Disput über den Totalitarismus. Texte und Briefe 9783847104926, 9783847004929, 9783737004923

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Disput über den Totalitarismus. Texte und Briefe
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Hannah Arendt / Eric Voegelin Disput über den Totalitarismus Texte und Briefe, herausgegeben vom Hannah-Arendt-Institut in Zusammenarbeit mit dem Voegelin-Zentrum für Politik, Kultur und Religion der LMU München Mit einer Einleitung von Ursula Ludz und Kommentaren von Ingeborg Nordmann und Michael Henkel

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Berichte und Studien Nr. 70

herausgegeben vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V.

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Hannah Arendt / Eric Voegelin

Disput über den Totalitarismus Texte und Briefe, herausgegeben vom Hannah-Arendt-Institut in Zusammenarbeit mit dem Voegelin-Zentrum für Politik, Kultur und Religion der LMU München Mit einer Einleitung von Ursula Ludz und Kommentaren von Ingeborg Nordmann und Michael Henkel

V&R unipress

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Eric Voegelin, Quelle: Eric Voegelin Institute, Louisiana State University, Baton Rouge, LA, USA Hannah Arendt, ca. 1955, Quelle: ullstein bild – ullstein bild

1. Aufl. 2015 © 2015, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Printed in Germany ISBN 978-3-8471-0492-6 ISBN 978-3-8470-0492-9 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0492-3 (V&R eLibrary)

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Inhaltsverzeichnis

Ursula Ludz Zu diesem Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hannah Arendt Vorwort zur ersten Auflage von »The Origins of Totalitarianism« (1951) . . Abschließende Bemerkungen zur ersten Auflage von »The Origins of Totalitarianism« (1951) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7 11 15

Eric Voegelin Brief an Hannah Arendt vom 16. März 1951 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

Hannah Arendt Brief an Eric Voegelin vom 22. April 1951 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Briefentwurf an Eric Voegelin vom 8. April 1951 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35 39

Eric Voegelin Die Ursprünge des Totalitarismus (1953) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Hannah Arendt Eine Antwort (1953) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

Eric Voegelin Abschließende Bemerkung (1953) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ingeborg Nordmann How to write about totalitarianism? Entwicklung eines Konzepts, das Fragen offenlegt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Michael Henkel Eric Voegelin, Hannah Arendt und der Totalitarismus . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ursula Ludz

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Zu diesem Band

Hannah Arendts Totalitarismusbuch erschien erstmals im Jahre 1951, in den USA unter dem Titel The Origins of Totalitarianism und in Großbritannien als The Burden of Our Time.1 Beide Buchtitel entsprachen nicht den Wünschen der Autorin. Sie hatte sich aber in der Titelfrage nicht festgelegt, was möglicherweise eine Folge ihrer Schwierigkeiten bei der Organisation des Stoffes insgesamt sowie der methodischen Probleme, denen sie sich gegenübersah, gewesen ist.2 Der Entschluss, das Werk zu veröffentlichen, ist wahrscheinlich eher äußerem Druck und dem Wunsch geschuldet, die eigenen Erkenntnisse der Öffentlichkeit nicht länger vorzuenthalten, als einem inneren Gefühl, dass es sich um ein fertiges Produkt handele. Wie vorläufig das Buch war, wie sehr sich die Autorin weiter mit seinem Gegenstand beschäftigt hatte, zeigte sich 1955, als die von Hannah Arendt selbst übersetzte deutsche Fassung erschien – nun mit einem Titel, den sie guthieß: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.3 Im Vorwort zur deutschen Ausgabe, datiert Juni 1955, stellt sie fest: »Das Buch handelt von den Ursprüngen und Elementen der totalen Herrschaft, wie wir sie als eine, wie ich glaube, neue ›Staatsform‹ im Dritten Reich und in dem bolschewistischen Regime kennengelernt haben. Die Ursprünge liegen in dem Niedergang und Zerfall des Nationalstaates und dem anarchischen Aufstieg der modernen Massengesellschaft; die Elemente, die in diesem Zerfalls-

1 2 3

Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism, New York 1951; dies., The Burden of Our Time, London 1951. Vgl. Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Arendt. For Love of the World, New Haven/London 1982; deutsch: Hannah Arendt, Leben, Werk und Zeit (übersetzt von Hans Günter Holl), Frankfurt a. M. 1986, S. 285 ff.; vgl. auch unten S. 54. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, von der Verfasserin übertragene und neubearbeitete Ausgabe, Frankfurt a. M. 1955. – Im Folgenden wird das Werk nach der letzten deutschen Ausgabe zitiert: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 10. Auflage München/Zürich 2005.

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prozess frei werden, sind ihrerseits in den ersten beiden Teilen in ihre historischen Ursprünge zurückverfolgt und in dem dritten Teil in ihrer totalitären Kristallisationsform analysiert.«4

Die zweite englischsprachige Auflage, die 1958 – nun nur noch mit dem amerikanischen Titel – auf den Markt kam, ist von Hannah Arendt unter Zugrundelegung der deutschen Fassung überarbeitet worden: »The second revised and enlarged edition in English was done along the lines of the German edition.«5 Weggefallen sind wie in der deutschen Ausgabe das ursprüngliche »Preface« und die »Concluding Remarks«. Alle späteren Auflagen sind diesem Muster gefolgt.6 »Preface« und »Concluding Remarks« werden hier in deutscher Übersetzung veröffentlicht. Das »Preface« hatte Hannah Arendt im Sommer 1950 niedergeschrieben,7 während die »Concluding Remarks« wahrscheinlich bereits 1949, zusammen mit dem Gesamtbuch, in Druck gegeben wurden. Das geschah, bevor Hannah Arendt im November des Jahres erstmals nach dem Krieg nach Europa reiste und die Verwüstungen, die das totalitäre Regime des Nationalsozialismus angerichtet hatte, mit eigenen Augen und Ohren zur Kenntnis nehmen konnte. Ob sie nach ihrer Rückkehr in die USA im März 1950 während der Arbeit an Fahnen und Umbruch der Schlussbemerkungen viel geändert hat, lässt sich nicht mehr klären, weil Manuskript und Druckfahnen nicht erhalten sind. In den vier Jahren, die zwischen der ersten englischen und der ersten deutschen Auflage liegen, hat Hannah Arendt, so kann behauptet werden, gedanklich an dem Buch weitergearbeitet und neues Material verarbeitet. Ihre ursprüngliche, deutlich zu spürende Betroffenheit schwächt sich ab; der Schlussappell zur Solidarität mit allen, die als Verfolgte und »displaced persons« in diesem Jahrhundert der Kriege und Revolutionen allein gelassen sind, wird fallengelassen. Ja, Arendt beginnt, an dem, was sie offensichtlich mit einer gewissen Spontaneität gedacht und geschrieben hatte, zu zweifeln. An Jaspers schreibt sie bereits kurz nach Erscheinen der ersten englischsprachigen Ausgabe am 4. März 1951: »Nun geht mir seit Wochen Ihr ›Ob Jahwe nicht allzu sehr verschwunden ist‹ nach, ohne dass ich eine Antwort wüsste. So wenig vielleicht als auf meine eigene Forderung aus dem Schlusskapitel.«8 Die Forderung, auf die sie Bezug nimmt, ist hochgesteckt. Es geht ihr um »den bewussten Anfang der Geschichte der Menschheit« – eine 4 5 6 7 8

Ebd., S. 16. Hannah Arendt an Hans Riepl, Europäische Verlagsanstalt, 29. August 1961; The Hannah Arendt Papers at the Library of Congress, Washington, D. C., Box 28: Correspondence Publishers / Europaeische Verlagsanstalt, Blatt 002538. Vgl. dazu die Detailangaben in Hannah Arendt, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, mit einer vollständigen Bibliographie. Hg. von Ursula Ludz, 6. Auflage München/ Zürich 2013, S. 278 f., 294 f. Vgl. ihre Briefe an Karl Jaspers vom 11. Juli 1950 und 4. März 1951. In: Hannah Arendt/Karl Jaspers, Briefwechsel 1926–1969. Hg. von Lotte Köhler und Hans Saner, München 1985, S. 189, 202. Ebd., S. 202.

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Zu diesem Band

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»Aufgabe«, die »in ihrer Größe überwältigend und noch nie dagewesen« sei.9 Es geht um nichts Geringeres als den »Vorschlag, neue moralische Wahrheiten zu finden«, wie Arendt an Eric Voegelin schreibt, damit eine Formulierung aus seinem an sie gerichteten Brief vom 16. März 1951 aufnehmend.10 Gegenüber dem Appell und der Forderung in den »Concluding Remarks« gewinnt nach 1951 die analytische Sicht die Oberhand, und folgerichtig tritt – sicherlich auch veranlasst durch Eric Voegelins Kritik – an die Stelle der »Concluding Remarks« das Kapitel »Ideologie und Terror« mit dem Untertitel »Eine neue Staatsform«. Die totalitären Bewegungen, so wird Hannah Arendt etwas später, nun schon viele Schritte weiter auf dem Weg zu einer politischen Theoretikerin, schreiben, haben »mittels einer höchst ingeniösen Verbindung von Terror und Ideologie eine neue Staats- und Herrschaftsform herauskristallisiert«.11 Eine Ergänzung zu den hier veröffentlichten Textstücken aus der ersten Auflage von The Origins of Totalitarianism bietet Arendts Antwort an Eric Voegelin, die zusammen mit dessen Besprechung des Buches in The Review of Politics im Jahre 1953 erschien.12 Der Besprechung sind ein brieflicher Gedankenaustausch, möglicherweise auch mündliche Gespräche vorausgegangen. Sowohl im Arendtals auch im Voegelin-Nachlass finden sich entsprechende Briefdokumente, die hier erstmals in der Originalsprache veröffentlicht werden.13 Voegelin gibt mit seiner Rezension den entscheidenden Punkt des Disputs vor. Er bescheinigt Hannah Arendt eine »emotionale Methode« und behauptet: »Diese emotional bestimmte Methode, von einem konkreten Schockzentrum zu Verallgemeinerungen zu gelangen, führt zu einer Entgrenzung des Gegenstandes.« Seine methodische Kritik mündet in den umfassenden Vorwurf, die Autorin sei Opfer ihres Gegenstandes geworden, indem sie sich zu der Behauptung hinreißen lasse, dass »die menschliche Natur als solche auf dem Spiel« stehe.14 Hannah Arendt verteidigt sich, wobei sie in ihrer Antwort aufschlussreiche Auskünfte gibt: über die Schwierigkeiten, die sie beim Schreiben des Buches hatte, und ihre methodischen Überlegungen.15 Mit der vorliegenden Veröffentlichung wird also eine Rückblende auf die »Ursprünge« von Hannah Arendts Totalitarismusanalyse vorgenommen. Die von 9 10 11 12 13 14 15

Siehe unten S. 27. In diesem Band S. 37, 33. Hannah Arendt, Tradition und die Neuzeit (1957). In: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hg. von Ursula Ludz, München/Zürich 1994, S. 23– 53, hier 35. The Review of Politics, 15 (1953), S. 76–84; in diesem Band in deutscher Übersetzung, S. 53–61. S. 31–42. Vorausgegangen ist eine Veröffentlichung in englischer Sprache: Peter Baehr, Debating Totalitarianism. An Exchange of Letters between Hannah Arendt and Eric Voegelin. In: History and Theory, 51 (2012), S. 364–380. Gordon C. Wells hat die Briefe ins Englische übersetzt. In diesem Band S. 34, 49. In diesem Band S. 54 ff.

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der Autorin entfernten Textstücke aus der ersten englischsprachigen Auflage des Totalitarismusbuches, die Antwort an Eric Voegelin sowie Brief und Briefentwurf aus dem Jahr 1951 sind aufschlussreiche Dokumente, um Arendts Totalitarismustheorie und deren Entwicklung genauer kennenzulernen und zu beurteilen. Ihre Publikation erfolgt aber nicht nur aus Gründen der Arendt-Philologie. Vielmehr geht es auch darum, Arendts Vorstellungen vom Totalitarismus als einer eigenen Herrschaftsform, die in der deutschen Diskussion nach wie vor Missverständnissen ausgesetzt sind, zu verdeutlichen. Dieser Band ist die überarbeitete und erweiterte Neuausgabe der Berichte und Studien Nr. 17 des Hannah Arendt Instituts, die 1998 unter dem Titel Über den Totalitarismus erschienen war. Ursula Ludz hat ihre Übersetzungen durchgesehen und an einigen Stellen verbessert. Ingeborg Nordmann hat ihren Kommentar durch inhaltliche Bezugnahmen Arendts erweitert, die sich anhand ihrer Lektüre der Schriften Voegelins, insbesondere seiner New Science of Politics, verdeutlichen lassen. Hinzugekommen sind der Kommentar des Voegelin-Experten Michael Henkel sowie die in den Nachlässen erhaltenen Briefe zum Thema. Die Neuausgabe geht auf Anregungen des italienischen Übersetzers und Herausgebers Corrado Badocco zurück. Der stellvertretende Direktor des Hannah-Arendt-Instituts, Uwe Backes, und der Leiter des Voegelin-Zentrums für Politik, Kultur und Religion am Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München, Christian Schwaabe, griffen die Idee mit Freuden auf, besorgten die Rechte und betreuten die erweiterte Edition in enger Zusammenarbeit. Inhaltlich hat sich der Schwerpunkt verschoben: Im Zentrum steht nun der Disput zwischen Arendt und Voegelin, der seinerseits Denkanstöße geben mag in den seit einiger Zeit neu entflammten öffentlichen Debatten über Erscheinungsformen des Totalitarismus.

Hannah Arendt

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Vorwort zur ersten Auflage von »The Origins of Totalitarianism« (1951)1

Weder dem Vergangenen anheimfallen noch dem Zukünftigen. Es kommt darauf an, ganz gegenwärtig zu sein. Karl Jaspers

Zwei Weltkriege, welche sich, voneinander durch eine ununterbrochene Kette lokaler Kriege und Revolutionen getrennt, in einer Generation abspielten und ohne Friedensvertrag für den Unterlegenen, ohne Ruhepause für den Sieger geblieben sind, sind mit der Ahnung von einem dritten Weltkrieg zwischen den beiden noch vorhandenen Weltmächten zu Ende gegangen. Dieser Augenblick der Antizipation ist wie die Stille, die sich niedersetzt, nachdem alle Hoffnungen begraben sind. Wir hoffen nicht länger auf eine schließliche Wiederherstellung der alten Weltordnung mit all ihren Traditionen oder auf die Wiedereingliederung der Massen von fünf Kontinenten, die in ein durch die Gewalt von Kriegen und Revolutionen entstandenes Chaos hineingeworfen sind sowie in den wachsenden Verfall all dessen, was bisher noch ausgespart geblieben ist. Unter unterschiedlichsten Bedingungen und unvereinbaren Umständen beobachten wir die Entwicklung der gleichen Erscheinungen: der Heimatlosigkeit in einem nie dagewesenen Ausmaß, der Wurzellosigkeit in einer nie dagewesenen Tiefe. Niemals ist unsere Zukunft so unvorhersehbar gewesen, niemals waren wir so abhängig von politischen Kräften, denen wir nicht zutrauen können, die Regeln des Gemeinsinns und Eigeninteresses zu befolgen, und die wie reiner Wahnsinn aussehen, wenn sie nach den Maßstäben anderer Jahrhunderte beurteilt werden. Es ist, als hätte die Menschheit sich geteilt in jene, die an die menschliche Allmacht glauben (die denken, dass alles möglich ist, wenn man nur weiß, wie man 1

Erstveröffentlichung: Hannah Arendt, Preface. In: dies., The Origins of Totalitarianism, New York 1951, S. VII–IX. Übersetzung: Ursula Ludz.

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Massen dafür organisieren kann) und die anderen, für die Ohnmacht zur überwältigenden Erfahrung ihres Lebens geworden ist. Auf der Ebene historischer Einsicht und politischen Denkens herrscht eine verschwommene, allgemeine Übereinstimmung darüber, dass die wesentliche Struktur aller Kulturen dem Zusammenbruch nahe ist. Auch wenn sie in manchen Teilen der Welt besser erhalten zu sein scheint als in anderen, ist sie nirgends in einer Weise vorhanden, die uns bei den Herausforderungen des Jahrhunderts leiten oder eine adäquate Antwort auf seine Schrecken geben könnte. Verzweifelte Hoffnung und verzweifelte Furcht scheinen oft näher am Zentrum von Ereignissen zu sein als ausgewogenes Urteil und Augenmaß. Die entscheidenden Ereignisse unserer Zeit werden von denen, die sich dem Glauben an einen unvermeidbaren Untergang verschrieben haben, nicht weniger effektiv vergessen als von jenen, die sich einem leichtfertigen Optimismus hingegeben haben. Dieses Buch ist gegen das Hintergrund-Szenario sowohl des leichtfertigen Optimismus wie der leichtfertigen Verzweiflung geschrieben. Fortschritt und Untergang, so wird hier behauptet, sind zwei Seiten derselben Medaille, sie sind beide Artikel des Aberglaubens, nicht des Glaubens. Das Buch wurde in der Überzeugung verfasst, dass es möglich sein sollte, jene verborgenen Mechanismen zu entdecken, die bewirkten, dass alle traditionellen Elemente unserer politischen und geistigen Welt sich in einem Gemisch aufgelöst haben, in dem alles seinen spezifischen Wert verloren zu haben scheint und für das menschliche Verstehen unerkennbar, für menschliche Zwecke unbrauchbar geworden ist. Dem bloßen Prozess des Zerfalls nichts entgegenzusetzen ist zur unwiderstehlichen Versuchung geworden, nicht nur weil er die Pseudogröße »historischer Notwendigkeit« angenommen hat, sondern auch weil alles außerhalb seiner begonnen hat, leblos, blutleer, sinnlos und unwirklich zu erscheinen. Die Überzeugung, dass alles, was auf der Erde geschieht, für den Menschen verstehbar sein muss, kann dazu führen, dass Geschichte unter Verwendung von Allgemeinplätzen interpretiert wird. Verstehen heißt aber nicht, das Empörende leugnen, das Noch-nie-Dagewesene aus dem Dagewesenen ableiten oder Erscheinungen durch Analogien und Verallgemeinerungen so erklären, dass der Aufprall der Wirklichkeit und der Schock der Erfahrung nicht mehr fühlbar sind. Verstehen heißt vielmehr, die Last, die unser Jahrhundert uns auferlegt hat, untersuchen und bewusst tragen – und zwar in einer Weise, die weder deren Existenz leugnet, noch sich unter deren Gewicht duckt. Kurz gesagt: Verstehen heißt unvoreingenommen und aufmerksam der Wirklichkeit, wie immer sie ausschauen mag, ins Gesicht sehen und ihr widerstehen.2 2

Diese Passage hat Arendt fast wörtlich in ihr Vorwort vom Juli 1967 zum ersten Band (»Antisemitismus«) der seinerzeit dreibändigen Ausgabe von »The Origins of Totalitarianism« übernommen; siehe die deutsche Übersetzung (von Michael Schröter) in: Hannah Arendt, Ele-

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Vorwort zur ersten Ausgabe von »The Origins of Totalitarianism«

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In diesem Sinn muss es möglich sein, die empörende Tatsache, dass ein so kleines (und in der Weltpolitik so unwichtiges) Phänomen wie die jüdische Frage und der Antisemitismus zum Katalysator zunächst für die Nazi-Bewegung, dann für einen Weltkrieg und schließlich für die Errichtung der Todesfabriken geworden ist, ins Auge zu fassen und zu verstehen – oder die groteske Unverhältnismäßigkeit zwischen Ursache und Wirkung, die in das Zeitalter des Imperialismus hineinführte, als wirtschaftliche Schwierigkeiten in ein paar Jahrzehnten eine tiefe Umwandlung der politischen Bedingungen überall auf der Welt nach sich zogen – oder den merkwürdigen Widerspruch zwischen dem zynischen »Realismus«, zu dem sich die totalitären Bewegungen bekennen, und ihrer auffälligen Verachtung des gesamten Gewebes der Wirklichkeit – oder die irritierende Unvereinbarkeit zwischen der tatsächlichen Macht des modernen Menschen (die größer ist als je zuvor, ja so groß, dass er an einen Punkt gelangen könnte, die Existenz seines eigenen Universums überhaupt in Frage zu stellen) und der Unfähigkeit von modernen Menschen, in einer Welt, die sie mit ihrer eigenen Kraft errichtet haben, zu leben und deren Sinn zu verstehen. Der totalitäre Versuch globaler Eroberung und totaler Herrschaft ist der zerstörerische Ausweg aus allen Sackgassen. Der Sieg des Totalitarismus wird möglicherweise mit der Vernichtung der Menschheit zusammenfallen; denn wo immer er geherrscht hat, hat er das Wesen des Menschen zu zerstören begonnen. Doch es nützt nichts: Wir müssen die destruktiven Kräfte des Jahrhunderts zur Kenntnis nehmen. Das Problem ist, dass unsere Epoche das Gute und das Böse so eigenartig miteinander verwoben hat, dass die Welt ohne die von den Imperialisten betriebene »Expansion um der Expansion willen« niemals Eine geworden wäre; dass ohne den politischen Entwurf von der »Macht um der Macht willen«, für den die Bourgeoisie verantwortlich zeichnet, das Ausmaß menschlicher Stärke möglicherweise niemals entdeckt worden wäre; dass wir ohne die fiktive Welt der totalitären Bewegungen, in der die wesentlichen Unsicherheiten unserer Zeit mit unvergleichlicher Klarheit ausgesprochen sind, in unseren Untergang getrieben sein könnten, ohne dass uns das, was geschehen ist, überhaupt bewusst geworden wäre. Und wenn es wahr ist, dass in den letzten Stadien des Totalitarismus ein absolutes Böses erscheint (absolut, weil es nicht mehr von menschlich begreifbaren Motiven abgeleitet werden kann), so ist auch wahr, dass wir ohne diesen niemals die wirklich radikale Natur des Bösen kennengelernt hätten. Der Antisemitismus (nicht lediglich der Hass auf die Juden), der Imperialismus (nicht lediglich die Eroberung), der Totalitarismus (nicht lediglich die Dikmente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 10. Auflage München/Zürich 2005, S. 25. – Alle Anmerkungen zu Hannah Arendts Vorwort und Abschließender Bemerkung von der Übersetzerin.

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tatur) – der eine nach dem anderen, einer brutaler als der andere – haben gezeigt, dass die menschliche Würde eine neue Garantie braucht, die nur in einem neuen politischen Prinzip gefunden werden kann, in einem neuen Recht auf Erden, dessen Gültigkeit sich diesmal auf die ganze Menschheit zu erstrecken hat, während seine Macht eindeutig begrenzt bleiben muss, in neu definierten territorialen Einheiten verwurzelt und von ihnen kontrolliert. Wir können es uns nicht länger leisten, das, was in der Vergangenheit gut war, zu übernehmen und einfach als unser Erbe zu bezeichnen, das Böse dagegen zu verwerfen und bloß als eine tote Last zu begreifen, die die Zeit selbst im Vergessen begraben wird. Der unterirdische Strom der westlichen Geschichte ist schließlich an die Oberfläche gedrungen und hat sich der Würde unserer Tradition bemächtigt. Dies ist die Wirklichkeit, in der wir leben. Und deshalb sind alle Bemühungen, aus der Düsternis der Gegenwart in die Sehnsucht nach einer noch intakten Vergangenheit zu fliehen ebenso vergeblich wie das voreilige Vergessen einer besseren Zukunft.

Hannah Arendt

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Abschließende Bemerkungen zur ersten Auflage von »The Origins of Totalitarianism« (1951)1

Die totalitäre Herrschaft kennen wir nicht in ihrer vollen Bedeutung, und es ist unwahrscheinlich, dass das je der Fall sein wird. Ihre Möglichkeiten können nur dann ganz wirklich werden, wenn sie die Erde erobert hat, wenn kein menschliches Wesen mehr außerhalb ihrer mörderischen Macht leben kann. Totalitäre Regierungen könnten mit ihren Bestrebungen nie ganz ans Ziel gelangen, selbst wenn die Welt unter verschiedenen von ihnen aufgeteilt wäre; denn der Totalitarismus kennt keine Mannigfaltigkeit – nicht einmal die der einfachen Pluralität, weil bereits Wettbewerb als solcher zu Zweifel und Rebellion Anlass geben könnte. In dieser Hinsicht mag es durchaus möglich sein, dass der Krieg zwischen Nazi-Deutschland und Sowjetrussland – ein Krieg zwischen zwei wesentlich identischen Systemen, die sich in den äußeren Formen der Herrschaft ganz klar immer ähnlicher wurden – Symbolcharakter besitzt. Diese symbolische Bedeutung erhöht sich noch, wenn wir berücksichtigen, dass die Führer der beiden Länder sich ihrer Ähnlichkeit durchaus bewusst waren und sich Sympathie und Respekt in einem Ausmaß entgegenbrachten, wie es ihnen bei einem nicht-totalitären Land niemals in den Sinn käme. So besteht die Chance, dass die totale Beherrschung des Menschen niemals eintreten wird, weil sie die Existenz einer Autorität, einer Lebensweise, einer Ideologie in allen Ländern und unter allen Völkern der Welt voraussetzt. Nur wenn kein Konkurrent, kein Land, das physische Zuflucht gewährt, und kein menschliches Wesen, dessen Verstehen eine geistige Zuflucht ermöglichen mag, übrig geblieben sind, nur dann können der Prozess der totalen Beherrschung und die Veränderung der Natur des Menschen ernsthaft beginnen. Die Chancen für einen letztendlichen Erfolg des Totalitarismus verringern sich weiter, wenn wir uns daran erinnern, dass fast kein Herrschaftssystem je weniger fähig gewesen ist, seine Einflusssphäre stetig auszudehnen und seine Erobe1

Erstveröffentlichung: Hannah Arendt, Concluding Remarks. In: dies., The Origins of Totalitarianism, New York 1951, S. 429–439. Übersetzung: Ursula Ludz.

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Hannah Arendt

rungen zu behalten. Die Nazi-Herrschaft im besetzten Europa vertat ihre Chancen, bei den eroberten Völkern Sympathien zu gewinnen oder zumindest eine Tolerierung zu erreichen, indem sie sofort ihre Rassenpolitik in der extremsten Form einführte und diesen Völkern dadurch keine Alternative ließ, als sich gegen sie, selbst unter verzweifelten Bedingungen, zu wehren. Die Schwierigkeiten der Komintern in Jugoslawien (möglicherweise auch in China) und der fanatische Hass auf den Kommunismus in allen Satellitenstaaten sind von gleicher Natur, selbst wenn sie noch keinen Weg, sich zu artikulieren, gefunden haben. In beiden Fällen werden große anfängliche Erfolge bewusst zerstört oder vernachlässigt zugunsten des letzten, ideologisch definierten Ziels. Die Nazis hätten einen Kordon kleiner Staaten im Osten schaffen, sie hätten ein vereinigtes Europa unter unangefochtener deutscher Vorherrschaft haben können, wenn sie sich nur mit so wenig zufrieden gegeben hätten. Sie wollten aber nicht über bestehende Völker herrschen, sondern die demographische Karte Europas rassisch verändern – was zu einer gleich radikalen Veränderung der demographischen Karte der Welt geführt hätte. Der Rassismus machte es ihnen unmöglich, auf das Ende des Krieges zu warten. Verschiedene Völker mussten sie sofort ausrotten. Ähnlich hätten die Herrscher in Moskau sich weder die Feindschaft der englischsprachigen Welt, noch den Hass der Satellitenvölker zugezogen, wenn sie sich damit zufrieden gegeben hätten, eine russische Interessen- und Einflusssphäre in Osteuropa, auf dem Balkan und vielleicht sogar in China zu schaffen. Eine Satrapenherrschaft wäre für die einsichtigeren Führer zurückgebliebener und politisch schlafender Länder akzeptabel gewesen, wohingegen ein Regime, dessen Leitung und Zentrum sich in Moskau befand und das von Agenten der Komintern ausgeübt wurde, zwar voller Gefahren steckte, aber die einzige Möglichkeit der totalen Manipulation und Zerstörung dieser Gebiete war. Unfähig also, auf kleinen Errungenschaften aufzubauen und sich mit temporären Erfolgen zufriedenzugeben, fähig lediglich, in Jahrhunderten und Kontinenten zu denken, hat der Totalitarismus nur eine Chance für den endgültigen Sieg, und die liegt in einer globalen Katastrophe, welche sich sozusagen jeden Augenblick ereignen sollte. All dies scheint darauf hinzuweisen, dass der Totalitarismus eines Tages einfach verschwinden und in der Geschichte der Menschheit keine andere Spur hinterlassen wird als erschöpfte Völker, wirtschaftliches und gesellschaftliches Chaos, politische Leere und eine geistige Tabula rasa. Es mag also durchaus sein, dass selbst unsere Generation noch eine Zeit erlebt, in der es erlaubt sein wird, die Höhlen des Vergessens2 und die Massenfabrikation von Leichen ebenso aus dem 2

»Höhlen des Vergessens« (engl. »holes of oblivion«) wird von Hannah Arendt für folgenden Sachverhalt eingeführt: »Die von der Polizei verwalteten Gefängnisse und Lager sind nicht einfach Stätten der Ungerechtigkeit und des Verbrechens; sie sind organisiert als Höhlen des Vergessens, in die jeder jederzeit hineinstolpern kann, um in ihnen zu verschwinden, als hätte es ihn nie gegeben; weder Leichnam noch Grab geben Kunde davon, dass ein Mord geschah oder

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Abschließende Bemerkungen zur ersten Ausgabe von »The Origins of Totalitarianism«

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Gedächtnis zu verlieren wie die Tatsache, dass es je Sünden gegeben hat, die größer als Mord gewesen sind. Die Nichtigkeit des Totalitarismus auf lange Sicht ist ein ebenso wichtiger Aspekt des Phänomens wie die beleidigende Lächerlichkeit der Grundsätze, unter denen er angetreten ist, seine monströsen Taten zu begehen. Die Tragik jedoch ist, dass diese Nichtigkeit und diese Lächerlichkeit tiefer mit der Krise des Jahrhunderts verbunden und bezeichnender für dessen wahre Ungereimtheiten sind als die wohlmeinenden Anstrengungen der nicht-totalitären Welt, den Status quo zu sichern. Nicht nur die menschliche Solidarität fordert von uns, die Höhlen des Vergessens und die Welt der Sterbenden als die zentralen Themen unseres politischen Lebens zu verstehen; Tatsache ist vielmehr, dass die wahren Probleme unserer Zeit nicht verstanden, geschweige denn gelöst werden können, wenn wir nicht erkennen, dass der Totalitarismus nur deshalb zum Fluch des Jahrhunderts wurde, weil er sich dessen Problemen in so schrecklicher Weise annahm. Diese verwirrende Bedeutung totalitärer Regime enthüllt sich, unabhängig von deren Nichtigkeit und Lächerlichkeit, besonders in den Konzentrationsund Vernichtungslagern.3 Es wäre klug, sich zu vergegenwärtigen, dass die Lager mehr sind als reine Instrumente des Terrors, dass ihre anti-utilitaristische Sinnlosigkeit nur zu gut der zynischen Geisteshaltung jener Menschen entspricht, die, nachdem sie ihren religiösen Glauben verloren haben, davon überzeugt sind, dass es keinen Sinn des Lebens und keinen Unterschied zwischen Verbrechen und Tugend gibt. Die grundlegenden Erfahrungen und Leiden unserer Zeit finden in einer Atmosphäre statt, in der Unschuld jenseits von Tugend liegt und Schuld jenseits von Verbrechen. Die Vernichtungslager – in denen alles sich jenseits der Kontrolle der Opfer wie der Unterdrücker ereignete, wo jene, die heute Unterdrücker waren, morgen Opfer werden sollten – schufen eine monströse Gleichheit ohne Brüderlichkeit und ohne Menschlichkeit; eine Gleichheit, an der Hunde und Katzen leicht hätten teilnehmen können und in der wir wie in einem Spiegel das schreckliche Bild von der Überflüssigkeit sehen.

3

dass jemand starb. […] Der Mörder, der einen Leichnam hinter sich lässt […], kann es schwerlich aufnehmen mit modernen Massenmördern, die keine Spuren ihrer Taten hinterlassen und politisch organisierte Macht besitzen, die groß genug ist, ihre Opfer aus dem Gedächtnis der Lebenden zu streichen. Erst wenn ein Mensch aus der Welt der Lebenden so ausgelöscht ist, als ob er nie gelebt hätte, ist er wirklich ermordet.« Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 10. Auflage München/Zürich 2005, S. 900 f.; vgl. auch Hannah Arendt, The Hole of Oblivion, Rezension von »The Dark Side of the Moon« (New York 1947). In: Jewish Frontier, 14 (1947) 7, S. 23–26; ferner Hannah Arendt an Mary McCarthy, 20. September 1963. In: dies./Mary McCarthy, Im Vertrauen. Briefwechsel 1949–1975, hg. und mit einer Einführung von Carol Brightman, aus dem Amerikanischen von Ursula Ludz und Hans Moll, München/Zürich 1995, S. 234. Im Einzelnen hierzu und zum Folgenden das Unterkapitel »Die Konzentrationslager« in: Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 907–943.

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Hannah Arendt

Der totalitäre Versuch, Menschen überflüssig zu machen, spiegelt die Erfahrung moderner Massen wider, ihr Überflüssigsein auf einer überbevölkerten Erde. Die Welt der Sterbenden, in der den Menschen beigebracht wird, dass sie überflüssig sind – durch eine Umgebung, in der Strafe ohne Bezug zu einem Verbrechen verhängt, Ausbeutung ohne Profit praktiziert wird und wo Arbeit ohne Produkt bleibt –, ist ein Ort, wo die Sinnlosigkeit täglich neu produziert wird. Doch innerhalb des Rahmens der totalitären Ideologie kann nichts verständlicher und logischer sein; wenn die Insassen Ungeziefer sind, ist es logisch, dass sie durch Giftgas getötet werden; wenn sie degeneriert sind, sollte es ihnen nicht erlaubt sein, die Bevölkerung zu infizieren; wenn sie »Sklavenseelen« (Himmler) haben, sollte niemand seine Zeit damit verbringen, sie umzuerziehen. Durch die Brille der Ideologie gesehen, liegt das Verwirrende an den Lagern beinahe darin, dass hier zu viel Sinn gegeben, dass in der Ausführung der Lehre zu viel Stimmigkeit erzielt wird. Eine Analyse der Bedingungen in Südafrika zeigte,4 dass Rassenpolitik leicht Profitmotive überlagern kann. Dies jedoch ist nichts als ein sehr kleiner Schritt in Richtung auf die letztendliche Errichtung einer Gesellschaft, in der alle utilitaristischen Motive aufgegeben werden und die im Vergleich mit der normalen Welt wie ein Tollhaus aussieht. Gleichermaßen sind der fanatische Glaube der Pan-Bewegungen, dass menschliche Wesen lebendige Verkörperungen einiger fantastischer und vulgärer Grundsätze sind und die für den Imperialisten typische Preisgabe seiner selbst an den Strom der Geschichte, sein Verlust des Selbst und Selbstinteresses, nur frühe Phasen von geringem Ausmaß, wenn man berücksichtigt, dass am Ende dieses Prozesses ein Handlungsverlauf befürwortet wurde, der in Krieg und Frieden alle Regeln des Selbstinteresses verletzte und aus Verachtung utilitaristischer Motive seine eigene Zielsetzung zerstörte. Verglichen mit der Fabrikation menschlicher Überflüssigkeit sind das Große Spiel, wie es sich Rudyard Kipling ausgedacht und Lawrence von Arabien bis zur Perfektion beherrscht hat, das Verlangen nach Anonymität und die Verachtung für die eigene Identität nur Ausdruck eines Spielertums, dem wir immer wieder in den Ausbrüchen authentischer Verzweiflung begegnen. Es gibt einen Abgrund zwischen der sublimen Zwecklosigkeit derer, die an nichts als das – unerklärliche – Geschenk des Lebens glaubten, und denen, die verkündeten, dass nie etwas um seiner selbst willen getan werden sollte. Der Opportunismus der Realpolitik, die Vernachlässigung von greifbaren Erfolgen durch die Bewegungen der Ex4

Im Einzelnen hierzu und zum Folgenden: Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Kap. 7 (»Rasse und Bürokratie«) mit den Unterkapiteln »Die Gespensterwelt des Schwarzen Erdteils«, »Gold und Blut«, »Die imperialistische Legende und der imperialistische Charakter« sowie Kap. 8 (»Der kontinentale Imperialismus und die Panbewegungen«) mit den Unterkapiteln »Der völkische Nationalismus«, »Bürokratie: Die Erbschaft des Despotismus«, »Partei und Bewegung«, S. 405 ff. und 472 ff.

