierte. Martin Hubert Rutten (1841–1927) war von 1901 bis 1927 Bischof von Lüttich und setzte sich entschieden für die Verwendung der flämischen Sprache im Unterricht und in der Kirche ein.

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Es ist eindeutig, dass im Bereich der Prinzipien für die Katholiken kein Missverständnis möglich ist und in der Praxis keine Abweichung. Abschließend sei gesagt: a) In Anbetracht des politischen Systems der direkten und indirekten Beteiligung des Volkes als staatsrechtliches Subjekt wird die Gewissenspflicht als Entsprechung anerkannt, nicht nur einzeln, sondern auch in kollektiver Weise an den Leitlinien des öffentlichen Lebens mitzuwirken. b) Dieser Einfluss und diese Tätigkeiten müssen von grundlegenden ethischen und moralischen Prinzipien geleitet sein, auf deren Basis die großen Unterteilungen der politischen Strömungen und Parteien erfolgen. c) Folglich ist eine politische Partei ein wirksames Element, das nicht abgeschafft werden kann, ein Mittel, das verbessert werden muss und dem die überzeugtesten, eifrigsten und verantwortungsbewusstesten Bürger angehören müssen. Weitere Mittel sind die Presse, der Lehrberuf, die Kultur, der moralische und religiöse Einfluss, die in ihrem Bereich das Umfeld determinieren, spezifizieren, belehren, erschaffen oder ändern, aber diese Energien werden im politischen Organismus für das öffentliche Leben wirksam. d) Die politisch engagierten Katholiken können sich nicht von ihrer Verpflichtung befreien, am öffentlichen Leben teilzuhaben und dieses positiv zu beeinflussen, jedoch nicht in den Organismen der Katholischen Aktion, die unpolitisch ist, sondern innerhalb der Parteien. e) Die Parteien, denen die politisch engagierten Katholiken mit Kohärenz, Würde und Wirksamkeit angehören können, müssen von moralischen Prinzipien inspiriert sein, die nicht im Widerspruch zum Christentum stehen, sondern sich von diesem inspirieren lassen, nicht denen, die ihre Prinzipien von im Gegensatz zur Zivilisation und zur Religion stehenden ethischen und politischen Strömungen übernehmen. f) Theoretisch können die Katholiken verschiedenen Parteien angehören, sofern diese christlich geprägt sind, aber niemals den laizistischen, heidnisch geprägten, materialistischen und agnostischen Parteien. In der Praxis jedoch folgen nur die christlich-sozialen Demokraten und Popolari der katholischen Doktrin im Bereich des politischen und sozialen Lebens, und folglich können sich die katholischen Massen nur diesen Parteien ruhigen Gewissens zuwenden. Jede weitere direkte Tätigkeit, um Propaganda für Parteien zu machen, deren Theorien nicht auf den katholischen Prinzipien beruhen, ist eine moralische Abweichung, ein religiöser Kompromiss und ein politischer Fehler. Rassegna Nazionale, Nr. 4, April 1924

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Historische Erfahrungen Wenn man das Problem des Verhältnisses von Kirche und Staat von einem streng historischen Standpunkt aus betrachtet, kommt man zu dem Schluss, dass die Kirche viel mitgemacht und alles dank der Reinheit ihres Glaubens, der Stärke ihrer Organisation und der nach menschlichem Ermessen nicht erklärbaren inneren Kraft ihrer immerwährenden Vitalität überwunden hat. Aber in jeder vergangenen und überwundenen Phase haben sich die Elemente, welche die Kirche bekämpften und ihr feindlich gesinnt waren, fast immer mit dem Staat wie mit einem stillschweigenden oder erklärten Gegner verbündet. Diese historische Rolle des Staates als Antagonist der Kirche wurde in keiner Epoche und in keinem Land jemals dementiert; auch in der K ­ onzeption des katholischen Staates, des Mittelalters oder der Gegenreformation und auch in Zeiten, in denen die Könige die Kirche unterstützt haben, war der Antagonismus real, sichtbar und oft eklatant, und zwar nicht nur im Zusammenhang mit politischen Problemen, an denen sich die Kirche wegen ihrer historischen Rolle beteiligen musste, sondern sehr oft auch wegen religiöser Fragen oder Angelegenheiten, die eng damit verbunden waren. Der Staat hat nicht nur versucht, alle moralischen, erzieherischen und wohltätigen Aktivitäten für sich zu beanspruchen, die von der Kirche vorangetrieben, geschützt und geheiligt worden waren, sondern er hat auch immer versucht, die Kirchengewalt, die Entwicklung der kirchlichen Organisationen und der religiösen Körperschaften und den Einfluss ihrer moralischen und spirituellen Tätigkeit einzuschränken. In diesem zweitausendjährigen Kampf zwischen beiden Seiten hat vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet manchmal die Kirche und manchmal der Staat gewonnen; die Zeiten des relativen Friedens haben mal dem einen, mal dem anderen genützt, je nachdem, welche Menschen und Ereignisse die Argumente einer der beiden Parteien begünstigt haben; nicht selten haben Nebensachen und Äußerlichkeiten den grundlegenden Angelegenheiten geschadet, die für das religiöse und moralische Leben der Völker von großer Bedeutung sind. Jede Epoche hat ihre politischen Strukturen und folglich ihre Kämpfe, auch auf religiöser Ebene. Deshalb verschieben sich in jeder Epoche die Elemente und die Bewertung der Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche und werden spezieller. Aber das Wesentliche ändert sich nicht: Der Staat möchte alle Rechte absorbieren und der totale Ausdruck des öffentlichen Lebens werden; und wo er in der Lage ist, die Einheit des Katholizismus zu zerbrechen, übernimmt und regelt er die Gewalten, die Vertretung und die religiöse Autorität. Das geschieht in den nicht katholischen christlichen Ländern, auch wenn sie fortschrittlich und höchst modern sind wie England, oder neu und ohne Traditionen wie Nordamerika und Australien.

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Welche Erfahrung lehrt uns die Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte, in denen der moderne Staat konzipiert und verwirklicht wurde? In dieser Zeit hatte die Kirche mit zwei verschiedenen Regierungssystemen zu tun: einerseits mit dem absolutistischen, aufklärerischen Staat aus der Zeit vor der Französischen Revolution und nach der Heiligen Allianz und andererseits mit dem konstitutionellen liberalen Staat. In diesen extrem unruhigen Zeiten kam der Kampf zwischen Staat und Kirche nicht zur Ruhe, und mit der Entstehung des laizistischen Staates wurde er noch intensiver, denn bei der Niederschlagung der alten feudalen Ordnung und mit dem Aufstieg des Bürgertums wurde die Kirche als großes, zu bekämpfendes Hindernis betrachtet. In der Zeit des Absolutismus standen die Grenzen der Macht der Könige und des Papstes im Bereich der kirchlichen Rechtsprechung und Disziplinargerichtsbarkeit im Mittelpunkt der Kämpfe. An diesen Kämpfen beteiligten sich die Bischöfe und andere Benefiziaremm direkt und ergriffen fast immer Partei für die Könige, während die religiösen Orden meist die Meinung und die Richtung der römisch-katholischen Kirche vertraten. Es war natürlich, dass dies geschah, denn die vorherrschende Tendenz der Herrscher und der aufklärerischen Regierungen war es, die Kirchenhierarchie durch Privilegien und Zugeständnisse zu beeinflussen, um die Kirche an den König und den Adel zu binden. Die harten Experimente der gallikanischen Kirche und des kaiserlichen Klerus von Joseph II. sowie der politische Zwang, dem der Papst im Zusammenhang mit der Aufhebung des Jesuitenordens ausgesetzt war, zeigen, welche schwierigen Kampfbedingungen das Papsttum im 18. Jahrhundert ertragen musste, ohne offen Widerstand leisten zu können und ohne direkten Kontakt zu den katholischen Völkern.nn In dieser Zeit

mm Hier nimmt Sturzo Bezug auf die allgemeine Tendenz von Bischöfen und hohen Vasallen, dem König sehr nahe zu stehen. Wie Sturzo erklärt, gab es im Kontext der Entwicklung des absoluten Staates den Versuch der Könige, die Kirchenhierarchie zu beeinflussen und ihren Interessen anzugleichen. nn Sturzo bezieht sich auf drei verschiedene Beispiele von Herausforderungen, bei denen sich die Kirche und der absolutistische Staat gegenüberstanden: die gallikanische Kirche, die seit dem 14. Jahrhundert versucht hatte, die Macht des Papstes gegenüber dem französischen König zu begrenzen; die Politik Josefs II., der durch Instrumente wie die Begründung von staatlichen Seminaren für den Klerus eine nationale Kirche im Reich schaffen wollte. Die Aufhebung des Jesuitenordens wurde von verschiedenen europäischen Königen gewünscht, meist wegen ihrer Verärgerung über die Aktivitäten der Jesuiten in den nordamerikanischen Kolonien: der Orden wird in Portugal (1759), Frankreich (1764), Spanien (1767) und in anderen Staaten aufgehoben und 1773 durch Papst Clemens XIV. abgeschafft. 1814 wurde der Orden wiederhergestellt. Dazu siehe z. B. Reinhold Zippelius, Staat und Kirche: eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 1997; Alberto Aubert/Paolo Simoncelli, Storia moderna: dalla formazione degli Stati nazionali alle egemonie internazionali, Bari 2001.

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konnten die Urkunden der römischen Kurie und sogar die Enzykliken die Grenzen des Kirchenstaates nicht ohne Genehmigung der königlichen, kaiserlichen und großherzoglichen Kabinette und nicht ohne Sichtvermerk und Plazet überschreiten. In der konstitutionell-liberalen Zeit hat sich der Kampf verlagert: Statt zu versuchen, mit Schmeicheleien und Drohungen eine unterwürfige Kirche zu bekommen, die den herrschenden Schichten und den Höfen verbunden sein solle, bevorzugt der Staat die Trennung von der Kirche; aber er lässt ein Minimum des Rechts auf eine Gerichtsbarkeit bestehen und begrenzt ihre ökonomischen Mittel und organisatorischen Möglichkeiten, weil er ihre Macht fürchtet; und er wiederholt in größerem Stil und mit neuen Methoden die Aufhebung der religiösen Orden und die Erklärung der kirchlichen Güter zu Staatsgütern, welche die Juristen des 18. Jahrhunderts durchgeführt hatten, um das Königtum zu verteidigen und die Staatskasse zu sanieren, die in den Kriegen und für den Luxus der Höfe geplündert worden war. Diese Eigenschaften des staatlichen Kampfes im 18. und 19. Jahrhundert dienen uns als Grundlage für einige bemerkenswert aktuelle Erörterungen. Der Staat ist im Kampf gegen die Kirche von Prinzipien ausgegangen, welche die Kirche nicht zulässt: seien es der Cäsarismus und der Jurisdiktionalismus im 18. Jahrhundert, sei es der Laizismus des 19. Jahrhunderts; sie sind der Mittelpunkt des Antagonismus in den letzten beiden Jahrhunderten, in denen die streng religiösen Probleme und Glaubensfragen – anders als im Mittelalter und während der Renaissance – den Kampf weder nährten noch charakterisierten, sondern nur eine marginale Rolle spielten bzw. noch spielen. Der neue Faktor, der einen großen Teil der Beziehungen auf den Kopf stellt, sind die bürgerlichen und politischen Freiheiten. Die Kirche, die sich aus zahlreichen politischen und rechtsprecherischen, das Konkordat betreffenden und traditionellen Bindungen gelöst hat, kämpft für ihre spirituellen Ziele, indem sie sich auf den Begriff der Freiheit gegen sämtliche Abweichungen beruft, welche die Staaten und die Völker aufgrund eines Umbruchs erleiden, für den es in der Geschichte keinen Präzedenzfall gibt. Das Wort des Papstes, dessen Verbreitung früher vom beliebig gewährten oder abgelehnten Plazet und dem Sichtvermerk der Könige in jedem einzelnen Staat abhängig war, kann nun frei und sicher die entferntesten Teile der Welt erreichen und moralische Auswirkungen wie Engagement und freiwillige Teilnahme zeitigen. Der Episkopat und der Klerus, die von königlichen und staatlichen Bindungen befreit sind, vereinen sich mit einer in den letzten Jahrhunderten noch nie da gewesenen Einmütigkeit zur Kathedra Petri, erneuern ihre spirituelle Disziplin und überwinden die Mängel, welche die feudale Gesellschaft und der Cäsarismus innerhalb der Hierarchie geschaffen hatten.

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Der katholische Laienstand fühlt, dass er eine neue Mission hat, und stellt sich den Gefahren und den Problemen mit Opferbereitschaft und immer größeren Aktivitäten. Die Kongregationen, die zuerst unterdrückt und dann aufgelöst worden waren, überwinden die durch die subversiven Gesetze entstandenen finanziellen Probleme, bauen sich eine flexiblere Organisation auf, erobern verlorene Bereiche wieder, werden größer und effizienter. Man kann sagen, dass sich die Anzahl der Katholiken auf der ganzen Welt in einem Jahrhundert fast verdoppelt hat. Gewiss hat in den protestantischen Ländern (Nordamerika, England, Deutschland, Holland) die Zeit der politischen Freiheiten, die in Bezug auf die katholische Kirche mehr oder weniger großzügig angewendet wurden, zu einer Entwicklung des Katholizismus geführt, die keinesfalls mit der vorherigen Epoche der absolutistischen Regierungen verglichen werden kann. Das 19. Jahrhundert übertrifft in diesem Bereich bei weitem das 18. Jahrhundert. In den katholischen Ländern (Frankreich, Österreich, Belgien, Spanien, Italien) haben die politischen Freiheiten zu erbitterten Kämpfen und zu einer gefährlichen Entwicklung von antikatholischen Theorien geführt, aber gleichzeitig entstanden neue Gegensätze und religiöse und moralische Aktivitäten sowie neue soziale und politische Einrichtungen, die Ausdruck eines strengen Glaubens sind oder vom Christentum inspiriert wurden. Es ist gewiss, dass die Dynamik des Kampfes zwischen Staat und Kirche, der geschichtlich betrachtet nicht geleugnet werden kann, unter freiheitlichen Bedingungen außergewöhnliche Möglichkeiten aufweist, Lösungen zu finden und sich anzupassen, entsprechend der stärkeren Entwicklung der Energien der Katholiken. Der Bereich, in dem sich die Kämpfe abspielen, wird vom Hof und von der Regierung in die Parlamente verlegt und zum Volk gebracht; vom absoluten Willen einer Person oder weniger Personen zum allgemeinen Bewusstsein des Volkes, das mit gleichen Waffen Widerstand leisten und die Freiheit für die Kirche fordern kann, die ihr auf politischer Ebene und in der Gesellschaft verweigert wurde. Heute entsteht ein Dilemma durch diejenigen, die in Italien und im Ausland die Meinung vertreten, dass man die Beziehungen zwischen Staat und Kirche im Lichte des Konflikts zwischen der Demokratie und den Nationalismen erneut prüfen müsse, der in Europa vor allem in der Nachkriegszeit offen zutage trat. Das Dilemma ist folgendes: Die Kirche wird entweder den Nationalismus begünstigen und ein Bündnis mit diesem akzeptieren oder sie bleibt der Freiheit verbunden und akzeptiert den Kampf. Für die Kirche ist sowohl der nationalistische Staat ein Fehler, der die Prinzipien des Cäsarismus und der obersten Rechtsautorität der Könige auf

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die Nation überträgt, als auch der laizistische Staat, der den gesellschaftlichen Einfluss der Kirche verkennt und ihre Funktion auf eine Gewissensfrage reduziert. Man sollte sich in der Praxis anschauen, ob die nationalistische Tendenz, die sich in allen Staaten entwickelt hat, auch in den protestantischen Ländern (Europa und Amerika stehen auf politischer Ebene miteinander in Verbindung), der katholischen Kirche nicht mehr Schaden zufügt, indem sie die alten Grenzen zwischen den einzelnen Staaten stärkt und die Kirche damit aufgrund von nationalen Motiven von den Gläubigen trennt. In Deutschland ist der Nationalismus protestantisch, in der Tschechoslowakei hussitisch, in Serbien orthodox und so weiter. Dieser Versuch würde zur Entstehung von überholten und im starken Gegensatz zum Ultramontanismus – eine Bezeichnung für den Weg nach Rom – stehenden Situationen führen. Wenn die katholischen Länder ihre Regierungsform von der Demokratie in nationalistische Systeme umwandelten, bestünde die Hauptgefahr in der Tendenz, einen nationalen Klerus zu schaffen, ähnlich wie die Cäsaristen dazu tendierten, einen königstreuen Klerus zu bilden. Die moralischen Schranken zwischen den Staaten, die Egoismen und Kämpfe anstacheln, hätten schädliche Auswirkungen auf den religiösen Bereich. Während des Weltkriegs war der moralische Streit zwischen dem französischen und dem deutschen Klerus eines der Phänomene, die dem christlichen Geist der Völker am meisten geschadet haben. Auch heute ist dieser übertriebene und fanatische parteiische Nationalismus, der den Klerus zweier großer Nationen aufspaltete, noch nicht gänzlich ausgestorben. Die Kirche würde einen schlimmeren Schaden erleiden, wenn sie sich einer von Begünstigungen geprägten Beziehung und dem Schutz der nationalistischen Regierungen hingäbe und daher den demokratischen und proletarischen Strömungen gegenüber feindlich gesinnt erscheinen würde. Was historisch gesehen in der Französischen Revolution für die Situation des hohen Klerus (er war der damaligen Regierung und ihrer politischen Struktur verbunden) verhängnisvoll war, könnte sich morgen in der gängigen Spannung der Kämpfe zwischen Demokratie und Nationalismus wiederholen. Die Kirche würde heute außerdem durch die vorhersehbaren und verhängnisvollen Konflikte mit dem Staat den Bereich der Freiheit verlassen, ohne diesen durch einen anderen Bereich der rechtlichen, moralischen und ökonomischen Freiheit zu ersetzen, der in den Jahrhunderten des Kampfes gegen den Absolutismus und die damalige Zudringlichkeit des Staates ihre unabhängige Position war. Diese historischen Erfahrungen müssen berücksichtigt und vertieft werden, denn wenn die Katholiken und die kirchlichen Einrichtungen heute schon Erfahrung mit den Kämpfen in konstitutionellen und demokratischen Staaten haben, wird es nicht leicht sein, den Kampfplatz zu verlassen, der

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von der Herrschaft der Freiheit zur Verfügung gestellt wird, um das unsichere Feld der Zugeständnisse und Gefälligkeiten zu erproben, die dazu neigen, aus der Religion das Gleiche zu machen, was die absolutistischen Staaten im 18. Jahrhundert – auch wenn sie katholisch waren – mit Verlockungen und mit Drohungen versuchten: nämlich ein echtes Regierungsinstrument. 6. Mai 1924

Die Eroberung der Zukunft Die politische Position der Katholiken in Europa kann folgendermaßen eingeordnet werden: Entweder beteiligen sie sich mehrheitlich an einer bestimmten Partei, die an die katholischen Leitsätze angelehnt ist und diese in der Öffentlichkeit vertritt (Deutschland, Österreich, Tschechoslowakei, Polen, Ungarn, Jugoslawien, Schweiz, Italien, Belgien und Holland – anfangs auch in Spanien, das diesbezüglich eine besondere Position einnimmt), oder sie sind in verschiedenen weltlichen Parteien aktiv, die sich nicht auf katholische Theorien stützen, sich aber eine mehr oder weniger mögliche Verteidigung der Religion vorbehalten (Frankreich, England). Allerdings bietet England nach der Sezession Irlands einen sehr begrenzten Wirkungsbereich für Katholiken, da die große Mehrheit der Bevölkerung noch heute protestantisch ist. Frankreich stellt in Europa eine Ausnahme dar, was an einer Reihe von internen Phänomenen liegt. Diese reichen von der monarchistischen Tendenz und der reaktionären Strömung, die in katholischen und kirchlichen Kreisen besonders verbreitet ist, bis zu dem von Leo XIII. empfohlenen Ralliement, dem Trennungsgesetz und dem antiklerikalen Kampf, durch den die Katholiken vom öffentlichen Leben ausgeschlossen wurden, sowie zur Union Sacrée, die sie in einer untergeordneten Position mit dem Vaterland versöhnte. In Spanien wird zurzeit versucht, eine politische Organisation der sozialen Katholiken aufzubauen, aber die Schwierigkeiten, die vom Konservativismus der anderen Klassen und vom Argwohn der Arbeiter verursacht werden, sind groß. Die untergeordnete Minderheitsposition der Katholiken im öffentlichen Leben Europas ist faktisch und vor allem ein französisches Phänomen, während die Katholiken in jedem anderen Land unter der Flagge des sozialen Christentums, das sonst Christdemokratie oder Popolarismus genannt wird, eigenständige, verantwortungsbewusste und effiziente Positionen eingenommen haben oder dabei sind oder versuchen, diese einzunehmen.

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Diese Situation, die aus einem langwierigen Selektionsprozess und aus zahlreichen Kämpfen heraus entstanden ist, stützt sich inzwischen unbestrittenermaßen auf die Verfassungsmäßigkeit der Staatsregierungen, der Bürgerrechte und der politischen Freiheiten, die Gleichstellung der politischen Parteien und das demokratische Staatskonzept. Die scholastischen Philosophen haben den Standpunkt der Katholiken gegenüber dem modernen Staat gut erklärt: was diese von den liberalen Ideologien und demokratischen Postulaten annehmen und was sie ablehnen. Der Versuch, die Demokratie christlich zu gestalten, und zwar nicht nur im Geist und in Bezug auf die Auswirkung der sozialen Organisation und der ökonomischen Beziehungen, sondern auch im Wesen des modernen Staates, ist die harte und schwierige Aufgabe, der sich die sozialen Katholiken in ganz Europa widmen. Im Übrigen sind die Geschichte von mehr als einem halben Jahrhundert voller Versuche und Verwirklichungen sowie die Positionen, die in der Nachkriegszeit in Bezug auf die nationalen und internationalen politischen Probleme entstanden, ein eindeutiger Beweis für die neue Aufgabe der sozialen Katholiken im öffentlichen Leben unseres Kontinents. Ihre Ideale und ihre praktische Position unterscheiden sie von den Liberalen, den Sozialisten und den Nationalisten jeglicher Couleur und Abstufung. Sie übernehmen das Gute der drei genannten politischen Richtungen und erproben eine Synthese aus Freiheit, Demokratie und Patriotismus, die sich auf die Prinzipien, die Ziele und die Tugenden des Christentums stützt und von diesen lebendig gestaltet wird. Es gibt viele und bemerkenswerte Schwierigkeiten bei der Aufwertung dieser politischen Strömung der sozialen Katholiken Europas und im Hinblick auf ihre führende Funktion im öffentlichen Leben der verschiedenen Staaten, sodass sie gegenüber der großen Masse der praktizierenden Katholiken noch eine zwar mehr oder weniger beachtliche, aber immer noch eine Minderheit darstellen. Die Hauptschwierigkeit besteht in der Herausbildung der führenden Klasse, die gleichzeitig die politische Klasse ist. Die geistige und moralische Formung dieser Klasse entzieht sich zum großen Teil dem Einfluss der von katholischen Ideen geprägten Strömung mit ihrer Integrität und ihrem vollen Stellenwert. Die monistische Philosophie ist die Grundlage der modernen Vorstellungen und durchdringt die Struktur jeder wissenschaftlichen Disziplin; sowohl der materialistische als auch der spiritualistische Monismus machen den Versuch, die Materie oder den Geist zu vergöttlichen, indem das Göttliche in den irdischen Dingen gesehen wird. Der Rationalismus wurde zum theoretischen und praktischen Pantheismus; die natürliche Folge der Suche nach einem Bezugspunkt im Bereich der menschlichen Tätigkeit. Das ist entweder das Individuum oder die Klasse oder der Staat oder die Nation.

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Alle monistischen Strömungen leugnen das wahre Wesen der dualistischen Realität, welche die geschaffenen Dinge vom Schöpfer unterscheidet und ihm gegenüberstellt und die natürlichen Ziele der Menschen an einem übernatürlichen und ewigen Begriff ausrichtet. Aufgrund dieser Position steht jede öffentliche Tätigkeit der in einer politischen Partei organisierten Katholiken in einem hoffnungslosen Widerspruch zu allen anderen laizistischen Parteien, die auf einem von antikatholischen Ideologien und von nicht mit dem religiösen Leben der Völker zu vereinbarenden Instinkten getränkten Feld ihre Aufgaben erfüllen und ihren Tätigkeiten nachgehen. Um diese intellektuelle Barriere zu überwinden, ist eine umfassende Eroberung der Führungsschicht nötig, das heißt, eine Stellungnahme und ein ununterbrochener Kampf im Bereich der philosophischen, sozialen, juristischen, politischen und historischen Lehren sowie eine der Bildung dienende Organisation, um den weit verbreiteten falschen Vorstellungen entgegenzutreten. Die Anstrengungen, welche die Kirche unternommen hat, waren und sind beständig und nützlich, aber sie verfügt nicht überall über die entsprechenden Mittel, Institutionen und gut vorbereiteten Männer, und nicht wenige geben sich mit oberflächlichen und unzureichenden Lösungen zufrieden. Wenn man von diesem rein scholastischen und mit der Forschung verbundenen Bereich zu der Veröffentlichung von Büchern, Broschüren, Zeitschriften und Zeitungen wechselt, bemerkt man ein erschreckendes Defizit. Wir haben keine Statistiken, die einen Vergleich ermöglichen, aber man kann annehmen, dass diese Publikationen nicht nur in Italien, sondern auch in den anderen hoch entwickelten Nationen trotz lobenswerter Bemühungen nicht einmal ein Zehntel dessen ausmachen, was die Druckerpressen ächzen lässt und jeden Bereich der Kultur durchdringt. Aber dennoch ist dies der erste und wichtigste Bereich, in dem man aktiv sein und kämpfen und den man erobern muss. Ohne die Herausbildung einer Führungsschicht und katholischer Vorstellungen und Überzeugungen – wobei der Abstand zu überwinden ist, den man oft zwischen der katholischen Religionsausübung und einer unvollständigen und falschen Lehre bemerkt, die im gesellschaftlichen Leben angewendet wird bzw. die von widersprüchlichen Theorien inspiriert wurde – werden die Bemühungen und die politischen Organisationen der sozialen Katholiken keine dauerhaften Ergebnisse und spürbaren Fortschritte erreichen. Ein weiteres Problem, das es den katholischen Strömungen in jedem Land erschwert, sich im öffentlichen Leben zu behaupten, betrifft vor allem die Arbeiterklasse und hat damit zu tun, dass die Sozialisten die proletarischen Positionen für sich beansprucht haben. Die christlich-soziale Bewegung wurde nach dem Sozialismus als eine Reaktion und zum Schutz der Katholiken

Die Eroberung der Zukunft

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gegründet. Papst Leo XIII. genehmigte die ursprüngliche Bewegung in der Enzyklika Rerum novarum und verlieh ihr einen hohen religiösen Wert. Aber die späte Gründung der christlichen Gewerkschaften, die feindliche Haltung der konservativen Katholiken und das Fernbleiben der Katholiken von Führungspositionen in der Politik an vielen Orten – vor allem in Italien – erschwerten die Entwicklung unserer sozialen Bewegung im Vergleich mit dem Sozialismus, der die Industriearbeiter und die Angestellten der großen staatlichen Dienste fast überall anzog und in monopolistischen Verbänden mit einem revolutionären und nicht religiösen Geist organisierte. Die christlich-sozialen Bewegungen in den verschiedenen Ländern Europas sind das Ergebnis beharrlicher Arbeit, großer Anstrengungen und unglaublicher Opfer. Aber es reicht nicht, ein sicheres Substrat für die Gründung großer christlich-sozialer Parteien zur Verfügung zu stellen. Unserem christlichen Gewissen wird eine umfangreichere Eroberungstätigkeit auferlegt. Zwischen den katholischen und den sozialistischen Gewerkschaften geht es nicht um einen mit ökonomischen Zugeständnissen verbundenen Konkurrenzkampf, sondern es ist ein Kampf, der auf moralischer Ebene die christliche Erziehung der Massen gegen den Materialismus zum Ziel hat, auf politischer Ebene für den Schutz der Gewerkschaftsfreiheit gegen die Monopole eintritt, auf ökonomischer Ebene für die Errungenschaft der Arbeitsrechte, gegen Ausbeutung und Ungerechtigkeit. Weitere gewerkschaftliche Bewegungen außerhalb des Dualismus, den der Sozialismus und das Christentum darstellen, sind nichts als schmarotzerhafte Abweichungen oder kontingente Phänomene, die sich mit den einen oder den anderen polarisieren werden. Daher muss unsere privilegierte Position im Kampf gegen den materialistischen Sozialismus für keine andere Vorstellung der Realität aufgegeben werden, die nur eine Illusion sein kann. Eine dritte Schwierigkeit für die Entwicklung der Ideen und der Aktivitäten der sozialen Katholiken im öffentlichen Leben, die ebenfalls ernst und bemerkenswert ist, entsteht durch die ungeheuren Interessengemeinschaften der Hochfinanz und der Großindustrie. Das ist eine riesige, vorwiegend jüdische Organisation, die als unabhängige und absorbierende Kraft Druck auf die Staaten und Völker ausübt. Die Bemühungen, ihre Stärke zum Wohle der Gesellschaft auszugleichen, wurden von der Korruption zunichte gemacht, mit der die Hochfinanz Druck auf Politiker und politische Gruppen ausübt. Gegenüber diesem Giganten könnten sich die Parteien, die eine Verteidigungs- und Handlungsstrategie beibehalten wollen, für zwei Wege entscheiden: entweder für den Versuch der Einverleibung und Sinnentleerung, indem sie eine soziale Wirtschaft, den Staatssozialismus, Verstaatlichung der Wirtschaft und den Kommunismus schaffen bzw. einführen, oder für den Versuch, die moralische und organische Verteidigung zu erreichen durch die V ­ erbesserung

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der Gesetze und Bräuche, die Abschaffung der wirtschaftlichen Barrieren und Privilegien, die Weiterentwicklung des Schutzes der Arbeiter und die Vertretung der Klassen, die Rückerstattung der lokalen Freiheiten und die Unterstützung der Selbstverwaltung, die Förderung der internationalen Solidarität und die Wiedererweckung des christlichen Geistes. Von diesen beiden Methoden ist die zweite unsere. Man wird uns auslachen: Wie kann man die Macht des Goldes (der Welt, mein Herr!)oo mit Gesetzen, die kaum dagegen ankommen und die verletzt werden, mit Ordnungen, die nicht standhalten, mit Ideologien, die nachgeben, und mit Gewissen, die sich korrumpieren lassen, bekämpfen? Dennoch ist es so: Im Lauf der Jahrhunderte ändern sich die politischen und sozialen Bedingungen, die ökonomischen Strukturen und die Strömungen des menschlichen Denkens, aber der soziale Kampf zwischen dem machtgierigen, mit Vermögen spekulierenden und nach Zentralisierung strebenden Staat, der Druck auf die Bevölkerung ausübt, und der sozialen Verteidigung mittels der staatlichen Organisation, der Schaffung des Rechts, der Solidarität zwischen den Armen und des moralischen Gesetzes, das Gott der Natur einverleibt hat, ändert sich nicht. Das öffentliche und private Finanzwesen hat für uns eine Schutzfunktion und ist ein Mittel für die Aktivitäten und das gesellschaftliche Leben der Menschen. Folglich muss es der gesetzlichen Kontrolle unterliegen und für das Gemeinwohl eingesetzt werden. Aus diesem Grund haben die politischen Strömungen und Organisationen der sozialen Katholiken keine Interessenverbindung zur Hochfinanz, den großen Trusts und den plutokratischen Kräften. Und wenn irgendjemand oder eine Gruppe von Katholiken in diese Netze gerät, wird er, auch wenn er die aufrichtigsten Absichten hat, vom Strudel des Mammon verschlungen und verliert jede erlösende Kraft. Wir dürfen uns auch auf dem harten Weg der politischen Eroberungen nicht vom Geist des Christentums entfernen, für den wir leben und arbeiten; das bedeutet, mit moralischen Waffen zu kämpfen und die materiellen Dinge nur für das Nötigste zu besitzen, sie als Schutz und Stütze zu betrachten, mit der spirituellen Armut und der Demut einer kleinen Glaubensgemeinde aufzuwachsen und unsere Realität mit der Kraft eines lebendigen Glaubens gegen die Lügen des Reichtums und der Eitelkeit durchzusetzen. Das ist eine politische Methode, die nicht von Machiavellis Fürst abgeleitet wird, nicht für den Beifall der Massen bestimmt ist, nicht auf gewalttätigen Instinkten und Unterdrückung beruht, aber es ist eine politische Methode, oo Sturzo hat diese Formulierung wahrscheinlich aus der Oper „Faust“ von Charles Gounod, die 1859 in Paris uraufgeführt wurde.

Lebenssynthese

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die sich in Europa durchsetzen wird. Nach den bescheidenen Anfängen dieser Bewegung der sozialen Katholiken oder Christdemokraten oder Popolari vor einem halben Jahrhundert und der derzeitigen bemerkenswerten und beeindruckenden Entwicklung in einigen Ländern, schauen wir – angesichts der abgeschlossenen Kämpfe und derer, die in allen Ländern noch stattfinden – mit Vertrauen nach vorn. Es gibt Lichtstrahlen und Ideen, die nicht vergehen, sondern eindringen und Veränderungen bewirken. Der langsame Fortschritt bleibt am längsten bestehen. Die nicht spürbaren Kräfte sind am penetrantesten. Die beständige Arbeit führt zu den besten Ergebnissen. Wenn wir den Hindernissen ins Auge sehen, die der politischen Bewegung der sozialen Katholiken in Europa auf intellektueller, gesellschaftlicher und ökonomischer Ebene in den Weg gelegt werden, fühlen wir uns verpflichtet zu kämpfen, weil wir fühlen, dass uns die Vorsehung in den Kampf für die Eroberung der Zukunft geschickt hat. 11. Mai 1924

Lebenssynthese Das Jahrhundert der politischen Revolutionen und der industriellen Entwicklung erzeugte das Phänomen des Proletariats; die Auflösung der öffentlichen Institutionen und die Vorherrschaft des Bürgertums isolierte die Masse der Arbeiter vom öffentlichen Leben; der Sozialismus war die natürliche Folge. Die katholische Kirche rückt bei ihrem Eingreifen in die Beurteilung und die Lösung der sogenannten sozialen Frage nicht von der großen traditionellen Linie ab. Nur in Bezug auf das neue Phänomen, das für die gegenwärtige Regierungsform charakteristisch ist, ergreift sie Partei und nutzt die neuen gesellschaftlichen Kräfte und die neue Orientierung des Staates richtig. Der feierliche Akt der Enzyklika Rerum novarum Leos XIII. löst drei wesentliche Probleme des modernen Lebens: Sie tendiert zum organischen Wiederaufbau der Gesellschaft mit der Anerkennung des korporativen Prinzips, das in der Zeit der Revolutionen und der Aufklärung abgeschafft worden war, sie lässt das Prinzip der staatlichen Intervention bei der Einführung von sozia­ len Arbeitsschutzgesetzen zu und erkennt die gleichen Bürgerrechte für die Arbeiter an, das heißt die wahre Grundlage der Demokratie. Diese Elemente waren sehr umstritten, bevor sie in das päpstliche Dokument aufgenommen wurden, nicht nur bei den Liberalen, sondern auch bei den Katholiken, die stark von zwei gegensätzlichen Strömungen beeinflusst wurden: den Reaktionären und den Liberalen. Der Fraktion der sozialen Katholiken gehörten damals großartige Männer an, und sie konnte sich wichtiger

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Kämpfe rühmen, aber sie sah sich einer Reihe von Vorurteilen und Missverständnissen gegenüber, welche die gesunden ethischen und politischen Kräfte banden, die sich noch nicht von den Auswirkungen des Umsturzes und der Katastrophen befreit hatten. Trotzdem hatte die theoretische und praktische Entwicklung der christlichen Bewegung in Europa die Öffentlichkeit im Allgemeinen und das katholische Bewusstsein im Speziellen darauf vorbereitet, die Worte des Papstes fügsam und zuversichtlich anzunehmen. Rerum novarum ist der Meilenstein des mühsamen Weges, um die katholischen Ideen in der modernen Gesellschaft zu verbreiten. Die Christdemokratie ist deren lebendigstes Ergebnis und fruchtbarste Bewegung. Aber der Weg nach vorn ist hart und mühsam. Eines der größten Hindernisse für die Entwicklung der christlich-sozialen Bewegung war die Art und Weise, wie das politische Problem angegangen wurde: Einige Strömungen haben versucht, die sozial-ökonomische oder gewerkschaftliche Bewegung von der politischen Bewegung zu trennen oder besser abzuspalten: Diejenigen, die das befürworteten, können als Analytiker oder Techniker bezeichnet werden. Sie glaubten, die Arbeiterbewegung müsse sich lediglich auf die gewerkschaftliche bzw. die ökonomische Ebene und Methode beschränken. Man müsste den Staat um politische Errungenschaften bitten, so wie man einen außenstehenden Dritten bittet, entweder einen Gefallen zu tun und Rechte anzuerkennen oder sich dem demonstrativen Akt oder der direkten Aktion der organisierten Arbeitermassen zu beugen. Diese Vorstellung (für die das „Non expedit“ in Italien einen praktischen Grund darstelltepp) konnte in anderen Ländern wie Frankreich und Spanien nicht gerechtfertigt werden. Die Vorstellung, der Staat befinde sich außerhalb unserer Gemeinschaft, außerhalb der eigenen Verbände und der eigenen Aktivitäten der Klassen, ist ein anarchistisches Vorurteil, das aufgrund einer merkwürdigen Umkehrung des Blickwinkels auch einige konservative und katholische Strömungen angreift. Wenn die Beziehung zwischen Arbeitermassen und Staat so konzipiert und der sozialen Bewegung damit jede politische Handlungsmöglichkeit genommen wird, bleibt natürlicherweise nur der demonstrative Akt (Verteidigungsschriften, Petitionen, Presse) oder die direkte Aktion, wie sie von Anarchisten und Sozialisten jeglicher Couleur akzeptiert wird.

pp Das „Non expedit“ („es ist nicht angebracht“) war die Devise unnachgiebiger katholischer Gruppen, eine Beteiligung am politischen Leben abzulehnen. Die erstmals 1874 von Papst Pius IX. (1792–1878) formalisierte Formel verbot den Katholiken die Teilnahme an den politischen Wahlen im Königreich Italien. Vgl. Cesare Marongiu Bonaiuti, Non expedit: storia di una politica. 1866–1919, Mailand 1971.

Lebenssynthese

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Die sogenannte direkte Aktion wird von uns nicht anerkannt, weil dies bedeuten würde, ständig Revolutionen und Bürgerrechtskämpfe auf ökonomischer Ebene zu befürworten sowie Unruhen und gesellschaftliche und politische Straftaten zu predigen. Daraus folgte dann, dass die christlich-soziale Bewegung, von jeder politischen Aktivität isoliert, sich auf die Forschung und auf organisatorische Tätigkeiten konzentriert, die oft zu keinen konkreten Ergebnissen führen, welche die Zustimmung der Massen erzeugen könnten. Dazu ist es in den Ländern, in denen das soziale Handeln und die politische Tätigkeit der Katholiken auf programmatischer Ebene und in Bezug auf die Wahlen abgestimmt wurden, nicht gekommen: Deutschland, Österreich, die Schweiz, Belgien und Holland haben fast ein halbes Jahrhundert Geschichte; Italien hat ein Quinquennium. Wo die soziale Bewegung in die politische integriert war, hatte ihr Wirken tiefgreifendere und ernsthaftere Auswirkungen. Diese Synthese war aber nicht überall gleich und weder schnell noch vollständig oder konstant. Der Grund dafür war die Art und Weise, wie die Katholiken das politische Problem betrachteten: Auch hier waren sie analytisch und technisch. Vor allem die konservativen Katholiken nahmen eher die liberale Auffassung von der Wirtschaft an als die soziale, und folglich haben sie die Probleme, die mit der Arbeit zu tun haben, politisch nicht angemessen beurteilt. Außerdem war aus mehreren Gründen in vielen Ländern die Beteiligung der Arbeiterführer an der politischen Klasse schwierig und ging langsam vonstatten, und die Improvisationen führten zu Misstrauen. Diese Synthese wurde mehr als jedes andere Element von der nationalistischen Tendenz erschwert, die auch die Katholiken befürworteten, damit man ihnen vergab, dass sie für lange Zeit als antipatriotisch und ultramontan galten. Die Auswirkungen dieses zweiten zersetzenden Elements sind in Bayern, Belgien und Holland bekannt. Der Popolarismus hat die effizienteste Synthese der ökonomischen und der politischen Bewegung auf der Grundlage des christlich-sozialen Programms versucht, aber die instabile Lage der Nachkriegszeit und die Krise des Parlamentarismus erschwerten diese Entwicklung. Das spezifische Element, das die sozialen Bewegungen unter zwei Aspekten, dem ökonomischen und dem politischen, zu einer tatkräftigen und erobernden Kraft macht, ist die ethische Grundlage des Christentums; sie ist nicht nur eine individuelle, sondern auch eine kollektive Ethik, nicht nur eine persönliche, sondern auch eine staatliche, die nicht nur die ökonomischen, sondern auch die politischen Beziehungen durchdringt. Die Trennung der moralischen und der ökonomischen Vernunft, auf der die Konstruktionen der Wirtschaftswissenschaftler basieren – und die Trennung von moralischer und politischer Vernunft, die den Grund dafür darstellt,

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aus dem Staat das „ethisch Höchste“ zu machen –, kann gemäß den Vorstellungen der christlichen Soziologie nicht existieren. Man lässt den Gegensatz und den Kampf zu, aus denen die Dynamik der Eroberung entsteht und die zur unaufhörlichen Verwirklichung der menschlichen Synthese (Ethik, Politik, Wirtschaft) tendieren, aber man leugnet die Trennung, die (seltsames Phänomen) die Ethik auf die politische Vernunft und diese auf die ökonomische Vernunft reduziert; das heißt zum Triumph der Stärke und der Leugnung eines jeden moralischen Wertes im gesellschaftlichen Leben der Menschen. Deshalb proklamieren wir den synthetischen Wert der Christdemokratie als einer umfassenden sozialen Bewegung, die den Bedürfnissen und historischen Gründen der Gegenwart entspricht und den ethischen Faktor nicht vom Individuum trennt; die nicht die ökonomische Vernunft abtrennt und daraus ein analytisches und technisches Element mit einem rein äußerlichen Verhältnis zum Staat macht; die der politischen Bewegung nicht misstraut und diese nicht für einen Herrschaftsbereich hält, der für eine Klasse reserviert ist, sondern in ihrer Lebenssynthese Ethik, Wirtschaft und Politik vereint. Das ist die Bemühung der sogenannten christlich-sozialen, christdemokratischen oder popularen Bewegung in Europa; eine enorme Bemühung, die den Widerstand derjenigen überwinden muss, die dazu tendieren, die soziale und ökonomische Bewegung von der politischen zu trennen. Sie muss sich dem Kampf gegen die sozialistischen und kommunistischen Parteien stellen, die inzwischen den größten Teil der organisierten Arbeiter hinter sich gebracht haben. 18. Mai 1924

Das Wort und die Taten Aus Mussolinis Rede vor dem Senat sind vier zentrale Motive hervorgegangen: die Ermordung des Abgeordneten Matteottiqq von der faschistischen Regierung zu trennen; die Innenpolitik der faschistischen Regierung als legal und verfassungsmäßig erscheinen zu lassen, weshalb der weitere Normalisierungs-

qq Der sozialistische Abgeordnete Giacomo Matteotti prangerte die Machenschaften der Faschisten im Zuge der Wahlen von 1924 öffentlich an (30.5.1924, Rede in der Abgeordnetenkammer). Am 10.6.1924 wurde er entführt, sein Leichnam mehrere Wochen später aufgefunden. Obwohl eine direkte Verstrickung Mussolinis oder der faschistischen Partei damals nicht nachgewiesen werden konnte, stürzte der Mord das faschistische Regime in eine Krise. Vgl. Renzo de Felice, Mussolini il fascista, Band 1: La conquista del potere: 1921–1925, Mailand 1966.

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prozess nichts Anderes wäre als die Bestätigung des Willens des Duce, der nie schwächer wird; die Opposition dazu aufzufordern, die Feindseligkeiten einzustellen, um zur Versöhnung beizutragen; und verstehen zu geben, dass es schwerwiegende Folgen haben werde, falls dies nicht geschehe. Jedes dieser Motive ist eng mit den anderen verbunden, und das eine ergibt sich aus dem anderen jeweils als notwendige Folge. Nicht weil man für den Appell zur Versöhnung taub wäre, sondern um die tatsächliche Bedeutung oder die wahre Tragweite vollkommen zu verstehen, muss man abwägen und über die verschiedenen Gründe seiner Rede diskutieren sowie über die wahre Bedeutung von Mussolinis ganz neuer Haltung. Wenn man den ersten Grund aus dem Weg räumen möchte, muss man klar sagen, dass man nur mit einer polemischen Anstrengung oder mit einem unüberwindbaren Missverständnis versuchen kann, das düstere Verbrechen gegen den Abgeordneten Matteotti vom faschistischen Regime zu trennen. Abgesehen von der inzwischen vollen Überzeugung, dass beim Innenministerium von einigen führenden Männern der Partei eine politische „schwarze Hand“ organisiert wurde, was weder dem Polizeichef noch dem Innenminister noch dem Parteivorsitzenden völlig unbekannt sein konnte, herrschte und herrscht im Faschismus noch heute die Überzeugung und die Leitlinie der Illegalität, des Rechtes auf Gewalt und der Funktion der Armee als Dienerin einer Partei, der durch ein revolutionäres Recht (ein fast göttliches Recht) die Macht gebühre. Die Ermordung Matteottis hat in allen politischen Verbrechen, für die der Faschismus verantwortlich ist, notwendige Präzedenzfälle, von der tragischen Nacht des 18. Dezembers 1922 in Turin bis heute, da all diese Verbrechen nicht bestraft wurden, und zwar nicht, weil die Polizei nicht genug getan oder der Richter nicht über das richtige Beweismaterial verfügt hätte, sondern weil die direkten und indirekten Verantwortlichen Straffreiheit und die offensichtliche Billigung der Presse sowie der faschistischen Führer genossen und von der Regierung toleriert wurden, um nicht mehr zu sagen. Der Mord an Matteotti rief allgemeine Missbilligung und große öffentliche Empörung hervor. Deshalb wies die Regierung die Gewalt und das Verbrechen zum ersten Mal im Parlament zurück. Aber wer erinnert sich nicht an die Haltung der Regierung gegenüber der Kammer im Zusammenhang mit den Gewalttaten gegen Misuri und Amendola und dem Überfall auf das Haus Nittis?rr Die Ursachen waren die gleichen, auch wenn sie zum Glück nicht die gleichen Auswirkungen hatten.

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Alfredo Misuri (1886–1951) war ein italienischer Politiker und Abgeordneter. Misuri kooperierte in der ersten Phase des Faschismus mit den faschistischen Squadre und mit dem Partito Nazionale Fascista (PNF), aber 1921/22 begann ein Konflikt zwischen Misuri und anderen Mitgliedern des PNF, der erst seinen Austritt aus der Partei und

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Der Vergleich zwischen der Ermordung Matteottis und den Straftaten der Anarchisten oder der außergesetzlichen Parteien – wie der revolutionären Sozialisten und Kommunisten – hält nicht stand: In den Fällen Diana, Scimula und Sonzini oder Empoliss haben der Staat, die Regierung und die konstitutionellen Parteien die Straftaten verurteilt, die Schuldigen verfolgt und für die Wiederinkraftsetzung des Gesetzes gesorgt. Im Fall Matteotti dagegen sind Männer des Regimes und der Regierung als Auftraggeber und als ausführende Täter verwickelt und stärken ein System von Theorien und Vorgehensweisen, in dem sich der Faschismus nach dem Marsch auf Rom verfangen hat. Aus diesem Grund überzeugten die Bemühungen nicht, die der Abgeordnete Mussolini gestern im Senat unternahm, um zu beweisen, dass seine Innenpolitik von der Legalität und der Verfassungsmäßigkeit inspiriert ist, indem er darauf beharrte, dass eine weitere Bemühung um die Normalisierung des Landes nichts weiter sei, als auf der gleichen Linie weiterzumachen. Mussolinis Politik hatte immer zwei Masken: eine kriegerische und diktatorische, die seiner Rede auf der Piazza Belgioioso oder im Palazzo Venezia (um die letzten zu erwähnen), wo er schrie: „Wer die Miliz anrührt, bekommt Blei“, oder die Rede, in der er die Italiener daran erinnerte, dass er Erschießungskommandos hätte aufstellen lassen können; doch „was man nicht getan hat, noch tun kann“, und so weiter. Die andere Maske ist die des verfassungstreuen und gesetzeskonformen Friedensstifters. Auch die gestrige Rede legt die beiden Motive offen, auch wenn der Ton weniger hart war. Welchem der beiden Mussolinis soll man glauben? Er ruft die Minderheiten auf, zur Normalisierung und zur Versöhnung beizutragen, als ob das von ihnen abhängig wäre und die Verstörung des öffentlichen Bewusstseins von ihrer Haltung des moralischen Widerstandes verursacht würde und nicht von der Krise, für welche die Partei-Regierung verantwortlich ist.

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dann 1923 einen Überfall seitens faschistischer Squadre zur Folge hatte. Der Liberale Giovanni Amendola (1882–1926) war ein wichtiger Vertreter der antifaschistischen parlamentarischen Opposition. Er wurde dreimal von Faschisten angegriffen. Er starb 1926 im Krankenhaus an den Spätfolgen des letzten Überfalls. Francesco Saverio Nitti (1868–1953) war im vorfaschistischen Italien Regierungschef (1919–1920) und ein wichtiger Vertreter des Antifaschismus. Nach diversen Attacken auf ihn entschied Nitti 1924, wegen der allgemein gewalttätigen Atmosphäre außer Landes zu gehen. Sturzo nimmt hier Bezug auf verschiedene „rote“ (kommunistische, anarchische) Attentate. Im Kontext der Besetzung der Fabriken während des „Bienno rosso“ wurden mehrere Menschen von „roten“ Komitees oder selbst organisierten „roten“ Gerichten verurteilt und getötet (Costantino Scimula und Mario Sonzini, 1920 in Turin). Auch das Massaker im Theater Diana (Mailand) 1921 und das Massaker in Empoli (Florenz) im selben Jahr ging auf das Konto linksextremer Gruppen.

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Die Minderheiten können Mussolinis Politik keinen Glauben schenken, weil dessen Doppelstrategie, das heißt, die zweideutige Art, auf die nach dem Marsch auf Rom diskutiert wurde, als gescheitert betrachtet werden muss. Er hat sich gleichzeitig auf die revolutionären Rechte und auf die verfassungsmäßigen Gesetze berufen und dann weder die Revolution gemacht, noch für Legalität gesorgt: Er hat eine personalistische Art zu regieren geschaffen, die mit dem Mord an Matteotti ein Ende gefunden hat. Diese personalistische Methode funktioniert heute nicht mehr: Und da erscheint der ganz neue Mussolini, der sich als Vertreter des absoluten Gesetzes, der Gerechtigkeit und der Verfassung darstellt, von einer kleinen Ausnahme in Bezug auf seine Miliz abgesehen, die zwar umgestaltet wird, jedoch bestehen bleiben muss. Für uns ist dieser ganz neue Mussolini immer noch der gleiche wie gestern; er hat sich an die tragische Situation angepasst. Wird er, wenn sich die Stimmung ändert, nicht wieder seine Methode anwenden, die bis dato das Missverständnis zwischen der revolutionären Rechten und der Legalität erhalten hat? Er muss sich folglich an die Mehrheit wenden, um die Proklamation einer neuen Richtung glaubhaft zu machen. Die Mehrheit wird entscheiden, ob Mussolini an der Macht bleibt oder durch jemand anderen ersetzt wird. Dies wäre der erste Beweis für ein Treuebekenntnis zur Verfassung, die weder eine Regierung durch eine Investitur zulässt noch das oberste Gesetz, über ein Land zu bestimmen, an einen Mann bindet. Und die Mehrheit muss prüfen, ob für die aufrichtige Versöhnung der Geister und die Rückkehr zu Recht und Ordnung besser ein Mann der faschistischen Revolution geeignet ist oder jemand anderes, genau wie sie sich bei der Suche nach dem Innenminister für jemanden entschieden hat, der aus den alten verfassungstreuen Parteien kommt. (Apropos Federzoni, was wird Mussolini wohl meinen, wenn er im Senat den Satz von zweifelhaftem Geschmack sagt, dass „er ihn für dieses Amt vorgeschlagen hat, nicht ein anderer“?)tt Was die Minderheiten angeht, die Mussolini in seiner Rede auseinanderzudividieren versuchte, werden diese im Plenum sprechen und in der Lage sein, einen Appell für die Versöhnung des Landes auszusprechen: Diese Versöhnung kann es nicht geben, solange die Gerechtigkeit nicht überall wieder hergestellt wurde, ohne vom revolutionären Recht eingeschränkt zu werden, das gegenüber dem Gesetz und der Verfassung nicht existiert; solange es eine Parteimiliz gibt, die zwar legalisiert wurde, aber zur Partei gehört; solange das Parlamentsmandat nicht für alle Minderheiten und Mehrheiten g­ leichermaßen

tt Luigi Federzoni (1878–1967), Vertreter der nationalistischen Bewegung, trug zur Absorption dieser durch den PNF bei. Er wurde Minister für die Kolonien und Innenminister. Von 1929 bis 1939 bekleidete er das Amt des Senatspräsidenten.

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gewährleistet wird; solange das Parlament nicht wieder die legislative Macht ist und die Regierung die exekutive, ohne Durcheinander und Überlagerungen; solange die Parteien nicht alle vor dem Gesetz gleich sind und die Freiheit nicht einfach nur ein leeres Wort ist. Die Regierung und die Mehrheit sind dafür zuständig, die Bedingungen zu schaffen, unter denen die Versöhnung des Landes möglich wird und effektiv sein kann. Die dunkle Drohung, die auch heute mehr oder weniger klar in den Reden und Zeitungen der Faschisten enthalten ist, der Faschismus könne wieder mit den Vergeltungsmaßnahmen der faschistischen Sturmabteilungen anfangen, wirkt als ein störendes Element, das immer noch nicht verschwunden ist. Wenn Mussolini vorhätte, wieder mit solchen Drohungen anzufangen, um an der Macht zu bleiben, würde er die Nation erpressen. Wir meinen, dass er dies nicht tun wird, weil sich die öffentliche Meinung 1924 stark von der des Jahres 1922 unterscheidet. Und das ist der tote Punkt der Situation, die nach und nach klar wird. Diese Überlegungen gelten auch für die Rede, die der Abgeordnete Mussolini heute Morgen im Palazzo Venezia vor seiner Mehrheit hielt. Wir glauben nicht, dass diese Situation mit der Wiederholung von Reden geklärt werden kann, die inzwischen jeder kennt und die alle etwas über die wandelbare Psyche des Führers des Faschismus verraten. Die Kräfte der Opposition haben vor allem die Lösung eines moralischen Problems im Blick, welches das politische Leben der Nation bedroht. Und die Lösung kann jetzt nur Gerechtigkeit sein. Dieser überlassen wir das Wort und die Aufgabe. Die Vertreter der Opposition werden übrigens am Freitag klar sagen, welche Schritte ihrer Meinung nach nötig sind, damit sich die Geister in diesem Land versöhnen und die politische Lage geklärt wird, sodass man wieder zur Normalität übergehen und den Rechtsstaat wiederherstellen kann. 26. Juni 1924

Das Verhalten der Popolari Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit ist in dieser für unser Land schweren Stunde ganz besonders auf das Verhalten der Popolari gerichtet; und unsere Partei verdient wirklich Aufmerksamkeit. Ihre Bedeutung wird wegen ihrer programmatischen Haltung, ihrer christlichen Inspiration und ihrer politischen Funktion immer mehr anerkannt. Beim Appell an das Land vom 20. Oktober 1922 am Vorabend des Marsches auf Rom definierte unser nationaler Rat den Partito Popolare als die moralische Reserve der Nation, und das war er in den

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schwersten Momenten des italienischen Lebens der Nachkriegszeit; gestern kämpfte er gegen den Bolschewismus und heute gegen den Faschismus. Insbesondere von Letzterem bekam unsere Partei die härtesten Schläge, denn man wollte, dass wir kleiner werden und aus dem öffentlichen Leben verschwinden. Wer erinnert sich nicht an die Parole: „Besser die Sozialisten als die Popolari“, die von den Liberalen unter Giolitti ausgegeben wurde? Und wer erinnert sich nicht daran, dass dieses Motto vom Faschismus folgendermaßen korrigiert wurde: „Besser die Kommunisten als die Popolari“? Obwohl ein heftiger Kampf gegen uns geführt wurde, blieben die Funktion und die Bedeutung des Partito Popolare Italiano unverändert, wobei jene der moralischen Reserve der Nation an erster Stelle steht, auch wenn die Anzahl unserer Abgeordneten bei den Wahlen durch Gewalt und Wahlbetrug reduziert wurde. Und heute, wo es in Italien wegen des barbarischen Mordes an dem Abgeordneten Matteotti einen echten moralischen Aufstand gegen die Methoden, Systeme und Männer des faschistischen Regimes gibt (und Schmeichler und Unterstützer mit Abscheu überschüttet werden), kann unser Platz nicht unter denen sein, die das Verbrechen verurteilen und gleichzeitig den politisch und moralisch Verantwortlichen einen Passierschein geben: Sondern wir stehen an der Seite derjenigen, die mit dem Finger auf alle Argumente von Männern, Theorien und Milieus zeigen, die den notwendigen Nährboden für das unbestrafte Verbrechen und für die kriminelle Vereinigung darstellten. Die Faschisten und die Regierung haben es eilig, sich vor der italienischen Öffentlichkeit die Hände zu waschen und wie Pilatus auszurufen: „Ich bin rein vom Blut dieser Menschen!“ Aber das christliche Bewusstsein und die Geschichte glaubten nicht an die Reinheit des Pilatus, genau wie sie nicht glaubten, dass die Masse frei von Verantwortung war, die gerufen hatte: „Kreuzigt ihn!“; oder jene Pharisäer und Geistlichen, die gerufen hatten: „Wir sind nicht berechtigt, jemanden zu töten!“ Das Gerechtigkeitsprinzip, auf das sich das moralische Leben eines Volkes stützt, ist nicht sicher, bevor es nicht nur auf rechtlicher Ebene wieder eingeführt wird, das heißt durch die Bestrafung der Verantwortlichen und Komplizen des Verbrechens (aller ohne Ausnahmen, auch wenn sie die höchsten Ämter des Staates bekleiden), sondern auch, indem die Vorgehensweisen abgeschafft und die Männer aus dem Verkehr gezogen werden, welche die Gründe für das Verbrechen begünstigt und gefördert haben. Diese Haltung ist vor allem moralisch, bevor sie politisch ist; bevor sie sich von den Parteien inspirieren lässt, wird sie von der Ethik inspiriert und entspricht unseren christlichen Prinzipien. Diese Haltung ist jeder Art von Konkurrenz fern, denn Konkurrenz gibt es zwischen jenen, die sich auf einer ­Ebene

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messen können: Aber wir schließen aus, dass es eine gemeinsame Ebene mit denjenigen geben kann, die über Jahre die private und parteiliche Gewalt gepredigt und verherrlicht haben; die sie zu nationalen Zwecken mit Straferlass „kanonisierten“ und ihr in der besonderen Organisation des Innenministeriums Schutz gewährten, und denjenigen, die – wie wir – gegen jede Art von privater und parteilicher Gewalt sind und diese bekämpfen. Diese moralische Haltung ist nach dem Mord an dem Abgeordneten Matteotti zur politischen Haltung der Oppositionen geworden, die die Sezession auf dem Aventin erklärten.uu Aber die Sezession existierte schon vorher in unserem Bewusstsein; wir hatten uns nur bemüht, keine extremen Konsequenzen daraus zu ziehen, weil wir trotz allem noch Hoffnung hatten; wir bildeten uns ein, hoffen zu können, dass zumindest die Parlamentswahlen einen legalen Ausgang hätten. Aber die Wahlen waren ein Betrug, und die Tragödie Matteotti zerstörte den Zauber und enthüllte die Abscheulichkeiten hinter den Kulissen des Ministeriums. Sie führte dazu, dass Dinge ans Licht kamen, von denen der größte Teil des Landes nichts wusste, dass viele andere ungestrafte Verbrechen neu eingeschätzt wurden und dass die moralischen Voraussetzungen für eine wahre Sühne und Läuterung entstanden. Dazu tendiert man heute – auch die Senatoren mit ihrer archaischen Sprache, die sich auf einem Boot befinden, das vom Kurs abgekommen ist; wenn sie von der „vollständigen Wiedereinführung des Gesetzes“ sprechen, versuchen sie, über eine moralische Ordnung zu sprechen, die nicht existiert und heraufbeschworen wird. Hier stellt sich ein anderes moralisches Problem: das der Versöhnung des Landes. „Die Verantwortlichen sind wenige, das Land sind die vielen, die ein Recht auf Ordnung und auf Frieden haben.“ Die Voraussetzungen sind für diejenigen in den beiden Lagern gleich, die mit gutem Willen nach einer Lösung für das schwerwiegende Problem suchen. Aber jeder vernünftige Mensch, dem die Reichweite der moralischen Probleme bewusst ist, muss damit übereinstimmen, dass Ordnung und Versöhnung nicht zusammen mit der moralischen und politischen Straffreiheit für die Verantwortlichen eines Systems der Gewalt und der Unterdrückung bestehen können. Es gibt einen Widerspruch: dasselbe unter den gleichen Bedingungen zu wollen und gleichzeitig nicht zu wollen.

uu Die Sezession auf den Aventin (nach der Ermordung Matteottis) bedeutete die Weigerung eines Teils der italienischen Parteien, an gemeinsamen Parlamentssitzungen mit den Faschisten teilzunehmen. Der Name Aventin-Sezession erinnerte an die Plebejer im alten Rom, die nach Titus Livius mit ihrem Auszug zum Hügel Aventin (secessio plebis) ihre Rechte gegenüber der Dominanz der Patrizier beanspruchen wollten.