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Abschließende Bemerkungen zur ersten Ausgabe von »The Origins of Totalitarianism«

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pansion um der Expansion willen und die Profitverachtung des Rassismus sind nur die schattenhaften Vorboten von Hitlers und Stalins gigantischem, prinzipiengetränktem Opportunismus, für den die Wirklichkeit selbst nur Gelegenheit wurde, ideologische Grundsätze durchzusetzen – nämlich die Gelegenheit, Menschen um einer rassischen Elite willen auszumerzen; die Gelegenheit, regelmäßig einen gewissen Prozentsatz der Bevölkerung um der klassenlosen Gesellschaft willen zu vernichten.5 Während die totalitären Regime also resolut und zynisch die Welt des einzigen Sinnes, der für die utilitaristischen Erwartungen des Common Sense gegeben ist, berauben, drängen sie ihr zur gleichen Zeit eine Art Übersinn6 auf, den die Ideologien immer meinten, wenn sie vorgaben, den Schlüssel zur Geschichte oder die Lösung zu den Rätseln des Universums gefunden zu haben. Über der Sinnlosigkeit der totalitären Gesellschaft hat obendrein noch der lächerliche Übersinn ihres ideologischen Aberglaubens seinen Thron erhalten. Ideologien sind harmlose, unkritische und willkürliche Meinungen nur so lange, wie nicht ernsthaft an sie geglaubt wird. Wenn ihr Anspruch auf totale Geltung wörtlich genommen wird, werden sie zu Zellkernen von logischen Systemen, in denen – wie in den Systemen der Paranoia – alles verständlich, ja sogar zwingend folgt, wenn erst einmal die erste Prämisse akzeptiert wird. Der Irrsinn solcher Systeme liegt nicht nur in ihrer ersten Prämisse, sondern in dem spezifischen logischen Zwang, mit dem sie konstruiert sind. Die seltsame logische Zwanghaftigkeit aller Ismen, ihr einfältiges Vertrauen in den Heilswert von sturer Verehrung ohne Berücksichtigung von spezifischen, sich verändernden Faktoren, birgt bereits die ersten Keime totalitärer Verachtung für die Wirklichkeit und Tatsächlichkeit in sich. Der in utilitaristischem Denken geschulte Common Sense ist gegenüber diesem ideologischen Übersinn hilflos, weil die totalitären Regime eine funktionierende Welt des Nicht-Sinnes errichten. Die ideologische Verachtung für die Tatsächlichkeit enthielt noch die stolze Annahme, dass der Mensch der Herr der Welt ist; denn dies ist immerhin eine Verachtung für die Wirklichkeit, welche die Veränderung der Welt, die Errichtung des »human artifice«7 möglich macht. Was 5

6 7

Die folgenden Ausführungen sind, bis in einzelne Formulierungen hinein, aus dem Unterkapitel »Die Konzentrationslager« von »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«, S. 907 ff., übernommen worden. Ebenso interessant wie die Übereinstimmungen in den Textvarianten sind die Abweichungen, für letztere z. B. »radikal Böses« (S. 941) gegenüber »absolut Böses« (weiter unten in diesen Abschließenden Bemerkungen). Das englische »supersense« wird von Hannah Arendt auch als »Suprasinn« übersetzt. Der Begriff »human artifice«, den Hannah Arendt wahrscheinlich selbst schuf und häufig verwendet, wird von ihr wie folgt übersetzt: »die von Menschen errichtete Welt«, »das ›künstliche‹, von menschlichen Künsten entworfene Gebilde«, »die von Menschen errichtete und von ihren Künsten ersonnene Welt« in: Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 621 ff. Vgl. auch Hannah Arendt, Vita activa oder Vom Tätigen Leben, Neuausgabe München/Zürich 1981, S. 8: »die Welt als ein Gebilde von Menschenhand« (englisch: »the human artifice of the world«).

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Hannah Arendt

in der totalitären Wirklichkeitsverachtung das Element des Stolzes zerstört (und sie damit radikal von revolutionären Theorien und Haltungen unterscheidet), ist der Übersinn, der der Verachtung für die Wirklichkeit ihre Überzeugungskraft, logische Zwanghaftigkeit und Stimmigkeit verleiht. Was aus dem bolschewistischen Anspruch, das gegenwärtige russische System sei allen anderen überlegen, eine wahrhaft totalitäre Erfindung macht, ist die Tatsache, dass der totalitäre Herrscher aus diesem Anspruch die logisch unumstößliche Schlussfolgerung zieht, ohne dieses System hätte niemals eine solch wundervolle Sache wie, sagen wir, eine Untergrundbahn gebaut werden können; und von hier aus wiederum logisch schließt, dass jeder, der von der Existenz der Untergrundbahn in Paris weiß, verdächtig ist, weil er Menschen dazu veranlassen könnte, daran zu zweifeln, dass man Dinge nur auf bolschewistische Weise tun kann. Das führt dann zu der letzten Schlussfolgerung, dass man, um ein loyaler Bolschewik zu bleiben, die Pariser Untergrundbahn zerstören muss. Nichts zählt außer der Stimmigkeit. Mit diesen neuen auf der Stärke des Übersinnes errichteten und vom Motor des logischen Schlussfolgerns angetriebenen Strukturen befinden wir uns in der Tat am Ende der bürgerlichen Epoche des Profits und der Macht, wie auch am Ende des Zeitalters von Imperialismus und Expansion. Der Totalitarismus erhält seine Aggressivität nicht von der Lust auf Macht, und wenn er sich fieberhaft auszudehnen versucht, so tut er dies weder um der Expansion willen noch aus Profitgründen, sondern ausschließlich aus ideologischen Gründen: um die Welt stimmig zu machen, um zu beweisen, dass sein jeweiliger Übersinn recht gehabt hat. Hauptsächlich um dieses Übersinns, der perfekten Stimmigkeit willen ist es für den Totalitarismus notwendig, jede Spur dessen, was wir gemeinhin menschliche Würde nennen, zu zerstören. Denn zur Achtung der Menschenwürde gehört die Anerkennung meiner Mit-Menschen oder unserer Mit-Nationen als Subjekte, als Erbauer von Welten oder Miterbauer einer gemeinsamen Welt. Keine Ideologie, die sich die Erklärung aller historischen Ereignisse der Vergangenheit und den genauen Entwurf des Verlaufs allen künftigen Geschehens zum Ziel setzt, kann die Unvoraussehbarkeit ertragen, die sich aus der Tatsache ergibt, dass Menschen kreativ sind, dass sie etwas schaffen können, was so neu ist, dass niemand es je vorausgesehen hat. Was sich totalitäre Ideologien deshalb zum Ziel setzen, ist nicht die Verwandlung der äußeren Welt oder die revolutionierende Veränderung der Gesellschaft, sondern die Transformation der menschlichen Natur selbst. Die Konzentrationslager sind die Laboratorien, wo Änderungen in der menschlichen Natur getestet werden; und in ihrer Schändlichkeit sind sie deshalb nicht nur Angelegenheit der Insassen sowie derer, die sie nach strikt »wissenschaftlichen« Standards betreiben; sie sind vielmehr eine Sache, die alle Menschen angeht. Es geht nicht um das Leid, von dem es seit eh und je zu viel auf Erden gibt, auch nicht um die Zahl der

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Abschließende Bemerkungen zur ersten Ausgabe von »The Origins of Totalitarianism«

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Opfer. Die menschliche Natur als solche steht auf dem Spiel, und selbst wenn es scheint, als könnten diese Versuche mit der Schaffung einer Gesellschaft, in der die nihilistische Banalität des Homo-homini-lupus konsistent verwirklicht wird, den Menschen nicht verändern, sondern nur zerstören, so sollte man dennoch nicht vergessen, dass einem Experiment, welches globale Kontrolle erfordert, um zwingende Ergebnisse zu zeitigen, notwendige Grenzen gesetzt sind. Bis jetzt scheint der totalitäre Glaube, dass alles möglich ist, nur bewiesen zu haben, dass alles zerstört werden kann. Doch bei ihren Bemühungen zu beweisen, dass alles möglich ist, haben totalitäre Regime, ohne es zu wissen, die Entdeckung gemacht, dass es Verbrechen gibt, die Menschen weder bestrafen noch vergeben können. Das Unmögliche, möglich gemacht, wurde das unbestrafbare, unverzeihliche absolut Böse, das nicht mehr aus den bösen Motiven von Eigeninteresse, Gier, Habsucht, Ressentiment, Machthunger und Feigheit zu verstehen und erklären war; und das Zorn deshalb nicht rächen, Liebe nicht ertragen, Freundschaft nicht vergeben konnte. Genauso wie die Opfer in den Todesfabriken oder den Höhlen des Vergessens, aus der Sicht der Vollstrecker, nicht länger »menschlich« sind, so befindet sich diese neueste Spezies von Verbrechern außerhalb der Grenzen sogar jener Solidarität, die Menschen in ihrer Sündhaftigkeit vereint. So schwer es ist, sich selbst im Angesicht seiner faktischen Existenz ein absolut Böses vorzustellen, so scheint es doch, dass dieses mit der Erfindung eines Systems, in dem alle Menschen gleich überflüssig sind, in einem engen Zusammenhang steht. Die Manipulatoren dieses Systems glauben an ihr eigenes Überflüssigsein genauso wie an das aller anderen, und die totalitären Mörder sind nur um so gefährlicher, weil es ihnen nichts ausmacht, ob sie selbst leben oder tot sind, ob sie je gelebt haben oder nie geboren wurden. Die von den Leichenfabriken und Höhlen des Vergessens ausgehende Gefahr besteht darin, dass heute, wo Bevölkerung und Heimatlosigkeit überall wachsen, unaufhörlich Volksmassen überflüssig werden, wenn wir unsere Welt unter Nützlichkeitskategorien begreifen. Politische, gesellschaftliche und ökonomische Geschehnisse sind mit den totalitären, für die Überflüssigmachung von Menschen erdachten Instrumenten überall eine stillschweigende Verschwörung eingegangen. Die darin liegende Versuchung wird vom utilitaristischen Common Sense der Massen gut verstanden, die in den meisten Ländern zu verzweifelt sind, um Todesangst zu behalten. Die Nazis und die Bolschewiken können sicher sein, dass ihre Vernichtungsfabriken, die die rascheste Lösung für das Problem der Übervölkerung, der wirtschaftlich überflüssigen und sozial wurzellosen Menschenmassen darstellen, gleichermaßen eine Attraktion wie eine Warnung sind. In der Form einer großen Versuchung, die immer dann wieder auftritt, wenn es unmöglich erscheint, politisches, gesellschaftliches oder wirtschaftliches Elend in einer menschenwürdigen Weise zu lindern, mögen totalitäre Lösungen durchaus den Zusammenbruch totalitärer Regime überleben.

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Hannah Arendt

Angesichts dieser Lösungen und ihres kalkulierten Angriffs auf die menschliche Natur, die Menschheit und die Geschichte durch die Errichtung einer Welt der lebenden Toten scheint sich mit den Höhlen des Vergessens und der Massenfabrikation von Leichen ein Verbrechen ersten Ranges, das eine größere Sünde ist als selbst der Mord, in die lange Sündengeschichte der Menschheit eingeschrieben zu haben: Menschen der Bedingung ihrer menschlichen Existenz zu berauben und trotzdem leben zu lassen, Lebende aus der Menschheit auszuschließen und Tote aus dem Gedächtnis der Geschichte zu entfernen. Die abstrakte Existenz der Insassen der Konzentrationslager, ihre vollkommene Nutzlosigkeit für die Gesellschaft und ihre Nicht-Beziehung zu allen Geschehnissen der Welt draußen, stellt nicht nur eine unaufhörliche Versuchung für Mörder dar, sondern droht auch ständig, unser Gewissen zu trüben. Wie der neue Typus des Mörders, der seine Opfer aus keinem bestimmten Zweck des Eigeninteresses tötet, mögen wir nicht mehr wahrnehmen, dass jemand überhaupt ermordet wurde, wenn er, unter allen Gesichtspunkten praktischer Zweckmäßigkeit, vorher nicht existiert hat. Die Tragödie unserer Zeit besteht darin, dass wir erst beim Auftreten von Verbrechen, die in ihrer Art und ihrem Ausmaß unbekannt und in den Zehn Geboten nicht vorgesehen waren, das wahrgenommen haben, was dem Mob8 seit Beginn des Jahrhunderts bekannt war: dass nicht nur diese oder jene Regierungsform veraltet ist oder dass bestimmte Werte und Traditionen neu überdacht werden müssen, sondern dass fast dreitausend Jahre westlicher Kultur und Zivilisation, wie wir sie in einem vergleichsweise ununterbrochenen Traditionsverlauf als Ganzes kannten, zusammengebrochen sind; dass die ganze Struktur der westlichen Kultur mit all den dazugehörigen Überzeugungen, Traditionen, Urteilsmaßstäben über unseren Köpfen niedergestürzt ist. Nur der Ruf nach globaler Herrschaft hat uns bewusst gemacht, dass sich mit dem Begriff Menschheit nicht länger ein schöner Traum von Einheit oder ein fürchterlicher Alptraum von Fremdheit verbindet, sondern eine harte, unausweichliche Wirklichkeit. Nur die irrsinnige Vorstellung, dass »alles möglich ist«, hat unserem tiefsten Wissen darüber, dass sehr viel mehr möglich ist, als wir je gedacht haben, Ausdruck verliehen. Nur der verbrecherische Versuch, die Natur des Menschen zu ändern, entspricht der uns schaudernden Einsicht, dass keine Natur, nicht einmal die Natur des Menschen, weiterhin als das Maß aller Dinge angesehen werden kann. Und nur die Verachtung des Totalitarismus für das Faktische besitzt eine offenkundige Verbindung mit dem tief eingewurzelten Misstrauen des modernen Menschen gegen alles, was er nicht selbst geschaffen hat. 8

Hannah Arendt verortet den »Mob« historisch im Zeitalter des Imperialismus, siehe die Unterkapitel »Das Volk und der Mob« sowie »Das Bündnis zwischen Kapital und Mob«: Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 246 ff., 332 ff. Den »Mob« unterscheidet sie von den »Massen«, dazu ebd., S. 663 ff., 702 ff.

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Abschließende Bemerkungen zur ersten Ausgabe von »The Origins of Totalitarianism«

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Nichts ist natürlich besser verständlich als das Widerstreben, diese Lage einzugestehen. Denn dann wird offenbar, dass wir auf keine Tradition zurückfallen können, auch wenn wir viele haben und sie genauer kennen als alle Generationen vor uns, und dass wir keine von ihnen nutzen können, obwohl wir mit Erfahrung gesättigt und in der Interpretation kompetenter sind als jedes Jahrhundert zuvor. Ob es uns gefällt oder nicht, wir haben schon lange aufgehört, in einer Welt zu leben, in der der Glaube an den jüdisch-christlichen Schöpfungsmythos sicher genug ist, um tatsächlichen Gesetzen Autorität zu verleihen und als Grundlage und Quelle zu dienen, und sicherlich glauben wir nicht mehr, wie die großen Männer der Französischen Revolution, an einen universalen Kosmos, in dem der Mensch ein Teil wäre, dessen Naturgesetze er nachahmen und mit denen er sich in Einklang bringen müsste. Nur Mythen haben je das Dunkel, das den Ursprung der Menschengeschichte umgibt, durchdrungen. Nach diesem den Geschichtsprozess transzendierenden Ursprung suchte man im Bemühen, in geschichtlichen Zufällen den letzten Sinn zu finden – Sinn, der, gerade weil er am Anfang liegt, sicher zu sein schien und welcher unabhängig von den unzuverlässigen Anstrengungen der Menschen und den unvoraussehbaren Launen des Zufalls sicher war. Dies war die Funktion der griechischen Annahme eines Goldenen Zeitalters, gemessen an dem alle Geschichte ein allmählicher Niedergang wäre; oder der orientalischen Hypothesen eines absolut Bösen als der Quelle alles Menschlichen, von dem Erlösung ausgehen könnte (und welches schließlich in säkularisierter Form als grenzenloser Fortschritt weg von dem Bösen in Gestalt des barbarischen Ursprungs wiedererschien); oder des hebräischen Mythos eines verlorenen Paradieses, das im messianischen Zeitalter wiederentdeckt würde (welcher schließlich in Marx’ Theorie, dass ein Ur-Kommunismus in einer klassen- und geschichtslosen Gesellschaft wiedergefunden würde, auflebte); oder des christlichen Mythos, dass der Sündenfall für seinen zur erlösenden Aufhebung notwendigen Weg des ganzen Verlaufes der Geschichte bedarf.9 Diese Geschichtsauffassungen haben ein gemeinsames Kennzeichen: Sie nehmen an, dass etwas da war, gegeben war, bereits bestand, bevor die menschliche Geschichte eigentlich begann; dass, anders gesagt, die Richtung der Geschichte jenseits der menschlichen Anstrengung lag, dass ihre Gesetze aus einer transzendenten Quelle (oder einem transzendenten Ereignis) stammten, denen man nur gehorchen oder nicht gehorchen konnte. Lediglich die Französische und die Amerikanische Revolution machten einen schwachen und ungeschickten Versuch, zu einer radikal neuen Auffassung nicht der menschlichen Geschichte, son9

Die folgenden Gedanken sind ausführlich im Unterkapitel »Die Aporien der Menschenrechte« entwickelt, wobei auch hier gilt, dass Übereinstimmungen und Abweichungen aufschlussreich sind: Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 601 ff.

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Hannah Arendt

dern ihres letzten Sinnes zu kommen. Für sie war die Geschichte die »Erziehung des Menschengeschlechts« (wie Lessing es ausdrückte), sein Wachstum und seine Entwicklung von der Kindheit zur Reife gewesen, die mit der stabilen, universalen Errichtung einer erwachsenen Menschheit »absterben« würde wie Marx’ und Lenins Staat. Und von dieser Basis der Aufklärung aus konnten die Menschenrechte proklamiert werden. Menschenrechte waren von den geschichtlichen Rechten unabhängig, waren mit der menschlichen Natur als solcher gegeben. Die neue und feierlich erklärte Würde des Menschen lag darin, dass er erwachsen geworden war und unabhängig vom Gebot Gottes sowie seiner eigenen geschichtlichen Tradition, die ihn, das Kind, wie ein Vater geführt hatte. Von Anfang an jedoch hatte diese neue Würde etwas Verwirrendes an sich. Sie ersetzte geschichtliche Rechte durch natürliche Rechte; sie setzte »Natur« an die Stelle von Geschichte, und sie nahm stillschweigend an, dass »Natur« dem Wesen des Menschen weniger fremd war als Geschichte. Die Sprache schon der [amerikanischen] Unabhängigkeitserklärung wie der [französischen] Erklärung der Menschenrechte – »unveräußerlich«, »angeboren«, »unabänderliche Wahrheiten« – impliziert, dass die Menschennatur, von der angenommen wird, dass sie sich unter der gleichen Notwendigkeit wie das Kind, das erwachsen werden soll, entwickelt, selber die Voraussetzung war, aus der die Gesetze und Rechte abgeleitet wurden. Keiner konnte zu der damaligen Zeit überhaupt voraussehen, dass die »Natur« des Menschen, wie sie von zweitausend Jahren Philosophie definiert und immer wieder definiert worden war, unvorhersehbare und unbekannte Möglichkeiten enthielte; dass des Menschen Herrschaft über die Natur einen Punkt erreichen würde, an dem er die Möglichkeit, die Erde mit menschengemachten Instrumenten zu zerstören, ins Auge fassen könnte; dass schließlich eines Tages sein Wissen von der Natur in ihm ernsthafte Zweifel an der Existenz natürlicher Gesetze überhaupt entstehen lassen würde. Dass, mit anderen Worten, die Menschheit eines Tages sich ebenso von der Natur emanzipiert haben würde wie der Mensch des 18. Jahrhunderts von der Geschichte. Heute sehen wir sowohl die Geschichte wie die Natur als etwas dem Wesen des Menschen Fremdes an. Keine von ihnen bietet uns jenes umfassende Ganze, in dem wir uns geistig zuhause fühlen. Unsere neue Schwierigkeit liegt darin, dass ein fundamentales Misstrauen in alles, was nur gegeben ist, zu unserem Ausgangspunkt geworden ist – ein Misstrauen gegen alle Gesetze sowie moralischen und gesellschaftlichen Vorschriften, die aus einem gegebenen, umfassenden, universalen Ganzen abgeleitet werden. Die Quellen der Autorität des Rechts werden untergraben, und es werden die letzten Ziele der politischen Organisationen und Gemeinschaften in Frage gestellt; das zwingt uns nicht nur, neue Gesetze zu finden und zu hinterlassen, sondern auch ihr eigentliches Maß, den Maßstab von Gut und Böse, das Prinzip ihrer Quelle, zu finden und zu hinterlassen. Denn der Mensch im Sinne der

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Abschließende Bemerkungen zur ersten Ausgabe von »The Origins of Totalitarianism«

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Menschennatur ist nicht mehr der Maßstab – all dem zum Trotz, was uns die neuen Humanisten glauben machen wollen. Politisch heißt das, dass wir, bevor wir die Verfassung eines neuen politischen Systems entwerfen, zunächst einmal eine neue Grundlage für menschliches Zusammenleben als solches schaffen – nicht nur entdecken – müssen. Geschichtlich gesehen würde dies nicht das Ende der Geschichte bedeuten, sondern ihren ersten, bewusst geplanten Anfang – verbunden mit der bitteren Erkenntnis, dass uns nichts versprochen worden ist: kein messianisches Zeitalter, keine klassenlose Gesellschaft, kein Paradies nach dem Tode. Solch ein bewusst geplanter Anfang ist offensichtlich nie zuvor möglich gewesen, weil die Menschheit nur Begriff oder Ideal war, niemals Wirklichkeit. Die durch Raum und Natur und, folglich, durch geistig unübersteigbare Mauern der Geschichte und der Kultur nicht länger geteilte Menschheit wird entweder einen Weg finden, auf einer übervölkerten Erde zu leben und sie gemeinsam zu regieren, oder sie wird untergehen – ein Ereignis, das die Natur in ihrer sublimen Indifferenz unberührt lassen wird. Die unmittelbarste politische Folge dieser neuen geschichtlichen Situation, in der die Menschheit tatsächlich die Position einzunehmen beginnt, die zuvor der Natur oder der Geschichte zugeschrieben war, liegt darin, dass etwas von der faktischen Verantwortung, die die Mitglieder jeder nationalen Gemeinschaft für alle in ihrem Namen begangenen Taten und Untaten mittragen, nun in die Sphäre des internationalen Lebens hineingewachsen ist. Die Völker der Welt haben eine vage Ahnung von dieser neuen Last und versuchen, sich ihr durch eine Art Nationalismus zu entziehen, der besonders gewalttätig ist, weil er ständig an Grenzen stößt. Sie wissen, dass sie für Sünden, die am anderen Ende des Globus begangen werden, »bestraft« werden, und haben noch nicht viel Gelegenheit gehabt zu lernen, dass jeder Schritt, der anderswo in die richtige Richtung getan wird, auch für sie von Vorteil sein könnte. Diese Situation, das Aufkommen der Menschheit als einer politischen Größe, macht »Verbrechen gegen die Menschheit«,10 wie von Justice Jackson bei den

10

»Crimes against humanity« wird im Deutschen überwiegend mit »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« wiedergegeben. Hannah Arendt jedoch bestand, wie ihre folgenden Ausführungen zeigen, mit guten Gründen auf der Übersetzung »Verbrechen gegen die Menschheit« beziehungsweise »Verbrechen an der Menschheit«, vgl. auch ihren Brief an Karl Jaspers vom 5. Februar 1961. In: Hannah Arendt/Karl Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, hg. von Lotte Köhler und Hans Saner, München 1985, besonders S. 323. Vgl. ferner Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, aus dem Amerikanischen von Brigitte Granzow, von der Autorin durchges. und erg. deutsche Ausgabe (1964), Neuausgabe mit einem einleitenden Essay von Hans Mommsen, München/Zürich 1986, S. 305 ff.

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Nürnberger Prozessen formuliert,11 zum ersten und wichtigsten Begriff des internationalen Rechts. Es sollte jedoch erkannt werden, dass das internationale Recht mit diesem Begriff die gegenwärtige Sphäre, die nur mit denjenigen Gesetzen und Vereinbarungen zu tun hat, welche im Frieden und Krieg den Verkehr von souveränen Staaten regeln, transzendiert und jene Sphäre des Rechts betritt, die über der der Nationen liegt. Diese neue Art des Rechts kann sich nicht mit Verbrechen wie der aggressiven und verbrecherischen Kriegführung, den Vertragsbrüchen, der Unterdrückung und Ausbeutung des eigenen und fremder Völker befassen. All solchen Überschreitungen muss in Zukunft ebenso wie in der Vergangenheit durch konzertierte Aktionen jener Nationen, deren Rechte verletzt wurden, entgegengetreten werden. Im Rahmen der gegenwärtigen politischen Organisation und unter den Umständen souveräner Staatlichkeit – Umstände, die in keiner Weise der gleichzeitigen politischen Existenz der Menschheit widersprechen – können sie kaum anders geächtet werden als durch Verträge und Allianzen auf internationaler oder zwischenstaatlicher Ebene. Diese Überschreitungen sind Angriffe auf die Bürgerrechte – der Bürger einer fremden oder der eigenen Gemeinschaft – und müssen von in Nationen oder Parteien organisierten Bürgern abgewehrt werden; genau genommen handelt es sich nicht um Angriffe auf die Menschenrechte. Denn der Mensch als Mensch hat nur ein Recht, das seine verschiedenen Rechte als Bürger überschreitet: das Recht, niemals von den Rechten, die seine Gemeinschaft gewährt, ausgeschlossen zu sein – ein Ausschluss, der nicht stattfindet, wenn er ins Gefängnis, aber wenn er in ein Konzentrationslager kommt. Erst dann ist er von der ganzen Sphäre der Rechtlichkeit, wo die allein durch gegenseitige Garantien zu sichernden Rechte entspringen, ausgeschlossen. Verbrechen gegen die Menschheit sind eine Art Spezialität der totalitären Regime geworden. Auf längere Sicht wird es mehr Schaden als Nutzen bringen, wenn wir diese höchste Art des Verbrechens mit einer langen Reihe anderer Verbrechen vermischen, die diese Regime ebenfalls wahllos begehen, wie etwa Ungerechtigkeit und Ausbeutung, Freiheitsberaubung und politische Unterdrückung. Verbrechen der letztgenannten Art sind in allen Tyranneien bekannt und werden kaum je so eingestuft, dass ausreichend Grund vorhanden wäre, um die 11

Robert H. Jackson (1892–1954) war der Hauptanklagevertreter der Vereinigten Staaten von Amerika bei den Nürnberger Prozessen. Gemeint ist Anklagepunkt 4: »Crimes against humanity«, die in der Charter of the International Military Tribunal vom 6. Oktober 1945 wie folgt definiert werden: »murder, extermination, enslavement, deportation, and other inhumane acts committed against any civilian population, before or during the war; or persecutions on political, racial and religious grounds in execution of or in connection with any crime within the jurisdiction of the Tribunal, whether or not in violation of the domestic law of the country where perpetrated.« – Siehe in deutscher Sprache: Der Nürnberger Prozess: Die Anklagereden des Hauptanklagevertreters der Vereinigten Staaten von Amerika Robert H. Jackson, hg. und mit einem Beitrag »Nürnberg und die deutschen Juristen« von Ingo Müller, Weinheim 1995, S. XVII und passim.

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Abschließende Bemerkungen zur ersten Ausgabe von »The Origins of Totalitarianism«

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Einmischung in die souveränen Angelegenheiten eines anderen Landes zu rechtfertigen. Die aggressive und imperialistische Außenpolitik von Sowjetrussland hat Verbrechen gegen viele Völker zur Folge gehabt und in der ganzen Welt große Sorge ausgelöst, doch es handelt sich um eine Angelegenheit gewöhnlicher Außenpolitik auf internationaler Ebene, nicht um eine Sache der Menschheit als solcher, das heißt des möglichen Rechts über den Nationen. Die russischen Konzentrationslager dagegen, in denen viele Millionen sogar der eher zweifelhaften Segnungen des Rechts in ihrem eigenen Land beraubt sind, könnten und sollten Gegenstand eines Handelns werden, das nicht die Rechte und Regeln der Souveränität zu beachten hätte. Dem einen Verbrechen gegen die Menschheit entspricht das eine Menschenrecht. Wie alle anderen Rechte kann auch dieses nur durch gegenseitige Vereinbarungen und Garantien bestehen. Da es – als Recht des Menschen, ein Bürger zu sein – die Bürgerrechte transzendiert, ist dieses Recht das einzige, das vom Völkerrecht und nur von ihm garantiert werden kann. Die einzige, gegebene Bedingung für die Einrichtung von Rechten ist die Pluralität der Menschen; Rechte existieren, weil wir die Erde zusammen mit anderen Menschen bewohnen. Kein göttlicher Befehl, abgeleitet aus der Tatsache, dass der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde, und kein Naturrecht, abgeleitet von der »Natur« des Menschen, reichen aus, um ein neues Gesetz auf Erden zu schaffen; denn Rechte entspringen der menschlichen Pluralität, wohingegen göttlicher Befehl oder Naturrecht selbst dann wahr sein würden, wenn es nur ein einziges menschliches Wesen gäbe. Der bewusste Anfang der Geschichte der Menschheit wird bedeuten, dass nichts, was bloß gegeben ist, als Maßstab dienen kann und dass nicht einmal die überkommene utilitaristische Gleichsetzung des Guten mit dem »Gutsein für« eine vorgängig gegebene Ganzheit gültig sein wird. Aus diesem Grund eben funktioniert unser Common Sense, der darin geübt ist, die Ereignisse mit Hilfe utilitaristischer Kategorien zu beurteilen, nicht mehr richtig und sieht sich ständig nicht einfach Verbrechen, sondern unverstehbaren Verbrechen gegenübergestellt. Wenn in dem Glauben des 18. Jahrhunderts, dass der Mensch erwachsen geworden ist, überhaupt ein Sinn steckt, so der, dass von nun an der Mensch der einzig mögliche Schöpfer seiner eigenen Gesetze und der einzig mögliche Macher seiner eigenen Geschichte ist. Diese Aufgabe ist in ihrer Größe überwältigend und noch nie dagewesen. Nur ein Unheil höchsten Ausmaßes konnte uns dazu zwingen, sich ihr zu stellen. Jeder andere Weg würde uns leider automatisch in die Wüste führen, wo recht ist, was »gut« ist »für« – das Individuum, oder die Familie, oder das Volk. Denn eine solche Definition wird niemals Mord verhindern, auch dann nicht, wenn die Einheit, auf die sich das »gut für« bezieht, so groß ist wie die Menschheit selbst. Ja, es ist durchaus vorstellbar, dass eines schönen Tages eine in höchstem Grade orga-

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nisierte, mechanisierte und zentralisierte Menschheit entscheiden könnte, dass es für das Ganze besser wäre, wenn es einen gewissen Teil nicht gäbe. Wie groß unser Unheil tatsächlich ist, kann daran abgelesen werden, dass wir, um ein so einfaches Ziel, wie die Verhütung von Mord, zu erreichen, gezwungen sind, die unbestrittene Geltung unserer Moralgrundsätze, auf denen die gesamte Struktur unseres Lebens aufruht und die keiner der großen Revolutionäre, von Robespierre bis Lenin, je ernsthaft infrage stellte, anzuzweifeln. Wir können nicht länger mit Lenin glauben, dass »das Volk sich allmählich daran gewöhnen wird, die elementaren Regeln des gesellschaftlichen Lebens, die […] über Tausende von Jahren wiederholt worden sind, zu befolgen« (Staat und Revolution), und wir müssen uns deshalb um etwas bemühen, was dem großen Common Sense von Burke noch unmöglich schien, nämlich um »neue Entdeckungen […] in der Moral […] oder in den Freiheitsideen« (Reflections on the Revolution in France). Wenn wir dies nicht versuchen, wird der Mob, der mehr als einmal in den letzten fünfzig Jahren seine hervorragende Fähigkeit, die Zeichen der Zeit zu erkennen, bewiesen hat, die Dinge an sich reißen und dorthin Zerstörung tragen, wo wir unfähig waren, etwas herzustellen. Hierfür gibt es viele Anzeichen, und hier liegt das Problem. Denn das erste verheerende Ergebnis des Erwachsenwerdens des Menschen ist, dass der moderne Mensch dahin gelangt ist, sich an allem Gegebenen zu stoßen, selbst an seiner eigenen Existenz – der Tatsache, dass er nicht der Schöpfer des Universums und seiner selbst ist. In diesem fundamentalen Ressentiment verhaftet, weigert er sich, in der gegebenen Welt Sinn und Verstand zu sehen. Indem er sich an allen Gesetzen, die ihm nur gegeben sind, reibt, tut er offen kund, dass alles erlaubt ist, und glaubt heimlich, dass alles möglich ist. Und da er weiß, dass er ein gesetzeschaffendes Wesen und seine Aufgabe gemessen mit dem Maß der vergangenen Geschichte »übermenschlich« ist, wendet er sich in seinem Ressentiment sogar gegen seine nihilistischen Überzeugungen, als wenn sie ihm durch irgendeinen grausamen Scherz des Teufels aufgezwungen worden wären. Die Alternative zu diesem Ressentiment, welches die psychologische Grundlage des gegenwärtigen Nihilismus ist, wäre eine grundlegende Dankbarkeit für die wenigen elementaren Dinge, die uns tatsächlich unveränderlich gegeben sind, nämlich das Leben selbst, die Existenz des Menschen und der Welt. Hinsichtlich des Problems, das in der Wahl zwischen Ressentiment und Dankbarkeit als möglichen modernen Haltungen besteht, haben die Neuhumanisten – in ihrer verständlichen Sehnsucht nach der stabilen Welt der Vergangenheit, als Gesetz und Ordnung gegeben waren, und in ihren vergeblichen Bemühungen, eine solche Stabilität wieder zu erreichen, indem sie den Menschen zum Maß aller menschlichen Dinge machten – für Verwirrung gesorgt und so die Furcht vor dem Menschen, diesem unbekanntesten und unberechenbarsten Wesen auf Erden, vergrößert. Allgemein gesprochen erwartet solche Dankbarkeit nichts weiter als – mit den Worten von Faulkner – »[one’s] own one anonymous chance to

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Abschließende Bemerkungen zur ersten Ausgabe von »The Origins of Totalitarianism«

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perform something passionate and brave and austere not just in but into man’s enduring chronicle […] in gratitude for the gift of [one’s] time in it«.12 Im Bereich der Politik betont Dankbarkeit die Tatsache, dass wir nicht allein auf der Welt sind. Wir können uns mit der Verschiedenheit der Menschheit, mit den Unterschieden zwischen menschlichen Wesen – die furchterregend sind genau wegen der wesentlichen Gleichheit der Rechte aller Menschen und der daraus für uns folgenden Verantwortung für alle Taten und Untaten, die von Menschen, welche anders sind als wir, verübt wurden – nur dann versöhnen, wenn wir einsehen, wie außerordentlich beglückend es ist, dass dem Menschen Zeugungskraft verliehen wurde, dass nicht ein einzelner Mensch, sondern die Menschen die Erde bewohnen. Nur ein bewusst geplanter Anfang der Geschichte, nur ein bewusst vererbtes neues politisches Gemeinwesen, wird schließlich in der Lage sein, jene wieder zu integrieren, die in immer größeren Zahlen aus der Menschheit ausgeschlossen sind und abgetrennt von den Grundbedingungen menschlicher Existenz. Durch die Anerkennung eines Verbrechens gegen die Menschheit als solche werden weder Freiheit noch Gerechtigkeit erreicht, denn diese sind Gegenstand des Tageskampfes aller Bürger; sie kann nur die Teilnahme aller Menschen an dem Kampf sicherstellen. Die Menschenrechte als Konzept können nur dann wieder sinnvoll werden, wenn sie überhaupt neu definiert werden als Recht auf Grundbedingtheiten menschlicher Existenz, das davon abhängt, zu einer menschlichen Gemeinschaft zu gehören; als Recht, niemals abhängig zu sein von einer angeborenen Menschenwürde, die (lässt man ihre Garantie durch die Mitmenschen beiseite) de facto nicht nur nicht existiert, sondern der letzte und möglicherweise arroganteste Mythos ist, den wir in unserer langen Geschichte erfunden haben. Die Menschenrechte können nur dann eingeführt werden, wenn sie die vorpolitische Grundlage eines neuen politischen Gemeinwesens, die vorrechtliche Grundlage einer neuen Rechtsstruktur, das sozusagen vor- geschichtliche Fundament werden, von dem die Geschichte der Menschheit ihren wesentlichen Sinn in ähnlicher Weise ableiten wird, wie das die westliche Zivilisation von den ihr eigenen, grundlegenden Ursprungsmythen getan hat. Zwischenzeitlich mag es nützlich gewesen sein, den Ursprung der neuen Bewegungen zu finden und über ihre Ausprägungen nachzudenken – jener Bewegungen, die vorgeben, die Lösung unserer Probleme gefunden zu haben, und deren fantastische Behauptungen, tausendjährige Reiche gegründet und messianische Zeitalter heraufgeführt zu haben, trotz aller gegenteiliger Beweise deshalb geglaubt werden, weil sie, wenn auch radikal destruktiv, eine Antwort auf die 12

Deutsch: »die eigene, eine anonyme Gelegenheit, etwas Leidenschaftliches und Tapferes und Ernstes nicht nur in der andauernden Menschenchronik, sondern in sie hinein zu vollbringen […] aus Dankbarkeit für das Geschenk der eigenen Zeit in ihr.« William Faulkner, Intruder in the Dust, New York 1948, S. 193.