Das Verhalten der Popolari

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Die moralische Ordnung, die über der rein materiellen und äußerlichen Ordnung steht, besteht aus unantastbaren Prinzipien und Überzeugungen, aus Gefühlen und Vertrauen; sie berührt folglich das Innerste unserer Seele und ist die Grundlage unseres spirituellen Lebens. Deshalb wird sie nie getrübt und kann sich auch nicht auf Missverständnisse und falsche Positionen stützen, ohne geschädigt und zerstört zu werden. Für uns, für die breite Masse des italienischen Volkes, das am Rande der Politik lebt, aber deren Einfluss im Alltag zu spüren bekommt, kann diese moralische Ordnung, die durch Gewalt verletzt ist, nicht von denen wiederhergestellt werden, die gestern gewalttätig waren und heute zu Lämmchen geworden sind. Haben diese vielleicht die Gnade kennengelernt wie der Heilige Paulus auf dem Weg nach Damaskus? Die plötzlichen Bekehrungen machen nachdenklich, wenn man die Ursache dieser tiefgehenden Veränderung nicht kennt. Ist der Faschismus, um mehr über die Partei als über die Menschen zu sprechen, in der Lage, gesetzestreu zu werden, ohne sich selbst abzuschaffen? Die unduldsamen Stimmen, die schlecht unterdrückten und schlecht verdeckten lokalen Revolten, die Drohungen für die Zukunft und die Leichtigkeit, mit der andere Straftaten begangen wurden wie der Mord an Oldani in Mailand,vv sind leider ein Anzeichen dafür, dass noch nicht einmal der Mord an Matteotti ausgereicht hat, um den Gemütszustand zu ändern, der durch viele Jahre der systematischen Gewalt und perverser Theorien im Namen eines nationalen Gefühls entstanden war, das als Monopol einer Partei betrachtet wurde. Das moralische und psychologische Problem wird zu einem politischen Problem, das hinter Begriffen wie Vertrauen oder Misstrauen gegenüber den Führern und der Regierung zum Ausdruck kommt. Bei diesem Thema gibt es kein Entgegenkommen: Die moralischen Argumente wiegen schwer und absorbieren die politischen. Das ist der Grund, aus dem die oppositionellen Kräfte ihre verschiedenen politischen Vorstellungen überwunden haben und mit einer negativen Haltung übereinstimmen: Sie fordern im Wesentlichen die präjudizielle Wiederherstellung der moralischen Ordnung. Der Einwand, den einige in gutem Glauben (und mit diesen befassen wir uns) auf diesem moralischen Gebiet erheben, ist folgender: „Wie ist es möglich, dass revolutionäre Elemente wie die Radikalen (die Kommunisten haben sich schon zurückgezogen) mit den anderen gesetzestreuen und verfassungsmäßigen Parteien mit ethischer Basis wie den Popolari in der Forderung nach der Wiederherstellung der moralischen Ordnung übereinstimmen?“

vv Attilio Oldani war ein sozialistischer Arbeiter, der 1924 von Faschisten ermordet wurde.

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Dieser Einwand wäre berechtigt, wenn er auf politischer Ebene erhoben würde und wenn das stimmen würde, was einige über das Bündnis der Linken fantasieren, als ob es sich um eine politische Koalition handelte, in der Revolutionäre und Verfassungstreue vereint wären, um gemeinsam die Macht zu erobern. Die Bedeutung der Haltung der Oppositionen stützt sich auf den Beschluss, jedes Verhandeln um die politische Nachfolge auszuschließen und ihr Wirken darauf zu begrenzen, die Rechte, die mit Gerechtigkeit und Freiheit verbunden sind, sowie das gesittete Zusammenleben und die Gleichheit aller vor dem Gesetz geltend zu machen. Diese minimalen Forderungen haben eine grundlegende Bedeutung für das Leben der Nation sowie für den Daseinszweck jeder Partei über die parteilichen Anschauungen hinaus; das gilt sowohl für die linken als auch für die rechten Revolutionäre. Haben die Faschisten nicht gesagt, dass sie Revolutionäre sind? Und sind sie nicht mit Liberalen, Demokraten und Klerikalen verbündet? Der Unterschied zwischen den beiden Koalitionen ist bis heute folgender: Die Faschisten haben mit den anderen parteilichen Männern ein positives Bündnis geschlossen, um selbst an der Macht zu bleiben; außerdem sind sie Revolutionäre in Aktion und treiben diejenigen mit in die Illegalität, welche die Illegalität eigentlich ablehnen. Die Popolari und die anderen Verfassungstreuen haben heute mit Sozialisten und Radikalen ein negatives Bündnis als moralische Kraft, die auf der Ebene der Legalität, der Freiheit und der Gerechtigkeit Druck auf den Staat ausübt. Heute besteht eine sehr ernste Gefahr für das Land: Und zwar, dass die extremistischen Elemente, das heißt revolutionäre und gewalttätige Faschisten und Kommunisten, die mit anderen radikalen Anarchos in Verbindung sind, versucht sein könnten, von den Drohungen zu kollektiver Gewalt überzugehen. Das Volk, das unterdrückt und genötigt wird und von dem Hass erregt ist, der von so viel Missbrauch erweckt wurde, kann die Stimme der Verantwortlichen vielleicht nicht hören, die dazu auffordert, Ruhe zu bewahren und geduldig zu warten, und kann auch von Provokateuren erregt werden, die sich unter die Massen mischen, um zu versuchen, den letzten Widerstand zu leisten. Die Bedrohung kommt heute nicht von der Linken, wie viele uns glaubhaft machen wollen, sondern von der anderen Seite, die nicht resigniert und zugibt, dass sie den Kampf auf moralischer Ebene verloren hat und auf politischer Ebene nicht mehr siegen kann. Das Volk hat gestern gezeigt, dass es das versteht, als es in würdevoller Stille an der Gedenkfeier für Matteotti teilgenommen hat. Das Vertrauen dieser Massen gehört heute den oppositionellen Kräften, die ihre Pflicht nicht vernachlässigen werden, jegliche ungeordnete Bewegung und jede Störung der öffentlichen Ordnung zu vermeiden; aber es ist gut, dass das Bürgertum, das

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noch heute die stärkste und die verantwortungsbewussteste politische Gruppe ist, versteht, dass es nicht bei Positionen hängen bleiben kann, die schon kompromittiert sind (und zwar richtig!), für die es Millionen ausgegeben und Energie verbraucht hat; es kann nicht die Rolle des Bürgen für die Untaten der Vergangenheit übernehmen; es kann sein Schicksal nicht an das einer auf moralischer Ebene verbesserten Partei binden, sondern muss die derartig gefährliche Situation mit einer neuen Orientierung betrachten, bei der die Wiederherstellung des Gesetzes und der Ordnung durch die verfassungsmäßige Macht die erste Pflicht für die Rettung Italiens ist. Der Partito Popolare, der nicht die Partei einer Klasse, sondern aller Klassen ist und der wegen seiner christlichen Richtung auf moralischer Ebene mehr Verantwortung hat als jede andere Partei, weiß gut, dass seine moralische Position ihn verpflichtet, das Problem vor Augen zu führen und voll und ganz die Verantwortung zu übernehmen. Deshalb ist die Kampagne, die unsere Zeitung gemacht hat, um die schwerwiegende Störung der bestehenden Moral im Zentrum und in der Provinz aufzudecken, keine vergebliche Bemühung, um die Normalisierung zu erreichen, sondern steht für die Reinigung eines infizierten Milieus, das von allen moralisch verurteilt werden muss, bevor es nach Reinigung der Männer und der Institutionen die politische Bühne betritt. Diese moralische Verurteilung ohne Einschränkungen – auch auf Kosten des eigenen Stolzes und zu Lasten der eigenen Interessen –, ist der notwendige Anfang des Wiederaufbaus des Landes und der Versöhnung, zu der der König aufgerufen hatte; und ohne diese Verurteilung, die nicht von Verschwiegenheit, Vergleichen und falscher Vorsicht verdeckt oder eingeschränkt wird, gewinnt man weder das Vertrauen des Landes, noch stellt man die moralische Ordnung wieder her oder macht irgendeinen Schritt in Richtung Versöhnung. 11. Juli 1924

Die moralische Einheit der Italiener Die größte Sorge, die heute die gewählten Seelen nachdenklich stimmt und zweifeln lässt und diejenigen vor Schmerz wimmern lässt, die eine reine und uneigennützige Liebe für das Vaterland empfinden, ist es, die moralische Einheit der Italiener erneut gebrochen zu sehen. Ich sage „erneut gebrochen“, weil die fast einhundert Jahre währende Mühe unserer Nation, ihre gespaltenen Mitglieder wieder zusammenzuführen, um eine geografische und staatliche Einheit zu bilden, von schwerwiegenden Problemen wie der tiefgreifenden moralischen Spaltung begleitet ist. Diese zu

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heilen dauerte fast genauso viele Jahre wie man gebraucht hat, um das gesamte Staatsgefüge zu bilden. Die erste Trennung, die als unüberwindbar galt und die religiöse Seele der Italiener betraf, war die der Katholiken, die vom Klerus geleitet und von der obersten Hierarchie durch das „Non expedit“ beraten wurden (1867).ww Der passive Protest, die Enthaltung aufgrund von religiösen Gefühlen und die Schwierigkeiten, die mit der Eroberung Roms hinzukamen, bilden einen fünfzigjährigen Zyklus der moralischen Trennung, die den neuen nationalen Staat bei seiner Geburt verletzte, die Innen- und Außenpolitik ungewiss machte und einen akuten politischen Antiklerikalismus erzeugte, der nach verrückten Träumen von einer Trennung von der Religion oder naiven Hoffnungen auf eine irreale Versöhnung lechzte. Wir, die wir die letzte Phase des Zyklus erlebt haben, vom „Non expedit prohibitionem importat“ aus dem Jahr 1895 bis zum „Fermo proposito“ von 1905,xx dem Interventionismus der italienischen Katholiken im Krieg gegenüber der Neutralität des Vatikans 1915 und der Gründung des Partito Popolare als unabhängige und konfessionslose Partei 1919, denken, dass die Bemühungen und der Beitrag der Katholiken zur moralischen Einheit aller Italiener und auf politischer Ebene zur Überwindung der Trennung, die uns einst als antinational und antipatriotisch bezeichnete, unermesslich sind. Aber in der Zwischenzeit war ein anderes Phänomen entstanden, das zur Zerstörung der moralischen Ordnung der Italiener beitrug: jener revolutionäre Sozialkommunismus, der zuerst versuchte, den Krieg zu sabotieren und dann den Sieg. Ein anderes Mal hatte das Land den sozialen Kampf zu spüren bekommen, der die Seele des Volkes bedrohte: Die Fasci in Sizilienyy 1893, die Unruhen 1898 und die Generalstreiks 1904 waren die verschiedenen Facetten der Bildung einer neuen politischen Klasse und der Qualen eines wirtschaftlichen Problems, dessen Elemente in die neue nationale Bewegung eingeordnet werden könnten, wenn sich das Bürgertum dem Proletariat genähert und dessen Bedürfnisse verstanden hätte. Man kann die antilibysche Propaganda, die Rote Woche, die Kriegssabotage und die bolschewistische Überheblichkeit

ww Siehe die Anmerkung pp. xx Das „Non expedit“ wird mehrmals als Verbot (und nicht nur als Rat) bestätigt. Das „Non expedit prohibitionem importat“ („Das Non expedit besteht aus einem Verbot.“) aus dem Jahr 1886 war eine offizielle Urkunde, mit der der Heilige Stuhl den Verbots­ charakter unterstrich. Der „Fermo proposito“ war im Gegensatz dazu eine Enzyklika Pius’ X., der das Verbot nicht eliminierte, aber ihm die Strenge nahm, indem er es zuließ, dass die Katholiken unter „besonderen Umständen“ am politischen Leben teilnehmen durften. yy Hierbei handelt es sich um eine Bewegung in Sizilien in den Jahren 1891 bis 1894. Sie hat nichts mit der späteren Strömung des Faschismus zu tun.

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der Nachkriegszeit nicht auf dieselbe Ebene stellen.zz Diese Bewegungen verletzten bewusst oder unbewusst die moralische Einheit der Italiener, weil sie die Grenzen des Gesetzes überschritten, einen politischen und moralischen Umsturz versuchten und eine diktatorische Revolution anstrebten. Auch die Sozialkommunisten haben ihre praktischen Erfahrungen gemacht, und so sehr sie auch ihre palingenetischen Theorien und ihre Träume von der Diktatur des Proletariats wiederholen, müssen sie sich doch überzeugen lassen, dass die politische und ökonomische Realität in Europa die Möglichkeit für katastrophale Erfahrungen und Klassendiktaturen einschränkt. Heute sind die anderen Sozialisten – mit Ausnahme der Kommunisten – für Verfassungstreue, Freiheit und Legalität. Einige von ihnen sagen, dass dies nur eine taktische Position, ein dialektischer Moment ihrer – immer noch revolutionären – Tätigkeit sei, aber sie glauben möglicherweise selbst nicht an das, was sie sagen, oder sie machen sich falsche Hoffnungen. Denn die historischen Voraussetzungen führen logischerweise zu den folgenden Entwicklungsmöglichkeiten. Da auch sie heute auf dem Gebiet der Freiheit agieren, ist es unmöglich, diese nach dem Sieg zu leugnen; und wenn sie sie leugnen, wird es ihnen an Kraft und Anhängern fehlen; andere werden ihren Platz einnehmen. So ist es den Katholiken ergangen: Als die konservativen Katholiken gegen die Freiheit waren, beruhte ihre politische Stärke auf dieser Position, aber nachdem sie die Freiheit heraufbeschworen hatten, um leben und kämpfen zu können, konnten sie sie nicht mehr leugnen, es sei denn, sie wollten sich politisch auflösen und verschwinden, was in Frankreich nach dem Staatsstreich geschehen ist. Aber noch ein anderes Phänomen, das schlimmer als die beiden vorherigen ist, bedroht und verletzt die moralische Einheit der Italiener: der Faschismus. Er entstand aus der antibolschewistischen Reaktion und den Überbleibseln des Krieges und glaubte, er könne einhundert Jahre der Geschichte Italiens und die Bemühungen, ein konstitutioneller Rechtsstaat zu werden, um sich ebenbürtig unter den anderen zivilisierten Nationen zu etablieren, auslöschen. Der

zz Hier nimmt Sturzo Bezug auf verschiedene Situationen, in denen seiner Meinung nach Italien eine moralische Spaltung erlebte: die Reaktionen und die Propaganda gegen den italienischen Feldzug in Libyen (die koloniale Aktivität Italiens beginnt 1911 und wird tatsächlich während des ganzen Faschismus weitergeführt); die Aufteilung in Neutralisten und Interventionsunterstützer im Ersten Weltkrieg; die „Rote Woche“ 1914, die einer der größten Streiks und Aufstände war, sodass sie fast wie eine Revolution aussah; der bolschewistische Einfluss in Italien. Für einen Blick auf die Spannungen in Italien am Ende des 19. und im frühen 20. Jahrhundert siehe Simona Colarizi, Storia del novecento italiano. Cent’anni di entusiasmo, di paure, di speranza, Mailand 2000; Nicola Tranfaglia, La prima guerra mondiale e il fascismo, Turin 1996.

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Faschismus hat die Italiener in Nationale und Antinationale gespalten. Er hat der herrschenden Partei das Recht zu regieren übertragen, das mit einer angeblichen Revolution erobert wurde, und hat versucht, sogar das Lebensrecht des politischen Gegners zu leugnen. Die italienische Krise der Katholiken war eine religiöse Krise; die Katholiken haben nie Gesetze gebrochen, sondern nur darauf verzichtet, ein Recht in Anspruch zu nehmen. Die italienische Krise der Sozialkommunisten war eine Wirtschaftskrise, die sich auf die politische und die gesetzliche Sphäre auswirkte, indem sie zu den finsteren Gestalten auf den Plätzen und zu privaten Übergriffen führte; der Staat wurde zwar geschwächt, aber seine Vorrechte und seine Bedeutung blieben erhalten. Die italienische Krise der Faschisten ist eine moralische und konstitutionelle Krise, die in den Staat selbst eindringt, um aus ihm das Werkzeug einer Partei zu machen, und die gesetzliche Ordnung und das konstitutionelle Prinzip untergräbt. Gegenüber diesem neuen Attentat auf die moralische Einheit der Italiener fehlten nicht die Appelle und die Stimmen, die sich für die Versöhnung aussprachen und für die Hoffnungen der Völker auf die Zukunft, und sicher kann niemand ohne Schmerz und Angst an die Zukunft unseres Landes denken. Aber was ist der Königsweg, der diese tiefe Krise überwinden und wieder Vertrauen in die friedliche Entwicklung der moralischen Kräfte der Nation vermitteln kann? Es gibt Leute, die von der Möglichkeit der Versöhnung der Parteien oder der Beseitigung der Parteien träumen. Doch das ist ein Traum. Moralische Einheit heißt nicht einheitliches Denken oder Handeln, das wäre das Nirwana, der Tod: Sie bedeutet eine Koexistenz und einen gemeinsamen Lebensraum. Dieser gemeinsame Lebensraum kann nichts anderes sein als der des „Gesetzes, das für alle gleich ist, und der Herrschaft der Gerechtigkeit“. Es gibt heute eine enorme Verwirrung in diesem Bereich. Wer könnte das leugnen? Der Mord an Matteotti ist nur eine Episode eines Systems, das auf Illegalität und Gewalt beruht. Hat Mussolini gestern nicht damit gedroht, aus den „oppositionellen Kräften die Streu der Schwarzhemden“ zu machen? Er hätte stattdessen sagen müssen: „Wenn die oppositionellen Kräfte die Gesetze brechen, werden sie mit der Härte des Gesetzes bestraft.“ Ein weiteres unverzichtbares Element ist der Respekt vor den konstitutionellen Freiheiten. Es wird nicht bestritten, dass man statuarische Reformen durchführen kann, aber richtigerweise wird nicht gestattet, dass dem Volk die politischen Rechte genommen werden können, die dieses in zahlreichen Kämpfen errungen hat und die heute zum Erbe aller zivilisierten Völker gehören. Die wesentliche Bedingung, um unsere moralische Einheit wiederherzustellen, ist die Überwindung des Gemütszustands, der durch die Spaltung

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in national und antinational entstanden ist, die zwischen uns die tiefste und schärfste Trennungslinie geschaffen hat. Wird all das möglich sein? Oder ist es ein Traum? Muss man die heutigen Qualen noch lange ertragen? Heute erwarten alle, wie eine ununterdrückbare Forderung des bürgerlichen Bewusstseins eines Volkes, dass man wieder zu Legalität, Ordnung und Freiheit zurückkehrt. Dies kann nicht wegen eines unverbesserlichen Eigensinns gegenüber den oppositionellen Kräften verweigert werden, auch nicht, wenn diese im Unrecht wären; das kann kein Alibi dafür sein, dass die Staatsregierung zu einer parteiischen Regierung wird und die Notwendigkeit anerkennt, die oppositionellen Kräfte auf die Streu der Schwarzhemden zu reduzieren. Inzwischen äußern alle Oppositionsbewegungen, Kämpfer und Unterstützer das Bedürfnis, dass das Leben in Italien wieder eine moralische Einheit bekommt. Niemand hat das Recht, dies zu unterbinden, nicht einmal, um die Macht zu behalten, denn die Macht ist keine Diktatur, sondern das gemeinsame Vertrauen des Volkes und des Königs. 6. September 1924

Die Rechte der Revolution Seit dem Marsch auf Rom sprach man von den Rechten der Revolution, und diese Formel wird häufig von Faschisten und ihren Sympathisanten wiederholt, als hätte sie einen realen, ethischen und beinahe rechtlichen Nährboden. Ich habe in unseren Zeitungen oder Zeitschriften nicht gesehen, dass die Tragweite dieser Behauptung vom Standpunkt unserer traditionellen Lehre aus abgestritten oder erklärt wurde. Die anhaltende Verwirrung und übliche Toleranz kann zu Zugeständnissen führen, die über jede Grenze der öffentlichen Moral hinausgehen: Ich finde es folglich angemessen, die Elemente der Frage und die Leitkriterien für ein Urteil, das mit unserem christlichen Konzept des öffentlichen Lebens vereinbar ist, zu klären. Ich sehe davon ab zu diskutieren, ob die faschistische Revolution vom November 1922 schon abgeschlossen wurde oder noch abläuft oder ob weder das eine noch das andere zutrifft. Ich werde verschiedene Hypothesen aufwerfen, die von Mal zu Mal von den Philofaschisten oder von den Antifaschisten je nach Geschmack als Tatsachen angenommen werden können. Mir liegt es in diesem Moment am Herzen, die theoretische Linie des Problems richtig zu behandeln.

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Betrachten wir daher eine Revolution als historische Tatsache, das heißt zeitlich und räumlich begrenzt, mit gegebenen politischen, ökonomischen und sozialen Eigenschaften und bestimmten Auswirkungen auf die Verfassung eines Staates. Die erste Eigenschaft jeder Revolution ist die Entmachtung der politischen Autorität und der gewaltsame Austausch der Männer, die diese durch das traditionelle Recht als legitim geltende Autorität vertreten, um ein anderes Regime und andere Männer an die Macht zu bringen, die nichts mit der vorherigen Ordnung zu tun hatten. Solange es einen bewaffneten Kampf oder einen Konflikt auf gesetzlicher Ebene zwischen legitimen und nicht legitimen Elementen gibt, ist die Revolution im Gang; und man kann niemals von Rechten der revolutionären Partei gegenüber der anderen sprechen, sondern nur von Auseinandersetzung, Krieg, Kampf. Jene, welche die bestehende Ordnung vertreten, können sich in ihrer Einschätzung der Geschichte, der ökonomischen Bewegungen und der moralischen Stimmung im Land täuschen, aber sie sind auf der Seite des geltenden Rechtes. Damit niemand dieses Konzept missversteht, ist es gut anzumerken, dass man eine Revolution nicht mit der Erhebung eines Volkes gegen die Versklavung durch Ausländer verwechseln darf: In diesem Fall kann das revolutionäre Geschehen eine Begleiterscheinung sein, wie in Italien 1848, oder auch nicht, wie 1866. Ende der Zwischenbemerkung. Das Problem der Legitimierung eines Regimes und einer Regierung ist fundamental für die Prüfung des sogenannten revolutionären Rechtes oder besser des Rechtes der Revolutionäre. Die Einstellung der Feindseligkeiten durch die rechtmäßige Regierung, das heißt, der Sieg der Revolutionäre, verpflichtet die siegende Partei, eine Regierung zu bilden, für Ordnung zu sorgen und eine öffentliche Verantwortung zu übernehmen: Nicht weil diese durch die Anwendung von Gewalt, mit Waffen, mit dem Bürgerkrieg, Aufständen und Blutbädern ein Recht erworben hätten, sondern weil das Volk oder besser die Gesellschaft ein Recht auf Ordnung hat und darauf, dass sie nicht der Herrschaft der Anarchie überlassen wird, denn das Recht der Gesellschaft auf eine Autorität, welche die Masse vereint, steht über jedem historischen Recht der Regimes und der Männer, die an der Regierung sind. Folglich ist die Bildung einer tatsächlichen Regierung durch diejenigen, welche die Vorherrschaft haben, auch wenn diese nicht legitim ist und mit rechtswidrigen Mitteln erobert wurde, eine Pflicht der Revolution gegenüber der Gesellschaft. Es versteht sich, dass die Regierung, nachdem sie einmal gebildet wurde, das Recht hat, für Ordnung zu sorgen und die Gesetze ausführen zu lassen. Welche Ordnung? Welche Gesetze? Das ist das erste extrem große Problem, das sich stellt und nicht gelöst wird, wenn man nicht vorher das Problem der Legitimität löst. Aber auch wenn das Problem der Legitimität weder von der Politik noch vom Recht gelöst wird, gibt es auch für die Revolutionäre eine Bindung,

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die über jedem Regime, jeder Regierung, jeder Ordnung und über jedem Gesetz steht: Das sind die unüberwindlichen Grenzen, die das moralische Gesetz der Natur setzt und die für jede Gesellschaft unter jedem Himmel wesentlich sind. Keine Revolution kann Verbrechen, Massaker, unmoralische Taten und Diebstahl, Raub und Raubüberfälle rechtfertigen, welche die Geschichte uns vor Augen führt, als ob sie uns mitteilen wollte: Wenn eine Ordnung zerstört ist und eine Gesellschaft in eine Krise gerät, gewinnt der Raubtier-Mensch gegenüber dem Menschen-Raubtier die Oberhand und verletzt jede familiäre, gesellschaftliche und religiöse Ordnung. Wenn die revolutionären Rechte heraufbeschworen werden, um die Mörder von Turin oder Rom, von Argenta oder Mailandaaa zu rechtfertigen (unter der Annahme, dass wir uns noch in einer Revolution befinden), fällt es uns nicht schwer zu sagen: Es handelt sich um Abartigkeiten von Kriminellen sowie um unmoralische und asoziale Theorien, und es gibt kein revolutionäres Recht, das diese freisprechen und verherrlichen könnte. Es bleibt folglich das Problem der Ordnung und des Gesetzes, der Konfiguration, des konstitutiven Typs der Gesellschaft und des Staates, seiner Wirtschaft und seiner spezifischen Tätigkeit. Und hier muss das Problem der Legitimation der Revolution als vorentscheidend und substanziell für den Regimewechsel und den Austausch von Männern gestellt werden. Nach der Idee des modernen Staates kommt die Legitimation vom Volk; im Mittelalter kam sie vom Kaiser, vom Papst, vom Feudalherrn oder von den Wählern (Aristokratie oder Demokratie), die das Recht dazu hatten. Dabei handelt es sich um historische Formen und Kräfte, deren Tradition auf mehr oder weniger weit zurückliegenden Ereignissen beruht und die deshalb eine traditionelle und folglich respektable und sichere oder zumindest so wenig wie möglich schwankende Ordnung schufen. Es sind immer praktische Formen, die in einer bestimmten historischen Epoche gemäß der allgemeinen Auffassung vom öffentlichen Recht einem allgemeinen Bewusstsein entsprechen. Das Volk kann sich täuschen, genau wie sich der Feudalherr, die Kurfürsten und der Kaiser täuschen können – und in Bezug auf Politik auch der Papst. Aus diesen Fehlern und aus den öffentlichen Leidenschaften besteht die tausendjährige Geschichte der Menschheit; die konkrete und rechtliche Form der Autorität ist ein Produkt des öffentlichen Bewusstseins, das diese zulässt, weil aaa Hier nimmt Sturzo Bezug auf verschiedene faschistische Aggressionen und Morde. Gemeint sind vermutlich das Turiner Massaker von 1920, als Squadre fasciste elf Personen (Sozialisten, Anarchisten, Gewerkschaftler) ermordeten und viele andere verletzten; die Aggressionen in Rom und insbesondere Matteottis Ermordung; der Mord an Giovanni Minzoni, Erzpriester von Argenta, im Jahre 1923; verschiedene Angriffe in Mailand, wie jenen gegen den sozialistischen Arbeiter Attilio Oldani, der 1924 von Faschisten ermordet wurde.

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es ihr vertraut und damit die Grundlagen für diese Legitimierung und folglich für die menschliche Stabilität der politischen Institutionen schafft. Wenn das nicht so wäre, müssten wir an die traditionellen und rechtlichen Titel der Könige und der Regierungen erinnern und die gesamte Geschichte vor Gericht stellen, denn man kann sagen, dass zahlreiche Regierungschefs, Könige oder Kaiser nicht auf legitime Weise an die Macht gekommen sind, sondern mithilfe von Missbrauch, Gewalt, Staatsstreichen, ungerechten Kriegen und Revolutionen. Wie könnte man sonst das Verhalten der Päpste erklären, die usurpatorische Könige und revolutionäre Kaiser von Pippin bis Napoleon krönten? Das öffentliche Wohl, das heißt die Ordnung, erfordert, dass über bestimmten historischen Rechten eine zentrale Autorität anerkannt und innerhalb der akzeptierten, gültigen und folglich legitimen Formen stabilisiert wird, um den revolutionären Staat zu überwinden und die rechtliche, politische und moralische Ordnung wiederherzustellen. Wenn dies zutrifft, verleiht unter den Bedingungen, die unter zivilisierten Völkern herrschen, das öffentliche Bewusstsein dem Volk seine konstitutionelle Form und macht es so zu dem legitimierenden Organ der Staatsmacht, des Regimes und der Regierung; und folglich ist es die Aufgabe des Volkes als aktives Element, die Vor- und Nachteile der Revolution abzuwägen und ihre Macht anzuerkennen oder abzulehnen. Man versteht, dass der Widerstand gleichzeitig moralisch und materiell sein kann oder nur moralisch. Diese unsere Behauptung ist von historisch-juristischer Natur und sieht sowohl im weiteren als auch im engeren Sinne von der Theorie der Volkssouveränität ab. Solange die revolutionäre Sache nicht vom Volk legitimiert wird, kann diese auf einer rechtlichen Basis weder eigene Rechte geltend machen noch ein Gesetz in Kraft setzen. Dies ist dann nur unter Gewaltanwendung möglich. Ich habe in beiden Fällen das Wort „Revolution“ benutzt, gleichgültig ob sie von wenigen gegen viele oder von vielen gegen wenige vorangetrieben wird. Da die Revolution im zweiten Fall ihre Basis im Volk hat, findet sie leicht eine Art der Legitimation. Dies geschah in den Reichen der Mittelmächte nach Niederlagen, und heute denkt niemand, dass die Republiken nicht genauso legitim seien wie die untergegangenen Reiche. Die Grundlage des Gesetzes und der Ordnung, die durch die Revolution entstanden, ist ein neues konstitutionelles Bündnis: Der revolutionäre Zyklus wurde abgeschlossen, als die öffentliche Meinung das neue Regime moralisch akzeptierte. Nachdem die Autorität wiederhergestellt worden ist, gibt es ein Organ für die Erarbeitung und den Erlass von Gesetzen, die Macht hat unumstrittene, klare, sichtbare, kontrollierbare und folglich legitime Ursprünge, und die Ordnung gewinnt wieder die Oberhand. Gibt es Elemente, die Widerstand leisten und sich gegen das neue Regime auflehnen? Wenn diese im Rahmen der Gesetze tätig sind, entfalten sie ihre

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Aktivität auf legale Weise; wenn sie Gesetze brechen, können und müssen sie bestraft werden. Kurz und gut: Die Legitimierung durch das Volk schließt den revolutionären Zyklus ab; die Staatsmacht erlangt ihre volle Schlagkraft; Gesetz und Ordnung werden wiederhergestellt. Nach diesem Konzept hat die Revolution kein eigenständiges Recht und kann folglich keine rechtliche Bindung geltend machen, weder während der Revolution, gegen die es in bestimmten Fällen eine Pflicht ist, Widerstand zu leisten, noch nach der Revolution. Unter diesem Aspekt war die irische Revolution gegen England dauerhaft, denn das Volk legitimierte die Usurpation nie und fühlte sich immer im Recht, sich zu erheben und seine Unabhängigkeit wieder zu erkämpfen. Eine kurze Übertragung des Gesagten auf Italien: a) Wenn die faschistische Machtübernahme als Revolution betrachtet werden muss, war diese auf die Art, an die Regierung zu kommen, und auf deren Leitlinien begrenzt. Dabei wurde unsere konstitutionelle Monarchie nicht angegriffen; denn es stimmt, dass die faschistische Partei die Ernennung der Regierung durch den König und das Vertrauensvotum des Parlaments akzeptierte. In diesem Sinne erhielt sie zumindest auf rechtlicher Ebene schnell und problemlos die Legitimierung durch das Volk, wenn auch nicht durch einen moralischen Konsens. b) Innerhalb dieser Grenzen, das heißt der Monarchie und der Verfassung, müsste man die heutige Regierung als legitim bezeichnen: Aber ihr Gesetz und ihre Ordnung können nichts anderes sein als das Gesetz und die Ordnung des konstitutionellen Königreiches Italien, und so gehen sie auch bei der Entwicklung der Aktivitäten des Staates und der Regierung vor. c) Auf dieser konstitutionellen und rechtlichen Ebene können sowohl die Regierungsparteien als auch die der Opposition handeln, solange sie sich in der Sphäre des Rechts befinden. Nachdem das juristische Konzept der Rechte der Revolution, die nicht existieren, ausgeschlossen ist, fragen wir: Glauben die Faschisten, dass ihr revolutionärer Zyklus noch nicht abgeschlossen ist, weil ihre Revolution noch im Gang ist? Wenn ja, leugnen sie ihre Konstitutionalisierung und befinden sich jenseits der politischen Legitimation und der rechtlichen Ordnung. In diesem Fall können sie sich nur auf ihre Macht stützen, nicht auf Rechte, die keine legitime Basis haben, denn diese ist nur im Rahmen einer gesetzlichen Ordnung möglich, die noch kein Italiener geleugnet hat: Es ist die konstitutionelle Ordnung der parlamentarischen Monarchie. 8. August 1924

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Für die Untersuchung eines ethisch-psychologischen Phänomens Ich erkläre gleich zu Beginn die Grenzen dieses Artikels, damit er besser verstanden werden kann. Ich möchte vor allem etwas zu den Untersuchungen beisteuern, die durchgeführt werden, um das Phänomen der moralischen Unterstützung (egal ob mit oder ohne politische Unterstützung) der faschistischen Regierung von Seiten einer Schar von nicht unredlichen Männern zu erklären, die in ihrem privaten und öffentlichen Leben immer von edler Gesinnung und moralisch respektabel waren. Zweitens möchte ich von jenen sprechen, die, als sie sich dafür oder dagegen aussprechen mussten, es vorzogen, sich zurückzuziehen und die These vertraten, dass dieses Verhalten dem christlichen Bewusstsein am besten entspreche.

I. Das Phänomen, das ich oben angesprochen habe, kann nicht als unbedeutend bezeichnet werden, im Gegenteil: In gewisser Hinsicht fand es sich in bemerkenswertem Maße auch innerhalb des katholischen Klerus. Ich muss aus dieser Untersuchung jedoch die Zeit ausschließen (die an sich interessant ist, aber nicht konklusiv für eine ethische Untersuchung), die ich als eine der rosigen Hoffnung bezeichnen möchte, nämlich als Mussolini, nachdem er vom König die Macht erhalten hatte, ein Kabinett mit den Vertretern verschiedener Parteien bilden wollte und vielen (nicht dem Schreibenden) wie ein Schlichter zwischen dem extremistischen Faschismus, der Übertriebenheit eines Parlamentarismus ohne Autorität und eines dem Bolschewismus zugeneigten Sozialismus erschien. Diese Hoffnungen wurden bald enttäuscht, aber nicht alle verstanden die Elemente und die Ursachen dieser Enttäuschung: Jedenfalls kehrt das moralische Problem, das vom Faschismus vor dem Marsch auf Rom aufgeworfen wurde, nur stufenweise in das öffentliche Bewusstsein zurück, und zwar durch eine Reihe von Erfahrungen und Etappen, die leider ausschließlich politisch sind und vom Kongress des Partito Popolare in Turin bis zum Mord an Matteotti (Juni 1924) andauern. Um eine bessere und sicherere Grundlage für eine Untersuchung zu haben, ist es angemessen, uns mit der momentanen Situation zu befassen, die mit dem Mord an Matteotti beginnt und bis zu den derzeitigen Entwicklungen reicht, aber man wird auch einige Bemerkungen über die vorherige Epoche machen. Und da es vergebens wäre, von den Leidenschaftlichen, den Eigennützigen, den Träumern und den Dummen zu sprechen, über die man keine vollständige ethische Untersuchung anstellen kann, schließen wir es explizit aus, uns um diese zu kümmern.

Untersuchung eines ethisch-psychologischen Phänomens

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*** Die allgemeine Haltung dieser Elemente gegenüber den bekannten Verbrechen der Faschisten und der Gewalt gegen Personen und Sachen beruht keinesfalls auf Billigung und Konsens: Im Gegenteil, sie bedauern diese Ereignisse und hoffen, dass sie so bald wie möglich aufhören. Sie leugnen jedoch, dass es einen Zusammenhang von Ursache und Wirkung zwischen dem faschistischen Regime und den Herrschaftsmethoden und dem Gemütszustand jener Faschisten gibt, die sich der Gewalt hingeben. Im Gegenteil, sie glauben, dass der Faschist in dem Maße reizbar sei wie die Opposition seinen Widerstand provoziert, und dann leider die Grenzen der Moral überschreite. Sie fügen hinzu, dass die faschistische Revolution, sei sie nun gut oder schlecht, vom König und vom Parlament legalisiert wurde und dadurch Rechte erworben habe, und dass es vergeblich wäre, etwas dagegen zu unternehmen: Und folglich führt die Auseinandersetzung zu einer Reaktion, die das Gebot der Moral verletzt und nicht gebilligt werden kann. Man kann sie sicher verstehen und folglich den Gegnern Grenzen auferlegen. Ich habe versucht, die Überlegungen, die ich auch von Personen mit einem aufrichtigen Gewissen gehört habe, objektiv und exakt darzulegen. Sie fügen hinzu, dass es in jeder Partei und in jeder Regierung, wenn diese an die Macht kommt, Gutes und Schlechtes gibt; aber dass im aktuellen Fall das Gute, sowohl im Bereich der Religion und Moral als auch in Bezug auf die Ordnung, die Wirtschaft und die öffentliche Verwaltung, das Schlechte der unvermeidbaren Gewalttaten und der lokalen Ereignisse übertreffe, die übrigens vom Richter bestraft würden; folglich könne man die Regierung guten Gewissens unterstützen. Das Problem der Moral hat eine doppelte Natur: es ist subjektiv und objektiv. Die erste Ebene ist folgendermaßen gedacht: Wer von der Richtigkeit der oben erwähnten Auffassung und deren Anwendung überzeugt ist, kann ein höchstens falsches Bewusstsein haben, aber sein Verhalten ist im Verhältnis zu seiner Überzeugung ethisch tadellos. Zu dieser Behauptung muss man nur hinzufügen: In der heutigen konfliktgeladenen Situation ist es schwierig, in seinen Überzeugungen so sicher zu sein, dass jeder Zweifel ausgeschlossen erscheint. Und wer unter diesen Umständen ein falsches Bewusstsein hat und Zweifel bekommt, ist verpflichtet zu versuchen, die Wahrheit herauszufinden und folglich seine geistige Verfassung neu zu überdenken. Die andere Ebene, die objektive, führt zu einer Beurteilung der oben dargelegten Kriterien und Argumente; und das ist richtungsweisend für diejenigen, die aufgrund von inneren Zweifeln oder aufgrund eines objektiven Kriteriums das moralische Problem an sich angehen.

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Für die eine wie für die andere Richtung müssen der Moralist sowie der Politiker, der nicht von ethischen Motiven und Positionen im öffentlichen Leben absehen möchte, richtungsweisende Untersuchungen über die rechtlichen und realen Elemente berücksichtigen, die ihr eigenes Urteil und ihre eigene Haltung determinieren. Es kann nicht anders sein, weil man sonst entweder die Trennung der Ethik von der Politik zulassen oder eine derartig falsche Auffassung von Ethik vertreten müsste, dass man sie faktisch in den gleichen Schützengraben der Politik zurücksetzen müsste, die nur als Staatsraison konzipiert wird.

*** Und hier ist objektiv gesehen der Kernpunkt der Frage: „Kann man die Befürwortung und die Unterstützung der faschistischen Regierung in der moralischen Verfassung, in der sich diese gerade befindet, ethisch rechtfertigen?“ Um eine Antwort zu geben, ist es nötig, die Elemente genau zu klären, die ausschlaggebend für das Urteil sind: Sie haben eine doppelte Natur, eine theo­ retische und eine praktische. Auf theoretischer Ebene kann man auf keinen Fall dem Prinzip zustimmen, die Revolution habe Rechte, die sich nicht nur jenseits der allgemeinen Ethik, sondern auch außerhalb des positiven Zivilund Strafrechts befänden, an das alle Bürger gleichermaßen gebunden sind. Eine Regierung, die, auch wenn sie revolutionär ist, für sich selbst ein willkürliches Recht geschaffen hat, befindet sich jenseits des moralischen Gesetzes und kann auf moralischer Ebene nicht unterstützt und gerechtfertigt werden. Diese Regierung ging in der Tat eher aus einem Aufstand als aus einer Revolution hervor, denn sie akzeptierte es, die Macht vom König entgegenzunehmen, und schwor, sich an die Gesetze des Staates zu halten. Wenn die Regierung diese Gesetze bricht, hat sie einen Meineid geschworen. Wenn sie für sich allein das Recht beansprucht, die Gesetze zu brechen, schafft sie ein Prinzip, das sich antithetisch zur Moral verhält. Schließlich hat die Regierung die Gewalttaten und die Verbrechen nie prinzipiell verurteilt. Gleichgültig, ob es Parteiführer und Vertreter der staatlichen Macht gab, die in die Verbrechen verwickelt waren: Der Regierungschef erklärte am 3. Januar 1925, er wolle die volle Verantwortung für alle Vergehen des Faschismus übernehmen. Damit wurde eine politische Position zulässig, die über dem Gesetz und der Moral steht, ohne jegliche Einschränkungen. Aus diesen impliziten und expliziten Behauptungen entsteht eine Regierungstheorie, die wir nicht akzeptieren können: ein verantwortungsloser Cäsaris­ mus der Regierung, der einem Konzept der ethischen Bindung der öffentlichen Gewalt zuwider ist. Jede Unterstützung dieses Prinzips und der Taten, die sich auf diese Prinzipien stützen, ist zwangsläufig unethisch.

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Man kann auch nicht sagen, all dies sei eine theoretische Abstraktion, eine oppositionelle Art, die faschistische Regierung zu interpretieren, denn der Kernpunkt der Differenz zwischen Faschisten und Antifaschisten ist die moralische Ebene, und ausnahmslos alle Faschisten, allen voran der Chef, haben zugegeben: Die revolutionären Rechte gelten auch noch, nachdem man der Verfassung und den Gesetzen Treue geschworen hat; das Recht auf Gewalt – zumindest als öffentliche Bestrafung; die Mitverantwortung der höchsten Regierungsmitglieder an der systematischen Verletzung des moralischen und zivilen Gesetzes. Der Versuch, dieses ethische Thema auf die politische Ebene zurückzubringen und es als einfachen parlamentarischen oder öffentlichen Konflikt zu beurteilen und damit eine Grundlage für die Entwicklung eines neuen Regimes zu schaffen, das jenseits von Gut und Böse ist, gelang nicht und kann nicht gelingen, weil es zum Glück ein moralisches Bewusstsein gibt, das das moralische Problem als noch nicht überwunden empfindet. Wie aber könnte das geschehen? Durch die Einführung eines Staatsrechts, das über dem moralischen Gesetz steht, indem die Ausübung dieses Rechts einer siegenden Gruppe übertragen wird und den Bürgern alle politischen oder bürgerlichen Rechte genommen werden, die sich auf das staatliche Regime beziehen können. Das scheint die neue Phase zu sein, die mit der Rede des Regierungschefs vom 3. Januar beginnt; und das ist tatsächlich eine wahrhaftige Phase der Politik, in der sich viele Leitlinien des kollektiven moralischen Lebens vermischen. Aber da weiterhin die Tendenz besteht, der Gesellschaft ihre legitimen Rechte zu nehmen, trägt diese Phase zwei moralische Lasten: die Verletzung der Rechte Anderer und die Ansicht, dass der Zweck die Mittel heilige. Beide müssen abgelehnt werden.

*** Diejenigen, die gerne ein reines Gewissen hätten, obwohl sie eine derartige Regierung unterstützen, suchen nach mehreren äußerlichen oder indirekten Argumenten und glauben, dass sie damit dem Zwang unserer Überlegung entkommen. Zuerst sagen sie: „Wir stimmen damit überein, dass diese Prinzipien so formuliert nicht annehmbar sind, aber wir befinden uns nicht in einer philosophischen Schule, sondern auf der Ebene der Praxis. Daher billigen wir, obwohl wir mit den Prinzipien der derzeitigen Regierung nicht übereinstimmen, ihre praktische Ausrichtung, deren Ziel das Wohl der Nation ist, und man kann nicht leugnen, dass sie dafür tatsächlich viel getan hat.“

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Die Antwort ist nicht schwer: Das Prinzip non sunt facienda mala ut eveniant bonabbb gilt nicht nur für die private Ethik, sondern auch für die öffentliche. Außerdem werden die oben genannten Prinzipien nicht von abstrakten Theoretikern ausgelegt, sondern als Rechtfertigung des praktischen Wirkens der Regierung und des Faschismus zugelassen. Wenn man im Leben das Prinzip von der Tat trennen könnte, wäre es nicht nötig, die Prinzipien zu untersuchen, um die Praxis nur mit dem Willen, Gutes zu tun, zu rechtfertigen. Es ist eindeutig, dass niemand das Schlechte will: Alle wollen das Gute, auch wenn sie Schlechtes tun; die Prinzipien müssen ein Leitbild bei der Suche nach dem wahrhaft Guten und den Mitteln sein, dies zu bewirken, durch Festlegung der Grenzen dessen, was zulässig und was nicht zulässig ist, indem in Gesetzen konkretisiert wird, was die menschliche Gesellschaft tun kann und was sie unterlassen muss. Sie widersprechen uns noch immer: „Wir können zugeben, dass es einen Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis gibt, aber wir sind für das Gute und tadeln das Schlechte; und wenn man die Gesamtheit der Ereignisse betrachtet, überwiegt das Gute gegenüber dem Schlechten.“ Das ist ein praktisches Urteil, über das man mit ihnen sehr schwer aufgrund einer einfachen Beurteilung der Fakten diskutieren kann. Diese Diskussion hatte schon in den Zeitungen begonnen, welche die sogenannte moralische Frage aufgeworfen hatten, was heute wegen der Unterdrückung der Pressefreiheit nicht mehr geschieht. Es laufen Strafprozesse: Bei den Debatten werden viele Tatsachen an die Öffentlichkeit kommen. Andere sind in den politischen Milieus wohl bekannt; jede Person, die unvoreingenommen nach der Wahrheit sucht, wird sich so viele Elemente wie möglich besorgen, um sich ein Urteil zu bilden. Eines muss das Bewusstsein dieser Männer beeindrucken: Es gab in Italien von der Zeit der paternalistischen Regierungen bis heute, das heißt in mindestens drei Jahrhunderten, noch nie einen ähnlichen Fall, dass die Legitimität einer Regierung anhand von moralischen Anschuldigungen mit einer theoretischen und einer praktischen Tragweite, die über das einzelne Verbrechen – auch zu politischen Zwecken – hinausgeht, bestritten wurde. Dieses Phänomen gehört nicht zu denen, die unter den Geheimnissen der Untersuchungen und der Einschätzungen über die Absichten dieses oder jenes Regierenden, Prinzen oder Ministers bleiben, sondern es wird auf die gesamte moralische und politische Haltung einer Partei und der öffentlichen Macht, die von dieser ausgeht, übertragen.

bbb Regel des kanonischen Rechts: Es darf nichts Böses getan werden, damit Gutes daraus hervorgeht. In: Detlef Liebs (Hg.), Lateinische Rechtsregeln und Rechtsstichwörter, 7. Auflage München 2007, S. 158.

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Aber die Philofaschisten geben sich nicht geschlagen und antworten mit einer Bestimmtheit, die auf einem Bewusstsein beruht, das weder von den Ereignissen noch von den Argumenten erschüttert wird: „Italien war in einer Zwangslage und ist es noch, zwischen dieser und einer schlechteren Regierung wählen zu müssen; und auch wenn es einiges zu bemängeln gibt (und das können wir nicht leugnen), akzeptieren wir sie, um ein größeres Übel zu vermeiden.“ Um über das gegenwärtige und über das zukünftige Übel sowie über das kleinere und das größere Übel zu urteilen, können wir uns nicht auf die Seite des ethischen Standpunktes stellen, sondern nur auf die des politischen; und da die Bejahung und die Verneinung in Bezug auf die Zukunft gleichwertig sind, in dem Sinne, dass es keine sicheren oder wahrscheinlichen Faktoren gibt, um ein sicheres Urteil zu fällen, haben weder eine Bestätigung noch eine Verneinung irgendeinen Wert. Diese Argumentation kann man stets wiederholen, auch in Bezug auf die schlimmsten Regierungen, die es je auf der Welt gab, denn das Sprichwort sagt: „Das Schlimmste ist bodenlos.“ Aber diese Argumentation beruht auf einem Missverständnis oder auf einer feigen Tat. Wenn es unsere Aufgabe ist, die gegenwärtige Situation zu verbessern, ist es uns im Rahmen dessen, was für Menschen möglich ist, nicht gestattet, uns keine Mühe zu geben und nicht so gut wie möglich zusammenzuarbeiten. Sonst werden wir uns immer einem größeren Übel hingeben, das keine Grenzen hat, denn man kann einen schlechten Staat immer mit einem anderen hypothetischen Staat vergleichen, der noch schlimmer ist. Der ethische Punkt dieser letzten Frage ist folgender: Wann wird es für jeden von uns zu einer Pflicht, zur Entfernung eines gesellschaftlichen Übels beizutragen? Und wann wird aus einer negativen Pflicht (Nicht-Unterstützung einer schädlichen Ordnung) eine positive (sich gegen das Übel stellen)? Diese Frage verdient es, untersucht zu werden, aber sie schweift vom Thema ab. Hier geht es darum, der alten Vorstellung der beiden Übel jeglichen ethischen Wert zu nehmen, denn eines ist gegenwärtig und real, das andere ist hypothetisch und subjektiv; das Erste kann durch das Wirken der Guten korrigiert, das Zweite von ihnen verhindert werden. An diesem Punkt klammern sich unsere Kontrahenten an einen wichtigen Teil der Überlegung, die bis hierhin dargelegt wurde, und behaupten: „Mit unserer Unterstützung der Regierung verfolgen wir die Absicht, die Fehler zu korrigieren und die Phase der Illegalität zu überwinden.“ Das schicksalhafte Wort in diesem Zusammenhang war das der „Normalisierung“. Auch hier befinden wir uns auf der Ebene der praktischen Urteile; und folglich kann der gute Glaube derer, die das behaupten, subjektiv dreimal gut sein und es noch bleiben. Aber wenn Elemente, die aus vielen Gründen Respekt verdienen,

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an der Normalisierung verzweifelt sind und sich – obwohl sie eine schwere Mitverantwortung haben – von der Regierung gelöst haben, muss man bei seriösen Männern, die ein ethisches Bewusstsein haben und auf moralischer und auf religiöser Ebene Respekt verdienen, stark bezweifeln, dass ihre andauernde Unterstützung der Regierung nicht in gewisser Weise von einem Vorurteil geprägt wird, durch das es schwer wird, die Grenze zwischen Wunsch und Überzeugung zu beurteilen.

*** An diesem Punkt ist es zulässig, unsere Untersuchungen von der rein ethischen Ebene und den äußerlichen Faktoren auf die psychische Ebene und die Gemütszustände auszudehnen. In jedem von uns gibt es wesentliche Motive, auf die – bewusst oder unbewusst – unsere Werte oder Eindrücke aufgrund einer Gesamtheit von Traditionen, Überzeugungen, Interessen und Zueignungen zurückzuführen sind, und es ist sehr schwer, diese vollständig und genau zu analysieren: Wir nennen sie Gemütszustände. Diese haben auch einen starken Einfluss auf die Urteile des Intellekts und können, wenn sie nicht durch eine hoch entwickelte Selbstkritik korrigiert werden, die genaue Wahrnehmung der Realität beeinträchtigen. Ich glaube, in dem Phänomen, das ich untersuche, einen dieser Gemütszustände zu sehen, eine dieser finsteren psychologischen Synthesen, die sicherlich die Verantwortung für die eigenen Fehler mildern und gewisse spirituelle Wendungen erklären, die sonst unbegreiflich wären. Das Phänomen der philofaschistischen Haltung von Personen, die vom ethischen Standpunkt aus Respekt verdienen, ist meiner Meinung nach ein instinktives und substanzielles Phänomen des Konservativismus im wahren Sinne des Wortes. Auch wenn sie sich vor dem Faschismus mit pompösen Namen als Liberale, Demokraten oder Popolari bezeichneten, waren sie das vom politischen Standpunkt aus ganz und gar nicht: Sie waren im Wesentlichen Konservative. Es ist nicht verächtlich, sie so zu nennen, das Bewahren hat sicherlich eine gesellschaftliche Funktion; und im Gefüge eines Volkes ist es nützlich, dass es diejenigen gibt, die aus Überzeugung oder wegen ihrer gesellschaftlichen Position mehr auf Erhalt als auf Fortschritt und Entwicklung beharren. Der italienische Fehler, der auf einer langen Praxis des „trasformismo“ und der Anpassung beruht, besteht darin, die natürlichen Demarkationslinien der verschiedenen Strömungen zu verwischen und die herrschende Klasse zwischen verschiedenen Extremen schweben zu lassen, um dann die Ebene des ewigen Kompromisses zu erreichen, der fast immer zugunsten des Stärkeren endet.