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Hannah Arendt

schreckliche Herausforderung des Jahrhunderts geben. Damit kann sicherlich kein neues Recht auf Erden geschaffen werden, aber dies ist ein Weg hin zu einer neuen Form universaler Solidarität. Denn jene, die aus der Menschheit und der Menschengeschichte ausschlossen und dadurch der Grundbedingungen menschlicher Existenz beraubt waren, brauchen die Solidarität aller Menschen, um sie ihres rechtmäßigen Platzes in der »fortdauernden Menschenchronik« zu versichern. Zumindest können wir jedem von ihnen, der mit Recht verzweifelt ist, zurufen: »Tu dir nichts Übels, Denn wir sind alle hie.«13

13

Luther-Bibel, Apostelgeschichte des Lukas, 16, 28.

Eric Voegelin

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Brief an Hannah Arendt vom 16. März 1951

LOUISIANA STATE UNIVERSITY COLLEGE OF ARTS AND SCIENCES UNIVERSITY STATION

BATON ROUGE, LOUISIANA DEPARTMENT OF GOVERNMENT

16. März 19511

Liebe Frau Arendt: Ihr Verleger war so freundlich, mir Ihr Werk über »The Origins of Totalitarianism« zuzuschicken – ich nehme an, auf Ihre Veranlassung – und ich möchte Ihnen sehr herzlich dafür danken. Nach Ihren Artikeln in der Review of Politics2 war ich schon sehr darauf gespannt, und noch mehr nach dem, was mir Gurian3 davon erzählte, den ich kürzlich gesehen habe. Alle Erwartungen sind erfüllt und übertroffen, besonders da das Werk weit über seinen Titel hinausgeht, und nicht nur die »origins« behandelt, sondern auch die grausige Erfüllung. Auf einzelnes einzugehen, ist wohl im Rahmen eines Briefes nicht möglich. Lassen Sie mich daher nur zu den großen Abschnitten 1

2 3

Quelle: The Hannah Arendt Papers at the Library of Congress, Box 16: General Correspondence/ Voegelin, Eric, Blätter 010402–010404. Maschinenschriftliches Original; zweite Grußformel (»sehr herzlich«) und Unterschrift handschriftlich. – Bei der Transkription wurde – wie auch in den folgenden Briefen – die Schreibweise der heute üblichen (insbesondere fehlende Umlaute und »ss«) leicht angepasst, die Zeichensetzung korrigiert. Handschriftliche Korrekturen des Verfassers sind eingearbeitet. Die Absatzgliederung ist beibehalten, die Zeilenlänge hingegen durch Blocksatz abgeändert. Die Fußnoten stammen von Ursula Ludz. Hannah Arendt hatte u. a. Vorfassungen einzelner Kapitel ihres Buches »The Origins of Totalitarianism« in der »Review of Politics« veröffentlicht. Waldemar Gurian, Politikwissenschaftler an der University of Notre Dame und Herausgeber der Zeitschrift »The Review of Politics«.

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Eric Voegelin

sagen: Am ersten Teil bewundere ich die eindringliche (und unwahrscheinlich detachierte, sachliche) Behandlung des Judenproblems sowie die konzise Darstellung der affaire Dreyfus; am zweiten Teil insbesondere die Einordnung des Imperialismus in den Zusammenhang der totalitären Fragen; am dritten Teil vor allem die Darstellung der Polizei und der Konzentrationslager. Im ganzen wird diese Arbeit wohl ihre dauernde Bedeutung als Standardwerk haben durch die meisterhafte, die Zusammenhänge verdeutlichende, Kategorisierung einer gewaltigen Stoffmasse, an der andere sich bisher nur im einzelnen versucht haben.4 Manches im Detail scheint mir zweifelhaft (z.B. die Interpretation von Hobbes’ Leviathan5); aber angesichts der Gesamtleistung wäre es kleinlich, an solchen Einzelheiten herumzunörgeln. Was ich kritisch zu sagen hätte, betrifft nicht Einzelheiten noch Aufbau und Durchführung, sondern die geschichtliche Gesamtperspektive, die im Werk impliziert und in der Conclusion zum Teil expliziert ist.6 Ihre zeitliche Abgrenzung des Phänomens ist im ganzen durch die Judenfrage bestimmt und geht daher nicht vor 1700 zurück; das ist an sich durchaus legitim, da am Verhalten zu den Juden bis zur Katastrophe unserer Zeit die westliche Gesellschaftskrise (pragmatisch und moralisch) furchtbar symptomatisch geworden ist. Von der Katastrophe der Gaskammern her ist der historische Zusammenhang nach rückwärts richtig konstruiert. Zu bedenken würde ich geben, dass man Antisemit (im modernen Sinn) nicht sein kann solange man Christ ist; wo der moderne Antisemitismus auftritt, ist er Symptom für den Zerfall des Christentums im soziologischen Sinne, als zivilisationsbestimmende Kraft. Die totalen Bewegungen müssten daher, meines Erachtens, in den Zusammenhang des Zerfalls einer christlichen Zivilisation gestellt werden; und das Kontinuum dieser Zerstörungskräfte geht in die mittelalterlichen Sektenbewegungen, mindestens bis ins 12. Jh. zurück. Was heute geschieht, ist nicht neu in der Idee oder Intention, sondern erschütternd als die soziale Verwirklichung von pathologischen Aberrationen (wie z.B. der Idee, die Natur des Menschen zu verändern, d.h. die göttliche durch eine menschliche Kreatur zu ersetzen) nach dem Zusammenbruch der institutionellen Hindernisse. Ich würde Ihnen daher nicht zustimmen, wo Sie von einem Abgrund (gulf) zwischen totalitären Greueltaten und mehr oder weniger harmlosen, unkritischen Meinungen und Ideologien des 19. Jhs. sprechen. Diese Ideologien waren nicht harmlos (und sind es auch heute nicht), sondern sind die Symptome jener Zerstörung der Person die im Konzentrationslager vollzogen wird. Wer die Quelle der Ordnung in der ratio aeterna bestreitet, wird entdecken wie die 4 5 6

Vgl. zu diesem Absatz in Voegelins Besprechung S. 43 f. Hierzu finden sich keine Ausführungen in Voegelins Besprechung. Im Folgenden bezieht sich Voegelin auf Arendts »Abschließende Bemerkungen«, hier S. 15–30; vgl. in seiner Besprechung S. 49 ff.

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Brief an Hannah Arendt vom 16. März 1951

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besbozhniki7 nach ihrer Ordnung mit ihm verfahren; wer das Platonische »Gott ist das Maß der Dinge« bestreitet, wird den Menschen als das Maß finden; wer den Sinn seines Lebens im antizipierenden Einfügen in den Sinn der Geschichte sucht, wird von der Geschichte eingefügt werden; etc. Der liberale Pfarrer, der die Erbsünde bestreitet, der laizistische Intellektuelle, der behauptet, der Mensch sei gut, der Philosoph, der eine utilitarische Ethik begründet, der Rechtspositivist, der das Naturrecht bestreitet, der Psycholog, der die Phänomene der Seele aus dem Triebleben deutet – sie alle begehen keine Verbrechen wie ein SS-Mörder im Konzentrationslager – aber sie sind seine geistigen Väter, seine sehr unmittelbare historische Ursache. Kurz, die Ideologie (die doxa im platonischen Sinn) ist nicht harmlose, unverbindliche Meinung, sondern Ausdruck der eigenen, zerstörten Person; und durch Publikation wirbt sie um öffentlich-verbindliche Geltung, die ganz offenbar nur auf Kosten der bestehenden öffentlichen Ordnung gehen kann; die Unordnung, die disnomia, wird (wie Sie so ausgezeichnet dargestellt haben) zur reizvollen Ausnahme, zum faszinierenden Laster, zur tolerierten Andersartigkeit und, am Ende, zur Norm. (All das übrigens in der Politeia zu finden.) Zur Technik der historischen Kausalzurechnung würde daraus folgen, dass die totalitären Katastrophen nicht ausschließlich aus der politischen, sozialen, wirtschaftlichen Situation erklärt werden können, bei deren Anlass sie eintreten; sondern dass die Situation selbst, d.h. das Verhalten der für die Ordnung verantwortlichen herrschenden Gruppen und Personen, wie auch das Verhalten der auf eine verzweifelte Situation reagierenden Opfer, aus dem Gesundheitsoder Krankheitszustand der Seelenordnung gedeutet werden müssen.8 Zur Therapie würde ich daher eher mit Burke übereinstimmen als mit Ihrem Vorschlag, neue moralische Wahrheiten zu finden.9 Ich glaube, dass wir mit Ordnungswahrheiten durch die jüdischen Propheten, die griechischen Philosophen und das Christentum ganz ausgezeichnet equipiert sind. (Die einzige, wirklich bedeutende neuere »Wahrheit« scheint mir die Entdeckung der, in der Mystik fundierten, Toleranz zu sein, wie sie ihren großen, und bisher einzigen, Ausdruck in der Politik Bodin’s gefunden hat – der, nebenbei bemerkt, von Sabine10 nicht ausgezeichnet, sondern ganz miserabel dargestellt wird, da der gute Mann weder die Werke Bodin’s durchgearbeitet, noch die sehr respektable monographische Literatur gelesen hat). Um den Zerstörungsprozess aufzuhalten, müsste die systematische Zerstörung der Ordnungswahrheiten (die weder alt noch neu, sondern eben »wahr« sind) durch die Intellektuellen, Publizisten und

7 8 9 10

Russisch für Atheisten. Vgl. zu diesem und dem vorausgehenden Absatz in Voegelins Besprechung S.47 ff. In Arendts »Abschließenden Bemerkungen« S. 28; vgl. in Voegelins Besprechung S. 50 f. George H. Sabine, A History of Political Theory, New York 1937.

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Eric Voegelin

Journalisten aufhören, so dass der verlorengegangene Publizitätsvorrang für diese Wahrheiten wiederhergestellt wird. Um ein Beispiel zu geben, mit dem Sie selbst sich wiederholt befassen: die »menschliche Natur« kann sich natürlich nicht ändern oder geändert werden. »Natur« ist ein philosophischer Begriff; die Natur eines Dinges ist sein identifizierendes Wesen; wenn sich eine Natur »ändert« (eine sinnlose Wortverbindung), dann wäre aus dem Ding ein anderes geworden. Die Rede von einer Änderung der menschlichen Natur impliziert die anti-religiöse Revolte gegen die imago Dei. Und der Versuch, diese Natur zu ändern, endet (wie Sie ganz richtig beschreiben) mit ihrer Zerstörung. Der intellektuelle Unfug des 19. Jh., sich öffentlich über die Möglichkeiten einer Änderung der menschlichen Natur zu unterhalten, müsste also z.B. aufhören; denn (1) ist er philosophischtechnisch Blödsinn, und (2) ist er politisch gemeingefährlich und, wie die Folgen zeigen, Komplizität in Mord.11 Und nun lassen Sie mich zum Schluss noch sagen, dass Ihre Interpretation der »Totalitarian Domination« mir ganz besonders wertvoll war, weil sie den symbolischen Gehalt als Endgericht herausbringt. Das Problem der Gerichtsliturgie in jeder politischen Ordnung beschäftigt mich seit langem. Die Typen der Liturgie korrespondieren jeweils der religiösen und metaphysischen Ordnungssymbolik. Ihre Untersuchung bringt einen wichtigen, neuen Fall einer Liturgie, korrespondierend einer Metaphysik der Menschenschöpfung durch Menschen.12 Mit vielem Dank und den besten Grüssen, Sehr herzlich Ihr Eric Voegelin

11

12

Über »die Änderung der menschlichen Natur« äußert sich Voegelin in seiner Besprechung, teilweise mit denselben Worten auf S. 49 f. Hannah Arendts Antwort auf S. 60 f. In der deutschen Ausgabe »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« (1955) wird Arendt »Natur« durch »Wesen« ersetzen: »Was in der totalitären Herrschaft auf dem Spiele steht, ist wirklich das Wesen des Menschen«. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 10. Auflage München/Zürich 2005, S. 941. Diesen Gedanken nimmt Voegelin in seiner Besprechung nicht auf.

Hannah Arendt

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Brief an Eric Voegelin vom 22. April 1951

Hannah Arendt

130 Morningside Drive

New York 27

den 22. April 1951.1 Lieber Herr Voegelin – Ihr Brief war eine große Freude! Ich verdanke Ihren Arbeiten sehr viel, sie waren meinem eigenen Denken immer und auch dann nahe, wenn ich nicht mit allem übereinstimmte. Nun warte ich schon mit Ungeduld auf Ihre Geschichte der politischen Ideen, besonders seit ich Ihre Darstellung von Marx in der Rev. of Politics mit der meisterhaften und ganz neuen Interpretation der Feuerbach-Thesen gelesen habe.2 Ich habe so lange mit dieser Antwort gezögert, weil ich eigentlich Lust hatte, ganz ausführlich zu antworten. Ihre Kritik der Gesamtperspektive trifft durchaus in das Zentrum dessen, worum es auch mir eigentlich geht. Inzwischen aber ist mir klar geworden, dass jede wirkliche Antwort alle schicklichen Grenzen eines Briefes überschreiten würde. Ich bin mit meinen eigenen Überlegungen augenblicklich in genau dem Stadium (Zwischenstadium3), in dem man kurz nicht mehr und noch nicht schreiben kann. 1

2

3

Quelle: Eric Voegelin Papers, Hoover Institution Archives, Box 6, Folder 23. Original mit kleinen handschriftlichen Verbesserungen, Unterschrift handschriftlich. Zur Transkription etc. siehe Voegelin-Brief, Anm. 1. Ein unkorrigierter Durchschlag des Briefes findet sich in den dort angegebenen Hannah-Arendt-Papers. Eric Voegelins ideengeschichtliches Opus magnum erschien erst ab 1956: Order and History, 5 Bände, Baton Rouge 1956–1987. Die Veröffentlichung, auf die sich Hannah Arendt direkt bezieht, ist Eric Voegelin, The Formation of the Marxian Revolutionary Idea. In: The Review of Politics, 12 (1950) 3, S. 275–302. Zum »Zwischenstadium« ihrer Überlegungen äußert sich Hannah Arendt weiter unten im Brief sowie, ausführlicher, in ihrem Briefentwurf S. 39–42.

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Hannah Arendt

Also werde ich nur gleichsam von Außen antworten. Mit der zeitlichen Abgrenzung, an der Judenfrage, d.h. am Antisemitismus (der natürlich nichts mit christlichem Judenhass zu tun hat) orientiert, stimmen Sie überein. Ich hatte außerdem die Tendenz, den geschichtlichen Zeitraum sowohl wie die in diesem Zeitraum wirkenden Tendenzen nach Möglichkeit zu begrenzen, um den totalitären Bewegungen, diesen Produkten der Hintertreppentradition des Abendlandes nicht auch noch eine illustre Ahnenreihe zu verschaffen.4 Der Zerfall der christlichen Zivilisation ist für mich der Rahmen, in welchem sich die gesamte moderne Geschichte abspielt, und das heißt für mich, die ich keine Christin bin, das Gute sowohl wie das Böse. Aber selbst wenn ich den christlichen Standort akzeptieren könnte (und sehr gerne akzeptiere ich, was Sie mit dem Kontinuum christlicher Häresien seit dem 12. Jahrhundert andeuten), wäre mir dieser Rahmen zu weit gespannt, um ein so spezifisches Phänomen wie die totalitären Bewegungen und Herrschaftsformen zu erklären. Anders wäre es, wenn man, statt positiv nach der Entstehung zu fragen, negativ fragen würde: wie kommt es, dass wir aus unserer Tradition nicht imstande waren, die uns von unserer Zeit gestellten politischen Fragen und Aufgaben zu beantworten und zu »lösen«? Diese Frage würde in der Tat den ganzen Hintergrund unserer Tradition aufreißen, d.h. unserer Tradition politischen Denkens; ich stelle sie nicht und glaube, ich brauchte sie auch nicht zu stellen. Die Ideologien hasse ich ebenso wie Sie. Wenn ich trotzdem auf ihrer relativen »Harmlosigkeit« bestehe, so gerade weil ich mit Ihnen glaube, dass man ihr Entstehen noch einigermaßen zureichend aus einem Teil der großen Tradition und dem Kontinuum der »Häresien« herleiten kann, d.h. dass in ihnen der entscheidende Bruch mit der Gesamt-Tradition des Abendlandes, wie er in allem was mit den Konzentrationslägern zusammenhängt, zum Ausbruch kommt, noch nicht vollzogen ist. Auf diesen Bruch bzw. auf die Darstellung dieses Bruches kam es mir durchaus primär an. Ich bin der Meinung, dass er das entscheidende Ereignis geworden ist. Das hat wenig damit zu tun, wie man diesen Bruch »erklären« will (immer natürlich unzulänglich). Ich kann mir z.B., nur aus der Geschichte der Ideologien oder nur aus der Geschichte der Politik, gut vorstellen, dass es zu ihm nicht hätte zu kommen brauchen. Das leider ist kein Trost und ändert nichts daran, dass wir heute in einer Wirklichkeit stehen, die durch diesen Bruch bestimmt ist.5 Anders ausgedrückt oder auf eine andere Stelle Ihres Briefes bezogen, könnte ich auch sagen, dass m.E. der »Zerstörungsprozess« deshalb nicht mehr »aufzuhalten« ist, weil er in entscheidenden Räumen unserer geistigen wie geographi4 5

Dazu Arendt klar in ihrer »Antwort«, dass Voegelin sie missverstanden habe, vgl. S. 54 f., 57 f. Auch wenn das Wort »Bruch« oder »Traditionsbruch« in Arendts »Antwort« an Voegelin nicht vorkommt, so ist doch der Gedanke als solcher präsent, vgl. z. B. S. 56 f. Vgl. in den »Abschließenden Bemerkungen« S. 22.

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Brief an Eric Voegelin vom 22. April 1951

schen Welt bereits zu einem Ende gekommen ist. Ich könnte meinen Vorschlag, neue moralische Wahrheiten zu finden,6 nur dann zurücknehmen, wenn man mich davon überzeugen könnte, dass die in unserer Zeit begangenen »Verbrechen« als solche sich in den alten religiösen und moralischen Kategorien fassen ließen. Ist es nicht grotesk, von Mord zu sprechen, wenn man mit der Errichtung kostspieliger Fabriken zur Herstellung von Leichnamen konfrontiert ist? oder Menschen zu sagen, »Du sollst nicht töten«, wenn diese an solchen Morden weder ein Interesse hatten noch sich sonst etwas Böses (im traditionellen Sinne) dachten? Nun lassen Sie mich noch Ihnen von Herzen für Ihre Anerkennnung und ausführliche Kritik danken. Sie wissen ja wahrscheinlich selbst, dies ist das Beste, was einem passieren kann und das Einzige, was man hofft, dass es passieren möge. Mit allen guten Wünschen für Ihre Arbeit, herzlich grüßend Ihre Hannah Arendt

6

Siehe oben S. 33.

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Hannah Arendt

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Briefentwurf an Eric Voegelin vom 8. April 1951

Hannah Arendt

130 Morningside Drive

New York 27, N.Y.

den 8. April 1951.1 Lieber Herr Voegelin – Ihr Brief war eine sehr große Freude! Ich verdanke Ihren Arbeiten sehr viel, sie waren meinem eigenen Denken immer sehr nahe auch dann, wenn ich nicht mit allem übereinstimmte. Nun warte ich schon lange mit Ungeduld auf Ihre Geschichte der politischen Ideen (und werde dann nie mehr Sabine loben; Sie haben natürlich ganz recht2), besonders seit ich Ihre Darstellung von Marx in der Review of Politics mit der meisterhaften und ganz neuen Interpretation der Feuerbach-Thesen gelesen habe. Ich habe Lust zu antworten und hoffe, dass dies Ihnen recht ist. Ihre schöne Kritik der Gesamtperspektive trifft so sehr in das Zentrum dessen, worum es ja eigentlich geht, daß ich gerne, wie unzulänglich auch immer, versuchen möchte, wenigstens meine Fragen deutlicher zu machen. Erst einmal zur zeitlichen Abgrenzung:3 Wie Sie selbst sagen, die moderne Judenfrage, die mit dem christlichen Judenproblem und dem christlichen Juden1 2

3

Quelle: Wie Voegelin-Brief, Anm. 1. Maschinenschriftliches Original, Blätter 010388–010392; Kursivsetzungen im Druck sind Unterstreichungen im Original. Zur Transkription etc. siehe ebd. Vgl. in Voegelins Brief S. 33. Hannah Arendt schreibt in »The Origins of Totalitarianism« (1951) im Kapitel »Continental Imperialism: the Pan-Movements« in Fußnote 31 auf Seite 230: »One of the most illuminating discussions on the principle of sovereignty is still Jean Bodin, Six Livres de la République, 1576. For a good report and discussion of Bodin’s main theories, see George H. Sabine, A History of Political Theory, 1937.« Die Fußnote hat sie in den späteren Ausgaben nicht geändert. Vgl. Arendt in ihrer »Antwort« S. 57 f.

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Hannah Arendt

hass nichts zu tun hat, war für mich entscheidend in dieser Hinsicht. Außerdem aber hatte ich stets die Tendenz, den geschichtlichen Zeitraum sowohl wie die in diesem Zeitraum wirkenden Elemente so stark wie möglich zu begrenzen, um den Herrschaften unter keinen Umständen auch noch eine illustre Ahnenreihe zu beschaffen. Der Zerfall der christlichen Zivilisation ist gleichsam der Rahmen, in welchem sich die gesamte moderne Geschichte abspielt – wie mir, die ich keine Christin bin, scheinen will, das Gute wie das Böse. Aber selbst wenn ich den christlichen Standort akzeptiere (und sehr gerne akzeptiere, was in Ihrer Andeutung eines Kontinuums christlicher Häresie impliziert ist), wäre mir der Rahmen dieses Zerfalls zu weitgreifend um ein so spezifisches Phänomen wie die totalen Bewegungen zu »erklären«. Anders wäre es, wenn man, statt wie ich in meinem Buch positiv nach der Entstehung zu fragen, negativ fragen würde: wie kommt es, dass wir aus unserer Tradition nicht imstande waren, die uns von unserer Zeit gestellten politischen Fragen zu beantworten. Dies führt zu der weiteren Frage: Was ist Politik seit Plato? und sind die seit Plato gegebenen Antworten zureichend?4 Ich weiß, dass es Ihnen hybrid klingen wird, wenn ich sage: ich glaube nicht. Ich habe den Verdacht, dass in dieser, der rein politischen Hinsicht, irgendetwas in unserer philosophischen Tradition nicht in Ordnung ist. Ich weiß nicht, was es ist, aber mir scheint es im Zusammenhang mit der Pluralität der Menschen zu stehen und mit dem Faktum, dass die Philosophie es vorwiegend mit dem Menschen zu tun gehabt hat. Anders ausgedrückt: wenn es richtig ist, dass die Quintessenz des Totalitarianismus in den Satz zusammengefasst werden kann: Die Allmacht des Menschen macht die Menschen überflüssig (so wie die Allmacht Gottes notwendigerweise den Monotheismus zur Folge hat), dann liegt die Menschen- und Welt-zerstörende Kraft des Totalitarianismus nicht nur in dem Wahn: Alles ist möglich, sondern auch in dem Wahn, es gäbe so etwas wie den Menschen. Dass dieser Wahn mitimpliziert ist, können Sie daran erkennen, dass es den totalitären Führern nicht auf Qualität von Menschen ankommt und dass ihre Behandlung der Nachfolger-Frage voraussetzt, dass sie der Meinung sind: jeder kann es machen. Den Menschen aber gibt es nur als Kreatur Gottes. Die Macht des Menschen ist begrenzt durch die Tatsache, dass er sich nicht selbst geschaffen hat, die Macht 4

Die anschließend und in den darauf folgenden Abschnitten entwickelten Gedankengänge finden sich bereits in Arendts Brief an Karl Jaspers vom 4. März 1951: Hannah Arendt/Karl Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, hg. von Lotte Köhler und Hans Saner, München/Zürich 1985, S.  202 f. In ihnen kündigt sich, wie Peter Baehr mit Recht feststellt, Hannah Arendts spätere politische Theorie mit ihrem Schlüsselbegriff »Pluralität« an: Peter Baehr, Debating Totalitarianism: An Exchange of Letters Between Hannah Arendt and Eric Voegelin. In: History and Theory, 51 (2012), S. 364–380, hier 367. – Im an Voegelin abgeschickten Brief beschränkt sich Arendt auf die Frage: »Wie kommt es, dass wir aus unserer Tradition nicht imstande waren, die uns von unserer Zeit gestellten politischen Fragen und Aufgaben zu beantworten und zu ›lösen‹?« (S. 36); in ihre »Antwort« werden die Gedankengänge nicht aufgenommen.

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Briefentwurf an Eric Voegelin vom 8. April 1951

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der Menschen ist nicht durch die Natur so sehr als durch die Tatsache der Pluralität, durch die faktische Existenz von meinesgleichen begrenzt. Dabei hilft mir nicht, wie die Humanisten es gerne haben möchten, dass ich in jedem Menschen den Menschen sehe; denn dies führt keineswegs notwendigerweise zum Respekt oder zur Anerkennung der Menschenwürde, sondern kann ganz genau ebenso zu der Überzeugung des Überflusses und der Überflüssigkeit verleiten. Zwar ist richtig, dass dies erst eintreten kann, wenn das christlich-jüdische Weltbild im Zerfall ist und das Ebenbild Gottes nicht mehr geglaubt wird. Dies aber ist ja eine Tatsache, die sich nicht gut durch einfachen Rückgriff wird ändern lassen. Dieser Zerfall ist selbst ein Ereignis, in dem wir stehen, er ist mehr als »intellektueller Unfug«, der vielmehr nur ein Symptom ist und als solches ernst zu nehmen, selbst wenn die inhaltlichen Aussagen so haarsträubend unsinnig sind, wie sie es de facto oft sind. Meinen Vorschlag (wie Sie es freundlich-spottend nennen), neue moralische Wahrheiten zu finden,5 will ich gerne zurücknehmen, wenn mich jemand davon überzeugen kann, dass die in unserer Zeit begangenen »Verbrechen« als solche mit den alten religiösen oder moralischen Kategorien zu fassen sind. Ist es nicht fast komisch, von Mord zu sprechen und von Du sollst nicht töten, wenn man mit der Errichtung kostspieliger Fabriken zur Herstellung von Leichnamen konfrontiert ist. Und wenn diese Fabriken von Menschen errichtet wurden, die an diesen Morden nicht das geringste Interesse hatten und sich dabei sozusagen nichts Böses (im traditionellen Sinne) dachten. Und dies bringt mich zu dem unmittelbar wahrscheinlich wichtigsten Punkt unserer Differenz, eigentlich der Frage des Zusammenhanges zwischen Denken und Handeln oder meiner Behauptung eines Abgrundes zwischen den Ideologien und ihres Supersenses6 auf der einen Seite und der totalitären Praxis auf der andern. Den »Abgrund« habe ich einem Worte Herders unbewusst nachgebildet, der irgendwo einmal von dem Abgrund zwischen dem nur gedachten, möglichen und dem wirklichen Verbrechen spricht. Sie haben ganz recht, in all diesen Ideologien sitzt bereits der Mord und man kann rein logisch nahezu alles aus ihnen herleiten. Aber diese Logik in ihr Extrem getrieben ist ja selbst höchst merkwürdig, nämlich das, was ich logicality7 zu nennen versuche. Diese hat etwas von richtiger Verrücktheit an sich, d.h. nicht nur die Prämissen, die unhaltbar sein 5 6 7

Siehe oben S. 33. Dem englischen »supersense« entspricht das deutsche Wort »Übersinn«, das Arendt in »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« gebraucht, oder auch die Wortbildung »Suprasinn«, die sie ebenfalls benutzt. Vgl. in den »Abschließenden Bemerkungen« S. 19 f. Vgl. in Arendts »Abschließenden Bemerkungen« S. 19. In ihrem Essay »Ideologie und Terror«, den sie anstelle der »Abschließenden Bemerkungen« in das Buch aufnimmt, verdeutlicht sie umfassend, was sie unter »logicality« versteht: Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 962 ff.

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Hannah Arendt

mögen und unhaltbar sind, sondern eine Form realer Schlussfolgerung, die sich durch keine Realität je aus dem Konzept bringen lässt. Und dieses sich unbedingt auf die einem Konzept inhärente Logik Verlassen unter Ausschaltung jeglicher Urteilskraft ist neu und aus den Ideologien selbst nicht abzuleiten. Mir scheint, dass unsere eigentliche Differenz nicht darin besteht, dass Sie vorwiegend Ideengeschichtler oder Geisteswissenschaftler sind und ich vorwiegend aus »politischer, sozialer, wirtschaftlicher Situation« erkläre, sondern in einer Verschiedenheit der Haltung zum Ereignis als solchem.8 Im Gegensatz zu allem nur Gedachten ist es weder wiederholbar noch widerrufbar noch vergessbar. Ich weiß von keinem Gedanken aus dem gesamten Arsenal der Ideologien, zu dem ich sagen würde: dies hätten Menschen nie denken dürfen (dürfen: nicht in dem moralischen, sondern in dem Sinne einer nicht wieder gut zu machenden Katastrophe), dies aber scheint mir ist genau das Einzige, was wir zu den Vernichtungslägern sagen müssen: dies hätte nie passieren dürfen. Auch dies natürlich nicht wegen der dabei umgekommenen Menschen. Dies mag ein extremer Fall sein, aber die spezifische Valeur von Ereignissen, ihr eigentlich spezifisches Gewicht ist aus keiner Ideologie und aus keinen rein ideengeschichtlichen Zusammenhängen je herzuleiten. In dem Ereignis als solchem offenbart sich immer noch etwas, was in keiner vorbereitenden Allgemeinheit vorhanden war oder zu fassen wäre. Der Abgrund besteht nicht nur darin, dass es immer auch noch hätte anders kommen können, sondern dass die Ideologen vermutlich niemals bereit gewesen wären, die logicality ihrer Systeme in die Wirklichkeit loszulassen.

8

Vgl. in Arendts »Antwort« S. 56 f.

Eric Voegelin

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Die Ursprünge des Totalitarismus1

Die große Mehrheit aller auf der Erde lebenden menschlichen Wesen ist von den totalitären Massenbewegungen unserer Zeit irgendwie betroffen. Ob die Menschen Mitglieder, Anhänger, Mitläufer, ahnungslose Dulder sind, tatsächliche oder mögliche Opfer, ob sie unter der Herrschaft einer totalitären Regierung leben oder immer noch frei sind, ihre Verteidigung gegen das Unheil zu organisieren – die Beziehung zu den Bewegungen ist ein ins Innerste reichender Teil ihrer geistlichen, geistigen, wirtschaftlichen und körperlichen Existenz geworden. Die Verwesung [putrefaction] der westlichen Kultur und Zivilisation hat sozusagen ein Leichengift freigesetzt, das seine Krankheitserreger im Menschheitskörper ausstreut. Was in der Vergangenheit kein Religionsgründer, kein Philosoph, kein imperialer Eroberer erreicht hat – nämlich eine Gemeinschaft der Menschheit durch die gemeinsame Sorge um alle Menschen zu schaffen –, ist nun mit der Gemeinschaft des Leidens unter der erdumgreifenden Expansion der westlichen Fäulnis verwirklicht. Bei einem Sozialprozess solcher Größenordnung und Komplexität werden dem politischen Wissenschaftler die Untersuchung und theoretische Verarbeitung selbst unter günstigen Umständen nicht leicht gemacht. Was das Räumliche angeht, so muss das Faktenwissen sich auf eine Vielzahl von Zivilisationen erstrecken; vom Gegenstand her muss die Untersuchung den Bereich religiöser Erfahrungen und ihrer Symbolisierung, über die Herrschaftsinstitutionen und die Organisation von Terrorismus bis hin zu den Veränderungen der Persönlichkeit unter dem Druck von Furcht und der Gewöhnung an Gräueltaten umgreifen; zeitlich gesehen muss das Werden der Bewegungen im Verlauf einer Zivilisation, die ein Jahrtausend gedauert hat, nachgezeichnet werden. Bedauerlicherweise jedoch sind die Umstände nicht günstig. Die positivistische Zerstörung der politischen Wissenschaft ist noch nicht überwunden, und das große Hindernis 1

Erstveröffentlichung: Eric Voeglin, The Origins of Totalitarianism. In: The Review of Politics, 15 (1953) 1, S. 68–76. Übersetzung: Ursula Ludz.

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Eric Voegelin

bei der angemessenen Behandlung des Totalitarismus ist immer noch die Unzulänglichkeit der theoretischen Instrumente. Es ist schwierig, politische Phänomene ohne eine gut entwickelte philosophische Anthropologie einzuordnen oder Phänomene geistigen Zerfalls ohne eine Theorie des Geistes; denn das moralisch Abstoßende und das emotional Existierende werden das Wesentliche überschatten. Darüber hinaus ist der revolutionäre Ausbruch des Totalitarismus in unserer Zeit der Höhepunkt einer säkularen Evolution. Und wieder wird sich das Sein, das in einem langen geschichtlichen Prozess zur Aktualität wurde, wegen des unbefriedigenden Zustands der kritischen Theorie der Bestimmung entziehen. Die katastrophalen Manifestationen der Revolution, das Massaker und das Elend von Millionen menschlicher Wesen, beeindrucken den Zuschauer im Vergleich mit dem unmittelbar vorausgehenden eher friedlichen Zeitalter als noch nie dagewesen – und zwar so stark, dass der Unterschied in der Erscheinung die Gleichheit im Wesen überdecken wird. Angesichts dieser Schwierigkeiten verdient das Werk von Hannah Arendt über The Origins of Totalitarianism gründliche Aufmerksamkeit. Es ist ein Versuch, die gegenwärtigen Erscheinungen verständlich zu machen, indem ihr Ursprung bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt und auf diese Weise eine Zeitspanne festgelegt wird, in welcher sich das Wesen des Totalitarismus zu voller Blüte entfaltete. Und was das Wesen des Totalitarismus angeht, so dringt das Werk zu den theoretisch relevanten Fragen vor. Jedoch ist dieses Buch über die Nöte und Verwirrungen des Zeitalters auch von jenen gezeichnet; denn an ihm haftet der Makel des unbefriedigenden Standes der Theorie, den wir angesprochen haben. Es ist reich an brillanten Formulierungen und tiefen Einsichten – wie man es nur von einer Verfasserin, die als Philosophin ausgewiesen ist, erwarten würde –, doch bewegen sich die Ausführungen in Richtung einer bedauernswürdigen Oberflächlichkeit, wenn die Autorin ihre Einsichten weitertreibt und deren Folgen aufzeigt. Solche Entgleisungen sind zwar peinlich, aber trotzdem aufschlussreich – manchmal aufschlussreicher als die Einsichten selbst –, weil sie die geistige Wirrnis des Zeitalters enthüllen und überzeugender als jedes Argument zeigen, warum totalitäre Ideen Massenakzeptanz finden und auch noch bis weit hinein in die Zukunft finden werden. Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Antisemitismus, Imperialismus und Totalitarismus. Die Reihenfolge der drei Themen ist grob chronologisch, obwohl die Erscheinungen unter den drei Überschriften sich zeitlich überlappen. Der Antisemitismus beginnt im Zeitalter der Aufklärung seinen Kopf zu erheben; die imperialistische Expansion und die Pan-Bewegungen reichen von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bis in die Gegenwart; die totalitären Bewegungen gehören in das zwanzigste Jahrhundert. Darüber hinaus ergibt sich die Reihenfolge daraus, dass die totalitären Züge in ihrem Verlauf an Intensität und Wildheit zunehmen, um in den Gräueltaten der Konzentrationslager auf ihren Höhepunkt

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Die Ursprünge des Totalitarismus

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zu gelangen. Und sie ist schließlich eine schrittweise Enthüllung des Wesens des Totalitarismus von seinen anfänglichen Formen im achtzehnten Jahrhundert bis zur voll entwickelten, nihilistischen Zermalmung menschlicher Wesen. Diese Organisation des Stoffes kann allerdings ohne ihre emotionale Begründung nicht voll verstanden werden. Es gibt mehr als einen Weg, sich mit den Problemen des Totalitarismus zu beschäftigen, und, wie wir sehen werden, ist es nicht sicher, dass der von Dr. Arendt der beste ist. Wie dem auch sei, kein Zweifel kann darüber bestehen, dass das Schicksal der Juden, das Massenschlachten und die Heimatlosigkeit der Displaced Persons für die Autorin ein emotionales Schockzentrum darstellen – das Strahlen aussendet auf ihren Wunsch, die Gründe des Schrecklichen zu untersuchen, die dazu gehörenden politischen Erscheinungen in der westlichen Zivilisation zu verstehen und sich mit Mitteln, dem Bösen Einhalt zu gebieten, zu beschäftigen. Diese emotional bestimmte Methode, von einem konkreten Schockzentrum zu Verallgemeinerungen zu gelangen, führt zu einer Entgrenzung des Gegenstandes. Der Schock wird durch das Schicksal menschlicher Wesen, der Führer, Anhänger und Opfer der totalitären Bewegungen, verursacht; deshalb rücken der Einsturz der alten und die Bildung neuer Institutionen, die Lebensläufe von Individuen in einem Zeitalter institutionellen Wandels, die Auflösung und Bildung von Verhaltenstypen ebenso wie die Ideen vom richtigen Verhalten in den Mittelpunkt. Der Totalitarismus wird damit aus seinen Manifestationen im Medium von Verhalten und Institutionen, wie soeben umrissen, verstanden werden müssen. Und in der Tat, wie ein Leitthema durchzieht das Schwinden des Nationalstaates als der westliche politische Gesellschaften beschützenden Organisation das ganze Buch – eine Entwicklung, die ihrerseits Folge der technologischen, wirtschaftlichen und damit einhergehenden Wandlungen der politischen Macht ist. Mit jeder Veränderung werden Teile der Gesellschaft »überflüssig«, in dem Sinne, dass sie ihre Funktion verlieren und deshalb in ihrem sozialen Status und ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sind. Die Zentralisierung des Nationalstaates und der Aufstieg der Bürokratien in Frankreich lassen den Adel überflüssig werden; das Wachstum der Industriegesellschaften und der neuen Einkommensquellen im späten 19. Jahrhundert lässt die Juden als Staatsbankiers überflüssig werden; jede industrielle Krise bewirkt durch Arbeitslosigkeit die Überflüssigkeit menschlicher Wesen; die Besteuerung und die Inflationen im 20. Jahrhundert führen zur Auflösung der Mittelklassen in gesellschaftliche Trümmerhaufen; die Kriege und die totalitären Regime produzieren Millionen von Flüchtlingen, Zwangsarbeitern und Insassen von Konzentrationslagern, ja stoßen die Mitglieder ganzer Gesellschaften in eine Lage, in der sie nur noch zum Verbrauch bestimmtes Menschenmaterial sind. Was den institutionellen Aspekt des Prozesses angeht, ist Totalitarismus also der Zerfall nationaler Gesellschaften und ihre Verwandlung in Aggregate überflüssiger menschlicher Wesen.

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Eric Voegelin

Die Entgrenzung des Gegenstandes durch die vom Schicksal menschlicher Wesen hervorgerufenen Emotionen ist die Stärke von Dr. Arendts Buch. Die Beschäftigung mit dem Menschen und den Gründen seines Schicksals in gesellschaftlichen Umbrüchen ist die Quelle der Geschichtsschreibung. Die Art, in der die Autorin ihren Bogen von den gegenwärtig bewegenden Ereignissen zu ihren Ursprüngen in der nationalstaatlichen Konzentration spannt, erinnert entfernt an die großartige Weise, in welcher Thukydides seinen Bogen von der katastrophalen Bewegung seiner Zeit, von der großen κίνησις [kinesis, Bewegung], zu deren Ursprüngen im Heraufkommen der athenischen Polis nach den Perserkriegen schlug. In ihrer Reinheit macht die Emotion den Verstand zu einem einfühlsamen Instrument, um die relevanten Tatsachen zu erkennen und auszuwählen, und wenn die Reinheit des menschlichen Interesses unbefleckt von Parteilichkeit bleibt, wird das Ergebnis eine historische Studie respektablen Ranges sein – wie im Falle des vorliegenden Werkes, welches in seinen inhaltlichen Teilen bemerkenswert frei von ideologischem Unsinn ist. In der Wahrung einer bewundernswerten Distanz zu jeder tagesorientierten Parteinahme ist es der Autorin gelungen, die Geschichte jener Umstände zu schreiben, die die Bewegungen hervorriefen, ferner der totalitären Bewegungen selbst und vor allem der Auflösung der menschlichen Persönlichkeit vom frühen antibürgerlichen und antisemitischen Ressentiment bis zu dem gegenwärtigen Schreckensbild des Menschen, »der seine Pflicht tut«. Hier ist nicht der Ort, um auf Details einzugehen. Dennoch müssen ein paar Themen genannt werden, um eine Vorstellung von dem Reichtum dieses Werkes zu vermitteln. Der erste Teil bietet die vielleicht beste kurze Geschichte des antisemitischen Problems, die es gibt; besonders seien die Abschnitte über die Hofjuden und ihren Niedergang, über das jüdische Problem im aufgeklärten, romantischen Berlin, die Skizze von Disraeli und der knappe Bericht über die Dreyfus-Affäre herausgehoben. Der zweite Teil – über den Imperialismus – ist theoretisch der die Sache am meisten durchdringende, denn hier werden die Typenbegriffe für die Beziehungen zwischen den Erscheinungen, die allerdings nur selten in ihren wahren, weiteren Zusammenhang gestellt werden, geschaffen. Er enthält Studien über die schicksalhafte Emanzipation der Bourgeoisie, die eine Oberklasse sein wollte, ohne die Verantwortung der Herrschaft zu übernehmen, über den Zerfall der westlichen nationalen Gesellschaften und die Formation der Eliten und des Mobs, über die Entstehung des Rassendenkens im 18. Jahrhundert, über die imperialistische Expansion der westlichen Nationalstaaten und das Rassenproblem in den Weltreichen, über die dementsprechenden kontinentalen Pan-Bewegungen und die Entstehung des rassischen Nationalismus. In diese breiteren Studien sind vorangestellte Miniaturen besonderer Situationen und Persönlichkeiten eingebettet, wie die hervorragenden Studien über Cecil Rhodes und Barney Barnato, über die Charakterzüge der Buren und deren Rassenpolitik,

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Die Ursprünge des Totalitarismus

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über die britische Kolonialbürokratie, über die Unfähigkeit der westlichen Nationalstaaten, eine imperialistische Kultur im römischen Sinne hervorzubringen, und den darauf folgenden Fehlschlag des britischen und französischen Imperialismus, über das Element des Infantilismus bei Rudyard Kipling und Lawrence von Arabien, und über die zentraleuropäische Minoritätenfrage. Der dritte Teil – über den Totalitarismus – enthält Studien über die klassenlose Gesellschaft, die sich aus der allgemeinen Überflüssigkeit von Gesellschaftsmitgliedern ergibt, über den Unterschied zwischen Mob und Masse, über die totalitäre Propaganda, die totalitäre Polizei und die Konzentrationslager. Dieses umfangreiche Material, das gut dokumentiert und mit Fußnoten und bibliographischen Angaben versehen wird, ist stellenweise großzügig ausgewählt und verrät die Freude des wahren Historikers am gekonnten Erzählen, wird aber in konzeptioneller Disziplin von der allgemeinen These zusammengehalten. Dennoch muss an dieser Stelle eine kritische Bemerkung erlaubt sein. Die Organisation des Buches ist etwas weniger streng, als sie hätte sein können, wenn sich die Autorin bereiter gezeigt hätte, die theoretischen Instrumente, die der gegenwärtige Stand der Wissenschaft ihr zur Verfügung stellt, zu nutzen. Ihr Prinzip der Relevanz, unter dem sie die vielfarbigen Materialien zu einer Geschichte des Totalitarismus ordnet, ist der Zerfall einer Zivilisation in Massen menschlicher Wesen ohne sicheren wirtschaftlichen und sozialen Status, und ihre Materialien sind insofern relevant, als sie den Zerfallsprozess zeigen. Offensichtlich ist dieser Prozess derselbe, der von Toynbee als Wachstum des inneren und äußeren Proletariats gekennzeichnet wurde.2 So überrascht es, dass die Autorin Toynbees in höchstem Maße differenzierte Begriffe nicht verwendet hat und dass nicht einmal sein Name erscheint, weder in den Fußnoten, noch in der Bibliographie, noch im Index. Die Berücksichtigung von Toynbees Werk hätte Dr. Arendts Analyse in der Substanz zusätzliches Gewicht verliehen. Dieses ausgezeichnete Buch wird, wie wir angedeutet haben, durch gewisse theoretische Mängel bedauerlicherweise beeinträchtigt. Die Behandlung der Bewegungen des totalitären Typus auf der Ebene von sozialen Situationen und gesellschaftlichem Wandel, ebenso wie auf der von Typen des von ihnen bestimmten Verhaltens, ist geeignet, geschichtliche Kausalität mit einer Aura der Fatalität zu versehen. Situationen und Wandlungen verlangen sicherlich eine Erwiderung,3 doch sie determinieren sie nicht. Der Charakter eines Mannes, das Ausmaß und die Intensität seiner Leidenschaften, die von seinen Tugenden ausgeübten Kontrollen und seine geistige Freiheit sind zusätzlich Determinan2 3

Vgl. Arnold J. Toynbee, Der Gang der Weltgeschichte, Band 2, aus dem Englischen (»A Study of History«) übersetzt von Jürgen von Kempski, München 1970, S. 488 ff. Englisch: »response«, wahrscheinlich unter Verwendung des Toynbee’schen Kategorienpaares »challenge and response« (Herausforderung und Antwort). Vgl. Toynbee, Der Gang der Weltgeschichte, Band 1, besonders S. 107 ff.

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Eric Voegelin

ten. Wenn Verhalten nicht als die Erwiderung eines Mannes auf eine Situation verstanden und die Vielfalt der Erwiderungen als eher in den Möglichkeiten der menschlichen Natur wurzelnd denn in der Situation selbst gesehen wird, dann wird der Geschichtsprozess ein geschlossener Strom, und jeder zu einem gegebenen Zeitpunkt quer verlaufende Einschnitt determiniert voll und ganz den künftigen Verlauf. Dr. Arendt ist sich dieses Problems bewusst. Sie weiß, dass Veränderungen in der ökonomischen und gesellschaftlichen Situation Menschen nicht einfach überflüssig machen, und dass überflüssige Menschen nicht notwendigerweise mit Ressentiment, Grausamkeit und Gewalt reagieren; sie weiß, dass die Abwesenheit von Zwang und das Fehlen eines Folgen einbeziehenden Verantwortungssinnes für eine skrupellose Wettbewerbsgesellschaft kennzeichnend sind; ihr ist, wenn auch unangenehm, bewusst, dass nicht all das Elend der nationalsozialistischen Konzentrationslager von den Unterdrückern verursacht wurde, sondern dass ein Teil davon der geistigen Verlorenheit, die so viele der Opfer mit sich brachten, geschuldet ist. Ihr Verständnis für derartige Fragen enthüllt sich zweifellos in der folgenden Passage: »Nichts vielleicht unterscheidet die modernen Massen so radikal von denen der vorausgehenden Jahrhunderte als der Verlust des Glaubens an ein Jüngstes Gericht: Die Schlechtesten haben ihre Furcht, die Besten ihre Hoffnung verloren. Diese Massen, die bisher unfähig sind, ohne Furcht und Hoffnung zu leben, fühlen sich von jedem Bemühen angezogen, das eine menschengemachte Fabrikation des Paradieses, nach dem sie sich sehnten, und der Hölle, die sie fürchteten, zu versprechen scheint. Genauso wie die vulgarisierte Version von Marx’ klassenloser Gesellschaft eine fragwürdige Ähnlichkeit mit dem messianischen Zeitalter hat, so ähnelt der Wirklichkeit der Konzentrationslager nichts so sehr wie die mittelalterlichen Bilder von der Hölle.« (S. 4194) Die geistige Krankheit des Agnostizismus ist das eigentümliche Problem der modernen Massen, und die menschengemachten Paradiese und Höllen sind ihre Symptome; die Massen haben die Krankheit, ob sie nun in ihrem Paradies oder in ihrer Hölle sind. Die Autorin also sieht das Problem; doch seltsamerweise bleibt ihre Behandlung des Stoffes von diesem Wissen unberührt. Wenn die geistige Krankheit das entscheidende Merkmal für die Unterscheidung der modernen Massen von denen früherer Jahrhunderte ist, dann würde man erwarten, dass die Untersuchung des Totalitarismus nicht in den Grenzen des institutionellen Zusammenbruchs nationaler Gesellschaften und des Wachstums der gesellschaftlich überflüssigen Massen erfolgt, sondern in denen der Genesis der geistigen Krankheit, besonders weil die Erwiderung auf den institutionellen Zusammenbruch klar die Merkmale der Krankheit trägt. Dann hätten die Ursprünge des Totalitarismus nicht in erster Linie im Schicksal des Nationalstaates 4

Die Passage ist in der deutschen Übersetzung »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« entfallen.

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Die Ursprünge des Totalitarismus

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und den damit einhergehenden gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen seit dem 18. Jahrhundert gesucht werden müssen, sondern eher im Aufkommen des immanentistischen Sektenwesens seit dem Hohen Mittelalter; dann wären die totalitären Bewegungen nicht einfach revolutionäre Bewegungen funktional entwurzelter Volksteile, sondern immanentistische Glaubensbewegungen, in denen mittelalterliche Häresien ihre Früchte getragen hätten. Wie wir schon gesagt haben, zieht Dr. Arendt die theoretischen Schlüsse aus ihren eigenen Einsichten nicht. Solch versäumtes Schlussfolgern hat einen Grund. Er kommt in einer anderen tiefsinnigen Formulierung, die die Autorin in eine überraschende Richtung umbiegt, ans Licht: »Was sich totalitäre Ideologien deshalb zum Ziel setzen, ist nicht die Verwandlung der äußeren Welt oder die revolutionierende Veränderung der Gesellschaft, sondern die Transformation der menschlichen Natur selbst.« (S. 4325) Das ist in der Tat das Wesen des Totalitarismus als einer immanentistischen Glaubensbewegung. Totalitäre Bewegungen beabsichtigen nicht, gesellschaftliche Übel durch industrielle Veränderungen zu heilen, sondern wollen ein Millennium im eschatologischen Sinne durch die Transformation der menschlichen Natur schaffen. Der christliche Glaube an die transzendentale Vollkommenheit durch die Gnade Gottes ist umgedreht – und verdreht – worden in die Vorstellung von der immanenten Vollkommenheit durch eine Tat des Menschen. Und an dieses Verständnis vom geistlichen und geistigen Zusammenbruch schließt sich in Dr. Arendts Text der folgende Satz an: »Die menschliche Natur als solche steht auf dem Spiel, und selbst wenn es scheint, als könnten diese Versuche mit der Schaffung einer Gesellschaft, in der die nihilistische Banalität des Homo-homini-lupus konsistent verwirklicht wird, den Menschen nicht verändern, sondern nur zerstören, so sollte man dennoch nicht vergessen, dass einem Experiment, welches globale Kontrolle erfordert, um zwingende Ergebnisse zu zeitigen, notwendige Grenzen gesetzt sind.« (S. 4336) Als ich diesen Satz 5

6

Hiermit und mit den folgenden Ausführungen bezieht sich Voegelin auf die »Conclusion«, die Abschließenden Bemerkungen des Werkes, in dieser Ausgabe S. 15–30, das Zitat auf S. 20. Hannah Arendts Formulierung dieses Satzes in der deutschen Ausgabe der »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« lautet: »Das eigentliche Ziel der totalitären Ideologie ist nicht die Umformung der äußeren Bedingungen menschlicher Existenz und nicht die revolutionäre Neuordnung der gesellschaftlichen Ordnung, sondern die Transformation der menschlichen Natur selbst«. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 10. Auflage München/Zürich 2005, S. 940 f. Vgl. S. 21. Vgl. ferner in der deutschen Ausgabe: Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 941 (Hervorhebung U. L.): »Was in der totalen Herrschaft auf dem Spiele steht, ist wirklich das Wesen des Menschen, und wenngleich es scheint, als könnten ihre Experimente dies Wesen zwar zerstören, aber nicht verändern, so sollte man nicht vergessen, dass dieses Experiment bisher noch immer in beschränktem Maßstab ausgeführt worden ist und dass es zwingende Ergebnisse nicht zeitigen kann, bevor nicht die ganze Welt unter seiner Kontrolle steht.«

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Eric Voegelin

las, konnte ich meinen Augen kaum trauen. »Natur« ist ein philosophischer Begriff; er bezeichnet das, was ein Ding als Ding dieser und nicht einer anderen Art kennzeichnet. Eine »Natur« kann nicht geändert oder transformiert werden; eine »Änderung der Natur« ist ein Widerspruch in sich; sich in die »Natur« eines Dinges einmischen, heißt, es zerstören. Die Vorstellung vom »Ändern der Natur des Menschen (oder wessen auch immer)« zu konzipieren, ist ein Symptom des geistigen Zusammenbruchs der westlichen Kultur. Die Autorin nimmt damit tatsächlich die immanentistische Ideologie an; sie hält sich gegenüber den totalitären Gräueltaten »offen«; sie betrachtet die Frage einer »Änderung der Natur« als eine Sache, die durch »Versuch und Irrtum« geklärt werden muss; und da der »Versuch« bisher nicht unter den Möglichkeiten, die ein globales Laboratorium bietet, stattfinden konnte, muss die Frage zum gegenwärtigen Zeitpunkt in der Schwebe bleiben. Diese Sätze von Dr. Arendt müssen natürlich nicht als Konzession an den Totalitarismus im eher begrenzten Sinne, d. h. als Konzession an die nationalsozialistischen und kommunistischen Gräueltaten, ausgelegt werden. Im Gegenteil, sie spiegeln eine typisch liberale, progressive, pragmatische Haltung zu philosophischen Problemen wider. Wir deuteten weiter oben an, daß die theoretischen Entgleisungen der Autorin manchmal interessanter sind als ihre Einsichten. Und diese Haltung ist in der Tat von allgemeiner Bedeutung, weil sie enthüllt, wie viel Boden Liberale und Totalitäre gemeinsam haben; der essentielle Immanentismus, der sie vereint, setzt die Unterschiede im Ethos, die sie trennen, außer Kraft. Die wahre Trennlinie in der gegenwärtigen Krise verläuft nicht zwischen Liberalen und Totalitären, sondern zwischen den religiösen und philosophischen Transzendentalisten auf der einen Seite und den liberalen und totalitären Immanentisten auf der anderen. Es ist traurig, muss jedoch berichtet werden, dass die Autorin selbst diese Linie zieht. Das Argument beginnt mit ihrer Verwirrung über die »Natur des Menschen«: »Nur der verbrecherische Versuch, die Natur des Menschen zu ändern, entspricht der uns schaudernden Einsicht, dass keine Natur, nicht einmal die Natur des Menschen, weiterhin als das Maß aller Dinge angesehen werden kann« (S. 4347) – ein Satz, der, wenn er überhaupt einen Sinn hat, nur aussagen kann, dass die Natur des Menschen aufhört, das Maß zu sein, wenn irgendein Schwachsinniger die Vorstellung, sie zu ändern, in die Welt setzt. Die Autorin scheint von dem Schwachsinnigen beeindruckt zu sein und bereit, die Natur des Menschen ebenso zu vergessen wie alle menschliche Zivilisation, die auf ihrem Verständnis errichtet wurde. Der »Mob«, so gesteht sie zu, hat richtig gesehen, »dass fast dreitausend Jahre westlicher Kultur und Zivilisation […] zusammengebrochen sind« (ibid.). Die Bühne verlassen die Philosophen Griechenlands, die Propheten Israels, Christus, ganz zu schweigen von den Patristi7

Vgl. S. 22.

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Die Ursprünge des Totalitarismus

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kern und den Scholastikern; denn der Mensch ist »erwachsen geworden«, und das heißt, »dass von nun an der Mensch der einzig mögliche Schöpfer seiner eigenen Gesetze und der einzig mögliche Macher seiner eigenen Geschichte ist« (S. 4378). Dieses Erwachsenwerden muss akzeptiert werden; der Mensch ist der neue Gesetzgeber; auf die von der Vergangenheit gesäuberten Tafeln wird er die »neuen Entdeckungen in der Moral«, die Burke noch für unmöglich gehalten hatte (S. 4389), schreiben. Das klingt wie ein nihilistischer Alptraum. Und ein Alptraum ist es eher denn eine gut durchdachte Theorie. Doch wäre es unfair, die Autorin auf der Ebene kritischen Denkens für das zur Verantwortung zu ziehen, was offensichtlich ein traumatisches Schaudern unter dem Einfluss von Erfahrungen, die stärker waren als die Kräfte des geistlichen und geistigen Widerstehens, gewesen ist. Das Buch als ganzes soll nicht aufgrund der theoretischen Entgleisungen, die hauptsächlich im Schlussteil vorkommen, beurteilt werden. Die Beschäftigung mit dem Gegenstand selbst ist von dem jahrhundertalten Wissen über die menschliche Natur und das Leben des Geistes beseelt, wenn auch nicht immer durchdrungen – einem Wissen, das die Autorin in dem abschließenden Bemerkungen beiseitelegen und durch »neue Entdeckungen« ersetzen möchte. Wir aber wollen uns mit der unbewussten Ironie des Schlusssatzes trösten, wo die Autorin sich für den »neuen« Geist der menschlichen Solidarität auf die Apostelgeschichte des Lukas (16, 28) beruft: »Tu dir nichts Übels, Denn wir sind alle hie.« Wenn die Autorin vom Zitieren dieser Worte zum Hören gelangt, wird das alptraumartige Entsetzen vielleicht ein Ende haben, wie das des Kerkermeisters, dem sie gegolten hatten.

8 9

Vgl. S. 27. Vgl. S. 28.

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Eric Voegelin

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Abschließende Bemerkung1

In unseren Tagen passiert es nicht oft, dass in der politischen Wissenschaft ein Werk genügend theoretisches Gewebe hat, um eine Untersuchung der Prinzipien zu rechtfertigen. Da Dr. Arendts Buch sich durch ein hohes Maß an theoretischer Bewusstheit auszeichnete, fühlte ich mich verpflichtet, dies anzuerkennen und mit einem aufrichtigen Kompliment zu würdigen, indem ich einige Formulierungen kritisierte. Die kritischen Bemerkungen hatten erfreulicherweise zusätzlich zur Folge, dass sie die vorangehende, ausführlichere Erklärung der methodischen Ansichten der Autorin hervorriefen. Als Hilfe für den Leser des Buches sollte das nun genügen. Mein Schlusswort, um das mich die Herausgeber der Review gebeten hatten, wird deshalb ganz kurz ausfallen – eher zeremoniell als argumentierend. Ich will nicht mehr tun, als die Aufmerksamkeit auf das lenken, worin wir einer Meinung sind, nämlich auf die Frage, um die es vor allem geht, auch wenn Dr. Arendts Antwort sich von der meinen unterscheidet. Es ist die Frage nach dem Wesen [der Essenz] in der Geschichte, die Frage, wie Erscheinungen der Klasse »politische Bewegungen« eingegrenzt und definiert werden sollen. Dr. Arendt zieht ihre Grenzlinie auf dem, was sie als die Tatsachenebene der Geschichte ansieht, kommt dabei zu gut unterschiedenen Phänomenkomplexen des Typs »Totalitarismus« und ist bereit, solche Komplexe als letzte, wesensmäßige Einheiten zu akzeptieren. Ich nehme an dieser Methode Anstoß, weil sie die Tatsache außer Acht lässt, dass die institutionelle und ideologische Selbstformierung von Bewegungen in der Geschichte keine theoretische Formierung ist. Die Untersuchung wird unvermeidlich von den Phänomenen ausgehen, aber die Frage nach den theoretisch zu rechtfertigenden Einheiten in der politischen Wissenschaft kann nicht dadurch gelöst werden, dass die Einheiten, die im Strom der Geschichte hochgespült werden, für bare Münze genommen werden. Was eine Einheit ist, 1

Erstveröffentlichung: Eric Voeglin, Concluding Remark. In: The Review of Politics, 15 (1953) 1, S. 84 f. Übersetzung: Ursula Ludz.

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Eric Voegelin

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wird sich dann ergeben, wenn die von der philosophischen Anthropologie gelieferten Grundprinzipien auf historische Materialien angewendet werden. Es kann dann passieren, dass politische Bewegungen, die auf der Bühne der Geschichte einander bitter bekämpfen, sich auf der Wesensebene als nahe verwandt erweisen.

Ingeborg Nordmann

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How to write about totalitarianism? Entwicklung eines Konzepts, das Fragen offenlegt

Hannah Arendts Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951/1955) zählt neben Carl J. Friedrichs und Zbigniew Brzezinskis Totalitärer Diktatur (1957) zu den Klassikern der Totalitarismustheorie. Mit der Bezeichnung Klassiker wird auf die weitreichende Bedeutung ihrer Analyse angespielt; andererseits haftet ihr etwas von vergangener Größe an. Die historische Forschung stimmt darin überein, dass das Buch von Hannah Arendt die Debatte über den Totalitarismus in entscheidender Weise in Gang gebracht und beeinflusst hat. Auch heute wird in ihm nicht nur ein historisches Dokument gesehen, sondern eine politische Analyse, die für die Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus unverzichtbar ist. Es ist ein auffallendes Phänomen, dass Arendts Totalitarismusanalyse in sich konstituierenden demokratischen Öffentlichkeiten und Bewegungen immer wieder auf großes Interesse stößt, während in der historischen und politischen Wissenschaft eher die skeptischen Stimmen überwiegen. Im Mittelpunkt dieser Skepsis steht die Frage nach der Vergleichbarkeit von Nationalsozialismus und Stalinismus. Für diesen Vergleich fehle nicht nur das historische Material, sondern darüber hinaus wird die Frage aufgeworfen, ob Totalitarismus als übergreifende Kategorie wissenschaftlich tragfähig sei.1 1

Vgl. Bernard Bruneteau, Le Totalitarisme. Origines d’un concept, genèse d’un débat 1930–1942, Paris 2010; Michael Geyer/Sheila Fitzpatrick (Hg.), Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compared, Cambridge 2009; Eckhard Jesse (Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, 2. Auflage Baden-Baden 1999; Hans Maier (Hg.), Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn 1996; Achim Siegel (Hg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, Köln/Weimar 1998; Alfons Söller/Ralf Walkenhaus/Karin Wieland (Hg.), Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997; Enzo Traverso (Hg.), Le Totalitarisme. Le XXe siècle en débat, Paris 2001; Wolfgang Wippermann, Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, Darmstadt 1997. – Hans Mommsen, der durchaus Übereinstimmungen zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus einräumt, misst dem Totalitarismusbegriff einen »gewissen heuristischen Wert« bei, macht jedoch die Einschränkung, dass gegenüber dem Nationalsozialismus die Gefahr der Überbewertung der »inneren Rationalität« und »Stabilität« bestehe. Hans Mommsen, Leistungen und Grenzen des Totalitarismus-Theorems: Die Anwen-

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Ingeborg Nordmann

In der Geschichte der Rezeption ihres Buches lässt sich eine durchgängige Haltung feststellen: Man will zwar auf die anregende Denkerin nicht verzichten, dagegen misst man ihrem wissenschaftlichen Beitrag als Historikerin nur eine begrenzte Bedeutung bei. Wenn auch unbestritten ist, dass sich die Quellenbasis inzwischen entscheidend erweitert und die Herausarbeitung von Aspekten totaler Herrschaft, insbesondere des Nationalsozialismus, ermöglicht hat, die von Arendt nur angedeutet oder gar nicht wahrgenommen worden waren, so wird ebenso anerkannt, dass ihre Analyse in vielfältiger Weise bestätigt worden ist und die historische Forschung angeregt hat. Letzteres betrifft vor allem die Merkmale der eigentümlichen Strukturlosigkeit und Dynamik totaler Herrschaft »um jeden Preis« (Hans Mommsen), das sozial-psychologische Phänomen der Verlassenheit und Weltlosigkeit, aber auch ihre politische Analyse des Verwaltungsmassenmörders Eichmann in ihrem Bericht über den Eichmannprozess in Jerusalem, die sie zu der Formulierung von der »Banalität des Bösen« motiviert hat. Ohne Frage steht im Mittelpunkt ihrer Analyse der Nationalsozialismus. Der Stalinismus wird bei bestimmten Aspekten totaler Herrschaft hinzugezogen und kann dadurch als Forschungsgegenstand keine eigene Struktur entwickeln. Das heißt aber keineswegs, dass seine Einbeziehung nur aufgrund zufälliger und oberflächlicher Analogien erfolgt. Karl Schlögel weist in einem Aufsatz nach, dass Arendts Kenntnisse »angesichts der sonstigen damaligen sowjetologischen Literatur durchaus erstaunlich« waren und das Bemühen verraten, über den gängigen Wissenskanon hinauszugelangen.2 In der Wahl ihrer Lektüre über den Stalinismus lässt sich ein theoretisches Interesse ausmachen, das auch den Nationalsozialismus als Gegenstand der Analyse konstituiert. Ihr Erkenntnisinteresse ist eng verknüpft mit der Einsicht, dass der Totalitarismus nicht einen Rückfall in vorzivilisatorische, barbarische Zustände darstellt, sondern nur aus dem Horizont der Moderne zu verstehen ist. Diese Einsicht hat weitreichende methodische und inhaltliche Konsequenzen. Sie führt Arendt zu der Annahme des Traditionsbruchs.

2

dung auf die nationalsozialistische Diktatur. In: Maier (Hg.), Totalitarismus und Politische Religionen, S. 291–300. Arendts Resümee, der Totalitarismus sei die einzige Staatsform, mit der es keine Koexistenz geben darf, wird besonders von Claude Lefort hervorgehoben: Claude Lefort, Le refus de penser de totalitarisme. In: Hannah Arendt Newsletter, (2001) 5, S. 5–10. Die strukturelle Verkettung von totalitärer Souveränität und Biopolitik thematisiert: Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002. Karl Schlögel, Archäologie totaler Herrschaft. Russland im Horizont Hannah Arendts. In: Gerd Koenen/Lew Kopelew (Hg.), West-östliche Spiegelungen. Deutschland und die russische Revolution, München 1998. Arendts Kenntnisse beruhten ebenso auf Diskussionen mit ihrem Freund Waldemar Gurian, der 1931 eins der ersten Bücher über die Sowjetunion veröffentlicht hatte (Der Bolschewismus. Einführung in Geschichte und Leben, Freiburg i. Br.) und der 1937 ebenfalls in die USA emigriert war. Sie rezensierte 1953 sein Buch »Bolshevism: An Introduction to Soviet Communism« in der Partisan Review: Hannah Arendt, Understanding Communism. In: Partisan Review, 20 (1953) 5, S. 580–583.

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Wie sehr die These des Traditionsbruchs mit ihrer Analyse totalitärer Herrschaft verwoben ist, bringen die »Abschließenden Bemerkungen« der ersten amerikanischen Ausgabe deutlicher zum Ausdruck als alle späteren Ausgaben. Noch ganz unter dem Schock stehend, dass sich die schlimmsten und bis zuletzt nicht für möglich gehaltenen Befürchtungen bewahrheitet hatten, betont Arendt hier in besonderer Weise den Zerfall und Verlust der Traditionen der westlichen Kultur und Zivilisation. Die These vom Traditionsbruch bleibt jedoch auch in den Darstellungen, die aus einer größeren Distanz heraus geschrieben worden sind, erhalten und hat in der Schrift »Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart«3 eine differenziertere Betrachtung erfahren. Geht man von der Annahme des Traditionsbruchs aus, dann kann totale Herrschaft nicht als eine lineare Fortsetzung von Imperialismus, Nationalismus und Antisemitismus verstanden werden, indem sie deren Weltanschauungen und reaktionäre Praktiken ins Maßlose steigert.4 Der Totalitarismus transformiert die Ursprünge seiner Entstehung in Elemente seines Herrschaftssystems, indem er sie seiner Dynamik unterwirft. Insofern bricht er mit allen Traditionen, auch mit denen, denen er seine Entstehung verdankt. Ebenso wenig ist der Totalitarismus die »Kehrseite oder der untrennbare Doppelgänger« der Demokratie (Marcel Gauchet)5 aufgrund bestimmter totalitärer Elemente in der säkularisierten Massengesellschaft. Diese weitgehende Gleichsetzung von Liberalismus und Totalitarismus, die auch Eric Voegelin teilt, beantwortet Hannah Arendt mit der Forderung nach einer weiteren Differenzierung der Kategorien, die es ermöglicht, die totalitären Verkehrungen innerhalb demokratischer Gesellschaften zu analysieren, ohne sie in ein evolutionäres Interpretationsschema einzuordnen, nach dem die Demokratie immer schon ihre virtuelle Negation in sich trägt. Das sind komplexe Gedanken, die leicht reduktionistisch missverstanden werden können. Arendt habe gemeint, der Totalitarismus sei das ganz Andere, das aus allen geschichtlichen Bezügen herausfällt und sich in seiner absoluten »Sinnlosigkeit« weitgehend dem Verstehenshorizont entzieht. Ihre Vorstellung vom Traditionsbruch kann jedoch weder von Auffassungen vereinnahmt werden, welche die nationalsozialistische Diktatur aus dem Kontinuum der deut3

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5

Hannah Arendt, Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart. Vier Essays, Frankfurt a. M. 1957. Aufgenommen in: Between Past and Future: Six Expertises in Political Thought, New York 1961. Wiederabgedruckt in: Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken 1. Hg. von Ursula Ludz, München 1994. Der für die deutsche Ausgabe gefundene Titel »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« weist signifikant darauf hin: Die Elemente und Ursprünge sind nicht identisch. Der amerikanische Titel »Origins« ist geblieben und weiter Quelle von Missverständnissen, so auch bei Eric Voegelin. Marcel Gauchet, Tocqueville, Amerika und wir. Über die Entstehung demokratischer Gesellschaften. In: Ulrich Rödel (Hg), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a.M. 1990, S. 148.