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Aber der anfängliche politische und moralische Fehler dieses Konservativismus war es, zuerst standhalten und dann mit Gewalt herrschen zu wollen. Wenn Großgrundbesitzer, Bankiers und Herren verschiedener Couleur den Faschisten nicht Mittel und Waffen beschafft hätten, wären dann all die Angriffe, Überfälle, Besetzungen von Städten sowie die moralischen und physischen Gewalttaten von 1921/22 bis zum Marsch auf Rom möglich gewesen? Waren und sind diejenigen frei von Schuld, die ihnen Waffen und Geld gegeben und sie mit ihrer Stimme und mit der Presse unterstützt haben? Waren es nicht sie, welche die Tendenzen der kühnen Jugend der Nachkriegszeit ausnutzten und wieder behaupteten, dass der Zweck die Mittel heilige? Jedoch die Angst, ihr Reichtum könne Schaden erleiden, der Widerwille und die Verbitterung, in nicht wenigen Provinzen eine unangefochtene Herrschaft der Sozialisten hinnehmen zu müssen, sowie die Schwäche des Staates gegenüber den verschiedenen Massenbewegungen rechtfertigten in ihren Herzen beinahe eine Haltung, die moralisch zu verurteilen und politisch gefährlich war. Die Machtübernahme der Faschisten krönte ihre Bemühungen und befreite sie von dem Albtraum einer moralischen Mitwisserschaft, die sie eigentlich anwiderte, obwohl sie sich ihrer bedienten. Ihre ethische Urteilsfähigkeit war von der Gewalt getrübt, aber sie versuchten, ihr Gewissen mit dem Argument zu erleichtern, dass es keinen anderen Weg gab und sie ihr bedrohtes Eigentum und die bedrohte und erschütterte Ordnung verteidigen mussten. Im Innern ihres Herzens trugen sie einen stillen und nicht gebeichteten Klassenegoismus: Sie litten sehr darunter, dass sie mit Arbeitern, und vor allem mit Bauern, als freie Vertragspartner umgehen mussten, die von den Interessenorganisationen gestärkt wurden. Die Übertreibungen der Arbeiterverbände und Vereinigungen dienten als Argument für einen maßlosen Widerstand; als diese in der Emilia und in der Romagna die Scheiterhaufen der Arbeiterverbände und Kooperativen sahen, glaubten sie, ihr altes Befehlsrecht erlebe in diesen Funken und Flammen seine Auferstehung. Und trotzdem beichteten sie das nicht, weil es ihren Geist anwiderte, im Gegenteil, sie bedauerten diese Ausschweifungen; sie konnten sich genau wie Pilatus vor den Bauern die Hände waschen und sagen: Wir sind daran unschuldig; das Geld, das wir den Faschisten gegeben haben, war nicht für diesen Zweck bestimmt, sondern sollte eine Partei stärken, die für das Land von Nutzen ist. Die jungen Leute sind heißblütig und sündigen folglich aus Übertreibung. Sie werden sich selbst korrigieren. Das Vertrauen in dieses konservative Element bestand darin, dass die jungen Faschisten, auch wenn sie Angehörige der Bersagliericcc und von Studenccc Infanterietruppe des Heeres.

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tenvereinigungen waren, ein starkes Instrument in den Händen der rechten Liberalen blieben, die, sobald sie an die Macht kämen, die Faschisten an die Legalität binden würden. Als sie jedoch sahen, dass die Faschisten Anlauf nahmen und zuerst ihr Ziel erreichten, hatten sie für einen Moment Angst vor den Folgen. Aber sie erholten sich sofort. Diese Unterstützung war extrem nützlich für ihre ökonomischen Ziele und für den Erhalt ihrer Besitzstände; sie baten den Faschismus um Schutz und bekamen ihn. Sie sahen auch mit – teils echter, teils geheuchelter – Genugtuung, dass die Religion respektiert und gefördert wurde, dass die Arbeiter- und Angestelltenbewegungen reduziert und die Unruhen der Arbeiterverbände unterdrückt wurden und applaudierten. Die Vorgänge entsprachen ihrem Gemütszustand und ihren Interessen. Sie hatten das Gefühl, dass sie sich dieser neuen Ordnung hingeben konnten: hic manebimus optime.ddd Das moralische Problem der Gewalt trübte tatsächlich ihre Stimmung, aber sie unterdrückten die Gewissensbisse und riefen sich selbst und den anderen zu: „Die Gewalt wird aufhören, sie wird aufhören, es braucht nur noch etwas Zeit, eine solche Bewegung kann nicht an einem Tag gestoppt werden.“ Damals wurde ein Unterschied zwischen Mussolini und dem Faschismus gemacht; dann wurde von „nationaler Versöhnung“ gesprochen; später reduzierte man das Programm auf die „Normalisierung“ und schließlich auf die Billigung der „starken Regierung“. Wenn sich eine Illusion verflüchtigte, tauchte eine andere auf, und wenn ein gewalttätiger Satz des Duce das Gewissen trübte, suchten sie unter Mussolinis Sätzen, bis sie einen fanden, der ihren Überzeugungen entsprach. Eine unbewusste Überlagerung von Hoffnung und Vertrauen in den Faschismus ließ die offene ethische Wunde von dem Tag an vernarben, als ihr Geld an die Faschisten ging, welche die Bauern verprügelten und Kooperativen anzündeten und die Widerspenstigsten umbrachten, bis zu dem Mord an Matteotti, und keiner von ihnen hatte moralische Gewissensbisse, weil sie den Faschismus unterstützt hatten und wie die Katze von Clasioeee nach einem „gelehrten Temperament“ suchten, um die Verantwortlichen des Verbrechens vom Faschismus zu unterscheiden. Auch sie haben sich den Aufschrei des

ddd Siehe Anmerkung i im Text „Einleitung ,Staatsreform und politische Richtungen‘“. eee Luigi Fiacchi (1754–1825), genannt „Clasio“, war ein italienischer Literat, der auch viele Märchen geschrieben hat. Im Märchen „Die Katze und die Fledermaus“ schwört die Katze, kein Tier mit Flügeln mehr zu essen. Doch die Versuchung ist stärker, und sie frisst eine Fledermaus, denn sie konnte die Fledermaus ja als Maus und nicht als Vogel betrachten. So hat die schlaue Katze von „gelehrtem Temperament“ den Schwur nicht gebrochen. Das Gleichnis dient Sturzo, um die Heuchelei der Faschisten zu unterstreichen.

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Faschismus zu Eigen gemacht, als ob es um eines ihrer Statuten ginge: „Der Regierung wird nicht der Prozess gemacht – die Revolution hat ihre Rechte – Mussolini steht über dem Gesetz.“ Sie haben es nicht gesagt, nein, das nicht, sie fanden es angemessen, dass das gesagt würde. Sie haben Angst, dass der Zusammenbruch des Faschismus zum Zusammenbruch der Nation führt; und durch eine psychologische, von Klassenunterschieden geprägte und politische Umkehrung setzen sie die Nation mit ihrer moralischen und ökonomischen Position gleich. Ohne dass sie es gemerkt haben, hat der Faschismus sie mit einem festen Band, das schwer zerschnitten werden kann, an sich gebunden, indem er in ihnen einen auf der Übereinstimmung der moralischen und materiellen Interessen beruhenden Gemütszustand geschaffen hat.

*** Aber nicht alle Philofaschisten kommen aus dem Milieu der konservativen Großgrundbesitzer und der gemäßigten Politiker; viele haben nichts mit diesen Schichten zu tun und sehen nur partielle kollektive Vorteile, ohne die Ursachen und die Tragweite derartiger Vorteile gründlich zu untersuchen. Zu diesen gehören jene Geistlichen, die von Maßnahmen wie dem obligatorischen Katechismus oder dem Kampf gegen die Freimaurer begeistert waren. Sie waren daran gewöhnt, dass die vorherigen Regierungen die religiösen Werte nicht anerkannten und immer etwas über deren Mitwisserschaft über die Freimaurer zu hören, die sich in den Ministerien als Herren aufspielten. Die Neuheit hat sie so stark beeindruckt, dass sie geblendet sind wie derjenige, der – nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben – vor sich ein große Licht sieht und nicht mehr in der Lage ist, die verschiedenen Dinge in seiner Umgebung zu unterscheiden. Andere, und in diese Kategorie ordne ich die Theoretiker ein, meinten, der Faschismus habe es geschafft, das Leben des Staates zu erneuern, indem er übertriebene Freiheiten unterdrückte, unnötige Diskussionen abschaffte und eine neue Ordnung einführte. So stürzt die Ordnung der Vergangenheit um; der Liberalismus, der schon schwächelte, wird liquidiert; ein Novus ordo mit starkem paternalistischen Staat; man scheint das Echo der Aufklärer aus dem 18. Jahrhundert und der Anhänger der Bourbonen aus dem 19. Jahrhundert zu hören. Auch sie sind vom starken Staat geblendet und sehen die Realität nicht. Schließlich gibt es noch eine andere Kategorie, zu der die vorsichtigen Männer gehören, die vernünftigen, welche die moralischen Probleme nicht übersehen, diese aber als Ergebnis der menschlichen Schwäche bewerten und sagen: „Im Grunde gibt es keine perfekte Regierung, jede hat Fehler, folglich ist es unvermeidlich, das Gute und das Schlechte hinzunehmen, ohne es mit

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den Auseinandersetzungen zu übertreiben, und dazu beizutragen, so viel Gutes wie möglich zu begünstigen. Alles auf der Welt kann in Ordnung gebracht werden, auch das; und von den Fehlern kann ein Teil überwunden werden und ein Teil wird abgebüßt: Das wird mit dem Faschismus passieren.“ Sie verhalten sich, als ob sie am Fenster stünden und über Dinge urteilten, die sie nichts angehen und mit denen sie sich nur befassen, um ihre wohlwollende Kritik vorzutragen und ihr Recht des Überlegenen auszuüben. So führen Gemütszustände, die indirekte oder unbedeutende Gründe haben, dazu, dass viele Leute das moralische Problem überwinden, das Italien zurzeit quält.

II. Bis zu welchem Punkt man von der Mitverantwortung und der Schuld dieser Personen an der Umkehrung der ethischen Werte der Gesellschaft und der Individuen, die in ihr wirken, sprechen kann, werden die Moralphilosophen sagen. Ich habe jedoch einen schlechten Eindruck; ich glaube nicht, dass die Moralphilosophen die Ereignisse der Gegenwart genau studieren und die einzelnen Taten nach ihren Prinzipien bewerten, um die Gewissen zu leiten. Die wenigen Anzeichen, die es dafür gegeben hat, waren entweder schwach und zurückhaltend oder oberflächlich. Die Gewalttaten werden getadelt, aber gleichzeitig wird die starke Regierung gefeiert. Die Prinzipien des Liberalismus werden zensiert; erhalten bleiben Elemente aus dem letzten Jahrhundert. Ich sehe nicht, dass man eine gründliche Untersuchung über die Prinzipien angestellt hätte, auf die sich der Nationalfaschismus stützt. Ich habe den Eindruck, dass dieser unerklärliche Mangel dem Gefühl derjenigen ähnelt, die es aus Angst vor einer Auseinan­ dersetzung über das Problem der Moral der derzeitigen Regierungspartei vorziehen, sich zurückzuziehen und zu erklären, sie hielten sich heraus, weil für sie der Kampf rein politisch sei und es folglich gefährlich erscheine, sich einzumischen. Dies geschehe auch, um wesentlich höhere oder wichtigere moralische Werte zu schützen, behaupten sie, zum Beispiel die Religion oder die Kirche. Welche moralische Pflicht die Bürger haben, am politischen Leben teilzunehmen, auch auf kollektive Weise (Parteien), habe ich schon in den Kolumnen der Rassegna Nazionale geschrieben; es ist nicht nötig, mich zu wiederholen. Auch wenn wir zugeben, dass es mehrere Kategorien von Personen gibt, die, um Positionen und Institutionen zu erhalten, die für die Kirche und für die Gesellschaft nützlich und vorteilhaft sind, ihre eigene politische Aktivität einschränken und vorsichtige Zurückhaltung walten lassen müssen, die nie das Maß der Mitwisserschaft, der Zustimmung oder der feigen Flucht vor dem

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ihnen bewussten und auf ihnen lastenden Übel erreicht – kann man in diesem besonderen Fall weder die Enthaltung der Bürger im Allgemeinen akzeptieren, noch die derjenigen, welche die Verpflichtung und die Befugnis haben zu reden und ihre Meinung zu äußern und stattdessen vorsichtig sind und ihre Gedanken hinter einer Mauer des Schweigens und der Zurückhaltung verstecken. Wenn alle guten Katholiken, alle ehrlichen Männer, alle vernünftigen Bürger diesem verhängnisvollen Beispiel folgten, würde das Leben der Gemeinschaft in den Händen derer bleiben, denen es an ethischen Richtlinien fehlt: der Gewalttätigen, der Schwindler, der im Trüben Fischenden, der Unaufrichtigen. Kann man je eine Richtung billigen und unterstützen, die so schädlich für das Leben der Völker ist? Verstößt das nicht gegen das Prinzip der Barmherzigkeit und gegen die Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft? Der Mensch existiert nicht und kann nicht außerhalb des gesellschaftlichen Lebens existieren: Jeder Mensch ist ein Gesellschaftswesen. Auch der Anachoret, der sich freiwillig aus der Welt zurückzieht, um eine höhere mystische Ebene zu erreichen, ist Teil des gesellschaftlichen Lebens; er setzt es voraus und er vervollständigt es. Ist es möglich, die Pflicht zu leugnen, sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen und zu versuchen, es zu verbessern, wenn dieses notwendigerweise existiert und nicht abgeschafft werden kann, ohne aus dem Menschen eine Bestie zu machen? Und genau das wäre eine seltsame Logik und eine moralische Perversion, wenn die allgemeine Pflicht, sich an diesem Leben zu beteiligen und zu versuchen, es zu verbessern, dann nicht mehr bestünde, wenn sich die menschliche Gesellschaft in einer großen Krise befindet und ein ernster Konflikt entsteht. Denn ein derartiger Konflikt hat ununterdrückbare ethische Rahmenbedingungen. Nein, eine derartige Theorie über das politische Desinteresse der Bürger ist unmoralisch und antisozial und kann auf keinen Fall als Leitlinie für das Verhalten der Bürger gelten. Ich schiebe eine Zwischenbemerkung ein: Ich habe den Wunsch, nicht missverstanden zu werden: Der Rat des Papstes, die Katholische Aktion solle sich als solche aus der Politik heraushalten, bezieht sich auf Organismen, die keine spezifischen erzieherischen Ziele und religiöse Aktivitäten haben und nicht in Klubs und politische Parteien umgewandelt werden müssen, und betrifft die Personen nicht als Bürger. Und auch wenn eine gewisse Zurückhaltung der führenden Schicht notwendig oder klug sein sollte, gilt das, was oben über die verschiedenen Kategorien von Personen gesagt wurde, für die es besser ist, die eigene politische Aktivität einzuschränken. Darüber habe ich schon geschrieben. Ich beende die Zwischenbemerkung. Folglich kann man die Enthaltung der Bürger von der politischen Betätigung nicht als moralische Theorie zulassen, vor allem nicht, wenn ­schwerwiegende

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Angelegenheiten das gesellschaftliche und moralische Leben der Völker trüben. Wenn nach dem Krieg angesichts der ersten Anzeichen des Symptoms der Gewalt und der direkten Aktion unter den verschiedenen Gruppen der Bürger (Kommunisten, Faschisten, Sozialisten) diejenigen, die den moralischen und sozialen Ernst der Lage verstanden, sich am Widerstand beteiligt hätten, anstatt nachzugeben und sich herauszuhalten, wie wenn man einen Hochwasser führenden Bach vorbeifließen lässt, hätte es in Italien nicht die folgenden Phasen des Kampfes gegeben. Man muss jedoch daran erinnern, dass die Richter 1919/20 Angst hatten, Angeklagte zu verurteilen; die Herren fürchteten sich vor Vergeltungsmaßnahmen. Auch verschiedene Geistliche glaubten, sich an das kleinere Übel anpassen zu müssen. Die staatlichen Führungskräfte tolerierten die Gewalt und schmeichelten den Führern. Die Mehrheit der Italiener hielt sich heraus, wenige waren in der Lage, Widerstand zu leisten, und diese fanden nicht genug Unterstützung. War es mangelndes Verständnis? War es Feigheit? War es Anpassung? Gewiss verschlimmerte die Enthaltung vieler das Übel, aus dem dann die Reaktion hervorging. Nun drängten sich diejenigen, die nicht an den bolschewistischen Gewalttaten beteiligt gewesen waren, vor und beteiligten sich an der neuen Ordnung der Dinge. Aber die anderen, die in der neuen Ordnung das Übel und vielleicht mehr noch die Gefahren erkannten, verschanzten sich hinter ihrem Egoismus, um auf bessere Zeiten zu warten. Wenn Letztere sich auf die eine oder andere Weise am bürgerlichen und politischen Leben beteiligt hätten, mit dem Wort oder in der Presse, mit ihrem persönlichen Einfluss oder mit den familiären Beziehungen, im Kleinen oder im Großen, hätten sie dazu beigetragen, dem Faschismus einen größeren Sinn für das Maß aufzuzwingen, eine sensiblere Beurteilung der anderen Strömungen im Land, eine stärkere moralische Erhebung gegen die wachsende und ungestrafte Unmoral. Das Leben der Gemeinschaft besteht aus unzähligen unberechenbaren Ereignissen, die zu unvorhergesehenen Ergebnissen führen und entscheidende Orientierungen bestimmen. Der Beifall und die bedingungslose Unterstützung der einen und die harten Kritiken der anderen hallen in der Einsamkeit wieder: Die, die sich enthielten, waren mehr. Angst oder Überzeugung, falsche Vorsicht oder Schutz von Privatinteressen haben dazu geführt, dass viele im Zweifel zwischen einer mit großen Unannehmlichkeiten verbundenen, nicht sofort erfolgreichen Aktion und einer Inaktivität, die sicher ist, obwohl sie ruhmlos abläuft, die zweite Möglichkeit bevorzugten und obendrein fanden, dass sie ihren Vorteil mit einer bequemen moralischen Theorie rechtfertigen konnten, die von den Theoretikern der Enthaltung verteidigt wurde; und auch von einigen anderen im Namen der Religion.

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*** Das stärkste Argument der Theoretiker der Enthaltung ist folgendes. Sie sagen: „Eine legale Regierung hat das Recht zu regieren; der Versuch, diese aus ihrem normalen Sitz – dem König und dem Parlament – zu stürzen, ist eine subversive Handlung gegen das Prinzip der Autorität, auf das sich die Regierung stützt. Der Bürger wird aufgefordert, bei den Wahlen seine Stimme abzugeben, und jetzt verhält er sich bei der Wahl der Volksvertreter nach seinem Gewissen. Ihm weitere moralische Verpflichtungen aufzuerlegen, ist eine Übertreibung, die der gesellschaftlichen Ordnung schadet. Wenn dem Volk das Wahlrecht genommen wird, was nach Meinung mancher von Vorteil wäre, hat der Bürger keinerlei positive politische Verpflichtung mehr.“ Das ist eine Theorie, die für diesen Anlass erneuert wurde, und man kann nicht sagen, dass sie den Theoretikern der Enthaltung nicht überzeugend und verführerisch erscheint. Sie sündigt jedoch durch historischen Irrealismus, das heißt, sie stützt sich auf das Konzept einer politischen Gesellschaft, die es in den zivilisierten Nationen des 20. Jahrhunderts nicht gibt. Die politischen Verpflichtungen der Bürger werden an die Entwicklung der Gesellschaft angepasst, in der sie leben. Die Heloten aus Athen hatten der Republik gegenüber keine Verpflichtungen, denn sie gehörten ihr nicht an. Ihr Menschenrecht wurde verkannt. An dem Tag, als sie freie Bürger wurden, bekamen sie zusammen mit ihren Rechten auch Pflichten. Diejenigen, die sich enthalten, die ihre eigenen Bürgerrechte und -pflichten einschränken, verstümmeln – im Vergleich zu allen anderen, die diese vollständig in Anspruch nehmen und dabei vielleicht übertreiben – den modernen Bürger, der so tut, als ob die Gesellschaft etwas sei, was sie nicht mehr ist und auch nie war. In Bezug auf die spezielle Frage zur Regierung: In Italien wurde unter dem Faschismus oft die Monarchie mit der Regierung verwechselt. Es wurden sogar Theorien über die Unabsetzbarkeit der Regierung und deren fast göttliche Autorität entwickelt. Heute haben wir in Italien immer noch eine konstitutionelle Monarchie; derjenige, der den Staat vertritt und unabsetzbar ist, ist der König. Die Regierungen werden vom König mit dem Vertrauen des Volkes ernannt, das von dessen Vertretern zum Ausdruck gebracht wird, und folglich können und müssen diese ausgewechselt werden, wenn auf der einen und auf der anderen Seite das Vertrauen fehlt. Und wenn es eine Partei gibt, die versucht, dieses Misstrauen außerhalb des Parlaments zum Ausdruck kommen zu lassen, überschreitet sie nicht die Grenzen des Rechtes, sondern sie übt es aufgrund des Versammlungsrechtes sowie der Meinungs- und Pressefreiheit, die von der

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Verfassung und von den Gesetzen gewährleistet und geschützt werden, gleichzeitig vollständig aus. Nun entspricht es ganz und gar nicht den moralischen Kriterien, die Selbsteinschränkung der Ausübung dieser Rechte wegen politischen Desinteresses zu unterstützen, während viele andere Bürger diese einzeln oder kollektiv ausüben, und während diese Rechte Teil einer gesetzlichen Ordnung sind, der die führenden Kräfte Treue schwören müssen. Damit würde man ein moralisches und politisches Ungleichgewicht unterstützen, wodurch den Guten, den Religiösen, den vom ethischen Standpunkt aus Respektablen jeder moralische und politische Einfluss in der Gesellschaft genommen würde. Die These, man solle die Regierung machen lassen, führt zu einer moralischen Duldung der Übeltaten einer Regierung ohne Kontrolle, zum Verzicht auf Rechte, die man in schwierigen Momenten des zivilen und religiösen Lebens des Landes ausüben können muss, um dem Guten die Vorherrschaft zu verschaffen, und schließlich zu einer spirituellen Trägheit, die schädlicher ist als das übertriebene Engagement der Bürger im öffentlichen Leben. Das moderne politische Leben hat seine Vor- und Nachteile, und wie alles Menschliche ist es eine Mischung von Gutem und Schlechtem, während es gleichzeitig eine kollektive und individuelle Pflicht ist zu versuchen, es zu verbessern (und dabei wird jeder von seinen eigenen Überzeugungen und Idealen geleitet). Es ist nicht zulässig, dass sich jene Bürger aus den Bewegungen dieses Lebens heraushalten, umso mehr als diese nach dem Guten streben; das sind insbesondere die Katholiken. Eine derartige Enthaltung ist nicht nur feige, sondern auch eine Schuld, die umso schwerer wiegt, je besser die intellektuellen und moralischen Energien derer entwickelt sind, die diese Enthaltung unterstützen. Heute erlebt Italien einen der kritischsten Momente seines Lebens als Nation: Es besteht die Versuchung, das Land aus den modernen konstitutio­ nellen Gesellschaften herauszureißen und es für eine Zeit der moralischen Unterwerfung einer entstehenden Partei auszusetzen; aus dem öffentlichen Bewusstsein ist ein moralisches Problem entstanden, das noch nicht geklärt oder gelöst wurde. Ist es möglich, dass sich bewusste Männer und Bürger, die ihr Vaterland lieben, heraushalten – oder dass sie nicht über den Schaden nachdenken, den ihr Egoismus anrichtet? – Ist es möglich, dass die Moralphilosophen ihre einflussreiche Stimme nicht erheben, um zu bedenken zu geben, dass es außer den politischen Problemen auch noch die des Gewissens gibt? Dass die Moral mit den Taten der Menschen, auch mit den politischen, dauerhaft verbunden ist und nicht von diesen getrennt werden kann?

Das moralische Problem

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Man muss in diesem niederen Leben voller Egoismus und Interessen, Feigheit und Anmaßung das ethische Problem der Politik mit einem guten Willen angehen und die Reste der Theorie der Staatsraison zerstören, die heute zusammen mit einer neuen Maske des Cäsarismus der Regierung zurückkehrt, die im Namen eines mutmaßlichen starken Staates längst überwundene Prinzipien wieder einführen will, die wie der weltliche Staat eine neue Gottheit geschaffen haben, nachdem die Göttin Vernunft versagt hatte. Aber mehr als alle anderen Theorien muss die Theorie bekämpft werden, die behauptet, der Zweck heilige die Mittel, was in Italien die gegenwärtige und erschreckende Realität einer moralischen Frage ist, die auch im Namen der höchsten ethischen und religiösen Prinzipien in unserem Bewusstsein unauslöschlich erscheint. Rassegna Nazionale, Nr. 2, Februar 1925

Das moralische Problem der politischen Zusammenarbeit 1. Gelegentlich stellt sich unserem Gewissen ein bemerkenswert bedeutungsvolles Problem, das moralische Problem, das mit der politischen Zusammenarbeit verbunden ist, ein Problem, das nicht erst seit heute unter den Katholiken erörtert wird, und zwar mehr als anderswo, denn diese messen der moralischen Frage des menschlichen Handelns eine vorrangige Bedeutung bei. Aber dieses Thema interessiert natürlich nicht nur die Katholiken. Das Problem kann sich sowohl dem einzelnen Bewusstsein desjenigen stellen, der allein und ohne Verbindungen zu einer Partei oder einer Gruppe aufgefordert wird, mit einer bestimmten Regierung zusammenzuarbeiten, als auch dem kollektiven Bewusstsein der Führung und der Anhänger einer Partei oder Gruppe, die sich auf konstruktive Weise an den Regeln und Handlungen der Regierung beteiligen. Es versteht sich, dass wir über Parteien sprechen werden, aber auch der Fall einer Partei oder einer jeglichen Gruppe ist letztlich auf moralischer Ebene eine Frage nach dem Einzelnen, denn niemand, auch wenn er einer organisierten Bewegung angehört, kann seine persönliche Position und seine moralische Verantwortung gegenüber dem eigenen Gewissen vernachlässigen: Das kollektive Problem wird für jeden von uns auf individueller Ebene gelöst. In einer vorherigen Untersuchung, die in dieser Zeitschrift veröffentlicht wurde,2 plädierte ich für die Notwendigkeit einer Organisation der Parteien,

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Luigi Sturzo, Politica e coscienza, April 1924.

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die den heutigen ökonomischen, politischen und ethisch-juristischen Richt­ linien entsprechen, die sich in einem bestimmten Moment als Polarisierungspunkte der kollektiven Kräfte durchsetzen, und ich fügte hinzu, dass sich die Katholiken, nachdem sie die politische Freiheit erlangt haben, nicht der Notwendigkeit entziehen können, selbst eine Partei zu gründen, die auf dem praktischen Gebiet des politischen Lebens ihren religiösen Postulaten nicht widerspricht, auch wenn sie nicht katholisch ist. Die gegenwärtige Situation in Europa, auch in Ländern wie Frankreich, wo es vorher keine ähnliche Polarisierung der politischen Kräfte gab, bestätigt diese Behauptung. Wo es keine christlich inspirierten Parteien gibt, sind die Katholiken übrigens gezwungen, nicht nur eines, sondern zwei moralische Probleme zu lösen: das ihrer aktiven Beteiligung an Parteien, die nicht mit der Gesamtheit ihrer Überzeugungen übereinstimmen, was generell nicht religiöse und amoralische Parteien sind, und das Problem der direkten oder solidarischen Zusammenarbeit mit einer bestimmten Regierung. Bleiben wir also beim Thema. Auch die christlich inspirierten Parteien (die in Wirklichkeit sozusagen christlich-soziale Parteien sind – nennen wir sie so, damit wir uns verstehen), die innerhalb des modernen Staates in der Politik agieren müssen, können den folgenden Möglichkeiten nicht entkommen: entweder in der Opposition bleiben oder an die Macht kommen; das Handeln zwischen diesen Möglichkeiten kann unabhängig geschehen, wenn die eigene Position oder die Ereignisse dies ermöglichen, oder in einem Bündnis zusammen mit anderen Parteien, und dies sowohl innerhalb der negativen Aktion als Opposition als auch in der positiven Tätigkeit der Regierung; sowie in verschiedenem Maße gemäß der eigenen Stärke; das heißt: Entweder man hat die Mehrheit oder man ist gleichberechtigt oder agiert als einfache und beschränkte Unterstützung stärkerer Kräfte. Sich a priori einer dieser Möglichkeiten zu versperren, würde die politischen Positionen einer Partei, die versucht, an die Regierung zu kommen, in hohem Maße schwächen. In dem konkreten Fall bestand in Europa, außer in Belgien, das für eine lange Zeit, die schon zu Ende ist, von der katholischen Partei allein regiert wurde, ständig die Situation, dass die christlich-sozialen Parteien (sowie die einzelnen Katholiken) an fast allen Regierungen beteiligt waren, die in den konstitutionellen Staaten gebildet wurden, und zwar auch in den revolutionären Zeiten. Die einzige Partei, mit der man nicht zusammengearbeitet hat, ist die Kommunistische Partei, die bis heute nirgends an die Regierung gekommen ist, außer als diktatorische Partei in Russland (um nicht über die vorübergehenden und revolutionären Experimente in Bayern und in Ungarn zu sprechen); aber mit allen anderen Parteien, von den französischen Liberalen bis zu den radikalen Sozialisten, von den deutschen Nationalisten bis zu den Sozialisten, von den österreichischen Konservativen bis zu den Sozialisten, von

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den belgischen antiklerikalen Liberalen bis zu den Sozialisten, mit den holländischen protestantischen Konservativen und mit den tschechoslowakischen Demokraten und Sozialisten, mit den italienischen Liberalen, Demokraten, reformistischen Sozialisten und Faschisten; diese Zusammenarbeit war in der Vergangenheit und ist in der Gegenwart unbestritten und ist folglich eine normale Praxis. Der Hauptgrund dafür ist die Tatsache, dass die christlichsozia­len Parteien in fast allen Staaten eine mehr oder weniger bedeutende und starke Minderheit sind, aber eben eine Minderheit. Ihre Reichweite ist begrenzt; der normale Ausweg ist die Zusammenarbeit mit der Regierung; die Opposition ist eine Ausnahme: Sowohl die eine als auch die andere werden fast immer zusammen mit Parteien gemacht, die anders und manchmal sogar Gegner sind, weil sonst das Minimum an politisch-praktischer Gestaltung, das jede Partei braucht, unmöglich wäre. Aber wenn das bei den Katholiken aller Länder Europas ein dauerhafter Zustand und eine übliche Praxis ist, warum kommt gelegentlich die Diskussion über das moralische Problem der politischen Zusammenarbeit auf? Ist das wirklich ein moralisches Problem oder eine politische Ausrede, die auf moralischer Ebene ausgetragen wird? Der Schreibende hat in dieser Zeitschrift bereits eine Untersuchung über den ethisch-psychologischen Fall der klerikalen Faschisten veröffentlicht;3 andere haben gegen die Zusammenarbeit von katholischen Elementen mit den Sozialisten plädiert. In Deutschland war dies ein Argument gegen die Kandidatur von Marx. Und selbst der Vatikan musste eingreifen und die Unterstellungen der nationalistischen Kampagne dementieren. In Belgien ist das Problem höchst aktuell. Wenn es diese Diskussion gibt, obwohl die Zusammenarbeit der katholischen Elemente oder der christlich-sozialen Parteien mit allen Regierungen eine übliche und ständige Praxis ist, heißt das, dass einige Aspekte des Problems selbst nicht klar sind und dass es deshalb in bestimmten Momenten nicht nur als politisches Problem, sondern auch als ethisches Problem zurückkehrt. Deshalb muss es angemessen behandelt werden, damit es keine Verwirrung aufkommen lässt oder die Gewissen derer trübt, die auch innerhalb der Politik nicht vorhaben, ihre eigenen Überzeugungen und ihre Pflichten zu leugnen. 2. Wenn die verschiedenen religiösen Glaubensinhalte oder die gegensätzlichen ethisch-rechtlichen Überzeugungen der Anhänger anderer Parteien als der christlich-sozialen an sich ein Hindernis für die politische Zusammen­ arbeit wären, müssten diese vielleicht a priori verworfen werden. Denn die gesamte Bewegung der Parteien, die unter den konstitutionellen Regierungen

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Luigi Sturzo, Per lo studio di un fenomeno etico-psicologico, Februar 1925.

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der modernen Staaten gegründet wurden, mit Ausnahme der christlich-sozialen Parteien, die sich um ihre Gründung bemühten oder noch bemühen, stützte sich auf Prinzipien und Gepflogenheiten, die nicht mit den ethisch-religiösen Prinzipien des Katholizismus übereinstimmen und oft im Widerspruch zu diesen stehen. Die vorherrschende Idee des modernen Staates ist nicht nur weltlich ausgerichtet, sondern misst dem Staat einen absoluten Wert, eine totale Herrschaft zu. Die Theorie Gentiles über den faschistischen Staatfff ist genauso unethisch und unreligiös wie die von Karl Marx über den proletarischen Staat: Das Dogma der Stärke des Knüppels ist genauso viel wert wie das Dogma des Klassenkampfes und das des Laissez-faire und des Laissez-passer: All diese haben keine ethischen Werte. Die Vergöttlichung des Staates der Liberalen ist das Gleiche wie die Vergöttlichung der Nation der Nationalisten oder wie die Vergöttlichung der Arbeiterklasse, die die Sozialisten wollen. Es ist die Umkehrung des Relativen in das Absolute; und die Erhebung des assoziativen Faktors zum ethisch Höchsten. Wenn folglich gegen die politische Zusammenarbeit mittels der Strukturen des modernen Staates oder durch allgemeine Theorien der verschiedenen Parteien, ja aller Parteien, die sich außerhalb des katholischen Gedankens befinden und sogar im Widerspruch zu ihm stehen, ein ethisch-religiöses Präjudiz erhoben würde, würde die Zusammenarbeit zusammenbrechen, sie wäre für sich selbst stehend im Namen von höheren Prinzipien und lebenswichtigeren Interessen verurteilt. Es stimmt, dass dieses Präjudiz mehrmals aufgeworfen wurde, vor allem von den Konservativen aller Zeiten, aber es hatte nicht nur keine konkreten Tatsachen als Basis, sondern es wurde auch abgelehnt von der Absurdität einer negativen Konsequenz, die den Katholiken die Möglichkeit nehmen würde, das innere Leben der Staaten und der Parteien zu beeinflussen. Von Cesare Balbo bis Filippo Meda beteiligten sich einzelne Katholiken an vielen italienischen und ausländischen Regierungenggg (außer bei uns in der

fff Nach Giovanni Gentile (siehe Anmerkung i) ist der Staat die ethische Substanz, in der der menschliche ethische Wille (in der Form des Willens eines Volkes) seine Verwirklichung findet. Da der Staat verwirklichter ethischer Wille ist, hat er einen absoluten ethischen Wert. Der ethische Staat par excellence ist der faschistische Staat, der die allumfassende (und in diesem Sinn benutzt Gentile das Wort „totalitaristische“) Synthese aller Werte und Willen des Volkes ist. ggg Sturzo erwähnt Katholiken, die aktiv am politischen Leben teilgenommen haben. Cesare Balbo (1789–1853) war ein italienischer Politiker und Schriftsteller. Seine wichtigsten Themen waren die Unabhängigkeit Italiens und der Versuch, die katholische Religion mit den modernen Fortschrittsideen zu vereinbaren. Filippo Meda (1869–1939) war ebenfalls Politiker. Als Katholik wollte er den Staat und die

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Zeit des „Non expedit“, aus dem dann das „Non licet“ wurde), und die christlich-sozialen Parteien, die vor allem wegen der Notwendigkeit der moralischen und sozialen Verteidigung des Volkes gegründet wurden, stellten sich entschieden auf den Boden der Verfassungen der modernen Staaten und akzeptierten die Zusammenarbeit auch in revolutionären Zeiten und während politischer Krisen ohne negative ethische und religiöse Vorbehalte, die sogar die Entstehung der Parteien selbst verhindert hätten. War es den ersten Christen erlaubt, am Leben und an der Entwicklung des Römischen Reiches mitzuwirken, das heidnisch war und die christliche Religion verfolgte? War es erlaubt, Ämter, Posten und öffentliche Aufgaben anzunehmen? Damals wurde diese schwerwiegende Frage sowohl auf theoretischer als auch auf praktischer Ebene bejahend beantwortet; nach drei Jahrhunderten kam das Toleranzedikt von Kaiser Konstantin, als christliche Elemente alle gesellschaftlichen Ordnungen des Reiches durchdrungen hatten. Wenn man sich nun auf die Bedingungen und auf die Struktur des modernen Staates bezieht, stellt sich die Frage folgendermaßen: „Bis zu welchem Punkt ist es für die Individuen und für die Parteien, welche die christliche Religion praktizieren, zulässig, mit anderen Parteien zusammenzuarbeiten, egal ob diese Zusammenarbeit die Regierung oder die Opposition begünstigt, ohne dass es zu einem Gewissenskonflikt zwischen dem politischen Verhalten und der moralischen Pflicht kommt?“ Die Staatsform, Monarchie oder Republik, aristokratisch oder demokratisch, liberal oder sozialistisch oder faschistisch, ist kein religiöses oder moralisches Präjudiz: die Religion und die Moral stehen jeder Regierungsform gleichgültig gegenüber. Diejenigen, die erreichen möchten, dass die Religion sich mit einer Regierungsform deckt, tendieren dazu, der Religion ihre Unabhängigkeit zu nehmen und schwächen ihre spirituelle Funktion. Gewöhnlich gibt es Einwände gegen diese Behauptung und es wird gesagt: „Bestimmte politische Formen stehen im Gegensatz zur Religion im Allgemeinen, zum Beispiel: der liberale Staat und der sozialistische Staat (und ich füge den national-faschistischen Staat hinzu), da diese aus dem Staat eine einzige absolute Macht und eine einzige Quelle für Moral und Recht machen; andere politische Formen stehen insbesondere zur katholischen Religion im Gegensatz: Zum Beispiel der konfessionelle protestantische Staat und der heidnische Staat (und ich füge den Cäsarenstaat oder den päpstlichen Cäsarenstaat der Gegenreformation hinzu), da sie eine andere Religion oder antikatholische

Religion nebeneinander stellen und glaubte, der Staat könne auf soziale und christliche Weise reformiert werden. Deshalb unterstützte er die Teilnahme der Katholiken am politischen Leben.

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Formen wie den jansenistischen Josephinismus und den Gallikanismus des 17. Jahrhunderts durchsetzten.“ Das stimmt. Aber was folgt daraus? Der Staat ist notwendig (unter der modernen Bedeutung und Verwendung des Wortes „Staat“ verstehen wir alle Formen der politischen Gesellschaft): Niemand kann außerhalb des Staates bleiben bzw. aus ihm herausgerissen sein. Ich räume ein, dass der Geist der Struktur der verschiedenen Staaten Elemente enthalten kann, die nicht dem christlichen Geist entsprechen, aber die christlichen Bürger oder die christlichen Untertanen (das kommt auf die Staatsform an) können und müssen innerhalb des Staates und seiner natürlichen Grenzen wirken. Es ist unmöglich, dass sie außerhalb des Staates wirken. Nachdem dies gesagt ist: Wenn die Prinzipien, auf die sich eine jegliche staatliche Struktur stützt, im Widerspruch zur christlichen Moral stehen, müssen sich die Anhänger Jesu Christi innerhalb dieses Staates dafür einsetzen, die Prinzipien durchzusetzen, an die sie glauben und an die sie sich halten. In der Tat zieht sich dieser praktische Konflikt zwischen dem Staat als politische Macht und der Kirche als Vertreterin der moralischen und spirituellen Interessen der Christenheit durch die ganze Geschichte des Christentums; und zwar nicht nur in Staaten, die nicht katholisch sind oder in denen es eine Trennung von Kirche und Staat im modernen Sinne gibt, sondern auch in denen, die sich zum Katholizismus bekannten. Gab es einen Staat, der katholischer war als das Heilige Römische Reich, das von Päpsten gegründet und legitimiert wurde? Trotzdem war der Kampf auf moralischer und religiöser Ebene dauerhaft und erbittert. Gab es katholischere Staaten als die der Gegenreformation? Trotzdem gab es einen ständigen Kampf zwischen dem Cäsarismus (der in verschiedenen Gewändern auftrat wie dem Jansenismus, dem Gallikanismus und dem Illuminismus) und der Religion. Aber auch die römisch-christlichen Kaiser des Ostens und des Westens begannen noch in der Zeit kurz nach der Christenverfolgung erbitterte Kämpfe über die moralischen und rechtlichen Aspekte der Kirche und versuchten, in die Staatsgewalt einzudringen, Gesetze über das Dogma zu erlassen, und schufen damit eine Koexistenz, die schlimmer war als die Trennung von Kirche und Staat. Die Struktur des Staates ist folglich, auch wenn sie sich auf Prinzipien stützt, die nicht dem Christentum entsprechen, nicht per se et directe ein Hindernis für die politischen Aktivitäten der Katholiken und deren Beteiligung an der Regierung. Der Hauptgrund leitet sich aus der notwendigen Existenz einer politischen Gesellschaft ab, in der die Menschen wirken. Aber auch weil es den moralischen Konflikt (der oft auf religiöser Ebene zum Ausdruck kommt) unabhängig von der Struktur des Staates historisch gesehen in allen Staaten gab, auch in denen, die behaupteten oder glaubten, sich auf die Prinzipien des

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Christentums zu stützen. Es ist überflüssig zu versuchen, diese Tatsache hier zu erklären (das werde ich in einer anderen Untersuchung tun); es reicht aus, festzustellen, dass es eine unwiderlegbare Tatsache ist. Aber wann entsteht der moralische Konflikt, über den wir diskutieren? Das ist das Wesentliche an der Frage: Der moralische Konflikt, der ein Gewissenskonflikt ist, geht nicht aus der Form und der Struktur des Staates an sich hervor, sondern er entsteht auf dem Gebiet der praktischen Tätigkeit, die Ausdruck einer falschen Theorie oder der falschen Anwendung einer Theorie ist, die den christlichen Prinzipien entspricht. Das ist der Kernpunkt. Die praktische Arbeit der Menschen und der Parteien, egal in welchem Bereich sie ausgeführt wird, dem ökonomischen, dem politischen oder einem gemischten, hat immer eine moralische Form. Ein praktisches Gesetz ist wesentlich, absolut, unabdingbar: Man kann weder am moralischen Übel arbeiten, noch mit ihm zusammenarbeiten. Wenn das Römische Reich mit seiner heidnischen Struktur von sich aus ein moralisches Übel gewesen wäre, hätten die ersten Christen nicht dazu beitragen dürfen, es zu erhalten, zu verteidigen und zu entwickeln. Aber das war nicht so. Ein typisches Beispiel dafür ist der Heilige Eustachius: Solange es darum ging, das Heer in einem Krieg zur Verteidigung des Römischen Reiches zu führen, ist der Heilige Eustachius als Heerführer an seinem Platz; er kämpft und siegt. Als er als Sieger zurückkehrt, ist er gezwungen, die Götter zu ehren. Er weigert sich und wählt den Märtyrertod. Ein Christ konnte ein römischer Prätor sein und dessen Arbeit ausführen, aber wenn er Christen nach den Gesetzen des Reiches verurteilen musste, hatte er die Pflicht, sich zu weigern, auch wenn er dadurch ein Märtyrer wurde. Um uns wieder auf die moderne Zeit zu beziehen: Die Abgeordneten des subalpinen Parlaments konnten sich gut an der derzeitigen Regierung beteiligen, auch wenn sie katholisch waren, aber als die Regierung und das Parlament die ersten umstürzlerischen Gesetze gegen die Kirche verabschiedeten, brachte ihr Gewissen sie dazu, Einspruch zu erheben und jede direkte Zusammenarbeit mit der Regierung zu verweigern. In meiner Untersuchung, die im letzten Februar von dieser Zeitschrift veröffentlicht wurde, habe ich das Problem der klerikalen Faschisten auf dieser ethisch-praktischen Ebene und nicht anhand von Vorbehalten gegen die Regierungsform behandelt: Ich habe die Meinung vertreten, dass deren Unterstützung auf der Ebene der politischen Aktivität des Parteistaates stattfindet; eine Aktivität, die mit Anwendung von Gewalt und der Verletzung von moralischen und bürgerlichen Gesetzen erklärt wird, denen die Regierung Treue geschworen hat, und deren Entwicklung sich auf angebliche revolutionäre Rechte stützt. Mein Urteil beruht auf Tatsachen, und darauf stütze ich meine These von der moralischen Inkompatibilität der Zusammenarbeit mit dem

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Faschismus. Die Frage bleibt folglich innerhalb der Grenzen einer konkreten Bewertung und beruht auf keiner anderen Theorie als der, die hier analysiert wird. Es stimmt auch, dass ich – nachdem das zumindest seltsame Phänomen, dass zahlreiche Katholiken den Faschismus unterstützen, zugegeben wurde – versucht habe, es durch eine Untersuchung der Gemütszustände zu erklären, wohlgemerkt zu erklären, nicht zu rechtfertigen. 3. Man kann die These also folgendermaßen formulieren: „Während die christliche Moral nicht präjudiziell für die politische Tätigkeit der Menschen ist, wenn sie die Staatsform betrifft, steht sie im Gegensatz zu Staatstheorien, die den christlichen Prinzipien widersprechen, und setzt der aktiven Tätigkeit eine Grenze, wenn aufgrund des Gegensatzes zwischen politischem und ethischem Handeln ein Gewissenskonflikt entsteht.“ Drei Positionen: 1) Indifferenz gegenüber der Staatsform Um uns recht zu verstehen: Die Indifferenz ist rein theoretisch und betrifft die Kirche oder die Moral im Allgemeinen, aber nicht den Bürger, auch nicht den katholischen. Der Bürger kann sowohl auf theoretischer als auch auf praktischer Ebene Monarchist oder Republikaner, Aristokrat oder Demokrat sein. Man muss nur darauf hinweisen, dass er sich dabei von seinen eigenen Meinungen und Überzeugungen oder denen seiner Partei leiten lässt und weder das Recht hat, darüber im Namen der Kirche oder der Moral zu sprechen, noch vom religiösen und moralischen Standpunkt aus die Andersdenkenden verurteilen kann. 2) Widerstand gegen die Staatstheorien, die im Widerspruch zu den christlichen Prinzipien stehen Dieser Widerstand ist, solange die Theorie nicht in die Praxis umgesetzt wird, das heißt in Gesetzen, in der Verwaltung und in der Politik, ein reiner Widerstand gegen die Prinzipien, über die sich die verschiedenen Parteien entzweien. Der Kampf findet im Bereich der Ideen, der Forschung, der Propaganda und der Presse statt, damit keine öffentliche Meinung entsteht, die in die Praxis umsetzen lässt, was man auf theoretischer Ebene bekämpft. Dieser Widerstand auf dem Gebiet der Ideen ist grundsätzlich kein Hindernis, um an der Entwicklung des Staates mitzuwirken (wie wir schon unter Nr. 2 gesehen haben) und diesen sogar zu regieren. Sonst – und das wäre ein antisozialer Fehler – müssten sich die Katholiken, um für ihre Prinzipien zu kämpfen, aus der Politik heraushalten bzw. die Grundlagen des Staates untergraben und sich gegen ihn verschwören, egal ob dieser liberaler Staat, sozialistischer Staat oder faschistischer Staat genannt wird, weil die Katho-

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liken weder die Theorie der Liberalen noch die der Sozialisten noch die der Faschisten akzeptieren. Wer findet das nicht absurd? Ein Beispiel: Es gibt französische Katholiken, die, um den französischen Laizismus zu bekämpfen, die Republik stürzen und wieder eine katholische Monarchie im historischen Sinne des Wortes einführen wollen, während andere zwar gegen die laizistischen Gesetze kämpfen, aber die Republik respektieren. Nun bezieht die Position der Ersten den Kampf gegen den republikanischen Staat in den ethisch-religiösen Kampf mit ein. Sie stützen sich auf ein falsches Präjudiz und stellen sich gegen den Staat; die Zweiten tun dies nicht, sie unterscheiden die republikanische Staatsform, die auf politischer Ebene verteidigt werden kann, wenn sich die Frage stellt, aber vermischen diese nicht mit der ethisch-religiösen Frage. 3) Begrenzung der praktischen Tätigkeit, wenn es aufgrund des Gegensatzes zwischen dem politischen und dem ethischen Handeln einen Gewissenskonflikt gibt Das ist ein christliches Konzept, das heute fast vergessen ist: Weder der Staat, das Vaterland, die Nation noch irgendeine irdische Autorität kann vom Christen verlangen, sein eigenes Gewissen zu opfern. Wenn ein Katholik Mitglied der Regierung Österreichs oder Deutschlands gewesen wäre und dieser den Krieg, der im verhängnisvollen Juni 1914 begann, mit seinem Gewissen als ungerechtfertigt beurteilt hätte, hätte er die Pflicht gehabt, sich zu widersetzen oder, wenn er dies nicht gekonnt hätte, von der Regierung zurückzutreten, auch wenn er damit seinem Vaterland geschadet hätte. Wenn ein Katholik, der heute mit der faschistischen Regierung zusammenarbeitet, wie der Schreibende davon überzeugt wäre, dass er im Namen des Partei-Staates an der Ausübung der organisierten Gewalt mitwirkt, dann könnte er nicht mit ihr zusammenarbeiten, auch wenn sein Mitwirken der Kirche eine Reihe von beachtlichen materiellen oder moralischen Vorteilen garantieren würde. Um diese Erklärung an Beispielen fortzusetzen: Wenn die oppositionellen Parteien des Aventins von den Popolari, um den antifaschistischen Kampf gemeinsam fortsetzen zu können, eine nicht der Moral entsprechende Tat verlangen würden wie zum Beispiel eine Proskriptionsliste, die nur für einen rein politischen Zweck nach der Machtübernahme angewendet würde, bzw. die Rücknahme des Rundschreibens bezüglich des Kruzifixes in den Klassenzimmern oder des Religionsunterrichts, müssten sich die Popolari weigern, dies zu unterstützen, auch wenn ihr Rückzug der Sache der Freiheit und der Partei schadete. Es können weitere Beispiele genannt werden. Festzuhalten bleibt, dass es niemals möglich ist, mit den einzelnen oder in Parteien und Gruppen v­ ereinten

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Katholiken eine Aktion auf politischer Ebene durchzuführen, die in der Praxis einen Widerspruch zur christlichen Moral in ihrer wahrhaftigen Bedeutung darstellt. Einige halten das Wort nie für übertrieben; sie glauben an ein Gesetz des Vaterlandes, das über der Moral steht; wir nicht, wir konzipieren kein Gesetz des Vaterlandes, das einen Bürger zwingt, gegen sein moralisches Gewissen zu handeln. Das moralische Gesetz siegt über das Gesetz des Vaterlandes (falls es das geben sollte) und über das politische Interesse. 4. Jemand könnte auf das, was ich bis jetzt gesagt habe, Folgendes entgegnen: „In der politischen Organisation gibt es Stufen der Toleranz gegenüber schon vergangenen oder sich noch entwickelnden Ereignissen oder im Lauf der Geschichte eingeführten Gesetzen, die, obwohl sie im Widerspruch zur christlichen Moral stehen, nicht überwunden werden können; eine absolute Strenge im Bereich der Moral würde mit Tatsachen kollidieren, die oft stärker und resistenter sind.“ Das stimmt: Der Einwand ist real und ernsthaft. In vielen Staaten wurde die Scheidung eingeführt: auch in Belgien und Ungarn, wo die Katholiken mehr als mit anderen zusammengearbeitet und über viele Jahre allein regiert haben. In Italien gelten noch die Gesetze der Unterdrückung der religiösen Körperschaften und bis gestern galten Schulgesetze, welche die Freiheit einschränkten; und bis heute gibt es, auch wenn frühere Härten überwunden wurden, einen offenen Konflikt zwischen dem Staat und dem Heiligen Stuhl; an weiteren Beispielen fehlt es nicht. Nun sollte man berücksichtigen, dass vom praktischen und folglich vom ethischen Standpunkt aus ein derartiger Zustand der Gesetzgebung in den verschiedenen Ländern mit der theoretischen Position der Strömungen in Verbindung gebracht werden kann, welche die Strukturen der verschiedenen Staaten gestalten. Das heißt, in einer ähnlichen Situation werden diejenigen, die ihre eigene öffentliche Arbeit auf christlichen Prinzipien aufbauen, entweder nicht mitmachen (negative Form) oder sich widersetzen (positive Form), je nachdem. Aber ihre Position verlässt die theoretische Ebene erst, wenn die gleiche Frage (zum Beispiel die Scheidung) erneut als politisches Thema zur Debatte steht, bei dem man sich dafür oder dagegen entscheiden muss. Und um dies zu tun, das heißt, um eine schon überholte historische Vergangenheit wieder in den Mittelpunkt der aktuellen politischen Diskussion zu stellen, bedarf es der Ausübung der politischen Rechte, der Stärke der Partei mithilfe der öffentlichen Meinung, der Gelegenheit zum Kampf und der Hoffnung auf den Sieg. Dafür braucht man die Politik; man kann den Katholiken, die die moralischen Probleme deutlicher wahrnehmen, nicht im Kern die Ausübung ihrer politischen Rechte verweigern. Die Stunde des Kampfes schlägt jedoch auch dann nicht immer, wenn man an der Regierung ist: Die

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belgischen Katholiken, die so viele Jahre allein regierten, konnten die Institution der Scheidung nicht aus ihren Gesetzen tilgen. Es ist folglich klar, dass auch in diesen Fällen der Konflikt zwischen der moralischen Pflicht und der politischen Tätigkeit (die sowohl positiv ist, das heißt handeln, als auch negativ, das heißt nicht handeln oder verhindern, dass andere handeln) dann entsteht, wenn der Gegenstand der politischen Aktivität aktuell ist oder aus der Vergangenheit stammt und in der Gegenwart zum Thema gemacht werden kann und muss: Der ethische Konflikt besteht folglich im Handeln oder Nicht-Handeln, Verhindern oder Nicht-Verhindern, dass ein anderer etwas tut, in der Zusammenarbeit mit anderen oder in der Ablehnung der Zusammenarbeit: Kurz und gut, der Konflikt entsteht, wenn die praktische Verantwortung in all ihren Stufen und Formen ins Spiel kommt. Ein weiterer Einwand, der oft vorgebracht wird und der noch einmal wiederholt werden kann, ist folgender: „Um ein politisches und soziales Wohl zu verwirklichen, muss man sich häufig nicht um die Mittel kümmern. Der Katholik, der diese von der Realität auferlegte Position nicht akzeptiert, schließt sich selbst von der politischen Arbeit aus.“ Diese Argumentation wird heute von den Faschisten und von den Philofaschisten wiederholt, welche die Besetzungen der Städte und die Taten der faschistischen Sturmabteilungen, die Überfälle auf die Verbände und die Brandstiftung bei den Kooperativen nicht nur als mögliches Mittel zur Überwindung der sozialistischen Unterdrückung rechtfertigten, sondern auch finanziell unterstützten. Die Katholiken verweigern jegliche moralische Solidarität gegenüber diesen Vorfällen, so wie sie sich weigern, diese zu nutzen und eine Rechtfertigung dafür zu liefern, dass andere unehrliche, illegale und unrechtmäßige Mittel nutzen, um irgendetwas Positives auf sozialer oder politischer Ebene zu erreichen. Wenn dies eine Einschränkung ist, dann ist es gut, diese Einschränkung für die politische Aktivität der Katholiken und aller ehrlichen Menschen gelten zu lassen, die sich von einer einfachen menschlichen Moral inspiriert fühlen. Der Zweck heiligt die Mittel nicht. Wer nicht mit legitimen Mitteln regieren kann, sollte besser darauf verzichten, und wer seine politische Tätigkeit nicht in den Grenzen der Moral entfalten kann, sollte verzichten, egal ob er ein Caesar, Napoleon, Bismarck oder Cavour ist. Man wendet auch als Folge dieser letzten Behauptung ein, dass die Revolution ein Ereignis sei, von dem die Katholiken und die Moralphilosophen im Allgemeinen nicht absehen können. Nun fragt man sich: „Können sie sich an der Revolution und an der revolutionären Regierung beteiligen?“ Es ist zu klären, was das Wort „Revolution“ bedeutet, das oft unpassend verwendet wird: Gewiss kann jeder Bürger moralisch zu einer Reform der staatlichen Ordnung tendieren und sich für deren Entwicklung einsetzen, auch in einem radikalen und tiefgreifenden Sinn wie zum Beispiel dem ­Übergang vom

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Absolutismus zur Freiheit. Das ist sicher eine Revolution, und wenn die Beweggründe angemessen und die Mittel moralisch sind, kann es vom ethischen Standpunkt aus keine Ablehnung geben. Aber jede Revolution wird gewöhnlich von bewaffneten Aufständen, gewalttätigen und unmoralischen Mitteln wie Morden, Plünderungen, Bränden und Ähnlichem begleitet – alles Dinge, die moralisch zu verurteilen sind. Es gibt keinen Katholiken, der diese mit gutem Gewissen einsetzen darf. Es ist nicht zulässig, das zu unterstützen. Aber die Beteiligung an einer revolutionären Regierung ist ein ganz anderer Fall, denn für das soziale Wohl braucht man eine Regierung, und auch in einer unruhigen Zeit kann man, und in bestimmten Fällen muss man sich unter den gleichen Bedingungen an einer revolutionären Regierung beteiligen, unter denen man sich auch an einer normalen Regierung beteiligen kann oder muss. Das heißt, ohne dabei die Grenzen der Moral zu überschreiten: Nicht einmal die Revolution steht über der Moral; gegenüber der Moral gibt es keine revolutionären Rechte; und die Härte der Polizei oder der Repression einer revolutionären Regierung und des Ereignisses kann nicht über dem legitimen Recht auf Verteidigung und auf Erhaltung der Ordnung stehen, ohne Recht und Moral zu verletzen. Es gibt keine Ausnahmen in Bezug auf moralisches Handeln, nicht einmal in revolutionären Zeiten, und auch nicht in Bezug auf die positiven oder negativen Verpflichtungen, die durch diese Moralität entstehen. 5. Anhand dieser Vorbedingungen stellt jemand – sich auf die historischen Bedingungen in Europa beziehend – eine genauere Frage und möchte wissen, „ob man mit dem Sozialismus zusammenarbeiten kann, der faktisch eine revolutionäre Partei ist“. Diese Vorbedingungen müssen für jede revolutionäre Partei gelten, sowohl für den Faschismus und den Sozialismus von heute als auch für den Liberalismus von gestern. Aber weil man heute unter den Katholiken mit größerer Sorge über den Sozialismus diskutiert als über die revolutionären Nationalismen der verschiedenen Länder (vielleicht weil eine gewisse konservative Tendenz die spirituellen und moralischen Abartigkeiten des Nationalismus verschleiert oder wohlwollend färbt), werden wir unsere Theorie auf den Sozialismus anwenden und hinzufügen, dass wir sie im gleichen Sinne auf jede andere Partei anwenden, wobei in Bezug auf die Moral die Verwendung zweier verschiedener Maßstäbe ausgeschlossen wird, weil es sich um … Betrug handeln würde. Solange der Sozialismus sich folglich nicht nur als revolutionär bezeichnet, sondern sich auch auf die Ebene der nicht friedlichen und evolutionären, sondern subversiven Revolution begibt, der sogenannten direkten Aktion, ist die Zusammenarbeit mit ihm moralisch unmöglich, genau wie sie mit dem gewalttätigen Faschismus der Sturmabteilungen und mit dem bolschewistischen Kommunismus moralisch unmöglich ist.