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schen Geschichte ausklammern wollen,6 noch ist sie identisch mit dem Theorem vom Zivilisationsbruch des Historikers Dan Diner, in dessen Mittelpunkt die These steht, die Shoah sei eine »black box«, vor der jeder Versuch historischer Erklärung versagen muss.7 Was sie dagegen zu zeigen und zu verstehen versuchte, war die Funktionsweise eines gesellschaftlichen Zusammenhalts, der gleichzeitig alles zerstörte, was einen Zusammenhalt ausmacht und strukturiert. Was trat an die Stelle zwischenmenschlicher Beziehungen, das von einer derartigen Bindungskraft war, dass dafür alles preisgegeben werden konnte, was die Menschen einander sich im Laufe ihrer Geschichte an politischen, juristischen und moralischen Werten und Rechten garantiert hatten? Wenn die Rede vom politischen und moralischen Zusammenbruch nicht nur eine Metapher sein sollte, um eine tiefe emotionale Betroffenheit zum Ausdruck zu bringen, dann musste die Frage gestellt werden nach der »prinzipiellen Verschiedenheit« totaler Herrschaft gegenüber allen anderen Formen der Unterdrückung, die als Despotie, Tyrannis und Diktatur bekannt sind. Dieser Frage nachzugehen, bedeutete für Arendt, die »geläufig und leer gewordenen Vorstellungen« der Tradition abzubauen, um die ihnen zugrunde liegenden Erfahrungen freizulegen und zu den Erfahrungen der Gegenwart in einen Dialog zu setzen. Erst dann konnte entschieden werden, wieviel analytische Offenheit den überkommenen Kategorien zuzumessen war, um das spezifisch Neue totalitärer Herrschaft zu erfassen. Vor dem Horizont des Traditionsbruchs sind auch ihre methodischen Überlegungen zu verstehen: »Totalitarismus als Grenzphänomen der Politik (das radikal Böse) kann nicht einfach in die Geschichte verweisen, wo man seine Ätiologie fein säuberlich studieren könnte. Daher das Unchronologische der Origins.«8 Der Historiker wird aufgefordert, kritisch zu reflektieren, wie er die Dokumente liest, wertet und in Darstellung übersetzt; er muss lernen, wie sie in dem berühmt gewordenen Bild zum Ausdruck bringt, »ohne Geländer zu denken«. Um der Realität des Geschehenen, das in der bisherigen Geschichte »noch nie dagewesen« war, nahe zu kommen, versucht sie sich an einem Gedankenexperiment, das Widersprüche und Missverständnisse hervorgerufen hat, die aber nicht dadurch aufzuheben sind, dass man die experimentierende Seite ihres Denkens ignoriert. 6

7 8

In ihrer Lessingrede aus dem Jahr 1959 kritisierte Hannah Arendt die »leider nur zu verbreitete Neigung« in Deutschland, »so zu tun, als hätte es die Jahre von 1933 bis 1945 gar nicht gegeben.« Diese Haltung betraf auch die innere Emigration, der sie eine tiefe politische »Ratlosigkeit« in den Fragen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit vorwarf: Hannah Arendt, Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. Gedanken zu Lessing, wiederabgedruckt in: Hannah Arendt, Menschen in finsteren Zeiten, hg. von Ursula Ludz, München/Zürich 1989, S. 17–49. Dan Diner, Zwischen Aporie und Apologie. Über die Grenzen der Historisierbarkeit des Nationalsozialismus. In: Dan Diner (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt a. M. 1988, S. 62. Hannah Arendt, Denktagebuch 1950–1973. Hg. von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann, München 2002, S. 68.

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Vielmehr muss das Spezifische ihrer Analyse in ihrem Denkansatz gesehen werden, die Merkmale totaler Herrschaft, die sie wie andere Forscher herausstellt, sind nicht davon zu trennen. Der Begriff des Totalitarismus ist bekanntlich nicht von Hannah Arendt entdeckt worden. Er taucht zum ersten Mal in den 1920er Jahren in den politischen Analysen der italienischen Opposition auf, wird Gegenstand der Auseinandersetzung in den deutschen liberalen und marxistischen Theorien und ist, nicht zuletzt durch die Emigration Waldemar Gurians, Franz Borkenaus, Sigmund Neumanns und Franz Neumanns in die USA, weltweit in die Diskussion eingegangen.9 In ihren Reflexionen macht Arendt darauf aufmerksam, dass mit dem Begriff totalitär vorsichtig umgegangen werden müsse, aber es gibt keinen Grund anzunehmen, sie habe es als Problem empfunden, beide Regime, den Nationalsozialismus und den Stalinismus, als totalitär zu bezeichnen. Allerdings nimmt sie zwei Präzisierungen vor, die einer globalen und unspezifischen Anwendung Grenzen setzen. Totalitarismus wird nicht als idealtypischer Begriff im Sinne Max Webers verwandt. Das unterscheidet ihren Ansatz von dem generalisierenden Kategorienkatalog Friedrichs. Obwohl Arendt bestimmte gemeinsame Merkmale herausarbeitet, ergeben sie kein Begriffssystem, das als analytisches Raster der historischen Wirklichkeit übergestülpt werden könnte. Sie haben zwar eine anleitende Funktion, aber weniger in dem Sinne einer regulativen Idee als in dem eines regulativen Beispiels. Das schließt ebenso aus, von einer Identität beider Staatsformen zu sprechen. Arendts theoretische Position lässt sich am besten mit einem Satz wiedergeben, den sie gegenüber Eric Voegelins geschichtsphilosophischer Anschauung einbringt, wonach der Totalitarismus der folgerichtige Endpunkt extremer ideologischer Strömungen der Vergangenheit sei, von der Gnosis bis zum Marxismus, die alle von dem Anspruch beherrscht sind, die Stelle der Transzendenz zu besetzen und das Paradies auf Erden zu verwirklichen. Obwohl Arendt einen entsprechenden Zusammenhang nicht bestreitet, lehnt sie es ab, in ihm einen identischen und notwendigen Prozess zu sehen. Sie betont vielmehr, dass der Totalitarismus in seiner Spezifik erst erkannt werden kann, wenn er tatsächlich existiert: »It does not exist before it has not come into being.« Dieser Satz bringt in seiner tautologischen Zuspitzung das zum Ausdruck, worauf es ihr ankommt: den Totalitarismus nicht als Ideologie, sondern als Ereignis zu rekonstruieren. Es wäre zu einfach, hieraus zu schlussfolgern, ihre Weigerung, die Entstehungsgeschichte des Totalitarismus zum Angelpunkt ihrer Analyse zu machen, 9

Vgl. dazu: Jens Petersen, Die Geschichte des Totalitarismusbegriffs in Italien. In: Maier (Hg.), Totalitarismus und Politische Religionen, S. 15–37; ebenso die Aufsätze von Heinz Hürten (»Modernitätskritik und Totalitarismustheorie im Frühwerk von Waldemar Gurian«), William Jones (»Franz Borkenau and ›The Totalitarian Enemy‹«) und Alfons Söllner (»Sigmund Neumanns ›Permanent Revolution‹«) in: Söllner/Walkenhaus/Wieland (Hg.), Totalitarismus.

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käme einer Fortschreibung der Daseinsanalyse Heideggers auf politischer Ebene gleich, oder sie würde in ihrer Ablehnung geschichtlicher Interpretationsmuster wie der »Kausalität« oder der »Notwendigkeit« das Ereignis pur rekonstruieren wollen. Arendt war sich bewusst, dass die Wirklichkeit und die Vorstellungen von ihr niemals zur Deckung gebracht werden können. Ebenso bestritt sie, dass Nationalsozialismus und Stalinismus monolithische Herrschaftssysteme darstellten. Insofern trifft auch die Kritik nicht zu, sie sei methodisch einer »realistischen Illusion« (Claude Lefort)10 unterlegen. Doch wie ist der Satz: It does not exist before it has not come into being, dann zu verstehen? Um die Tatsächlichkeit totaler Herrschaft analysieren zu können, trennt Arendt einen Bereich aus dem gesellschaftlichen Ganzen heraus, an dem exemplarisch und zwar nicht im Sinne eines Modells, sondern als existierende Faktizität, nicht typologisch, sondern topologisch, das Wesen totaler Herrschaft in seiner entwickelten Gestalt gezeigt werden kann: die Konzentrations- und Vernichtungslager. In den Lagern, die gegen die Welt aller anderen hermetisch abgedichtet waren, waren alle Hindernisse beseitigt, die dem reibungslosen Funktionieren totalitärer Herrschaft entgegenstehen konnten. Sie sind daher die Laboratorien totalitärer Herrschaft. In dieser methodischen Entscheidung geht sie über Heideggers Daseinsanalyse hinaus in eine entgegengesetzte Richtung. Die Differenzierung der Phänomene wird nicht auf ein der Geschichte entzogenes Sein bezogen, sondern an der Oberfläche, auf der Ebene der historischen Tatsachen, situiert. Zwar ist die Erscheinungswelt auch die Welt der Irrtümer und Täuschungen. Doch keine Beseitigung von Irrtümern kann in einen Bereich jenseits immer neuer Erscheinungen vordringen. In diesem Zusammenhang zitiert sie zustimmend den französischen Phänomenologen Merleau-Ponty, dass die Auflösung der Täuschungen oder das Zerbrechen der Erscheinungen immer neue Erscheinungen zum Vorschein bringen, die nun ihrerseits die ontologische Funktion der ersten übernehmen.11 Die Differenzierung der Phänomene, die Arendt anstrebt, ist daher alles andere als eine spontane und »impressionistische« Beschreibung (Hans Mommsen).12 Das »Unchronologische der Origins« folgt aus einer komplexen theoretischen Re-Konstruktion, in der das Konstruktive und das Historische miteinander verwoben sind, aber nicht wie bei Hegel identisch werden. Dass die »elementare Struktur des Totalitarismus«, wie sie Hannah Arendt am Beispiel der Lager herausarbeitet, die »verborgene Struktur des Buches« darstellt, wird verdeckt durch die äußere Abfolge der historischen Abschnitte. Eric Voege10 11 12

Vgl. Claude Lefort, Überlegungen zum Begriff der totalen Herrschaft. In: Daniel Ganzfried/ Sebastian Hefti (Hg.), Hannah Arendt. Nach dem Totalitarismus, Hamburg 1997, S. 31–54. Vgl. Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, Band 1: Das Denken, München 1979, S. 36. Vgl. Hans Mommsen, Hannah Arendt und der Prozess gegen Adolf Eichmann. In: Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1987, S. XXV.

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lins Argument, dass das Nacheinander von Antisemitismus, Imperialismus und Totalitarismus in ihrer Darstellung den Eindruck erwecke, es handle sich um eine Chronologie, kann daher nicht nur als Missverständnis gewertet werden. Mit den von Walter Benjamin übernommenen Begriffen der Konfiguration und Kristallisation erprobt Hannah Arendt Figuren der Darstellung, welche die Chronologie distanzieren, zugleich aber den Entstehungsbedingungen einen konkreten, nämlich begrenzten, Stellenwert einräumen. Die Kristallisation der Elemente zu festen historischen Formen gibt den Wegweiser, wie die Vergangenheit auf die Gegenwart zu beziehen ist, aber das heißt nicht, dass damit die Bedeutungsvielfalt der Vergangenheit ausgeschöpft ist. Darin unterscheidet sich ihre konstruktive Methode zum Beispiel auch von Karl Marx’ Darstellung im Kapital, die ebenso die entwickelte Gestalt des Kapitalismus zum Ausgangspunkt nimmt, um seine Entstehungsgeschichte zu rekonstruieren.13 Während bei Marx das historizistische Erklärungsmodell und seine konstitutiven Kategorien der linearen Zeit und des Fortschritts erhalten bleiben, so dass die systematische Darstellung geradezu eine Verabsolutierung des Aspekts der notwendigen Entwicklung bewirkt, da nunmehr alle historischen Zufälle eliminiert sind, bestand Hannah Arendts Intention ausdrücklich darin, den Historizismus zu destruieren. So ist für sie der Totalitarismus eben nicht die unausweichliche Folge bestimmter historischer Ereignisse. Der Gesichtspunkt, dass die geschichtliche Entwicklung auch eine andere Richtung hätte nehmen können, soll nicht verloren gehen. Daher ist sie mit Benjamin in der Absage an eine Geschichte der Sieger einig, die den Ablauf der Geschichte und das Urteil über sie identifizieren. Um der Unabhängigkeit des Urteilens willen entwirft Arendt ein Darstellungsmodell, in dem nicht wie bei Marx System und Geschichte identisch sind und in dem die Kategorien ein für allemal einen fest zugewiesenen Platz erhalten. Sie konfiguriert vielmehr offene und in sich bewegliche historische Konstellationen, die Sachverhalte und Situationen von immer neuen Perspektiven aus zugänglich machen und allein daran gemessen werden wollen, welchen Realitätsgehalt sie vermitteln. Die methodischen Debatten in der historischen Wissenschaft zeigen, dass der Ort der Geschichte nicht mehr eindeutig definiert wird. Interdisziplinäre Allianzen mit den Sozialwissenschaften, der Ethnologie, Anthropologie, Kunst-, Literatur- und Kulturwissenschaft, die durch den »linguistic« und »iconic turn« ausgelöste Diskussion, ob Realität ein sprachlich konstruiertes oder repräsentiertes Phänomen sei, haben zu einer Vielfalt von Konzeptionen geführt, zwischen denen sich Geschichtsschreibung heute bewegt. Die lange Zeit bevorzugte 13

Hannah Arendt war durch die Diskussion mit Heinrich Blücher, den sie in Paris kennengelernt und 1940 geheiratet hatte, dazu motiviert worden, sich intensiver mit dem Marxismus auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung ist dokumentiert u. a. in ihrem Buch »Vita activa« und in der unveröffentlichten Vorlesung »Karl Marx and the Tradition of Political Thought« (»The Papers of Hannah Arendt«, Library of Congress, Washington DC, USA; Cont. Nr. 75).

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Methode der Sozial- und Strukturgeschichte, die alle Phänomene auf Ökonomie, Klasse und Politik zurückführte, wird konterkariert durch eine neue Generation von historischen Arbeiten, die dem Alltagshandeln, den Mentalitäten, dem Geschlecht und den sprachlichen Formen ihre Aufmerksamkeit widmen. Aber auch in diesem Kontext erscheint Arendt wie eine Fremde, deren Position innerhalb der Geschichtswissenschaft nicht zu verorten ist, obwohl es eine Reihe korrespondierender Kritikpunkte gibt – unter anderem die Problematisierung der Kategorie Kausalität, die Hervorhebung des Ereignisses und des Narrativen gegenüber der Anwendung geschichtlicher Gesetze, die Betonung der sprachlichen Ebene. Ein Grund mag darin liegen, dass zwar der interdisziplinäre Ansatz anerkannt ist, aber Arendt ihn nicht wie eine Historikerin handhabt, sondern wie eine Philosophin, die noch dazu einen außergewöhnlichen Sinn für die Realitätshaftigkeit der Sprache und Montagetechnik der literarischen Avantgarde hat, insbesondere für Kafka. Die oft kritisierte mangelnde theoretische Kohärenz ihrer Texte – der Wechsel von narrativen zu konstruktiven, von literarischen, philosophischen und historischen Passagen, ohne dass dieser Wechsel methodisch begründet wird, die fließenden Übergänge von Alltags- zu begrifflicher Sprache, haben zu einer Verunsicherung geführt, in welcher Weise ihre Kategorien und Begriffe zu weiterer wissenschaftlicher Arbeit anleiten können. Das betrifft auch ihren Begriff des Totalitarismus. Er wird an keiner Stelle theoretisch bestimmt. Ihre spezifische Auffassung muss erst aus ihrem Text entschlüsselt werden, und man hat den Eindruck, dass sie bewusst »erzählte Geschichte« und Begriff enger verbunden hat, als das sonst der Fall ist. Was ein weiteres Problem darstellt: Ihre methodischen Überlegungen sind nur in Vorworten, verstreuten Anmerkungen, Briefen oder kurzen Statements anlässlich von Kommentaren zu ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft zugänglich. Dass sie tatsächlich durch eine intensive Lektüre bedeutender Philosophen der abendländischen Geschichte zu ihren methodischen und inhaltlichen Positionen gekommen ist, davon erfahren wir vor allem durch das Denktagebuch. Gegenüber dem Denktagebuch und ihrem Werk vermitteln ihre skizzenhaften, aber umso prägnanter formulierten Anmerkungen, die ihre Haltung sozusagen auf den Punkt bringen, wiederum eine unverzichtbare Orientierung. Von daher rechtfertigt sich auch dieses Projekt, Texte zur Methode und Resümierung ihrer Totalitarismusanalyse zusammenzustellen. Die Debatte mit Eric Voegelin hat Hannah Arendt zu seltenen, aber umso bemerkenswerteren methodischen Selbstreflexionen veranlasst.14 Hier führt sie zum ersten Mal die Kategorie »Kris-

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Zu den Texten Voegelins, die Arendt in den 1950/60er Jahren erwähnt, zitiert oder nachweislich gelesen hat, gehören: Die politischen Religionen, Stockholm 1939; The Formation of the Marxian Revolutionary Idea. In: Review of Politics, 2 (1950) 3, S. 275–302; The New Science of Politics, Chicago 1952; Order and History, Band 3: Plato and Aristotle, Baton Rouge 1956.

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tallisation« ein, zu der sie durch die geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins angeregt worden war. Das »Vorwort« und die »Abschließenden Bemerkungen« wurden in der ersten deutschen Ausgabe von 1955 durch andere Texte ersetzt, wobei die einschneidendste Veränderung die abschließenden Bemerkungen betrifft. Hannah Arendt hielt sie für überholt, was zutrifft, misst man sie an der größeren Differenziertheit und analytischen Genauigkeit der Argumente im Kapitel »Ideologie und Terror«, das an ihre Stelle trat. Aber alle wichtigen Fragestellungen werden angerissen, so dass die entscheidenden Punkte, die sie von anderen Totalitarismustheoretikern unterscheidet, deutlich hervortreten. Das herauszustellen, erscheint umso wichtiger, als ihre Totalitarismusanalyse mit der von Friedrich zumeist in einem Atemzug genannt wird, obwohl sie sich grundlegend davon unterscheidet. Nach Hannah Arendt ist der Totalitarismus nicht einfach eine ideologische Parteidiktatur. Ihre Analyse vermittelt uns eine Vorahnung von der Organisierbarkeit einer entwurzelten Menschheit, die in der bisherigen Geschichte ohne Beispiel ist. Die »Abschließenden Bemerkungen« wurden bei der Bearbeitung nicht einfach gestrichen, sondern zum großen Teil auf andere Kapitel verteilt, zum Beispiel auf die Kapitel »Aporien der Menschenrechte« und »Die Konzentrationslager«. Wir haben es also mit einem »work in progress« zu tun, nicht in dem negativen Sinn, dass Arendt sich damit begnügt hätte, an die Stelle eines kohärenten theoretischen Entwurfs die Montage von Gelegenheitsarbeiten zu setzen (Micha Brumlik);15 vielmehr in dem produktiven Sinn, dass keine historische Realität, und schon gar nicht diese, vollständig in Erkenntnis übersetzbar ist, und der Historiker gut daran tut, statt der alles umfassenden Wahrheit nachzujagen, sich der konkreten und partiellen Wahrheit zuzuwenden, die nicht zu einer Norm verallgemeinert werden kann, die offen ist für Erweiterungen, Präzisierungen und Veränderungen. Wenn Arendt gegen absolute Wahrheiten auftritt, deren Behauptung die »déformation professionelle« gleichermaßen des Philosophen wie des Historikers ausmacht, dann plädiert sie damit keineswegs für einen Relativismus, der zwischen Fiktion und Realität keinen Unterschied macht und die Existenz einer gemeinsamen, verstehbaren Welt leugnet. Man geht im Gegenteil nicht fehl in der Annahme, dass die Verteidigung der Wirklichkeit der gemeinsamen Welt das bewegende Zentrum ihres theoretischen Engagements bildet. An diesem Punkt zeigt sich eine signifikante Übereinstimmung mit Eric Voegelin. In ihrer Lektüre von Voegelins New Science of Politics hat Arendt den folgenden Abschnitt angestrichen und mit zwei Ausrufezeichen versehen: »More than once in a discussion of a political topic it has happened that a student – and for that matter 15

Micha Brumlik, Modernes Judentum und antitotalitärer Konsens. In: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart, (1995) 15, S. 99–113.

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not always a student – would ask me how I defined fascism, or socialism, or some other ism of that order. And more than once I had to surprise the questioner – who apparently as part of a college education had picked up the idea that science was a warehouse of dictionary definitions – by my assurance that I did not feel obliged to indulge in such definitions, because movements of the suggested type, together with their symbolisms, were part of reality, that only concepts could be defined but not reality.«16 Um sich der Komplexitat von Realität nähern zu können, akzentuieren beide den Stellenwert von Erfahrung, wie er in den Texten von Platon und Cicero hervorgehoben worden ist und in der gnostischen Immanentisierung des Eschaton (Voegelin) und auf der »Regenbogenbrücke« des deutschen Idealismus (Arendt) verloren ging. Als Folge dieses Verlusts konstatieren beide als gefährlichste Verkehrung des Politischen die Vergöttlichung der Geschichte und den Machbarkeitswahn der Menschen. In der Wiedergewinnung des Politischen gehen ihre Entwürfe aber weit auseinander, so dass selbst der Begriff der Erfahrung davon betroffen wird. Für Voegelin sind transzendente und politische Erfahrung, die Wahrheit Gottes und der Menschen »unlösbar eins«.17 Der Mensch ist das Maß der Gesellschaft, weil Gott das Maß seiner Seele ist.18 Voegelin nennt diesen Zusammenhang das anthropologische Prinzip, das von Platon zum ersten Mal entdeckt worden sei: »Die Polis ist der großgeschriebene Mensch.«19 Dieser anthropologischen und ursprungsphilosophischen Lesart Platons setzt Arendt eine Sichtweise entgegen, die durch Benjamins konstellative Hermeneutik geprägt ist. Die Polis ist für sie nicht der Gründungsakt sans phrase. Sie konstruiert keine durch die Reinheit und Unverfälschtheit eines Ursprungs geprägte Genealogie, sondern eine, die sich von Anbeginn im Widerstreit befindet, schon bei Platon. Dieser Zwiespalt im Herzen der Philosophie Platons führt dazu, dass er alles tut, »niemals auch nur den Ort zu finden, an dem Politik entsteht.«20 Einen theoretisch anders gelagerten, aber ebenso konstitutiven Widerstreit stellt sie auch bei Aristoteles fest.21 Arendts Rückgang zu den Griechen ist 16

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Voegelin, The New Science of Politics, S. 30. Arendts Exemplar von Voegelins Buch befindet sich in der Hannah Arendt Collection der Stevenson Library des Bard College in Annandale-on-Hudson, N. Y. Die Bibliothek stellt seit einiger Zeit »Marginalia« aus Arendts Büchern ins Internet. Ebd., S. 106. Ebd., S. 108. Ebd., S. 96. Arendt, Denktagebuch, S. 17. Während im Zentrum ihrer Kritik an Platon die Inthronisation des Philosophen-Königs steht, der die gelungene Symbiose von Wahrheit und Moral repräsentiert, ist es bei Aristoteles die Fundierung des Politischen in der Natur des Menschen (zoon politikon) und die durchgängige Tendenz, der phronesis eine materialistische Grundierung zu geben: »This materialism, the conviction that all action is basically motivated by material needs, has […] remained a continuous feature of our traditional political thought.« Hannah Arendt, Karl Marx and the tradition of political thought, Part IV, S. 35 (Library of Congress, Cont. Nr. 75).

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also alles andere als eine ursprungsphilosophische Geste. Ihre Haltung gegenüber dem griechischen Anfang und der römischen Gründung lässt sich wiederum mit einem entsprechenden Gedanken Benjamins vergleichen: »Im Ursprung ist kein Werden des Entsprungenen, vielmehr dem Werden und Vergehen Entspringendes gemeint. Der Ursprung steht im Fluss des Werdens als Strudel und reißt in seine Rhythmik das Entstehungsmaterial hinein.«22 Der Ursprung ist eine unvorhersehbare Unterbrechung der Kontinuität, dessen Auswirkungen ungewiss sind. Für Arendt ist somit der Verlust der Transzendenz als ein die Gemeinschaft begründendes Prinzip unwiderbringlich, die Wiedergewinnung des Politischen eine rein säkulare Aufgabe. Damit weist sie dem Weg der Differenzierung des Politischen, der Formen des Handelns und ihrer Manifestierungen in Verfassung und Institutionen, eine andere Richtung. Sie überlässt das griechische politische Erbe nicht allein Platon und Aristoteles. Für weitere Differenzierungen des handelnden Verstehens werden Homer und Thukydides oder die Grabrede des Perikles in die Argumentation einbezogen. Perikles, weil er am klarsten die Polis als den eigentlichen Ort des Gedächtnisses herausgestellt hat, und Homer, weil er in seiner dichterischen Darstellung fähig war, »ein- und dieselbe Sache erst von entgegengesetzten und dann von allen Seiten zu sehen, die im Altertum einzigartig und auch bis in unsere Zeit unübertroffen in ihrer leidenschaftlichen Intensität dasteht.«23 Machiavelli, Hobbes, Montesquieu, Kant, Tocqueville werden als weitere Zeugen von Räumen und Dimensionen des politischen Handelns zitiert, während Voegelin politische Theorie allein durch ein geistiges Prinzip fundiert. Der einzige politische Philosoph am Beginn der Moderne, auf den er sich bezieht, ist Hobbes. Hobbes hatte das korrumpierende Element der Leidenschaft in der Religion der Puritaner klar erkannt, war aber der Meinung, dass man sich an Aristoteles’ »summum bonum« nicht mehr orientieren könne. Mit dem »summum bonum« verschwindet aber auch die Quelle der Ordnung aus dem menschlichen Leben, die Teilnahme am gemeinsamen nous.24 An die Stelle des »summum bonum« tritt im »bellum omnium contra omnes« die Furcht vor dem Tod. Aus der gegenseitigen Furcht erwächst die Bereitschaft, sich durch Vertrag einer Regierung zu unterwerfen. Der Träger der Machtinteressen aller wird der weltliche Souverän: »Hobbes stellte der gnostischen Immanentisierung des Eschaton, welche die Existenz gefährdete, eine radikale Immanenz der Existenz entgegen, die das Eschaton leugnete.«25 Diese radikale Immanenz politischer Existenz ist für Arendt gerade der Punkt, der Hobbes zu einem großen politischen Philosophen macht. Denn es ist der Schritt hin zu seiner Anerkennung des Politischen als einem eigenständigen und maßgebenden Bereich: »Es gibt keine politische 22 23 24 25

Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt a. M. 1963, S. 29. Hannah Arendt, Was ist Politik? Aus dem Nachlass hrsg. von Ursula Ludz, München 1993, S. 96. Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik, S. 254. Ebd., S. 253.

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Substanz. Politik entsteht im Zwischen und etabliert sich als ein Bezug. Dies hat Hobbes verstanden«,26 und dennoch nicht zu Ende gedacht, indem er Macht im »power thirsty animal« wiederum subjektivierte. Das Politische der Macht liegt aber nach Arendt darin, dass »der Macht des Menschen nicht die Natur, sondern die Menschen im Wege stehen.«27 Das Gegebene der Welt besteht unhintergehbar in der Pluralität der Menschen. Insofern sieht sie keine Perspektive in der Zuhilfenahme irgendwelcher Ersatzwelten, auf welcher Basis und mit welchem Ziel auch immer sie konstruiert werden, ob als extreme Ideologie der Gleichschaltung oder als Wiederbelebung der guten alten Tradition, wie es Voegelin in der Bezogenheit auf die unverfügbare Transzendenz Gottes versucht hat – vor Gott sind alle Menschen gleich –, um der individuellen Befähigung zur Mitmenschlichkeit einen stabilen Rahmen zu vermitteln. Vielmehr blocken derartige Versuche die nach der totalitären Katastrophe notwendigen Fragen ab, warum die »große Tradition« auf die Widersprüche und Krisen der Moderne keine Antwort zu geben vermochte, so dass nur noch der Weg der »Hintertreppentradition« gangbar erschien. Eine herausfordernde Frage, die auch das Selbstverständnis der Demokratie, das Konzept der Menschenrechte und des Nationalstaats auf den Prüfstand stellt. Auch die Religion gehört in der Moderne zu den großen Traditionen, die nicht mehr in der Lage sind, das Ärgste zu verhindern.28 Abgesehen davon, dass es zwischen Arendt und Voegelin strittig blieb, ob die Vergöttlichung von Geschichte als politische Religion29 und der Totalitarismus 26 27 28 29

Arendt, Denktagebuch, S. 17. Ebd., S. 81 (Hervorhebungen im Original). Dass Voegelins Position nicht das letzte Wort in der Einschätzung fundamentalistischer religiöser Bewegungen ist, zeigt der heutige Islamismus, der das Paradies wiederum im Jenseits verortet. Mit Voegelins Begriff der politischen Religion hat sich Arendt in ihrem Aufsatz »Religion and Politics« auseinander gesetzt (Vortrag während der Summer School Conference an der Harvard-University, 20.–22. Juni 1953, veröffentlicht in Confluence 2, Ht. 3, 1953. Deutsch in: Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken, hg. von Ursula Ludz, München 1994, S. 305–326). Nach Arendt beruht Voegelins Denkansatz auf einem »Missverständis über das Wesen des Säkularismus und der säkularen Welt«: »Säkularismus, um damit zu beginnen, hat eine politische wie auch eine geistig religiöse Bedeutung, und beide sind nicht notwendigerweise identisch. Politisch meint Säkularismus nicht mehr, als dass religiöse Glaubensbekenntnisse und Institutionen keine öffentlich verpflichtende Autorität besitzen und dass umgekehrt, das politische Leben ohne religiöse Sanktion ist. […] Autorität, insofern sie auf Tradition gegründet ist, [ist] römischen Ursprungs und [wurde] erst dann von der Kirche monopolisiert, als diese die politische und geistige Erbin des Römischen Reiches wurde. Eines der Hauptkennzeichen unserer gegenwärtigen Krise ist zweifellos der Zusammenbruch der Autorität […]; aber daraus folgt nicht, dass die Krise primär eine religiöse oder religiösen Ursprungs ist. […] Das zweite Missverständnis ist m. E. offensichtlicher und relevanter. Der Begriff der Freiheit (denn es handelt sich ja hauptsächlich um eine Auseinandersetzung der freien Welt mit dem Totalitarismus) ist sicherlich nicht religiösen Ursprungs. […] Die Freiheit, die das Christentum in die Welt brachte, war eine Freiheit von der Politik – etwas was es in der antiken Welt nicht gegeben hat.« (in der deutschen Ausgabe S. 309 f.).

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als deren folgerichtige Ausprägung verstanden werden kann, gibt es in Voegelins Analyse der verschiedenen Erscheinungsformen der Immanentisierung des Eschaton treffsichere Erkenntnisse und Beurteilungen, die von Arendt zustimmend hervorgehoben werden: die Nichtanerkennung von Realität als Prinzip, der universelle Krieg zwischen zwei Welten, der Fortschritt als Erlösungsstrategie und die Sinnentleerung der sprachlichen Symbole, die nicht mehr »die Wirklichkeit als solche erkennen« sollen, sondern »die Gegensätze des Kampfes festhalten und verteidigen wollen.«30 Voegelin hatte ihr vor Augen geführt, dass es sich beim Nationalsozialismus nicht um einen »beklagenswerten Unfall in der abendländischen Geschichte« handelt und daher seine »Ideologien im Sinne einer Selbstverständigung und Selbstkritik diskutiert werden müssen.«31 Was Voegelin nicht gesehen hatte, was aber für Arendt ein wesentliches Element der totalitären Gleichschaltung war, besteht in der Tatsache, dass die Moderne auch mit ihrer rationalistischen Tradition beteiligt war, und zwar mit der jeder Ideologie inhärenten Logik des Deduzierens, der Einsicht in die Notwendigkeit, dem Selbstzwang, »der Ideologien zu so vorzüglichen Präparationsmitteln für den Zwang von Terrorregimen macht.«32 In einer Notiz zu Kafka heißt es bei Arendt: »Kafka – im Prozess – Du brauchst es nicht für wahr zu halten, nur einzusehen, dass es notwendig ist. Darauf Kafka: Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.«33 Dennoch weist Voegelin auf einen schwachen Punkt in Arendts Argumentation hin. Ihre Skepsis gegenüber der religiösen Tradition habe ihr eine Falle gestellt. Sie habe übersehen, dass die Formulierung: »Die menschliche Natur steht auf dem Spiel«, selbst vom säkularen Machbarkeitswahn affiziert sei, den sie gerade kritisieren wollte.34 Zwar ist Arendts Auffassung diffiziler. Zerstört wird durch den Totalitarismus etwas unverwechselbar Menschliches, das erst im Zusammenhang mit der pluralistischen Verfassung der Menschheit seinen Sinn erhält: die Fähigkeit zur Spontaneität und zum Handeln. Es ist bemerkenswert, dass das Wort Pluralität in Arendts Totalitarismusbuch nur vereinzelt vorkommt, als Begriff aber nicht entfaltet wird. Im Mittelpunkt steht die unverwechselbare Individualität eines jeden, die »Einmaligkeit der menschlichen Person, die, zu gleichen Teilen von Natur, Willen und Schicksal gebildet, uns in ihrer unendlichen Verschiedenheit so selbstverständliche Voraussetzung aller menschlichen Beziehungen geworden ist, dass uns identische Zwillinge bereits ein gewisses Unbehagen verursachen«.35 Erst in den Notizen des Denktagebuchs wird deut30 31 32 33 34 35

Eric Voegelin, Die politischen Religionen, München 1993, S. 11. Arendt, Religion und Politik, S. 309. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 10. Auflage München 2005, S. 968. Arendt, Denktagebuch, S. 672. Eine begriffliche Unschärfe zeigt sich sowohl bei Voegelin als auch bei Arendt darin, dass sie den Begriff der menschlichen Natur und der Persönlichkeit synonym verwenden. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 934.

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licher, in welchem Verhältnis Individualität und Pluralität stehen: »Im Bereich der Pluralität gilt […]: Jeder sogenannte ›Teil‹ kann mehr sein als das ›Ganze‹, zu dem er gehört. Mit anderen Worten: Mensch-Volk-Menschheit verhalten sich nie wie Teile und Ganzes.«36 Der Irrtum der Philosophen bestehe darin zu behaupten, dass »der Mensch sich zu den Menschen [verhalte] wie das Sein zum Seienden.«37 Spontaneität und Handeln sind keine transzendentalen oder Naturrechtskategorien, in denen die spezifische subjektive Eigenheit erfasst wird. Beide Vermögen kommen erst im Mit- und Gegeneinander der Vielen zum Tragen, aber man kann nicht sagen, dass sie erst dann entstehen. Denn Pluralität »is indicated already in the fact that I am two-in-one. Men not only exist in the plural as do all earthy beings, but have an indication of the plurality within themselves.«38 Wir haben es also mit beweglichen Kategorien zu tun, die keine definierbare Substanz haben, sondern erst in einer Konstellation ihre Bedeutung entfalten, in einer den eigenen und fremden Blickwinkel verschränkenden Komplexität und Ambiguität. Die Politik hat die Aufgabe, »von vornherein die absolut Verschiedenen im Hinblick auf relative Gleichheit und im Unterschied zu relativ Verschiedenem« zu organisieren.39 Das Unvorhersehbare des menschlichen Verhaltens, das sich jeder Gleichschaltung entzieht, ist in dieser politischen Konzeption eine realistische Option, ohne dass es eindeutig definiert werden kann. Voegelins Kritik ist damit aber nicht ausgeräumt. Arendt versucht einen rein säkularen Entwurf und zugleich will sie den Fallstricken subjektiver Selbstüberhebung entgehen, indem sie dem Unvorhersehbaren und Unverfügbaren in ihrer Theorie einen Platz einräumt. Dieser Versuch steht und fällt mit ihrem Begriff von Wirklichkeit. Im Zeitalter der Ideologien und totalitären Systeme ist Wirklichkeit in besonderer Weise gefährdet. In dem Verlust der Fähigkeit, Wirklichkeit, so wie sie ist, wahrzunehmen, sieht Arendt das Zentrum mentaler Deformation, die der Totalitarismus den Menschen zufügt. Denn wenn Wirklichkeit aus dem öffentlichen Leben verschwindet, dann hat die gemeinsame menschliche Welt keinen Halt mehr, dann ist nicht nur der unbegrenzten ideologischen Manipulation Tür und Tor geöffnet, sondern dann wird es möglich, Wirklichkeit selbst zu vernichten. Die Gegenüberstellung von Wirklichkeit und fiktivem System, wobei mit dem letzteren nicht nur die ideologische Verblendung gemeint ist, sondern die tatsächliche Einrichtung einer fiktiven Welt, deren Organisationsprinzipien Ideologie und Terror sind, muss als ein Grundmuster ihrer Totalitarismusanalyse angesehen werden. Die Relevanz dieser Gegenüberstellung rechtfertigt sich durch die 36 37 38 39

Arendt, Denktagebuch, S. 82 f. Ebd., S. 128. Hannah Arendt, Philosophy and Politics: The Problem of Action and Thought after the French Revolution, lecture 1954; Library of Congress, Cont. Nr. 76; teilweise veröffentlicht. Hg. von Jerome Kohn. In: Social Research, 57 (1990) 1, S. 73–103, Zitat S. 86. Ebd., S.18 (Hervorhebungen im Original).

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»schrecklichen Wahrheiten« der organisierten Verlassenheit und Gleichschaltung, in der die Menschen nur noch Kopien einer identischen »Spezies« sind. Menschliche Wirklichkeit beruht dagegen auf der Pluralität. Sie ist gegeben, aber man kann nicht sagen, dass sie nicht zerstört werden kann. »Alles hängt von der Schwierigkeit ab, die spezifisch menschliche Pluralität zu begreifen«, notiert sie in ihr Denktagebuch.40 Auf die Fragen, die sich dabei stellen, findet man in der Tradition, in der Pluralität als »Katastrophe« begriffen wird, in der »Einigung prinzipiell unmöglich und Tyrannei prinzipiell notwendig«41 sind, kaum Antworten. Arendt stellt fest, dass gerade umgekehrt alles getan wurde, um Pluralität nicht denken zu müssen. Stattdessen wich man auf Surrogate des Politischen aus: auf die Wahrheit, den Menschen, die Geschichte, das Bewusstsein. Dabei handelte es sich immer darum, dass das Absolute an die Stelle der Vielfalt der Meinungen und Urteile trat. Gedächtnis und Sprache dagegen »indizieren Pluralität, indizieren die Stellung des Menschen in der Gestuftheit des Erscheinenden und Verschwindenden. Darin liegt auch beschlossen, dass die Pluralität der aufeinander folgenden Geschlechter der Menschen einen Sinn zu haben scheint, nämlich den Sinn, Bleiben auf der Erde wenigstens für die Dauer des Menschengeschlechts zu ermöglichen.«42 Es geht Arendt folglich darum, den Weg überall dorthin zurückzuverfolgen, wo es gelungen war, Pluralität in politische Begriffe zu übersetzen: zur Polis, zu Montesquieu, Tocqueville, zur Konstituierung der amerikanischen Verfassung, oder philosophische Texte gegen den Strich zu lesen: Platon, Cicero, Machiavelli, Hobbes. Die Betonung von Pluralität und Spontaneität als menschlichen Gegebenheiten, deren Vernichtung der Vernichtung menschlicher Wirklichkeit und politischer Gemeinsamkeit gleichkäme, macht den eigenen Interpretationsansatz Arendts aus. Es ist bezeichnend, dass gerade diese Seite ihres Denkens, die durch eine unaufgelöste Spannung zwischen ontologischen und historischen Elementen charakterisiert ist, Kritik herausfordert. Sie macht sich insbesondere an Arendts Orientierung an der Polis fest, die als ursprungsphilosophischer Fremdkörper in ihrer Theorie gewertet wird.43 Doch ist es gerade diese theoretische Spannung, die einer möglichen Verabsolutierung historischer Machbarkeit Grenzen setzt. In ihrem Versuch, über den Totalitarismus so zu schreiben, dass er nicht »gerechtfertigt« wird – und jedem historischen Verstehen haftet ihrer Meinung nach eine rechtfertigende Haltung an, weil die Möglichkeit, dass es auch anders hätte kommen können, nicht reflektiert wird – hatte sie alles unternommen, um nicht den 40 41 42 43

Arendt, Denktagebuch, S. 70. Ebd., S. 132. Ebd., S. 194 (Hervorhebung im Original). Seyla Benhabib, Modelle des ›öffentlichen Raums‹. Hannah Arendt, die liberale Tradition und Jürgen Habermas. In: dies., Selbst im Kontext. Kommunikative Ethik im Spannungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne, Frankfurt a. M. 1995, S. 96–131.

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Eindruck einer zwingenden Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart entstehen zu lassen. Dabei ließ sie sich von der Einsicht leiten, dass innerhalb eines Interpretationsrahmens von geschichtlicher Kausalität nicht nur das Neuartige der totalitären Herrschaft verkannt wird. Das »zwingende« Denken war darüber hinaus tief verstrickt in die totalitäre Herrschaftsausübung. Um sich der Wirklichkeit »zu stellen und entgegenzustellen«, konstruierte sie einen Dialog zwischen Gegenwart und Vergangenheit, der auf die bewährten Muster des historischen Verstehens und Darstellens verzichtete und das Wagnis einer offenen und widersprüchlichen Konzeption einging. Wenn man vergangene und gegenwärtige Erfahrungen zueinander in eine dialogische, nicht nur historische Beziehung setzt, um die Welt der Evidenzen und der erzwungenen ideologischen Einheiten in den Mythen des Fortschritts und der absoluten Versöhnung der Widersprüche aufzubrechen, dann erscheinen die Erfahrungen in einem anderen Licht. Die Geschichte öffnet sich an versiegelten Stellen und gibt Erfahrungen preis, die bisher so nicht wahrgenommen wurden. Die geschichtlichen Stoffe spalten sich in alternative Erzählungen, in fragwürdige und nachdenkenswerte, zwischen denen eine Entscheidung getroffen werden kann. Wer die Gegenwart gegen die Vergangenheit ausspielt und das Zeitgemäße mit seiner Entstehungszeit identifiziert, der gerät in argumentativen Zugzwang, wenn es darum geht, Ansprüche auf absolute Synthesen kritisch zu reflektieren, die im Namen des Fortschritts auftreten. Im Bereich menschlicher Angelegenheiten kann es nach Arendt keine absoluten, sondern nur partielle Wahrheiten geben. Die Entscheidung darüber, in welcher Welt wir leben wollen, lässt sich nicht wissenschaftlich begründen. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind Teil des Dialogs und politischen Konsenses, sie können aber nicht an deren Stelle treten. Politik ist weder ein wissenschaftliches Projekt noch eine Domäne des Dezisionismus. Der »Sinn von Politik ist Freiheit«, aber weil Politik auf der Pluralität beruht, kann Freiheit nicht identisch sein mit der Willensfreiheit des Einzelnen. Nicht der Mensch ist politisch, Politik entsteht zwischen den Menschen. Damit hat Arendt sich gegen mehrere Traditionen quergestellt, gegen Aristoteles’ »zoon politikon«, gegen die Naturrechtslehre, gegen Politik als »Verwaltung von Sachen«, als Klassenkampf oder dezisionistische Entscheidung über den Ausnahmezustand. Jedoch ist ihr Konzept alles andere als widerspruchsfrei, hat es sich doch mit dem Einfluss eines mächtigen Erbes auseinanderzusetzen, das in zwei entgegengesetzten Haltungen zum Ausdruck kommt, in dem »Zurückschrecken vor dem Abgrund der Freiheit« und in der Hypostasierung subjektiver Souveränität, durch die das Handeln der Vielen durch die Allmacht des Einen, des Volkes oder der Nation, ersetzt wird, der »über den Gesetzen und allen weltlichen Autoritäten thront«. Arendts Politikauffassung weist den Weg zu einer schwierigen Balance zwischen Spontaneität und Tradition, Bewegung und Dauer, unmittelbarer und delegierter politischer Macht, Recht und Gerechtigkeit. Der Unwägbarkeit der Ereignisse steht die Möglichkeit

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gegenüber, durch gemeinsames Handeln die Entscheidungsräume zu erweitern; der Verantwortung in Freiheit die Bürde der Verantwortung, die angesichts weltweiter Erosionen von Gemeinwesen und Staaten und der durch sie ausgelösten Flüchtlingsbewegungen und des Verlustes traditioneller sozialer Bindungen und Wertvorstellungen den Einzelnen überfordert. Die Weigerung, zu urteilen und Verantwortung zu übernehmen, steht im Mittelpunkt ihrer Analyse der isolierten und ohnmächtigen Massen, die nur noch in der Gleichschaltung Sicherheit finden und handlungsfähig sind. Ausdrücklich betont Arendt in den »Abschließenden Bemerkungen«, dass sie im Totalitarismus nicht ein Regime sah, das die Erfahrungen der Menschen mit Ideologie und Terror außer Kraft setzte, sondern eines, das sie aufgriff und einen, wenn auch absolut zerstörerischen, Weg wies. Damit rückte sie die Gegenwart ins Blickfeld der Verantwortung. In der Gegenwart wird entschieden, in welcher Weise die Vergangenheit fortdauert. Doch hier deutet sich eine Aporie an. Hatte sie nicht selbst in ihrer Analyse totaler Herrschaft von der Gefahr gesprochen, dass je näher sich die Völker kommen, die Unfähigkeit des Einzelnen wächst, sich der Verantwortung zu stellen?44 Ohne den Schutz der Distanz, kommt der Fremde zu nahe. Im Denktagebuch zitiert Arendt dazu einen Satz Heideggers: »Das Selbe ist nicht das Einerlei des Gleichen, sondern dass Einzige im Verschiedenen und das verborgene Nahe im Fremden«, den sie folgendermaßen kommentiert: »Von hier aus wäre ein neuer Gleichheitsbegriff zu entwickeln, der den Schrecken, die ursprüngliche Angst vor der Menschheit […] bewahren könnte. Wir können uns mit der Nähe (dem Gemeinsamen) nur abfinden, weil sie im Fremden verborgen ist und als Fremdes sich präsentiert. Wir können uns mit dem Fremden nur abfinden, weil es Nahes verbirgt, Gemeinsames ankündigt.«45 Was Arendt hier anspricht, ist, dass es im Dialog zwischen den verschiedenen Kulturen nicht nur um ein aufklärerisches Projekt des Abbaus von Vorurteilen und Idiosynkrasien gehen kann, sondern darüber hinaus um eine Vervielfältigung von Distanzen, die der Raum sind, sich einander zu nähern als auch wieder voneinander zu entfernen. Dieser Vervielfältigung von Distanzen entsprechen verschiedene Modi des Urteilens, die von der Idiosynkrasie als Vorform bis zum historischen und politischen Urteilen reichen würden. Arendts kluge Phänomenologie arbeitet mit einer Mehrbezüglichkeit, die nicht mehr mit verallgemeinerbaren Prinzipien geordnet werden kann. Dennoch haben wir es nicht mit einem Relativismus zu tun. Der kategorische Imperativ Kants behält innerhalb bestimmter Grenzen seine Gültigkeit. Als »perfekte Regel für das ohnmächtige Individuum«,46 wie Arendt mit dem Marx der Deutschen Ideologie formuliert, ist der kategorische Imperativ unantastbar, wenn man für 44 45 46

Vgl. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 500 f. Arendt, Denktagebuch, S. 65. Ebd., S. 821.

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»die Welt Verantwortung nicht mehr übernehmen kann«.47 Darüber hinaus eröffnet Kants »Kopernikanische Wendung«, die in der Zweckfreiheit der praktischen Vernunft liegt, die Möglichkeit von der Selbstverantwortung des Menschen weiter zu gehen zur Verantwortung, die er anderen gegenüber hat. Gegenüber der größten Gefahr in der Moderne, in die Freiheit, Urteilsfähigkeit und Verantwortung geraten können, bietet Arendt ein Denken auf, das sich vom Zwang befreit, nur noch zwischen Gegensätzen wählen zu können. Bereits in der Auseinandersetzung mit den Exkommunisten und Antistalinisten Anfang der 1950er Jahre hat sie die Weltanschauungsdebatte, in der es um letzte Entscheidungen geht, als eine totalitäre Diskussionsmethode kritisiert, durch die Freiheit nicht verteidigt werden kann, sondern zerstört wird: »To escape from reality«48 ist auch hier die Bedrohung der politischen Diskussionskultur in Amerika, denn dadurch wird in einer grundlegenden Weise verunmöglicht, »to rethink the political convictions in the light of the political events and historical developments.«49 An die Stelle der Widersprüchlichkeit und Vielschichtigkeit von Realität tritt eine extreme ideologische Zweiteilung der Welt, die sich wechselseitig bedingt und rechtfertigt und die keine andere Lösung der Widersprüche kennt als die des letzten Gefechts, eine Vorstellung von Geschichtemachen, die für das Ziel Demokratie als »cause« jedes Mittel rechtfertigt. Eine derartige Haltung ignoriert notwendig »the rules and laws by which we live: America, this republic, the democracy in which we live, is a living thing which cannot be contemplated and categorized, like the image of a thing which I can make; it cannot be fabricated. It is not and never will be perfect because the standard of perfection does not apply here. Dissent belongs to this living matter as much as consent does. The limitations of dissent lie in the Constitution and the Bill of Rights and nowhere else.« The claim, »that one can fight the dragon if one has become a dragon contradicts all our experiences and is hostile to our ultimate concern, which is to assert the humanity of man.«50 Arendt erkennt die Zwangsgesetze im Denken wieder, die als Sedimente der Tradition einen festen Platz im normalen Alltag haben und die sie als Treibsand des Totalitären in den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft analysiert hatte. Die Gegenwartsbezogenheit vermittelt allen ihren Texten, diesem aber ganz besonders, eine herausfordernde Gestik: Hier wird historisches Wissen vermittelt, um auf dem Sprung zu sein. Diese Direktheit wird häufig als emotionale und moralische Betroffenheit identifiziert, so auch von Eric Voegelin. Ihre Ent47 48 49 50

Ebd., S. 818. Hannah Arendt, The eggs speak up (1950). In: dies., Essays in Understanding 1930–1954. Hg. von Jerome Kohn, New York 1994, S. 272. Arendt, Rand School Lecture (1948/9), ebd., S. 219. Hannah Arendt, The Ex-Communists. In: The Commonweal, 20. März 1953. In: dies., Essays in Understanding, S. 400.

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gegnung auf Voegelin, man könne »sine ira« nicht wahrheitsgemäß über den Totalitarismus schreiben, bedeutet aber nicht, dass der Darstellung ein äußerliches moralisches Urteil angefügt werden soll. Die moralische Reflexion zeigt die Grenze der wissenschaftlichen Begründbarkeit und Darstellbarkeit an.51 Dabei entsteht ein Risiko, nämlich dass eine Seite die Oberhand gewinnt, die Karl Jaspers in einem Brief als den Schatten der »durchgebrannten Pferde« bezeichnete und von der Hannah Arendt selbstkritisch bekannte, sie werde nie die »Meisterschaft der Nüchternheit« eines Max Weber erreichen. In den »Abschließenden Bemerkungen« spricht sie von einer nie dagewesenen historischen Chance, die gerade durch die Radikalität des Zusammenbruchs der alten politischen Mythen von Natur und Geschichte ermöglicht würde, obwohl in ihrer Analyse deutlich wird, dass der Totalitarismus eher eine Verwüstung zurücklässt, einen unglaublichen Verlust der Urteilskraft und der Fähigkeit, als unverwechselbar Verschiedene eine gemeinsame politische Verantwortung wahrzunehmen. Die Realität hat diese Analyse bestätigt. Das Wissen um die Gefahr, die der Totalitarismus für die Menschheit bedeutet, kann erst durch einen längeren Prozess der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der Partizipation am politischen Leben der Demokratie Teil des öffentlichen Bewusstseins werden. Einen ebenso langwierigen und schwierigen Prozess erfordert ihre Vision von einer neuen internationalen Absicherung der Menschenrechte, deren Dringlichkeit bis heute unbestritten ist. Arendt hat im Zuge ihrer Beschäftigung mit Kants Kategorie der Urteilskraft als politischem Vermögen die Vorstellung fallen gelassen, radikale Umbruchssituationen wären an sich günstige Ausgangsbedingungen politischen Handelns, und dabei auch den Gründungsgedanken problematisiert. Die Urteilskraft sollte demgegenüber eine Vielfalt von Veränderungen eröffnen, die nicht durch die moralischen und politischen Verheerungen des globalen Einschnitts, der immer gewaltsam ist, dominiert werden. Ihre Fähigkeit, mit verblüffender Schnelligkeit Erfahrungen zu einem politischen Urteil zuzuspitzen, sollte nicht als Neigung zu Vorläufigem und Voluntaristischem missdeutet werden. Wir haben es hier mit einem Wahrnehmungsmodus zu tun, den sie zuweilen als ihren persönlichen Stil gekennzeichnet hat, der aber darüber hinaus programmatische Bedeutung hat und eine intellektuelle Herausforderung bleibt: »Zählen werden nur die, die bereit sind, sich weder mit einer Ideologie noch mit einer Macht zu identifizieren«,52 nämlich nicht die Parteigänger, sondern die hellsichtigen Staatsbürger. Dieser hellsichtige Staatsbürger weiß um die Chancen der Zivilisation, aber auch um ihre Gefahren, die darin bestehen, nur noch das zu akzeptieren, was man selbst geschaffen hat. Die »Abschlie51 52

Vgl. Hannah Arendts Lessing-Rede aus dem Jahr 1959; siehe Anm. 5. Hannah Arendt an Karl Jaspers, 18. November 1945. In: Hannah Arendt/Karl Jaspers, Briefwechsel 1926–1969. Hg. von Lotte Köhler und Hans Saner, München 1985, S. 59.

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ßenden Bemerkungen« münden in eine Perspektive, die zeigt, dass es in Hannah Arendts Denken nicht um die Verabsolutierung einer Richtung geht, sondern immer wieder um die Herstellung eines Gleichgewichts. Der selbstbewussten politischen Gestaltung menschlichen Zusammenlebens ist die Dankbarkeit für die Tatsache gegenübergestellt, dass »wir nicht allein auf der Welt wohnen.« Die andere Seite der Medaille ist, dass wir nur im Streit und Widerstreit der Meinungen, nur »in concert«, unsere Probleme lösen können. Damit befinden wir uns mitten in den gegenwärtigen Debatten über die Möglichkeiten eines Konsenses zwischen einer Vielzahl von Werten und Lebensformen, der dauerhaften Bestand gewähren könnte. Ob man wie der Liberalismus davon ausgeht, dass die Anerkennung anderer Kulturen am besten durch das Pflicht- und Rechtsbewusstsein garantiert werden kann, oder wie die Kommunitaristen eine Konzeption des Guten fordert, welche die Pluralität der Lebensentwürfe als gemeinsamen politischen Wert verankert, oder wie die Postdemokraten, für die Freiheit und Gleichheit bloße ideologische Passform neoliberaler Interessen sind, für Hannah Arendt läge die Chance der Demokratie weniger in der Fixierung des besten Modells als in der Schaffung von Bedingungen, welche die größte politische Bewegungsfreiheit ermöglichten im Sinne ihres großen Vorbilds Montesquieu, der in der Teilung der Macht nicht eine Verringerung, sondern eine Vergrößerung von Macht gesehen hatte. Werden die Räume immer weniger, in denen sich die Unterschiede zeigen und in ein strukturiertes politisches Bewusstsein transformieren können, dann tritt in diese Leere das Verlangen nach Sicherheit durch ethnische und nationalistische Homogenität, um schließlich nur noch in der Ununterscheidbarkeit eine Heimat zu finden. Alle Konzeptionen von Gemeinschaft, die sich auf nicht hinterfragbare Entitäten berufen, sind Diskurse, die eine eigene Dynamik in Gang setzen, und keine Hilfskonstruktionen, um das zerbrechliche Gefüge der Demokratie zu stützen. Auch in Krisen, in denen alle Auswege verbaut zu sein scheinen, kommt der Fähigkeit, die »Unterschiede zu treffen«, die größere und am wenigsten ideologische Möglichkeit zu, doch noch einen Weg zu finden. Darin besteht die Quintessenz von Hannah Arendts Totalitarismusanalyse.

Michael Henkel

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Eric Voegelin, Hannah Arendt und der Totalitarismus

»But I don’t want comfort. I want God, I want poetry, I want real danger, I want freedom, I want goodness. I want sin.« (John – der »Wilde« aus dem Roman Brave New World von Aldous Huxley)

I.

Einleitung

Die öffentliche Auseinandersetzung, die Eric Voegelin und Hannah Arendt 1953 in der Review of Politics über die erste Auflage von Arendts Totalitarismusbuch führten, stellt ein ebenso kurzes wie gehaltvolles Kapitel in der Geschichte der Totalitarismusforschung dar. Der Disput verdient aus einer Reihe von Gründen auch nach über sechzig Jahren noch unser Interesse. So etwa wirft die Debatte zwischen Voegelin und Arendt Licht auf das methodische Selbstverständnis Arendts wie auch auf zentrale inhaltliche Aspekte ihrer Überlegungen zum Totalitarismus. Voegelins kritische Einwände forderten Arendt diesbezüglich zu einigen Verdeutlichungen ihrer Auffassungen auf, die sie in ihrer Replik auf Voegelins Rezension präsentierte. Ingeborg Nordmann zeigt in ihrem Beitrag zur vorliegenden Edition auf, inwiefern die Beschäftigung mit jener Debatte geeignet ist, unsere Kenntnisse über Arendts Denken zu bereichern. Sodann bietet die Diskussion zwischen Voegelin und Arendt für die Totalitarismusforschung, die nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus gerade auch in Deutschland eine wissenschaftliche Renaissance erfuhr,1 die Möglich1

Siehe für die ältere Totalitarismusforschung den Sammelband von Bruno Seidel/Siegfried Jenkner (Hg.), Wege der Totalitarismus-Forschung (1968), 3., durchgesehene Auflage Darmstadt 1973; ferner Walter Schlangen, Die Totalitarismus-Theorie. Entwicklung und Probleme, Stuttgart 1976. Für die jüngere Forschung nach Ende des Ost-West-Konfliktes etwa Alfons Söllner/

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Michael Henkel

keit, sowohl anthropologische als auch geschichtsphilosophische Aspekte ihres Gegenstandes zu reflektieren, die gegenüber institutionellen, historischen und biographischen Dimensionen totalitärer Herrschaft in der Regel wenig Beachtung finden. Es ist Voegelins Kritik an Arendt, die entsprechende Perspektiven eröffnet und darauf verweist, dass die Diskussion um den Totalitarismus mehrere Ebenen umfasst, die auseinanderzuhalten und aufeinander zu beziehen unsere Einsichten in den Totalitarismus zu bereichern vermag. Voegelins Beitrag kommt hier das Verdienst zu, Desiderate der etablierten Totalitarismusforschung zu benennen. Mit seinen eigenen Forschungen zu den totalitären Bewegungen erhob Voegelin dabei selbstbewusst den Anspruch, jene Desiderate zu überwinden und dadurch das Verständnis der totalitären Bewegungen – und darüber hinaus der politischen Moderne überhaupt – in maßgeblicher Weise zu vertiefen. Der vorliegende Beitrag verfolgt die Absicht, die Position zu erläutern, von der aus Voegelin seine Zustimmung wie seine Kritik an Arendt formulierte. Dabei geht es vor allem darum, seine Sicht der Dinge als kohärenten Ansatz darzulegen und von dort aus den Gewinn ebenso wie die Defizite seines Zugangs für das – insbesondere theoretische – Verständnis totalitärer Herrschaft auszuloten.

Ralf Walkenhaus/Karin Wieland (Hg.), Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997; Achim Siegel (Hg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, Köln 1998; Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Totalitarismus. Sechs Vorträge über Gehalt und Reichweite eines klassischen Konzepts der Diktaturforschung, Dresden 1999; Alain de Benoist, Totalitarismus. Kommunismus und Nationalsozialismus – die andere Moderne 1917–1989, Berlin 2001; Klaus Hildebrand (Hg.), Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus, München 2003; Lothar Fritze, Anatomie des totalitären Denkens. Kommunistische und Nationalsozialistische Weltanschauung im Vergleich, München 2012. Umfassend der Sammelband von Eckhard Jesse (Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, 2., erweiterte und aktualisierte Auflage Baden-Baden 1999; einen konzisen Überblick vermitteln die Beiträge von Eckhard Jesse, Die Totalitarismusforschung und ihre Repräsentanten. Konzeptionen von Carl J. Friedrich, Hannah Arendt, Eric Voegelin, Ernst Nolte und Karl Dietrich Bracher. In: APuZ, B 20/1998, S. 3–18 und Clemens Vollnhals, Der Totalitarismusbegriff im Wandel. In: APuZ, B 39/2006, S. 21–27.

Eric Voegelin, Hannah Arendt und der Totalitarismus

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II. Eine anthropologische und geschichtsphilosophische Deutung totalitärer Herrschaft: Eric Voegelins Diagnose der Moderne

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1.

Totalitarismus und Moderne

In Eric Voegelin fand Arendt einen Kritiker, mit dem sie bei allen grundsätzlichen Differenzen im Verständnis von Politikwissenschaft wie im Verständnis von deren Gegenstand doch manche Auffassungen teilte, und zwar Auffassungen, die keineswegs nebensächlich waren. So konnte Arendt konstatieren, dass Voegelins Arbeiten ihrem »eigenen Denken immer und auch dann nahe« waren, wenn Arendt »nicht mit allem übereinstimmte«,2 und Voegelin sparte ungeachtet aller Kritik seinerseits nicht mit Anerkennung und Lob für Arendts Arbeiten. Es dürften nicht zuletzt solche inhaltlichen Übereinstimmungen gewesen sein, die eine Basis für das grundsätzlich freundschaftlich-kollegiale Verhältnis der beiden Emigranten darstellten, das offenbar von den inhaltlichen Differenzen nicht erschüttert wurde. Arendt blieb Voegelin über Jahre verbunden, was nicht zuletzt darin zum Ausdruck kommt, dass sie als Mitherausgeberin einer Festschrift für Voegelin wirkte.3 Die beiden Emigranten teilten neben einem ausgeprägten Interesse am politischen Denken der Antike insbesondere die tiefe Skepsis gegenüber der Moderne oder doch gegenüber bestimmten Aspekten modernen Denkens.4 Hierher gehörte die kritische Distanz gegenüber den politischen Ideologien und einem positivistischen Szientismus, den sowohl Arendt wie auch Voegelin als letztlich irrationale Wissenschaftsgläubigkeit betrachteten, die ein Zerrbild menschlicher Möglichkeiten im Gefolge hatte und mit der Ausblendung ethischer Erwägun-

2

3

4

Hannah Arendt im Brief an Voegelin vom 22.4.1951, in diesem Band S. 35. Arendt zitierte Voegelin zustimmend etwa in Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 10. Auflage München/Zürich 2005, S. 352, 736. Aber sie setzte sich in ihren Arbeiten auch explizit mit Voegelin auseinander, so in dem 1953 erschienenen Text Hannah Arendt, Religion und Politik (1953). In: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hg. von Ursula Ludz, München 1994, S. 305–326, 421–428 [Anm.], hier 309, 423. Siehe Alois Dempf/Hannah Arendt/Friedrich Engel-Janosi (Hg.), Politische Ordnung und menschliche Existenz. Festgabe für Eric Voegelin zum 60. Geburtstag, München 1962. Zum Verhältnis zwischen Voegelin und Arendt siehe auch Peter Baehr, Introduction. In: ders. (Hg.), Debating Totalitarianism. An Exchange of Letters between Hannah Arendt and Eric Voegelin. In: History and Theory, 51 (2012), S. 364–380, hier 365 f. sowie mit Blick auf die Totalitarismuskontroverse Sylvie Courtine-Denamy, The Revival of Religion: a Device against Totalitaritarianism? A Philosophical Debate between Eric Voegelin and Hannah Arendt, München 2011 [http://www. gsi. uni-muenchen. de/forschung/forsch_zentr/voegelin/publikationen/papers/ op-88.pdf]. Für Arendt siehe dazu Roland W. Schindler, Geglückte Zeit – gestundete Zeit. Hannah Arendts Kritik der Moderne, Frankfurt a. M. 1995.

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gen einen inhumanen Zug gewann.5 Die szientistische Vorstellungswelt hatte in Arendts wie in Voegelins Augen einen nicht unerheblichen Anteil an den Fehlentwicklungen moderner Politik, die wiederum ihren erschreckenden Höhepunkt in den Vernichtungsorgien der totalitären Regime fanden. Zu solchen modernen Fehlentwicklungen gehörte für beide vor allem auch ein charakteristischer »Wirklichkeitsverlust« moderner Weltauffassungen und entsprechender Handlungsweisen insbesondere in der Politik. In solcher Perspektive galt der Totalitarismus Arendt wie Voegelin als ein spezifisch modernes Phänomen, wobei die Modernität von ihnen in überaus verschiedener Weise interpretiert wurde. Für Arendt stellte die totalitäre Herrschaft das Resultat einer – keineswegs notwendigen – historischen Konstellation oder »Kristallisation« bestimmter »Elemente« der politisch-sozialen Entwicklung und eines entsprechenden Denkens dar, die ihrer Auffassung zufolge für die neuzeitlichen Gesellschaften mit ihrer Politik, ihrer Wirtschaftsweise und ihrer Wissenschaft charakteristisch waren. In ihrem Zusammenspiel führten diese Elemente zu einem Traditionsbruch, der in jenen politischen Bewegungen und deren Repräsentanten zum Ausdruck kam, welche die totalitäre Herrschaft schließlich ins Werk setzten.6 Als die paradigmatischen Ausprägungen der totalitären Herrschaft galten Arendt sowohl der im Zentrum ihres Interesses stehende Nationalsozialismus als auch der stalinistische Kommunismus. Diese beiden Regime waren auch für Voegelin die charakteristischen Beispiele totalitärer Herrschaft. Im Unterschied zu Arendt allerdings sah er die Ursprünge des Totalitarismus nicht primär in einer bestimmten Konstellation von politisch-gesellschaftlichen Strukturen und Denkweisen, die schließlich in einen das Verhängnis ermöglichenden Traditionsbruch mündeten. Vielmehr bedeutete der Totalitarismus für ihn den Endpunkt einer langen geistesgeschichtlichen Entwicklung, mithin gerade die Fortführung einer Tradition, die er als antizivilisatorische Strömung ansah, welche aber im Laufe der Jahrhunderte gleichwohl dominant geworden war. Als kennzeichnend für diese Bewegung erkannte 5

6

Siehe Eric Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung. Hg. von Peter J. Opitz, mit einem Nachwort des Herausgebers und einer Bibliographie, 4. Auflage Freiburg 1991, S. 22–35; ders., Wissenschaft als Aberglaube. Die Ursprünge des Szientifismus. In: Wort und Wahrheit, 6 (1951), S. 341–360. Arendt zitiert die englische Fassung des letztgenannten Aufsatzes von 1948 in Arendt, Elemente und Ursprünge, 736. Arendts skeptische Sicht auf die moderne Sozialwissenschaft, insbesondere auf deren Funktionalismus, wird deutlich in Arendt, Religion und Politik, S. 312–318. Siehe dazu die hier abgedruckte Antwort Hannah Arendts auf Voegelin, besonders S. 57 ff. sowie die Erläuterung im Vorwort zur 1955 erschienenen ersten deutschen Ausgabe von Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge, Neuausgabe S. 15 f. Zum Traditionsbruch siehe besonders auch die abschließenden Bemerkungen Arendts in der englischen Erstauflage der Origins von 1951, S. 22 ff. Siehe zu Arendts Konzept der Kristallisation und zum Traditionsbruch den Beitrag von Ingeborg Nordmann in diesem Band.

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Eric Voegelin, Hannah Arendt und der Totalitarismus

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Voegelin spezifische Weltauffassungen, die ihre frühesten Wurzeln bereits in der Spätantike hatten und deren entscheidende Kennzeichen seiner Auffassung zufolge darin bestehen, dass sie die Transzendenz als Wirklichkeitsbereich und die demgemäßen menschlichen Erfahrungen ausblenden, ignorieren oder leugnen und ihnen nur die säkulare, die »immanente« Welt als Wirklichkeit gilt. Die Dominanz entsprechender »immanentistischer« Auffassungen und deren praktische Auswirkungen, das heißt: die umfassende Säkularisierung des Lebens, galten Voegelin als das Charakteristikum der Moderne, und deren Praxis resultierte für ihn im äußersten Falle im Totalitarismus. 2.