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Wenn der Sozialismus dagegen in einem Rechtsstaat mit legalen Mitteln auf gesetzlicher Ebene wirkt, kann die Zusammenarbeit mit ihm in Abhängigkeit von dem praktischen Gegenstand, der vereinbart wird, entweder annehmbar oder nicht annehmbar sein. Wenn der Gegenstand Gesetze und politische Vorgehensweisen beträfe, die nicht der christlichen Moral entsprechen, ist aus ethischen Gründen keine Zusammenarbeit mit dem Sozialismus möglich – wie auch mit jeder anderen Partei, selbst wenn sie in einem religiösen Gewand auftritt. Wenn der Gegenstand dagegen moralisch statthaft ist, ist sie ohne irgendeinen moralischen Vorwurf möglich. Dies passiert in Europa; die Regierungsbeteiligung der christlich-sozialen Parteien und anderer Katholiken zusammen mit den Sozialisten ist eine Tatsache; und zwar nicht erst seit heute, sondern sie war es schon in der Vergangenheit. Es ist unnötig, Beispiele aufzuführen. Und es gab und gibt nicht nur eine Regierungsbeteiligung, es kann auch bestimmte Übereinkünfte zu spezifischen Zwecken geben. Der Bischof von Litauen hat mit den Sozialisten für das Gesetz der Enteignung des Landes der Großgrundbesitzer ohne Entschädigungen zusammengearbeitet, wobei er sich auf ein rechtliches Prinzip stützte, das aus den alten Gesetzen über die feudale Konzession resultiert. Niemand glaubte oder kann glauben, dass der Bischof etwas nicht Zulässiges getan habe, indem er die Sozialisten für einen derartigen Zweck unterstützte, der als legitim angesehen wird. So hat das Zentrum in Deutschland zusammen mit den Sozialisten die Kandidatur von Marx für das Reich verhandelt, während Braun Ministerpräsident des Freistaates Preußen war.hhh Die italienischen Popolari sind zusammen mit den Sozialisten in der Opposition und kämpfen mit diesen für die Freiheit in Italien; ihr moralisches Verhalten ist einwandfrei. Und die irischen Katholiken kämpften zusammen mit den Mitgliedern der Labour-Partei für die irische Unabhängigkeit, worauf sie ein Recht hatten. Kurz und gut, in diesen und ähnlichen Fällen gibt es kein moralisches Hindernis für die Zusammenarbeit, weil der Gegenstand auf Dingen beruht, die nicht gegen die Moral verstoßen und weil sich die Methode des Handelns auf moralische Mittel stützt und unrechtmäßige Mittel ausschließt. Diese Zusammenarbeit muss folglich nach ihrer politischen Angemessenheit beurteilt werden und nicht nach ihrer moralischen Zulässigkeit.

hhh In Preußen regierte fast immer die Koalition von SPD und Zentrum (mit der Unterstützung anderer Parteien, wie z. B. der liberalen DDP). Bei der Reichspräsidentenwahl 1925 kandierten beide, Wilhelm Marx (Zentrum) und Otto Braun (SPD), erfolglos für das Amt des Reichspräsidenten.

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6. An diesem Punkt könnte man das moralische Problem der politischen Zusammenarbeit auf allen Seiten als gelöst betrachten, oder besser als genau eingeordnet, sodass für die verschiedenen Fälle schon die Eckpfeiler für eine vernünftige Lösung gesetzt wurden. Aber weil das Problem des Sozialismus heute, wie man sagt, sperrig ist, weil diese Partei in der Tat die Reife erreicht und es folglich nicht verschmäht, allein – wie es die Labour-Partei in England tat – oder innerhalb eines Bündnisses, wie in Preußen, an die Regierung zu kommen, und sogar im katholischen Belgien über das Problem der Zusammenarbeit der Sozialisten mit den Christdemokraten diskutiert wird, lohnt es sich, unsere Aufmerksamkeit noch einmal auf diese Seite des Problems zu richten, das leicht von der moralischen auf die politische Ebene rutscht. Man kann jedoch auch allein den moralischen Aspekt des Problems untersuchen. Die Frage, die sich nicht wenige stellen, ist folgende: „Kann man vom moralischen Standpunkt aus unterstützen, dass der Sozialismus an die Regierung eines Staates kommt?“ Diese Frage kann und muss auch in Bezug auf andere politische Richtungen gestellt werden, mit denen man nicht übereinstimmt, wie dem Liberalismus, dem Faschismus, dem Nationalismus und dem Radikalismus; all diese Richtungen haben – wie wir gesehen haben – Positionen, die im Widerspruch zum christlichen Konzept von Moral stehen. Folglich kann meine Antwort von einem integralen Standpunkt aus, nicht so sehr als parteiischer Mann, sondern vor allem als Forscher, der moralische Probleme untersucht, nur negativ sein: Jeder muss seine eigenen Energien entwickeln, um seine eigenen Prinzipien zu vertreten, die für uns auf moralischer Ebene mit denen des Christentums übereinstimmen. Dafür lohnen sich unsere Arbeit, unsere Mühen, unser Kampf. Der Autor hatte keine andere Absicht und konnte keine andere haben, als er den Partito Popolare Italiano initiierte. Folglich kann man in Italien die neue Gewohnheit nicht befürworten, dass Katholiken in Parteien eintreten, die sich nicht auf die ethischen Prinzipien des Christentums stützen: bonum ex integra causa, malum ex quocumque defectu.iii Leider sind die christlich-sozialen Parteien – die einzigen, die in Europa organisiert sind und die auf praktischer Ebene die subversive Propaganda eingedämmt haben – fast überall in der Minderheit, und als solche müssen sie an den politischen Wettkämpfen teilnehmen. Während folglich ihr Ziel und ihre direkte Arbeit nur danach streben, so stark wie möglich zu werden und, soweit es ihnen möglich ist, zu verhindern, dass die gegnerischen Parteien

iii

Gutes aus integren Ursachen, Böses aus irgendeinem Mangel. Der Satz entstammt der Scholastik und bedeutet, dass Gutes aus der Mitanwesenheit aller (guten) Elemente kommt, während der Mangel irgendeines Elements genügt, um Gutes zu verhindern und Böses zu verursachen.

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ihre unsozialen, antireligiösen, antiökonomischen oder unmoralischen Theorien in die Praxis umsetzen, sind sie gezwungen, sich für den Einsatzbereich und die Koalitionsmöglichkeit zu entscheiden, die ihnen von den Umständen, die von Zeit und Ort abhängig sind, geboten werden. Und man muss folglich die unter der Bevölkerung verbreiteten Gemütszustände berücksichtigen und versuchen, das zu neutralisieren, was zu einer schädlichen ungewollten Folge dieses Manövers werden könnte. Wenn man folglich von dem ausgeht, was bis hierher gesagt wurde, muss man – innerhalb der eisernen Grenzen dessen, was zulässig ist, das auslassend, was eine reine politische Würdigung sein kann – die Situation beurteilen und sich konsequent verhalten. Eine Frage, die nicht unnütz ist: „Bis zu welchem Punkt sind die Sozialisten eher für eine Zusammenarbeit mit jenen, die sie die bürgerlichen Parteien nennen, als für den folgerichtigen Kampf, damit sie ihre Postulate verwirklichen können? Und werden sie diese leichter allein verwirklichen, wenn sie es schaffen, gegen die gegnerischen Parteien zu gewinnen, als wenn sie zusammen mit den anderen an den Programmen arbeiteten und Mittel verwendeten, die moralisch gesehen zulässig sind?“ Es ist sinnvoll, an diesem Punkt daran zu erinnern: Nachdem sie gegen die Reaktion – die auch von Katholiken unterstützt wurde, die absolute Regierungen bevorzugten – an die konstitutionelle Macht gekommen waren, sagten die rechten Liberalen in Italien der Kirche auch auf streng religiöser Ebene den Kampf an und begünstigten sogar die Protestanten, wie es Spaventa, der Vorfahre von Gentile, wünschte.jjj Bis zu welchem Punkt man dies hätte verhindern können, ist schwer zu sagen. Es wäre das Gleiche zu fragen, was in Italien passiert wäre, wenn Pius IX. es geschafft hätte, die Verfassung aus dem Jahr 1848 beizubehalten. Die Positionen, die von den verschiedenen Strömungen im politischen Leben vertreten werden, sind eine Folge von wenig bedeutenden Aktionen, aber wenn sie mit anderen vorhergehenden Ereignissen zusammengezählt werden, determinieren sie Situationen, aus denen es nur sehr schwer möglich – wenn nicht unmöglich – ist, sich zu befreien. Der langjährige Kampf der belgischen Katholiken gegen das Fortschreiten des Sozialismus gehört zu den bemerkenswertesten in Europa, aber der echte Kampf, der epische Kampf der belgischen Katholiken, richtete sich gegen den Liberalismus; sowohl als stärkste und gleichstarke Partei als auch

jjj Bertrando Spaventa (1817–1883) war ein italienischer Philosoph. Als Erforscher der hegelianischen Philosophie und Unterstützer des Zentralstaates war er Anreger des faschistischen Theoretikers Giovanni Gentile. Vgl. Eugenio Garin, Bertrando Spaventa, Neapel 2007.

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als ­immer kleiner werdende bis zu ihrer derzeitigen Niederlage, während die nicht religiösen oder antireligiösen Elemente, auch wegen der Tatsache, dass der Widerstand der Liberalen schwächer wurde, dem Sozialismus zuströmten, wodurch dieser an Bedeutung gewann. Heute haben Katholiken und Sozialisten auf politischer Ebene das gleiche Gewicht. Wer kann jemals sagen, ob und wie sehr der Kampf gegen die Liberalen dazu beigetragen hat, den Charakter und den Widerstand der belgischen Sozialisten zu entwickeln? Und dennoch kann niemand den tiefgehenden Kampf gegen den Liberalismus als moralisch verwerflich verurteilen, der einen wesentlichen ethischen Nährboden für die Forderung nach freien Schulen darstellte. Wenn dadurch eine nicht geplante Wirkung entsteht, ist sie jenseits jeglicher moralischen Verantwortung, und es bleibt nur eine politische Beurteilung. Eine politische Beurteilung, die die Belgier heute dazu bringt, eine mögliche Zusammenarbeit mit denselben Sozialisten in Betracht zu ziehen, um nicht viele Jahre der Arbeit und des Kampfes einfach wegzuwerfen. Es ist folglich notwendig, das sozialistische Phänomen sowohl unter ökonomischen und gewerkschaftlichen Aspekten zu betrachten als auch im Blick auf dessen politische Dynamik. Man kann dagegen nicht den gleichen Vorbehalt vorbringen wie die Staaten der Heiligen Allianz gegen den Liberalismus des 19. Jahrhunderts, der gegen die Methoden der Gewalt und Unterdrückung siegreich war und heute als unfehlbares Mittel gegen den Sozialismus betrachtet wird. Es handelt sich um große Strömungen mit dazugehörigen Denkweisen, die das soziale Gefüge durchdrangen und – es ist ehrlich, dies anzuerkennen – stark dazu beigetragen haben (wenn auch mit vielen Fehlern), dass in fünfzig Jahren des Kampfes die soziale Arbeitergesetzgebung eingeführt wurde, die heute ein Produkt der christlichen Zivilisation ist, die bei den erschreckend­ sten Egoismen des menschlichen Kampfes auftaucht. Da es in allen Nationen eine Wahl zwischen den revolutionären und den possibilistischen Sozialisten gibt, von denen nicht wenige schon bewiesen haben, dass sie in der Lage sind, im Einklang mit den geltenden Gesetzen zu regieren, das heißt, unter konstitutionellen Bedingungen, die die gemeinsame Basis für die Arbeit der Parteien darstellen, kennt man keinen besonderen moralischen Grund, der den legal handelnden Sozialismus aus der Reihe der anderen gesetzlichen Parteien ausschließen könnte, die nach der Macht streben und einen Machtwechsel antreiben und mittragen. Die Grenzen bestehen nicht an sich, das heißt, sie liegen nicht in der Natur einer bestimmten Partei, sondern objektiv in der moralischen Ordnung, die für alle Parteien gilt. Diese objektiven Grenzen wurden zuvor untersucht und festgeschrieben, ohne jegliche Abweichung oder besondere Besorgnis.

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7. Der vermutliche Widersacher, der nützlich ist, um diese Seiten etwas zu beleben, wird an diesem Punkt lebhaft bemerken: „Wie kann man jede andere Partei mit der sozialistischen vergleichen? Das ist die schlimmste Partei von allen, weil sie jede moralische Bewertung leugnet und rein materialistisch ist.“ Eine Abstufung der Schäden, welche die Parteien im Leben dieses Landes anrichten könnten, ist schwer zu erstellen; und jeder entscheidet nach seinen Sympathien und Antipathien gemäß den Standpunkten, von denen man ausgeht. Wenn wir von Theorien sprechen, ist ein Fehler immer ein Fehler, aber gewiss ist die Theorie Gentileskkk gefährlicher, wenn sie im Faschismus angewendet wird (trotz allem Respekt, den er für die Religion zu haben behauptet), weil sie verführerischer und von Grund auf unmoralischer ist als die Theorie vom Klassenkampf. Diese ist aus einer falschen Vorstellung vom sozialen Kampf entstanden, welcher der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft innewohne und folglich ununterdrückbar sei. Jedenfalls müssen die Theorien der einen wie der anderen von uns bekämpft werden; und man versteht gewisse Führer der italienischen Katholischen Aktion nicht, die gegen die Theorien des Liberalismus und des Sozialismus kämpfen und niemals ein Wort gegen die Theorien des Faschismus gesagt haben. Sie scheinen folgendes Motto zu haben: nihil … de principe, und der Prinz ist heute der Faschismus.lll Zu dieser Erziehung des Charakters kann man nur gratulieren! Wenn man dann von den Theorien zu den Tatsachen übergeht, ist es gut festzustellen, dass die Regierungen von Männern aus dem sozialistischen Lager auch nicht schlimmer sind als die von Männern aus anderen Parteien, im Gegenteil, es gibt moralische Aspekte mit mehr Tiefgang. Bei der Wahl zwischen der Regierung von MacDonald und der von Baldwin muss man in Bezug auf die internationale Versöhnung MacDonald bevorzugen; was die Moral betrifft, sind sie beide gleich. Zwischen Eberts (Sozialist) Präsidentschaft im Deutschen Reich und Hindenburgs (Nationalist) ist Erstere zu bevorzugen, genau wie Briand (Sozia­ list) gegenüber Poincaré (Liberaler) und Bonomi (reformistischer Sozia­list) gegenüber Mussolini (ehemaliger Sozialist und National-Faschist).mmm Diese

kkk lll

Siehe die Anmerkungen i und fff. Laut der Maxime „Nihil de principe, parum de Deo“ ist es angemessen, nicht über den Souverän zu reden und wenig über Gott. Sie rät dazu, gegenüber Autoritäten vorsichtig mit politischen oder religiösen Unterhaltungen zu sein. mmm Sturzo nimmt Bezug auf verschiedene Vertreter des Sozialismus, die er mit Vertretern anderer Parteien vergleicht. James Ramsay MacDonald (1866–1937) war der erste Premierminister der Labour Party, während Stanley Baldwin (1867–1947) Mitglied der Conservative Party und mehrmals Premierminister war; Friedrich Ebert (1871–1925), Vertreter der Sozialdemokratie, war Präsident der Weimarer Republik, während Paul von Hindenburg der letzte Präsident der Weimarer Republik war. Aristide Briand (1862–1932) war ein bedeutender französischer Politiker,

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Antifaschistisches Denken

Sozialisten haben während ihrer politischen Aktivität die Werte der individuellen und der kollektiven, der nationalen und der internationalen Ethik besser oder genauso gut respektiert wie die übrigen Regierenden, die anderen Parteien angehören. Man versteht, dass es unter den Sozialisten Sektierer, Kämpfer und Fanatiker gibt; aber in welcher Partei gibt es die nicht? Im Gegenteil: In den Parteien, die ausgeglichener scheinen, wie die historische Rechte Italiens, gibt es bis heute mehr antireligiöse Elemente als in jeder anderen Partei, mit Ausnahme von Crispi, der eher aufgrund einer sentimentalen Reaktion als aus politischer Berechnung antiklerikal war.nnn Man muss folgendes bemerken: Die Experimente der Zusammenarbeit (der echten Zusammenarbeit, nicht die Dienstbarkeit gegenüber den Faschisten) mit einer jeglichen anderen Partei (einschließlich der Sozialisten) hatten immer gute Ergebnisse, haben den religiös bedingten Kampf der Parteien abgeschafft und die Ursachen der moralischen Uneinigkeit gedämpft; wenn dagegen eine einzige Partei und eine einzige Strömung nach einem erbitterten Kampf und einem begehrten Sieg an die Regierung kommt, tendiert sie aufgrund einer Reaktion, einer vorherrschenden sektiererischen Mentalität, aus Sentimentalität und Selbstvertrauen dazu, ihren Sieg zu missbrauchen und die Theorie der Partei in die Praxis umzusetzen; auch indem eine Revolution vorgetäuscht wird, die niemals stattgefunden hat, und revolutionäre Rechte ausgerufen werden, die nie existiert haben. Und hier ergibt sich die Gelegenheit, eine Bemerkung, die nichts mit Ethik, sondern mit Politik zu tun hat, über das sogenannte System der Koalitionsregierung zu machen. Die Tendenz des Partito Popolare und insbesondere des Verfassers, die Kabinettsregierungen durch Koalitionsregierungen zu ersetzen und folglich den Parteien oder organisierten Gruppen gemäß ihrem proportio­ nalen Anteil mehr Verantwortung zu geben, wurde heftig bekämpft. Nun sollte man berücksichtigen, dass es vom Standpunkt des moralischen Ergebnisses ein großer Vorteil ist, die Parteien zu zwingen, anhand der Konvergenzlinie der verschiedenen Parteien einen konkreten Plan für die Zusammen-

nnn

Außenminister und mehrmals Regierungschef, dessen Name mit der Unterstützung des Völkerbundes und verschiedener wichtiger internationaler Verträge (z. B. Locarno 1925; Briand-Kellogg-Pakt 1928) verbunden ist, während Raymond Poincaré (1860– 1934) Präsident der französischen Republik und mehrmals Regierungschef war. Zu Ivanoe Bonomi siehe Anmerkung p. Für die sozialistische Vergangenheit Mussolinis siehe Spencer M. Di Scala/Emilio Gentile (Hg.), Mussolini Socialista, Rom 2015. Zu Destra Storica und Sinistra Storica siehe die Anmerkung b im Text „Geist und Wirklichkeit“. Zu Francesco Crispi siehe Anmerkung x.

Das moralische Problem

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arbeit zu erstellen. So werden die einfachen Übertreibungen, die spezifischen parteiischen Eigenschaften und die politische Sentimentalität vermieden und das Verhältnis der Bedürfnisse des Landes zu den Verwirklichungsmöglichkeiten, wie sie von den Koalitionsparteien vereinbart werden, vergegenständlicht. So bekommt man ein moralisches und politisches Ergebnis, das zumindest die Gegensätze beseitigt. In dieser Form und mit dieser Methode können auch die Massenparteien, die Parteien, die von revolutionären Prämissen ausgehen, das praktische Element ihrer Entwicklung finden und ihre Exzesse mildern. Überdies, was viel ist, verhindert das Verhältniswahlrecht die Vorherrschaft und absolute Dominanz einer einzigen Partei, die naturgemäß zu einer – wenn auch verhüllten – Diktatur wird. Schließlich wird jede Partei repräsentativ und politisch von der Macht der anderen Parteien eingeschränkt, und folglich auch auf moralischer Ebene, da die anderen Parteien ihre besondere Betrachtungsweise der moralischen Probleme zum Ausdruck bringen. Auf dieser Ebene sind die christlich-sozialen Parteien oder jene, deren Name zumindest von der Religion inspiriert wurde, Wachposten und Kräfte des Widerstandes zugleich. Die Geschichte von mehr als einem halben Jahrhundert hat ihre positive, oder besser: notwendige, ethische Funktion gezeigt. Solange die moralischen Prinzipien der Christen auf einer rein individuellen und gewissensbedingten Ebene bleiben und nicht als moralisches Gesetz ausgedrückt werden, das stärker und lebendiger ist als jedes andere Gesetz und jede politische Gelegenheit, und nicht gemeinsam von denen gestützt werden, die entschlossen sind, sie durchzusetzen, bringen uns sämtliche politischen Aktivitäten der Völker eine Geschichte voller Tränen, Blut und Verbrechen im Namen des Königs oder des Vaterlandes, der Republik oder der Dynastie, des Kaiserreiches oder der Nation, eine zwar grandiose ökonomische und politische Geschichte, die aber leider, wenn man sie untersucht, auch zu einer Geschichte der Unmenschlichkeit und des moralischen Elends wird. Rassegna Nazionale, Nr. 6., Juni 1925

Stammesegoismus versus Menschlichkeit

Italien und der Faschismus Sozialismus, Popularismus und Faschismus 1. Der Sozialismus — 2. Revolutionär sein oder nicht — 3. Der Popularismus — 4. Das Auftauchen des Faschismus — 5. Die letzten Parlamentskabinette — 6. Die Opposition gegen den PPI und die große Angst vor dem Bolschewismus 1. In den vorherigen Kapiteln wurde der italienische Sozialismus mehrmals erwähnt:a Es ist gut, sich das bereits Gesagte vor Augen zu halten, um jetzt die Bedeutung einer Bewegung einzuschätzen, die unter verschiedenen Bezeichnungen – Arbeiterpartei (1880), Partei der Arbeiter (1892) und sozialistische Partei (1895) – schon eine mehr als dreißigjährige Geschichte hat, die unter verschiedenen Aspekten interessant ist. Die italienische politische Mentalität ist nicht für große Theorien und intellektuelle Spekulationen geeignet; sie befindet sich zwischen Theorie und Praxis, was die Bewegungen realistischer erscheinen lässt; in Wirklichkeit bleiben diese jedoch oberflächlich und sind deshalb weniger bewusst und unbeständiger. Genau wie der Liberalismus verfügte auch der italienische Sozialismus weder über tiefsinnige Denker, noch gingen aus seinen Kreisen erneuernde und originelle Theorien hervor wie in Frankreich und Deutschland; er hatte dagegen Verwirklicher, die sich an unsere Verhältnisse angepasst haben, das heißt, Durchschnittliche und Bequeme oder Fanatische und Unnachgiebige, für die die Theorie kein unbequemes Hindernis war, sondern nur ein Anhaltspunkt. Die sozialistischen Schriftsteller haben die Popularisierung ausländischer Theorien bewirkt oder sich für praktische Probleme und Propaganda interessiert; es gibt keinen rechtlichen und ökonomischen Entwurf des italienischen Sozialismus. Die Bezugspunkte waren Marx und Sorel: Und deren Worte wurden eher wie ein Glaube aufgenommen als wie eine Wissenschaft studiert. Eine der Ursachen des Phänomens eines fast ausschließlich organisatorischen Sozialismus liegt in den Bedingungen, unter denen er sich in Italien entwickelt hat. Er hat sich in zwei ganz und gar verschiedenen Gebieten entfaltet: in dem landwirtschaftlichen Gebiet der Po-Ebene zwischen der Emilia und der Romagna und in dem Industriegebiet, das mit dem ­Dreieck

a

Vorlage der Übersetzung: Luigi Sturzo, Opera Omnia, Prima serie: Opere, Volume ­primo: Italia e fascismo (1926), Rom 2001, S. 73–124, 198–214.

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Italien und der Faschismus

Mailand – Genua – Turin umschrieben werden kann. Die übrigen Zentren wie Venedig, Rom, Florenz, Neapel und Palermo wiesen einen von außen übertragenen und städtischen Sozialismus auf oder kleine Gebiete rund um die entstehenden Fabriken oder die Staatsbetriebe wie die Eisenbahn und die Post oder schließlich Massenunruhen wegen der zunehmenden Urbanisierung, die für Verunsicherung sorgte. Die sozialistische Bewegung in der Landwirtschaft, deren Wirkungsbereich eingeschränkt war, ist nicht über eine rein gewerkschaftliche Vorstellung der Organisation der Lohnarbeitskräfte und der Entwicklung der Zusammenarbeit hinausgegangen; und unter diesem Gesichtspunkt fand sie einen großen Wirkungsbereich in den urbar gemachten Zonen und in denen mit einer hohen Bevölkerungsdichte und ertragreichen landwirtschaftlichen Kulturen, die industrialisiert waren. Dieses Phänomen war daher begrenzt und betraf vor allem eine höher entwickelte Schicht. Das eigentliche Agrarproblem Italiens, das für Süditalien charakteristisch ist, wurde von der sozialistischen Partei nie untersucht und angepackt, da diese jede berechtigte Bestrebung der Bevölkerung des Südens fast immer zugunsten der industriellen Bewegung und im Allgemeinen der Oberitaliens opferte. Die italienische Industrie hat sich relativ spät und in wenigen Provinzen entwickelt und war insgesamt nicht blühend und unabhängig. Während sie sich nach und nach entfaltete, bildete das Arbeiterproletariat den Mittelpunkt der sozialistischen Propaganda, was nicht nur eine Auswirkung der Strömungen in anderen Ländern war, sondern auch mit den schwierigen Lebensbedingungen zu tun hatte, die durch die Konkurrenz der Arbeitskräfte und andere Ausbeutungsverhältnisse entstanden waren, wie sie zu Beginn in Großbetrieben natürlich sind und überall vorkommen. Die Forderungen nach besseren Löhnen, der Abschaffung der Kinderarbeit, der Einschränkung der Nachtarbeit oder gesundheitsschädlicher Tätigkeiten, eines Regelwerks für Frauenarbeit, kurz alle Maßnahmen, die mit der Arbeit zu tun hatten, gaben den sozialen Strömungen im Allgemeinen und der sozialistischen im Besonderen die Gelegenheit, diese sofort zum Ziel ihrer Propaganda zu machen und so die Masse des Industrieproletariats anzuziehen, das in den Arbeitskammern organisiert wurde und später, nachdem man mehr Erfahrungen gesammelt hatte, auf nationaler Ebene in der Confederazione Generale del Lavoro.b Bei dieser gerechtfertigten Verteidigung und Aufwertung des Arbeiters waren die Sozialisten nicht allein, aber sie hatten die lauteste Stimme und die schnellste Organisation, weil sie den Groll und das Leid der Arbeiter am besten auszunutzen verstanden, um den Klassenkampf heute und das Paradies b

1906 wurde in Mailand die sozialistisch dominierte Gewerkschaft Confederazione Generale del Lavoro gegründet. Sie stützte sich auf die Camere del Lavoro, in denen sich die lokalen Arbeiterverbände einer jeden Region zusammenschlossen.

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auf Erden der sozialistischen Gesellschaft morgen zu predigen. Sie waren der Obrigkeit, dem Bürgertum und der Religion gegenüber feindlich eingestellt und hatten das überzeugendste Argument, um die Massen in der Hand zu haben; sie stellten die erzielten Erfolge nicht als Zugeständnis des Bürgertums dar, sondern als einen Sieg des Proletariats. Der Antiklerikalismus der Sozialisten missfiel der liberalen politischen Klasse nicht, denn er konnte als Waffe gegen die Kirche genutzt werden. Die Regierung verabschiedete nicht nur die Arbeitsschutzgesetze und richtete ein spezielles Büro im Ministerium für Landwirtschaft, Industrie und Handel ein, sondern sie legte in Verordnungen und Gesetzen auch das Monopol der Vertretung der Arbeiterklasse in die Hände der sozialistischen Organismen und unterstützte deren Entwicklung mit wirtschaftlichen Maßnahmen, vor allem zugunsten der Genossenschaften und sozialistischen Gewerkschaften. Und als ob sie all das mit einem parteiischen Akt bestätigen wolle, verweigerte sie den Einrichtungen der christlich-sozialen Strömung jegliche Anerkennung oder Vertretung unter dem Vorwand, dass sie konfessionellen Charakter hätten und damit im Widerspruch zum Prinzip der Freiheit stünden. In dieser Zeit begann die zweite Phase des italienischen Sozialismus. Auf wirtschaftlicher Ebene leistet er praktische Arbeit, wobei er sowohl den Schutz des Staates als auch den der Industriellen genießt. Letztere ziehen daraus einen beachtlichen Nutzen, denn mit der Verbesserung des Lebensstandards des Arbeiters verbessert sich auch die Produktion, und indem sie den Arbeiter immer stärker an das Schicksal der Produktion binden, bekommen sie von den Regierungen leichter Prämien, Zuschüsse und Schutzzölle. Politisch konsolidiert sich die sozialistische Partei, weil sie sich immer mehr auf die wirtschaftlichen Organisationen der Arbeiter stützt, aber auch weil sie ein Bündnis mit den radikalen und demokratischen Parteien schließt und mit diesen einen linken Block bildet, der auch Volksblock genannt wurde. Dieser entstand als Gegensatz zu der konservativen Reaktion, die Anlass zu den bedauernswerten Ereignissen des Jahres 1898 gab, als die sozialistischen, republikanischen und christdemokratischen Führer von Mailand von den Militärgerichten verurteilt wurden. Dieser Block war die natürliche Entwicklung einer Politik auf einer demokratischen Grundlage, die nach dem tragischen Tod von Umberto I. für ein ruhiges Klima im Land notwendig war.c Aber c

Umberto I. (1844–1900) entstammte dem Hause Savoyen und war von 1878 bis zu seiner Ermordung durch den Anarchisten Gaetano Bresci im Jahr 1900 König Italiens. Bresci begründete seine Tat mit dem Verhalten Umbertos I. während des Bava-Beccaris-Massakers im Mai 1898 in Mailand: Er hatte den General Bava Beccaris mit einem Orden ausgezeichnet, obwohl dieser militärisch gegen Demonstranten vorgegangen war, die gegen steigende Brotpreise protestierten. Zwischen 80 und 400 Menschen starben (die Angaben schwanken).

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Italien und der Faschismus

während die Radikalen sich mit der Regierung einließen und mit dieser zusammenarbeiteten, verloren sie ihre Rolle als Zentrum der Opposition der extremen Linken, und während die Republikaner in sich zusammenfielen, vermehrten die Sozialisten bei jeder politischen und administrativen Wahl ihre Vertreter. Sie blieben so die einzige öffentliche Opposition gegen die Regierung, die sie unter der Hand um Gefallen und Unterstützung baten – und diese bekamen. Durch die Annahme dieser Position verlor der italienische Sozialismus immer mehr seinen revolutionären Charakter und drang mit mehr Wirkung in die Mittelschicht ein, vor allem in die bürokratischen Organisationen des öffentlichen Dienstes, da er als Kampfmittel für wirtschaftliche Vorteile und Rechtsschutz aufgefasst wurde. Es war natürlich, dass der Sozialismus gleichzeitig seine inneren Krisen durchmachte, weil man nicht Kompromisse machen und gleichzeitig das antibürgerliche Vorurteil, den Klassenkampf und die direkte Aktion beibehalten kann. Der Gegensatz zwischen Possibilismus und Revolutionismus lag in der Struktur der Partei selbst. Die bemerkenswerteste der diversen Krisen des italienischen Sozialismus war der Reformismus. Seine Verfechter, die Konsequenzen aus den bereits erreichten organisatorischen und parlamentarischen Vorteilen gezogen hatten, maßen der Methode der Reformen eine größere Bedeutung bei als der Revolution. Die Reformisten wurden 1912 auf Antrag Mussolinis aus der Partei ausgeschlossen,1 der damals Führer des revolutionären Lagers der Sozialisten war, das gegen die Teilnahme am Libyenkrieg und die Huldigung an den König war, nachdem dieser beinah bei einem Attentat ums Leben gekommen wäre. Bissolati gründete mit seinen Freunden eine eigene Partei, die er Reformistische Sozialistische Partei nannte. Diese Partei war organisatorisch wenig entwickelt und bestand bis nach dem Krieg; ihre letzte Gestalt war die Fraktion der reformistischen Sozialisten im Parlament, die mit der Abschaffung der parlamentarischen Fraktionen 1923 verschwand. Neben dieser Spaltung gab es bei den Sozialisten interne Meinungsverschiedenheiten sowie unendliche und unzählige Diskussionen auf Kongressen und in der Presse. Alles bewegte sich zwischen den Polen der praktischen Kompromissbereitschaft und der theoretischen Unversöhnlichkeit; und der 1

Auf dem Kongress von Reggio Emilia, der vom 7. bis 12.7.1912 dauerte, wurden einige Führer der reformistischen Strömung aus der Partei ausgeschlossen, darunter Bissolati, Bonomi, Podrecca und Cabrini, welche die Gemäßigten scharf dafür kritisiert hatten, dass sie sich in der Kammer positiv zum Libyenkrieg geäußert hatten. Auf dem Kongress von Reggio Emilia fiel vor allem der junge Mussolini auf, der zusammen mit Ciccotti und Lazzari die radikale und revolutionäre Linie der Partei vertrat. Anmerkung Francesco Malgeri: vgl. Franco Pedone (Hg.), Il partito socialista italiano nei suoi congressi, Band 2, Mailand 1961, S. 184–213.

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Exponent und Deuter dieses unüberwindbaren Dualismus war ungefähr dreißig Jahre lang Filippo Turati, ein Mann mit einem außergewöhnlichen Verstand und ein äußerst fähiger Abgeordneter und Leitfigur in Versammlungen. Er hat in abstrakten Synthesen und negativen Kombinationen ohne Bezug zur Realität die Stimmungen zahlreicher Kongresse und Sitzungen sozialistischer Vertreter zum Ausdruck gebracht. Er war ein fähiger Manipulator der Tagesordnungen, der in der Lage war, Gegensätze auszugleichen, ohne Lösungen zu finden. Deshalb lieferten die Ereignisse und Tatsachen oft eine praktische Interpretation dessen, was die sozialistischen Kongresse in Haarspaltereien und unendlichen Buchstabenrätseln beschlossen. Im Wesentlichen bemühten sie sich, zumindest auf dem Papier die revolutionäre Klassenorthodoxie beizubehalten und diese an die unvorhergesehenen Erfordernisse des Alltags und der politischen Umgangsformen anzupassen. 2. Wie für jede Partei waren der Krieg und die Nachkriegszeit auch für den Sozialismus notwendigerweise die Feuerprobe. Im Kapitel II wurde ihre generelle Haltung bereits beschrieben, folglich werden wir nur einiges hinzufügen, um die interne Tätigkeit der Partei näher zu beleuchten. Der PSI vertrat als offizieller Organismus eine zwielichtige Linie zwischen Neutralität und Ablehnung des Krieges und zog den größten Vorteil aus der sogenannten industriellen Mobilisierung, wegen der fast alle engagierten Arbeiter und die am besten ausgebildeten Massen nicht an die Front gingen, und ein großer Teil der Gelegenheitsarbeiter der Kriegsproduktion geriet unter die Kontrolle der sozialistischen Organisation. Aufgrund der Tatsache, dass die neutralistischen Strömungen des Bürgertums nach Ausbruch des Krieges eine missverständliche Haltung einnahmen, indem sie mit den Interventionisten in den Hilfskomitees zusammenarbeiteten, blieben die Sozialisten die Einzigen, die sich gegen den Krieg stellten. Dies brachte ihnen die Sympathie derjenigen ein, die von möglichen pazifistischen Offensiven des internationalen Proletariats träumten. Andererseits akzeptierten die reformistischen Sozialisten um Bissolati und eine Gruppe von revolutionären Sozialisten, die sich von der offiziellen Partei abgespalten hatten, den Krieg, ohne damit ihre Ideale aufzugeben. Der Führer der zweiten Gruppe, Benito Mussolini, gab seine Tätigkeit als Herausgeber des Avanti! auf und gründete 1914 Popolo d’Italia, das Organ der interventionistischen Sozialisten. Wie und warum Mussolini von einem extremen Neutralisten zu einem begeisterten Interventionisten wurde, blieb eines der Geheimnisse seiner bewegten und erfolgreichen politischen Karriere. Die offizielle sozialistische Partei entwickelte während des Krieges im Verhältnis zu ihrer ständig wachsenden Stärke und ihren Möglichkeiten im Parlament nur eine sehr beschränkte politische Tätigkeit. In dieser Situation reiften jedoch die Elemente für ihren extrem schnellen Aufstieg nach dem

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Italien und der Faschismus

Krieg, der so außergewöhnlich war, dass die Parteiführer der Aufgabe nicht gewachsen waren, ihn zu einem bestimmten Ziel zu führen. Die Unzufriedenen und die Kriegsheimkehrer, die dem Sozialismus Zulauf bescherten, hatten nur negative Vorstellungen; sie waren ein einfacher Ausdruck von Entbehrungen und Unzufriedenheit, aufgestauten Gefühlsseligkeiten, Schmerzen und erlittenen Enttäuschungen; Einwirkungen eines psychologischen Leides und wirtschaftlicher Turbulenzen, die weit über den traditionellen Sozialismus hinausgingen. Der erste Fehler der Parteiführer war der Glaube, dass sich diese formlose Masse in kurzer Zeit einfügen könne, und folglich die Anwerbung von Propagandisten und Organisatoren ohne technische und moralische Vorbereitung. Der Sozialismus war auf seine Weise ein Kriegsgewinnler und agierte wie ein Neureicher. Der zweite Fehler war es zu glauben, dass in Italien eine Wirtschaftsdiktatur des Proletariats möglich sei, ausgerechnet dort, wo der Besitz äußerst stark aufgeteilt ist und es viele Klassen gibt, die mittelständische Wirtschaft tief verwurzelt und die Bevölkerungsdichte sehr hoch ist: Dies sind alles Hindernisse bei dem Versuch einer wenn auch nur äußerlichen und formellen Kollektivierung. Ein weiterer Fehler war es, die Wirtschaftsdiktatur für ein Mittel zu halten, mit dem man die politische Diktatur erreichen könne. Doch das Gegenteil ist der Fall: Man kann versuchen, über die politische Diktatur eine Wirtschaftsdiktatur zu schaffen. Wohlgemerkt nur versuchen, denn nicht jeder Versuch muss gelingen; in Italien war und ist es schwer, das zu schaffen. Die sozialistischen Führer, die so viele Jahre kompromissbereit und im Wesentlichen Reformisten gewesen waren, fingen wieder an, wie Hamlet über das nicht lösbare Thema zu streiten: „Revolutionäre sein oder keine Revolutionäre sein“. Und jedes Mal, wenn sich das Problem wieder stellte, antworteten sie: „in der Theorie revolutionär: ja; in der Praxis revolutionär: nein“. Und während die aufgeregten Agitatoren unüberlegte Streiks, Unruhen und Übergriffe auf den Straßen vorantrieben und hier und da, vor allem in der Emilia Romagna, die sogenannten „roten Baronien“d schufen, führten die verantwortlichen Parteiführer das alte System fort, mit der Regierung möglichst viele Vorteile für die Gewerkschaften und die Kooperativen auszuhandeln, neue Körperschaften und Konsortien zu gründen und in Übereinstimmung mit der Bürokratie und der Plutokratie einen Plan für den Staats-

d

Der Begriff geht auf Palmiro Togliatti zurück und bezeichnet die Gegenden Italiens, in denen die Sozialisten zunehmend die Kontrolle übernahmen. Vgl. Robert Gerwarth/ John Horne (Hg.), Krieg im Frieden. Paramilitärische Gewalt in Europa nach dem Ersten Weltkrieg, Göttingen 2013, S. 154.

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sozialismus zu entwickeln. Die ultra-protektionistischen Zolltarife vom Juni 1921 sind ein Ergebnis dieser Mentalität, die auch in den schwersten Stunden nie verloren ging. Der tief verwurzelte und immer gewalttätiger werdende Konflikt zwischen den Possibilisten und den Revolutionären nach den Erfahrungen der großen Streiks sowie der Besetzung der Ländereien und Fabriken führte zu einer Spaltung. Im Januar 1921 trennten sich die Kommunisten von den Sozialisten. Aus dem gleichen Grund spalteten sich die Sozialisten später, 1922, wiederum in Unitarier und Maximalisten. Die einen schlossen sich der Zweiten Internationale an; die anderen traten mit Moskau in Verbindung, ohne sich voll anzuschließen, während die Kommunisten der Dritten Internationale beitraten. Die Confederazione Generale del Lavoro umfasste die Arbeiter der drei Parteien, und sie hat versucht, auf rein wirtschaftlichem Gebiet zu wirken. Aber in Wirklichkeit tendierten die Führer meist zu den Unitariern, während die Masse unter dem Einfluss der verschiedenen örtlichen Strömungen stand, wobei der Schwerpunkt auf dem Kommunismus lag. Während die politische Klasse den Verschleiß der Macht ertragen musste, machte der Sozialismus hingegen die Erfahrung der Stimmenenthaltung. Die Wahlen im November 1919 brachten 154 Sozialisten in die Abgeordnetenkammer. Sie waren nun die stärkste und am besten organisierte ­Fraktion. Aber sie hegten Vorbehalte gegen die Regierungsbeteiligung und wollten – als ihre Stunde gekommen war – nicht mit einer bürgerlichen Regierung zusammenarbeiten. Für sie war das Parlamentsmandat keine Anerkennung des konstitutionellen Systems und folglich auch nicht mit Regierungsverantwortung verbunden, sondern nur ein Mittel zur Vorbereitung der Revolution, auch wenn es nur eine rhetorische und undurchführbare Revolution war. Als Giolitti nach der Abspaltung der Kommunisten dem König die Auflösung der Abgeordnetenkammer vorschlug, spielte er in dem Dokument, das dem Dekret beigefügt war, auf die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit den Sozialisten an: Da sie diese verweigerten, verließen die Sozialisten den Boden der parlamentarischen Wirklichkeit, während sie mit der faktischen Verweigerung der Revolution auf der Straße die proletarische Wirklichkeit verließen. Hamlets Dilemma wurde mit einer ablehnenden Haltung gelöst. Der Sozialismus akzeptierte den Zusammenbruch seiner scheinbaren Macht. Er war dreimal besiegt worden: als revolutionäre Bewegung ab 1920 durch die Abspaltung der Kommunisten; als ökonomische Doktrin durch die Aufgabe des Monopols der verschiedenen Organismen der staatlichen und halbstaatlichen Arbeit; als Monopol der gewerkschaftlichen Vertretung mit dem Eintritt der Popolari und der Faschisten in das politische Leben Italiens. Wie wir im vorherigen Kapitel gesehen haben, war der Sozialismus in ­Italien einer der entscheidenden Faktoren für die Krise der politischen Klasse und

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führte gar zu deren Verschärfung. Sein Wirken war auf theoretischer Ebene konstant antistaatlich, egal ob die reformistische oder die revolutionäre Strömung stärker war. Aber, und diese Beobachtung scheint widersprüchlich zu sein, obwohl sie es nicht ist, während die sozialistische Aktion den liberalen Staat als Ausdruck der bürgerlichen Klasse bekämpfte, entwickelte sie sich im Wesentlichen in konservativem Sinne. Indem sie das antimonarchistische Präjudiz – vor allem nach der Thronbesteigung Vittorio Emanueles III. – aufgab, ermöglichte die sozialistische Partei das Experiment einer formal demokratischen Phase der Monarchie bis zur Einführung des allgemeinen Stimmrechts und des Verhältniswahlrechts. Zudem hat die sozialistische Partei durch die Bindung ihres Schicksals an das der Großindustrie dazu beigetragen, eine Gruppe von Interessen zu konsolidieren, die nach und nach zu den Hauptfaktoren der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Regierungen wurde. Indem sie schließlich ihre politische Tätigkeit auf verbale Proteste und allgemeine Behauptungen beschränkte, ohne jemals Regierungsverantwortung zu übernehmen, hat sie dazu beigetragen, den kleinbürgerlichen und im Grunde reaktionären Geist der politischen Klasse zu erhalten; und folglich eine allgemeine Leitlinie, die einer möglichst weitreichenden Demokratie und der Beteiligung der Massen an der politischen Macht feindlich gesinnt ist. Die sogenannte „Conquista Regia“, der „königliche Eroberungszug“, mit dem die Einigung Italiens erreicht wurde, wurde damit bis zur Hypothekisierung des Geistes der Erneuerung fortgesetzt, die ein Ergebnis der sozialistischen Bewegung sein sollte und im Keim erstickt wurde. Die revolutionäre Rhetorik der Sozialisten war nur sehr viel Schaum über ein wenig Bier im Glas. Als die Aktionen der Führung und die Vorbereitung ihren Höhepunkt in einem revolutionären Ausgang fanden, kam es zu jenen Austritten, die ihre Kraft erschöpften. Zuerst kam Bissolatis Reformismus, dann Mussolinis interventionistischer Revolutionismus und schließlich Turatis Possibilismus – drei Phasen des Stillstandes, wobei jede auf ihre Weise eine konservative Grundhaltung und den typisch italienischen „trasformismo“e darstellt. Den Hauptgrund muss man in der Natur der Wirtschaft suchen, für die diese Erscheinungen stehen. Wie schon gesagt wurde, ist die Wirtschaft der

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Als „trasformismo“ wird eine politische Praxis bezeichnet, die auf die Reduktion ideologischer Differenzen und die Bildung breiter, flexibler Mehrheiten der moderaten Parteien (Grande Centro) zielt. Als Erfinder gilt der italienische Politiker Agostino Depretis (1813–1887), der zwischen 1876 und 1887 mehrfach Premierminister war. Im zeitgenössischen Sprachgebrauch wird der Begriff mit Bezug auf politische Gruppen verwendet, die zur Vergrößerung der eigenen Mehrheit Kompromiss und Klientelismus nutzen und nur geringen Wert auf inhaltliche Kohärenz und parlamentarischen Streit legen. Siehe auch Anmerkung b im Text „Geist und Wirklichkeit“.

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Großindustrie in Italien verspätet, unentschlossen, unreif und nur auf lokaler Ebene entwickelt. Zwei Drittel der Fabrikarbeiter sind an andere häusliche Beschäftigungen gebunden. Viele Anhänger des Sozialismus gehören der Bürokratie und der Kleinindustrie an; es gibt keine Verbindung zwischen den sozialistischen Arbeitern und den sozialistischen Bauern. Die verschiedenen Strömungen zeigten folglich nicht nur die verschiedenen Ansichten der Führer und betonten nicht nur die Methodenfragen, sondern interpretierten von Mal zu Mal den allgemeinen Gemütszustand, der unbeständig und verwirrt war, weil die Wirtschaft entsprechend unbeständig und verwirrt war, ohne eine sichere Stütze und ohne Beständigkeit der Interessen. 1923 vertreten die sozialistischen Unitarier jene Masse der wirtschaftlichen Interessen der Welt der Arbeit, die sich in Fabriken, Gewerkschaften und Kooperativen konzentrierte; hinzu kamen das Kleinbürgertum und die Heimarbeit, die den sozialistischen Grundgedanken anhängen, aber beabsichtigen, eine eigene Methode für deren Verwirklichung zu entwickeln. Die Maximalisten vertreten den weniger beständigen und geringer qualifizierten Teil der Arbeiter, der den schnellen Veränderungen stärker ausgesetzt ist und zur direkten Aktion neigt. Unter den Kommunisten finden schließlich diejenigen ihren Platz, die am konsequentesten und am gewalttätigsten sind; diejenigen, die immer noch unter dem Einfluss Russlands stehen und müde vom beschränkten Reformismus der Unitarier und dem wortreichen Revolutionismus der Maximalisten sind. Sie tendieren zur Umkehrung der derzeitigen politischen Werte und zu einer totalen Eroberung der Wirtschaft durch das Proletariat. Auf politischer Ebene nähern sich die Erstgenannten der englischen Labour-Partei oder der deutschen Sozialdemokratie; ihrer Methode nach befinden sie sich im Wesentlichen innerhalb des demokratischen Lagers. Die Zweiten hingegen halten gleichzeitig an der revolutionären und der demokratischen Aktion fest; und die zuletzt Genannten sind ausschließlich revolutionär und verfolgen ein diktatorisches leninistisches Programm. Nachdem sich der Kampf für die Reformen des Arbeitsgesetzes zum Teil erschöpft hatte, das sozialistische Monopol der Vertretung der Arbeiterschaft überholt war und die politische Tätigkeit von der rein gewerkschaftlichen im Rahmen ihrer Organisation unterschieden war, hätte ihr Hauptpunkt der politische Kampf im eigentlichen Sinne sein müssen. Aber auf dieser Ebene wurden die Sozialisten von theoretischen und taktischen Vorbehalten erdrückt. Sie weigerten sich, es ihren Glaubensgenossen aus dem Rest Europas gleichzutun und im richtigen Moment den Rubikon der Zusammenarbeit mit dem Bürgertum zu überschreiten.

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3. Am 18. Januar 1919 kam es zu einem Aufruf „an alle freien und starken Menschen“,2 der von einem Programm und von einem Statut begleitet wurde. Es war der erste Ausdruck einer neuen politischen Partei, des Partito Popolare Italiano. Nach acht Jahren ihres Daseins und des Kampfes bleiben der Aufruf, das Programm und das Statut unverändert, während die verschiedenen Phasen, die die neue Partei durchlaufen hat, für ihre Neuheit, Vitalität und Stärke stehen.

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Anmerkung Luigi Sturzo: „An alle freien und starken Menschen, die in dieser schweren Stunde die Pflicht spüren, an höchsten Zielen des Vaterlandes ohne Vorurteile und vorgefasste Meinungen mitzuwirken, richten wir diesen Aufruf, damit sie gemeinsam mit uns die Ideale von Gerechtigkeit und Freiheit vertreten. Und während sich die Vertreter der Siegernationen treffen, um die Grundlagen für einen gerechten und dauerhaften Frieden zu schaffen, müssen die politischen Parteien aller Länder dazu beitragen, jene Tendenzen und Prinzipien zu verstärken, die jede Gefahr von neuen Kriegen beseitigen, den Nationen eine beständige Ordnung geben, die Ideale der sozialen Gerechtigkeit verwirklichen und die sozialen und materiellen Lebensbedingungen in allen Ländern verbessern, die durch das ehrwürdigen Band des Völkerbundes vereint sind. Und wie es nicht richtig ist, die Vorteile zu gefährden, die im Kampf für die Verteidigung der Rechte der Völker und für die die höchsten bürgerlichen Ideen mit vielen Opfern errungen wurden, so ist es eine notwendige Pflicht der gesunden Demokratien und der Volksregierungen, ein wirkliches Gleichgewicht zwischen den nationalen Rechten mit den höchsten internationalen Interessen und den bleibenden Grundlagen des friedlichen Fortschritts der Gesellschaft zu finden. Deshalb vertreten wir das politisch-moralische Programm, das ein christliches Erbe ist und in erhabenen Worten in Erinnerung gerufen wurde und heute von Wilson als wesentliches Element für die zukünftige Weltordnung verteidigt wird. Wir lehnen den Imperialismus ab, der Herrenvölker schafft und zu gewalttätigen Konflikten führt. Deshalb fordern wir, dass der Völkerbund die gerechten nationalen Ansprüche anerkennt, die allgemeine Abrüstung beschleunigt, die Geheimhaltung der Abkommen abschafft, die Freiheit der Meere sichert, auf internationaler Ebene für eine soziale Gesetzgebung, Gleichberechtigung bei der Arbeit und Religionsfreiheit ohne sektiererische Einschränkungen eintritt und die Macht zu Sanktionen und Mittel zum Schutz der Völker vor der Unterdrückung durch stärkere erhalte. Für die beste Zukunft unserer Heimat Italien, die innerhalb ihrer Grenzen und den sie umgebenden Meeren sicher ist und die durch die Tapferkeit ihrer Söhne in den Opfern des Krieges und mit dem Sieg ihre Einheit vollendet und ihr nationales Bewusstsein gefestigt hat, widmen wir unsere Tätigkeit voller Enthusiasmus und mit der Festigkeit klarer Ziele. Einen zentralistischen Staat, der dazu tendiert, jede organische Kraft sowie jede bürgerliche und individuelle Tätigkeit einzuschränken, wollen wir auf der konstitutionellen Ebene durch einen wahrhaftigen Volksstaat ersetzen, der die Grenzen seines eigenen Wirkens anerkennt, die natürlichen Kerne und Organe respektiert – die Familie, die Klassen, die Kommunen –, der die individuelle Persönlichkeit respektiert und private Initiativen ermutigt. Und damit der Staat der aufrichtigste Ausdruck des Volkswillens

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Zunächst übernahm der Partito Popolare Italiano mit seiner Gründung eine sehr wichtige nationale Aufgabe, deren Verwirklichung ihr allein schon einen Platz in der Geschichte gesichert hätte. In einer Zeitspanne von fünfzig Jahren hatten die italienischen Katholiken sich an die im „Non expedit“ formulierte Empfehlung gehalten, sich politisch zu enthalten. Diesem Rat einer kirchlichen Kongregation in Rom aus dem Jahr 1867 ging die politische Haltung voraus, die vor den Kriegen von 1859/60 von einer Gruppe u ­ nnachgiebiger









ist, fordern wir eine Reform des Parlaments, die auf dem Verhältniswahlrecht beruht, wobei auch das Wahlrecht für Frauen nicht ausgeschlossen wird, und einen gewählten Senat als direkten Vertreter der nationalen akademischen, administrativen und gewerkschaftlichen Organe. Wir wollen eine Reform der Bürokratie und der Rechtsordnung und die Vereinfachung der Gesetzgebung. Wir fordern die juristische Anerkennung der Klassen, die kommunale Selbstverwaltung, die Reform der Provinzialkörperschaften und eine möglichst weitgehende Dezentralisierung der regionalen Einrichtungen. Aber diese Reformen wären vergeblich und ohne einen Inhalt, wenn wir nicht als Seele der neuen Gesellschaft den wahren Geist der Freiheit fordern würden, der der bürgerlichen Reife unseres Volkes und der höchsten Entwicklung seiner Energien entspricht; Religionsfreiheit nicht nur für die Individuen, sondern auch für die Kirche und für die Ausübung ihrer spirituellen Mission in der Welt; Freiheit in der Bildung ohne staatliche Monopole; Freiheit für die Klassenorganisationen ohne Bevorzugungen und Privilegien, kommunale und lokale Freiheit im Sinne der ruhmreichen italie­ nischen Traditionen. Dieses Freiheitsideal soll nicht zur Desorganisation des Staates führen, sondern ist im Wesentlichen organisch durch die Erneuerung der Energien und der Handlungen, in deren Zentrum die Koordinierung, die Wertschätzung, die Verteidigung und fortschreitende Entwicklung stehen müssen. Diese Energien müssen zu lebendigen Keimzellen werden, damit sie die zersetzenden Strömungen, die Agitationen im Namen eines systematischen Klassenkampfes und der anarchistischen Revolution aufhalten und verändern können. Sie müssen aus der Volksseele die konservativen und fortschrittlichen Elemente schöpfen und der Autorität den Wert einer Kraft verleihen, die gleichzeitig für die Volkssouveränität und für die soziale Zusammenarbeit steht. Die notwendigen und dringenden Reformen im Bereich der sozialen Fürsorge und Wohlfahrt, der Arbeitsgesetzgebung, der Herausbildung und dem Schutz des Kleinbesitzes müssen der Aufwertung der arbeitenden Klassen dienen, während das Anwachsen der wirtschaftlichen Kräfte des Landes, die Steigerung der Produktion, die feste und gerechte Regelung der Zollsysteme, die Steuerreform, die Entwicklung der Handelsmarine, die Lösung des Problems des Südens, die innere Kolonisierung der Latifundien, die Neuordnung des Schulwesens und der Kampf gegen den Analphabetismus zur Überwindung der Krise der Nachkriegszeit und zur Ernte der rechtmäßigen und erhofften Früchte des Sieges beitragen werden. Wir präsentieren uns im politischen Leben mit unserer moralischen und sozialen Flagge und lassen uns von den festen Prinzipien des Christentums inspirieren, das die große zivilisatorische Mission Italiens bestimmte, eine Mission, die auch heute in der neuen Ordnung der Völker aufleuchten muss gegenüber der Gefahr neuer Imperialismen und anarchistischem Aufruhr in gestürzten Großreichen, gegenüber den

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Katholiken aus dem Piemont vertreten wurde, die im Streit über Cavours Innen- und Kirchenpolitik die Parole „weder gewählt noch Wähler“ ausgab und damals damit erfolgreich war. Aus der Nichtbeteiligung am politischen Leben wurde daraufhin eine Art des religiösen Protests. Sie wurde in einigen Gegenden Norditaliens betont und vor allem vom Klerus und den organisierten Laien der katholischen Bewegung beachtet. Viel später, im Jahr 1895, übernahm der Heilige Stuhl aufgrund von antiklerikalen Repressalien der damaligen Regierung die direkte Verantwortung dafür und erklärte, dass „das ,Non expedit‘ ein Verbot darstelle“. Erst 1904 wurde dieses Verbot von Pius X. gelockert. Von nun an wurden in besonderen Fällen Ausnahmen gemacht, aber obwohl diese Bresche bei den politischen Wahlen von 1909 und 1913 erweitert wurde,3 blieb das Verbot und dessen kirchlicher Charakter im Wesentlichen bestehen, was





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sozialistischen Demokratien, die zur Materialisation aller Ideale neigen sowie gegenüber alten sektiererischen Liberalismen, die mit der Macht des Organismus des zentralisierten Staates gegen neue freiheitliche Strömungen Widerstand leisten. An alle moralisch freien und sozial fortgeschrittenen Menschen, an diejenigen, die aus Vaterlandsliebe den Sinn für Gerechtigkeit und für nationale Rechte und Interessen mit einem gesunden Internationalismus zu verbinden wissen, an diejenigen, die die moralische Tugend unseres Volkes schätzen und respektieren, richten wir im Namen des Partito Popolare Italiano diesen Aufruf und fordern sie auf, sich unserem Programm anzuschließen. Rom, 18. Januar 1919“ Die vorläufige Kommission: Giovanni Bertini, Abgeordneter; Giovanni Bertone; Stefano Cavazzoni; Achille Grandi; Graf Giovanni Grosoli; Giovanni Longinotti, Abgeordneter; Angelo Mauri, Abgeordneter; Umberto Merlin; Giulio Rodinò, Abgeordneter; Graf Carlo Santucci, Don Luigi Sturzo, politischer Sekretär. Anmerkung Francesco Malgeri: In der englischen und der deutschen Ausgabe von „Italien und der Faschismus“ erschien dieser Aufruf nicht in einer Fußnote, sondern war Bestandteil des Textes. Anlässlich der Wahlen vom 6.11.1904 gestattete Pius X. den Katholiken, sich auf Empfehlung der Bischöfe zu den Wahlurnen zu begeben, wenn dies zur Unterstützung katholischer oder gemäßigter Kandidaten nötig sein sollte, um damit der Gefahr möglicher Wahlsiege subversiver Parteien entgegenzutreten. Dieses Zugeständnis, von dem man sagte, dass es „von Fall zu Fall“ gemacht wird, wurde 1905 von der Enzyklika „II fermo proposito“ eingeführt und bei den Wahlen 1906 und in einem noch größeren Maße 1909 genutzt, bei denen drei „katholische Abgeordnete“ gewählt wurden; Filippo Meda, Ivanoe Bonomi und Livio Tovini. Diese moderat-klerikale politische Linie wurde bei den Wahlen 1913 mit dem Gentiloni-Pakt noch konkreter umgesetzt, wodurch die Unterstützung von deren Verpflichtung abhängig war, einige programmatische Postulate zu verteidigen, unter anderem die Garantie der konstitutionellen Ordnung, den Schutz der Privatschulen, des Religionsunterrichts, der Integrität der Familie usw. Die Wahlstimmen der Katholiken waren entscheidend für den Erfolg der Regierungskandidaten; es wurden 228 Abgeordnete mit der Unterstützung der Katholiken gewählt. Anmerkung Francesco Malgeri: Siehe Gabriele de Rosa, Storia politica dell’azione cattolica, Bari 1954, S. 19–37.

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jede Tätigkeit der Katholiken im öffentlichen Leben wegen der unvermeidbaren Folgen einschränkte, die ein derartiges Verhalten auf religiöser Ebene und im Verhältnis von Kirche und Staat verursachen konnte. Die Beteiligung Italiens am Weltkrieg ließ die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen der Haltung des Heiligen Stuhls, der aufgrund der Natur seiner hohen religiösen Funktion absolut neutral sein musste, und der Haltung der Italiener, die katholischen Verbänden angehörten und nicht nur ihrer Bürgerpflicht nachkommen, sondern sich auch an der moralischen Anstrengung des Vaterlandes beteiligen mussten, klarer erscheinen. Die Ernennung eines Katholiken, des Abgeordneten Meda, 1916 zum Finanzminister des Kabinetts Boselli für die nationale Einheit, war ein Zeichen für eine neue Situation.f Die logischen Folgen der historischen Gegebenheiten wurden gleich nach dem Waffenstillstand von einer Gruppe von Katholiken gezogen, die bei einem Treffen mit dem Autor dieses Buches auf die Idee kamen, eine eigene Partei zu gründen, die von den anderen politischen Kräften, der kirchlichen Autorität und den katholischen Verbänden unabhängig sein sollte. Das Programm enthielt jedoch jene Menge an religiösen und ethischen Prinzipien, die – ohne den politischen Charakter dieses neuen Organismus zu beeinträchtigen – aus ihm einen leicht erkennbaren Ausdruck des sozialen Katholizismus machte. Dieses Ereignis bedeutete die Beendigung des ablehnenden Kampfes der Katholiken gegen den Einheitsstaat, der das Land um die politische Zusammenarbeit mit den einzigen Elementen gebracht hatte, die in der Lage waren, eine ihren inneren Überzeugungen entspringende Moralität ins öffentliche Leben einzubringen. Und dass es sich um eine bemerkenswerte politische Kraft handelte, sah man an den ersten allgemeinen Wahlen im November 1919, bei denen der Partito Popolare Italiano auf einen Schlag 99 von 508 Sitzen errang, ungefähr ein Fünftel der Abgeordnetenkammer. Es ist kein Geheimnis, wie die Partei in wenigen Monaten eine derartige Position erreichen konnte. All die Männer, die in mehr als dreißig Jahren im Umfeld der Kooperativen oder anderer wirtschaftlicher oder gewerkschaftlicher E ­ inrichtungen katholisch-sozialer Art gearbeitet hatten, in Zirkeln und Kulturvereinen,

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Der italienische Abgeordnete Filippo Meda (1869–1939) gehörte zu den Gründern des Partito Popolare Italiano. Er gilt als Vertreter des katholischen Liberalismus. Dieser politischen Bewegung zufolge ist die katholische Doktrin vereinbar mit liberalen Prinzipien (Trennung von Staat und Kirche, bürgerliche Freiheiten, repräsentatives politisches System). Dafür müsse der Staat reformiert und auf die Basis christlicher Werte gestellt werden. Meda setzte sich folglich aktiv für die politische Beteiligung der Katholiken ein und war selbst Finanzminister im Kabinett Paolo Bosellis (1916– 1917). Siehe auch Anmerkung ggg im Text „Antifaschistisches Denken“.

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strömten in die neue Partei. Ihr traten auch viele bei, die angesichts der Tragödie des Krieges und der Nachkriegszeit fühlten, dass in ihrem Bewusstsein ihr religiöses Gefühl wiedererwachte, das oft von einer positivistischen Erziehung abgeschwächt worden war. Nicht alle waren im öffentlichen Leben unerfahren: Viele von ihnen hatten sich in der Verwaltung von Kommunen und Provinzen oder wohltätigen Einrichtungen betätigt, andere waren bereits Abgeordnete im Parlament oder in den Versammlungen der wichtigsten nationalen Verbände gewesen; viele waren Professoren, andere Journalisten und Schriftsteller: Man konnte also sagen, dass der neue Beitrag zum öffentlichen Leben ausgereift und sicher nicht improvisiert und chaotisch war. Seine intellektuellen Ursprünge lagen in der christlichen Demokratie, die nach 1895 in Italien auftrat und deren wichtigster Theoretiker der Ökonom Prof. Giuseppe Toniolo von der Universität Pisa war.g Der Partito Popolare ähnelt in Bezug auf sein Programm und seine Position der deutschen Zentrumspartei, aber sie achtete von Anfang an darauf, sich nicht als katholische Partei zu bezeichnen, weil die Religion nicht die Grundlage für politische Unterteilungen darstellen sollte, vor allem nicht in einem Land wie Italien, wo die Mehrheit katholisch ist. Auch wollte man jede Beziehung zu früheren politischen Tendenzen einer Fraktion von Katholiken ausschließen, die von ihren Gegnern Klerikale genannt wurden. Der Partito Popolare stellte sich auf den Boden der Verfassung und forderte die Erweiterung der Demokratie durch das allgemeine Wahlrecht, das Wahlrecht für Frauen, ein Verhältniswahlsystem, einen gewählten Senat und eine lokale Selbstverwaltung. Die entschiedensten Positionen des Programms sind die Freiheit der Religion, der Schulen, der Vereinigung und der Wirtschaft. Das Hauptziel des Kampfes der neuen Partei richtet sich gegen den staatlichen Zentralismus und die politischen Monopole, und sie befürwortet die Gründung von Regionen als unabhängige Einheiten. Auf internationaler Ebene ist sie ausgesprochen pazifistisch. Der erste Kongress der Popolari im Juni 1919 sprach sich gegen den Geist der Friedensverträge der Pariser Konferenz

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Giuseppe Toniolo (1845–1918) war Ökonomie- und Soziologieprofessor an den Universitäten Modena und Pisa. In Reaktion auf das utilitaristisch-individualistische Paradigma in der Ökonomie gehörte er der ethisch-christlichen Schule an, die das Wohlergehen der Menschen durch Staat und Gesellschaft über individuelles Streben stellt. Für dieses Denken sehr von Papst Leo XIII. geschätzt, wurde Toniolo zum Inspirator der Enzyklika „Rerum novarum“ (1891), dem Manifest der sozialen Lehre in der Kirche, mit der sich Leo XIII. gegen Arbeiterausbeutung und Sozialismus wandte. Siehe auch Anmerkung a im Text „Einleitung ‚Staatsreform und politische Richtungen‘“.

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und gegen die nationalistischen Tendenzen der verschiedenen Völker aus. Der Partito Popolare, der eindeutig für die Organisation der Klassen, die Integrität der Familie, das Privateigentum und insbesondere für den Kleinbesitz war, unterstützte und förderte die Arbeiterbewegung, die sich von der christlichen Ethik leiten ließ. Mit diesen geistigen und programmatischen Positionen und mit der erreichten politischen Stärke sah sich die Partei sofort im Parlament und im Land in schwierigste Manöver und erbittertste Kämpfe gezwungen. Nach den Wahlen vom November 1919, die nach dem Verhältniswahlsystem durchgeführt worden waren, positionierte sie sich in der Abgeordnetenkammer als Partei der Mitte, die erste seriöse und kompakte Partei der Mitte, die am Horizont des italienischen parlamentarischen Lebens auftauchte. Und angesichts der bemerkenswert hohen Anzahl der sozialistischen Abgeordneten (154) und der verfassungsmäßigen Opposition der nationalistischen und konservativen Rechten, die ungefähr 60 Abgeordnete umfassten, waren die Popolari ein notwendiges Element für die Bildung der Regierungsmehrheit. Folglich waren sie – mit mehr oder weniger Sympathie – an den Kabinetten von Nitti, Giolitti, Bonomi und Facta beteiligt, um eine Regierungsmehrheit zustande zu bringen, die in der Lage war, die Hammerschläge der Extremisten zwecks Zertrümmerung des parlamentarischen Organismus abzuwehren. Aber zwischen der Fraktion der Popolari und den Fraktionen der Liberal-­Demokraten (es waren vier verschiedene) bestand eine grundlegende Meinungsverschiedenheit, die die parlamentarische Mehrheit heterogen und schwankend machte, was zu mehreren Regierungskrisen führte: Es fehlten vor allem wesentliche Punkte für die Übereinstimmung der Programme; und drei Jahre lang kam es zu einer Reihe von politischen Anpassungen. Obgleich dies nur begrenzte Auswirkungen auf administrativer Ebene hatte, waren die Folgen auf politischer Ebene verhängnisvoll. Die ersten Divergenzen gab es in Bezug auf die Innen- und Sozialpolitik gegenüber den Sozialisten, denen der Ministerpräsident keinen Widerstand leisten wollte und mit extremer Toleranz begegnete. Das ging so weit, dass gesagt wurde, Nittis rechtmäßige Ehefrau sei der Partito Popolare und seine Geliebte die sozialistische Partei; es war eine Ménage à trois. Obwohl er erklärte, er habe den Staat ohne Verteidigung vorgefunden und obwohl er die Anzahl der Carabinieri verdreifachen und eine königliche Leibgarde gründen musste, um die effektive Arbeit der Polizei und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu gewährleisten, war Nitti den Sozialisten freundlich gesonnen oder gab gegenüber ihren Forderungen häufig nach. Er lehnte es vor allem ab, die moralischen, politischen und organisatorischen Strömungen zu unterstützen, die versuchten, die Macht der Sozialisten zu neu­ tralisieren. Unter diesen Strömungen waren die Popolari die stärkste und die entschlossenste. Die ­Konflikte zwischen den Popolari und den ­Sozialisten

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waren nicht nur in der ­Abgeordnetenkammer sehr lebhaft, sondern mehr noch im Bereich der Organisation und Propaganda. Wenn die Popolari 1919 unter ihrem Banner ungefähr 1,2  Millionen Stimmen sammeln konnten, während die Sozialisten 1,5 Millionen Stimmen bekamen, liegt das an ihrer konfrontativen Arbeit, vor allem auf dem Land und in den Fabriken. Die Popolari folgten einer strikt ethischen Methode: keine Gewalt, keine Gesetzeswidrigkeiten. Sie hatten unter Gewalt zu leiden, aber sie gaben nie der Versuchung nach, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Darin bestand ihre moralische Überlegenheit. Diese Position der Popolari kulminierte in den Streiks des öffentlichen Dienstes im Januar 1920, dem Streik der Post- und Telegrafenbeamten und dem Eisenbahnstreik, die von den Sozialisten vorangetrieben wurden. Der wirtschaftliche Charakter dieser Streiks verdeckte einen politischen Zweck. Die Popolari stellten sich dagegen. Die christlichen Arbeiterligen gewährleisteten mit der Unterstützung des Partito Popolare das Funktionieren des öffentlichen Dienstes, sodass man die Streiks als gescheitert betrachten konnte. Aber anstatt diejenigen zu unterstützen, die Widerstand leisteten, gab die Regierung das erste und das zweite Mal nach und schloss einen Kompromiss mit den Sozialisten, während die Organisatoren der christlichen Ligen Vergeltungsmaßnahmen der Genossen ausgesetzt waren und ihre Verdienste von der Bürokratie nicht anerkannt wurden. Unter diesen Bedingungen wurde der Austritt der Popolari aus Nittis Kabinett unvermeidlich; angesichts der Probleme im Parlament erfolgte die Trennung aber stufenweise: Zuerst kam der Rückzug der eigenen Männer aus dem Kabinett und später, als Nitti auf Toleranz gegenüber den ungesetzlichen Ausschweifungen der emilianischen und lombardischen Sozialisten beharrte, durch Gegenstimme.h Das gleiche Phänomen wiederholte sich unter Giolitti: Dieser wollte die Popolari auf seiner Seite haben und versprach ihnen die Schulfreiheit. Aber nach der Besetzung der Werkhallen versprach er den Sozialisten die Kontrolle über die Fabriken, wobei die Vertreter des christlichen Gewerkschaftsbundes von der Prüfung des Gesetzesprojektes ausgeschlossen waren, die in Überein-

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Sturzo bezieht sich hier, die ideologische Kluft zwischen Katholiken und Sozialisten betonend, auf die Divergenzen zwischen dem PPI und der liberalen Regierung Giovanni Giolittis über den Umgang mit den Sozialisten des PSI. Bereits 1919, während der ersten Regierung Francesco Saverio Nittis, versuchten die Sozialisten mittels politischer Agitationen, den politischen und gesellschaftlichen Umsturz herbeizuführen. 1920, auf dem Höhepunkt dieses „Biennio rosso“, wurde der Liberale Giovanni Giolitti erneut zum Regierungschef ernannt, um Italien aus der Krise zu führen, in die es nach dem Ersten Weltkrieg durch den gewaltsamen Konflikt zwischen revolutionären Sozialisten und radikalen Nationalisten geraten war.

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stimmung mit den Popolari die Aktienbeteiligung der Arbeiter befürworteten. Der Konflikt fand seinen Höhepunkt in einem doppelten Antrag in der Abgeordnetenkammer, aber er wurde nicht fortgesetzt, weil die politische Situation komplizierter wurde. 4. Nun gewinnt die faschistische Partei auf der Ebene der politisch organisierten Massenparteien an Bedeutung. Auch diese Partei ist neu; sie wurde im März 1919 gegründet. Aber eineinhalb Jahre lang führte sie nur ein örtlich beschränktes Dasein. Ursprünglich ein Kriegsprodukt, enthielt sie den Gärstoff von D’Annunzios Arditismus und des interventionistischen Sozialismus. Da sie zum Zeitpunkt des bolschewistischen Mythos entstand, spiegelte sie dessen Gefühle wider. Die Fixpunkte in Mussolinis Programm von 1919/20 waren folgende: „Verfassunggebende Nationalversammlung, die als italienische Sektion der verfassunggebenden internationalen Versammlung der Völker verstanden wird; Proklamation der italienischen Republik; Dezentralisierung der Exekutivgewalt; Beschränkung der Staatsgewalt auf die Führung des bürgerlichen und politischen Lebens der Nation; Abschaffung des Senats und der politischen Polizei; von der Exekutivgewalt unabhängige Wahlämter; Abschaffung aller Standestitel der Fürsten, Herzöge usw.; Abschaffung der Zwangsrekrutierung, allgemeine Abrüstung und Verbot der Herstellung von Kriegswaffen für alle Nationen; Gedankenfreiheit, Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Pressefreiheit, Freiheit der Propaganda, der individuellen und kollektiven Agitation; Auflösung der Industrie- und Finanzaktiengesellschaften, Auflösung der Banken und der Börsen; Erfassung und Verminderung des Privatvermögens; Beschlagnahmung der unproduktiven Einkünfte; Verbannung der Schmarotzer, die sich nicht in der Gesellschaft nützlich machen; Übergabe der Ländereien zur Bewirtschaftung an die Bauernverbände; Abschaffung der Geheimdiplomatie, offene internationale Politik, die von der Solidarität der Völker und deren Unabhängigkeit im Bund der Staaten inspiriert ist.“ Wer heute sieht, dass Mussolinis Politik das Gegenteil der Aussagen seines Programms von 1919 ist, sollte sich nicht wundern. Mehr als aus Ideen ist der Faschismus aus Gefühlen hervorgegangen, und er nutzte je nach den Umständen die Gemütszustände seiner Gefolgschaft und seiner Anhänger. Anfangs tendierte er dazu, Einfluss auf die sozialistischen Massen zu nehmen, die Mussolini nach dem Krieg wieder für sich zu gewinnen versuchte. Seine ganze Kampagne in den Jahren 1919 und 1920 war eine Konkurrenz für die Sozialisten. Bei Fabrikbesetzungen zeigte er sich nicht nur gegenüber der Initiative, die die Arbeiter ergriffen hatten, positiv eingestellt, sondern verherrlichte diese als Zeichen einer neuen Wirtschaftsordnung. Eingedenk des Aufstands in der Romagna, den er vor dem Krieg angeführt hatte, drohte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit im Popolo d’Italia mit dem Versuch, Aufstände und

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Feldzüge zu unternehmen.i Als es Anfang Juli 1919 zu Volksaufständen gegen die Teuerung kam, stimmte er nicht nur den Massen zu, die die Geschäfte plünderten, sondern versuchte auch zu beweisen, dass die Urheber nicht die Sozialisten gewesen waren, sondern die Faschisten; und teilweise stimmte das. Während der Streiks von 1920 hetzte Mussolini die Massen der Arbeiter mit dem Ruf „Die Eisenbahn den Eisenbahnern!“ zum Kampf bis aufs Äußerste auf und beschuldigte die Sozialisten, keine ernsthaften Revolutionäre zu sein. Die Bauernbewegung für die Übernahme der Ländereien fand 1919 in Mussolini eine neue Stütze. Er schrieb: „Wir sind dafür, dass das Land den Bauern gehört. Der Staat ist etwas, was der Bauer nicht kennt. Der Bauer möchte und soll sein Land haben.“ Der Faschismus erscheint also in diesen zwei Jahren als ein verkleideter Sozialismus im Namen des Sieges und der nationalen Interessen, während der Sozialismus ein verkleideter Bolschewismus im Namen der Neutralität im Krieg und der Internationale der Arbeiter war. Der Faschismus sorgte mit diesem Auftreten zwar für Aufsehen, vermehrte damit aber nicht die Zahl seiner Anhänger, die nicht so sehr aus der Arbeiterklasse kamen, sondern vor allem aus dem Kleinbürgertum und der Schar der arbeitslosen Kriegsteilnehmer, sodass es eine grundlegende Divergenz zwischen den Ideologien gab, zu denen der Faschismus sich bekannte, und den Interessen, die er in Wirklichkeit vertrat. Er trat auf der Stelle und hatte seine endgültige Orientierung noch nicht gefunden. Es ist der alte Giolitti, der diesen Kräften einen Ausweg bietet. Ende des Jahres 1920, als der tote Punkt der Fabrikbesetzungen überwunden war, ließ er im Land den Eindruck entstehen, es gäbe eine Vereinbarung zwischen ihm und den Sozialisten, und er dachte, er hätte eine weitere Waffe gegen diese in der Hand, um den gemäßigten Teil der Sozialisten zur Zusammenarbeit zu zwingen, von der er seit langer Zeit träumte. Dabei konnte er sich nicht auf die Popolari stützen, von denen er wusste, dass die Mehrheit ihm gegenüber wegen seiner Regierungsmethoden feindlich eingestellt war und wegen des Misstrauens, das der Verfasser, der damals der politische Sekretär der Partei war, ihm gegenüber immer gezeigt hatte. Daher dachte Giolitti daran, sich auf die Faschisten zu stützen, aber er hatte die Absicht, sich ihrer zu bedienen

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Zu Beginn seiner politischen Karriere war Mussolini Mitglied der Sozialistischen Partei und ab 1912 Chefredakteur des zentralen Parteiorgans „Avanti“. Wegen nationalistischer Äußerungen wurde er 1914 aus der Partei ausgeschlossen. Kurz darauf gründete er die revolutionär-interventionistisch ausgerichtete Zeitung „Il Popolo d’Italia“. Welche Rolle Mussolini als Sozialist spielte, ist allerdings umstritten. Siehe dazu ausführlich: Emilio Gentile/Spencer M. Di Scala (Hg.), Mussolini Socialista, Rom 2015.

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und sich im passenden Moment von ihnen zu lösen, nachdem er genug Stoff in der Hand gehabt hätte, um ihre Führer bloßzustellen und ihrer Tätigkeit die Wirkung zu nehmen. Mit einem derartigen Plan, der seinem bekannten Regierungssystem entsprach, organisierte er nationale Blöcke für die P ­ rovinzialund Kommunalwahlen im Herbst 1920 gegen die Sozialisten und die ­Popolari, die getrennt voneinander Wahlkampf machten. Die Faschisten Ober- und Mittelitaliens nahmen daran nicht nur mit Kandidaten teil – mit einem ziemlich beschränkten Wahlergebnis –, sondern, was viel wichtiger war, sie traten auch mit bewaffneten Sturmtruppen auf, welche die Leute auf dem Land und in der Stadt einschüchterten. Die Waffen kamen teilweise von den Arditi aus Fiumej und waren zum Teil heimlich aus Militärdepots entwendet worden. Die Polizei erweckte zwar den Anschein, die ungesetzlichen und gewalttätigen Aktionen zu unterbrechen und zu verfolgen, aber sie kam fast immer zu spät und fand die Verantwortlichen so gut wie nie. Der Ausgang der Provinzial- und Kommunalwahlen in den Großstädten und die ersten Versuche der Sturmtruppen ermutigten die kapitalistischen Klassen und die reaktionären Strömungen; und sie waren ausschlaggebend, um ein Jahr später Neuwahlen zu fordern. Dazu trugen die schwerwiegenden Ereignisse von Bologna und Ferrara4 bei, wo die siegreichen Sozialisten ihre Gegner mit gewalttätigen und blutigen Vergeltungsmaßnahmen angriffen. Giolitti verfolgte weiterhin seine Politik mit doppeltem Boden, das heißt, er bot den Faschisten echte Unterstützung an, leugnete dies aber mit Worten; gleichzeitig unterstützte er die Sozialisten mit Worten, aber nicht mit Taten, in der Hoffnung, die Partei zu zersprengen. Währenddessen trennten sich die Sozialisten von den Kommunisten, während sich die Faschisten allmählich den Nationalisten näherten. Giolitti glaubte damals, der Zeitpunkt für die Auflösung der Abgeordnetenkammer sei gekommen: Einerseits stellte er damit die Faschisten, Nationalisten, Gutsbesitzer und Industriellen zufrieden, andererseits sollten die Abgeordneten der Sozialisten und der Popolari auf ein Minimum reduziert werden, und schließlich hoffte er auf die Unterstützung der gemäßigten Sozialisten.

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Freischärler um den Dichter Gabriele d’Annunzio hatten 1919 die bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zu Österreich-Ungarn gehörende Hafenstadt Fiume (heute Rijeka in Kroatien) besetzt, um den Anschluss an das Königreich Italien zu erzwingen. Nach den Kommunalwahlen am 31.10.1920 gab es in der Romagna und vor allem in Bologna und Ferrara Unruhen mit gewalttätigen Auseinandersetzungen (bei denen es eine gewisse Anzahl von Toten gab) zwischen Faschisten und Sozialisten, die bei den Wahlen erfolgreich abgeschnitten hatten. Anmerkung Francesco Malgeri: siehe Luigi Salvatorelli/Giovanni Mira, Storia d’Italia nel periodo fascista, Turin 1964, S. 167–171.

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Aber die Erwartungen des Alten aus Dronero erfüllten sich nicht: Als die Faschisten dank Giolitti und auf dessen Wunsch in die Abgeordnetenkammer kamen, stellten sie sich in der Frage des Vertrags von Rapallo sofort zusammen mit den Nationalisten gegen ihn. Die Popolari hatten die Zahl ihrer Abgeordneten von 99 auf 107 erhöht und sprachen sich schon damals offen gegen die Wahlmethoden der Regierung aus, die auf Einschüchterung und Gewalt setzten. Die Sozialisten waren, obwohl sie 20 Sitze verloren hatten, weiterhin unnachgiebig gegenüber einer Zusammenarbeit. Bei dieser Wahl erhielt Mussolini ein Abgeordnetenmandat. Bei seinem ersten Auftritt in der Kammer sprach er sich für eine Koalition der Massenparteien aus: Faschisten, Popolari und Sozialisten, während er gleichzeitig philokatholische und philonationalistische Erklärungen abgab. So warf er seine Netze für die Zukunft aus, ohne zu wissen, wohin sein Schicksal ihn führen sollte. 5. Nachdem Giolitti gestürzt war, ein fast konstantes Los der Minister, die Wahlen machen, wurde der Abgeordnete Ivanoe Bonomi zum Ministerpräsidenten ernannt, ein Reformsozialist, der im Krieg und in der Nachkriegszeit Minister für öffentliche Arbeiten und Kriegsminister gewesen war. Er war in der Verwaltung ein praktischer Mensch, hatte aber in der Politik ein unentschlossenes und schwankendes Temperament. Er machte jedoch ein paar Versuche, die squadristische Bewegung der Faschisten einzudämmen und den Kommunismus zu unterdrücken, aber er war den einen wie den anderen gegenüber schwach. Außerdem fehlte Bonomi die Unterstützung der bürgerlichen Klassen sowie der hohen Zivil- und Militärbürokratie, die den Faschismus schützte, dessen patriotische Aura vielen gefiel. Das Regierungshandeln musste Rücksicht auf den Gemütszustand der Philofaschisten nehmen; auch auf liberal-demokratischer Seite. Die Faschisten nutzen die Situation, um die Basis für eine stärkere und größere Organisation zu schaffen, die sich immer enger an den konservativen Strömungen orientierte. Um dem Minister Bonomi das Leben schwer zu machen, wirkten sie an Kämpfen der Staatsbeamten für Gehaltserhöhungen mit. Aber der Zusammenbruch der Banca Italiana di Sconto, die über Depots im Wert von vier Milliarden verfügte und ihre Schalter schließen musste, trug wesentlich mehr zur Erschütterung der allgemeinen Lage im Land bei. Man forderte das Eingreifen der Regierung, aber das Ministerium wollte keine Verantwortung übernehmen. Man verhinderte den Konkurs allein mit zweckmäßigen Dekreten, indem man ein Moratorium verhängte und die Liquidierung der Einrichtung beschleunigte. Auch die Banco di Roma drohte zusammenzubrechen und erhielt die ersten Hilfsmittel durch die Banca d’Italia, die dann von den folgenden Ministerien ergänzt wurden. Die Auswirkungen dieser Krise auf die Wirtschaft des Landes waren erheblich; die

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bürgerliche Klasse und die Geschäftsleute gaben der Regierung die Schuld und bezeichneten sie als unfähig. In dieser Situation, die durch das Verhalten der extremistischen Parteien von rechts und links noch verschlimmert wurde, beschloss die von Giolitti geführte parlamentarische Fraktion, die zur Regierungsmehrheit gehörte, am Vorabend der Wiedereröffnung der Kammer ihren Austritt aus dem Kabinett, was Bonomi zum Rücktritt zwang. Man sagte, dies habe etwas mit Einfluss aus dem Ausland wegen Bonomis Verhalten in Cannes, wo er den Vorschlägen Lloyd Georges und Briands zugestimmt hatte, und mit den Sorgen über die Konferenz von Genua zu tun. Aber der öffentliche Vorwand der Krise war die Forderung des Partito Popolare an die Regierung, endlich das Problem der Schulfreiheit anzugehen; das Projekt war von Minister Corbino entworfen worden und sollte demnächst diskutiert werden.k Das war in der Tat nur ein Vorwand, denn das Problem, das von den Popolari aufgeworfen wurde, war nicht neu; und der Vorschlag war schon von Giolitti akzeptiert worden, der seinerseits der Abgeordnetenkammer das von Minister Benedetto Croce verfasste Projekt präsentiert und auf dieser Grundlage die Zustimmung der Koalition des Kabinetts Bonomi herbeigeführt hatte. Mit dem Manöver wurde beabsichtigt, ein altes antiklerikales Vorurteil zu pflegen, um damit indirekt den Partito Popolare zu treffen, dessen zunehmende Bedeutung im Land sowie dessen parlamentarische Stärke Sorgen bereiteten. Die Anhänger Giolittis hatten sich so verhalten, um ihren Chef wieder zum Ministerpräsidenten zu machen. Die Popolari erklärten, sie könnten nicht mit Giolitti zusammenarbeiten. Diese Antwort wurde als eine Herausforderung aufgefasst, und dem Verfasser wurde die Hauptverantwortung für das Geschehen zugeschrieben, das „Veto gegen Giolitti“ genannt wurde. Der Verfasser hat nie ein Geheimnis aus seiner Abneigung gegen die Politik des alten Piemontesen und aus seiner negativen Einstellung zu einer Zusammenarbeit mit diesem gemacht, aber es stellte eine polemische Übertreibung dar, seiner Meinung die Kraft eines Vetos zuzuschreiben und folglich die geschmackvolle Frage aufkommen zu lassen, ob man im konstitutionellen Leben eines Staates die Macht eines Mannes tolerieren könne, der, ohne Parlamentarier zu sein, einhundert Abgeordnete in den Händen habe, die ihm gehorchen müssen.l

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Der italienische Physiker und Politiker Orso Mario Corbino (1876–1937) war 1921/22 Bildungsminister im Kabinett Ivanoe Bonomis und 1923/24 Wirtschaftsminister im Kabinett Benito Mussolinis. Siehe auch die Anmerkung m im Text „Antifaschistisches Denken“. Artikel 41 des Statuto Albertino, der italienischen Verfassung von 1861–1946, verbot das imperative Mandat („mandato imperativo“). Damit sollte die Freiheit der Abgeordneten geschützt werden.

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Die Wahrheit sah ganz anders aus. Die Abgeordneten der Popolari genossen damals und genießen noch heute ihre Unabhängigkeit innerhalb der Fraktion, sie waren und sind noch heute für ihre Tätigkeit im Parlament verantwortlich: Die Richtlinien der Partei und des Parteivorsitzenden hatten und haben gegenüber der Fraktion nur einen maßgebenden Charakter und stellten niemals einen Befehl dar. Das ging so weit, dass die Fraktion der Popolari handelte, ohne mit dem Schreibenden übereinzustimmen, als sie im Juni 1920 akzeptierten, mit Giolitti zusammenzuarbeiten und im Februar 1922 mit Facta. Die Verfassungsfrage, die von den Gegnern wieder vorgebracht wurde, war nicht fundiert, aber sie beeindruckte die öffentliche Meinung und verschärfte die Stimmung gegen die Popolari. Als Facta für das Amt des Ministerpräsidenten kandidierte, nachdem Giolitti weggefallen war, war die parlamentarische Gruppe der Popolari nicht in der Lage zu widerstehen und gab nach. Damit übernahm sie weitere Verantwortung für die Situation, denn Facta war ein schwacher Mann, der seiner Aufgabe nicht gewachsen und regierungsunfähig war. Man hielt ihn für einen Statthalter Giolittis, und er fühlte sich als solcher. Faktisch war er jedoch ein Gefangener der Rechten, das heißt der Konservativen, der Nationalisten und der Faschisten, die bereits eine geistige Einheit bildeten. Die Konferenz von Genua stellte eine politische Pause dar. Auch die Seeleute, die mit Streik drohten, unterbrachen jede Initiative. Um die Ruhe aufrechtzuerhalten, versuchte die Regierung, die Rädelsführer mit Versprechungen und Zugeständnissen zu zügeln, wurde dadurch aber geschwächt. Noch bevor die Konferenz zu Ende war, nahmen die Faschisten die Tätigkeit der Sturmtruppen gegen die Sozialisten und Popolari und gegen die katholischen Zirkel – zuerst in Arezzo (Mai 1922) – wieder auf. Es folgten die bewaffneten Besetzungen von Dörfern und Städten, wofür die von Bologna (Juni 1922) typisch sind, ebenso wie die von Treviso, Rovigo und Novara.m Die gegenseitigen Vergeltungsmaßnahmen zwischen Faschisten und Kommunisten und die parteiischen Agitationen, die man weder vorhergesehen noch unterdrückt hatte, breiteten sich überall aus und trafen Factas Kabinett; und die Mehrheit der Abgeordneten gab ihr Misstrauensvotum ab – alle außer den Demokratisch-Liberalen Giolittis, der konservativen Rechten und den Nationalisten. Die Faschisten enthielten sich. In diesem politischen Moment hätten die Sozialisten Verantwortung übernehmen und mit anderen demokratischen Parteien zusammenarbeiten müs-

m Sturzo bezieht sich hier auf die Praxis der Faschisten, diverse Dörfer und Städte Italiens zu besetzen: Die Faschisten versammelten sich in den betroffenen Orten, um den Verkehr zu blockieren oder Strafexpeditionen gegen Vertreter der örtlichen Institutionen durchzuführen.

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sen. Sie bekamen nicht nur Angebote, sondern Turati beantragte auch eine Audienz beim König und bekam sie. Man dachte, dies sei eine endgültige Geste, aber die Sozialisten hatten Angst vor ihren revolutionären Gruppierungen, die gegen die Faschisten hetzten, und lehnten schließlich die Regierungsbeteiligung ab. Die demokratischen Liberalen Giolittis ihrerseits ließen jeden Versuch scheitern, ein Kabinett der nationalen Konzentration zu bilden, das von Orlando oder von De Nicola geleitet werden sollte. Sie setzten wieder den Namen Facta durch, und zwar zu einem Zeitpunkt, als die sozialistischen und kommunistischen Gewerkschaften in einem geheimen Direktorium vereint waren und – aufgehetzt von Provokateuren – aus Protest einen Generalstreik der öffentlichen Dienste vom Zaun brachen. Das war für die Faschisten eine gute Gelegenheit. Sie waren nicht an den parlamentarischen Kämpfen beteiligt gewesen und liebäugelten mit einer groß angelegten ungesetzlichen Aktion; und sie bekamen sofort die Gelegenheit, mit ihren Sturmtruppen gegen die Streikenden vorzugehen. Sie wurden dabei von der Polizei und von Bürgern unterstützt, welche die Erpressung durch den Generalstreik im öffentlichen Dienst leid waren. Die proletarischen Organisationen merkten in diesen Tagen, dass sie den bewaffneten Sturmtruppen unterlegen waren; und das Bürgertum fühlte sich unterstützt und stellte Waffen, Geld sowie moralische und politische Unterstützung zur Verfügung. Dieser Vorfall, der in einigen Städten einen tragischen Schimmer des Bürgerkriegs aufwies, führte dazu, dass Facta wieder auf seinen Sessel gesetzt wurde und nun mehr denn je Gefangener der Faschisten war. 6. Man muss die psychologische Atmosphäre des Moments bedenken, die nur vergleichbar ist mit den großen undefinierbaren Suggestionen wie irrationaler Panik, die die Massen ergreift; von diesen gab es während des Weltkrieges in allen Armeen tragische Beispiele. In Italien flohen die Soldaten in Caporetto, von Panik gepackt, und niemand weiß, warum.n Dasselbe geschah 1922; Italien erlebte eine Suggestion: Es war das Phänomen einer irrationalen Angst und einer irrationalen Hoffnung. Angst vor dem Bolschewismus, obwohl dieser nach den Fabrikbesetzungen schon seit zwei Jahren überwunden war; und die Hoffnung, dass das energische und einschüchternde Vorgehen der bewaffneten Sturmtruppen das einzige Mittel zur Rettung

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Vom 24. bis 27.10.1917 fand nahe der slowenischen Stadt Cabaretto (Kobarid) die zwölfte Isonzo-Schlacht statt (battaglia di Caporetto). Die italienischen Truppen unterlagen rasch und erlitten hohe Verluste. Ursächlich waren einerseits ein Mangel an strategischer Klarheit seitens der Italiener und andererseits die Strategie der öster­ reichisch-deutschen Truppen, immer weiter in die noch von den Italienern besetzten Höhenlagen vorzustoßen. Dies sorgte bei den bereits kriegsmüden italienischen Mannschaften für Verwirrung und Panik.

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der bürgerlichen Wirtschaft und des konstitutionellen Staates gegenüber den Forderungen der Sozialisten und der Popolari sei. Dieser Gemütszustand, der vom Generalstreik und von der Parlamentskrise angeheizt wurde, wobei der Industrie- und Agrarkapitalismus die Gefahr einer Regierungsbeteiligung der Sozialisten sah, hielt das Land in Erregung und in Angst vor den nächsten Ereignissen, die nicht ausbleiben konnten. Folglich bekamen die Faschisten mehr Zustimmung von den Liberalen und wurden auch von der Regierung toleriert; während diese die Besetzungen von Rathäusern und Städten und die Angriffe auf Gewerkschaften und Arbeitergenossenschaften fortsetzten. Die bürgerlichen Schichten sahen weder die Gefahr noch die Ungesetzlichkeit der Methode der Gewalt; sie sahen nur die Stärkung ihrer eigenen Stellung, die sie mit der des Staates verwechselten. Faktisch war es der Staat, der an Autorität und Stärke verlor; es war die staatliche Regierung, die ihre Machtbefugnisse dem bewaffneten Aufstand überließ. Bei der Wahl zwischen einem Parlament, das nicht in der Lage war, eine Regierungskrise zu lösen, und der Straße, die die gegnerischen Parteien niederhielt, entschied sich die Regierung für die Straße. Diese Tatsache knüpfte an das Phänomen an, das wir im vorherigen Kapitel untersucht haben und das zum ersten Mal in den „strahlenden Tagen des Mai“ auftrat. Es ist eines der Symptome der allmählichen Lähmung der politischen Klasse, die ihr Schicksal hinnimmt: die Macht der Straße, die sich gegen ein machtloses Parlament durchsetzt; und die Regierung, die der Straße gegenüber nachgibt, weil sie kein Vertrauen mehr in das Parlament hat. So zwangen die faschistischen Besetzungen Facta zur Auflösung des Stadtrates von Mailand und der Kommissariate der „erlösten Gebiete“.o Diese sowie viele andere alltägliche Ereignisse versetzten das Land in Unruhe und führten zwischen September und Oktober 1922 zu einer Pressekampagne, die vom Corriere della Sera angeführt wurde und den Rücktritt des Kabinetts und die Bildung einer neuen Regierung mit einem versöhnlichen Charakter unter Einschluss der Faschisten forderte, um die illegalen Handlungen durch legale zu ersetzen. Damit sollten die Faschisten direkte Regierungsverantwortung übernehmen. Von diesem Tag an wurde das Kabinett Facta, das praktisch jede Autorität verloren hatte, als zurückgetreten betrachtet. Die Haltung der Sozialisten war sehr reserviert, was einerseits daran lag, dass sie noch unter dem Eindruck der Niederlage im erfolglosen General-

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Der Begriff „terre redente“ (wörtl.: erlöste Gebiete) bezeichnet die Gebiete, die nach der italienischen Einigung 1861 zu Italien gehörten. Man spricht im Deutschen auch von „befreiten Ländern“. Der Gegenbegriff lautet „terre irredente“ (wörtl.: unerlöste Gebiete) und meint jene Gebiete mit italienischsprachiger Bevölkerung, die nicht zu Italien gehörten, aber dem Land so schnell wie möglich angeschlossen werden sollten.

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streik standen. Außerdem bahnte sich bei ihnen schon eine neue Spaltung zwischen Maximalisten und Unitariern an. Auch die Popolari hielten sich aus der Krise heraus, für die sie keine Verantwortung übernehmen wollten, aber sie sahen etwas Verhängnisvolles heranziehen. In dieser Zeit brachten konservative katholische Elemente, deren Vertreter einige Senatoren waren, Kritik an der parlamentarischen Fraktion zum Ausdruck und verfassten einen offenen Brief an den politischen Sekretär.5 Und der Nationalrat des Partito Popolare griff mit einem Aufruf an das Land ein, der eines der stärksten Dokumente über die schwierige Situation bleiben wird und genau am Vortag des Marsches auf Rom verbreitet wurde. Er fasste die Stellungnahme der Partei und die zur Genesung des politischen Lebens in Italien für notwendig gehaltenen Maßnahmen zusammen.6 Der Ruf des Partito Popolare in diesem Appell, der einen bemerkenswerten Erfolg in der Presse hatte, wurde von denjenigen geteilt, denen die sich überstürzenden Ereignisse Sorgen bereiteten; aber die Führer der italienischen Politik waren nicht geneigt, seine Anregung anzunehmen. Das gilt vor allem für die Vertreter der wirtschaftlichen Interessen. Letztere, die sich in Industrieund Landwirtschaftsverbänden zusammengeschlossen hatten, die während der Ereignisse heftig agitierten, hatten gegenüber den Popolari wegen deren Wirtschaftspolitik eine sehr feindliche Haltung eingenommen. Im Bereich der Agrarpolitik hatte der Partito Popolare Italiano drei Jahre lang erbittert gekämpft, um vom Parlament die Gesetzesentwürfe über die Aufteilung und 5

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Am 18.9.1922 verfasste eine Gruppe von Senatoren der Popolari einen Brief an den Parteisekretär Luigi Sturzo, in dem sie erklärten, dass sie absolut und unerschütterlich gegen ein mögliches Abkommen zwischen dem Partito Popolare und der Sozialistischen Partei seien und forderten, alles aus der Partei zu entfernen, was deren „Reinheit beeinträchtigen, die Eintracht zerstören und ihren Wert und ihre Stärke diskreditieren“ könnte. Unter den Unterzeichnern finden wir Namen wie Conte Gio­vanni Grosoli und Carlo Santucci, die beide später, im Jahr 1923, das Centro Nazionale Italiano gründen sollten, eine Bewegung, welche die Politik des Faschismus unterstützte. Anmerkung Francesco Malgeri: Für den Text und die Geschichte des Briefes der Senatoren der Popolari siehe: Gabriele de Rosa, I conservatori nazionali, Brescia 1962, S. 83–88. Dieser Aufruf des Nationalrats des Partito Popolare vom 20.10.1922 enthielt eindeutige Aussagen über die politische Situation in Italien und schlug Neuwahlen „als Mittel für eine schnelle Erholung des normalen Lebens“ vor. „In der grauen Stunde der politischen Betrübnis – liest man im Aufruf des PPI – und angesichts der öffentlichen Kämpfe kann und darf man den Kampfposten nicht aufgeben, den wir wegen unserer Überzeugungen, die auf unserem Gewissen beruhen, eingenommen haben; man darf und kann nicht die Gesamtheit der Postulate und Ziele aufgeben, die der ideale und programmatische Zweck unserer Partei sind.“ Anmerkung Francesco Malgeri: Der Text dieses Aufrufs wurde veröffentlicht in Luigi Sturzo, Il partito popolare italiano, Band 2, Bologna 1956, S. 58–62.

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Urbarmachung des Großgrundbesitzes, landwirtschaftliche Schiedsverfahren, die Anerkennung der landwirtschaftlichen Kollektivverträge und über andere Maßnahmen verabschieden zu lassen, die geeignet waren, den Kleinbesitz zu schützen und zu entwickeln; außerdem hatte er den Kampf der Agrarverbände für die Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage unterstützt. In Bezug auf die Industrie hatte der Partito Popolare gegen die ultraprotektionistischen Zölle vom Juni 1921, gegen die übertriebenen Maßnahmen zugunsten der Handelsmarine sowie gegen die Währungsinflation gekämpft und die Ergänzungsabgabe sowie die Vermögenssteuer unterstützt. Dies waren eindeutige Gründe, um den Popolari das Vertrauen der Vertreter des Kapitalismus zu entziehen. Diese fürchteten ein mögliches Abkommen zwischen Popolari und Sozialisten im Parlament, durch das die beiden stärksten Parteien die Macht über das Land bekommen hätten; mit einer Regierung, deren Orientierung sie als gefährlich für die Volkswirtschaft erachteten. In Wirklichkeit bestand die Gefahr eines Abkommens zwischen Popolari und Sozialisten nur als polemische Waffe, was einerseits daran lag, dass die Sozialisten es ablehnten, sich an der Regierung zu beteiligen und erst recht, ihren revolutionären Theorien abzuschwören; ferner gingen die Ansichten der Popolari und der Sozialisten über die Wirtschaft stark auseinander, und in einigen Punkten standen sie sogar im Widerspruch. Aber der Vorwand, um das Land in Aufregung zu versetzen, war gut gewählt, und die Presse setzte die Kampagne hartnäckig fort. Und da der Einzug der Popolari ins Parlament und ihr Erfolg mit der Einführung des von ihnen befürworteten und unterstützten Verhältniswahlsystems zusammenfielen, wurde die Kampagne dagegen erneut aufgenommen. Die liberale Presse gab dem unschuldigen Wahlsystem die Schuld an allen Schwächen und Fehlern des Parlaments und bezeichnete dieses als Ursache der Regierungsinstabilität. Der Grund dafür lag noch tiefer als ihre Abneigung gegen die Popolari: Man wollte verhindern, dass sich die Wähler organisierten und zu den alten lokalen Klüngeln zurückkehrten. All dies bedeutete, der Ausübung der Volkssouveränität einen anderen Kurs zu verleihen. Der Konflikt bestand zwischen den alten oligarchischen Strömungen und den neuen Wogen des demokratischen Lebens. Man sprach folglich von Demagogie, oder besser, mit einem russischen Wort, von Bolschewismus: Es wurde extrem viel gegen den roten Bolschewismus der Sozialisten und den weißen Bolschewismus der Popolari geschrieben; und gegen deren möglichen Zusammenschluss. Folglich wandten sich die Liberal-Demokraten, die Industriellen und die Agrarier dem Faschismus zu und betrachteten diesen als die einzige Kraft, die sie retten konnte. So wurde das Märchen erfunden, der Faschismus habe Italien 1922 vor dem Bolschewismus gerettet. In Italien gab es weder dieses Phänomen, noch bestand diese Gefahr. Und wenn man unter Bolschewismus den Aufruhr und die Unruhen von 1919/20 bis zu den Fabrikbesetzungen

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versteht, so waren diese schon überwunden: Und die allgemeinen politischen Wahlen im Mai 1921 waren ein Zeichen für den Gemütszustand des Landes und die konstitutionelle Normalität. Im politischen Leben Italiens gibt es kein unaufrichtigeres Phänomen als die Angst vor dem Bolschewismus der reichen Klassen 1922: Diese hatten die Offensive gegen den Staat mit faschistischen Gewaltakten ergriffen und mussten sowohl die Offensive als auch die Gewalt rechtfertigen; dies war nicht möglich, ohne von einer bevorstehenden Bolschewisierung Italiens zu sprechen. So sehr sie auch von dieser feindlichen Strömung bedrängt wurden, hielten die Popolari doch standhaft an ihren Überzeugungen fest. Sie ließen zu, dass sich einige ihrer Anhänger von ihnen trennten, sich die konservative Strömung der Katholiken an die Seite des Faschismus stellte und einige Sympathien aus Kirchenkreisen ihnen gegenüber abnahmen. All dies war weit davon entfernt, dem Partito Popolare zu schaden, sondern diente dazu, seine Originalität und Unabhängigkeit zu betonen und seinen demokratischen Charakter deutlich hervorzuheben. So nahmen die drei Massenparteien, die Sozialisten, die Popolari und die Faschisten – jede auf ihre Weise – eine Kampfposition gegen die „herrschende Klasse“ ein. Alle drei schlugen vor, diese durch ihre Reformpläne, ihre Männer und ihre Doktrinen zu ersetzen. Wir werden im zweiten Teil dieser Arbeit sehen, wie sich die Ereignisse entwickelten.

Der Faschismus an der Macht: Der Marsch auf Rom 1. Der Handstreich — 2. Der Anfang der Diktatur — 3. Der faschistische Staat  — 4. Der Partito Popolare nimmt sich seine Freiheit zurück — 5. Die Abschaffung des Verhältniswahlrechts und der Rücktritt des Parlaments 1. Dass eine politische Partei ihre eigenen bewaffneten Sturmtruppen bildet und mit dem Ziel, die Regierungsmacht zu übernehmen, und mit der Aussicht, gegen reguläre Truppen zu kämpfen, in Richtung der Hauptstadt marschiert und dies im Namen des Vaterlandes, ist in einem modernen Staat unfassbar. Die Geschichte kennt Aufstände auf Plätzen, Volksrevolutionen, Pronunciamientosp des Militärs, aber nichts wie die Ereignisse vom Oktober 1922. Wenn wir die weit entfernt liegenden Ursachen und die Vorgeschichte der Erhebung des Faschismus nicht im ersten Teil dieses Buches beschrieben hätten, bliebe dieses Ereignis absolut unerklärlich. p

Von hohen Offizieren ausgehende Aufstände. Siehe auch Anmerkung n im Text „Der totalitäre Staat“.

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Im Herbst 1922 war die Situation des Kabinetts Facta nicht nur erschüttert, sondern unhaltbar. Er wartete die Wiedereröffnung der Kammer im nahen November ab, um seinen Rücktritt zu erklären, zumindest ging dieses Gerücht um. Als mögliche Nachfolger wurden die Namen Giolitti und Salandra genannt, von denen der eine von den Liberal-Demokraten unterstützt wurde, der andere von den rechten Liberalen und von den Nationalisten. Jeder erkannte die Notwendigkeit an, die Faschisten, die von Perugia bis zu den Alpen die Straße beherrschten, in das neue Kabinett einzubeziehen. Facta bevorzugte unter der Hand die Rückkehr Giolittis, obwohl seine Bemühungen keine Wirkung hatten. Senator Lusignoli, damals Präfekt von Mailand, hielt geheime Verbindungen zu Giolitti und Mussolini und bemühte sich, zwischen den beiden eine mögliche Einigung zu erreichen.q Einige Faschisten in Rom ließen den Abgeordneten Orlando glauben, Mussolini sei bereit, ihn zu begünstigen; und dies missfiel dem ehemaligen Präsidenten Siziliens nicht, weil er wieder in das Rennen einsteigen wollte, das er im Juli aufgrund seiner eigenen Unentschlossenheit verloren hatte.r Salandra, der von den Nationalisten unterstützt wurde, war sich sehr sicher, dass er wieder Regierungschef werden würde.s

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Der italienische Politiker Alfredo Lusignoli (1869–1931) war unter anderem Präfekt von Mailand und Senator des Königreiches (Senatore del Regno). Als persönlicher Gesandter Giovanni Giolittis sorgte Lusignoli während dessen fünfter Regierungszeit (1920/21) für eine stete Verbindung zwischen dem Regierungschef und Mussolini: Lusignoli traf sich mehrfach mit Mussolini zu Gesprächen über die politischen Probleme, die Italien während der unruhigen Zeiten vor dem Marsch auf Rom beschäftigten. Eine Schlüsselposition nahm er 1921 auch innerhalb der Strategie Giolittis ein, den Faschismus – mit Blick auf die anstehenden Wahlen – zu mäßigen, um ihn in den liberalen Block zu integrieren und damit für eine breite Bevölkerung wählbar zu machen. Vittorio Emanuele Orlando (1860–1952) war ein italienischer Jurist und Politiker, der zwischen 1903 und 1917 verschiedene Ministerämter innehatte, bevor er von 1917 bis 1919 italienischer Regierungschef war. Er unterstützte den Faschismus zunächst, ging aber nach der Ermordung des Antifaschisten Giacomo Matteotti durch faschistische Gruppen 1924 auf Distanz. Im Juli 1922 wurde Luigi Facta, seit Anfang 1922 Ministerpräsident, seines Amtes enthoben: Seine Regierung hatte sich als unfähig erwiesen, den Faschismus an seiner Expansion zu hindern. Nachdem seine politischen Gegner – darunter Orlando – an der Regierungsbildung gescheitert waren, wurde Facta erneut mit dieser Aufgabe betraut. Der italienische Politiker Antonio Salandra (1853–1931) bekleidete von 1914 bis 1916 das Amt des Regierungschefs. Er vertrat eine expansionistische Außen- und eine konservative Innenpolitik. 1914 war seine Regierung mit der Frage konfrontiert, ob Italien am Krieg teilnehmen sollte: Zunächst neutral, setzte sich Salandra bald aktiv für die Teilnahme am Krieg ein und spielte eine maßgebliche Rolle bei der Erarbeitung des Londoner Vertrags von 1915, der den Kriegseintritt Italiens vorsah.

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Es stimmt, dass diese drei Staatsmänner und ehemaligen Regierungschefs damals in derselben Gemütsverfassung waren wie jene, welche die gewalttätigen Aktionen der Faschisten als übertrieben und beunruhigend verurteilten, aber sie betrachteten es als notwendige und sichere Taktik, die faschistischen Führer und vor allem Mussolini in der Regierung zu haben und ihn dadurch gefangen zu nehmen, dass sie ihn Regierungsverantwortung übernehmen ließen. Das bedeutet, dass sie sich selbst noch für die führenden Vertreter einer lebendigen und selbstbestimmten politischen Klasse hielten, was klar zeigte, dass sie nichts vom Geist des Faschismus verstanden hatten, der seit zwei Jahren ungestraft verherrlicht wurde. Ich erinnere mich, dass mich eine politische Persönlichkeit damals fragte, ob die Popolari für den Fall, dass Giolitti an die Macht zurückkehren würde, erneut ihren Vorbehalt und das sogenannte Veto1 vorbringen würden. Ich antwortete, indem ich fragte: – Ist Giolitti bereit, zusammen mit den Faschisten ein Kabinett zu bilden? – Ja, lautete die Antwort. – Und ohne die Faschisten? – Da bestehen große Zweifel. – Und gegen die Faschisten? – Oh nein, das ist unmöglich! – Dann, sagte ich abschließend, wird Giolitti nicht das Kabinett bilden und folglich ist es nutzlos, dass ich die Frage beantworte, welche Haltung die Popolari ihm gegenüber einnehmen. Man nehme zur Kenntnis, dass die Faschisten damals nur 35 Abgeordnete in der Kammer hatten und die gesamte Rechte einschließlich der Nationalisten und Faschisten nur 70 Abgeordnete von 535 stellte. Aber die ungesetzliche Vorgehensweise der Faschisten beherrschte die Situation, sodass die Liberalen und die Demokraten kein Selbstvertrauen mehr hatten. Eine große Schwierigkeit für die Regierungsbeteiligung der Faschisten stellte für sie Mussolinis Erklärung über die republikanische Tendenz des Faschismus dar. Man hatte Angst vor einem Konflikt zwischen dieser neuen Macht und der Monarchie, auch weil es merkwürdige Gerüchte über die Möglichkeit gab, einen Thronanwärter aufzubauen, der ein verlässlicherer Vertreter der nationalistischen Strömungen sein sollte. Aber da Mussolini merkte, dass sich

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Anmerkung Francesco Malgeri: Im Oktober 1922 vor dem Marsch auf Rom verhandelte Lusignoli, der Präfekt von Mailand, mit Mussolini über die Bildung eines neuen Kabinetts unter Giolitti mit Beteiligung der Faschisten und der Popolari und zumindest der Enthaltung der Sozialisten von Turati und Treves. Über Lusignolis Verhandlung siehe Gabriele de Rosa, Storia del partito popolare, Rom 1958, S. 274–298.

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seine Position festigte, und es möglich war, einen Handstreich zu versuchen, wollte er sich von diesem Hindernis befreien und warf jeglichen republikanischen Vorbehalt über Bord, änderte seine Phraseologie und gab zu verstehen, dass er bereit sei, die Monarchie und den Monarchen zu unterstützen, wenn diese ihm keine Hindernisse in den Weg legten. Mussolinis Manöver fand in gewissen sehr königstreuen Kreisen Zustimmung und Lob; nicht dass alle an die Aufrichtigkeit des Duce geglaubt hätten, aber ihre Unterstützung des Faschismus stellte keinen Widerspruch mehr zu ihrer monarchistischen Gesinnung dar. Es blieb also nur noch die Diskussion über die Namen: Giolitti? Salandra? Orlando? – Niemand dachte an eine Präsidentschaft Mussolinis. Die Nationalisten dachten weniger denn je an ihn. Aber Mussolini selbst dachte an sich. Als er den großen Erfolg des Kongresses von Neapel sah, die Parade seiner bewaffneten Legionen, den Beifall der Konservativen und Liberalen, ließ er die arglosen Kongressteilnehmer weiter diskutieren und eilte nach Mailand, um die Fäden für den Handstreich zu knüpfen. Alle spürten den Ernst der Stunde und die Bedrohung, die eine so große Anzahl von irregulären Bewaffneten darstellte – alle außer dem Regierungschef, der sich zufrieden zeigte, dass kein unangenehmer Zwischenfall die öffentliche Ordnung während des Kongresses von Neapel gestört hatte. Aber am 26. Oktober erklärten einige Faschisten Facta ihr Misstrauen, um ihn zum sofortigen Rücktritt zu bewegen. Am gleichen Abend wurde eiligst der Rat einberufen, um eine Übergangslösung zu finden und damit den Schein zu wahren. Alle Minister beschlossen, ihre Geschäftsbereiche in die Hände des Präsidenten zu geben. Aber am 27. Oktober erklärten die römischen Faschisten im Namen ihres Führers, dass sie damit nicht zufrieden seien, und beharrten unter Androhung von Unruhen auf der Forderung, die sie an den Präsidenten Facta gerichtet hatten; und der rechtschaffene Mann unterbreitete dem König an diesem Abend seinen Rücktritt und den des gesamten Kabinetts. Und genau in der Nacht, in der die Kabinettskrise begann, vom 27. auf den 28. Oktober, begannen die faschistische Revolte und die Mobilisierung der bewaffneten Sturmtruppen. Es wurde versucht, die Präfekturen Norditaliens zu besetzen. Der Marsch auf Rom wurde organisiert. Das Innenministerium war in Aufruhr. In den frühen Morgenstunden wurde der Ministerrat einberufen, der beschloss, Widerstand zu leisten und den Belagerungszustand im gesamten Königreich auszurufen. Diese Entscheidung wurde dem König übermittelt und den Präfekten per Telegramm mitgeteilt, damit sie am Mittag des 28. Oktober überall ausgeführt werden könne. Außerdem wurde ein Aufruf an die Bürger gegen die faschistische Rebellion gedruckt, den alle Minister unterzeichnet hatten.