Politische Religionen und der Prozess der Säkularisierung

Zu dem Zeitpunkt, als der publizistische Disput zwischen Arendt und Voegelin erschien, hatte letzterer seine Überlegungen zum Totalitarismus bereits in einer Reihe von Veröffentlichungen entfaltet. Zu nennen sind hier vor allem seine monographischen Studien über Die politischen Religionen von 1938 sowie seine New Science of Politics von 1952, die 1959 unter dem Titel Neue Wissenschaft der Politik in einer deutschen Übersetzung erschien. Diese Veröffentlichungen lassen schon auf den ersten Blick erkennen, dass sich Voegelins Sicht ungeachtet einer in den zentralen Punkten unverändert bleibenden Grundposition fortentwickelte und er mit den entsprechenden inhaltlichen Modifikationen auch seine Begrifflichkeit veränderte. Dabei ist im vorliegenden Zusammenhang zunächst bedeutsam, dass für Voegelins Arbeiten der Begriff des Totalitarismus keine theoriekonstitutive Bedeutung hat. Voegelin hatte sich zwar schon vor Erscheinen der Politischen Religionen ausführlich mit den als »total« bezeichneten politischen Konzepten auseinandergesetzt, wie es in den 1920er und 1930er Jahren namentlich in der Rede vom »totalen Staat« zum Ausdruck kam;7 die Ausdrücke »Totalitarismus« bzw. »totalitär« verwendete er aber erst seit den späten 1930er Jahren als beschreibende Termini. Dabei benutzte er sie weder ausschließlich für moderne Begebenheiten noch überhaupt zur Bezeichnung eines besonders klar bestimmten Begriffs. Die Kennzeichnung eines Phänomens als totalitär diente ihm zur Beschreibung von Herrschaftsformen, Gemeinschaften oder Denkweisen, die infolge ihres ideologischen Charakters – und das heißt zumeist: infolge immanentistischer Defekte und Defizite – despotische Form annehmen und in der ein oder anderen Weise zur Unterdrückung von Menschen führen.8 7 8

Siehe Erich Voegelin, Der autoritäre Staat. Ein Versuch über das österreichische Staatsproblem, Wien 1936, S. 7–54. In einem Brief an William M. McGovern vom 20.11.1938 spricht Voegelin von den »present totalitarian movements«, und in einem Radiovortrag des Jahres 1939 befasste er sich mit The Totalitarian Climate. Siehe Eric Voegelin, Selected Correspondence 1924–1949 [Collected

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In dem Buch von 1938 ist der für Voegelins eigene Diagnose des modernen Totalitarismus leitende Begriff das Konzept der politischen Religion. Dieses Konzept hielt er alsbald für unzulänglich, weshalb er es als theoriekonstitutiven Begriff preisgab9 und schließlich durch den Begriff der Gnosis ersetzte, der dann in der 1952 veröffentlichten Neuen Wissenschaft als theoretisches Leitkonzept diente. Auch den Gnosisbegriff empfand Voegelin für seine Überlegungen schließlich als theoretisch unzureichend, doch war es dieser Begriff, mit dem er sich in jener Zeit intensiv befasste, in der er sich mit Arendts Totalitarismusbuch auseinandersetzte. Vor diesem Hintergrund sind für die hier verfolgte Fragestellung die Begriffe der politischen Religion und der Gnosis von Interesse, die für die Entwicklung des Voegelin’schen Denkens zwischen 1938 und 1952 stehen. Sie sind die charakterisierenden Grundbegriffe seiner damaligen Diagnosen moderner Politik und der historischen Entwicklung, die diese prägten. Mit dem Begriff der politischen Religion bezeichnet Voegelin die politisch-gesellschaftlichen Dimensionen und Auswirkungen von Religionen überhaupt. Dementsprechend muss er zunächst bestimmen, was unter Religion zu verstehen ist, und diese Bestimmung erfolgt mittels einer anthropologischen Grundlegung. Demnach haben Religionen ihren Ursprung in existenziellen Erlebnissen, die den Menschen ihren Ort innerhalb der umfassenden Wirklichkeit, innerhalb des Seins, vermitteln. Diese Erlebnisse erfahren sodann Ausdeutungen und Sinngebungen, und entsprechend der Eigenart dieser Deutungen lassen sich Religionen typologisch unterscheiden. Der diesbezüglichen Unterscheidung legt Voegelin auch ein Beurteilungskriterium zugrunde. Es besteht in dem Ausmaß, in dem eine Religion die Fülle und den Stufenbau der Wirklichkeit umfasst und demgemäß, worin sie den höchsten Wirklichkeitsgrund, das von Voegelin hier so genannte Realissimum, erkennt. Insoweit hat Voegelins Religionsbegriff einen ontologischen Charakter. Eine lediglich (sozial-)psychologische Lesart würde dieser Auffassung von Religion demnach nicht gerecht. In Voegelins eigenen Worten liest sich die Herleitung des Religionsbegriffes wie folgt: »Der Mensch erlebt seine Existenz als kreatürlich und darum fragwürdig. Irgendwo in der Tiefe, am Nabel der Seele, dort wo sie am Kosmos hangt, zerrt es. Dort ist der

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Works, vol. 29], edited with an Introduction by Jürgen Gebhardt, Columbia 2009, S. 189–191, hier 191 (Brief an McGovern), 697–699 (The Totalitarian Climate. Popular Lecture, gesendet am 21.7.1939). Seit diesen Jahren hielt Voegelin an der gelegentlichen Verwendung der Ausdrücke bis zu seinen späteren Arbeiten fest; siehe etwa Voegelin, Neue Wissenschaft, S. 74 (»modernen totalitären Gemeinschaften«), 191 (»Totalitarismus als [...] Herrschaft gnostischer Aktivisten«), 231 (»der Totalitarismus unserer Zeit«). Siehe dazu die Erläuterung in Eric Voegelin, Autobiographische Reflexionen (1989). Hg., eingeleitet und mit einer Bibliographie von Peter J. Opitz, München 1994, S. 70.

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Eric Voegelin, Hannah Arendt und der Totalitarismus

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Punkt jener Erregungen, die unzulänglich Gefühle genannt und darum leicht mit gleichnamigen oberflächlichen Bewegungen der Seele verwechselt werden«.10 Die Erregungen erfahren eine bunte Vielzahl von Deutungen, aber der entsprechende »Reichtum an Schattierungen [...] entfaltet sich auf einer einzigen Dimension des religiösen Erlebnisses, an den Erregungen der Kreatürlichkeit«.11 Diese Erregungen finden nach Voegelin eine Erfüllung oder Erlösung in bestimmten Aspekten des Seins, und je nachdem, auf welchen Aspekt des Seins sie sich orientieren, bestimmt sich der Charakter einer von den Erregungen ausgehenden Religion: »In allen Richtungen, in denen die menschliche Existenz zur Welt hin offen ist, kann das umgebende Jenseits gesucht und gefunden werden: im Leib und im Geist, im Menschen und in der Gemeinschaft, in der Natur und in Gott. Die große Zahl der grundsätzlichen Möglichkeiten und die unendliche der geschichtlich-konkreten, die sich hier auftut, verbindet sich mit den Versuchen der Selbstdeutung, mit allen Missverständnissen und Kampfverzerrungen zu einer unendlichen Fülle an Erlebnissen, ihren Rationalisierungen und Systembildungen«,12 und eben hieraus resultiert die bunte Welt der Religionen. Die begriffliche Ordnung dieser Vielfalt ergibt sich für den Voegelin des Jahres 1938 aus folgender Überlegung: »Dem einen stehen die Tore seiner Existenz weit offen für den Blick über die Stufen des Seins von der unbelebten Natur bis zu Gott; die Welt entfaltet sich ihm weit, ihre Inhalte treten in ein durchdachtes Verhältnis zueinander; sie schließen sich zu einer Seinsordnung, mit der Wertordnung der Seinsstufen zu einer Rangordnung, und als Antwort auf die Frage nach dem Grund des Seins zu einer Schöpfungsordnung zusammen. Ein Maximum von Aufnahme der Wirklichkeit verbindet sich mit dem Maximum an Rationalität der Ordnung und Verknüpfung und wird gekrönt von der dogmatischen Durchbildung des geistig-religiösen Erlebnisses in einer Gottesidee, wie sie das Abendland in der analogia entis entwickelt hat. Dem andern sind nur karge Blicke in die Wirklichkeit vergönnt, vielleicht nur ein einziger: auf die Natur, einen großen Menschen, sein Volk, die Menschheit – das Gesehene wird ihm zum Realissimum, zum Allerwirklichsten, es rückt an die Stelle Gottes, und verdeckt ihm alles andere – auch, und vor allem, Gott«.13

Von diesen beiden Endpunkten religiösen Erlebens und entsprechender religiöser Weltdeutung her ergibt sich dann Voegelins Typisierung: »Die Geistreligionen, die das Realissimum im Weltgrund [d.h. im transzendenten Gott; M.H.] finden, sollen für uns überweltliche Religionen heißen; alle anderen, die das Göttliche in Teilinhalten der Welt finden, sollen innerweltliche Religionen heißen«.14

10 11 12 13 14

Eric Voegelin, Die politischen Religionen (1938). Hg. und mit einem Nachwort versehen von Peter J. Opitz, München 1993, S. 15. Ebd., S. 16. Ebd. Ebd., S. 16 f. Ebd., S. 17.

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Sowohl überweltliche als auch innerweltliche Religionen haben diesem Konzept zufolge eine unmittelbar politische Dimension, und von daher ist der Begriff der politischen Religion keineswegs beschränkt auf die Kennzeichnung der modernen totalitären Bewegungen wie insbesondere des Nationalsozialismus und des stalinistischen Kommunismus. Vielmehr gibt es der Typologie zufolge sowohl überweltliche als auch innerweltliche politische Religionen. Die überweltlichen politischen Religionen – deren für die westliche Welt maßgebendes Paradigma das Christentum ist, dessen Interpretation Voegelins Verständnis der überweltlichen politischen Religion bestimmt – ruhen auf einer religiösen Anerkennung der Teilhabe des Menschen am gesamten Wirklichkeitsbereich, und das meint für Voegelin insbesondere: auf der Anerkennung der Transzendenz als Seinsgrund. Letztere bedeutet in Voegelins Sicht wiederum die Anerkennung von Unverfügbarkeiten und eine entsprechende Offenheit dafür, dass dem Menschen weder alles möglich bzw. erreichbar noch alles erlaubt ist und die weltlich-politische Ordnung nur einen Teilbereich der Wirklichkeit darstellt, der als solcher weder eine Erfüllung noch eine Erlösung zu gewährleisten vermag. Entscheidend ist für diesen Zusammenhang, dass die überweltliche Religion – mithin das »klassische« Christentum – die konstitutive Unterscheidung zwischen dem spirituell/geistlichen und dem temporal/säkularen Bereich der Welt des Menschen vornimmt.15 Jeder dieser Bereiche hat sein Eigenrecht, und die Spannung zwischen ihnen ist ein konstitutiver Teil der politischen Geschichte Europas. Nicht zufällig diskutiert Voegelin in diesem Zusammenhang die Überlegungen des Augustinus, der die entsprechende Vorstellungswelt für den Westen wirkmächtig formulierte.16 Für Voegelin ist unzweifelhaft, dass es die überweltliche politische Religion ist, die eine dem Menschen angemessene politische Ordnung zu fundieren vermag, weil in ihr anerkannt ist, dass es der Politik unverfügbare Lebensbereiche gibt, und zwar insbesondere in der Anerkennung der geistlichen Beziehung der Menschen zu Gott. In der innerweltlichen politischen Religiosität dagegen gibt es gerade diese Anerkennung nicht, und zwar, weil an die Stelle des weltjenseitigen Seinsgrundes, an die Stelle der überweltlichen Transzendenz oder an die Stelle Gottes ein anderer, innerweltlicher Inhalt als Realissimum tritt. Damit verstellen sich die Menschen zugleich die Sicht auf die – als solche keineswegs verschwindende – existenzielle Problematik ihres individuellen und schließlich kollektiven Seins, weil sie die Offenheit gegenüber ihrer Kreatürlichkeit und ihre Offenheit zum Existenzgrund preisgeben:

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Siehe ebd., S. 35–38. Siehe ebd., S. 35 f.

Eric Voegelin, Hannah Arendt und der Totalitarismus

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»Die Welt als Inhalt hat die Welt als Existenz verdrängt. [...] Die Menschen können den Weltinhalt so anwachsen lassen, dass Welt und Gott hinter ihm verschwinden, aber sie können nicht die Problematik ihrer Existenz aufheben. Sie lebt in jeder Einzelseele weiter, und wenn Gott hinter der Welt unsichtbar geworden ist, dann werden die Inhalte der Welt zu neuen Göttern; wenn die Symbole der überweltlichen Religiosität verbannt werden, treten neue, aus der innerweltlichen Wissenschaftsspra-

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che entwickelte Symbole an ihre Stelle«.17

Es sind dies die Symbole aus den Welten namentlich der »wissenschaftlichen Weltanschauung«, des »wissenschaftlichen Sozialismus« oder der »wissenschaftlichen Rassenlehre«,18 also Symbole wie das der Evolution, der Rasse, der Klasse, der Menschheit usw. Der Siegeszug der innerweltlichen Religiosität bedeutet nach Voegelin insbesondere auch, dass die Trennung zwischen dem spirituellen und dem temporären Lebensbereich aufgehoben wird, indem gewissermaßen die spirituellen (von Voegelin später auch als noetisch bezeichneten) Dimensionen der menschlichen Existenz in das temporäre oder säkulare Feld und dessen Symbolwelten hineingezogen werden. Für den politischen Bereich resultiert daraus die Tendenz, dass weltimmanente Inhalte wie etwa die Kollektive des Volkes, der Rasse, der Klasse oder der Menschheit einen umfassenden und totalen Charakter annehmen und einen umfassenden Anspruch auf das Leben der einzelnen Menschen erheben, infolgedessen die Individuen letztlich auf Funktionen des Kollektivs reduziert werden. Die westliche Geistesgeschichte ist für Voegelin die Geschichte des Wandels von der seit der Antike aufgebauten Ordnung auf der Grundlage der überweltlichen Religion des Christentums hin zur nachmittelalterlichen Dominanz der innerweltlichen Religionen und deren Folgen für die politische Welt. Diesen geistesgeschichtlichen Prozess beschreibt Voegelin in den Politischen Religionen in einer welthistorischen Skizze, die sich vom antiken Ägypten bis zur Gegenwart der 1930er Jahre erstreckt. Dabei nimmt für ihn die westliche Geistesgeschichte den Charakter eines im späten Mittelalter einsetzenden, umfassenden Säkularisierungsprozesses an, der sich in seinem Kern als Abstiegsprozess darstellt. Er ist dies, weil er in dem Maße an Irrationalität gewinnt, als die innerweltlich religiösen Anschauungen sich der Fülle der Realität, dem Stufenbau des Seins und damit der Transzendenz Gottes, verschließen.

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Ebd., S. 50. Siehe ebd.

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3.

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Politische Religionen, Totalitarismus und Verfassungsstaat

Der Säkularisierungsprozess findet für Voegelin seinen Tiefpunkt zweifellos in den totalitären Bewegungen und Regimen der Epoche; und unter diesen ist es der Nationalsozialismus, dem die Aufmerksamkeit in den Politischen Religionen hauptsächlich gilt. Aber wenngleich die Totalitarismen dieser Zeit auch die augenfälligsten und am meisten herausfordernden politischen Phänomene darstellen, so sind sie aus der Perspektive des Voegelin’schen Konzepts doch nur Symptome eines umfassenderen Prozesses, der zugleich und zuvor alle anderen politischen und weltanschaulichen Strömungen der Zeit umfasst. Insbesondere zählt Voegelin auch aufklärerische Humanitäts- oder Fortschrittsideen sowie den politischen Liberalismus zu den verderblichen innerweltlichen Religionen. So schreibt er über Immanuel Kant: »Kants Ideen zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht entwerfen ein Geschichtsbild, in dem die menschliche Vernunftperson als innerweltliche zu immer höheren Stufen der Vollendung steigt, um schließlich unter geeigneten Führern bis zur zwangsfreien weltbürgerlichen Gemeinschaft fortzuschreiten. Die Menschheit ist das große Kollektivum, an dessen Entwicklung jeder Mensch zu seinem Teil mitzuarbeiten hat; sie ist irdisch geschlossen, nur als Ganzes schreitet sie fort, und der Sinn der Einzelexistenz ist das instrumentale Wirken zum kollektiven Fortschritt. Die Formel ist radikal kollektivistisch«.19

Vor diesem Hintergrund ist dann auch Voegelins Kritik der »politisierenden Intellektuellen« folgerichtig, die er im Vorwort zur zweiten Auflage der Politischen Religionen von 1939 formuliert. Es sei »grauenhaft, immer wieder zu hören, dass der Nationalsozialismus ein Rückfall in die Barbarei, in das dunkle Mittelalter, in Zeiten vor dem neueren Fortschritt zur Humanität sei, ohne dass die Sprecher ahnen, dass die Säkularisierung des Lebens, welche die Humanitätsidee mit sich führte, eben der Boden ist, auf dem antichristliche religiöse Bewegungen wie der Nationalsozialismus erst aufwachsen konnten. Die religiöse Frage ist für diese säkularisierten Geister tabu«.20 Damit ist zweierlei klar: Zum einen zielt Voegelins Konzept der politischen Religionen keineswegs – wie bisweilen in einer reduktionistischen Lesart angenommen wird21 – allein darauf ab, nationalsozialistische oder stalinistische Herr19 20

21

Ebd., S. 51. Ebd., S. 6 f. Siehe auch Voegelins Brief an Arendt vom 16.3.1951, S. 33: »Der liberale Pfarrer, der die Erbsünde bestreitet, der laizistische Intellektuelle, der behauptet, der Mensch sei gut, der Philosoph, der eine utilitaristische Ethik begründet, der Rechtspositivist, der das Naturrecht bestreitet, der Psycholog, der die Phänomene der Seele aus dem Triebleben deutet – sie alle begehen keine Verbrechen wie ein SS-Mörder im Konzentrationslager – aber sie sind seine geistigen Väter, seine sehr unmittelbare historische Ursache«. Siehe etwa Hans Maier, Konzepte des Diktaturvergleichs: »Totalitarismus« und »politische Religionen«. In: ders. (Hg.), Totalitarismus und Politische Religionen, Band I, Paderborn 1996, S.  233–250, hier 234. Daher ist auch Arendts Einschätzung unzutreffend, dass die Rede von

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Eric Voegelin, Hannah Arendt und der Totalitarismus

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schaft in ihrer Eigenart zu bestimmen. Vielmehr umfasst der Begriff in seiner negativen Konnotation daneben ausdrücklich auch den Liberalismus und letztlich alle politischen (und weltanschaulichen) Strömungen der Moderne. Darüber hinaus resultiert aus Voegelins Konzept aber auch ein positiv konnotierter Begriff der politischen Religion, nämlich derjenige der überweltlichen politischen Religion, der in der Literatur zu den politischen Religionen meist übergangen wird. Zum anderen greift es zu kurz, das Konzept der politischen Religion lediglich als herrschaftsphänomenologischen und sozialpsychologischen Begriff aufzufassen. In diesem letztgenannten Sinne wird er in der neueren Totalitarismusforschung verschiedentlich verwendet, um religionsähnliche Aspekte totalitärer Herrschaft herauszuheben und die Motivationskraft der totalitären Bewegungen zu erklären. Tatsächlich gehen Voegelins Überlegungen – wie gesehen – weit hierüber hinaus. Es geht Voegelin letztlich um das Schicksal der Humanität in dem Sinne, dass sich der Mensch nur dann in seiner Humanität angemessen begreift, wenn er sich als Wesen weiß, das an allen Seinsschichten – von der physischen und chemischen über die biologische bis zur psychischen Schicht und schließlich zur Transzendenz – teilhat. Jede Weltdeutung, die ein demgegenüber reduziertes Verständnis des Menschen proklamiert – und ebendies diagnostiziert Voegelin für quasi alle modernen Weltanschauungen und Menschenbilder – muss ihm zufolge in eine mehr oder weniger ausgeprägte Vergewaltigung des Menschen münden. Aus alledem ergibt sich auch die von Voegelin gegenüber Arendts Totalitarismuskonzept geltend gemachte Auffassung, dass totalitäre Herrschaft auf der psychisch-verhaltensmäßigen und der institutionellen Ebene nicht zureichend begriffen werden könne.22 Die Beobachtung Arendts, dass die totalitäre Herrschaft mit dem Zusammenbruch des nationalen Verfassungsstaates korreliert, verharrt nach Voegelin an der phänomenalen Oberfläche und dringt nicht zu den seelischen Tiefen vor, die ihm zufolge für das Verständnis moderner Politik und damit auch des Totalitarismus entscheidend sind. Dementsprechend ist es für ihn auch kaum ausreichend, totalitäre Herrschaft von ihrem Gegenpol des liberalen Verfassungsstaates aus zu begreifen, wie das einige Jahre nach dem Disput in der Review of Politics namentlich in der einflussreichen Totalitarismustheorie Carl J. Friedrichs und Zbigniew Brzezinskis,23 im Ergebnis aber auch in der Theorie Arendts, der Fall ist. Voegelin kann konse-

22 23

den politischen Religionen »ursprünglich zur Interpretation totalitärer Bewegungen entworfen« (Arendt, Religion und Politik, S. 326) worden sei, wobei sie Voegelin explizit als denjenigen erwähnt (siehe ebd., S. 423), der diese Terminologie als erster begrifflich verwendet habe. Siehe Voegelin, Rezension, S. 45, 48 f. Siehe dazu die deutschsprachigen Auszüge aus der zweiten Auflage des zuerst 1956 erschienenen Buches über Totalitarian Dictatorship and Autocracy: Carl J. Friedrich/Zbigniew K. Brzezinski, Die allgemeinen Merkmale der totalitären Diktatur. In: Seidel/Jenkner (Hg.), Wege, S. 600–617 sowie dies., Die Stufen der Entwicklung. In: ebd., S. 618–634. Dazu Achim Siegel,

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quenterweise den liberalen Verfassungsstaat allenfalls als unzureichendes Bollwerk gegen den Totalitarismus erkennen, und zwar weil dieser Staat selbst eine Frucht modernen Denkens ist. Auch wenn sich der ansonsten stets urteilsfreudige Voegelin in seinen Schriften meist nicht völlig klar zu diesen Zusammenhängen positioniert,24 ergibt sich aus seinem Ansatz eine gegenüber dem Wert des Verfassungsstaates letztlich allenfalls ambivalente Auffassung. Dass er dem Verfassungsstaat im Grunde wenig zutraut, lässt sich recht klar an einer späteren Äußerung ersehen, die er in seiner Münchner Vorlesung über Hitler und die Deutschen im Jahr 1964 formulierte: »Der Topos des Rechtsstaates verdeckt das reale Problem. Ist die Gesellschaft sittlich intakt und will sie sich diesen Bestimmungen [des Rechtsstaates; M.H.] unterwerfen oder will sie es nicht? Wenn sie intakt ist, dann braucht man das alles nicht. England zum Beispiel kommt ohne geschriebene Verfassung und Grundrechte aus. Wenn eine Gesellschaft intakt ist, muss man nicht ausdrücklich in Grundrechten festlegen, dass diese nicht verletzt werden dürfen. Es wird dann ohnehin nicht getan. [...] Man braucht keine Grundrechte, wenn die Gesellschaft von selber funktioniert«.25 Und weiter: »Ein Rechtsstaat funktioniert nur innerhalb einer einigermaßen gesunden Gesellschaft. Wo die Gesellschaft nicht gesund ist, hört der Rechtsstaat auf«.26 Die »Gesundheit« der Gesellschaft aber hängt für Voegelin von der Offenheit der Einzelnen gegenüber der Transzendenzerfahrung und dem Wirklichkeitsganzen ab, also davon, die Wirklichkeit als nicht auf die innerweltliche Realität beschränkt zu betrachten. In dieser Weise hat Voegelin das Verhalten und Handeln des Einzelnen im Blick, für dessen ethisches Handeln und Verhalten sein Bewusstsein des eigenen Menschseins entscheidend ist. So schreibt er auch im Brief an Arendt vom 16. März 1951: »Die totalitären Katastrophen [können] nicht ausschließlich aus der politischen, sozialen, wirtschaftlichen Situation erklärt werden [...], bei deren Anlass sie eintreten«. Vielmehr müsse »die Situation selbst, d.h. das Verhalten der für die Ordnung ver-

24

25

26

Carl Joachim Friedrichs Konzeption der totalitären Diktatur – eine Neuinterpretation. In: ders. (Hg.), Totalitarismustheorien, S. 273–307. Eine positive Stellungnahme findet sich allerdings im Vorwort zur deutschen Übersetzung der Neuen Wissenschaft, wo Voegelin dem von ihm so genannten (angelsächsischen) Zivilregime, das mit dem liberalen Verfassungsstaat identifiziert werden kann, bescheinigt, es sei gegenüber allen anderen neuzeitlichen Verfassungsexperimenten vorzugswürdig. Siehe Voegelin, Neue Wissenschaft, S. 18, ferner ebd., S. 265 f. Eric Voegelin, Hitler und die Deutschen. Hg. von Manfred Henningsen, München 2006, S. 238. Der Text dieser Vorlesung wurde postum auf der Grundlage des Vorlesungsmanuskripts veröffentlicht. Ob Voegelin selbst den Text in dieser Form publiziert hätte, darf bezweifelt werden; jedenfalls hat er die Publikation nicht betrieben, obgleich er bereits einen Verlagsvertrag unterzeichnet hatte. In der Vorlesung rekurrierte er wiederholt auf Arendts Studie über Adolf Eichmann und die Banalität des Bösen. Ebd., S. 245.

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Eric Voegelin, Hannah Arendt und der Totalitarismus

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antwortlichen herrschenden Gruppen und Personen, wie auch das Verhalten der auf eine verzweifelte Situation reagierenden Opfer, aus dem Gesundheitsoder Krankheitszustand der Seelenordnung gedeutet werden« – aus der sich die Gesundheit oder Krankheit der Gesellschaft ergibt. Der Gesundheitszustand der Seelenordnung ist für Voegelin mithin eine letztlich ontologische, nicht etwa eine psychologische Kategorie, womit seine Darlegungen insoweit den Charakter einer Ontologie der Ethik annehmen.27 Dies konvergiert im Blick auf den Totalitarismus mit Voegelins provokativer Aussage, die er Hannah Arendt in seiner Rezension entgegenhält: »Die wahre Trennlinie in der gegenwärtigen Krise verläuft nicht zwischen Liberalen und Totalitären, sondern zwischen den religiösen und philosophischen Transzendentalisten auf der einen Seite und den liberalen und totalitären Immanentisten auf der anderen«.28 Mit den Immanentisten bezeichnet Voegelin 1953 die Vertreter immanentistischer Auffassungen, also dessen, was er in den Politischen Religionen als innerweltliche Religion bezeichnet hatte. Gegenüber den Formulierungen in den Politischen Religionen hat Voegelin seine Kritik am Immanentismus Anfang der 1950er Jahre verschärft und greift nun – wie gesehen – auch auf die Sprache der Pathologie zurück. Der Immanentismus gilt ihm als eine seelische Krankheit, als Deformation der transzendenzoffenen Vernunft. Charakteristisch für diese Sicht ist die folgende Passage aus seiner Rezension des Arendt’schen Totalitarismusbuches: »Wenn die geistige Krankheit das entscheidende Merkmal für die Unterscheidung der modernen Massen von denen früherer Jahrhunderte ist, dann würde man erwarten, dass die Untersuchung des Totalitarismus nicht in den Grenzen des institutionellen Zusammenbruchs nationaler Gesellschaften und des Wachstums der gesellschaftlich überflüssigen Massen erfolgt, sondern in denen der Genesis der geistigen Krankheit, besonders weil die Erwiderung auf den institutionellen Zusammenbruch klar die Merkmale der Krankheit trägt. Dann hätten die Ursprünge des Totalitarismus nicht in erster Linie im Schicksal des Nationalstaates und den damit einhergehenden gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen seit dem 18. Jahrhundert gesucht werden müssen, sondern eher im Aufkommen des immanentistischen Sektenwesens seit dem Hohen Mittelalter; dann wären die totalitären Bewegungen nicht einfach revolutionäre Bewegungen funktional entwurzelter Volksteile, sondern immanentistische Glaubensbewegungen, in denen mittelalterliche Häresien ihre Früchte getragen hätten«.29

Das in der Passage geforderte Programm für eine angemessene Erforschung des Totalitarismus, das er Arendts Totalitarismusdiagnose gegenüberstellt, hatte

27 28 29

Siehe dazu Michael Henkel, Eric Voegelin zur Einführung, 2., ergänzte Auflage Hamburg 2010, S. 147–153. Voegelin, Rezension, S. 50. Ebd., S. 48 f.

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Michael Henkel

Voegelin selbst zwischenzeitlich in der Neuen Wissenschaft der Politik entfaltet.30 In diesem Buch spielt auch die Deutung der menschlichen Natur eine zentrale argumentative Rolle. Sie bildet den Hintergrund für die diesbezügliche Position in der Auseinandersetzung mit Arendt, wenn er dieser vorwirft, der verfehlten und typisch modernen Vorstellung von der Veränderbarkeit der menschlichen Natur zu folgen.31 Gerade in dieser Vorstellung sieht Voegelin eine charakteristische und folgenreiche Verirrung modernen Denkens,32 die in den Greueltaten des Totalitarismus ihre verwerflichsten Auswüchse zeige. 4.

Die Moderne als Gnosis

Wenn Voegelin in der Neuen Wissenschaft die Natur des Menschen ausführlicher diskutiert, greift er in der Sache Überlegungen auf, die seine Perspektive bereits in den Politischen Religionen prägten, wenn er dort vom Erlebnis der menschlichen Kreatürlichkeit und der Teilhabe des Menschen am Stufenbau des Seins sprach. Was mit Blick auf die Bestimmung der menschlichen Natur 1938 mehr angedeutet als ausgeführt wurde, entfaltet Voegelin in der Neuen Wissenschaft unter Rückgriff insbesondere auf die Philosophie Platons und stellt es wie in den Politischen Religionen in einen umfassenden geschichtsphilosophischen Kontext, den er auf der Basis eines enorm ausgeweiteten geistesgeschichtlichen Materialstudiums entwickelt. Auch jetzt gilt Voegelin die Geistesgeschichte des Westens als Geschichte der sich in klassischer Philosophie und Christentum zunehmend differenzierenden Einsicht in die Humanität des Menschen einerseits und die im Mittelalter beginnende progressive Verdunkelung und Zerstörung dieser Einsicht in der Durchsetzung der Gnosis andererseits. Das Konzept der Gnosis, mit dem in der Religionsgeschichte bestimmte spätantike (Sekten-) Bewegungen bezeichnet werden,33 entfaltet Voegelin als geschichtsphilosophischen Typenbegriff. Mit diesem fasst er Auffassungen, die ihm nicht allein für jene religiösen Sekten als bestimmend gelten. Vielmehr sind sie ihm zufolge für eine Vielzahl historischer Weltanschauungen und Denkweisen charakteristisch, die seit der Spätantike aufgetreten sind. Weil sich Voegelins Überzeugung zufolge die so verstandene Gnosis im Laufe der Jahrhunderte zur schließlich dominanten Weltauffassung entwi30 31 32 33

Siehe zur Geschichte dieses Werkes Peter J. Opitz, Eric Voegelins The New Science of Politics. Kontexte und Konturen eines Klassikers, München 2003 [http://eric-voegelin-gesellschaft. de/ files/user/pdfs/voegeliana/op_40.pdf]. Siehe Voegelin, Rezension, S. 49 f. »Die Vorstellung vom ›Ändern der Natur des Menschen (oder wessen auch immer)‹ zu konzipieren, ist ein Symptom des geistigen Zusammenbruchs der westlichen Kultur« (ebd., S. 50). Siehe Kurt Rudolph, Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion, 4., durchgesehene Auflage Göttingen 2005; Barbara Aland, Die Gnosis, Stuttgart 2014; Eric Voegelin, History and Gnosis. In: Bernhard W. Anderson (Hg.), The Old Testament and Christian Faith. Essays by Rudolf Bultmann and others, London 1964, S. 64–89.

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Eric Voegelin, Hannah Arendt und der Totalitarismus

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ckelt, gilt ihm die Moderne selbst als vom gnostischen Geist bestimmt. Demnach besteht »das Wesen der Modernität im Anwachsen des Gnostizismus«.34 Ohne das Gnosiskonzept oder das von Voegelin behandelte historische Material und dessen geschichtsphilosophische Deutung im Einzelnen nachzuzeichnen,35 lässt sich der Kern der diesbezüglichen Argumentation wie folgt umreißen: Die Geistesgeschichte zeigt im Aufstieg der klassischen Philosophie und im Christentum die Ausdifferenzierung der menschlichen Erkenntnis des Seins. Der Ausdifferenzierungsprozess ist wesentlich ein Prozess der Auslegung menschlicher Erfahrungen, in denen sich die Einsicht in die Struktur des Seins zunehmend entfaltet. Sie erreicht ihren nicht einholbaren Höhepunkt in der Erfahrung und Deutung der Transzendenz, also in der Erfahrung und Deutung des transzendenten Gottes. Diese Erfahrung ist zugleich eine Selbsterkenntnis des Menschen, in der dieser um seine Teilhabe an der transzendenten Dimension des Seins weiß: »Die Wahrheit des Menschen und die Wahrheit Gottes sind unlösbar eines«.36 Damit entfaltet sich für den erfahrungsoffenen Menschen der vollständige Ausblick auf den Stufenbau des Weltgebäudes (vom Atom über die belebte Natur und den Geist bis hin zu Gott) und erfährt sich selbst als Wesen, das vermittels seiner Seele oder seiner Vernunft an allen Stufen dieses Seins Anteil hat.37 Die entsprechenden Erfahrungen artikulieren sich im Christentum, das den Hintergrund der in der Neuen Wissenschaft dargelegten Einsichten abgibt. Explizit etwa spricht Voegelin von der »letzte[n] Klarheit über die conditio humana, die das Christentum gebracht«38 habe. Die Selbsterkenntnis des Menschen im Sinne einer Einsicht in seine eigene Natur hat Voegelin zufolge eine Reihe von Konsequenzen. Sie bedeutet namentlich die Erfahrung einer Dimension des Unverfügbaren, die für die Menschen 34 35

36 37

38

Voegelin, Neue Wissenschaft, S. 183. Siehe zum Gnosiskonzept Voegelins pointiert Eric Voegelin, Gnostische Politik. In: Merkur, 6 (1952), S. 301–317. Aus der Literatur etwa Peter J. Opitz, Die Gnosis-These. Anmerkungen zu Eric Voegelins Interpretation der westlichen Moderne. In: Eric Voegelin, Der Gottesmord. Zur Genese und Gestalt der modernen politischen Gnosis, hg. und eingeleitet von Peter J. Opitz, mit einem Nachwort von Thomas Hollweck, München 1999, S. 7–35; Dante Germino, Eric Voegelin on the Gnostic Roots of Violence, München 1998 [http://www. gsi. uni-muenchen. de/forschung/forsch_zentr/voegelin/publikationen/papers/op_7.pdf]; Hans Otto Seitschek, Exkurs: Eric Voegelins Konzept der »Gnosis«. In: Hans Maier (Hg.), Totalitarismus und Politische Religionen, Band III, Paderborn 2003, S. 237–245; Henkel, Voegelin zur Einführung, S. 95–115. Voegelin, Neue Wissenschaft, S. 106. Voegelins Überlegungen werfen nicht zuletzt die Frage auf, inwiefern sich die Menschen der entsprechenden Einsichten tatsächlich bewusst sind bzw. bewusst zu sein brauchen, wenn sie in seinem Sinne zur Transzendenz hin offen sind und sich insbesondere zum Christentum bekennen. Die hierin liegende Problematik hat Voegelin in späteren Jahren intensiv beschäftigt, kann aber an dieser Stelle beiseitegelassen werden. Voegelin, Neue Wissenschaft, S. 120. Voegelins Verständnis des Christentums ist geprägt von einer platonischen Sichtweise.