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Ich wurde von einer einflussreichen Person gefragt, ob die Popolari die Maßnahme des Belagerungszustandes unterstützen würden. Ich antwortete, dass eine solche Maßnahme nicht von einem zurückgetretenen Kabinett erlassen werden könne. Dieses müsse den Rücktritt zurücknehmen oder sofort durch ein anderes ersetzt werden; die Popolari wären auf jeden Fall auf Seiten der Verfassung und gegen den bewaffneten Aufstand. Währenddessen machte Facta, der immer unsicher war, nicht nur den Rücktritt nicht rückgängig, sondern hoffte auch, indem er den Belagerungszustand beschloss, die Verhandlungen mit den Aufständischen wieder aufnehmen zu können, so sehr war er gewohnt, sein Amt als einen ständigen und vergeblichen Vermittlungsversuch zwischen der legalen Macht und den illegalen Gruppen zu verstehen. Gleichzeitig gaben mehrere Personen dem König zu verstehen, dass ein Konflikt zwischen der Armee und den Faschisten ein ernstes Ereignis sei, dessen Folgen man schwer abschätzen könne, während es möglich sei, mit einem Kabinett unter Führung von Salandra, in dem auch die Faschisten vertreten seien, die Verhandlungen wieder aufzunehmen. Die Angst vor schwerwiegenden Ereignissen und die Hoffnung auf eine mögliche Einigung, die schwache und zweideutige Position des schon zurückgetretenen Kabinetts ohne Autorität und der Rat irgendeines Heerführers brachten den König dazu, Facta die Unterzeichnung des königlichen Dekrets über den Ausnahmezustand zu verweigern und Salandra zur Übernahme der Regierung aufzufordern. Mussolini, dem sein Handstreich besser gelungen war, als er gehofft hatte, verstand, dass seine Stunde gerade aufgrund der unterlegenen Position, in die sich alle gesetzlichen Vertreter des Landes selbst gebracht hatten, gekommen war. Er ließ durch seine Freunde in Rom bekannt geben, dass er sich nicht an einem Kabinett von Salandra oder von irgendjemand anderem beteiligen könne, sondern dass dieser Auftrag ihm übergeben werden müsse und er den Marsch auf Rom nicht abbrechen werde, wenn ihm dieser Auftrag nicht nach Mailand, wo er sich befand, übermittelt werde und wenn es seinen Truppen als Symbol seines Sieges nicht gestattet würde, Rom friedlich zu betreten. All dies wurde vom König und von Factas Regierung gewährt, die passiv ihrer eigenen Agonie beiwohnte. Und am 31. Oktober sah man, wie ungefähr 30 000 Schwarzhemden unter dem Applaus ihrer Freunde und der nachdenklichen Bestürzung der Mehrheit der Bürger triumphierend in Rom einmarschierten. Mussolini begann sofort, sein Kabinett zu bilden, und verhielt sich dabei eher wie ein Befehlshaber der Armee, der seinen Generalstab bildet, als ein Regierungschef, der seine Mitarbeiter beruft. Er schloss es aus, mit Parteien zu verhandeln, und wandte sich nur an politische Persönlichkeiten, von denen viele keine Mitglieder seiner Partei waren. Er brauchte Leute, die Erfahrung mit öffentlichen Aufgaben hatten, weil sowohl er als auch seine Anhänger neu

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an der Regierung waren und keinerlei Erfahrung in den verschiedenen Bereichen der Verwaltung des Staates hatten. Die Männer, die er in seine Regierung berufen hatte und die nicht Mitglieder seiner Partei waren, mussten sich einem ernsten Gewissenskonflikt stellen: mitarbeiten oder nicht mitarbeiten? – Im ersten Fall übernahmen sie Verantwortlichkeiten und fügten sich Regeln, die nicht ihren eigenen Überzeugungen entsprachen; und im zweiten Fall reizten sie den Mann, der sich für einen Sieger hielt, seine gewaltsamen Repressalien wieder aufzunehmen. Die öffentliche Meinung war geteilt. Dass der König Mussolini nach einer Krise, die dem Marsch auf Rom vorausging, beauftragt hatte, das Kabinett zu bilden, hatte den Anschein der Verfassungsmäßigkeit und sollte als ein Versuch betrachtet werden, diese Gruppe in die Legalität zurückzuführen. Eine Regierungskoalition konnte unter diesen Umständen als ein Versuch der Versöhnung betrachtet werden; unter diesen Aspekten konnte die Zusammenarbeit der Verfassungstreuen einen Gegenpol zum Triumph der bewaffneten Gruppe darstellen. So dachten die Philofaschisten, diejenigen, die um jeden Preis eine Versöhnung wollten, sowie zahlreiche Antifaschisten. Die anderen dagegen waren der Meinung, dass der Gemütszustand einer Gruppe, die mit der Eroberung der Hauptstadt triumphiert hatte, Auswirkungen haben müsse, die über jedes Maß hinausgingen. Das parlamentarische System war in seinem Wesen getroffen worden, folglich sei eine Einigung zwischen Faschisten und Verfassungstreuen nicht möglich. Zu diesen gehörte der Verfasser, der gegen jede Einigung mit der neuen Regierung war. Jedoch unterstützte die Mehrheit der Popolari sowie der Liberalen und Sozialdemokraten die Zusammenarbeit mit Mussolini in der Hoffnung, dass dieser und seine Freunde, nachdem sie einmal an die Macht gekommen waren, auch wenn sie dies nur durch einen Aufstand geschafft hatten, von nun an die Gesetze befolgen, die Ordnung wiederherstellen und die Freiheit respektieren würden und dass ihre Regierungsbeteiligung die Kontinuität des Verfassungslebens im Königreich retten würde. Nachdem er auf diese Weise zum Premierminister ernannt worden war, erschien Mussolini am 15. November vor der Abgeordnetenkammer und vor dem Senat. 2. Mussolini, ein Mann mit mittelmäßiger Bildung und wenig politischer Erfahrung, hat die Qualitäten eines Improvisators; und er hat nicht die Skrupel jener, die von einer Idee überzeugt sind und Angst haben, ihr untreu zu werden. Er ist vom revolutionären sozialistischen Extremismus und der gröbsten Religionslosigkeit zum eindeutigen Konservativismus und Klerikalismus übergegangen; er war Antimilitarist und Gegner der Kolonialunternehmungen und hatte die Pflicht zur Vaterlandsverteidigung geleugnet; und später war er bis zum Äußersten Interventionist und Imperialist. Das faschistische Programm von 1919, sein persönliches demagogisch-subversives Werk, wurde in

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das erbittertste reaktionäre Experiment umgewandelt. Sein zur Vereinfachung neigender Geist ist an keine Formel gebunden. Er kann ohne Gewissensbisse und Bedauern schnell und unstetig von einer Theorie zur anderen, von einer Position zur anderen überwechseln. Mit diesem Spiel bezweckt er nur ein einziges Ziel: die fantastischen und sentimentalen Elemente des Erfolgs zu erfassen. Seine Reden sind immer auf den Gemütszustand des Publikums abgestimmt, an das er sich wendet: Wenn das Publikum ein anderes wäre, würde er eine andere Phraseologie wählen. Eine weitere seiner Qualitäten ist die Fähigkeit, immer den Moment an sich zu reißen, die Umstände zu nutzen, die erfahrensten und klügsten Männer im Zaum zu halten, mit Leichtigkeit Hindernisse zu überwinden. Die Tatsache, dass er sowohl als Sozialist als auch als Faschist lange Zeit die Freiheit hatte, ungestraft jede Art von Drohungen und Gewalttaten auszuführen, hat ihn dazu gebracht, eine tiefe Verachtung für die früheren Politiker zu empfinden, die ihn toleriert oder ihm geschmeichelt haben, gleich ob sie Sozialisten oder Liberale waren. Seine Freunde schätzt er nur so lange, wie sie ihm nützen. Er hat Angst, wenn er sie braucht; und er lässt sie fallen, wenn sie ihm im Weg stehen. Lange waren viele Leute Mussolini gegenüber wohlwollend eingestellt und dachten, dass er, wenn er einmal an die Macht gelangt sei, den faschistischen Extremismus zügeln werde. In der Tat schien er lange zwischen Legalität und Gewalt, zwischen Normalität und Reaktion zu schwanken. Aber er wählte seinen Weg. Der Unterschied zwischen Mussolini und den Faschisten wurde an dem Tag geleugnet, als dieser im Januar 1925 in der Abgeordnetenkammer erklärte, er übernehme die Verantwortung für alles Illegale, was im Namen des Faschismus geschehen sei. War dieser Zynismus Angst oder Mut? Man weiß es nicht: In dem Moment, in dem er seine reaktionären Systeme durchsetzte, war er sicher, dass niemand von ihm Rechenschaft fordern könne. Schon am 16. November 1922 war er in einer theatralischen Pose vor der Abgeordnetenkammer erschienen. Er war sich seiner selbst und seiner bewaffneten Sturmtruppen sicher und erklärte, er könne aus diesem „tauben und grauen Saal“ ein „Nachtquartier für Scharen“ machen, und es hänge von diesem ab, „ob er zwei Tage oder zwei Jahre am Leben bleiben wolle“. Seine gesamte erste Regierungserklärung sollte den Eindruck eines Mannes vermitteln, der eine Revolution gemacht hatte, wie es sie noch nie gegeben hatte, und der seine Feinde besiegt hatte, die keine Feinde waren, sondern Bürger, von denen viele seine besten Mitarbeiter gewesen waren, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst waren. Angesichts dieser Unverschämtheit sah sich ein großer Teil des kapitalistischen Bürgertums, der konservativen Liberalen und des ländlichen Klerikalismus durch ihr vorheriges Wirken verpflichtet, das „Experiment Mussolini“, wie

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man es damals nannte, zu unterstützen. Es war ihr eigenes Geschöpf, das größer und stärker geworden war, als man je geglaubt hätte, und die Situation umgekehrt hatte. Sie, die Philofaschisten, folgten nun dem Triumphwagen; und obwohl sie die Angst vor der unbekannten Zukunft im Herzen trugen, warfen sie Blumen und sangen fröhliche Hymnen. Sie glaubten, und das glaubten sie wirklich, dass der Sozialismus, der Popularismus und die parlamentarische Demokratie für immer gestürzt seien, und auf ihrer Waage wog der Gewinn mehr als der Verlust. An diesem berüchtigten 15. November 1922 kam von den 400 nicht-faschistischen Abgeordneten, die derartig beleidigt worden waren, keine Zuckung, keine Geste. Sie gaben nach und schenkten Mussolini ihr Vertrauensvotum. Nur die Vertreter der Sozialisten und der Popolari hatten Vorbehalte und machten Bemerkungen über die Art, auf die er an die Macht gekommen war. Und in einem weniger starken Ton machten sie erneut die Rechte des Parlaments geltend. Aber die Popolari, die schon zwei Minister in der Regierung hatten,2 mussten für ihn stimmen, sodass schließlich nur die Sozialisten gegen ihn stimmten. Und diejenigen, die entweder rechtlich, wie der Abgeordnete De Nicola, der Präsident der Kammer, oder moralisch, wie die ehemaligen Regierungschefs Giolitti, Orlando und Salandra, verpflichtet gewesen wären, die Ehre der Kammer und ihre statutarischen Rechte zu verteidigen, blieben stumm, als ob sie von so viel Dreistigkeit getroffen wären, und fühlten in sich wohl nicht die Kraft einer Pflicht, die höher stand als ihre eigene Person: Vielleicht waren sie blind und sahen in dem Moment nicht, was um sie herum zusammenbrach. Die Kammer verschaffte sich so eine Lebensdauer von anderthalb Jahren bis zu den allgemeinen Wahlen im April 1924, aber sie ebnete sich selbst den Weg zur Kapitulation. Ohne zu zögern übertrug sie der neuen Regierung die Vollmacht, die Reformen der Verwaltung, der Finanzen und der Gesetze durchzuführen. Und sie vermochte und verstand es nicht mehr, die Politik der Exekutive auf eine Art zu kontrollieren, die verhindert hätte, dass sie nicht nur mit Worten, sondern auch faktisch der Diktatur den Anfang bereitete. 3. Von Anfang an bestand für das neue Regime, das das Jahr eins der n­ euen Ära zu zählen begann (eitle Imitation der französischen Revolutionäret), genau 2

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Anmerkung Franceso Malgeri: Am ersten Kabinett Mussolini waren die Popolari Vincenzo Tangorra, Finanzminister, und Stefano Cavazzoni, Arbeitsminister, beteiligt. Andere Popolari, die dem Kabinett in der Funktion des Untersekretärs angehörten, waren Ernesto Vassallo im Außenministerium, Fulvio Milani im Justizministerium, Giovanni Gronchi im Ministerium für Industrie und Handel und Umberto Merlin im Ministerium für die „befreiten Länder“. 1926 schreibt Mussolini vor, dass sowohl private als auch öffentliche Urkunden, die Zeitungen und die Korrespondenz eine römische Jahresangabe tragen. Diese Ziffer bezeichnet die Jahre des faschistischen Zeitalters (era fascista), das am 29.10.1922 begann (einen Tag nach dem Marsch auf Rom).

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das Problem der privaten Gewalt und der einzelnen und kollektiven Repressalien; ein Problem, das bis heute das Nessushemd des Faschismus geblieben ist. Nachdem der Marsch auf Rom ein so gutes Ende genommen hatte, spürte jeder kleine oder große faschistische Anführer in seiner Seele den Wunsch, der wahre und tatsächliche Anführer seiner Stadt oder seiner Provinz zu werden und selbst einen kleinen „Marsch“ zu veranstalten. Die Folge: Es kam zur Besetzung von Rathäusern und anderen öffentlichen Körperschaften und der Auflösung von Gemeinderäten. Mussolini befahl, diese Ausschweifungen zu beenden, aber diese gingen kurze Zeit danach wieder los und führten zu ständigen lokalen Konflikten, die den Duce zwangen, sich zwischen der Legalität und der Gewalt zu entscheiden. Ende Dezember hielt er es für angebracht, das Spiel der direkten Aktion des Faschismus mit einer umfassenden Amnestie zu beenden. Diese trat nicht nur sofort und mit parteiischem Charakter in Kraft, weil die Amnestie, die den Faschisten gewährt wurde, allen anderen Bürgern, welche die gleichen Straftaten begangen hatten, verweigert wurde. Sie tendierte auch dazu, den Gesetzesbruch als Akt politischer Tugend zu würdigen, weil er als amnestierte Straftat für den nationalen Zweck definiert wurde. Es war das Prinzip „Der Zweck heiligt die Mittel“, das heißt ein unmoralisches Prinzip, das durch die Amnestie Anerkennung erfuhr. Wieso sollten nun die Ausschweifungen enden, die auf diese Weise ehrbar geworden waren? Als die Ankündigung der Amnestie schon an die Zeitungen gegeben worden war, obwohl das Dekret noch nicht veröffentlicht war, trugen sich in Turin schreckliche Ereignisse zu. In der Nacht zum 17. Dezember 1922 wurden von den Faschisten 22 Arbeiter umgebracht (die Zahl wurde bestätigt), die für Kommunisten gehalten wurden: Die meisten von ihnen befanden sich in ihrer Wohnung an der Seite ihrer Frau und ihrer Kinder; einige Leichname wurden in den Po geworfen. Die Turiner Faschisten erhielten ein Beifalls­ telegramm des Abgeordneten De Vecchi, Unterstaatssekretär in Mussolinis Kabinett; und die Richter wandten bei den Schuldigen die Amnestie an und erklärten, … dieses Gemetzel sei zu nationalen Zwecken geschehen. Die Regierung, die wegen der Couleur der verschiedenen Minister eine Koalition zu sein schien, entpuppte sich nach und nach als persönliche Regierung Mussolinis, der zwei verschiedene, oft im Konflikt zueinander stehende Persönlichkeiten hatte: die des Regierungschefs und die des Parteichefs. In seiner Person entstand das Binom Regierung/Partei. Er hatte anfangs das Glück, seinen Weg wählen zu können; und diese spontane oder erzwungene Zustimmung, die ihn bis zu diesem Zeitpunkt unterstützt hatte, wäre noch viel stärker geworden, wenn er den Weg der Legalität und der Ordnung gewählt hätte; das heißt, wenn er seine Partei gezwungen hätte, wie alle anderen Parteien einen Platz innerhalb der konstitutionellen und der moralischen Gesetze einzunehmen. Die Philofaschisten und die rechten Liberalen waren sich dessen sicher und beurteilten die

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Illegalität als eine vorübergehende Auswirkung der revolutionären Bewegungen, die sich wieder legen würde, wie der Sog der Wellen nach einem Sturm, bis sich das Meer wieder beruhigt und der Himmel wieder klar wird. Eine idyllische und unrealistische Vorstellung, die sich bald als völlig falsch herausstellte. Um dies zu tun, wurde ein Mann anderen Schlags benötigt, der selbstsicherer war und besser geeignet zu herrschen, als sich von den Massen beherrschen zu lassen. Mussolini wählte den anderen Weg, den gleichen, der ihn an die Macht gebracht hatte und der ihn mit der Macht der Sturmtruppen, der Zentralisierung der Macht und dem absoluten Triumph der Partei dort halten musste. Um dies zu erreichen, mussten zuerst die Parteien aufgesprengt werden. Bei einigen war das nicht schwer. Die nationalistische Partei hatte im Faschismus die Manövriermasse gefunden, die sie niemals alleine hätte für sich gewinnen können. Der triumphierende Faschismus fand im Nationalismus eine Theoretisierung politischer Ideen im reaktionären Sinne, die ihm fehlte. So war das Einvernehmen leicht, bald kam es zur Verschmelzung. Die so entstandene neue Partei wurde Nationalfaschismus genannt. Die übrigen Parteien wurden von internen Spaltungen und der schnellen Zerrüttung derer bedroht, die sich dem neuen aufsteigenden Stern annäherten. Die Liberalen und die Demokraten, außer einer kleinen Gruppe, die von Amendola angeführt wurde, gerieten in die Sphäre des Faschismus; im Übrigen hatten sie keinen richtigen Tiefgang. Sozialisten und Popolari mussten weitere Repressalien erleiden. Mussolini gründete faschistische Körperschaften oder Gewerkschaften, um die Arbeiterverbände zu zerstören, die diese Parteien unterstützten. Land- und Industriearbeiter wurden mit Begünstigungen und Drohungen von der neuen Einrichtung angezogen, wozu auch gehörte, dass diejenigen im Arbeitsamt boykottiert wurden, die nicht den Körperschaften angehörten, da dieses schon von den Faschisten monopolisiert wurde. Ein weiteres Mittel, um sich die Macht zu sichern, war die Konsolidierung der bewaffneten Organisation. Und nun bringt Mussolini den Ministerrat dazu zu beschließen, die königliche Garde aufzulösen, das heißt die Einheit der Polizisten, die für die öffentliche Ordnung zuständig ist, und aus den faschistischen Sturmtruppen eine freiwillige Miliz unter seinem Kommando zur Verteidigung des neuen Regimes zu machen. Die unbelehrbaren Optimisten sahen in diesem Vorgang den Beginn einer Rückkehr zur Ordnung und merkten nicht, dass auf legale Weise eine parteiische, gut ausgestattete Miliz mit öffentlichen Geldern finanziert wurde, die dem Faschismus den Vorrang und die Herrschaft im Staat sichern sollte. Diese Miliz bekam die Aufgabe, für die öffentliche Ordnung zu sorgen, und hatte ein besonderes Aufsichtsrecht über die Eisenbahn und die Häfen. Sie verfügte über eigene Ränge und Organe. Viele Befehlshaber, die bei der Armee nicht einmal Oberleutnant oder Hauptmann waren, bekamen die Tressen, Gehälter und Titel von Generälen.

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Um die Autorität des Faschismus zu gewährleisten, wurde außerdem die Bürokratie der Ministerien, der Präfekturen und der lokalen Verwaltungen gesäubert. In der Peripherie gelang das ziemlich leicht, weil die neuen Präfekten unter den faschistischen Führern oder absolut vertrauenswürdigen Personen ausgewählt wurden, die lokalen Organisationen des Faschismus zur Selbsthilfe schritten und die Funktionäre wie ihre Untergebenen behandelten. Im Zentrum funktionierte die bürokratische Routine weiterhin mehr oder weniger, aber es fehlte nicht an Versuchen, sie aufzulösen, sei es durch die Hinzufügung neuer Elemente, die – ohne dafür qualifiziert zu sein – Vertrauenspositionen bekamen, sei es durch die Beseitigung von verhassten Elementen oder solchen, denen man misstraute, oder schließlich, indem man den Angestellten die rechtlichen Garantien für ihre Karriere und für ihre Stellung nahm. Parallel und mit dem gleichen Ziel unterwanderten die faschistischen Führer die Banken, die Industrie- und Handelsgesellschaften, die halbstaatlichen Einrichtungen sowie sämtliche wirtschaftlichen Aktivitäten, die auf diese Weise für die Zwecke des neuen Regimes kontrolliert wurden. Wer Widerstand leistete, wurde bedroht oder mit anderen Methoden gefügig gemacht. Damit nicht genug: Mit einer Gesetzesverordnung, deren Schwere nicht verkannt werden kann, wurde den Präfekten die Befugnis erteilt, die Räte von Vereinigungen und Arbeiterverbänden aufzulösen, die über eine Verwaltung für Sozialfonds verfügen, und diese Beträge zu beschlagnahmen und für einen anderen Zweck zu bestimmen. Die Regierung maßte sich das Recht an, die Verwaltungen von Privatgesellschaften und Klassenorganisationen aufzulösen und königliche Kommissare zu ernennen. Kurz darauf wurde jede Vereinigungsfreiheit abgeschafft. Die staatliche Zentralisierung und das Monopol der Partei waren fest verbunden, um alle unabhängigen Institutionen und Einrichtungen zu unterwerfen und zu absolutem Gehorsam zu zwingen. Die Minderheitsregierung, die durch ihren gelungenen Handstreich im Oktober an die Macht gekommen war, bemühte sich nun, das Land zu erobern. Diese Tendenz wurde als „totalitär“ bezeichnet, entsprechend einer ­Theorie, die besagt, dass der Faschismus, der zum Nationalfaschismus geworden ist, alles und der Rest des Landes nichts ist.u Der Erste hat alle Rechte, die von der

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In der deutschen Übersetzung aus dem Jahr 1926 lautet der Satz: „Diese Absicht nannte man die ,Totalitätstendenz‘. Das heißt, der zum Nationalfascismus gewordene Fascismus ist alles, der Rest des Landes ist nichts.“ Luigi Sturzo, Italien und der Fascismus, übersetzt von L. und A. Dempf, Köln 1926, S. 119. Die hier vorliegende Übersetzung orientiert sich eng am Original und übersetzt die von Sturzo verwendeten Ausdrücke „totalitaria“ und „totalitarismo“ im Sinne des heutigen Sprachgebrauchs mit „totalitär“ und „Totalitarismus“.

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Macht und der Gewalt herrühren, der Zweite ist nur zum Gehorsam verpflichtet. Der Erste ist die Nation, der andere die Anti-Nation. Der Erste ist das Vaterland, der andere das Anti-Vaterland. Dies ist keine persönliche Interpretation, es ist die theoretische Formel, die von den faschistischen Schriftstellern und den Philosophen der neuen Lehre in politischen Reden, Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften, Pamphleten und Büchern dargelegt und verteidigt wurde. Der wichtigste Vertreter der faschistischen Theorien war Giovanni Gentile, führender Vertreter des Aktualismus.v Er hat die Theorie verfochten, dass der Staat eine ethische Realität ist, mit der Regierung identifiziert wird und die bestehende Regierung folglich die Gewalt, das Gesetz und die Moral ist; das heißt alles. Er hat sich den Spruch Spaventas zu Eigen gemacht: „Ihr seid die Verehrer des Staates.“w So verteidigte er die neue Göttlichkeit des faschistischen Staates, dessen Schaffung Mussolini und seine Satelliten mehrmals feierlich versprochen haben. Die Gewalten beruhen dort auf den Rechten der Revolution. Der Marsch auf Rom überträgt seinen Urhebern nach dem geschriebenen und sogar nach dem moralischen Gesetz das Herrschaftsrecht über die Bürger und deren Institutionen. Von diesem Standpunkt aus erscheint die Amnestie logisch, die für Straftaten zu nationalem Zweck vereinbart wurde, sie steht nur über dem moralischen Gesetz; die private Gewalt erscheint gerechtfertigt, sie verletzt nur das Prinzip des menschlichen Zusammenlebens; die Zudringlichkeit des Staates erscheint notwendig, sie unterdrückt nur die persönliche Freiheit. Mussolini erklärt, dass er über den Leichnam der Freiheitsgöttin gehen werde. Aber er verwechselt Freiheit mit Zügellosigkeit und verfolgt damit einen

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Der italienische Philosoph Giovanni Gentile (1875–1944) zählt zu den wichtigsten Vertretern des italienischen Neoidealismus und prägte insbesondere dessen Form des „Aktualismus“: Er geht von der zentralen Annahme aus, die Realität existiere nur im und durch den Akt des Denkens des Subjekts, den „puren Akt“ (atto puro). Mit diesem identifizierte Gentile den Staat als Ausdruck höchster Sittlichkeit: Er stellt die Verwirklichung des ethischen Willens der Menschen dar und hat damit einen absoluten ethischen Wert, ist „ethische Substanz“. Vor allem der faschistische Staat verkörpere die allumfassende Synthese aller Werte und den Willen des Volkes (in diesem Sinn benutzt Gentile den Terminus „totalitär“), weshalb Gentile in ihm den ethischen Staat par excellence sieht. Gentile wurde 1944 von einer italienischen Widerstandsgruppe getötet. Siehe auch die Anmerkungen i und fff im Text „Antifaschistisches Denken“. Silvio Spaventa (1822–1893) war ein italienischer Patriot und Politiker und als solcher von 1861 bis 1889 Parlamentsabgeordneter. Wie Gentile war Spaventa geprägt vom Denken Hegels und sah im Staat das oberste Organ, das darauf gerichtet sei, den Willen der Nation zu verkörpern und sie zu „höherem Menschentum“ zu führen.

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polemischen Zweck. Er behauptet, mit Stärke und mit Konsens zu regieren, aber er glaubt nur an den Konsens der Stärke. Er behauptet, alle Italiener hinter sich zu haben, aber er nimmt den Italienern das Mittel, um ihre Meinung frei zum Ausdruck zu bringen. All dies verursacht auch im liberalen Lager schlecht verborgene Besorgnis. Es kann die Proklamation des faschistischen Staates nicht akzeptieren und beginnt, wieder Prinzipien in Umlauf zu bringen: die des liberalen Staates. Aber es ist zu spät, um Mussolini in irgendeinem Punkt zum Nachgeben zu bringen. Er zeigt, dass er nicht bis zu den extremen Folgen seiner Politik gehen will, während er die Extremisten seiner Partei auf der Notwendigkeit der sogenannten „zweiten Welle“ beharren lässt – eine charakteristische Bezeichnung für das, was später als „Faschistisierung des Landes“ bezeichnet wurde. 4. Das moralische und politische Unbehagen, das die Popolari in der Zeit ihrer Beteiligung an Mussolinis Regierung empfanden, war sehr stark; und obwohl zahlreiche Abgeordnete hofften, die Regierung werde sich in Richtung Normalisierung bewegen, war die Mehrheit der Popolari davon überzeugt, dass jede Bemühung der ehrlichen Zusammenarbeit zum Scheitern verurteilt sei. Die Schritte, die unternommen wurden, um die Gewalt auf lokaler Ebene einzudämmen, brachten in der Tat nichts; und jeder Vorbehalt gegen Maßnahmen der Regierung, die im Widerspruch zu den Grundsätzen und Richtlinien des Partito Popolare standen, wurde schlecht aufgenommen. Trotz der Zusammenarbeit gingen die Angriffe auf die Popolari und auf die katholischen Vereine, denen viele Popolari angehörten, weiter. Außerdem versuchten die faschistischen Führer verstärkt, die Partei zu spalten, womit sie eine Anordnung der Regierung ausführten. Wie wir gesehen haben, entfernte sich der rechte Flügel, auch wenn er die Partei noch nicht verlassen hatte, täglich mehr von ihren Grundsätzen und von ihrer Disziplin, was die Faschisten merklich begünstigte. In diesem Moment beschloss die Parteiführung, den IV. Kongress des Partito Popolare einzuberufen. Trotz aller Umtriebe der Philofaschisten und des Kabinetts fand dieser im April 1923 in Turin statt und stellte den ersten Schritt der öffentlichen Distanzierung der verfassungstreuen Parteien von der faschistischen Regierung dar. Die Popolari waren die erste Stimme einer großen Gruppe von politischen Vertretern, die sich ohne Zaudern offen erhob, um die Freiheit zu verteidigen. Auf diesem Kongress wurden angesichts des Versuchs, die Partei zu spalten und zu einer charakterlichen und programmatischen Kurswende zu bringen, ihr Existenzrecht und ihr Glaube an die christdemokratischen Ideale bekräftigt. Nach der politischen Rede, die der Verfasser als politischer Sekretär der Partei gehalten hatte (eine Rede, die Mussolinis offizielles Organ

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mit einem sensationellen Titel als „die Rede eines Feindes“3 bezeichnete), wurde eine zusammenfassende Erklärung herausgegeben, ein wahrhaftiges Manifest der Doktrin der Popolari gegen den Hochmut der Faschisten. Dies ist der Text der Erklärung: „Der Partito Popolare Italiano bestätigt auch nach den letzten politischen Ereignissen wieder und mit erneuertem Glauben seinen christdemokratischen Charakter, den Geist, die Substanz und die Marksteine seines Programms, die Unabhängigkeit seiner Organisation, seine besondere Daseinsberechtigung und seine anderen hohen ethischen, politischen und wirtschaftlichen Ziele [...]; er bestätigt erneut seinen Willen zum grundsätzlichen Kampf für die Freiheit [...] und gegen die zentralistische Entartung im Namen des pantheistischen Staates oder der vergöttlichten Nation (...); er drückt seine Solidarität mit denjenigen aus, die in der Lage sind, für die Idee und den inneren Frieden Opfer zu bringen, und beschwört zum Wohl Italiens die Achtung der menschlichen Persönlichkeit und den Geist der christlichen Brüderlichkeit.“ Nach dieser Geste fanden die Faschisten, die eine unbegrenzte Vorstellung von ihrer Herrschaft hatten und davon überzeugt waren, dass die Macht ausreiche, um alle zur Gefolgschaft zu zwingen, keine andere Lösung als den Bruch. Und Mussolini stellte die Minister und Untersekretäre, die Mitglieder der Popolari waren, vor die Wahl: Sie mussten sich entweder vom Kongress der Partei distanzieren oder aus der Regierung austreten. So schwand die Illusion einer möglichen Einigung auf friedlichem und gesetzlichem Boden dahin. Aber von diesem Zeitpunkt an beanspruchten die Popolari für sich und für die anderen verfassungstreuen Parteien wieder das Recht, die Prinzipien der Freiheit und der Moral des öffentlichen Lebens zu verteidigen und gegenüber dem Faschismus ihre eigenen Ideale und ihre eigene Vergangenheit hochzuhalten und angesichts der Ereignisse eine kohärente politische Position zu vertreten. Von April 1923 bis November 1924 gingen fast alle anderen politischen Parteien, die mit der Regierung zusammengearbeitet oder sie gestützt hatten, den gleichen Weg wie die Popolari, nachdem auch sie festgestellt hatten, dass

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Anmerkung Francesco Malgeri: In dem Artikel von Gaetano Polverelli, der am 13.4.1923 im Popolo d’Italia erschien, wurde Sturzo beschrieben als ein „unheilvoller Mann, der die Katholiken aus den ländlichen Gegenden wie einen Stein in den Weg des imperialen Italiens legen möchte“. Don Sturzo, fuhr Polverelli fort, „hat keinen römischen Geist. Er hat die Mentalität eines Hirten und eines protestantischen Lehrers wie Wilson und träumt ebenfalls von einer weißen Gesellschaft der Nationen […]. Im Weg des imperialen Italiens stand Marx mit seiner Welle von Revolutionären. Jetzt gibt es dort einen kleinen sizilianischen Priester, der Italien – wegen eines Vertrags über einige Portefeuilles für Modigliani und Nitti – zu dem erbärmlichen Gezänk von Montecitorio zurückführen möchte.“

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eine echte Zusammenarbeit ohne Gleichberechtigung und ein gemeinsames Programm unmöglich war. Der Satz des Kongresses von Turin machte in der politischen Welt die Runde: „Man arbeitet aufrecht zusammen, nicht auf ­Knien.“ Mussolini hatte ganz andere Vorstellungen. Die Offensive des Faschismus gegen die Popolari wurde noch durch einen weiteren Grund verschärft. Mussolini hatte zwei Ziele: die Einheit des Partito Popolare zu zerstören und die Kirche dem neuen Regime anzunähern, indem er sie mit dessen Schicksal verband. Diese beiden Ziele konnten nicht verwirklicht werden, aber er hat, was wichtiger war, den Anschein erweckt, was in der Politik immer ein Vorteil ist. Die wenigen Popolari, die sich von der Partei trennten oder aus dieser ausgeschlossen wurden, taten so, als ob sie zahlreich und stark wären, aber das entsprach nicht der Wahrheit: Die Trennung, die aufsehenerregend war und während der Diskussion über das neue Wahlgesetz erfolgte, sollte genutzt werden, um die aktivsten Antifaschisten der Popolari zu isolieren und die Masse der Partei mitzureißen; sie führte jedoch dazu, die wenigen Philofaschisten zu isolieren, die sich von nun an Nationales Zentrum nannten4 und fast alle Teil des faschistischen Systems wurden. Das Zögern und die natürlichen Vorbehalte einer gewissen Anzahl von Mitgliedern der Popolari, die das nicht klar sahen, was Mussolini „die unabwendbare Entwicklung des Faschismus“ nannte, wurden nach und nach überwunden, als man den unversöhnlichen Gegensatz zwischen der Auffassung der Popolari vom öffentlichen Leben und der der Faschisten sah. In Bezug auf die Kirche war das andere Ziel interessanter, das auch im Ausland starke Beachtung fand. Wir haben gesehen, worin das Problem der Beziehungen zwischen Staat und Kirche seit dem Risorgimento in Italien besteht und wie schwer es zu lösen ist. Eines der nicht kontrollierbaren, aber geschickt in Umlauf gebrachten Gerüchte lautete, dass die Regierung Mussolini die römische Frage lösen wolle. Es geschieht nicht selten, dass im Ausland um Informationen über den Stand der getroffenen Vereinbarungen zwischen dem Vatikan und dem Palazzo Chigi gebeten wird. Die Wahrheit ist jedoch: Dieses Gerücht hatte keine Substanz. Das gleiche Gerücht war unter dem Kabinett Nitti im Umlauf, der ein Freund des Staatssekretärs Kardinal Gasparri war,

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Das Nationale Zentrum Italiens wurde am 12.8.1924 in Bologna von einer Gruppe rechter PPI-Dissidenten gegründet, der Giovanni Grosoli, Stefano Cavazzoni und Paolo Mattei Gentili angehörten. Es hatte die Aufgabe, „die politische und soziale Aktion unter italienischen Bürgern zu fördern, die das nationale Bedürfnis, der katholischen Tradition treu zu sein, verstanden haben“. Das Zentrum unterstützte offen den Faschismus. Anmerkung Francesco Malgeri: Vgl. Gabriele de Rosa, I conservatori nazio­ nali, Brescia 1962, S. 90–192.

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und es gab Gründe, es für glaubwürdig zu halten. Aber auch damals war es nur ein Gerücht, das sich auf nichts Seriöses stützte.5 Mussolini begnügte sich nicht mit so wenig: In den Beziehungen zum Vatikan und in kirchlichen Angelegenheiten verfolgte er eine Politik, die auf Begünstigungen beruhte; und er erließ mehrere Gesetze über die Kongruax des Pfarrklerus und der Bischöfe, über den Militärdienst und über andere Themen, die gut aufgenommen wurden. Tatsächlich hatten auch die vorherigen Kabinette in dieser Hinsicht Maßnahmen ergriffen, um die sehr schwierige Situation des Pfarrklerus zu verbessern, aber damals geschah all dies weniger auffällig und galt als gewöhnliche Verwaltungsangelegenheit und wurde mit größeren praktischen Schwierigkeiten durchgeführt. Die Organe der faschistischen und der dem Faschismus gegenüber freundlich eingestellten Presse sorgten hingegen dafür, die Maßnahmen der Regierung für den Klerus zu loben und diese als etwas Neues erscheinen zu lassen; folglich beeindruckten sie das Publikum, das meist keine Ahnung hat. Aber das ist noch nicht alles: Die vorherigen Regierungen neigten zu einer laizistischen Vorstellung des Staates, die heutige dagegen zeigt sich nicht nur großzügiger, sondern betont eine klerikalisierende Tendenz. Sie möchte als Beschützerin der Religion gesehen werden. Sie akzeptiert die nationalistischen Theorien der Franzosen: Die Religion ist ein Regierungsinstrument; man muss sie in der Hand haben und sich ihrer bedienen. Und da die Regierung und die faschistischen Führer anfangs eine geheime Übereinkunft zwischen dem Vatikan und den Popolari fürchteten und sie nun sahen, dass sich in den Provinzen viele Priester um christdemokratische oder katholische (was für sie das Gleiche war) Gewerkschaften und Kooperativen kümmerten und außerdem Priester Gemeinde- oder Provinzialräte oder Bezirkssekretäre der Popolari waren und noch dazu ein Priester als Chef der gegnerischen Partei fungierte, verfolgten sie ständig das Ziel, den faschistenfreundlichen Klerus zu begünstigen, den anderen zu bekämpfen, die katholischen Vereine, die den Popolari nahestanden, anzugreifen und stattdessen diejenigen zu begünstigen, die angeblich gegen die Popolari waren, und die Autoritäten des Klerus mal mit Drohungen, mal mit Schmeicheleien zu beeinflussen. In Wirklichkeit bestand niemals weder eine geheime noch eine

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Anmerkung Luigi Sturzo: 1926 wurde die römische Frage erneut diskutiert, und zwar wegen eines Briefes des Papstes über die Reform der für den Klerus geltenden Gesetze und wegen einer Anspielung auf diesen Brief seitens des Justizministers, des Abgeordneten Rocco, im Zuge einer Rede vor der Abgeordnetenkammer. Man sprach auch in geheimen Verhandlungen zwischen der Regierung und dem Vatikan. Die „Kongrua“ (lat. congrua) bezeichnet die Finanzierung des Klerus durch den Staat, um insbesondere den Pfarreien ein Mindesteinkommen zu sichern.

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offenkundige Übereinkunft zwischen dem Vatikan und den Popolari; beide Seiten hatten von Anfang an Sorge getragen, die Kirche nicht in die politischen Kämpfe Italiens hineinzuziehen. Auch die katholischen Verbände, die in einem Katholische Aktion genannten Zentralorgan zusammengeschlossen waren, haben sich aus der Politik herausgehalten, da diese nichts mit ihren gesellschaftlichen Zielen zu tun hatte. Aber das reichte nicht aus, um von Repressalien verschont zu bleiben. Die wenigen Geistlichen, die sich mit Politik befassten, taten dies als freie Bürger, wie in allen Staaten der Welt.6 Diese Priester hatten nicht die Absicht, die Kirche zu vertreten oder deren Interessen mit ihrer Tätigkeit zu schaden. Angesichts der feindlichen Haltung der Regierung und nicht weniger Angriffe, unter denen der Überfall auf den Pfarrer von Argenta, Don Minzoni,7 der von den Faschisten ermordet wurde, besonders traurig und bekannt ist, forderte der Heilige Stuhl den Klerus trotzdem auf, sich aus dem Wahlkampf herauszuhalten und nur sein Bürgerrecht wahrzunehmen. Dennoch bemühte man sich, das Wirken des Vatikans als dem Faschismus positiv gesinnt darzustellen. Aber das, was die Gefühle zahlreicher Kirchenvertreter und Gläubiger viel stärker ergriff, war die Maßnahme des Kabinetts, durch die der Religionsunterricht in den Schulen obligatorisch wurde. Um diese Gemütslage zu verstehen, muss man daran erinnern, dass die italienischen Katholiken mehr als dreißig Jahre gegen alle Regierungen gekämpft hatten, um dies zu erreichen. Diese Frage stellte sich in allen modernen Staaten und wurde auf verschiedene Weisen gelöst. In Italien wurde die schlechteste Option gewählt: die Berechtigung anzuerkennen und die Praxis zu leugnen. Die neue Maßnahme der Regierung Mussolini, die aus dem Katechismus ein obligatorisches Fach machte, entsprach dem Wunsch der gläubigen Kreise und löste dieses alte Problem mit einem Schlag. Diese Tatsache wurde als eines der stärksten Argumente für den Kampf gegen die Popolari und als klarer Beweis für das Einvernehmen zwischen Mussolini und Pius XI. aufgefasst. Es fehlte nicht an naiven Priestern und einigen Würdenträgern, welche die Verdienste des

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Anmerkung Luigi Sturzo: In Frankreich sind vier Priester Abgeordnete oder Senatoren. In Deutschland leitet Abt Brauns seit mehreren Jahren das Arbeitsministerium. In Österreich wurde Monsignore Seipel 1926 zum zweiten Mal Kanzler, während Šrámek in der Tschechoslowakei seit mehreren Jahren Minister ist. Giovanni Minzoni (1885–1923), Priester und Erzpriester von Argenta, war der aktive Organisator der katholischen Bewegung seiner Diözese. Er war Militärkaplan, der während des Ersten Weltkrieges einer Kampfeinheit zugewiesen werden wollte und für seine Verdienste auf dem Feld eine Silbermedaille verliehen bekam. Nach dem Kongress von Turin 1923 trat er in den Partito Popolare ein. Als tapferer Gegner des Faschismus wurde er am 23.8.1923 ermordet. Anmerkung Francesco Malgeri: zur Biografie Don Minzonis vgl. Lorenzo Bedeschi, Don Minzoni, Monza 1952.

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Duce um den Glauben verherrlichten: Man glaubte von dieser Seite, darin eine Rückkehr zu der alten Vorstellung der Verbindung von Thron und Altar zu erkennen. Doch diesmal handelte es sich statt um einen Thron nur um einen vergänglichen Präsidentenstuhl. 5. Genau diese Unsicherheit der Präsidentschaft beunruhigte die Faschisten. Während die Regierung nach der Verfassung von einem Wechsel der Mehrheiten abhängig war, ging Mussolini von der Vorstellung aus, der Marsch auf Rom sei eine wahrhaftige Investitur gewesen und suchte nach einer Möglichkeit, seinen Satz „Der Faschismus wird 12 mal 5 Jahre an der Macht bleiben!“ zu verwirklichen. Der Generalsekretär der Partei, damals der ehemalige Revolutionär Michele Bianchi,8 der plötzlich Staatsrat geworden war, brachte die Idee einer Verfassungsreform vor, um das Amt eines Kanzlers einzuführen, so wie in Deutschland vor 1918. Aber dieser Vorschlag machte zu diesem Zeitpunkt keinen guten Eindruck bei den die Regierung unterstützenden Liberalen und den Philofaschisten; und auch unter den Faschisten hatten Bianchis Vorschläge keinen Erfolg. Daraufhin erklärte Mussolini mit einem seiner schnellen Streiche, es sei nicht nötig, die Verfassung zu ändern, es ginge nur darum, einige Nachbesserungen zu studieren, über die im Parlament diskutiert werden müsse. Die allgemeine Idee einer Wahlrechtsreform fand dagegen mehr Zustimmung, vor allem die Abschaffung der Verhältniswahl. Zu diesem Thema begann eine groß angelegte Kampagne, genau wie im Jahr davor, was auch daran lag, dass die Popolari beim Kongress von Turin beschlossen hatten, die Verhältniswahl mit aller Kraft zu verteidigen. Das führte dazu, dass vor den Augen der Industrie- und Agrarkapitalisten das Gespenst einer Einigung der Popolari mit den Sozialisten erschien, zusammen mit der gesamten Vergangenheit, von der man glaubte, sie sei für immer ausgelöscht. Das Verhältniswahlrecht bei politischen Wahlen war in Italien wie in vielen anderen Teilen Europas in der Nachkriegszeit eingeführt worden. Dieses System hatte bei den Parlamentswahlen von 1919 und 1921 Anwendung gefunden. Als der Abgeordnete Orlando Anfang 1919 dem Druck für eine derartige Reform nicht nachgeben wollte, die zuerst von den Popolari und von dem Mailänder Verband für das Verhältniswahlrecht gefordert worden war, schrieb Mussolini, damals Direktor des Popolo d’Italia, einen heftigen Artikel, in dem er mit einem „Marsch auf den Montecitorio“ drohte, wenn das Verhältniswahlrecht nicht verabschiedet würde. Jetzt aber plante er einen Gesetzesent-

8

Anmerkung Francesco Malgeri: Michele Bianchi (1883–1930), faschistischer Gewerkschafter, Quadrumvir und Organisator des Marsches auf Rom. Er war bis 1923 Parteisekretär, dann wurde er von Giunta ersetzt. Am 12.9.1929 wurde er zum Minister für öffentliche Arbeiten ernannt.

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wurf, demzufolge die Regierung immer eine sichere Mehrheit im Parlament haben muss – der Traum jedes modernen Diktators, der wohl oder übel die Existenz einer Abgeordnetenkammer an seiner Seite zu ertragen hat. Dieser Vorschlag wurde mit der jüngsten Geschichte der Kabinettskrisen, der parlamentarischen Mehrheiten und so weiter gerechtfertigt. Die Anhänger des Verhältniswahlrechts bewiesen, dass die Kabinettskrisen und die Instabilität der Mehrheiten Phänomene sind, die dem parlamentarischen System innewohnen, unabhängig davon, ob die Wählerschaft auf die steuerpflichtigen Klassen beschränkt ist, ob das System des Einmannwahlkreises beibehalten oder das Verhältniswahlrecht eingeführt wird. Der Fehler liegt in den Menschen und den Dingen: In der schwierigen Zeit des Risorgimento waren die Regierungen wesentlich weniger beständig als in der Nachkriegszeit. Damals wurde dasselbe Argument der Instabilität der Regierungen von denjenigen benutzt, die für die absolute Monarchie waren und die Abschaffung der Verfassung forderten. Die Episode mit dem Verhältniswahlrecht war nichts anderes als ein klarer Ausdruck einer Rivalität, die tiefere Ursachen hatte als die, die wir vorher untersucht haben, aber sie führte dazu, dass die Kammer zum ersten Mal nach dem Marsch auf Rom in zwei Lager geteilt war und die lebhaftesten Erwartungen der Massen geweckt wurden. Damit wurde dem Parlament, das praktisch schon am 15. November 1922 gestorben war, ein kleiner und gequälter Hauch Leben eingeflößt. Mussolini stellte ein System vor, das mit dem von allen Wahlsystemen anerkannten Mehrheitssystem brach. Nach diesem System bekam eine als solche festgestellte Minderheit die Sitze und die Funktion einer parlamentarischen Mehrheit.9 So wurde das Wahlrecht zum Unsinn. Die Regierung herrschte wie ein absoluter Herrscher über den Wahlkörper und das Parlament. Die Kammer wurde zu einem geschlossenen Kreis, und die Konflikte zwischen der Regierung und der Krone sowie zwischen der Regierung und dem Land konnten nicht mehr vom Wahlkörper gelöst werden, dem seine natürliche Vertretung genommen worden war. Dieser Gesetzesentwurf wurde in den Zeitungen sehr kritisiert, und ganz besonders in den Organen der Popolari; die Verteidigung war schwach. ­Mussolini 9

Anmerkung Luigi Sturzo: Im Großen und Ganzen sah Mussolinis Projekt folgendermaßen aus: ein einziges Wahlkollegium im ganzen Königreich, fünfzehn Wahlbezirke, um die Abstimmung zu erleichtern und die Kandidatenliste zu begrenzen. In jedem Bezirk konnte eine Partei nicht mehr als die Namen von zwei Dritteln der Sitze vorschlagen. Das Wahlergebnis wurde für das gesamte Königreich und für jede Partei addiert, die mit einem identischen Zeichen ihr Listenbündnis angegeben hatte. Die Partei, die mehr als 25 Prozent hatte, erhielt die relative Mehrheit der Wahlstimmen und eroberte mit einem Schlag zwei Drittel der Sitze (357 von 525); die übrigen Sitze wurden proportional an die übrigen Listen verteilt.

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sagte zu seiner Rechtfertigung nur, dass es nötig sei, die Regierung zu stärken, um den Parlamentarismus zu bekämpfen, und dass diese nicht ohne eine sichere Mehrheit, die sie vor Gruppenmanövern schützen würde, gestärkt werden könne. Der Duce, der eine Koalition aller oppositionellen Parteien der Kammer fürchtete, brachte drei ehemalige Ministerpräsidenten in die Untersuchungskommission des Gesetzesentwurfs: Giolitti, Salandra und Orlando. Er wusste, dass alle drei gegen das Verhältniswahlrecht und folglich bereit waren, mit ihren Namen für das neue Wahlsystem zu bürgen, wie auch immer es aussähe. Die Popolari, Sozialisten, Republikaner, Reformisten und die Demokraten der Gruppe von Amendola schlossen sich zusammen, um gegen diesen Gesetzesentwurf zu kämpfen. Sie waren zum Kampf bereit. Aber während die Kommission den Gesetzesentwurf prüfte, wurden Versuche unternommen, eine Einigung mit der Regierung zu erreichen. Es wurden Änderungsvorschläge gemacht, weil man dem Kampf keinen politischen Charakter verleihen, sondern auf der technischen Ebene bleiben wollte. Diese Haltung schwächte die oppositionellen Kräfte. Die Regierung und ihre Freunde übten hartnäckig und ununterbrochen Druck aus. Der Mann, der von den Faschisten und von den Philofaschisten für die Stütze der Kampfposition gehalten wurde und ein überzeugter Gegner Mussolinis war, trat in jenen Tagen von seinem Amt als Parteiführer zurück, da von Seiten der Faschisten mit Repressalien der Sturmtruppen gegen die Kirche gedroht wurde, falls das Kabinett bei der Abstimmung in der Kammer geschlagen würde.10 Anfang Juli 1923 atmete man in der Politik eine unwetterschwangere Luft: Schwarzhemden wurden in Rom zusammengezogen. Es schien, als ob der Oktober 1922 zurückgekehrt sei. Überall zirkulierten Gerüchte von gewalttätigen Repressalien und Rache. Der Apparat der faschistischen Armee wurde vergrößert, und schließlich waren auch die Tribünen der Kammer sowie die Wandel-

10 Sturzo trat am 10.7.1923 von seinem Amt als politischer Sekretär des Partito Popolare zurück, nachdem die Faschisten mit einer wahrhaftigen antiklerikalen Kampagne und Repressalien gegen die Kirche gedroht hatten, gehörte jedoch weiterhin zur Parteiführung. Das Amt des Sekretärs wurde einem Triumvirat anvertraut, das sich aus Giulio Rodinò, Giovanni Gronchi und Giuseppe Spataro zusammensetzte. Im Osservatore Romano vom 12.7.1923 stand ein Kommentar über Sturzos Rücktritt. Darin wurde diese Geste gelobt und aufgezeigt, dass es der Moment war, in dem man „von mehreren Seiten – auch wenn dies ohne eine Einigung, sondern gegen den Willen der Regierung geschah – Gerüchte über bevorstehende Angriffe gegen den Klerus und die unpolitischen katholischen Einrichtungen, die sich nur um soziale und religiöse Angelegenheiten kümmerten, hörte“. Anmerkung Francesco Malgeri: siehe F. L. Ferran, L’Azione Cattolica e il regime, Florenz 1957; De Rosa, Storia del partito popolare, S. 369–406.

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gänge und die Flure voll von Schwarzhemden. Als neuer Janus hält Mussolini eine versöhnliche Rede über seine Absicht, zur Ordnung zurückzukehren, zur Funktionsfähigkeit des Parlaments, zur Eintracht der Bürger und zum Respekt für die Parteien. Der Applaus, der auch von den Tribünen kam, zeigte, dass Mussolinis Rede ein großer Erfolg war, der die Oppositionsparteien verblüffte. Anstatt gegen die Artikel zu stimmen, beschlossen sie mit Ausnahme der Sozialisten, sich zu enthalten. So wurde der Kampf für das Verhältniswahlrecht auf rein technische Einzelheiten reduziert und verlor jeden politischen und konstitutionellen Bezug. Unter diesen Umständen gab es in allen Parteien Abtrünnige, die es unmöglich machten, eine Mehrheit gegen die Regierung zu bilden. Die öffentliche Meinung, die den unvermeidbaren Konflikt zwischen Mussolini und der Mehrheit erwartete, war enttäuscht. Die Hoffnung, dies sei der erste Schritt, um das Parlament seine Funktionen und Verantwortung wieder übernehmen zu lassen und diese Regierung auf den Boden der Verfassung und in den Rahmen des Gesetzes zurückzuführen, schwand sofort. Mit dem neuen Wahlgesetz, das schnell vom Senat verabschiedet wurde, endete eine Zeit, die wir die Auflösung der alten Kammer von 1921 nennen wollen, in der die Faschisten eine schwache Minderheit waren. Das „totalitäre“ System des Faschismus und die diktatorische Auffassung Mussolinis werden bestätigt von den Stimmen der gesamten führenden Schicht, die gestürzt wurde und deren Symbol die drei Namen Giolitti, Salandra und Orlando waren. Auch diese bekamen eineinhalb Jahre nach jenem Tag die Gelegenheit, sich von der Regierung zu trennen und zur Opposition zu wechseln, aber 1923 vertraten sie – jeder auf seine Art – die konservative Reaktion der sogenannten Liberalen gegen die demokratische Strömung, die mit der Verteidigung des Verhältniswahlrechts eine der bemerkenswertesten und sichtbarsten Positionen für die politische Erhebung und die aktive Beteiligung des Volkes am öffentlichen Leben verteidigte. Diese gesamte erste Periode, die mit dem ersten Jahr des Faschismus zusammenfällt, zeigt, wie der Ausgang der beiden schweren Krisen, die von der Nachkriegszeit und von der Dekadenz der führenden Schicht verursacht wurden, die Reaktion stärkte und zur Diktatur führte, der sich die reichen Schichten und die Monarchie zuwandten, wie um darin Rettung zu suchen. Was das Volk angeht, das sich bemühte, seinen Teil der politischen Macht zu verwirklichen und wirtschaftliche Vorteile zu erlangen, so wurde es zurückgewiesen wie ein Eindringling, dem man irrtümlich das allgemeine Wahlrecht zugestanden hatte, der aber dieses Geschenk der Oberschichten mit absolutem Gehorsam gegenüber ihren Befehlen bezahlen musste. Diese Bedeutung des Marsches auf Rom wird mit der Zeit und mit der Entwicklung der Ereignisse klarer.

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Das bolschewistische Russland und das faschistische Italien 1. Die beiden Mythen — 2. Die Realität der beiden Regime — 3. Ihr anormaler Charakter 1. Die Erfolge der Reaktion über den „Aventin“ milderten die extreme Spannung zwischen Faschismus und Antifaschismus nicht, sondern enthüllten besser, was am Anfang nur wenige erkannten: den unbeugsamen Charakter des Ersteren, eine natürliche Kompromisslosigkeit, da seine Existenz von der Nicht-Existenz des Gegners abhängt: mors tua vita mea.y Wie würde man sonst die Unduldsamkeit gegenüber jeder Kritik erklären; den Vernichtungskampf nicht nur gegen die feindliche, sondern auch gegen die wenig freundliche Presse; die Unterdrückung jeder kritischen Stimme; die Assimilierung jeder positiv eingestellten Person oder Gruppe, um diese einer einzigen Disziplin zu unterwerfen; die gewaltsame Übernahme aller Nervenbahnen des öffentlichen Lebens und die tatsächliche Kontrolle des Wirtschaftslebens des Landes und der Arbeitstätigkeit durch die faschistischen Korporationen, die als einzige anerkannt werden und tätig sind? Das Gesetz des Instinkts bringt den Faschismus dazu, eine Gewaltherrschaft zu schaffen, die der totale und einzige Ausdruck des Landes werden soll, und folglich mit allen Mitteln seinen Gegner zu bekämpfen, der mit einem Wort als „Antifaschismus“ zusammengefasst wird. Dieser Begriff hat keine echte Bedeutung, weil er sehr verschiedene, gar gegensätzliche Personen, Parteien, Haltungen und Ideen vereint, aber er hat eine positive Bedeutung, wenn er als antagonistisches Element gegen die totalitäre und absolutistische Position des Faschismus verstanden wird, das heißt als Forderung und Verteidigung der „Methoden der Freiheit“. Wir sagen hier „Methoden der Freiheit“, weil das Wesen der Freiheit oder der bürgerlichen und politischen Freiheiten vom Antifaschismus in verschiedener Weise bewertet werden, je nach den verschiedenen Parteien oder Theorien. Die Methode der Freiheit war dagegen bis heute und ist noch immer bei allen zivilisierten Völkern außer Russland und Italien und in anderen nicht sehr wichtigen Gegenden des Mittelmeers geachtet und in Gebrauch. Für diese Methode ist die Äußerung anders gerichteter politischer Ideen, die Propaganda der verschiedenen Parteien, erlaubt und möglich und wird respektiert oder toleriert, auch wenn diese Gegner der Macht sind und im Widerspruch zur Regierung oder den herrschenden Parteien stehen, solange das im Rahmen der Gesetze des zivilisierten Zusammenlebens geschieht, die aufgrund der Traditionen und der

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„Dein Tod ist mein Leben.“

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Anwendung zu anerkannten Gewohnheiten wurden. Mit dieser Methode der Freiheit war es möglich, die absolute Herrschaft abzuschaffen und verantwortungsbewussten Mächten Bedeutung zu verleihen, politischen Strömungen eine Entwicklung zu ermöglichen, organisierte Parteien zu gründen und dem Volk ein Mittel zu geben, um auf legale Weise seine Wünsche und seinen Willen auszudrücken, ohne auf Aufstände, Gewalt und den explosiven Zorn des unterdrückten oder betrogenen Volkes zurückzugreifen. Aber diese Methode der Freiheit setzt einen Geisteszustand, eine Überzeugung voraus, nämlich dass kein Mensch, keine Partei und keine Gruppe eine andere Methode anwenden kann als diese und dass diejenigen, die gewalttätige Methoden anwenden, sich selbst aus den zivilisierten Kreisen und aus der Politik ausschließen. Sie setzt außerdem voraus, dass kein Mensch und keine Partei oder Gruppe rechtlich über die anderen gestellt und mit absoluter und unveräußerlicher Herrschergewalt ausgestattet wird. Es ist klar, dass der Gegensatz zwischen Faschismus und Antifaschismus unversöhnlich und unüberwindbar ist: Die „Methode der Freiheit“ annulliert den Faschismus; die Methode der Diktatur und der Reaktion annulliert den Antifaschismus. Die Kompromisse zwischen den beiden Seiten, die als mittleres Element so wichtig sind, müssen zwangsläufig von der Anerkennung der vollendeten Tatsachen ausgehen, das heißt dem doppelten Sieg des Faschismus durch den Marsch auf Rom und den Fall des Aventin, das heißt, dem unumstrittenen Recht, über das Land zu herrschen. Der Antifaschismus muss sich verflüchtigen ... und nach Canossa gehen: Danach werden die ehemaligen Feinde in Stille oder in Feigheit leben können; die gegnerischen Parteien und die Ideen können nicht ohne die Zustimmung der Sieger leben, das heißt, sie haben kein eigenes Leben. Diese Position der Faschisten gegenüber ihren Gegnern kann als dieselbe erscheinen wie die der Liberalen des Risorgimento gegenüber den Befürwortern der Krone und der Dynastien der gestürzten Staaten, das heißt gegenüber den sogenannten Legitimisten. Es war klar, dass ein vereintes Reich die Koexistenz der verschiedenen Staaten ausschloss, die das Schicksal Italiens in der Vergangenheit gelenkt hatten, genau wie das konstitutionelle System inkompatibel mit den absoluten Regierungen der Vergangenheit war. Wir haben gesagt, es kann so erscheinen, aber es ist nicht so, weil damals die Fürsten und die Könige der aufgehobenen Staaten einen Krieg verloren oder auf ihren Thron verzichtet hatten; und das neue Königreich übernahm ihre Rechte. Die Legitimisten hatten im neuen Königreich, wenn sie die Methode der Freiheit wählten, ebenfalls das Bürgerrecht, aber wenn sie sich dafür entschieden, mit subversiven Methoden gegen den neuen Staat vorzugehen, mussten sie die Härte des Gesetzes gegen sie ertragen. Sie beschränkten sich in der Tat

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auf ­wenige Zeichen des Widerstandes und des Protests und wurden nach und nach immer weniger. Die passendste Entsprechung zur Stellung des italienischen Faschismus ist dagegen der russische Bolschewismus. Die zweite russische Revolution lehnte von Anfang an das Prinzip der Demokratie, die verfassunggebende Versammlung und die traditionellen Formen des persönlichen Stimmrechts ab und machte die Sowjets der Soldaten, Arbeiter und Bauern zur Basis des panrussischen Staates. Und so übernahm sie die öffentliche Gewalt mit einem bewaffneten Aufstand und reduzierte sie auf den Ausdruck des Willens einer einzigen Partei. Der Kampf zwischen Bolschewiki auf der einen Seite und Menschewiki und Sozialrevolutionären auf der anderen während Kerenskis erster Revolution zwischen März und Oktober 1917 ähnelt dem Kampf, der von Februar bis Oktober 1922 in Italien stattfand. Trotzki schrieb: „Der Kampf für die Bildung einer Sowjetregierung konnte nur auf revolutionärem Boden geführt werden. Man musste denjenigen die Macht entreißen, die nicht in der Lage waren, eine positive Arbeit zu machen und die mit der Zeit die Fähigkeit zu handeln immer mehr verloren [...]. Ihrem Weg, der zu einem künstlichen vorläufigen Parlament und einer hypothetischen verfassunggebenden Versammlung führte, mussten wir unseren Weg entgegensetzen, der durch die Mobilisierung der Befürworter des Sowjetsystems zum panrussischen Sowjetkongress und zur Revolte führte.“ Folglich umzingelten bolschewistische Truppen am 25. Oktober 1917 den Winterpalast in Petrograd und erklärten, dass Kerenski seines Amtes enthoben worden sei; am 26. Oktober proklamierte der panrussische Kongress die provisorische Arbeiter- und Bauern­regierung ... Es scheint eine Beschreibung der Bewegung der Faschisten von Juni bis September 1922 zu sein, die Zusammenkunft und der Kongress von Neapel und der Marsch auf Rom. Der Unterschied zwischen Lenins Bewegung und der Mussolinis besteht darin, dass Lenin von Anfang an eine Koalitionsregierung ausschloss und Mussolini diese im ersten Augenblick akzeptierte, aber dieser Unterschied ist rein formell, weil die nicht-faschistischen Minister des Kabinetts Mussolini vom ersten Tag an merkten, dass sie überhaupt keinen politischen Beitrag leisteten und manchmal noch nicht einmal einen technischen oder persönlichen, sondern dass sie die Schatten einer vorgetäuschten Koalition waren, die daraufhin ohnmächtig wurde und schließlich im Nichts verschwand. Trotzki schrieb: „Eine Koalition mit anderen Parteien wäre nicht in der Lage gewesen, die gesellschaftliche Basis der Sowjets zu erweitern, diese Koalition hätte im Gegenteil mit der Zeit dazu geführt, dass es in der Regierung Elemente gäbe, die vollständig vom politischen Skeptizismus und von der Verherrlichung des liberalen Bürgertums zerfressen sind.“ Die ganze Stärke der neuen Sowjetregierung bestand dagegen im Radikalismus ihres Programms und der Ent-

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schlossenheit ihrer Aktionen. Mit der gleichen Mentalität hat Mussolini nach und nach jede äußere Unterstützung und jede ungelegene Flankendeckung abgeschüttelt und sich in dem radikalen und extremistischen Standpunkt seiner Partei isoliert. Es gibt weitere Berührungspunkte zwischen dem neuen Russland und dem neuen Italien. Die Bolschewiki haben von Anfang an jede Bewegung gegen die Sowjets erbittert bekämpft, indem sie jede Opposition und jede Strömung, die dem Regime gegenüber nicht ausgesprochen wohlgesinnt war, unterdrückten. Die sowjetische Methode drückte den primitiven Geist Moskaus und die Stärke einer tiefgreifenden Revolution aus, die damit endete, dass das Proletariat das Bürgertum und die russische Bürokratie besiegte; dies war jedoch die Folge des Wechsels von einer Tyrannei zur anderen. Folglich waren die Unterdrückungsmethoden grausam: Deportationen und Erschießungen. In Italien gab es keinen Wechsel von einer absoluten Macht zu einer anderen, sondern von einer politischen Klasse, die eine Krise durchmachte, zu einer anderen, die plötzlich auftauchte. Deshalb reichten bewaffnete Sturmtruppen, Rizinus­öl und der Knüppel aus; und auch die schwerer wiegenden Taten wie das Massaker an den Kommunisten in Turin, die Ermordung von Don Minzoni und Matteotti, die Ereignisse von Florenz und so weiter waren überflüssig. Die Ausschaltung der Gegner konnte in Italien mit weniger tragischen Maßnahmen vor sich gehen; und auf eine Weise, dass der Faschismus sich nicht einigen grundlegenden Kräften wie der Industrie, der Monarchie und eines Teils des Klerus entfremdete. Das Wichtigste war, den Gegnern jedes Recht und jede Macht oder Fähigkeit der Teilnahme am öffentlichen Leben zu verwehren. In diesem Bereich hat der Faschismus viel vom Bolschewismus gelernt. In der russischen Verfassung gibt es mehrere Machtorgane, aber die nominelle Quelle der Macht sind die Soldaten-, Arbeiter- und Bauernsowjets; jedes weitere Element, das sich nicht den Sowjets angliedert, hat weder Bürgerrechte noch politische Rechte, es ist nichts; der Sowjet ist alles. Das ist eine äußerst einseitige und „totalitäre“ Auffassung. In Artikel 7 dieser Verfassung steht: „Im Moment des entschiedenen Kampfes des Proletariats gegen die Ausbeuter kann es für diese keinen Platz in irgendeinem der Machtorgane geben. Letztere müssen völlig und ausschließlich den arbeitenden Massen und deren anerkannten Vertretern gehören: den Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernabgeordneten.“ Deshalb setzt Artikel 3 fest: „[…] um den arbeitenden Massen die ganze Macht zu garantieren und jede Möglichkeit der Rückkehr der Ausbeuter an die Macht zu verhindern, beschließt der Kongress die Bewaffnung der Arbeiter, die Bildung einer roten sozialistischen Arbeiter- und Bauernarmee und die vollständige Entwaffnung der besitzenden Klassen.“ Hier die zwei Grundsätze der Faschisten: „Alle Macht dem gesamten Faschismus“ und „wer die Miliz anrührt, bekommt Blei“: Dies sind genau die

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emphatischen Worte Mussolinis. Wer sein gesamtes scheinbar inkohärentes und unbeständiges Werk betrachtet, stellt fest, dass er diese beiden Standpunkte auch in den schwierigsten Momenten seiner Diktatur niemals aufgegeben hat: Im Gegenteil, er entwickelte seinen Plan weiter, sodass er jede politische administrative und wirtschaftliche Aktivität sowohl faktisch als auch mittels Gesetzen und Erlassen in der Hand hatte. Dazu war ihm das Beispiel der Bolschewiki sehr nützlich: Die Bolschewiki haben sich ein Wahlsystem ausgedacht, in dem immer der Wille der Partei das Übergewicht hat. Die Wahlen finden in den Fabriken, Werkstätten, Kasernen und Krankenhäusern nach Vorgaben der örtlichen Sowjets statt, und ein Vertreter der Sowjets ist Mitglied der Wahlkommission. Die Sowjets urteilen über Wahlanfechtungen anhand der von ihnen ernannten Kommission, und in letzter Instanz entscheidet das zentrale Exekutivkomitee. Wie man sieht, verleiht dieses Wahlsystem, wenn man unter einer derartigen Regierung von echten Wahlen sprechen kann, der kommunistischen Partei der Sowjets die absolute Herrschaft. Wie wir gesehen haben, erreichte der Faschismus auf verschiedenen Wegen, vom Wahlgesetz vom Juli 1923 bis zu den Wahlen am 6. April 1924 und schließlich der Unterdrückung der Parteien, das gleiche Resultat wie die sozialistisch-unitarische Partei im November 1925; und mit den gleichen Ergebnissen wird er den Senat von den Korporationen wählen lassen, sobald derartige Vorschläge verwirklicht worden sind! Auch was das Problem der lokalen Selbstverwaltung und der Dezentralisierung betrifft, ist Russland Italien zuvorgekommen; gegen jede Wunschvorstellung von der Unabhängigkeit der lokalen Sowjets überwiegt das Konzept der strengen Zentralisierung der öffentlichen Verwaltung, der Wirtschaft und sogar der Partei. In Italien geht man heute noch weiter mit der amtlichen Ernennung von Gouverneuren und Bürgermeistern in den Kommunen, wobei die gewählten Organe auf eine bloße Beratungsfunktion beschränkt, die Befugnisse der Präfekten erweitert werden und die Partei selbst unter der Führung des „Duce“ zentralisiert wird. In Russland wurde darüber diskutiert, ob die Gewerkschaften zumindest wirtschaftlich unabhängig bleiben sollen, und es gab auch derartige Beschlüsse, aber die übliche Praxis und die allgemeinen Richtlinien zielen auf eine effektive Unterwerfung der Gewerkschaften unter die kommunistische Partei. Genau wie in Italien, wo die faschistischen Korporationen der faschistischen Partei und der faschistischen Regierung untergeordnet sind, die sich im Übrigen vermischen. Bezüglich dieser Vermischung von Regierung und Partei wurde in Russland mehrmals die Trennung der Organe der kommunistischen Partei von den Organen des panrussischen Staates gefordert und sogar vorgeschlagen, und der Kongress der Kommunistischen Partei entschied im April 1922 in diesem

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Sinne. Aber jede Entscheidung kommt in Konflikt mit der Wirklichkeit, und die war und ist, dass die Partei Vorrang vor dem Staat hat: Auf diese Weise wurde der eigene Typ des Parteistaates gegründet. In Italien gibt es dagegen eine Parteiregierung: Die Organe sind nur scheinbar und nicht alle getrennt, denn der Parteichef und der Chef der Regierung (nicht des Staates) ist ein und dieselbe Person. Der Parteisekretär befiehlt wie eine staatliche Autorität.1 Letztlich gibt es zwischen Russland und Italien nur einen wesentlichen Unterschied: Der Bolschewismus ist eine kommunistische Diktatur oder ein linker Faschismus; der Faschismus ist eine konservative Diktatur oder ein rechter Bolschewismus. Das bolschewistische Russland hat den Mythos von Lenin, das faschistische Italien hat den Mythos von Mussolini geschaffen: Weder das eine noch das andere wäre möglich gewesen, wenn sie nicht in der Lage gewesen wären, allgemeine Geisteszustände in glühender und konkreter Form auszudrücken und ihrer Tätigkeit den Stempel aufzudrücken, sie wäre unmittelbar nützlich. Trotzki schrieb: „In all den Monaten, die den Ereignissen im Oktober vorausgingen, hatte die rechte sozial-revolutionäre Partei die Möglichkeit, die Regierungsgewalt in ihre Hände zu nehmen. Trotz allem aber hat sich diese Partei der Regierung entzogen und überließ ihren Löwenanteil dem liberalen Bürgertum; und da dies genau in dem Augenblick geschah, als die numerische Zusammensetzung der verfassunggebenden Versammlung sie formell zur Bildung eines Kabinetts zwang, verlor sie – auch aufgrund dieser Ereignisse – den letzten Rest von Anerkennung, den der revolutionäre Teil des Volkes noch empfand.“ Wenn wir den Namen „sozialrevolutionäre Partei“ ändern und „sozialistische Partei Italiens“ sagen und statt „verfassunggebender Versammlung“ den Begriff „Abgeordnetenkammer“ verwenden, können wir den gesamten oben zitierten Text auf Italien im Juli 1922 zur Zeit der ersten Krise des Kabinetts Facta beziehen, als Turati zum König ging, sich jedoch dann zusammen mit seinen sozialistischen Freunden weigerte, Regierungsverantwortung zu übernehmen und damit zur Entstehung eines allgemeinen Gemütszustandes beitrug, der die verhängnisvolle Ankunft der Faschisten begünstigte. Heute erleiden diese beiden Länder, Russland und Italien, aufgrund der logischen und historischen Voraussetzungen jedes auf seine Weise und unter besonderen Umständen ihr Schicksal der Diktatur, sodass der Gegner der Regierung weder formell noch rechtlich noch in der Realität existiert, weil er kein gleichberechtigter Gegner ist, sondern eine einfache Negation. In

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Anmerkung Luigi Sturzo: Man erinnere sich an die Anordnung Farinaccis, die Abgeordnetenkammer am 10.6., dem Jahrestag der Ermordung Matteottis, geschlossen zu halten. Der Präsident der Kammer, der sich dem anfangs widersetzte, gab schließlich nach.

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­ ussland und in Italien wird er als konterrevolutionär bezeichnet. Die Retter R des Vaterlandes wurden zum Mythos erhoben: in Russland zum bolschewistischen Mythos und in Italien zum faschistischen Mythos. 2. Man kann lange darüber diskutieren, ob die politischen und wirtschaftlichen Leitlinien des Bolschewismus die geeignetsten für die heutigen Verhältnisse in Russland sind und ob die des Faschismus die geeignetsten für die heutigen Verhältnisse in Italien sind. Diese Diskussion wird abhängig von den verschiedenen Standpunkten der Gesprächspartner mit ja oder nein enden. Es handelt sich in der Tat um zwei Phänomene, die nicht nur für die beiden besonderen Staaten bemerkenswert sind, sondern auch das Interesse Europas auf sich ziehen, auch weil sie zu ähnlichen Gemütszuständen in mehr oder weniger großen Zonen in anderen Ländern führen. Im dritten Teil dieser Arbeit werden wir die allgemeinen Bedingungen in Europa in Bezug auf diese beiden gegensätzlichen Begriffe untersuchen: Faschismus oder Bolschewismus und Demokratie. In diesem Kapitel ist es nützlich, auf der Untersuchung des Wesens dieser beiden Phänomene und ihren Gemeinsamkeiten zu bestehen. Der italienische Faschismus, der sich auf dem Weg zum „Totalitarismus und zum Absolutismus“ bewegt, sieht sich einem Problem gegenüber, das den heutigen Denkern und Politikern zu schaffen macht, und zwar der Frage, ob sich die Funktion des parlamentarischen Systems erschöpft hat und ob die heutige Gesellschaft nicht eine andere politische Organisation brauche. Der Faschismus experimentiert mit einem System, das zwar äußere Formen der Volksvertretung bestehen lässt, wie die Abgeordnetenkammer, die noch mit dem allgemeinen Wahlrecht gewählt wird, und einen Senat, der dagegen teilweise von den gesetzlich anerkannten faschistischen Korporationen gewählt wird, und dadurch die Macht der Regierung derartig mehrt, dass diese zum eigentlichen Schiedsrichter und Herrscher über jede andere staatliche Macht wird. Die Figur des Regierungschefs, der über die legislativen Versammlungen herrscht, ohne von ihnen abhängig zu sein, und der nur ad nutum von der königlichen Gewalt bleibt, wäre im Europa des letzten Jahrhunderts keine Neuheit; es reicht, an Bismarck und die anderen deutschen Kanzler zu erinnern. Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied, der darin besteht, dass kein deutscher Kanzler über eine eigene Miliz verfügte und sich die Macht der deutschen Regierungen auf die hohe Bürokratie und die strengste Organisation des Staates stützte, nicht auf Parteien. Der faschistische Regierungschef dagegen stützt sich so sehr auf eine Partei, dass die Partei mit der Regierung zusammenfällt. Also muss der Monarch, wenn er sein Recht ausübt, den Regierungschef zu bestimmen, während das parlamentarische System Italiens schon abgeschafft ist, die Mehrheiten in der Kammer und im Land berücksichtigen, genau wie der deutsche Kaiser in der Zeit von 1870 bis 1918 die Bürokratie und das Militär berücksichtigen musste. In dem neuen System, das in

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Italien eingeführt wurde, muss er den Geist und die Haltung einer Partei und deren bewaffneter Kräfte berücksichtigen, die sich gestern als Republikaner bezeichneten und dies morgen wieder werden können. Unter diesem Gesichtspunkt kann man die gegenwärtige Phase Italiens keineswegs mit der Situation in Frankreich unter Napoleon III. vergleichen, denn dieser schaffte es, wie es auch immer war, Staatsoberhaupt und gleichzeitig Diktator und der wahre Verantwortliche für die Regierung zu werden, während es in Italien einen nicht verantwortlichen – strikt konstitutionellen – Monarchen und einen verantwortlichen und vollkommen diktatorischen Regierungschef gibt. Wird das der Typ des zukünftigen Systems der modernen Staaten sein, den die nationalistischen und antidemokratischen Strömungen anstreben? Das wäre eine allzu hybride Kombination, der eine vernünftige Legitimität fehlte, auf welche die Völker nicht verzichten können. Es scheint seltsam, dass die Völker zumindest den Anschein von Legitimität brauchen: Das, was in iure als „titulus coloratus“, Scheinamt bzw. Scheintitel, bezeichnet wird. Aber es ist so: Die echte Legitimität und die scheinbare Legitimität können schließlich gleichwertig sein, aber keine Regierung und keine Macht regiert ohne irgendeine Legitimität. Und die Faschisten selbst nutzen oft das System des titulus coloratus, wenn sie sich zu ihrer Rechtfertigung auf die „Rechte der Revolution“ berufen. Aber sie können niemals die Zwitterhaftigkeit und Zweideutigkeit rechtfertigen, die nicht der einfachen und klaren Logik der Natur der Dinge entsprechen und folglich dem Prinzip der Legitimität keine Kraft verleihen können. In ihrem gegenwärtigen System bestehen gleichzeitig das Gesetz, das von der Regierung vertreten wird, und die Gewalt, die von der Partei vertreten wird; die Verfassung, die von der konstitutionellen Monarchie vertreten wird, und die Diktatur, die vom „Duce“ vertreten wird; die Armee als Ausdruck der Macht einer Partei, das Parlament als Organ der freien Meinungsäußerung des Volkes, die Abschaffung der Pressefreiheit sowie der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, Mittel zur Kontrolle über das Parlament und über die Regierung. Der Gegensatz zwischen diesen beiden Begriffen ist so stark, dass sie nicht nebeneinander bestehen können, ohne dass einer dabei verliert und zu einem leblosen Körper wird, der nur Schein ist und nicht Realität. Heute wird der Konflikt vermieden, weil die Monarchie, das Parlament, die Justiz und die Armee nicht reagieren können und wollen und das auch nicht für nützlich halten und selbst auf jede politische Existenz verzichten. Unter diesem Gesichtspunkt ist Russland wesentlich weiter als Italien; vor allem, weil der Dualismus zwischen dem Alten und dem Neuen überwunden wurde, indem das gesamte alte Gerüst gestürzt und ein anderes geschaffen wurde. Außerdem war das alte Gerüst absolutistisch und bürokratisch. Für das

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neue trifft das nicht weniger zu, auch wenn ein rein formelles Wahlrecht, das kein wirkliches ist, dazukommt. Sogar der zum Ausdruck gebrachte Wunsch, die Sowjetrepublik zu ändern, wird nach dem neuen Strafgesetz als Straftat betrachtet: Es fehlt eine freiheitliche Grundlage, welche die Wahlen wirksam und gültig macht. So fällt die Wählerschaft der Arbeiter und Bauern, die an sich auch einen unabhängigen und persönlichen Gedanken ausdrücken und einen Dualismus in der Organisation des Staates wiedereinführen müsste, tatsächlich mit der kommunistischen Partei zusammen. In Italien möchte man es besser machen: „Wie alle Italiener Katholiken sind, müssen sie alle Faschisten sein“ und „Wer kein Faschist ist, ist kein guter Italiener“ sind die üblichen Sätze, die man in den Reden der Faschisten hört und in ihren Zeitungen liest. Man versteht nicht, wie eine solche Umwandlung des Geistes und der Seele eines ganzen Volkes möglich sein soll; es ist nicht mehr ein politisches, sondern ein psychologisches Problem. Die Faschisten dagegen meinen, es mit politischen Mitteln lösen und jeden Dualismus mit konstitutionellen und administrativen Veränderungen unterdrücken zu können. Um dies zu erreichen, ist es nötig, dass auch die Wirtschaft die Abschaffung der Gegensätze und der dualistischen Kräfte zum Ausdruck bringt. In Russland geschah dies mittels des Kommunismus. Obwohl Berichte über die Lage in Russland vorliegen, gibt es keine genauen Angaben über die neue wirtschaftliche Struktur dieses kommunistischen Experiments. Es ist bekannt, dass am ersten Entwurf viel geändert werden musste und ständige Änderungen die Unabwendbarkeit eines Wirtschaftssystems beweisen, das sich in Richtung des Privateigentums und auch der wirtschaftlichen Rechte der menschlichen Persönlichkeit bewegt. Wie dem auch sei, gegenwärtig führt der russische Bolschewismus ein besonderes ökonomisches Experiment durch, das in der präkapitalistischen und feudalen Struktur Russlands den geeigneten Boden gefunden hat. Dort wurde der Dualismus der vorherigen Struktur mit der Beschlagnahmung des Besitzes und dem absoluten Triumph des Proletariats, das heißt einer einzigen Klasse, überwunden, und der zukünftige Dualismus, der unvermeidlich aus den Versuchen des Kommunismus hervorgehen wird, wird das Element sein, welches das derzeitige bolschewistische System zersetzt, und ist folglich das maßgebende Element für die Bildung verschiedener ökonomischer Klassen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die russische Revolution der französischen Revolution wesentlich näher und hat weniger mit dem italienischen Faschismus gemein. Aber auch der italienische Faschismus muss auf seine Art für eine Umverteilung des Reichtums stehen, das heißt, einen wichtigen Wechsel, dessen Produkt oder besser Ausdruck er ist. Was für ein Wechsel? Aus dem, was bis hierher untersucht wurde, kann man entnehmen, dass der Faschismus nach und nach zu einem Vertreter der lebhaftesten und geschäftstüchtigsten kon-

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servativen Kräfte geworden ist. Seine finanzielle und wirtschaftliche Politik entspricht den Forderungen dieser Klasse, die faktisch die faschistische Politik leitet. Die Ausschaltung der politischen Gegner ist heute keine wirkliche ökonomische Ausschaltung, das wäre nicht möglich, sondern die Demütigung und Vernichtung derjenigen, die in sich die gegensätzlichen ökonomischen Kräfte, wie die Verbraucher, die Arbeiter und die Handwerker, die Berufstätigen und die mittleren Einkommen, polarisieren könnten. Unter diesem Gesichtspunkt knüpft der Faschismus an die konservative italienische Tradition – von der Einigung bis heute – an, genau wie es aus unserer Untersuchung hervorgegangen ist, das heißt, er ist eine Strömung des ökonomischen Konservativismus in der Gestalt eines politischen Revolutionismus. Im Risorgimento war die Stimmung liberal, und die Konservativen waren auf ihre Art liberal; die Stimmung des „trasformismo“ war demokratisch, und die Konservativen waren auf ihre Art demokratisch; die Stimmung der Nachkriegszeit ist national-faschistisch, und die Konservativen sind auf ihre Art national-faschistisch.2 Die Faschisten und Außenstehende halten dem entgegen, dass diese Zusammenfassung nicht der Wahrheit entspricht und dass es ungenau ist, den Faschismus als einfachen Vertreter der Konservativen aufzufassen, umso mehr als dieser den Gewerkschaften verbunden ist und Arbeiterkorporationen organisiert hat, denen er gegenwärtig eine beachtliche politische Bedeutung beimisst. Es ist leicht, auf diese Argumente zu antworten. Wenn die Korporationen eine unabhängige wirtschaftliche Anschauung vertreten würden, die in der Lage wäre, von einer wahren Opposition zum Ausdruck gebracht zu werden, würden sie von selbst diesen Dualismus mit den reichen Klassen erzeugen, um das Ende des faschistischen Totalitarismus und die Wiederaufnahme des politischen Dualismus zu determinieren. Dies müsste mit der Methode der Freiheit oder in Form eines gewalttätigen Konflikts wie einer Revolution oder eines Aufstandes geschehen. Wenn dies aber nicht geschieht, bedeutet das, dass die faschistischen Korporationen keine unabhängigen Organismen sind, sondern von einer anderen Kraft abhängen, die heute die Vorherrschaft hat; sie sind de facto von der faschistischen Partei abhängig. Dies erklärt wiederum die Tendenz, die wirtschaftlichen und produktiven Kräfte des Landes in einer höheren Synthese zu sehen, der Nation. Das bedeutet, dass die Partei und die Regierung (die einander entsprechen und die sich als wahre Verkörperung der Nation betrachten) als Exponent der

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Anmerkung Luigi Sturzo: Unter den Konservativen versteht man hier die Konservativen aus Nord- und Mittelitalien, wo sich das Gravitationszentrum der politischen Macht befindet, weil dort die wahren ökonomischen Kräfte ansässig sind. Die Bevölkerungen der ländlichen Gebiete und Süditaliens, die zahlreicher und ärmer sind, hatten immer nur einen geringen Einfluss.

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­ irtschaftlichen Strömungen und Interessen fungieren und jeweils die Synw these der Gegensätze bilden. Und das bedeutet, dass die Partei und die Regierung versuchen, die wirtschaftlichen Interessen des Landes so fest wie möglich in den Händen zu halten und diese zum Vorteil der politischen Macht auszuspielen. Es ist klar, dass dieses Spiel nur eine Zeit lang gelingen kann, solange die Parteiregierung wirklich der Ausdruck der stärksten Seite ist und folglich deren Interessen schützt. Unter diesen Bedingungen, die nicht natürlich sind und nicht den ökonomischen Gesetzen entsprechen, die einen eigenen Rhythmus und eigene Bedürfnisse haben, kann es passieren, dass der Dualismus der Interessen für eine bestimmte Zeit abgeschafft oder besser neutralisiert wird und dass eine Seite, die schwächere, nicht über die Mittel verfügt, sich auf politischer Ebene durchzusetzen, die auf anmaßende Weise den wirtschaftlichen Bereich absorbiert. Aber da der Dualismus der Natur der Dinge innewohnt und nicht abgeschafft oder lange unterdrückt werden kann, ist es schicksalhaft, dass er zurückkehrt und seine Rechte mit umso größerer Heftigkeit fordert, je länger die Unterdrückung gedauert hat und je schwerer ihre Folgen gewesen sind. Das ist die Achillesferse des italienischen Faschismus und des russischen Bolschewismus, die diese in ihrem Anspruch verwundbar macht, die wirtschaftlichen Gegensätze abzuschaffen und diese in den Schraubstock der Diktatur zu zwingen. 3. Die Frage, die heute den unvoreingenommenen Beobachter der beiden Phänomene interessiert, ist folgende: Wann und wie werden diese beiden Systeme, die der durchschnittlichen europäischen und amerikanischen Geisteshaltung so fremd sind, beendet werden können? Und wird irgendetwas ihrer Neuerungen überleben, das als neue Erfahrung für die politischen Systeme der zivilisierten Völker dienen kann? Es geht nicht darum, genaue Vorhersagen und schon gar keine Weissagungen zu machen, die über das menschliche Denken hinausgehen, sondern es geht nur um eine politische und historische Untersuchung über die politische Praxis der Männer und der Parteien und die natürliche Tendenz, die eigenen Ideen und die eigenen Bestrebungen zu verwirklichen. Nun ist es nicht möglich, die beiden Regime, das russische und das italienische, als in sich geschlossen und ohne äußere Störungen und Einflüsse zu betrachten: Selbst Russland, das so groß ist, dass es eher als ein asiatischer denn als ein europäischer Staat bezeichnet werden kann, kann sich wegen seiner Beziehungen zum Westen, die heute nicht wenige sind und morgen noch mehr sein werden, nicht isolieren, sondern beabsichtigt, seinen Einfluss weiter auszudehnen, und ist so gezwungen, Beziehungen zu anderen europäischen Mächten zu unterhalten, Pakte zu schließen, einen Rahmen und eine mögliche Koexistenz zu schaffen, was das Regime gewiss beeinflussen wird. Und wenn die Bolschewiki gestern dachten, dass der Versuch der Bolsche-

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wisierung Europas möglich sei, sehen sie heute, dass dieser Traum weniger Chancen hat, während eine stufenweise, wenn auch sehr begrenzte Verwestlichung Russlands wahrscheinlicher ist. Das faschistische Italien hat eine umgekehrte Entwicklung durchlebt. Es erklärte von Anfang an, der Faschismus sei keine „Exportware“. Dann aber merkte es langsam, dass es sich immer mehr isolierte, und dachte an eine faschistische Internationale. Dieser Vorschlag fand bis heute keinen Anklang, aber die verschiedenen ausländischen Faschisten betrachten den italienischen Faschismus, abgesehen von Unterschieden, welche die Zeit, den Ort und die Ziele betreffen, als Prototyp, auch wenn sie kein echtes Interessenbündnis mit diesem haben. Die Konservativen und die Klerikalen jedes Landes verschaffen dem italienischen Versuch ein lautes Echo und verteidigen ihn gegen die Angriffe gegnerischer Strömungen. All dies bedeutet nicht, dass Europa faschistisiert wird: Es bedeutet nur, dass es derzeit nicht möglich ist, dass das System eines modernen Staates ein unabhängiges Phänomen ohne äußere Einflüsse bleibt und seinen Zyklus durchlaufen kann, ohne allgemein zu werden oder zu stürzen. Und weil wir glauben, dass Europa und Amerika, das heißt, die modernen und bürgerlichen Staaten, einen anderen Weg als den des italienischen Faschismus oder des russischen Bolschewismus einschlagen, obwohl Versuche unternommen wurden, um sowohl das eine als auch das andere System zu verbreiten, meinen wir, dass diese Erscheinungen Ausnahmeerscheinungen sind und bleiben. Diese Methode, die Entwicklungsrichtung der modernen Staaten zu bewerten, wird im dritten Teil dieser Arbeit vertieft. Hier übernehmen wir sie als eindeutige Tatsache, auch weil sie dem derzeitigen allgemeinen Bewusstsein der zivilisierten Völker entspricht. Das heißt, wir schließen sowohl die Bolschewisierung als auch die Faschistisierung des europäischen und amerikanischen Abendlandes aus. Wenn dem so ist, scheint die logische Folge zu sein, dass diese beiden Ausnahmesysteme fallen werden oder sich ändern müssen, denn weder die geschlossene Wirtschaft noch eine geschlossene Politik, die Ausdruck dieser Systeme sind, können lange bestehen, ohne den mehr oder weniger starken Widerstand der anderen politischen Systeme und der anderen Wirtschaftssysteme zu spüren: Das Gesetz der kommunizierenden Röhren ist nicht nur ein physisches, sondern auch ein moralisches und kulturelles Gesetz. Gegen diese entschiedene Schlussfolgerung können zwei Einwände vorgebracht werden. Der erste ist historisch; das absolutistische Russland und die absolutistische Türkei im 19. Jahrhundert widersetzten sich der Parlamentarisierung, die in ganz Europa stattfand. Dennoch spielte vor allem das erstgenannte Land eine wichtige Rolle in der europäischen Politik und konnte sich mit der demokratischsten Großmacht, Frankreich, verbünden. Es ist leicht zu antworten, dass Russland und die Türkei teilweise europäisch und teilweise

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asiatisch waren und dass ihre Wirtschaft rückständig und feudal war und sie durch ihre Beteiligung an der europäischen Politik gezwungen wurden, Gegenschläge zu ertragen; dass dieses Phänomen in Russland Duma hieß und in der Türkei Jungtürken und dass dann der Weltkrieg das Übrige tat; und dass diese beiden Situationen auf jeden Fall als Ausnahmen betrachtet wurden, die auf schicksalhafte Weise die Verwestlichung hätten hinnehmen müssen. Niemand kam auf die Idee, dass Europa Vorbilder in Petersburg oder in Istanbul suchen könne. Und wenn das Beispiel des alten Russlands auch für das neue Russland passen kann, weil die wirtschaftlichen Verhältnisse und die Struktur dieses Reiches fast gleich geblieben sind, kann es nicht auf Italien passen, das eine absolut westliche Wirtschaftsstruktur hat, wenn auch die Landwirtschaft der wichtigste Zweig dieser Wirtschaft ist. Der zweite Einwand ist psychologischer Natur; der Mensch neigt dazu, sich an die tatsächlichen Bedingungen anzupassen, weil die Stabilität ihm mehr entspricht, während die Unbeständigkeit ihn quält; eine Trägheit, welche die Aufnahme von äußeren Einflüssen erschwert. Das führt dazu, dass sich das neue System festigt, sodass seine Abschaffung oder tiefgreifende Änderung nicht ohne schwere Erschütterungen vor sich gehen kann, die alle vermeiden möchten. Andererseits führt die Notwendigkeit, Beziehungen zu anderen Staaten zu unterhalten, dazu, das mögliche Misstrauen zu überwinden, insbesondere in Bezug auf die Kapitalanlage. Diese Tatsache führt indirekt dazu, dass das neue System widerstandsfähiger wird, auch wenn es sich um ein Ausnahmeregime handelt. Dieser Einwand ist richtig und stützt sich auf die menschliche Realität und auf die Psychologie: Und es kann sogar hinzugefügt werden, dass jedes neue System die Fakten als Beweis für sich hat und Personen und Strömungen finden wird, die es begünstigen, unterstützen und aufrechterhalten werden. Nichtsdestotrotz bleibt ein derartiges System ein Ausnahmesystem, und wenn es nicht möglich ist, die Welt, die es umgibt und zu der es eine enge und notwendige Verbindung hat, zu ändern, muss es selbst deren Rückwirkungen und Einflüsse ertragen und eine Reihe von Anpassungen durchführen, die seine eigene innere Krise und seine Unbeständigkeit offenbaren und damit auch genau den Dualismus, der es in der Politik und in der Wirtschaft untergrub. Das ist in der Politik der Dualismus zwischen Verfassungsmäßigkeit und Diktatur; in der Wirtschaft der Dualismus zwischen der Vorherrschaft einer Klasse und dem Gegensatz der Interessen. Die Krisen der Ausnahmeregime, die immer die Form eines verspäteten Absolutismus annehmen, ob dieser nun plutokratisch oder demagogisch ist, werden fast immer mit einer Revolution oder mit einem Krieg gelöst. Eine richtige Revolution findet nie ohne einen Krieg statt, der ihr vorausgeht oder folgt. Frankreich, Griechenland, Polen, Irland, Deutschland, Russland, Nord- und Südamerika haben ab Mitte des

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18. Jahrhunderts alle die gleiche Geschichte, denn das ist das wahre Datum der Geburt des modernen Staates. Das faschistische Italien kann innerhalb der politischen Struktur Europas keine Ausnahmeerscheinung bleiben, es kann nicht die allgemeine Verbreitung der faschistischen Lehre als einer neuen europäischen Richtung verlangen; es kann seine Wirtschaft nicht aus dem allgemeinen Rhythmus der zivilisierten Staaten herausreißen; es kann den politischen Dualismus und den Dualismus der wirtschaftlichen Interessen seiner Staatsbürgerklassen nicht abschaffen. Das faschistische Italien muss sich folglich an die Welt, in der es lebt, anpassen, das heißt, sich wieder beugen, zuerst einem toleranten System, dann einem freiheitlichen und schließlich der Demokratie. Es muss sich schließlich selbst verleugnen, wobei es aus seinen Erfahrungen Nutzen ziehen kann. Das wird ein langer und qualvoller Prozess sein, wenn nicht neue Kräfte auftauchen, welche die Funktion eines chemischen Niederschlags haben oder unvorhergesehene Ereignisse den Kurs und die heutige Beurteilung der Interessen und Orientierungen ändern. Um diesen verhängnisvollen Prozess des italienischen Faschismus zu unterstützen, wie unter anderen Gesichtspunkten den des russischen Bolschewismus, wird die Gärung der Ideen der neu aufsteigenden Generation nützlich sein sowie der Beweis des Charakters der wenigen der gegenwärtigen Generation, die Widerstand leisten; die ständige Verteidigung der Ideale, die die anderen zivilisierten Völker beseelen und schließlich eine bessere Entwicklung der ökonomischen Bedingungen, des Kapitals und der Arbeit, die den Dualismus der Kräfte vertreten, sind auch ein Zeichen für den Fortschritt. Der Antifaschismus, der politisch gedemütigt und völlig kaltgestellt wurde, wird seinen Weg in den Bereichen Kultur, Moral, Religion und Wirtschaft wieder aufnehmen, um als erneuerte Kraft wieder aufleben zu können, wenn seine Stunde schlägt, während er heute noch rückwärtsgewandt erscheint, der Widerstand der alten „politischen Klasse“ zu sein scheint, das heißt eine Annäherung an den Sozialismus und an den Kommunismus, was im Gegensatz zur allgemeinen Situation im Land steht. In Wirklichkeit bedeutet es weder das eine noch das andere, aber das Missverständnis bleibt. Auch die Zeit muss etwas zu der unvermeidlichen Revision beitragen. Auch die Masse wartet: Bewusst oder unbewusst wartet sie. Und das Volk fühlt nicht die Ruhe, die aus der Überzeugung entsteht, dass das System stabil ist und den Verhältnissen des Landes entspricht. Es besteht der Verdacht, dass es nicht von Dauer sein kann, auch weil immer mehr Reformen durchgeführt und ununterbrochen Gesetze erstellt werden und jeder kleine Zwischenfall und jede Art von Widerspruch als alarmierend betrachtet wird. Und die Gefahr des Verdachts beruht auf Gegenseitigkeit: Dem Verdacht halten noch nicht einmal die Throne und die Dynastien stand. Heute ist der Faschismus der Sieger, und er ist selbstsicher. Er kann zusammen mit seinem F ­ ührer

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ausrufen: „Wir pfeifen auf jeden Konsens. Wir sind mit einer Revolution groß geworden. Um uns zu besiegen, muss man den Karabinern Karabiner entgegensetzen!“ Dieses Konzept des Bürgerkriegs wird vom gesetzestreuen Antifaschismus, dem die Popolari anhängen, ausgeschlossen; genau wie jeder Versuch der Verschwörung und jede Anwendung von Gewalt ausgeschlossen wird. Das Leben der Ideen und die Forderungen der Realität sind stärker als jedes Attentat und jeder Aufstand. Die Mehrheit der Italiener glaubte 1848 nach der gescheiterten Revolution, der Niederlage von Novara im Krieg gegen Österreich und nach der Rückkehr der alten Regierungen, dass die absolutistischen Systeme unveränderlich und stark bleiben würden, aber nach zehn Jahren fand das neue Italien sich selbst wieder und verwirklichte den Traum des Risorgimento. Heute müssen in der Qual einer Diktatur, die eine politische Klasse ersetzte, die schon am Ende war, die Keime des zweiten Risorgimento aufgehen, in dem Italien seine Freiheit wiedererobern und zu einer echten Demokratie werden kann, der sich die modernen Staaten heute trotz allem mehr denn je zuwenden.

Stammesegoismus versus Menschlichkeit

Der totalitäre Staat Der Begriff ist neueren Datums, aber seine Bedeutung geht unter bestimmten Aspekten auf die assyrischen und babylonischen Reiche zurück.a Der Faschismus hat einen totalitären Staat geschaffen und diesen folgendermaßen definiert: „Nichts außerhalb des Staates oder über ihm, nichts gegen den Staat; alles im Staat, alles für den Staat.“ Abgesehen von dieser Formulierung sind ähnliche Vorstellungen schon in der Vergangenheit entwickelt und umgesetzt worden: Leviathan hat eine zweieinhalb Jahrhunderte lange Geschichte. Es besteht jedoch ein Unterschied zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, und der Vergleich der mehr oder weniger totalitären Staaten der Vergangenheit und der Gegenwart zeigt uns so viele Unterschiede, dass wir gezwungenermaßen zu der Schlussfolgerung kommen, dass die moderne Variante des totalitären Staates eigene und unverwechselbare Eigenschaften hat; und das liegt daran, dass der historische Prozess nicht umkehrbar ist. Deshalb muss man abstrakten Schemata misstrauen. Diese sind als didaktische Methode notwendig, genau wie man beim Bau eines Hauses oder der Ausschmückung großer Fassaden auf Stützpfeiler, Brücken und Gerüste zurückgreifen muss. Aber nachdem man diese benutzt hat, muss man sich ihrer entledigen, wenn man an dem Haus oder an der Dekoration Freude haben will. Die Realität lehnt Schemata ab: Wenn wir heute vom totalitären Staat sprechen, denken wir sofort an das bolschewistische Russland, an das faschistische Italien, an Nazi-Deutschland, die kemalistische Türkei, das halb sozialistische und halb ganovenhafte Mexiko und erwähnen noch nicht einmal die Staaten, die davon inspiriert werden: das Österreich von gestern, Portugal und Polen. Und da wir zu Verallgemeinerungen und der Festlegung von Typen neigen, wenn auch nur, um die Sprache praktischer zu machen, sprechen wir leicht vom bolschewistischen, faschistischen oder nationalsozialistischen Totalitarismus. Wir könnten auch Piłsudski die Ehre erweisen, ihm einen „Ismus“ zu schenken und vom Piłsudskismus sprechen. Es ist ein hartes Wort und auch seine Bedeutung ist nicht sehr freundlich. Die Vorstellung des Staates gehört zur modernen Geschichte. Im Mittelalter sprach man nicht vom Staat, sondern von Königreichen und ­Königen,

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Vorlage der Übersetzung: Luigi Sturzo, Lo stato totalitario. In: ders., Opera Omnia, Prima serie: Opere, Volume quarto: Politica e Morale (1938) – Coscienza Politica (1953), Bologna 1972, S. 19–36.

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von Kaiserreichen und Kaisern, von Herren und Vasallen, von Städten und Republiken. Wenn man die Natur der Macht genauer erklären wollte, sprach man von weltlicher Macht, um diese von der spirituellen Macht zu unterscheiden. Die Völker nannten sich Nationen, die Klassen Zünfte und Gilden. Das gesellschaftliche Zusammenleben wurde als Gemeinschaft bezeichnet. Jede gesellschaftliche Gruppe hatte ihr eigenes Leben, ihre Freiheiten, ihre Privilegien und ihre Immunitäten; die gesellschaftliche Gesamtheit funktionierte wie eine Welt von Monaden bei Leibniz, in der die Harmonie im Voraus bestimmt wurde, auch wenn sie in der Realität nicht immer vorhanden war. Die rechtliche Grundlage dieser mittelalterlichen Welt waren Verträge mit privatem und persönlichem Charakter. Auch die Beziehungen zwischen dem Volk oder der Nation und dem König oder dem Kaiser waren wie ein Vertrag konzipiert, dessen Gegenstand das natürliche Band der Treue und der Loyalität war. Der König war verpflichtet, die allgemeinen Gesetze und die Privilegien der einzelnen Gruppen zu respektieren, und diese mussten dem König treu sein und ihm Unterstützung bieten. Die Vorstellung des als Körperschaft öffentlichen Rechts konzipierten Staates, der über der Gemeinschaft steht, gab es damals noch nicht. Es dauerte bis zur Renaissance und bis zur Reformation und Gegenreformation, bis sich die Idee des Staates abzeichnete und auf der Ebene des Denkens durchsetzte und bis dieser zu einer ständigen Realität wurde. In England, wo das konkrete Denken den Gewohnheiten des abstrakten Denkens überlegen ist und die Spuren der Vergangenheit besser erhalten sind als irgendwo sonst, spricht man viel weniger über den Staat und viel mehr über die Krone und das Parlament oder, noch üblicher, über das Unter- und das Oberhaus, das Empire und das Commonwealth, als ob noch ein Stück des mittelalterlichen Geistes erhalten sei. Nur wenn von „Kirche und Staat“ die Rede ist, wird allgemein das Wort „Staat“ verwendet, aber die Wendung „Kirche und Staat“ ist modern; im Mittelalter wurde mehr von Königreich und Priestertum oder von Papsttum und Empire sowie von der säkularen und der spirituellen Macht gesprochen. Wie alle anderen Wörter wurde das Wort „Staat“ geschaffen, weil es keinen Ausdruck für das gab, was es bedeutete. Der Begriff entstand in Italien, um das Konzept von „Stabilität“ auszudrücken, und zwar genau in der Zeit der Renaissance, in der in den existierenden kleinen Fürsten- und Herzogtümern und Markgrafschaften sowie in den Pseudorepubliken (mit Ausnahme von Venedig) die Beständigkeit der Macht, die Gewissheit über die Grenzen und die Sicherheit der Unabhängigkeit fehlten.

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Aber so wie man von „lucus a non lucendo“b sprach, sprach man in Italien nun von „Staat“. Alles musste aufgebaut werden, während die alten Republiken zerfielen, die Völker in Aufregung gerieten, die Spanier und die Franzosen Krieg in der Lombardei, in Rom, Neapel und Sizilien führten. Die Idee der Macht als einer Gewalt, die sowohl gegen die mächtige Kirche, die eifersüchtigen Nachbarn und die ausländischen Eindringlinge als auch gegen die rebellischen Untertanen gerichtet werden kann, setzte sich als das einzige wirksame Mittel durch, um die Stabilität des Staates und dessen Oberhauptes zu gewährleisten – vor allem, wenn dieser ein Usurpator war; und das traf häufig zu. Die Personifikation des Staates im Fürsten war der erste Ausdruck der Idee des Staates und diese fand in Machiavelli ihren Theoretiker. Letzterer erfand in der Politik die „wirkliche Wahrheit“,c die später „Staatsräson“ genannt wurde, genau wie im vergangenen Jahrhundert der Begriff „Realpolitik“ hervorgebracht wurde. Die tatsächliche Bedeutung ist gleich. Dem Ziel des Herrschers sind die privaten Ziele der Untertanen untergeordnet. Die Mittel haben keine große Bedeutung: Es ist zwar besser, wenn sie ehrlich sind, wenn sie es jedoch nicht sind, müssen sie nicht ausgeschlossen werden, wenn sie von Nutzen sind. Die Religion ist nützlich, um dem Volk Zwänge aufzuerlegen; das Gleiche gilt für die Moral im Zusammenhang mit dem Gemeinwohl, aber über der Moral und der Religion steht die Politik, die verstanden wird als Kunst zu herrschen, stark zu bleiben und die eigene Macht zu erweitern. Machiavelli hat keine Vorliebe für Verbrechen, aber wenn das Verbrechen zum Erfolg führt, bewundert er die Wirkungen.

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„Lucus a non lucendo“ ist eine lateinische Redewendung. Ihre deutsche Übersetzung lautet: „[Das Wort] ‚Hain‘ [leitet sich ab] von ‚nicht leuchten‘.“ Das heißt: Der Hain (lucus) wird angeblich so genannt, weil es dort kein Licht (lucere = hervorleuchten, hell sein) gibt. Diese etymologische Herleitung ist vermutlich nicht korrekt, und die Redewendung wird oft ironisch benutzt, um den Gegensatz zwischen einem Wort und dem, was das Wort bezeichnet, zu betonen. Sturzo bezieht sich wohl auf folgende Passage aus Machiavellis „Der Fürst“, Kapitel 15: „Ma, sendo l’intento mio di scrivere cosa utile a chi la intende, mi è parso più conveniente andare drieto alla verità effettuale della cosa, che alla immaginazione di essa.“ Siehe Giuseppe Lisio (Hg.), Il principe di Niccolò Machiavelli con commento storico filologico stilistico a cura di Giuseppe Lisio, Florenz 1913, S. 92. Siehe außerdem ebd., S. XX. Deutsche Fassung: „Da es aber meine Absicht ist, für den, der es versteht, etwas Nützliches zu schreiben, so schien es mir richtiger, die Wahrheit nachzuprüfen, wie sie wirklich ist, als den Hirngespinsten jener Leute zu folgen.“ Siehe Niccolò Machiavelli, Der Fürst. Mit einem Nachwort von Horst Günther, Frankfurt a. M. 1990, S. 78.

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Gestern wie heute denken viele wie Machiavelli, aber sie hüten sich, dies zuzugeben, verstecken stattdessen ihre unmoralische Haltung hinter dem (oft durchsichtigen) Schleier der historischen Fatalität, des kleineren Übels, des nationalen Vorteils und sogar dem Nutzen für die Religion. Machiavelli versteckte seine Meinung nicht hinter diesen scheinheiligen Schleiern und erhob den Triumph des Nützlichen, der als vorherrschender Anspruch des Staates konzipiert wurde, zur Theorie. Von Machiavelli bis Luther ist es nur ein kleiner Sprung. Luther legte alle Gewalten, auch die kirchlichen, in die Hand des Fürsten, wodurch dieser von Zwängen und Kontrollen seitens der Kirche oder des Volkes befreit wurde. Machiavelli hatte die Ziele der Kirche dem Ziel des Staates untergeordnet, der vom Fürsten personifiziert wird. Luther ging noch weiter: Kraft der Theorie vom geknechteten Willen trennte er die Moral vom Glauben und ließ das gesamte moralische Leben und die religiöse Organisation in den Händen der säkularen Autorität. Die deutschen Fürsten waren glücklich darüber, alle Gewalten in ihren Händen zu haben; umso mehr, weil die Macht der Kirche damals noch sehr groß und vom steuerlichen Gesichtspunkt aus sehr einträglich war. Alle reformierten Fürsten taten dasselbe. Die übrigen, die Fürsten, die Rom treu geblieben waren, nahmen sich, obwohl sie die Autorität des Papstes (bis zu einem gewissen Punkt) respektierten, diese Freiheiten in den Bereichen Kirchenrecht und Steuerregelung und konkurrierten in dieser Hinsicht mit den andersdenkenden Fürsten. Das war der Zeitgeist.

*** Aus der Erfahrung von fast einem halben Jahrhundert des Machiavellismus auf der einen Seite und des Cäsaropapismus auf der anderen, egal ob reformiert oder nicht, entstand das Bedürfnis, einen theoretischen Rahmen für diese Tendenzen zu schaffen, der sich weder mit Machiavellis Empirismus noch mit Luthers geknechtetem Willen zufrieden geben konnte. Die Theorie der Souveränität tauchte mit den Six livres de la République von Jean Bodin (1576) auf. Für Bodin ist die Souveränität die absolute und dauerhafte Macht einer Republik, etwas, das eine eigene Existenz hat und die Basis des Staates ist. Es ist die Macht, Gesetze zu erlassen, ohne an deren Verpflichtungen gebunden zu sein, und dies steht im Gegensatz zu dem, was man im Mittelalter dachte: dass das Gesetz über der Macht stand und seine Vorschriften sowohl die Herrscher als auch die Völker verpflichteten. Man muss nicht glauben, dass die Doktrin der Souveränität (egal ob sie so genannt wird oder nicht) die Legisten und Kanonisten des Mittelalters nicht in Versuchung brachte und die Könige und Kaiser vor Machiavelli und Luther

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nicht geglaubt hätten, über dem Gesetz zu stehen. Wenn eine Theorie verbreitet wird und sich an die historischen Umstände und an den Zeitgeist anpasst, ist das eine Sache, wenn sie zu einer von der Mehrheit akzeptierten Interpretation und zur Grundlage des gesellschaftlichen Lebens wird, ist es eine andere. In der modernen Zeit wurde die Theorie der Souveränität allgemein verbreitet, obwohl Monarchomachen und Calvinisten, Dominikaner und Jesuiten, die von unterschiedlichen Standpunkten ausgingen, diese von Anfang an bekämpften. Aber in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts näherten sich ihr alle mehr oder weniger an. Die Souveränität, die nun einen göttlichen Charakter angenommen hatte, wurde zum heiligen Recht der Könige. Bossuet drückte diese Theorie als Theologe auf gallikanische Weise aus,d während die protestantischen und die anglikanischen Theologen sie in ihrem doppelten Absolutismus vertraten, dem bürgerlichen und dem religiösen. Rom stellte sich gegen die einen und die anderen, um die Rechte der Kirche zu schützen, die sich so implizit zur Wächterin über die Rechte des Volkes erhob, als fast alle anderen diese vergessen hatten. Damals kam die „Naturrechtslehre“ hinzu, der zufolge die Gesellschaft auf der abstrakten Natur statt auf Gott basierte. Jedoch bestand schon eine gewisse Tendenz in Richtung des pantheistischen Naturalismus. Der Absolutismus der Könige wurde sozusagen verweltlicht. Das göttliche Recht, das von der katholischen Lehre zurückgewiesen wurde, fand in der naturalistischen Kultur keinen angemessenen Ausdruck. Die Naturrechtslehre kam rechtzeitig, um es zu verändern. Die Menschen, die in der präsozialen – fast tierischen – Epoche lebten, waren nicht in der Lage, eine Gesellschaft zu bilden und sich Gesetze zu geben. Folglich übertrugen sie ihre Souveränität vollständig und unwiderruflich an einen Häuptling (oder dieser nahm sie sich mit Gewalt). Auf diese Weise ist die absolute Souveränität der Monarchen gerettet, auch wenn sie von der Souveränität des Volkes ausgeht. Dies bestätigt uns Hobbes. Aber die andere Strömung der Naturrechtslehre, die von einer guten und glücklichen präsozialen Natur des Menschen ausgeht, sah in dieser totalen und unwiderruflichen Abtretung der Souveränität des Volkes weder eine Notwendigkeit noch politische Vorteile. Sie sah dagegen von Seiten der Monarchen eine Usurpation der souveränen Rechte des Volkes, die nach Rousseaus

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Jacques-Bénigne Bossuet (1627–1704) war ein französischer Geistlicher und Theologe, Bischof von Condom und Meaux und Erzieher des Dauphin am Hofe Ludwig XIV., Mitglied der Académie française. Er war der Verfasser der vier gallikanischen Artikel von 1682, durch die entschieden wurde, dass der Papst in weltlichen Angelegenheiten keine Autorität hatte, dass die Autorität der Konzile höher sei als die des Papstes und jener folglich nicht in die gallikanische Kirche eingreifen dürfe, und er stellte die Unfehlbarkeit des Papstes infrage.

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Meinung unveräußerlich und unteilbar sind. Zwischen diesen beiden Seiten entstand eine mittlere Strömung, welche die absolute Souveränität des Volkes vertrat, aber der Ansicht war, dass es diese für eine bestimmte Zeit an widerrufbare und wieder wählbare Vertreter delegieren müsse. Die Originalität bestand nicht in der Regierungsform: Auch in der Antike und im Mittelalter wusste man, dass sich die Macht in den Händen eines Einzigen (Monarchie), einer geringen Anzahl von Personen (Oligarchie) oder des Volkes (Demokratie) befinden kann. Das, was die neue Vorstellung von der Politik kennzeichnete, war insbesondere die Nicht-Einschränkung der Macht: Eine Souveränität, die keine anderen Einschränkungen kannte als sie selbst. Die monarchische Souveränität als göttliches Recht fand ihre Grenzen in der persönlichen Beziehung zwischen dem Monarchen und Gott: Und wenn der Monarch, der sich für einen Halbgott hielt, diese Beziehung umkehrte, konnte niemand diese Umstellung verhindern, die für ihn nicht sehr schwer war. Die Souveränität als Naturrecht musste ihre Grenzen im Naturgesetz finden, aber da der König der einzige Deuter dieses Gesetzes war, verfügte das Volk (von dem er seine Souveränität durch einen einzigen und unwiderruflichen Akt ableiten ließ) über kein Mittel, um den Herrscher zu einer weniger willkürlichen Interpretation zu ermahnen. Die von Rousseau konzipierte Volkssouveränität kannte keine Grenzen außer dem kollektiven Willen, der selbst das Gesetz schuf. Die Tatsache, dass dieser gemäß den verschiedenen praktischen Formen der Organisation der Demokratie zu einem Gesetz der Mehrheit oder einem Gesetz der Vertreter oder der Delegierten wurde, änderte nichts am absoluten Charakter einer Souveränität, die keine anderen Grenzen kannte als den kollektiven Willen.