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Michael Henkel

stets mit Ungewissheiten verknüpft bleibt.39 Ferner beinhaltet sie die (bereits von der klassischen Philosophie eines Platon und Aristoteles herausgestellte) Erkenntnis, dass das entscheidende Maß allen menschlichen Handelns Gott sei.40 Hieraus resultiert Voegelin zufolge auch die Rationalität menschlichen Denkens und Handelns, die sich in dem Maße ergibt, als Denken und Handeln der Seinsstruktur entsprechen. Im Vorwort zur deutschen Übersetzung der Neuen Wissenschaft fasst er dies zusammen: »Die Ratio des Menschen, und mit ihr die Ordnung seiner Seele, konstituiert sich durch seine Teilhabe, seine participatio an der welt-jenseitigen, göttlichen Ratio. [...] Unter Rationalität ist daher die Anerkennung der Seinsverfassung zu verstehen; unter Irrationalität jeder Versuch, Teile der Seinsverfassung von der Betrachtung auszuschließen oder ihre Existenz zu bestreiten«.41 Für jene Irrationalität steht dem Voegelin der Neuen Wissenschaft zufolge der Begriff der Gnosis. Mit dem Christentum erfolgte die Entzauberung oder die von Voegelin so bezeichnete »De-Divinisation« der Welt, indem durch den transzendenten Gott die heidnischen Götter als Nicht-Götter entlarvt wurden und indem die Transzendenz Gottes zugleich die Immanenz der säkularen Welt überhaupt erst ermöglichte. So etablierte sich im Rahmen des Christentums der Dualismus der spiritualen und der temporalen Ordnung, der auch den Dualismus repräsentativer Institutionen nach sich zieht, nämlich den von Kirche und weltlicher Macht. Wie in den Politischen Religionen betont Voegelin diesen Punkt auch in der Neuen Wissenschaft.42 In klarer Parallele zum Konzept der innerweltlichen Religion bedeutete der Gnostizismus für Voegelin die Abkehr von der Transzendenz und die Wiedervergöttlichung, die »Re-Divinisation« der Welt. Mit ihr geht der Zusammenbruch des Dualismus von spiritualer und temporaler Sphäre zugunsten eines innerweltlichen oder immanentistischen Monismus einher. Die Re-Divinisation umfasst nicht zuletzt auch die säkulare Umdeutung der christlichen Erlösungsvorstellung. Anders als in der christlichen Lehre erfährt der Mensch demnach in der Gnosis Erlösung nicht durch den transzendenten Gott und im Jenseits, sondern er gilt als der Erlösung bereits im Diesseits, in der immanenten Welt – und das heißt: in der Geschichte – fähig.43 Sah das Christentum den Sinn der irdischen Geschichte im Jenseits und waren entsprechende eschatologische Vorstellungen auf die jenseitige Welt gerichtet, so verlegt die Gno-

39 40 41 42 43

»Ungewissheit ist das eigentliche Wesen des Christentums« (ebd., S. 178). Siehe dazu auch ebd., S. 108. Ebd., S. 16. Siehe ebd., S. 156–162. Das heißt: Die Gnosis verlegt den Sinn der Geschichte in die immanente Geschichte, siehe ebd., S. 177, 188.

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Eric Voegelin, Hannah Arendt und der Totalitarismus

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sis Voegelin zufolge das Ziel bzw. den Sinn (eidos) der Geschichte in die immanente Welt. Und in dem Maße, in dem gnostische Vorstellungen die immanente Welt des Menschen als gerichtete, auf ein immanentes Ziel zulaufende Geschichte begreifen, kann auch die Konzeption einer Selbsterlösung des Menschen als zivilisatorisches Unternehmen Platz greifen: »Die gnostische Spekulation überwand die Ungewissheit des Glaubens dadurch, dass sie sich von der Transzendenz abwandte und den Menschen in seinem innerweltlichen Handlungsbereich mit dem Sinn einer eschatologischen Erfüllung ausstattete. In demselben Ausmaß, in dem diese Immanentisierung erlebnismäßig voranschritt, wurde die zivilisatorische Betätigung zu einem mystischen Werk der Selbsterlösung«.44 Hier eröffnet sich für Voegelin der Ausblick auf eine Art Dialektik der zivilisatorischen Entwicklung, indem er nämlich feststellt, dass die Geschichte innerhalb des Abstiegsprozesses zugleich einen zivilisatorischen Aufstieg – im Sinne namentlich eines technisch-wissenschaftlichen Fortschritts – zeigt. Der Fortschritt stellt sich dabei als direktes Resultat des gnostischen Strebens nach immanenter Selbsterlösung oder der Schaffung eines irdischen Paradieses dar. Für das Verständnis des Totalitarismus bedeutet dies, dass er mit einem technisch-wissenschaftlichen Fortschritt durchaus vereinbar erscheint – ein Aspekt, den Voegelin allerdings nicht vertieft. Entscheidend bleibt für ihn, dass die Gnosis dominiert und sich letztlich selbst – in quasi apokalyptischer Weise – zerstören muss – was das Schicksal des Nationalsozialismus gerade bestätigt hatte: »Der Tod des Geistes ist der Preis des Fortschritts. Nietzsche offenbarte dieses Mysterium der westlichen Apokalypse, als er verkündete, dass Gott tot, und dass er ermordet worden sei. Dieser gnostische Mord wird ständig von Menschen begangen, die Gott der Zivilisation zum Opfer bringen. Je intensiver alle menschlichen Energien in das große Unternehmen der Erlösung durch weltimmanentes Handeln geworfen werden, desto mehr entfernen sich diejenigen, die an diesem Unternehmen mitwirken, vom Leben des Geistes. Und da das Leben des Geistes die Quelle der Ordnung im Menschen und in der Gesellschaft ist, liegt gerade im Erfolg einer gnostischen Zivilisation die Ursache ihres Verfalls. Eine Zivilisation kann also in der Tat gleichzeitig im Aufstieg und Niedergang begriffen sein – aber nicht für immer. Es gibt eine Grenze, auf die sich dieser zweideutige Vorgang hinbewegt. Diese Grenze wird erreicht, wenn eine aktivistische Sekte, welche die gnostische Wahrheit repräsentiert, die Zivilisation in einem von ihr beherrschten Reich organisiert. Der Totalitarismus als existentielle Herrschaft gnostischer Aktivisten ist die Endform der progressiven Zivilisation«.45

Der Gottesmord, das heißt: die Ausblendung und schließliche Leugnung der Transzendenz, bedeutet für Voegelin einen Angriff auf die Natur des Menschen, denn die Transzendenzverbundenheit ist eine für sie unverzichtbare Dimension.46 Im Bewusstsein dieser Transzendenzverbundenheit, in der Transzenden-

44 45 46

Ebd., S. 187 f. Ebd., S. 190 f. »Die Erfahrungen der Transzendenz [...] [gehören] zur Natur des Menschen« (ebd., S. 229).

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zerfahrung besteht die volle Einsicht in die Fülle der menschlichen Existenz. Und verbunden damit ist die Einsicht in die Würde des Menschen als Mensch.47 Das Verschließen gegenüber der Transzendenz und die Ersetzung der Transzendenzoffenheit durch das Projekt innerweltlicher Selbsterlösung ist das Resultat eines langen geistesgeschichtlichen Prozesses, der mit dem Triumph des Gnostizismus zu einer Verdunkelung der Einsicht in die wahre Natur des Menschen führt. Voegelin hatte sich in den Politischen Religionen wie in der Neuen Wissenschaft zur Aufgabe gemacht, diesen Prozess offenzulegen. Dazu setzte er sich mit einer Vielzahl von philosophischen, theologischen und weltanschaulichen Entwürfen auseinander. Deren Interpretation macht den größten Teil der Studien aus. Dementsprechend finden sich in den Arbeiten mehr oder weniger umfangreiche Passagen beispielsweise über Joachim von Fiore, Thomas Morus, Thomas Hobbes, den Marquis de Condorcet, Auguste Comte, Karl Marx, Friedrich Nietzsche oder den NS-Dichter Gerhard Schumann und andere als Repräsentanten des immanentistischen Geistes. Die politische Geschichte stellt sich in Voegelins Arbeiten daher vornehmlich als Geschichte von Gedankengebäuden und philosophischen Entwürfen dar, als »Ideengeschichte« oder Ideologiegeschichte. Und aus den Behauptungen heraus, die Voegelin in den intellektuellen Entwürfen erkennt, leitet er mehr oder minder direkt die politische Entwicklung ab oder begründet letztere doch mit dem Hinweis auf die Inhalte jener Entwürfe. Besonders an diesem Punkt setzte Hannah Arendts Replik auf Voegelins Besprechung des Totalitarismusbuches an, die denn auch zu einer ebenso konzisen wie gehaltvollen Gegenkritik an Voegelins eigenen Vorstellungen geriet.

III. Voegelins Ansatz im Lichte der Arendt’schen Einwände In ihrer Antwort auf Voegelins kritische Bemerkungen erläutert Arendt die Bedeutung, die nach ihrer Auffassung der Ideologie im Zusammenhang mit der Erklärung der totalitären Herrschaft beizumessen ist. Sie hebt dabei hervor, dass die Ideologie oder das ideologische Denken eine wichtige Rolle für das Selbst- und Weltverständnis des Totalitarismus spielt, stellen sich die Handlungen der totalitären Akteure doch als logische Resultate der ideologischen Welterklärung dar. Gerade die logische Zwanghaftigkeit des ideologischen Denkens gilt Arendt als Grund totalitärer Aggressivität und als ein wichtiger Aspekt der totalitären Wirklichkeitsverachtung.48 Insoweit stimmt Arendt hier de facto mit den Diag47 48

Siehe Voegelins Darlegungen zu Xenophanes und Platon ebd., S. 106. »Ideologien sind harmlose, unkritische und willkürliche Meinungen nur so lange, wie nicht ernsthaft an sie geglaubt wird. Wenn ihr Anspruch auf totale Geltung wörtlich genommen wird,

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Eric Voegelin, Hannah Arendt und der Totalitarismus

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nosen Voegelins überein, für den die innerweltlich-religiösen bzw. gnostischen Ideologien eine Realitätsverweigerung darstellen; eine Realitätsverweigerung, der die Konstruktion einer ideologischen, einer zweiten Realität entspricht.49 Und doch weist Arendt die von ihr auch bei Voegelin erkannte Vorstellung zurück, man könne die totalitäre Herrschaft, namentlich den Nationalsozialismus und den Stalin’schen Kommunismus, aus bestimmten intellektuellen Entwürfen ableiten und ihre Entstehungsgeschichte als unmittelbaren Ausfluss einer intellektuellen Geschichte begreifen. Ein solcher Ansatz müsse zwangsläufig zu allgemein und grob argumentieren und verfehle stets die spezifischen Umstände und historischen Situationen, die zur jeweiligen Ausprägung des Totalitarismus führen: »Verwandte Züge des Totalitarismus und einiger anderer Trends in der abendländischen politischen und Geistesgeschichte sind häufig so beschrieben worden. Doch ist es, meiner Meinung nach, dabei nicht gelungen, die Besonderheit dessen, was tatsächlich geschah, aufzuzeigen. Weit entfernt davon, eine wesensmäßige Gleichheit zu ›verdunkeln‹, sind die ›Unterschiede in der Erscheinung‹ jene Phänomene, die den Totalitarismus ›totalitär‹ machen, die diese eine Staatsform und diese eine Bewegung von allen anderen unterscheiden und deshalb allein uns helfen können, dessen Wesen zu finden. Was im Totalitarismus noch nie dagewesen ist, ist nicht in erster Linie sein ideologischer Inhalt, sondern das Ereignis der totalitären Herrschaft selbst«.50

Was Arendt auf dieser Argumentationslinie der Geschichts- und der Politikwissenschaft allgemein vorhält, ist im konkreten Zusammenhang besonders auf Voegelin gemünzt: »Mein hauptsächlicher Streitpunkt mit den historischen und politischen Wissenschaften auf ihrem gegenwärtigen Stand [ist] ihre wachsende Unfähigkeit, Unterscheidungen zu treffen. Begriffe wie Nationalismus, Imperialismus, Totalitarismus etc. werden unterschiedslos für alle möglichen Arten von politischen Erscheinungen [...] gebraucht, und für keine von ihnen wird mehr der besondere historische Hintergrund berücksichtigt. Das Ergebnis ist eine Generalisierung, in der die Worte selbst all ihren Sinn verlieren«.51 Es liegt auf der Hand,

49

50 51

werden sie zu Zellkernen von logischen Systemen, in denen – wie in den Systemen der Paranoia – alles verständlich, ja sogar zwingend folgt, wenn erst einmal die erste Prämisse akzeptiert wird. Der Irrsinn solcher Systeme liegt nicht nur in ihrer ersten Prämisse, sondern in dem spezifischen logischen Zwang, mit dem sie konstruiert sind. Die seltsame logische Zwanghaftigkeit aller Ismen, ihr einfältiges Vertrauen in den Heilswert von sturer Verehrung ohne Berücksichtigung von spezifischen, sich verändernden Faktoren, birgt bereits die ersten Keime totalitärer Verachtung für die Wirklichkeit und Tatsächlichkeit in sich« (Arendt, Abschließende Bemerkungen, S. 19). Der Begriff der Realitätsverweigerung ist für Voegelin von zentraler Bedeutung. Die Realitätsverweigerung korreliert mit der Konstruktion einer »zweiten Realität« oder »Traumrealität«, die an die Stelle der umfassenden Realität gesetzt wird, ohne aber dass sich letztere dadurch in ihrer Eigenart änderte. Siehe dazu Voegelin, Gnostische Politik, S. 304–310. Arendt, Antwort, S. 56 f. Ebd., S. 59.

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dass auch die Begriffe der innerweltlichen politischen Religion und der Gnosis generalisierende Konzepte darstellen, die die Unterschiede der historischen Erscheinungen mehr oder weniger wirksam verwischen. In dieser Perspektive muss Arendt auch die Voegelin’schen Gleichsetzungen zurückweisen, die dieser zwischen allen möglichen modernen politischen, philosophischen oder weltanschaulichen Strömungen wie Humanismus, aufklärerischem Fortschrittsdenken, Positivismus, Pragmatismus, Liberalismus, Sozialismus, Nationalsozialismus usw. vornimmt. Ausdrücklich fordert sie angesichts der von Voegelin vorgenommenen pauschalen Identifizierungen die Einführung »schärfere[r] Unterscheidungslinien«.52 Mit Blick auf solche genaueren Differenzierungen kommt man aus Arendts Perspektive nicht umhin, jenseits von geisteshistorischen Diagnosen auch auf die geschichtlichen Tatsachen zu blicken. Für Voegelin stellen diese lediglich Oberflächenphänomene dar, welche eine angemessene Erkenntnis moderner Politik nicht erlauben, während sie für Arendt gerade um einer solchen Erkenntnis willen nicht von der Betrachtung geistesgeschichtlicher Tiefenphänomene losgelöst werden können. Daher blieb für sie unzweifelhaft, »dass Liberale eindeutig nicht totalitär sind«.53 Das Insistieren auf der Berücksichtigung der konkreten geschichtlichen Tatsachen und Ereignisse – und damit auch: der sozialen und politischen Institutionen – führt Arendt zur Skepsis gegenüber Voegelins geistesgeschichtlichen Genealogien und gegenüber der Vorstellung, dass sich der Totalitarismus aus einer über Jahrhunderte sich vollziehenden »Enthüllung« und Durchsetzung bestimmter Denkweisen ergeben habe. Und schließlich steht Arendt äußerst distanziert zu Voegelins religiösen Deutungen. Explizit weist sie das Konzept der politischen Religionen zurück; und ohne dass sie es hier ausdrücklich erwähnt, umfasst die entsprechende Kritik auch Voegelins Gnosisverständnis.54 Sie äußert in diesem Zusammenhang die Befürchtung, dass der Rekurs auf Religion zur Heilung der modernen Verwüstungen ein problematisches Religionsverständnis beinhalte und in der Sache sogar ein blasphemisches Gottesbild befördere, wonach Religion auf ihre Funktion für die Politik reduziert und nach Gott nur gefragt werde, soweit er der je eigenen Sache dienlich sei. Voegelin mache sich der entsprechenden Missgriffe zwar nicht schuldig, aber seine Thesen über die politischen Religionen wären letztlich allenfalls imstande, gewissermaßen notwendige Bedingungen zur Erklärung des Totalitarismus zu liefern, ohne aber dessen Entstehen und Eigenart hinreichend oder »positiv« qualifizieren zu können. In diesem Sinne hatte Arendt 52 53 54

Ebd., S. 57. Siehe dazu besonders auch ebd., S. 59. Ebd. Siehe dazu Arendt, Religion und Politik, S. 309, 423.

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Eric Voegelin, Hannah Arendt und der Totalitarismus

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im Brief an Voegelin vom 22. April 1951 geschrieben: »Der Zerfall der christlichen Zivilisation ist für mich der Rahmen, in welchem sich die gesamte moderne Geschichte abspielt, und das heißt für mich, die ich keine Christin bin, das Gute sowohl wie das Böse. Aber selbst wenn ich den christlichen Standort akzeptieren könnte [...], wäre mir dieser Rahmen zu weit gespannt, um ein so spezifisches Phänomen wie die totalitären Bewegungen und Herrschaftsformen zu erklären«. Arendt bringt hier zum Ausdruck, dass der Voegelin’sche Ansatz vielleicht als eine Theorie von Interesse sein kann, die geistesgeschichtliche Kontexte oder eben einen geistesgeschichtlichen Rahmen für die politischen Entwicklungen aufzuweisen vermag, aber als eine solche Theorie für die Erklärung und Charakterisierung des Totalitarismus zu unspezifisch ist. Die kritische Sicht Arendts auf Voegelins Ansatz wird in der Sache von der historischen Forschung weitgehend bestätigt. Dort wurde nämlich seit den 1990er Jahren das Konzept der politischen Religionen als totalitarismustheoretisches Konzept insbesondere zur Erklärung des Nationalsozialismus, aber auch mit Blick auf die kommunistische Herrschaft in Osteuropa, wiederholt aufgegriffen.55 In der Regel hat man dabei den Begriff der politischen Religion aber in einem jedenfalls gegenüber Voegelins Ansatz eingeschränkten Sinne als sozialpsychologische und phänomenologische Kategorie gedeutet. So lassen sich unter dem Begriff der politischen Religion zwar einerseits die unzweifelhaft vorhandenen religionsähnlichen Phänomene totalitärer Herrschaft – wie etwa die Bedeutung von Ritualen oder der alle Lebensbereiche umfassende Anspruch sowohl von Religion als auch von totalitären Regimen56 – fassen, doch fand andererseits der viel umfassendere Erklärungsanspruch des Voegelin’schen Konzeptes keine Bestätigung. Jedenfalls neigt die überwiegende Zahl derjenigen Historiker, die der Frage nachgegangen sind, zu der Auffassung, dass der Begriff der innerweltlichen politischen Religion weder dem Regime des Nationalsozialismus noch dem des Kommunismus angemessen sei.57 55

56 57

Siehe dazu die ausführliche Debatte in den drei von Hans Maier herausgegebenen Bänden »Totalitarismus und Politische Religionen« sowie Kristian Klinck, Die Totalitarismustheorie Eric Voegelins, Diss. FU Berlin 2009, wo (S. 268–276) der Versuch einer »Vermittlung« zwischen Voegelins und Arendts Ansatz unternommen wird, den der Autor allerdings nur »auf der Handlungsebene«, nicht »auf der philosophischen Ebene« (S. 271) für möglich hält. Siehe Maier, Konzepte, S. 244. Siehe etwa Hans Mommsen, Nationalsozialismus als politische Religion. In: Hans Maier (Hg.), Totalitarismus und Politische Religionen, Band II, Paderborn 1997, S. 173–181; Günter Hockerts, War der Nationalsozialismus eine politische Religion? Über die Chancen und Grenzen eines Erkenntnismodells. In: Hildebrand (Hg.), Zwischen Politik und Religion, S. 45–71. Arendt vertritt letztlich die Auffassung, dass der Begriff der (politischen) Religion zur Charakterisierung totalitärer Regime prinzipiell nicht geeignet ist; siehe Arendt, Religion und Politik, S. 308–318; dies, Antwort, S. 58 f. In diesem Sinne auch Hans Buchheim, Despotie, Ersatzreligion, Religionsersatz. In: Maier (Hg.), Totalitarismus und Politische Religionen, Band I, S. 260– 263. Hier wäre in der Tat daran zu erinnern, dass nicht alles, was die Form der Religion hat,

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So fand das Konzept der politischen Religionen zwar eine breitere Rezeption, konnte sich aber als Forschungskonzept nur in einer sozialpsychologisch reduzierten Lesart durchsetzen, blieb aber auch in dieser Hinsicht umstritten. Voegelins Gnosiskonzept dagegen wurde von der historischen Forschung gar nicht aufgegriffen, ungeachtet des Umstandes, dass man bisweilen nach Parallelen und Einflüssen suchte, die sich zwischen der (historischen) Gnosis und namentlich dem Nationalsozialismus ausmachen lassen. Voegelins umfassender Ansatz blieb indes randständig; vermutlich deshalb, weil sein Gnosiskonzept – ganz im Sinne der Arendt’schen Einwände – als zu allgemein und unspezifisch angesehen wird. Voegelins Arbeiten blieben so jenseits der Auseinandersetzung mit dem in der Regel reduktionistisch rezipierten Begriff der politischen Religionen ohne größere Resonanz. Fragt man vor diesem Hintergrund danach, worin der Wert des Voegelin’schen Ansatzes in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus bestehen kann, lässt sich an den Hinweis Arendts anknüpfen, dass Voegelins Überlegungen einen »Rahmen« für die historische und politikwissenschaftliche Erforschung totalitärer Herrschaft abgeben könnten.

IV. Totalitarismus, Liberalismus und die Frage nach der Natur des Menschen: Voegelin’sche Perspektiven Tatsächlich lässt sich hier ein zumindest heuristischer Wert der Voegelin’schen Studien für die Erforschung des Totalitarismus sehen. Dazu gilt es zunächst, Voegelins Ansatz angemessen einzuordnen. Seine Studien über die politischen Religionen bzw. die Moderne als Gnosis stellen nämlich nicht so sehr eine Totalitarismustheorie und schon gar nicht eine historische Diagnose bestimmter totalitärer Regime dar. Das wird bereits daran deutlich, dass der Begriff des Totalitarismus für Voegelin – wie erwähnt – kein theoriekonstitutives Konzept ist. Vielmehr bewegen sich seine Überlegungen auf einer ganz anderen Ebene der Diagnose als beispielsweise die Totalitarismusstudien Arendts oder Friedrichs und Brzezinskis. Man wird sie angemessen als Metatheorie des Totalitarismus, genauer als geschichtsphilosophische, anthropologische und anthropo-theologideshalb schon Religion ist. Ungeachtet der skeptischen Beurteilungen des Konzeptes spricht z.B. Hans Maier dessen Fruchtbarkeit für die Forschung das Wort, so etwa Hans Maier, »Politische Religionen« – Möglichkeiten und Grenzen eines Begriffs. In: ders. (Hg.), Totalitarismus und Politische Religionen, Band II, S. 299–310. Als angemessen greift das Konzept auf: Klaus Vondung, Von der völkischen Religiosität zur politischen Religion des Nationalsozialismus: Kontinuität oder neue Qualität. In: Uwe Puschner/Clemens Vollnhals (Hg.), Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, Göttingen 2012, S. 29–41. Zur Diskussion um das Konzept der politischen Religionen siehe auch Detlef Schmiechen-Ackermann, Diktaturen im Vergleich, Darmstadt 2002, S. 49–55.

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Eric Voegelin, Hannah Arendt und der Totalitarismus

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sche Metatheorie des Totalitarismus kennzeichnen müssen. In diesen Dimensionen – mit Blick auf die Frage der geschichtlichen Situation und auf die Frage nach dem Menschsein des Menschen – erweist sich Voegelins Ansatz als eine kritische Anfrage an die Totalitarismusforschung, die in dieser Anfrage auch Hinweise auf eigene Desiderate erhalten mag. Hierzu seien abschließend einige Gedanken formuliert. Während die klassische Totalitarismustheorie die totalitäre Herrschaft explizit oder implizit als Gegenbild zur liberalen Staats- und Gesellschaftsordnung gesehen hat, insistiert Voegelin darauf, dass sowohl der Sozialismus/Kommunismus als auch der Nationalsozialismus Kinder des liberalen Zeitalters sind und auch genealogisch den gleichen Stammbaum haben wie der Liberalismus. Voegelin tut dies in der Absicht auszuweisen, dass der Liberalismus selbst keineswegs von sich aus in einem prinzipiellen Gegensatz zur totalitären Herrschaft stehen muss. Hannah Arendt pflichtet Voegelin diesbezüglich in Teilen durchaus bei, wenn sie konzediert, dass »auch liberale [...] Elemente sich zu totalitärem Denken eignen«.58 Damit scheint Arendt allerdings die Auffassung nahezulegen, dass das Umschlagen liberaler Elemente in totalitäres Denken im Grunde einen Missbrauch dieser Elemente bedeutet, der dem Liberalismus als solchem nicht anzulasten wäre. Über eine solche Sicht aber geht Voegelin hinaus, wenn er dem Liberalismus als solchem von allem Anfang totalitäre Tendenzen zuschreibt. Voegelins Überlegungen stellen so vor die provozierende Frage, wann und wo Liberalismus totalitär wird – eine Frage, deren Aktualität für die Gegenwart kaum von der Hand zu weisen ist: In dem Jahrzehnt, in dem Arendt ihre Totalitarismusstudie und Voegelin seine Neue Wissenschaft veröffentlichten, erörterte Aldous Huxley die Möglichkeit einer totalitär gewordenen liberalen Gesellschaft. Er tat dies vor dem Hintergrund der literarischen Gesellschaftsdarstellung, die er zu Beginn der 1930er Jahre in seinem (anti-)utopischen Roman Brave New Word gezeichnet hatte. In seiner Studie Brave New World Revisited von 1959 konstatierte er nun, dass sich die liberale Konsum- und Mediengesellschaft genau in die totalitäre Richtung bewege, die sein Roman vorweggenommen hatte: »Zwar erfreuen sich die Menschen im Westen vereinzelt noch immer eines großen Maßes an Freiheit. Aber auch in denjenigen Ländern, die seit jeher demokratisch regiert werden, scheint diese Freiheit und sogar das Verlangen danach im Schwinden zu sein. [...] Der Alptraum totaler Organisation [...] ist aus der ungefährlich fernen Zukunft herausgetreten und erwartet uns nun unmittelbar vor unserer Tür«.59 58 59

Arendt, Antwort, S. 57. Arendt kann dabei beispielsweise daran gedacht haben, dass der Imperialismus in seiner britischen Spielart durchaus eine liberale (»bourgeoise«) Wurzel hat. Siehe dazu Arendt, Elemente und Ursprünge, Neuausgabe, S. 308–331. Aldous Huxley, Wiedersehen mit der Schönen neuen Welt, 3. Auflage München 1994, S. 10.

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In Zeiten, in denen sich eine gendiagnostisch optimierte Reproduktionsmedizin durchzusetzen beginnt, in der Kinder zur Leistungssteigerung oder auch zur Disziplinierung routinemäßig mit Pharmaka versorgt werden, in der sich nicht-utilitäre Lebensformen wie die natürliche Familie unter dem Banner individueller Selbstverwirklichung einer aggressiven Diffamierung und einer staatlich beförderten Zerstörung ausgesetzt sehen, in der die Menschen zu »gläsernen Kunden« und zu Objekten umfassender Beobachtung und Überwachung werden oder in der Abweichungen vom öffentlich proklamierten Konsens in gesellschaftspolitischen Fragen zunehmend mit sozialer Ächtung belegt werden; in solchen Zeiten ist die Wirklichkeit von der dystopischen Fiktion Huxleys immer weniger zu unterscheiden.60 Schiebt man solche Diagnosen der Gegenwartsgesellschaft nicht mit dem Hinweis beiseite, hier handle es sich lediglich um kaum rechenschaftsfähige, ressentimentgeladene Kulturkritik, zeigt sich auch sogleich, dass hinter alledem durchaus die Frage nach der Natur des Menschen steht. An wenigen Beispielen sei dies angedeutet: Keineswegs ist das Projekt der Schaffung eines »neuen Menschen« mit dem Zusammenbruch der totalitären Regime des Nationalsozialismus und des Realsozialismus aufgegeben worden. Mögen der »arische Mensch«, der »sozialistische Mensch« ebenso wie andere Visionen »neuer« Menschen heute weitgehend ad acta gelegt sein, so schickt sich jetzt etwa unter dem Banner des »Transhumanismus« eine weitere Bewegung an, die Schaffung eines »neuen Menschen« ins Werk zu setzen.61 Bereits der Titel dieser Strömung verweist auf die Frage, die Voegelin mit Arendt diskutierte, nämlich ob die Natur des Menschen veränderbar sei. Wie immer man die Antwort hierauf geben mag, sei es in der dezidierten Weise wie Voegelin oder in der eher skeptischen Weise wie Arendt – dass man der Frage als solcher nicht aus dem Weg gehen kann, liegt auf der Hand. Dies gilt vor dem Hintergrund der immer wieder zutage tretenden totalitären Tendenzen des Projekts, den »neuen Menschen« zu schaffen gerade angesichts der neuen Horizonte des Machbaren, die durch die Genforschung und Biotechnologie eröffnet werden.62 60

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Dies hat mit Blick insbesondere auf die Bedeutung der Medien in jüngerer Zeit Neil Postman neuerlich betont, siehe Neil Postman, Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt a. M. 1985. Siehe auch ders., Technopol. Die Macht der Technologien und die Entmündigung der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1992. Siehe dazu Michael Reuß, Ein transhumanistisches Utopia? In: Ulrich Arnswald/Hans-Peter Schütt (Hg.), Thomas Morus’ Utopia und das Genre der Utopie in der politischen Philosophie, Karlsruhe 2010, S. 215–225. Die Rede vom Menschen, der sich selbst zum Gott erhebt, hat angesichts der Entwicklungen in der Biotechnologie und der sog. KI-Forschung an Dramatik gegenüber früheren Zeiten zweifellos gewonnen. »Der neue Mensch ist [...] in der Tat, wie Nietzsches Übermensch, der Mensch, der sich selbst zum Gott macht«. Eric Voegelin, Wissenschaft, Politik und Gnosis, München 1959, S. 78. Zu den totalitären Tendenzen verschiedener Vorstellungen vom »neuen

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Der Rekurs auf die Menschenrechte, die uns vor Fehlentwicklungen schützen sollen, wird hier keineswegs »von sich aus« weiterhelfen. Soll die Berufung auf Menschenrechte jenseits der (ihrerseits niemals kontextfreien) juristischen Dogmatik keine abstrakte Leerformel bleiben, ist die Frage nach dem Menschen und demjenigen, was ihn ausmacht, längst gestellt. Eric Voegelins Beharren darauf, dass der Mensch an allen Bereichen des Seins teilhat, kann hier zum Prüfstein dafür werden, ob die Rede von Menschenrechten mehr ist als eine Formel, die dazu dient, Realitäten auszublenden und kritische Nachfragen auszuschließen. Dabei mag sich dann der Kreis schließen, indem man sich vor die Frage gestellt sehen wird, ob die liberale Staats- und Gesellschaftsordnung der Gegenwart ihrerseits nicht bereits totalitäre Tendenzen und Züge aufweist. Immerhin ist es erstaunlich, dass bezüglich der Frage nach der Natur des Menschen heute die »konstruktivistische« Antwort weithin als verbindlich gilt, der Mensch habe gar keine Natur. Diese Auffassung steht etwa hinter manchen Deutungen des Gender-Begriffs, die der Auffassung das Wort reden, man könne sein Geschlecht im Grunde beliebig wählen. Aus der Perspektive der Voegelin’schen Konzeption wird hier rasch erkennbar, dass die Leugnung etwa der biologisch-leiblichen Existenz des Menschen einen ebenso problematischen Reduktionismus darstellt wie die umgekehrte Reduktion des Menschen allein auf seine biologische Natur. Hannah Arendt blieb gegenüber der Rede von dem Menschen bekanntlich skeptisch; sie betonte, dass Menschen immer im Plural vorkommen, und so war sie auch bei der Frage nach der Eigenart des Totalitarismus primär interessiert am Geschehen zwischen den Menschen.63 Voegelin wollte des ungeachtet die Frage nach dem Menschsein des Menschen nicht aufgeben und hielt sie als Grundlage und Horizont gerade des Nachdenkens über den Totalitarismus für vordringlich. Zwischen seiner Sichtweise und der Perspektive Arendts besteht so gesehen allerdings weniger ein Widerspruch als eine Differenz der Betrachtungsebenen: Wo die Frage nach der Natur des Menschen der Frage nach dem Zwischen der Menschen nicht vorausliegt, bildet sie doch jedenfalls einen entscheidenden theoretischen und ethischen Kontext dafür. Aussagen über die Natur des Menschen – wie problematisch sie im Einzelnen sein mögen – bedürfen aber stets auch der geistesgeschichtlichen Vergewisserung und verweisen schließlich auf die geschichtsphilosophische Frage nach Ort und Weg des Menschen in und durch die Zeit.

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Menschen« siehe differenzierend Birgit Enzmann, Der Neue Mensch – ein totalitäres Projekt? In: Uwe Backes/Alexander Gallus/Eckhard Jesse (Hg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Band 23, Baden-Baden 2011, S. 66–83; ferner Detlef Kühn, Der neue Mensch. Zur trügerischen Vision menschlicher Vollkommenheit. In: APuZ, B 52/2014, S. 27–31. Zum NS-Mythos vom neuen Menschen Frank-Lothar Kroll, Mythos und Utopie im Nationalsozialismus. In: Thomas Stamm-Kuhlmann u. a. (Hg.), Geschichtsbilder. Festschrift für Michael Salewski zum 65. Geburtstag, Wiesbaden 2003, S. 259–268, hier 265–268. Siehe nur Arendt, Abschließende Bemerkungen, S. 29 oder ausführlich dies. im Briefentwurf vom 8.4.1951, S. 40 f.

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Arendt war skeptisch mit Blick auf die Frage, ob die philosophischen und ethischen Antworten der Vergangenheit einen Wegweiser geben könnten für die Herausforderungen des Totalitarismus.64 Dass aber eine Orientierung jenseits der geschichtlichen Erfahrung erst recht unmöglich wäre, konnte sie bei aller Skepsis nicht leugnen. Ihre Suche nach einer »neuen« Ethik konnte schlecht unabhängig von der geschichtlichen Erfahrung erfolgen. Gerade deshalb, weil die Geschichte das Feld der menschlichen Erfahrung ist, suchten und suchen ja die totalitären Regime die Geschichte zu manipulieren oder zu beseitigen, historisches Wissen zu unterdrücken. »History is bunk« lässt Huxley einen »Controller« seiner Brave New World feststellen. Indem Voegelin uns mit den Fragen nach dem Menschen, seiner Natur und seiner Geschichte konfrontiert und uns mit dem Warnruf irritiert, der Liberalismus als solcher trage Keime des Totalitarismus in sich, fordert er zugleich die Totalitarismustheorie heraus und stellt ihr die Frage nach ihren eigenen Fundamenten. In seiner Auseinandersetzung mit Hannah Arendt tat Voegelin dies explizit – und exemplarisch. Mit seiner Anfrage an die Totalitarismustheorie eröffnet er für diese auch die Möglichkeit, über die rein historische Reflexion auf die Herrschaftsformen des Nationalsozialismus und des Stalinismus hinauszugreifen und die Frage nach den totalitären Tendenzen in der Gegenwart wach zu halten.65 Der Fixpunkt seiner eigenen theoretischen und praktischen Orientierung, die Offenheit zur Transzendenz, wird nicht für jedermann überzeugend sein. Dennoch macht Voegelins Perspektive vor dem Hintergrund der exemplarisch angedeuteten aktuellen Gefährdungen deutlich, dass die Frage nach dem Menschen, seiner Natur und seiner Geschichte nicht allein unumgänglich bleibt, sondern heute drängender sein dürfte, als zu Voegelins und Arendts Lebzeiten – und zwar gerade im Kontext einer liberalen Gesellschaftsordnung, die sich selbst de facto als Endpunkt der geschichtlichen Entwicklung begreift. Dass sich bei einem derartigen öffentlichen Selbstverständnis die Inhumanität – und sei es im Gewande der Humanität – über die Hintertreppe einschleichen kann, ist eine der Lehren, die uns Voegelin auch dort mit auf den Weg gibt, wo wir seinem Weg nicht zu folgen vermögen. Genau dies mag der Grund dafür gewesen sein, dass Hannah Arendt trotz ihrer sehr anderen Sicht der politischen und geschichtlichen Dinge über Jahre hinweg die Auseinandersetzung mit Voegelin gesucht hat.

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Siehe etwa Arendt, Vorwort, S. 12; dies., Abschließende Bemerkungen, S. 22 f.; dies., Brief vom 22.4.1951, S. 36. Zur Aktualitätsproblematik mit Blick auf den Islamismus siehe auch Courtine-Denamy, Revival of Religion, S. 24–29.