*** Wie bei allen Regierungskonzeptionen, die auf der Souveränität beruhen, latebat anguis in herba: e Die Vorstellung von der Souveränität als göttliches Recht von Bossuet, die Vorstellung von der Souveränität als Naturrecht von Hobbes und die von der Volkssouveränität bei Rousseau begünstigten und konsolidierten in ihrer Unbegrenztheit alle eine nicht an Personen gebundene, objektive und herrschende Einheit: den Staat.

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„Latebat anguis in herba“ (Original: latet anguis in herba) ist ein Teil eines Verses von Vergil (Eklogen III, 93). Die deutsche Übersetzung lautet: „Es lauert eine Schlange im Grase.“ Der Satz wird manchmal zitiert, um auf eine versteckte Falle oder Gefahr hinzuweisen.

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Wir sagen das nicht, um die Vorstellung des Staates anzugreifen. Um kollektive Angelegenheiten zu entwerfen und auszudrücken, müssen wir diese in formelle und abstrakte Ideen umwandeln, um dann zu den konkreten Dingen zurückzukehren und diese mittels dieser Ideen in ihrer Realität und ihrer tatsächlichen Einheit zu erkennen. Aber während die Vorstellungen von der Gemeinschaft, der Universalität, der res publica und des Reiches die Vorherrschaft der Idee der Gesellschaft beibehalten, das heißt, einer Vereinigung mehrerer Personen mit einem gemeinsamen Programm (so die Kirche: ­ecclesia, Versammlung, Treffen, wobei dieser Begriff als Basis die Bedeutung einer Gesellschaft hatte), entflieht die Idee des Staates dem Konzept der Gesellschaft und fügt sich eher in den Entwurf einer beständigen, souveränen und starken Realität ein; das ist der Grund, weshalb von Souveränität und sogar von Macht gesprochen wird. Nach und nach wird der Staat zu einem Ausgangspunkt und zu einem Ziel: Er ist der Ursprung aller Rechte und das Ziel jeder öffentlichen Tätigkeit. Die Staatsraison hatte folgende Bedeutung: alles der Größe des Staates unterzuordnen. Boteros Bemühungen, die Staatsraison zu „katholisieren“,f warfen nur einen Schatten auf den Katholizismus. Es schien, als ob mit der Akzeptanz der katholischen Staatsraison die weltlichen utilitaristischen politischen Mittel, die im Grunde unmoralisch sind und gewöhnlich von den katholischen Herrschern verwendet wurden, im Namen der Religion gerechtfertigt werden sollten. Alle versuchten, den Staat als über den Menschen stehende Realität zu konzipieren und die Souveränität als einen höheren Willen, der die Ziele des Staates erreicht. Als Ludwig XIV. sagte: „Der Staat bin ich“, beabsichtigte er nicht, sich über den Staat zu stellen, sondern in seiner Person die Gesamtheit der Interessen des Staates zu vereinen und diese durch seinen Willen kundzutun. Deshalb schrieb Laski zu Recht zum 450. Jahrestag der Geburt Luthers im Daily Herald, dass Ludwig XIV. ohne Luther nicht möglich gewesen wäre.g

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g

Giovanni Botero (1544–1617) war ein politischer Denker und viele Jahre Jesuit. Als Leser Machiavellis und Bodins hat er sein Denken in seinem bekanntesten Werk „Della Ragion di Stato“ niedergeschrieben. Botero stimmt der Idee Machiavellis zu, dass der Staat hauptsächlich sich selbst bewahren muss. Doch im Gegensatz zu Machiavelli glaubt Botero, dass das Ziel der Bewahrung eine Konkordanz zwischen Politik und Moral nicht unmöglich macht und die Religion nicht nur ein Instrument der Macht ist, sondern auch die Quelle der Werte der Politik. Daher erhält die katholische Kirche eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben. Harold Joseph Laski (1893–1950) war ein englischer politischer Denker und Professor sowie Verfasser von Leitartikeln in der Zeitung „Daily Herald“. Laski hat viel zur Idee der Souveränität gearbeitet, insbesondere in seinen „Studies in the Problem of Sovereignty“ (1917) und in „Authority in the Modern State“ (1919).

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Die Idee des Staates kann alles in allem nicht die letzte sein; sie beschwört noch eine andere wesentliche Realität herauf, die sie ergänzt. In der Zeit des göttlichen Rechtes hatte man die Vorstellung, Gott stehe hinter dem Staat. Diese Vorstellung schloss – zumindest indirekt – die des Volkes ein. Der Klerus bemühte sich, mal die eine und mal die andere Vorstellung hervorzuheben, aber es gelang ihm nicht immer, wie der gallikanische und josephinische Klerus zeigen.h Die Enzyklopädiei stellte hinter den Staat die Vorstellungen von der Natur und der Menschheit, die übrigens großartig erscheinen, da Natur und Menschheit Geschöpfe Gottes sind. Doch von Gott getrennt blieben diese Vorstellungen abstrakt und hatten keinen konkreten Gehalt. Bei der Suche nach einem Bezugspunkt entwickelten sich drei Ideologien und lenkten die Politik vom 19. Jahrhundert bis heute. Die erste stammt von Hegel: Der Staat ist nichts anderes als der Ausdruck des Geistes, dessen perfektester Ausdruck. Der Staat ist an sich Ethik – Recht – Macht. Er ist eine Art göttlicher Inkarnation, in der die Vorstellung von der Macht mit der Gottes identifiziert wird. Aber welcher Staat in Deutschland hätte sich ernsthaft als Geschöpf des absoluten Geistes der Welt und Wille zur Macht bezeichnen können? Alle Staaten und kleinen Fürstentümer außer Preußen konnten als Ausdruck der Mittelmäßigkeit ihrer kleinen Tyrannen und der Intrigen und des Tratsches ihrer Höfe betrachtet werden. Erst die napoleonischen Kriege weckten in Deutschland den nationalistischen Geist, dessen Philosoph und Prophet Fichte war. Seiner Meinung nach kommt das Ewige nur in der Nation zum Ausdruck. Sie besitzt eine moralische Größe, die nach dem Reich des Geistes strebt. Die Staatsnation ist für Fichte, da sie die Entwicklung der gesamten Kultur eines Volkes darstellt, die „Selbstdarstellung Gottes“. Mit Fichte verlieren wir nicht den Faden von Hegels Ideologie, sondern wir finden diese vom Staat auf die Nation übertragen. Als Bismarck die deutsche Einigung verwirklichte, hatte Belgien seine Persönlichkeit wiedererlangt, Italien kurz danach die eigene Einigung vollendet, und die Balkanvölker erlangten nach und nach ihre Unabhängigkeit. Die Prinzipien der Nationalität, der Unabhängigkeit und der Einheit hatten damit die politische Grundlage für

h „Josephinismus“ bezeichnet die Politik des aufgeklärten Absolutismus, die von Kaiser Joseph II. in Österreich praktiziert wurde und von vielen Reformen, auch und insbesondere des Kirchenwesens, geprägt war. i Hier nimmt Sturzo Bezug auf die von Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d’Alembert herausgegebene „Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers“, eines der wichtigsten Werke der Aufklärung und die Urmutter der modernen Enzyklopädien.

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die Vorstellung von Nation – Macht – Kultur geschaffen, deren juristisch-militärisches Instrument der Staat war. Statt nur theoretisch entwickelte Frankreich praktisch die Vorstellung von der Nation im Gegensatz zum „Humanitarismus“ der Enzyklopädie mit seinem dritten Stand oder Bürgertum, mit der Wehrpflicht und den napoleonischen Kriegen, mit der Demokratie und den reaktionären bonapartistischen und klerikalen Erschütterungen. Es verzichtete niemals auf die Vorstellung vom Staat, weil sich Staat und Nation deckten. Hinter den Staat wurde je nach den Umständen entweder das Volk oder die Nation gestellt. Aber das Volk und die Nation brauchten keinen Mythos, um standzuhalten, denn in ihnen war die Vorstellung vom Vaterland sehr alt und wurde von einem beständigen Gefühl belebt. Erst der Nationalismus Maurras’ brachte sie an die Grenze eines positivistischen Mystizismus.j England hat nie den pragmatischen gesunden Menschenverstand verloren, nicht einmal als seine Philosophen die Lehre Hegels und die überschwänglichen Theorien Fichtes verkündeten. Auf theoretischer Ebene und oft auch in der Praxis war der Utilitarismus, der mit einem nicht nur äußerlichen Moralismus verbunden wurde, vorherrschend. Auf den Meeren reichte die britische Fahne aus, in den Kolonien die Krone: Zuhause fühlte sich jeder als freier Herr, ohne sich auf den Staat zu stützen, wobei keine Notwendigkeit bestand, eine Legende über die göttliche Nation zu schaffen. Die Nation war in der Geschichte und im Empire lebendiger als in der Theorie. Während die nationale Idee sich durchsetzte, entwickelte sich überall eine andere Strömung, die den Staat und die Nation ablehnte und durch die Klasse ersetzte: die sozialistische Strömung, die von Karl Marx in den Rang einer Theorie erhoben wurde. Diese Theorie verfocht die Erhebung des Proletariats, das mit der Einführung einer Kollektivwirtschaft den bürgerlichen Staat und die militaristische Nation zerstören sollte. Der historische Materialismus ersetzte Hegels historischen Prozess der Idee, der Klassenkampf die nationale Dynamik, die organisierte Arbeitswirtschaft die staatliche Macht. Die sozialistisch-marxistische Bewegung sprengte die Einheit der nationalen Gefühle und bereitete in allen Nationen dem Internationalismus den Boden. Folglich sind es drei Deutsche: Hegel, Fichte und Marx, welche die europäischen Bemühungen des 19. Jahrhunderts, dem Staat, der Nation und der

j

Charles Maurras (1868–1952) war ein französischer politischer Denker, Journalist und Literat. Maurras war der Theoretiker der nationalistischen und monarchischen Bewegung „Action française“ und hat sich den hauptsächlichen Entwicklungen des modernen Denkens entgegengesetzt (z. B. Liberalismus, Sozialismus). Maurras plädierte für einen „integralen Nationalismus“, der nur durch die Monarchie realisiert werden könne.

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Klasse eine Bedeutung, einen Inhalt sowie einen absoluten und fast göttlichen Zweck zu verleihen, zusammenfassten. Während des 19. Jahrhunderts entwickelten sich zwei Systeme im Blick auf die Konzeption des Nationalstaats: das liberale und das autoritäre System. Das erste war konservativ oder demokratisch, das zweite absolut oder paternalistisch. Natürlich können diese Beurteilungen, die auf die verschiedenen Nuancen deuten, nicht wörtlich genommen werden: Sie sind keine absoluten Kategorien, sondern waren nützlich, um die vorherrschenden Tendenzen zu zeigen. Was uns in dieser Untersuchung interessiert: Hinter der Maske der französischen Demokratie wie auch hinter dem Autoritarismus im Stile Bismarcks und Wilhelms II. versteckt sich immer der Nationalstaat. Das Kaiserreich Österreich-Ungarn war das einzige, das wegen der unterschiedlichen und aus­ einandergehenden Nationalitäten seiner Einwohner nicht als wahrer Nationalstaat betrachtet werden konnte und in sich den Keim der Auflösung trug. Auf allen Breitengraden waren die Eigenschaften des Nationalstaates der stetig zunehmende Zentralismus, der Militarismus, der sich auf die Wehrpflicht und die stehenden Heere stützte, und ein staatliches Bildungswesen als Mittel, um einen nationalen Konformismus zu schaffen (eine nationale und moralische Einheit). In Frankreich waren diese Eigenschaften ein Erbe der Revolution und des napoleonischen Kaiserreichs; in Deutschland ein Erbe von Friedrichs Preußen; in Italien ein Mittel, um die kürzlich errungene politische Einigung zu verteidigen sowie eine Imitation Frankreichs; in Spanien ein Versuch, einerseits den dynastischen und autonomistischen Partikularismus, andererseits den Einfluss der Kirche zu besiegen; in Österreich ein Bedürfnis des Hauses Habsburg und der Vorherrschaft der deutschen und madjarischen Eliten im Staat. Die übrigen europäischen Länder lebten in dem gleichen Klima, auch wenn sie keine ähnlichen Bedürfnisse hatten. Die liberale Wirtschaft und der Internationalismus der Arbeiter hätten mit mehr Kraft einen Kosmopolitismus als Gegensatz zum Nationalismus entwickeln müssen. Der einfache Handel, die Verbreitung der wissenschaftlichen Entdeckungen, die Verbreitung der Presse und die Organisation der Arbeit begünstigten diese Tendenz. Der freie Handel kennzeichnete eine Phase, die bald vom Zollprotektionismus überholt werden sollte, der anfangs zurückhaltend war, dann aber zunahm – zum Vorteil der sogenannten Nationalökonomie. Die periodisch erscheinende Presse verlor schnell ihren freien und individuellen Charakter und wurde zu einer mehr oder weniger kapitalistischen Unternehmung oder band sich an die Industrie. Die „Internationale“ der Arbeiter wurde dauerhaft vom lokalen Partikularismus untergraben, außer der radikale und pseudoanarchistische Teil, dem Männer und Mittel fehlten. Und auch wenn die verschiedenen Strömungen des Sozialismus gegen den Staat als

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bürgerlichen Staat waren, hätten sie einem Nationalstaat nicht abgeschworen, vorausgesetzt, dass dieser proletarisch wäre. Auch wenn die Kirche damals ihre Vorliebe für autoritäre Staaten nicht versteckte, kämpfte sie vom religiösen Gesichtspunkt aus ununterbrochen gegen die politische Zentralisierung, die ihre Mission implizit einschränkte; gegen die Wehrpflicht und das Wettrüsten, durch die die Kriegsgefahr zunahm; und vor allem gegen das staatliche Bildungswesen, das ein bedrohliches Monopol und ein Mittel für die Entfremdung des Volkes vom Christentum im Namen des Staates darstellte. Sie verdoppelte auf theoretischer Ebene wegen der praktischen Positionen, die sie verteidigen musste, die Intensität ihres Kampfes gegen den Liberalismus. Ihr Hauptkampf war jedoch der Kampf gegen den Nationalstaat – ein Kampf, den sie verlor. Der Erste Weltkrieg, der von 1915 bis 1918 dauerte, war die Feuerprobe der politischen Konzeptionen und der Systeme des 19. Jahrhunderts.k Kaiserreiche stürzten und Regierungsformen wurden geändert, aber trotz aller Umwälzungen im Krieg und in der Nachkriegszeit überlebten die wesentlichen Bestandteile des Nationalstaats: Zentralisierung, Militarismus, staatliches Bildungswesen und Zolltarife. Das Deutschland der Weimarer Republik hatte die Armee auf das Minimum reduziert, das von den Verträgen gestattet wurde, aber der Militarismus blieb erhalten und entwickelte sich auch im Verborgenen weiter, bis er plötzlich mitten im Licht auftauchte. Von der Ostsee bis zum Balkan zog der militaristische Wahnsinn alle in seinen Bann, und auch dort, wo es keine regulären Armeen gab, sah man nur noch Aufruhr bewaffneter Sturmtruppen, Wachstum der militarisierten Jugend sowie wildes Treiben schwarzer, roter, blauer, gelber und grüner politischer Milizen. Um die konstitutionelle Schwäche zu überwinden, imitierten die kürzlich gegründeten Staaten die Zentralisierung der großen Staaten, die übrigens ihrerseits nicht aufhörten, neue Ministerien zu schaffen, ihre Verwaltungsbezirke zu vermehren, ihre zentralisierte Bürokratie auszubauen und die Ausgaben für ihre Haushalte zu steigern. Die Schule wurde noch mehr als in der Vorkriegszeit ein Ziel der politischen Eroberung. Die Zolltarife wurden unbesonnen erhöht: Schließlich ließ auch England den freien Handel fallen. Was auch immer die besonderen Umstände in den sechzehn Jahren von 1917 bis 1933 waren, Europa hat neben vielen anderen schmerzhaften Erfahrungen ein bolschewistisches Russland, ein faschistisches Italien und Nazi-­ Deutschland erlebt: drei große totalitäre Staaten mit einem unterschiedlichen Charakter, aber alle drei sind Nationalstaaten und stützen sich auf die Zentralisierung der Verwaltung und der Politik, den Militarismus, das Bildungsmonopol und eine abgeschottete Wirtschaft. k

Sturzo nennt 1915 als Beginn des Ersten Weltkrieges, weil Italien erst am 23.5.1915 in den Krieg eintrat.

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*** Was sind die Unterschiede und wesentlichen Gemeinsamkeiten zwischen diesen totalitären Staaten und den noch existierenden Nationalstaaten? Wenn wir uns auf die vier grundlegenden gemeinsamen Faktoren beziehen, ist es möglich, die Unterschiede festzustellen. a) Die Zentralisierung der Verwaltung wird im totalitären Staat bis ins Ex­ treme vorangetrieben; Aufhebung der Autonomie der Kommunen, der Provinzen und aller weiteren öffentlichen und halb öffentlichen Organismen, wohltätigen Einrichtungen, Kulturverbände und Universitäten. Die Zentralisierung greift im totalitären Staat auf die politische Ebene über; in nationalistischen Staaten, die noch im Zeichen der Demokratie stehen, ist sie noch Gegenstand von Diskussionen. Die exekutive Gewalt wurde de jure und de facto die oberste Synthese aller Gewalten, auch der, die sich in den Händen des Staatsoberhauptes befinden (in Russland und in Deutschland sind das Staatsoberhaupt und der Regierungschef ein und dieselbe Person). Die Unabhängigkeit der Legislative und des Justizwesens gibt es nicht mehr. Die Regierung selbst wurde zu einem dem Regierungschef, der unter den brillanten Namen Duce, Marschall oder Führer zum Diktator geworden ist, untergeordneten Organismus. Diese Anführer haben die Macht durch eine politische Polizei, die mit einer äußerst mächtigen Spionageorganisation zusammenarbeitet, die wesentlich größer ist als alles, was Napoleon ersonnen hatte. Die russische GPU und die italienische Ovra sind wegen ihres schrecklichen Rufes sehr bekannt; kürzlich wurde die deutsche Gestapo gegründet.l Um den Mechanismus der absoluten, unbegrenzten und persönlichen zentralen Macht in Gang zu setzen, muss man notwendigerweise jede individuelle und kollektive politische, bürgerliche und organisatorische Freiheit der Gruppen und Parteien unterdrücken. Das geeignete Mittel: eine Einheitspartei (die Verbindung dieser beiden Begriffe hat etwas Unlogisches), eine dominante bewaffnete Gruppe, die kommunistisch, faschistisch oder nationalsozialistisch ist. Alle anderen Parteien werden aufgelöst, alle unabhängigen Bewegungen unterdrückt und alle Feinde ins Exil geschickt. In Russland wurden die adligen und bürgerlichen Klassen unterdrückt, in Italien die Oppositionsparteien und in Deutschland, wo eine Hochzeit mit einem Juden eine Straftat und ein l

GPU (Ob-edinënnoe gosudarstvennoe političeskoe upravlenie – Vereinigte staatliche politische Verwaltung): russische Geheimpolizei der Jahre 1922 bis 1934. Ovra: italienische Geheimpolizei. Die Bedeutung des Akronyms ist umstritten. Es wird z. B. vermutet, hinter dem Wort verberge sich keine Abkürzung und Mussolini habe sich das Wort ausgedacht. Auch zum Jahr der Entstehung gibt es abweichende Angaben. Vgl. Mimmo Franzinelli, I tentacoli dell’Ovra: agenti, collaboratori e vittime della polizia politica fascista, Turin 1999, insbesondere S. 103, Anm. 37.

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Stammbaum mit jüdischen Vorfahren ein Grund ist, all seinen Nachfahren die Bürgerrechte zu nehmen, sogar die Rassen. Es wird eine Kategorie von Bürgern ohne Rechte geschaffen, eine Klasse von Heloten. Die Gewalt des Kampfes führt zur Einrichtung von Sondergerichten, Konzentrationslagern, Internierungszonen. Die Gefängnisse quellen über; es gibt Hunderttausende von Verbannten; die Deportierten können nicht mehr gezählt werden, die willkürlich Ermordeten und diejenigen, über deren Schicksal man nichts weiß, sind unzählig. Und es handelt sich nicht um Sondermaßnahmen, die während einer revolutionären Krise ergriffen werden. Der totalitäre Staat lässt keine Gegner zu. Seit zwanzig Jahren tun die Sowjets nichts anderes, als ihre Gegner erschießen zu lassen, zu Zwangsarbeit zu verurteilen oder nach Sibirien zu deportieren. In Italien gibt es noch immer das Sondergericht zum Schutz des Staates und die Institution der Verbannung. Deutschland ist als letztes dazugekommen; und seine Säuberung am 30. Juni 1934m war eine typische Episode mit den terroristischen Methoden, welche die modernen Diktatoren anwenden, damit sie um jeden Preis – gegen Freunde und Feinde – an der Macht bleiben. Die administrative und politische Zentralisierung ist in den totalitären Staaten aufgrund eines unvermeidlichen lebenswichtigen Bedürfnisses mit der Aufhebung jeder Form der Autonomie, der Bürgerrechte, der politischen Freiheit und des habeas corpus, den perfektioniertesten Polizei- und Spionage­ systemen, gewalttätigen und blutigen Repressionen, der Eliminierung des Gegners und des Dissidenten sowie der Intoleranz gegenüber einer jeglichen Uneinigkeit und dem äußeren und inneren Zwang zum politischen Konformismus verbunden. b) All dies wird möglich sein, wenn die diktatorische Macht über die Armee und über die Flotte befiehlt und es schafft, das Land zu militarisieren. Auch die Staaten, die demokratisch genannt werden, sind insofern militarisiert, als sie die Wehrpflicht, starke Armeen und mächtige Flotten haben. Aber sie verfügen über diese auf eine normale Art und Weise, weil es sich um rein technische Einheiten handelt, die keine Beziehung zur Politik haben, außerhalb der Parteien bleiben und mit jeder Regierung zum Zweck der nationalen Verteidigung zusammenarbeiten. In der Vergangenheit gab es viele Fälle, in denen Armeechefs politische Tendenzen zeigten: der Boulangismus und die Dreyfus-Affäre in Frankreich und die Pronunciamientos n in Spanien sind

m Der sogenannte Röhm-Putsch war die blutige Abrechnung der NS-Führung mit Opponenten innerhalb und außerhalb der Partei. n Hierbei handelt es sich um eine besonders in Spanien verbreitete Form des Aufstands bzw. Staatsstreichs, der von führenden Offizieren ausging. Vgl. Miguel Alonso Baquer, El modelo español de Pronunciamiento, Madrid 1983.

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bekannt, aber diese blieben im Rahmen des freien Spiels der gegensätzlichen politischen und gesellschaftlichen Kräfte. In den totalitären Staaten ist die Lage anders. Die Partei ist militarisiert und stellt sich über die Armee; oder die Armee verbündet sich mit der Macht und diese beiden Kräfte verschmelzen. Die Jugend ist von einem moralischen und disziplinarischen Gesichtspunkt aus militarisiert: Das kollektive Leben wird als militärisches Leben verstanden; der Wunsch nach Revanche und Herrschaft, innere und äußere Kämpfe und Bürgerkriege versetzen die gesamte Gesellschaft in Aufruhr. In Italien wird man mit sechs Jahren bei den Figli della lupa angemeldet und dann bei den Balilla, den Gio­ vani Italiane, den Avanguardisti und den Militi, und so geht es bis zum Alter von vierundfünfzig Jahren weiter. Die Partei ist eine Miliz; die Lehrer und Professoren verfügen über militärische Dienstgrade und Uniformen. Die militärische Ausbildung dauert das ganze Leben: Die mörderische Waffe ist der übliche Gefährte des Menschen; Truppenschauen und militärische Übungen nehmen einen großen Teil der Zeit der Jugendlichen und Erwachsenen in Anspruch. Deutschland ist heute bis an die Zähne bewaffnet: Nicht nur um zu beweisen, dass es anderen Nationen de jure und de facto ebenbürtig ist, sondern zum Zweck einer mystischen und krankhaften Verherrlichung der Stärke und des Schicksals der nordisch-teutonischen Rasse. Jeder Deutsche ist ein Soldat. Russland setzt die Aufgabe, den Staat zu verteidigen, gleich mit der Verteidigung der bolschewistischen Revolution und Ideologie und deren Verbreitung in der Welt. Kommunismus ist ein Wort, das für die Russen Rettung bedeutet, genau wie der Faschismus für die Italiener und der Nationalsozialismus für die Deutschen. Das rettende Wort soll auf der Welt mit Propaganda und Kraft verbreitet werden, genau wie Mohammed die Völker mit dem Wort und dem Krummsäbel seinem neuen Evangelium unterwarf. c) Um dies zu erreichen, benötigt man ein streng monopolisiertes staatliches Bildungswesen. Das Bildungsmonopol war mehr als ein Jahrhundert lang das beste Heilmittel eines Nationalstaats und ist es immer noch. Napoleon war der Erste, der die Schule für den Staat – von der Universität bis zu den Grundschulen – organisierte, das heißt die Schule, deren unmittelbarer Zweck der Staat ist. Trotzdem hat man fast immer versucht, das Bildungsmonopol mit der Gedankenfreiheit zu verbinden, und zwar auch auf politischer Ebene. Generell wurde der Kampf (sowohl offen als auch versteckt) insbesondere gegen die Kirche geführt, die für die größtmögliche Schulfreiheit kämpfte. Es versteht sich, dass der totalitäre Staat aufgrund seiner Natur gezwungen ist, die bis jetzt respektierten Grenzen zu überwinden. Alle müssen an den neuen Staat glauben und lernen, ihn zu lieben. Man hört keine ande-

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re Meinung, keine Stimme von Dissidenten. Von der Grundschule bis zur Universität ist es nicht ausreichend, einen sentimentalen Konformismus zu praktizieren, sondern es werden die vollständige intellektuelle und moralische Unterwerfung, ein zuversichtlicher Enthusiasmus und der mystische Eifer einer Religion benötigt. Bolschewismus, Faschismus oder Nationalsozialismus sind und müssen eine Religion sein. Um diesen Gemütszustand zu schaffen, reicht die Schule nicht aus. Man muss ergänzende Mittel hinzufügen: staatliche Lehrbücher, die vereinheitlichte staatliche Zeitung, das Kino, das Radio, den Sport, die Schülervereine, die Preise, und das Ganze wird nicht nur kontrolliert, sondern auf ein Ziel ausgerichtet: den Kult des totalitären Staates im Zeichen der Nation, der Rasse oder der Klasse. Um einen einstimmigen Konsens zu erreichen und diesen kollektiven Geist der Verherrlichung anzuregen, wird das gesamte gesellschaftliche Leben ständig für Paraden, Feste, Umzüge, Volksabstimmungen und Sportveranstaltungen mobilisiert, die das Vorstellungsvermögen, den Geist und das Gefühl der breiten Masse treffen. Der Kult des Staates, der Klasse oder der Rasse wäre zu allgemein: Man braucht einen Mann, einen Helden, einen Halbgott. Lenin verfügt heute über ein beeindruckendes Mausoleum, für die Russen ist er ein weltlicher Mohammed geworden. Mussolini und Hitler leben noch und werden von einer Menge Polizisten und Leibwächtern beschützt. Mit ihrem Auftreten und ihren Reden treffen sie das Vorstellungsvermögen und die Sinne der Massen. Sie werden als Heilige angesehen, und ihre Worte werden wie die Worte von Propheten betrachtet. Hitler geht durch zwei dichte Mauern von Wachen, die sich in einem bemerkenswerten Abstand zu ihm bewegen, sodass nur er sich in ihrer Mitte abhebt. Und mit seinem zum Himmel gerichteten Blick hat er etwas Träumerisches an sich; die geöffneten Hände streckt er nach vorn wie ein Erlöser. Mussolini hat ein fast magisches Ritual erfunden, indem er sich eine mehr oder weniger lange Zeit von der Masse rufen lässt: „Duce! Duce! Duce!“ Die Stimmen werden immer eindringlicher bis zum Exzess, um dann fast zu einem Murmeln zu werden und sich erneut nach und nach zu erheben, bis man den erregten Ruf hört: „Duce! Duce! Duce!“ Schließlich erscheint er unter tosendem Applaus. d) All dies erfordert einerseits hohe Ausgaben – eine Luxus-Finanz – und andererseits einen Zwang zu einem immer strenger kontrollierten Wirtschaftssystem. Genau wie alle moralischen Energien müssen auch die ökonomischen Kräfte beim Aufbau der Macht des Staates zusammenlaufen. Die demokratischen Staaten haben ein mittleres System angenommen: Sie unterstützen die nationalen Industrien mit Schutzzöllen und lassen viel Freiheit für private Initiativen.

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Der totalitäre Staat knechtet das private Kapital zu seinem eigenen Nutzen (wie in Deutschland) oder verbindet sich mit ihm, um ein gewisses politisches Gleichgewicht zwischen den Klassen zu halten (wie in Italien) oder er wird selbst kapitalistisch (wie in Russland). Der totalitäre Staat lässt weder den Kapitalisten noch den Arbeitern je die wirtschaftliche Freiheit. Weder freie Gewerkschaften noch Arbeitgebervereinigungen werden toleriert. Es gibt nur staatliche Gewerkschaften und Korporationen, denen jegliche Bewegungsfreiheit genommen wurde und die im gesamten Hoheitsgebiet des Staates vom Staat und für den Staat kontrolliert und organisiert werden. Da­ raus geht ein Entwurf der gelenkten Wirtschaft hervor, der die erste Phase der Autarkie darstellt, das heißt in Richtung einer radikalen Umgestaltung des ökonomischen Systems. Die Frage, welches der beiden Systeme besser ist, die gelenkte oder die geschlossene Wirtschaft, präsentiert sich als ein Problem, das eng mit jeder besonderen Staatsform verbunden ist, und kann folglich nicht abstrakt gelöst werden. Der Bolschewismus zeigt sich auf ökonomischer Ebene als kommunistisches System und auf politischer Ebene als totalitär. Der Faschismus hat sowohl in der Politik als auch in der staatlich gelenkten Wirtschaft stufenweise Experimente gemacht und versteckte sich dabei hinter einem scheinbaren und verbalen Korporatismus. Deutschland hat, als es mitten in der Finanzkrise steckte und tief verschuldet war, gleichzeitig ein totalitäres System und den Staatssozialismus eingeführt.

*** Diese Aspekte des totalitären Staates bringen uns dazu, uns mit zwei Problemen zu befassen, die für unsere Zivilisation höchst interessant sind: 1. Der erste betrifft die Freiheit, die nicht nur als Gesamtheit politischer Rechte und als Beteiligung des Bürgers am Leben des eigenen Landes betrachtet wird, sondern vor allem als Unabhängigkeit der Person, als Sicherheit der persönlichen Rechte, als Garantie des weltlichen und spirituellen Wirkens jeder Person. Die totalitären Staaten schaffen durch die staatliche Einmischung in die Art des Denkens sowie in die Bereiche der Moral und der Religion die politischen Freiheiten ab und schränken die persönliche Freiheit ein. 2. Dies bringt das sehr schwerwiegende Problem der Vorherrschaft des Spirituellen über das Weltliche mit sich; der ethischen Ziele über die politischen und für uns Christen der übernatürlichen religiösen Ziele über den natürlichen Zweck des Staates. Die Lösung für dieses Problem kam 1926 von Papst Pius XI. und wurde dann in den Enzykliken „Non abbiamo bisogno“ vom 29.  Juni 1931 und der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ (gegen die Verfolgungen in

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Deutschland, 16. März 1937) weiterentwickelt sowie schließlich in Bezug auf den totalitären faschistischen Staat, als er im öffentlichen Konsistorium sagte, der „Zweck des Menschen ist nicht der Staat, sondern der Mensch ist der Zweck des Staates“.1 Ob die Beziehungen zwischen der Kirche und dem Staat gesetzlich geregelt werden, was in Italien seit dem 11. Februar 1929 geschieht, oder ob es Uneinigkeiten und Kämpfe wie in Deutschland – trotz des Konkordates von 1933 – gibt oder ob diese wie in Russland völlig abgeschafft wurden, gehört zur historisch-politischen Phänomenologie, die vor neunzehn Jahrhunderten mit dem Kommen Jesu Christi und dem Kindermord in Bethlehem begann. Abgesehen davon ist die Unvereinbarkeit des Christentums mit dem totalitären Staat bereits offensichtlich, wenn man die historischen Postulate über die Konzeption des Staates anschaut, die zum Schaden der Menschen und der spirituellen Belange schon immer zu einem sozialen und politischen Monismus neigte. Aber diese Unvereinbarkeit ist in den logischen Prämissen des Totalitarismus noch eindeutiger, die von der mystischen Verherrlichung eines übermenschlichen Prinzips, das heißt dem absoluten Charakter der Klasse, der Nation und der Rasse, zum Ausdruck gebracht werden. Eine ähnliche Sachlage führt uns zur Umwälzung der christlichen Zivilisation, weil sie den Rechtsbeziehungen (gemäß einer gesunden Vorstellung vom privaten und vom öffentlichen Recht, im Inland und international) die Grundlage der natürlichen Moral nimmt und an deren Platz das Prinzip der dem Staat innewohnenden Moral oder des ethischen Staates stellt. Diese Ideologie betrachtet die Individuen weder als Bürger noch als Untertanen, sondern als Mitglieder einer Herde, als Einheit einer festen Gemeinschaft, deren moralische Handlungen den Zwecken des Staates untergeordnet werden. Der Einzelne verschwindet, wird von der Pan-Gemeinschaft absorbiert, die mit den symbolischen Begriffen der Nation, Klasse oder Rasse bezeichnet wird. Jede Moral bringt das Bedürfnis einer Religion mit sich: Die subjektive Moral ermöglicht uns die Vergöttlichung des Individuums; die naturalistische kann bis zur Vergöttlichung des Totems und dem magischen Kult reichen. Die staatliche Moral führt zur Vergöttlichung des Staates und der Ideen wie Rasse, Nation oder Klasse, die im Staat fast hypostasiert sind; nur die christliche Moral ermöglicht es uns, an der Göttlichkeit Jesu teilzuhaben.

1

Anmerkung Luigi Sturzo: Von den falschen Ansätzen, auf welche die Kongregation der Seminare und Universitäten im Brief vom 13.4.1934 aufmerksam gemacht hat, lautet der achte wie folgt: „Jeder Mensch existiert nur für den Staat und durch den Staat. Alle Rechte, über die er verfügt, sind das Ergebnis eines Zugeständnisses des Staates.“

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Nach Machiavelli und Luther hat der Staat nicht aufgehört, seine eigene Vergöttlichung voranzutreiben. Heute ist der totalitäre Staat die klarste und deutlichste Form des pantheistischen Staates.

Anhang

Personenverzeichnis Seitenangaben mit Asteriskus beziehen sich auf Fußnoten. Abisso, Angelo 118 Acerbo, Giacomo 94* Addio, Mario d’ 24, 42, 46 Alembert, Jean Baptiste le Rond d’ 270* Amendola, Giovanni 24 f., 28, 42, 149 f., 236, 246 Annunzio, Gabriele d’ 217, 219 Aquarone, Alberto 41 Arendt, Hannah 41–43, 48 Assisi, Franz von 114* Balbo, Cesare 184 Baldwin, Stanley 197 Basso, Lelio 28 Bellis, Vito de 91, 109*, 117 Benedikt XV. 12 Beneduce, Alberto 108 f. Bertini, Giovanni 212* Bertone, Giovanni 212* Bianchi, Michele 244 Bismarck, Otto von 191, 254, 270, 272 Bissolati, Leonida 204 f., 208 Bodin, Jean 39, 266, 269* Bonaparte, Napoleon 37, 103, 164, 191, 274, 276 Boncompagni, Francesco Ludovisi 101 Bonomi, Ivanoe 13, 107, 197 f., 204*, 212*, 215, 220 f. Boscarelli, Caterina 8 Boselli, Paolo 213 Bossuet, Jacques-Bénigne 39, 267 f. Botero, Giovanni 269 Bourne, Francis 18 Braun, Otto 193 Brauns, Heinrich 133, 243

Bresci, Gaetano 203* Briand, Aristide 197 f., 221 Bruneteau, Bernard 46 Cabrini, Angiolo 204* Carnazzo, Gabriello 105–107, 111, 116 Carter, Barbara Barclay 18, 21, 31, 33 Caesar, Gaius Julius 191 Casertano, Antonio 118 Cavazzoni, Stefano 101, 212*, 234, 241* Cavour, Camillo Benso Graf von 79, 191, 212 Cerutti, Luigi 11 Cesarò, Giovanni Antonio Colonna di 101, 116 Chappel, James 44 f. Ciccotti, Francesco 204* Cicero, Marcus Tullius 86* Cicognani, Amleto Giovanni 22 Cimeni, Benedetto 117 Combes, Émile Justin Louis 103 Corbino, Orso Mario 106, 108, 221 Cornaggia Medici Castiglioni, Carlo Ottavio 102 Corradini, Enrico 116 f. Crawford, Virginia Mary 19 Crispi, Francesco 114, 198 Crispolti, Filippo 98* Croce, Benedetto 221 Dempf, Alois 32, 47, 237* Depretis, Agostino 90 f., 208 Diderot, Denis 270* Dollfuß, Engelbert 21 Ebert, Friedrich 197 Einaudi, Luigi 24

284 Einaudi, Mario 24 Elliott, William Yendell 19 Eustachius 187 Facta, Luigi 13, 51, 215, 222–224, 228, 230 f., 253 Farinacci, Roberto 253* Federzoni, Luigi 151 Felice Giuffrida, Giuseppe de 111*, 117 Felice, Renzo de 41 f. Fiacchi, Luigi („Clasio“) 174* Fichte, Johann Gottlieb 39, 270 f. Fisichella, Domenico 41 Friedrich, Carl J. 43 Gasparri, Pietro 12, 15*, 17 f., 241 Gasperi, Alcide de 22, 98* Gentile, Emilio 26, 42 f., 46 Gentile, Giovanni 30, 103 f., 184, 195, 197, 238 Gentili, Paolo Mattei 241* Gentiloni, Vincenzo Ottorino 212 Germino, Dante L. 42 Gioberti, Vincenzo 55, 77*, 79 Giolitti, Giovanni 13, 51, 75, 84, 90–92, 108 f., 112, 114, 117 f., 153, 207, 215 f., 218–223, 228– 230, 234, 246 f. Giunta, Francesco 244* Gobetti, Piero 16 Gooch, George Peabody 19 Gounod, Charles 144* Gramsci, Antonio 40 f. Grandi, Achille 212* Gronchi, Giovanni 98, 114, 234*, 246* Grosoli, Giovanni 98*, 212*, 225*, 241* Gurian, Waldemar 44 f. Hamlet 206 f. Hayes, Carlton J. H. 43

Anhang Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 25, 39, 90, 103 f., 195*, 238*, 270 f. Heinrich VIII. 103 Hildebrand, Dietrich von 44 Hindenburg, Paul von 197 Hitler, Adolf 41, 277 Hobbes, Thomas 39, 267 f. Huttner, Markus 46 Jänicke, Martin 45 Jenkner, Siegfried 43 Joele, Francesco 118* Joseph II. 136, 270* Judas 123 Kerenski, Alexander Fjodorowitsch 250 Ketteler, Wilhelm Emanuel von 11, 133 Kohn, Hans 43 Konstantin der Große 56, 123, 185 La Russa, Ignazio 118 Laski, Harold Joseph 269 Lavergne, Bernard 43 Lazzari, Costantino 204* Leibholz, Gerhard 43 Leibniz, Gottfried Wilhelm 264 Lenin, Wladimir Iljitsch 34, 250, 253, 277 Leo XIII. 9 f., 50*, 53, 140, 143, 145, 214* Lerner, Max 43 Lill, Rudolf 13 Livius, Titus 77*, 154* Lloyd George, David 221 Longhi, Rossi 22 Longinotti, Giovanni 212* Ludwig XIV. 39, 276*, 269 Lusignoli, Alfredo 228 f. Luther, Martin 39, 266, 269, 279 MacDonald, James Ramsey 197 Machiavelli, Niccolò 39, 144, 265 f., 269*, 279

Personenverzeichnis Maier, Hans 46 Malgeri, Francesco 48 Maritain, Jacques 44 Marshall, Cicely Mary 18, 21 Martire, Egilberto 102 Marx, Karl 30, 39, 184, 201, 240*, 271 Marx, Wilhelm 183, 193 Matteotti, Giacomo 16 f., 29, 148– 151, 153–156, 160, 163*, 166, 174, 228*, 251, 253* Mauri, Angelo 212* Maurras, Charles 271 Maury di Morancez, Eugenio 118 Mazzini, Giuseppe 11, 79 Meda, Filippo 184, 212 f., 243 Mendizábal, Alfredo 37 Merlin, Umberto 212*, 234 Michaelis, Meir 41 Micheli, Giuseppe 106–108 Milani, Fulvio 234* Minzoni, Giovanni 163*, 243, 251 Misuri, Alfredo 149 Modigliani, Giuseppe Emanuele 240* Mohammed 276 f. Mosse, George L. 42 Murray, Gilbert 19 Murri, Romolo 10, 77* Mussolini, Benito 7, 14–17, 21, 25 f., 29, 32–37, 40 f., 44*, 49*, 90–95, 101–103, 105 f., 109, 114, 116, 118*, 148–152, 160, 166, 174 f., 197 f., 204 f., 208, 217 f., 220 f., 228–236, 238–247, 250– 253, 255, 274, 277 Napoleon III. 255 Nicola, Enrico de 223, 234 Nitti, Francesco Saverio 13, 34, 51, 108*, 149 f., 215 f., 240* Noce, Augusto del 41 f. Nolens, Willem Hubert 133 Nolte, Ernst 46

285

Oldani, Attilio 155, 163* Omodeo, Angelo 108 f. Orlando, Vittorio Emanuele 91, 105, 110, 117, 223, 228, 230, 234, 244, 246 f. Ossietzky, Carl von 21 Owen, Robert 11 Pantano, Edoardo 107 Pasqualino-Vassallo, Rosario 118 Paulus 65, 155 Peano, Camillo 108 Pecci, Vincenzo Gioacchino 53* Pestalozza, Antonio 101 Petersen, Jens 42, 46 Petrus 123 Pilatus 29, 153, 173 Piłsudski, Józef 263 Pippin 164 Pius VII. 103* Pius IX. 9, 26, 146*, 195* Pius X. 7, 11, 103, 158*, 212 Pius XI. 13, 15–17, 21, 23, 243, 278 Platon 83 Podrecca, Guido 204* Poincaré, Raymond 197 f. Polverelli, Gaetano 240* Porzio, Giovanni 118 Pouthier, Jean-Luc 46 Prélot, Marcel 33, 44 Pritchard, Bertha 19 Proudhon, Pierre 11 Pucci, Enrico 15 Riccio, Vincenzo 118 Rocco, Alfredo 242* Rodinò, Giulio 98, 114, 212*, 246* Romano, Peppuccino 91, 117 Rosmini, Antonio 55 Rousseau, Jean-Jacques 39, 267 f. Rutten, Martin Hubert 133 Salandro, Antonio 228, 230 f., 234, 246 f.

286 Salvatorelli, Luigi 28 Salvemini, Gaetano 109 f. Santucci, Carlo 212*, 225* Schäfer, Michael 46 Schlangen, Walter 45 Schulze-Delitzsch, Hermann 11 Scimula, Costantino 150 Seidel, Bruno 43 Seipel, Ignaz 133, 243* Sicca, Michele 22 Sonzini, Mario 150 Sorel, Georges 54*, 201 Spataro, Giuseppe 98, 246 Spaventa, Bertrando 185, 238 Spellman, Francis Joseph 22 Šrámek, Jan 133*, 243* Steed, Henry Wickham 19, 22, 31 Sturzo, Emanuela 17 Sturzo, Felice 7 Sturzo, Mario 10, 17*, 24

Anhang Tangorra, Vincenzo 234* Timasheff, Nicholas S. 42 Togliatti, Palmiro 206* Toniolo, Giuseppe 10, 50, 214 Tovini, Livio 212* Traverso, Enzo 46 Treves, Claudio 229 Trotzki, Leo 35, 250, 253 Turati, Filippo 13, 205, 208, 223, 229*, 253 Umberto I. 203 Vassallo, Ernesto 234* Vecchi, Cesare Maria de 235 Ventura, Gioacchino 55 Vergil 268* Vittorio Emanuele III. 13 f., 208 Wilhelm II. 272 Wilson, Woodrow 210*, 240* Woody, Thomas 43

Sachverzeichnis Seitenangaben mit Asteriskus beziehen sich auf Fußnoten.

Abgeordnetenkammer 75*, 93, 108, 115, 118*, 148*, 207, 213, 215–217, 219–221, 232 f., 242*, 245, 253 f. Absolutismus 31, 33, 36, 64, 69 f., 136, 139, 192, 254, 260, 267, 270* Acerbo-Gesetz 94* Action française 271* Aktualismus 238 Anachoreten 132 Antiklerikalismus 74, 78, 96, 103*, 115, 140, 158, 203, 212, 221, 246* Assenteismo 9, 50, 77*, 158, 177180, 207, 211 Aventin 30, 33, 154, 189, 248 f.

Christlich-soziale Schule 50, 52, 55 Confederazione Generale del Lavoro 202, 207 Conquista Regia 208 Democrazia Cristiana 23, 98* Democrazia sociale 101*, 105* Despotismus 36, 46 Deutschland 11, 19 f., 33, 36–38, 40, 42, 46, 53, 55, 57, 71, 138–140, 147, 183, 189, 193, 201, 243*, 244, 260, 262, 270, 272–276, 278 f. Dezentralisierung 211*, 217, 252 Diktatur 15, 24, 27, 29, 35 f., 69, 82 f., 86, 92 f., 100, 159, 161, 199, 206, 234, 247, 249, 252 f., 255, 258, 260, 262 „Duce“ siehe im Personenverzeichnis unter Mussolini

Balilla 276 Belgien 20, 53, 55, 133, 138, 140, 147, 182 f., 190, 194, 270 Bolschewismus 14, 29, 34 f., 44–46, 69, 93, 153, 166, 218, 223, 226 f., 250 f., 253 f., 256, 258 f., 261, 277 f. Bourbonen 117, 175

Emilia-Romagna 108 f., 117, 173, 201, 206 England 11, 22, 33*, 71, 135, 138, 140, 165, 194, 264, 271, 273 Extremisten 27, 30, 83, 156, 215, 221, 239

Cäsarismus 137 f., 168, 181, 186 Caltagirone 7, 10–12 Camorra 91*, 117-119 Caporetto 223 Catania 12, 108 f., 111* Christliche Demokratie 50*, 77* Christlich-soziale Bewegung 54 f., 58 f., 77, 133 f., 142 f., 146–148, 203 Christlich-soziale Parteien 19 f., 143, 182–185, 193 f., 199

Feudalismus 11, 63, 136 f., 163, 193, 260 Federazione Italiana Operai Metallurgici (FIOM) 84 Fiume 219 Florenz 68, 75, 110, 150*, 202, 251 Frankreich 11, 20, 43*, 46, 51, 53, 55, 57, 63, 71, 103, 136*, 138, 140, 146, 159, 182, 201, 243*, 255, 259 f., 271 f., 275 Franziskaner 114

288 Französische Revolution 27, 63 f., 69, 73, 121, 136, 139, 256 Genua 202, 221 f. Gestapo – Geheime Staatspolizei 40, 274 Gewerkschaften 12, 35, 38, 53 f., 78, 82, 84*, 143, 146, 196, 202 f., 206 f., 209, 211*, 213, 216, 223 f., 236, 242, 252, 257, 278 Giolittismus 109, 111 GPU – Ob-edinënnoe gosudarstvennoe političeskoe upravlenie 37, 274 Griechenland 260 Großindustrie 53, 68, 91, 143, 208 f. Heiliger Stuhl 7, 9 f., 15, 17 f., 20 f., 23, 97, 102 f., 121*, 158*, 190, 212 f., 243 Heiliges Römisches Reich 185–187 Illegalismus 28, 95, 112, 116 Internationalismus 72, 212*, 271 f. Irland 19, 71, 140, 260 Jesuiten 15*, 136, 267, 269 Josephinismus 186, 270* Katholische Kirche 7, 9–11, 15, 16*, 18, 21, 26, 41, 53*, 55–58, 61, 63, 66, 73 f., 78, 90 f., 96, 99 f., 102*, 103 f., 122, 125, 131–133, 135–139, 142, 145, 176, 186–189, 195, 203, 211*, 213, 227, 241, 243, 246, 264–267, 269, 272 f., 276, 279 Katholizismus 18, 45, 55, 66, 100, 102*, 106*, 121, 123 f., 135, 138, 184, 186, 213, 269 Kirchenstaat 9, 103*, 137 Klerikalfaschisten 29, 97–104, 114, 183, 187

Anhang Kommunismus 24, 36, 38, 42, 53, 58, 143, 158–160, 192, 207, 220, 253, 256, 261, 276 König 13 f., 29, 63, 89, 135–138, 157, 161, 164–168, 179, 199, 203*, 204, 207, 223, 230–232, 249, 253, 264, 266–268 Königreich (allgemein) 71, 249, 263 f. Königreich Italien 8, 103*, 107*, 146*, 165, 219*, 228*, 230, 232, 245* Königreich Sardinien 105* Konkordat 7, 15–17, 21, 23, 56, 137, 279 Kongrua 242 Konservativismus 70, 99 f., 103, 115, 140, 172 f., 192, 208, 232, 257 Korporatismus 278 Labour-Partei 193 f., 197*, 209 Legitimisten 249 Liberalismus 30 f., 49, 51*, 58, 60, 125 f., 133, 175 f., 192, 194–197, 201, 213*, 271*, 272 Lombardei 11, 109, 117, 265 London 18–22, 31, 133* Londoner Vertrag 228* Mafia 91*, 117–119 Mailand 62, 75, 107, 150*, 155, 163, 201–203, 224, 228, 230 f. Marsch auf Rom 14, 25, 32 f., 83, 111, 150–152, 161, 166, 173, 225, 227– 232, 234 f., 238, 244 f., 247, 249 f. Maximalisten 32, 207, 209, 225 Mazzini Society 22 Mexiko 37, 263 Militär 14, 38 f., 95, 203*, 220, 227, 242, 254, 276 Militarisierung 38 f., 275 f. Militarismus 272 f. Miliz 35, 106*, 112, 150 f., 236, 251, 254, 273, 276 Mit brennender Sorge, Enzyklika Papst Pius XI. 40, 278

Sachverzeichnis Monarchie 23, 36, 73, 165, 179, 185, 189, 208, 229 f., 245, 247, 251, 255, 268, 271* Moskau 207, 251 Nationalfaschismus 32, 85, 98, 126, 176, 236 f. Nationalismus 49, 71, 78, 100, 116*, 129, 132 f., 138 f., 192, 194, 236, 271 f. Nationalsozialismus 20, 22, 38, 41, 276 f. Naturrecht 59, 267 f. Neapel 23, 76, 104, 106, 110, 202, 230, 250, 265 New York 20, 22–24 Non abbiamo bisogno, Enzyklika Papst Pius XI. 278 Non expedit 9, 11 f., 146, 158, 185, 211 f. Österreich 20 f., 37, 53, 55, 133, 138, 140, 147, 189, 243*, 262 f., 270*, 272 Ovra 37, 274 Palermo 106, 202 Palingenesis 29, 159 Pantheismus 26, 31, 39, 44*, 46, 57–59, 62, 71, 122, 141, 240, 267, 279 Papsttum 63, 73, 77*, 136 f., 163 f., 186, 264, 267* Paris 19 f., 144*, 214 Parlament 9, 12 f., 18, 36, 51, 75, 82, 90 f., 94*, 113, 138, 149, 152, 165, 167, 179, 187, 204 f., 207, 211*, 214–216, 221 f., 224–226, 234, 244–247, 250, 255, 264 Parlamentarismus 14, 31 f., 68, 147, 166, 246 Parteienpluralismus 31 f. Parteiregierung 35, 253, 258

289

Parteistaat 35, 187, 189, 253 Partito Nazionale Fascista (PNF) 149*, 151* Partito Popolare Italiano (PPI) 7, 13 f., 16 f., 20, 28, 30, 49-52, 58–62, 67, 69 f., 75–79, 81–83, 86 f., 97–99, 101 f., 110–115, 119, 131, 134, 145, 152–158, 166, 172, 189, 193 f., 198, 207, 210–222, 224–227, 229, 231 f., 236, 239–246, 262 Partito Socialista Italiano (PSI) 205, 216* Petersburg 260 Philofaschisten 20, 86, 161, 171 f., 175, 191, 220, 232, 234 f., 239, 241, 244, 246 Philoklerikale 100 f. Piemont 105 f., 117, 212 Piemontisierung 105 Pluralismus 14, 70* Po-Ebene 91, 106, 117, 201 Polen 37, 71, 140, 260, 263 Popolari siehe unter Partito Popolare Italiano Popularismus 32, 49, 52, 60, 68, 74– 79, 82 f., 87, 95, 98, 113, 115, 126, 133, 140, 147, 234 Possibilismus 51, 204, 208 Possibilisten 196, 207 Portugal 37, 136*, 263 Pressefreiheit 36, 59, 170, 179, 217, 255 Preußen 133, 193 f., 270, 272 Proletariat 145, 158 f., 202 f., 205 f., 208, 251, 256, 271 Pronunciamiento 227, 275 Quanta cura, Enzyklika Papst Pius IX. 26 Radikalismus 194, 250 Rechtsstaat 28 f., 31, 100, 124, 152, 158, 193

290 Regierung 13–16, 23, 30, 32, 34–36, 49*, 51*, 52, 55, 57 f., 60–62, 64–66, 68 f., 71, 73 f., 79, 82, 89, 92–95, 99–105, 109, 115, 117– 119, 133*, 136, 138 f., 141, 145, 148–153, 155, 161–172, 174–176, 179–187, 189–195, 197 f., 203 f., 206–208, 210*, 212, 215 f., 220– 222, 224–226, 228*, 229, 231 f., 234 f., 237–250, 252–255, 257 f., 262, 274 f. Regierungsform 58, 61, 64 f., 68, 139, 145, 185, 187, 268, 273 Religion, politische 38, 43 f., 46, 277 Rerum novarum, Enzyklika Papst Leo XIII. 9, 50*, 53, 143, 145 f., 214* Revolution 33, 64, 66, 83, 91*, 122, 145, 147, 151, 156, 159–169, 175, 191 f., 198, 204, 206 f., 209, 211*, 227, 233, 238, 250 f., 255–257, 260, 262, 272, 276 Risorgimento 8 f., 31, 33, 50, 55, 72, 77, 79, 91*, 111, 114*, 241, 245, 249, 257, 262 Rom 7, 10, 18, 21, 23, 40, 74, 77*, 97, 106, 108, 110, 139, 154*, 158, 163, 202, 211, 212*, 228, 231, 246, 265–267 Russland 13, 34–38, 45, 64, 68, 71, 182, 209, 248–263, 273 f., 276, 278 f. Schulfreiheit 56, 78, 216, 221, 276 Selbstverwaltung 109–111, 144, 211*, 214, 252 Sizilien 7, 10–12, 17*, 104–111, 114, 116 f., 158, 228, 265 Souveränität 39, 60–62, 125, 164, 211*, 226, 266–269 Sowjet 250–252, 275 Sowjetregierung 250 Sowjetunion 40, 64, 250–252, 256

Anhang Sowjetverfassung 35 Sozialismus 12 f., 19, 24, 27, 30, 32, 49, 51–54, 57 f., 68, 74 f., 78, 126, 133, 142 f., 145, 166, 192–197, 201–207, 209, 214*, 217 f., 234, 261, 271*, 272, 278 Sozialkommunismus 158–160, 182 Soziologie, christliche 148 Spanien 53, 138, 140, 146, 272, 275 Squadra del Baltico 117 Squadre d’azione 13 f., 96*, 106*, 149* f., 163*, 220 Staat, pantheistischer 26, 39, 44*, 57–59, 62, 71, 240, 279 Staatsräson 39, 265 Sturmtruppen 32, 219, 222 f., 227, 230, 233, 236, 246, 250, 272 Tschechoslowakei 133, 139 f., 183, 243* Toleranzedikt 56, 123, 185 Totalitarismus 19, 24–28, 30–48, 57, 89 f., 94, 111, 115, 237, 238*, 247 f., 251, 254, 257, 263–279 Transformation 39, 65 Trasformismo 31 f., 91*, 172, 208, 257 Turin 30, 49*, 75, 98*, 99, 101*, 111– 115, 149, 150*, 163, 166, 202, 235, 239, 241, 243*, 244, 251 Türkei 37, 259 f., 263 Ungarn 55, 140, 182, 190, 272 Unitarier 207, 209, 225 Vatikan 7, 15–19, 21–23, 46, 50, 158, 183, 241–243 Venedig 75, 202, 264 Verhältniswahlrecht 12, 51, 199, 208, 211*, 244–247 Versammlungsfreiheit 36, 59, 255 Volkssouveränität 39, 60–62, 164, 211*, 226, 266–269 Wahlbetrug 118 f., 153

Sachverzeichnis Wahlen 8 f., 11–13, 51, 64, 75*, 91*, 93–95, 97–99, 104, 113 f., 116, 119, 124, 126, 146–148, 153 f., 179, 193*, 196 f., 204, 207, 212 f., 215, 219 f., 224 f., 227 f., 234, 244 f., 252, 256 Wahlgesetz 35, 111–113, 240, 247, 252 Wahlkommission 252 Wahlrecht 8 f., 12, 61, 64, 112, 126, 179, 211*, 214, 244–247, 254, 256 Wahlsystem 214 f., 226, 244, 246, 253

291

Zentralisierung 32, 39, 54, 57, 61, 68, 144, 236 f., 252, 273–275 Zentralismus 75, 214, 272 Zentrismus 27, 47, 81–87 Zentrumspartei, deutsche 16, 55, 193, 214

© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525310502 — ISBN E-Book: 9783647310503